Psychiatrie und Psychotherapie [3., vollst. neu bearb. u. aktualisierte Aufl.]
 9783540245834, 3540245839 [PDF]

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Zitiervorschau

H.-J. Möller, G. Laux, H.-P. Kapfhammer (Hrsg.) Psychiatrie und Psychotherapie Band 1: Allgemeine Psychiatrie 3., vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage

Hans-Jürgen Möller Gerd Laux Hans-Peter Kapfhammer (Hrsg.)

Psychiatrie und Psychotherapie Band 1: Allgemeine Psychiatrie 3., vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage

Mit 253, zum Teil farbigen Abbildungen und 151 Tabellen

Prof. Dr. H.-J. Möller Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München Nußbaumstr. 7 80336 München

Prof. Dr. Dipl.-Psych. G. Laux Inn-Salzach-Klinikum Wasserburg a. Inn · Rosenheim · Freilassing Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München Gabersee 7 83512 Wasserburg am Inn

Prof. Dr. Dr. H.-P. Kapfhammer Klinik für Psychiatrie Medizinische Universität Graz Auenbruggerplatz 31 8036 Graz, Österreich

ISBN-13 978-3-540-24583-4 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2008 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Renate Schulz Lektorat: Dr. Karen Strehlow, Berlin Dr. Angelika Koggenhorst-Heilig, Leimen Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Satz: Fotosatz Karlheinz Detzner, Speyer SPIN: 11391265 Gedruckt auf säurefreiem Papier 2126 – 5 4 3 2 1 0

V

Vorwort zur 3. Auflage Fünf Jahre nach der 2. Auflage können wir die Neuauflage dieses Handbuches für den Facharzt und die in Weiterbildung stehenden Kollegen vorlegen. Seine Bedeutung als Standardwerk des großen Fachgebietes Psychiatrie und Psychotherapie lässt sich unter anderem daraus ableiten, dass aufgrund der großen Nachfrage vor 2 Jahren ein Nachdruck als Paperback-Sonderausgabe erforderlich wurde. Basierend auf der Tradition der deutschen Psychiatrie im Sinne einer umfassenden Sichtweise für das Gesamtverständnis und den breiten Gesamthorizont von historisch-philosophischen Grundlagen bis zur Neurowissenschaft, hat der Umfang dieses Werkes die Grenzen eines Bandes überschritten und der weitere immense Wissenszuwachs ließ es geboten erscheinen, nunmehr ein 2-bändiges Werk vorzulegen. Es gliedert sich in insgesamt 82 Kapitel, wobei Band I als allgemeiner Teil 42 Kapitel, Band II als spezieller Teil 40 Kapitel umfasst. Formal wurde auf eine stringente, einheitliche Gliederung und Systematik Wert gelegt, um trotz der für eine kompetente Darstellung erforderlichen großen Autorenzahl (100) einen einheitlichen Charakter zu gewährleisten. Durch zahlreiche Tabellen, Abbildungen und typografische Elemente wurde auf Didaktik und Lesefreundlichkeit besonders geachtet. Die inhaltliche Aktualisierung umfasst insbesondere epidemiologische und sozioökonomische Daten, neue Befunde der Genetik und Bildgebung bieten tiefere Einblicke in die Ätiopathogenese, Weiterentwicklungen der Psychopharmakotherapie wurden ebenso berücksichtigt wie neuere, störungsspezifische Psychotherapieverfahren. Als neue Kapitel wurden die Themen Bildgebungsforschung, integrierte Versorgung/Disease-Management, Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie, Qualitätsmanagement, psychische Störungen bei somatischen Erkrankungen, Nikotinabhängigkeit, ADHS im Erwachsenenalter, frauenspezifische Störungen, Psychopharmakotherapie in Schwangerschaft und Stillzeit sowie juristische Aspekte von Aufklärung und Dokumentation und die Frage der Fahrtüchtigkeit aufgenommen. Zudem wurden manche bereits bestehenden Kapitel von neuen Autoren verfasst. Zeitgemäß werden im Sinne der evidenzbasierten Medizin Evidenzgrade der therapiebezogenen Informationen angegeben, besonders wichtige Aussagen in Form einer »EbM-Box«. Alle Autoren von therapiebezogenen Kapiteln wurden gebeten, wenn möglich, Evidenzgrade im Sinne der EbM anzugeben. Dazu wurde folgende Evidenzgraduierung vorgegeben:  Level A: Gute studienbasierte Evidenz, um die Empfehlung zu belegen. Dieser Level wird erreicht, wenn die auf Studien basierende Evidenz für die Wirksamkeit aus mindestens 3 mittelgroßen randomisierten kontrollierten (doppelblinden) Studien (randomized controlled trials, RCT) mit positivem Ergebnis stammt. Zusätzlich muss mindestens eine dieser Studien eine nach wissenschaftlichen Kriterien gut durchgeführte, plazebokontrollierte Studie sein.  Level B: Mittelmäßige studienbasierte Evidenz, um die Empfehlung zu belegen. Die Wirksamkeit muss nachgewiesen sein in mindestens 2 mittelgroßen randomisierten doppelblinden Studien (das bedeutet mindestens 2 oder mehr Studien gegen andere Substanzen und eine plazebokontrollierte Studie) oder in einer mittelgroßen randomisierten doppelblinden Studie (plazebokontrolliert oder gegen eine andere Substanz) und in mehr als einer prospektiven, mittelgroßen (mehr als 50 Teilnehmer), offenen Studie, die naturalistisch angelegt war.  Level C: Minimale studienbasierte Evidenz, um die Empfehlung zu belegen. Dieser Level wird erreicht, wenn in einer randomisiert-doppelblinden Studie gegen eine andere Substanz und in einer prospektiven, offenen Studie/Kasuistikserie (mit mehr als 10 Teilnehmern) oder wenn in mindestens 2 prospektiven, offenen Studien/Kasuistikserien (mit mehr als 10 Teilnehmern) eine Wirkung nachgewiesen wurde.  Level D: Basiert auf Expertenmeinung und wird von mindestens einer prospektiven, offenen Studie/Kasuistikserie (mit mehr als 10 Teilnehmern) belegt.  Kein Evidenzlevel: Expertenmeinung über allgemeine Behandlungsverfahren und Behandlungsprinzipien.

VI

Vorwort zur 3. Auflage

Es sei darauf hingewiesen, dass Evidenzgraduierungen derzeit noch arbiträr sind, sodass unterschiedliche Kriteriologien nebeneinander existieren. Bei einigen dieser Kriteriologien wird den metaanalytischen Ergebnissen von Therapiestudien der Vorrang gegeben. Die hier verwendete Graduierung stellt methodisch wichtige und zentrale Einzelstudien ins Zentrum der Evidenzgraduierung. Nicht alle Autoren konnten der Anregung zu einer Evidenzgraduierung folgen, u. a. deshalb, weil im Bereich der psychosozialen Therapie die Evidenzgraduierung noch nicht so eingeführt ist wie im Bereich der Psychopharmakotherapie. Die Herausgeber sind allen Autoren, die ihre Kapitel aufgrund zahlreicher eingetretener Veränderungen häufig komplett neu erstellt haben, zu großem Dank verpflichtet. Gleiches gilt für die kompetente Mitarbeit der Wissenschaftsassistentinnen Frau Jacqueline Klesing und Frau Sindy Lehwald sowie für die bewährte aufwändige Arbeit der Sekretärinnen Frau Christine Hauer, Frau Rosi Riedl, Frau Alexandra Fend und Frau Anne-Maria Burgstaller. Für die hervorragende Arbeit vonseiten des Springer-Verlags danken wir Frau Renate Schulz (Projektmanagement), Frau Dr. Karen Strehlow (Lektorat), Frau Dr. Angelika Koggenhorst-Heilig (Lektorat) und Frau Renate Scheddin (Planung). Wir hoffen, dass auch diese 3. Auflage auf eine hohe Akzeptanz stoßen wird und den Kollegen in Klinik und Praxis mit diesem Buch ein hochkarätig angenehmer Berufsbegleiter offeriert wird. München, Wasserburg a. Inn und Graz, im Herbst 2007 Hans-Jürgen Möller Gerd Laux Hans-Peter Kapfhammer

VII

Vorwort zur 1. Auflage Die Psychiatrie hat im letzten Jahrzehnt, wie alle medizinischen Fächer, einen außerordentlichen Wissenszuwachs zu verzeichnen, der an den einzelnen Arzt große Anforderungen stellt. Der Zuwachs im psychiatrischen Wissen betrifft die theoretischen Grundlagen unseres Faches, ganz besonders natürlich die ätiopathogenetischen Erklärungsansätze für die einzelnen Erkrankungen, die Untersuchungsmethoden, die Veränderungen der psychiatrischen Diagnostik, wie sie insbesondere durch die Einführung operationalisierter Diagnosesysteme resultieren, und insbesondere die Verbesserungen der therapeutischen Möglichkeiten, sowohl im Bereich der Psychopharmakotherapie als auch im Bereich der psychosozialen Therapiemaßnahmen. Daraus ergeben sich für den Facharzt große Herausforderungen hinsichtlich des Wissens für die alltägliche psychiatrische Praxis und ihrer theoretischen Grundlegung. Das immer mehr spezialisierte Fachwissen, das zu einem Großteil nur in speziellen Fachzeitschriften vermittelt wird, verlangt von dem Arzt einen erheblichen Lese- und Fortbildungsaufwand, um auf dem aktuellen Stand des Wissens zu bleiben. Unter diesem Aspekt ist ein umfangreiches Lehrbuch, das primär auf die Bedürfnisse des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie zugeschnitten ist und ganz besonders auch den in der Weiterbildung zu diesem Facharzt befindlichen Kollegen zugute kommen soll, von besonderer Bedeutung. Es kann den aktuellen Wissensstand in ausreichend umfangreicher Weise, wie es die üblichen für die Studenten geschriebenen Lehrbücher nicht tun können, darstellen. Das hier vorgelegte Buch wurde in dieser Intention konzipiert und von renommierten Fachkollegen unter diesem Aspekt geschrieben. Zu jedem Kapitel wurde die relevante internationale Literatur zitiert, um auf diese Weise dem Leser die Möglichkeit zu geben, die Richtigkeit der Darstellung zu prüfen und sich noch intensiver in die Thematik zu vertiefen. Das Buch versucht, insbesondere praktisch relevantes Wissen in ausreichend differenzierter und umfassender und gleichzeitig anschaulicher Weise zu vermitteln. Es vermeidet dabei aber jegliche »kochbuchartige« Verkürzung der komplizierten Sachverhalte, sondern versucht, den speziellen Gesamthorizont des Faches, insbesondere in dem allgemeinen Teil des Buches, ausreichend einzubeziehen. Dabei werden u. a. auch historische, konzeptuelle und philosophische Aspekte vermittelt. Insofern bietet das Buch mehr als nur eine praxisrelevante Wissens- und Handlungsanleitung, sondern – gemäß der besten Tradition der deutschen Psychiatrie – eine umfassende Sichtweise, die zum Gesamtverständnis des Faches wichtig ist. Das Buch deckt alle Wissensbereiche eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie ab und ist somit u. a. hervorragend für die Vorbereitung zur Facharzt-Prüfung geeignet. Besonders interessierten Medizin-Studenten bietet es insgesamt oder ausschnittsweise eine sinnvolle Vertiefung zu dem üblichen Lehrbuch-Wissen, dem nicht-psychiatrischen Facharzt bzw. dem im klinischen Feld tätigen Psychologen eröffnet es eine ausgezeichnete Möglichkeit, sich das psychiatrische Stoffgebiet in umfassender Weise zu erarbeiten. Das Buch gliedert sich in einen allgemeinen und einen speziellen Teil. Für den, der sich bevorzugt der konkreten, praktischen Fragestellung der Diagnostik und Behandlung bestimmter Krankheiten zuwenden will, sind die jeweils speziell auf die einzelnen Erkrankungen bezogenen Kapitel so verfaßt, daß sie für sich – ohne Rückgriff auf die Kapitel im allgemeinen Teil – verständlich sind. Unter dem Aspekt der Gesamtgliederung, der sprachlichen Darstellung, der drucktechnischen Aufbereitung, der Einbeziehung zahlreicher Tabellen und Abbildungen u.a. wurde versucht, das Buch optimal didaktisch zu gestalten. Das ist gerade angesichts eines so umfassenden Werkes von größter Wichtigkeit, damit der Leser sich im Buch zurechtfindet und damit er durch die Lektüre eines gut gegliederten, didaktisch ansprechenden Textes in möglichst einfacher und angenehmer Weise den erwünschten Lernzuwachs erreicht. Insbesondere die drucktechnischen Hervorhebungen wie auch die Randspaltenhinweise sind unter diesem Aspekt von ganz besonderer Bedeutung. Der spezielle Teil zur Darstellung der einzelnen Erkrankungen orientiert sich an der ICD10, also dem Klassifikationssystem, das ab dem Jahre 2000 auch im ambulanten Bereich für

VIII

Vorwort zur 1. Auflage

Deutschland verbindlich wird, nachdem es schon lange im stationären Bereich von vielen Kliniken angewandt wird. Diese Systematik psychischer Erkrankungen bedeutet zum Teil eine erhebliche Veränderung gegenüber der traditionellen psychiatrischen Krankheitslehre wie auch gegenüber der Systematik des psychiatrischen Teils der ICD-9. Auf diese Änderungen wird ausführlich eingegangen, um dem damit noch nicht so Vertrauten eine hilfreiche Einführung zu geben. Gleichzeitig wird auf das neben der ICD-10 insbesondere im internationalen wissenschaftlichen Bereich zunehmend an Bedeutung gewinnende DSM-System, das primär in der amerikanischen Psychiatrie entwickelt wurde, an vielen Stellen hingewiesen, um Ähnlichkeiten und Diskrepanzen zwischen DSM-IV und ICD-10 zu verdeutlichen. Insbesondere für Kollegen, die auch wissenschaftlich tätig sind, ist die Kenntnis beider Systeme heute unerläßlich. Da die bisherige Ausbildung in Psychotherapie, die bisher im Rahmen des Zusatztitels »Psychotherapie« praktiziert wurde, inzwischen in die Weiterbildung des Facharztes für Psychiatrie, der seitdem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie heißt, eingegliedert wurde, war es erforderlich, auch diesem Aspekt besonders Rechnung zu tragen. Der kompetente Psychiater wird in Zukunft nicht nur durch seine diagnostischen, psychopharmakotherapeutischen und soziotherapeutischen Fähigkeiten definiert werden, sondern auch durch gutes psychotherapeutisches Wissen und diesbezügliche Kompetenz. Dabei ist für den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie charakteristisch – dies war eine der Zielvorgaben bei der Erweiterung des Facharztes für Psychiatrie zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie! –, daß die Psychotherapie als eine spezielle Behandlungsmethode sich nicht völlig ablöst von dem Konzept der multifaktoriellen Ätiopathogenese und der mehrdimensionalen Therapie, wie es in der Psychiatrie seit langem gelehrt wird, sondern in dieses Konzept integriert bleibt. Das Idealbild ist ein Psychiater, der alle relevanten psychopharmakologischen und psychosozialen Therapieverfahren, einschließlich mindestens eines speziellen Psychotherapieverfahrens, ausreichend beherrscht und beim individuellen Patienten in sinnvoller Weise einzeln oder, was eher der Regelfall ist, kombiniert, aber mit jeweiligem Focus auf das eine oder andere, einsetzen kann. Ziel des Buches mußte es deshalb sein, auch das erforderliche psychotherapeutische Fachwissen darzustellen. Insgesamt gibt das Lehrbuch einen Einblick in das Selbstverständnis der modernen Psychiatrie als ein komplexes diagnostisches und therapeutisches Fach mit einem hohen Wissens-, Diagnose- und Therapiestandard, das den Vergleich mit den anderen Fächern der Medizin nicht zu scheuen braucht. Es war nicht leicht, ein so umfangreiches Buch zu schaffen, da ein so umfangreiches Buch nicht als das Werk eines einzelnen Autors, sondern nur als das Werk mehrerer Autoren möglich ist. Es wurde aber versucht, die Zahl der Autoren in Grenzen zu halten und gleichzeitig durch differenzierte Rahmenvorgaben sowie intensive editorische Arbeit den einheitlichen Charakter des Buches zu erhalten. Allen Autoren, die sich der Mühe unterzogen haben, an diesem Werk mitzuarbeiten, sei herzlich für ihr Engagement gedankt. Ganz besonders sei auch meiner Mitarbeiterin, Frau Klesing, für ihre Sekretariats- und Lektoratshilfe bei diesem Buch gedankt. Nicht zuletzt danken die Herausgeber dem Springer-Verlag, daß er das Wagnis eines solchen großen Facharzt-Handbuches in unserem Fachgebiet nicht gescheut hat. München, im Oktober 1999 Hans-Jürgen Möller Gerd Laux Hans-Peter Kapfhammer

IX

Inhaltsverzeichnis Band 1: Allgemeine Psychiatrie Sektion I Geschichte, Krankheitsmodelle, Häufigkeit und Ursachen psychischer Erkrankungen

1 Geschichte der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . P. Hoff 2 Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie . . . . W. Gaebel, J. Zielasek

3

29

3 Psychiatrische Epidemiologie . . . . . . . . . . . . M. M. Fichter, I. Meller

55

4 Genetik psychischer Störungen . . . . . . . . . . W. Maier, A. Zobel, S. Schwab

71

5 Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . B. Bogerts 6 Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung . . . . . . . . . . . . . P. Falkai, F. Schneider, G. Gründer 7 Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen . . . . P. Riederer, W. E. Müller, A. Eckert, J. Thome 8 Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . R. Rupprecht, N. Müller

13 Anthropologische Aspekte psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . M. Schmidt-Degenhard

305

14 Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . W. Machleidt, I. T. Calliess

319

15 Methodik empirischer Forschung . . . . . . . . . H.-J. Möller

345

Sektion II Klassifikation und Diagnostik

16 Traditionelle Klassifikationssysteme . . . . . . . J. Klosterkötter 17 Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . H. J. Freyberger

371

393

109

18 Biografische und Krankheitsanamnese . . . . . P. Hoff

409

129

19 Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung . . . . . . . B. Widder

419

20 Deskriptiv-psychopathologische Befunderhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Saß, P. Hoff

435

21 Standardisierte psychiatrische Befunddiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-J. Möller

455

22 Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik . . . . R. R. Engel, K. Fast

483

23 Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring . . . . . . B. Bondy, M. J. Schwarz

528

24 Neurophysiologische Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . U. Hegerl, O. Pogarell

529

157

185

9 Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . U. Hegerl, S. Karch, C. Mulert

209

10 Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Schüßler, A. Brunnauer

227

11 Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . W. Rössler

265

25 Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . E. M. Meisenzahl, H.-P. Volz

12 Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen . . . . . . . . A. M. Möller-Leimkühler

277

26 Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen . . . . . . . . . . W. E. Müller, A. Eckert

553

583

X

Inhaltsverzeichnis

Sektion III Therapeutische Grundlagen

27 Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen . . . . . . . . . . S. Kasper, H.-J. Möller 28 Sonstige biologische Therapieverfahren (EKT, Schlafentzugsbehandlung, Lichttherapie, TMS, VNS) – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien . . . . . S. Kasper

627

691

30 Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen. . . . M. Ermann, B. Waldvogel

703

32 Entspannungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . M. Zaudig, R. D. Trautmann, A. Pielsticker 33 Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien . . . . . . A. Retzer

841

35 Soziotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. Weinmann, Th. Reker, T. Becker

871

36 Ergotherapie, Kreativtherapie, Körperund Sporttherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Habermann, J. Unterberger, A. Broocks

883

37 Berufliche und sonstige Rehabilitationsverfahren. . . . . . . . . . . . . . . W. Weig

911

669

29 Supportive Psychotherapie und ärztliche Gesprächsführung . . . . . . . . . . K. Schonauer

31 Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien . . . . . M. Linden, M. Hautzinger

34 Humanistische Psychotherapieverfahren . . . . W. Butollo, M. Krüsmann, M. Hagl

743

777

38 Psychoedukation und Angehörigenarbeit . . . R. Borbé, W. P. Hornung, G. Buchkremer

923

39 Versorgungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . W. Rössler

937

40 Integrierte Versorgung/ Disease-Management . . . . . . . . . . . . . . . . . W. Kissling 41 Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-J. Möller 42 Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung . . . . . . . . . . . . . . M. Philipp, G. Laux

963

971

985

Sachverzeichnis Band 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1003 815 Sachverzeichnis Band 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013

XI Inhaltsverzeichnis

Band 2: Spezielle Psychiatrie

Sektion VII Affektive Störungen

Sektion IV Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen

54 Affektive Störungen: Einleitung und Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . G. Laux

43 Organische psychische Störungen. . . . . . . . . A. Kurz

3

44 Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Hampel, K. Bürger, S. J. Teipel

391

55 Depressive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . G. Laux

399

13

56 Bipolare affektive Störungen . . . . . . . . . . . . G. Laux

471

45 Delir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Kurz

87

46 Organisches amnestisches Syndrom . . . . . . . A. Kurz

93

57 Depressive und Angststörungen bei somatischen Krankheiten . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer

47 Andere organische psychische Störungen . . . A. Kurz

99

48 Organische psychische Störungen bei wichtigen somatischen Erkrankungen . . . H.-B. Rothenhäusler

499

Sektion VIII Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen 109

Sektion V Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen

58 Angststörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer

567

59 Zwangsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer

633

49 Störungen durch Alkohol. . . . . . . . . . . . . . . M. Soyka

143

60 Anpassungsstörung, akute und posttraumatische Belastungsstörung . . . H.-P. Kapfhammer

187

61 Dissoziative Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer

723

50 Drogen- und Medikamentenabhängigkeit . . . M. Soyka

243

62 Somatoforme Störungen . . . . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer

767

51 Tabakabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Batra, G. Buchkremer

63 Artifizielle Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer

903

64 Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Alm, E. Sobanski

Sektion VI Schizophrene Psychosen, schizophrenieähnliche Störungen und nichtorganische Wahnerkrankungen

52 Schizophrene Psychosen . . . . . . . . . . . . . . . H.-J. Möller, A. Deister, A. Schaub, M. Riedel 53 Schizophrenie-ähnliche Störungen und nichtorganische Wahnerkrankungen . . . . A. Marneros

659

923

253

357

Sektion IX Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

65 Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. M. Fichter

949

XII

Inhaltsverzeichnis

66 Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Hajak, E. Rüther

971

67 Sexualstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1007 F. Pfäfflin 68 Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . 1031 T. Bronisch, V. Habermeyer, S. C. Herpertz 69 Impulskontrollstörungen. . . . . . . . . . . . . . . 1095 T. Bronisch

Sektion X Intelligenzminderung

70 Intelligenzminderungen . . . . . . . . . . . . . . . 1103 H. Remschmidt, G. Niebergall

76 Psychische Störungen im höheren Lebensalter . . . . . . . . . . . . . . . 1245 M. Haupt, H. Gutzmann 77 Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie. . . . . . . . . . 1263 H.-P. Kapfhammer 78 Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1281 T. Bronisch 79 Notfallpsychiatrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1307 G. Laux, H. Berzewski

Sektion XIII Juristische Aspekte, forensische Psychiatrie

80 Forensische Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . 1339 N. Nedopil 81 Aufklärung und Dokumentation . . . . . . . . . . 1379 C. Cording

Sektion XI Entwicklungsstörungen

82 Fahrtüchtigkeit und psychische Erkrankung . . 1391 A. Brunnauer, G. Laux

71 Umschriebene Entwicklungsstörungen . . . . . 1119 A. Warnke 72 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen . . . . . . 1151 A. Warnke 73 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend . . . . . 1161 A. Warnke, C. Wewetzer, G.-E. Trott, S. Wirth, U. Hemminger

Anhang G. Laux

A1 Übersicht Kliniken, Fachgesellschaften und Dachverbände von Selbsthilfeund Angehörigengruppen. . . . . . . . . . . . . . 1404 A2 Auszüge wichtiger Gesetze . . . . . . . . . . . . . 1409

Sektion XII Sonstige psychiatrische Aspekte

74 Frauenspezifische psychische Störungen in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1217 A. Rohde 75 Betreuung schwangerer und stillender Patientinnen – Psychopharmakotherapie und psychiatrische Begleitung . . . . . . . . . . . 1235 A. Rohde, C. Schaefer

A3 Verzeichnis wichtiger standardisierter Beurteilungsskalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1411 A4 Wichtige Fachzeitschriften des psychiatrisch-psychotherapeutischen Gebietes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1413 A5 Psychopharmakaübersicht . . . . . . . . . . . . . 1414

Sachverzeichnis Band 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1417

Sachverzeichnis Band 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1427

XIII

Autorenverzeichnis Alm, B., Frau Dr. Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5, 68159 Mannheim Batra, A., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie mit Poliklinik Universitätsklinikum Tübingen Osianderstr. 24 72076 Tübingen Becker, T., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik II Universität Ulm Bezirkskrankenhaus Günzburg Ludwig-Heilmeyer-Str. 2 89312 Günzburg Berzewski, H., Prof. Dr. Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Duisburger Str. 20 10707 Berlin

Broocks, A., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Carl-Friedrich-Flemming-Klinik HELIOS Kliniken Schwerin Wismarsche Str. 393–397 19049 Schwerin Brunnauer, A., Dr. Dipl.-Psych. Inn-Salzach-Klinikum Neuropsychologie Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München Gabersee 7 83512 Wasserburg am Inn Buchkremer, G., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie mit Poliklinik Universitätsklinikum Tübingen Osianderstr. 24 72076 Tübingen

Bogerts, B., Prof. Dr. Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Otto-von-Guericke Universität Magdeburg Leipziger Str. 44 39120 Magdeburg

Bürger, K., Frau Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München

Bondy, B., Frau Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München

Butollo, W., Prof. Dr. Klinische Psychologie und Psychotherapie Ludwig-Maximilians-Universität München Leopoldstr. 13 80802 München

Borbé, R., Dr. Zentrum für Psychiatrie, Die Weissenau Allgemeine Psychiatrie und Psychotherapie Weingartshoferstr. 2 88214 Ravensburg

Calliess, I. T., Frau Dr. Abt. Sozialpsychiatrie und Psychotherapie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover

Bronisch, T., Prof. Dr. Max-Planck-Institut für Psychiatrie Psychiatrische Klinik Kraepelinstr. 10 80804 München

Cording, C., Prof. Dr. Psychiatrische Universitätsklinik Universitätsstr. 84 93053 Regensburg

Deister, A., Prof. Dr. Abteilung für Psychiatrie Krankenhaus Itzehoe Robert-Koch-Str. 2 25524 Itzehoe Eckert, A., Frau Priv.-Doz. Dr. Neurobiologisches Labor Psychiatrische Universitätsklinik Basel Wilhelm Klein-Str. 27 4025 Basel, Schweiz Engel, R. R., Prof. Dr. Abteilung für Klinische Psychologie und Psychophysiologie Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Ermann, M., Prof. Dr. Abteilung für Psychotherapie u. Psychosomatik Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Falkai, P., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Göttingen Von-Siebold-Str. 5 37075 Göttingen Fast, K., Frau Dr. Abteilung für Klinische Psychologie und Psychophysiologie Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Fichter, M. M., Prof. Dr. Klinik Roseneck Schön-Kliniken Am Roseneck 6 83209 Prien a. Chiemsee

XIV

Autorenverzeichnis

Freyberger, H. J., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Ellernholzstraße 1–2 17475 Greifswald

Hampel, H, Prof. Dr. M. Sc. Discipline of Psychiatry Trinity College Dublin The Adelaide and Meath Hospital Incorporating The National Children‘s Hospital (AMiNCH) Tallaght, Dublin 24, Irland

Gaebel, W., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Heinrich-Heine-Universität Rheinische Kliniken Düsseldorf Bergische Landstr. 2 40629 Düsseldorf

Haupt, M., Priv.-Doz. Dr. Praxisschwerpunkt Hirnleistungsstörungen im Neuro-Centrum Düsseldorf Hohenzollernstr. 1–5 40211 Düsseldorf

Gründer, G., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Aachen Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen Gutzmann, H., Prof. Dr. Krankenhaus Hedwigshöhe Abt. für Psychiatrie und Psychotherapie Buntzelstr. 36 12526 Berlin Habermann, C., M.A. Berufsfachschule für Ergotherapie Gießereistr. 43 83022 Rosenheim Habermeyer, V., Frau Dr. Psychiatrische Klinik der Universität Rostock PF 100888 18055 Rostock Hagl, M., Frau Dipl.-Psych. Klinische Psychologie und Psychotherapie Ludwig-Maximilians-Universität München Leopoldstr. 13 80802 München Hajak, G., Prof. Dr. MBA Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität am Bezirkskrankenhaus Regensburg Universitätsstr. 84 93042 Regensburg

Hautzinger, M., Prof. Dr. Psychologisches Institut Klinische Psychologie und Entwicklungspsychologie der Eberhard Karls Universität Christophstr. 2 72072 Tübingen Hegerl, U., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie Universitätsklinikum Leipzig Johannisallee 20 04317 Leipzig Hemminger, U., Dr. Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie der Universität Füchsleinstr. 15 97080 Würzburg Herpertz, S. C., Frau Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Rostock Gehlsheimer Str. 20 18147 Rostock Hoff, P., Prof. Dr. Dr. Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Klinik für soziale Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie ZH West Lenggstrasse 31 Postfach 1931 8032 Zürich, Schweiz Hornung, W.-P., Prof. Dr. Rheinische Kliniken Bonn Abt. für Psychiatrie und Psychotherapie I Kaiser-Karl-Ring 20 53111 Bonn

Kapfhammer, H.-P., Prof. Dr. Dr. Klinik für Psychiatrie Medizinische Universität Graz Auenbruggerplatz 31 8036 Graz, Österreich Karch, S., Frau Dipl.-Psych. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Kasper, S., O. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien, Österreich Kissling, W., Dr. Zentrum für Disease Management Psychiatrische Klinik der TU Möhlstr. 26 81675 München Klosterkötter, J., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universität zu Köln Kerpener Strasse 62 50924 Köln Krüsmann, M., Frau Dipl.-Psych. Klinische Psychologie und Psychotherapie Ludwig-Maximilians-Universität München Leopoldstr. 13 80802 München Kurz, A., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum rechts der Isar der TU München Ismaninger Str. 22 81675 München Laux, G., Prof. Dr. Dipl.-Psych. Inn-Salzach-Klinikum Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München Gabersee 7 83512 Wasserburg am Inn

XV Autorenverzeichnis

Linden, M., Prof. Dr. Dipl.-Psych. Deutsche Rentenversicherung Reha-Zentrum Seehof Lichterfelder Allee 55 14513 Teltow Machleidt, W., Prof. Dr. Abt. Sozialpsychiatrie und Psychotherapie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover Maier, W., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Bonn Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn Marneros, A., Prof. Dr. Klinikum der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Julius-Kühn-Str. 7 06097 Halle/Saale Meisenzahl, E. M., Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Meller, I., Frau Prof. Dr. Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Türkenstr. 70 80799 München Möller, H.-J., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Möller-Leimkühler, A. M., Frau Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München

Müller, N., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München

Pogarell, O., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstraße 7 80336 München

Müller, W. E., Prof. Dr. Pharmakologisches Institut für Naturwissenschaftler der Johann-Wolfgang-GoetheUniversität Biozentrum Niederursel Max-von-Laue-Str. 9 60438 Frankfurt

Reker, T., Prof. Dr. Westfälische Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Friedrich-Wilhelm-Welser-Str. 30 48147 Münster

Mulert, C., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Nedopil, N., Prof. Dr. Abt. für Forensische Psychiatrie Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Niebergall, G., Dr. Universitätsklinik für Kinderund Jugendpsychiatrie Klinikum der Philipps-Universität Marburg Hans-Sachs-Str. 4 35039 Marburg

Remschmidt, H., Prof. Dr. Dr. Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Universitätsklinikum Gießen und Marburg Hans-Sachs-Str. 4 und 6 35039 Marburg Retzer, A., Priv.-Doz. Dr. Dipl.-Psych. Systemisches Institut Heidelberg (SIH) Bleichstr. 15 69120 Heidelberg Riedel, M., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Riederer, P., Prof. Dr. Psychiatrische Klinik der Universität Klinische Neurochemie Füchsleinstr. 15 97080 Würzburg

Pfäfflin, F., Prof. Dr. Sektion Forensische Psychotherapie Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universitätklinikum Ulm Am Hochsträß 8 89081 Ulm

Rössler, W., Prof. Dr. Dipl.-Psch. Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Klinik für soziale Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie ZH West Militärstr. 8 Postfach 1931 8021 Zürich, Schweiz

Philipp, M., Prof. Dr. M.A. Bezirkskrankenhaus Landshut Professor-Buchner-Str. 22 84034 Landshut

Rohde, A., Frau Prof. Dr. Gynäkologische Psychosomatik Universitätsfrauenklinik Bonn Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn

Pielsticker, A., Frau Dr. Tal 15 80331 München

XVI

Autorenverzeichnis

Rothenhäusler, H.-B., Univ.-Doz. Dr. Univ.-Klinik für Psychiatrie der Medizinischen Universität Graz Auenbruggerplatz 31 A 8036 Graz, Österreich Rupprecht, R., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Rüther, E., Prof. Dr. Wielinger Str. 8 b 82340 Feldafing Saß, H., Prof. Dr. Universitätsklinikum Aachen Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen Schaefer, C., Dr. Pharmakovigilanzund Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie Spandauer Damm 130, Haus 10 14050 Berlin Schaub, A., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Schmidt-Degenhard, M., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Florence Nightingale Krankenhaus der Kaiserwerther Diakonie Zeppenheimer Weg 7 40489 Düsseldorf Schneider, F., Prof. Dr. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Aachen Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen

Schonauer, K., Prof. Dr. Dr. Zentrum für Psychiatrie Reichenau Feursteinstr. 55 78479 Reichenau Schüßler, G., O. Univ.-Prof. Dr. Universitätsklinik für Med. Psychologie und Psychotherapie Sonnenburgstr. 9 6020 Innsbruck, Österreich Schwab, S., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Bonn Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn Schwarz, M. J., Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Sobanski, E., Frau Dr. Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5, 68159 Mannheim Soyka, M., Prof. Dr. Privatklinik Meiringen Postfach 612 3860 Meiringen, Schweiz Teipel, S. J., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Thome, J., Prof. MD PhD Chair of Psychiatry The School of Medicine University of Wales Sansea Grove Building (113) Singleton Park Swansea, SA2 8PP, United Kingdom Trautmann, R. D., Dr. Vorderer Anger 210 86899 Landsberg Trott, G.-E., Prof. Dr. Luitpoldstr. 2–4 63739 Aschaffenburg

Unterberger, J., Dipl.-Psych. Inn-Salzach-Klinikum Ergo- u. Kreativtherapien Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München Gabersee 7 83512 Wasserburg am Inn Volz, H.-P., Prof. Dr. Krankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie Schloss Werneck Balthasar-Neumann-Platz 1 97440 Werneck Waldvogel, B., Dr. Enhuberstraße 1 80333 München Warnke, A., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Würzburg Füchsleinstr. 15 97080 Würzburg Weig, W., Prof. Dr. Niedersächsisches Landeskrankenhaus Knollstr. 31 49088 Osnabrück Weinmann, S., Dr. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik II Universität Ulm Bezirkskrankenhaus Günzburg Ludwig-Heilmeyer-Str. 2 89312 Günzburg Wewetzer, C., Prof. Dr. Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Köln-Holweide Florentine-Eichler-Str. 1 51067 Köln Widder, B., Prof. Dr. Dr. Klinik für Neurologie und Neurologische Rehabilitation des Bezirkskrankenhauses Günzburg Ludwig-Heilmeyer-Str. 2 89312 Günzburg

XVII Autorenverzeichnis

Wirth, S., Frau Dr. Luitpoldstr. 2-4 63739 Aschaffenburg Zaudig, M., Prof. Dr. Psychosomatische Klinik Windach/Ammersee Schützenstraße 100 86949 Windach

Zobel, A., Frau Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Bonn Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn

Zielasek, J., Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Heinrich-Heine-Universität Rheinische Kliniken Düsseldorf Bergische Landstr. 2 40629 Düsseldorf

I Geschichte, Krankheitsmodelle, Häufigkeit und Ursachen psychischer Erkrankungen 1

Geschichte der Psychiatrie – 3 P. Hoff

2

Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie W. Gaebel, J. Zielasek

3

Psychiatrische Epidemiologie M. Fichter, I. Meller

4

Genetik psychiatrischer Störungen W. Maier

5

Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen – 109 B. Bogerts

6

Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung – 129 P. Falkai, F. Schneider, G. Gründer

7

Störungen der Neurotransmission/Transduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen – 157 P. Riederer, J. Thome

8

Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen – 185 R. Rupprecht, N. Müller

9

Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen – 209 U. Hegerl, S. Karch, C. Mulert

10

Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen – 227 G. Schüssler, A. Brunnauer

11

Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Erkrankungen – 265 W. Rössler

12

Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen – 277 A. M. Möller-Leimkühler

13

Anthropologische Aspekte psychischer Erkrankungen – 305 M. Schmidt-Degenhard

14

Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen – 319 W. Machleidt, I. T. Calliess

15

Methodik empirischer Forschung in der Psychiatrie H.-J. Möller

– 29

– 55 – 71

– 345

1 1 Geschichte der Psychiatrie P. Hoff

1.1

Antike Medizin – 4

1.8

Psychoanalyse und Behaviorismus

1.2

Mittelalter und Renaissance – 4

1.9

Psychopathologie: Karl Jaspers und die »Heidelberger Schule« – 17

1.3

Vom 17. Jahrhundert zur »Aufklärung« und zur französischen Schule des frühen 19. Jahrhunderts – 4

1.10

Von der Degenerationslehre zur Rassenhygiene und zur Psychiatrie im Nationalsozialismus – 18

1.11

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts – 20

1.12

Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts – 23

1.13

Zusammenfassende Schlussbetrachtung – 24

1.4

Von der Aufklärung zur »romantischen Psychiatrie« – 7

1.5

Von Griesinger zur »Gehirnpsychiatrie«

1.6

Degenerationslehre – 11

1.7

Die Kliniker um die Jahrhundertwende

–9

– 12

Literatur

– 25

> > Psychiatrisches Wissen und Handeln weist die von allen medizinischen Fächern wohl komplexeste Vernetzung mit der Ideen- und Sozialgeschichte auf. Daher birgt eine knappe Darstellung der Psychiatriegeschichte das Risiko unzulässiger Verkürzung: Die folgende Übersicht kann somit nur einer ersten Orientierung dienen und ein vertieftes Literaturstudium nicht ersetzen. Zwar orientiert sich der Aufbau des Beitrags v. a. an der Chronologie der wesentlichen psychiatrischen Konzepte von der Antike bis zur Gegenwart, doch wurde gerade mit Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert diese zeitliche Strukturierung zugunsten einer mehr thematischen Schwerpunktsetzung aufgelockert. Eine bemerkenswerte Tatsache ist die große Ähnlichkeit psychiatrischer Grundfragestellungen in der antiken, der mittelalterlichen und der neuzeitlichen Medizin, etwa die Fragen nach dem Verhältnis von psychischer Störung und betroffener Person und deren Biografie, nach der Bedeutung körperlicher Funktionsstörungen für die Genese seelischer Krankheiten und auch die Debatten um das Verständnis psychopathologischer Phänomene als übersteigerter Ausdruck anthropologischer Konstanten (»Urängste«) oder als Metaphern metaphysischer Zusammenhänge. Aus Platzgründen wurde hier auf den ideengeschichtlichen Kontext und den Nachweis seiner Relevanz für klinisches Denken und Handeln größerer Wert gelegt als auf die Nennung möglichst vieler Personen oder Veröffentlichungen.

– 15

4

1

Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie

1.1

Antike Medizin

Der wesentliche Schritt, den die griechische Medizin gegenüber ihren Vorläufern machte, ist die Überzeugung, dass Krankheiten als natürliche Phänomene und nicht als Ausdruck unbekannter und unbeeinflussbarer metaphysischer Kräfte anzusehen sind. Natürlich gilt dies nicht für jeden Vertreter der antiken griechischen Medizin, wohl aber für den bedeutendsten, Hippokrates von Kos (460– 377 v. Chr.). Für ihn machte aus eben diesem Grund die damals übliche Benennung der Epilepsie als »Morbus sacer«, als »heilige Krankheit«, keinen Sinn. Er forderte deren empirisch fundierte, sachliche und von Spekulationen soweit wie möglich befreite Erforschung.

Humoralpathologie Eigentliche psychiatrische Lehrtexte wurden in der Antike nicht verfasst. Die Beschreibung dessen, was wir heute seelische Störung nennen, war vielmehr eingebettet in die Darstellung der allgemeinen Medizin, also der in erster Linie körperlichen Krankheiten. Dies hängt mit der damals verbreiteten »Humoralpathologie« zusammen, die auch von Hippokrates vertreten wurde und die ein gestörtes Gleichgewicht zwischen den 4 Körpersäften als Ursache von Krankheiten annahm. Neben Hippokrates sind Galen (130–201 n. Chr.), Soranus von Ephesus, Celsus und Aretäus von Kappadozien (alle im 1. nachchristlichen Jahrhundert) wichtige Vertreter der antiken Medizin, die sich auch zu seelischen Krankheiten geäußert haben.

Andere Bedeutung der Fachtermini Das grundlegende Verständnis dieser Störungen war zumeist ein somatisches, wenn auch das Gehirn selbst noch nicht im Zentrum des Interesses stand. Die damaligen Fachtermini sind, wie etwa derjenige der Phrenitis bei Soranus, heute entweder nicht mehr gebräuchlich oder meinten – wie im Falle der Manie und der Melancholie – psychopathologische Sachverhalte, die von der heutigen Definition stark abweichen. Die von Emil Kraepelin Ende des 19. Jahrhunderts herausgearbeitete Dichotomie psychotischer Erkrankungen in affektive und nichtaffektive, also etwa katatone und paranoid-halluzinatorische Typen, war in der Antike kein Bestandteil ärztlichen Denkens. Bis in das 19. Jahrhunderts hinein meinte Manie vielmehr eine Form der Geisteskrankheit, bei der das Verhalten des Betroffenen von Erregung und Unruhe geprägt war, wohingegen der Melancholiker seine psychotischen Inhalte kaum preisgab und äußerlich ruhig, gehemmt oder sogar stuporös wirkte.

Therapie Entsprechend der stark somatischen Ausrichtung der antiken »Seelenheilkunde« – ein eigenes Fach mit dieser Bezeichnung existierte noch nicht – wiesen auch die therapeutischen Empfehlungen in diese Richtung, etwa

Aderlass, Abführmittel, spezielle Diätvorschriften. Aber auch Verhaltensregeln für den Umgang mit Patienten, die man im weitesten Sinn als psychotherapeutisch bezeichnen könnte, etwa ruhige Atmosphäre im Kontakt und Herausnehmen aus aktuellen Konfliktherden, wurden erörtert.

1.2

Mittelalter und Renaissance

Für diesen Zeitraum gibt es – aus medizinhistorischer Sicht – wenige Fortschritte und viele Rückschritte zu berichten. ! Der wesentliche Fortschritt dieser Epoche, nicht nur in bezug auf die Psychiatrie, war die Entstehung von Kliniken. Von sehr frühen Gründungen von Institutionen zur Behandlung seelischer Störungen wird aus dem arabischen Kulturraum berichtet, in Westeuropa finden sich Vorläufer psychiatrischer Kliniken bzw. – in heutiger Terminologie – psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern etwa ab dem frühen 15. Jahrhundert (Gründung der Abteilung in Valencia/Spanien 1409). Diesem Fortschritt, der nicht zuletzt auf den erwähnten »aufgeklärten«, also einen naturalistischen Standpunkt einnehmenden Grundgedanken der antiken Medizin beruhte, steht aber ein erheblicher Rückschritt gerade im Umgang mit psychischen Störungen gegenüber: Psychotische Menschen, v. a. Frauen, wurden als Besessene, als Hexen bezeichnet, sozial ausgegrenzt und in vielen Fällen unter Berufung auf das 1486 erschienene berüchtigte Werk »Der Hexenhammer« von Heinrich Krämer und Jakob Sprenger hingerichtet, meist durch Verbrennung. Es gab aber auch Gegenstimmen, etwa wenn Paracelsus (1491–1541) – eigentlich Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim – und Johann Weyer (1515–1588), so sehr sie auch in vielerlei Hinsicht noch in mittelalterlichem Denken verhaftet sein mochten, die übernatürliche Genese von seelischen Erkrankungen anzweifelten und, an antike Traditionen anknüpfend, den Blick auf empirisch erkennbare körperliche oder seelische Ursachen lenkten.

1.3

Vom 17. Jahrhundert zur »Aufklärung« und zur französischen Schule des frühen 19. Jahrhunderts

Von den Erneuerungsvorschlägen der Renaissanceautoren wurde in der Folgezeit nur wenig aufgegriffen. Zwar ging die Bereitschaft, psychisch Kranke als Besessene und Hexen zu bezeichnen und zu verfolgen, langsam zurück, und es erschienen eine Reihe von kasuistisch und klinisch

5 1.3 · Vom 17. Jahrhundert zur »Aufklärung«

interessanten Büchern über psychiatrische Fragen, etwa Felix Platers (1536–1614) »Medizinische Praxis« und Robert Burtons »Anatomy of Melancholy« (1621), jedoch wurde das emanzipatorische Moment etwa im Denken Paracelsus’ zunehmend konterkariert von der sich verstärkenden Tendenz, psychisch Kranke als bloße Randfiguren der Gesellschaft zu verstehen, die ähnlich wie Kriminelle und »Asoziale« auszugrenzen seien. So waren die großen psychiatrischen Kliniken von Paris, Bicêtre und Salpêtrière zunächst eine Mischung aus Armenhaus, Gefängnis, Obdachlosenasyl, Waisenhaus und psychiatrischer Klinik, letzteres aber am wenigsten, und die Hinzuziehung von Ärzten war keineswegs die Regel. Dieser Sachverhalt nimmt in Michel Foucaults primär philosophischer und gesellschaftskritischer und sekundär auch psychiatriekritischer Perspektive einen zentralen, da – im negativen Sinne – identitätsstiftenden Platz ein (Foucault 2005;  Abschn. 1.11).

Aufklärung und Rationalismus Erst im 18. Jahrhundert, ideengeschichtlich geprägt von der Aufklärung, kam es zu ernsthaften Bemühungen, die Psychiatrie als medizinische Wissenschaft zu etablieren, die psychiatrischen Patienten als Personen ernst zu nehmen und sowohl aus dem Dunstkreis von Hexenglaube und Spiritismus als auch aus ihrer Verbannung an den äußersten Rand der Gesellschaft herauszulösen (Leibbrand u. Wettley 1961). Cum grano salis kann der Rationalismus als die tragende Denkweise der Aufklärung angesehen werden. Das Wort »Wissenschaft« bekam einen betont positiven, ja optimistischen Bedeutungshof, gab es doch für die überzeugten Rationalisten des 18. Jahrhunderts nur vorläufig, nicht aber grundsätzlich unlösbare Probleme. Die Vernunft, die Ratio, werde, so die feste Überzeugung dieser Autoren, den gesamten Bereich menschlichen Erkennens und Handelns früher oder später durchdringen. Der Rationalismus schuf geradezu das gedankliche Konstrukt, welches seither Wissenschaft genannt wird und das sich dezidiert an der Mathematik und der empirischen Naturforschung orientiert.

Vermögenspsychologie Eine derart »vernunftlastige« Philosophie konnte natürlich nicht umhin, auch die seelischen Funktionen des Menschen in ihr Konzept einzubeziehen: Es entstand eine, etwa von dem Philosophen Chr. Wolff vertretene, »rationale Psychologie«. Sie wollte sich klar von der sensualistischen Assoziationslehre abgrenzen, wie sie etwa von den Philosophen Hume und Condillac vertreten worden ist (Anm.: Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu einer neuerlichen Blüte der Assoziationspsychologie, die auch, allerdings in recht unterschiedlichem Kontext, Einfluss auf die Psychiatrie nahm – Vertreter waren Ziehen, Ebbinghaus, Wernicke, Freud). Im Unter-

schied zu diesen beschritt sie nämlich nicht nur den empirisch-induktiven, sondern zunächst den rational-deduktiven Weg: Das Seelenleben sei in verschiedene Funktionen oder »Vermögen« gegliedert, die bei jeder Interpretation empirischer Beobachtungen zugrunde zu legen seien. In der Folge entstanden zahlreiche Spielarten der »Vermögenspsychologie«, denen allerdings zumindest die Unterscheidung von Denken, Fühlen und Wollen gemeinsam war. In der Philosophie hat Immanuel Kant am einflussreichsten diesen psychologischen Ansatz vertreten.

Neues psychiatrisches Selbstverständnis Das große Interesse, das das »aufgeklärte Zeitalter« für das Phänomen seelische Krankheit, insbesondere für die psychotischen Erscheinungsformen, den »Wahnsinn«, aufbrachte, ist ein aussagekräftiges Beispiel für die ebenso notwendige wie enge Vernetzung zwischen Ideengeschichte und Psychiatrie: Der Mensch als Vernunftwesen – dies war das zentrale Postulat aufklärerischen Denkens; und die Psychose beraubt ihn genau dieses Momentes, trifft ihn also an entscheidender Stelle, woraus wiederum die Aufforderung an die Mitmenschen resultiert, zu helfen und den »vernünftigen« Zustand wiederherzustellen. Das Mitleid mit den Kranken, nicht ihre, im wahrsten Sinne, Verteufelung, die Diagnostik und Behandlung der Patienten, nicht deren bloße Ausgrenzung, wurden zunehmend zu Schwerpunkten psychiatrischen Selbstverständnisses. In ganz Europa wurden neue psychiatrische Kliniken errichtet, und in diesen Kliniken setzte sich eine Haltung durch, die schließlich gegen Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts zu der oft beschriebenen »Befreiung der Geisteskranken von ihren Ketten« führte: Philippe Pinel in Bicêtre in Paris (1793; s. unten), William Tuke in York (1796), Johann Gottfried Langermann in Bayreuth (1805), um nur einige Beispiele zu nennen. Zwei weitere Neuerungen bedürfen im Zusammenhang mit der Psychiatrie der Aufklärungszeit der Erwähnung: Rechtliche Fragen. Zum einen wurde von nun an der

Psychiater systematisch in die Beurteilung rechtlicher Fragen, insbesondere der Zurechnungsfähigkeit bzw. Schuldfähigkeit im Strafrecht und der Urteils- und Geschäftsfähigkeit im Zivilrecht, einbezogen. Dieses zunächst praktische, also in foro stattfindende Engagement der Psychiater, zog im Laufe der Zeit auch die Entwicklung wissenschaftlicher Fragestellungen und die Etablierung eines eigenen, wenn auch der klinischen Psychiatrie nahe verwandten Gebietes, der forensischen Psychiatrie, nach sich. Vorbeugung. Zum anderen betonte die Aufklärung erst-

mals den Gesichtspunkt der Vorbeugung seelischer Störungen. Zahlreiche zeitgenössische Arbeiten beschäf-

1

6

1

Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie

tigten sich mit der Frage des Verlaufs von psychischen Erkrankungen, ihres Zusammenhangs mit Alkoholmissbrauch und mit ihren psychosozialen Umgebungs- und Entstehungsbedingungen.

Die Animismustheorie von Stahl Das Denken der Medizin war lange Zeit von der »Iatrochemie« und der »Iatrophysik« geprägt gewesen, von Theorien also, die von der problemlosen Übertragbarkeit chemisch-physikalischer Gesetzmäßigkeiten und Forschungsmethodiken auf die Medizin und von der Vollständigkeit eines solchen Ansatzes ausgingen. Die nachhaltigste Herausforderung für diese Konzeption des (gesunden und kranken) Menschen als physikalische und chemische Maschine ging von dem Hallenser Arzt und Chemiker Georg Ernst Stahl (1660–1734) aus. Er formulierte die Theorie des »Animismus« und ging von der Grundannahme aus, dass chemisch-physikalische Vorgänge allein nicht in der Lage seien, lebendige Prozesse hervorzubringen und aufrechtzuerhalten. Vielmehr sei die Seele, »Anima«, der entscheidende Wirkfaktor, der den anderen, zwar notwendigen, aber nicht hinreichenden Momenten die Richtung erteile. Konsequent verstand er Krankheit in erster Linie als Ausdruck eines Widerstandes der »Anima« gegen Noxen, die die Funktionen des menschlichen Organismus beeinträchtigen. Zwar hat sich Stahl zu psychiatrischen Fragen im konkret-klinischen Sinne kaum geäussert, doch fiel die von ihm vorgeschlagene Zweiteilung seelischer Störungen in solche, die durch die Erkrankung bestimmter Organe verursacht werden – »sympathische Geisteskrankheiten« – und solche, die ohne eine Organerkrankung auftreten – »pathetische Geisteskrankheiten« – in der psychiatrischen Literatur auf fruchtbaren Boden. Die klinisch immer noch geläufige, wenn auch gerade in jüngster Zeit aus neurobiologischer Perspektive grundsätzlich in Frage gestellte Gegenüberstellung »organischer« vs. »psychogener« oder »funktioneller« seelischer Störungen, hat hier eine ihrer (sehr zahlreichen) Wurzeln.

Bedeutungswandel psychiatrischer Termini Wie sehr klinische Begriffe – gerade die geläufigsten unter ihnen – Produkte komplexer ideengeschichtlicher Prozesse sind und dabei oft ihre Bedeutung verändern, ja ausgewechselt haben, zeigt auch der Terminus »Neurose«: Am verbreitetsten war lange Zeit das psychogenetische und dabei vor allem das psychoanalytische Verständnis, das in der »neurotischen« Symptomatik den indirekten Ausdruck unbewusster, aber eben nachhaltig wirksamer seelischer Prozesse sah. Ursprünglich, nämlich am Ende des 18. Jahrhunderts, geprägt von dem schottischen Kliniker Cullen, bezog sich der Begriff »Neurose« allerdings auf die von Albrecht von Haller entwickelte neurophysiologische Theorie der Sensibilität neuronaler Strukturen und der Irritabilität des Muskel-

gewebes. Er hatte also einen unmittelbar somatischen Hintergrund, insoweit »Neurose« in dieser primären Fassung Ausdruck einer gestörten Erregbarkeit des Nervensystems war. Dem Begriff wird heute, im Rahmen der operationalen psychiatrischen Diagnostik, von vielen Autoren so wenig Konsistenz zugesprochen, dass er – ähnlich wie der Begriff des Endogenen – als hinderlich und wissenschaftlich entbehrlich angesehen wird (Anm.: Man darf nicht verkennen, dass mit der Abschaffung eines Begriffs das von ihm adressierte Problem, so unscharf er es auch erfasst haben mag, nicht zugleich eliminiert ist.). Auch der Begriff »Psychiatrie« taucht in diesem Zeitraum erstmalig auf, und zwar in Arbeiten des Hallenser »Stadtphysikus« und späteren Professors der Medizin an der neugegründeten Universität Berlin Johann Christian Reil (1759–1813).

Barbarische Therapieverfahren Besonderer Hervorhebung bedarf der Umstand, dass die Psychiatrie der Aufklärungszeit bei aller grundsätzlichen Orientierung am Konzept der Vernunft als zentralem Merkmal des Menschen, also an der Rationalität, doch in der Praxis der Patientenbetreuung eine Reihe von aus heutiger Sicht außerordentlich irrational, ja barbarisch anmutenden »Therapieverfahren« entwickelt, propagiert und angewandt hat. Viele dieser »Behandlungen« beruhten auf dem Prinzip, den seelisch Kranken derartig zu erschrecken oder körperlicher Belastung auszusetzen, dass die Erscheinungen der Psychose entweder in den Hintergrund treten oder günstigstenfalls ganz verschwinden: Im Drehstuhl wurden die Patienten herumgeschleudert, beim Überqueren einer Brücke öffnete sich plötzlich eine Falltür, so dass der Patient ins Wasser stürzte, Hungerkuren, selbst Kastrationen wurden durchgeführt.

Philippe Pinel und die »französische Schule« 1801 erschien das Hauptwerk des bereits erwähnten französischen Arztes Philippe Pinel (⊡ Abb. 1.1) mit dem Titel »Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale ou la manie«. Damit gelangte ein – auch schon von früheren, vorwiegend französischen Autoren verfochtenes – prag⊡ Abb. 1.1. Philippe Pinel (Quelle: Münchener Medizinische Wochenschrift)

7 1.4 · Von der Aufklärung zur »romantischen Psychiatrie«

matisch-eklektisches, an humanen Grundwerten orientiertes Psychiatrieverständnis zum Durchbruch. Skeptisch bis offen ablehnend äußerte sich Pinel über alle spekulativen Hypothesen über die Genese und v. a. den »Sitz« der Geisteskrankheiten. Zwar übernahm auch er bei seiner nosologischen Einteilung seelischer Störungen in Manie, Melancholie, Demenz und Idiotie viele, z. T. auch wenig begründete Annahmen früherer Autoren, etwa die Zuordnung der Manie zum Abdomen, genauer zu gestörten Funktionen in den viszeralen Gangliengeflechten, doch wird als Grundtenor stets die Forderung nach nüchtern-sachlicher Beschreibung klinischer Sachverhalte in ihrem individuellen biografischen und sozialen Kontext beibehalten. Unausgeglichene Affekte, falsche Erziehungs- und Bildungsmethoden, biografische Krisenzeiten wie Pubertät oder Berentung können für Pinel ebenso in die psychotische Erkrankung münden wie rein somatische Einflüsse. Insofern findet sich bei Pinel wie auch bei Reil ein breites, personenzentriertes und verhältnismäßig undogmatisches Verständnis seelischer Störung – einige Jahrzehnte bevor es im Gefolge des Siegeszuges naturwissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse in der Medizin allgemein und in der Psychiatrie im Besonderen zu der bis heute anhaltenden Polarisierung zwischen naturalistischen und personalistischen Ansätzen kam. Darauf wird zurückzukommen sein.

»Befreiung der Irren von den Ketten« Konsequent lehnte Pinel mechanische oder sonstige Zwangsmittel bei der Therapie psychotischer Patienten ab und polemisierte gegen die bereits erwähnten barbarischen Gerätschaften, deren zugrunde liegende theoretische Konzepte er als schlimmere Verirrungen bezeichnete als die Wahngebilde seiner Patienten. Die »Befreiung der Irren von den Ketten«, die er in den beiden von ihm geleiteten Pariser Kliniken – Bicêtre hatte er 1793, Salpêtrière 1795 übernommen – vornahm, umfassend begründete und gegen Angriffe verteidigte, machte seinen Namen international bekannt. Dora Weiner (1980) hat über diese Vorgänge und die Beteiligung von Pinels Mitarbeiter Pussin eingehend berichtet. Wie bereits erwähnt, gab es Bemühungen zur Abschaffung von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie des frühen 19. Jahrhunderts in vielen Ländern. Im englischsprachigen Raum war John Conolly (1794–1866) der Vorreiter dieser Bewegung: Er entwickelte das Konzept des »no-restraint« und setzte es ebenfalls konsequent in die Tat um.

Eklektischer Standpunkt In der Synopsis waren Pinel und sein einflussreichster Schüler Jean-Etienne Dominique Esquirol (1772–1861) klinische Pragmatiker, die auf dem Boden eines aufgeklärten Humanismus vieles in der zeitgenössischen Psychiatrie in Bewegung setzten, einen eklektischen Standpunkt vertraten und theoretischen Ansätzen gegenüber Zurück-

haltung übten, insbesondere, wenn diese mit dogmatischem Anspruch auftraten.

Konzept der »moral insanity« Eine wichtige konzeptuelle Neuerung ist hier zu nennen: Die Schaffung der diagnostischen Kategorie »moral insanity« durch den englischen Psychiater James Cowles Prichard (1785–1848). Er bezeichnete damit Personen, die die üblicherweise respektierten, im sozialen Kontakt angewandten Wertmassstäbe missachteten, in rücksichtslos-egoistischer Weise ihre Interessen durchsetzten und zugleich die Kritikwürdigkeit eines solchen Verhaltens, zumindest für ihre eigene Person, nicht anerkannten. Anklänge an diese Konzeption finden sich in späteren Psychopathielehren wieder, und auch die heute in der forensisch-psychiatrischen Literatur viel diskutierte und in ihrem Status als behandlungsbedürftige seelische Störung umstrittene »antisoziale Persönlichkeit« hat viele Gemeinsamkeiten mit Prichards Ansatz.

1.4

Von der Aufklärung zur »romantischen Psychiatrie«

Franz Anton Mesmer Eine eigenartige Zwischenstellung zwischen dem nüchternen aufklärerischen Rationalismus und der subjektund v. a. affektorientierten, zu spekulativer Naturphilosophie neigenden Romantik nimmt, was den medizinischen und hier besonders den psychiatrischen Bereich anbetrifft, Franz Anton Mesmer (1734–1815) ein. Theoretischer Kern seines Konzepts ist das Postulat, dass der Kosmos aus verschieden feinen, als materiell gedachten »Flutreihen« bestehe. Die feinste dieser Flutreihen sei nicht mehr teilbar. Deren besondere Wirkung im Bereich des Organischen nannte Mesmer »tierischen Magnetismus«. Dabei dachte er aber nicht an eine starre, atomistische Korpuskulartheorie, sondern betonte den allerdings nicht näher erläuterten Aspekt der »Wechselwirkung« der Flutreihen untereinander. Diese begriffliche Unschärfe rief zurecht viele Kritiker auf den Plan und begründete die sehr komplexe Rezeptionsgeschichte des Mesmerismus. Entscheidend ist, dass sich Mesmer selbst als »Aufklärer« sah, als Entdecker einer allgemeinen, keineswegs nur die Medizin betreffenden naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit. Konsequent – manche Kritiker nannten es übernachhaltig oder gar fanatisch – verfocht er diese These und baute sie, hierin eindeutig über das Ziel hinausschießend, zu einer Theorie der Gesellschaft schlechthin aus. Zwar war eine solche recht unmittelbare Anwendung grundsätzlicher philosophischer Überlegung auf die konkrete Planung von Gemeinwesen und auf die Politik allgemein zur damaligen Zeit nicht unüblich. Man denke an die großen politischen Entwürfe der »deutschen Idealis-

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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie

ten« Kant, Fichte und Hegel. Mesmers Konzeption jedoch stand nach der Einschätzung der meisten Zeitgenossen sowohl in medizinischer als auch in philosophisch-politischer Hinsicht auf so tönernen Füßen, dass sie, abgesehen von einigen hartnäckigen und Mesmer treu ergebenen Verfechtern, von den medizinischen Wissenschaften abgelehnt und von den, in heutiger Terminologie, Gesellschaftswissenschaften nicht rezipiert wurde. Bemerkenswert ist ferner, dass Mesmer mit dieser – potenziell bedenklichen – Überdehnung medizinisch-psychiatrischer Aspekte auch in der Psychiatrie selbst keineswegs alleine steht: Gleichartige Tendenzen – Stichwort: Psychiatrie als Grundlage für ganze Weltanschauungen – finden sich etwa bei so entscheidenden Autoren wie J. C. A. Heinroth, E. Kraepelin, E. Bleuler und S. Freud.

Mesmerismus Der »Mesmerismus« in populärwissenschaftlicher Form mit seinen – nicht Mesmer selbst anzukreidenden – Übergängen in die Scharlatanerie war über Jahre eine Modeerscheinung in größeren europäischen Städten, v. a. in Paris, Wien und Berlin. Der aktuellen psychiatriehistorischen Forschung stellt sich der Mesmerismus als ein sich selbst der Aufklärung zuordnendes, jedoch weit eher der naturphilosophischen Spekulation zuneigendes System dar, das im Bereich der Behandlung seelischer Störungen durchaus als Vorläufer heute weitverbreiteter auto- und heterosuggestiver Therapiemethoden betrachtet werden kann. Durch sein starres Festhalten am Buchstaben seines ursprünglichen Konzepts hat Mesmer selbst aber die sachliche Erforschung der von ihm beschriebenen Phänomene, letztlich also der Suggestion, behindert (Darnton 1968; Hoff 1989 a).

Zum Begriff der »romantischen Psychiatrie« Eine klare Abgrenzung vom Rationalismus der Aufklärung nahmen Autoren vorwiegend des deutschen Sprachraums vor, die heute als Vertreter der »romantischen Psychiatrie« bezeichnet werden. Auch hier ist, wie bei allen wissenschaftlichen und wissenschaftshistorischen Schlagworten, Vorsicht am Platze: Natürlich gab es nicht die romantische Psychiatrie, vertraten nicht alle hierher zu rechnenden Psychiater die gleiche Auffassung, weder theoretisch noch klinisch, natürlich erschöpfte sich die theoretische Debatte in der Psychiatrie des beginnenden 19. Jahrhunderts keineswegs in dem immer wieder verkürzt, ja verfälschend zitierten Streit der beiden Schulen der »Psychiker« und »Somatiker«. Dennoch ist der Begriff der romantischen Psychiatrie grundsätzlich berechtigt und als heuristische Leitlinie für die psychiatriehistorische Forschung sinnvoll (Benzenhöfer 1993; Leibbrand 1956; Marx 1990, 1991). Das romantische Lebensgefühl äußerte sich auf breiter gesellschaftlicher, v. a. künstlerischer Ebene (z. B. romantische Malerei, Musik und Dichtung) und hatte zu-

nächst keine unmittelbaren Berührungspunkte mit der Seelenheilkunde. Diese Verbindung entstand aber gleichsam ganz natürlich, insoweit das Interesse der Romantiker dem Affektiven, dem Unverständlichen und Mysteriösen, der, wie Ricarda Huch (1920) es nannte, »Nachtseite der Seele« galt – und viele der hierzu gerechneten erlebnis- und verhaltensbezogenen Phänomene fanden und finden sich besonders bei Menschen mit gravierenden seelischen Störungen.

Blick auf das Individuum Zentrales Anliegen der psychiatrischen Autoren dieser Zeit war es, die individuelle, v. a. auf den einzelnen Lebenslauf gerichtete Perspektive in die Lehre von Verursachung, klinischem Erscheinungsbild, Verlauf und Behandelbarkeit von seelischen Störungen einzubringen. Dabei wurde dem Bereich der Affekte, der »Leidenschaften«, wie es in den Originaltexten zumeist heißt, großes Gewicht beigemessen. Die wesentliche Kritik am aufklärerischen Rationalismus lautete, dieser habe auf der Suche nach allgemein gültigen »Naturgesetzen« zu sehr die überindividuelle, den einzelnen Menschen eher zufällig betreffende Regel betont und dabei das Individuum in seiner Einzigartigkeit und persönlichen – auch persönlich verantworteten – »Gewordenheit« vernachlässigt.

Psychiker vs. Somatiker Die »Psychiker« unter den romantischen Autoren vertraten die Auffassung, dass die Seele aus sich heraus erkranken könne, dass es also Seelenkrankheiten im engeren Sinne gebe. Genau dies wurde von den »Somatikern«, etwa M. Jacobi (1775–1858) und C. F. Nasse (1778–1851), bestritten. Diese waren aber, im Gegensatz zu einem verbreiteten Missverständnis, keineswegs materialistisch eingestellte Psychiater, sondern hielten – ebenfalls ein typisch romantischer Gedanke – die Seele für etwas ebenso Immaterielles wie Unsterbliches, auch Göttliches, das somit gar nicht selbst erkranken könne; krank werde nur der Körper. Scheinbar seelische Krankheiten seien also in Wahrheit der seelische Ausdruck körperlicher Störungen, die im Übrigen nicht notwendig das Gehirn betreffen müssen, sondern auch im Verdauungs-, Kreislauf- oder Atmungssystem angesiedelt sein können.

Heinroth und Ideler Wesentliche psychiatrische Autoren dieser Epoche, und beide, wenn man sie denn etikettieren will, Psychiker, waren J. C. A. Heinroth (1773–1843) und K. Ideler (1795– 1860). In ihren Schriften finden sich zum einen ausgezeichnete psychopathologische Beschreibungen, getragen von einem genuinen und auch nach fast 200 Jahren dem Text noch anzumerkenden Interesse für das in seelischer Not befindliche Individuum. Heinroth entwarf auch ein der späteren psychoanalytischen Konzeption in Teilen verblüffend ähnliches Instanzenmodell des Seelenlebens,

9 1.5 · Von Griesinger zur »Gehirnpsychiatrie«

in dem er »Instinkte«, »Bewusstsein« und »Über-Uns« unterschied. Zum anderen wurden psychopathologische Befunde aber oft mit einem spekulativen naturphilosophischen oder moralisch-religiösen Hintergrund verknüpft. Schwere seelische Krankheiten wurden so etwa als Folge eines verfehlten Lebenswandels oder »sündhaften Verhaltens« gedeutet (Cauwenbergh 1991; Heinroth 1818; Schmidt-Degenhard 1985). Der Begriff der »persönlichen Verantwortung« für das eigene Leben und damit bis zu einem gewissen Grad auch für die eigenen Krankheiten spielte eine zentrale Rolle im Denken der romantischen Psychiater. Bei Heinroth hatte dies eine radikal anmutende Konsequenz in forensischer Hinsicht: Wer, so Heinroth, im Zustand schwerer geistiger Störung eine Straftat begehe, habe zwar aktuell nicht gewusst, was er tue, sei aber dennoch für die Tat verantwortlich, da ja das Hineingeraten in die Psychose zurückzuführen sei auf vorwerfbare Fehlverhaltensweisen. Dies erinnert an das in unserem Jahrhundert in der forensischen Literatur kontrovers diskutierte – und zumeist verworfene – Konzept der »Lebensführungsschuld«, das aber eher nicht auf die strafrechtliche Verantwortung von psychotisch Erkrankten angewandt wurde.

Vorreiterfunktion der romantischen Psychiatrie Bei aller – oft wesentlich sprachlich begründeten – Befremdlichkeit mancher Überzeugungen der romantischen Psychiater haben Forschungsarbeiten aus jüngerer Zeit doch eindrucksvoll belegt, dass die früher – v. a. gegen Ende des 19. Jahrhunderts –, aber auch heute noch oft anzutreffende pauschale Disqualifizierung dieser psychiatrischen Epoche unbegründet ist, einmal ganz abgesehen von ihrer, allerdings nicht unbestrittenen, Vorreiterfunktion für spätere psychodynamische und im besonderen psychoanalytische Ansätze (s. unten). Weitere wichtige Autoren dieser Zeit sind Johann Reil (1759–1813), der nicht nur, wie erwähnt, den Begriff »Psychiatrie« – ursprünglich: »Psychiaterie« – einführte, sondern in seiner Lehre von den »Gemeingefühlen« eine auch für den heutigen Blick interessante Grundlage für das Verständnis psychotischer Störungen entwarf, Ernst von Feuchtersleben (1806–1849), der psychotherapeutische und psychoedukative Behandlungsformen entwickelte und Carl Gustav Carus (1789–1869), der das – von ihm selbst, Jahrzehnte vor Freud, bereits so benannte – »Unbewusste« für eine zentrale, zumindest teilweise aber unerkennbare Kraft im menschlichen Seelenleben hielt.

1.5

Von Griesinger zur »Gehirnpsychiatrie«

Etwa ab den 1930er Jahren setzte eine Gegenbewegung ein, die sich an die erstarkenden »positiven« Naturwis-

senschaften anzulehnen trachtete. Dieser außerordentlich komplexe Vorgang muss im Übrigen deutlich unterschieden werden von der bereits erörterten Kontroverse zwischen den romantischen Schulen der Psychiker und Somatiker. Eine herausragende Erscheinung der damaligen Psychiatrie, Wilhelm Griesinger (1817–1868; ⊡ Abb. 1.2), darf als einflussreichster Vertreter der Forderung in Anspruch genommen werden, die klinische Psychiatrie habe sich dem psychophysischen Problem empirisch und nicht metaphysisch zu stellen, sie habe also psychophysiologische Forschung zu betreiben. Das ebenso bekannte wie oft ohne Zusammenhang und verkürzt wiedergegebene Zitat, wonach Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten sind, stellt die größtmögliche begriffliche Verdichtung des wohldurchdachten Konzepts Griesingers dar, für welches die klinische Diagnostik gerade nicht hinter einer platten »Hirnmythologie« verschwindet.

Psychiatrie als empirische Wissenschaft Griesinger, der nach einem Wort von Ludwig Binswanger der »Psychiatrie ihre Verfassung gegeben« habe, wandte sich gegen jede Art von unkritischer Spekulation, sowohl naturphilosophisch-romantischer als auch materialistischer Orientierung. Sein Hauptziel war die Etablierung der Psychiatrie als eigenständige, empirisch arbeitende Wissenschaft, die ärztlichem Ethos verpflichtet ist, also psychisch Kranke als Kranke ernst nimmt. Seine Psychiatrie war, plakativ gesagt, von ihrem Selbstverständnis her sowohl ein vorwiegend biologisches Forschungsprogramm als auch eine angewandte ärztliche Anthropologie.

Materialismus Es ist zwar nicht völlig falsch, lädt aber zu Missverständnissen ein, wenn man Griesinger unbesehen und unkommentiert einen Materialisten nennt. Der entscheidende Zusatz muss lauten, dass sein Materialismus ein methodischer und mit Sicherheit kein metaphysischer war. Dies verband ihn mit dem damals einflussreichen Philosophen F. A. Lange (1828–1875). Zentraler Gedanke dieses metho⊡ Abb. 1.2. Wilhelm Griesinger (1817–1868) (Quelle: Münchener Medizinische Wochenschrift)

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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie

dischen Materialismus war die – im Vergleich zu den kompromisslosen Materialisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts geradezu bescheidene – These, dass in der gegebenen Situation eine auf das zerebrale Substrat gerichtete und insoweit von den anzuwendenden Forschungsmethoden her »materialistische« Betrachtungsweise wissenschaftlich, am Weitesten führe. Und wenn Psychisches zwar als »Funktion« des Materiellen, dabei aber sehr wohl als eigenständiges Phänomen angesehen und nicht etwa grundsätzlich geleugnet werde, dann werde – erklärtes Ziel der psychiatrischen Forschung seit Griesinger – auch das Psychische der empirisch-quantifizierenden Forschung zugänglich. Damit bleibe es nicht mehr, wie bei manchen romantischen Psychiatern, gerade den Somatikern unter ihnen, hinter der Qualifizierung als »heilig« oder »göttlich« abgeschottet (Hoff u. Hippius 2001; Verwey 1985; Wahrig-Schmidt 1985)

Verlaufsaspekt des »Irreseins« Nicht nur dieses hier nur grob umrissene Forschungsprogramm, sondern ein psychopathologisches Konzept, nämlich die gemeinsam mit seinem Lehrer Albert Zeller, des Leiters der Anstalt Winnenthal, entwickelte Idee der Einheitspsychose, hat Griesingers Namen vom Erscheinen seines Hauptwerks »Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten« (1845, 2. Aufl. 1861) an bis in die aktuelle Diskussion (Berrios u. Beer 1995; Crow 1990; Mundt u. Sass 1992; Rennert 1965, 1982) fest mit Grundfragen der psychiatrischen Nosologie verknüpft. Noch vor Kahlbaum und Kraepelin war hier der Verlaufsaspekt als ein Moment gewürdigt worden, das jede bloß symptomatologisch orientierte Nosologie differenzierte und ordnete. Allerdings ging es Griesinger gerade nicht um ein nosografisches Aufspalten in einzelne Krankheitseinheiten, sondern im Gegenteil um die Darstellung des »Irreseins« als eines einzigen Morbus (Einheitspsychose), der gesetzmässig mehrere Stadien durchläuft (Vliegen 1980): Primär die affektive Störung, dann die wahnhafte Entgleisung, die »Verrücktheit«, und schließlich, sofern nicht Stillstand oder Remission eintreten, das schwere und schließlich irreversible Defizit auf der kognitiven und der Handlungsebene, in heutiger Terminologie eine Demenz. Allerdings akzeptierte Griesinger später – auch hier nicht dogmatisch – Snells Beschreibung einer »primären Verrücktheit« (1865), der gerade kein affektives Vorstadium vorauszugehen brauche und widerrief in diesem Punkt seine frühere Konzeption. Auch diese Debatte ist alles andere als »nur« historisch interessant: Die Frage nämlich, mit welchem Typus von Krankheit oder gar Krankheitseinheit wir es in der Psychiatrie zu tun haben, ob wir von distinkten Kategorien oder deutlich überlappenden Dimensionen zu tun haben, ist ein kontroverser Gegenstand der aktuellen und sicherlich ebenso der zukünftigen Diskussion.

Stadtasyle vs. große Kliniken Griesinger beschäftigte sich, was oft übersehen wird, intensiv mit »Sozialpsychiatrie«, um den heutigen Terminus zu gebrauchen. Er grenzte sich klar von der von Roller, dem Leiter der Badischen Anstalt Illenau, vertretenen Auffassung ab. Roller postulierte, psychisch Kranke seien möglichst abgeschieden in ruhigen ländlichen Gebieten und in eigens für diesen Zweck geschaffenen Einrichtungen zu behandeln, also strikt getrennt von allen sonstigen Patienten. Griesinger hingegen forderte die Integration der psychiatrischen in die medizinische Versorgung. Konkret beinhaltete dies v. a. die Errichtung sog. »Stadtasyle« (Griesingers Ausdruck) für die akut Erkrankten, die einer eher kurzen stationären Behandlung bedürfen. Derartige »gemeindenahe« Versorgungseinrichtungen sollten nach Griesingers Vorstellung im Verbund mit den bestehenden allgemeinen Stadtkrankenhäusern betrieben werden, da eine enge Verzahnung zwischen Zuweiser, Klinik, Weiterbehandler und Lebensumfeld entscheidend für die Prognose sei (Bergener 1987; Rössler 1992). Die Mitte und 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Zeit der Gründung zahlreicher großer und, Griesingers Intention ganz entgegengesetzt, meist weit ab von den großen Siedlungsräumen situierter psychiatrischer Kliniken (Jetter 1981). Unabhängig davon etablierten sich in diesem Zeitraum an den meisten medizinischen Fakultäten Lehrstühle für Psychiatrie bzw. für Nervenkrankheiten.

Fortschritte in den Naturwissenschaften In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die Naturwissenschaften, auch die Biologie, rasch weiter. Für die Psychiatrie besonders wichtig wurden die Fortschritte der Neuroanatomie, die Lehre von der zerebralen Lokalisation bestimmter Leistungen wie Motorik und Sensibilität, aber auch Sprache und Gedächtnis. Wesentlich bereichert wurde diese Forschungsrichtung durch die Entwicklung neuer Techniken: Beispielhaft seien das von Bernhard von Gudden (1824–1886) konstruierte Mikrotom zur Fertigung von sehr dünnen Hirnschnitten und spezifischere histologische Färbemethoden wie diejenige von Franz Nissl (1860–1919) genannt (»Nissl-Färbung«).

Unreflektierter Materialismus Jedoch wurde dieser Fortschritt auch von der Neigung mancher Autoren begleitet, das gerade erfolgreich etablierte biologische Paradigma zu überdehnen und einem mehr oder weniger unreflektierten Materialismus das Wort zu reden. Für Autoren wie den Wiener Psychiater Theodor Meynert (1833–1892) waren denn auch seelische, insbesondere psychotische Störungen, nichts anderes als »Erkrankungen des Vorderhirns«, so der bezeichnende Untertitel seines 1884 erschienenen, einflussreichen Lehrbuchs der Psychiatrie. Zeitgenössische und spätere Kritiker haben die (Universitäts-)Psychiatrie des ausgehenden

11 1.6 · Degenerationslehre

19. Jahrhunderts nicht ganz zu unrecht »Gehirnpsychiatrie« genannt, »Psychiatrie ohne Seele« oder spöttisch, so etwa Jaspers, »Hirnmythologie«. Wenn man einmal von der heute oft als eigenartig, ja befremdlich empfundenen psychiatrischen Begrifflichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts absieht, so bleibt doch die Parallele zwischen den damals und heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, drängenden grundsätzlichen Fragen verblüffend, etwa die nach dem Zusammenhang zwischen Subjektivität und Hirnfunktion oder nach dem Begriff, um nicht zu sagen dem »Wesen« der psychischen Krankheit schlechthin. Darauf wird noch mehrfach zurückzukommen sein.

1.6

Degenerationslehre

Bei der »Entartungs-« oder »Degenerationslehre« handelt es sich um nichts weniger als um eine bloß unter psychiatrischen Spezialisten erörterte randständige Theorie. Sie prägte vielmehr über die Literatur, die Naturwissenschaften und nicht zuletzt die Politik das geistige Profil des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts entscheidend mit (Chamberlin u. Gilman 1985; Pick 1989; Wettley 1959). Der für die Psychiatrie besonders relevante Teil dieser Lehre nahm entscheidende Impulse aus der französischen Psychopathologie auf, v. a. von B. A. Morel (1857) und V. Magnan (1896). Der Ansatz ging davon aus, dass über viele Generationen hinweg innerhalb einer Familie eine zunehmende »seelische Degeneration« auftreten kann, wobei die Reihe von leichten psychischen Auffälligkeiten wie Nervosität oder geringe Belastbarkeit über markante affektive Störungen und psychotische Episoden bis hin zu schwerster Demenz reicht (Hermle 1986; Liegeois 1991). Die psychiatrischen Degenerationstheoretiker – im deutschen Sprachraum etwa H. Schüle und R. von KrafftEbing – beriefen sich durchaus auf umfangreiche empirische Beobachtungen und hinterstellten ihren Erfahrungen eine teils naturwissenschaftlich (Magnan), teils moralphilosophisch (Morel) ausgerichtete Theorie. Andere Autoren wiederum verknüpften die theoretische Ebene des Entartungsgedankens auf noch viel direktere Weise mit der empirischen: Vor allem die italienische kriminalanthropologische Schule Cesare Lombrosos hob die diagnostische, ja prognostische Wertigkeit somatischer Kennzeichen (»Stigmata«) hervor, aus deren Vorhandensein sowohl auf psychopathologische Zusammenhänge als auch auf das bereits erreichte Niveau der Degeneration rückgeschlossen werden könne.

Degenerationslehre und Rassentheorie Die Grundgedanken der Degenerationslehre finden sich in fast allen psychiatrischen oder nervenheilkundlichen Lehrtexten der Jahrhundertwende in mehr oder weniger klar erkennbarer Form wieder. Als Beispiel sei hier Emil Kraepelin erwähnt, ein besonders einflussreicher psychi-

atrischer Autor, auf den in anderem Zusammenhang noch zurückzukommen sein wird. Das Beispiel soll die starke Verbreitung der Degenerationslehre ebenso belegen wie die – für heutige Leser irritierende – Selbstverständlichkeit, mit der die entsprechende Terminologie als wissenschaftlich akzeptabel, ja geboten anerkannt wurde. Hervorzuheben ist die Notwendigkeit, mit dieser psychiatriegeschichtlich besonders wichtigen und emotionsgeladenen Materie sorgfältig und differenziert umzugehen. Nicht jeder Autor der Jahrhundertwende, der sich der Sprache der »Entartungslehre« bedient, kann als unmittelbarer gedanklicher Vorläufer oder gar Befürworter nationalsozialistischen (oder sonstigen) Terrors gegen psychisch Kranke diskreditiert werden. Freilich stehen andererseits – und dies macht die Situation so komplex – die Degenerationslehre und der Nationalsozialismus über die Konzepte des Sozialdarwinismus und der »Rassenhygiene« (s. unten) in einem vielschichtigen ideengeschichtlichen Zusammenhang. Ein einfaches Ursache-Wirkungs-Verhältnis liegt hier zwar mit Sicherheit nicht vor, doch hat es die wissenschaftlich auf tönernen Füssen stehende degenerationstheoretische Lehrmeinung den noch weitaus spekulativeren, ja absurden Rassetheorien der Nationalsozialisten besonders leicht gemacht, ihre ideologischen Verzerrungen wissenschaftlich zu verbrämen.

Verwendung des Degenerationsbegriffes am Beispiel von Kraepelin Viele Psychiater der Jahrhundertwende, so eben auch Emil Kraepelin, haben vom Begriff der Degeneration regen Gebrauch gemacht: Kraepelin, der alles andere als ein unpolitischer Wissenschaftler war (Engstrom 1991), spricht immer wieder von »Entartung«, auch von den »Entarteten«, von »degenerativer Grundlage« und »Minderwertigkeit«. Besonders deutlich wird dies bei seiner Schilderung von – wie wir heute sagen würden – persönlichkeitsgestörten, aber auch dysthymen oder sexuell devianten Patienten. Dennoch wäre der Schluss verfehlt, in der deutschsprachigen Psychiatrie der Jahrhundertwende habe eine vollkommen unkritische Einstellung zur Degenerationstheorie vorgeherrscht. Insbesondere nach der »Wiederentdeckung« der von Mendel beschriebenen Vererbungsgesetze verlor der im Vergleich dazu sehr verschwommene Begriff der »Degeneration« zunehmend an Boden. Bei Kraepelin etwa kontrastiert die umfassende Anwendung der Degenerationstheorie auf eigenartige Weise mit seiner mehrfach geübten Kritik an der begrifflichen Unschärfe des Konzepts. So spricht er von der »unsicheren und schwankenden Umgrenzung« des Begriffs Entartung (Kraepelin 1915, S. 1973). 1918 weist er den von Magnan vertretenen umfassenden Erklärungsanspruch der Theorie zurück: Wenn auch, so Kraepelin, durch dessen »Bestrebungen, die Geistesstörungen der Entarteten

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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie

grundsätzlich denen der gesund Veranlagten gegenüberzustellen …, die engen Beziehungen gewisser Formen des Irreseins zur erblichen Anlage in helles Licht gesetzt wurden, hat sich doch die schroffe Trennung jener beiden Gruppen als undurchführbar erwiesen« (Kraepelin 1918, S. 253).

Differenzierung zwischen »gesund« und »krank« Auch Kraepelins Verwendung einschlägiger Termini wie »erbliche Entartung«, »krankhafte Veranlagung«, »seelische Entwicklungshemmungen« oder »angeborene Grundzustände« ist alles andere als einheitlich. Dies sehr wohl spürend, beruft er sich bei der Differenzierung zwischen »gesund« und »krank« besonders im Falle der nicht klar psychotischen Krankheitsbilder letztlich auf das quantitative Moment, nämlich den Schweregrad, v. a. im Sinne der psychosozialen Folgen einer seelischen Störung: »Würden wir im strengsten Sinne alle diejenigen angeborenen Eigenschaften als Ausfluss der Entartung betrachten, die der Erreichung allgemeiner Lebenszwecke hinderlich sind, so würden wir deren Spuren nirgends vermissen. Die Bedeutung des Krankhaften können wir aber den persönlichen Abweichungen von der vorgezeichneten Entwicklungsrichtung erst dann zuschreiben, wenn sie eine erhebliche Bedeutung für das körperliche oder psychische Leben gewinnen; die Abgrenzung ist also eine rein gradweise und deswegen in gewissem Spielraume willkürliche« (Kraepelin 1915, S. 1973).

Ethische Erwägungen Andererseits hat Kraepelin mehrfach vor der unbedachten Umsetzung derartiger Konzepte in konkrete Maßnahmen gewarnt. So stand er der von ihm erwähnten amerikanischen Praxis, bei manchen psychischen Störungen eine Sterilisation durchzuführen, unter Hinweis auf das unvermeidliche ethische Dilemma skeptisch gegenüber: »Ohne Zweifel wäre die Massregel wirksam, doch erscheint die Bestimmung darüber schwierig, bei wem sie Halt zu machen hätte.« (Kraepelin 1903, S. 386).

Erbfaktoren vs. Persönlichkeit und Umwelt Auf ein weiteres Beispiel für die durchaus vorhandene Bereitschaft zur kritischen Prüfung der Degenerationslehre hat Heimann (1989) hingewiesen: Als der spätere Tübinger Ordinarius für Psychiatrie und überzeugte Nationalsozialist H. F. Hoffmann im Juli 1920 anlässlich einer Sitzung der von Emil Kraepelin geleiteten (und gegründeten) Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie über seine rassenhygienischen und erbbiologischen Thesen sprach, äusserte Kraepelin bei aller Zustimmung zur genetischen Forschung in der Psychiatrie im allgemeinen doch erhebliche Bedenken gegen die unkritisch-vorschnellen Rückschlüsse von Symptomen auf zugrunde liegende Krankheitsprozesse im besonderen. Er betonte, dass »die Krankheit« eben gerade nicht unmittelbar zu

der klinischen Symptomatik führe, sondern dass Persönlichkeit und Umwelt – also nicht oder nicht entscheidend erbbedingte Faktoren – von grosser Bedeutung seien.

Degenerationstheorie als konzeptueller Hintergrund Für den hier beispielhaft herausgegriffenen Autor Kraepelin gilt also, dass die Degenerationstheorie zu einem umfassenden, aber nicht dogmatisch angewandten Raster wurde, zu einer Art konzeptuellem Hintergrund für das Verständnis zahlreicher seelischer Störungen. Am wenigsten wirkte sich dies hinsichtlich der Dementia praecox aus, am deutlichsten bei der manisch-depressiven Erkrankung, der Paranoia und, wie bereits erwähnt, bei den Persönlichkeitsstörungen. Trotz dieser wenig reflektierten allgemeinen Bejahung des Degenerationsgedankens lehnte Kraepelin biologistische Verkürzungen – etwa im Sinne der »stigmata degenerationis« – klar ab. Seine Einstellung – und auch die anderer wichtiger zeitgenössischer Autoren – bleibt hier auf eine ähnlich merkwürdige Art unscharf wie diejenige zum Leib-Seele-Problem oder zu sonstigen wissenschaftstheoretischen Grundsatzfragen, obwohl Kraepelin, äußerlich betrachtet, in allen Auflagen des Lehrbuchs sowie in einer eigens diesem Thema gewidmeten Studie (Kraepelin 1908) mehrfach ausführlich dazu Stellung genommen hat. Im deutschen Sprachraum wird Bumkes Studie »Über nervöse Entartung« (1912) als die entscheidende und wirksamste Kritik an der tradierten Form der Degenerationslehre angesehen.

1.7

Die Kliniker um die Jahrhundertwende

Klinisch-pragmatische Verlaufsforschung Parallel zur Entwicklung des Degenerationsgedankens und, wie gezeigt wurde, deutlich beeinflusst von ihm, trat in Fortsetzung der Studien von Wilhelm Griesinger und Karl Ludwig Kahlbaum (1828–1899; ⊡ Abb. 1.3) mit Emil Kraepelin (1856–1926) die klinisch-pragmatische Ver⊡ Abb. 1.3. Karl Ludwig Kahlbaum (1828–1899) (Quelle: Münchener Medizinische Wochenschrift)

13 1.7 · Die Kliniker um die Jahrhundertwende

laufsforschung in den Vordergrund des Interesses. Vor allem Kahlbaum und Kraepelin empfanden frühere Systematiken besonders deswegen als unbefriedigend, weil dem fluktuierenden klinischen Zustandsbild im Vergleich zum Langstreckenverlauf ein zu großes Gewicht beigemessen worden sei. »Pragmatisch« kann man beide Autoren insoweit nennen, als es ihnen um die möglichst umfassende und detailgenaue klinische Erfassung von Krankheitsverläufen ging, um erst auf dem Boden einer solchen empirischen Kenntnis theoretisch-systematische Überlegungen anzustellen. Dabei schwingt insbesondere bei Kraepelin eine gewisse Skepsis gegenüber vertieften wissenschaftstheoretischen Erwägungen in der Psychiatrie mit. Kahlbaum hingegen entwarf ein recht komplexes, zwischenzeitlich weitgehend in Vergessenheit geratenes nosologisches System, das hier nicht näher betrachtet werden kann. In klinischer Hinsicht ist Kahlbaums Name v. a. mit der Beschreibung der Katatonie, des »Spannungsirreseins«, wie er es nannte, verbunden (Kahlbaum 1874; Lanczik 1992).

Emil Kraepelin Emil Kraepelin (⊡ Abb. 1.4) setzte in manchen Aspekten das von Griesinger und Kahlbaum begonnene Vorhaben einer klinischen Forschung fort, prägte es aber stark durch seine eigenen Konzepte. Ähnlich wie Kahlbaum äußerte sich Kraepelin immer wieder sehr kritisch über den rein symptomatologischen Zugang zur psychiatrischen Diagnostik, der bei vielen Autoren des 19. Jahrhunderts vorgelegen habe. Zwar verkannte er nicht, dass auch Griesinger den Verlaufsaspekt herausgearbeitet hatte, jedoch konnte dessen bereits erörterte Konzeption einer Einheitspsychose den pragmatischen Kliniker Kraepelin nicht überzeugen. Entscheidend für den bis heute anhaltenden großen Einfluss seines Werkes dürfte gewesen sein, dass Kraepelin der unter der terminologischen Unübersichtlichkeit des 19. Jahrhunderts leidenden Psychiatrie ein sich auf jahrzehntelange klinische Erfahrung berufendes und damit »innerpsychiatrisch« – also eben nicht philosophisch oder neuroanatomisch – legitimiertes und zudem noch prognostisch und damit pragmatisch ⊡ Abb. 1.4. Emil Kraepelin (1856–1926) (Quelle: Psychiatrische Klinik der LMU München, Psychiatriehistorische Sammlung)

orientiertes nosologisches Bezugssystem zur Verfügung stellte.

Konzept der »natürlichen Krankheitseinheiten« Vor dem Hintergrund der von ihm, wie oben ausgeführt, in hohem Masse, aber nicht kritiklos akzeptierten und angewandten Degenerationslehre waren psychophysischer Parallelismus, strikter, wenn auch kaum thematisierter philosophischer Realismus sowie eine unbedingte Orientierung an der beobachtbaren klinischen Realität die Grundpfeiler, die es Kraepelin ermöglichten, in ungemein wirksamer Art unterschiedliche methodische Ansätze auf ein gemeinsames Forschungsziel hin auszurichten, nämlich die Erkennung dessen, was er »natürliche Krankheitseinheiten« nannte. Der zentrale Gedanke dieses Ansatzes ist die Hypothese, dass es in der Psychiatrie, wie in anderen medizinischen Fächern auch, von der Natur vorgegebene – in heutiger Terminologie: biologische – Krankheitseinheiten gibt, die in genau dieser Weise existieren, ganz unabhängig davon, ob sich die Forschung mit ihnen beschäftigt oder nicht. Diese Einheiten werden also nach Kraepelins Auffassung keineswegs von den Psychiatern »konstruiert«, sind keineswegs bloße psychopathologische Konventionen, sondern existente und voneinander eindeutig trennbare Entitäten, ähnlich wie dies bei Gegenständen der Außenwelt, etwa verschiedenen Arten von Pflanzen, möglich ist. Das von Kraepelin vertretene, sehr weitgehende Postulat lautete nun, dass der Forscher sich unabhängig von der von ihm angewandten Forschungsmethodik – pathologische Anatomie, ätiologisch-pathogenetische Forschung oder Symptomatologie einschließlich des Verlaufs – bei hinreichend ausgearbeiteter Technik notwendigerweise auf die Entdeckung immer derselben psychiatrischen Einheiten hinbewegen wird, eben den ja schon vor jeder Forschung festliegenden »natürlichen Krankheitseinheiten«.

Psychiatrische Forschung und Wissenschaftstheorie Freilich war Kraepelin bewusst, und er hat dies auch geäußert, welch hohen Anspruch an die psychiatrische Forschung er hier stellte. Weit weniger klar hingegen brachte er die von ihm explizit oder häufiger implizit eingeführten wissenschaftstheoretischen Konzepte zur Sprache, nämlich Realismus (Anm.: Hier im wissenschaftstheoretischen Sinne, also im Gegensatz zu Idealismus, gemeint), Parallelismus, Naturalismus und die methodische Ausrichtung der Psychiatrie an der experimentellen Psychologie Wundtscher Prägung. Durchaus kritisch diskutierte er aber die Tatsache, dass sich in der klinischen Realität die Grenzen zwischen den einzelnen psychischen Erkrankungen oft kaum ziehen lassen, obwohl sein Modell genau dies fordern müsste. Diesem von ihm selbst, aber auch von zahlreichen an-

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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie

deren Autoren geäußerten Einwand versuchte er in den späten programmatischen Arbeiten aus den Jahren 1918– 1920 Rechnung zu tragen. Hier finden sich Formulierungen, die ein graduelles Aufweichen der früher kompromisslosen Konzeption natürlicher und prinzipiell erkennbarer Krankheitseinheiten anzeigen und die v. a. die von Birnbaum (1923) »pathoplastisch« genannten Faktoren deutlich mehr berücksichtigen, etwa die Persönlichkeit des Erkrankten, seine Lebensbedingungen und die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. Dennoch ist, wenn man Kraepelins Texte sehr genau auf diesen Punkt hin untersucht, über die 5 Jahrzehnte seiner aktiven psychiatrischen Forschung »kein grundsätzliches Abrücken« von der Leitidee der natürlichen Krankheitseinheit festzustellen (Hoff 1994). Die wesentlich auf Verlaufsmerkmale gestützte Dichotomie endogener Psychosen (Dementia praecox vs. manisch-depressive Erkrankung) ist nur eines unter vielen Resultaten seiner diagnostischen Forschung, wenn auch ohne Zweifel ein besonders nachhaltig, nämlich bis hin zu den aktuellen operationalen Diagnosemanualen wirksames (s. unten).

Alfred Erich Hoche Ein nicht grundsätzlicher, aber doch deutlicher Gegenentwurf zu Kraepelins Psychiatrieverständnis kam von Alfred Erich Hoche (1865–1943), eine aus psychiatriegeschichtlicher Sicht in mehrfacher Hinsicht wichtige Figur. Im jetzigen Zusammenhang geht es um Hoches hartnäckig vorgetragene Kritik an Kraepelins Konzept der »natürlichen Krankheitseinheiten«, das Hoche für zu spekulativ, mindestens aber für weitaus verfrüht hielt. Er sprach von der »Jagd nach dem Phantom« Krankheitseinheit und spottete in unverkennbarer Anspielung auf Kraepelins zahlreiche kleine und große Änderungen der nosologischen Grenzen, dass man eine trübe Flüssigkeit – nämlich das klinische Bild und den Verlauf seelischer Störungen – nicht dadurch klarer mache, dass man sie von einem Gefäß in das andere giesse – also den Störungen bloß neue Namen gebe (zusammengefasst dargestellt in Hoche 1912). Hoche schlug vor, die Frage der natürlichen Krankheitsentitäten als – vorläufig oder grundsätzlich – unbeantwortbar zurückzustellen und sich der Erarbeitung empirisch abgesicherter, den Belangen von Praxis und Forschung vollauf genügender Symptomenkomplexe zu widmen. Dieser später »syndromal« genannte Ansatz hat sich weitgehend durchgesetzt, was freilich die Existenz von »hinter« den Syndromen stehenden Krankheitseinheiten nicht prinzipiell ausschließt. Erwähnenswert ist aber bereits hier, dass derselbe Autor, Hoche, einer von 2 Autoren eines 1920 erschienenen Buches war, in dem die »Tötung lebensunwerten Lebens« aus juristischer und psychiatrischer Sicht erörtert und definitiv gutgeheißen wird. Darauf wird zurückzukommen sein.

Robert Gaupp und Ernst Kretschmer Einige weitere wichtige konzeptuelle Beiträge, die zu Beginn dieses Jahrhunderts erschienen, seien erwähnt: Robert Gaupp (1870–1953), bis 1906 Kraepelins Oberarzt in München, und Ernst Kretschmer (1888–1964), beide in Tübingen, entwarfen einen psychopathologisch fundierten Ansatz, mit dem sie sich in mancherlei Hinsicht, wenn auch nicht grundsätzlich, von Kraepelins Denken entfernten.

Verstehender Zugang zum »Unverständlichen« des Wahns Gaupp ging es v. a. um die Frage, inwieweit es einem verstehenden, Biografie und Persönlichkeitsentwicklung betonenden Zugang zumindest in Einzelfällen möglich sein könnte, das »Unverständliche« des Wahns aufzulösen, den Wahn somit als psychologisch verständliche, wenn auch ungewöhnliche Reaktion auf eine ganz bestimmte Konstellation vorwiegend seelischer und sozialer, aber auch körperlicher Bedingungen aufzufassen. In meisterhafter Weise hat Gaupp diese Thematik anhand des Falles des von ihm begutachteten »Hauptlehrers Wagner« entwickelt, der aus wahnhaftem Erleben heraus 1913 seine Familie und mehrere ganz unbeteiligte Personen getötet sowie verschiedene Brände gelegt hatte. Gaupp hielt bis zu Wagners Tod im Jahre 1938 mit ihm Kontakt und veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zu diesem Fall (Gaupp 1920). Neuzner und Brandstätter (1996) haben die Krankengeschichte Wagners unter besonderer Berücksichtigung seiner langjährigen Beziehung zu Gaupp und der von ihm verfassten Theaterstücke und sonstigen literarischen Texte umfassend aufgearbeitet.

Konstitutionsbiologischer Ansatz Ergänzt und wesentlich erweitert wurde diese Forschungsrichtung durch Gaupps Schüler Ernst Kretschmer (Anm.: In diesem Zusammenhang ist vor allem Kretschmers Monografie über den »Sensitiven Beziehungswahn« (1918) zu erwähnen, auf die später noch eingegangen wird.), der einen konstitutionsbiologischen Ansatz verfolgte, also versuchte, bestimmte körperliche Merkmale, v. a. den Körperbau, mit seelischen Eigenschaften und Störungen in Verbindung zu bringen. Kretschmer forderte in heute sehr aktuell anmutender Weise eine »mehrdimensionale« Diagnostik und damit auch Befunderhebung.

Carl Wernicke, Karl Kleist und Karl Leonhard Der bedeutende Kliniker und Forscher Carl Wernicke (1848–1905) entwarf eine psychiatrische Systematik, die in den endogenen Psychosen in mancherlei Hinsicht Analoga der neurologischen Systemerkrankungen sah. Er beschäftigte sich intensiv mit der psychotisch gestörten Ausdrucksmotorik, insbesondere mit den katatonen Symptomen. Die von ihm begründete Schule wurde von

15 1.8 · Psychoanalyse und Behaviorismus

Karl Kleist (1879–1960) und Karl Leonhard (1904–1988) fortgeführt. Diese Autoren definierten – weit über die als zu grob empfundene Einteilung Kraepelins hinaus, v. a. unter Ablehnung seiner nosologischen Dichotomie endogener Psychosen – distinkte psychische Krankheitseinheiten, die bezüglich ihrer Genese, familiären Belastung, Symptomatik, Verlauf und Therapie scharf zu trennen seien. Am prägnantesten hat diesen Gedanken Karl Leonhard in seiner »Einteilung der endogenen Psychosen« (1980) herausgearbeitet. Dieser Ansatz stellt den Gegenpol zum einheitspsychotischen Konzept Griesingers dar (Beckmann u. Franzek 1995).

Karl Bonhoeffer Karl Bonhoeffer (1868–1948), nach seiner Breslauer Zeit von 1912–1938 26 Jahre lang Direktor der Klinik für psychische und Nervenkrankheiten an der Berliner Charité, postulierte die »nosologische Unspezifität« psychopathologischer Symptome, indem er die bis heute akzeptierte These aufstellte, dass dem Gehirn nur eine begrenzte Anzahl von Reaktionsmöglichkeiten auf die theoretisch unbegrenzte Zahl von Noxen zur Verfügung stünden. Damit werde jeder unmittelbare Schluss vom Symptom auf die Ursache hinfällig (Bonhoeffer 1910).

Eugen Bleuler Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939; ⊡ Abb. 1.5) versuchte als einer der ganz wenigen Universitätspsychiater, Freuds Psychoanalyse in die klinische Psychiatrie zu integrieren. Später allerdings, nachdem sich zunehmende inhaltliche Diskrepanzen zwischen Bleulers und Freuds Grundüberzeugungen gezeigt hatten, entfernte er sich wieder von dieser Position, wenn auch keineswegs vollständig (Bleuler 1913; Küchenhoff 2001). Nach einer kritischen Zusammenfassung der vorliegenden Forschungsergebnisse schlug Bleuler (1911) vor, nicht mehr, wie Kraepelin, von der Dementia praecox, sondern in Anbetracht der symptomatologischen, möglicherweise aber auch ätiologisch-pathogenetischen Heterogenität dieser Erkrankungen von der »Gruppe der

⊡ Abb. 1.5. Eugen Bleuler (1857–1939) (Quelle: Münchener Medizinische Wochenschrift)

Schizophrenien« zu sprechen, ein Vorschlag, der sich weithin durchsetzte. Für die systematische Erfassung psychopathologischer Phänomene bedeutsam wurden Bleulers Unterscheidungen zwischen Grundsymptomen und akzessorischen Symptomen sowie zwischen primären und sekundären Symptomen: Grundsymptome sind bei jeder schizophrenen Erkrankung vorhanden, akzessorische hingegen können, müssen aber nicht hinzutreten. Ganz anders, nämlich ätiologisch, ist die zweite Unterscheidung gedacht: Primäre Symptome resultieren nach Bleuler unmittelbar aus dem von ihm vermuteten neurobiologischen Krankheitsprozess, während die sekundären Symptome bereits psychische Reaktionen des Betroffenen auf die Krankheit darstellen. Richtungweisend wurde auch Bleulers Beitrag zum Verlauf schizophrener Erkrankungen, insoweit er die ausgesprochen pessimistische Kraepelinsche Auffassung vom notwendig schlechten Verlauf der »Dementia praecox« verließ und die Gruppen der teilweise oder sogar vollständig remittierten Patienten beschrieb. Jüngst hat Christian Scharfetter (2006) Bleulers Werk aus psychopathologischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive einer umfassenden und kritischen Würdigung unterzogen. Der Band enthält auch einen psychiatriehistorisch bemerkenswerten Text von Manfred Bleuler (1903–1994), Sohn und Nachfolger Eugen Bleulers in der Leitung der Zürcher Universitätsklinik »Burghölzli«.

1.8

Psychoanalyse und Behaviorismus

Das Forschungsinteresse Sigmund Freuds (1856–1939; ⊡ Abb. 1.6) bezog sich zunächst vorwiegend, später mehr implizit auf neurophysiologische Zusammenhänge (Hirschmüller 1991; Hoffmann-Richter 1994; Miller u. Katz 1989; Sulloway 1983). Nach einer Phase der Zusammenarbeit mit Brücke und Meynert in Wien beeindruckte ihn die in Paris bei J. M. Charcot (1825–1893) erlebte Beeinflussbarkeit seelischer Phänomene, insbesondere

⊡ Abb. 1.6. Sigmund Freud (1856–1939) ((Quelle: Münchener Medizinische Wochenschrift)

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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie

hysterischer Symptome, durch Suggestion und Hypnose. Zusammen mit J. Breuer (1842–1925) entwickelte Freud in der Folgezeit eine Behandlungsstrategie für hysterische Störungen, die als Vorläuferin für die später beschriebene »psychoanalytische Kur« im engeren Sinne verstanden werden kann.

Theorie der psychoanalytischen Behandlung Deren Kerngedanke ist die Annahme eines unbewussten seelischen Bereichs, der aber starken Einfluss auf das bewusste Seelenleben habe. Dies könne sich v. a. dann negativ auswirken, wenn ungelöste Konflikte, zentraler Punkt der psychoanalytischen Neurosekonzeption, übermächtig werden und durch ihr Drängen an die Oberfläche zu Leidensdruck, zu Symptomen führen. Durch den, wie Freud es nannte, »Königsweg« der Traumdeutung, könne man im Rahmen der psychoanalytischen Behandlung Zugang zu den unbewussten Inhalten bekommen. Durch das Wiedererleben der konflikthaften Momente in der therapeutischen Beziehung zum Analytiker, in der »Übertragung«, durch einen kathartischen Prozess also, könne man den Konflikt bewusst machen und einer Lösung näher bringen bzw. im Idealfall ganz auflösen.

Seelische Instanzen Später ergänzte Freud dieses therapieorientierte Modell durch die auch und gerade auf die ungestörte Psyche bezogene Vorstellung der Existenz unterschiedlicher seelischer Instanzen, des »Es«, das die Instinkte und Triebe beinhalte, des »Über-Ich«, das alle Arten von Normen repräsentiere sowie des »Ich«, das die für das Individuum jeweils erlebens- und handlungsrelevante Schnittstelle darstelle.

Ablehnung durch die akademische Psychiatrie Die zeitgenössische akademische Psychiatrie hat mit wenigen Ausnahmen, etwa Eugen Bleuler, die Psychoanalyse nicht akzeptiert, weder als Therapiemethode noch als Menschenbild. Ein besonders drastisches Beispiel für die bissig-polemische Ablehnung der Psychoanalyse ist der bereits mehrfach erwähnte Münchner Psychiater Emil Kraepelin, der in der Psychoanalyse lediglich eine sich in individueller Beliebigkeit verlierende und dem sexuellen Bereich zu starkes Gewicht beimessende psychologische Spekulation sah. Diese krasse Ablehnung gerade durch biologisch orientierte Autoren ist insoweit bemerkenswert, als Freud sich selbst ja durchaus – und zwar zeitlebens – als Naturwissenschaftler sah. Er hatte wie die meisten forschenden Psychiater der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das charakteristische Fernziel eines physiologischen oder biochemischen Verständnisses seelischer Phänomene. Er kam aber, völlig zu Recht, zu dem Schluss, dass mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln diese Frage nicht zu beantworten sei, es somit zunächst eines psychologischen Zugangs bedürfe.

Psychoanalyse und »romantische Psychiatrie« Es trägt viel zur Unübersichtlichkeit der Literatur zur wissenschaftstheoretischen Einordnung der Psychoanalyse bei, dass zum einen Freuds naturwissenschaftlicher Impetus nicht erkannt oder anerkannt wurde, dass aber zum anderen tatsächlich Parallelen bestehen zwischen dem psychoanalytischen und dem Menschenbild der bereits beschriebenen »romantischen Psychiatrie«. Dies gilt insbesondere für die Betonung der individuellen Lebensgeschichte sowie der affektiven Seite des Seelischen. Immer wieder wurde auf die geistige Verwandtschaft zwischen dem Denken Heinroths und Freuds verwiesen, ja Heinroth und der spätromantische Autor Carl Gustav Carus (1789–1869) gar als – verkannte – Vorläufer der Psychoanalyse bezeichnet.

Diskrepanz durch verschiedene Sprachen Der psychoanalytische Krankheitsbegriff rückte den Gesichtspunkt individueller psychischer Entwicklung, die auf jeder Stufe gehemmt werden oder scheitern könne, in den Vordergrund. Dies schloss aber die Bedeutung somatischer Bedingungsfaktoren keineswegs aus. Die zunehmende Diskrepanz zur akademisch-psychiatrischen Lehrmeinung resultierte nicht zuletzt aus der Tatsache, dass »psychodynamische Sprachen« entstanden, die weder auf der Ebene einzelner Termini noch in bezug auf die vorwiegend entwicklungs- und persönlichkeitspsychologischen Vorannahmen mit einer klinischen Psychiatrie etwa Kraepelinscher Prägung kompatibel erschienen (Hoff 2006 a). Die Nachfolger Kraepelins auf dem Münchner Lehrstuhl, O. Bumke und K. Kolle – beide im Übrigen keineswegs befangen in unkritisch-positiver Beurteilung von Kraepelins Psychiatrieverständnis – setzten dessen Tradition einer weitgehend kompromisslosen Psychoanalysekritik fort. Dabei meldete Bumke (1926) in einer begrifflich ausgefeilten Argumentation nachhaltige Bedenken am Konstrukt des »Unterbewusstseins« an. Diese Arbeit ist gerade für die aktuelle, v. a. von A. Grünbaum (1987) angestoßene Debatte um den wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse von Interesse.

Behaviorismus Die der psychoanalytischen Perspektive in vielerlei Hinsicht entgegengesetzte Position vertrat der von J. Watson zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründete Behaviorismus. Hier steht das beobachtbare Verhalten und dessen Veränderung durch Psychotherapie im Vordergrund und nicht der unbewusste, erst durch Interpretation subjektiv und intersubjektiv zugänglich werdende Konflikt. Watson sah etwa die phobische Störung als konditioniert an, als »gelernt«, und schlug das Verfahren der Desensibilisierung gegenüber dem phobischen Stimulus vor. Weitere wichtige Autoren, die die behavioristische und – um den späteren, im deutschsprachigen Raum eingebürgerten Terminus zu verwenden – verhaltenstherapeutische

17 1.9 ·Psychoipathologie: Karl Jaspers und die »Heidelberger Schule«

Tradition begründeten, waren E. L. Thorndike und B. F. Skinner.

1.9

Psychopathologie: Karl Jaspers und die »Heidelberger Schule«

Erklären und Verstehen Hatten bei Kraepelin die philosophischen Vorannahmen psychiatrischen Handelns noch ein eher unbeachtetes Dasein gefristet, besannen sich andere zeitgenössische Autoren ganz entschieden methodischer und wissenschaftstheoretischer Probleme der Psychiatrie. Dafür wegbereitend war der Umstand, dass die psychiatrische Literatur der Jahrhundertwende die von dem deutschen Philosophen W. Dilthey betonte, sich auf Arbeiten des Historikers Droysen stützende Unterscheidung von Erklären und Verstehen intensiv zu rezipieren begann. Unter den gedanklich dichten Monografien, die sich mit dieser speziellen Thematik, aber auch mit der systematischen Darstellung begrifflicher Grundlagen der gesamten Psychiatrie beschäftigen, sind beispielhaft Karl Jaspers’ »Allgemeine Psychopathologie« (1913), Ernst Kretschmers »Der sensitive Beziehungswahn« (1918) und Arthur Kronfelds »Das Wesen der psychiatrischen Erkenntnis« (1920) zu nennen, so verschieden die 3 Werke sonst auch sein mögen. Nur auf Jaspers’ Buch, das einen besonders starken und langanhaltenden Einfluss auf die wissenschaftliche Diskussion genommen hat (und nimmt), kann hier näher eingegangen werden.

Jaspers Karl Jaspers’ (⊡ Abb. 1.7) Ziel war es, die von ihm als, wie Janzarik (1979) es später nennen sollte, Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie verstandene Psychopathologie auf eine solide methodische Grundlage zu stellen, insbesondere rein spekulativen und dogmatischen Ansätzen ihren Kredit zu entziehen. In seinem Buch beschrieb er zum einen die einzelnen psychopathologischen Phänomene mit großer klinischer Prägnanz, oft ergänzt durch Kasuistiken, zum anderen aber auch die Grundlagen des gesunden Seelenlebens. ⊡ Abb. 1.7. Karl Jaspers (1883–1969) (Quelle: Psychiatrische Klinik der LMU München, Psychiatriehistorische Sammlung)

Nichterfassbarkeit der Ganzheit Er beharrte darauf, dass die Erfassung der Ganzheit des seelisch gesunden oder gestörten Menschen gerade in seiner biografisch gewordenen Einzigartigkeit, seiner Personalität, keiner wissenschaftlichen Methode abschließend möglich sein könne. Eine Methode müsse nicht nur ihre Möglichkeiten, sondern genauso sicher auch ihre Begrenztheit erkennen. Überdehnungen hätten unweigerlich dogmatische Erstarrung zur Folge, was Jaspers anhand verschiedener Typen psychiatrischer Vorurteile meisterhaft exemplifizierte (Hoff 1989 b). Dabei hatte er die als »Hirnmythologien« gebrandmarkte unreflektierte Identifizierung neuroanatomischer oder neurophysiologischer Befunde mit seelischem Erleben ebenso im Auge wie klinisch nicht überzeugende metaphysische Spekulationen über Entstehung und Wesen psychischer Störungen.

Beobachtbarkeit des Seelischen Er hielt daran fest, dass Seelisches nie unmittelbar als solches beobachtet werden kann, wie dies bei vielen physikalischen Naturvorgängen (zumindest in erster Näherung) möglich ist, sondern nur über den Ausdruck des Erlebenden, über dessen Sprache, Mimik und Gestik, kurz in der intersubjektiven Begegnung, auch im künstlerischen Produkt. Von großer Bedeutung wurde seine, über Dilthey hinausgehende Abgrenzung des statischen und genetischen Verstehens vom naturwissenschaftlichen Erklären. Jaspers hat sein Werk mehrfach, zuletzt während des Zweiten Weltkriegs, umfassend überarbeitet und erweitert, ohne dass er an den Grundlagen wesentliche Änderungen vorgenommen hätte. Nicht zu Unrecht sehen viele Autoren in Jaspers’ Buch den eigentlichen Beginn einer methodisch reflektierten psychopathologischen Forschung; es ist einer der wegweisenden psychiatrischen Texte überhaupt. Auf Karl Jaspers’ Bedeutung als Psychiatriehistoriker, Pathograph und Existenzphilosoph kann hier nur hingewiesen werden. Über Jaspers’ kritisch-ablehnende Position gegenüber der Psychoanalyse und über deren kulturhistorische Einordnung informiert Bormuth (2002).

Heidelberger Psychiatrie In der Tradition der Heidelberger Psychiatrie, prägnant repräsentiert im IX. (Schizophrenie-)Band des Bumkeschen Handbuches (1932), wird man noch am ehesten die Fortsetzung von Kraepelins Gedankengut sehen können. So etwa hob W. Gruhle in seinem historischen Beitrag zu diesem Band anerkennend hervor, dass die in der »Kraepelinschen Tradition der reinen Beobachtung« stehende »rein funktionale Betrachtung des Seelenlebens … in der Geschichte der Psychiatrie keine Präcedenz« habe (Gruhle 1932). Diese rein funktionale Psychopathologie (Anm.: der Begriff »funktionale Psychopathologie« wird heute

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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie

zumeist in einem anderen Sinne gebraucht, s. unten) stelle im Gegensatz zu Bleulers Schizophreniebegriff weit weniger auf den Inhalt (das »So-Sein«) als auf die faktische Existenz des Wahnes (das »Da-Sein«) ab. Trotz aller ausgewogenen und nuancierten Methodendiskussion stellte Gruhle klar, »dass in diesem Bande an der Schizophrenie als einem Destruktionsprozess ebenso wenig gezweifelt wird wie am manisch-depressiven Irresein nicht als einem Symptomenkomplex, sondern als einer Krankheitseinheit« (Gruhle 1932).

Kurt Schneider In dieser Tradition der Heidelberger Psychiatrie steht auch Kurt Schneider (1887–1967; ⊡ Abb. 1.8; Anm.: Um eine Verwechslung mit Carl Schneider, einer der zentralen Figuren in der Psychiatrie des Nationalsozialismus, zu vermeiden, sollte bei Kurt Schneider stets der Vorname mitgenannt werden), ja er stellt selbst einen wesentlichen Teil eben dieser Tradition dar (Huber 1997, Janzarik 1984). Bezüglich der Pathogenese vertrat K. Schneider die in der deutschsprachigen Psychiatrie seit langem fest verankerte Auffassung, dass es sich bei den endogenen Psychosen letztlich um organische Störungen des Zentralnervensystems handle. Dieser Standpunkt wird als »Somatosepostulat« bezeichnet. Aber schon hier hob er, für seinen von Methodenkritik und wissenschaftlichem Purismus geprägten Stil sehr charakteristisch, hervor, dass es sich eben um eine Modellvorstellung, ein Postulat, ein, wie er es nannte, »heuristisches Prinzip«, handle, das andere Entstehungsmodi seelischer, auch psychotischer Störungen keineswegs ausschließe. Er erkannte ausdrücklich »die neben dem Somatogenen und Psychogenen bleibende dritte Denkbarkeit des Metagenen an, ein Ver’irr’en der Seele ohne somatische oder psychologische Ursache«, ohne hierauf allerdings näher einzugehen.

Deskriptive Psychopathologie Methodenkritik und Selbstbeschränkung waren auch die Leitideen von K. Schneiders Hauptwerk »Klinische Psychopathologie«, 1992 in der 14. Auflage erschienen. Dieser Text ist hinsichtlich seiner gedanklichen Stringenz und des Einflusses, der von ihm auf die weitere Diskussion ausging, trotz aller Unterschiede im theoretischen Ansatz ⊡ Abb. 1.8. Kurt Schneider (1887–1967) (Quelle: Psychiatriehistorisches Archiv des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie München)

und in der Zielsetzung durchaus mit Jaspers’ »Allgemeine Psychopathologie« vergleichbar. K. Schneider entwarf eine vorwiegend deskriptive, jedoch das Seelenleben gerade nicht atomisierende, sondern den klinisch sinnvollen, verstehenden Gesamtzusammenhang wahrende Psychopathologie. Kennzeichnend ist das Ringen um eine präzise psychopathologische Begrifflichkeit, was u. a. zur Herausarbeitung der »Symptome ersten Ranges« führte, bei deren Vorliegen in Abwesenheit greifbarer hirnorganischer Störung K. Schneider »in aller Bescheidenheit« von Schizophrenie zu sprechen empfahl.

Psychiatrische Diagnosen als wandlungsfähige Konstrukte Psychiatrische Diagnosen waren für ihn alles andere als die bloße Abbildung dessen, was Kraepelin unter »natürlichen Krankheitseinheiten« verstanden hatte. Er sah in ihnen vorläufige psychopathologisch fundierte begriffliche Konstrukte, die sich einem ständigen, durch empirisches Wissen und konzeptuelle Weiterentwicklung gesteuerten Anpassungs- und Erneuerungsprozess zu stellen hätten. Diese – in markantem Gegensatz zu Kraepelins Streben nach Realdefinitionen stehende – nominaldefinitorische Auffassung psychiatrischer Diagnosen sowie die Forderung, für die Psychiatrie möglichst eindeutige und allgemein akzeptierte diagnostische Kriterien zu schaffen, lassen K. Schneider als entscheidenden Vorläufer der heutigen operationalisierten psychiatrischen Diagnostik erscheinen – also der ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1991) und des DSM-IV der American Psychiatric Association (APA 2000; s. unten).

1.10

Von der Degenerationslehre zur Rassenhygiene und zur Psychiatrie im Nationalsozialismus

Nachdem am Ende des letzten Abschnitts bereits die Verbindung mit der aktuellen Situation psychiatrischer Forschung hergestellt wurde, ist jetzt ein zeitlicher Schritt zurück erforderlich, um den Hintergrund des dunkelsten Kapitels deutscher Psychiatriegeschichte, der nationalsozialistischen Pervertierung neuropsychiatrischer Theorie und Praxis, deutlich werden zu lassen.

Sozialdarwinistisches Gedankengut Schon lange vor 1933 hatten sich bestimmte rassistische, sozialpolitische und ideologische Auseinandersetzungen sowie Polarisierungen angebahnt. Es gab, worauf bereits eingegangen wurde, seit Ende des 19. Jahrhunderts in allen europäischen Gesellschaften einen breiten Konsens darüber, dass ein Teil der Bevölkerung minderwertig, degeneriert und erblich belastet sei, als sozialer Ballast der

19 1.10 · Von der Degenerationslehre zur Rassenhygiene und zur Psychiatrie im Nationalsozialismus

übrigen Gesellschaft zur Last falle, keinen Nutzwert habe, sich aber mehr als die Eliten vermehre. Dieser eng mit der Degenerationslehre verknüpfte sozialdarwinistische Gedanke führte schließlich auch zu der Überlegung, durch »Auslese« der einen und »Ausmerzung« der anderen Bevölkerungsgruppe die Gesellschaft nachhaltig zu fördern, ja zu »retten«. Der Begriff der »Rassenhygiene« war 1895 von Alfred Ploetz geprägt worden. Zu diesem Umfeld gehört auch der Terminus »Eugenik«, worunter die gesteuerte Fortpflanzung nach erbbiologischen Hypothesen verstanden wurde. Dass sich dieses Gedankengut mit antisemitischem vermischte, mussten die jüdischen Kollegen am eigenen Leibe erfahren: So etwa musste der Genetiker und Psychiater F. J. Kallmann aus Berlin Deutschland verlassen (1936) und gründete am Institute of Psychiatry in New York eine genetische Abteilung.

Kein Konsens unter den Psychiatern Am 1. Januar 1934 trat das bereits am 14. Juli 1933 verabschiedete Erbgesundheitsgesetz in Kraft, auf das noch einzugehen sein wird. Von einer allgemein anerkannten psychiatrischen Systematik konnte trotz der gegenteiligen Thesen der Erbforscher und Rassenhygieniker nicht die Rede sein. Die Erbforschung stand auf schwachen Beinen, insbesondere die diagnostische Zuordnung der Krankheitsbilder. Das Wissen um die vielfältigen Ursachen des angeborenen Schwachsinns war mangelhaft, er wurde damals fälschlicherweise zumeist mit dem erblichen Schwachsinn gleichgesetzt. Bei den zahlreichen Epilepsieformen und -ursachen gab es ähnliche Fehlschlüsse, einmal ganz abgesehen von der brutalen Folgerung, durch »Ausmerze« und Zwangssterilisation dieser und anderer Krankheiten Herr zu werden (Holdorff u. Hoff 1997; Weber 1993). Es gab aus dem psychiatrischen Bereich Widerstände gegen die von den Nationalsozialisten erlassenen Bestimmungen, u. a. von K. Kleist und O. Bumke, indem an den psychiatrischen Abteilungen tunlichst Diagnosen vermieden wurden, die unter die Sterilisationsgesetzgebung fielen, oder indem keine Meldung an die Ämter erfolgte.

Sterilisation, Euthanasie und Menschenversuche Von der freiwilligen Sterilisation, die von vielen in den 1920er Jahren propagiert und die am Anfang der 1930er Jahre als Gesetzesvorlage eingebracht worden war, gingen die Nationalsozialisten auf die Zwangssterilisation und, mit Kriegsbeginn, nahtlos auf die »Euthanasieaktion« über. Was ursprünglich bei unheilbar Kranken den Gedanken an Sterbehilfe aus Mitleid nahelegte, leitete später über in den ganz anderen Aspekt der Tötung von »Minderwertigen«, von »Ballastexistenzen«, die die Gesellschaft nur belasteten, wobei aber der scheinheilige Begriff des »Gnadentodes« beibehalten wurde. Eine Medizin mit

sehr engem biologistischen Selbstverständnis, die den Menschen zum Objekt machte und unter rassistischem Vorzeichen Fremde, Homosexuelle, psychisch Kranke, körperlich und geistig Behinderte und andere vermeintliche Randgruppen zu »Minderwertigen« stempelte, machte dann auch keinen Halt mehr vor Menschenversuchen, die nicht nur in der extremsten Form in den Konzentrationslagern, sondern auch in manchen »normalen Kliniken« in Form von Experimenten am Patienten durchgeführt wurden (Finzen 1996; Lifton 1986; Seidel u. Werner 1991).

Oppositionelle Ärzte Kritische Strömungen gegen derartige extreme Tendenzen waren in der Zeit der Weimarer Republik noch zahlreich. Sie formten sich im Bereich der Ambulatorien, der Vorsorge und Fürsorge, der Sozialhygiene, der Beratungsstellen für Sexualkunde und Geschlechtskrankheiten und in Gruppierungen wie dem Verein sozialistischer Ärzte, der auch zahlreiche jüdische Kollegen wie K. Goldstein angehörten. Dieser oppositionelle Teil der Ärzteschaft hatte ab dem Jahr 1933 keine Möglichkeit der Einflussnahme mehr und wurde ausgeschaltet, verfolgt, vertrieben oder vernichtet (Peters 1992). Auch der Bereich der Psychotherapie, in dem eine biologistische Verkürzung argumentativ schwerer fallen dürfte als im Hinblick auf die Ätiologie und Behandelbarkeit schwer psychotischer Krankheitsverläufe, wurde während des Nationalsozialismus in die »Gleichschaltung« aller medizinischen Disziplinen einbezogen, worüber Cocks (1985) umfassend informiert hat.

Erbgesundheitsgesetz Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« bestimmte, dass alle approbierten Ärzte zur Meldung der folgenden, als Erbkrankheiten bezeichneten Krankheitsbilder verpflichtet waren: »angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres Irresein, erbliche Fallsucht, Huntingtonsche Chorea, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere körperliche Missbildung und schwerer Alkoholismus«. Trotz z. T. erheblicher Widerstände auf seiten der Betroffenen und ihrer Angehörigen wurden nach diesem Gesetz zwischen 1934 und Kriegsende etwa 360.000 Menschen sterilisiert. In Hitlers »Mein Kampf« (Auflage von 1935) wurde auch diese besondere Thematik ganz klar angesprochen: Die Sterilisation sei in derartigen Fällen »die humanste Tat der Menschheit …. Sie wird Millionen von Unglücklichen unverdientes Leiden ersparen …. Der vorübergehende Schmerz eines Jahrhunderts kann und wird Jahrtausende von Leid erlösen.« (S. 279 f.)

Behinderte Kinder Auch Kinder gerieten ins Visier dieser zerstörerischen Ideologie: Im August 1939 verfügte das Reichsinnenmi-

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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie

nisterium in einem geheimen Erlass die Meldepflicht für Kinder mit schweren Missbildungen und für solche mit Trisomie 21 (»Mongolismus«). Nach Aktenlage – diese bestand in aller Regel nur aus den dürftigen Meldebögen – hatten 3 Gutachter über das weitere Schicksal des jeweiligen Kindes, also auch über seine eventuelle Tötung, zu entscheiden. Von 1940 an wurden etwa 30 »Kinderfachabteilungen« gegründet, in denen nach naturgemäss unsicheren Schätzungen insgesamt 5000 Kinder durch Gaben von Morphium, Barbituraten oder durch Nahrungsentzug vorsätzlich ums Leben gebracht wurden.

nicht strafbar, sondern geradezu geboten, um weiteres individuelles Leid abzuwenden und – dieser Aspekt hat hohes Gewicht – die Gesellschaft von »nutzlosen«, also »lebensunwerten« Mitgliedern zu entlasten. Es hat zu dieser Schrift innerhalb der psychiatrischen Fachwelt der Weimarer Zeit bemerkenswerter-, besser bestürzenderweise keine umfassende Debatte gegeben (Meyer 1988). Heute hingegen wird die kontroverse Diskussion um Leben und Werk Hoches von dieser Thematik geradezu dominiert (Schimmelpenning 1980; Seidler 1986).

Widerstand Ermordung psychisch Kranker und geistig Behinderter Mit Kriegsbeginn ging die Sterilisationswelle fast nahtlos in die nach der Berliner Tiergartenstrasse 4, dem Ort wesentlicher Entscheidungen in der Planungsphase, benannte »T4-Aktion« über. Sie stellt die schlimmste Verstrickung der Neuropsychiatrie in die nationalsozialistischen Verbrechen dar: Nach unterschiedlichen Schätzungen wurden während des »Dritten Reiches«, und hier v. a. 1940 und 1941, zwischen 80.000 und 130.000 psychisch Kranke und geistig Behinderte von ihren Kliniken in spezielle Vernichtungslager transportiert und dort, meist in der Gaskammer, getötet. Im Rahmen der »T4Aktion« waren sämtliche Patienten zu melden, die nicht arbeitsfähig waren oder nur einfache mechanische Tätigkeiten verrichten konnten, weil sie an folgenden Krankheiten litten: Schizophrenie, Epilepsie, senile Erkrankungen, therapierefraktäre Paralyse und andere Lueserkrankungen, Schwachsinn jeder Ursache, Enzephalitis, Chorea Huntington und vergleichbare neurologische Endzustände und schließlich solche, die sich seit mehr als 5 Jahren dauernd in Anstalten befanden.

Strafrechtliches Konzept des »geistig Toten« Die Nationalsozialisten konnten sich zur Begründung ihres Handelns unter anderem auf ein 1920 erschienenes Buch berufen, das von dem Strafrechtler K. Binding und dem – in ganz anderem, nämlich theoretisch-nosologischen Zusammenhang bereits erwähnten – Psychiater Alfred E. Hoche verfasst worden war und den Titel »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« trug. Hier wird, knapp 2 Jahrzehnte vor den nationalsozialistischen Tötungsaktionen, die These vertreten, dass schwer chronisch Kranke unter bestimmten Bedingungen gar nicht mehr als Menschen, als Personen zu betrachten seien, sondern vielmehr als bereits gestorben, als, wie es im Text heißt, »geistig tot«. Eine solche Un-Person, so der entscheidende Schritt in der Argumentation, könne zwar biologisch getötet werden, doch sei dies keineswegs mit dem strafrechtlichen Tatbestand des Totschlags oder gar des Mordes in Verbindung zu bringen. Eine solche Tötung eines bereits »geistig Toten« sei vielmehr nicht nur

Widerstände gegen die Tötungsaktionen gab es sowohl von Psychiatern, etwa von Walther von Baeyer, Karl Kleist und Kurt Schneider, als auch aus den Reihen der betroffenen Familien, der übrigen Bevölkerung und der Kirchen; hier ist v. a. Kardinal Graf Galen aus Münster zu nennen. Nicht zuletzt aufgrund dieses weder ganz zu unterdrückenden noch zu verheimlichenden Widerstandes wurden im August 1941 die Tötungen in Gaskammern eingestellt, dafür aber die unorganisierte »Euthanasie« im Rahmen pseudowissenschaftlicher Experimente – Hungern, Medikamentengabe, künstlich herbeigeführte schwere Infektionen – fortgesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die EuthanasieObergutachter in den Nürnberger Prozessen vor Gericht gestellt, sofern sie sich nicht durch Selbstmord (de Crinis 1945; Carl Schneider 1946) oder durch Flucht in die anonyme Illegalität (Heyde) der gerichtlichen Verfolgung entzogen hatten.

Notwendigkeit der Forschung Erfreulicherweise ist zu dem dunkelsten Abschnitt deutscher Psychiatriegeschichte, der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, in jüngerer Zeit bereits viel Forschungsarbeit geleistet, ja nachgeholt worden. Aber gerade hier bedarf es auch weiterhin der sorgfältigen Analyse der Entwicklung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933 bzw. 1945, v. a. hinsichtlich der Entstehung und Ausdifferenzierung von Degenerationslehre, Sozialdarwinismus und Eugenik. Auch gilt es, in viel größerem Umfang als bisher die Krankenblattarchive der psychiatrischen Kliniken und die Archive anderer Institutionen auf Daten hin zu untersuchen, die ein umfassenderes und präziseres Bild von den historischen Tatsachen entstehen lassen werden.

1.11

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts

Historische Aufarbeitung Die Pervertierung psychiatrischer Theorie und Praxis durch die Nationalsozialisten stellte für die Psychiatrie im Nachkriegsdeutschland eine sehr schwerwiegende Hypo-

21 1.11· Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts

thek dar. Zunächst entstand das Bedürfnis, das Geschehene, das später oft mit den Bezeichnungen »unfassbar« und »unverständlich« etikettiert wurde, festzuhalten, also die historischen Fakten zu veröffentlichen und wissenschaftlicher Forschung zugänglich zu machen. Dieser Prozess lief mehr als schleppend an und gewann erst in den letzten Jahrzehnten an Dynamik in Gestalt einer ganzen Reihe von Forschungsprojekten, wissenschaftlichen Symposien und Publikationen. Zum anderen darf aber nicht übersehen werden, dass ganze Forschungsrichtungen, insbesondere die psychiatrische Genetik, auf Jahrzehnte hinaus in prinzipiellen Misskredit gerieten und wissenschaftlich im deutschsprachigen Raum praktisch nicht existierten. Auch dies hat sich in den letzten Jahren geändert, wobei natürlich das Bewusstsein um die historischen Hintergründe auch in der aktuellen Forschung stets präsent bleiben sollte.

Anthropologische Psychiatrie In den 1950er Jahren hatte eine psychiatrische Richtung starken Einfluss, die »anthropologische Psychiatrie«, die sich – ganz im Gegensatz zu vielen früheren Konzepten, die sich eher ungern mit ihren philosophischen Prämissen auseinandersetzten – offen auf eine bestimmte philosophische Theorie, nämlich die Existenzialontologie Martin Heideggers, bezog. Die von Ludwig Binswanger begründete Daseinsanalyse arbeitete den existenzphilosophisch und gerade nicht psychologisch gemeinten Aspekt des Individuellen an Genese, Ausgestaltung und Therapie seelischen Gestörtseins heraus. Hier findet sich bei strikter Ablehnung elementaristischer Psychologie eine Hinwendung zur Ganzheit seelischer Akte und zu deren Struktur. Psychose, v. a. in ihrer wahnhaften Ausgestaltung, ist eine besondere, von einer Einschränkung der Freiheitsgrade im Erleben und Handeln, vom »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit«, von der »Unfähigkeit zum Perspektivenwechsel« gekennzeichnete Störung im Lebensvollzug des Menschen (Binswanger 1965; Blankenburg 1971).

Von der Gestaltpsychologie zur Strukturdynamik In der Psychologie gab es schon eine längere, sich durchaus als empirischen Ansatz verstehende Tradition, die sich ebenfalls entschieden gegen ein elementaristisches Verständnis psychischer Phänomene wandte. Unter dem Schlagwort, das Ganze sei eben mehr als die bloße Summe seiner Teile, ging es hier um eine Perspektive, die einerseits die personale Ganzheit betonte, andererseits aber diese Ganzheit sehr wohl binnendifferenzierte, nun aber gerade nicht in additive Elemente, sondern in komplexe und an den Rändern nicht scharf voneinander abgetrennte Strukturen. Diese ursprünglich aus der Wahrnehmungsforschung stammende »Gestaltpsychologie« gelangte vor allem über das Werk Klaus Conrads (1905–1961)

in die Psychiatrie. Conrad hatte mit einer explizit der Gestaltpsychologie entlehnten Methodik eine neue psychopathologische und verlaufsorientierte Sichtweise der schizophrenen Psychose entwickelt, die dem Fach bis heute zahlreiche Impulse gegeben hat. Sein Kerngedanke war dabei, die gestaltanalytische Methode als »dritten Weg« zwischen die zwar weiterhin wichtigen, aber je zu kurz greifenden klassischen Wege der Deskription einerseits (zu statisch und zu wenig differenziert) und Hermeneutik bzw. Deutung andererseits (zu wenig überprüfbar und zu spekulativ) zu positionieren (Conrad 1958). Ebenfalls gestalt- und strukturpsychologisch fundiert ist der über Jahrzehnte weiterentwickelte psychopathologische Entwurf des Heidelberger Psychiaters Werner Janzarik: Für ihn gestalten sich normale und pathologisch verformte psychische Vorgänge auf zwei Ebenen, der strukturellen und der dynamischen. Dynamik steht dabei vor allem für Affektivität und Antrieb, Struktur für überdauernde Charakteristika der Person, etwa Werthaltung, Persönlichkeitszüge, Interaktionsmuster (Janzarik 1988). In fruchtbarer Weise wurde dieser theoretische Rahmen auf so verschiedene psychopathologische Gebiete wie die psychotischen Syndrome (schizophrener und affektiver Prägung), die Persönlichkeitsstörungen und, diagnosenunabhängig, die Beurteilung der Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Gutachten angewandt. Der ebenso originelle, differenzierte und psychopathologisch noch lange nicht völlig ausgelotete Ansatz der »Strukturdynamik« erschließt sich allerdings schon aus sprachlichen Gründen nicht leicht und steht zudem noch gleichsam quer zu der seit Jahren vorherrschenden Tendenz zu einer besonders einfachen und operationalisierbaren psychiatrischen Terminologie.

»Antipsychiatrie« Charakteristisch für die Sonderstellung von Psychiatrie und Psychotherapie, was die Praxisrelevanz von grundsätzlichen Fragen wie den Krankheits- und Diagnosenbegriff anbetrifft, sind die Entstehung und der nicht unbeträchtliche Einfluss fundamental »antipsychiatrischer« Positionen. Vergleichbare Debatten wird man in anderen medizinischen Disziplinen kaum antreffen. Denn schließlich ging es den theoretisch heterogen argumentierenden Psychiatriekritikern der 1960er und 1970er Jahre um nichts weniger als das »Entlarven« der vermeintlich wissenschaftlich fundierten Krankheitskonzepte der akademischen Psychiatrie als Ausgrenzungsinstrumente der bürgerlichen Gesellschaft gegen Personen, die in ihrer Lebensführung zwar andersartig, »auffällig«, aber aus der Sicht dieser Autoren nicht krank und behandlungsbedürftig waren (Szasz 1972). Keineswegs darf im Übrigen die Antipsychiatrie als skurrile Minderheitenmeinung abgetan werden: Nur zu berechtigt waren nämlich viele ihrer Kritikpunkte mit Blick auf die damalige psychiatrische Versorgungssituation vor allem in den Großkrankenhäu-

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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie

sern. Und auch aus heutiger Perspektive haben die von der Antipsychiatrie aufgeworfenen Fragen sehr wohl ihre Bedeutung, auch wenn man die radikalen Antworten etwa von Thomas Szasz nicht mittragen mag.

Biologischer Forschungsansatz Der biologische Forschungsansatz erlebte seit den späten 1950er Jahren einen starken und bis heute andauernden Aufschwung, der zunächst durch die Entdeckung der psychotropen Wirkung zahlreicher Substanzen generiert wurde. Zum einen ging es um die wissenschaftliche Erfassung der therapeutischen Wirksamkeit von neuroleptischen, antidepressiven, anxiolytischen und phasenprophylaktischen Substanzen. Zum anderen entstanden aus den Kenntnissen über die vermuteten oder gesicherten pharmakologischen Mechanismen auch Hypothesen zur Ätiologie, v. a. aber zur Pathogenese seelischer, insbesondere psychotischer Störungen. In praxi führte dieser Argumentationsweg, etwa in Gestalt der Dopaminhypothese der Schizophrenie oder der Noradrenalinhypothese der Depression, zur »Diagnostik ex juvantibus«, bei der aus dem Ansprechen oder Nichtansprechen auf ein ganz bestimmtes Psychopharmakon auf die (biologische) Natur der vorliegenden seelischen Störung rückgeschlossen wird (Helmchen 1990). Neben der Evaluation der Psychopharmakawirkungen entstand der biologischen Richtung durch die Entwicklung neuer diagnostischer Techniken ganz wesentlicher Zuwachs: Beispielhaft zu nennen sind die bildgebenden Verfahren, die neurophysiologischen, neurochemischen und molekulargenetischen Forschungsansätze. Auch psychiatriehistorisch interessant ist die von biologischpsychiatrischer Seite jüngst wiederholt erhobene Forderung, sich bei der Planung von Studien nicht mehr von der herkömmlichen, die Kraepelinsche Dichotomie endogener Psychosen widerspiegelnden Nosologie leiten zu lassen, sondern syndrom-, symptom- oder an seelischen Funktionen orientiert zu forschen. Diese Strategie wird auch als »Denosologisierung« der psychiatrischen Forschung bezeichnet und nennt eine »funktionale Psychopathologie« als Ziel, der es um die krankheitsunabhängige Erfassung biologischer Korrelate bestimmter – gestörter oder ungestörter – seelischer Funktionen geht, etwa Affektregulation, kognitive Prozesse und Gedächtnis (Benkert 1990; van Praag et al. 1987).

Neue therapeutische Wege Neben den klassischen, deutlich den historischen Wurzeln gleichenden Psychotherapieverfahren – also in erster Linie der an Freud orientierten Psychoanalyse und der sich auf Grundsätze des Behaviorismus berufenden Verhaltenstherapie – sind in den letzten Jahren vermehrt therapeutische wie Forschungsbemühungen erkennbar, zu integrativen Modellen zu gelangen. Diese nehmen je nach Art und Schweregrad der vorliegenden Störung Aspekte

ganz unterschiedlicher therapeutischer Richtungen auf, etwa im Sinne einer sowohl medikamentösen als auch verhaltensmodifizierenden und das soziale Umfeld einbeziehenden Behandlung von Angststörungen. Für diese Krankheitsgruppe konnte die Überlegenheit eines solchen kombinierten Vorgehens bereits mehrfach schlüssig gezeigt werden. Der Bereich der Psychotherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten weit aufgefächert: Als Beispiele seien genannt Gesprächspsychotherapie, kognitive Therapie, Gestalttherapie, Ergotherapie, Musik- und Tanztherapie.

Sozialpsychiatrie Einen weiteren Schwerpunkt psychiatrischer Forschung der letzten Jahrzehnte stellt die Sozialpsychiatrie dar, die sich mit der komplexen Interaktion zwischen dem unmittelbaren, also familiären und beruflichen, und dem weiterem, also dem gesellschaftlichen Umfeld des psychisch Kranken beschäftigt. Dies bezieht sich auf die Genese, die symptomatische Ausgestaltung, das therapeutische Ansprechen und vor allem den Langstreckenverlauf seelischer Störungen unter besonderer Berücksichtigung rehabilitativer Aspekte (Rössler 2004). Einige zentrale, durch die bundesdeutsche Psychiatrie-Enquete (1975) nachhaltig unterstützte sozialpsychiatrische Ziele, etwa eine gemeindenahe Psychiatrie nach dem Prinzip »ambulant vor stationär«, konnten zwischenzeitlich durch die Regionalisierung und die Etablierung integrativer Versorgungsmodelle teilweise realisiert werden.

Operationalisierung Psychopathologie und psychiatrische Diagnostik haben in den letzten Jahren eine starke Tendenz zur Kodifizierung und Operationalisierung erfahren, obwohl komplexere Entwürfe, etwa Janzariks über Jahrzehnte immer weiter ausgearbeiteter und bereits erwähnter strukturdynamischer Ansatz, ein markantes Gegengewicht bilden. Den wissenschaftstheoretischen und -historischen Hintergrund der operationalisierten Diagnosesysteme ICD10 und DSM-IV bildet die »analytische Philosophie« (Anm.: der hier verwandte Begriff »analytisch« hat keine Gemeinsamkeiten mit dem Begriff »psychoanalytisch«), die in Fortsetzung neopositivistischer Traditionen des logischen Empirismus v. a. im angloamerikanischen, seit einiger Zeit aber auch im deutschsprachigen Raum Verbreitung gefunden hat. Als »Analytische Philosophie des Geistes« (Bieri 1981) stellt diese Richtung das – keineswegs einheitliche – gedankliche Gerüst des facettenreichen Forschungsunternehmens dar, welches zumeist als »cognitive science« bezeichnet wird.

Unterschiedliche psychiatrische »Sprachen« Während die oft mit dem Namen des Philosophen Ludwig Wittgenstein verbundene »linguistische Wende« in der Philosophie lange Zeit keinen wesentlichen Einfluss auf

23 1.12 · Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

die Psychiatrie nahm, setzte etwa ab den 1960er Jahren eine Rückbesinnung auf grundlegende methodische Probleme der psychopathologischen Befunderhebung und Diagnostik ein. Internationale Studien über die Vergleichbarkeit psychiatrischer Diagnosen wirkten erheblich desillusionierend, indem sie die Unvereinbarkeit psychiatrischer »Sprachen« in ihrem ganzen Umfang offenlegten. Die daraus resultierende Unzufriedenheit verband sich mit der praktischen Notwendigkeit, für die therapeutische Evaluation neuentwickelter Psychopharmaka auf Messinstrumente zurückzugreifen, die statistischen Normen genügten. Die »gemeinsame Endstrecke« dieser ineinander verwobenen Entwicklungsstränge ist die aktuelle operationalisierte psychiatrische Diagnostik. In Anlehnung an die Grundvorstellungen der »analytischen Philosophie des Geistes« wird die psychiatrische »Sprache« einer rigorosen Kritik unterzogen. Ambiguitäten und Widersprüche sollen aufgedeckt werden, um durch klare Definitionen von Symptomen, durch Kriterienkataloge und Verknüpfungsregeln, kurz durch operationalisierte Entscheidungsprozesse, eine reliable Diagnostik zu schaffen.

Keine eindimensionalen Erklärungsmodelle. Die Befürch-

Vor- und Nachteile der Operationalisierung

Neurophilosophie. Als markantes und eigenständiges

Eindeutige Vorteile einer solchen Operationalisierung sind die erhöhte Reliabilität, die deskriptive Anwendbarkeit vor dem Hintergrund ganz unterschiedlicher ätiopathogenetischer Hypothesen, die einfache rechnergestützte Auswertbarkeit und nicht zuletzt die Funktion als überschaubares terminologisches Gerüst für die Aus- und Weiterbildung. Aber auch die potenziell problematischen Aspekte eines operationalen, kriteriengeleiteten Vorgehens wird man im Auge behalten müssen, etwa die Tendenz zu sekundärer, aus der Praxis erwachsender »Reifizierung« ursprünglich deskriptiv gemeinter Entitäten, eine implizit unreflektierte Diskreditierung nichtoperationaler Ansätze oder die Gefahr, komplexe psychopathologische Sachverhalte, die sich möglicherweise erst in wiederholter Exploration oder gar völlig außerhalb derselben erschließen, auf »noch am ehesten passende« operationale Kriterien zu reduzieren oder, da kriteriologisch kaum fassbar, für wissenschaftlich unwesentlich zu halten. So aber würde Psychopathologie über Gebühr eingeengt und vereinfacht (Sass 1990; Schwartz u. Wiggins 1986).

Beispiel für das soeben erwähnte neue Interesse an theoretischen Fragen kann das Schlagwort »Neurophilosophie« gelten: In den letzten Jahrzehnen entstand eine bemerkenswerte Koalition zwischen den empirischen Neurowissenschaften einerseits und der »Analytischen Philosophie des Geistes« andererseits, eben die Neurophilosophie. Die analytische Philosophie des Geistes wiederum war um einiges früher im 20. Jahrhundert aus der Unzufriedenheit mit den klassischen dualistischen Theorien zum Leib-Seele-Problem entstanden und forderte, vor einer Feststellung von Tatsachen oder gar Wahrheiten zunächst einmal die Sprache zu untersuchen, in der diese Feststellungen getroffen werden. Anders ausgedrückt: Zunächst kommt die Fokussierung auf die Aussagen über ein Phänomen und erst dann auf das Phänomen selbst. Dieser Grundgedanke wird in der Philosophiegeschichte meist als »Linguistische Wende« (»Linguistic Turn«) bezeichnet. Für die Psychiatrie interessante Aspekte dieser sehr facettenreichen Debatte drehen sich um den Funktionalismus (z. B. Davidson 1980; Fodor 1981), die Intentionalität (Dennett 1987; Searle 1983), um qualitative seelische Phänomene (»Qualia«; Kripke 1980; Nagel 1974), um den besonders radikalen eliminativen Materialismus (Churchland 1986) und um die Emergenzbehauptung (Popper u. Eccles 1977; Hastedt 1988; Carrier u. Mittelstrass 1989). Nun sind dies alles andere als praxisferne philosophische Überlegungen. Vielmehr sind sie – neben den klassischen philosophischen Positionen – wesentliche Bausteine für ein zeitgemäßes Selbstverständnis der Psychiatrie zwischen Neurowissenschaft, Sozialwissenschaft und Sub-

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Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich in Fortsetzung sowohl der älteren Psychiatriegeschichte als auch der Entwicklungen nach 1970 eine Reihe von wichtigen und kontroversen Debatten ergeben. Wesentliche Beispiele sind nachfolgend aufgeführt.

tungen mancher Autoren, wissenschaftstheoretische Themen könnten in der Psychiatrie unter dem Eindruck der rasant anwachsenden empirischen Daten immer mehr an den Rand gedrängt werden, scheinen sich nicht zu bewahrheiten. Im Gegenteil lässt sich in den letzten Jahren eine verstärkte Bereitschaft erkennen, den theoretischen Rahmen des klinischen wie wissenschaftlichen Faches Psychiatrie auf dem Hintergrund jüngerer Forschungsergebnisse neu zu überdenken. Mittlerweile besteht weitgehend Konsens dahingehend, dass eindimensionale Erklärungsmodelle für psychische Störungen unangemessen sind, ja sein müssen. Aber auch die Tragfähigkeit des biopsychosozialen Modells als größtem gemeinsamen Nenner der unterschiedlichsten psychiatrischen Richtungen wird kritisch diskutiert. Die entscheidende Frage dabei ist, wie man verhindert, dass dieses auf den ersten Blick überzeugende Modell zu einem bloß oberflächlichen Kompromiss wird, der keine kreativen Impulse für Forschung und Praxis mehr zu setzen vermag und im schlimmsten Fall sogar dogmatische Einzelpositionen unfreiwillig wieder erstarken lässt (Ghaemi 2006).

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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie

jektivität (Northoff et al. 2006; Synofzik et al. 2004). Noch konkreter (und kontroverser) wird es, wenn so grundlegende Konzepte wie die Entscheidungsfreiheit, personale Autonomie und Verantwortung des Menschen auf dem Hintergrund moderner Hirnforschung neurophilosophisch hinterfragt, mitunter auch negiert werden. Beispielhaft ist hier das vieldiskutierte »neurowissenschaftliche Manifest« von Elger et al. (2004) zu nennen. Stärkung der Patientenrolle und -verantwortung. Ange-

stoßen, wenn auch sicherlich nicht erfunden von der antipsychiatrischen Kritik der 1960er und 1970er Jahre, wird die Rollendistribution von Arzt und psychiatrischem Patienten zum Gegenstand von differenzierten (also nicht nur von platt-polemischen) Diskussionen. Analog allen anderen medizinischen Disziplinen gewinnt nun auch in der Psychiatrie der Gedanke des »empowerment« an Bedeutung, also der Stärkung der Patientenrolle allgemein, speziell aber auch der Patientenverantwortung durch aktive Einbeziehung der Betroffenen in Therapieplanung und -durchführung. Dies beinhaltet eine kritische Bestandsaufnahme des Verhältnisses von Psychiatrie und Zwang ebenso wie den Abschied vom oft unreflektierten ärztlichen Paternalismus früherer Zeiten. Ein besonders interessanter, noch nicht hinreichend ausgeleuchteter Aspekt im Spannungsfeld von Paternalismus und Patientenautonomie ist die Erkenntnis, dass es mit der bloßen »Übergabe« der Letztverantwortung an den Patienten im Sinne einer zu kurz gedachten gemeinsamen klinischen Entscheidungsfindung (»shared clinical decision making«) nicht getan sein kann. Vielmehr muss die spezielle Situation der psychisch kranken Person berücksichtigt werden, deren kognitive, affektive und Bewertungskompetenzen oft ja gerade durch die Erkrankung selbst eingeschränkt, wenn auch nur selten völlig aufgehoben sind. Ethische Maximen müssen hier einen hohen und psychiatriespezifischen Differenzierungsgrad erreichen. Dieses hochgesteckte Ziel wird allerdings nicht nur mit formalen (juristischen) oder sozialwissenschaftlichen Mitteln zu erreichen sein, sondern erfordert den systematischen Einbezug psychopathologischen Wissens. Stellenwert der Psychopathologie. Dies leitet über zu der

Frage, welcher Stellenwert der Psychopathologie in der Weiterentwicklung der Psychiatrie zukommen wird. Neben vielen eher pessimistischen Einschätzungen seit etwa 1970 wird heute auch wieder auf die Option eines erweiterten Verständnisses von Psychopathologie verwiesen. Dieses könnte günstigstenfalls sogar ihrem früheren Anspruch, Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie zu sein, wieder Gehör verschaffen. Allerdings müsste eine solche Psychopathologie nicht nur eine operationale Deskription der Phänomene bereitstellen, sondern auch eine »offene« Deskription, die einzelfallorientiert psychopathologische Sachverhalte zwischen den bzw. jenseits der Krite-

rienkataloge erfasst. Ein kritisches Methodenbewusstsein hätte integraler Bestandteil der Psychopathologie zu sein. Und diese müsste das notwendig schwierige und interdisziplinäre methodische Umfeld, in dem sie sich nun einmal bewegt, stets auch unter dem Gesichtspunkt der Grenzen der jeweiligen wissenschaftlichen Methode prüfen. Schließlich sollte eine zukünftige Psychopathologie in der psychiatrischen Ideengeschichte verankert sein und die grundsätzlichen Fragen unseres Faches bewusst so lange wie nötig offen halten. Gemeint sind etwa das Leib-Seeleund das Subjekt-Objekt-Problem sowie der Status von Personalität und hier vor allem von personaler Verantwortung (verkürzend und irreführend oft »Problem des freien Willens« genannt). Ein solches Offenhalten ist nun gerade nicht Ausdruck unentschlossenen Zögerns, sondern des Respekts vor einer noch nicht definitiv entscheidbaren zentralen Frage. Derartige Überlegungen zur Psychopathologie sind nun durchaus praxisrelevant für die gesamte Psychiatrie. Denn diese muss sich gerade in ihrer aktuellen angefochtenen Lage nicht nur ihrer besonderen gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sein, sondern auch das Spannungsfeld der neurowissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen, subjektzentrierten und neuerdings neurophilosophischen Perspektiven nicht nur akzeptieren, sondern aktiv mitgestalten. In diesem für die Zukunft der Psychiatrie entscheidenden Prozess könnte die Psychopathologie in der hier umrissenen Gestalt die Funktion einer Richtschnur übernehmen. Dies freilich ist ein sehr hoher Anspruch, den es erst noch einzulösen gilt (Hoff 2006 b, 2006 c). Im selben Kontext steht eine Initiative der World Psychiatric Association (WPA), die ein personzentriertes Verständnis psychischer Störungen anstrebt (IPPP; International Program for Psychiatry of the Person). Auch hier spielt die Psychopathologie eine wesentliche Rolle (Mezzich 2006). Psychiatriegeschichte. Als letztes Beispiel sei das Fach

Psychiatriegeschichte selbst erwähnt. Der hier zu beobachtende Prozess zunehmender Professionalisierung äußert sich nicht nur in konkreten Forschungsprojekten innerhalb der engen Grenzen einzelner psychiatrischer Institutionen, sondern auch in erfolgreichen Bemühungen um internationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit (Engstrom 2006; Hoff et al. 2006).

1.13

Zusammenfassende Schlussbetrachtung

Es mag unzeitgemäß wirken, so kurz nach der »Dekade des Gehirns« auf die genuine Bedeutung der Psychiatriegeschichte hinzuweisen, und doch ist es nötig. Denn das Selbstverständnis der Psychiatrie bleibt theoretisch wie

25 Literatur

praktisch, in Forschung und Klinik, ebenso unübersichtlich wie die zahlreichen konkurrierenden psychiatrischen Forschungs- und Behandlungskonzepte. Ob man nun bloss von postmoderner Theorienvielfalt – manche sagen, weniger freundlich: postmoderner Beliebigkeit – sprechen will oder eine Identitätskrise des Faches diagnostiziert, bleibt letztlich irrelevant. Entscheidend ist, dass die grundsätzlichen Fragen, was denn Psychiatrie, was psychische Gesundheit und Krankheit, was Diagnose und Therapie seien, ganz unabhängig vom jeweiligen wissenschaftstheoretischen Standpunkt eines Autors nicht ignoriert und nur unter Einbeziehung und Nutzbarmachung des bestehenden und in Zukunft zu erarbeitenden Wissens über ihre Geschichte beantwortet werden können. Die wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte der Psychiatrie, wie sie hier in den Grundzügen dargestellt worden ist, kann den Nachweis führen, wie sehr jede psychiatrische Konzeption – sei ihr Selbstverständnis realwissenschaftlich-naturalistisch, deskriptiv, hermeneutisch, anthropologisch oder sozialwissenschaftlich – notwendigerweise mit ganz bestimmten theoretischen Vorannahmen, v. a. zum Menschenbild, verknüpft ist. Genau dies – die ideengeschichtliche Perspektive in praktischer Absicht – macht den eigentlichen Wert psychiatriehistorischen Arbeitens für den heutigen Psychiater in Klinik, Praxis und Forschung aus. Erst durch die überzeugende wissenschaftliche Durchdringung der beiden Schwerpunkte Institutionsgeschichte und Ideengeschichte wird die psychiatriehistorische Forschung als das aktuelle und praxisrelevante Arbeitsgebiet wahrgenommen werden können, das sie aufgrund ihres Forschungsgegenstandes ist.

Literatur (Wegen des umfassenden Themas kann hier nur eine kleine Auswahl wiedergegeben werden; aus diesem Grund konnte auch die sonst übliche eindeutige Zuordnung von Literaturzitaten und Textstellen nicht konsequent durchgeführt werden.)

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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie

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1

2 2 Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie W. Gaebel, J. Zielasek

2.1

Standortbestimmung ätiopathogenetischer Konzepte – 30

2.2

2.2.2 2.2.3

Krankheits- und Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie – 30 Allgemeine Charakteristik von Krankheits-/Gesundheitsmodellen – 31 Psychische Gesundheit – 33 Psychische Krankheit – 35

2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4

Ätiopathogenese – 39 Ätiologische Grundkonzepte – 39 Pathogenetische Grundkonzepte – 40 Integrative Modelle – 41 Modulare Modelle – 43

2.2.1

2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4

Dimensionen der Störungsdiagnostik – 44 Verlaufsdiagnostik – 44 Psychopathologische Funktionsdiagnostik – 45 Soziale Funktionsdiagnostik – 47 Biologische Funktionsdiagnostik – 48

2.5 2.5.1 2.5.2

Forschungskonsequenzen – 49 Terminologischer Exkurs – 49 Forschungsstrategien – 50

2.6

Ausblick

– 52

Literatur

– 53

> > Psychische Krankheit ist kein Mythos, sondern – jenseits kultureller, politischer und weltanschaulicher Perspektiven – nachweisliche Realität. In ihrem Übergangsbereich sind psychische Krankheit und Gesundheit nicht scharf abgrenzbar, definitorisch sind sie aufeinander bezogen. Psychische Krankheit wird in ihren Erscheinungs- und Verlaufsformen, ihren Ursachen und Bedingungen mehrdimensional konzipiert und diagnostiziert. Pathobiologische, -psychologische und -soziale Aspekte sind komplementär, objektive Indikatoren allerdings teilweise noch unzureichend entwickelt. Eindimensionale oder monokausale Theoriebildung ist überholt; in der Forschung ist zwecks Hypothesenprüfung oft ein reduktionistischer Ansatz, in der klinischen Praxis jedoch durchgehend eine integrative Sichtweise erforderlich. Grundsätzlich ist eine funktionale, auf normale Funktionsweisen und ihre Störungen ausgerichtete Betrachtungsweise anzustreben, die deskriptive Operationalisierungen moderner Klassifikationssysteme ergänzt und rein nosologische Konzeptionen kontrastiert. Valide, empirisch geprüfte oder prüfbare ätiopathogenetische Rahmenkonzepte und Krankheitsmodelle sind die Voraussetzung zur Entwicklung und Anwendung rationaler Therapie. Als allgemeines Modell zur integrativen Konzeptualisierung von Ätiopathogenese, Disposition, auslösenden, aufrechterhaltenden und chronifizierenden sowie protektiven und therapeutischen Faktoren für Krankheitsmanifestation und Verlauf kann heute das Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell gelten. Es besitzt heuristischen Wert für die individuelle Psychoedukation und Therapieplanung wie für die Ursachen-/Bedingungs- und Therapieforschung. Psychiatrische Forschung ist – in einem klar bestimmten begrifflichen Feld und unter Berücksichtigung strategischer wie methodischer Erfordernisse – multidisziplinär orientiert. Dies rückt die Psychiatrie – im Kontext eines naturwissenschaftlich orientierten Weltbildes – näher an Psychologie, Sozialwissenschaften und Medizin; letzteres ist auch ein Beitrag zur immer noch unvollständigen sozialen Gleichstellung von psychisch und somatisch Kranken.

30

Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie

2.1

2

Standortbestimmung ätiopathogenetischer Konzepte

Grundlage einer rationalen Therapie in der Psychiatrie müssen – wie auch sonst in der Medizin – klare ätiologische und pathogenetische Vorstellungen sein. Eine in diesem Sinne valide Krankheitstheorie mit entsprechenden Modellvorstellungen sollte Basis einer kohärenten Therapietheorie sein, aus der nicht nur allgemeine, sondern störungsspezifische therapeutische Handlungsanweisungen ableitbar sind, deren Einsatz zu einer spezifischen und wissenschaftlich überprüfbaren Wirkung führt. Aus in diesem Sinne gültigen Krankheitsmodellen müssen aber auch Aussagen über den Übergangsbereich zwischen Krankheit und Gesundheit ableitbar sein. In dieser Anwendungsbreite kommt derartigen Modellen eine Bedeutung über die therapeutische Nutzanwendung hinaus zu. Sie dienen  dem Selbstverständnis der in der Psychiatrie Tätigen,  der interprofessionellen und Arzt-Patient-Verständigung,  der Öffentlichkeitsarbeit,  der Lehre,  der Forschung. Derart umfassende Modelle liegen bisher erst in Ansätzen vor. Allerdings vollzieht sich eine Entwicklung hin zu integrativen Modellen, die verschiedene Aspekte und Perspektiven integrieren und auf diese Weise unfruchtbare Dualismen zu überwinden suchen. Sie sind in ihrer Komplexität zwar schwieriger zu evaluieren, kommen aber dem nahe, was in der therapeutischen Praxis ohnehin unverzichtbar ist: die Berücksichtigung verschiedener Perspektiven, um dem Kranken in den verschiedenen Dimensionen seines Krankseins wie seiner Person gerecht zu werden.

2.2

Krankheitsund Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie

Krankheit und Gesundheit sind nicht scharf abgrenzbar – dies gilt besonders für die Psychiatrie. Ein Blick in die Geschichte der Psychiatrie, aber auch ein Kulturvergleich, zeigen (Ackerknecht 1985), dass Krankheitskonzeptionen mit den politischen, kulturellen und weltanschaulichen Normen und Werten einer historischen Epoche oder einer Gesellschaftsform variieren. Daraus ist abgeleitet worden, die Psychiatrie schaffe sich erst durch Etikettierung ihre Klientel, die sie zu heilen vorgebe. Dieser Vorwurf, der in der sog. »Labeling-Theorie« der Antipsychiatriebewegung kulminierte, ist wissenschaftlich nicht haltbar (van Praag 1978).

Andererseits sind die Gefahren eines politischen Missbrauchs der Psychiatrie zur Ausgrenzung missliebiger Individuen oder Gruppen auch heute nicht von der Hand zu weisen. Grundsätzlich hat die kritische Auseinandersetzung mit der ordnungspolizeilichen Funktion der Psychiatrie zu einer Sensibilisierung für die Gefahren sozialer Stigmatisierung beigetragen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, »dass wahrscheinlich hinter der Vielfalt der Symptome in allen Gesellschaften dieselbe biologische Krankhaftigkeit, eine absolute Abnormalität, steckt. Die Schwierigkeit besteht nur darin, dass uns für die verbreitetsten Psychosen und Neurosen solche absoluten biologischen Kriterien fehlen, und wir Geisteskrankheiten darum in der Hauptsache nur anhand von Symptomen und der grundlegenden Unfähigkeit zur Einordnung diagnostizieren können« (Ackerknecht 1985).

Ähnlich äußert sich Berrios (1994): »The demonstration of culture-related variations in the presentation of a symptom, however, does not necessarily mean that this has no biologic basis or that, if it has, it is irrelevant to its understanding.« (Der Nachweis kulturabhängiger Unterschiede bei der Präsentation eines Symptoms bedeutet nicht zwingend, dass es keine biologische Basis hat oder dass diese, sofern vorhanden, für sein Verstehen irrelevant ist). Diese Aussagen sind insofern zu relativieren, als z. B. ein abnorm hoher Blutdruck nicht per se aufgrund einer »absoluten« Norm »zu hoch« ist, sondern weil diese Devianz empirisch mit bestimmten Gesundheitsrisiken verknüpft ist (van Praag 1978). Die Definition von »krank« erfordert eine Vorstellung darüber, was »gesund« ist – und umgekehrt. Insofern ergibt sich eine wechselseitige Konzeptualisierung, die allerdings nicht in Zirkelschlüsse münden darf: krank ist, was nicht gesund ist – und vice versa. Zirkuläre Definitionen lassen sich nur vermeiden, wenn konkret auf eine definierte »Lebensfunktion« eingegrenzt wird, deren »physiologische« Gesetzmäßigkeit bekannt ist, so dass sich Abweichungen der »Normalfunktion« quantitativ und/oder qualitativ beschreiben und für eine Definition der »Pathofunktion« verwenden lassen. Funktionsstörungen in der Psychiatrie sind oft identisch mit Handlungsstörungen: »In physical medicine … where scientifically derived disease-theories are important, failure of function is a prominent concept … But in psychiatry the concept of failure of action, though not always recognizable for what it is, is, in many contexts, at least as prominent as that of failure of function … Function and action, although distinct concepts, are of course not unrelated« (Fulford 1991). (Übersetzung: »In der somatischen Medizin, … in der wissenschaftlich gewonnene Krankheitstheorien wichtig sind, ist die Funktionsstörung ein vorherrschendes Konzept … In der Psychiatrie ist das Konzept der Handlungsstörung, wenngleich nicht immer als solche erkennbar, mindestens so bedeutsam wie das der Funktionsstörung … Funktion und Handlung, wenngleich unterschiedliche Konzepte, sind natürlich nicht unabhängig«.)

31 2.2 · Krankheits- und Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie

Der Zusammenhang erklärt sich daraus, dass Handlungsstörungen auch als Funktionsstörungen eines »Handlungsapparats« konzipiert werden können; die konzeptuelle Unterscheidung von »Nichtfunktionieren« und »Nichtkönnen« (Blankenburg 1989) hat allerdings auch ethische Implikationen (Fulford 1991). Wo Indikatoren für »gesund« und »krank« vorliegen, ist eine Abgrenzung empirisch-statistisch möglich, sofern eine normative Grenzziehung unter Angabe eines gewissen Toleranzbereichs erfolgt ist. Das heißt, »gesund« und »krank« sind in der Natur nicht einfach als diskrete Merkmale vorfindbar, sondern sie müssen auf der Grundlage verfügbarer Indikatoren operational definiert werden. Dabei gibt es »Grenzfälle« oder subklinische »Übergangsformen«, deren korrekte Zuordnung oft erst nach einer längeren Verlaufsbeobachtung möglich ist.

ein störungsübergreifendes psychobiologisches Funktionsmodell erforderlich. Die notwendigerweise hohe Komplexität eines derartigen Modells und der noch ungenügende wissenschaftliche Kenntnisstand stehen allerdings einer Ausformulierung derzeit entgegen. Umschriebene Modelle und Forschungsansätze sind zu bevorzugen, wenn unter Kontrolle von »Störvariablen« falsifizierbare Hypothesen geprüft werden sollen. Allerdings darf der Vorteil der experimentellen Überschaubarkeit auf Dauer nicht zu Lasten einer eingeschränkten theoretischen Perspektive und klinischen Repräsentanz gehen (vgl. Lipowski 1986). In der wissenschaftlichen Theoriebildung ist eine integrative Sichtweise unverzichtbar, wenn sich Forschung nicht dauerhaft im Detail verlieren, sondern klinisch relevant werden soll.

Wissenschaftstheoretische Grundlagen 2.2.1

Allgemeine Charakteristik von Krankheits-/Gesundheitsmodellen

Subjektive bzw. implizite Krankheitsmodelle Allgemein kann zwischen wissenschaftlichen (expliziten) und subjektiven (impliziten) Modellen unterschieden werden. Die Relevanz subjektiver bzw. impliziter Modelle für den Krankheits- und Behandlungsverlauf darf nicht unterschätzt werden. Laientheoretische Krankheitsmodelle bei Patienten und Angehörigen können (therapie)verlaufsbeeinflussende Bedeutung gewinnen, indem sie einerseits in der Krankheitsverarbeitung, andererseits in der Therapiemotivation und Lebensführung mehr oder weniger günstige Erlebens- und Verhaltensmuster beisteuern. Sie sind daher im diagnostischen Prozess zu berücksichtigen und in die Behandlungsplanung und -gestaltung einzubeziehen. Sie sind darüber hinaus aber auch von theoretischem Interesse, insofern als ihre genauere Analyse Einsichten in verlaufsstabilisierende wie -destabilisierende psychologische Einflussfaktoren geben kann, die therapeutisch systematischer zu nutzen wären.

Die Suche insbesondere nach den biologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen impliziert auch die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Rahmenkonzept zum Leib-Seele-Problem (»mind-brain«), das diesem Forschungsansatz zugrundeliegt. Die Problematik gründet u. a. darin, dass sich ein wesentlicher Teil der Symptome bzw. Syndrome psychischer Störungen auf der Ebene der für den Beobachter nur indirekt zugänglichen Subjektivität des individuellen Seelenlebens abspielt, andererseits das Gehirn frühzeitig als »Seelenorgan« erkannt wurde und demnach psychische Symptome mit gestörten Hirnfunktionen in Einklang zu bringen waren.

Historische Entwicklung Historisch lassen sich im Wesentlichen 4 grundlegende Theorien unterscheiden (Goodman 1991). Psychophysischer Parallelismus. Nach dem von Leibniz

begründeten psychophysischen Parallelismus sind Körper und Seele/Geist grundsätzlich verschiedene Seinsformen, die sich nicht beeinflussen.

Wissenschaftliche bzw. explizite Modelle

Psychophysischer Dualismus. Die als psychophysischer

Wissenschaftliche Modelle werden unterteilt in:  krankheits- bzw. störungsorientierte und  gesundheitsorientierte Konzepte.

Dualismus bezeichnete Auffassung Descartes’ postuliert demgegenüber eine Interaktion und gegenseitige Beeinflussung von Psyche und Physis, die aber unterschiedlicher Natur sind. Descartes sah mentale Vorgänge als Ausdruck der göttlichen Natur, die dem Menschen in unteilbarer Einheit innewohnt und nicht mit wissenschaftlichen Methoden untersuchbar ist. Die nach seiner Vorstellung in der Epiphyse lokalisierten mentalen Prozesse sollten einen Körper steuern, der gleich einer Maschine funktioniert und dessen Prinzipien wissenschaftlichen Methoden zugänglich sein sollten. Die dualistische Sichtweise ist historisch gesehen für die Entwicklung der Naturwissenschaften insofern fruchtbar gewesen, als sie die isolierte wissenschaftliche Betrachtung des menschlichen Orga-

In der Regel lassen sich aus gesundheitsorientierten Modellen keine Vorhersagen über krankhafte Abweichungen treffen, während störungsorientierte Modelle selten klare Gesundheitskonzepte aufweisen (Tamm 1993). Andererseits fokussieren gesundheitsorientierte Modelle insbesondere auf protektive Faktoren und sind damit hinsichtlich präventiver Konzepte von Bedeutung. Um die komplementären Prozesse Gesundheit und Krankheit konzeptuell integrieren und ihren mannigfaltigen Überschneidungen gerecht werden zu können, wäre

2

32

Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie

nismus unter Ausklammerung des Leib-Seele-Problems ermöglichte.

2

Materialismus. Die Theorie des Materialismus nach Hob-

bes hat 3 Arten des Verständnisses mentaler Phänomene hervorgebracht, wonach mentale Prozesse auf Physisches reduzierbar und vollständig durch zugrundeliegende physische Prozesse erklärbar sind, Epiphänomene, d. h. sekundäre bzw. »zufällige« Effekte darstellen, oder sich aus der Interaktion physischer Prozesse ergeben. Identitätslehre. Als vierter Ansatz zur Lösung des Leib-

Seele-Problems ist die Identitätslehre nach Spinoza zu nennen. Danach sind Gehirnprozesse und mentale Zustände ein und dasselbe bzw. unterschiedliche Weisen des Verständnisses derselben Sache. Der monistische Standpunkt vermeidet das Leib-Seele-Problem, da es sich unter dieser Prämisse gar nicht erst stellt. Die auf philosophischer Ebene letztlich unbefriedigende Lösung des Leib-Seele-Problems stellt allerdings kein prinzipielles Hindernis für die Entwicklung ätiopathogenetischer Modelle dar. Zunehmend setzt sich die Einsicht durch (Davidson 1980; Searle 1984; Quine 1987; Lewis 1989), dass in diesem Problem 2 verschiedene Probleme enthalten sind:  das unlösbare (sprach-)philosophische Problem der Inkommensurabilität (Unvergleichbarkeit) zwischen 2 konzeptuellen Ebenen (einer mentalistischen und einer die somatischen Bedingungen repräsentierenden Sprachebene) und  das bearbeitbare und lösbare empirische Problem der »Realisierung« psychischer Phänomene in neurobiologisch definierten Systemen. Die Subjektivität mentaler Phänomene stellt für die empirische Seite des Problems kein grundsätzliches Hindernis dar, sofern eine konzeptuelle Konfundierung mentaler und somatischer Termini strikt vermieden (Goodman 1991) und eine intersubjektive Verifizierung mentaler Gegebenheiten angestrengt wird (Hempel 1965). In diesem Zusammenhang wird häufig die Frage nach der Kompatibilität der Perspektiven von 1. und 3. Person aufgeworfen. In Ablehnung eines ontologisch-reduktionistischen Ansatzes (Searle 2004) wird hier die Position vertreten, dass in Diagnostik und Therapie psychischer Störungen Erlebensinhalte aus der subjektiven 1. PersonPerspektive über Zwischenschritte einer interaktionell vermittelten intersubjektiven 2. Person-Perspektive gemeinsam in den objektiven Bezugsrahmen einer 3. Person-Perspektive eingeordnet und damit gestörte Erlebensformen prinzipiell auch einer hirnphysiologischen Betrachtung zugänglich gemacht werden können. Biographisches Verstehen der Gründe und Motivlagen bestimmter Erlebens- und Verhaltensweisen und deren metapsychologische Einordnung finden dabei ebenso

Anwendung, wie kausal-orientiertes Erklären des formalen Auftretens bestimmter Symptombildungen auf der Ebene involvierter Hirnmechanismen. Ohne Intersubjektivität des Verstehens kann es, um mit Habermas (2004) zu sprechen, keine Objektivität des Wissens geben.

Anomaler bzw. pragmatischer Monismus Die als »anomaler«, nicht durchgehend gesetzmäßigen psychophysischen Zusammenhängen genügender (vgl. Davidson 1980) oder »pragmatischer« (Pöppel 1988) Monismus bezeichnete wissenschaftstheoretische Grundposition biologisch-psychiatrischer Forschung betrachtet psychische Phänomene und die sie fundierenden neuronalen Funktionen unter einem phylogenetisch und ontogenetisch evolutionären Blickwinkel. Sie impliziert eine Erweiterung des Kausalitätsprinzips insofern, als hierunter neben der sukzessiven Ursache-Wirkungs-Beziehung auch die simultane »Realisierung« einer Struktur auf der Makroebene durch ein komplexes System auf der Mikroebene subsumiert wird. Für die Formulierung gesetzmäßiger Zusammenhänge zwischen beiden Funktionsebenen stellt die Objektivierung psychischer Phänomene eine wichtige Voraussetzung dar, die die Kompatibilität mit der neurobiologischen Beschreibungsebene gewährleistet und die Prüfung von Hypothesen über regelhafte Zusammenhänge zwischen definierten Funktionszuständen auf beiden Ebenen erlaubt. Die Sonderstellung der Psychiatrie in der Medizin ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich mehr als andere klinische Fächer im konzeptuell-methodologischen Dualismus nomothetischer und ideographischer Erfahrung bewegt (Heimann 1991). Im naturwissenschaftlichen Forschungskontext ist die Anwendung einer objektiven Beobachtungssprache allerdings unverzichtbar. Mentale Vorgänge, die in dieser Sprache nicht abbildbar sind, bleiben der biologischen Forschung vorerst verschlossen. Dieser notwendige Reduktionismus ist legitim, solange er auf den genannten Anwendungsbereich beschränkt bleibt: »We need to practise reductionism in research, but endorse the integrative approach to theory, clinical work, and teaching« (Lipowski 1986). (In der Forschung ist ein reduktionistischer Ansatz gerechtfertigt, in Theorie, Klinik und Lehre hingegen muss ein integrativer Zugang gewährleistet sein.)

Mehrdimensionales biopsychosoziales Krankheitsmodell In der Psychiatrie haben systemtheoretische Überlegungen (von Bertalanffy 1974) zur Ablösung eines eindimensionalen biomedizinischen durch ein mehrdimensionales biopsychosoziales Krankheitsmodell (Engel 1980) geführt, anhand dessen die Bedingungen und Manifestationsformen von Krankheit (und Gesundheit) auf ver-

33 2.2 · Krankheits- und Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie

schiedenen Ebenen konzeptualisiert und analysiert werden können (⊡ Abb. 2.1). Eine »biologisch« orientierte Psychiatrie erhebt in diesem Kontext den Anspruch, »Forschungsergebnisse aus allen Bereichen der Psychiatrie zu subsumieren, die mit naturwissenschaftlich-biologischen Methoden gewonnen werden« (Hippius u. Matussek 1978), nicht hingegen, dass psychische Störungen als primäre Hirnkrankheiten zu konzipieren seien (vgl. McLaren 1992). Ein multifaktorielles systemisches Funktionsmodell (Marmor

1983) vermag sowohl biologische als auch psychosoziale Bedingungen neuronaler Veränderungen als Substrat devianten Verhaltens zu integrieren. »Anlage« und »Umwelt« sind in diesem Modell komplementäre Aspekte, deren Auswirkungen am – sich entwickelnden – neuronalen Substrat erst durch adäquate biotechnologische Untersuchungsmethoden der Forschung zugänglich werden. Der Wissenszuwachs über Funktionszustände von und Interaktionen zwischen Nervenzellen und die daraus erwachsene Theorie »neuronaler Netzwerke« (Wieding u. Schönle 1991) lassen in Zukunft eine problemadäquate Formulierung neurobiologischer Funktionszustände und korrespondierender psychischer Zustände erwarten.

2.2.2

⊡ Abb. 2.1. Hierarchische Organisationsstruktur biopsychosozialer Systeme. (Nach Engel 1980; Goodman 1991)

Psychische Gesundheit

Die Satzung der WHO definiert in ihrer Präambel Gesundheit allgemein als »Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur (als) das Freisein von Krankheit oder Gebrechen«. Die Definition verweist auf die notwendige Mehrdimensionalität einer Konzeption von Gesundheit – und Krankheit –, indem sie sich an ein biopsychosoziales Konzept (s. unten) anlehnt. Die Orientierung an der subjektiven Befindlichkeit ist allerdings hilfreich, um objektivierbare funktionale Kriterien zu erweitern. Darüber hinaus erscheint der Einbezug der sozialen Dimension als Gesundheitskriterium problematisch, sofern er nicht auf sozial-kommunikative und instrumentelle Kompetenzen beschränkt wird, sondern auch einen normativen sozialen »Lebensstandard« umfasst. Ohne ein Funktionsmodell »gesunder« Lebensvorgänge – körperlich wie seelisch oder sozial – sind Kriterien weder für Gesundheit noch Krankheit angebbar. Reduziert man Gesundheit im Sinne des medizinischen Modells auf die Funktionsfähigkeit einzelner Organe oder Organsysteme, lassen sich anhand der empirisch-statistischen Verteilung von Funktionsparametern Normbereiche mit Hilfe kritischer Indikatoren definieren. Wie die Beispiele Blutdruck oder Blutzuckerkonzentration zeigen, sind entsprechende Meßwerte außerhalb des Normbereichs noch kein Krankheitsbeleg; sie sind eher Indikatoren für eine Regulationsstörung unterschiedlicher Ursache, deren Folgen zeitabhängig Krankheitscharakter gewinnen können. In gleicher Weise ist die pathologische Ausprägung eines Tumormarkers als Hinweis auf ein Malignom zu werten; auch wenn das Vorliegen eines Malignoms selbst – abgesehen von seiner Stadiendifferenzierung – keine Ausprägungsfrage ist, kann seine Entstehung als zellbiologische Gleichgewichtsverschiebung zwischen Entartungs- und Abwehrvorgängen verstanden werden.

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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie

Demnach wäre »Gesundheit« als das anhand bestimmter Funktionsgrößen normierte »Funktionieren« definierter Organsysteme und nicht nur als das Fehlen von Krankheitsindikatoren aufzufassen. Das nach dieser Vorstellung gegenüber dem Anspruch einer »ganzheitlichen« Erfassung zwar reduktionistische statistische Gesundheitsmodell ist Grundlage beispielsweise körperlicher Vorsorgeuntersuchungen (»Organ-Check«), lässt sich aber durchaus auf mentale (z. B. Intelligenztest, Gedächtnisprüfung), prinzipiell auch auf sozial-kommunikative Funktionen (z. B. Einstellungstests) erweitern. Im klinischen Alltag dienen »Routineuntersuchungen« eben diesem Zweck. »Pathologische« Laborwerte können Krankheitswert haben oder auch nicht – hierüber entscheidet weniger das subjektive Wohlbefinden, das durchaus erhalten sein kann, als die gesamte Befundkonstellation: Erst sie gibt – im Kontext eines funktionalen Krankheitsmodells – Aufschluss über den pathologischen Stellenwert eines oder mehrerer Befunde. Psychische Gesundheit wäre in diesem Kontext analog funktionsspezifisch am psychischen »Apparat« oder »Funktionssystem« zu definieren. Aber auf welcher Beschreibungsebene, in welchem Modell, anhand welcher Indikatoren ist das möglich? Ein valides psychisches Funktionsmodell – besonders wichtig für präventive Aufgabenstellungen – sowie daraus abgeleitete Störungsmodelle sind derzeit nicht verfügbar. Während die somatische Medizin über die genannten – in der Regel dimensionalen – Funktionsindikatoren verfügt, gibt es in der Psychiatrie bisher keine objektiven funktionalen Kriterien für psychische Gesundheit oder Krankheit. An metapsychologischen Konstrukten orientierte Störungs- und Therapietheorien (Lipowski 1986; Blankenburg 1989; Tamm 1993) besitzen zwar auch Vorstellungen über psychische Gesundheit, explizieren diese aber unzureichend oder in keiner empirisch überprüfbaren Weise (s. unten). In epidemiologischen Untersuchungen wie in der klinischen Routine werden zur Fallidentifikation bzw. Diagnostik ganz wesentlich psychopathologische Auffälligkeiten herangezogen, die bei definierter Qualität, Schwere und Verlaufscharakteristik »Krankheitswert« besitzen. Die Entscheidung hierüber und damit eine etwaige therapeutische Indikationsstellung beziehen wesentlich das Ausmaß der (subjektiven und objektiven) Alltagsbeeinträchtigung, gestörte Rollenfunktionen etc. – kurz, die Beeinträchtigung von Lebensvollzügen –, aber auch die Wirksamkeit von Bewältigungsstrategien mit ein.

Gesundheitsmodelle

! Psychische Gesundheit wird daher in praxi als Fehlen definierter pathologischer Merkmale und – im Rahmen individueller Möglichkeiten und Lebensumstände – als subjektiv und objektiv weitgehend ungestörter Lebensvollzug operationalisiert.

toren gewinnt in der Psychiatrie zunehmend an Bedeutung. Das Salutogenese-Konzept (Antonovsky 1985) beinhaltet eine Beschreibung der Bedingungen, unter denen sich Gesundheit entwickelt und gefördert werden kann. Krankheit ist weniger Folge gesundheitsbeeinträchtigender Einflüsse, als Konsequenz unzulänglicher gesundheitserhaltender oder wiederherstellender Ressourcen.

Einige wenige Gesundheitsmodelle, die allenfalls bedingt einen wissenschaftlichen Anspruch reklamieren können, sind zu nennen (Tamm 1993). Religiöses Modell. Eines der ältesten ist das religiöse Mo-

dell, von so mannigfaltiger Gestalt wie es Religionen, Völker und Kulturen gibt. Geprägt von magisch-religiösen Begriffen und moralischen Aspekten wird Gesundheit als Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele, Krankheit entsprechend als Ungleichgewicht zwischen Mensch und Natur oder zwischen Mensch und Göttern aufgefasst. Es findet sich nur noch innerhalb verschiedener Naturreligionen, bildet andererseits mit seinem Niederschlag in der christlichen Tradition auch heute noch eine Art philosophisches Grundkonzept unserer westlichen Kultur. Humanistisches Modell. Im Gegensatz hierzu erhebt das

humanistische Modell einen wissenschaftlichen Anspruch. Es entwickelte sich in Gegenbewegung zur traditionell psychopathologischen Orientierung der Psychoanalyse und zu einem mechanistisch geprägten Behaviorismus. Dieser insbesondere auf Maslow zurückgehende »holistische« Ansatz begreift den Menschen als biologischen und psychologischen Organismus in Interaktion mit seiner Umwelt, Gesundheit als gelungenen Interaktionsprozess. Phänomenologische Vorgehensweisen und qualitative Forschungsmethoden kennzeichnen das Modell. Transpersonales Modell. Aus der Weiterentwicklung hu-

manistischer (und existentieller) Modelle sowie deren Amalgamierung mit Theorien des Bewusstseins und fernöstlicher Religion entstand das transpersonale Modell. Das Interesse dieses Ansatzes gilt transzendentalen Erfahrungen. Als Protagonisten sind hier z. B. Maslow, Watts und Ornstein zu nennen. Einsicht und »mindfullness« werden als primäre Gesundheitsfaktoren angesehen. Menschliches Bewusstsein wird als ein sich selbst regulierendes, hierarchisch organisiertes System verstanden. »Ungesunde« mentale Faktoren sind u. a. Agitation und Sorge, die zum Zustand der Angst als Hauptmerkmal vieler psychischer Störungen führen. Als therapeutische Methode der Wahl gilt die Meditation. Das Modell ist wissenschaftlich nicht belegt. Salutogenese-Konzept. Die Betrachtung protektiver Fak-

35 2.2 · Krankheits- und Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie

Die Sichtweise, »dass eine Stärkung gesundheitsfördernder Kompetenzen mehr zur Überwindung einer Krankheit beitragen kann, als die alleinige Behandlung der Symptomatik« (Haltenhof u. Vossler 1994), stellt allerdings eine nicht belegte Überschätzung protektiver Faktoren dar.

2.2.3

Psychische Krankheit

Begriffsbestimmung In Anlehnung an die WHO-Definition von Gesundheit wäre Krankheit als »Abwesenheit« körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens zu definieren. Ausschließlich subjektive Mißbefindlichkeit mit Krankheit gleichzusetzen, führte allerdings nicht nur zu weit ( Abschn. 2.2.2), sondern würde auch dem Anspruch auf ein mehrdimensionales Krankheitsverständnis zuwiderlaufen. Es ist daher entsprechend obiger Ausführungen – unabhängig von der Ätiopathogenese – auch das Vorliegen einer objektivierbaren Störung zu fordern. Das Sozialgesetzbuch V (SGB V) definiert – ebenso wie früher die Reichsversicherungsordnung (RVO) – Krankheit nicht explizit. Der §27 SGB V garantiert Versicherten den Anspruch auf Krankenbehandlung, »wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern«; dabei ist »den besonderen Bedürfnissen psychisch Kranker Rechnung zu tragen, insbesondere bei der Versorgung mit Heilmitteln und bei der medizinischen Rehabilitation«. Die Beurteilung einer »Regelwidrigkeit« geht vom »Leitbild« des gesunden Menschen aus, d. h. inwieweit die naturgegebenen körperlichen und geistigen Funktionen so ausgeübt werden können, wie das bei gesunden Menschen möglich ist; dabei können objektive und/oder subjektive Abweichungen vom Regelzustand auftreten, wobei aber eine Störung erst dann eine Leistungspflicht auslöst, wenn die Funktionseinschränkung so weit über eine bestimmte »Bandbreite individueller Verschiedenheiten« hinausgeht, dass sie nur durch Mithilfe des Arztes wiederhergestellt werden kann (Heinze 1989). Vor diesem Hintergrund sind die Behandlungs- und Versorgungserfordernisse psychisch Kranker einzuordnen. Während nach dem sog. realistischen Ansatz der objektive Behandlungs- und Versorgungsbedarf psychisch Kranker die Wirksamkeit, Verfügbarkeit und Finanzierbarkeit einer Behandlungsmethode mit einbezieht, orientiert sich der sog. humanitäre Versorgungsansatz am subjektiven Behandlungsbedürfnis leidender Menschen. Diese Unterscheidung verdeutlicht, dass in der konkreten Versorgungspraxis die Differenzierung von Gesundheit und behandlungsbedürftiger Erkrankung nicht ausschliesslich auf die subjektive Bewertung zurückgeführt werden kann. Eine ausführliche Diskussion der Proble-

matik des Gegenübers von (objektiv) diagnostizierendem Arzt und subjektiv seine Krankheit erleidendem Patienten findet sich bei Helmchen (2005) gewidmet. Diese Problematik ist in der Psychiatrie auch in anderer Hinsicht von Bedeutung, insofern als subjektives Krankheitsgefühl bzw. Krankheitseinsicht und objektive Behandlungsnotwendigkeit gerade bei schweren Störungen auseinanderklaffen können.

Krankheit vs. Störung: Die Krise nosologischer Konzepte Nosologie bedeutet Krankheitslehre. Die aus der Pathologie stammende Bezeichnung beinhaltet zum einen die Bestimmung und symptomatologische Beschreibung der Krankheiten (Nosographie), zum anderen deren systematische Ordnung zu Krankheitsgruppen (nosologische Klassifikation). Ziel einer nosologischen Klassifikation psychischer Krankheiten ist ein »natürliches« Klassifikationssystem, welches »Krankheitseinheiten« mit definiertem klinischem Bild, bekannter Verlaufscharakteristik, umrissener Ätiopathogenese und Therapieansprechbarkeit widerspiegelt. Psychiatrische Nosologie zielt demnach darauf ab, ausgehend von klinischen Phänomenen »transphänomenale« ätiopathogenetische und/ oder pathofunktionale Entitäten zu erfassen.

Historischer Überblick Nosologische Klassifikation, die »Aufstellung der ganzen Gruppe psychischer Krankheiten … aus einer symptomatologischen Betrachtungsweise« (Griesinger 1845) war das besondere Anliegen einer hirnpathologisch orientierten Psychiatrie im 19. Jahrhundert. »Die so durch Zusammenfassung der häufigsten coincidierend vorkommenden Symptome und durch rein empirische Abgrenzung sich ergebenden Gruppen von Krankheitsgestaltungen« – geordnet »nach der Methode der klinischen Pathologie« – sollten nicht nur valide prognostische Aussagen im Einzelfall ermöglichen, sondern schließlich auch klinischer Ausgangspunkt »für die anatomische Begründung der einzelnen Krankheitsformen« sein (Kahlbaum 1874). Kahlbaum (1874) vertrat die Auffassung, dass »der Psychiater sich ja mit der Symptomatologie erst die rechte, für ihn brauchbare Psychologie« geschaffen habe und die »psychischen Erscheinungen« – anders als in der deduktiv vorgehenden Psychologie – »zunächst ganz vorurtheilslos betrachtet und angesammelt werden« sollten. Die in diesem Zeitgeist entwickelte Nosologie hatte zum Ziel, »der Natur entsprechende Krankheitsbilder« aufzufinden (Kraepelin 1920). Sie hat bis heute im Wesentlichen ihre Gültigkeit behalten. Anfang des 20. Jahrhunderts setzte eine Krise des nosologischen Konzepts ein. Hoche (1912) äußerte sich kritisch, später auch Kraepelin (1920) selbst. Die »Erscheinungsformen des Irreseins« – so Kraepelin (1920) – seien »die natürliche Antwort der menschlichen Maschine«, die

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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie

»auf das Spiel vorgebildeter Einrichtungen unseres Organismus« durch Beeinträchtigung »gleicher Gebiete« zurückgehe. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass es funktionell-anatomisch vorgebildete überindividuelle Reaktionsweisen geben müsse, die sich als »Grundstörungen« durch Abbauvorgänge im evolutiven »schichtmäßigen Aufbau der Seelengrundlagen« äußerten und am angemessensten durch Methoden der »vergleichenden Psychiatrie« zu studieren seien. Mit den im Wesentlichen durch Freud, später durch A. Meyer (biographischer Ansatz) und Menninger (Störungen der Ich-Funktion), durch lerntheoretisch-behaviorale und systemisch-interaktionelle Ansätze platzgreifenden psychodynamisch-psychologischen Konzeptionen entstand allmählich ein »antinosologisches« Klima (Akiskal 1978), in dem metapsychologisch-interpretative (deduktive, s. Kahlbaum 1874) gegenüber deskriptiv-empirischen (induktiven) Konzepten dominierten. Eine »dynamisch« orientierte Psychopathologie versuchte, Inhalt, Form und Mechanismus in einem theoretischen Modell unterzubringen (Berrios 1994). Das Unbehagen an einer symptomorientierten Diagnostik aufgrund geringer Reliabilität und prädiktiver Kraft sowie die Bevorzugung psychodynamischen »Verstehens« anstatt eines als sozial-schädlich angesehenen »Labeling« (Akiskal 1978) förderten die Ablehnung nosologischer Konzepte und gaben einer antipsychiatrischen Bewegung Auftrieb.

Moderne Klassifikationssysteme Vor dem Hintergrund dieser historischen Entwicklung ist der konzeptuelle Standort moderner Klassifikationssysteme zu sehen. Sie dienen nicht nur klinisch-pragmatischen Zwecken, sondern definieren das Feld der Störungen, mit dem sich das Fachgebiet der Psychiatrie beschäftigen soll (Mezzich u. Berganza 2005). Insofern geht die Etablierung eines Diagnose- und Klassifikationssystems in der Psychiatrie weit über das in den übrigen klinischen Fächern übliche hinaus. Ohne Krankheitskonzeption kann es eine solche weitreichende diagnostische Klassifikation nicht geben (Berganza et al. 2005). Insbesondere von Seiten der World Psychiatric Association (WPA) wird derzeit auf die Bedeutung eines personalen Ansatzes in Diagnostik und Klassifikation verstärkt hingewiesen. ICD-10. So weist ICD-10 (Dilling et al. 2000) darauf hin, dass der Begriff Störung (»Disorder«) den »problematischen Gebrauch von Ausdrücken wie ›Krankheit‹ und/ oder ›Erkrankung‹ weitgehend vermeiden soll«. Dabei soll vermieden werden, mit »Krankheit« assoziierte nosologische Konzepte beizubehalten, da der nosologische Status psychischer »Störungen« unklar sei. Störung soll in diesem Kontext »einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzeigen,

der immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen- oder sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden ist, sich aber nicht auf der sozialen Ebene allein darstellt«. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, hat die Weltgesundheitsvollversammlung 2001 die »International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)« (Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) verabschiedet. Ihr liegt ein Konzept der funktionalen Gesundheit auf Grundlage eines biopsychosozialen Modells der Gesundheitskomponenten zugrunde, es ist ressourcen- und defizitorientiert, wobei die soziale Dimension und ihre Beeinträchtigung als ›Partizipation‹ i. S. der Wechselwirkung zwischen dem gesundheitlichen Problem (ICD) einer Person und ihren Umweltfaktoren definiert wird. DSM-IV. DSM-IV (Saß et al. 2000) weist zunächst kritisch

darauf hin, dass der Begriff »psychische Störung« »leider eine Unterscheidung zwischen ›psychischer‹ und ›körperlicher‹ Störung« impliziere, und betont, dass trotz dieses aus der Zeit des Leib-Seele-Dualismus stammenden »reduktionistischen Anachronismus« und der Tatsache, »dass psychische Störungen viel ›Körperliches‹ und körperliche Störungen viel ›Psychisches‹ enthalten«, der Begriff beibehalten werde, »da sich kein angemessener Ersatz fand«. DSM-IV führt weiter aus, dass es keine allgemeingültige, situationsübergreifend gültige operationale und zwischen gesund und krank grenzziehende Definition psychischer Störungen gibt. Ähnlich wie in der somatischen Medizin, wo krankhafte Zustände auf unterschiedlichem Abstraktionsniveau – wie der strukturellen Pathologie (z. B. Colitis ulcerosa), der Symptomatik (z. B. Migräne), der Abweichung von einer physiologischen Norm (z.B. Bluthochdruck) und der Ätiologie (z. B. Pneumokokkenpneumonie) – beschrieben werden, werden psychische Störungen durch eine Vielzahl unterschiedlicher Konzepte definiert, wie z. B. Leiden, Kontrollstörung, Benachteiligung, Behinderung, mangelnde Flexibilität, Irrationalität, Syndrommuster, Ätiologie oder statistische Abweichung. Trotz dieser Vorbehalte wird eine allgemeine Definition psychischer Störungen beibehalten, die aufgefasst werden »als ein klinisch bedeutsames Verhaltens- oder psychisches Syndrom oder Muster, das bei einer Person auftritt und das mit momentanem Leiden (z. B. einem schmerzhaften Symptom) oder einer Beeinträchtigung (z. B. Einschränkung in einem oder mehreren wichtigen Funktionsbereichen) oder mit einem stark erhöhten Risiko einhergeht, zu sterben, Schmerz, Beeinträchtigung oder einen tiefgreifenden Verlust an Freiheit zu erleiden«. Darüber hinaus darf es sich nicht um »eine verständliche oder kulturell sanktionierte Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis« handeln, und es muss – unabhängig von dem »ursprünglichen Auslöser« – eine »verhaltensmäßige,

37 2.2 · Krankheits- und Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie

psychische oder biologische Funktionsstörung« zu beobachten sein. Normabweichendes Verhalten (z. B. politischer, religiöser oder sexueller Art) oder Konflikte des einzelnen mit der Gesellschaft werden explizit von psychischen Störungen abgegrenzt, sofern es sich hierbei nicht um ein Symptom einer der genannten Funktionsstörungen bei der betroffenen Person handelt. Die hier ausführlicher dargestellte Definition des DSM-IV geht also von einer objektivierbaren psychobiologischen Funktionsstörung aus, die mit subjektivem Leiden oder einer bereits bestehenden oder drohenden Funktionseinschränkung bis hin zum Verlust von (innerer) Freiheit oder Leben verbunden ist. Dabei »wird nicht angenommen, dass jede Kategorie einer psychischen Störung eine diskrete Entität mit absoluten Grenzen ist, die sie von anderen Störungen und von der Normalität trennt«. Auch DSM-IV verzichtet damit auf ein nosologisches Konzept.

Validierungskriterien nosologischer Klassifikationen Trotz dieser historischen Entwicklung und des aktuellen Kenntnisstandes ist die Hoffnung auf eine nosologische Klassifikation psychischer Störungen nie aufgegeben worden. Im Gegenteil ist als Voraussetzung für eine derartige Entwicklung die Notwendigkeit einer streng deskriptiven Phänomenologie bekräftigt worden. Reliabilität der klinischen Syndrombeschreibung ist die Voraussetzung ihrer Validität: »There is no guarantee that a reliable system is valid, but assuredly an unreliable system must be invalid« (Spitzer u. Fleiss 1974; ein reliables System ist nicht notwendigerweise valide, aber ein unreliables System kann nicht valide sein). Als erforderliche Schritte eines Validierungsprozesses gelten (Robins u. Guze 1970; Guze 1992):  klinische Deskription (Einschlusskriterien),  Laborbefunde,  Abgrenzung gegenüber anderen Störungen (Ausschlusskriterien),  Follow-up-Studien,  Familienstudien. In einer Weiterentwicklung unter Einbezug biologischer Validierungskriterien wurde folgende diagnostische Systematik vorgeschlagen (Akiskal 1978):  klinische Phänomenologie,  Verlauf,  Heredität,  pharmakologische Response,  biochemische Korrelate,  neuro-/psychophysiologische Korrelate. Heute wäre hier sicher das gesamte Inventar neurobiologischer Forschungsmethoden zu nennen. Die verschie-

denen Validierungssysteme lassen allerdings den Bezug zu externen »Goldstandards«, die für eine Konstruktvalidierung entscheidend sind, vermissen. Allerdings sind Wege vorgeschlagen worden, wie auch ohne »Goldstandard« eine Valdierung der Konzeption psychischer Störungen möglich ist (Faraone u. Tsuang 1994).

Operationale Diagnostik und Klassifikation Bereits die Einführung von DSM-III brachte wichtige Neuerungen mit sich, etwa die Einführung expliziter und operational definierter diagnostischer Kriterien sowie ein multiaxiales Beschreibungssystem. Der deskriptive Ansatz unterstreicht das Bemühen um eine weitgehende Neutralität hinsichtlich ätiologischer Vorannahmen, der multiaxiale Ansatz dient einer systematischen Beurteilung psychischer Störungen unter Berücksichtigung medizinischer Krankheitsfaktoren, psychosozialer Probleme und des allgemeinen Funktionsniveaus. Neben einer besseren Organisation der Information sowie der Erfassung von klinischer Komplexität und Heterogenität fördert ein multiaxiales Klassifikationssystem die Anwendung eines biopsychosozialen Modells in Klinik, Ausbildung und Forschung. DSM-IV hält folgende 5 Achsen vor:  Achse I  klinische Störungen,  andere klinisch relevante Probleme;  Achse II  Persönlichkeitsstörungen,  geistige Behinderung;  Achse III  medizinische Krankheitsfaktoren;  Achse IV  psychosoziale oder umgebungsbedingte Probleme;  Achse V  globale Beurteilung des Funktionsniveaus. Die unabhängige Beurteilung der Achsen ermöglicht die breitgefächerte Dokumentation krankheitsassoziierter Merkmale ohne Hypostasierung kausaler Zusammenhänge. Auch mit der operationalen Klassifikation kann allerdings aufgrund einer polythetischen Kriteriologie der Systeme die Heterogenität der klassifizierten Individuen nicht völlig vermieden werden. Das heißt, unter dem »Etikett« der gleichen Diagnose können sich durchaus Personen mit heterogenen Symptombildern verbergen. Andererseits wäre selbst eine phänomenologisch homogene Klassifizierung aufgrund möglicher pleomorpher Syndromgestaltungen noch keine Garantie für eine homogene Nosologie (s. unten). Eine kategoriale – anstatt einer dimensionalen – Ordnung psychischer Störungen ist möglicherweise der Realität ohnehin nicht angemessen, hat sich aber in der Praxis bewährt. Von Fragen der Praktikabilität abgesehen ist beispielsweise unklar, welche Dimensionen als konstituierend herangezogen werden sollten. Aus wissenschafts-

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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie

theoretischer Sicht wird allerdings für die Taxonomie psychischer Störungen eine Entwicklung dimensionaler Funktionsmodelle antizipiert (Hempel 1965):

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»The development of taxonomic concepts in the study of mental disorder will probably show two trends: First, a continuation of the shift from systems defined by reference to observable characteristics to systems based on theoretical concepts; and second, a gradual shift from classificatory concepts and methods to ordering concepts and procedures, both of the non-quantitative and of the quantitative varieties«. (Übersetzung: »Die Entwicklung taxonomischer Konzepte psychischer Störungen wird sich wahrscheinlich auf zwei Wegen vollziehen: einerseits in einem weiteren Übergang von beobachtungsbasierten zu theoriebasierten Konzepten und andererseits in einem schrittweisen Wandel von klassifikatorischen hin zu dimensionalen Konzepten und Methoden, beide sowohl qualitativer wie quantitativer Natur«.)

Auf dem Weg zu ICD-11 und DSM-V Gegenwärtig sind von der American Psychiatric Association (APA) ausgehend Bestrebungen zur Neufassung der US-amerikanischen Diagnosekriterien in Gang, die etwa im Jahre 2011 mit der Publikation von DSM-V zum Abschluss kommen sollen. Bereits im Jahre 2002 wurde eine »Forschungsagenda« publiziert, die die wesentlichen Forschungsfelder absteckte, die zur Etablierung der DSM-V zunächst »abgearbeitet« werden müssen (Kupfer et al. 2002). Die Neufassung der WHO-Klassifikation (ICD-11) dürfte sich diesem Forschungs- und Reklassifizierungsprozess anschließen, und im Sinne einer Vereinheitlichung der Diagnosekriterien ist zu hoffen, dass hier ein Konsens möglich wird. Optionen für eine künftige Neuklassifikation bedienen sich entweder einer kategorialen Typologie, dimensionaler Modelle, oder empirisch ermittelter Prototypen (Jablensky 2005). Der Ruf nach einer ätiologisch basierten anstelle einer symptombasierten DSM-V-Klassifikation wird lauter (Phillips u. Frank 2006). Die klassifikatorische Diskussion wird besonders geprägt von den Fortschritten in der Genetik psychischer Störungen, z. B. von der Frage, inwiefern das klinischpsychopathologische »Psychose«-Konzept »dekonstruiert« werden muss. Diese Diskussion erfolgt auf dem Hintergrund der Erforschung genetischer Risikofaktoren von Schizophrenie und affektiven Störungen, wobei rasch klar wurde, dass die Genetik dieser Erkrankungen komplex ist, dass bisweilen dieselben Risikogene in beiden Erkrankungsgruppen verändert sind, dass bestimmte genetische Faktoren nur einen Teil des Erkrankungsrisikos vermitteln, und dass die Aufklärung der genetischen Risikomarker noch nicht zu einer klaren Kausalkette vom Gen zum Phänotyp geführt hat. Einige Genotyp-Phänotyp-Korrelationen kristallisieren sich jedoch heraus (Craddock et al. 2006) und Aspekte einer Gen-Umwelt-Interaktion, die theoretisch in der Psychiatrie schon immer eine große Rolle gespielt haben, finden hier eine völlig neue Betrach-

tungsebene, die Neurowissenschaftler, Genetiker, und psychiatrische Epidemiologen zusammenbringt (Cospi u. Moffitt 2006). Allerdings: Während man auf Vereinfachung hoffte, zeigte sich eine hochgradige Komplexität auf allen Untersuchungsebenen. Diskussionen um eine möglicherweise notwendig werdende Aufgabe der Kraepelin-Dichotomie schizophrener und (bipolarer) affektiver Störungen zeigen (Craddock et al. 2006), dass die Neurogenetik die Grundlagen der psychiatrischen Nosologie in Frage zu stellen beginnt. Selbstkritische Neurogenetiker, sowie einige Psychiater und Philosophen bezweifeln allerdings, dass genetische Untersuchungen allein überhaupt in der Lage sind, die komplexen Probleme der psychiatrischen Nosologie zu lösen (Kendler 2006; Robert u. Plantikow 2005). Neben den sicher erforderlichen klinisch-empirischen Forschungsbemühungen, die eine Konkretisierung der neurowissenschaftlichen Grundlagen der Pathophysiologie psychischer Störungen zur Aufgabe haben, ist daher dringend eine Vertiefung und Fortführung des Diskurses über die philosophischen Grundlagen psychopathologischer Phänomene und ihrer Interpretation im Rahmen psychiatrischer Klassifikationssysteme notwendig (Graham u. Stephens 1994; Heinze 2006). Die Zeit für einen Paradigmenwechsel hin zu ätiopathogenetisch fundierten psychiatrischen Klassifikationssystemen ist zumindest im Jahre 2006 noch nicht gekommen. Wichtiger erscheint derzeit die Erarbeitung von kurz-, mittel- und längerfristigen Forschungsstrategien. Dies geschieht im Rahmen des DSM-V-Entwicklungsprozesses noch bis 2007 in einer Serie von Forschungskonferenzen zu praktisch allen psychiatrischen Störungsgruppen. Hierbei deutet sich bereits an, dass aufgrund der Komplexität der Störungsbilder und ihrer möglichen Ätiopathogenesen trotz des gegenwärtig rasanten Erkenntniszuwaches in der Neurobiologie psychischer Störungen keine schnellen Fortschritte zu erwarten sind.

Störungsmodelle Hinsichtlich ihres konzeptuellen Ansatzes lassen sich 3 Arten von Störungsmodellen unterscheiden (Lipowski 1986):  biologische (somatische, organische),  psychische (psychologische, psychodynamische, psychosoziale),  biopsychosoziale. Während die beiden erstgenannten Ansätze vorrangig nur eine Klasse putativer Ätiologiefaktoren betrachten (und deshalb auch als reduktionistisch bezeichnet werden), gelten die an dritter Stelle aufgeführten Ansätze aufgrund ihrer Mehrdimensionalität als integrativ oder holistisch. Die hier gewählte Einteilung erscheint sinnvoller als die Unterscheidungen in biomedizinisch, existentiell und psychosomatisch (Tamm 1993) oder die in naturwissen-

39 2.3 · Ätiopathogenese

schaftlich, individualpsychologisch, interaktional und integriert (Alanen 1984), da sie aus den 3 möglichen konzeptuellen Ansätzen bereits spezifische Modellvorstellungen herausgreifen. Im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts standen »Psychiker« wie Heinroth oder Ideler den »Somatikern« wie Griesinger kontrovers gegenüber (Ackerknecht 1985). Der englische Psychiater Bucknill (vgl. Lipowski 1986) hat schon Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen somatischen, psychischen und somatopsychischen Theorien unterschieden und letzteren den Vorzug gegeben. Eine adäquate Formulierung eines »psychobiologischen« Ansatzes erfolgte aber erst ein halbes Jahrhundert später durch A. Meyer, der den Patienten als mit der Umwelt interagierendes integriertes Ganzes – als Geist/Seele-Körper-Komplex – auffasste.

nale und kommunikationstheoretische Vorstellungen angelehnte psychosoziale Modelle einzubeziehen. Psychosomatisches Modell. Als Vorläufer biopsychosozi-

aler Modelle sei hier das in den 1930er Jahren entwickelte psychosomatische Modell erwähnt. Nach der Grundthese dieses insbesondere auf Helen Flanders Dunbar zurückgehenden Ansatzes gibt es keine somatische Erkrankung ohne emotionale und/oder soziale Antezedentien und psychische Erkrankung ohne somatische Symptome; Krankheit entsteht durch das Zusammenspiel physischer und psychischer Faktoren.

2.3

Ätiopathogenese

2.3.1

Ätiologische Grundkonzepte

Biomedizinisches Modell. Das biomedizinische Modell als

somatischer Ansatz mit Wurzeln in der altgriechischen Philosophie und Medizin beansprucht eine empirische, rationale und systematische, d. h. naturwissenschaftliche Grundlage seiner Krankheitsvorstellungen. Die Annahme, physikochemische Prozesse des Gehirns könnten schlussendlich alle mentalen Prozesse und deren Störungen erklären, schien bei entzündlichen und degenerativen Erkrankungen des Gehirns am ehesten erfolgreich. Prototyp einer hirnorganischen Erkrankung mit bekannter Ätiologie war die progressive Paralyse. Bei den sog. »endogenen«, v. a. aber bei den »psychogenen« Störungen konnte das biomedizinische Modell jedoch zunächst nicht den gleichen Erfolg aufweisen. Psychisches Modell. Nach Annahme des psychischen Mo-

dells sind mentale Phänomene und ihre Störungen nicht auf Gehirnprozesse reduzierbar, aber mit den Methoden und Konzepten der Verhaltenswissenschaften untersuchbar und erklärbar. Betrachtet wurden zunächst alle, später v. a. sog. psychogene oder funktionelle Störungen, deren Auftreten und Merkmale – je nach Zeitgeist – als Konsequenz unmoralischen Lebenswandels, gestörten Sexuallebens und/oder gestörter interpersonaler Beziehungen, insbesondere während früher individueller Entwicklungsstadien, aufgefasst wurden. Ein hermeneutischer, psychologisch-«verstehender« Zugang zur Psychopathologie hat das wissenschaftliche und therapeutische Denken in der Psychiatrie entscheidend geprägt. Erst dort, wo dieser Zugang nicht weiterführte, wo krankes Seelenleben nicht aus gesundem ableitbar erschien, wurden körperliche Ursachen angenommen und somatische Therapieverfahren einbezogen. In diese Konzeption sind auf Struktur- und Trieblehre Freuds aufbauende psychodynamische, an die Existenzphilosophie angelehnte daseinsanalytische, aus der Lernund Verhaltenstheorie abgeleitete behaviorale bzw. behavioral-kognitive sowie an systemtheoretische interaktio-

Bereits Griesinger (1845) hatte in seinem Lehrbuch »Die Pathologie und Therapie psychischer Krankheiten« deren »Ätiologie und Pathogenese« ein eigenes Kapitel gewidmet. In der »Ätiologie des Irreseins«, die »in der außerordentlichen Mehrzahl der Fälle nicht eine einzige specifische Ursache, sondern ein Complex mehrerer, zum Theil sehr vieler und verwickelter schädlicher Momente« ist, unterschied er eine allgemeine (z. B. Geschlecht, Alter) und individuelle Prädisposition (Erblichkeit, Erziehung, psychische und somatische Konstitution) sowie psychische, somatische und gemischte Ursachen. In Überschneidung mit den vorgenannten Krankheitsmodellen können allgemein als wissenschaftliche ätiologische Modelle herausgestellt werden (Zubin u. Spring 1977):  feldtheoretische Modelle (ökologische Faktoren),  sozialpsychologische Modelle (Entwicklung, Lernen),  biologische Modelle (Gene, Hirnfunktionen, »milieu interne«). Einfach-kausale Zusammenhänge, bei denen einer einzelnen Ursache eine allein entscheidende Wirkung zukäme, kommen – z. B. als monogene Erkrankungen – sowohl in der somatischen Medizin als auch in der Psychiatrie selten vor. Auch bei Infektionskrankheiten mit weitgehend aufgeklärtem pathogenetischem Mechanismus kommt Faktoren wie der Disposition, Immunitätslage, peristatischen Faktoren etc. eine manifestationsbestimmende und verlaufsbeeinflussende Bedeutung zu. Eine alleinige somatische »Ursache« (Gendefekt, Infektion, Perinataltrauma etc.) reicht in der Regel nicht aus, um die (oft mit Latenz auftretende und individuell geprägte) Krankheitsmanifestation schlüssig zu erklären. Während eine akute (primäre oder sekundäre) somatische Schädigung zu entsprechenden neuropsychiatrischen Irritationen oder Ausfallserscheinungen führen

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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie

kann (unmittelbare Ursache-Wirkungs-Beziehung), ist für die meisten psychischen Störungen eine unmittelbare somatische Noxe nicht erkennbar, sondern muss entweder durch zeitliche Summierung (chronischer Einfluss, Sensitivierung), neu aufgetretene bzw. dispositionell angelegte Fehlsteuerung (Demenz) oder zurückliegende Einwirkung (z. B. Perinatalschaden) mit konsekutiver Fehlentwicklung und/oder dispositioneller »Schwäche« unterstellt werden. In den letztgenannten Fällen bleibt das »freie Intervall« bis zur Krankheitsmanifestation zu erklären; hier werden z. B. Reifung sensibler Hirnregionen, Stressoren in kritischen Entwicklungsphasen oder vorzeitige Alterungsvorgänge als pathogenetische Zwischenglieder herangezogen. Erklärungsbedürftig ist weiterhin, warum einzelne Individuen trotz gleicher Exposition nicht oder weniger schwer erkranken bzw. ein besseres Regenerationspotenzial aufweisen. Derartige Beobachtungen widersprechen dem Konzept einfacher linearer Zusammenhänge zwischen Ätiologie, Pathogenese und Manifestation und erfordern die Einführung u. a. folgender Moderatorgrößen:  Disposition (Vulnerabilität, Suszeptibilität),  Art und Ausmaß der primären Noxe(n),  Einwirkungszeitpunkt (sensible Phase) und -dauer,  kritische Schädigungsregion(en),  kompensatorische (regenerative, reparative) Funktionen,  manifestationsfördernde/-hemmende Bedingungen (Risikofaktoren, protektive Faktoren),  verlaufsgestaltende (interne/externe) Faktoren. Psychosoziale Faktoren. Damit Modellelemente wie »Dis-

position« nicht nur »leere Worte für eine ganz unbekannte Sache« bleiben (Griesinger 1845), müssen entsprechende Indikatoren entwickelt werden (s. unten). Psychosoziale Faktoren können ebenfalls Noxencharakter haben. Der Einfluss von Umgebungsfaktoren bzw. Erfahrung auf das neuronale Substrat ist belegt (Kandel 1998; Hyman 2000), hier sind daher prinzipiell die gleichen Modellvorstellungen mit früher, später, akuter oder chronischer Schädigung anwendbar. Allerdings bedarf es der Berücksichtigung, dass an sich neutrale oder durchschnittlich belastende Lebensereignisse/-konstellationen erst aufgrund ihrer individuell-biographischen (symbolischen) Konnotation pathogene Bedeutung bekommen. Auch in diesem Denkansatz steht das biologische Modell im Zentrum. Therapiemöglichkeiten. Therapie kann allgemein auf al-

len Ebenen des biopsychosozialen Modells angreifen – dabei kann auf der psychosozialen Ebene unterschieden werden zwischen Therapie zur Konfliktbehebung, zum Konfliktmanagement oder zur Mitigierung »biologischer« Konfliktfolgen mit der Konsequenz einer besseren

Konfliktbewältigung. »Kausal« im eigentlichen Sinne wäre das Ausschalten oder Neutralisieren primärer Noxe(n) – d. h. Prävention. Alle anderen Therapieprinzipien können durch Eingriff in das komplexe Bedingungsgefüge Funktionsstörungen ausgleichend, modulierend oder kompensatorisch wirken.

2.3.2

Pathogenetische Grundkonzepte

Die Aufklärung der Pathogenese – auf Symptom- oder Syndromebene – ist nicht minder bedeutsam. Sie erlaubt ihrerseits Rückschlüsse auf Ätiologien, ermöglicht aber auch näher an der Krankheitsentstehung orientierte Therapieformen. Ohne Kenntnis des pathogenetischen Mechanismus sind letztlich die Wirkungen verschiedener Ätiologien und ihr Zusammenspiel bei Krankheitsmanifestation und -verlauf nicht verstehbar. Diese Aufklärung steht vor der Anforderung, zwischen verschiedenen Konzept- und Beschreibungsebenen zu vermitteln. Um diesen Brückenschlag zu ermöglichen, müssen zunächst die relevanten Ebenen, und auf diesen die krankheitsspezifischen Indikatoren definiert werden (s. unten). Dabei können der Einfachheit halber als Beschreibungsebenen Ätiologie, Pathogenese und klinische Symptomatik unterschieden werden, wobei 2 Prämissen zu beachten sind:  zeitlich/kausale Priorität von Ätiologieindikatoren,  definierte Assoziationsmodi zwischen den einzelnen Indikatorebenen. Auch wenn logischerweise Krankheitsursachen der Krankheitsmanifestation zeitlich vorangehen müssen, ist das zeitliche »vorher« noch kein ätiologischer Beweis. Oft schwere Abgrenzbarkeit des Krankheitsbeginns, Kausalitätsbedürfnis von Patient und Angehörigen etc. müssen bei der Hypothesenbildung berücksichtigt werden. Zu den Assoziationsmodi unterscheiden Tsuang et al. (1990) am Beispiel schizophrener Störungen die folgenden Modelle:  Homogenitätsmodell;  Heterogenitätsmodelle mit a) spezifischen Beziehungen zwischen den Ebenen, b) unspezifischen Beziehungen zwischen den Ebenen. Ausgehend von der Ebene der klinischen Symptomatik ist zu fragen, ob hinter einzelnen Symptomen oder Syndromen ein oder mehrere Pathomechanismen stehen, ob diese sich überlappen und jeweils für bestimmte Symptome/Syndrome spezifisch sind oder nicht. Ähnlich lässt sich fragen, ob zwischen Pathomechanismen und Ätiologie(n) spezifische oder unspezifische Zusammenhänge bestehen. Das Homogenitätsmodell geht von einer nosologischen Krankheitseinheit aus, während das Hete-

2

41 2.3 · Ätiopathogenese

rogenitätsmodell je nach Spezifität unterstellt, dass ein Symptommuster auf einen Pathomechanismus, aber mehrere Ätiologien (»common final pathway«), oder aber dass einzelne Bestandteile eines Symptommusters auf mehrere (teilweise überlappende) Pathomechanismen mit jeweils spezifischen Ätiologien zurückgehen. Ein Spezialfall sind symptomatisch unspezifische Pathomechanismen, die zum klinisch gleichen Bild führen können (Phänokopie). Natürlich gibt es hier verschiedene Übergangsmöglichkeiten zwischen den genannten Prägnanztypen. Empirisch zu überprüfen wäre, ob die Beziehung zwischen der Ebene biologischer Pathomechanismen und Symptomatik direkt hergestellt werden kann, oder ob dies nur für elementare Symptome möglich ist, während bei komplexeren Symptomen eine psychologische Erklärungsebene einbezogen werden muss. Gleichermaßen wäre zu prüfen, ob primär soziale Ätiologien über eine psychologische Zwischenebene zur direkten Krankheitsmanifestation führen können, oder ob dies nur über eine biologische Ebene möglich ist.

2.3.3

sitzt allgemeine Gültigkeit für die ätiopathogenetische Konzeption psychischer Störungen. Vulnerabilität und Stress werden als zentrale komplementäre ätiopathogenetische Faktoren bei der Krankheitsmanifestation aufgefasst (⊡ Abb. 2.2). Dabei ist Vulnerabilität die subklinische angeborene und/oder erworbene, d. h. ihrerseits multifaktoriell vermittelte Krankheitsdisposition (Erkrankungswahrscheinlichkeit), die in interindividuell und möglicherweise auch intraindividuell variierender Ausprägung vorliegt und erst durch das Hinzutreten zusätzlicher Faktoren (individuell kritische Ereignisse/Belastungen/Konflikte aus dem psychosozialen Umfeld, aber auch biologische »Stressoren«) die Störung über die Manifestationsschwelle treten lässt. Es wird eine kontinuierlich abgestufte Disposition (Diathese, Vulnerabilität) angenommen, die durch eine Kombination von Indikatoren psychophysiologischer, kognitiver und sozialer Auffälligkeiten definiert wird (s. unten), die gehäuft bei sog. »high-risk«-Kindern gefunden werden. Die Disposition ist nicht notwendig zeitstabil; insbesondere Personen mit einer ausgeprägten Disposition neigen beim Auftreten von Stressoren zur Fehlanpassung und schließlich zur psychophysiologischen Dekompensation, die über »intermediäre« Stadien (Nuechterlein 1987) bzw. pathogenetische Zwischenglieder zu einer zunehmenden Pathologisierung bereits prämorbid defizitärer psychophysiologischer und neuropsychologischer Funktionen (als Korrelate neurobiochemischer Entgleisungen) bis hin zur manifesten Krankheitsepisode führen. Pathogenetische Präkursoren bzw. Determinanten der Episodenmanifestation wären von solchen Veränderungen zu differenzieren, die erst als Folge einer Krankheitsepisode auftreten.

Integrative Modelle

Um neben Bedingungsfaktoren und Betrachtungsebenen im Querschnitt auch Manifestationsbedingungen und Verlaufsdynamik einer Erkrankung im Längsschnitt zu berücksichtigen, bedarf es eines Modells mit Prozesscharakteristik.

Vulnerabilitäts-Stress-Modell Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell, zunächst für schizophrene Störungen entwickelt (Zubin u. Spring 1977), be-

⊡ Abb. 2.2. Funktionaler

Stressintensität

Zusammenhang zwischen Vulnerabilität, Stressintensität und protektivem Niveau (P). P1/P2 niedriges/hohes protektives Niveau. a/b niedrige/hohe Ausprägung der Vulnerabilität. Bei niedrig/hoch ausgeprägter Vulnerabilität führt eine hohe/ geringe Stressintensität zum Überschreiten der Grenze gesund/krank; dieser Zusammenhang wird durch das Ausmaß des protektiven Niveaus entsprechend beeinflusst. (In Anlehnung an Zubin u. Spring 1977)

P1 P2

gesund

a

krank

b

Vulnerabilität

42

Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie

Familiär vermittelte Vulnerabilität. Neuere Versionen

2

dieses Modells betonen die familiär vermittelte Vulnerabilität (»liability«). Zeitlich stabile Indikatoren dieses Aspekts werden auch als »true vulnerability-markers« bezeichnet (Steinhauer et al. 1991). Eine erhöhte »liability« weisen alle Angehörigen Erkrankter auf, gleichgültig, ob sie z. B. den hypothetischen disponierenden Gentyp tragen oder nicht, und gleichgültig, ob sie später eine schizophrene Episode (oder andere Störungen) entwickeln oder nicht. Dieses Vulnerabilitätskonzept ist umfassender und zugleich unspezifischer als das Konzept der prämorbiden Disposition, die nur denen zukommt, die später manifest erkranken. Vulnerabilitätsmarker können auch eine subklinische Variante der Erkrankung darstellen.

Hypothetisches System »Patient« In regeltechnischer Konzeption und Begriffsbildung spielt die adaptive Kapazität des hypothetischen Systems »Patient« oder »Patient-Umwelt« eine Rolle, das je nach Ausgangszustand (prämorbides Niveau), Auslenkbarkeit (Labilität) und Rückstellkräften (Elastizität) nach einem auslenkenden Ereignis oder unter einer Dauerbelastung wieder einem Gleichgewichtszustand zustrebt. Die Homöostase des Systems kann entsprechend einem vorgegebenen Sollwert auf vorherigem, durch Sollwertverstellung auch auf neuem Niveau hergestellt werden – ihre Einstellung kann aber auch mißlingen. Hohe Systemlabilität (häufige Rezidive) oder geringe Systemelastizität bzw. Dauerbelastung (schubförmiger Verlauf, primär chronischer Verlauf) könnten z. B. einige Verlaufsformen erklären (vgl. Zubin et al. 1992), sofern die hypothetischen Systemeigenschaften in überprüfbare Modellkonzepte überführt werden können (⊡ Abb. 2.3 a–f). Bei der Konzeptualisierung adaptiver Systemeigenschaften (vgl. Zubin u. Spring 1977) können in Anlehnung an Piaget akkomodative und assimilative Verhaltensweisen unterschieden werden. Ihnen wiederum können reflex- oder instinkthafte Mechanismen sowie aktive Bewältigungsmechanismen auf dem Boden angeborener oder erworbener Bewältigungskompetenz (intellektuelle Ausstattung, Problemlösefähigkeit, prämorbide soziale Kompetenz etc.) zugrundeliegen. Protektive Faktoren können – wie Stressfaktoren – grundsätzlich psychobiologisch konzipiert werden; dabei spielen erfolgreiches Coping sowie positive Umgebungsfaktoren eine besondere Rolle (Nuechterlein 1987). Neben pathogenetischen sind demnach auch salutogenetische Aspekte in allen Phasen des Krankheitsprozesses stärker zu berücksichtigen. Die Berücksichtigung im Verlauf variierender Konstellationen der Einflussfaktoren dürfte eine bessere Verlaufsprädiktion (Gaebel 1996) und individuelle Abstimmung präventiver, therapeutischer und rehabilitativer Maßnahmen erlauben (⊡ Abb. 2.4).

⊡ Abb. 2.3 a–f. Verschiedene Verlaufsformen psychischer Störungen mit unterschiedlicher klinischer Ausprägung als Resultante von subklinischer Vulnerabilität (V), Stressoren (S) und protektiven Faktoren (P), a, b Bei gegebener Vulnerabilität hängt die Verlaufsform vom Gleichgewicht P/S ab; es kommt zu keiner oder nur einer kurzen subklinischen Episode. c–e Bei Ungleichgewicht P/S mit unterschiedlich lang nachwirkenden/persistierenden Stressoren (und/oder unzureichenden protektiven Mechanismen) resultieren klinisch ausgeprägte Episoden mit (un-)vollständiger Remission oder primär chronischem Verlauf. f Bei fehlenden protektiven Faktoren oder verminderter »Systemelastizität« kann ebenfalls ein primär chronischer Verlauf resultieren

43 2.3 · Ätiopathogenese

G

G

G

⊡ Abb. 2.4. Vereinfachtes Vulnerabilitäts-Stress-Modell mit potenziellen Verlaufsprädiktoren und therapeutischen Angriffspunkten

Das Modell stellt ein heuristisches Rahmenkonzept für die Aufstellung präziser Prüfhypothesen, u. a. zum neuronalen Substrat der postulierten Diathese, dar. Bisher nur partiell empirisch validiert, begründet es die Notwendigkeit prospektiver Mehrebenenuntersuchungen an initial gesunden Risikopopulationen.

2.3.4

Modulare Modelle

Grundlegende Funktionen der menschlichen Geistestätigkeit – angefangen von den elementaren Sinneseindrücken über die komplexe Verarbeitung von Wahrnehmungen im Gehirn bis zu den motorischen Äußerungen – sind in vielerlei Hinsicht modular aufgebaut, wobei der Grundgedanke des modularen Aufbaus der menschlichen Gehirnaktivität von Fodor erstmals systematisch untersucht wurde (Fodor 1983). Während Fodor einen modularen Aufbau in erster Linie für die »peripheren« Module postulierte, gingen in den folgenden Jahren insbesondere Vertreter der »evolutionären Psychologie« dazu über, auch »zentralen« Organisations- und Funktionseinheiten des Gehirns einen Modul-Charakter zuzusprechen. Dies ist die Hypothese der »massiven Modularität«: Das Gehirn besteht aus einer großen Zahl distinkter, jedoch miteinander verbundener Informationsprozessoren, die im Laufe der Evolution einen Anpassungsprozess erfuhren (bisweilen in diesem Kontext auch als »Darwin’sche Module« bezeichnet, da sie in ihrer Grundausstattung von den ursprünglichen Fodor-Modulen abweichen). In Anlehnung an die »Klinische Psychopathologie« von Kurt Schneider müssen dabei »seelische Funktionen« beeinträchtigt werden, aus deren Fehlfunktion sich psychiatrische Diagnosen aufbauen:

1. Arten des Erlebens:  Empfinden und Wahrnehmen,  Vorstellen und Denken,  Fühlen und Werten,  Streben und Wollen. 2. Grundeigenschaften des Erlebens:  Ich-Erlebnis,  Zeiterlebnis,  Gedächtnis,  seelische Reaktionsfähigkeit. 3. Umgreifungen des Erlebens:  Aufmerksamkeit,  Bewusstsein,  Intelligenz,  Persönlichkeit. Murphy und Stich haben die grundlegenden Überlegungen dazu vorgestellt, wie ein solches evolutionär-psychologisch geprägtes modulares Konzept der Gehirnaktivität als Grundlage für eine Klassifikation psychischer Störungen dienen könnte (Murphy u. Stich 2000). Interessanterweise korrespondiert dieses Modell in vielen Grundzügen mit den heutigen neurobiologischen Vorstellungen von Funktionsmodulen des Gehirns, sodass es als Grundlage für eine Hypothesenbildung zur Dysfunktion solcher Module bei psychischen Störungen herangezogen werden kann (Gaebel et al. 2006). Neben den »basalen« Modulen, wie z. B. den sensorischen oder motorischen Modulen, werden z. B. Module für »höhere« Hirnfunktionen wie das »Spracherwerbsmodul« oder Module für die soziale Kognition und die Wahngenerierung postuliert. Eine Erkrankung würde dann entstehen, wenn eine »schädliche Dysfunktion« (im Sinne Wakefields; Wakefield 1992) eines oder mehrerer solcher Module

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44

2

Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie

auftritt. Dabei kann die Störung das Modul selbst beeinträchtigen, es können aber auch vor- oder nachgelagerte Module (Input-Module, Output-Module) gestört sein, was dann trotz normaler Funktion des zwischengeschalteten Moduls zu einer »Modulstörung« führen würde (»garbage in – garbage out«). Module können sogar ganz normal funktionieren und die ihnen von der Evolution zugedachten Aufgaben korrekt erfüllen. Das Ergebnis mag jedoch – wenn sich die Umwelt nur hinreichend rasch geändert hat, seit das Modul entstanden ist – nicht mehr in die Umwelt passen und daher »Symptomwert« bekommen. Die heutigen Diskussionen gehen in der Psychiatrie bei der Anwendung des Modulbegriffs weit über die klassischen »basalen« oder »peripheren« Module hinaus, sie umfassen immer mehr auch zentrale, hochkomplexe Funktionen. Allerdings muss die Hypothese der »Modularität« der menschlichen Gehirnaktivität in ihrer möglichen Bedeutung für die Nosologie und Taxonomie psychischer Störungen noch durch eingehende klinischwie experimentell-psychopathologische und neurobiologische Untersuchungen verifiziert werden.

2.4

Dimensionen der Störungsdiagnostik

Operational-deskriptive Diagnosesysteme können eine funktionsorientierte und empirisch validierte Krankheits- und Therapietheorie nicht ersetzen. Bisher sind allerdings die konzeptuellen und methodischen Voraussetzungen zur mehrdimensionalen Charakterisierung psychischer Erkrankungen nicht hinreichend entwickelt, um sie als empirischen Ausgangspunkt einer naturwissenschaftlich orientierten Ursachen-, Pathogenese- und Therapieforschung voll nutzen zu können. Dementsprechend sollen hier neben den Beschreibungskategorien des multiaxialen Ansatzes weitere Charakteristika psychischer Störungen einschließlich ihres Verlaufs und Verlaufsausgangs dargestellt werden, die einen systematischeren Zugang zur Störungsphänomenologie erlauben.

mehreren Beschreibungsebenen – z. B. intrinsischer Krankheitsprozess, Krankheitsverarbeitung, soziales Umfeld – adäquat zu erfassen sind. Allgemein lassen sich – je nach Weite oder Enge des angelegten Zeitrasters – makro- und mikrozeitliche formale Verlaufsaspekte unterscheiden:  makrozeitliche Verlaufsaspekte: – Verlaufsform (phasisch, schubförmig, chronisch), – Interepisodendauer, – Episodenfrequenz, – Verlaufsgesetzmäßigkeit (mono-, bipolar), – Richtungsprognose;  mikrozeitliche Verlaufsaspekte: – Krankheitsbeginn (akut, blande, primär chronisch), – Episodendauer, – Streckenprognose, – Tagesschwankungen. Krankheitsbeginn. Der eigentliche Krankheitsbeginn ist oft nicht sicher abgrenzbar, insbesondere bei sog. blandem oder primär chronischem Verlauf, v. a. aber bei einer (gleichzeitig bestehenden) Persönlichkeitsstörung. In diesen Fällen kann die Abgrenzung von »Krankheit« gegenüber einer prämorbid devianten Persönlichkeit schwierig sein, die ihrerseits eine gewisse Störungsspezifität aufweisen kann. Oft gehen der eigentlichen Krankheitsepisode unspezifische Prodromalsymptome voraus. Akuter Beginn mit zeitlich steilem psychopathologischem Gradienten – Ausdruck eines rasch de- wie restabilisierbaren »Systems« – prognostiziert in der Regel eine eher günstige Streckenprognose. Episode. Als Episode wird die zeitlich begrenzte psycho-

pathologische Dekompensation bezeichnet, die mit Restitution (Phase) oder Residualsymptomatik (Schub) abklingen, aber auch in einen chronischen Verlauf übergehen kann. Remission. Ist die Restitution vollständig, was bei gleich-

2.4.1

Verlaufsdiagnostik

Psychische Störungen entfalten sich im zeitlichen Verlauf und sind oft von lebenslanger Dauer. Dabei ist die enge Verflechtung mit dem Lebenszyklus des sich entwickelnden Individuums zu beachten. Die Verlaufscharakteristik einzelner Störungen, d. h. die spontane Verlaufsprognose, ist selbst als nosologisches Unterscheidungsmerkmal betrachtet worden (Dementia praecox vs. manischdepressive Erkrankung); unzweifelhaft muss aber der individuelle Verlauf als das Resultat einer Fülle von Einflussfaktoren aufgefasst werden, die ihrerseits nur auf

zeitig bestehender Persönlichkeitsstörung schwierig beurteilbar sein kann, wird von Remission gesprochen. Nicht immer ist eine Episode als zeitlich zusammenhängende Störung zu identifizieren; rasche Symptomwechsel, Symptomspitzen im Intervall oder zeitlich gehäufte Symptomcluster mit zwischenzeitlicher Symptomfreiheit oder verarbeitungsbedingtem Fehlverhalten sind weitere Muster akuter Symptomverläufe. Postakutes Verlaufsstadium. Mit Abklingen einer Episode beginnt das postakute Verlaufsstadium. Neben monoepisodischen werden v. a. rezidivierende Verlaufsformen beobachtet – mit unterschiedlich langem und mehr oder

45 2.4 · Dimensionen der Störungsdiagnostik

weniger symptomfreien interepisodischen Intervall, variierender Episodenfrequenz, wechselnder (affektiver) Polarität der einzelnen Episoden und unterschiedlicher Richtungsprognose über mehrere Episoden hinweg. Durch simultane oder sequenzielle Kombination verschiedener psychopathologischer Syndrome im Sinne der Komorbidität kann sich die Verlaufscharakteristik weiter komplizieren. Verlaufsausgang. Der Verlaufsausgang (»outcome«) ist

allgemein der zu einem bestimmten Zeitpunkt erfasste Status auf verschiedenen, insbesondere psychopathologischen und psychosozialen Beurteilungsebenen. Mit zunehmender Verlaufsdauer reflektiert er das Ergebnis des spontanen Krankheitsverlaufs und damit die durchschnittliche Richtungsprognose. Globale Beurteilungskriterien, wie »geheilt«, »gebessert« oder »verschlechtert«, werden der Komplexität des Verlaufsausgangs nicht gerecht, zumal die einzelnen »outcome«-Bereiche im Sinne offener teilverbundener Systeme (»open-linked systems«; Strauss et al. 1974) im Querschnitt nur locker assoziiert sind. Im übrigen erscheint das Konzept der »Heilung« in Anbetracht des rezidivierenden Verlaufs vieler psychischer Störungen nur insofern angebracht, als damit die dauerhafte – spontan einsetzende oder therapeutisch induzierte – Inaktivierung eines hypothetischen Krankheitsprozesses, eine (z. B. durch Entwicklungs- oder Lernprozesse bedingte) Reaktionsveränderung des psychobiologischen »Resonanzbodens« oder die (aktive bzw. passive) Mobilisierung hypothetischer »Gegenkräfte« verstanden wird (s. oben). Das Ergebnis ist häufig keine Restitutio ad integrum, sondern mit der Entwicklung maladaptiver Verhaltensmuster verbunden. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Frage nach den ätiopathogenetischen Modellen, die die verschiedenen Verlaufsfiguren erklären können, vorerst kaum zu beantworten ist. Ein deterministisches Modell, wonach mit einem bestimmten Krankheitsbild ein definierter Krankheitsverlauf verbunden ist, ist in der Regel nicht angemessen; gleichwohl gibt es krankheitsspezifische Verlaufsbesonderheiten, die – bei aller interindividuellen Heterogenität – auf nosologisch relativ homogene Zustands-Verlaufs-Einheiten verweisen.

2.4.2

Psychopathologische Funktionsdiagnostik

Funktionsdiagnostik ist hier im Sinne eines funktionalen, d. h. auf die zugrunde liegenden Funktionsstörungen zielenden, ätiopathogenetischen Verständnisses deskriptiver psychopathologischer Auffälligkeiten zu verstehen. Dieses zielt nicht primär auf nosologische Entitäten, son-

dern auf nosologieübergreifende Funktionsstörungen psycho-neurobiologisch determinierter Systeme, die bei ähnlichen Syndromen im Rahmen verschiedener Erkrankungen involviert sein können (van Praag et al. 1987). Die noch heute verwendete psychopathologische »Sprache« mit einem Kanon von Konzepten, Begriffen sowie grammatischen und syntaktischen Regeln zur Beschreibung psychischer Störungen bildete sich im Wesentlichen in der französischen und deutschen Psychiatrie zwischen 1815 und 1880 heraus (Berrios 1994). Der Symptomkatalog, der sich bei »vorurtheilloser Betrachtung« (Kahlbaum s. oben) in elementarer Form aus der Natur quasi von selbst ergab, hat bis heute Gültigkeit behalten. Formal kann die Grundstruktur psychopathologischer Symptome folgendermaßen definiert werden: »Symptoms are no more than systematic variations in the form and content of the patients‹ speech and habitual motility patterns« (Berrios 1994; Übersetzung: »Symptome sind nichts anderes als systematische Variationen von Form und Inhalt, von Sprache und Bewegungsmustern der Patienten.«).

Selten erfolgt allerdings in der Praxis eine rein phänomenologische Deskription – Voraussetzung einer funktionalen Korrelation –, sondern zumeist sind interpretative Anteile im Gefolge subjektiver oder interaktioneller Verarbeitung beigemengt: »Psychopathologic symptoms have two components: a biologic source (a dysfunction) that engenders a dislocation of behavior (›signal‹) and a psychosocial aspect (›noise‹) that relates to the interpretation of the behavioral dislocation by the patient or others« (Berrios 1994). [Übersetzung: »Psychopathologische Symptome haben 2 Komponenten: eine biologische Quelle (eine Dysfunktion), die eine Verhaltensstörung hervorruft (»Signal«) und einen psychosozialen Aspekt (»Geräusch«), der sich aus der Interpretation der Verhaltensänderung durch den Patienten und andere ergibt«.]

In diesem Sinne wird die Erfassung auf der Beobachterseite z. B. durch implizite nosologische Theorien (Sulz u. Gigerenzer 1982) oder durch implizite Plausibilitätskontrollen mit »Zurückweisungs«- und »Transformations«-Regeln (Berrios 1994) mitbestimmt. Dementsprechend kann von einer »vorurteilslosen« Erfassung nur bedingt die Rede sein. Als Konsequenz wird ein in Frage stehendes Symptom/Syndrom unterschiedlichen Grundprozessen attribuiert: Ein stärker »idiographisch« eingestellter Untersucher wird eher dazu neigen, psychopathologische Auffälligkeiten als Konsequenz der individuellen Lebens- und Lerngeschichte zu »verstehen«, während bei einer querschnittsbezogenen »nomothetischen« Sichtweise eher die Abweichung von einer überindividuellen Norm als »Erklärung« herangezogen werden dürfte. Hier ist Jaspers’ Unterscheidung von Form und Inhalt eines Symptoms von Bedeutung:

2

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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie

»Mental content is derived from contexts, symbolization, drives and cortical structures involved; the form of a symptom complex … is determined by etiologically-related antecedents. Thus form and content are applicable to different clinical operations; only form is relevant to diagnosis« (Akiskal 1978). (Übersetzung: »Mentale Inhalte leiten sich aus Kontext, Symbolisierung, Antrieben und involvierten kortikalen Strukturen ab; die Form eines Symptomkomplexes … wird von Voraussetzungen bestimmt, die mit der Ätiologie zusammenhängen. Form und Inhalt sind demnach auf unterschiedliche klinische Vorgänge bezogen; nur die Form ist für die Diagnosestellung von Bedeutung«.)

Die beiden Sichtweisen sind komplementär, erfordern aber beide zunächst eine möglichst vorannahmefreie deskriptive Erfassung des (formalen) Symptoms, bevor eine (inhaltliche) »Interpretation« oder »Erklärung« seines Auftretens angestrengt wird. »The demonstration that patients have psychodynamics, that they suffer with them, and that they deal with them ineffectively, does not necessarily tell us what is the matter with them, that is, why they are patients« (Meehl 1973). (Der Nachweis, dass Patienten eine Psychodynamik aufweisen, dass sie unter ihr leiden und sie unzureichend bewältigen, sagt noch nichts darüber aus, was ihnen fehlt, d. h. warum sie Patienten sind.)

Psychologische Kategorien Die geläufigen psychopathologischen Systeme und Skalen projizieren den gesamten Merkmalsraum auf ein kategoriales Koordinatennetz, das einer traditionellen Elementenpsychologie entlehnt ist. Die theoretischen Vorannahmen bestehen darin, dass Funktionen wie z. B. »Bewusstsein«, »Denken«, »Wahrnehmung«, »Affekt« etc. psychologische Kategorien darstellen, die unterscheidbar, operational beschreibbar und in ihrem jeweiligen Störungsgrad gegenüber der Norm abgrenzbar sind und auf der Störung einer identifizierbaren elementaren Funktion beruhen. Diese Annahmen sind nur bedingt erfüllt. So fehlt z. B. eine empirisch begründete operationale Definition und gegenseitige Abgrenzung normaler Funktionen, so dass eine klinisch eindeutige Zuordnung von Störungen zu den einzelnen Kategorien häufig unmöglich ist und zur Doppelkodierung von Merkmalen führt (z. B. AMDP 1997). Ebenso sind krankhafte von normalen Funktionen häufig nicht klar abgrenzbar. Rein theoretisch ist eine Abgrenzung qualitativ und/ oder quantitativ denkbar, wenn die Normalfunktion anhand spezifischer Indikatoren eindeutig definiert und in ihrem Normbereich umrissen ist (s. oben).

Psychopathologische Kategorien Interaktioneller Prozess Das Spektrum psychopathologischer Auffälligkeiten wird erst im interaktionellen Prozess unmittelbar oder mittelbar zugänglich. Eine Abweichung psychischer Funktionen wird vom Interaktionspartner entweder aus der direkten Verhaltensbeobachtung oder aus der Selbstschilderung des Patienten anhand mehr oder weniger expliziter formaler, inhaltlicher und zeitlicher Beurteilungskriterien erschlossen. Kommunikation ist in jedem Fall Voraussetzung einer adäquaten Erfassung und Abbildung psychopathologischer Merkmale: Verbales und nonverbales Wahrnehmungs- und Mitteilungsvermögen, d. h. die kommunikative Kompetenz auf beiden Seiten entscheidet über die Qualität der Kommunikation und ihre methodische Eignung als psychopathologisches Untersuchungsinstrument. Verzerrungen können – je nach Betrachtungsperspektive – auf allen Wahrnehmungskanälen bzw. durch deren Interferenz (Polzer u. Gaebel 1993) z. B. aufgrund unterschiedlicher »sozialer Codes«, durch individuelle Einstellungen und psychodynamisch begründete »Widerstände«, dyskommunikative soziokulturelle »Darbietungsregeln« sowie durch einen die Enkodierungs- und Dekodierungsleistungen direkt beeinträchtigenden pathologischen Prozess hervorgerufen werden. Eine Differenzierung der verschiedenen möglichen Determinanten eines (gestörten) kommunikativen Prozesses ist Voraussetzung für die formale Identifizierung eines psychopathologischen Merkmals.

Quantitative Normabweichungen wären dann als Hypooder Hyperfunktion, qualitative Abweichungen als Dysfunktion zu charakterisieren. Schließlich muss die Annahme, dass den unterschiedlichen psychopathologischen Kategorien (neuropsychologisch) definierte Funktionen korrespondieren, zumindest so lange in Frage gestellt werden, als nicht eine hinter den klinischen »Rohdaten« stehende Störung psychologischer »Grundfunktionen« identifiziert ist (Gaebel 1996). Auch kann eine Alteration psychischer Grundfunktionen mittels entsprechender Indikatoren noch nicht als primär oder sekundär identifiziert werden, da derartige Funktionsstörungen Ausdruck sowohl primär dysregulativer wie sekundär gegenregulatorischer Prozesse sein können. Hinzu kommt, dass einzelne Symptome oder Symptomkomplexe aufgrund unvollständiger, subklinischer oder atypischer Ausprägung, Maskierung und Kombination nicht oder fehlerhaft identifiziert werden, was zu diagnostischen Irrtümern Anlass geben kann. Psychopathologische Symptome/Syndrome erlauben beim gegenwärtigen Stand ihrer Erfassung noch keine sicheren Rückschlüsse auf die Pathophysiologie involvierter Funktionssysteme. Laborbefunde in der somatischen Medizin verweisen demgegenüber zwar bereits auf organübergreifende oder –spezifische Funktionszustände, sind aber in aller Regel ebenfalls mehrdeutig. Auch hier hilft erst eine bestimmte Befundkonstellation vor dem Hintergrund von Regelwissen bei der diagnostischen Differenzierung weiter. »Latente« Funktionsstö-

47 2.4 · Dimensionen der Störungsdiagnostik

rungen können oft erst durch funktionsspezifische Belastungstests aufgedeckt werden. Die Mehrdeutigkeit des pathologischen Ausfalls häufig hochkomplexer behavioraler Funktionstests (z. B. Wisconsin Card Sorting Test) muss hier allerdings gleichermaßen durch Berücksichtigung der Befundkonstellation wie hypothesengeleitete Analyse der Untersuchungsbedingungen und involvierten Teilfunktionen differenziert werden.

Bestandsaufnahme psychischer Grundfunktionen Ansätze zu einer experimentellen Reduktion klinischpsychopathologischer Phänomene auf deren »psychologischen« Kern bedürfen zunächst einer Bestandsaufnahme psychischer »Grundfunktionen« (vgl. Pöppel 1988). Eine Taxonomie derartiger Funktionen unter Berücksichtigung ihrer Interdependenz (z. B. ubiquitär intervenierende Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprozesse) gilt es erst zu entwickeln. Verhaltensbesonderheiten, die zunächst möglichst theorieneutral deskriptiv erfasst werden, sind nur durch Berücksichtigung der externen und internen Stimulusbedingungen etc. »erklärbar« und damit »verstehbar«. Eine weitere Differenzierung ist durch Berücksichtigung longitudinaler (anamnestischer) Informationen sowie durch standardisierte Untersuchungsbedingungen bezüglich des im explorativen Screening herausgehobenen Merkmals möglich. Dabei müssen die verschiedenen Informationsquellen (subjektiv-verbal, motorisch, physiologisch) und methodischen Zugangsweisen (Selbst-, Fremdbeurteilung, Verhaltensbeobachtung, Verhaltenstest) der Psychopathologie voll genutzt werden (Gaebel u. Wölwer 1996). Mit Hilfe ergänzend durchgeführter biologischer Funktionstests wäre eine funktionale Klassifikation zu entwickeln, die von definierten Störungen psycho-neurobiologischer Systeme ausgeht. Derartige Überlegungen machen eine psychodynamische Perspektive nicht überflüssig, sondern bilden ihre Grundlage. Die diagnostische wie therapeutische Vernachlässigung der subjektiven Krankheitsbedeutung würde einem Sinnverlust in der therapeutischen Beziehung und subjektiven Krankheitsbewältigung Vorschub leisten (Gabbard 1992). Bei einer – vor dem Hintergrund traditioneller Diagnostik – stärker an psychodynamischen Fragestellungen interessierten operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD) wird neuerdings versucht, auch zentrale psychodynamische Konstrukte wie Krankheitserleben, Beziehung, Konflikt und Struktur operational zu erfassen (Arbeitskreis OPD 2001).

2.4.3

Soziale Funktionsdiagnostik

ICD-10 und DSM-IV unterscheiden sich wesentlich in der Gewichtung psychosozialer Kriterien (Saß et al. 1998). Während DSM-IV bei nahezu jeder Störung als Eingangskriterium klinisch bedeutsame »Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen« aufführt, versucht ICD-10 psychosoziale Kriterien bei der Diagnosestellung zu vermeiden und trägt damit der Ansicht Rechnung, dass die psychosozialen Auswirkungen psychischer Störungen auf einer gesonderten Klassifikationsachse in Form von Behinderung, Einschränkung und Funktionsstörung kodiert werden sollten. Psychosoziale Aspekte werden im Rahmen der klinischen Befunderhebung explizit berücksichtigt (z. B. Sozialanamnese), sozial-kommunikative Aspekte sind zumindest impliziter Bestandteil der psychopathologischen Befunderhebung. Sie sind zentraler Bestandteil einer psychodynamisch orientierten Beziehungsanalyse und stellen andererseits ein wesentliches »OutcomeKriterium« dar.

Einfluss sozialer Faktoren Zum Einfluss sozialer Faktoren auf Entstehung und Verlauf psychischer Störungen gibt es eine Reihe sozialwissenschaftlicher Untersuchungen, die im Kontext unterschiedlicher soziologischer Theorien (Eaton 1994) die Bedeutung von Schichtmerkmalen, »life events«, sozialem Netzwerk oder emotionalem Familienklima mit Hilfe entsprechender Erhebungsinstrumente überprüft haben, allerdings nur teilweise belegen konnten. Interkulturelle epidemiologische Vergleichsstudien weisen für Krankheitsverläufe eine beachtliche Umweltplastizität aus. Gesellschaftliche Einflüsse überformen die klinische Ausprägung von Symptomen psychischer Störungen in erheblichem Ausmaß (Kirmayer 2005). Trotz unbestrittenen Einflusses von Umgebungsfaktoren auf die strukturelle und funktionelle Hirnentwicklung (Eisenberg 1995), wird das Ausmaß von Umwelteinflüssen in der Ätiopathogenese psychischer Störungen kontrovers diskutiert. Während für die Manifestation schizophrener Störungen – aufgrund von Zwillingsbefunden Paradebeispiel für eine Anlage-Umwelt-Interaktion – auch die Möglichkeit einer rein genetischen Ursache diskutiert wird (McGuffin et al. 1994), wird für affektive Störungen die Möglichkeit einer – über Genexpression vermittelten – neurobiologischen Sensitivierung durch psychosoziale Stressoren (Verlustereignisse) wie durch biochemische Begleitwirkungen einer stattgefundenen Krankheitsepisode als Rezidivmechanismus erwogen (Post 1992). Umwelt-Gen-Interaktionen sind vermutlich die Grundlage langfristiger neurobiologischer Adaptationsvorgänge (neuronale Plastizität), die für (psycho- wie somato-)therapeutische Langzeiteffekte verantwortlich

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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie

sind (Hyman 2000). Wissenssoziologische Grundlagen sind von Bedeutung für das Verständnis der Entwicklung von Wissenssystemen, wie z. B. psychiatrischen Klassifikationssystemen (Eaton 1994). Bei multiaxialer Diagnostik mit dem DSM-IV werden deskriptiv auf Achse IV psychosoziale oder umgebungsbedingte Probleme, auf Achse V das globale Funktionsniveau erhoben. Die multiaxial konzipierte OPD (s. oben) erfasst auf Achse II das vom Patienten erlebte »habituelle« wie das in der diagnostischen Situation aktuelle Beziehungsverhalten, auf Achse III das Konfliktmuster mit weiteren interpersonellen Konfliktkonstellationen. Ethologische Konzeptionen haben jüngst zu der Forderung beigetragen, soziobiologische Aspekte als Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie stärker zu berücksichtigen (Gardner 1996). Zu dieser Forderung scheinen u. a. Befunde zur sozialkommunikativen Bedeutsamkeit basolateraler Hirnstrukturen (»social brain«) zu berechtigen (Deakin 1994). Gerade diese letztere Entwicklung hat in jüngster Zeit enorme Forschungsanstrengungen zur Folge gehabt. Die »soziale Kognition« als Fähigkeit des Menschen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, aber auch im sozialen Kontakt »normal« zu funktionieren, ist mittlerweile eine durch viele neurowissenschaftliche Untersuchungen gut etablierte Grundfunktion des menschlichen Gehirns. Dabei interagieren in der »sozialen Kognition« psychologische und neurobiologische Prozesse (vgl. Übersicht in der Sonderausgabe der Zeitschrift »Brain Research«, Vol. 1079, 2006). Die Implikationen dieser neuen Sichtweise auf soziale Vorgänge für die Psychiatrie sind erheblich, weisen in ihrer ethisch-moralischen Dimension (Stichwort: Wie frei ist der Mensch bei sozial relevanten Entscheidungen?) jedoch weit über die Psychiatrie hinaus. Auch für die Ursachenforschung der Stigmatisierung psychisch Kranker bieten sich hier ganz neue Ansätze; so konnten beispielsweise neurophysiologische Grundlagen für Stereotypien und Vorurteile gefunden werden (Mitchell et al. 2006). Da Störungen der sozialen Kognition aber auch als wichtige Grundlagen für die Symptombildung psychischer Störungen anzusehen sind, gibt es bereits erste therapeutische Ansätze, die sich speziell mit einer psychotherapeutischen Verbesserung der sozialen Kognition bei psychischen Störungen beschäftigen (Wölwer et al. 2005; Choi u. Kwon 2006; Gevers et al. 2006).

2.4.4

Biologische Funktionsdiagnostik

Hier geht es um die Identifikation normabweichender Befunde bei psychischen Störungen auf verschiedenen Ebenen »unterhalb« des beobachtbaren Verhaltens (Neuropsychologie, Psychophysiologie, Neurophysiologie,

Hirnstoffwechsel/-durchblutung, Neurobiochemie, Hirnmorphologie, Molekularbiologie). Dabei muss differenziert werden, ob die entsprechenden Merkmale das Auftreten einer Krankheitsepisode, prämorbide Krankheitsbedingungen oder residuale Krankheitsfolgen charakterisieren bzw. auch bei klinisch gesunden Mitgliedern von Risikopopulationen beobachtbar sind (s. unten). Die Suche nach den neurobiologischen Determinanten psychischer Störungen zielt letztlich darauf ab, zwei konzeptuell und methodisch weit voneinander »entfernte« Beobachtungsebenen miteinander in Beziehung zu setzen: Die klinisch-phänomenologische Beschreibungsebene einerseits und die Ebene der als ätiologisch relevant postulierten Determinanten andererseits (z. B. genetische Faktoren). Dazwischen ist vermittelnd eine Reihe pathogenetisch relevanter Ebenen eingeschoben, deren Interrelation durch sog. Mehrebenenuntersuchungen unter standardisierten Bedingungen zu klären ist (Gaebel u. Maier 1993; Lopez-Ibor et al. 2002):  die Ebene der neuropsychologischen Leistung;  neurophysiologische und psychophysiologische Auffälligkeiten (z. B. evozierte Potenziale, autonomes Erregungsniveau, Augenfolgebewegungen);  neurobiochemische Abweichungen (z. B. Neurotransmitterstörungen, neuroendokrinologische, immunologische Befunde);  hirnfunktional mit bildgebenden Verfahren (SPECT, PET, fMRT) in vivo nachweisbare Auffälligkeiten (z. B. regionale Mangeldurchblutung, regionaler Hypometabolismus);  hirnmorphologisch mit bildgebenden Verfahren (CT, NMR) in vivo oder neuropathologisch post mortem feststellbare Normabweichungen (z. B. Ventrikelweite, Größe bestimmter Nuklei und Hirnregionen, Hemisphärenasymmetrien etc.);  molekularbiologische Analysen (z. B. Assoziationsund Kopplungsstudien, Genprodukte, postsynaptische Signaltransduktion, neuronale Plastizität). Als Ausgangspunkt korrelativer Studien (s. unten) ist allerdings noch unklar, ob der psychopathologische Phänotyp nicht durch einen neurobiologisch definierten Phänotyp (Endophänotyp; Gottesman et al. 1987) ersetzt bzw. ergänzt werden sollte, der z. B. mit dem familiären Auftreten der Störung assoziiert ist und eine größere Spezifität für den angenommenen Genotyp aufweist. Jenseits genetischer Forschung eröffnet sich im Aufsuchen neurobiologischer Krankheitskorrelate und in der Charakterisierung ihres Zusammenhangs untereinander sowie mit dem zeitlichen Verlauf bzw. Stadium der Erkrankung (Risikofaktor, Vulnerabilitätsmarker, Residualmarker etc.; s. unten) ein indirekter Weg zur Aufklärung der (Ätio-) Pathogenese.

49 2.5 · Forschungskonsequenzen

2.5

Forschungskonsequenzen

Die Umsetzung der genannten Konzepte in ein konkretes Forschungsdesign zur Ätiopathogenese psychischer Störungen erfordert forschungsstrategische Vorüberlegungen, ohne die Forschungsziele nicht erreicht und Forschungsressourcen verschwendet werden. Zunächst sollen einige begriffliche Klärungen vorangestellt werden, bevor 2 komplementäre Forschungsstrategien vorgestellt werden (vgl. Gaebel u. Maier 1993).

2.5.1

Terminologischer Exkurs

tig definiert. Einerseits wird darunter ein prämorbid feststellbarer Risikofaktor verstanden, der auch nach Erstmanifestation der Erkrankung persistiert; bei bereits manifest Erkrankten kann die Ausprägung dieses Merkmals u. U. die Rezidivneigung bzw. Neigung zur Chronifizierung voraussagen. Andererseits wird unter Vulnerabilitätsmarker ein Risikoindikator verstanden, dessen Validität durch die Differenzierung zwischen gesunden Angehörigen von Erkrankten und gesunden, familiär nicht belasteten Kontrollen belegt wird (»true vulnerability«-Marker; Steinhauer et al. 1991). Vulnerabilitätsindikatoren müssen nicht notwendig direkter Ausdruck der Ätiopathogenese des Krankheitsprozesses sein, sie können auch lediglich mit einem Risikofaktor assoziiert sein.

Korrelate – Indikatoren/Marker – Determinanten. Korre-

late sind zunächst statistisch assoziierte Merkmale psychischer Störungen, deren potenzielle ätiopathogenetische Bedeutung offenbleibt, sofern nicht forschungsstrategische Voraussetzungen (s. unten) eine nähere Charakterisierung des Zusammenhangs erlauben. Akiskal (1978) unterscheidet ätiologische, epiphänomenale und kovariierende Korrelate. Näher spezifizierte Indikatoren oder Marker (s. unten) haben über einen korrelativen Zusammenhang hinaus bereits einen gerichteten indikativen Status; sie fungieren als objektive transphänomenale, d. h. auf einen hypothetischen Krankheitsprozess bzw. dessen dispositionelle Grundlagen verweisende Zeichen, ohne dass ihnen selbst notwendig eine pathogenetische Bedeutung zukommt. Sie können auch lediglich mit einem Risikofaktor für die Erkrankung assoziiert sein. Zufriedenstellende Spezifität und Sensitivität vorausgesetzt, wären sie als eine Art diagnostischer Test einsetzbar. Determinanten schließlich sind konzeptuell und empirisch am weitesten entwickelte Merkmale; in einem pathophysiologischen Kontext käme ihnen die Bedeutung definierter (ätio-)pathogenetischer Bedingungskonstellationen zu. Risikofaktoren und Risikoindikatoren. Risikofaktoren zei-

gen bei Personen, die bisher nicht erkrankt sind, ein erhöhtes Manifestationsrisiko an. Risikoindikatoren kennzeichnen dagegen lediglich die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe, ohne dass jeder Träger dieser Eigenschaft ein tatsächlich erhöhtes Risiko für die Krankheitsmanifestation aufweisen muss; z. B. stellt die Verwandtschaft zu einem Erkrankten bei familiärer Häufung der Erkrankung einen Risikoindikator dar, obwohl bei monogener genetischer Übertragung nur eine Teilgruppe der Angehörigen tatsächlich Träger des Genotyps ist. Vulnerabilitätsmarker. Entsprechend der Mehrdeutigkeit

des Vulnerabilitätsbegriffs ist dieser Begriff nicht eindeu-

Genetische und andere ätiologische Marker. Diese Indi-

katoren kennzeichnen das Vorliegen eines Ursachenfaktors der Erkrankung. Indikatoren des prämorbiden Zustands bzw. dessen unspezifischer Folgezustände (z. B. reduziertes Ausbildungsniveau oder lediger Familienstatus, die häufig im Rahmen eines »vorauslaufenden Defekts« auftreten) oder Indikatoren der mangelnden Verfügbarkeit protektiver Mechanismen (z. B. Fehlen ausgeprägter Intelligenz) können zwar Risikofaktoren oder Vulnerabilitätsmarker, nicht aber ätiologische Marker darstellen. Ätiologische Marker sind demgegenüber Indikatoren von Determinanten der hypothetischen Vulnerabilität, d. h. »true vulnerability«-Marker. Von Markern im genetischen Sinn wird zudem gefordert, dass sie auf dem Genom lokalisierbar sind (z. B. DNA-Marker, Blutgruppen, Rot-Grün-Blindheit). Episoden- bzw. Verlaufsindikatoren. Treten Normabwei-

chungen eines Indikators nur bei manifest Erkrankten während der Episode auf, so handelt es sich um Episodenindikatoren. Um diesen Markertyp zu identifizieren, ist eine operationalisierte psychopathologische Episodendefinition erforderlich, wie sie z. B. für affektive Störungen entwickelt wurde (Frank et al. 1991). Das hierbei definitorisch zu berücksichtigende Gegenstück der Episode wäre die (Teil-)Remissionsphase. Da zu verschiedenen Verlaufszeitpunkten unterschiedliche Aspekte der Krankheitsphänomenologie im Vordergrund stehen, die nur partiell korrelieren und nicht synchron variieren, muss die Operationalisierung einzelner Verlaufsstadien mehrere Symptomdimensionen berücksichtigen. Residualmarker zeigen eine postepisodisch persistierende Symptomatik an; hier wären auch Folgezustände der Erkrankung zu subsumieren. Verlaufsindikatoren markieren ein bestimmtes Verlaufsstadium oder sagen den weiteren Verlauf, z. B. eine

2

50

Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie

erhöhte Rezidivneigung, voraus; sie wären somit für den weiteren Verlauf von prognostischer Relevanz (Prädiktoren).

2

Akuitäts- bzw. Beeinträchtigungsindikatoren. Hier sind

Indikatoren zu subsumieren, die in Abhängigkeit von der Akuität der psychopathologischen Symptomatik (Zeitgradient) oder vom Schweregrad der damit einhergehenden psychosozialen Beeinträchtigung variieren und teilweise mit Episodenindikatoren überlappen. Insbesondere beim internosologischen Vergleich eines neurobiologischen Merkmals müssen Gruppenunterschiede hinsichtlich Beeinträchtigung und/oder Akuität kontrolliert werden, damit Ausprägungsunterschiede des untersuchten Merkmals nicht als Ausdruck nosologischer Spezifität fehlinterpretiert werden. State- bzw. Traitmarker. Diese Differenzierung betrifft die

zeitliche Variabilität der Ausprägung einer Indikatorvariablen. Besteht bei manifest Erkrankten oder bereits vor Auftreten der Erkrankung eine Normabweichung bezüglich der Indikatorvariablen, bleibt diese trotz Variation bzw. Remission der Symptomatik bestehen und ist nicht auf peristatische Faktoren (z. B. Medikation) zurückzuführen, so liegt ein zeitinvarianter Trait-Marker vor. Besteht die Normabweichung – krankheits- oder behandlungsbedingt – nur während der Krankheitsepisoden, so liegt ein State-Marker (nicht synonym mit Episodenmarker) vor. Die Trait-Qualität eines Indikators kann indirekt auch durch dessen deviante Ausprägungen bei gesunden Angehörigen erhärtet werden. Eine Trait-Variable sollte bereits im prämorbiden Stadium nachweisbar sein. State-Trait-Kontinuum. Häufig zeigen Indikatoren sowohl

State- als auch Trait-Eigenschaften (»mediating vulnerability factor«; Nuechterlein u. Dawson 1984): Es besteht eine zeitlich (auch außerhalb von Krankheitsepisoden) überdauernde Normabweichung bei Erkrankten, die beim Auftreten von Krankheitsepisoden ausgeprägter wird. Daher erscheint es (auch unter funktionalem Aspekt,  Abschn. 2.5.2) angemessener, von einem StateTrait-Kontinuum, anstatt von einer Dichotomie auszugehen. Jener Teil der zeitlichen Varianz der Indikatorausprägung über verschiedene Meßzeitpunkte, der nicht durch die synchrone Fluktuation der psychopathologischen Symptomatik erklärt werden kann, könnte als Maß für die »Trait«-Qualität eines Indikators angesehen werden.

2.5.2

Forschungsstrategien

Assoziationsstudien In einem ätiopathogenetisch orientierten Forschungsmodell werden die eingangs skizzierten »vertikal« organisierten Untersuchungsebenen (Helmchen 1988) im Sinne einer Mehrebenenanalyse im Querschnitt zueinander in Beziehung gesetzt. Zielsetzung dieser Forschungsstrategie ist zunächst das Auffinden von Krankheitskorrelaten über verschiedene Untersuchungsebenen hinweg. Zeitliche Dimension. Messzeitgleichheit mit neurobiolo-

gischen Merkmalen ist allerdings durch den in der Regel zeitversetzt stattfindenden und verschiedene Transformationsstufen durchlaufenden Erhebungsprozess psychopathologischer Merkmale nicht gewährleistet. Bisher fehlt der Erfassung psychopathologischer Merkmale die angemessene Berücksichtigung der zeitlichen Dimension (vgl. Berrios 1994). Tatsächlich werden Befunde mit versetzten Zeitkoordinaten unter der – unbewiesenen – Annahme in Beziehung gesetzt, dass die zum Zeitpunkt t1 bzw. t2 gemessenen Größen mindestens für den beide Messzeitpunkte umfassenden Zeitraum t1–t2 repräsentativ sind. Zur besseren Synchronisierung im Mikrobereich, insbesondere bei Verwendung zeitlich hochauflösender psychophysiologischer Untersuchungsmethoden (z. B. evozierte Potentiale), spielt der Einsatz behavioraler Indikatoren eine besondere Rolle. Konzeptuell ist zwar keine Untersuchungsebene einer anderen »epiphänomenal« untergeordnet, eine Aussage über die Validität biologischer Indikatoren im Sinne von Krankheitsdeterminanten oder -ursachen erlaubt dieser Ansatz aber zunächst nicht. Dem Vorwurf einer heuristischen »fishing-expedition« (Palm 1990) entgeht dieser Ansatz allerdings nur durch Berücksichtigung »horizontaler« Aspekte (Helmchen 1988) im Sinne einer prospektiv angelegten Verlaufsforschung im makro- und mikrozeitlichen Bereich. Sie erst erlaubt Aussagen über pathogenetisch oder ätiologisch relevante Prozesse, die der Episodenmanifestation vorauslaufen, sie begleiten oder überdauern. Dies wiederum setzt präzise Episodenindikatoren voraus. Eine Differenzierung zwischen dispositions- und zustandsgebundenen Krankheitskorrelaten erfordert deren longitudinale Untersuchung in prä-, intra- und postmorbiden Krankheitsstadien unter adäquater Berücksichtigung der fluktuierenden Psychopathologie. Vergleich neurobiologischer Parameter. Aberrationen neurobiologischer Parameter sind nur vergleichend zu identifizieren und interpretieren. Während intraindividuelle Vergleiche Aussagen zur State- bzw. Trait-Spezifität ermöglichen, erlauben erst interindividuelle Vergleiche Aussagen zur Krankheitsspezifität (krank vs. gesund),

51 2.5 · Forschungskonsequenzen

Syndromspezifität (z. B. Positiv- vs. Negativsymptomatik), Spektrumspezifität (z. B. Schizophrenie vs. schizotypische Persönlichkeit) oder Nosologiespezifität (z. B. Schizophrenie vs. Affektpsychose) eines Befundes. In Umkehrung dieses Ansatzes kann auch eine nosologieübergreifende »select-by-marker«-Strategie (Buchsbaum et al. 1976) angewandt werden, bei der homogene Gruppen anhand der Ausprägung neurobiologischer Merkmale gebildet und psychopathologische oder diagnostische Charakteristika als abhängige Variablen betrachtet werden. Dieses Vorgehen empfiehlt sich insbesondere in Zusammenhang mit dem unten diskutierten funktionalen Ansatz. Unterscheidung primärer vs. sekundärer Störungen.

Schwierig bis unmöglich ist derzeit die Unterscheidung primärer (krankheitsprozessabhängiger) Störungen von sekundären (reaktiven, kompensatorischen, reparativen etc.) Veränderungen auf den jeweiligen Untersuchungsebenen. Rückschlüsse auf eine quantitativ und/oder qualitativ gestörte Funktionscharakteristik psychobiologischer Systeme (Hypo-, Hyper-, Dysfunktion) aufgrund singulärer und einmalig erhobener Funktionsparameter scheinen ohne Kenntnis von deren normaler Regulationsdynamik verfrüht. Nur die vergleichende experimentelle Untersuchung einer mutmaßlich gestörten Funktion im Tiermodell, an gesunden Kontrollpersonen sowie an Patienten mit anderen psychiatrischen Krankheitsbildern kann hier künftig zum Ziel führen. Tiermodelle. Die Krankheitsmodellierung am Tier stellt eine Basismethode dar, mit deren Hilfe die Kausalität einzelner Faktoren hinsichtlich ätiopathogenetischer Fragestellungen empirisch evaluiert werden kann. Nur das Tiermodell erlaubt die experimentelle Variation von Faktoren, deren Untersuchung am Menschen lediglich in prospektiven Studien oder retrospektiven Analysen in konfundierter Form mit nur vergleichsweise schlecht zu kontrollierenden anderen Faktoren möglich ist. Trotz der eingeschränkten Übertragbarkeit von tierexperimentellen Befunden auf den Menschen sind auf der Ebene der Neurowissenschaften wesentliche Ergebnisse erzielt worden. Gleichwohl wird selbst nach Aufklärung der biologischen Prozesse und Mechanismen die Frage nach der Beziehung derselben zur Phänomenologie der Symptomatik sowohl auf der subjektiven Ebene des Erlebens als auch auf der Ebene des Verhaltens offenbleiben. Statistisches Modell der Korrelation. Bei der Wahl des

Auswertungsverfahrens ist zu berücksichtigen, dass das statistische Modell der linearen Korrelation dem Sachverhalt durchaus nicht angemessen sein muss, da Prozesse auf verschiedenen Ebenen jeweils eigenen, nichtlinearen Gesetzmäßigkeiten folgen können (z. B. kurvilineare Arousal-Leistungs-Beziehung).

Darüber hinaus ist mit Schwellenphänomenen zu rechnen, d. h. Funktionsstörungen auf einer Ebene treten möglicherweise erst nach Überschreiten der homöostatischen Regelbreite aus der Latenz und manifestieren sich dann auch auf anderen Ebenen. Pathologische Befunde sind hier erst unter nicht mehr kompensierbaren Belastungsbedingungen zu erwarten.

Funktionaler Ansatz Zielsetzung der oben geforderten Denosologisierung und funktionalen Orientierung der Diagnostik ist die Entwicklung der klinischen Psychopathologie zu einer pathopsychophysiologischen Funktionsdiagnostik. Ähnlich dem bisherigen Vorgehen in der Medizin muss der pathophysiologisch unspezifische Allgemeinbefund durch normierte Funktionsindikatoren ergänzt bzw. ersetzt werden, die über den Funktionszustand einzelner Organsysteme im zeitlichen Verlauf Auskunft geben. ! Wenn die Funktion zerebraler (Sub-)Systeme (neuronale Module, Transmittersysteme etc.) in der Gewährleistung bestimmter psychischer (Anpassungs-)Leistungen besteht, sind vorläufig, d. h. bis zur Entwicklung direkter neurobiologischer Indikatoren, Verhaltensindikatoren in standardisierten Untersuchungssituationen als Funktionsindikatoren heranzuziehen. Psychopathologische Syndrome/Symptome sind dementsprechend auf deviante verhaltenskorrelierte psychische Grundfunktionen zurückzuführen, deren Normabweichung insofern »unspezifisch« ist, als sie jenseits nosologischer Konzepte bei verschiedenen psychischen Erkrankungen vorkommen kann, bei denen die entsprechenden Grundfunktionen involviert sind. Als forschungsstrategische Konsequenz ergibt sich, neurobiologische Analysen des Krankheitsgeschehens im Kontext übergreifender psychobiologischer Funktionsmodelle anzusiedeln, die sowohl für krankhaftes wie gesundes Verhalten Gültigkeit haben. Homöostasemodell. Beispielsweise geht das Homöosta-

semodell (Bertalanffy 1974) davon aus, dass psychobiologische Funktionen innerhalb deren adaptiver Regelbreite der Anpassungsleistung des Organismus dienen. Informationsverarbeitung, Kommunikation, Problemlösung, Trieb- und Affektkontrolle etc. wären demnach funktionale Teilaspekte einer situativ differenzierten individuellen Anpassungsleistung (»Lebenstest«), deren Qualität unter gesunden wie krankhaften Bedingungen aus verschiedensten konzeptuellen und methodischen Perspektiven untersuchbar ist. In der klinischen Routinediagnostik werden derartige Aspekte aus anamnestischen Angaben erschlossen (z. B. »Knick in der Lebenslinie«), bei der Leistungsbewertung müssen die individuelle psychobiologische Entwicklungs-

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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie

phase und soziokulturelle Einbettung ebenso wie bestimmte Moderatorvariablen (z. B. Geschlecht) als pathoplastische Faktoren berücksichtigt werden. Grundsätzlich gilt allerdings, dass teleologische Gesichtspunkte bei der Analyse gesunden und kranken Verhaltens (»Fehlanpassung«) die eingehende (induktive) empirische Analyse von Teilfunktionen nicht ersetzen können (Hartmann 1959). Dementsprechend ist der Einsatz umschriebener funktionsdynamischer Forschungsmodelle erforderlich, die unter definierten Stimulusbedingungen die Integrität/ Störung von psychischen Elementarfunktionen (z. B. Informationsverarbeitung) und deren neurobiologischer Korrelate mittels funktionsadäquater Indikatoren untersuchen. Zunehmend werden z. B. hirnregional differenzierende neuropsychologische »Belastungstests« unter simultaner Hirnfunktionsmessung (z. B. rCBF, fMRI) eingesetzt (Berman 1987), die am ehesten eine wechselseitige Validierung gestörter psychischer und neuronaler Funktionen ermöglichen. Experimentelle Forschungsansätze mit pharmakologischen Belastungsprozeduren (z. B. Apomorphin-»Challenge«, Testdosismodell) können ebenfalls Auskunft über die Ansprechbarkeit definierter psychobiologischer Systeme im Sinne einer Funktionsdiagnostik geben. Hier werden künftig auch genetische Untersuchungen zur Stratifizierung von Probandenkollektiven eingesetzt werden, Beispiele aus der experimentellen Psychopathologie hierzu gibt es bereits (Cospi u. Moffitt 2006). Ganz neue Aspekte ergeben sich auch durch den Einsatz der funktionellen Kernspintomographie. So konnte beispielsweise bei Phobien und Zwangserkrankungen gezeigt werden, dass medikamentöse und psychotherapeutische Ansätze in ähnlicher Weise auf dieselben Hirnareale einwirken. Dies kann nun nicht nur der Objektivierung einer therapeutischen Wirksamkeit dienen, sondern eröffnet gerade der Psychotherapieforschung ganz neue Möglichkeiten der Validierung von Behandlungskonzepten und der Psychopathologieforschung neue Wege der Überprüfung von neurobiologischen Effekten bestimmter Belastungsprozeduren. Hierdurch wird eine Funktionsdiagnostik möglich, die über die klinische Phänomenologie hinausweist und zukünftig für die Diagnostik, die Prognoseeinschätzung und die Auswahl der geeignetsten Therapiemethode eine Rolle spielen dürfte (Linden 2006). Hieraus ergeben sich jedoch auch neue ethische Problemstellungen. So wird gegenwärtig diskutiert und untersucht, inwiefern aus der Aktivitätsmessung bestimmter Gehirnareale Rückschlüsse auf unbewusste oder nicht explizierte Denkinhalte möglich sind (Übersicht bei Haynes u. Rees 2006). Während dies künftig faszinierende neue Einblicke in bisher der objektiven Untersuchung unzugängliche mentale Prozesse erlauben dürfte (und zumindest für visuelle Informationen auch bereits möglich ist), sind die möglichen

ethischen Implikationen noch nicht abzusehen. Für die psychiatrische Nosologie stellt sich die Frage, ob damit ein erster Schritt getan ist, die rein subjektive psychopathologische Phänomenologie durch eine objektive »Gehirnmessung« zumindest ansatzweise zu komplementieren. Die hier angesprochenen Untersuchungsmöglichkeiten gehen dabei wesentlich über die reine Darstellung von aktivierten Hirnarealen, beispielsweise bei akustischen Halluzinationen, hinaus, da damit erstmals Rückschlüsse auf Denkinhalte der betroffenen Person möglich sind. Die bislang gültige Grenzziehung zwischen dem diagnostizierenden Psychiater und dem sein Erleben kommunizierenden Patienten, zwischen Krankheit und Kranksein werden durchlässig. Zwischen Neurobiologen, die in einem viel beachteten Manifest der Hirnforschung im 21. Jahrhundert ein neurobiologisch determiniertes Menschenbild skizzieren, und klinisch tätigen Psychiatern, die dem Menschen noch Raum für Subjektivität und Willensfreiheit einräumen, hat sich eine längst überfällige Diskussion um das Menschenbild im 21. Jahrhundert entwickelt (Maier et al. 2005), das Grundlage aller Konzepte über psychische Gesundheit und Krankheit ist.

2.6

Ausblick

Die vorstehenden Ausführungen zur Ätiopathogenese psychischer Störungen bilden einen konzeptuellen Rahmen, der durch empirische Untersuchungen weiter ausgefüllt werden muss. Die skizzierten Störungsdimensionen und ihre Indikatoren sowie die verfügbaren forschungsstrategischen wie untersuchungsmethodischen Möglichkeiten verweisen auf ein bisher nur unvollständig und kaum systematisch genutztes Forschungsinventar, durch dessen Einsatz die Aufklärung der ätiopathogenetischen Grundlagen psychischer Störungen voranzutreiben wäre. Störungsübergreifende heuristische Rahmenkonzepte müssen in empirisch überprüfbare Teilhypothesen übersetzt und auf ihre störungsspezifische Gültigkeit geprüft werden. Die Komplexität psychischer Störungen erfordert interdisziplinäres Denken und Handeln. Dabei kommt der Psychiatrie ein ihr eigenes ausgeprägtes Methodenbewusstsein zugute, das für die adäquate Formulierung und Umsetzung von Fragestellungen unerlässlich ist. Die damit verbundene Notwendigkeit der wissenschaftlichen Forschungskooperation und -koordination rückt die Psychiatrie wieder näher an die Medizin. Im Zentrum klinisch-psychiatrischer Tätigkeit steht die Begegnung mit dem Kranken; sie bildet nicht nur Grundlage und Ausgangspunkt wissenschaftlichen Fragens, ihr gelten auch die Antworten.

53 Literatur

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2

Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie

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3 3 Psychiatrische Epidemiologie M. M. Fichter, I. Meller

3.1

Einleitung

– 56

3.2

Historische Aspekte

3.3

3.5.3

3.3.1 3.3.2 3.3.3

Einsatzgebiete und Betrachtungsebenen der psychiatrischen Epidemiologie – 57 Deskriptive Epidemiologie – 57 Analytische Epidemiologie – 57 Experimentelle Epidemiologie – 57

3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4

Methodik der Epidemiologie – 58 Stichproben und Grundgesamtheit – 58 Konzepte und Indizes – 59 Instrumente – 60 Falldefinition und Diagnose – 61

3.6

– 56

3.5 3.5.1 3.5.2

3.5.4

3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4 3.6.5

Ergebnisse von Feldstudien – 62 Frühe Feldstudien – 62 Große psychiatrisch-epidemiologische Studien der 3. Generation – 63 Gegenwärtige Entwicklungen in der psychiatrischen Epidemiologie – 65 Fragen und Probleme in der psychiatrischen Epidemiologie der Gegenwart – 66 Einige spezielle Erkrankungen und Risikofaktoren – 67 Schizophrenie – 67 Depressive Erkrankungen – 67 Demenzielle Erkrankungen – 68 Angststörungen – 68 Substanzmissbrauch/-abhängigkeit Literatur

– 69

> > Die Epidemiologie beschäftigt sich mit der Verteilung einer Krankheit in Zeit und Raum sowie mit Faktoren, die diese Verteilung beeinflussen (Cooper u. Morgan 1977). Seit ihren Anfängen als eigenständige Disziplin hat sie die Rolle einer Grundlagenwissenschaft des öffentlichen Lebens gespielt, da ihr Interesse traditionell der Bevölkerung gilt. Nach Gruenberg (1980) ist die Epidemiologie durch die Art ihrer Fragestellungen definiert, nicht durch ihre Methoden, darauf Antworten zu finden. Bei seinen Fragen geht der Epidemiologe von Modellen aus, welche die Bedingungen für Gesundheit und Krankheit im Kontext einer Wechselwirkung von Wirt, Agens und Umgebung betrachten. In den letzten Jahrzehnten sind diese Modelle durch Konzepte der klinischen Forschung, der Genetik, der Molekularbiologie, der Ökologie, der Psychologie und der Soziologie ergänzt worden. Die moderne Epidemiologie versucht somit, Untersuchungsansätze und Ergebnisse aus unterschiedlichen Forschungsgebieten in einen einheitlichen Bezugsrahmen zu integrieren. Die klinische Epidemiologie konnte mit dem Konzept begründet werden, definierte Populationen zu untersuchen.

– 68

56

Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie

3.1

3

Einleitung

Die psychiatrische Epidemiologie ist ein Zweig der allgemeinen Epidemiologie. Als solche ist sie eine medizinische Disziplin. Sie ist eine der Grundlagenwissenschaften desjenigen Fachgebietes, das den Inhalt ihrer Fragestellungen und das jeweilige Wissen um die zu untersuchenden Krankheitsbilder bereitstellt: der Psychiatrie. Vergleichbar den anderen Grundlagenwissenschaften der Psychiatrie, steht die psychiatrische Epidemiologie bezüglich ihres Erkenntnisfortschritts in Abhängigkeitsbeziehung zur Mutterdisziplin. Die Bearbeitung des größten Teils ihrer praktisch-relevanten Fragestellungen setzt Forschungsergebnisse der klinischen Psychiatrie voraus (Häfner 1978). In früheren Jahrzehnten wurde die psychiatrische Epidemiologie in enger Assoziation mit der Sozialpsychiatrie gesehen. In jüngster Zeit haben sich hier die Perspektiven der psychiatrischen Epidemiologie erweitert. Durch eine Zusammenführung genetischer Methodik (Zwillings-, Familienstudien, Molekulargenetik) und epidemiologischer Methodik wurde z. B. die genetische Epidemiologie begründet. Eine Verbesserung der psychiatrischen epidemiologischen Forschung ist in den letzten Jahren durch methodische Verbesserungen (z. B. explizite diagnostische Kriterien für psychische Erkrankungen, neue Untersuchungsinstrumente, Verfeinerung statistischer Analysetechniken) erfolgt. Epidemiologische Studien können entweder  als Primärerhebungen neuer Daten oder auch  als Sekundärerhebungen an bereits vorliegenden Daten durchgeführt werden. Sie können 3 wesentliche Arten von Information über Störungen liefern:  Raten (Prävalenz und Inzidenz),  Veränderungen dieser Raten über Person, Zeit und Ort,  Identifizierung von Risikofaktoren für bestimmte Erkrankungen.

3.2

Historische Aspekte

Die Geschichte der Epidemiologie reicht mehr als 2000 Jahre zurück. Hippokrates hat den Begriff Epidemie im Titel mehrerer medizinischer Werke verwendet und eine Reihe interessanter Überlegungen über die Beziehung zwischen Umweltfaktoren wie Lüfte, Gewässer, Orte und Krankheiten angestellt. Im Mittelalter erstellte der Astronom Halley 1693 die ersten Sterbetafeln für die Stadt Breslau. 1662 hatte der Kurzwarenhändler Graunt bereits aus den wöchentlichen Sterberegistern der Londoner Pfarreien die regionalen

Pest- und Pockenmortalitätsunterschiede ermittelt und sie als Hinweise für die frühzeitige Evakuierung der gefährdeten Bezirke benutzt (Häfner 1978). Choleraepidemie. Ein klassisches Beispiel dafür, wie epi-

demiologische Überlegungen zur Lösung von öffentlichen Gesundheitsproblemen beitragen können, sind die Beobachtungen von John Snow über die Choleraepidemie in London 1854. Sie hatten eine berühmtgewordene präventive Maßnahme zur Folge, die in der Entfernung des Handgriffs an der Wasserpumpe in der Broadstreet bestand (Jablensky 1989). Snow hatte während des Choleraausbruchs 1848 die Choleramortalität der Versorgungsgebiete der beiden Wasserwerke Southwark und Vauxhall und Lamberth im Süden Londons verglichen. Beide wiesen relativ hohe Mortalitätsraten auf. Zum nächsten Choleraausbruch 1853 war das Wasserwerk Lamberth weiter flusswärts verlegt worden, so dass sein Quellgebiet nunmehr vom Abwasser Londons frei blieb. Die Choleramortalität des Versorgungsgebietes von Lamberth war in der Epidemie des Jahres 1853 stark gesunken, während die Versorgungsgebiete von Southwark und Vauxhall hohe Raten behielten. Zur weiteren Prüfung der auf Gebietsebene vorgefundenen Beziehungen von Wasserversorgung und Erkrankungshäufigkeit gliederte Snow die Haushalte nach ihrer Versorgung der Wasserwerke und konnte mit dieser Feldstudie den epidemiologischen Beweis eines noch unbekannten krankheitserzeugenden Agens durch abwasserverseuchtes Trinkwasser erbringen. Dies führte vor Entdeckung der Choleravibrionen zur erfolgreichen Bekämpfung durch Trinkwassersanierung.

Anfänge der psychiatrischen Epidemiologie Der Beginn der psychiatrischen Epidemiologie im engeren Sinne lässt sich kaum auf einen bestimmten Zeitpunkt festlegen. In den Anfängen galt das Bemühen der Sammlung und Auswertung von Sekundärdaten aus administrativen Quellen, z. B. Krankenhaus- und Mortalitätsstatistiken (Esquirol in Frankreich 1838, Griesinger in Berlin 1867, Maudsley in London 1872, zitiert nach Häfner 1978). Die Geschichte der Prävention psychischer Erkrankungen kann bisher keine spektakulären Erfolge aufweisen; allerdings gibt es eine Reihe historisch interessanter bzw. für die Zukunft vielversprechender Ansätze. Eine der bedeutendsten Errungenschaften ist die durch Goldberger während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte Entdeckung der Ernährungsmängel, die zur Pellagra und der mit ihr verbundenen schweren Psychose und Demenz führen (Goldberger 1914, nach Jablensky 1989). Zu erwähnen ist auch die Arbeit von Gajdusek. Sie führte zu der mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Entdeckung, dass die Kuru-Krankheit durch eine Infektion (später als

57 3.3 · Einsatzgebiete und Betrachtungsebenen der psychiatrischen Epidemiologie

Prionen identifiziert) hervorgerufen wird und bereitete so den Weg für die Aufklärung übertragbarer Demenzerkrankungen durch eine geniale Verbindung von klinischen, anthropologischen und labortechnischen Methoden, die alle von einer epidemiologischen Analyse geleitet waren (Gajdusek u. Zigas 1959, zitiert nach Jablensky 1989).

3.3

Einsatzgebiete und Betrachtungsebenen der psychiatrischen Epidemiologie

Morris (1957) hat 7 Anwendungsmöglichkeiten der Epidemiologie zusammengefasst:  Historische Untersuchungen über Gesundheit und Krankheit,  Diagnostik im unmittelbaren Lebensumfeld,  Untersuchung der Wirksamkeit von Gesundheitsdiensten,  Bestimmung von individuellen Chancen und Risiken,  Erkennung von Syndromen,  Vervollständigung des klinischen Erscheinungsbildes von Krankheiten,  Ermittlung von Krankheitsursachen. Jedes dieser Anwendungsgebiete steht in einem mehr oder weniger deutlichen Zusammenhang mit der Prävention als letztlichem Ziel epidemiologischen Denkens und Wissens. Generell lassen sich für diese Anwendungsmöglichkeiten folgende 3 epidemiologische Betrachtungsebenen unterscheiden: 1. Deskriptive Ebene, 2. analytische Ebene, 3. experimentelle Ebene.

3.3.1

Deskriptive Epidemiologie

Sie stellt Zusammenhänge beschreibend dar. Unter deskriptiven Studien sind Gemeindestudien einzuordnen. Diese versuchen Anwort zu geben auf die Fragen, wie viele Personen in der Gemeinde psychische Erkrankungen aufweisen, welche Störungen am häufigsten vorkommen, inwieweit die Versorgungssituation gewährleistet ist. Die deskriptive Epidemiologie dient zur Vervollständigung des klinischen Bildes psychischer Erkrankungen. Manche Aspekte psychischer Erkrankungen sind nicht zu beantworten, so lange nur in Behandlung befindliche Patienten gesehen werden. Manche psychische Erkrankungen wie z. B. die Agoraphobie oder die soziale Phobie sind kaum in stationär-psychiatrischen Einrichtungen zu finden. Fragen der Komorbidität und der familiären Be-

lastung können am besten durch epidemiologische Studien beantwortet werden. Sie können Aussagen zur Ausprägung, zum Schweregrad psychischer Erkrankungen und zur Definition eines Falles anhand der Ausprägung treffen. Die deskriptive Epidemiologie kann auch zur Identifizierung neuer Syndrome beitragen, somit klinische diagnostische Kriterien erweitern.

3.3.2

Analytische Epidemiologie

Die analytische Epidemiologie arbeitet Risikofaktoren für eine spätere Erkrankung oder für eine Zustandsveränderung heraus, indem sie verschiedene Gruppen vergleicht. Als Risikofaktoren können sowohl soziodemografische Merkmale, Lebensereignisse als auch biologische, genetische und weitere Faktoren berücksichtigt werden. Statistische Techniken können das Ausmaß des Risikos abschätzen, verschiedene Risikofaktoren gewichten. Auf der Suche nach Risikofaktoren hat sich die analytische Epidemiologie mit historischen Trends beschäftigt: Zum Beispiel ergaben Studien, dass depressive Erkrankungen häufiger in der jüngeren Generation vorkommen oder möglicherweise in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts früher beginnen (Klerman u. Weissman 1989). Um die Zunahme von Drogen und Suiziden in den letzten Jahrzehnten unter Jugendlichen zu erhellen, werden unter historischen Gesichtspunkten Risikofaktoren mittels der analytischen Epidemiologie untersucht.

3.3.3

Experimentelle Epidemiologie

Die experimentelle Epidemiologie beschäftigt sich mit der Einschätzung der Effektivität von präventiven und therapeutischen Gesundheitsmaßnahmen. Falls ein möglicher Risikofaktor identifiziert wurde und die Wahrscheinlichkeit einer Verursachung angenommen wird, ist es möglich, Interventionen vorzunehmen und zu überprüfen, wie effektiv die Intervention ist. Unter experimentellen Aspekten können therapeutische Maßnahmen, z. B. Medikation und Psychotherapie, hinsichtlich ihrer Effektivität überprüft werden. Innerhalb der Psychiatrie sind 2 Störungen, nämlich depressive Erkrankungen und Drogenmissbrauch für präventive Interventionen besonders geeignet. Die Methoden für präventive Maßnahmen entsprechen den therapeutischen Interventionen. Neben diesen Aspekten der klinischen Epidemiologie entwickelte sich analog die Evaluation von Gesundheitsdiensten, um zu bestimmen, ob Interventionen wie z. B. die Errichtung der Liaison-Psychiatrie oder der Einsatz von Selbstbeurteilungsbögen zur Erfassung von Depressionen in der Allgemeinpraxis die Qualität der Versorgung verbessern.

3

58

3

Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie

3.4

Methodik der Epidemiologie

3.4.1

Stichproben und Grundgesamtheit

Eine Besonderheit der epidemiologischen Konzeption ist, dass sie nicht primär von Individuen, sondern von (in der Regel größeren) Populationen ausgeht. Um eine Aussage zu der Frage machen zu können »Wie verbreitet ist Schizophrenie in Deutschland?« ist erforderlich, die Grundgesamtheit (Population) genau zu definieren (deutsche Staatsbürger, lange in Deutschland lebende Zuwanderer, kurzfristig in Deutschland sich aufhaltende Personen). Die Grundgesamtheit (Population) stellt die Summe aller Individuen dar, über die es quantitative Aussagen über die Verteilung psychischer Erkrankungen zu machen gilt. Weil es aus praktischen und kostenbedingten Gründen zumeist nicht möglich ist, die Grundgesamtheit insgesamt zu untersuchen, beschränkt man sich in der Regel auf die Auswahl einer für die Grundgesamtheit repräsentativen Stichprobe. Das Konzept der repräsentativen Stichprobe ist von eminenter Bedeutung und findet auch heute noch in wissenschaftlichen Untersuchungen in der Medizin nicht ausreichend Berücksichtigung. In sehr vielen Projekten will der Untersucher letztlich zu möglichst repräsentativen Aussagen gelangen. Eine Untersuchung jedes 10. konsekutiv in einer bestimmten Klinik aufgenommenen Patienten mit einer Schizophrenie kann letztlich nur für die Grundgesamtheit aller Schizophrenen, die in dem definierten Zeitraum in dieser Klinik behandelt wurden, repräsentativ sein; die Untersuchung wird kaum für alle (auch unbehandelte) Schizophrenen repräsentativ sein können. Ist die Grundgesamtheit groß genug, kann aus dieser nach dem Zufallsprinzip eine Stichprobe gezogen werden, die dann näher untersucht wird. Wenn bei der Erhebung an dieser Stichprobe hohe Ausfallquoten z. B. durch Nichtauffindung oder Verweigerung der Teilnahme vorliegen, kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse für die Stichprobe und damit die Grundgesamtheit repräsentativ sind. Ergebnisse, die keine Generalisierung auf die Grundgesamtheit zulassen, sind aus epidemiologischer Sicht wertlos. Bei der Festlegung einer Stichprobe muss gewährleistet sein, dass jede Person der Grundgesamtheit die gleiche Wahrscheinlichkeit hat, in die Stichprobe zu kommen. Untersuchungen an ausgelesenen Stichproben, deren Individuen leicht erreichbar und kooperativ sind (»samples of convenience«), erlauben keine Rückschlüsse auf die Grundgesamtheit. In die Grundgesamtheit einzubeziehen sind auch jene, die schwer erreichbar oder schwer für die Teilnahme an einer Untersuchung zu gewinnen sind. Stichprobenbeziehung. Die Erstellung einer kompletten

Liste der Personen der Grundgesamtheit und eine darauf aufbauende Stichprobenziehung ist in den meisten euro-

päischen Ländern durch das Vorliegen von Gemeinderegistern erheblich einfacher, als in nordamerikanischen Ländern. Haushaltsstichproben. In den meisten nordamerikanischen epidemiologischen Untersuchungen wurde deshalb meist von sog. Haushaltsstichproben (»household samples«) ausgegangen; nach bestimmten Festlegungen werden dabei bestimmte Personen eines Haushalts ausgewählt und dann näher untersucht. Hier kann es zu Verzerrungen kommen (Auswahlregeln, Haushaltsgrenzen und -größe). Auch sind bestimmte Personenkreise (Patienten in Kliniken, Heimbewohner, Gefängnisinsassen) dabei in der Regel nicht erfasst. Stratifizierte Stichprobe. Bei einer stratifizierten Stich-

probe können Personen einer bestimmten Strata (z. B. Männer im sehr hohen Alter) mit einer höheren Quote für die Stichprobe gezogen werden, so dass eine größere Datenbasis für diese sonst nur gering in der Stichprobe repräsentierten »Minoritätengruppe« vorliegt. Dies muss später bei der Berechnung von Morbiditätsraten durch entsprechende Gewichtung wieder berücksichtigt werden. Cluster-Sampling. Eine weitere Art der Stichprobenzie-

hung ist das Cluster-Sampling, das z. B. bei Multicenterstudien eingesetzt wird. Diese Technik ist vergleichsweise ökonomischer, doch ist sie meist weniger genau. Nicht selten werden Kombinationen dieser Methoden, z. B. stratifizierte Stichprobe und Cluster-Sampling, in der Epidemiologie eingesetzt.

Analytische Epidemiologie In der analytischen Epidemiologie, die sich u. a. mit der Identifizierung von Risikofaktoren beschäftigt, werden prospektive longitudinale Studien sowie sog. Case-control-Untersuchungen bevorzugt. Letztere beinhaltet eine retrospektiv aus dem Querschnitt erfolgende Datenerhebung bei mindestens 2 Stichproben. Eine davon besteht aus Fällen einer bestimmten Krankheit, die andere aus Personen, die von dieser Krankheit nicht betroffen sind. Die beiden Stichproben sollen im Hinblick auf eine Reihe von spezifischen Merkmalen vergleichbar sein, die bekanntermaßen das Auftreten oder den Verlauf der betreffenden Erkrankung beeinflussen. Sie sollen sich aber andererseits voneinander unterscheiden in bezug auf andere Variablen, deren Wirkung auf die Krankheit im Voraus nicht bekannt ist. Die Methode eignet sich besonders zur Prüfung von Hypothesen über Risikofaktoren. Bisweilen sind komplexe Gewichtungen einzelner Untergruppen der Stichprobe oder Fehlerkorrekturen durch die Art der Stichprobenbildung vorzunehmen, wofür statistische Softwareprogramme (z. B. SUDAAN) entwickelt wurden. Bei

59 3.4 · Methodik der Epidemiologie

Erhebungen an Geburtskohorten wird die Teilnahme an der Untersuchung durch das Geburtsjahr (oder durch ein Zeitintervall bis zu einem Jahrzehnt) bestimmt. Sie eignet sich beispielsweise zur prospektiven Prüfung von Hypothesen über die Auswirkung von Einflussfaktoren in aufeinanderfolgenden Lebensstadien.

Experimentelle Epidemiologie Die experimentelle Epidemiologie setzt klinische Prüfungen und Interventionsstudien ein. Diese Technik kann man als eine prospektive Erweiterung des Typs der Fallkontrollstudien betrachten. Die Krankheitsfälle und die Kontrollpersonen sollen im Hinblick auf das Vorhandensein einer bestimmten Krankheit und einiger weiterer Merkmale, die den Verlauf und den Ausgang beeinflussen können, übereinstimmen. Idealerweise ist die einzige Variable, welche die beiden Gruppen unterscheidet, die zu evaluierende Intervention. Durch eine gezielte Variation der therapeutischen Maßnahmen ist es möglich, kausale Hypothesen zu testen. Das natürliche Experiment in Form von Veränderungen der Umwelt (z. B. Naturkatastrophen), die eine große Zahl von Menschen betreffen, kann einzigartige Möglichkeiten für die experimentelle epidemiologische Beobachtung und Messung der Wirkung verschiedener Einflussgrößen auf die psychische Morbidität öffnen.

3.4.2

Konzepte und Indizes

Prävalenz (Häufigkeit einer Erkrankung) Mit dem Begriff Prävalenz bezeichnet man die Häufigkeit einer Erkrankung in einer definierten Stichprobe oder Population. Wegen der unterschiedlichen Verlaufstypen verschiedener Erkrankungen hat man mehrere Prävalenzarten im Hinblick auf den Zeitraum, im dem der Krankheitsfall zumindest kurz vorgelegen haben muss, definiert. Punktprävalenz. Sie ist das Verhältnis zwischen symptomatischen Fällen und der gesamten mit einem Risiko behafteten Bevölkerung an einem bestimmten Stichtag. Dies ist ein nützliches Maß für den Bedarf an Gesundheitsmaßnahmen, eignet sich aber weniger zur Identifikation von Risikofaktoren und zur Feststellung des Ergebnisses von Interventionen, weil sie sehr stark durch chronische Fälle mit einer langen Dauer geprägt wird, weil sie Erkrankungen mit intermittierendem, episodischem Verlauf unzureichend erfasst und weil sie gegenüber demografischen Vorgängen wie differenzielle Mortalität und Migration anfällig ist.

time«)prävalenz (Anzahl aller an einem bestimmten

Stichtag lebenden Personen, bei denen mindestens eine Episode psychischen Krankseins zu irgendeiner Zeit in ihrem Leben aufgetreten ist), umfassen größere Zeitintervalle. Dieser Index berücksichtigt die episodischen Störungen, ist aber im Übrigen denselben verfälschenden Einflüssen ausgesetzt, wie die Punktprävalenz. Prävalenzraten sollten mit der Information des Konfidenzintervalls oder der Standardabweichung versehen werden, um Signifikantstests für Unterschiede zwischen Prävalenzraten zu ermöglichen.

Inzidenz (Neuerkrankungen in definiertem Zeitraum) Das letztliche Ziel ärztlichen und wissenschaftlichen Handelns sollte darin liegen, das Vorkommen von Krankheiten so erfolgreich zu verhindern, dass sie gar nicht mehr auftreten (primäre Prävention) oder sie im Frühstadium des Auftretens zu heilen (sekundäre Prävention). Für diese Zielsetzung ist es sehr hilfreich, alters- und geschlechtsspezifische Inzidenzraten verfügbar zu haben. Die Anzahl von neu in einem definierten Zeitraum (z. B. 12 Monate) auftretenden Fällen (z. B. pro 1000 Personen) geben uns ein Maß für das Krankheitsrisiko. Die Inzidenzrate ergibt sich aus der Anzahl der innerhalb einer bestimmten Zeitperiode neuerkrankten Personen zu der ursprünglichen Risikopopulation, die frei von dieser Erkrankung ist. Eine Veränderung dieser »wahren« Inzididenz nach einer bestimmten Intervention kann (wenn repliziert) als Ausdruck der Auswirkung dieser Intervention auf die der Krankheit zugrundeliegenden Ursachen und Mechanismen gesehen werden. Da es in der Praxis kaum möglich ist, dass Personen exakt nach 12 Monaten nachuntersucht werden, sind kompliziertere Maße als die Inzidenzrate erforderlich, nämlich die Inzidenzdensität, die die Risikozeit berücksichtigt. Innerhalb des beobachteten Zeitraums ist die krankheitsfreie Zeit eines Individuums die »person time at risk«. Die Summe der individuellen »person time at risk« repräsentiert die »total person time at risk« (»population time at risk«) des beobachteten Zeitraums. Die Inzidenzdensität berechnet sich aus der Anzahl der Neuerkrankungen zu der »population time at risk«.

Morbiditätsrisiko (Krankheitserwartung) Die Krankheitserwartung steht in einer Beziehung zur Inzidenz und wird manchmal aus Inzidenzraten abgeleitet. Sie gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit der eine Person in einer gegebenen Population eine bestimmte Krankheit erwerben wird, unter der Voraussetzung, dass sie ein definiertes Alter erreicht.

Periodenprävalenz. Die Periodenprävalenz (Zahl der Fäl-

Risikomaße

le), die zu irgendeiner Zeit innerhalb eines bestimmten Intervalls symptomatisch waren und die Lebenszeit(»life

Drei weitere eng miteinander zusammenhängende Indizes sind besonders nützlich für das Vorhaben zur Identi-

3

60

3

Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie

fizierung von Risikofaktoren oder zur Evaluation der Wirkung von Interventionen: Mit Odds-Ratio wird die Auswirkung einer Exposition gegenüber einem vermuteten Risikofaktor geschätzt. ⊡ Tab. 3.1 gibt ein Beispiel für die Berechnung der Odds-Ratio. Das Maß gibt anschaulich an, wieviel häufiger das Erkrankungsrisiko im Vergleich zu einer Referenzstichprobe ist. Der Index des relativen Risikos gibt das Ausmaß an, in dem ein Risikofaktor die Inzidenz der Krankheit beeinflusst. Mit dem Index des Attributable-Risk wird der Anteil von Krankheitsfällen in einer bestimmten Population abgeschätzt, der einem spezifischen Risikofaktor zugeordnet werden kann. Dieses Maß ist besonders geeignet für die Untersuchung von multifaktoriellen Erkrankungen, bei denen die Auspartialisierung von Einzelrisiken eine Grundlage für Präventionsversuche bilden kann.

3.4.3

Instrumente

Drei Arten von Messinstrumenten haben eine besondere Bedeutung in der Epidemiologie: 1. Screeninginstrumente, 2. diagnostische Instrumente, 3. Instrumente zur Beurteilung von Verlauf und Ausgang.

Screeninginstrumente Der Zweck eines Screeninginstruments ist die rasche Erkennung von Personen, die mit Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Erkrankung aufweisen. Jedes Screeningverfahren in der Medizin sollte folgende Bedingungen erfüllen, die von Wilson u. Jungner (1968) zusammengefasst wurden:  Reliabilität (die dem Instrument selbst oder ihrem Anwender zuzuschreibende Variation),  Validität (die Fähigkeit eines Tests, Personen mit der gesuchten Erkrankung von den nicht davon betroffenen zu trennen),  Ausschöpfung (der Anteil vorher unerkannter Krankheitfälle, die durch das Screeningverfahren entdeckt werden),  Kosten (Aufwand an Zeit, Personal),  Akzeptanz (durch die dem Screeningverfahren unterworfenen Personen) und  Verfügbarkeit nachfolgender Behandlungsangebote. ⊡ Tab. 3.1. Berechnung der Odds-Ratio Risikofaktor

Fall

Nichtfall

Vorhanden

a = 45

b = 80

Nicht vorhanden

c = 65

d = 230

Odds-Ratio =

a c a d (45) (230) : = = = 1,99 b d b c (80) (65)

Reliabilität. Der diagnostische Prozess sollte dazu in der

Lage sein, bei gleichartigen Phänomenen konsistente Ergebnisse anlässlich gleicher Phänomene sowohl durch verschiedene Untersucher als auch zu verschiedenen Gelegenheiten zu produzieren (Reliabilität). Ein Maß für diese Konsistenz ist die Inter-Rater-Reliabilität (mehrere unabhängige Untersucher kommen zu übereinstimmenden Ergebnissen). Ein weiteres wichtiges Konsistenzmaß ist die Re-Test-Reliabilität (kurzfristige Wiederholung der Untersuchung am selben Probanden führt zu übereinstimmenden Ergebnissen). Ein zur Darstellung der Reliabilität in der Diagnostik häufig eingesetztes Maß ist der Kappakoeffizient. Ein κ-Koeffizient von über 0,75 gilt in der Regel als gut, ein geringerer als mäßig oder schlecht. Validität. Mit dem Begriff Validität wird das Ausmaß der

Gültigkeit einer diagnostischen Untersuchung bezeichnet, mit der diese auch das erfasst (z. B. Depression), was sie zu erfassen vorgibt. Man unterscheidet verschiedene Formen der Validität: Mit »face-validity« bezeichnet man die Augenscheinvalidität, die in der Regel von Experten beurteilte Übereinstimmung des Testergebnisses mit dem, was augenscheinlich Sache ist; mit »content-validity« wird die inhaltliche Übereinstimmung und ausreichende inhaltliche Abdeckung eines Bereiches (meist mit Expertenurteilen) bezeichnet; mit »Kriteriumvalidität« bezeichnet man das Ausmaß der Übereinstimmung einer (Test-)Untersuchung mit einer ähnlichen bekannten Untersuchung und Tests (= Kriterium); mit »predictive-validity« ist die Übereinstimmung eines (Test-)Untersuchungsergebnisses mit dem weiteren Verlauf bezeichnet. Sensitivität und Spezifität. Wichtige Begriffe für die Eignung eines Untersuchungsverfahrens sind die Sensitivität (Fähigkeit des Tests, die Personen mit der Erkrankung als positiv zu klassifizieren) und die Spezifität (Fähigkeit des Tests, die Personen ohne die Erkrankung als negativ zu klassifizieren). ⊡ Tab. 3.2 gibt ein Beispiel für die Berechnung von Sensitivität und Spezifität. In dem gegebenen Fall liegt sowohl eine ausreichende Sensitivität als auch eine ausreichende Spezifität vor, so dass sich dieses Untersuchungsverfahren (z. B. ein Screeningfragebogen im Rahmen einer zweistufigen Erhebung) eignen würde, Risikopersonen herauszufiltern, die im nächsten Schritt genauer untersucht werden könnten.

! Eine hohe Sensitivität beinhaltet eine geringe Rate falsch-negativer Fallzuordnungen; eine hohe Spezifität beinhaltet eine niedrige Rate falschpositiver Fallzuordnungen. Die Anwendung dieser Indizes auf Screeningintrumente für psychische Erkrankungen ist in der Regel an die Diagnose als Validitätskriterium gebunden. Ein auf Sensitivität und Spezifität aufbauender Quotient ist der »positive predictive value« (PPV). Dieses Maß eignet sich besonders für

61 3.4 · Methodik der Epidemiologie

⊡ Tab. 3.2. Sensitivität und Spezifität Zuordnung nach Ergebnissen eines zu evaluierenden Screeningfragebogens

»Wahre Ordnung z. B. aufgrund eines detailierten psychiatrischen Interviews«

Erkrankt

Nicht erkrankt

Mutmaßlich erkrankt (positiv)

a = 71

b = 15

a+b = 86

Mutmaßlich nicht erkrankt (negativ)

c=9 a+c = 80

d = 105 b+d = 120

c+d = 114 n = 200

Sensitivität =

Spezifität =

a 71 = = 0,887 a + c 80 d b+d

=

105

= 0,875

120

die Beurteilung, ob ein bestimmtes Untersuchungsverfahren (z. B. Screeningfragebogen) sinnvoll ist.

Diagnostische Instrumente Die Psychiatrie hat in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte in der reliablen Erfassung von Diagnosen gemacht. Nachdem Diagnosen früher oft nur vage definiert oder sehr untersucherspezifisch waren, wurden detaillierte Kriterien für eine operationale Diagnose entwickelt. Frühe Entwicklungen dazu gehen zurück auf Wing et al. (1974) mit der Entwicklung des Present State Examination (PSE). Etwa parallel dazu entwickelte eine Arbeitsgruppe an der Washington University in St. Louis, USA, operationale Diagnosekriterien, die nach dem Erstautor als Feighner-Kriterien bezeichnet wurden (Feighner et al. 1972). Beide Ansätze gingen Mitte der 1970er Jahre in die Entwicklung der Research Diagnostic Criteria (RDC) und des in diesem Zusammenhang entwickelten Interviews Schedule for Affective Disorders and Schizophrenia (SADS) ein (Endicott u. Spitzer 1978). Mit der Formulierung der DSM-III-Kriterien (American Psychiatric Association 1980) wurde das NIMH-Diagnostic Interview Schedule (DIS) als standardisiertes Interview zur psychiatrischen Diagnostik speziell für den Einsatz in großen epidemiologischen Untersuchungen entwickelt, das auch von geschulten Laien angewandt werden kann (Robins et al. 1981). Mit Entwicklung der ICD-10 und DSM-III-R-/DSM-IV-Kriterien wurde das Composite International Diagnostic Interview (CIDI) entwickelt, das ebenfalls von geschulten Laien angewendet werden kann (Robins et al. 1988; Wittchen et al. 1991). Für die Verwendung durch entsprechend geschulte Fachleute wurde das Schedule for Clinical Assessment in Neuropsychiatry (SCAN) für DSM-III-R-/DSM-IV- und ICD10-Diagnosen entwikkelt (Wing et al. 1990). Zu dem gleichen Zweck, allerdings beschränkt auf DSM-III-R- bzw. DSM-IV-Diagnosen entwickelten Spitzer et al. (1992) das

Structured Clinical Interview (SCID). Einige dieser Instrumente können per Hand ausgewertet werden, für andere stehen Computeralgorithmen für die Auswertung zur Verfügung. Gegenwärtig ist eine Vielzahl von standardisierten Instrumenten verfügbar, von relativ einfachen bis zu systematischen, klinischen Interviews, die alle wichtigen psychopathologischen Bereiche abdecken. Hinsichtlich dieser diagnostischen Instrumente ist folgendes wesentlich: Mit dem Einsatz geeigneter Interviews ist auch in großen Studien eine reliable psychiatrische Diagnostik möglich. Auch sind die Ergebnisse zwischen einzelnen Untersuchungen bei Einsatz desselben Instrumentes sehr viel besser vergleichbar. Erst damit macht es wirklich Sinn, Morbiditätsraten für einzelne psychische Erkrankungen zwischen verschiedenen Ländern und Kulturkreisen zu vergleichen.

Instrumente zur Erfassung von Verlauf und Ausgang (Outcome) Zusätzlich zu einer oder mehreren Querschnittserhebungen des psychischen Gesundheitszustandes ist es erforderlich, den longitudinalen Aspekt der Krankheit und den Endzustand zu einem bestimmten Zeitpunkt messen zu können. Zu den Beispielen für solche Maße gehören Verlaufsmuster (z. B. chronisch, periodisch, remittierend). Wenn möglich sollte die Beurteilung mehr als eine Dimension der Krankheit berücksichtigen. So spielen neben dem Schweregrad der Symptomatik auch der Grad der Beeinträchtigung und das Ausmaß an sozialer Unterstützung eine Rolle.

3.4.4

Falldefinition und Diagnose

Der Begriff »Fall« hat in der Epidemiologie mehrere Bedeutungen. Als »Fall« bezeichnet man zum einen das Individuum, das eine bestimmte Krankheit oder eine vergleichbare Merkmalsgruppe aufweist (im Unterschied zu all jenen, die sie nicht aufweisen). Diese Definition liegt in der Regel bei Untersuchungen zugrunde, die sich mit der wahren Morbidität (Inzidenz, Prävalenz) – also bevölkerungsbezogen – befassen. Zum anderen wird der Begriff »Fall« auch für behandelte Fälle verwendet, da Krankheit in unterschiedlichen administrativen Systemen verschiedene Bedeutung haben kann (z. B. hinsichtlich Arbeitsunfähigkeit); man spricht hier von administrativer Prävalenz bzw. Inzidenz – sie ist nicht repräsentativ für die Bevölkerung. Es ist notwendig, den Definitionsmerkmalen des Falles in verschiedenen Statistiken sorgfältige Beachtung zu schenken. Ganz allgemein bezeichnet »Fall« schließlich diejenige Person, die wegen einer bestimmten Krankheit Hilfe bedarf oder bereits Hilfe erhält, im Unterschied zu den Gesunden oder Leichterkrankten, die keiner Hilfe bedürfen.

3

62

3

Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie

Die letztgenannte Definition hat eine enge Beziehung zur Bestimmung des Bedarfs an medizinischen, sozialen und pädagogischen Einrichtungen. Die Ermittlung der einer Behandlung oder anderweitigen Versorgung bedürftigen Fälle ist unter den aufgezählten Aufgaben der Epidemiologie eine der wichtigsten. Wenn Untersuchungsergebnisse, die auf Fallzahlen oder Raten basieren, zuverlässig und vergleichbar sein sollen, dann ist eine exakte Falldefinition die erste unerlässliche Bedingung epidemiologischer Forschung. Die Anforderungen an eine zureichende Falldefinition sind nach Cooper u. Morgan (1977) an 3 Voraussetzungen gebunden: 1. Sie muss adäquat für die geplante Untersuchung sein. Darunter ist zu verstehen, dass sie für die Fragestellung relevant ist und ihre Merkmale mit den Mitteln des Projekts objektiv zuverlässig fassbar sind. 2. Die Definition muss reliabel so präzise sein, dass dem Untersucher klar ist, welche Merkmale vorhanden sein müssen, oder nicht vorhanden sein dürfen, um einen Fall positiv zu identifizieren. 3. Für alle Krankheitszustände, die fließend in den gesunden Bereich übergehen, ist die Festlegung einer Grenze oder Schwelle für die Kategorisierung als Fall aus operationalen Gründen erforderlich. Tatsächlich wirft die scheinbar einfache Frage »Was ist ein Fall?« auch heute noch – nicht nur in der Psychiatrie – beträchtliche Schwierigkeiten auf. Die Entwicklung standardisierter oder strukturierter Interviewinstrumente mit spezifizierten Kriterien machte es möglich, einen neuen Standard variabler Diagnostik zu schaffen. Einen weiteren Fortschritt stellt besonders bei Studien mit großen Stichproben die computergestützte Diagnostik dar.

3.5

Ergebnisse von Feldstudien

3.5.1

Frühe Feldstudien

Europa Da die wahre Prävalenz bedeutend höher ist als die behandelte Prävalenz, sind reliable Daten über psychische Erkrankungen allein über Untersuchungen in repräsentativen Bevölkerungstichproben möglich. Cooper u. Morgan (1977) beschrieben eine frühe norwegische Untersuchung, die von gemeindebediensteten Pfarrern und Lehrern durchgeführt wurde. Sie kamen zu sehr niedrigen Morbiditätsraten (2,65‰ in städtischen und 3,03‰ in ländlichen Regionen). Allerdings richtete sich das Interesse im Wesentlichen auf psychotisch gestörte Personen. Eschenburg (1885) berichtete ebenfalls über Morbiditätsraten von ca. 3‰ für Geisteskranke in Lübeck (zitiert nach Fichter et al. 1990). Brugger berichtete 1931 über eine Geisteskrankenzählung in Thüringen und 1933 im Allgäu. Außerdem beschrieb er 1937 Ergebnisse einer Feldstudie

im Landkreis Rosenheim. Er berichtete eine psychiatrische Morbiditätsrate von 3,5%. Ein Großteil der Studien in früheren Jahren verließ sich auf Schlüsselinformanten, mehr als auf intensive Fallfindungstechniken. Daraus folgte, dass nur schwer gestörte, sichtbar sozial auffällige Personen als Fälle identifiziert wurden und die Morbiditätsraten für psychische Erkrankungen mit 3% angegeben wurden (Dohrenwend 1972). Die durchschnittliche Prävalenz für psychische Erkrankungen liegt nach Dohrenwend (1972) aufgrund von 33 Feldstudien, die nach 1950 durchgeführt wurden und auch leichtere psychische Störungen berücksichtigen, mit ungefähr 18% deutlich höher. Essen-Möller führte 1947 eine Feldstudie in Lundby durch (Essen-Möller 1956). In dieser Studie wurden so gut wie alle Einwohner eines umschriebenen Gebietes in Südschweden persönlich untersucht. Die Lundby-Studie wurde von Hagnell (n = 2550) fortgeführt (Hagnell 1966; Hagnell et al. 1982). Die Arbeitsgruppe von Schepank untersuchte im Rahmen einer repräsentativen Kohortenfeldstudie für die Altersjahrgänge 1935, 1945 und 1955 eine Stichprobe deutscher Erwachsener in der Stadt Mannheim. Es wurde über eine Morbiditätsrate von 25% für psychosomatische, neurotische und andere überwiegend psychogene Erkrankungen berichtet (Schepank 1982, 1987). Die Arbeitsgruppe um Angst untersuchte eine repräsentative Kohorte von 20-Jährigen im Kanton Zürich (Angst u. Dobler-Mikola 1984 a–c). Im Jahre 1978 wurde eine Stichprobe von 2201 Männern und 2346 Frauen in einem 2-stufigen Vorgehen untersucht. Basierend auf den Ergebnissen der Hopkins-Symptom-Checklist (SCL90) wurden 292 Männern und 299 Frauen mit besonders hohen bzw. niedrigen Werten auf der Skala für ein nachfolgendes halbstrukturiertes Interview ausgewählt. Die Studie wurde als Verlaufsuntersuchung fortgesetzt. Dilling u. Weyerer (1984) führten in den Jahren 1974– 1979 in einer Stichprobe von 1668 Probanden im Alter von 15 Jahren und älter eine epidemiologische Studie bei einer ländlichen Bevölkerungsstichprobe im Landkreis Traunstein durch. Fichter et al. (1990, 1996 a) nahmen dies als

Basis für eine longitudinale Bevölkerungsstudie (Upper Bavarian Study – UBS). Zur Schätzung der Prävalenzraten der 1980er Jahre wurde eine neue Stichprobe (Prävalenzstichprobe der 1980er Jahre) zusammengestellt (Fichter 1990). Die Prävalenzstichprobe der 1980er Jahre bestand aus 1979 Personen im Alter von 15 Jahren und älter; davon konnten 84,2% untersucht werden. Die Prävalenzrate (7Tage-Punktprävalenz/ICD-9) für psychische Erkrankungen für Personen ab 20 Jahren blieb konstant und betrug für die erste Querschnittsstichprobe 20,4%, für die zweite der 1980er Jahre 20,8%. Die höchsten Prävalenzraten fanden sich in der Altersgruppe der 45- bis 64-Jährigen. Deutliche Unterschiede über die Zeit ergaben sich beim Vergleich von einzelnen diagnostischen Gruppen

63 3.5 · Ergebnisse von Feldstudien

psychischer Erkrankungen. Eine Zunahme war hauptsächlich bei Alkoholabhängigkeit zu verzeichnen, affektive Störungen zeigten eine deutliche Abnahme.

Nordamerika Durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges wurde das Interesse in Nordamerika geweckt, mit relativ einfachen Mitteln die Häufigkeit psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung erfassen zu können - nicht zuletzt, um künftige Musterungsprozesse bei Kriegseinsätzen effektiver zu gestalten. Heute aus historischen Gründen sind folgende amerikanische Studien aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von Bedeutung: In der klassischen Midtown-Manhattan-Studie wurde eine Stichprobe von 1660 Erwachsenen interviewt. Bei 23,4% der Bevölkerung wurde eine bedeutsame Beeinträchtigung durch psychische Erkrankungen festgestellt. Wurden leichtere Behinderungen durch psychische Symptome mit einbezogen, erhöhte sich die Morbiditätsrate gar auf 81,5% (Srole et al. 1962). Die Studie wurde wegen der weiten »inflationären« Fallidentifikation (»Manhattan Madness«) und der Tatsache, dass sie zwischen einzelnen psychiatrischen Diagnosen nicht unterschied, kritisiert. In der Baltimore-Morbidity-Studie (Commission on Chronic Illness 1957) wurden 809 Personen einer Stichprobe aus Haushalten in Baltimore von Ärzten untersucht. In der Studie wurden alle Altersgruppen nichtinstitutionalisierter Personen in der Stadt erfasst. Psychiatrische Diagnosen wurden mit dem internationalen Diagnoseschlüssel ICD gestellt und eine Prävalenzrate von 10,9% berichtet. In der Stirling-County-Studie untersuchte Leighton et al. (1963) 1010 erwachsene Bürger eines ländlichen Bezirks in Kanada. Auf der Basis ihrer Ergebnisse kamen sie zu der Schätzung, dass 20% der erwachsenen Bevölkerung eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung aufweist. Hervorzuheben ist hierbei der Versuch, implizite Kriterien des »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM-I) der American Psychiatric Association explizit in Itemformulierungen für das psychiatrische Interview zu fassen. Nach Reanalyse der Daten der Stirling-County-Studie ermittelte Murphy (1980) eine Prävalenzrate von 4,1% nach DSM-III-Kriterien für Major Depression.

3.5.2

Große psychiatrischepidemiologische Studien der 3. Generation

Die früheren Untersuchungen in Europa und USA wurden hinsichtlich der Fallidentifikation sehr kritisch in Frage gestellt, die auf einfache Rating-Skalen oder subjektive Einschätzung des Untersuchers auf der Basis eines wenig reliablen diagnostischen Systems beruhen. Über

Jahre erfolgte eine sehr bedeutsame Entwicklung operationalisierter diagnostischer Systeme, beginnend mit einer Arbeitsgruppe in St. Louis [USA (Feighner et al. 1972)]. In derselben Zeit wurden von Lee Robins et al. (1991) in St. Louis und getrennt davon am Institut of Psychiatry in London durch John Wing (Wing et al. 1974) versucht, reliable Interviews für die Erfassung operationalisierter psychiatrischer Diagnosen zu entwickeln. Dies führte zur Entwicklung der Present State Examination (PSE), von Wing später weiterentwickelt zum SCAN. Parallel entwickelten Lee Robins et al. das Diagnostic Interview Schedule DIS, das später zum Composit International Diagnostic Interview (CIDI) weiterentwickelt wurde. Die in ⊡ Tab. 3.3 dargestellten Ergebnisse mehrerer amerikanischer und deutscher epidemiologischer Untersuchungen an repräsentativen Bevölkerungsstichproben beruhen auf der operationalen Diagnostik nach DSM-III (American Psychiatric Association 1980) bzw. späteren Versionen des DSM sowie der Erfassung der Psychopathologie durch strukturierte Interviews. Man spricht von den psychiatrischen epidemiologischen Studien der ersten Generation (erste Krankenzählung) bis zum Ersten Weltkrieg. Studien nach dem Zweiten Weltkrieg, wie die Midtown-Manhattan-Studie und die Stirling-County-Studie, bezeichnet man als Studien der zweiten Generation. Psychiatrische epidemiologische Studien der dritten Generation basieren auf den operationalen Kriterien von DSM-III und folgenden Ausgaben oder ICD-10 sowie auf reliablen diagnostischen Interviews, deren Fragen zu einem Algorithmus führen, aus dem sich die Diagnosen ergeben.

Epidemiologic Catchment Area (ECA) Ende der 1970er Jahre wurde die groß angelegte Epidemiologic Catchment Area (ECA) des National Institute of Mental Health durchgeführt (Regier et al. 1984, 1988; Regier u. Kaelber 1995). Die Studie wurde multizentrisch in 5 Zentren durchgeführt. Ziele waren die Beschaffung von Informationen über die Morbiditätsraten einzelner psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung, die Abschätzung des Versorgungsbedarfs für psychisch Kranke und die Erarbeitung von Inzidenzraten und Ausarbeitung von Risikofaktoren. Bei der Stichprobenziehung wurde sowohl von Haushalten, als auch von Personen in Heimen, Gefängnissen und Kliniken ausgegangen und als Interview den Diagnostic Interview Schedule (DIS) von Robins et al. (1991) verwendet, ein in hohem Maße strukturiertes Interview für relinierte Laieninterviewer. In 5 über die USA verstreuten Zentren wurden insgesamt 18.572 Personen untersucht. Aufgrund der Art der Stichprobenziehung, die mangels eines Gemeinderegisters erforderlich war (stratifizierte Household-Samples und Stichproben aus Institutionen), mussten (unter Berücksichtigung des US-Zensus für nichtinstitutionalisierte Personen von 1980) korrigierende Gewichtungen vorgenommen werden.

3

64

Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie

⊡ Tab. 3.3. Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen nach DSM-III/-III-R/-IV in größeren US-amerikanischen und deutschen epidemiologischen Untersuchungen in der Bevölkerung Land

BRD

USA

USA

USA

BRD

Studie

UBS Upper Bavarian Studyb

E CA Epidemiologic Catchment Area Study

NCS National Comorbidity Study

NCS Replication

GHS German Health Survey

DSM-III

DSM-III, 3 sites

DSM-III-R

DSM-IV

DSM-IV

Goldberg Interview

DIS

UM-CIDI

WHO-CIDI

M-CIDI

3 Interview Autoren

Fichter u. Elton (1990)

Regier et al. (1998)

Kessler et al. (1994)

Kessler et al. (2005)

Jacobi et al. (2004)

%

%

(SE)

%

%

(SE)

%

(SE)

Affective (Mood) Störungen gesamt

8,7

9,3

(0,4)

19,3

20,8

(0,6)

18,6

(0,6)

– Majore-depressive Episode

1,7

7,2

(0,3)

17,1

(0,7)

16,6

(0,5)

17,1

(0,6)

– Manische Episode





1,6

(0,3)



– –

(SE)

– Dysthymia

5,9

3,6

(0,2)

6,4

(0,4)

2,5

(0,2)

– Bipolare I–II-Störung

0,2





3,9

(0,2)

1,0

(0,1)

Angststörungen gesamt

5,6

14,2

(0,4)

24,9

(0,8)

28,8

(0,9)



– Panikstörung

0,4

1,9

(0,2)

3,5

(0,3)

4,7

(0,2)

3,9

– Agoraphobie ohne Panikstörung – Soziale Phobie i y – Einfache Phobie t





5,3

(0,4)

1,4

(0,1)



1,6

(0,1)

13,3

(0,7)

12,1

(0,4)



11,3

(0,6)

12,5

(0,4)



(0,3)

5,7

(0,3)





– Generalisierte Angststörung

1,3 –

– –

5,1

– Posttraumatische Belastungsstörung







6,8

(0,4)

– Zwangsstörung

0,1





1,6

(0,3)



– Trennungsangststörung







5,2

(0,4)



– Somatoforme Störung

1,4







16,2

(0,7)

Substanzmissbrauch/-abhängigkeit gesamt i – Alkoholmissbrauch y – Alkoholabhängigkeit t i – Drogenmissbrauch y – Drogenabhängigkeit t

7,3

19,9

(0,5)

26,6

(1,0)

14,6

(0,6)

9,9





9,4

(0,5)

13,2

(0,6)

8,6

(0,4)

14,1

(0,7)

5,4

(0,3)

i y 8,5 t i y 2,1 t

5,9 1,4





4,4

(0,3)

7,9

(0,4)

4,8

(0,3)

7,5

(0,4)

3,0

(0,2)

(0,3)

(0,6)

(0,5) (0,2)

Sonstige – Anpassungsstörung

4,9









– Schmerzstörung









12,7

– Antisoziale Persönlichkeit





3,5

(0,3)





– Nonaffektive Psychosec

0,8

1,5

0,7

(0,1)



– Psychische Störung mit Einfluss auf körperlichen Zustand

11,5







2,3

(0,2)

Störungen der Impulskontrolle gesamt







24,8

(1,1)



(0,5)

– Oppositions- & Aufsässigkeitsstörung







8,5

(0,7)



– Verhaltensstörung







9,5

(8,8)



– AD(H)S







8,1

(0,6)



– Intermittierende explosive Störung







5,2

(0,3)



Mindestens eine der UBS-Störungen

42,1









36,1

(0,6)







Mindestens eine der NCS-Störungen

48,0

(1,1)





Mindestens eine der NCS-ReplicationStörungen



46,4

(1,1)



Mindestens eine der GHS-Störungen





42,6

(0,8)

Mindestens eine der ECA-Störungen

4,5a

(0,5)

– Nicht näher untersucht; a Möglicherweise psychotische Störung; b 5-Jahres-Prävalenz, alle Schweregrade s ≤1; c Beinhaltet Schizophrenie, schizophreniforme Störung, schizoaffektive Störung, Wahnstörung und atypische Psychose.

65 3.5 · Ergebnisse von Feldstudien

Nach den aus den 5 Zentren zusammengefassten Ergebnissen der ECA-Studien hatte jeder 5. Proband (19,1%) zum Zeitpunkt der Untersuchung (Sechsmonatsprävalenz) eine psychische Erkrankung nach DSM-III. Die vergleichsweise höchsten Sechsmonatsmorbiditätsraten zeigten sich für Angstsyndrome (8,9%), hauptsächlich bedingt durch phobische Erkrankungen (7,7%). Die zweithäufigste diagnostische Gruppierung waren Suchterkrankungen: 4,7% wiesen Alkoholmissbrauch oder Abhängigkeit und 2% Drogenmissbrauch oder -abhängigkeit auf. Affektive Erkrankungen waren in 5,8% der Fälle zu finden. Die Sechsmonatsprävalenzrate für bipolare affektive Störungen wurde mit 0,5%, für Dysthymie mit 3,3%, für Schizophrenie mit 0,8%, für schizophrenieforme Störungen mit 0,1%, für somatoforme Störungen mit 0,1%, für antisoziale Persönlichkeit mit 0,8%, für schwere kognitive Störungen mit 1,3%, für die gesamte Population, zunehmend mit dem Alter (3% für 65- bis 79Jährige, 7% für 75- bis 80-Jährige und fast 16% für über 85-Jährige) angegeben. Nur ein Viertel der Betroffenen erhielten eine Behandlung.

ner großen repräsentativen Bevölkerungsstichprobe Deutschlands (n = 4181) mit Hilfe des vollstrukturierten computerassistierten klinischen Interviews (M-CIDI) durch. Die Ergebnisse basieren auf diagnostischen Klassifikationen nach DSM-IV (⊡ Tab. 3.3). Wittchen et al. (1998) führten auch eine weitere relevante epidemiologische Bevölkerungsstudie mit wiederholten Erfassungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch. Etwa zeitgleich mit der ECA-Studie in den USA führte die Arbeitsgruppe von Manfred Fichter die oberbayerische Verlaufsuntersuchung bei einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe von 1979 Personen im Alter von 15 Jahren und älter durch. Die höchsten Prävalenzraten fanden sich in der Altersgruppe der 45- bis 64-Jährigen (⊡ Tab. 3.3). Die Studie wurde als Langzeitverlaufsuntersuchung bei denselben Probanden 20 Jahre später erneut implementiert (Fichter 2006).

3.5.3

Gegenwärtige Entwicklungen in der psychiatrischen Epidemiologie

National Comorbidity Survey (NCS) Als weitere wichtige US-amerikanische Studie ist der National Comorbidity Survey (NCS) zu erwähnen (Kessler et al. 1994). Ergebnisse dieser Studie basieren auf dem Composite International Diagnostic Interview (UM-CIDI) für DSM-III-R-Diagnosen. Insgesamt 8098 Probanden zwischen 15 und 54 Jahren (nationale Stichprobe der USA) wurden untersucht. Davon berichteten 50% eine »life time disorder«, beinahe 30% litten innerhalb eines Jahres an einer psychischen Erkrankung. Die häufigsten Erkrankungen waren Major Depression und Alkoholabhängigkeit, gefolgt von sozialer bzw. einfacher Phobie (Kessler et al. 1994). Wie bereits in der ECA-Studie (Robins u. Regier 1991), die bei 75% aller Probanden mit einer »life time depressive episode« noch eine weitere psychische Störung feststellt, fanden Kessler et al. (1996), dass 61,8% aller Probanden mit einer Life-time-Major-Depression vor dem Beginn der Depression eine andere psychische Störung aufwiesen, vornehmlich Angststörungen und Substanzmissbrauch. Die NCS-Replikationsstudie, ebenfalls von Kessler et al. (2005) durchgeführt und veröffentlicht, beruht auf den DSM-IV-Kriterien, und Interviews erfolgten durch einen leicht veränderten CIDI (WHO-CIDI). Darüber hinaus wurden Störungen der Impulskontrolle erstmals detailliert erfasst.

Weitere Studien Die Arbeitsgruppe um Hans-Ulrich Wittchen (Jacobi et al. 2004) führte in Deutschland im Rahmen des »German National Health Interview and Examination Survey (GHS)«

eine psychiatrische epidemiologische Untersuchung ei-

Gegenwärtige Konzeptualisierungen und Untersuchungen in der psychiatrischen Epidemiologie gehen dahin, das Fundament in verschiedene Richtungen zu verbreitern. WHO-Psychiatric Disability Assessment Schedule. Zwar

ist eine klar formulierte operationale reliable und valide Diagnosestellung sehr wichtig, doch sagt sie nur begrenzt etwas über die durch die Störung bzw. Erkrankung bedingten Einschränkungen (z. B. Arbeitsunfähigkeit) und erforderlichen Behandlungen aus. Sie helfen dafür nur begrenzt für konkrete Planungen des Gesundheitswesens. Dies führte zur Entwicklung darüber hinausgehender Konzepte und Instrumente. Vor diesem Hintergrund wurde das »WHO-Psychiatric Disability Assessment Schedule« (WHO-DAS II) entwickelt, in dem Einschränkungen, Beeinträchtigungen und Behinderungen erfasst werden, die für die Einschätzung des Behandlungsbedarfs und für eine Quantifizierung des »Outcomes« relevant sind. International Classification of Functioning, Disabilities and Health. Ein weiterer Ansatz in diese Richtung ist die

Entwicklung der »International Classification of Functioning, Disabilities and Health« (ICF), eine Weiterentwicklung der »International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps« (ICIDH). Die ICF geht von einer Interaktion zwischen Erkrankung, Person und sozialer Umwelt aus, und Einschränkungen (Disability) beinhalten Disfunktionen auf dem körperlichen, persönlichen und sozialen Level (Üstün et al. 2003; World Health Organisation 2001).

3

66

Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie

WHO Quality of Life Assessment. Ein weiterer Ansatz ist

3

tersuchen (World Mental Health Survey Consortium – Demyttenaere et al. 2004). ⊡ Tab. 3.4 gibt eine Übersicht über einen Teil der relevanten Ergebnisse zur Prävalenz psychischer Störungen nach DSM-IV in verschiedenen Ländern und Kontinenten auf der Basis von WHO-CIDIInterviews – eine Herausforderung für die Zukunft. Wie ⊡ Tab. 3.4 zeigt, sind die Prävalenzraten zum Teil sehr unterschiedlich. Für Amerika und Asien lässt sich ein Nord-Süd-Gefälle (mehr Sonnenlicht im Süden) aus den Daten herauslesen. Die niedrigsten Prävalenzraten fanden sich für Nigeria (Afrika) und Shanghai (China), die höchsten für USA, Frankreich und Deutschland. Künftige Untersuchungen werden zeigen müssen, inwieweit diese Ergebnisse Untersuchungsartefakte (in den USA entwickelte Instrumente in weltweitem Einsatz) oder wirkliche Unterschiede darstellen und wodurch diese bedingt sind (Genetik, Gesundheitssystem, soziokulturelle Bedingungen).

die Einbeziehung der Lebensqualität der mit Störung oder Krankheit betroffenen Personen, die z. B. erfasst werden mit dem WHO Quality of Life Assessment (Kuyken u. Orley 1995). Die Quantifizierung beruht in der Regel auf subjektiven Angaben der Betroffenen, was durch die Nichtberücksichtigung des eigenen Anspruchs zu Verzerrungen führen kann. Psychisch zu einem hohen Anteil erkrankte Obdachlose waren »im Großen und Ganzen mit ihrem Gesundheitszustand zufriedener« als Personen einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe der UBS (Fichter u. Quadflieg 2001). Global burden of disease. Die Auswirkung in einer Er-

krankung kann über die individuelle Ebene auch erweitert werden. Psychische Erkrankungen können nicht nur auf den Betroffenen, sondern auch auf Angehörige kommen, die auf das Gesundheitssystem und die Volkswirtschaft Auswirkungen haben. Es kann nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Arbeitsleistung durch funktionale Einschränkungen verloren gehen. Dieser »Global burden of disease« (Üstün u. Mezzich 2002) hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen.

Fragen und Probleme in der psychiatrischen Epidemiologie der Gegenwart

3.5.4

Einige wichtige Fragen und Probleme der psychiatrischen Epidemiologie der Gegenwart lassen sich aus ⊡ Tab. 3.3 und ⊡ Tab. 3.4 ersehen. ⊡ Tab. 3.3 enthält Ergebnisse von zwei mit moderner Methodologie durchgeführten nordamerikanischen Studien der 1980er Jahre (ECA-Programm) und der in den 1990er Jahren durchgeführten

World Mental Health Survey Consortium. In den letzten

Jahren hat man es auch unternommen, große Bevölkerungsstichproben in verschiedenen Ländern, Kontinenten und Kulturen mit derselben zeitgemäßen Erhebungsmethodik, koordiniert durch die WHO, zu un-

⊡ Tab. 3.4. Prävalenz psychischer Störungen nach DSM-IV, erfasst mit einheitlichem Interview (WHO-CIDI) in verschiedenen Ländern und Kontinenten (World Mental Health Survey Consortium: Demyttenaere et al. 2004) – gekürzt Kontinente/ Länder

12-MonatsPrävalenz

Lebenszeitprävalenz Angststörungen

Affektive (Mood) Störungen

Störungen der Impulskontrolle

Alkoholmissbrauch/ -abhängigkeit

Mindestens eine der genannten Störungen

Mindestens eine der genannten Störungen

%

(SE)

%

(SE)

%

(SE)

%

(SE)

%

(SE)

%

(SE)

14,1

(1,3)

10,9

(0,8)

2,3

(0,7)

6,2

(0,8)

25,0

(1,6)

8,6

(0,9)

22,0 10,9 10,0

(1,5) (0,9) (1,0)

23,3 10,2 11,6

(1,3) (0,6) (0,6)

3,4 1,1 1,2

(0,5) (0,3) (0,3)

5,8 1,2 2,9

(0,8) (0,3) (0,7)

37,9 18,1 19,7

(2,0) (1,1) (1,4)

14,3 7,2 8,4

(1,2) (0,7) (0,6)

Nordamerika (USA)

28,6

(0,9)

21,4

(0,8)

17,8

(0,7)

14,6

(0,6)

47,3

(1,1)

26,1

(0,9)

Mittelamerika (Mexiko)

11,9

(0,7)

10,0

(0,7)

5,0

(0,5)

8,0

(0,6)

25,3

(1,1)

12,5

(0,9)

Afrika (Nigeria)

5,8

(0,7)

3,2

(0,3)

0,2

(0,1)

4,2

(0,5)

11,8

(0,7)

4,9

(0,5)

8,4 5,9

(0,9) (1,2)

8,5 4,6

(0,7) (0,6)

3,2 4,1

(0,7) (1,2)

4,9 7,5

(0,9) (1,2)

19,8 17,4

(1,7) (2,4)

8,3 9,3

(1,1) (1,6)

3,9

(1,0)

3,7

(0,8)

0,9

(0,3)

1,9

(0,4)

8,6

(1,3)

4,5

(0,9)

Europa – Deutschland – Frankreich – Italien – Spanien

Asien – Japan – Peking (China) – Shanghai (China)

67 3.6 · Einige spezielle Erkrankungen und Risikofaktoren

National Comorbity Survey (NCS). Die Gesamtprävalenz betrug in der ECA-Studie 36,1% und in der NCS-Studie 48,0%. Diese sehr unterschiedlichen Ergebnisse hochsophistizierter psychiatrischer epidemiologischer Studien im selben Land führten zu Konfusionen und Diskussionen (Regier et al. 1998). Die Unterschiede ließen sich nicht wesentlich durch unterschiedliche Stichproben (keine Personen ≥55 Jahre in der NCS) oder durch die Veränderung des diagnostischen Manuals (DSM-III in der ECA-Studie und DSM-II-R in der NCS) erklären. Ein wesentlicher Unterschied schien nach genaueren Recherchen bedingt zu sein durch unterschiedliche ScreeningFragen (»Stem-Questions«), was Regier et al. (1998) im Detail ausführten. Dieser Befund ist sehr bemerkenswert, denn die verwendeten Interviews in beiden Studien waren sich ansonsten sehr ähnlich (DIS in der ECA, UM-CIDI in der NCS) und wurden beide von derselben Person (Lee Robins) federführend entwickelt, wobei das CIDI eine Weiterentwicklung der DIS darstellt. Es wurde gefolgert, dass Interviews zur Fallidentifikation noch zu einem sehr viel höheren Grad standardisiert werden müssten. Es stellt sich aber die Frage, ob die für die US-Bürger standardisierten Fragen in dieser hochstandardisierten Form in anderen Kontinenten und Kulturen wirklich das erfassen können, was sie erfassen sollen. ⊡ Tab. 3.3 zeigt auch, wie bereits in dem kurzen Zeitraum, in dem die aufgeführten Studien durchgeführt wurden, die diagnostischen Kriterien Änderungen erfuhren. Die simple Frage, ob eine bestimmte Erkrankung (z. B. Depression) in den letzten Jahrhunderten zu- oder abgenommen hat, ist fast unmöglich zu beantworten, da die diagnostischen Konzepte und Kriterien im Jahr 1930 andere waren als 1950, 1980 oder 1998. Die an sich sinnvolle Entwicklung der Fortentwicklung diagnostischer Konzepte erschwert den Vergleich von Studien über die Zeit und den Vergleich bei derselben Stichprobe in LangzeitLongitudinalstudien, wie der Upper Bavarian Study UBS (Fichter 2006). Bei der Interpretation der Ergebnisse epidemiologischer Untersuchungen (z. B. Prävalenz, Inzidenz) ist somit immer der Kontext aufs Engste zu berücksichtigen. Das wird komplex und schwierig, wenn wir Fachleute dieses medizinischen Laien, wie z. B. Politikern, für Planungen im Gesundheitswesen und gesamtökonomische Planungen vermitteln wollen. Auch hier gilt es, den wesentlichen Kontext mitzuvermitteln, da die Zahlen für sich nur begrenzt etwas aussagen.

3.6

Einige spezielle Erkrankungen und Risikofaktoren

3.6.1

Schizophrenie

Rössler et al. (2005) haben den Kenntnisstand zusammengefasst. Bei einer engen Definition von Schizophrenie

(im Wesentlichen Symptome ersten Ranges bei Ersterkrankung) ist die Neuerkrankungsrate (Inzidenz) recht gleich über die Welt verteilt (0,7–4,2 Fälle pro 10.000 Population/Jahr). Die Lifetime-Prävalenzrate liegt zwischen 0,5 und 1,6%. Das kumulative Lebenszeitrisiko für Männer und Frauen an Schizophrenie zu erkranken, ist nahezu gleich, wenngleich Männer häufiger in jüngerem Alter unter 40 Jahren erkranken. Obschon nicht häufig, ist Schizophrenie doch eine Erkrankung mit erheblichen Auswirkungen für die Betroffenen, die Angehörigen und die Gesellschaft. Die Lebenserwartung ist um ca. 10 Jahre reduziert, häufige Folge ist Suizid. Nach dem WHO World Health Report (2001) ist Schizophrenie aufgeführt als die achthäufigste Ursache für »Disability Adjusted Life Years (DALYs)« für die Altersgruppe 15–44 Jahre.

3.6.2

Depressive Erkrankungen

Paykel et al. (2005) fassten die Literatur zur majoren Depression für Europa zusammen und danach liegt die 1-Jahres-Prävalenz für majore Depression bei ca. 5%. Es zeigen sich erhöhte Prävalenzraten für Frauen, Menschen im mittleren Alter, weniger privilegierte Schichten und für jene mit »social adversity«. Es besteht eine hohe Komorbiditätsrate mit anderen psychischen und insbesondere auch körperlichen Erkrankungen. Depression ist eine wesentliche Ursache für Beeinträchtigung (Disability). Es bedarf z. B. in »Public Health Programs« besonderer Anstrengungen, um Häufigkeitsrate und Folgen depressiver Störungen zu senken. Weltweit schwanken die Prävalenzraten für affektive (mood) Störungen erheblich zwischen 3,2% in Nigeria und 23,2% in Frankreich (World Mental Health Survey Consortium: Demytthenaere et al. 2004; Andrade et al. 2003). Neue Ergebnisse zu bipolaren Störungen in Europa wurden von Pini et al. (2005) zusammengefasst: Die 12Monats-Prävalenz liegt bei 0,5–1,1% und ist (anders als andere depressive Störungen) bei beiden Geschlechtern etwa gleich häufig zu finden. Der Krankheitsbeginn liegt in der Regel in der Spätadoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter. Komorbidität mit anderen psychischen und körperlichen Erkrankungen ist relativ häufig. Die meisten Studien basieren auf einer mindestens so hohen Einschränkung (Disability) und Behinderung (Impairment) durch eine bipolare Störung im Vergleich zu majorer Depression und Schizophrenie. Depression im hohen Alter ist relativ weit verbreitet. Nach der Münchener Hochbetagten-Studie (Meller et al. 1996) haben 18,7% der über 85-Jährigen eine depressive Störung (17,6% der Frauen, 22,2% der Männer).

3

68

Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie

3.6.3

3

Demenzielle Erkrankungen

Erst in den letzten 40 Jahren wurde mit Zunahme der Lebenserwartung und damit verbundenen demenziellen Erkrankungen mit großer Intensität gerontopsychiatrische epidemiologische Forschung betrieben. Abhängig von der Stichprobe, den eingesetzten Instrumenten und der Falldefinition schwanken Prävalenzraten für demenzielle Erkrankungen zwischen 6,8% (Schoenberg et al. 1985) und 47,2% (Evans et al. 1989). Gerade die Anzahl leichterer demenzieller Störungen dürfte für die Schwankungsbreite verantwortlich sein. Nach Häfner u. Löffler (1991) zeigt die Prävalenz von mittleren bis schweren Fällen einen Anstieg von 2–3% bei den 65- bis 70-Jährigen, über 20% bei den 80- bis 90-Jährigen und über 30% bei über 90-Jährigen. Fratiglioni et al. (2000) zeigten auf der Basis von 8 Studien der EURODEM-Gruppe eine exponentielle Zunahme der Inzidenz und Demenz vom Alzheimertyp ab dem 65. Lebensjahr auf. In der Münchener HochbetagtenStudie litten 25,4% der befragten über 85-jährigen Probanden nach der GMSA-AGECAT-Computerdiagnose an einer Demenz (25,7% der Frauen, 24,4% der Männer). Bei 64,8% der hochbetagten dementen Probanden wurde eine leichte, bei 26,1% eine mittlere und bei 9,1% eine schwere Demenz diagnostiziert (Fichter et al. 1995; 1996 b). In den meisten europäischen und nordamerikanischen epidemiologischen Studien wird die AlzheimerDemenz als häufigste Form der Demenz angegeben.

3.6.4

Angststörungen

Die generalisierte Angststörung findet sich nach einer Übersichtsarbeit von Lieb et al. (2005) bei etwa 2% der erwachsenen Bevölkerung (12-Monats-Prävalenz). Bis zu 10% der Patienten in der Allgemeinmedizin weisen eine generalisierte Angststörung auf und werden dort aber als solche oft nicht erkannt. Wenig ist bekannt über den natürlichen Verlauf in unselektierten Stichproben, Risikofaktoren und Kosten für Betroffene und Gesellschaft. Nach den Daten einer großen amerikanischen Untersuchung (Grant et al. 2005) fand sich eine 12-Monats-Prävalenz von 2,1% für generalisierte Angststörung mit höheren Prävalenzwerten für Frauen, Menschen mittleren Alters, verwitweten, getrenntlebenden und geschiedenen Menschen und Menschen mit niedrigem Einkommen. Bei Amerikanern asiatischen, spanischen oder schwarzafrikanischen Ursprungs fanden sich niedrigere Prävalenzraten. Soziale Phobie findet sich in einer Übersichtsarbeit von Fehm et al. (2005) bei ca. 2% der Bevölkerung (12Monats-Prävalenz) mit höheren Raten für jüngere Menschen sowie Frauen im Vergleich zu Männern. Goodwin

et al. (2005) gaben eine Übersicht über 13 neuere europäische Studien zu Panikstörung und Agoraphobie. Die 12Monats-Prävalenz für Panikstörung war 1,8% (Range 0,7–2,2%) und für Agoraphobie ohne Panikstörung betrug sie 1,3% (Range 0,7–2,0%). Diese Erkrankungen waren gehäuft bei Frauen und der Erkrankungsbeginn lag in der Adoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter. Panikstörungen werden in der allgemeinärztlichen Versorgung häufig nicht als solche erkannt und behandelt.

3.6.5

Substanzmissbrauch/ -abhängigkeit

Eine Übersicht zur Alkoholabhängigkeit auf der Basis der DSM-III-R, DSM-IV oder ICD-10-Kriterien findet sich bei Rehm et al. (2005 a): Der gewichtetere, geschätzte Median für die 12-Monats-Prävalenz für Alkoholabhängigkeit lag für Männer (6,1%) deutlich höher als für Frauen (1,1%). Keine klaren Aussagen waren möglich hinsichtlich des Erkrankungsrisikos für verschiedene Altersgruppen sowie Unterschieden zwischen Stadt und Land. Diese Daten lassen Alkoholmissbrauch und seine Folgen noch unberücksichtigt. In einer anderen Übersichtsarbeit folgerten Rehm et al. (2005 b), basierend auf Bevölkerungsstudien und direkten Schätzungen, dass Missbrauch oder Abhängigkeit von Opioiden, Kokain und Amphetaminen in Bevölkerungsstichproben im Vergleich zu indirekten Methoden deutlich unterschätzt wird. In Europa lag nach indirekten Schätzungen die Häufigkeit des genannten Drogenmissbrauchs/-abhängigkeit bei 0,3–0,9%. Die Häufigkeit ist höher bei Männern im Vergleich zu Frauen im jüngeren Alter (18–25 Jahre).

Fazit Da die Verbesserungen der psychiatrischen Diagnostik und diagnostischen Klassifikation in den letzten 20 Jahren erhebliche Fortschritte machten, haben sie auch die psychiatrische Epidemiologie verändert und zu präziseren Ergebnissen geführt. Nachdem große Feldstudien das deskriptive Wissen über die Verteilung spezifischer psychischer Störungen in der Allgemeinbevölkerung belegt haben, ergeben sich für die Zukunft darüber hinausgehende Fragestellungen. Die Identifizierung von Risikofaktoren, daraus sich ergebende präventive Bemühungen sowie die Bedarfsanalyse notwendiger zu planender Gesundheitsdienste, machen die psychiatrische Epidemiologie zu einem wesentlichen Bestandteil der psychiatrischen Forschung für die Zukunft.

69 Literatur

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3

70

3

Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie

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4 4 Genetik psychischer Störungen W. Maier, A. Zobel, S. Schwab

4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.1.7 4.1.8 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3

Konzepte – 73 Warum Genetik und genetische Forschung in der Psychiatrie? – 73 Phänotypen – 73 Gene und genetische Variabilität – 74 Monogene und komplexe Störungen – 74 Genetische Heterogenität, Moderatorgene – 75 Intermediäre Phänotypen bzw. Endophänotypen – 75 Gen-Umgebungs-Interaktion und genetisch vermittelte Vulnerabilität – 76 Epigenetik – 77 Genetik spezifischer psychischer Störungen – 77 Untersuchungen bei Schizophrenie – 77 Untersuchungen bei affektiven Störungen – 83 Fortschritte in der molekulargenetischen Analyse von Schizophrenie und affektiven Störungen – 87

4.2.4 4.2.5 4.2.6

Untersuchungen bei Angsterkrankungen Untersuchungen bei Alkoholismus und Drogenabhängigkeit – 90 Untersuchungen zu Demenzen – 93

– 87

4.3

Diagnostische Spezifität und Unspezifität genetischer Einflussfaktoren – 95

4.4

Perspektiven

4.5

Zusammenfassung

4.6

Anhang – Methoden genetischer Forschung in der Psychiatrie – 98 Analyse der familiären Ähnlichkeit – 98 Suche nach molekular-genetischen Einflussfaktoren (DNA-Sequenzvarianten) – 100

4.6.1 4.6.2

Literatur

– 96 – 98

– 103

> > Die genetische Forschung hat in der Psychiatrie seit über 100 Jahren eine sehr wechselhafte Geschichte. So wurde über viele Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in Psychologie und Psychiatrie eine heftige, teilweise verbitterte Diskussion über »Gen oder Umwelt?« (»nature versus nurture«) bei psychischen Erkrankungen und Eigenschaften geführt: Sind Verhaltensdispositionen, psychische Anlagen und Eigenschaften, psychische Beschwerden und Störungen auf genetisch-konstitutionelle Faktoren oder psychosoziale Belastungen und andere Umwelteinflüsse zurückführbar? Diese Frage hat sich als nicht entscheidbar herausgestellt, solange nur die Analyse von familiären Ähnlichkeitsmustern von äußerlichen Merkmalen (Phänotypen) möglich war. Heute ist allgemein anerkannt, dass die Wahrheit in der Mitte liegt. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist unstreitig: Verhaltensdispositionen und insbesondere psychische Störungen und zugrunde liegende Persönlichkeitseigenschaften und Reaktionsbereitschaften werden sowohl von genetischen Anlagen als auch von Umweltbedingungen und Erfahrungen beeinflusst; offene Forschungsfragen sind die Mechanismen der Interaktion beider Ebenen. Entscheidend haben zu den erreichten Erkenntnissen die technischen Möglichkeiten zur direkten Untersuchung der genetischen Information auf DNA-Ebene beigetragen. Eine Serie überraschender, nicht antizipierbarer Ergebnisse sind in Bezug auf psychische Störungen dabei erarbeiten worden ( Abschn. 4.2.1–4.2.6). Das gesamte Feld der psychiatrischen Genetik hat sich folgerichtig von der Analyse familiärer Ähnlichkeitsmuster in Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien von Merkmalen (inkl. Störungen) auf die molekulargenetische Analyse psychischer Störungen und Eigenschaften verschoben. Merkmalsunterschiede (Phänotypen; z. B. Auftreten einer Störung oder Ausprägungsunterschiede in Messweiten) werden dabei auf unter-

schiedliche Ausprägungen in der DNA-Sequenz (Genotypen) zurückgeführt oder zumindest damit in Relation gesetzt. Dieser rasch vollzogene Methodenwandel kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Analyse familiärer Ähnlichkeitsmuster eine entscheidende Voraussetzung für die Anwendung molekulargenetischer Methoden in der Ursachenanalyse psychischer Störungen war und auch weiterhin bleibt (z. B. in Bezug auf die Definition und Priorisierung molekulargenetisch zu untersuchender Phänotypen). Der vollzogene methodische »Paradigmenwechsel« hat gleichwohl das Interesse an dem klinischen Forschungsfeld der psychiatrischen Genetik massiv gesteigert, da über diesen Weg die molekularen Bausteine seelischer und geistiger Prozesse und Abweichungen sichtbar werden. Die molekulargenetische Analyse ist zudem mittlerweile zu einer wesentlichen Erkenntnisquelle der Pathophysiologie und Neurobiologie psychischer Störungen und auch der Epidemiologie (z. B. in Form der molekularen und genetischen Epidemiologie und Gen-Umwelt-Interaktion) geworden.

73 4.1 · Konzepte

4.1

Konzepte

4.1.1

Warum Genetik und genetische Forschung in der Psychiatrie?

Ausgangspunkt der genetischen Analyse von äußerlichen Merkmalen ist der Nachweis familiärer Ähnlichkeit in Familienstudien. Intrafamiliäre Ähnlichkeit kann auf sozialen und psychologischen Lebensbedingungen beruhen, die Familienangehörige teilen, oder in der genetisch begründeten biologischen Ähnlichkeit. Liegt Familiarität (d. h. familiäre Ähnlichkeit) vor, ist zunächst abzuklären, ob genetische Faktoren die Ähnlichkeit vermitteln. Diese Aufgabe kann auf phänotypischer Ebene erfolgen, ohne molekulargenetische Mittel. Hierfür sind 2 Studienformen geeignet: 1. Zwillingsstudien (Nachweis genetischer Einflüsse durch systematische Variation genetischer Ähnlichkeit) und 2. Adoptionsstudien (Nachweis genetischer Einflüsse über systematische Variation von Sozialisationsbedingungen). Zwillingsstudien. Sie erlauben bei varianzanalytischen Modellannahmen die Abschätzung des relativen Anteils genetischer Einflüsse (Heritabilität) an der Gesamtmasse ätiologischer Einflussfaktoren. Eine Vielzahl solcher Studien hat in den vergangenen Jahrzehnten sicher belegen können, dass alle häufigen psychischen Störungen genetisch beeinflusst sind, wobei stets auch nichtgenetische Faktoren ätiologisch relevant sind. Analoges gilt für alle psychischen Eigenschaften (z. B. Persönlichkeitsdimensionen) und für das Ausmaß der psychischen Sensitivität in Bezug auf belastende oder traumatische Ereignisse.

relativen Risiko als jeder andere nichtfamiliäre Risikofaktor verbunden (z. B. Schizophrenie oder bipolare Erkrankung). Diese globalen Kennzeichen teilen psychische Störungen mit allen häufigen Störungen in der Medizin (wie beispielsweise Hypertonie, koronare Herzerkrankung, Diabetes mellitus, Morbus Crohn, Allergien). Polymorphismen. Genetische Einflüsse sind auf Polymor-

phismen (d. h. auf Positionen in der DNA, die interindividuell unterschiedlich ausgeprägt sein können) in der DNA-Sequenz spezifischer Gene zurückzuführen. Die Entdeckung dieser störungsrelevanten Gene und ihrer pathogenen Varianten ist durch molekulargenetische Methoden zunehmend möglich geworden. Das Feld der »psychiatrischen Genetik« ist mittlerweile durch molekulargenetische Methoden geprägt. Angriffspunkt für Therapeutika. Die Entdeckung von

krankheitsrelevanten Genen und die nachfolgende Aufdeckung zugrunde liegender krankheitsfördernder molekularer Mechanismen leisten nicht nur substanzielle Beiträge zur bisher weitgehend unbekannten Ätiologie und Pathogenese psychischer Störungen. Die dabei aufgedeckten krankheitsrelevanten Strukturen und Funktionskreise stellen vor allem Angriffspunkte für neu zu entwickelnde Therapeutika dar; diese versprechen effizientere Therapiestrategien, da sie an kausalen Mechanismen und nicht nur am symptomatischen Endprodukt ansetzen. Die Notwendigkeit der Aufdeckung solcher kausalorientierter möglicher Wirkmechanismen und ihre Umsetzung in die Medikamentenentwicklung ist angesichts der relativ hohen Chronifizierungsrate bei allen psychischen Störungen (trotz Behandlung) und der jeweils nur begrenzten therapeutischen Wirksamkeit derzeit verfügbarer Behandlungsstrategien offenkundig.

Komorbidität. Genetische krankheitsbezogene Forschung

kann bei der Aufdeckung der Ursachen für wichtige klinische Phänome gelten. Beispielhaft soll die Komorbidität, das überzufällig häufige Auftreten mehrerer häufiger Erkrankungen beim selben Individuum, betrachtet werden. Diese Konstellation ist bei allen psychischen Störungen untereinander gegeben. Eine Ursache für Komorbidität können genetische Ursachenfaktoren sein, die beiden komorbiden Störungen gemeinsam sind. Diese Konstellation wird auch tatsächlich oft angetroffen ( Abschn. 4.3). Eine Konsequenz gemeinsamer genetischer Ursachenfaktoren wäre z. B. das oft beobachtete, überzufällig häufige gemeinsame Auftreten beider Störungen in derselben biologen Familie (Kosegregation). Relatives Risiko. Bei psychischen Störungen stellt dieselbe Erkrankung bei einem monozygoten Zwillingspartner den stärksten Risikofaktor dar (Stärke definiert über relatives Risiko; Shih et al. 2004); sehr häufig ist auch bereits die Erkrankung eines Geschwisters mit einem höheren

4.1.2

Phänotypen

Genetisch beeinflusste bzw. determinierte, äußerlich beobachtete oder feststellbare Merkmale heißen Phänotypen; diese können vorübergehender (»state«) oder überdauernder (»trait«) qualitativer oder quantitativer Natur sein. Genetisch beeinflusste Phänotypen häufen sich in biologisch definierten Familien, die stets eine überzufällige Ähnlichkeit von DNA-Sequenz-Varianten zeigen. Eine zentrale Fragestellung der medizinischen Genetik ist der assoziative und der kausale (direkte) Zusammenhang zwischen DNA-Sequenzvarianten bzw. Genotypen und Phänotypen. Qualitative Phänotypen werden dabei in Fall-Kontroll-Studien untersucht, für quantitative Phänotypen sind zwei Strategien möglich:  durch Vergleich der Genotyp-Verteilung zwischen Extremgruppen in der Phänotypausprägung (definiert über obere/untere Quantile des Phänotyps) oder

4

74

Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen

 Vergleich der Ausprägungen zwischen verschiedenen Genotypen.

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Die am häufigsten verwendeten Phänotypen in der medizinischen Genetik sind Krankheitsdiagnosen, (qualitative Phänotypen) bzw. Risikofaktoren wie z. B. Persönlichkeitsfaktoren (quantitative Phänotypen). In der Psychiatrie sind diese Phänotypen in der Regel psychopathologisch oder psychologisch definiert. Phänotypen, die nicht unmittelbar beobachtbar sind, sondern zugrunde liegende, nur experimentell oder indirekt abbildbare Prozesse abbilden, heißen »intermediäre Phänotypen«. Diese sind in der Regel quantitativer Natur ( Abschn. 4.1.6). Verschiedene familiäre, genetisch beeinflusste Phänotypen können gemeinsame genetische Wurzeln haben: entweder vollständige (Phänotypen) oder teilweise Übereinstimmung (Überlappung) in den genetisch einflussreichen DNA-Sequenz-Varianten. In beiden Fällen kommt es zu einer (teilweisen) gemeinsamen familiären Übertragung (Kosegregation).

4.1.3

Gene und genetische Variabilität

Mendel postulierte bereits 1865 das hypothetische Konzept der Übertragung phänotypischer Eigenschaften zwischen Generationen über materiale Strukturen, die wir heute »Gene« nennen. Craig und Watson haben vor ca. 50 Jahren die in den Zellkernen lokalisierte DNA (auch Nukleotide genannt) als reales Substrat genetischer Information entdeckt. Die Gesamtheit der DNA-Sequenzen heißt heute Genom. Das menschliche Genom umfasst ca. 3,2×109 Basenpaare auf autosomalen 22 Chromosomen und 2 Geschlechtschromosomen. Der Chromosomensatz ist paarig aufgebaut: von jedem autosomalen Gen liegen 2 Kopien, und zusätzlich 2 Geschlechtschromosomen in jedem Zellkern vor. Das Genom ist in ca. 30.000 Genen organisiert. Gene werden als Proteine exprimiert. Gene nehmen aber nur ca. 3% des Genoms ein. Die Funktion des verbleibenden Rests (97%) ist weitgehend unbekannt; jedenfalls enthält er sog. regulatorische Sequenzen, die die Genexpression steuern (⊡ Abb. 4.1). Gene untergliedern sich in exonische Bereiche (Exone), intronische und regulatorische Bereiche (u. a. Promotorbereich). Nur Exone werden in Proteine exprimiert; es resultieren durch Mechanismen der translatio-

⊡ Abb. 4.1. Prototypischer Aufbau eines Gens

nalen Modifikation mehr als 100.000 Proteine. Die Genexpression erfolgt in 2 Stufen: die Überschreibung (Transkription) der DNA-Sequenz in die MessengerRNA; diese wird dann in Proteine transformiert (Translation) oder bleiben »unübersetzt«. Verschiedene modifizierende Prozesse (z. B. Splicing) ermöglichen, dass die Anzahl der resultierenden Proteine um ein Mehrfaches über der Anzahl der Gene liegt. Im sog. »Humangenom«-Projekt wurde die menschliche DNA-Sequenz vollständig »entziffert«. Die Erforschung der genetischen Ursprünge häufiger Erkrankungen hat damit einen enormen Aufschwung erhalten. Die Basenpaarsequenz (DNA-Sequenz) ist zwischen zwei Menschen nur dann gleich, wenn beide ein monozygotes Zwillingspaar darstellen; die DNA-Sequenz-Variabilität ist also enorm und prägt die menschliche Individualität: Variabilität bedeutet dabei das Vorliegen verschiedener Ausprägungen (Allele) in der DNA-Sequenz. Liegen 2 oder mehr Allele mit einer jeweiligen Häufigkeit 1% vor, spricht man von einem Polymorphismus. Die Kartierung von DNA-Sequenzen einer Person wird mit Genotypisierung bezeichnet; hierfür werden immer effizientere molekulargenetische Techniken entwickelt (z. B. Hochdurchsatzverfahren auf Chip-Basis). Mit dem Abschluss des Großprojektes »Hap-Map« liegt heute eine umfassende Kenntnis über die Variabilität des menschlichen Genoms vor. Insgesamt 99,9% des Genoms sind zwischen den Menschen identisch und nur 0,1% sind zwischen Menschen variabel, was immerhin 3×106 variablen Positionen entspricht. Auf diese Orte im Genom lassen sich alle genetisch begründeten Unterschiede zwischen Menschen zurückführen – dazu gehören auch Anfälligkeiten (Vulnerabilität) für Krankheiten. Nur diese 0,1% der Orte auf dem Genom können auf genetischem Weg erklären, warum manche Menschen erkranken und andere gesund bleiben. Struktur und Funktion von Genen können hier nicht näher ausgeführt werden, hierfür sei auf Lehrbücher der Humangenetik verwiesen.

4.1.4

Monogene und komplexe Störungen

Die dominanten und rezessiven Erbgänge werden heute als »einfach« benannt. Dabei muss aber nicht jeder Anlageträger den Phänotyp in vollem Umfang zeigen: die »Penetranz« kann auch unvollständig sein. Genetisch beeinflusste oder verursachte Erkrankungen, denen kein einfacher Erbgang zugrunde liegt (in Form einer rezessiven oder dominanten Übertragung mit voll- oder unvollständiger Penetranz), werden heute »komplex« genannt. »Einfache« Erbgänge werden durch Mutationen in einem Krankheitsgen verursacht; folglich spricht man von kausalen Genen. Komplexen Störungen liegen dagegen in der

75 4.1 · Konzepte

Regel mehrere Gene, meist zusammen mit nichtgenetischen Ursachenfaktoren zugrunde. In genetischer Hinsicht handelt es sich also um so genannte poly- oder oligogene Störungen. Dabei sind stets nicht nur mehrere beeinflussende Gene, sondern auch zahlreiche begünstigende Umweltfaktoren anzunehmen. Dieses Krankheitsmodell heißt auch »multifaktoriell«. Die nicht-genetischen Einflussfaktoren werden meist unter dem globalen Begriff »Umgebungsfaktoren« zusammengefasst. Diese Konstellation von »komplexer« Störung ist bei allen häufigen Erkrankungen in der Medizin gegeben: einerseits zeigen Zwillingsstudien genetische Einflüsse, andererseits fehlt (von seltenen Unterformen abgesehen) die Evidenz für einen einfachen Erbgang. Eine einzelne krankheitsassoziierte Variante in einem Gen ist bei »komplexen« Störungen nicht hinreichend, um die Störung auszulösen; andererseits können sich die zahlreichen Einfluss- bzw. Ursachenfaktoren auch gegenseitig in ihrer krankheitsinduzierenden Wirkung vertreten, sodass auch Mutationen in einem spezifischen Gen für die Krankheitsauslösung nicht notwendig sind. Die zu komplexen Störungen beitragenden Gene können über ihre pathogenen Varianten die Krankheit nicht verursachen, sondern lediglich das Erkrankungsrisiko beeinflussen. Solche risikomodulierenden Gene werden (in Abgrenzung zu kausalen Genen) Suszeptibilitäts- oder Dispositionsgene genannt.

4.1.5

Genetische Heterogenität, Moderatorgene

»Genetische Heterogenität« kennzeichnet den Einfluss verschiedener genetischer Varianten auf dieselbe klinisch definierte Erkrankung. Der Begriff ist bei monogenen Erkrankungen entwickelt worden. Bei monogenen Störungen verursachen alternativ verschiedene kausale Gene über ihre Mutanten die Störung. Beispielsweise können früh beginnende Varianten der Alzheimer-Erkrankung – im Gegensatz zur spät beginnenden, häufigen Form – durch ein einzelnes Gen verursacht sein (d. h. sind monogen verursacht). Die früh beginnende ( Das vorliegende Kapitel fasst Beiträge aus der Bildgebungsforschung zusammen, die mittlerweile zu einem konsistenten Wissen gereift sind. Hierbei werden Aspekte der strukturellen, aber auch funktionellen Bildgebung berücksichtigt, um dem Leser zu ermöglichen, die Fülle an Literatur, die in den letzten Jahren entstanden ist, bzgl. ihrer Relevanz für die Ätiopathogeneseforschung psychiatrischer Erkrankungen zu bewerten. Selbstverständlich ist Wissenschaft im Fluss, trotzdem wurde versucht, darauf hinzuweisen, welche Befunde gut repliziert werden können und welche Befunde im Fluss sind oder möglicherweise im Folgenden nicht mehr repliziert werden können.

130

Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung

6.1

Strukturelle Bildgebung P. Falkai

6.1.1

6

Strukturbildgebung in der Psychiatrie: Von der Pneumenzophalografie zur hochauflösenden Magnetresonanztomografie

Der Wunsch des Menschen, psychische Vorgänge am menschlichen Gehirn direkt zu untersuchen, ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheitsgeschichte selbst. Erste systematische Untersuchungen der Hirnstruktur wurden durch die Pneumenzephalografie möglich (Jacobi u. Winkler 1927). Aber erst Huber und Mitarbeiter (Huber et al. 1961) führten mit Hilfe dieser Methode systematische Untersuchungen durch. Mit dieser sehr aufwendigen und für den Patienten sehr belastenden Untersuchung gelang es ihnen, nicht nur eine Erweiterung der Seitenventrikel − insbesondere des 3. Ventrikels − nachzuweisen, sondern einen Zusammenhang zwischen klinischem Verlauf und neuroradiologischen Befunden herzustellen. Mit der Einführung der Computertomografie (CT) in die Psychiatrie (Johnstone et al. 1976) wurde ein neues Kapitel der nichtinvasiven strukturellen Bildgebung bei psychiatrischen Krankheitsbildern eröffnet. Ihre Arbeitsgruppe konnte ebenfalls eine Erweiterung der Seitenventrikel bei Patienten mit einer chronischen Schizophrenie bestätigen (Johnstone et al. 1976). Erste Metaanalysen mit dieser Methodik (Raz u. Raz 1990) bestätigten eine für affektive und schizophrene Psychosen im gleichen Maße vorhandene Erweiterung der temporalen und peripheren Liquorräume. Mit der Einführung der strukturellen Kernspintomografie eröffnete sich die Möglichkeit, subkortikale Strukturen und hier insbesondere tempolimbische Areale zu untersuchen. Sie berechtigte die Hoffnung, das morphologische Substrat psychischer Erkrankungen besser lokalisieren zu können (z. B. Andreasen et al. 1986). Die parallel entwickelten Funktionsverfahren wie XenonCT und Positronenemissionstomografie (PET) bestätigten Dysfunktionen in umschriebenen Regionen wie z. B. dem Frontallappen bei schizophrenen Psychosen, und trugen entscheidend zur Aufklärung der Wirkungsweise von Neuroleptika auf das dopaminerge System bei (z. B. Farde et al. 1992). Die Einführung der funktionellen Kernspintomografie (fMRT) schließlich gestattete eine neue Sicht auf die funktionellen Zusammenhänge bei gesunden Probanden, aber auch Menschen mit psychischen Erkrankungen (zur Übersicht s. Schneider u. Fink 2007). Dennoch hatte auch dieses Verfahren seine methodischen Grenzen, z. B. durch die eingeschränkte Darstellbarkeit psychischer Phänomene auf der Grundlage des Blockdesigns. Dies ist zwar für umschriebene Aufgaben kognitiver oder motorischer Art unproblematisch, für chro-

nische psychische Phänomene, die sich nicht auf Abruf aktivieren lassen, jedoch schwierig. Mit der Einführung des Diffusions Tensor Imagings (DTI) gelang es, Faserverbindungen zu untersuchen und festzustellen, ob die Qualität oder Verteilung von Fasersystemen bei psychischen Erkrankungen gestört ist. Die Einführung der Magnetresonanzspektroskopie (MRS) schließlich eröffnete die Möglichkeit, die zellulären Bestandteile einer gegebenen Hirnvolumeneinheit anhand von biochemischen Markern zu charakterisieren. Nach dieser Einführung in zentrale Befunde mit Hilfe des strukturellen MRTs (s-MRT), des fMRT und weitere Funktionsverfahren wie des PET sollen im Folgenden sowohl die Evidenz für die wesentlichen Befunde dargestellt und parallel die Frage erörtert werden, welche Bedeutung sie für das Verständnis der Ätiopathogenese psychischer Erkrankungen haben.

Schizophrenie Durch die mehr als 20-jährige Anwendung der strukturellen Kernspintomografie (s-MRT) in der psychiatrischen Forschung als auch Routinediagnostik verfügen wir besonders auf dem Gebiet der Schizophrenie über eine komfortable Datenlage. Zunächst sollen hier die Befunde anhand der klassischen »Region of interest«-basierten Morphometrie (ROT) dargestellt werden, um sie anschließend mit den hypothesenfreien Messmethoden [z. B. der voxelbasierten Morphometrie (VBM)] abzugleichen.

Umfassende Metaanalyse bei längerem Krankheitsverlauf Eine umfassende Metaanalyse (Wright et al. 2000) führte 58 Studien mit 1588 an einer Schizophrenie leidenden Patienten zusammen. Sie brachte eine 2%ige Reduktion des Gesamthirnvolumens bei einer gleichzeitigen 26%igen Erweiterung des Volumens der Seitenventrikel zutage. Betrachtet man regionsspezifische Befunde, so fand sich eine 6%ige bilaterale Volumenreduktion des Mandelkerns, eine 6%ige Reduktion des linken, eine 5%ige des rechten Hippokampus-Mandelkern-Komplexes sowie eine 7%ige bzw. 5%ige Reduktion des Volumens des Gyrus parahippocampalis. Die hier genannte Metaanalyse berücksichtigte insbesondere Patienten mit einem längeren Krankheitsverlauf.

Metaanalysen bei ersterkrankten Patienten In einer Metaanalyse an ersterkrankten Patienten mit einer Schizophrenie zeigte sich auf der Grundlage von 52 Querschnitts- und 16 Längsschnittsstudien bei insgesamt 465 eingeschlossenen Personen eine Reduktion des Gesamthirn- und des Hippokampusvolumens bei einer Erweiterung der Seitenventrikel (Steen et al. 2006). In einer weiteren Metaanalyse, ebenfalls an Ersterkrankten, die sich aber auf 6 Hirnregionen beschränkte, zeigte sich eine Erweiterung der Seiten- bzw. 3. Ventrikel sowie eine Vo-

131 6.1 · Strukturelle Bildgebung

lumenreduktion des Gesamthirns und des Hippokampus bei unveränderten Volumina der Temporallappen, des Mandelkerns sowie des gesamten intrakranialen Volumens (Vita et al. 2006).

Hippokampusvolumen reduziert Die sowohl bei Erst- als auch Mehrfacherkrankten somit gut replizierte bilaterale Volumenreduktion des Hippokampus wird durch eine gezielte Metaanalyse des Hippokampusvolumens selbst unterstützt (Nelson et al. 1998). Hier fand sich nämlich bei insgesamt 426 Patienten eine bilaterale 4%ige Volumenreduktion des Hippokampus, die durch den Einschluss des Mandelkerns in die Metaanalyse noch verstärkt wurde. Zieht man den hypothesenfreien Untersuchungsansatz der voxelbasierten Morphometrie (VBM) in Betracht, so zeigen sich in einer Metaanalyse von 15 Studien bei 390 eingeschlossenen Patienten Defizite der grauen und weißen Substanz in insgesamt 50 verschiedenen Regionen. Als konsistenteste Befunde erwiesen sich ein relatives Volumendefizit des linken Gyrus temporalis superior sowie des linken Temporallappens (Honea et al. 2005). Im Vergleich der regional basierten mit der voxelbasierten Morphometrie stellt sich hinsichtlich letzterer die Frage, wieso nicht der metaanalytisch gut gesicherte Befund der Ventrikelerweiterungen bzw. bilateralen Hippokampusreduktion ebenfalls nachgewiesen werden kann. Tatsächlich zeigt die voxelbasierte Morphometrie zwar am ehesten Veränderungen im Bereich des Kortex an, vermag dies allerdings nur mit einer geringeren Sensitivität auch im Bereich subkortikaler Strukturen. Für diese sind dann eher deformationsbasierte Verfahren geeignet (Gaser et al. 2001). Da die voxelbasierten Verfahren im Sinne einer Suchstrategie zu werten sind, stellt sich die Frage, inwiefern solche Befunde auch mit regionenspezifischer Morphometrie nachvollzogen werden können.

Hypothese zur gestörten Lateralisierung bekräftigen würde (Shapleske et al. 1999).

Hypothesen zur Ätiopathogenese Hinsichtlich eben dieser strukturellen Veränderungen rückt zurzeit kausal die Kombination aus 2 Prozessen − nämlich zum einen eine gestörte Hirnentwicklung, zum anderen mit Beginn der Prodromalphase der Schizophrenie ein atypisch degenerativer Prozess − als ätiopathogenetische Grundlage in den Fokus der Aufmerksamkeit: Gestörte Hirnentwicklung. Der erste Prozess ist Ausdruck

einer gestörten Hirnentwicklung, der in regionsspezifisch subtil ausgeprägte Malformationen mündet. Dies wird unterstützt durch Befunde einer unterbrochenen frontalen Kortikalisation (z. B. Falkai et al. 2006) oder einer gestörten Gyrifizierung (z. B. Vogeley et al. 2001; Falkai et al. 2006). Letztere ist dahingehend bemerkenswert, dass die Gyrifizierung ca. mit dem ersten Lebensjahr abgeschlossen ist und sich danach nicht mehr verändert. Veränderungen der Gyrifizierung führen zu einer Malkonnektion mit entsprechenden Dysfunktionen, wie das für das Williams-Syndrom oder das DeGeorge-Syndrom nachgewiesen wurde. Atypisch degenerativer Prozess. Der zweite Prozess

scheint mit den Prodromalphasen der Erkrankung, aber spätestens mit Manifestation des Vollbildes zu beginnen und in eine quasi progressive kontinuierliche Reduktion der grauen Substanz zu münden. Interessanterweise betrifft er schwerpunktmäßig frontotemporale Regionen (z. B. Falkai et al. 2004; van Haren et al. 2003). Die Vermutung ist gerechtfertigt, dass es sich hierbei um mindestens 2 unabhängige Prozesse handelt, die im Sinne einer »Double-hit-Hypothese« miteinander in Interaktion treten.

Gyrus-temporalis-superior-Volumenreduktion

»Dismaturationsprozess«. Alternativ böte sich die Hypo-

Betrachtet man nun den Befund einer Volumenreduktion des Gyrus temporalis superior mit VBM, so zeigte ein systematischer Review der Studien zwischen 1994 und 2000 neben einer Erweiterung des Ventrikelsystems eine signifikante Reduktion der grauen Substanz. Letztere war besonders ausgeprägt im Bereich des Temporallappens, des Frontallappens, des Thalamus und des Zerebellums. Im Bereich des Temporallappens waren der Hippokampus und der Gyrus temporalis superior besonders von dieser Volumenreduktion betroffen (Schmitt et al. 2001). Eine Beteiligung des Gyrus temporalis superior unterstützt ebenfalls ein quantitativer Review zum Planum temporale, einer Struktur, die ein zentraler Bestandteil dieser Region ist. Es ergab sich eine deutliche Reduktion der linksgerichteten Asymmetrie des Planum temporale bei schizophrenen Patienten im Vergleich zu Kontrollpersonen, was die seit vielen Jahren von Tim Crow vorgebrachte

these von einer Art Dismaturationsprozess an, der mit der Hirnentwicklung begänne und aufgrund der Defizienz relevanter Proteine die Regenerationsfähigkeit des Gehirns beeinträchtigte (»Pandysmaturations-Hypothese«). Da Hinweise auf einen klassischen neurodegenerativen Prozess mit Zellverlust und einer reaktiven Gliose fehlen, käme eine Reduktion synaptischer Elemente durchaus in Frage. Eine solche Datenlage ließe sich am ehesten mit einer gestörten Synaptogenese in Verbindung bringen.

Diffusionsbildgebung und Magnetresonanzspektroskopie Neben der hier, vor allen Dingen auf Metaanalysen beruhenden Literaturlage bei der strukturellen Bildgebung, sei abschließend auf jüngst erschienene Publikationen im Bereich der Diffusionsbildgebung hingewiesen. Eine systematische Übersicht aus 19 Studien ergab diesbezüglich

6

132

Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung

allerdings eine noch sehr inkonsistente Datenlage, die unter anderem auf den kleinen Fallzahlen der Untersuchungsstichproben als auch methodischen Unterschieden beruht (Kanaan et al. 2005). Ähnlich stellt sich die Literatur zur Magnetresonanzspektroskopie für die Schizophrenie dar, wobei es hier einige sehr interessante Befunde zum Einfluss der neuroleptischen Medikation gibt (Braus et al. 2001).

Affektive Störungen

6

In einer systematischen Übersicht der jüngsten Veröffentlichungen zu lokalen Hirnvolumenabweichungen im Rahmen affektiver Störungen (Campbell u. McQueen 2006) fand sich bei Patienten mit einer rezidivierenden depressiven Störung eine bilaterale Hippokampusvolumenreduktion. Die Autoren bemängeln allerdings die in der Literatur inkonsistent beschriebenen Veränderungen des Mandelkerns, darüber hinaus gebe es nur wenige Literaturstellen, die Veränderungen des Frontallappens und des Striatums beschrieben. Es wurde explizit darauf hingewiesen, dass  das Alter der Patienten,  der Zeitpunkt des Krankheitsbeginns,  der Verlauf der Erkrankung und  die aktuelle psychotrope Medikation wichtige Einflussfaktoren auf regionale Hirnvolumenveränderungen bei Menschen mit affektiven Erkrankungen seien. In einer systematischen Literatursichtung anhand 30 relevanter Publikationen (Hajek et al. 2005) erwiesen sich für Patienten mit bipolaren Störungen Veränderungen im Bereich des Hippokampus, der weißen Substanz, der linken Hemisphäre, des Thalamus als auch des vorderen Zingulums. Darüber hinaus verfestigten sich Hinweise auf vermehrte MRI-Signalhyperintensitäten bei Patienten mit bipolaren Erkrankungen, aber auch ihren erstgradigen Angehörigen. Bereits Personen in den frühen Phasen der Erkrankung wiesen Veränderungen der Ventrikel, der weißen Substanz, des Striatums, des Mandelkerns, des Hippokampus und des subgenualen präfrontalen Kortex auf. Eine Reduktion des Volumens des subgenualen präfrontalen Kortex konnte bei Patienten mit einer familiären bipolaren Erkrankung in 3 von 4 Studien bestätigt werden. Somit scheinen sich volumetrische Veränderungen im Bereich des subgenualen präfrontalen Kortex, des Striatums, der weißen Substanz, möglicherweise auch im Bereich des Hippokampus und Mandelkerns als Vulnerabilitätsfaktoren zu qualifizieren (Hajek et al. 2005). In einer Metaanalyse zu 26 Studien mit 404 Patienten mit einer bipolaren Erkrankung fand sich eine Erweiterung des rechten Seitenventrikels, aber keine Volumenabweichung in einem anderen Areal. Ein hohes Maß an Heterogenität bestand andererseits für verschiedene Areale, darunter dem 3. Ventrikel, im linken subgenualen Anteil des präfrontalen Kortex, im Mandelkern bilateral und dem Thalamus (McDonald et al. 2004).

Hippokampusvolumen bei Depression reduziert Eine weitere Metaanalyse, die sich spezifisch dem Hippokampusvolumen bei Patienten mit Depressionen und bipolaren Störungen widmete, fand unter Berücksichtigung von 12 Studien mit insgesamt 351 Patienten eine Reduktion des Hippokampusvolumens, und zwar links um 8 und rechts um 10%, allerdings nur bei Patienten mit einer Depression und nicht bei solchen mit einer bipolaren Störung. Interessanterweise korrelierte die Anzahl depressiver Episoden signifikant mit der Volumenreduktion des rechten aber nicht linken Hippokampus (Videbech u. Ravnkilde 2004).

Weitere Veränderungen Bei Zusammenfassung der Befunde struktureller Bildgebung bei depressiven Erkrankungen und bipolaren Störungen fällt im Vergleich zur Schizophrenie eine viel dürftigere Datenlage auf, die entsprechend − auch im Rahmen von Metaanalysen − zu einem inhomogeneren Bild führt. Bislang lässt sich lediglich für unipolare Depression der Nachweis einer bilateralen Hippokampusvolumenreduktion führen, der möglicherweise mit der Zahl von Rezidiven korreliert. Eine Region, die als interessanter Kandidat gewertet werden kann, ist der subgenuale präfrontale Kortex. Inwiefern andere kortikale Areale, das Striatum oder Veränderungen des Ventrikelsystems, längerfristig eine stabile Datenlage entwickeln werden, bleibt abzuwarten. In Abgrenzung zu unipolaren Depressionen scheinen bipolare Störungen – zumindest im überwiegenden Teil der Studien – eine Vergrößerung des Mandelkerns aufzuweisen. Veränderungen des Hippokampus sind eher unwahrscheinlich, Veränderungen des Striatums bzw. vorderen Zingulums fraglich. Aber auch bei bipolaren Störungen ist der subgenuale Anteil des präfrontalen Kortex ein heißer Kandidat. Bei affektiven Erkrankungen generell finden sich Veränderungen im Mandelkern und Hippokampus, die beide zentral an der Affektmodulation beteiligt sind. Bemerkenswert ist die Korrelation der Volumenreduktion bei der unipolaren Depression mit der Zahl der Rezidive. Dies wiederum würde am besten zu denjenigen Daten passen, die eine Entkopplung der CRH-Achse bei depressiven Störungen nahelegen (z. B. Holsboer 2000), wonach die Volumenreduktion Folge eines Gewebestresses und durch die kontinuierlich hohe Anwesenheit von Kortisol zu erklären wäre. Einen abweichenden ätiopathogenetischen Ansatz scheinen die Signalhyperintensitäten sowohl bei der unipolaren Depression als auch bei bipolaren Störungen zu signalisieren. Obwohl ihre Bedeutung bislang weitgehend ungeklärt ist, gibt es Hinweise, dass Patienten mit einer überdurchschnittlichen Häufung dieser Signalhyperintensitäten ein deutlich höheres Risiko aufweisen, eine Demenz zu entwickeln. Dies passt durchaus zu einer der gegenwärtigen Diskussionen, derzufolge depressive Syndrome einen Vulnerabilitätsmarker für die spätere Ent-

133 6.1 · Strukturelle Bildgebung

wicklung eines demenzellen Syndroms darstellen können.

Demenzen In einer Metaanalyse über 125 Studien aus dem Zeitraum von 1984–2000 zu 3543 Patienten mit Alzheimer-Erkrankung fand sich über alle funktionellen und strukturellen Maße, dass der Temporallappen besonders hilfreich zur Differenzierung zwischen einem demenziellen Bild und dem normalem Alterungsprozess ist (Poulin u. Zakzanis 2002). Im Bereich des Temporallappens handelt es sich hierbei schwerpunktmäßig um den Mandelkern, den Hippokampus und den inferioren Anteil des temporalen Kortex. In die gleiche Richtung tendieren strukturelle Maße des vorderen Zingulums. Eine Metaanalyse von 121 Studien zwischen 1984 und 2000 über 3511 Patienten mit Alzheimer-Erkrankung konnte diesen Befund bestätigen (Zakzanis et al. 2003). Schließlich bestätigte eine Übersichtsarbeit zu Studien mit voxelbasierter Morphometrie nicht nur den Schwerpunkt von Volumenreduktionen im Bereich des Temporallappens für die Alzheimer-Erkrankung, sondern gestattet zudem eine Differenzierung degenerativer Erkrankungen vom frontotemporalen Typ (»frontotemporal lobar degeneration« = FTD; Whitwell u. Jack 2005).

Frontotemporale Demenzen Eine quantitative Metaanalyse zu frontotemporalen Demenzen zwischen den Jahren 1980 und 2005 umfasste 9 funktionelle bzw. strukturelle Studien mit 132 Patienten. Hieraus ergab sich eine spezifische Beeinträchtigung des frontomedialen Netzwerkes, außerdem waren der rechte vordere Anteil der Inselregion und der mediale Thalamus betroffen. Die Autoren schlossen, dass die Datenlage die frontotemporale Demenz im Sinne einer frontomedialen Variante der frontotemporalen lobaren Degeneration zuordnet. Diese Erkrankung scheint speziell Netzwerke zu betreffen, die mit Selbstreflexion, Theory-of-Mind-Fähigkeiten, mildem Verständnis und der Evaluation innerer mentaler Zustände, der Wahrnehmung von Schmerz und Emotionen und der Aufrechterhaltung von Persönlichkeit und Selbstwahrnehmung verbunden sind (Schröter et al. 2006).

Relevanz von Bildgebung bei der Alzheimer-Demenz Die Frage nach der Relevanz von Bildgebung in der Diagnostik der Alzheimer-Erkrankung bearbeiten folgende interessante Arbeiten. So beispielsweise eine umfassende Übersichtsarbeit zu mehr als 400 Publikationen, worin die Autoren unter Anwendung evidenzbasierter Techniken feststellten, dass die große Varianz eingesetzter Methoden zur Untersuchung des Gehirns eine konklusive, systematische Aussage erschwere. Dessen ungeachtet ergab sich aus der Literatursichtung, dass die Atrophie

des Hippokampus Patienten mit der Alzheimer-Erkrankung von gesunden Personen unterscheidet. Eine Evidenz für eine Atrophie von mediotemporalen Strukturen als diagnostischer Marker z. B. in der Untersuchung von Bevölkerungsstichproben ergaben die Daten jedoch nicht (Wahlund et al. 2005). Das Konsensuspapier der British Association for Psychopharmacology (Burns et al. 2006), die für alle gängigen Therapieverfahren Evidenzkriterien recherchiert hat, misst der Bildgebung eine Evidenz vom Grad II in dem Sinne bei, dass sie die Genauigkeit der klinischen Diagnose zu verbessern vermag. Von einer Evidenz zweiten Grades ist auszugehen, wenn in der Literatur mindestens eine methodisch saubere Studie oder eine quasi-experimentelle Untersuchung zu diesem Thema zu finden ist. Den Evidenzgrad I könnten solche Untersuchungen mangels Vorhandenseins randomisierter, kontrollierter Studien nicht erreichen. Dies wiederum würde nämlich bedeuten, dass man im diagnostischen Prozess Probanden ungeachtet der Durchführung bildgebender Untersuchungen randomisiert zuordnete. Dies ist nach dem heutigen Stand der Technik ethisch sicher nicht vertretbar. Populationsbasierte Untersuchung in Rochester. Eine

weitere Studie zum Einfluss von einer zerebrovaskulären Erkrankung auf die Ausbildung demenzieller Syndrome unterstreicht die Bedeutung der Bildgebung: Eine populationsbasierte Untersuchung zwischen den Jahren 1985 und 1989 in Rochester, Minnesota, USA sollte die Beteiligung zerebrovaskulärer Erkrankungen an der Demenz ermitteln. Es fand sich, dass 10% der identifizierten Patienten mit einer Demenz eine Verschlechterung ihres Krankheitsbildes innerhalb von 3 Monaten nach einem Schlaganfall aufwiesen, 11% der mit einer Demenz identifizierten Personen hatten eine bilaterale Läsion der grauen Substanz, die in der Bildgebung als kritisch bewertet wurde. Nur 4% der Patienten wiesen parallel beide Veränderungen auf. ! Das heißt, bei 25% der innerhalb einer Allgemeinbevölkerungsstichprobe identifizierten Personen mit einer Demenz fanden sich relevante vaskuläre und nichtvaskuläre Läsionen, die zur weiteren Progression des Krankheitsbildes beitrugen (Knopman et al. 2002).

Alkoholabhängigkeit In einer sehr sorgfältigen Übersichtsarbeit, die funktionelle und auch strukturelle Bildgebung zusammenfasst, wurden die fronto-zerebellären Netzwerke als kritisch für die Alkoholabhängigkeit bewertet. Eine Schädigung dieser Netzwerke durch chronischen exzessiven Alkoholgenuss führt zur Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten, insbesondere im Bereich der Exekutivfunktionen des

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134

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Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung

visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses. Darüber hinaus fanden sich zahlreiche motorische Defizite, schwerpunktmäßig mit ataktischem Bild (Sullivan u. Pfefferbaum 2005). Diese Auffassung bestätigt eine Untersuchung auf Grundlage der strukturell bildgebenden Verfahren, inklusive der voxelbasierten Morphometrie bei Alkoholismus und anderen Substanzabhängigkeiten. Hierin wurde ersichtlich, dass Stimulanzien bzw. der Opiatmissbrauch eher zu einer globalen Veränderung des Gehirns führen, wobei Alkoholabhängigkeit spezifisch den Frontallappen und das Kleinhirn betrifft (Lingford-Hughes et al. 2003). Eine nach wie vor aktuelle Übersichtsarbeit zur neuropathologischen Basis dieser Veränderungen setzt die Volumenreduktion des Frontallappens in Verbindung zu Veränderungen in der weißen, insbesondere aber auch der grauen Substanz. In der grauen Substanz des frontalen Kortex gibt es Hinweise auf eine Reduzierung der Neuronenzahl, aber auch eine Schrumpfung des Neuronenkörpers. Letzteres reflektiert einen Rückzug des neuronalen Dendritenbaums, der eine zentrale Rolle in der zellulären Kommunikation spielt. Darüber hinaus zeigen auch die Neurone des Zerebellums eine besondere Vulnerabilität, was mit nährstoffbedingten Defizienzen in Verbindung zu stehen scheint (Harper und Kril 1990).

kampus links um 6,9% und rechts um 6,6%. Diese Volumenunterschiede waren geringer beim Vergleich von PTSD-Patienten mit Kontrollpersonen, die im gleichen Ausmaß traumatisiert wurden, größer hingegen im Vergleich mit Kontrollen ohne Traumatisierung (Smith 2005). Zwei systematische Reviews verdeutlichen die Veränderungen bei PTSD im Bereich des Hippokampus, des Mandelkerns und verschiedener kortikaler Areale, insbesondere des vorderen Zingulums (Hull 2002; Jatzko et al. 2005). Sala und Arbeitsgruppe diskutierten in einer Übersichtsarbeit die möglichen Ursachen der Hippokampusatrophie bei depressiven Syndromen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen (Sala et al. 2004). Die Autoren folgerten, dass der Hippokampus eine zentrale Rolle in der Stressregulation des Menschen spiele und dabei selbst sehr empfindlich auf die neurotoxischen Effekte wiederholter stressreicher Lebensabschnitte reagiere. Tierexperimentelle Untersuchungen mit Glukokortikoiden am Hippokampus bestätigen diese Auffassung einer erhöhten Vulnerabilität von Hippokampusneuronen auf Glukokortikoide (Sapolsky 2000).

Posttraumatische Belastungsstörungen

6.1.2

In einer Serie von Metaanalysen auf der Basis von Studien mit struktur- und bildgebenden Verfahren bei Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung (»post traumatic stress disorder« = PTSD) fand sich eine bilaterale Volumenreduktion des Hippokampus im Vergleich zu Kontrollpersonen mit und ohne Traumatisierung. Personen ohne posttraumatische Belastungsstörung, die aber ein signifikantes Trauma erlitten hatten, zeigten ihrerseits im Vergleich zu Kontrollpersonen eine bilaterale Verkleinerung des Hippokampus. Des Weiteren fand sich bei Personen mit PTSD eine Volumenreduktion des linken Mandelkerns sowie des vorderen Zingulums bei Personen mit PTSD im Vergleich zu traumatisierten und nichttraumatisierten Kontrollpersonen. Untersuchungspopulationen von Kindern mit PTSD wiesen bei ihnen ein signifikant kleineres Corpus callosum sowie reduzierte Frontallappenvolumina im Vergleich zu Kontrollen nach, wohingegen sich keine Unterschiede im Volumen des Hippokampus ergaben. Die Autoren kamen zu folgenden Schlüssen: 1. Die Hippokampusvolumendifferenzen variieren mit der Schwere der PTSD, 2. Die Volumenreduktion des Hippokampus wird erst mit dem Erwachsenenalter nachweisbar, 3. PTSD führt zu Abnormalitäten in verschiedenen fronto-limbischen Strukturen (Karl et al. 2006). Ein systematischer Review und eine Metaanalyse zu 13 Studien über 215 Patienten fand bei Patienten mit PTSD eine durchschnittliche Volumenreduktion des Hippo-

Bedeutung struktureller Veränderungen bei psychischen Erkrankungen

Obwohl hirnstrukturelle Abweichungen für die Schizophrenie als auch für demenzielle Erkrankungen nach genetischen und neuropsychologischen Befunden zu den am besten replizierten neurobiologischen Resultaten gehören, werden sie von der wissenschaftlichen Gemeinde häufig als Folge der Erkrankungsbilder und somit als irrelevant für die Ätiopathogenese betrachtet. Tatsächlich gibt es für strukturelle, aber auch für funktionelle, genetische und neuropsychologische Befunde gleichermaßen intervenierende Variablen. Die Darstellung einiger wesentlicher intervenierender Variablen zur strukturellen Bildgebung soll im Folgenden die Einordnung der oben genannten Befunde erleichtern. Neben dem Alter und dem Geschlecht sind der sozioökonomische bzw. Bildungsstatus der Probanden sowie ihrer Eltern von Bedeutung. Zudem hat in den letzten Jahren unter molekularen Aspekten der Genotyp als intervenierende Variable an Gewicht gewonnen. So existiert ein beachtlicher Einfluss einzelner Genotypen wie z. B. COMTbzw. 5-HTT-Genotypen auf die Hirnstruktur, aber auch auf die Hirnfunktion bei Gesunden oder Patienten (z. B. Pezawas et al. 2005). Darüber hinaus finden sich zahlreich nichtgenetisch vermittelte umweltbedingte Faktoren, wie z. B. Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, die einen additiven Effekt ausüben (z. B. McNeil et al. 2000). Auch der Krankheitsprozess selber beeinflusst z. B. bei

135 6.2 · Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie

schizophrenen Psychosen die Gehirnmorphologie (Pantelis et al. 2005; van Haren et al. 2007), welchen aber noch weitere Noxen wie Alkohol oder Zigarettenkonsum (Gallinat et al. 2006) sowie der Einsatz von Neuroleptika (z. B. Scherk und Falkai 2004) modifizieren. Unter Berücksichtigung all dieser Variablen sollte ein Großteil der Literatur sicherlich anders bewertet werden. In den vorherigen Abschnitten galt es vor allen Dingen, metaanalytisch oder

durch systematische Übersichtsarbeiten offengelegte Befunde herauszuarbeiten. Die substanziellen Fallzahlen widerlegen Vermutungen, es handele sich hierbei um reine Artefakte der Bildgebung (z. B. Marenco u. Weinberger 2000). Zur Vermeidung falscher Schlussfolgerungen ist nichtsdestotrotz ein kritischer Umgang mit allen Befunden aus bildgebenden Verfahren angebracht, die ggf. ganze Forschungsrichtungen in die Irre leiten können.

Fazit Fasst man die Befundlage für die Schizophrenie, für affektive Störungen, Demenzen, die Alkoholabhängigkeit und für posttraumatische Belastungsstörungen zusammen, ergibt sich eine Konvergenz für tempolimbische Strukturen, namentlich den Hippokampus, den Mandelkern, den orbitofrontalen Kortex und das anteriore Zingulum. Die Fokussierung auf solche tempolimbischen Strukturen ist unter funktionellen Aspekten nachvollziehbar, da sie essenziell für die Integration des sensorischen Inputs und den damit verbundenen Abgleich bekannt abgelegter Informationen sind. Differenzielle Analysen des Läsionsmusters bei frontotemporalen Demenzen z. B. belegen, dass hierbei keineswegs nur Teilbereiche der Kognition oder Affektivität, sondern umfassende Prozesse der Selbstwahrnehmung, der Theory-ofMind-Fähigkeiten, des Monitorings innerer Zustände und der Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeit betroffen sind (z. B. Schroeter et al. 2006). Metaana-

Ausblick Ist eine bessere klinische Charakterisierung der untersuchten Krankheitsbilder die Antwort auf eine Vielzahl der unzureichend zuzuordnenden Befunde? Die Verbesserung des Phänotyps könnte sicherlich einige anstehende Fragen klären. Trotzdem erscheint der klinische Phänotyp zu weit entfernt von den neurobiologischen Grundlagen, sodass seit vielen Jahren ein sog. intermediärer Phänotyp (sog. Endophänotypen, z. B. Zobel u. Maier 2004) zur Anwendung kommt. Hierbei handelt es sich um biologische Variablen, die eine pathogenetische Relevanz für das zu untersuchende Krankheitsbild haben, eine Heretabilität aufweisen, von Alters- und Krankheitsverlaufseffekten weitgehend unberührt sind und bei erstgradigen Angehörigen Werte zwischen Kontrollpersonen und den Patienten aufweisen. Eine diesbezügliche Verfeinerung des neurobiologischen Phänotyps sollte es uns erlauben, Subsyndrome biologisch besser zu definieren und mit ihren molekularen Grundlagen zu verbinden. Darüber hinaus bedarf es der Kombination verschiedener bildgebender Verfahren, um konsistente Befunde wie die

lysen lassen allerdings interessante, potenziell wegweisende Befunde statistisch gesehen als unbedeutend erscheinen. So sind Strukturen wie der Thalamus oder das Zerebellum bei der Schizophrenie von zentraler Bedeutung, bei affektiven Störungen ergibt sich im Bereich des Hypothalamus eine zunehmend interessante und mit der Endokrinologie sehr gut kompatible Datenlage (z. B. Baumann u. Bogerts 2001) und schließlich sollte bei demenziellen Erkrankungen der phasenhafte Verlauf in Betracht gezogen werden, der zu verschiedenen Zeitpunkten der Erkrankung unterschiedliche Kortikalregionen trifft (Braak et al. 2006). Die Aufdeckung einzelner klinischer Charakteristika wie des Cravings bei der Alkoholabhängigkeit (Heinz et al. 2005) oder dem Defizit bei der PTSD, traumaassoziierte Stimuli zu unterdrücken (Rauch et al. 2006), haben zu einem deutlich besseren Verständnis der Pathophysiologie und somit auch der Behandlungsoptionen dieser Krankheitsbilder geführt.

Volumenreduktion eines bestimmten Areals ätiopathogenetisch aufzuklären. Die Anwendung hochauflösender Strukturverfahren auf der Basis großer Feldstärken gestattet zum einen die reliable Untersuchung kleiner Hirnstrukturen, die ergänzt werden durch MRS- und DTI-Sequenzen. Auf diese Weise können strukturelle Veränderungen bis auf die zelluläre und Faserebene aufgeklärt werden.

6.2

Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie F. Schneider

Unter funktionell bildgebenden Verfahren versteht man allgemein Methoden, die die Aktivierung von Gehirnregionen bei bestimmten Funktionen darstellen können. Diese Funktionen können beispielsweise Motorik (z. B. Handbewegungen), Sensorik (z. B. Berührungen), Kog-

6

136

Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung

nitionen (z. B. Rechenaufgaben) oder Emotionen (z. B. Emotionserkennung) umfassen. Als funktionell bildgebende Methoden stehen im Wesentlichen zur Auswahl  die Magnetenzephalografie (MEG),  die Magnetresonanztomografie (MRT) und  die Positronenemissionstomografie (PET, vgl.  Kap. 6.3).

6

Jedes dieser funktionellen Verfahren hat sein spezifisches Profil im Hinblick auf Invasivität sowie räumliche und zeitliche Auflösung der Darstellung (vgl. ⊡ Tab. 6.1). Das Verfahren der Wahl ist deshalb immer in enger Abhängigkeit von der konkreten Fragestellung zu wählen. Zur Abbildung der Hirnaktivität mit einer besonders hohen zeitlichen Auflösung wäre MEG die Methode der Wahl, die PET hingegen bei dem Wunsch nach einer starken quantitativen Aussage. Gemeinsam ist diesen Methoden unter anderem, dass den Probanden standardisierte Aufgaben gegeben werden und die damit korrelierten Änderungen der Aktivität im Gehirn aufgezeichnet werden. Zum Nachweis eines statistisch signifikanten Zusammenhangs zwischen der Aufgabenbearbeitung und der spezifischen Hirnaktivität müssen die Aufgaben in der Regel mit vielen Wiederholungen präsentiert werden. Anschließend wird mit spezieller Software – für fMRT beispielsweise SPM oder BrainVoyager – die Korrelation zwischen der Aufgabenbearbeitung und den Aktivitätsänderungen im Gehirn ermittelt. Das bedeutet, dass die hier dargestellten Verfahren nicht in der Lage sind, kausale Zusammenhänge zwischen neuronalen Aktivierungen und Erleben und Verhalten nachzuweisen, sondern sich auf korrelative Aussagen beschränken. Alle hier dargestellten Verfahren werden sowohl für die Untersuchung gesunder Probanden als auch für die Untersuchung von Patienten unter anderem mit psychischen Erkrankungen eingesetzt. Der klinische Einsatz funktionell bildgebender Methoden in der klinischen Praxis ist in der Psychiatrie und Psychotherapie im Moment nur sehr begrenzt. Erste Ansätze mit klinischer Relevanz richten sich auf die Untersuchung der prognostischen Qualität neuronaler Auffälligkeiten für den Krankheitsverlauf oder für therapeutische Interventionen. ⊡ Tab. 6.1. Übersicht über die spezifischen Profile der zur Verfügung stehenden funktionell bildgebenden Verfahren

6.2.1

Magnetenzephalografie

Jede neuronale Aktivität im Gehirn geht mit Strömen einher, die Magnetfelder induzieren. Magnetenzephalografie ist die Technik, mit der die durch Hirnströme induzierten neuromagnetischen Felder gemessen werden. Da die Hirnströme und die induzierten Magnetfelder einzelner Neurone sehr klein sind, erfordert die Abbildung ihrer Aktivität eine Vielzahl hoch empfindlicher Sensoren. Zur Erfassung der Magnetfelder des ganzen Gehirns sitzen oder liegen die Probanden in einem Ganzkopf-MEG (⊡ Abb. 6.1) und werden vorrangig visuell, taktil oder auditorisch stimuliert. Aufgrund besonderer technischer Beschränkungen der Methode hat sich gezeigt, dass nicht alle Hirnareale und somit nicht alle Funktionen gleich geeignet für die Untersuchung mit MEG sind. ! Insbesondere das auditorische und taktile System lassen sich aber sehr gut erfassen. So kommt die MEG in der Psychiatrie vor allem bei der Untersuchung zur Wahrnehmung von Tönen und Sprache bei psychiatrischen Patienten zum Einsatz. Studie mit schizophrenen Patienten. Es gibt aber im All-

gemeinen eher wenige Studien mit der Methode der MEG bei psychisch Kranken. Beispielhaft sei hier eine neuere Studie von Rockstroh und Mitarbeitern mit schizophrenen Patienten erwähnt (2006). Untersucht hat die Arbeitsgruppe die schnelle Verarbeitung emotionaler vs. neutraler Stimuli. Den Probanden wurden emotionale und neutrale Bilder aus dem International Affective Picture System (Center for the Study of Emotion and Attention 1995) präsentiert. Bei den Patienten mit Schizophrenie zeigten sich geringere Unterschiede in der Veränderung der Hirnaktivität zwischen neutralen und emotionalen Reizen als bei den gesunden Probanden. Die Autoren diskutieren diese Befunde als einen Hinweis auf eine Störung der automatisierten Verarbeitung der emotionalen Bedeutung von Stimuli.

Studien mit Kombination verschiedener bildgebender Methoden In einem Versuch, die Beschränkungen der einzelnen Methoden zu überwinden, werden zunehmend Studien mit einer Kombination verschiedener bildgebender Methoden an einer einheitlichen Stichprobe mit aufeinander abgestimmten Paradigmen durchgeführt.

Verfahren

Räuml. Auflösung

Zeitl. Auflösung

Invasivität

MEG



++

0

Kombination von MEG und fMRT. So haben Kircher und

fMRT

+

0

0

PET

++





Kollegen (2004) MEG und fMRT in einer Untersuchung zur Mismatch Negativity bei schizophrenen Patienten kombiniert. Unter »Mismatch Negativity« versteht man die nachweisenbare Negativierung in der MEG-Aufzeich-

+ = gut; 0 = neutral; - = schlecht

137 6.2 · Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie

⊡ Abb. 6.1a, b. a Proband in einem Ganzkopf-MEG, b schematische Darstellung der Anordnung der Sensoren im Ganzkopf-MEG. (The CTF MEG system from VSM MedTech Ltd.)

a

b

nung, wenn in einer auditorischen Präsentation vieler gleichartiger Töne einzelne Töne abweichen. Die Negativierung ist somit eine Reaktion auf die von der Norm abweichenden Stimuli. Um diese Untersuchung in MEG und fMRT vergleichbar durchführen zu können, hat die Arbeitsgruppe als Tonstimulus die Gradientengeräusche des MR-Scanners verwendet und einzelne dieser Töne in Amplitude oder Dauer von den anderen Tönen abweichen lassen. Diese Tonsequenz wurde im MR-Scanner erzeugt und den Probanden in der MEG-Untersuchung als Aufzeichnung vorgespielt. Kircher und Mitarbeiter konnten in diesem Ansatz zeigen, dass bei dem MismatchParadigma bei Patienten mit Schizophrenie nicht nur eine geringere Aktivierung auftrat, auch die übliche Hemisphärenspezialisierung war aufgehoben (⊡ Abb. 6.2). Die

Autoren deuten die gefundenen Unterschiede unter anderem in der Interaktion zwischen den Hemisphären als Korrelate von sprachbezogenen kognitiven (z. B. verbales Gedächtnis) oder psychopathologischer (Halluzinationen, formale Denkstörungen) Symptome der Schizophrenie. MEG und fMRT lassen sich allerdings nicht technisch miteinander kombinieren, sodass eine Kombination dieser Verfahren immer eine Anwendung paralleler Paradigmen mit beiden Methoden bei einer einheitlichen Stichprobe bedeutet. Unterschiede zwischen den Befunden der fMRT und der MEG können somit nicht nur den spezifischen Profilen der Methode, sondern unter Umständen zufälligen Schwankungen innerhalb der Versuchspersonen zugeschrieben werden.

6

138

Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung

6

a

b

c

⊡ Abb. 6.2a–d. a Design der Mismatch Negativity Studie von Kircher et al. 2004. Den Probanden wurden gleichförmige Gradientengeräusche präsentiert von denen einzelne in Amplitude oder Dauer abwichen; b bei schizophrenen Patienten (n = 11) zeigt sich als Reaktion

d

auf in der Amplitude abweichende Töne eine verringerte Aktivität verglichen mit Gesunden (c, n = 12); d zeigt die Differenz der Aktivierungen der beiden Gruppen

139 6.2 · Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie

6.2.2

Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT)

Die funktionelle Magnetresonanztomografie ist eine spezielle Anwendung der Magnetresonanztomografie, die anderweitig detaillerter dargestellt wird ( Kap. 25; Schneider u. Fink 2007). Die Besonderheit der funktionellen Magnetresonanztomografie besteht darin, dass sie auf der Basis der magnetischen Eigenschaften des Blutes eine Aussage über zerebrale Aktivierungen ohne die Applikation von Kontrastmitteln ermöglicht. Aus diesem Grund ist die funktionelle Magnetresonanztomografie derzeit in vielen Veröffentlichungen zu funktionellen Auffälligkeiten psychischer Störungen die Methode der ersten Wahl. Die fMRT ist ein nichtinvasives Verfahren. Die wenigen vorhandenen Kontraindikationen sind überwiegend aus dem starken Magnetfeld erklärbar. So sollten Probanden mit metallischen Implantaten nicht in diese Untersuchungen eingeschlossen werden, da das Magnetfeld die Implantate im schlimmsten Fall in ihrer Lage verändern kann, aber vor allem Implantate das Magnetfeld verändern, sodass die hier erhobenen Daten in der Regel nicht sinnvoll auswertbar sind. Die möglichen Studienparadigmen sind vielfältig und umfassen im einfachsten Fall nahezu das gesamte Spektrum der etablierten neuropsychologischen Konstrukte.

fMRT verschiedener Störungsbilder fMRT bei Schizophrenie Bei der Schizophrenie handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe von Störungen mit unterschiedlicher Prognose. Das psychopathologische Bild ist bestimmt durch in der Regel mehrere akute Episoden, die durch chronisch residuale Zustände unterschiedlichen Ausmaßes unterbrochen werden. Für fMRT-Studien wie auch für andere funktionell bildgebende Untersuchungen, bedeutet das, dass das Studiendesign nach Möglichkeit immer eine hinsichtlich der aktuellen Phase homogene Patientenstichprobe voraussetzt und das andererseits funktionelle Befunde in aller Regel nur Aussagen über eng umgrenzte Erscheinungsbilder der schizophrenen Störung erlauben. Schizophrene Störungen führen zu Beeinträchtigungen des Affektes, der Wahrnehmung, des Denkens, des Antriebs sowie der Psychomotorik. Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfunktionen können ebenfalls betroffen sein. Das bedeutet, dass sich für funktionell bildgebende Untersuchungen eine Vielzahl von Ansatzpunkten für die Auswahl geeigneter Paradigmen ergeben. Aufmerksamkeit. Im Bereich der Aufmerksamkeit haben

beispielsweise Perlstein et al. (2003) Dysfunktionen bei Patienten im Vergleich zu Gesunden in 2 Versionen des Continuous Performance Tests untersucht. Die Patienten

wiesen hier eine auffällige Minderaktivierung des dorsolateralen Präfrontalkortex (DLPFK) auf. Während Gesunde jeweils eine Zunahme der Aktivierung des DLPFK mit Zunahme der Aufgabenschwierigkeit zeigten, war bei den Patienten keine Zunahme der Aktivierung zu beobachten. Nach Perlstein et al. führen somit gesteigerte Anforderungen an Arbeitsgedächtniskapazitäten nur bei Gesunden zu einer Zunahme der Aktivierung des DLPFK, nicht jedoch bei schizophrenen Patienten. Emotionsdiskrimination. Aus der Psychopathologie schi-

zophrener Erkrankungen lässt sich eine besondere Bedeutung negativer Emotionen wie Trauer, Angst und Furcht ableiten. Bei schizophrenen Patienten scheint die Fähigkeit, negative Emotionen expressiv darzustellen oder erfolgreich von neutralen oder positiven Ausdrücken zu diskriminieren, beeinträchtigt. So wiesen verschiedene Studien Beeinträchtigungen schizophrener Patienten bei der Diskriminierung emotionaler Gesichter nach (z. B. Schneider et al. 2006 a). Die neurobiologischen Grundlagen dieser vielfältigen affektiven Auffälligkeiten werden seit einigen Jahren mit zunehmender Häufigkeit untersucht. Paradigmen zur Emotionsdiskrimination werden dabei vielfältig genutzt, um emotionale Prozesse schizophrener Patienten zu untersuchen. Während fMRT-Messungen konnten konsistent Hypoaktivierungen Schizophrener während Aufgaben zur Emotionsdiskrimination vor allem in Bereichen des anterioren zingulären Kortex (Hempel et al. 2003) sowie des Amygdala-Hippokampus-Komplexes (Gur et al. 2002) demonstriert werden. Insbesondere in subkortikalen Bereichen treten allerdings methodisch bedingt unter Umständen Artefakte auf. Methodische Ansätze zur Überwindung dieser Problematik, zum Beispiel durch spezifische Anpassung der Messparamter für unterschiedliche Bereiche des Gehirns, werden mittlerweile erfolgreich eingesetzt (Stöcker et al. 2006) und verbessern somit die Abbildung von funktionellen Auffälligkeiten z. B. in der Amygdala. Auch die Bilder des International Affective Picture System (IAPS 1999) werden inzwischen vielfach zur Induktion von Emotionen genutzt. Eine Untersuchung von Takahashi et al. (2004) beschreibt auf Basis eines Paradigmas mit den Bildern der IAPS eine Minderaktivierung der Amygdala-Hippokampus-Region (⊡ Abb. 6.3) bei schizophrenen Patienten, und dies, obwohl wie bei Schneider et al. (1998) keine signifikanten Unterschiede im subjektiven Erleben zwischen Patienten und Gesunden zu beobachten waren.

fMRT bei affektiven Erkrankungen Auch bei affektiven Erkankungen stehen Beeinträchtigungen des emotionalen Erlebens und Verhaltens im Vordergrund des Krankheitsbildes. Depressive weisen häufig eine beeinträchtigte Produktion und Erkennung emotionaler Gesichtsausdrücke auf. Nach Präsentation

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140

Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung

⊡ Abb. 6.3. Regionen mit

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relativer Hypoaktivierung bei 15 schizophrenen Patienten im Vergleich zu 15 gesunden Probanden bei der Induktion von negativen Emotionen. Bei einer Studie von Takahashi et al. (2004) zeigte sich in einer Emotionsinduktion mit unangenehmen Bildern eine Minderaktivierung bei 15 schizophrenen Patienten im Vergleich zu 15 gesunden Probanden. Die Zahlen unter den Abbildungen bezeichnen die z-Koordinaten der Schnittebene nach dem Montreal Neurological Institute (MNI) Gehirn

furchtsamer Gesichter zeigen bereits junge Erkrankte im Vergleich zu gesunden Kindern eine reduzierte Aktivierung der Amygdala (Thomas et al. 2001; ⊡ Abb. 6.4). Die besondere Bedeutung der Amygdala für die Verarbeitung emotionaler Stimuli verdeutlicht ein von Aufmerksamkeit und bewusster Wahrnehmung autonomes Verarbeiten emotionaler Reize durch die Amygdala. Während bei Gesunden zunehmend fröhliche Reize zu einer linearen Aktivitätszunahme im Bereich des bilateralen fusiformen Gyrus und des rechten Putamens führen, zeigen Depressive ein nahezu gegenteiliges Muster: hier führen zunehmend traurige Reize zu zunehmend stärkeren Aktivierungen im rechten fusiformen Gyrus,

linken Putamen, sowie der linken Amygdala (Surguladze et al. 2005). Dieser Befund deutet auf ein mögliches physiologisches Korrelat negativer Kognitionen und sozialer Dysfunktion bei depressiven Patienten hin. Neben medio-temporalen Strukturen finden sich vor allem Auffälligkeiten zingulärer und orbitofrontaler Areale. Die Dysfunktion des anterioren zingulären Kortex ist als Korrelat stimmungsabhängiger Antworttendenzen depressiver Patienten interpretiert worden (George et al. 1995). Patienten weisen zudem eine deutlich verringerte Aktivität im ventralen und subgenualen zingulären Kortex während der Präsentation emotional besetzter Wörter auf. ! Bemerkenswerterweise kommt es im Bereich des anterio-medialen Frontalkortex bei Gesunden während der Präsentation fröhlicher Wörter, bei Depressiven hingegen während der Präsentation trauriger Worte zu einer Aktivitätszunahme (Elliott et al. 1995).

⊡ Abb. 6.4. Hypoaktivierung der linken Amygdala bei Patienten mit Depression bei der Präsentation furchtsamer Gesichter. (Nach Thomas et al. 2001)

Erhöhte Aktivität vor allem rechts-orbitofrontaler Areale sowie des bilateralen anterioren Temporalkortex tritt besonders bei als traurig klassifizierten emotionalen Distraktionsreizen auf. Da Patienten im Vergleich zu Gesunden häufig keine Verhaltensauffälligkeiten bei der Erkennung emotionaler Stimuli aufweisen, scheinen emotional negative Distraktoren bei Depressiven einen höheren kognitiven »Aufwand« zu erfordern, beispielsweise um falsche Antworten zu unterdrücken. Die beobachteten Aktivitätsmuster scheinen somit ein physiologisches Korrelat der häufig berichteten Schwierigkeiten dieser Patienten zu reflektieren, negativ emotionale Stimuli adäquat zu verarbeiten.

141 6.2 · Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie

fMRT therapeutischer Interventionen Zu Beginn wurden funktionelle Bildgebung und damit auch die fMRT vornehmlich zur Charakterisierung einer funktionellen Auffälligkeit zu einem bestimmten Messzeitpunkt eingesetzt. In letzter Zeit werden zunehmend Studiendesigns präsentiert, die durch eine oder mehrere Wiederholungsmessungen eine Beurteilung einer therapeutischen Intervention oder sogar eine differenzielle Beurteilung therapeutischer Interventionen im Längsschnitt erlauben (⊡ Abb. 6.5). Im Vergleich z. B. zu der PET ist die fMRT hier vermutlich besonders geeignet, da sie nichtinvasiv ist und keine Strahlenbelastung mit sich bringt. Wiederholungsmessungen ggf. auch in großer Anzahl und relativ engen zeitlichen Abständen (z. B. 1 Woche) sind somit zumutbar. Alkoholabhängige Patienten. In einem Design mit Prä-

und Post-Messung wurde von Schneider und Mitarbeitern die Wirkung von Verhaltenstherapie und Doxepin bei alkoholabhängigen Patienten untersucht (2001). Die Patienten wurden in einer fMRT-Untersuchung mit einem alkoholischen Duft konfrontiert. Diese Duftreize,

die Craving (Suchtdruck) induzierten, führten zu einer signifikanten Hyperaktivierung der Amygdala und des Zerebellums. Diese Regionen sind beteiligt an dem aktuellen emotionalen Erleben und am emotionalen Gedächtnis (hier: Erinnerung an Konsum von Alkohol mit starker emotionaler Konnotation). In Anschluss an eine 3-wöchige Kombinationstherapie (kognitive Therapie und Gabe von Doxepin) waren bei der erneuten Induktion von Craving diese Hyperaktivierungen nicht mehr nachweisbar (⊡ Abb. 6.6). Dies kann als ein Korrelat des von den Probanden subjektiv geschilderten vermindertem Verlangen nach Alkohol während der Induktion interpretiert werden. Schizophrene Patienten. Auch bei schizophrenen Pati-

enten wurden entsprechende Therapiestudien durchgeführt. So untersuchten beispielsweise Wykes und Kollegen (2002) eine Stichprobe von Patienten mit Schizophrenie vor und nach einem 12-wöchigen kognitiven Training. Es wurden speziell exekutive Funktionen, kognitive Flexibilität, Arbeitsgedächtnis und planerische Funktionen getestet. Dazu wurden 3 Gruppen untersucht: Patienten

⊡ Abb. 6.5. Beispiel für ein mögliches Design einer Therapiestudie. In diesem Beispiel wird die Wirksamkeit eines Pharmakons in Kombination mit Verhaltenstherapie überprüft. Aus ethischen Gründen ist hier eine Kombination aus Plazebo und unspezifischer Therapie nicht indiziert

⊡ Abb. 6.6a, b. Hirnfunktionelle Aktivierungen bei alkoholabhängigen Patienten a vor und b nach einer 3-wöchigen Therapie. Das zum ersten Zeitpunkt stärkere Verlangen nach Alkohol während der Stimulation mit alkoholischen Duftreizen ist von einer Amygdala- und Zerebellumaktivierung begleitet, die zum zweiten Zeitpunkt nicht mehr nachweisbar ist. (Schneider et al. 2001)

a

b

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Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung

mit Training, Patienten ohne Training und gesunde Personen. Bei der Patientengruppe, die das kognitive Training erhielt, war eine Verbesserung der Leistung insbesondere in Gedächtnistests feststellbar. Funktionell zeigte sich bei den Patienten eine Zunahme der Aktivierung rechts inferior frontal und bilateral okzipital vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt. Da diese Studie mit einer recht geringen Stichprobengrösse von 6 Probanden pro Gruppe durchgeführt wurde, ist eine Replizierung der Untersuchung sicher notwendig. Depressive Patienten. Zur Untersuchung des Effektes von

6

selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern haben Fu et al. (2004) depressive Patienten vor und nach einer medikamentösen Therapie mit einer emotionalen Klassifikationsaufgabe verglichen. Die Aufgabe bestand darin, das Geschlecht von präsentierten Gesichtern zu bestimmen. Diese Gesichter zeigten unterschiedliche Emotionen, sodass dieses Paradigma der Untersuchung impliziter affektiver Verarbeitung diente. Es konnte bereits in früheren Untersuchungen gezeigt werden, dass eine emotionale Verarbeitung schon zu Aktivierungen emotionaler Netzwerke im Gehirn führt, bevor eine explizite Aussage zu der Emotionalität erfolgt. Bei den Patienten in der genannten Studie zeigte sich eine verringerte Aktivierung im Bereich der linken Amygdala, des ventralen Striatums und des frontoparietalen Kortex sowie eine Aktivitätssteigerung links präfrontal. Nach erfolgreicher medikamentöser Therapie korrelierte die affektspezifische Aktivität insbesondere im prägenualen zingulären Kortex und ventralen Striatum mit dem Ausmaß des Behandlungseffektes. Ausgehend von diesen Befunden ist es eine lohnenswerte Frage für zukünftige Untersuchungen, in-

⊡ Abb. 6.7. Aufbau und Datenfluss eines fMRI Brain-ComputerInterface. Die in einem MR-Scanner gemessene hämodynamische Reaktion wird mit einer speziellen Software schnell verarbeitet und mit äußerst geringer Verzögerung dem Probanden visuell präsentiert.

wiefern neuronale Aktivierungsmuster prädiktive Qualität für das Ansprechen auf medikamentöse oder psychotherapeutische Intervention haben kann.

Therapeutische Interventionen mit Neurofeedback Es erscheint somit möglich, zerebrale Korrelate neuropsychiatrischer Erkrankungen therapeutisch zu beeinflussen. Ein recht innovativer Ansatz, der zurzeit von verschiedenen Arbeitsgruppen verfolgt wird, ist auf Basis dieser Erkenntnis die Etablierung von therapeutischen Interventionen mit Neurofeedback. In Analogie zu Biofeedback-Ansätzen wird hier Patienten mit der Methode der fMRT die neuronale Aktivität zurückgemeldet und die Patienten haben die Aufgabe mit mehr oder weniger Hilfestellung seitens des Experimentators oder Therapeuten ihre neuronale Aktivität bewusst zu manipulieren. Der Patient lernt so, Kontrolle auszuüben über unwillkürlich ablaufende, unbewusste körperliche Prozesse in Richtung eines experimentell oder therapeutisch gewünschten Ziels. Während das klassische Biofeedback zum Beispiel mit EEG recht etabliert ist, ist die Übertragung dieses Ansatzes auf die fMRT mithilfe von Echtzeitverarbeitung noch neuartig. Ein in diesem Zusammenhang häufig genannter Begriff ist die Schaffung eines Brain-Computer-Interfaces, also einer Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer, die hier für das Neurofeedback genutzt wird, von der man sich aber für die Zukunft noch vielfältige Anwendungsoptionen z. B. bei Personen mit körperlichen Behinderungen erhofft. Eine ausführliche technische Darstellung dieses methodischen Ansatzes findet sich z. B. bei Weiskopf et al. (2004; ⊡ Abb. 6.7).

Die Aufgabe des Probanden kann darin bestehen, die visuell zurückgemeldete lokale Aktivität hoch- oder herunterzuregulieren. (Nach Weiskopf et al. 2004)

143 6.2 · Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie

Schwierig bei dieser Vorgehensweise ist immer die Abgrenzung zwischen therapeutischen Effekten und normalen Schwankungen zwischen den Messwiederholungen. Hierfür sollte man, soweit dies ethisch vertretbar ist, eine unbehandelte Kontrollgruppe mit entsprechender Wartezeit zwischen den Wiederholungsmessungen untersuchen.

fMRT in multizentrischen Studien Aufgrund der vielfältigen Ein- und Ausschlusskriterien hinsichtlich Komorbiditäten, Metallen im Körper etc. ist es oft schwierig, an einem einzelnen Zentrum innerhalb einer überschaubaren Zeit eine größere Anzahl an Probanden erfolgreich zu messen. Insbesondere in therapeutischen Studien mit mehreren Therapiearmen werden sehr schnell 50 oder mehr geeignete psychiatrische Patienten benötigt. Nicht zu vergessen sind die beson-ders bei dieser Studienpopulation immer wieder auftretenden Drop-outs während einer Messung und auch, z. B. aufgrund von Rückfällen, zwischen den Messzeitpunkten. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist die Durchführung von multizentrischen fMRT-Studien die es erlauben, aus verschiedenen Zentren zu rekrutieren, an verschiedenen Zentren zu messen und so die notwendige Stichprobengrösse innerhalb einer vertretbaren Zeit von beispielsweise 2 Jahren zu erreichen. Die Voraussetzung hierfür ist eine recht gute Übereinstimmung und Stabilität der Scanner-Ergebnisse, die z. B. mittels Wasserphantomen überprüft werden kann und im Allgemeinen gegeben ist. Automatisierte Qualitätssicherung. Ein Ansatz zur automatisierten Qualitätssicherung bei fMRT-Untersuchungen wurde von Stöcker et al. im Jahr 2005 beschrieben. Die Methode basiert auf einer automatischen Klassifikation der Datenqualität und der Detektion von Artefakten. Entwickelt wurde der Algorithmus anhand von Wasserphantomen, konnte dann aber auch erfolgreich an In-vivo-Daten angewendet werden. Die vorgestellte Vorgehensweise basiert auf Daten, die bereits einen standardisierten Verarbeitungsschritt hinter sich haben (Realignment) und erlaubt deshalb, für Multi-CenterStudien unverzichtbar, auch den automatisierten Vergleich von Daten, die auf Kernspintomografen unterschiedlicher Hersteller erhoben wurden. Diese Methode wurde im Rahmen eines fMRT-Teilprojektes des Kompetenznetzes Schizophrenie entwickelt. Es wurden ersterkrankte schizophrene Patienten über eine Zeitspanne von 2 Jahren therapeutisch begleitet und wiederholt unter Verwendung eines Continuous Performance Tests (CPT) kernspintomografisch untersucht (Schneider et al. 2006 b). Im Rahmen des Kompetenznetzes sollte multizentrisch eine möglichst große und homogene (Ersterkrankte Schizophrene nach Abschluss der Akutbehandlung) Stichprobe rekrutiert werden und anhand der Beobachtung des Erkankungsverlaufs eine Rückfallprädiktion anhand der funktionell magnetresonanztomo-

a

b ⊡ Abb. 6.8a, b. Neuronale Aktivität a bei gesunden Kontrollprobanden und b schizophrenen Patienten in einer Arbeitsgedächtnisaufgabe. Bei den Patienten zeigte sich eine geringere Aktivitätszunahme im Prekuneus bei der Erhöhung der Aufgabenschwierigkeit. (Schneider et al. 2006 b)

grafischen Untersuchungen entwickelt werden. Die in dieser Studie vorgestellten Patienten wiesen vor allem Hypoaktivierungen im Precuneus und Hyperaktivierungen in inferior frontalen Bereichen auf (⊡ Abb. 6.8). Somit konnte in dieser groß angelegten Stichprobe der Hinweis auf eine nicht allgemein vorliegende Minderaktivierung frontaler Areale erhärtet werden.

Ausblick: fMRT und Konnektivität Es ist unstrittig, dass die Vorgänge im Gehirn nicht isoliert zu betrachten sind, sondern immer eine räumliche

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6

Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung

und zeitliche Interaktion verschiedener Gehirnareale darstellen. Insbesondere bei der Betrachtung der Schizophrenie herrscht zunehmend ein Modell einer Störung der dynamischen Interaktion verschiedener Hirnareale vor. Neue Ansätze mit der fMRT sind Konnektivitätsanalysen und das Diffusion Tensor Imaging (DTI). Man unterscheidet hier effektive und funktionelle Konnektivität. Während die effektive Konnektivität den expliziten Einfluss, den eine Hirnregion auf eine andere hat, beschreibt, versteht man unter funktioneller Konnektivität die beobachtbare Korrelation von Hirnaktivität in unterschiedlichen umschriebenen Hirnregionen (möglich bei fMRT und PET). Diese Untersuchungen zu der Konnektivität verschiedener Hirnareale wurden ursprünglich vor allem bei motorischen und sensorischen Systemen eingesetzt, da hier die interessierenden Bahnen besonders gut zu identifizieren sind. In letzter Zeit werden diese Methoden aber auch zunehmend bei psychischen Störungen eingesetzt. So fanden Schlösser und Kollegen (2006) Unterschiede in der Konnektivität bei schizophrenen Patienten im Vergleich zu gesunden Probanden. Auffällig war unter anderem eine von der Art der eingesetzten Antipsychotika abhängige Veränderung der interhemisphärischen Konnektivität (⊡ Abb. 6.9), so wiesen Patienten mit atypischen Antipsychotika eine verstärkte interhemisphärische Konnektivität auf im Vergleich zu Patienten mit klassichen Neuroleptika.

Die DTI bietet die Möglichkeit, auf Basis der zufälligen Bewegung von Wassermolekülen (= Diffusion) entlang der Nervenfasern Verbindungen zwischen Hirnregionen darzustellen (= Anisotropie). Dieser Ansatz bildet speziell die weiße Substanz des Gehirns ab und erlaubt somit die Darstellung des Verlaufes von Nervernfasern. Die vergleichende Untersuchung von Gesunden und psychiatrischen Patienten kann so Aufschlüsse über spezifische Störungen der Konnektivität liefern. Die Nutzung dieser Methode bietet sich bislang vor allem bei der Betrachtung demenzieller Prozesse an. Die Zerstörung der Nervenfasern infolge demenzieller Prozesse lässt sich hier direkt nachweisen. In letzter Zeit wurde DTI-Untersuchungen z. B. aber auch bei der Schizophrenie eingesetzt. So ergibt sich auf Basis der Beobachtung, dass bei langjährig an Schizophrenie erkrankten Patienten stärkere Auffälligkeiten mittels DTI nachgewiesen werden konnten als bei ersterkrankten Patienten (Price et al. 2005) die Vermutung, dass sich eine Konnektivitätsstörung bei der Schizophrenie zumindest zum Teil erst im Laufe der Erkrankung entwickelt. Es ist aber auf jeden Fall zu beachten, dass bislang erst sehr wenige Studien mit dieser Methode zu psychiatrischen Fragestellungen vorliegen. Besondere Relevanz dürften DTI-Studien durch eine Kombination mit funktionellen Untersuchungen der an dem in Frage stehenden Netzwerk beteiligten Arealen gewinnen.

Fazit Das Forschungsbemühen mit funktionell bildgebenden Methoden in der Psychiatrie, insbesondere der fMRT, ist in den letzten Jahren massiv angestiegen. Im Interesse einer Qualitätssicherung bei dem Einsatz dieses Verfahren haben zahlreiche neurowissenschaftliche Fachgesellschaften, darunter die DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde) ein Curriculum fMRT herausgegeben (Schneider u. Dietrich 2005). Dieses Curriculum definiert, welche Ausbildung jemand, der selbständig fMRT-Untersuchung durchführen will, durchlaufen haben sollte und sieht nach standardisierten Prüfungen bei zertifizierten Ausbildern eine Bescheinigung über die Qualifikation vor. Für weitere bildgebende Verfahren sollen analoge Curricula in Zukunft folgen. Die hier vorgestellten Methoden sind überwiegend noch nicht sehr lange allgemein für Forschungszwecke verfügbar. Deshalb ist zu beobachten, dass die meisten bis jetzt vorgestellten Studien sehr isolierte und spezifische Fragestellungen untersucht haben. In der Zukunft ist zu erwarten, dass der Einsatz der funktionell bildgebenden Methoden verstärkt der Testung konkreter Störungsmodelle dient und dass auch metho-

denübergreifende Metaanalysen sich verstärkt auf die Entwicklung übergreifender Modelle konzentrieren. In einem derartigen Ansatz haben Phan und Mitarbeiter (2002) versucht, die Ergebnisse aus 55 Studien mit PET und fMRT zum emotionalen Erleben und Verhalten zu integrieren. Als vielfältig bei emotionalen Prozessen involviert, konnte die Arbeitsgruppe vor allem den medialen Präfrontalkortex identifizieren. Möglicherweise ist diese Struktur unabhängig von der spezifischen Aufgabe (Emotionsinduktion, Emotionsdiskrimination, emotionales Gedächtnis) von einer generellen Bedeutung für emotionale Prozesse. In der Zukunft wird sicherlich die kombinierte Untersuchung von funktionellen und strukturellen Befunden, in Zusammenhang mit Konnektivitätsanalysen und/oder genetischen Analysen zunehmen und – so ist zu hoffen – ein besseres Verständnis psychischer Störungen ermöglichen. Es ist im Rahmen dieses Kapitels nicht möglich, den spezifischen Gegebenheiten des Einsatzes der fMRT in speziellen psychiatrischen Fragestellungen den ausreichenden Raum zu geben. Eine ausführlichere Darstellung findet sich beispielsweise bei Schneider u. Fink (2007).

145 6.3 · Positronenemissionstomografie und Single-Photon-Emissions-Computertomografie

DLPFC

DLPFC

VLPFC

VLPFC

THAL

PAR

PAR

CB

CB

Patienten > Kontrolle Patienten < Kontrolle

⊡ Abb. 6.9. Pfadmodell kortikal-subkortikal-zerebellärer Interaktionen während einer Arbeitsgedächtnisaufgabe. Patienten mit Schizophrenie und atypischen Neuroleptika weisen eine verstärkte interhemisphärische Konnektivität (grau) im Vergleich zu Patienten mit typischen Neuroleptika auf. DLPFC: dorsolateral präfrontaler Kortex; VLPFC: ventrolateral präfrontaler Kortex; PAR: parietaler Kortex; CB: Cerebellum; THAL: Thalamus. (Schlösser et al. 2006)

6.3

dung finden, haben in der Regel eine kurze Halbwertszeit (Kohlenstoff-11: 20,4 min, Sauerstoff-15: 2,07 min, Fluor18: 109,7 min). Diese Isotope eignen sich besonders zum Studium natürlicher Systeme, weil ihre stabilen Analoga Grundbausteine nahezu aller Biomoleküle und vieler Pharmaka sind. Während mit Fluor-18 markierte Radioliganden auch in PET-Zentren, die nicht über ein Zyklotron verfügen, appliziert werden können, macht die Verwendung von Tracern, die mit kurzlebigen Isotopen markiert sind, ein Zyklotron am Ort der Applikation notwendig. Demgegenüber ist wegen der langen Halbwertszeit der verwendeten Photonenstrahler (z. B. 13,22 h für Iod-131) für die Anwendung im Rahmen der SPECT ein Teilchenbeschleuniger vor Ort nicht notwendig. Auch dies macht die SPECT logistisch erheblich leichter handhabbar als die PET. Der wesentliche Vorteil, der die nuklearmedizinischen bildgebenden Verfahren vor allen anderen modernen Methoden der funktionellen Bildgebung auszeichnet, ist ihre außerordentlich hohe Sensitivität. So erlauben PET und SPECT die Quantifizierung von Stoffmengen in einer Konzentration von 10-9 M bis 10-12 M (M = Molar; ⊡ Abb. 6.10). Damit sind sie um viele Größenordnungen sensitiver als magnetresonanztomografische Verfahren. So kann Gadolinium mit der MRT lediglich in einer Konzentration von bis zu 10-4 M quantifiziert werden. Die Magnetresonanzspektroskopie (MRS) erlaubt die Bestimmung von GABA oder Glutamin sogar nur in Konzentrationen bis zu 10-3 M. Damit sind nuklearmedizinische Verfahren auf nicht absehbare Zeit die wichtigsten Werkzeuge für die neurochemische und pharmakologische

Positronenemissionstomografie und Single-Photon-EmissionsComputertomografie G. Gründer

Die nuklearmedizinischen bildgebenden Verfahren ermöglichen die Untersuchung biochemischer und physiologischer Prozesse im lebenden Gehirn des Menschen. Dabei hat die Positronenemissionstomografie (PET) gegenüber der Single-Photon-Emissions-Computertomografie (SPECT) die Vorteile der besseren räumlichen Auflösung, der besseren (absoluten) Quantifizierbarkeit sowie der wesentlich breiteren Palette an verfügbaren Radioliganden. Demgegenüber ist die SPECT wegen des geringeren apparativen und logistischen Aufwandes und der demzufolge niedrigeren Kosten breiter verfügbar. Beide Verfahren haben die Verwendung von mit einem radioaktiven Isotop markierten Radiopharmakon (»Tracer«, »Radiotracer«) gemein, die die nichtinvasive Quantifizierung von Proteinen (Rezeptoren, Transporter) bzw. deren Aktivitäten (Enzyme) im lebenden Organismus erlaubt. Radionuklide, die im Rahmen der PET Verwen-

⊡ Abb. 6.10a–f. PET-Untersuchungen gesunder menschlicher Probanden mit 2 Liganden für D2- und D3-Dopaminrezeptoren unterschiedlicher Affinität. Desmethoxyfallyprid (a–c) weist eine Ki von ca. 15 nM auf. Es erlaubt eine reliable Quantifizierung des Zielrezeptors nur im Striatum (b). Demgegenüber ermöglicht das Analogon Fallyprid (Ki = 38 pM, d–f) die Quantifizierung von D2/D3-Rezeptoren selbst in Hirnregionen mit sehr niedriger Rezeptordichte, z. B. im temporalen Kortex (d)

6

146

Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung

Forschung am Menschen in vivo. Darüber hinaus bieten sich mit den sich entwickelnden Möglichkeiten der Visualisierung und Quantifizierung von Signaltransduktion und Genexpression außerordentlich zukunftsweisende neue Anwendungsfelder dieser Methoden. Im Rahmen dieses Kapitels soll die Darstellung einiger Anwendungen in den Neurowissenschaften im Vordergrund stehen. Eine detailliertere Übersicht über die methodischen Grundlagen der nuklearmedizinischen bildgebenden Verfahren sowie umfangreichere Literaturangaben finden sich in Gründer 2008.

6.3.1

6

Untersuchungsparadigmen

Quantifizierung metabolischer Prozesse Die ersten Anwendungen der PET am Menschen waren die Quantifizierung des Glukosestoffwechsels mit radioaktiv markierter Glukose ([18F]Fluorodesoxyglukose, FDG) und die Messung des Dopaminmetabolismus mit radioaktiv markiertem DOPA (6-[18F]Fluoro-DOPA, 6[18F]FDOPA). Diese Liganden – insbesondere das für die Onkologie besonders wichtige [18F]FDG – stellen noch heute weltweit die am häufigsten verwendeten PET-Tracer dar. [18F]FDG ist ein Glukoseanalogon, das von Zellen aufgenommen wird, die Glukose verbrauchen. In den Zellen wird es durch das Enzym Hexokinase phosphoriliert. Der phosphorilierte Radioligand akkumuliert in allen stoffwechselaktiven Zellen, d. h. v. a. in der Leber, in Tumoren und im Gehirn, und hier vor allem in den Neuronen der grauen Substanz. Er eignet sich damit nicht nur für diagnostische Maßnahmen (z. B. im Rahmen der Demenzdiagnostik), sondern auch für Aktivierungstudien, die keine hohe zeitliche Auflösung erfordern. Die Quantität des Dopaminmetabolismus, gemessen mit 6-[18F]FDOPA, gilt als Maß für die Funktion und Integrität dopaminerger Neurone. 6-[18F]FDOPA wird von den dopaminergen Neuronen im Nucleus caudatus und im Putamen aufgenommen und nach rascher Umsetzung durch das Enzym Dopa-Dekarboxylase als Fluorodopamin gespeichert. Das Ausmaß der striatalen Speicherung des Liganden gilt daher auch als Maß für die Aktivität der Dopa-Dekarboxylase. PET mit 6-[18F]FDOPA wird in erster Linie genutzt, um den Verlust nigrostriataler dopaminerger Neurone im Rahmen eines Morbus Parkinson zu quantifizieren. Mit dieser Methode können sehr frühe und sogar präklinische Krankheitsstadien erkannt werden, wobei der Nucleus caudatus deutlich weniger und erst später betroffen ist als das Putamen. In der Diagnostik von Bewegungsstörungen haben allerdings in den letzten Jahren Liganden für den Dopamintransporter zunehmende Bedeutung erlangt, da die Quantifizierung des Dopamintransporters den Verlust dopaminerger Neurone mit noch höherer Sensitivität anzeigt. Zudem sind

für den Transporter SPECT-Liganden verfügbar, was ihren breiten klinischen Einsatz erheblich erleichtert. 6[18F]FDOPA wurde in den letzten Jahren in verschiedenen Arbeitsgruppen genutzt, um den Dopaminmetabolismus bei verschiedenen neuropsychiatrischen Störungen (schizophrene Störungen, Substanzabhängigkeit) zu quantifizieren (s. unten). Eine modernere Entwicklungslinie stellen Radioliganden für die Monoaminoxydase (MAO) dar. Studien an Rauchern zeigen, dass beide Isoformen der MAO bei diesen in erheblichem Umfang gehemmt werden. Studien zum Monoaminkatabolismus bei psychischen Störungen stellen interessante, bisher in keiner Weise ausgeschöpfte Anwendungsmöglichkeiten dieser Liganden dar.

Quantifizierung von Neurotransmitterrezeptoren und -transportern Bis heute wurden mehrere Hundert Radioliganden für eine Vielzahl von Rezeptoren und Transportern beschrieben. Nur die wenigsten wurden bis zur Anwendung am Menschen weiterentwickelt, und noch weniger wurden in klinischen Studien an psychiatrischen Patientenkollektiven verwendet. Die ersten PET-Liganden für Neurotransmitterrezeptoren waren im Jahre 1983 Liganden für D2-artige Dopaminrezeptoren. Neben Studien an gesunden Probanden, die eine altersabhängige Abnahme der D2-Rezeptordichte zeigten, waren Patienten mit schizophrenen Störungen die ersten Patientengruppen, die mit diesen Liganden untersucht wurden. Während eine einzelne PET-Untersuchung lediglich die Messung des sog. »Bindungspotenzials« (oder Rezeptorverfügbarkeit) erlaubt, sind für die Bestimmung von Rezeptordichte Bmax und -affinität KD mindestens 2 Untersuchungen (mit unterschiedlicher spezifischer Aktivität des Radioliganden) notwendig. Heute gilt jedoch die einfache Quantifizierung von Rezeptorverfügbarkeiten oder -dichten als wenig aufschlussreich, da sie lediglich ein statisches Bild des untersuchten Systems vermitteln. Als aussichtsreicher gelten Untersuchungen mit physiologischer, psychologischer oder pharmakologischer Stimulation, da sie Erkenntnisse über die Ansprechbarkeit des Systems liefern. Von dort ausgehend hat auch die Quantifizierung endogener Neurotransmitterkonzentrationen eine sehr große Bedeutung in der neurobiologischen PET-Forschung erlangt.

Neurotransmitterkonzentrationen Mit PET und SPECT können nicht nur die Dichten spezifischer Target-Moleküle quantifiziert werden. Diese Methoden eignen sich auch, um Neurotransmitterkonzentrationen zumindest semiquantitativ zu messen. So kann ein Rezeptorligand nicht nur dazu verwendet werden, die Dichte dieses Rezeptors zu quantifizieren, sondern auch, um die Kompetition des endogenen Neurotransmitters mit dem Liganden um die Bindung am Rezeptor zu erfassen. Der D2-artige Dopaminrezeptor gilt auch hier als pro-

147 6.3 · Positronenemissionstomografie und Single-Photon-Emissions-Computertomografie

totypisches System, an dem die Prinzipien der wesentlichen Untersuchungsparadigmen, die heute in den Neurowissenschaften zur Anwendung kommen, entwickelt wurden. Erwägungen, dass selektive Radioliganden für Neurotransmitterrezeptoren durch den endogenen Neurotransmitter aus ihrer Bindung an den Rezeptor verdrängt werden können, spielen schon seit Anfang der 1990er Jahre eine wesentliche Rolle bei der Interpretation der Ergebnisse von PET-Studien. Studien mit dem D2/D3-selektiven [11C]Racloprid am Menschen konnten zeigen, dass Stimulanzien wie Amphetamin oder Methylphenidat durch die Erhöhung synaptischer Dopaminkonzentrationen die Bindung des Liganden reduzieren (⊡ Abb. 6.11). Diese Stimulierbarkeit dopaminerger Systeme nimmt mit dem Alter ab. In Studien an Pavianen konnte die striatale Bindung von [11C]Racloprid auch durch Pharmaka, die synaptische Dopaminkonzentrationen auf anderem Wege erhöhen, z. B. Dopaminrückaufnahmehemmer, deutlich reduziert werden (Dewey et al. 1993 a). Umgekehrt führt die Applikation von Substanzen, die synaptische Speichervesikel entleeren und damit das synaptische Dopamin vermindern, wie z. B. Reserpin, zu einer erhöhten [11C]Racloprid-Bindung. Gleiches gilt, wenn man die Dopaminsynthese durch die Gabe von α-Methyl-para-Tyrosin (AMPT) vermindert (Abi-Dargham et al. 2000). Die indirekte Messung der Veränderung synaptischer Transmitterkonzentrationen durch pharmakologische Stimulation führte schließlich in den letzten Jahren auch zu bedeutsamen Einblicken in die Pathophysiologie schizophrener Störungen (s. unten). Fast alle derartigen Untersuchungen (und auch die im folgenden Abschnitt beschriebenen) sind mit BenzamidRadioliganden durchgeführt worden. Viele andere Liganden auch für andere Neurotransmittersysteme sind nicht sensitiv gegenüber Veränderungen synaptischer Transmitterkonzentrationen. Es ist gegenwärtig unklar, welche ⊡ Abb. 6.11a, b. Inzwischen klassisches Untersuchungsparadigma zur Quantifizierung der Dopaminfreisetzung auf einen pharmakologischen Stimulus. a SPECT-Baseline-Untersuchung eines Probanden mit dem D2/D3-selektiven Radioliganden [123I]Iodobenzamid (IBZM), b nach Applikation von Amphetamin. Das Stimulans führt zu einer ausgeprägten Dopaminfreisetzung. Erhöhtes synaptisches Dopamin verdrängt den Radioliganden aus seiner Bindung am Rezeptor. Die Abnahme der Bindung des Radioliganden gilt daher als Maß für die amphetamin-induzierete Dopaminfreisetzung. (Nach Abi-Dargham et al. 1998)

a

Eigenschaften ein Radioligand aufweisen muss, um ihn für derartige Untersuchungsansätze geeignet zu machen.

Neurotransmitterinteraktionen Es sind wahrscheinlich nicht gestörte Funktionen isolierter Neurotransmittersysteme, die psychischen Störungen zugrunde liegen, sondern eher komplexe Dysregulationen verschiedener Systeme. Mit der PET können diese Interaktionen in vivo untersucht werden. Besonders intensiv studiert wurde der Einfluss von serotonergen, cholinergen, GABAergen und glutamatergen Systemen auf die dopaminerge Neurotransmission. Der muskarinische Azetylcholinrezeptorantagonist Scopolamin führt bei gesunden Probanden zu einer signifikanten Reduktion der striatalen [11C]Racloprid-Bindung (Dewey et al. 1993b). Dies wird mit einer Verminderung des exzitatorischen cholinergen Inputs auf hemmende striatale GABAerge Interneurone erklärt, was wiederum zu eine verstärkten Dopaminfreisetzung führt. Der Befund einer Erhöhung der striatalen [11C]Racloprid-Bindung durch GABAerge Substanzen wie Vigabatrin oder Lorazepam ist allerdings nicht unumstritten. Zur Verminderung der striatalen [11C]Racloprid-Bindung durch Glutamatantagonisten s. unten. Diese und andere Untersuchungen wurden auf der Grundlage der Hypothese, dass die Bindung von [11C]Racloprid und anderer Radioliganden direkt durch synaptische Transmitterkonzentrationen beeinflusst wird, interpretiert. Diese zentrale Annahme wurde kürzlich durch eine aufwändige Untersuchungsserie einer japanischen Arbeitsgruppe in Frage gestellt. Hier führte Scopolamin bei Affen nicht zu einer Veränderung striataler Dopaminkonzentrationen, wenn diese durch Mikrodialyse gemessen wurden (Tsukada et al. 2000). Dennoch wurde die striatale [11C]Racloprid-Bindung vermindert, was jedoch auf eine verminderte Affinität des D2-Rezeptors nach Gabe von Scopolamin zurückzuführen war. Dies illustriert, dass die Interpretation derartiger PET-

b

6

148

6

Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung

Studien spezifischer psychischer Störungen

Studien zahlreichen Einflussgrößen unterliegt, die sorgfältig studiert werden müssen.

6.3.2

Arzneimittelentwicklung

Schizophrene Störungen

PET und SPECT sind zu außerordentlich wertvollen Werkzeugen in der Arzneimittelentwicklung insbesondere von Neuropsychopharmaka geworden. Sie haben zudem wesentliche Erkenntnisse über die Wirkmechanismen dieser Substanzen geliefert. Wenn Radioligand und therapeutische Substanz kompetitiv an der gleichen Zielstruktur (z. B. einem Rezeptor) binden, so liefern diese Methoden direkte Informationen über das Ausmaß der Bindung sowie über die Kinetik des Pharmakons im Zielgewebe bzw. am Zielmolekül (⊡ Abb. 6.12). Zudem können von einem Liganden zu markierende Zielmoleküle (z. B. Amyloid bei Alzheimer-Demenz) als Surrogatmarker für den Erfolg einer Therapie dienen. Als besonders wertvoll hat sich die PET bei der quantitativen Erfassung der Besetzung D2-artiger Dopaminrezeptoren durch Antipsychotika erwiesen. Das Monitoring der antipsychotischen Therapie durch Korrelation von Rezeptorbesetzungen und Dosierungen bzw. Plasmaspiegeln einerseits und klinischen Wirkungen und Nebenwirkungen andererseits hat nicht nur wertvolle Informationen über die Pharmakokinetik dieser Substanzgruppe geliefert, sondern auch ganz wesentlich zum Verständnis ihrer Wirkungsweise beigetragen (Gründer et al. 2003 a). Der Ansatz wurde in den letzten Jahren auch auf andere, insbesondere serotonerge Rezeptorsysteme, ausgedehnt. Er ist heute aus einer rationalen Arzneimittelentwicklung nicht mehr wegzudenken.

Gegenwärtige Konzeptionen zur Neurochemie schizophrener Störungen gehen davon aus, dass ein wesentlicher Anteil ihrer Phänomenologie (d. h. insbesondere Negativsymptome und kognitive Störungen) auf eine Verminderung der dopaminergen Neurotransmission in mesokortikalen dopaminergen Projektionen zurückzuführen ist und dass der hypostasierte Exzess der dopaminergen Neurotransmission in mesolimbischen Projektionen lediglich als Folge dieses basaleren Prozesses zu betrachten ist (Weinberger 1987). PET-Untersuchungen der letzten Jahre konnten dieses Konzept in wesentlichen Teilen stützen. Dabei sind jedoch die in subkortikalen Kerngebieten ablaufenden Veränderungen erheblich besser charakterisiert als die funktionalen Veränderungen im (präfrontalen) Kortex. So konnte gezeigt werden, dass Patienten mit der akuten Exazerbation einer schizophrenen Störung auf einen Amphetaminstimulus mit einer stärkeren Dopaminfreisetzung im Striatum reagieren als gesunde Kontrollprobanden (Abi-Dargham et al. 1998). Mehrere voneinander unabhängige Gruppen konnten zeigen, dass die Dopaminsynthesekapazität – gemessen mit [18F]FDOPA-PET – bei Patienten mit schizophrenen Störungen gesteigert ist (z. B. Reith et al. 1994). Die mehrwöchige Behandlung von Patienten mit einer schizophrenen Störung mit Haloperidol führt zu einer Abnahme des Dopaminmetabolismus (⊡ Abb. 6.13; Gründer et al. 2003).

⊡ Abb. 6.12a-d. PET-Untersuchung eines gesunden Probanden mit [11C]N-Methylspiperon ([11C]NMSP) zur Bestimmung der zeitlichen Dynamik der 5-HT2-Rezeptorbesetzung durch den selektiven 5-HT2Antagonisten M100907. [11C]NMSP bindet nichtselektiv sowohl an D2artige Dopaminrezeptoren als auch an 5-HT2-Rezeptoren (und in geringem Umfang auch an α1-Rezeptoren). Dabei repräsentiert die Bindung im Striatum die Bindung an D2-artige Rezeptoren, die Bindung im Kortex die Bindung an 5-HT2(und α1-)Rezeptoren (a Baseline). Nach der Baseline-Untersuchung wurde der Proband mit einer M100907-Einzeldosis behandelt und seriellen PET-Scans b nach 2, c nach 8 und d nach 24 h unterzogen. Während der gesamten Dauer bleiben die kortikalen 5-HT2-Rezeptoren zu mehr als 80% blockiert. (Nach Gründer et al. 1997)

a

b

2h

8h c

d

24 h

Baseline

149 6.3 · Positronenemissionstomografie und Single-Photon-Emissions-Computertomografie

⊡ Abb. 6.13a, b. PET-Untersuchungen mit dem Liganden 6-[18F]FDOPA bei Patienten mit einer schizophrenen Störung a vor und b nach 4- bis 6-wöchiger Behandlung mit Haloperidol. Dargestellt sind gemittelte Bilder der Dopaminsynthesekapazität bei 9 Patienten. Die subchronische antipsychotische Behandlung führt zu einer Reduktion des Dopaminmetabolismus. (Nach Gründer et al. 2003 b)

a

Präfrontal-subkortikale Dysregulation. In den letzten

Jahren gelang es der Gruppe um Weinberger, in tierexperimentellen Studien den in diesen Untersuchungen belegten Exzess in mesolimbischen dopaminergen Projektionen auf basalere pathophysiologische Prozesse zurückzuführen. So weisen Affen, deren medialer temporaler Kortex neonatal geschädigt wird, im Erwachsenenalter eine im Vergleich zu gesunden Tieren erhöhte Dopaminfreisetzung auf einen Amphetaminstimulus auf (Saunders et al. 1998). Tiere, denen erst im Erwachsenenalter die Läsion gesetzt wird, verhalten sich in dieser Beziehung wie gesunde Tiere. Bei Patienten mit schizophrenen Störungen korreliert die Konzentration von N-Azetylaspartat als Marker für die neuronale Integrität negativ mit der amphetamininduzierten Dopaminfreisetzung, wobei dieser Zusammenhang lediglich im dorsolateralen präfrontalen Kortex besteht (Bertolino et al. 2000). Zuletzt legen die Arbeiten von Abi-Dargham et al. (2002) einen direkten Zusammenhang zwischen kognitiven Störungen und einer verminderten dopaminergen Neurotransmission in mesokortikalen Projektionen nahe. So ist bei Patienten mit einer schizophrenen Störung, nicht jedoch bei gesunden Probanden, die Arbeitsgedächtnisleistung negativ mit der D1-Rezeptorverfügbarkeit im dorsolateralen präfrontalen Kortex korreliert (Abi-Dargham et al. 2002). Die Heraufregulation von D1-Rezeptoren wird hier als kompensatorischer, bei Schizophrenien aber insuffizienter Mechanismus für eine verminderte mesokortikale dopaminerge Neurotransmission betrachtet. Ketaminpsychose. Die Applikation des NMDA-Antago-

nisten Ketamin führt zu einer Psychose, die sich vor allem durch Negativsymptome und kognitive Störungen auszeichnet. Die Ketaminpsychose gilt daher als ein Modell für schizophrene Störungen, das vor allem dadurch be-

b

sonders attraktiv ist, dass es durch ein Transmittersystem modelliert wird, das ganz wesentlich in die Pathophysiologie schizophrener Störungen involviert zu sein scheint. Mehrere Arbeitsgruppen konnten unabhängig voneinander zeigen, dass hohe subanästhetische Dosen von Ketamin zu einer Dopaminfreisetzung im Striatum gesunder Probanden führen. Besonders interessant ist, dass die amphetaminduzierte Dopaminfreisetzung bei gesunden Probanden, denen zusätzlich Ketamin infundiert wird, ein Ausmaß erreicht, das dem bei Patienten mit schizophrenen Störungen entspricht, die lediglich Amphetamin erhalten (Kegeles et al. 2000). Man betrachtet daher die Ketaminstimulation als pharmakologisches Modell für das bei schizophrenen Störungen vermutete glutamaterge Defizit, das sekundär für die oben beschriebenen Störungen der subkortikalen dopaminergen Neurotransmission verantwortlich gemacht wird.

Affektive Störungen Ganz im Zentrum der Studien zu affektiven Störungen stand – entsprechend der immer noch in weiten Teilen akzeptierten »Monoaminhypothese« affektiver Störungen – die monoaminerge Neurotransmission. Hier liegen die meisten Studien zur Funktion serotonerger Systeme vor. Untersucht wurden vor allem 5-HT1A- und 5-HT2-Rezeptoren sowie der Serotonintransporter. Auch die Rolle dopaminerger Systeme bei depressiven Störungen wurde recht gut untersucht. In Ermangelung guter Liganden fehlen Studien zu noradrenergen Systemen fast vollständig. Besonders interessant erscheinen jedoch die jüngst publizierten Untersuchungen zur Aktivität der Monoaminoxidase A (MAO-A). Der in Post-mortem-Untersuchungen an Patienten mit depressiven Störungen und an Suizidopfern erhobene Befund einer erhöhten kortikalen 5-HT2-Rezeptordichte

6

150

6

Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung

konnte in den vorliegenden PET- und SPECT-Untersuchungen nicht konsistent bestätigt werden. Die Mehrzahl der Studien zeigt Verminderungen oder keine Veränderung der 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit, nur einzelne Studien bestätigten die vermuteten Erhöhungen der Rezeptordichte, die bei reduzierten synaptischen Serotoninkonzentrationen zu erwarten sein sollten. Während eine erniedrigte 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit in mehreren Studien durch eine erst kurz zuvor durchgeführte Behandlung mit serotonergen Antidepressiva erklärt werden kann, zeigen selbst die Studien mit einem medikationsfreien Intervall von mehr als 6 Monaten nicht konsistent Erhöhungen der 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit. Meyer und Mitarbeiter haben nun vorgeschlagen, dass es nicht die Störung an sich ist, die mit der 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit in Verbindung steht, sondern bestimmte psychopathologische Charakteristika (Meyer et al. 2003). Sie fanden eine hochsignifikante positive Korrelation zwischen kortikaler 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit und dysfunktionalen Einstellungen der Patienten; Patienten mit dem höchsten Grad an Pessimismus wiesen die höchste 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit, insbesondere im präfrontalen Kortex (Brodman Area 9) auf. Ähnliche Befunde fand die gleiche Arbeitsgruppe auch hinsichtlich der Verfügbarkeit des Serotonintransporters. Während sich in einem Gruppenvergleich kein Unterschied zwischen depressiven Patienten und gesunden Kontrollen fand, wiesen die Patienten mit den ausgeprägtesten dysfunktionalen Einstellungen die höchste Serotonintransporterverfügbarkeit auf (Meyer et al. 2004). Damit ist nicht nur widerlegt, dass ein bei depressiven Störungen vermutetes serotonerges Defizit auf eine Degeneration serotonerger Neurone zurückzuführen ist; die Befunde legen eher nahe, dass die Überexpression von Serotonintransportern einem solchen Defizit zugrunde liegen könnte. Auch Befunde zur dopaminergen Neurotransmission legen nahe, dass die gestörte Neurochemie bei depressiven Störungen weniger mit der nosologischen Entität »Depression« in Beziehung zu setzen ist als vielmehr mit bestimmten Charakteristika dieser Erkrankungen. So weisen depressive Patienten mit einer motorischen Hemmung eine erhöhte D2-Rezeptorverfügbarkeit im Putamen auf, was nach heutigen Modellen auf verminderte synaptische Dopaminkonzentrationen in dieser Hirnstruktur hinweist (Meyer et al. 2006 a). Besonders interessant erscheint der jüngst publizierte Befund einer erhöhten Verfügbarkeit der MAO-A bei Patienten mit einer depressiven Störung (Meyer et al. 2006 b; ⊡ Abb. 6.14). Für die Autoren könnte dieser Befund die Haupterklärung für ein vermutetes monoaminerges Defizit bei depressiven Störungen sein. Gegen so monokausale und mechanistische Erklärungsmodelle allerdings spricht z. B. der Befund, dass Nikotin zu einer ausgeprägten Hemmung der MAO-A führt.

Suchterkrankungen Substanzabhängigkeiten stellen die Gruppe von Störungen dar, in deren Neurobiologie nuklearmedizinische bildgebende Verfahren in den letzten Jahren besonders tiefe Einblicke ermöglicht haben. Zentraler Mechanismus aller Substanzen, die zu einer Sucht führen können, ist die Erhöhung synaptischer Dopaminkonzentrationen im Belohnungssystem des Gehirns, d. h. insbesondere in temporolimbischen Hirnstrukturen. Während man früher den Neurotransmitter Dopamin lediglich als Vermittler von Belohnung (»reward«) ansah, gilt er heute als Modulator der Bedeutung (»salience«) von Reizen, der auch in Phänomene wie Motivation, die Prädiktion von Belohnung bzw. deren Ausbleibens sowie die Gedächtnisbildung salienter Ereignisse involviert ist. Zudem weiß man heute, dass auch präfrontal-kortikale Strukturen, der insuläre Kortex sowie der Thalamus die langfristigen Substanzwirkungen modulieren. Präklinische Befunde, die zeigen, dass abhängigkeitserzeugende Substanzen zu einer sehr ausgeprägten Dopaminfreisetzung im Nucleus accumbens, einer zentralen Struktur des zerebralen Belohungssystems, führen, konnten durch PET-Studien am Menschen sehr klar bestätigt werden (⊡ Abb. 6.11). So korreliert die durch (dopaminomimetische) Stimulanzien wie Kokain induzierte Dopaminfreisetzung mit dem von gesunden Probanden erlebten »High« nach Applikation der Substanz und dem Ausmaß der Dopamintransporterbesetzung durch die Droge (Volkow et al. 1997). Unabhängig von der missbrauchten Substanz ist bei Patienten mit einer Substanzabhängigkeit die D2-Rezeptorverfügbarkeit im ventralen Striatum vermindert. Gleichzeitig ist bei diesen Patienten – und auch das offenbar unabhängig von der Substanz – die Dopaminfreisetzung auf ein Stimulans deutlich vermindert bzw. sogar aufgehoben (Martinez et al. 2005). Beide Veränderungen zusammen werden als neurobiologisches Substrat einer verminderten Sensitivität gegenüber verstärkenden Substanzen aufgefasst. Dabei scheint das Verlangen nach Alkohol (»Craving«) das subjektiv erlebte Korrelat dieser reduzierten dopaminergen Sensitivität zu sein (Heinz et al. 2004). Zudem weisen Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit eine erhöhte μ-Opiatrezeptorverfügbarkeit auf, die bei jenen Patienten mit dem ausgeprägtesten Craving am deutlichsten ist (⊡ Abb. 6.15; Heinz et al. 2005). Andere Studien weisen auf komplexe Interaktionen auch mit weiteren, insbesondere GABAergen und glutamatergen, Transmittersystemen hin. Die Aktivität dopaminerger Systeme könnte auch einen Teil der Vulnerabilität für Substanzabhängigkeiten darstellen. So erleben gesunde Probanden mit der niedrigsten striatalen D2-Rezeptorverfügbarkeit die stärksten positiven Wirkungen nach Applikation von Methylphenidat. Neueste Befunde deuten an, dass die Söhne alkoholabhängiger Väter ein geringeres Risiko für die Entwicklung einer Abhängigkeit haben, wenn sie eine hohe stria-

6

151 6.3 · Positronenemissionstomografie und Single-Photon-Emissions-Computertomografie

Präfrontaler Kortex

35

35 30

25

Aktivität [kBq/ml]

Aktivität [kBq/ml]

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20

15

10

25 20 15 10

5

0

Thalamus

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5

0

20

40

60

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0

100

0

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Zeit [min]

100

80

100

25

Aktivität [kBq/ml]

Aktivität [kBq/ml]

80

Temporaler Kortex

30

25

20

15

10

5

0

60

Zeit [min]

Anterior Cingulärer Kortex

30

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20

15

10

5

0

20

40

60

80

100

Zeit [min]

⊡ Abb. 6.14. PET-Untersuchungen mit dem Liganden [11C]Harmin, mit dem die Verfügbarkeit der MAO-A quantifiziert werden kann. Typische, die Gesamtkollektive gut repräsentierende Zeit-Aktivitäts-Kurven eines depressiven Patienten (geschlossene Kreise) und eines gesunden Pro-

tale D2-Rezeptorverfügbarkeit aufweisen (Volkow et al. 2006). Studien zur Modulation der D2-Rezeptorverfügbarkeit durch Stress oder die Stellung in der sozialen Hierarchie zeigen, dass sich die Interaktion zwischen biologischer, genetisch determinierter Vulnerabilität und verschiedenen Umweltfaktoren auch mit nuklearmedizinischen bildgebenden Verfahren darstellen lässt. Schließlich wurde die PET in den letzten Jahren auch eingesetzt, um die biologischen Wirkungen von Entwöhnungs- und Anti-Craving-Substanzen zu untersuchen. Dies ist ein sich entwickelndes Feld, das wahrscheinlich in Zukunft erhebliche Bedeutung erlangen wird.

Demenzielle Syndrome Im Unterschied zu allen bisher diskutierten Störungen stellt die PET bei demenziellen Syndromen bisher nicht

0

0

20

40

60

Zeit [min] banden (offene Kreise) in verschiedenen, repräsentativen Hirnregionen. Der Befund illustriert die ubiquitär erhöhte Verfügbarkeit des Enzyms. (Nach Meyer et al. 2006 b)

ausschließlich ein Forschungs-, sondern auch und in erster Linie ein diagnostisches Werkzeug dar. Dabei ist die PET mit [18F]FDG eine klassische Anwendung mit hoher Sensitivität und Spezifität in der Früh- und Differenzialdiagnostik demenzieller Syndrome. So findet sich z. B. bei der Demenz vom Alzheimer-Typ der klassische Befund einer Reduktion des Glukosemetabolismus in parietookzipitalen Hirnregionen. In den letzten Jahren wurden Radioliganden entwickelt, die spezifisch an Amyloid-β-Peptid binden. Unter den verschiedenen Entwicklungsstrategien hat sich die radioaktive Markierung der Farbstoffe Kongorot oder Thioflavin als derzeit am aussichtsreichsten erwiesen. Bei Patienten mit Demenz vom AlzheimerTyp und mit leichter kognitiver Störung (MCI) wurden [18F]FDDNP und [11C]PIB evaluiert. Dabei finden sich erheblich höhere Anreicherungen bei Patienten mit Alzhei-

152

Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung

Die Untersuchung der endogenen Genexpression, wie sie in der neuropsychiatrischen Forschung besonders wichtig wäre, wird daher noch viele Jahre experimenteller Vorarbeiten erfordern.

Literatur Zu Abschn. 6.1 a

b

c

d

6

⊡ Abb. 6.15a–d. PET-Untersuchungen von a/c Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit im Vergleich zu b/d gesunden Probanden mit dem Radioliganden [11C]Carfentanil. Dieser Ligand bindet selektiv an μ-Opiatrezeptoren. Sowohl der a transversale als auch der c koronare Schnitt zeigt deutlich die erhöhte μ-Opiatrezeptorverfügbarkeit bei der Patientengruppe im Vergleich zu den gesunden Probanden (b, d). (Nach Heinz et al. 2005)

mer-Demenz, Patienten mit MCI weisen intermediäre Werte auf. Dabei bietet das Amyoid-Imaging eine höhere Trennschärfe zwischen den diagnostischen Gruppen als die PET mit [18F]FDG und die MRT (Small et al. 2006). Diese Methoden wird man in der Zukunft zum Monitoring prophylaktischer und insbesondere pharmakotherapeutischer Maßnahmen nutzen.

6.3.3

Ausblick

Im Zentrum nahezu aller bisher durchgeführten PETbzw. SPECT-Untersuchungen stand die Quantifizierung synaptischer Moleküle und Prozesse. Diese Untersuchungen können jedoch wahrscheinlich nur oberflächliche Phänomene der Neurochemie psychischer Störungen beschreiben. Daher gehen wesentliche Entwicklungen der nächsten Jahre in die Richtung der Beschreibung von Signaltransduktionskaskaden und noch einen Schritt darüber hinaus, zur Quantifizierung der Genexpression. Die existierenden Methoden wurden in der onkologischen Forschung entwickelt. Die in der Onkologie mit großem Erfolg eingesetzten Strategien sind in den Neurowissenschaften allerdings nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten umsetzbar, weil die Blut-Hirn-Schranke einen Übertritt der Radiotracer in das ZNS vielfach verhindert.

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6

154

6

Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung

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6

7 7 Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen P. Riederer, W. E. Müller, A. Eckert, J. Thome

7.1

Einleitung

– 158

7.2

Grundprinzipien der Neurotransmission – 158

7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5

Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren – 159 Neurotransmitter – 159 Rezeptoren – 162 Neurotransmitterrezeptorsysteme – 164 Signaltransduktion – 170 Transkriptionskopplung – 174

7.4

Neuroanatomische Aspekte – 177

7.5

7.5.3 7.5.4 7.5.5

Klassische Neurotransmittermodelle neuropsychiatrischer Erkrankungen – 177 Demenz vom Alzheimer-Typ – 179 Depressionen (manisch-depressive Erkrankungen) – 179 Schizophrene Psychosen – 180 Angsterkrankungen – 181 Persönlichkeitseigenschaften – 181

7.6

Probleme der Forschung – 182

7.5.1 7.5.2

Literatur

– 183

> > Die Rolle von Neurotransmittersystemen in der Physiologie der Gehirnfunktionen ist ebenso unbestritten wie deren Beteiligung an pathologischen Veränderungen, die letztlich zu den Symptomen psychischer Krankheiten führen. Neurotransmitterhypothesen psychischer Störungen sind sowohl in der Pathogeneseforschung als auch in der Psychopharmakotherapie Ausgangspunkte der wissenschaftlichen Bemühungen um ein besseres Verständnis der neurobiochemischen Grundlagen psychischer Erkrankungen. Einfache Monotransmitterhypothesen haben adäquateren Gleichgewichtstheorien weichen müssen, die von einer komplizierten Interaktion der verschiedensten Neurotransmitter ausgehen, neuroanatomische Strukturierungen (»funktionelle Systeme«) berücksichtigen und auch Effekte in die Überlegungen miteinbeziehen, die über die reine Synapsenwirkung hinausgehen (Signaltransduktoren, Transkriptionsfaktoren etc.). Die Neurotransmittersysteme des Gehirns sind so komplex, dass bislang nur die Grundzüge ihrer Funktionsweisen bekannt sind. Es wäre vermessen anzunehmen, dass aus der Kenntnis dieser Prozesse ein Verständnis der menschlichen Psyche erwachsen könnte. Die Tatsache, dass Störungen der Neurotransmittersysteme eine Grundlage psychischer Erkrankungen darstellen können, darf nicht dazu führen, hierin die alleinige Ursache psychischer Störungen zu erblicken. Ein solcher einseitiger reduktionistischer und simplifizierender Biologismus wird weder im wissenschaftlichen Sinn dem komplexen System der menschlichen Psyche noch im ärztlichen Sinn den Bedürfnissen psychisch kranker Patienten gerecht. Erst in der interdisziplinären Verbindung mit neuroanatomischen, neuropsychologischen und klassisch-klinischen, psychopathologischen Bemühungen können neurobiochemische Hypothesen wie die Neurotransmittertheorien dazu beitragen, psychische Störungen besser zu verstehen und optimierte therapeutische Strategien zu entwickeln.

158

Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen

7.1

Einleitung

Die Neurotransmission ist innerhalb der biologischen Psychiatrie in zweierlei Hinsicht von Interesse: Einerseits bietet sie Zugang zu einem tieferen Einblick in die ätiopathogenetischen Bedingungen, die zum Entstehen psychischer Erkrankungen führen, andererseits bildet sie einen wichtigen Ansatzpunkt für pharmakotherapeutische Maßnahmen zur Behandlung dieser Krankheiten.

Informationsverarbeitung im Zentralnervensystem

7

Das menschliche Gehirn besteht schätzungsweise aus über 100 Mrd. Zellen (Neuronen und Gliazellen) mit unterschiedlicher und außerordentlich vielgestaltiger Morphologie, Biochemie und Funktion. Die Hauptaufgabe des Zentralnervensystems (ZNS) besteht in der Rezeption sensorischer Eindrücke, ihrer Speicherung, Auswertung und Analyse, der Generierung von Denkinhalten sowie der Initiation von aktiven Handlungsabläufen und Reaktionen, denen der menschliche Geist auf vielfältige Art und Weise Ausdruck verleihen kann. Grundvoraussetzung für diese komplizierten und komplexen zentralnervösen Prozesse ist die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung. Diese findet an umschriebenen Orten des Neuronengeflechts statt, den Synapsen, wobei jede Nervenzelle etwa 10.000 unterschiedliche Synapsen trägt, sodass jede Nervenzelle von sehr vielen unterschiedlichen Neurotransmittern erreicht, aber auch die Aktivität eines einzelnen Neurons über seine Synapsen auf sehr viele andere Neurone weitergegeben wird. Diese komplexe Verschaltung der einzelnen Neurone gilt schon für den früher angenommenen Fall, dass jedes Neuron an seinen Synapsen nur einen einzigen Transmitter freisetzt (Dale-Prinzip). Die Komplexität wird aber noch dadurch vergrößert, dass viele Neurone nicht nur einen einzigen Transmitter freisetzen, sondern an ihren Synapsen neben einem primären Transmitter auch noch unter bestimmten Bedingungen einen sekundären Transmitter freisetzen können. Diese Nervenzellkonnektionen ermöglichen die interneuronale Kommunikation mittels chemischer Substanzen, den spezifisch an Rezeptoren bindenden Neurotransmittern. Jedes Neuron kann Tausende von Synapsen bilden. Daher wird die Gesamtzahl der Synapsen im ZNS auf mehrere hundert Billionen geschätzt.

Störungen der Informationsverarbeitung Störungen der Informationsverarbeitungsprozesse des ZNS, wie sie in typischer Weise bei psychischen Erkrankungen auftreten, müssen in enger Beziehung zu Alterationen der synaptischen Einheiten als morphologische und funktionelle Elemente der interneuronalen Kommunikation stehen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass

synaptische Veränderungen unbedingt auch ursächlich für die klinischen Erscheinungsformen neuropsychiatrischer Störungen verantwortlich sind. Eine gestörte Neurotransmission kann durchaus auch ein untergeordnetes Phänomen innerhalb einer pathogenetischen Kaskade sein, die ihren Ursprung an ganz anderer Stelle nimmt (z. B. Keimbahn bei hereditären Erkrankungen, extrazerebrale Lokalisation bei sog. exogenen Reaktionstypen etc.). Dennoch stellt das Verständnis der bei neuropsychiatrischen Erkrankungen auftretenden Veränderungen der synaptischen Neurotransmission einen wesentlichen Fortschritt in der Erkenntnis der Ätiopathogenese dieser Krankheiten dar. Darüber hinaus bildet es den Ausgangspunkt für bereits praktizierte und zukünftig mögliche pharmakotherapeutische Behandlungsstrategien.

Grundlagenforschung Die moderne biologische Psychiatrie als Grundlagenwissenschaft hat von der Untersuchung synaptischer Prozesse ihren Ausgang genommen und über die Entwicklung modifizierender Substanzen – Psychopharmaka – erheblichen Einfluss auf die klinisch-psychiatrische Praxis genommen. Derzeit jedoch erweitert sich das Spektrum der Forschungsbemühungen und in das Zentrum des Interesses rücken immer mehr auch intrazelluläre Signaltransduktionsmechanismen diesseits und jenseits der Synapse. Die moderne Molekularbiologie liefert die Werkzeuge zur Erforschung dieser bislang unzugänglichen Bereiche zentralnervöser Funktionssysteme. Hieraus werden sich in den nächsten Jahren vermutlich neue Erkenntnisse hinsichtlich Pathophysiologie, Diagnostik und möglicher Therapiestrategien neuropsychiatrischer Erkrankungen ergeben.

7.2

Grundprinzipien der Neurotransmission

Der Grundaufbau eines Neurons besteht aus dem Zellkörper (Soma), seinen Fortsätzen (Dendriten) sowie dem Axon. Die meist mehrfach vorhandenen Dendriten vermitteln in der Regel afferente Signale (»input«), während das üblicherweise singuläre, oft extrem lange Axon für die Signalefferenz verantwortlich ist (»output«) und an seiner Endigung (Axonterminal) die Information synaptisch auf die nächste Nervenzelle überträgt. Typisches Merkmal der Neurone ist ihre elektrische Erregbarkeit, die ihnen Kommunikation und Informationsverarbeitung erst ermöglicht. Transmembranäre Ionenseparationsvorgänge sorgen dafür, dass Nervenzellen auf ihrer Membraninnenseite negativ geladen sind. Ionenkanäle und Ionenpumpen ermöglichen die Aufrechterhaltung dieses Ruhepotenzials. Neurotransmitter können dieses elektrische Potenzial verändern: Exzitato-

7

159 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren

rische Transmitter lösen eine Depolarisation aus; ab einem bestimmten Schwellenwert wird das sog. Aktionspotenzial erreicht. Inhibitorische Transmitter führen im Gegensatz dazu zu einer Hyperpolarisation der Neuronenmembran. Das Aktionspotenzial wandert am Axon entlang und depolarisiert die Plasmamembran an den präsynaptischen Terminalen. Dies wiederum ermöglicht die Freisetzung von Neurotransmittern und damit über deren postsynaptische Rezeptorbindung die Kommunikation mit dem nächsten Neuron (⊡ Abb. 7.1). Rezeptoren besitzen 2 Hauptaufgaben:  Bindung und Erkennung des jeweils spezifischen Transmitters,  Aktivierung des Effektorneurons. Durch die Transmitter-Rezeptor-Interaktion kommt es zu Konformationsveränderungen des Rezeptors, die in der Regel zu einer Alteration des Ionenstroms führen. Hieraus resultieren Potenzialveränderungen am Effektorneuron. Sogenannte »second-messenger«-gekoppelte Rezeptoren lösen nach Transmitterbindung eine Signaltransduktionskaskade aus, durch die einerseits indirekt ebenfalls Ionenkanäle gesteuert werden können, die aber andererseits auch eine Aktivierung von Transkriptionsfaktoren verursachen kann, die ihrerseits die Expression bestimmter Proteine modulieren.

7.3

Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren

Man schätzt, dass 50–100 verschiedene Moleküle Neurotransmittereigenschaften besitzen und zur chemischen Signalübertragung an Synapsen beitragen. Klassischerweise erfolgen diese Nervenzellkontakte von einem Axon (präsynaptisch) auf einen Dendriten oder das Soma eines nachgeschalteten Neurons (postsynaptisch): axodendritisch oder axosomatisch. Es kommen aber auch axoaxonische, dendroaxonische und dendrodendritische Synapsen sowie Autorezeptoren vor. Letztere sorgen für »retrograden« Informa-

⊡ Abb. 7.1. Grundprinzipien der Neurotransmission (stark vereinfachtes Schema)

tionsfluss und stellen wichtige Feedback-Mechanismen dar. Darüber hinaus kommen bei einem Neuron auch Kombinationen verschiedener Synapsentypen vor. Die Synapsentransmission erfolgt meist chemisch, d. h. durch Vermittlung von Neurotransmittern. Es gibt allerdings auch eine elektrische Neurotransmission, die ohne Intervention eines Transmitters funktioniert. Die Depolarisationswelle des Aktionspotenzials kann in solchen Fällen über sog. »gap junctions« direkt von Neuron zu Neuron wandern. Zunächst nahm man an, dass solche elektrischen Synapsen relativ selten sind und eher eine Ausnahme darstellen. Gegenwärtig häufen sich jedoch die Hinweise darauf, dass sie im ZNS sehr viel häufiger vorkommen als ursprünglich angenommen. Die Rolle elektrischer Synapsen bei neuropsychiatrischen Erkrankungen ist bislang nicht zuletzt auch aufgrund methodischer Probleme kaum erforscht. In diesem Kapitel soll ausschließlich auf chemische Synapsen mit ihren Neurotransmittern und Rezeptoren näher eingegangen werden.

7.3.1

Neurotransmitter

Ein Neurotransmitter ist definiert als chemische Substanz, die in einem Neuron synthetisiert und von ihm als Antwort auf einen elektrischen Impuls freigesetzt wird. Er wirkt an einem anderen Neuron, indem er dessen elektrische Eigenschaften verändert (de- oder hyperpolarisiert). Die Neurotransmission wird demnach durch folgende wesentliche Faktoren charakterisiert: Synthese des Neurotransmitters in der Zelle, Speicherung, Freisetzung, Rezeptorwirkung, Entfernung aus dem synaptischen Spalt durch Wiederaufnahme bzw. Abbau. In ⊡ Tab. 7.1 werden die wichtigsten Neurotransmitter zusammengefasst. Aminosäuren. Zu den wichtigsten und häufigsten Neuro-

transmittern des ZNS zählen Aminosäuren wie Glutamat (depolarisierend-exzitatorisch) oder Glyzin und GABA (Gamma-Aminobuttersäure, hyperpolarisierend-inhibitorisch). Diese 3 Neurotransmitter kommen schätzungs-

Aktionspotenzial Potenzialveränderungen

160

Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen

⊡ Tab. 7.1. Eigenschaften genau umschriebener Neurotransmittersysteme

7

Neurotransmitter

Vorstufen

Synthetische Enzyme

Mittel zur Beendigung der Wirkung

Rezeptoren

Agonisten

Antagonisten

Azetylcholin

Cholin; Azetat

Cholin-Azetyltransferase

Azetylcholinesterase

Nikotinisch; muskarinisch M1, M2, M3

Karbamoylcholin; Nikotin (nikotinisch); Muskarin (nikotinisch); Oxotremorin (muskarinisch)

α-Bungarotoxin (nikotinisch); Tubokurarin (nikotinisch); Atropin (muskarinisch); Pirenzepin (M1); Scopolamin (muskarinisch)

Dopamin

Tyrosin

Tyrosinhydroxylase; aromatische L-Aminosäure-Dekarboxylase

Aufnahme; Monoaminoxidase; Aldehyd-dehydrogenase; Katechol-O-Methyltransferase

D1; D2

Apomorphin; 6,7-Dihydroxyaminotetralin (ADTN)

SCH23390 (D1); Domperidon (D2); Sulpirid (D2)

Exzitatorische Aminosäuren (Glutamat, Aspartat)

Glutamin; 2-Oxoglutarat

Glutaminase; Aspertataminound Ornithinaminotransferasen

Aufnahme; Glutaminsynthetase (glial); Oxidation (neuronal)

NMDA; AMPA; KA; L-AP4; ACPD

NMDA; AMPA, Quisqualat (AMPA); KA (KA); L-AP4 (L-AP4); Quisqualat; ACPD (ACPD)

MK801 (NMDA); CPP (NMDA); CNQX (AMPA und KA)

GABA

Glutamat

Glutaminsäuredekarboxylase

Aufnahme; GABA Aminotransferase; BernsteinsäureSemialdehyddehydrogenase

GABAA; GABAB

Muscimol (GABAA); Baclofen (GABAB); Benzodiazepine (modulieren GABAA)

Bicucullin (GABAA)

Glyzin

Serin

Serinhydroxymethyltransferase

Aufnahme

Glyzin

Glyzin

Strychnin

Histamin

Histidin

Histidindekarboxylase

Histaminmethyltransferase; Monoaminoxidase; Aldehyddehydrogenase

H1; H2; H3

2-Methylhistamin (H1); 4-Methylhistamin (H2); Dimaprit (H2); N-Methylhistamin (H3)

Mepyramin (H1); Cimetidin (H2); Ranitidin (H2); Thioperamid (H3)

5-Hydroxytryptamine

Tryptophan

Tryptophan-5Hydroxylase; aromatische L-AminosäureDekarboxylase

Aufnahme; Monoaminoxidase; Aldehyddehydrogenase

5-HT1; Untergruppen; A–D; 5-HT2; 5-HT3

80H-DPAT und Spiroxatrin (5-HT1A); Sumatriptan (5-HT1D); LSD (5-HT1C und 5HT2)

Spiperon (5-HT1A und 5-HT2); Cyanopindolol (5-HT1B); Ketanserin, Mianserin und Mesulergin (5-HT1C und 5-HT2); Ondansetron (5-HT3)

NoradrenaIin/Adrenalin

Tyrosin

Tyrosinhydroxylase; aromatische L-Aminosäure-Decarboxylase; Dopamin-β-Hydroxylase (Noradrenalin) (NMethyltransferase; Adrenalin)

Aufnahme; Monoaminoxidase; Katechol-O-Methyltransferase; Aldehyddehydrogenase

α1; α2; β1; β2

Isoprenalin (β); Methoxamm (α); Clonidin (α2)

Prazosin (α1); Idazoxan (α2); Propranolol (β)

Enkephalin/ Endorphin, Dynorphin



Enzyme der Eiweißsynthese

Neuropeptidasen

κ, μ, δ

Enkephaline (δ); β-Endorphin (μ, δ); Dynorphin (κ); Morphin (μ)

Naloxon

Die Informationen sind keineswegs erschöpfend, insbesondere in Anbetracht der Anzahl von Agonisten, Antagonisten und Rezeptoruntergruppen. Die aufgeführten Agonisten sind, soweit möglich, selektiv für die angegebene Rezeptoruntergruppe, ansonsten kann angenommen werden, dass sie nicht selektiv sind. Für jede Rezeptorunterklasse kann angenommen werden, dass der natürliche Agonist wirksam ist. ACPD 1-Aminocyclopentyl-1,3-Dicarboxylat; AMPA α-Amino-3-Hydroxy-5-Methylisoxazol-4-Propionat; CNQX 6-Cyano-7-Nitroquinoxalin-2,3Dion; CPP 3,3(2-Carboxypiperazin-4yl)Propyl-l-Phosphat; KA Kainin (Kainate); LAP4 L-2-Amino-4-Phosphonobutyrat; LSD Lysergsäurediäthylamid; MK801 Dibenzocycloheptenimin; NMDA N-Methyl-D-Aspartat; 80H-DPAT 8-Hydroxy-2-(Dipropyl)Aminotetralin; SCH23390 7-Chloro2,3,4,5-tetrahydro-3-methyl-5-phenyl-1H-3-benzazepin-7-ol.

161 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren

weise bei 75–90% aller Neurone des Gehirns und Rückenmarks vor. Allerdings kann aus einer solchen rein quantitativen Analyse nicht auf die physiologische und pathophysiologische Relevanz eines Neurotransmitters geschlossen werden. Eine Störung eines Transmitters, der relativ selten und in niedriger Konzentration vorkommt, kann erhebliche Funktionseinbußen des betroffenen Individuums zur Folge haben. Umgekehrt kann eine massive Reduktion eines bestimmten Transmitters häufig sehr lange toleriert werden, ohne dass es zu krankheitsrelevanten Ausfällen kommt.

mitter gehören zur Gruppe der Monoamine: die Katecholamine Dopamin und Noradrenalin sowie die Indolamine Serotonin und Melatonin. Diese Systeme sind möglicherweise bei schizophrenen bzw. affektiven Psychosen alteriert.

rotransmitters in den synaptischen Spalt. Dabei handelt es sich um einen Ca2+-getriggerten Mechanismus. Die freigesetzten Neurotransmittermoleküle binden dann an prä- und postsynaptische Rezeptoren. Die Neurotransmitterwirkung wird durch enzymatischen Abbau und/ oder Rücktransport in die Nervenendigung (ReuptakeMechanismen) beendet. Ursprünglich bestand in der Neurobiologie das Dogma, dass ein bestimmtes Neuron stets einen spezifischen Neurotransmitter benutzt. Entsprechend wurden cholinerge, dopaminerge, serotoninerge, noradrenerge Neurone etc. unterschieden. Heute weiß man, dass dieses sog. Dale-Gesetz keine universelle Gültigkeit besitzt. Einige Forscher vermuten sogar, dass das Phänomen, dass verschiedene Neurotransmitter in einem einzigen Neuron des ZNS angetroffen werden können, eher die Regel als die Ausnahme ist. Meist findet man als Neurotransmitter eine Aminosäure, ein Monoamin oder Azetylcholin in Kombination mit einem Neuropeptid. Diese Kolokalisation von niedermolekularen Neurotransmittern mit einem Peptid könnte darauf hinweisen, dass Neuropeptide eine wichtige modulierende Rolle neben ihrer Hauptfunktion der Transmission des jeweils anderen »klassischen« Neurotransmitters spielen (z. B. Verlängerung und/oder Verstärkung des Neurotransmittersignals).

Peptide. Eine andere wichtige Gruppe stellen die Peptide

Angriffspunkte für Psychopharmaka

dar. Ganz bestimmte Neuropeptide besitzen spezielle Neurotransmitterfunktionen für spezifische Neuronensubtypen des ZNS. Während kleine Neurotransmittermoleküle enzymatisch synthetisiert werden, erfolgt die Neuropeptidsynthese (wie bei allen Proteinen) durch Gentranskription und Translation. Aus einem Vorläuferprotein entsteht schließlich nach Modifikationsprozessen der aktive Neurotransmitter. Diese molekularbiologischen Prozesse werden nach Entwicklung wichtiger Schlüsseltechniken (z. B. PCR) in letzter Zeit intensiv erforscht. Das Forschungsinteresse hat sich dadurch von der alleinigen Fokussierung der Synapse auf weitere Aspekte wie Genaktivierung und Signaltransduktion ausgeweitet.

Der Neurotransmitterstoffwechsel lässt sich in 5 zentrale Schritte gliedern: 1. Synthese, 2. Speicherung, 3. Freisetzung, 4. Rezeptorwirkung und 5. Elimination.

Azetylcholin. Es ist insbesondere als Transmitter der neu-

romuskulären Erregungsübertragung bekannt, besitzt aber auch in der neuronalen und interneuronalen Informationsübertragung des Gehirns Transmitterfunktion. Insbesondere beim Alzheimer-Syndrom kann es zu massiven Veränderungen des cholinergen Systems kommen. Monoamine. Weitere psychiatrisch relevante Neurotrans-

Jeder dieser Schritte ist (zumindest theoretisch) einer pharmakologischen Beeinflussung zugänglich. Tatsächlich nutzen verschiedene Psychopharmaka diese Modulationsmöglichkeiten des Neurotransmitterstoffwechsels in unterschiedlicher Weise. Dies soll im Folgenden paradigmatisch erläutert werden.

Weitere Transmitter. Weitere Transmitter sind das Gas

NO (Stickoxid), Histamin und Purine (Adenosin).

Neurotransmitterwirkung In der Regel werden die Neurotransmitter im Zellkörper der Neurone synthetisiert. In Vesikeln erfolgt der axonale Transport zu den Nervenendigungen, wo sie für die Freisetzung gespeichert werden (synaptische Vesikel). Zumindest die niedermolekularen Transmitter können zusätzlich aber auch lokal in den Axonendigungen produziert werden. Ermöglicht wird dies durch vesikulären Transport der erforderlichen Enzyme. Erreicht das Aktionspotenzial das Axonterminale, erfolgt als Depolarisationsantwort die Exozytose des Neu-

Aminpräkursoren. Durch Gabe von Aminpräkursoren

kann beispielsweise die Neurotransmittersynthese gesteigert werden. So gelingt es, durch Verabreichung von LDOPA als Vorstufe des Dopamins, die Synthese dieses bei der Parkinson-Erkrankung verminderten Transmitters zu erhöhen. Analog wurde versucht, durch Verabreichung von L-Tryptophan die Serotoninsynthese bei depressiven Patienten zu stimulieren. Im Gegensatz zu den Transmittern Dopamin und Serotonin sind die Präkursoren DOPA und Tryptophan liquorgängig. Da im Gehirn keine Substratsättigung der Tryptophanhydroxylase, einem Schlüsselenzym der Serotoninsynthese, vorliegt, führt die Applikation von L-Tryptophan tatsächlich zu

7

162

Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen

einer Erhöhung der Serotoninkonzentration. Im Gegensatz zur hochwirksamen L-DOPA-Therapie der Parkinson-Erkrankung besitzt die Tryptophantherapie allerdings nur eine allenfalls milde antidepressive Potenz. Entleerung synaptischer Vesikel. Reserpin führt zu einer

Entleerung synaptischer Vesikel, so dass Noradrenalin, Serotonin und Dopamin durch entsprechende Enzyme rasch metabolisiert werden. Dadurch sinkt die Konzentration dieser Neurotransmitter im Gehirn. Reserpin kann deutliche depressive Symptome hervorrufen. Dies stützt die aminergen Defizithypothesen als Ursache der Depression(en). Modulation der Rezeptorwirkung. Die Rezeptorwirkung

7

verschiedener Neurotransmitter wird durch viele klassische trizyklische Antidepressiva und Neuroleptika modifiziert. Viele Antidepressiva antagonisieren den Histamin-H1-Rezeptor und besitzen ein deutliches anticholinerges Wirkprofil durch Blockade des muskarinischen Azetylcholinrezeptors. Solche Effekte sind nicht immer erwünscht und bedingen teilweise auch das Nebenwirkungsprofil von Antidepressiva. Gleichzeitig kommt es zu einer therapeutisch eher erwünschten gesteigerten Empfindlichkeit der Serotonin- sowie der Noradrenalinrezeptoren. Neuroleptika bewirken u. a. eine Dopaminrezeptorblockade. Moderne sog. atypische Antipsychotika wirken darüber hinaus häufig auch noch an einer Vielzahl nichtdopaminerger Rezeptoren. Verzögerung der Elimination. Auch die Möglichkeit, die

Elimination von Neurotransmittern aus dem synaptischen Spalt zu beeinflussen, wird psychopharmakologisch genutzt. So erhöhen Serotoninwiederaufnahmehemmer die Konzentration dieses Transmitters durch Blockade der entsprechenden Transporter. Klassische trizyklische Antidepressiva besitzen eine solche Wirkung ebenso wie moderne, ausschließlich für diesen Wirkmechanismus konzipierte selektive Serotoninwiederaufnahmeinhibitoren (SSRI). Der Abbau von monoaminergen Neurotransmittern kann darüber hinaus auch durch (spezifische) Hemmung der Monoaminoxidase (MAO) reduziert werden. Dadurch kommt es ebenfalls zu einer Erhöhung der Konzentration der entsprechenden Neurotransmitter. So inhibiert Moclobemid selektiv und reversibel die MAO-A. Dadurch wird der Abbau von Noradrenalin, Adrenalin sowie Serotonin und wohl nur beschränkt auch von Dopamin reduziert. Moclobemid wird daher auch in der Behandlung von Depressionen therapeutisch eingesetzt. Kombination verschiedener Wirkungen. Neuere Thera-

piestrategien beruhen auf einer Kombination verschiedener Rezeptorwirkungen. So greifen beispielsweise moderne noradrenalin- und serotoninspezifische Antide-

pressiva (NaSSA) wie z. B. Mirtazapin gleichzeitig in die beiden entsprechenden Neurotransmittersysteme ein, von denen vermutet wird, dass sie eine wesentliche Rolle bei Depressionen spielen. Darüber hinaus besitzt Mirtazapin eine sehr differenzierte Wirkung auf das serotoninerge System: Der 5-HT1A-Rezeptor wird selektiv aktiviert, während 5-HT2- und 5-HT3-Rezeptoren blockiert werden. Dies mag die antidepressive Effizienz ebenso beeinflussen wie das Nebenwirkungsprofil.

7.3.2

Rezeptoren

Ein Rezeptor ist definiert als ein Protein, das die Wirkung eines spezifischen Neurotransmitters auf das Zielneuron vermittelt (⊡ Tab. 7.2). Neurotransmitter binden spezifisch an bestimmte Stellen des Rezeptorproteins. Diese Bindung führt zu einer Veränderung der physikalischen Eigenschaften des Rezeptors. Das Resultat ist die Umwandlung des ursprünglich extrazellulären Signals (Neurotransmitterbindung) in ein intrazelluläres Signal, das seinerseits wiederum zu Veränderungen des funktionellen Zustands des Zielneurons führt.

Forschung Die Erforschung der Rezeptoren stützte sich viele Jahre auf die Ergebnisse direkter Bindungsstudien mit radioaktiven Liganden in Zellmembranpräparationen. Diese Technik ermöglichte die Identifikation verschiedener Rezeptoren. Außerdem konnte die Affinität bestimmter Substanzen zu diesen Rezeptoren untersucht werden. Moderne molekularbiologische Techniken (Klonierung und In-vitro-Expression) erlauben über die Identifizierung pharmakologischer Subtypen hinaus jetzt auch die weitere genetische Subtypisierung. Die Frage, inwieweit die pharmakologischen und molekularbiologischen

⊡ Tab. 7.2. Rezeptortypen verschiedener Neurotransmitter. (Nach Hyman u. Nestler 1993) Neurotransmitter

Rezeptorsubtypen

Dopamin

D1, D2, D3, D4, D5

Noradrenalin/Adrenalin

α1, α2, β1, β2, β3

Serotonin

5-HT1A, 5-HT1B, 5-HT1C, 5-HT1D, 5-HT2, 5-HT3, 5-HT4, 5-HT6, 5-HT7

Azetylcholin

Muskarinisch (M1, M2, M3, M4), Nikotinisch

Endorphine/Enkephaline

δ, μ, κ

Glutamat

NMDA, AMPA, Kainat, metabotrop

GABA

A, B

163 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren

Typen miteinander korrespondieren, bleibt bislang häufig unbeantwortet, stellt aber eine wichtige Forschungsaufgabe für die kommenden Jahre dar. Die Verknüpfung und Synthese der Einzelergebnisse molekularbiologischer Forschung mit denen der klassischen Rezeptorbindungsstudien könnte zu beachtlichen Fortschritten in der psychiatrischen Grundlagenforschung hinsichtlich Ätiopathogenese psychischer Krankheiten und ihrer Pharmakotherapie beitragen. Bisher sind die genauen anatomischen und funktionellen Unterschiede der verschiedenen Rezeptorsubtypen weitestgehend unbekannt. Sinn der großen Rezeptorheterogenität scheint es zu sein, den verschiedenen Neuronen unterschiedliche Reizantworten auf denselben Neurotransmitter zu ermöglichen. Unter pharmakotherapeutischen Gesichtspunkten kann die Rezeptorheterogenität zur Entwicklung von neuen Substanzen mit höherer Spezifität genutzt werden, die effektivere und zugleich sicherere (nebenwirkungsärmere) psychopharmakotherapeutische Strategien ermöglichen. Bislang ist es in der Praxis allerdings noch nicht gelungen, aufgrund dieser theoretischen Überlegungen tatsächlich grundsätzlich neue Psychopharmaka mit erheblich gesteigerter Effektivität bei geringem Nebenwirkungsrisiko zu entwickeln. ⊡ Abb. 7.2a, b. Rezeptorgrundtypen; a G-Protein gekoppelter Rezeptor und b Ionophor

a

b

Rezeptorgrundtypen Grundsätzlich können 2 Rezeptorgrundtypen voneinander differenziert werden: Ionophoren und G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (⊡ Abb. 7.2a, b):  Die Ionophoren besitzen transmembranäre Ionenkanäle, die durch Neurotransmitterbindung geöffnet werden können. Die transmittergesteuerten Ionenkanäle sind in geöffnetem Zustand je nach Rezeptortyp durchlässig für K+ (Eflux) und Na+ (Influx) sowie Ca2+. Manche Rezeptoren besitzen darüber hinaus regulatorische Bindungsstellen für Zn2+ und Mg2+. Der GABAA-Rezeptor, die meisten Glutamatrezeptoren und der 5-HT3-Rezeptor, ein Serotoninrezeptorsubtyp, sind z. B. Ionophoren.  Die meisten anderen Rezeptoren, einschließlich der adrenergen und dopaminergen, besitzen keinen strukturellen Ionenkanal. Daher muss der zelluläre Effekt über intrazelluläre Transduktionsproteine (GProteine) vermittelt werden. Die Bindung des Neurotransmitters an seinen Rezeptor als Prozess, der an der extrazellulären Seite der Nervenzellmembran stattfindet, muss über eine Fortsetzung der Neurotransmitteraktion nach der eigentlichen Rezeptor-

7

164

Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen

bindung zu einer veränderten neuronalen Funktion führen. Die verschiedenen Wege, wie Neurotransmitterrezeptorinteraktionen ihre unterschiedlichen Effekte am Zielneuron ausüben können, schließen ein komplexes Netzwerk intrazellulärer Messengersysteme (G-Proteine, »second messengers«) und den Prozess der Proteinphosphorylierung ein.

Störungen der Rezeptorphysiologie

7

Unter ätiopathogenetischen Gesichtspunkten kann die Rezeptorphysiologie im Wesentlichen auf 3 verschiedenen Ebenen gestört sein:  Es kann zu Veränderungen in der Rezeptordichte kommen.  Die Rezeptoraffinität kann verändert sein.  Es können Defekte im Bereich der Rezeptoruntereinheiten bestehen, wodurch die Signaltransduktionskaskade gestört wird. Darüber hinaus sind auch alle Kombinationen dieser 3 pathophysiologischen Alterationen denkbar.

7.3.3

Azetylcholinrezeptoren, die insbesondere in der Pathophysiologie der Alzheimer-Demenz eine wichtige Rolle spielen, werden in nikotinische (nAChR) und muskarinische (mAChR) differenziert. Während 5 verschiedene mAChR-Subtypen (M1–M5) unterschieden werden können (Caulfield u. Birdsall 1998), bestehen nikotinische Azetylcholinrezeptoren aus verschiedenen α- und β-Untereinheiten. Je nach der Zusammensetzung dieser Untereinheiten, entstehen funktionell und strukturell unterschiedliche nAChR-Subtypen (Dajas-Bailador u. Wonnacott 2004).

Katecholamine Die wichtigsten Katecholamin-Neurotransmitter sind Dopamin und Noradrenalin. Sie werden enzymatisch aus der Aminosäure Tyrosin synthetisiert. ⊡ Abb. 7.3 stellt die einzelnen Syntheseschritte dar. Tyrosin passiert die Blut-Liquor-Schranke über einen aktiven, energieabhängigen Transportmechanismus. Innerhalb der katecholaminergen Neurone ist die (gesät-

Neurotransmitterrezeptorsysteme

Azetylcholin Azetylcholin war die erste chemische Substanz, die als Neurotransmitter identifiziert wurde. Synthetisiert wird sie durch enzymatische Azetylierung von Cholin mittels Cholinazetyltransferase (ChAT). Die Degradation erfolgt durch enzymatische Spaltung im synaptischen Spalt mittels Azetylcholinesterase (AChE). Freies Cholin wird dann über Transporter in die Präsynapse wiederaufgenommen und steht für die erneute Azetylcholinsynthese zur Verfügung. Die wichtigsten Kerngebiete cholinerger Projektionsneurone liegen im basalen Vorderhirn. Der Verlust cholinerger zum Hippocampus und Kortex projizierender Neurone führt zu Gedächtnisdefiziten. Solche Reduktionen der cholinergen Aktivität wurden beispielsweise bei Alzheimer-Patienten gefunden. Darüber hinaus sind cholinerge Neurone vermutlich an der Vermittlung emotionaler Stimmungszustände zum Kortex beteiligt. So finden sich cholinerge Afferenzen des basalen Vorderhirns aus dem limbischen System. Cholinerge Projektionssysteme. Zu den cholinergen Pro-

jektionssystemen des Gehirns zählt das basale Vorderhirn (mediales Septumband, diagonales Band von Broca, Nucleus basalis Meynert) mit Projektionen zum zerebralen Kortex, Hippocampus und Dienzephalon sowie das laterale Tegmentum des Hirnstamms (dorsaler Pons). Darüber hinaus gibt es noch eine Reihe weiterer lokaler, intrinsischer cholinerger Zirkuits, die insbesondere innerhalb des Neostriatums liegen.

⊡ Abb. 7.3. Katecholaminsynthese

165 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren

tigte) Tyrosinhydroxylase (erster Syntheseschritt zu Dopa) das limitierende Schlüsselenzym der Katecholaminsynthese. Alle anderen Enzyme sind nicht substratgesättigt, d. h. ihr Km-Wert übersteigt deutlich die Substratkonzentration, sie liegen praktisch »im Überschuss« vor.

Wirkmechanismus. Dopamin entsteht aus den Vorstufen

Abbau. Die Beendigung der Katecholaminwirkung im synaptischen Spalt erfolgt durch Wiederaufnahme über Transporter. Die Katecholamine werden in Vesikeln gespeichert oder durch Monoaminoxidase (MAO) abgebaut. Die beiden Isoenzyme MAO-A und MAO-B sind in den Mitochondrienmembranen der Präsynapse und Glia lokalisiert. Der extrazelluläre Abbau erfolgt außerdem durch Katecholamin-O-Methyltransferase (COMT). Hauptmetabolite sind Homovanillinsäure (HVS) und 3,4Dihydroxyphenylessigsäure (DOPAC). Besonders zu berücksichtigen ist die Tatsache, dass die Gliazellen, speziell die Astroglia, maßgeblich an dem Abbau der Neurotransmitter und damit an der Modulation der Neurotransmission beteiligt sind. Diese Bedeutung in der Funktion der Glia rückt erst in letzter Zeit in den Blickpunkt des Interesses, nachdem zuvor die Rolle der Glia eher unterschätzt wurde.

Tyrosin und L-DOPA unter Vermittlung der Enzyme Tyrosinhydroxylase (TH) und DOPA-Decarboxylase (AADC). D1-artige Dopaminrezeptoren (D1, D5) stimulieren nach Aktivierung unter Vermittlung des G-Proteins die Adenylatzyklase (AC). Diese ist für die Umwandlung von ATP in cAMP, das die weitere Signaltransduktion übernimmt, verantwortlich. Eine Stimulation der D2-artigen Dopaminrezeptoren (D2, D3, D4) hat eine Inhibition der Adenylatzyklase (AC) zur Folge (D2, D4) oder aber eine Alteration anderer Signaltransduktionsmechanismen (D3). Aktivierung der D2-artigen Dopaminrezeptoren führt zur Modifikation der Aktivität von Ionenkanälen, der Kalziummobilisierung und des Phophatidylinositolumsatzes. Der D2-Rezeptor ist auch präsynaptisch lokalisiert und kann die Freisetzung und Synthese von Dopamin inhibieren (Feedback-Mechanismus). Interessanterweise scheinen kontinuierliche und pulsatile Stimulationen von Dopaminrezeptoren unterschiedliche Effekte hervorzurufen. Einige Untersuchungen deuten darauf hin, dass es physiologischerweise zumindest im nigrostriatalen System einen dualen Dopamineffekt gibt, der einerseits auf einer tonischen und andererseits einer phasischen Aktion beruht (Obeso et al. 1994).

Dopamin (⊡ Abb. 7.4a, b)

L-Dopa

Dopaminerge Kerne. Die wichtigsten dopaminergen

Bemerkenswerterweise besitzt der Dopamin-Vorläufer L-Dopa auch eigene intrinsische NeurotransmitterEigenschaften (Misu et al. 1995). L-Dopa scheint als Neurotransmitter insbesondere für die Blutdruckregulation im Hirnstamm verantwortlich zu sein. Vermutlich wird er über nikotinerge, glutamaterge und GABAerge Mechanismen reguliert und scheint u. a. im Nucleus accumbens freigesetzt zu werden

Kerne des Gehirns sind die Pars compacta der Substantia nigra mit Projektionen zum Striatum, das ventrale Tegmentum mit Projektionen zum frontalen Kortex und Gyrus cinguli sowie zum Nucleus accumbens und zu anderen Teilen des limbischen Systems sowie der Nucleus arcuatus des Hypothalamus, der für die dopaminerge Regulation der Hypophyse mitverantwortlich ist. Dopaminerges System. Eine wichtige Komponente dieses Systems ist das »nigrostriatale System«. Dopaminerge Zellen sind ferner in der Area tegmentalis ventralis (ATV) lokalisiert. Sie liegt in der Mittellinie des Mittelhirnes. Ihre Verbindungen zu den Septumkernen, dem Nucleus accumbens und dem N. amygdalae bilden das »mesolimbische System«. Der mesokortikale Trakt zieht zum frontalen Kortex, Gyrus cinguli, N. piriformis und zum entorhinalen Kortex. Gut erforscht ist auch noch das tuberoinfundibuläre System, das Nucleus infundibularis und Hypophyse verbindet. Die Dopaminrezeptoren werden nach pharmakologischen und molekularbiologischen Aspekten in 2 Hauptgruppen und 5 Rezeptortypen unterteilt:  Zur Gruppe der D1-artigen Rezeptoren zählen der D1und der D5-Rezeptor;  zur Gruppe der D2-artigen Rezeptoren gehören die D2-, D3- und D4-Rezeptoren.

Abbau. Das im synaptischen Spalt befindliche Dopamin

wird großteils über den Dopamintransporter eliminiert. Mit Hilfe der Enzyme MAO (intra- und extrazellulär) und COMT (extrazellulär) erfolgt die Metabolisierung zu 3,4Dihydroxyphenylessigsäure (DOPAC, intrazellulär) und Homovanillinsäure (HVA, extrazellulär).

Noradrenalin (⊡ Abb. 7.4a, b) Noradrenerge Projektionssysteme. Das wichtigste nor-

adrenerge Projektionssystem des menschlichen Gehirns ist der Locus coeruleus am Boden des 4. Ventrikels am rostralen Teil der Pons. Er besitzt diffuse axonale Projektionen in fast alle Areae des zerebralen Kortex, des Zerebellums, der Hirnstammkerne und des Rückenmarks. Noradrenerg sind darüber hinaus die lateralen Kerne des Tegmentums und andere Regionen der Pons und der Medulla. Ihre Endigungen reichen in das basale Vorderhirn, den Thalamus, den Hypothalamus, den Hirnstamm und in das Rückenmark.

7

166

Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen

Azetylcholin

Azetylcholin

7

a

Azetylcholin

b ⊡ Abb. 7.4a, b. Mechanismen der neuronalen Signal-TransduktionsTranskriptions-Kopplung. a Divergenz und Konvergenz unterschiedlicher Signalkaskaden. Einige Neurotransmitter und Rezeptoren, die an unterschiedliche G-Proteine und Effektorsysteme gekoppelt sind, können eine gemeinsame Transduktionsendstrecke besitzen. So wird der Transkriptionsfaktor CREB (cAMP »response element binding protein«) nicht nur über die cAMP-abhängige Proteinkinase (PKA) stimuliert, sondern auch durch kalziumabhängige Kinasen (CaM-K) und Kinasen des Ras-Reaktionsweges (RSK-2), der durch bestimmte Wachstumsfaktoren aktiviert wird. Dagegen können Steroidhormone nach Bindung an ihren Rezeptor direkten Einfluss auf die Gentranskription nehmen (PLC Phospholipase C, AC Adenylatzyklase). b Regulation der Gentranskription durch »immediate early genes« (IEG). Second messenger wie cAMP oder Kalzium aktivieren die Transkription von IEG wie

z. B. der Gene c-jun und c-fos. Das Transkript, die entsprechende reife mRNA, wird aus dem Zellkern herausgeschleust. Die korrespondierenden Proteine Jun und Fos werden im Zytoplasma in den Ribosomen synthetisiert und translozieren anschließend in den Zellkern, wo sie selbst erneut als Transkriptionsfaktoren fungieren können, indem sie untereinander oder mit verwandten Proteinen Dimere bilden, die an die AP-1-Sequenz von bestimmten Zielgenen binden. Die Transkriptionsaktivität dieser Zielgene ist abhängig von der Induktion durch lEG-Proteine. Auf diese Weise werden Langzeitveränderungen der synaptischen Regulation induziert wie z. B. die Aktivierung von Tyrosinhydroxylase oder Neuropeptiden. Neben den genannten Second-messenger-Aktivierungswegen kann die Expression von c-Jun auch über die JNK-(c-Jun-NH2-terminale Kinase-) Kaskade stimuliert werden. Weitere Erklärungen sind im Text aufgeführt

167 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren

Noradrenerges System. Die wichtigsten noradrenergen

Kerne sind der Locus coeruleus (Lc) und das laterale Tegmentum (LT; ⊡ Abb. 7.4a, b). Das noradrenerge System wirkt vorwiegend stimulierend auf die motorischen und psychischen Aktivitäten. Noradrenalin entsteht aus L-Tyrosin. Dieses wird durch die Tyrosinhydroxylase (TH) zu L-DOPA hydroxyliert. L-DOPA wird durch die entsprechende Decarboxylase (AADC) zu Dopamin decarboxyliert, das dann seinerseits durch die Dopamin-β-Hydroxylase (DbH) in Noradrenalin umgewandelt wird. Wirkmechanismus. Postsynaptisch sind verschiedene Noradrenalinrezeptoren identifiziert worden. Stimulation der α1- und β1-Rezeptoren aktiviert die regulatorischen G-Proteine. Durch β1-Rezeptoraktivierung wird, vermittelt durch das Gs-Protein, die Adenylatzyklase-(AC-)Aktivität gesteigert, die ATP in die aktive Form des cAMP umwandelt. cAMP ist dann für die Aktivierung einer aus Proteinkinasen und Phosphorylierungsreaktionen bestehenden Signaltransduktionskaskade verantwortlich. Über die α1-Rezeptoren werden Go- und Gq-Proteine stimuliert, die ihrerseits die Phospholipase C (PLC) aktivieren. Dies hat die Umwandlung von Phosphoinositolbisphosphat (PIP2) in Inositoltriphosphat (IP3) und Diazylglyzerin (DAG) zur Folge, die als Second messenger fungieren. Demgegenüber üben die α2-Rezeptoren, ebenfalls GProtein-vermittelt, inhibitorische Effekte auf die Adenylatzyklase (AC) aus. Insbesondere sorgen so präsynaptisch lokalisierte α2-Rezeptoren vermittels inhibitorischer GiProteine über einen Feedback-Mechanismus für die Hemmung einer weiteren Noradrenalinausschüttung und auch -synthese. Inaktivierung. Die Inaktivierung des Noradrenalins im synaptischen Spalt erfolgt über den präsynaptischen Noradrenalintransporter, der für die Wiederaufnahme des Noradrenalins verantwortlich ist. Noradrenalin kann durch die MAO-A intra- und extraneuronal desaminiert werden. Das letztlich resultierende 3,4-Dihydroxyphenylglykol (DHPG) wird dann durch Katechol-O-Methyltransferase (COMT) zu 3-Methoxy-4-hydroxyphenylglykol (MHPG) metabolisiert.

Teil der Formatio reticularis des Hirnstamms. Beide Kerne projizieren in das gesamte Kleinhirn, der NDR (Nucleus dorsalis raphe) auch in das Rückenmark. Ähnlich wie der Lc innerviert der NVR (Nucleus ventralis raphe) Kortex, Thalamus, Amygdala und über das Zingulum den Hippokampus. Der Hypothalamus und der Cortex entorhinalis sind weitere Ziele serotoninerger Bahnen aus dem NVR. Die enge Verschaltung mit dem limbischen System ist hieraus gut erkennbar. Durch Verbindungen des NVR mit der Substantia nigra und dem Striatum entsteht eine direkte Verknüpfung mit dem extrapyramidalmotorischen System. Serotonin erhöht die Schmerzschwelle und reguliert den Schlafablauf und die Stimmung. Wichtigster Vertreter der Indolamine ist das Serotonin (⊡ Abb. 7.4a, b). Es wird aus Tryptophan synthetisiert. Schlüsselenzym hierbei ist die Tryptophanhydroxylase Typ 2. Serotoninsynthese. Serotonin (5-HT = 5-Hydroxytrypta-

min) wird nach Hydroxylierung und Decarboxylierung aus L-Tryptophan über 5-HTP unter Vermittlung von Tryptophanhydroxylase Typ 2 (TRPH) synthetisiert. Wirkmechanismus. Mit Hilfe molekularbiologischer Me-

thoden konnten verschiedene 5-HT-Rezeptorsubtypen differenziert werden (⊡ Tab. 7.2).  Postsynaptisch inhibiert die Stimulation von 5-HT1ARezeptoren über Gi-Proteine die Adenylatzyklase (AC).  Aktivierung der 5-HT4,6,7-Rezeptoren führt hingegen zur Aktivierung der AC mit nachfolgendem Anstieg des cAMP (aus ATP).  Eine Stimulation der 5-HT2A,C-Rezeptoren führt zu einer Aktivitätssteigerung der Phospholipase C (PLC) mit konsekutivem Anstieg des Inositoltriphosphats (IP3) und Diazylglyzerins (DAG).  Der 5-HT3-Rezeptor ist ionenkanalgekoppelt. Seine Aktivierung führt zu einem Kationeneinstrom.  Präsynaptisch sorgen 5-HT1A- und 5-HT1B,C-Rezeptoren durch Gi-Protein-vermittelte AC-Inhibition, verminderte cAMP-Produktion und Reduktion der Impulsfrequenz zu einer verminderten Serotoninfreisetzung.

Indolamine Serotoninerge Projektionssysteme. Die serotoninergen

Inaktivierung. Serotonin wird aus dem synaptischen Spalt

Projektionssysteme im Gehirn sind die Hirnstammkerne (v. a. dorsale und mediane Raphe) mit diffusen Projektionen in die meisten Regionen des ZNS. Weiterhin finden sich serotoninerge Zellkörper auch in anderen Regionen der Pons und der Medulla. Ihre Endigungen sind weit verteilt und reichen zum zerebralen Kortex, Thalamus, Zerebellum, Rückenmark und zu den Hirnstammkernen. Die Zellen der serotoninergen Bahnen liegen im ventralen und dorsalen Raphekern (⊡ Abb. 7.4a, b). Sie sind

durch den Serotonintransporter entfernt. Die Metabolisierung zu 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIAA) erfolgt durch MAO-A. Der Serotonintransport ist ein wesentlicher Wirkort verschiedener Antidepressiva, den selektiven Serotoninwiederaufnahmeinhibitoren (SSRI), sowie partiell den NaSSAs und diverser Tri- und Tetrazyklika. Die Epiphyse synthetisiert Melatonin, ein weiteres Indolamin. Bei manchen Tieren spielt es eine wichtige Rolle

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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen

in der Vermittlung der zirkadianen Rhythmik. Möglicherweise ist eine Störung des Melatoninhaushalts auch an der Entstehung zyklothymer Erkrankungen beteiligt.

ziert werden. Die mGluRs werden in 3 Gruppen unterteilt: Gruppe I (mGluR1, mGluR5), II (mGluR2, mGluR3) und III (mGluR4, mGluR6, mGluR7, mGluR8; Kew u. Kemp 2005).

Glutamat

Glutamatantagonisten. Der NMDA-Rezeptor besitzt ver-

Glutamat ist der wichtigste exzitatorische Neurotransmitter. Typische glutamaterge Neurone sind die Granulazellen des Kleinhirns, die Pyramidenzellen des Hippocampus, kortikale Motoneurone sowie kortikale Neurone, die in die Basalganglien projizieren. Es sind verschiedene Glutamatrezeptoren (⊡ Abb. 7.5) bekannt, die nach ihren jeweils selektiven Agonisten benannt werden. Von besonderer Bedeutung ist der NMDA(N-Methyl-D-Aspartat)-Rezeptor. Er ist vermutlich in den Prozess der LTP (»long term potentiation«) involviert. Darunter versteht man das Phänomen, dass bestimmte Neurone (insbesondere im Hippocampus) nach wiederholter Stimulation in der Lage sind, auch nach Ausbleiben dieser Stimulation über einen längeren Zeitraum »autonom weiterzufeuern«. Diese Eigenschaft ist vermutlich für bestimmte Lern- und Gedächtnisvorgänge von erheblicher Bedeutung. Die verschiedenen Glutamatrezeptorfamilien werden derzeit folgendermaßen systematisiert, grundsätzlich werden  ionotrope (iGluRs) und  metabotrope (mGluRs) Glutamatrezeptoren unterschieden.

schiedene Bindungsstellen (für Glutamat, Glyzin) und einen nichtselektiven Ionenkanal, der für Na+ und Ca2+ durchgängig ist. Innerhalb dieses Ionenkanals befindet sich die PCP-Bindungsstelle (Phenylcyclidin), an die nichtkompetitive Glutamatantagonisten binden (z. B. PCP, Ketamin, Dizocilpin = MK-801). Diese besitzen mit Ausnahme der Aminoadamantane bei ansonst gesunden Personen einen stark psychotomimetischen Effekt. Diese Beobachtung hat zur Entwicklung der Glutamathypothese schizophrener Psychosen beigetragen. Andererseits könnten Glutamatantagonisten wie z. B. Amantadin in Abhängigkeit von ihrer Affinität auch potenziell neuroprotektiv wirken. Es gibt eine weitere Bindungsstelle, an die u. a. Opiate binden: der Sigmarezeptor. Über diesen werden evtl. auch die psychotomimetischen Effekte dieser Stoffe vermittelt. Viele Neuroleptika (z. B. Haloperidol) sind Rezeptorantagonisten.

Die iGluRs können wiederum in die bereits erwähnten NMDA-Rezeptoren (NR1, NR2A, NR2B, NR2C, NR2D, NR3A, NR3B), sowie AMPA- (GluR1, GluR2, GluR3, GluR4) und Kainat-Rezeptoren (GluR5, GluR6, GluR7, KA-1, KA-2) differen-

⊡ Abb. 7.5a, b. Glutamatrezeptor (IP Inositoltriphosphat). (Nach Zilles u. Rehkämper 1994)

Aktivierung des NMDA-Rezeptors. Die glutamaterge Ak-

tivierung des NMDA-Rezeptors erfordert die Erfüllung einer Reihe weiterer Bedingungen, die über die bloße Präsenz von Glutamat hinausgehen. Beispielsweise ist eine Aktivierung des NMDA-Rezeptorkanals ohne Glyzin wohl nicht möglich. Außerdem kann Mg2+ den Kanal blockieren. Diese Blockade kann z. B. durch Depolarisation des Zielneurons über AMPA- oder Kainat-Rezeptoren der Postsynapse aufgehoben werden.

169 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren

Glutamat und Zelltod. Bei Anoxie oder Hypoglykämie

fällt der energieabhängige Prozess der Glutamatkompartimentierung in der Präsynapse aus. Innerhalb von Minuten wird Glutamat in den synaptischen Spalt ausgeschüttet, und es kommt zu einer Überaktivierung exzitatorischer Rezeptoren. Große Mengen an Ca2+ können in die Zelle einströmen. Ca2+ aktiviert eine Reihe von Enzymen (einschließlich Proteasen) und es kommt über Autodigestion zum Zelltod. Dieser Prozess wird Exzitotoxizität genannt. Einige tierexperimentelle Befunde und erste klinische Daten zeigen, dass Glutamatantagonisten eine neuroprotektive (»anti-exzitatoxische«) Wirkung haben könnten.

und sind damit wesentliche Bestandteile des nigrostriatalen (dopaminerg)-strio-nigralen (GABAergen) Regelkreises. Rezeptortypen. Hinsichtlich der GABA-Rezeptoren wer-

den 2 Haupttypen – GABAA und GABAB – unterschieden. Der GABAA-Rezeptor überwiegt. Er ist für die rasche inhibitorische synaptische Transmission im Gehirn verantwortlich. Als Ionophor besteht er aus mehreren Untereinheiten: einer GABA-bindenden Einheit (β-Einheit), einer Benzodiazepin-bindenden Einheit (α-Einheit), einer aktivierenden γ-Einheit und einem Ionenkanal. Der im ZNS nicht so weit verbreitete GABAB-Rezeptor ist demgegenüber G-Protein-gekoppelt.

GABA und der Benzodiazepinrezeptor (⊡ Abb. 7.6) GABA (Gamma-Aminobuttersäure) ist einer der wichtigsten inhibitorischen Neurotransmitter. Er wird von etwa 30% aller ZNS-Neurone benutzt. GABA wird aus Glutamat unter Vermittlung der Glutamat-Decarboxylase (GAD) synthetisiert. Zur Inaktivierung der Synapseneffekte wird sie durch die mitochondriale GABA-Transaminase inaktiviert bzw. durch den GABA-Transporter wieder in die Präsynapse aufgenommen.

Glyzinsystem Ein weiteres inhibitorisches System ist das Glyzinsystem (nicht identisch mit der Glyzinbindungsstelle des NMDARezeptors). Es ist verglichen mit GABA-Rezeptoren noch wenig erforscht, scheint aber eine wichtige inhibitorische Rolle insbesondere im Hirnstamm und im Rückenmark zu spielen.

Neuropeptide Lokalisation. Anhäufungen GABAerger Neurone sind u. a. in folgenden Regionen zu finden: Thalamus, Basalganglien und Zerebellum. Darüber hinaus gibt es aber auch spezifische kleinere Interneurone des zerebralen Kortex, die GABAerg sind. GABAerge Neuronen projizieren aber auch vom Striatum zur Substantia nigra

⊡ Abb. 7.6. GABAerge Synapse (GABA Gamma-Aminobuttersäure, BZD Benzodiazepin). (Nach Benkert u. Hippius 1996)

Die Neuropeptide stellen eine sehr heterogene Gruppe nicht nur in bezug auf ihre molekulare Struktur, sondern auch hinsichtlich ihrer Verteilung und ihres Wirkmechanismus dar. In letzter Zeit rücken sie verstärkt in das Zentrum des pharmakotherapeutischen Interesses. Die verschiedenen Neuropeptidsysteme stellen möglicher-

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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen

weise wichtige Angriffspunkte für künftige neuromodulatorisch aktive Psychopharmaka dar. Beispielsweise ist CRF (»corticotropin releasing factor«) ein wichtiger Faktor in der Stressmodulation. Cholezystokinin und Neurotensin sind häufig mit Dopamin kolokalisiert und könnten für die Psychosebehandlung interessant werden.

interferieren, nicht die pharmakologische Selektivität erreichen können wie Psychopharmaka, die nur eine spezifische Unterklasse eines einzigen Rezeptors aktivieren bzw. blockieren. Trotz dieser verringerten pharmakologischen Selektivität gewinnt eine direkte Beeinflussung von Transduktionsmechanismen in den letzten Jahren immer mehr als potenzieller Wirkungsmechanismus von Psychopharmaka an Bedeutung.

Opioidpeptide

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Am besten untersucht sind die Opioidpeptide. Bisher sind mindestens 18 dieser Peptide bekannt, denen alle ein identischer Aminoterminus gemeinsam ist (Tyr-Gly-GlyPhe, dann Met oder Leu). Zu ihnen zählen beispielsweise Endorphin, Enkephalin und Dynorphin. Als »endogene Analgetika« sind sie an der Schmerzunterdrückung beteiligt. Darüber hinaus scheinen sie Stimmungszustände zu modulieren und sind möglicherweise auch in die Entstehung und Aufrechterhaltung von Suchterkrankungen involviert. Sie entfalten ihre Wirkung über spezifische Opiatrezeptoren, die gleichzeitig auch der Aktionsort exogener Opiate sind. Es werden 3 Klassen unterschieden: μ-, δ- und κ-Rezeptoren.

7.3.4

Signaltransduktion

Die Interaktion eines Neurotransmitters (First messenger) mit seinem spezifischen Rezeptor stellt lediglich den ersten Schritt innerhalb einer sog. Signaltransduktionskaskade dar. Das extrazelluläre Signal (synaptischer Spalt) wird nach Neurotransmitter-Rezeptor-Bindung über spezifische Mechanismen (z. B. sog. G-Proteine) in das Zellinnere (Zytoplasma) transportiert. Hier sind sog. Second messenger (z. B. cAMP) Träger des Signals. Über eine Reihe von weiteren Zwischenstationen wird dann das Signal in den Zellkern transportiert und auf sog. Third messenger (z. B. CREB) übertragen, bei denen es sich meist um Transkriptionsfaktoren handelt. Transkriptionsfaktoren besitzen die Eigenschaft Genexpressionsprozesse beeinflussen zu können. Dies bedeutet, dass das ursprüngliche Signal der Neurotransmitter-Rezeptor-Interaktion kaskadenartig bis in den Zellkern weitergeleitet wird, wo es dann letztlich zu einer Modifikation der Expression bestimmter Gene kommt.

Transduktionsmechanismen Die durch einen Agonisten ausgelöste Konformationsänderung eines Rezeptors kann über eine Reihe unterschiedlicher Transduktionsmechanismen in das rezeptive Neuron der zentralen Synapse weitergegeben werden (⊡ Abb. 7.4a, b). Hierbei können unterschiedliche Rezeptoren unterschiedlicher Transmitter letztlich den gleichen Transduktionsmechanismus benutzen (⊡ Abb. 7.4a, b). Dies bedeutet, dass Psychopharmaka, die mehr oder weniger spezifisch mit einem Transduktionsmechanismus

Vom Rezeptor zum Effektor und Bildung von Second messengern Löst ein Ligand nach Bindung an einen Rezeptor, d. h. einem Transmembranprotein mit Domänen auf der extrazellulären und zytoplasmatischen Seite, eine Reaktion im Zellinnern aus, bezeichnet man dies als Signalübertragung. Die Signaltransduktion ist eine Möglichkeit, das ursprüngliche Signal zu verstärken. Durch die Bindung des Neurotransmitters an die extrazelluläre Domäne des Rezeptors wird die Aktivität der Domäne der zytoplasmatischen Seite beeinflusst, der Rezeptor wird aktiviert. Im Zytosol wird ein biochemisches Signal erzeugt, dessen Amplitude sehr viel größer ist als beim extrazellulären Liganden. In vielen Fällen führt das Signal im Zytosol dazu, dass im Zellinnern die Konzentration einer niedermolekularen Verbindung ansteigt. Diese Moleküle werden als sog. »zweite Boten«(-Stoffe) bezeichnet (»second messenger«) im Gegensatz zum ersten Boten, dem extrazellulären Neurotransmitter. Verglichen mit den ionenkanalgekoppelten Rezeptoren arbeitet die Signalübertragung mit dem Second messenger verhältnismäßig langsam. Man nimmt an, dass auf diese Weise die Langzeitwirkung von Transmittern ermöglicht wird. Man unterscheidet grundsätzlich 2 Arten der Signaltransduktion: 1. Der Rezeptor kann mit einem G-Protein interagieren, das mit der Membran assoziiert ist. In seiner aktiven Form besteht das G-Protein aus einem GDP-gebundenem Trimer. Bei Rezeptoraktivierung wird GDP durch GTP ersetzt, die Untereinheiten des G-Proteins können daraufhin dissoziieren und reagieren mit einem oder mehreren Zielmolekülen. Rezeptoren, die über G-Proteine an ein Effektorsystem gekoppelt sind, werden auch als metabotrope Rezeptoren bezeichnet. 2. Der Rezeptor besitzt in seiner Zytosoldomäne eine Proteinkinase. Nach Bildung des Rezeptor-LigandenKomplexes wird die Kinase aktiviert und phosphoryliert ihre eigene zytoplasmatische Domäne. Diese Autophosphorylierung ermöglicht es dem Rezeptor, mit einem Zielprotein eine Bindung einzugehen und es gleichzeitig zu aktivieren. Das Zielprotein wiederum kann auf neue Substrate in der Zelle einwirken. Die Kinaserezeptoren sind in der Regel Tyrosinkinasen, es gibt jedoch auch einige wenige Serin-/Threoninkinaserezeptoren.

171 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren

G-Proteine G-Proteine können Proteine oder Ionenkanäle aktivieren oder hemmen und lösen eine intrazelluläre Signalkaskade aus. Die G-Proteine übertragen Signale von einer Vielzahl von Rezeptoren auf viele verschiedene Moleküle. Viele klassische Neurotransmitter wirken über eine G-Proteinvermittelte Signaltransduktion. Zur Superfamilie der GProtein-gekoppelten Rezeptoren gehören u. a. die Muskarin-, die α- und β-Adrenozeptoren und Untergruppen von glutamatergen Rezeptoren (vgl. auch ⊡ Abb. 7.4a und ⊡ Tab. 7.3).

Effektoren Unter einem Effektor versteht man ein Molekül, das durch ein G-Protein aktiviert oder in selteneren Fällen inhibiert wird. Häufig handelt es sich dabei um ein anderes membranständiges Protein. Der Rezeptor befindet sich demnach »upstream« und der Effektor »downstream« von dem G-Protein. Als Effektormoleküle dienen v. a.:  Die Adenylatzyklase (AC),  die Guanylatzyklase (GC) und  die Phospholipasen A2 (PLA2) und C (PLC). ⊡ Tab. 7.3 gibt einen Überblick über die Effektoren, die mit verschiedenen Typen von G-Proteinen gekoppelt

⊡ Tab. 7.3. G-Proteinklassen unterscheiden sich durch ihre Effektoren und werden durch eine Vielzahl von Transmembranrezeptoren aktiviert G-Protein

Effektor

Second messenger

Beispiele für Rezeptoren

Gs

Aktiviert Adenylatzyklase

cAMP ↑

β-Adrenozeptor

Golf

Aktiviert Adenylatzyklase

cAMP ↑

Olfaktorische Rezeptoren

Gi

Hemmt Adenylatzyklase, öffnet K+Kanäle

cAMP ↓

M2-Azetylcholinrezeptor

Go

Schließt Ca2+-Kanäle

Membranpotenzial ↑, Membranpotenzial ↓

α2-Adrenozeptor, GABABRezeptor

Gt (Transducin)

Stimuliert die cGMPPhosphodiesterase

cGMP ↓

Rhodopsinrezeptor

Gq

Aktiviert Phospholipase Cβ

InsP3, DAG ↑

M1-Azetylcholinrezeptor, 5-HT2-Rezeptor

InsP3 Inositolbiphosphat; DAG Diacylglyzerol.

sind. Einige G-Proteine wirken auf viele Effektoren ein, die ihrerseits wiederum viele unterschiedliche Übertragungswege aktivieren. Klassische G-Proteine der Neurotransmission sind Gs und Gi: Gs aktiviert Adenylatzyklase und erhöht somit die cAMP-Konzentration, Gi hemmt umgekehrt die Adenylatzyklase und erniedrigt die cAMP-Konzentration. Es handelt sich also bei den Second messengern um Mitglieder der wichtigen Klasse der zyklischen Nukleotide. Ein weiteres klassisches G-Protein ist Gq: Es aktiviert Phospholipase C (PLC) und fördert somit die Bildung einer weiteren bedeutenden Gruppe von Second messengern, die aus kleinen Lipidmolekülen bestehen wie Inositoltrisphosphat (InsP3) und Diacylglyzerol (DAG), die aus dem Membranphospholipid (Phosphatidylinositol-4,5Biphosphat, PIP2) gebildet werden. G-Proteine oder ihre Second messenger können auch direkt auf Kalium- oder Kalziumionenkanäle wirken und diese öffnen oder schließen. Bei der Aktivierung von PLC kommt es infolge der Bildung von InsP3 zur intrazellulären Freisetzung von Kalziumionen aus dem endoplasmatischen Retikulum und wahrscheinlich über Bildung weiterer Abbauprodukte des Inositolphosphatmetabolismus (z. B. InsP4) zur Öffnung von Kalziumkanälen in der Zytoplasmamembran. Die intrazelluläre Kalziumkonzentration wird heute ebenfalls als wichtiger Second messenger der zentralen Neurotransmission angesehen. Weitergabe des Signals von Second messengern Die gebildeten Second messenger aktivieren nun ebenfalls eine Signalkaskade, an der v. a. Kinasen, Phosphatasen und Proteasen beteiligt sind. Die Substrate dieser Enzyme befinden sich entweder in der Zellmembran, dem Zytoplasma oder im Zellkern. Eine genauere Charakterisierung der zytosolischen Kinasen erfolgt im anschließenden Kapitel. cAMP aktiviert die Proteinkinase A (PKA). Bei ansteigender

cAMP-Konzentration bindet cAMP an die regulatorische Untereinheit von PKA. Dadurch wird die katalytische Untereinheit von PKA freigesetzt. Diese kann in den Zellkern wandern und phosphoryliert dort z. B. CREB (Bindungsprotein des cAMP-Response-Elements) und löst somit einen Transkriptionsprozess aus. CREB. CREB ist eines der wesentlichen Substrate der PKA

im Zellkern (⊡ Abb. 7.5). Daneben werden Proteine von ihr phosphoryliert einschließlich spannungsabhängiger Kanäle in der Zellmembran (z. B. Na+-Kanäle, Ca2+-abhängige K+-Kanäle, L-Type-Ca2+-Kanäle), Rezeptoren (z. B. GABAA-Rezeptoren, Non-NMDA-Glutamat-Rezeptoren, β-Adrenozeptoren), Na+-K+-ATPase, Synapsin I und II, Tyrosinhydroxylase, das in die Synthese der Katecholamine involviert ist. Aber auch die Expression von induzierbaren Transkriptionsfaktoren wie c-Fos werden durch CREB aktiviert. Auf diese Weise ist cAMP an der

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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen

Kontrolle des Ionenstromes durch die Zellmembran, an der Neurotransmitterfreisetzung und der Funktion des Katecholaminsystems sowie an der neuronalen Genregulation beteiligt. Über Phosphodiesterasen wird cAMP zu 5β-Adenosin-Monophosphat inaktiviert. Somit wird die Wirkung beendet.

⊡ Tab. 7.4. Regulation und Zielgene bzw. Zielproteine von Transkriptionsfaktoren Transkriptionsfaktor

Aktivierende Kinase

Beispiele für das Zielgen bzw. Zielprotein

CREB

Proteinkinase A (PKA)

Somatostatin

Calcium-CalmodulinKinase (CaM-Kinase)

Tyrosinhydroxylase

RSK-2 (gehört zur Gruppe der Ser/ThrKinasen)

c-Fos

Fos-regulierende Kinase (FRK)

Tyrosinhydroxylase

cGMP aktiviert die Proteinkinase G (PKG). Es existieren 2

unterschiedliche Formen der PKG, einmal in löslicher Form (Typ I) und einmal in membrangebundener Form (Typ II). Typ I ist die häufigste Form und kommt auch im Gehirn – hauptsächlich im Zerebellum – vor. Bestimmte Phosphodiesterasen werden durch cGMP aktiviert oder inhibiert. Dies erlaubt eine Interaktion zwischen dem cAMP- und dem cGMP-System. So reduziert cGMP die Effekte von cAMP, indem es dessen Wirkung durch Phosphodiesteraseaktivierung beendet.

7 Diacylglyzerol (DAG) aktiviert Proteinkinase C (PKC). PKC

stellt eine Enzymfamilie dar. PKC-Isoenzyme können kalziumabhängig sein (z. B. PKC α, β und γ). Inaktive PKC kommt im Zytoplasma vor. Nach Ansteigen der intrazellulären Kalziumkonzentration transloziert PKC in die Zellmembran und bindet dort an Phospholipide. Diese Bindung ist kalziumabhängig und wird durch DAG stimuliert (Voraussetzung für die volle Enzymaktivität). Die Stimulation der PKC wird durch den Abbau der DAG und möglicherweise durch Resynthese zu PIP2 beendet. Phorbolester (z. B. Phorbol-12-Myristat-13-Acetat) können den Effekt von DAG permanent nachahmen, allerdings mit größerer Potenz und niedrigerer Metabolisierungsrate. Viele wichtige neuronale Proteine sind Substrate der PKC: spannungsabhängiger Na+-Kanal, Ca2+-abhängige K+-Kanäle, GABAA- und NMDA-Rezeptor, »growth-associated protein 43« (GAP-43 auch als Neuromodulin oder Protein B-50 bezeichnet). Dieses Protein (GAP-43) kommt hauptsächlich in Nervendigungen im adulten Gehirn vor und scheint in Plastizitäts- und Transmitterfreisetzungsprozesse involviert zu sein. Kalzium und Calmodulin aktivieren die Kalzium-Calmodulin-Kinase. Die meisten Second-messenger-Funktionen

von Kalzium setzen seine Interaktion mit einem intrazellulären kalziumbindenden Protein, dem Calmodulin, voraus. In verschiedenen neuronalen Zellen wurden neben Calmodulin noch andere kalziumbindende Proteine nachgewiesen: Parvalbumin, Calbindin oder Calretinin. Im Gegensatz zu Calmodulin ist deren exakte Funktion jedoch noch weitgehend ungeklärt. Calmodulin besteht aus einer einzelnen Polypeptidkette und besitzt 4 Bindungsstellen für Kalzium. Wenn die 4 Positionen mit Kalzium besetzt sind, ist das Protein aktiviert. Der Kalzium-Calmodulin-Komplex (CaM) reguliert direkt viele wichtige Enzyme (⊡ Tab. 7.4). Neben diesen Enzymen stimuliert CaM über eine CaM-Kinase-Kinase

c-Fosa

Synapsin I BDNF (»brain derived neurotrophic factor«)

IGF-I NGF

c-Juna

c-Jun NH2-terminale Kinase (JNK)

Fas-Ligand (CD95) Zyklooxygenase TNF-α, TNF-β, IL-2

NFκB

a

IκB-Kinase (phosphoryliert Inhibitor, der somit NFκB für Translokation in den Zellkern freigibt)

IL-1, IL-2, IL-6, IL-8 TNF-α

Dimerisierungsparameter bestimmen maßgeblich, welcher Promotor aktiviert wird.

(CaMKK) die Wirkung von 5 Proteinkinasen. Die wichtigste davon ist die Kalzium-Calmodulin-abhängige Proteinkinase II (CaMK II). CaMK II ist in zentralen Neuronen angereichert, v. a. auf der postsynaptischen Seite. Substrate sind z. B. Tyrosin- und Tryptophanhydroxylase, Phospholipase A2, Adenylatzyklase, CREB, Calcineurin und Neurofilamentproteine. Deshalb ist CaM in ähnlicher Weise wie cAMP in Prozesse der synaptischen Neurotransmission involviert, sowohl auf prä- als auch auf postsynaptischer Seite. CaMK II kann im aktivierten Zustand durch Autophosphorylierung in einen stimulationsunabhängigen Zustand übergehen, welcher in LTP-(»long term potentiation«-) und Plastizitätsprozesse involviert zu sein scheint.

Rezeptortyrosinkinasen Rezeptortyrosinkinasen lösen intrazelluläre Phosphorylierungskaskaden aus (⊡ Abb. 7.5 b). Die Rezeptoren von Wachstumshormonen werden nach ihren Liganden benannt. Bei diesen handelt es sich in der Regel um kleine Polypeptide, die auch Zytokine genannt werden und die das Wachstum bestimmter Zelltypen stimulieren. Zu den Zytokinen gehören z. B.  der epidermale Wachstumsfaktor (EGF/»epidermal growth factor«),  der von Blutplättchen sezernierte Wachstumsfaktor (PDGF/»platelet derived growth factor«),  der Nervenwachstumsfaktor (NGF/»nerve growth factor«) und  Insulin.

173 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren

Die Bindung neurotropher Faktoren und Zytokine spielt eine sehr wichtige Rolle in der Entwicklung, Differenzierung, Funktion und Degeneration von Nervenzellen und in der Kommunikation neuronaler Netzwerke untereinander.

geschleust und phosphoryliert Transkriptionsfaktoren (ELK1 und c-Myc). ERK kann außerdem im Zytosol RSK, eine Serin-/Threonin-Kinase, aktivieren, welche dann in den Kern transloziert und dort den Transkriptionsfaktor CREB phosphoryliert (⊡ Abb. 7.4 a).

Struktur und Einteilung. Die Rezeptortyrosinkinasen haben eine allgemeine charakteristische Struktur: Als integrale Membranproteine durchqueren sie einmal die Membran und haben eine extrazelluläre N-terminale und eine intrazelluläre C-terminale Proteindomäne. Sie können aus einer einzigen Polypeptidkette (z. B. EGF) oder aus einem Dimer (z. B. Insulin) bestehen. Die Rezeptoren wirken alle auf die gleiche Weise. Sie sind Proteinkinasen, die Phosphatgruppen auf Proteine übertragen. Nach ihrer Lokalisation unterscheidet man grundsätzlich 2 Gruppen von Proteinkinasen: 1. Rezeptorproteinkinasen in der Membran und 2. zytosolische Proteinkinasen, die sich frei im Zytosol bewegen können.

Weitere Reaktionswege. Die durch die Aktivierung von

Zu jeder Gruppe gehören 2 Typen von Kinasen, die danach eingeteilt werden, welche Aminosäure am Zielprotein durch sie phosphoryliert wird. Bei den Rezeptoren überwiegen die Tyrosinkinasen, dagegen handelt es sich bei den zytosolischen Kinasen meist um Serin-/Threoninkinasen. Zu jeder Kinase gibt es eine für die entsprechenden Aminosäuren spezifische Phosphatase, die die Phosphorylierung und somit die Aktivierung rückgängig machen kann. Wirkungsweise. Bindet ein Ligand an den Tyrosinkinase-

rezeptor kommt es entweder intrazellulär zur Bildung von Second messengern (v. a. Lipide, die durch die Effektorsysteme PLC, PLA2 oder PI-Kinasen aktiviert werden) oder es kommt zu einer Proteinkinasesignalkaskade, die Second-messenger-unabhängig ist. Dabei aktiviert jede Kinase die nächste, indem sie diese phosphoryliert. Die letzte Kinase phosphoryliert in der Regel Transkriptionsfaktoren, die den Phänotyp von Zellen verändern können. Ras-Reaktionsweg. Der Reaktionsweg, der bisher am bes-

ten charakterisiert wurde, wird von Rezeptortyrosinkinasen ausgelöst und aktiviert Kinasen im Zytosol: der RasReaktionsweg (⊡ Abb. 7.4 a). Das Ras-Protein ist ein membrangebundenes Protein, dessen Aufgabe es ist, an der Zelloberfläche ausgelöste Proliferationssignale in das Zellinnere zu übertragen. Bei der Transduktionskaskade wird das Signal vom Rezeptor über einen Adaptor zu Ras weitergeleitet, das wiederum zu einer Reihe von Serin-/ Threonin-Phosphorylierungen führt. Schließlich wird das Endglied des aktivierten MAP-Kinase-(mitogenaktivierte Proteinkinase-)Reaktionswegs ERK (»extracellular signal-related kinase«, ERK1 und ERK2) in den Kern ein-

Rezeptortyrosinkinasen initiierten Signalwege können außerdem mit der apoptotischen Maschinerie interagieren und Apoptose hemmen (⊡ Abb. 7.7). Hierzu gehört z. B. der PI3K/Akt-Signalweg, der durch diverse neurotrophe Faktoren, wie z. B. Nervenwachstumsfaktor (NGF), »brain-derived neurotrophic factor« (BDNF), »glial cell line-derived neurotrophic factor« (GDNF) und »insulinlike growth factor-I« (IGF-I) aktiviert werden kann. Aktive PI3K (Phosphatidylinositol-3-Kinase) bewirkt die Phosphorylierung von Akt, das wiederum phosphoryliert, und inaktiviert das pro-apoptotische Bad und Caspase-9 (⊡ Abb. 7.7). Durch ein ausreichendes Angebot an neurotrophen Faktoren wird außerdem die Aktivität von c-Jun-NH2-terminale Kinase (JNK) und damit ein Signal zur verstärkten Expression pro-apoptotischer Bcl-2-Proteine unterdrückt (Yuan u. Yankner 2000). Andere antiapoptotische Signale, die u. a. durch Akt und MAP-Kinasen gesteuert werden, basieren z. B. auf der Aktivierung von CREB und NFkB (s. oben; ⊡ Tab. 7.4), die die Transkription anti-apoptotischer Proteine induzieren können (Mattson 2000). Die Schlüsselmoleküle der neuronalen Apoptose sind eine ganze Reihe von Proteasen, die sog. Caspasen, die der Zelle den Todesstoß versetzen, indem sie lebenswichtige Proteine zerstören. Die Aktivierung der Caspasen erfolgt nach dem Schneeballprinzip: Caspasen zerschneiden andere Caspasen und aktivieren dadurch deren proteolytische Funktion. Inzwischen sind 14 Mitglieder der Caspase-Familie bekannt. Die Caspasen lassen sich funktionell in Initiator- und Effektor-Caspasen unterteilen. Erstere – auch »Upstream-Caspasen« genannt (z. B. Caspase-8; vgl. ⊡ Abb. 7.7) – werden auf ein membranäres Signal hin aktiviert und aktivieren Caspasen der 2. Gruppe – auch als »Downstream-Caspasen« bezeichnet –, die prinzipiell für die Spaltung von Struktur- und Regulatorproteinen verantwortlich sind (z. B. Caspase-3; ⊡ Abb. 7.7). Bei der extrinsischen Apoptose wird durch die Aktivierung von sog. Todesrezeptoren auf der Zelloberfläche, wie z. B. TNF(Tumornekrosefaktor α)- oder Fas-Rezeptoren, Zelltod induziert (⊡ Abb. 7.7). Der intrinsische (mitochondriale) Apoptoseweg wird durch Stressoren wie z. B. UV-Strahlung, freie Sauerstoffradikale/oxidativen Stress oder z. B. Wachstumsfaktorentzug hervorgerufen. Er wird reguliert durch Proteine der Bcl2-Familie. Einige Proteine dieser Familie, z. B. Bcl2, BclXL, hemmen den Apoptoseprozess, andere hingegen fördern ihn, z. B. Bax, Bak, Bid, Bad. Interessanterweise besteht auch ein Crosstalk zwischen beiden Kaskaden, so

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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen

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⊡ Abb. 7.7. Apoptotische Signalwege. Bei der Oligomerisierung des Todesrezeptors durch spezifische Todesliganden werden Adaptormoleküle rekrutiert, die in die Aktivierung des JNK-Singnalweges und der Caspasen -8 und -2 involviert sind. Diese können nachfolgend Caspase-3 aktivieren. Durch die Bindung von neurotrophen Faktoren

kann aktivierte Caspase-8 bzw. -2 neben der direkten Aktivierung von Caspase-3 auch indirekt über die Spaltung von Bid zu truncated Bid, welches die Einlagerung von Bax in die äußere mitochondrilae Membran aktiviert, zur Stimulation des intrinsischen Weges führen. In den letzten Jahren gewinnt die Untersuchung der Fehlregulation apoptotischer Mechanismen bei der Schädigung von Nervenzellen zunehmend Beachtung, und eine Beteiligung bei der Pathogenese von neurodegenerativen Erkrankungen, wie z. B. Alzheimer-Demenz und Morbus Parkinson, wird derzeit diskutiert.

7.3.5

Transkriptionskopplung

Die phänotypische Vielfalt beruht größtenteils auf Unterschieden in der Expression proteinkodierter Gene, also solcher, die von der RNA-Polymerase II transkribiert werden. Hierbei wird eine RNA-Kette synthetisiert, die

an ihre Rezeptoren werden intrazellulär protektive Mechanismen über PI3K/Akt und MAP-Kinasen (MEK, ERK) induziert. Dadurch werden proapoptotische Faktoren (JNK, BAX, Bad) und die Caspase-9 gehemmt. Weitere Erläuterungen sind im Text aufgeführt

einem bestimmten Strangabschnitt einer DNA-Doppelhelix entspricht. Bevor ein Gen zur Expression gekommen ist, sind die folgenden Schritte der Reihe nach notwendig:  die strukturelle Aktivierung des Gens,  die Initiation der Transkription,  die Prozessierung des Transkripts,  der Transport des Transkripts ins Zytoplasma,  die Translation der mRNA. Die Signal-Transduktions-Transkriptions-Kopplung umfasst demnach alle Teilschritte, die von der neuronalen Erregung zur Gentranskription erfolgen. Hierbei wird die Information des ersten Reizes – wie die synaptische Stimulation durch Neurotransmitter aber auch die humorale Stimulation z. B. durch Wachstumsfaktoren – in einen von der DNA gespeicherten Molekülkode umgewandelt (⊡ Abb. 7.7).

175 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren

Die Transkription beginnt, wenn die RNA-Polymerase an einen besonderen DNA-Bereich am Anfang des Gens, den Promotor bindet. Der Promotor schließt das erste Basenpaar ein, das in RNA transkribiert wird, den sog. Startpunkt. Sequenzen, die sich vor dem Startpunkt befinden, bezeichnet man als stromaufwärts (»upstream«) gelegen. Mit der RNA-Polymerase II können sehr viele Faktoren zusammenarbeiten. Sie lassen sich in 3 Hauptgruppen einteilen: Allgemeine Transkriptionsfaktoren. Diese Faktoren sind

an allen Promotoren zur Einleitung der RNA-Synthese notwendig, legen die Initiationsstelle fest und bilden zusammen mit der RNA-Polymerase den basalen Transkriptionsapparat. Upstream-Faktoren. Diese sind DNA-bindende Proteine,

die bestimmte DNA-Sequenzen upstream vom Startpunkt erkennen. Die Aktivität der Faktoren wird nicht reguliert, sie sind ubiquitär, wirken auf jeden Promotor mit passender Bindungsstelle und erhöhen die Effizienz des Transkriptionsstarts. Wenn ein Promotor nur Elemente enthält, die von allgemeinen und Upstream-Faktoren erkannt werden, ist er für die Transkription konstitutiver Gene (»housekeepinggene«) verantwortlich. Somit kann der Promotor in jedem Zelltyp die Transkription seines Gens in Gang setzen.

⊡ Abb. 7.8. Regulation der Aktivität von Transkriptionsfaktoren z. B. durch Modifikation, durch Bindung eines Liganden oder durch Bindung eines Inhibitors

Induzierbare Faktoren. Diese binden ebenfalls an be-

stimmte DNA-Sequenzen upstream vom Startpunkt. Sie besitzen eine regulatorische Funktion. Sie werden zu bestimmten Zeiten oder in bestimmten Geweben synthetisiert oder aktiviert und sind zuständig für die Kontrolle sich zeitlich oder räumlich ändernder Transkriptionsmuster. Somit lässt sich die Aktivierung von Transkriptionsfaktoren und die Expression ihrer Zielgene als eine Plastizität auf der Ebene der Genexpression begreifen. Die DNA-Sequenzen, an die sie binden, werden auch als Response-Elemente bezeichnet. Mehrere große Familien an Transkriptionsfaktoren konnten identifiziert werden, deren Einteilung sich auf die strukturellen Merkmale der Sequenzmotive bezieht, die für die DNA-Bindung notwendig sind (z. B. Zinkfingermotiv, Leucin-Reißverschluss, Steroidrezeptoren).

Aktivitätsregulierung von Transkriptionsfaktoren ! Wichtig ist es, zu verstehen, dass die Bindung eines Transkriptionsfaktors an die genregulatorische DNA-Sequenz mit einer Erhöhung oder Suppression der Transkription dieses Gens einhergeht. Wie in ⊡ Abb. 7.8 schematisch verdeutlicht, kann die Aktivität eines induzierbaren Transkriptionsfaktors auf verschiedene Weise reguliert werden:

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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen

 Die Aktivität wird durch Modifikation des Faktors kontrolliert (Beispiel: AP-1, ein Heterodimer aus den Untereinheiten c-Jun und c-Fos, wird aktiv, wenn Jun phosphoryliert wird);  durch Ligandenbindung wird der Faktor aktiviert (Beispiel: Steroidrezeptor);  der inaktive Faktor ist an die Kernhülle und an das endoplasmatische Retikulum gebunden. Bei Mangel an Sterolen (z. B. Cholesterin) wird die aktive zytosolische Domäne abgespalten, die dann im Kern als Transkriptionsfaktor fungiert;  der Faktor wird durch Verfügbarkeitsänderung aktiviert (z. B. NFkB wird durch das inhibitorische Protein I-kB im Zytoplasma zurückgehalten. Bei Phosphorylierung des Inhibitors wird NFkB frei).

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CREB. Wie schon erwähnt ist CREB ein Transkriptionsfaktor, der z. B. über die Bildung von cAMP und PKAAktivierung aktiviert wird. Aktiviertes CREB, d. h. phosphoryliertes CREB (»cAMP response element binding protein«), bindet an CRE (»cAMP response element«), eine kurze DNA-Sequenz bestehend aus nur 8 Nukleotiden (5bTGACGTCA-3b), und erhöht somit die Transkription des »downstream«-gelegenen Gens. CREB ist wesentlich an der Umsetzung des synaptischen Stimulationssignals im Langzeitgedächtnis beteiligt. Zielgene von CREB sind Gene, die für Transkriptionsfaktoren (z. B. c-Fos) sowie für andere Proteine kodieren (⊡ Tab. 7.4).

Kaskade von Transkriptionsfaktoren Transkriptionsfaktoren wirken oftmals in einer Kaskade. So induziert CREB und eine Reihe weiterer Transkriptionsfaktoren die Gruppe der »immediate-early genes« (IEG). Dazu gehören c-fos, fosB, c-Jun, JunB, JunD u. a. Die Produkte dieser IEG sind selbst wiederum Transkriptionsfaktoren (induzierbare Transkriptionsfaktoren wie z. B. c-Jun, c-Fos, JunB, FosB), denen eine bedeutende Rolle in der neuronalen Genregulation zukommt, da sie die Genexpression verstärken und spezifizieren. Jun und Fos, die zur AP-1-(»activator protein-1«-)Familie gehören, sind der Klasse der Leucin-ReißverschlussTranskriptionsfaktoren zuzuordnen. Sie neigen dazu, mit sich selbst oder mit anderen Transkriptionsfaktoren (z. B. JunB, JunD, AFT-4, NFAT) Homo- bzw Heterodimere (z. B. AP-1 bestehend aus einer c-Jun- und einer c-FosUntereinheit) zu bilden. Die Fähigkeit zur Dimerisierung ist von entscheidener Bedeutung für die Interaktion dieser Faktoren mit der DNA. Die Dimerisierungspartner bestimmen maßgeblich, welcher Promotor aktiviert wird. Der bloße Nachweis der Expression eines Transkriptionsfaktors sagt demnach noch nichts Genaues über seinen funktionalen Zustand aus. Wie der Name schon sagt, werden IEG sehr rasch exprimiert. Schon nach 30 min werden sie als Antwort auf einen adäquaten Reiz hin exprimiert, während im Ruhezustand der Zelle, also in Abwesenheit

eines Stimulus, nur sehr niedrige Spiegel an Fos und Jun vorliegen. Viele Stimuli, die Second messenger generieren (z. B. cAMP, Kalzium), können über die Aktivierung von CREB oder anderer Transkriptionsfaktoren sehr rasch die Expression von Fos induzieren (⊡ Abb. 7.4 b), indem sie an den c-fos-Promotor binden. Von daher können c-fos und andere IEG als wichtige Marker des neuronalen Aktivierungsgrads fungieren. Dimere. Fos vermag alleine nicht an DNA zu binden, wahrscheinlich weil es – im Gegensatz zu Jun – keine Homodimere bilden kann. Das Jun-Fos-Heterodimer indes bindet mit der gleichen Sequenzspezifität an DNA wie das Jun-Jun-Homodimer. Die Affinität des Heterodimers für die AP-1-Zielsequenz ist allerdings etwa 10-mal so hoch wie die des Jun-Homodimers. Der Nachweis der c-FosExpression wird demnach auch als Nachweis der Aktivität von AP-1 angesehen und allgemein akzeptiert. Ähnlich CRE stimuliert die aktivierte AP-1-Bindungsstelle die Transkription des downstream-gelegenen Gens. Der Mechanismus der Aktivierung und Wirkungsweise von Fos und Jun sind in ⊡ Abb. 7.4 b und ⊡ Tab. 7.4 zusammengefasst. Ein anderes Beispiel ist die Dimerisierung von Fos oder Jun mit ATF-Proteinen, die zur Bindung an die CREDNA-Sequenz führt. Induzierbarkeit. Die Induzierbarkeit von c-Jun und c-Fos

ist verschieden. Allgemein kann man sagen, dass c-Fos ein Mediator der synaptisch-regulierten Genexpression ist, währen c-Jun überwiegend degenerativ-regenerative und immunologische Signale vermittelt (die Involvierung von c-Jun, das über JNK aktiviert wurde, in neurodegenerativen Prozessen wird z. B. bei der Alzheimer-Demenz diskutiert; vgl. ⊡ Tab. 7.4 und ⊡ Abb. 7.7). Im Hinblick auf psychische Erkrankungen bedeutet dies, dass ihre neurobiochemischen Grundlagen nicht notwendigerweise auf Neurotransmitter und ihre Rezeptoren beschränkt sein müssen, sondern auch im Bereich transsynaptischer Prozesse (z. B. Signaltransduktionskaskaden) liegen können (Duman et al. 1999). Umgekehrt bedeutet dies, dass die Wirkung von Psychopharmaka nicht auf den synaptischen Spalt beschränkt ist. Vielmehr beeinflussen Medikamente, die mit der Neurotransmission interagieren, auch nachfolgende intrazelluläre Signalprozesse, einschließlich der Genexpression (Thome et al. 2000). Interessanterweise scheinen beispielsweise Antidepressiva insbesondere solche Gene zu beeinflussen, die in die Aufrechterhaltung neuronaler Plastizität involviert sind (Thome et al. 2002). Neben der erwähnten cAMP-PKA-CREB Signaltransduktionskaskade, die insbesondere bei serotoninergen und noradrenergen Neuronen eine wichtige Rolle spielt, gibt es eine Vielzahl weiterer solcher Kaskaden: Beispielhaft wären die MAPK-, p38K-, und JNK-Kaskaden zu nennen (Thome 2005).

177 7.5 · Klassische Neurotransmittermodelle neuropsychiatrischer Erkrankungen

7.4

Neuroanatomische Aspekte

Regelkreise und Gleichgewichtshypothesen Unter physiologischen Bedingungen wird ein ungestörtes Funktionieren des Gehirns durch ein komplexes Ineinandergreifen der verschiedenen Neurotransmittersysteme und eine komplizierte Interaktion der einzelnen zentralnervösen Funktionssysteme gewährleistet (»Symphonie der Synapsen«). Vermutlich haben neuroanatomische oder neurobiochemische Störungen in einem Neurotransmittersystem bzw. in einer zerebralen Funktionseinheit immer auch Alterationen in anderen Systemen zur Folge. Daher kann die Physiologie ebenso wie die Pathophysiologie des ZNS nur dann zufriedenstellend erfasst werden, wenn Modelle zur Anwendung kommen, die die Verschaltungen und Interaktionen zentralnervöser Strukturen und Transmittersysteme berücksichtigen. Die verschiedenen Transmittersysteme befinden sich in einer fein abgestimmten Balance, die mit einer Waage mit multiplen Gleichgewichten zwischen multiplen Transmittern und Modulatoren verglichen werden kann. Unterschiedliche Einzeleffekte können zu ähnlichen Nettoeffekten führen. Darüber hinaus müssen zeitliche Veränderungen und die Fähigkeit zur neuronalen Plastizität berücksichtigt werden. Solche komplexen, sich aus multiplen Faktoren zusammensetzende Modelle werden den realen Verhältnissen dennoch sicher eher gerecht als einfache Monotransmittermodelle. Gleichzeitig muss die neuroanatomische Strukturierung des Gehirns mit seinen verschiedenen, miteinander interagierenden und unterschiedlich vulnerablen Funktionssystemen beachtet werden (⊡ Abb. 7.9). Für die am besten untersuchten Neurotransmitter (Dopamin, Noradrenalin, Serotonin, Azetylcholin) soll

⊡ Abb. 7.9. Regelkreisläufe, sog. »Loops« im Kortex (SM Supplementäres Motorfeld, PR Prämotorisches Rindenfeld, MR Motorische Rinde, GP Gyrus postcentralis, GTS Gyrus temporalis superior, GTI Gyrus temporalis inferior, GC Gyrus cinguli, CH hippocampaler Kortex, CE entorhinaler Kortex, SNc Substantia nigra, pars compacta, SNr Substantia nigra, pars reticulata, MGP medialer Globus pallidus, LGP lateraler Globus pallidus, NST Nucleus subthalamicus, VLO/VLM Thalamus ventralis lateralis, pars oralis/medialis, MD pm Thalamus medialis dorsalis, pars medialis)

kurz und stark vereinfacht ihre anatomische Lokalisation im ZNS dargestellt werden (⊡ Abb. 7.10).

7.5

Klassische Neurotransmittermodelle neuropsychiatrischer Erkrankungen

Die Erkenntnis, dass ein Dopamindefizit in der Substantia nigra im Wesentlichen für das klinische Bild des Parkinson-Syndroms verantwortlich ist und pharmakotherapeutische Interventionen, die auf eine Erhöhung der dopaminergen Aktivität abzielen, zu einer Reduktion der klinischen Symptomatik führen, hat die Vorstellung, dass auch andere neuropsychiatrische Erkrankungen durch Neurotransmitter- und/oder Rezeptorveränderungen bedingt sind, entscheidend geprägt (Birkmayer u. Riederer 1986, S. 56 ff.).

Mono-Neurotransmittertheorien Allerdings konnte bislang keine psychische Krankheit identifiziert werden, bei der in ähnlicher Weise, wie z. B. bei neurologischen Erkrankungen, ein umschriebenes Transmitterdefizit im Zentrum der pathophysiologischen Alterationen steht. Dennoch wurden gerade für Psychoseerkrankungen Neurotransmitterhypothesen aufgestellt, die heute in ihrer klassischen Form kaum mehr aufrechtzuerhalten sind. Die Simplizität der Mono-Neurotransmittertheorien hat jedoch dazu geführt, dass sie bis heute, sicher auch unter pharmazeutisch-marktstrategischen Aspekten, propagiert werden, obgleich sie große Schwächen besitzen und insbesondere nicht die komplexe Ätiopathogenese und Klinik psychischer Erkrankungen erklären können.

7

178

Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen

7

⊡ Abb. 7.10. Die wichtigsten noradrenergen, serotoninergen und dopaminergen Projektionsbahnen im menschlichen Gehirn. (Nach Nieuwenhuys 1985)

Gleichgewichtstheorien Sehr viel geeigneter und realitätsnäher sind sog. Gleichgewichtstheorien, die von Störungen im interagierenden System der Neurotransmitter ausgehen. Neurotransmittertheorien haben die pharmakopsychiatrische Forschung maßgeblich stimuliert, und die Effektivität von antidopaminergen oder serotoninergen Substanzen in der Behandlung von schizophrenen bzw.

affektiven Psychoseerkrankungen zeigt, dass diese Theorien zumindest einen Teilaspekt der pathologischen Grundlagen dieser Krankheitsbilder abdecken. Eine besondere Schwierigkeit in der psychiatrischen Grundlagenwissenschaft stellt das weitgehende Fehlen zufriedenstellender Tiermodelle für neuropsychiatrische Erkrankungen dar. Daher müssen sich alle Hypothesen auf mehr oder weniger indirekte Hinweise und Post-mortem-Gehirnbefunde stützen.

179 7.5 · Klassische Neurotransmittermodelle neuropsychiatrischer Erkrankungen

7.5.1

Demenz vom Alzheimer-Typ

In Gehirnen von Patienten, die an einer Demenz vom Alzheimer-Typ litten, wurde in Post-mortem-Studien ein Azetylcholindefizit im basalen Vorderhirn gefunden. Azetylcholin ist, auch im Tiermodell, ein für Lern- und Gedächtnisvorgänge besonders wichtiger Neurotransmitter (Blokland 1995). In Post-mortem-Hirngewebe von Demenzpatienten wurden folgende Reduktionen festgestellt:  ChAT um 50–85% in verschiedenen Kortexarealen und im Hippocampus,  die Muskarinrezeptorbindung im frontalen Kortex um 18%,  die Serotoninkonzentration im Hippocampus und Striatum um 21–37%,  die Noradrenalinkonzentraton im Putamen sowie frontalen und temporalen Kortex um 18–36%,  die Dopaminkonzentration im temporalen Kortex und Hippocampus um 18–27%,  die »somatostatinartige« Immunreaktivität im frontalen, temporalen und parietalen Kortex um 28–42%. Diese Zahlen zeigen, dass serotoninerge und noradrenerge Projektionen bei Demenz vom Alzheimer-Typ ebenfalls betroffen sind, allerdings in einem sehr viel geringeren Maße als cholinerge Neurone (Reinikainen et al. 1990). Dies hat dazu geführt, dass neben vielen anderen Therapieversuchen auch verschiedene Cholinesteraseinhibitoren in der Psychopharmakotherapie des AlzheimerSyndroms zur Anwendung kommen.

7.5.2

Depressionen (manisch-depressive Erkrankungen)

Bei depressiven Erkrankungen sollen in erster Linie Veränderungen in Noradrenalin- und Serotoninsystemen vorkommen.

Noradrenalinhypothese Die Noradrenalinhypothese wurde bereits in den 1960er Jahren intensiv diskutiert (Schildkraut 1965). Noradrenalinhypoaktivität führt generell zu niedrigem Blutdruck, langsamem Puls, schlaffer Körperhaltung, Verlust von Initiative, Verlangsamung von Entscheidungs- und Entschlussfähigkeit, vorzeitiger Ermüdbarkeit, apathischer Stimmungslage.

Serotoninhypothese Die Serotoninhypothese (Coppen 1967) kann sich auf folgende Befunde stützen: Serotoninmetabolite sollen im Liquor von depressiven Patienten verändert sein. In Postmortem-Studien wurden Veränderungen der Serotonin-

metaboliten in Gehirnen von Suizidopfern gefunden, auch wurde eine veränderte 5-HT2-Rezeptordichte im frontalen Kortex für diese Gruppe beschrieben (Mann et al. 2001). Antidepressive Psychopharmaka greifen in den Serotoninstoffwechsel ein. Theoretisch könnte bei Patienten mit Depressionen an verschiedenen Stellen der Synthese, des Metabolismus und der Rezeptoraktivierung des Serotonins ein Defekt vorliegen. Diskutiert werden:  Alterationen der Tryptophankonzentrationen im Plasma,  eine Veränderung des Tryptophantransports und metabolismus im Gehirn,  Veränderungen der Tryptophanhydroxylase- und Tryptophandekarboxylaseaktivitäten,  Störungen der Serotoninspeicherung, -freisetzung und -wiederaufnahme,  eine veränderte MAO-Aktivität sowie  Funktionsstörungen im Bereich der Serotoninrezeptoren und postsynaptischer Effektorsysteme. Klinische Symptome. Das serotoninerge System ist vermutlich an der Regulation der affektiven Kontrolle beteiligt. Serotoninerge Hypoaktivität ist assoziiert mit schlechtem Schlaf, körperlicher Inaktivität, Introversion und reduziertem Aktivitätsbedürfnis. Gelernte Hilflosigkeit. Im Tiermodell der »gelernten Hilf-

losigkeit«, das von einigen Wissenschaftlern als, wenn auch suboptimales, Tiermodell der Depression akzeptiert wird, wurde ein Anstieg der endogenen, kaliumabhängigen Serotoninfreisetzung im Hippocampus beobachtet. Keine Unterschiede fanden sich hingegen in der Azetylcholin-, Dopamin- und Noradrenalinausschüttung. Diese Befunde legen nahe, dass präsynaptische 5-HT-Mechanismen bei der Entstehung von »Depressionen«, zumindest im Modell der »gelernten Hilflosigkeit«, eine gewisse Rolle spielen (Edwards et al. 1992). Multiple Imbalance. Die Tatsache, dass immer häufiger

selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) zur Behandlung depressiver Syndrome erfolgreich eingesetzt werden, zeigt, dass die serotoninerge Neurotransmission in das pathogenetische Geschehen involviert sein muss. Allerdings werden auch unter SSRI-Behandlung therapieresistente Depressionen immer wieder beobachtet. Dies zeigt, dass auch im Falle depressiver Erkrankungen eine Mono-Transmitterhypothese nicht das gesamte pathophysiologische Spektrum dieser Krankheitsgruppe erfassen und erklären kann. Psychoseerkrankungen mit depressiver Symptomatik sind wahrscheinlich durch eine Imbalance multipler neuronaler Systeme bedingt (Birkmayer et al. 1972; Fritze et al. 1992) bzw. durch Störungen der Signaltransduktionskaskade (Akin et al. 2005).

7

180

Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen

7.5.3

7

Schizophrene Psychosen

Unter dem Begriff der schizophrenen Psychosen wird eine Gruppe heterogener Erkrankungen mit recht unterschiedlicher Ätiopathogenese, Verlauf und Prognose subsummiert. Die Tatsache, dass es bislang kein allgemein anerkanntes, auf biologischen Kriterien fußendes Einteilungsprinzip gibt, das sog. »nosologische Entitäten« fassbar und eine differenzierte Diagnostik möglich machen würde, erschwert die Erforschung dieses Symptomkomplexes ungemein. Während im Bereich der degenerativen Hirnerkrankungen ein stetiger Erkenntniszuwachs zu verzeichnen ist, bleibt die Schizophrenieforschung seit Jahrzehnten trotz erheblicher wissenschaftlicher Bemühungen und enormer Anstrengung in weiten Bereichen fruchtlos und frustran. Dennoch wurden einige Theorien zur Entstehung schizophrener Psychosen aufgestellt, die von einer gestörten Neurotransmission ausgehen. Im Zentrum des Interesses stehen dabei das dopaminerge und glutamaterge System. Die Dopamin- und die Glutamathypothese haben die biologische Erforschung schizophrener Erkrankungen ungemein stimuliert und stellen einen wichtigen Ausgangspunkt auch aktueller Forschungsbemühungen dar, wenngleich sie auch viele Fragen hinsichtlich der Entstehung dieser häufig sehr destruierenden und therapieresistenten Krankheiten offen lassen.

Vieles deutet darauf hin, dass bei schizophrenen Psychosen nicht nur dopaminerge Neurone, sondern auch andere Monoaminsysteme betroffen sind (Hsiao et al. 1993).

Glutamathypothese Die Glutamathypothese geht demgegenüber von einer glutamatergen Unterfunktion insbesondere in kortikostriatalen Projektionssystemen aus. Sie stützt sich auf folgende direkte und indirekte Befunde: Hirnregionen, die in besonderem Maße bei schizophrenen Psychosen alteriert sein sollen, wie der frontale Kortex, der Hippocampus und die Regio entorhinalis, besitzen relativ viele glutamaterge Neurone. Die bei einigen schizophrenen Patienten gefundene kortikale Atrophie und der frontale Hypometabolismus wären mit einer glutamatergen Unterfunktion gut vereinbar. Phencyclidin (PCP) löst »schizophrenoide Modellpsychosen« aus. Es gibt Hinweise, dass Glutamat im Liquor von Schizophreniepatienten erniedrigt sein könnte (Kim et al. 1980). Es wurden Veränderungen zentraler Glutamatrezeptoren bei schizophrenen Psychosen beschrieben (Bleich et al. 2001). Die Glutamatfreisetzung aus Synaptosomen des frontalen und temporalen Kortex könnte bei Schizophrenien vermindert sein (Sherman et al. 1991). Ein generell anomaler Metabolismus exzitatorischer Aminosäuren könnte viele bei Schizophrenie zu findende Phänomene erklären (Tsai et al. 1995).

Dopaminhypothese

Kombination mehrerer Störungen

Die Dopaminhypothese geht davon aus, dass schizophrenen Psychosen eine »dopaminerge Hyperaktivität« zugrunde liegt. Sie stützt sich dabei auf eher indirekte Hinweise wie die antipsychotischen Effekte von Dopaminantagonisten (Neuroleptika), biochemische Befunde an Post-mortem-Hirngewebe sowie Rezeptorbindungsstudien. Neuerdings ist es aber auch möglich, mit modernen bildgebenden Verfahren die dopaminerge Aktivität in vivo darzustellen. So zeigten sich in einer Positronenemissionstomografie-(PET-)Studie tatsächlich Unterschiede in der Verteilung von Dopaminrezeptoren bei Patienten, die unter schizophrenen Psychosen litten, und gesunden Kontrollprobanden. Im Patientenkollektiv wurde in vivo eine signifikante Dopamin-D2-RezeptorVerminderung im anterioren Zingulum gefunden (Suhara et al. 2002). Wahrscheinlich sind insbesondere dopaminerge Strukturen in den mesokortikalen und mesolimbischen Systemen für die antipsychotische Wirksamkeit von dopaminantagonistischen Neuroleptika verantwortlich. Dagegen dürfte die Dopaminrezeptorblockade im Striatum für die extrapyramidalmotorischen und die im tuberoinfundibulären System für die endokrinologischen Nebenwirkungen verantwortlich sein. Die alleinige Beteiligung dopaminerger Neurotransmittersysteme an der Entstehung schizophrener Psychosen gilt mittlerweile allerdings als sehr unwahrscheinlich.

Einige Autoren versuchen auch, die Dopamin- und die Glutamathypothese miteinander zu verknüpfen und interpretieren schizophrene Psychosen als sog. Neurotransmitterimbalancesyndrom. So könnten beispielsweise sowohl eine dopaminerge Hyperaktivität als auch eine glutamaterge Hypoaktivität in einem zentralnervösen Feedback-System über »Arousal-Modulation« dazu beitragen, dass die striatale Kontrolle über die thalamische Filterfunktion sensorischer Inputs aus der Außenwelt reduziert wird und es somit gleichsam zu einer kortikalen »Informationsüberflutung« kommt (Kornhuber et al. 1990; Carlsson 1995; Carlsson et al. 2001). Solche Hypothesen gehen davon aus, dass sowohl neurobiochemische (Glutamat und Dopamin) als auch neuroanatomische Veränderungen (kortiko-striato-thalamo-kortikaler Regelkreis) in der Pathophysiologie schizophrener Psychosen von Bedeutung sind. Neuere Ansätze gehen davon aus, dass Neurotransmitterveränderungen bei schizophrenen Psychosen lediglich ein Epiphänomen darstellen, dem pathogenetische Faktoren zugrunde liegen. Beispielsweise wäre es denkbar, dass die Neurotransmitterveränderungen lediglich eine veränderte neuronale Entwicklung reflektieren, die basierend z. B. auf einer Virus- bzw. genetisch bzw. mikrotraumatisch bedingten Störung durch biochemische Alterationen in neurotro-

181 7.5 · Klassische Neurotransmittermodelle neuropsychiatrischer Erkrankungen

phen Systemen verursacht wird (Thome et al. 1998; Hattori et al. 2002).

Impulskontrollstörungen, Sexualdelinquenz, Belastungsreaktionen; Thome u. Riederer 1995).

Modell der drei Grunddimensionen 7.5.4

Angsterkrankungen

GABA ist an der Steuerung und Verarbeitung von Angsterleben maßgeblich beteiligt. Eine gesteigerte GABAFunktion mildert Angstzustände, während sie durch eine Abnahme der GABAergen Aktivität verstärkt werden. Zusätzlich jedoch scheinen auch Serotonin und Noradrenalin involviert zu sein. Angstinduzierte Verhaltensreaktionen lassen sich im Tiermodell durch Benzodiazepine, die den inhibitorischen Effekt von GABA im ZNS verstärken, in erheblichem Maß modulieren. Gleichzeitig profitieren Patienten mit Angsterkrankung von trizyklischen Antidepressiva, die insbesondere das serotoninerge und noradrenerge Neurotransmittersystem modulieren. Bislang ist unklar, inwieweit sich die verschiedenen Angsterkrankungen (Agoraphobie, Panikattacken, einfache Phobie, soziale Phobie, generalisierte Angststörung) neurobiochemisch, d. h. hinsichtlich potenzieller Alterationen in den Neurotransmittersystemen, unterscheiden. Die Tatsache, dass diese Störungen auf pharmakotherapeutische Maßnahmen (Trizyklika, Benzodiazepine) ansprechen, legt die Vermutung nahe, dass diesen Erkrankungen eine gestörte Neurotransmission zugrunde liegt. Aufgrund des teilweise sehr unterschiedlichen Ansprechens auf verschiedene Psychopharmaka kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei den unterschiedlichen Angsterkrankungen um verschiedene nosologische Entitäten handelt.

7.5.5

Persönlichkeitseigenschaften

Nicht nur psychische Erkrankungen, sondern auch die Persönlichkeitseigenschaften und charakteristische Verhaltensweisen gesunder Personen stehen in engem Zusammenhang mit dem Neurotransmittersystem des Gehirns. Dabei wird keine Aussage darüber gemacht, inwieweit diese Eigenschaften biologisch determiniert, »vererbt« bzw. erworben, »erlernt« sind. Sowohl die genetische Ausstattung als auch prägende Ereignisse im späteren Leben dürften auf das Neurotransmittersystem des Gehirns, eines Organs, das sich durch ein hohes Maß an Plastizität und Variabilität auszeichnet, erheblichen Einfluss haben (Birkmayer u. Riederer 1986). Insofern das Neurotransmittersystem zumindest teilweise neurobiochemisches Substrat von Persönlichkeitseigenschaften ist, spielt es auch da eine wichtige Rolle, wo Persönlichkeitseigenschaften in pathologischer Weise alteriert sind bzw. eine Prädisposition für bestimmte psychische Erkrankungen darstellen (Suchterkrankungen,

Eines der frühesten Modelle, das bestimmte Neurotransmittersysteme spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen zuordnet, wurde in ersten Ansätzen von Birkmayer et al. (1972), Birkmayer u. Riederer (1986) und später von Cloninger (Übersicht: Cloninger et al. 1993) entwickelt. Dieses Modell hat im Laufe der Zeit einige Modifikationen erfahren. In seiner ursprünglichen Form geht Cloninger davon aus, dass sich alle Persönlichkeitsmerkmale auf 3 »Grunddimensionen« abbilden lassen:  »Novelty seeking«, das Bedürfnis nach Neuem (Explorationsverhalten, Neugierde),  »Harm avoidance«, Vermeidungsverhalten gegenüber negativen Stimuli und  »Reward dependence«, Abhängigkeit von positiven äußeren Stimuli (Belohnung). Dem Novelty seeking wird die dopaminerge, der Harm avoidance die serotoninerge und der Reward dependence die noradrenerge Aktivität zugeordnet. Interessanterweise scheinen moderne testpsychologische und molekularbiologische Studien zu zeigen, dass diese Hypothese Cloningers, die in ihrer verallgemeinernden, vereinfachenden und verabsolutierenden ursprünglichen Form sicher nicht akzeptiert werden kann, zumindest in bestimmten Teilbereichen oder unter bestimmten Bedingungen nicht ganz unzutreffend ist. So scheint vermehrtes Novelty seeking und Sensation seeking bei alkoholkranken Patienten mit Veränderungen des dopaminergen Systems einherzugehen. Mit zunehmendem Wissen um die molekulargenetischen Grundlagen der Neurotransmission kann aber auch deren Rolle für Persönlichkeitsmerkmale zunehmend besser erforscht und wissenschaftlich erfasst werden. Dabei muss aber stets die Komplexität sowohl dieser molekulargenetischen Prozessse als auch eines neuropsychiatrischen bzw. psychopathologischen »Konstrukts« wie dem des »Persönlichkeitsmerkmals« berücksichtigt werden. Ein weiterer wichtiger Faktor sind die Gen-Umwelt-Interaktionen. Schließlich erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass ein einzelnes Gen, bzw. eine einzelne Genvariante »Persönlichkeit« determiniert. Trotz dieser Schwierigkeiten ist es aber in letzter Zeit gelungen, einige Genvarianten zu identifizieren, welche möglicherweise die Neurotransmission in einem solchen Maße unterschiedlich beeinflussen, dass unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale oder zumindest Tendenzen hierzu resultieren können. Hierbei scheinen insbesondere Gene, die für den Serotonintransporter sowie verschiedene dopaminerge und serotoninerge Rezeptoren codieren, eine wichtige Rolle zu spielen (Reif u. Lesch 2003).

7

182

Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen

Unzureichende Modellvorstellungen Die Vorstellung, dass Persönlichkeitseigenschaften durch Neurotransmittersysteme mitdeterminiert werden, stellt einen interessanten Ausgangspunkt für die neurobiochemische und molekulare Erforschung psychischer Störungen dar. Hierzu kommen zunehmend moderne molekularbiologische Methoden und Techniken zum Einsatz. Andererseits muss konstatiert werden, dass keine solche Modellvorstellung dem tatsächlichen Geschehen im menschlichen Gehirn auch nur annähernd gerecht wird. Die Persönlichkeitseigenschaften und differenzierten Verhaltensweisen des Menschen sind viel zu komplex und variabel, das Wissen über die Physiologie des Gehirns immer noch so bruchstückhaft, als dass die Persönlichkeit und das Verhalten des Menschen in absehbarer Zeit durch die Neurowissenschaften schlüssig erklärt werden könnten.

7 7.6

Probleme der Forschung

Obwohl es einige Befunde gibt, die nahelegen, dass Störungen der Neurotransmission eine Grundlage psychischer Erkrankungen darstellen können, und obwohl gerade das Bindungsverhalten vieler Psychopharmaka dafür spricht, dass dem so sein könnte, muss dennoch stets bedacht werden, dass ein direkter Nachweis, der einen kausalen Zusammenhang unmittelbar und zweifelsfrei beweist, bislang nicht geführt werden konnte. Die Erforschung von Störungen der Neurotransmission stößt auf eine Reihe von Schwierigkeiten, die bislang noch nicht zufriedenstellend gelöst werden konnten.

In-vivo-Untersuchungen Aussagen über den Zustand des Neurotransmittersystems in vivo sind extrem schwierig. Zwar existieren Tracer, die mit Hilfe von SPECT- oder PET-Techniken ( Kap. 25) die Darstellung bestimmter Rezeptoren im Gehirn des lebenden Menschen ermöglichen, allerdings ist die Auflösung dieser bildgebenden Verfahren nicht fein genug, um die vermuteten subtilen Veränderungen bei psychisch Kranken zweifelsfrei nachzuweisen. Hinzu kommt, dass Patienten häufig bereits medikamentös behandelt werden und auffallende Unterschiede zu Kontrollpersonen auf eine solche Psychopharmakotherapie zurückzuführen sind, dass es sich also mithin um sekundäre Veränderungen handelt, die keine Aussagen über die primären ätiopathogenetischen Ursachen zulassen. Ein längeres Absetzen der Therapie oder gar ein Verzicht darauf verbietet sich in der Regel aus ethischen Gründen. Die Untersuchung von Liquor, Blut oder Urin birgt die Schwierigkeit, dass unklar bleibt, woher Neurotransmitter und/oder deren Metaboliten stammen. Der Metabolismus muss nicht auf das Gehirn beschränkt sein, sondern kann auch aus anderen zentral- oder peripherner-

vösen Geweben stammen oder sogar aus nichtneuronalen Geweben. Außerdem lassen solche Untersuchungen keine Aussagen über die hirnanatomische Lokalisation zu.

Post-mortem-Untersuchungen Post-mortem-Untersuchungen erlauben demgegenüber zwar neurohistopathologische Aussagen, allerdings können auch hier Medikamenteneffekte ebensowenig ausgeschlossen werden wie Veränderungen aufgrund einer Alteration des Metabolismus in der Agonie. Auch hier kann es zu Verfälschungen der Ergebnisse kommen, die klare Rückschlüsse auf den Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung erschweren. Darüber hinaus beeinflussen Variablen wie Post-mortem-Zeit, Lagerungsdauer und Präparation die Messergebnisse. Dennoch haben Post-mortem-Untersuchungen wesentlich zum Fortschritt in der neuropsychiatrischen Forschung beigetragen: Trotz der erwähnten Probleme und Schwierigkeiten, die Gruppenbildung und Vergleichbarkeit limitieren, ist es dennoch möglich, valide und wertvolle Messergebnisse zu generieren. Die so gewonnenen Forschungsergebnisse stellen nach wie vor den Eckpfeiler der Hypothesenbildung für Zellkulturexperimente und Tierversuche dar.

Entwicklung neuer Modelle Es besteht die Hoffnung, dass mit zunehmendem Einsatz modernster Techniken die Rolle der Neurotransmission bei psychischen Erkrankungen immer eingehender erforscht werden kann und neue, eindeutigere ätiopathogenetische Erkenntnisse gewonnen werden können. Die Entwicklung brauchbarer Tiermodelle wäre in dieser Beziehung auch sehr hilfreich. Naturgemäß bestehen hier aber nur geringe Möglichkeiten, da selbst die Tiermodelle für ein relativ gut determiniertes psychiatrisches Krankheitsbild wie die Demenz eher unbefriedigend sind. Die Neurotransmitterforschung hat die Pharmakotherapie von ZNS-Erkrankungen revolutioniert. Die nächste Herausforderung wird darin bestehen, die bereits erreichten Fortschritte in diesem Bereich mit Hilfe genetischer Techniken und molekularer Methoden zu erweitern. Dabei zielen die modernen Forschungsansätze längst nicht mehr nur auf Neurotransmitter und ihre Rezeptoren ab. Vielmehr gilt es, die neuropsychiatrischen Erkrankungen zugrunde liegenden zellbiologischen Vorgänge im Bereich von Signaltransduktionskaskaden und Genexpressionsprozessen im ZNS besser zu verstehen, um sie dann möglichst direkt beeinflussen und modifizieren zu können.

183 Literatur

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7

8 8 Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen R. Rupprecht, N. Müller 8.1 8.1.1 8.1.2

8.1.3

8.1.4

8.1.5

8.1.6

Psychoneuroendokrinologische Grundlagen – 186 Begriffsbestimmung und historische Aspekte der Psychoneuroendokrinologie – 186 Das hypothalamisch-hypophysär-adrenale (HHA)-System bei psychischen Erkrankungen – 186 Das hypothalamisch-hypophysärthyreoidale(HHT)-System bei psychischen Erkrankungen – 190 Das hypothalamisch-hypophysärsomatotrope(HHS)-System bei psychischen Erkrankungen – 191 Das hypothalamisch-hypophysär-gonadale (HHG)-System bei psychischen Erkrankungen – 191 Das psychopharmakologische Potenzial von neuroaktiven Steroiden – 192

8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6 8.2.7 8.2.8 8.2.9 8.2.10 8.2.11 8.2.12 8.2.13 8.2.14

Psychoneuroimmunologische Grundlagen – 194 Begriffsbestimmung Psychoneuroimmunologie und historische Aspekte – 194 Immunologische Grundlagen und das immunologische Gedächtnis – 195 Methodische Aspekte der Psychoneuroimmunologie – 196 Neuroendokrines System und Immunsystem – 197 Das Zytokinsystem – 197 Interaktion von Zytokinen und Neurotransmittern – 198 Blut-Hirn-Schranke – 199 Immungenetik und psychische Störungen – 199 Zelluläres Immunsystem und psychische Störungen – 201 Psychische Störungen bei Autoimmunerkrankungen – 201 Schizophrenie und Immunsystem – 201 Depression und Immunsystem – 202 Immunologische Effekte von Psychopharmaka – 203 Ausblick – 204 Literatur

– 204

> > Psychische Erkrankungen weisen eine komplexe Pathophysiologie auf, die bis heute nur ansatzweise geklärt ist. Neben Veränderungen von Neurotransmittersystemen und Rezeptoren als deren Effektorsysteme, die dann auf nachgeschaltete Signaltransduktionsprozesse einwirken, mehren sich Hinweise, dass neuroendokrinologische und immunologische Mechanismen eine wichtige Rolle in der Pathophysiologie psychischer Erkrankungen spielen. Mittlerweile gibt es auch erste Ansätze, die versuchen, derartige Mechanismen im Sinne von neuartigen Therapiestrategien nutzbar zu machen.

186

Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen

8.1

Psychoneuroendokrinologische Grundlagen R. Rupprecht

8.1.1

Begriffsbestimmung und historische Aspekte der Psychoneuroendokrinologie

Endokrines Psychosyndrom. Die systematische Untersuchung von Wechselwirkungen zwischen Psyche und Endokrinium geht bereits auf Manfred Bleuler zurück. Einen wichtigen Anstoß hierfür lieferte die Erkenntnis, daß es bei einer Reihe endokrinologischer Erkrankungen zu einer Psychose vom sog. exogenen Reaktionstyp kommt. Insbesondere sind bei endokrinologischen Erkrankungen Störungen der Affektivität und des Antriebs zu verzeichnen, welche von Bleuler unter dem Begriff des endokrinen Psychosyndroms zusammengefasst wurden.

8

Endokrinologische Psychiatrie. Bleuler entwickelte auch

den Begriff der endokrinologischen Psychiatrie und verstand darunter die Beschreibung der psychischen Störungen bei endokrinologischen Erkrankungen und umgekehrt, die Lehre, inwieweit psychische und endokrinologische Vorgänge zusammenhängen sowie die Lehre, inwieweit sich Persönlichkeit und psychische Erkrankungen durch das Endokrinium betreffende Behandlungen beeinflussen lassen und umgekehrt. Anfang dieses Jahrhunderts wurden nicht zuletzt von Emil Kraepelin und Sigmund Freud an die endokrinologische Psychiatrie hochgespannte Erwartungen hinsichtlich der Kausalität und Therapierbarkeit psychischer Erkrankungen gerichtet. Wenn auch solche Erwartungen durch die Psychoneuroendokrinologie aus heutiger Sicht nicht erfüllt werden konnten, so vermag diese doch wichtige Einblicke in die Pathophysiologie von Entstehung und Verlauf psychischer Erkrankungen zu geben. Ferner lassen sich auch in bestimmten Fällen therapeutische Strategien aus psychoneuroendokrinologischen Konzepten ableiten.

8.1.2

tropin(ACTH)-Sekretion, welches seinerseits die Ausschüttung von Kortisol aus der Nebennierenrinde bewirkt. Kortikosteroide ihrerseits hemmen im Sinne eines negativen Rückkopplungsprozesses die Produktion und Freisetzung von ACTH und CRH durch Interaktion mit hypophysären, hypothalamischen und vermutlich auch hippocampalen Glukokortikoid- und Mineralokortikoidrezeptoren. Weiterhin üben eine Vielzahl von Neurotransmittern und Immunopeptiden hemmende (z. B. GABA) und stimulierende (z. B. Interleukine und Interferon) Einflüsse auf den verschiedenen Ebenen des HHA-Systems aus (Holsboer u. Barden 1996; Holsboer 2000). Somit darf die Regulation des HHA-Systems keinesfalls isoliert betrachtet werden, vielmehr ist die Rolle des HHA-Systems als Mediator zwischen Neurotransmitter- und Immunsystem hervorzuheben.

Veränderte Regulation des HHA-Systems bei Depression Am besten dokumentiert sind Veränderungen der Regulation des HHA-Systems bei depressiven Patienten. Etwa

Das hypothalamisch-hypophysäradrenale(HHA)-System bei psychischen Erkrankungen

Das HHA-System stellt das wichtigste stressadaptive System dar, welches Anforderungen, die von innen oder von außen auf den Organismus einwirken, begegnet. Es unterliegt einem komplexen Regulationsgefüge, das gleichermaßen von zentralnervösen wie peripheren Faktoren beeinflusst wird (⊡ Abb. 8.1). Das hypothalamische Kortikotropin-Releasinghormon (CRH) stimuliert zusammen mit Vasopressin die hypophysäre Adrenokortiko-

⊡ Abb. 8.1. Regulation des HHA-Systems (BBB Blut-Hirn-Schranke,

POMC Proopiomelanokortin, IL Interleukin, IFN Interferon, TNF Tumornekrosefaktor, MR Mineralokortikoidrezeptor, GR Glukokortikoidrezeptor, CCK Cholezystokinin, VIP vasointestinales Polypeptid, ANP atriales natriuretisches Peptid)

187 8.1 · Psychoneuroendokrinologische Grundlagen

60 der depressiven Patienten mit einer »major depressive episode« nach DSM-III-R weisen Veränderungen der CRH-, ACTH-, oder Kortisolsekretion auf. Eine Reihe von Untersuchungen beschrieb erhöhte Kortisolspiegel bei depressiven Patienten (Holsboer u. Barden 1996; Rupprecht u. Lesch 1989), wobei detaillierte Analysen des 24 hProfils eine erhöhte Frequenz der ACTH-Peaks sowie eine erhöhte Amplitude der Kortisol-Peaks erbrachten (Linkowski et al. 1987), die sich nach klinischer Remission der Depression zurückbildeten (ebd.).

Hyperplasie der Nebennierenrinde Während die Erhöhung der Kortisolspiegel während depressiver Phasen relativ eindeutig ist, sind die Veränderungen der ACTH-Sekretion weniger eindrucksvoll. Ein verstärktes Ansprechen der Kortisolsekretion der Nebennierenrinde bei depressiven Patienten erbrachte Hinweise

⊡ Abb. 8.2. Veränderungen der Aktivität des HHASystems bei Depressionen

⊡ Abb. 8.3. Aktivität des HHA-Systems bei Patienten mit CushingSyndrom im Vergleich zu depressiven Patienten

auf eine leichte funktionelle Hyperplasie der Nebennierenrinde (Holsboer u. Barden 1996), die sich im Verlauf einer depressiven Erkrankung allmählich entwickelt (⊡ Abb. 8.2 und 8.3). Ferner wurde eine Vergrößerung der Nebennieren bei depressiven Patienten computertomografisch nachgewiesen, was ebenfalls für eine derartige funktionelle Hyperplasie spricht (Holsboer u. Barden 1996). Patienten mit Cushing-Syndrom weisen ebenfalls eine Überaktivität des HHA-Systems (⊡ Abb. 8.3) sowie eine Reihe von psychopathologischen Symptomen auf, die denen depressiver Patienten durchaus ähnlich sind (Starkmann u. Schteingart 1981; ⊡ Tab. 8.1). Anders als beim Cushing-Syndrom, welches meist durch einen Tumor im Bereich der Hypophyse oder der Nebenniere bedingt ist, wird als Ursache der erhöhten Sekretion von ACTH und Kortisol bei depressiven Patienten eine vermehrte Sekretion von hypothalamischem CRH vermutet. Hierfür spricht

8

188

Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen

⊡ Tab. 8.1. Häufigkeit psychopathologischer Symptome bei Patienten mit Cushing-Syndrom. (Nach Starkman u. Schteingart 1981)

8

Symptom

%

Müdigkeit

100

Symptom

%

tik zwischen Patienten mit normalem und abnormem DST-Ergebnis. Daher sind metabolische Veränderungen alleine nicht geeignet, die Ursache der unzureichenden Kortisolsuppression durch Dexamethason bei depressiven Patienten zu erklären.

Schuldgefühle

37

CRH-Stimulationstests. Sie haben eine besondere Bedeu-

Energieverlust

97

Gesteigerter Appetit

34

Irritierbarkeit

86

Vermehrtes Träumen

31

Gedächtniseinbußen

83

Früherwachen

29

Depressivität

77

Formale Denkstörung

28

tung für das Verständnis der Physiologie und Pathophysiologie des HHA-Systems bei Depressionen. Untersuchungen mit humanem (Holsboer et al. 1984) oder bovinem CRH (Gold et al. 1986) erbrachten eine deutlich verminderte ACTH-Antwort bei unbeeinträchtigter Kortisolstimulation bei depressiven Patienten. Nach Blockade des endogenen Kortisols durch den 11β-HydroxylaseHemmer Metyrapon war jedoch die ACTH-Sekretion nach CRH-Stimulation bei depressiven Patienten normal (Bardeleben et al. 1988). Diese Befunde zeigen, dass eine erhöhte adrenale Kortisolsekretion bei depressiven Patienten zumindest teilweise die abgeschwächte ACTH-Antwort auf CRH-Stimulation bedingt. Andere Mechanismen, z. B. eine differenzielle Metabolisierung und Speicherung der Produkte des hypophysären ACTH-Vorläuferpeptids Proopiomelanocortin (POMC) sind in diesem Zusammenhang ebenfalls von Bedeutung (Rupprecht et al. 1989 a).

Libidoverlust

69

Appetitverlust

20

Einschlafstörung

69

Hyperaktivität

11

Angst

66

Wahrnehmungsstörung

11

Konzentrationsstörung

66

Beschleunigte Sprache

9

Weinen

63

Inhaltliche (paranoide)

9

Unruhe

60

Denkstörung

Sozialer Rückzug

46

Depersonalisation

3

Hoffnungslosigkeit

43

Derealisation

3

auch eine Hypersekretion von CRH im Liquor cerebrospinalis depressiver Patienten (Nemeroff et al. 1984). Dexamethason-Suppressionstest. Während die Gabe von

1–2 mg Dexamethason um 23 Uhr zu einer kompletten Suppression der Kortisolspiegel am darauffolgenden Tag bei gesunden Probanden führt, findet man bei depressiven Patienten in etwa 50 der Fälle eine unzureichende Suppression des Kortisols (Rupprecht u. Lesch 1989). Anfänglich wurde dieser sog. Dexamethason-Suppressionstest (DST) als hochspezifisch für bestimmte Depressionsformen angesehen (Carroll 1982), mittlerweile jedoch lässt sich eine differenzialdiagnostische Spezifität dieses Tests aufgrund einer Reihe von intervenierenden Variablen nicht mehr aufrechterhalten (Rupprecht u. Lesch 1989). Am ehesten scheint der DST als sog. »state marker« geeignet zu sein. So konnten einige Untersuchungen zeigen, dass sich der DST im Verlauf einer klinischen Befindlichkeitsverbesserung normalisiert, während ein weiter bestehendes pathologisches Testergebnis häufig einem klinischen Rückfall vorausging (Holsboer et al. 1982). Eine wesentliche Rolle für das DST-Ergebnis spielt auch der Metabolismus der Testsubstanz. Erniedrigte Dexamethasonplasmaspiegel bei Patienten mit abnormem DST-Ergebnis wurden mehrfach beschrieben (Holsboer et al. 1986; Rupprecht u. Lesch 1989). Diese sind auf eine beschleunigte Elimination oral gegebenen Dexamethasons bei diesen Patienten zurückzuführen (Holsboer et al. 1986). Bei intravenöser Gabe fanden sich jedoch keine Unterschiede in der Dexamethasonpharmakokine-

Dexamethason-CRH-Test. Im Rahmen von Untersu-

chungen mit kombinierter Gabe von Dexamethason (DEX) und CRH (DEX-CRH-Test) blockiert die Vorbehandlung mit 1,5 mg Dexamethason den CRH-induzierten ACTH-Anstieg bei gesunden Probanden vollständig, während es bei depressiven Patienten paradoxerweise zu einer Verstärkung der ACTH-Ausschüttung kommt (Holsboer et al. 1987). Im Zuge einer klinischen Remission normalisiert sich diese überschießende Sekretion jedoch wieder (ebd.). Allerdings scheint dies nicht nur ein »state marker« zu sein, da sich bei einem Teil gesunder Angehöriger ersten Grades von depressiven Patienten auffällige Ergebnisse im DEX-CRH-Test fanden (Krieg et al. 1990). Dies weist auf eine genetisch bedingte erhöhte Vulnerabilität im Zusammenhang mit einer abnormen neuroendokrinen Regulation bei solchen sog. »Hochrisikoprobanden« hin. Eine persistierende Kortisolhypersekretion trotz klinischer Remission ist ein Indikator für ein erhöhtes Rückfallrisiko während der nächsten Monate (Zobel et al. 1999). Pathophysiologisch ist das Phänomen des paradoxen DEX-CRH-Testergebnisses bei depressiven Patienten bislang unklar. Am ehesten spielen jedoch subtile Veränderungen im Bereich hippocampaler und/oder hypophysärer Steroidrezeptoren sowie des CRH-Vasopressin-Synergismus eine Rolle. Steroidresistenz. Studien zur Veränderung der Reagibili-

tät verschiedener endokriner Systeme auf Glukokortikoide (Rupprecht et al. 1989 b) deuten im Zusammenhang mit der klinischen Beobachtung, dass depressive Pa-

189 8.1 · Psychoneuroendokrinologische Grundlagen

tienten trotz des teilweise nicht unerheblichen Hyperkortisolismus keine somatischen Cushing-Symptome aufweisen, auf eine leichte Steroidresistenz in vivo hin, die vermutlich über eine Dysfunktion von Steroidrezeptoren vermittelt wird (Rupprecht et al. 1991 a). Weitere Hinweise für eine Steroidresistenz und eine mögliche Dysfunktion des Glukokortikoidrezeptors auch auf zellulärer Ebene ergaben sich aufgrund von In-vitroUntersuchungen an Lymphozyten. Der Zusatz von Glukokortikoiden in vitro ist in der Lage, die mitogeninduzierte Lymphozytenproliferation dosisabhängig zu hemmen. Eine verminderte Hemmbarkeit derselben nach In-vitro-Zusatz von Dexamethason bei Personen mit pathologischem DST-Ausfall sowie eine verminderte Reagibilität der Lymphozytenproliferation auf In-vivo-Manipulation des HHA-Systems (Rupprecht et al. 1991) wurde bei depressiven Patienten beobachtet. Die bislang vorliegenden Studien zur Pharmakologie des Glukokortikoidrezeptors bei depressiven Patienten erbrachten eine verminderte Dichte an Glukokortikoidbindungsstellen in Lymphozyten, eine verminderte »down-regulation« nach oraler Dexamethasongabe assoziiert mit pathologischem DST-Ausfall oder keine signifikanten Befunde (Rupprecht u. Lesch 1989). Neuere Untersuchungen sprechen hingegen für eine verminderte Plastizität, d. h. eine beeinträchtigte Regulations- und Adaptationsfähigkeit des Glukokortikoidrezeptors (Rupprecht et al. 1991). Dies zeigt sich darin, dass im Gegensatz zu gesunden Probanden bei depressiven Patienten keine Hochregulation der Glukokortikoidbindungsstellen in Lymphozyten nach Metyrapongabe erfolgt.

Effekte antidepressiver Pharmakotherapie Nach einer erfolgreichen Therapie depressiver Patienten mit Antidepressiva kommt es häufig zu einer Normalisierung verschiedener Parameter des HHA-Systems. Dabei muss jedoch offen bleiben, inwieweit diese Normalisierung eine Konsequenz der klinischen Besserung oder einen Effekt der antidepressiven Behandlung per se darstellt. Neuere tierexperimentelle Untersuchungen sprechen jedoch dafür, dass Antidepressiva die Aktivität des HHA-Systems verringern können, da eine Verminderung der CRH-Expression im Hypothalamus sowie Veränderungen der Steroidrezeptorexpression nach längerfristiger Gabe von Antidepressiva beobachtet wurden (Brady et al. 1991; Holsboer u. Barden 1996). Ferner bewirkte die Gabe von Antidepressiva bei transgenen Mäusen, bei denen durch Inkorporation einer Antisense-RNA gegen den Glukokortikoid-Rezeptor eine Überfunktion des HHA-Systems erzeugt worden war, eine Abschwächung dieser Überaktivität über eine Hochregulation von Glukokortikoidrezeptoren (Holsboer u. Barden 1996). Weiterhin wurde bereits nach kurzzeitigem Zusatz von Antidepressiva eine vermehrte Expression des Glukokortikoidrezeptors in zellulären Sytemen beschrie-

ben (ebd.). Inwieweit diese Beobachtungen tatsächlich mit der Neuroendokrinologie depressiver Patienten in Beziehung stehen und ob den Interaktionen zwischen Antidepressiva und HHA-System ein ätiologisch bedeutsamer Stellenwert zukommt, bedarf jedoch noch vertiefender Untersuchungen.

Hemmung der Kortisolsynthese Eine Senkung der Kortisolspiegel ist auch durch den Einsatz von Inhibitoren der Kortisolsynthese möglich. In letzter Zeit fanden sich vermehrt Hinweise, dass eine Hemmung der Kortisolsynthese zu einer deutlichen Verbesserung der klinischen Symptomatik bei depressiven Patienten führen kann und somit möglicherweise eine alternative Behandlungsstrategie bei depressiven Störungen darstellt (Murphy et al. 1991; Wolkowitz et al. 1993). Eine Hemmung der Kortisolsynthese durch Metyrapon wird über die Inhibition der 11β-Hydroxylase, welche die Umwandlung von 11-Deoxykortisol in Kortisol katalysiert, erreicht. In einer plazebokontrollierten Studie wurde kürzlich eine deutliche Verbesserung der klinischen Symtomatik nach gleichzeitiger Gabe von Metyrapon und einer niedrigen Dosis Hydrokortison zur Kortisolsubstitution bei depressiven Patienten beschrieben (O’Dwyer et al. 1995). ! Die Kombination von Metyrapon mit anderen Inhibitoren der Kortisolsynthese, z. B. Ketoconazol oder Aminoglutethimid, war sogar bei depressiven Patienten, welche gegenüber der Behandlung mit herkömmlichen Antidepressiva therapieresistent waren, wirksam (Ghadirian et al. 1995). Ferner wurde durch zusätzliche Gabe von Metyrapon ein beschleunigtes Ansprechen auf serotonerge Antidepressiva erreicht (Jahn et al. 2004). Die der antidepressiven Wirkung von Metyrapon zugrunde liegenden Mechanismen sind allerdings bislang noch weitgehend unbekannt. Eine Möglichkeit wäre, dass die Gabe von Metyrapon über die Hemmung der Kortisolsynthese zu einer Hochregulation von Glukokortikoidrezeptoren führt, ein Effekt, der auch nach längerfristiger Gabe von Antidepressiva beobachtet wird (Holsboer u. Barden 1996). Eine weitere These ist, dass es durch die Hemmung der Kortisolsynthese kompensatorisch zu einer vermehrten Ansammlung von Kortisolvorstufen kommt. Deren Umwandlung in verschiedene neuroaktive Steroide könnte neben einer Hemmung der Kortisolsynthese ebenfalls zur antidepressiven Wirkung von Metyrapon beitragen.

Veränderte Aktivität des HHA-Systems bei anderen psychischen Erkrankungen Neben den bei depressiven Patienten erhobenen Befunden wurden gelegentlich Veränderungen der Aktivität des HHA-Systems auch bei anderen psychischen Erkran-

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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen

kungen, z. B. Schizophrenie, Manie, Alkoholismus, demenziellen Erkrankungen, Anorexia nervosa oder Angsterkrankungen, beobachtet. So nahmen z. B. Patienten mit Panikstörung eine Mittelstellung im DEXCRH-Test zwischen gesunden Probanden und depressiven Patienten ein (Schreiber et al. 1996). Bemerkenswert ist, dass es bei Patienten mit Panikstörung zu keiner Überaktivität des HHA-Systems während laktatinduzierter Panikattacken kommt. Hierbei spielt möglicherweise ein Anstieg von endogenem atrialen natriuretischen Peptid (ANP) eine Rolle (Kellner et al. 1995).

Neuere neuroendokrinologische Therapieansätze

8

Die Hyperaktivität des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Systems während depressiver Episoden führte zu Interventionsstrategien zur Reduktion dieser Hyperaktivität seitens der pharmazeutischen Industrie. Die Entwicklung von selektiven Kortikotropin-Releasinghormon(CRH)-Rezeptor-1-Antagonisten stellt einen derartigen Therapieansatz dar. Bislang wurde ein CRH-1-Rezeptor-Antagonist (R121919) bei depressiven Patienten klinisch in einer offenen Studie bei depressiven Patienten angewendet und es wurde eine gute Verträglichkeit bei gleichzeitiger Reduktion des Schweregrads der Depression und der Angstsymptomatik beschrieben (Zobel et al. 2000). Die Substanz R121919 wurde aufgrund von Leberwerterhöhungen bei einzelnen Probanden zurückgezogen. Insofern bleibt das Ergebnis von plazebokontrollierten Doppelblindstudien mit weiteren non-peptidergen CRH1-Rezeptorantagonisten abzuwarten, bevor das therapeutische Potenzial dieser neuartigen Substanzklasse hinreichend beurteilt werden kann (Rupprecht et al. 2004). Eine weitere Strategie, die derzeit in klinischen Prüfungen verfolgt wird, ist die Entwicklung von Glukokortikoidrezeptor-Antagonisten. Diese bewirken eine Blockade der Wirkung von Kortisol am Glukokortikoidrezeptor. Fallberichte, offene Studien sowie erste plazebokontrollierte Studien liegen zum gemischten Glukokortikoid-Progesteron-Rezeptorantagonisten RU 486 vor. Es gibt Hinweise dafür, dass RU 486 insbesondere bei Patienten mit psychotischer Depression eine sinnvolle therapeutische Option darstellen könnte (Belanoff et al. 2002; Rupprecht et al. 2004). Aufgrund möglicher gynäkologischer Nebenwirkungen derartiger gemischter Antagonisten werden derzeit auch selektive Glukokortikoidrezeptorantagonisten entwickelt und klinisch als Add-on-Gabe bei schweren Depressionen geprüft. Das Ergebnis entsprechender plazebokontrollierter Doppelblindstudien bleibt abzuwarten, bevor definitive Aussagen zum klinischen Potenzial dieser Medikamente gemacht werden können. Derartige Substanzen sollen zunächst bei schwer depressiven Pa-

tienten mit ausgeprägter Hyperkortisolämie geprüft werden; publizierte Ergebnisse aus diesen Studien liegen bislang noch nicht vor. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Störungen neuroendokriner Funktionsabläufe bei depressiven Patienten zu neuartigen pharmakologischen Therapieansätzen geführt haben, die in den nächsten Jahren weiter verfolgt werden sollten.

8.1.3

Das hypothalamisch-hypophysärthyreoidale(HHT)-System bei psychischen Erkrankungen

Veränderte Regulation des HHT-Systems bei Depression Hinsichtlich der Regulation des HHT-Systems wurden die meisten Auffälligkeiten ebenfalls bei depressiven Erkrankungen gefunden. Im 24 h-Profil wurden bei depressiven Patienten erniedrigte TSH-Konzentrationen angesichts normaler T4-Spiegel beschrieben (Unden et al. 1986).

Low-T3-Syndrom Auffällig ist, dass bei depressiven Patienten gelegentlich ein sog. »Low-T3-Syndrom« besteht, welches durch erniedrigte T3- bei erhöhten »reverse T3«-Konzentrationen gekennzeichnet ist (Linnoila et al. 1983; Rupprecht u. Lesch 1989). ! In therapeutischer Hinsicht hat sich der Einsatz von T3 als Augmentationstherapie zu Standardantidepressiva in diesem Zusammenhang in mehreren Studien als wirksam erwiesen (Earle 1970; Rupprecht u. Lesch 1989). Ferner wurden auch mit einer Hochdosistherapie mit T4 therapeutische Erfolge bei bipolaren Depressionen erzielt (Bauer et al. 1998). Insofern zählt die Augmentation mit Schilddrüsenhormonen nach wie vor zu den experimentellen pharmakologischen Therapieansätzen. Ein Low-T3-Syndrom kann jedoch auch durch Glukokortikoide induziert werden und ist somit möglicherweise durch die erhöhte Aktivität des HHA-Systems bei depressiven Patienten bedingt (Rupprecht et al. 1989). Ferner wird auch TSH durch Glukokortikoide supprimiert. Bei depressiven Patienten ist jedoch die Supprimierbarkeit von TSH durch das Glukokortikoid Dexamethason analog zu den Befunden innerhalb des HHA-Systems deutlich abgeschwächt (ebd.). Somit ist die verminderte Reagibilität auf Glukokortikoide bei depressiven Patienten nicht auf das HHA-System beschränkt, sondern betrifft auch andere endokrine Achsen. Auch diese Befunde sind mit einer generellen Dysfunktion des

191 8.1 · Psychoneuroendokrinologische Grundlagen

Glukokortikoidrezeptors bei depressiven Patienten vereinbar. TRH-Stimulationstest. In Stimulationstests mit Thyreo-

tropin-Releasinghormon (TRH) fand man relativ häufig eine abgeschwächte Stimulierbarkeit von TSH und Prolaktin bei depressiven Erkrankungen. Diese Veränderungen sind jedoch nicht so häufig und nicht so stark ausgeprägt wie die Regulationsstörungen innerhalb des HHA-Systems und sind auch auch nicht so konsistent reproduzierbar (Loosen u. Prange 1982; Lesch u. Rupprecht 1989). Wie die Veränderungen der Aktivität des HHASystems dürfen auch die Veränderungen des HHT-Systems keinesfalls als spezifisch für depressive Störungen angesehen werden. So findet man eine verminderte Aktivität des HHT-Systems nicht nur bei depressiven, sondern auch bei schizophrenen Patienten (Rao et al. 1995) oder bei Essstörungen (Hudson u. Hudson 1984).

Veränderte Aktivität des HHS-Systems bei anderen psychischen Störungen Eine Unterfunktion des HHS-Systems besteht jedoch nicht nur bei depressiven Erkrankungen. Mit steigendem Alter nimmt die Aktivität des HHS-Systems generell ab (Steiger 1995). Ferner wurde eine abgeschwächte GHStimulation nach Gabe von GHRH auch bei Patienten mit Demenz vom Alzheimer-Typ gefunden (Lesch et al. 1990). Eine gesteigerte Antwort von GH auf Stimulation mit Apomorphin hingegen wurde bei postpartalen Psychosen beobachtet und im Sinne einer Überfunktion des dopaminergen Systems interpretiert (Checkley et al. 1992). Therapeutische Ansätze zur Korrektur der Aktivität des HHS-Aktivität bei psychischen Erkrankungen gibt es bislang nicht, da keine geeigneten oral wirksamen Pharmaka zur Verfügung stehen.

8.1.5 8.1.4

Das hypothalamisch-hypophysärsomatotrope(HHS)-System bei psychischen Erkrankungen

Veränderte Regulation des HHS-Systems bei Depression Die Regulation des HHS-Systems weist bei depressiven Patienten ebenfalls Veränderungen auf. Untersuchungen des 24 h-Profils ergaben jedoch inkonsistente Befunde (Linkowski et al. 1987; Voderholzer et al. 1993). Eine Reihe von Stimulationsstests mit Desmethylimipramin (Neuhauser u. Laakmann 1988), Clonidin (Lesch u. Rupprecht 1989) und Growth-hormone-Releasinghormon (GHRH; Lesch u. Rupprecht 1989) erbrachten Hinweise für eine verminderte Responsivität von Wachstumshormon (Growth hormone/GH) bei depressiven Patienten. Möglicherweise spielen erhöhte Konzentrationen von »Insulinlike growth factor-1« (IGF-1) in diesem Zusammenhang eine Rolle (Lesch et al. 1988). Allerdings war die abgeschwächte Stimulierbarkeit von GH nach Gabe von GHRH nicht so konsistent reproduzierbar wie die verminderte ACTH-Antwort nach CRH-Stimulation (Steiger et al. 1994). Schlafstörungen. Relativ häufig kommen bei depressiven

Patienten Störungen der Schlafarchitektur mit einer Verminderung des Tiefschlafanteils und einer verkürzten REM-Latenz vor (Steiger 1995). Da GHRH tiefschlaffördernd wirkt, CRH dagegen den Tiefschlaf unterdrückt, spielt möglicherweise eine Störung der Balance zwischen der Aktivität des HHS- und des HHA-Systems mit einer Unterfunktion des HHS- und einer Überfunktion des HHA-Systems für die Genese der Schlafstörung von depressiven Patienten eine Rolle (ebd.).

Das hypothalamisch-hypophysärgonadale(HHG)-System bei psychischen Erkrankungen

Im Vergleich zu anderen endokrinen Systemen wurde das HHG-System bei depressiven Erkrankungen weniger häufig untersucht. Studien zur basalen Sekretion von gonadalen Steroiden erbrachten keine ausgeprägten Veränderungen (Rupprecht u. Lesch 1989). Auch die Stimulationsuntersuchungen mit Gonadotropin-Releasinghormon (GnRH) wiesen weniger Auffälligkeiten auf als die Stimulationstests anderer endokriner Achsen (Rupprecht u. Lesch 1989; Lesch u. Rupprecht 1989).

Psychische Störungen der Postpartalzeit Auffallend ist jedoch das in der Postpartalzeit gehäufte Auftreten von depressiven Verstimmungen sowie von psychotischen Episoden (Brockington u. Meakin 1994). In dieser Zeitspanne kommt es zu einem rapiden Abfall der Östrogen- und Progesteronsekretion innerhalb weniger Tage. Somit scheint ein plötzlicher Abfall gonadaler Steroide einen Risikofaktor für das Auftreten psychischer Störungen darzustellen. 17β-Estradiol wurde erfolgreich zur Behandlung postpartaler Depressionen als Augmentation einer Therapie mit Standardantidepressiva in einer offenen Studie eingesetzt (Gregoire et al. 1996). Kontrollierte Doppelblindstudien sowie Untersuchungen zur therapeutischen Wirksamkeit bei anderen Depressionsformen stehen bislang jedoch noch aus.

Weibliche Sexualhormone und Psychose Aufgrund epidemiologischer Untersuchungen besteht ein zeitlicher Zusammenhang zwischen psychotischer Symptomatik und Veränderungen der Sexualhormonsekretion bei der Frau. So vermutet man, dass Östrogene am höheren Erkrankungsalter der Frau an Schizophrenie

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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen

dahingehend beteiligt sind, dass ihnen möglicherweise eine schützende Wirkung zukommt. Auch das erhöhte Erkrankungsrisiko von Frauen nach der Menopause sowie die Korrelation psychiatrischer Krankenhausaufenthalte schizophrener Patientinnen mit dem Verlauf des Menstruationszyklus sprechen für diese Theorie (Häfner u. Nowotny 1995). Ferner wirken Östrogene in vitro über membranäre Mechanismen neuroprotektiv (Behl et al. 1997), sie könnten daher möglicherweise ein therapeutisches Potenzial bei demenziellen Erkrankungen besitzen. Erste Studien deuten darauf hin, dass Östrogene u. U. zu einem beschleunigten Ansprechen auf Antipsychotika bei schizophrenen Patientinnen beitragen könnten und somit auch zu einer Dosiseinsparung solcher Medikamente führen könnten (Kulkarni et al. 2001). Die bisherigen Laborergebnisse sprechen jedoch dafür, das weit weniger über den Östrogenrezeptor wirksame 17α-Estradiol statt des üblicherweise verwendeten 17β-Estradiols einzusetzen, da beide Östrogene vergleichbar neuroprotektiv wirken (ebd.), aber mit 17α-Estradiol weniger Nebenwirkungen zu erwarten sind.

8.1.6

Das psychopharmakologische Potenzial von neuroaktiven Steroiden

Theoretische Grundlagen der Steroidhormonwirkung Das klassische Modell der Steroidhormonwirkung geht davon aus, dass Steroide durch passive Diffusion in das Zellinnere gelangen und dort an spezifische intrazelluläre Rezeptorproteine binden. Die Hormonbindung bewirkt eine Konformationsänderung der Rezeptoren durch Abdissoziation von umgebenden Proteinen, sog. Heatshock-Proteinen. Die Hormonrezeptorkomplexe translozieren in den Zellkern und binden dort als Dimere an sog. Response-Elemente, welche spezifische Erkennungssequenzen auf den Promotoren steroidregulierter Gene darstellen (Evans 1988). Steroidrezeptoren beeinflussen somit entscheidend die Genexpression, indem sie als Transkriptionsfaktoren wirken (ebd.). Definition neuroaktiver Steroide. In den letzten Jahren

fanden sich jedoch vermehrt Hinweise, dass bestimmte Steroide auch die neuronale Erregbarkeit über membranäre Prozesse durch Interaktionen mit entsprechenden Neurotransmitterrezeptoren modulieren können (Paul u. Purdy 1992; Rupprecht 2003). Für Steroide mit diesen speziellen Eigenschaften wurde die Bezeichnung »neuroaktive Steroide« eingeführt (Paul u. Purdy 1992). Während die Wirkungen von Steroiden auf genomischer Ebene Zeiträume von Minuten bis Stunden beanspruchen, die letztendlich von der Geschwindigkeit der Proteinbiosyn-

these bestimmt werden, spielt sich die modulatorische Wirkung neuroaktiver Steroide im Bereich von Millisekunden bis Sekunden ab. Somit stellen genomische und nongenomische Wirkungen von Steroiden im ZNS die molekulare Basis für ein breites Wirkungsspektrum dieser Steroide für neuronale Funktionen und Plastizität dar. Neurosteroide. Verschiedene neuroaktive Steroide können vom Gehirn selbst ohne Zuhilfenahme peripherer endokriner Organe synthetisiert werden (Baulieu 1991). Solche Steroide, die vom Gehirn aus Cholesterol produziert werden, werden auch als Neurosteroide bezeichnet (ebd.).

Modulation neuronaler Exzitabilität Im Jahr 1986 wurde das erste Mal gezeigt, dass die neuroaktiven Steroide Allotetrahydroprogesteron (THP) und Allotetrahydrodeoxykortikosteron (THDOC; ⊡ Abb. 8.4) die neuronale Exzitabilität über eine Interaktion mit dem GABAA-/Benzodiazepinrezeptorkomplex modulieren können (Paul u. Purdy 1992). Der GABAA-Rezeptor weist eine relativ komplexe molekulare Struktur auf. Er besteht aus einer Reihe von Untereinheiten, die letztendlich einen Ionenkanal bilden, durch welchen ein Chloridionenstrom in das Zellinnere fliesst (Rupprecht 2003). Am GABAA-Rezeptor greifen Agonisten an, z. B. GABA und Muscimol, jedoch auch Modulatoren, wie z. B. Benzodiazepine und Barbiturate. Die neuroaktiven Steroide THP und THDOC sind in der Lage, t-Butylbicylophosphorothionat (TBPS) vom Chloridionenkanal mit einer höheren Affinität als Barbiturate zu verdrängen und den GABA-induzierten Chloridionenstrom zu verstärken (Paul u. Purdy 1992). Somit stellen diese neuroaktiven Steroide effektive positive allosterische Modulatoren des GABAA-Rezeptors dar, indem sie die Anzahl und die Dauer der Öffnungen des Ionenkanals verlängern (ebd.). Während 3α-reduzierte neuroaktive Steroide wie THP und THDOC als positive allosterische Modulatoren des GABAA-Rezeptors gelten, besitzen Dehydroepiandrosteron-(DHEA-)Sulfat und Pregnenolon-Sulfat funktionellantagonistische Eigenschaften (ebd.). Somit üben endogene 3α-reduzierte neuroaktive Steroide möglicherweise funktionell bedeutsame positiv-allosterische Wirkungen am GABAA-/Benzodiazepinrezeptorkomplex aus, die sich vielleicht auch therapeutisch nutzen lassen. Bis vor kurzem ging man noch davon aus, dass Steroide entweder die Genexpression über Steroidrezeptoren im Sinne des klassischen Modells der Steroidwirkung regulieren oder aber die neuronale Exzitabilität über eine Modulation von Ionenkanälen verändern (ebd.). Dieses Modell konnte jedoch dahingehend modifiziert werden, dass 3α,5α-reduzierte neuroaktive Steroide sowohl die neuronale Exzitabilität beeinflussen als auch die Genex-

193 8.1 · Psychoneuroendokrinologische Grundlagen

⊡ Abb. 8.4. Biosynthese und Metabolismus von neuroaktiven Steroiden

pression über den Progesteronrezeptor nach intrazellulärer Oxidation regulieren (Rupprecht 2003; ⊡ Abb. 8.5). Es findet somit ein intrazelluläres Wechselspiel zwischen genomischen und nongenomischen Steroideffekten statt, bei dem die Expression der beteiligten Rezeptoren und deren Untereinheiten sowie der entsprechenden Enzyme eine wichtige Rolle spielt (vgl. ⊡ Abb. 8.5).

Anästhetische Eigenschaften Vor über 50 Jahren wurden mögliche anästhetische Wirkungen von 3α-reduzierten neuroaktiven Steroiden erstmals beschrieben. Im Tierexperiment bewirkte die intrazerebroventrikuläre Gabe von Progesteron und einigen seiner GABA-aktiven Metaboliten eine Verminderung der Schmerzschwelle (Paul u. Purdy 1992). Auch eine kli-

⊡ Abb. 8.5. Wirkungsweise von Steroiden im ZNS (SRE steroidresponsives Element, HSP 90 Heat shock Protein 90)

nische Studie konnte zeigen, dass durch Infusion einer Pregnanolonemulsion Anästhesie erzeugt wird.

Antikonvulsive Potenz Weiterhin besitzen die natürlich vorkommenden 3α-reduzierten neuroaktiven Steroide antikonvulsive Eigenschaften (Paul u. Purdy 1992; Rupprecht 2003). Darauf aufbauend wird gegenwärtig versucht, synthetische Analoga zu entwickeln, die als Antiepileptika eingesetzt werden könnten. Für eine mögliche antiepileptische Potenz solcher Steroide spricht auch, dass während eines Alkoholentzugssyndroms eine erhöhte Krampfanfälligkeit besteht und während eines solchen Entzugssyndroms erniedrigte Konzentrationen von endogenen 3α-reduzierten neuroaktiven Steroiden gemessen wurden (Rupprecht 2003).

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194

Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen

Sonstige therapeutische Optionen 3α,5α−reduzierte neuroaktive Steroide. Die funktionell-

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agonistische Wirkung von 3α, 5α-reduzierten neuroaktiven Steroiden am GABAA-Rezeptor lässt Spekulationen über mögliche anxiolytische Wirkungen bei Angsterkrankungen, z. B. der Panikstörung oder der generalisierten Angststörung, zu. Eine weitere Einsatzmöglichkeit ließe sich auch für Schlafstörungen diskutieren. Schlaf-EEGUntersuchungen nach Gabe von Progesteron als Vorläufermolekül erbrachten beim Tier (Lancel et al. 1996) und beim Menschen (Friess et al. 1997) ein Schlaf-EEG-Profil mit einer Zunahme von »non rapid eye movement«(Non-REM-)Schlaf, einer Abnahme der EEG-Aktivität im Deltafrequenzbereich sowie einer Zunahme der EEGAktivität im Betafrequenzbereich ähnlich der von Benzodiazepinen und weisen daher in diese Richtung. Mittlerweile gibt es Neuentwicklungen von Anxiolytika, die darauf abzielen, die Konzentrationen endogener 3α,5αreduzierter neuroaktiver Steroide zu erhöhen. Eine derartige Substanz mit rascher anxiolytischer Wirkung ist derzeit in der klinischen Entwicklung für die Behandlung von Angsterkrankungen.

siven Störungen im Alter. Allerdings ist bei der Bewertung der ersten Studien über erniedrigte DHEA-Konzentrationen bei demenziellen Erkrankungen Vorsicht angebracht (ebd.), da in größeren epidemiologischen Untersuchungen weder Zusammenhänge zwischen dem Vorliegen einer demenziellen Erkrankung noch zwischen Messungen der kognitiven Leistungsfähigkeit bei einer älteren Normalbevölkerung (ebd.) und den Konzentrationen von DHEA gefunden wurden.

Fazit Neuroaktive Steroide besitzen eine Vielzahl bislang therapeutisch noch weitgehend ungenutzter psychopharmakologischer Eigenschaften, deren klinische Wertigkeit und Indikationsgebiet in entsprechenden klinischen Studien künftig weiter untersucht werden müssen. Die Physiologie und Pathophysiologie von neuroaktiven Steroiden schaffen die Grundlage für deren möglichen Einsatz in der Therapie neuropsychiatrischer Krankheitsbilder und tragen zum weiteren Verständnis von deren biologischen Determinanten bei.

Pregnenolon. In tierexperimentellen Verhaltensuntersu-

chungen wurde eine Verbesserung der Gedächtnisleistungen nach intrazerebroventrikulärer Gabe von Pregnenolon beschrieben. Diese Verbesserung kognitiver Funktionen sind möglicherweise den N-Methyl-D-Aspartat-(NMDA)rezeptoragonistischen Eigenschaften von Pregnenolonsulfat zuzuschreiben, da NMDA-Rezeptorantagonisten kognitive Funktionen beeinträchtigen können (Rupprecht 2003). Erste klinische Untersuchungen zum Einfluss einer oralen Gabe von Pregnenolon auf den Schlaf des Menschen wiesen auf eine inverse GABA-agonistische Wirkung hin (ebd.). Allerdings gibt es bislang noch keine klinischen Untersuchungen bezüglich gedächtnisfördernder Eigenschaften von Pregnenolon beim Menschen. DHEA. Da DHEA-Sulfat und Pregnenolonsulfat am GABAA-Rezeptor auf zellulärer Ebene ähnlich wirken, sind gedächtnisfördernde Eigenschaften auch nach Gabe von DHEA zu erwarten. Im Tierexperiment wurden gedächtnisfördernde Effekte bereits bei Nagetieren nachgewiesen (Flood et al. 1988). Eine klinische Schlafstudie konnte eine Zunahme von REM-Schlaf nach oraler Gabe von DHEA bei männlichen Probanden zeigen (Friess et al. 1995), welche mit potenziellen gedächtnisfördernden Effekten vereinbar wäre. DHEA-Konzentrationen nehmen mit dem Alter ab und verminderte Konzentrationen von DHEA wurden bei Patienten mit demenziellen Erkrankungen, z. B. der senilen Demenz vom Alzheimer Typ und der Multiinfarktdemenz (Rupprecht 1997), beobachtetet. Daher eröffnet eine zusätzliche Gabe von DHEA u. U. therapeutische Möglichkeiten bei Patienten mit kognitiven Defiziten, z. B. demenziellen Erkrankungen oder depres-

8.2

Psychoneuroimmunologische Grundlagen N. Müller

8.2.1

Begriffsbestimmung Psychoneuroimmunologie und historische Aspekte

Psychoneuroimmunologie ist ein Fachgebiet, das sich in den letzten Jahren sehr rasch entwickelt und die gegenseitige Beeinflussung von Nerven- und Immunsystem sowie die Auswirkungen auf das Verhalten und das Befinden zum Gegenstand hat. Das Spektrum dieses Gebietes reicht von In-vitro-Studien von Gewebe und Lymphozyten bis zu Untersuchungen von Stresseinflüssen, Stressverarbeitung und Persönlichkeitseigenschaften auf die Funktion des Immunsystems und der Rolle psychischer Faktoren bei Infektions- und Tumorerkrankungen einschließlich der Effekte psychotherapeutischer Interventionen. Fragen der Verhaltensmedizin und tierexperimentelle Untersuchungen, z. B. die Konditionierung einer Immunantwort, gehören ebenso zu diesem Gebiet. Es lässt sich also eine ganze Bandbreite von Forschungsrichtungen subsumieren.

Interaktion von Immunsystem und ZNS Zahlreiche Interaktionen des Immunsystems mit dem ZNS wurden in den letzten Jahren beschrieben. Dabei hat

195 8.2 · Psychoneuroimmunologische Grundlagen

das hohe Interesse der Forschung auf diesem Gebiet prinzipiell 2 Gründe:  Einflüsse des ZNS (einschließlich des neuroendokrinen Systems) wie psychische Prozesse und psychopathologische Auffälligkeiten modulieren mittels der Aktivität des Immunsystems die Vulnerabilität zu somatischen Erkrankungen, z. B. Infektionen.  (Direkte oder indirekte) Beeinträchtigungen des Immunsystems prädisponieren wahrscheinlich für psychische Erkrankungen, speziell für Psychosen. Die Hypothese, Immunprozesse seien an der Pathogenese psychischer Erkrankungen beteiligt, wird seit langem diskutiert. Ersten Anlass dazu gaben Befunde von Immunauffälligkeiten – besonders ausgeprägt bei katatonen Schizophrenien –, die von verschiedenen Autoren bereits lange vor Beginn der Neuroleptikaära im Blut und im Liquor schizophrener Patienten erhoben wurden (Bruce u. Peebles 1903; Dameshek 1930; Lehmann-Facius 1939). In den 1950er Jahren wurden Serumbestandteile Schizophrener mit autoaggressiven Eigenschaften gegen Hirngewebe beschrieben. Knight (1982) versuchte, die zentrale Rolle des Dopaminsystems mit der Autoimmunhypothese der Schizophrenie in Einklang zu bringen, indem er postulierte, dass dopaminrezeptorstimulierende Autoantikörper an der Pathogenese schizophrener Erkrankungen beteiligt seien. Dank moderner Methodik ist die Immunologie nun in der Lage, die verschiedenen in ihren Funktionen inzwischen besser bekannten Subgruppen des zellulären Immunsystems, aber auch die Komponenten des humoralen Immunsystems wie Zytokine, Antikörper, Akute-PhaseProteine etc. differenziert zu bestimmen und dadurch den funktionellen Zusammenhang der Immunparameter und deren Einflüsse auf die Immunpathologie darzustellen.

8.2.2

Immunologische Grundlagen und das immunologische Gedächtnis

Zellvermittelte Immunität Die Lymphozyten sind für die Immunabwehr von zentraler Bedeutung. Es werden 2 Grundtypen von Lymphozyten unterschieden, die B- und die T-Zellen. Die T-Lymphozyten erfahren ihre Ausreifung und Prägung in der Thymusrinde, ehe sie in die anderen lymphatischen Organe (Tonsillen, Lymphfollikel, Lymphknoten und Milz) auswandern. Ein Teil der aktivierten T-Zellen treten bei der Immunantwort selbst in zytolytische Zell-Zell-Interaktionen ein, wie sie z. B. bei Transplantatabstoßung oder bei Graft-versus-Host-Reaktionen nach Knochenmarktransplantationen auftreten. Die TLymphozyten werden deshalb als Träger der zellvermittelten Immunität bezeichnet. Zur Aktivierung benötigen T-Lymphozyten das entsprechende spezifische Antigen,

das zusammen mit einem Histokompatibilitätsantigen (HLA-Antigen) auf der Oberfläche einer »akzessorischen« Zelle (z. B. Makrophagen/Monozyten) der T-Zelle präsentiert wird. Zusätzlich benötigen T-Zellen zur Aktivierung und Proliferation noch ein weiteres, nicht-antigenspezifisches Signal von der akzessorischen Zelle.

Immunologisches Gedächtnis Eine wesentliche Funktion des Immunsystems ist die Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst. Nicht-SelbstMoleküle funktionieren als Antigene. Die T-Gedächtniszellen (»memory cells«) merken sich die spezifischen Antigene. Bei einem Zweitkontakt mit einem Antigen wird durch sie eine starke spezifische Immunantwort ausgelöst. Natürliche Killerzellen (NK-Zellen) töten Zellen nicht spezifisch und unterliegen keiner strengen HLARestriktion. HLA-System. Das HLA-System hilft bei der Selbst-/Nicht-

selbst-Unterscheidung und ist eng gekoppelt mit der Funktion des Immunsystems, indem es entscheidet, welche spezifischen Teile (Peptide) eines Antigens nach der Prozessierung in der Zelle den T-Lymphozyten präsentiert werden. Vom HLA-System hängt entscheidend die Immunantwort ab. Es umfasst etwa ein Tausendstel des menschlichen Genoms und beinhaltet eine Reihe eng gekoppelter Loci auf dem kurzen Arm des Chromosom 6. Eine Reihe von genetischen Erkrankungen des Nervensystems, z. B. multiple Sklerose (MS) und Narkolepsie, sind mit HLA-Genen gekoppelt.

Oberflächenmarkierung und Zytokinsekretion Die Zellen des Immunsystems sind durch ihre Oberflächenmarkermoleküle und durch das Muster der Zytokine, das sie sezernieren, definiert. So stellt der CD3-Marker das Kennzeichen für die Gesamtzahl der T-Lymphozyten dar. T-Lymphozyten lassen sich in mehrere Subpopulationen unterteilen, die mit Hilfe monoklonaler Antikörper definiert werden können und die funktionell unterschiedlich sind. Die wichtigsten Subpopulationen sind die T-Helfer/Inducer-Zellen (CD4+), die eine Immunantwort induzieren und die zytotoxischen T-Zellen/T-Suppressorzellen (CD8+), die eine ausgelöste Immunantwort des Organismus regulieren, aber auch zytotoxisch wirken und Zellen lysieren. CD16+/56+ ist der Marker für NK-Zellen, CD5+/ CD19+ für die B-Lymphozyten. Die antigenpräsentierenden Zellen (z. B. Makrophagen oder bestimmte Typen von Lymphozyten) schütten z. B. aktivierende Zytokine aus und aktivieren B- und T-Lymphozyten. NK-Zellen werden primär durch Interferon-γ aktiviert. B-Lymphozyten proliferieren zu Plasmazellen, die Antikörper produzieren. CD4+- und CD8+-Zellen, die wiederum durch CD3+-TLymphozyten aktiviert werden, befinden sich normaler-

8

196

Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen

8 ⊡ Abb. 8.6. Übersicht über das zelluläre Immunsystem und die von Lymphozyten ausgeschütteten aktivierenden und hemmenden Zytokine

weise in einem funktionellen Gleichgewicht. Die Differenzierung in T-Helfer-1- und T-Helfer-2-Lymphozyten (ebenfalls definiert durch das Zytokinmuster, das sie ausschütten) scheint bei chronisch entzündlichen Erkrankungen von Relevanz zu sein (⊡ Abb. 8.6). Das eine schnelle Immunantwort einleitende und v. a. aus Elementen des zellulären Immunsystems bestehende T-Helfer-1-System wird bei akuten Entzündungen aktiv. Charakteristische Zytokine sind INF-g, IL-2 und IL-12. Das T-Helfer-2-System wird bei chronisch-entzündlichen Prozessen, aber auch allergischen Reaktionen aktiviert. Wichtige Zytokine, die eine Aktivierung des T-Helfer-2Systems widerspiegeln, sind IL-4 und IL-13, z. T. auch IL6. Beide Regulationssysteme stehen normalerweise in einem funktionellen Gleichgewicht.

T-Gedächtniszellen Neben dem ZNS ist das Immunsystem das einzige menschliche Organsystem, das über ein Gedächtnis verfügt. Diese Funktion nehmen die T-Gedächtniszellen + (CD45 ) wahr. Sie »merken« sich das Antigen, mit dem sie in Berührung gekommen sind, und Klone von T-Gedächtniszellen proliferieren schnell, wenn sie dieses Antigen wiedererkennen. Einer der historischen Ausgangspunkte der Psychoneuroimmunologie war eine Immunkonditionierung im Tierversuch: Bei Mäusen und Ratten ist es möglich, eine durch Cyclophosphamid (unkonditionierter Stimulus) vermittelte Immunsuppression durch gleichzeitige Gabe von Saccharin (konditionierter Stimulus) zu konditionie-

ren. Welche Elemente des Immunsystems in diese konditionierte Immunantwort involviert sind, ist bisher nicht geklärt (Ader et al. 1991). Möglicherweise spielen dabei neben den T-Memory-Zellen andere immunologische Gedächtnisfunktionen eine Rolle.

8.2.3

Methodische Aspekte der Psychoneuroimmunologie

Es ist bekannt, dass Untersuchungen des menschlichen Immunsystems eine Reihe methodischer Probleme mit sich bringen, denn verschiedene Komponenten des Immunsystems werden durch Variablen beeinflusst, die bei Humanuntersuchung nur schwer kontrollierbar sind und möglicherweise mit zu divergierenden Befunden beitragen. Dazu gehören Alter, Schlaf, Alkohol- und Drogenkonsum, Pharmaka, Ernährungsgewohnheiten, Tagesrhythmus, Stress, Rauchen und körperliches Training ebenso wie Infektionen, Tumoren etc. ! Auch klinische Krankheitsfaktoren wie Akuität, Verlauf, Erkrankungsschwere oder Psychopathologie scheinen eine Rolle zu spielen. Das zeigt, dass das Immunsystem sehr empfindlich auf verschiedenste Einflüsse reagiert, andererseits aber dank seiner hohen Komplexität und Variabilität in der Lage ist, eine funktionelle Homöostase aufrecht zu erhalten.

197 8.2 · Psychoneuroimmunologische Grundlagen

8.2.4

Neuroendokrines System und Immunsystem

Über die Interaktion von ZNS, endokrinem System und Immunsystem ist inzwischen vieles bekannt. Zytokine kommunizieren mit im ZNS exprimierten Rezeptoren und beeinflussen verschiedene Funktionen, z. B. aktiviert IL-1 einerseits die ACTH-Ausschüttung und induziert andererseits Schlaf. Glukokortikoide hemmen die Zytokinproduktion und supprimieren die Immunantwort in vivo. Von Androgenen wurden supprimierende Effekte auf die Immunantwort beobachtet, während Thyroxin, GH und Insulin sie stimulieren. Östrogene supprimieren in höheren Dosen die zelluläre Immunantwort, während niedrigere Dosen eine stimulatorische Wirkung haben. Die erhöhte Rate von Autoimmunerkrankungen wie Sklerodermie, rheumatoide Arthritis oder systemischer Lupus erythematodes bei Frauen weist auf eine mögliche Beteiligung von Sexualhormonen an einer Immundysregulation hin.

Wechselwirkungen von Immunsystem und Endokrinium Bereits seit längerer Zeit ist bekannt, dass nicht nur das Immunsystem durch das hormonelle System beeinflusst wird, sondern auch Immuneinflüsse das endokrine System steuern können und periphere Immunprozesse auch Auswirkungen auf das ZNS im Sinne eines afferenten Geschehens haben. So konnte gezeigt werden, dass nach einer Antigeninjektion bei Versuchstieren das Maximum der Antikörperproduktion von einem Anstieg der Glukokortikoidkonzentration im Blut auf das 2- bis 3fache begleitet ist und eine immunsuppressive Wirkung erzielt wird; gleichzeitig erreicht auch die Feuerungsrate hypothalamischer Nuclei ihr Maximum (Besedovsky et al. 1986). Aufgrund dieser Befunde wird postuliert, dass die immunmodulatorische Wirkung von Kortisol einer der wichtigsten physiologischen Effekte dieses Hormons sei. Andererseits weisen Befunde darauf hin, dass eine Überstimulation der HPA-Achse durch Ausschüttung von CRF-stimulierenden Zytokinen zu einer Immunsuppression wie z. B. verringerter Effektivität von Hepatitisoder Grippeimpfung führt (Pennisi 1997). Weiterhin fand sich, dass in Lymphozyten des peripheren Immunsystems Hormone produziert werden, so ACTH, β-Endorphine, TSH, GH und Prolaktin. Das Immunsystem scheint also z. T. auch Funktionen des endokrinen Systems wahrzunehmen. Es scheint, dass Peptidsignale des Immunsystems und des endokrinen Systems z. T. gemeinsame Funktionen haben und dass Funktionen und Signale des Immunsystems und des endokrinen Systems vielfach Parallelen aufweisen.

8.2.5

Das Zytokinsystem

Zytokine vermitteln Informationen zwischen Zellen des peripheren Immunsystems und des ZNS. Sie werden z. T. aktiv durch die Blut-Hirn-Schranke transportiert, jedoch auch im ZNS von aktivierten Astrozyten und Mikroglia gebildet. IL-1, IL-2, IL-6 und TNF-α sind die wichtigsten aktivierenden Zytokine, von welchen verschiedene Funktionen im ZNS bekannt sind. Befunde der letzten Jahre zeigen, dass Zytokinwirkungen auch für psychische Erkrankungen von Bedeutung sind. Seit längerer Zeit ist die enge Verbindung von ZNS, endokrinem System und Immunsystem bekannt. Zytokine im ZNS sind dabei an verschiedenen Regulationsmechanismen beteiligt. Dazu gehören:  die Initiierung eines Immunprozesses im ZNS bei entzündlichen Erkrankungen,  die Regulation der Blut-Hirn-Schranke,  die Regulierung der Hormone der HypothalamusHypophysen-Nebennierenrinden-Achse,  differenzielle stimulatorische und hemmende Effekte auf die dopaminerge, serotonerge, noradrenerge und cholinerge Neurotransmission.

Stimulierung von Zellen des ZNS durch Zytokine Es existieren verschiedene Wege, ZNS-Zellen durch Zytokine zu aktivieren. Erstens werden zumindest einige Zytokine wie IL-1, IL-2, IL-6 und TNF-α über aktive Transportmechanismen aus dem Blut in das ZNS transportiert; zum zweiten sezernieren Gliazellen nach Aktivierung durch antigene Reize Zytokine; schließlich konnte nachgewiesen werden, dass die Zytokinsekretion im ZNS auch durch Stimulation mit Neurotransmittern ausgelöst werden kann. Es zeigte sich, dass Noradrenalin dosisabhängig die IL-6-Produktion in Astrozyten stimuliert (Norris u. Benveniste 1993). ! Da IL-6 funktionell eng mit anderen Zytokinen wie IL-1, IL-2 und TNF-α verknüpft ist, weist dieser Befund darauf hin, dass die Kaskade der Zytokine möglicherweise auch durch Neurotransmitter angeregt werden kann. Hier könnte eine wichtige Verbindung zwischen (Auto-)Immunerkrankungen, Infektionsanfälligkeit, Befinden und psychischen Erkrankungen liegen. Darüber hinaus dringen Zytokine natürlich auch durch eine gestörte Blut-Hirn-Schranke in das ZNS ein.

Zytokinproduktion Sowohl Astrozyten als auch Mikrogliazellen sind nach Aktivierung in der Lage, Zytokine zu produzieren und auszuschütten. Interessanterweise unterscheiden sich die Wege, auf denen beide Zellarten zur Bildung von Zytoki-

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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen

nen angeregt werden, sowie das sezernierte Zytokinmuster. Dies legt unterschiedliche Funktionen dieser Zelltypen für die Immunantwort im ZNS nahe. Viren stimulieren Mikroglia zur Zytokinproduktion. Auf diese Weise wird – zusammen mit der Expression von zellulären Oberflächenstrukturen – bei viralen Infektionen eine Immunreaktion im ZNS eingeleitet (Liebermann et al. 1989).

Wirkmechanismus

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Da sich Zytokinrezeptoren auf Neuronen befinden, liegt nahe, dass Zytokine direkt auf neuronale Funktionen wirken. IL-1-enthaltende Neurone wurden in verschiedenen Arealen des ZNS einschließlich Hypothalamus und Hippocampus gefunden. Der Nachweis von IL-2-RezeptormRNA (der genetischen Information für den IL-2-Rezeptor) in Neuronen – mehr als in Mikroglia und Astrozyten – spricht dafür, dass auch IL-2 direkt auf Neuronen wirkt. Andererseits konnte im Tierversuch nachgewiesen werden, dass über den N. vagus Reize, die vom Immunsystem ausgehen, z. B. von IL-1, direkt an kritische ZNS-Regionen geleitet werden, ohne dass IL-1 in das ZNS wandert. Der N. vagus stellt offensichtlich eine Verbindung dar, die Informationen des Immunsystems weitergibt. Auch die physiologische Entwicklung des ZNS kann durch eine Über- oder Unterproduktion von Zytokinen erheblich beeinträchtigt werden (Merill 1992), denn Zytokine haben auch Funktionen als Wachstumsfaktoren im ZNS. Hier besteht möglicherweise eine Verbindung zwischen einer prä- oder perinatalen Schädigung, z. B. durch ein Geburtstrauma oder eine pränatale Virusinfektion, und einer Störung der Hirnreifung, wie sie bei schizophrenen Erkrankungen postuliert wird.

8.2.6

Interaktion von Zytokinen und Neurotransmittern

Besondere Bedeutung für psychische Erkrankungen dürften die Zytokineffekte auf Neurotransmitter des Katecholaminsystems haben. IL-1 stimuliert die Katecholaminausschüttung in peripheren Körperregionen, aber auch im ZNS, besonders ausgeprägt im Hirnstamm und im Hypothalamus. Hier wurden nach intraventrikulärer, aber auch peripherer Gabe von IL-1-Erhöhungen von Noradrenalin, von Serotonin und von deren Abbauprodukten gefunden (Zalcman et al. 1994).

Interleukin-2 und dopaminerge Neurotransmission Untersuchungen belegen, dass die Stimulation der dopaminergen Neurotransmission ein wichtiger neuromodulatorischer Effekt von IL-2 ist. In vitro stimuliert IL-2 die Dopaminausschüttung (Lapchak 1992). Da dies bei phy-

siologischen Konzentrationen von IL-2 geschieht, wird eine wichtige physiologische Rolle von IL-2 für den Dopaminstoffwechsel im ZNS postuliert (Alonso et al. 1993). Periphere Gabe von IL-2 führte im Tierversuch zu erhöhtem Noradrenalinstoffwechsel im Hippocampus und erhöhtem Dopaminstoffwechsel im präfrontalen Kortex. Eine besonders hohe Dichte der IL-2-Rezeptoren in der Pyramidenzellschicht des Hippocampus weist darauf hin, dass IL-2 vermutlich an der Regulation der Neurotransmission der Pyramidenbahnen im Hippocampus beteiligt ist (Plata-Salaman 1991). Im Tierversuch zeigte sich auch, dass IL-2 selektiv die Azetylcholinfreisetzung im Hippocampus und im frontalen Kortex (Araujo et al. 1989) hemmt. Entsprechend fanden sich nach längerer IL-2-Gabe im Tierversuch ein Neuronenuntergang, degenerative Veränderungen im Hippocampus sowie eine deutliche Einschränkung der Gedächtnisfunktion (Nemni et al. 1992). Die Stimulation von Dopamin und die Hemmung von Azetylcholin scheinen 2 wesentliche ZNS-Effekte von IL-2 zu sein. Eine regulatorische Rolle der Zytokine für die Gedächtnisfunktion ist bisher wenig beachtet. Die Beteiligung von IL-2 an der Regulation striataler dopaminerger Funktionen könnte die beschriebenen motorischen Effekte (auf die Körperhaltung) von IL-2 erklären. Darüber hinaus ist auch ein sedierender Effekt von IL-2 beschrieben. Diese Effekte von IL-2 sind vermutlich v. a. über den Locus coeruleus und über den Nucleus caudatus vermittelt (Nisticò u. De Sarro 1991).

Interleukin-6 und Katecholaminsekretion IL-6 kann in vitro Neurone zur Sekretion von Dopamin, evtl. auch anderen Katecholaminen stimulieren. Im Tierversuch erhöht die periphere Gabe von IL-6 den Dopamin- und Serotonin-Turnover im Hippocampus und frontalen Kortex, ohne den Noradrenalinstoffwechsel zu beeinflussen (Zalcman et al. 1994). Umgekehrt kann Noradrenalin die IL-6-Produktion in aktivierten Astrozyten stimulieren (Norris u. Benveniste 1993).

TNF-α und Katecholaminsystem Auch TNF-α beeinflusst die Neurotransmitterbalance, wobei diese Einflüsse von der Dauer der TNF-α-Gabe abzuhängen scheinen. Während akute TNF-α-Gabe einen über ZNS-Mechanismen vermittelten stimulatorischen Effekt auf das Katecholaminsystem hat, wirkt chronische TNF-α-Gabe inaktivierend auf die Katecholaminsekretion (Soliven u. Albert 1992). Bei demenziellen Prozessen, aber auch bei den HIV-assoziierten kognitiven Einschränkungen, wird TNF-α eine Schlüsselrolle zugeschrieben. Systematische Untersuchungen zu Wirkungen von chronischer im Gegensatz zu akuter Zytokingabe – für psychiatrische Fragestellungen von hoher Relevanz – stehen für die meisten Zytokine allerdings noch aus (⊡ Tab. 8.2).

8

199 8.2 · Psychoneuroimmunologische Grundlagen

⊡ Tab. 8.2. Vermutete Funktion, Lokalisation, biologische Effekte und Bedeutung ausgewählter Zytokine im ZNS Funktion im peripheren Immunsystem

Funktion im ZNS

Lokalisation von Rezeptoren im ZNS

Produktion im ZNS

Neurotransmittereffekte

Einfluss auf psychische Funktionen

IL-1

Pleiotrope Aktivierung; Proliferation von T- und B-Zellen, zytolytische Aktivität von NK-Zellen ↑

Stimulation der HPAAchse; Fieber, Schlaf

Hippocampus; Hypothalamus; Hirnstamm

Astrozyten; Mikroglia

Serotonin, Dopamin, Noradrenalin ↑; neurodendokrine Stimulation

Schlaf, Antrieb, Stress, »Krankheitsgefühl«

IL-2

Aktivierung von T-, T-Helfer-, NK- und B-Zellen; Zytokinproduktion ↑, z. B. IL-6 in Helferzellen

Schrankenstörung; Dopamin-metabolismus

Pyramidenzellschicht des Hippocampus; Locus coeruleus

Astrozyten; Mikroglia

Dopamin; Noradrenalin; Azetylcholin

Gedächtnis, Kognition

IL-6

Entzündungsmediator, B-Zell-Stimulation, Antikörpersynthese und AkutePhase-Proteine ↑; Synergismus mit IL-1

Schrankenstörung; intrathekale IgG-Produktion

Hippocampus; präfrontaler Kortex

Astrozyten; Mikroglia

Noradrenalin; Serotonin; Dopamin

Stress?

TNF-α

Endogenes Pyrogen; Ausschüttung von IL-1, Aktivierung von Makrophagen, Zytotoxizität

Zytotoxisch; Demyelinisation; Fieber

Ubiquitär?

Astrozyten; Mikroglia

Akut: Katecholamine ↑

Kognition?

8.2.7

Blut-Hirn-Schranke

»Unspezifische« Liquorauffälligkeiten, z. B. Blut-HirnSchrankenstörungen, finden sich regelmäßig bei etwa 20–30% der psychiatrischen Patienten. Untersuchungen der Psychiatrischen Universitätsklinik München an Schizophrenen ergaben eine Blut-Hirn-Schrankenstörung bei 27% und eine intrathekale IgG-Bildung bei 15% der Patienten. ! Der Liquor-IgG-Gehalt zeigte signifikante Korrelationen mit der Psychopathologie, nämlich v. a. der schizophrenen Negativsymptomatik (Müller u. Ackenheil 1995 a). Erhöhte Immunglobuline und Schrankenstörung sind Teil eines Immunprozesses, dessen Bedeutung bisher im Einzelnen unklar ist. Die Korrelationen von Psychopathologie und IgG-Gehalt weist auf enge Zusammenhänge zwischen Immunprozess und Erkrankung hin. Eine Schrankenstörung ist mit der Aktivierung von Astrozyten verbunden, denn die kapillären Endothelzellen, die die Blut-Liquor-Schranke bilden, sind fast vollständig von Astrozyten umgeben, welche die Blut-LiquorSchranke über die Endothelialzellen der kleinen Gefäße modulieren (Benveniste 1992). Eine Störung führt vermutlich wiederum zu einer sekundären Aktivierung der Zytokinkaskade im ZNS.

Der physiologische Sinn liegt darin, dass Antigene durch einen Immunprozess im ZNS unschädlich gemacht werden. So zeigen z. B. Infektionen mit Herpesviren, die Gliazellen nicht aktivieren können, klinisch weitaus ungünstigere Verläufe als Infektionen mit Herpesviren, die Astrozyten in die Immunantwort einbeziehen (Lewandowski et al. 1994). Durch die bidirektionale Verbindung kann ein zunächst lokal im ZNS ablaufender Prozess nach Öffnung der Blut-Hirn-Schranke das periphere Immunsystem aktivieren, was zur Aktivierung eines Immunprozesses, aber auch zur Aktivierung gegenregulatorischer Prozesse und damit letztlich zur klinischen Kontrolle eines entzündlichen ZNS-Prozesses führen kann (⊡ Abb. 8.7).

8.2.8

Immungenetik und psychische Störungen

HLA-System und Schizophrenie Seit Mitte der 1970er Jahre gibt es eine Fülle von Untersuchungen, die die Assoziation von HLA-Klasse-I-Antigenen (HLA-A, -B, -C) und Schizophrenie untersuchten. Wenn Immunauffälligkeiten eine Rolle in der Pathogenese der Schizophrenie spielen, würde man Assoziationen zwischen dem HLA-System und Schizophrenie erwarten. Die Ergebnisse der HLA-Klasse-I-Untersuchungen sind

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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen

8 ⊡ Abb. 8.7. Funktion der Blut-Hirn-Schranke und des Zytokinnetzwerks im ZNS. Unter anderem mittels der Expression von Adhäsionsmolekülen (VLA-4, LFA-1) penetrieren Lymphozyten die Gefäßwand und erkennen die auf Gliazellen exprimierten Oberflächenmoleküle

I-CAM und V-CAM. Zytokine werden von Astrozyten und Mikrogliazellen ausgeschüttet. Möglicherweise modulieren penetrierende Lymphozyten die Zytokinausschüttung der Gliazellen

allerdings inkonsistent, eine Reihe beschriebener Assoziationen konnte nicht repliziert werden. Assoziationen von HLA-A9, -A10, -A28 und -A29 mit Schizophrenie wurden allerdings von mehreren Untersuchern beobachtet (Tiwari u. Terasaki 1986). Andererseits können eine Reihe methodischer Faktoren für die Variabilität der Ergebnisse verantwortlich sein, z. B. ethnische und lokale Unterschiede, Einflüsse im »linkage desequilibrium«, Diagnosekriterien oder zu kleine Untersuchungsgruppen. Bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen konnten deutlichere Assoziationen mit dem HLA-Klasse-IISystem (HLA-DR, -DQ, -DP) als mit dem Klasse-I-System gefunden werden. Bei Schizophrenen beschäftigen sich nur wenige Studien mit dem Klasse-II-System. In einer deutschen Studie fand sich ein leichter Anstieg von HLADQB1 *0602, der auch in einer weiteren kleinen amerikanischen Studie beschrieben wurde. Dies ist besonders interessant, da HLA-DQB1 *0602 auch mit Narkolepsie und MS assoziiert ist, also möglicherweise ein gemeinsames Vulnerabilitätsgen für mehrere ZNS-Erkrankungen darstellt (Großkopf et al. 1998).

HLA-System und affektive Störungen Auch bei affektiven Erkrankungen sind in der Literatur zahlreiche Assoziationen mit Klasse-I-Antigenen beschrieben, die ebenfalls nur z. T. repliziert werden konnten.

Problematik der HLA-Serologie Aus heutiger Sicht müssen die serologischen HLA-Untersuchungen der damaligen Zeit besonders kritisch gesehen werden, denn die HLA-Untersuchungen mit Antikörpern erbrachten vielfach falsch-positive und falsch-negative Befunde. Seit HLA-Untersuchungen mit molekulargenetischen Methoden durchgeführt werden, lassen sich validere und reliablere Analysen durchführen. Allerdings macht die Fülle der bekannten HLA-Gene die Untersuchung sehr großer Stichproben erforderlich. Nach einem Boom von HLA-Untersuchungen bis Mitte der 1980er Jahre flaute das Interesse am HLA-System ab. Mit verbesserten Labormethoden, dem heute verfügbaren Wissen über die funktionelle Bedeutung des HLA-Systems für die Immunantwort und der Erkenntnis, dass ein Schizophrenie-Suszeptibilitätsgen auf dem kurzen Arm des Chromosoms 6 zumindest in der Nähe der HLA-Region liegt (Schwab et al. 1995), können weitere HLA-Untersuchungen bei solchen psychischen Störungen, denen eine genetische Vulnerabilität zugrundeliegt, heute durchaus wieder vielversprechend sein.

201 8.2 · Psychoneuroimmunologische Grundlagen

8.2.9

Zelluläres Immunsystem und psychische Störungen

Mit der Entwicklung moderner immunologischer Methodik trat zunächst die zelluläre Immunologie in den Mittelpunkt des Interesses. Analysen des zellulären Immunsystems bei psychischen Erkrankungen gehen davon aus, dass sich Veränderungen im ZNS in der Zusammensetzung verschiedener funktioneller Gruppen von Lymphozyten im Blut widerspiegeln. Methodisch lehnt sich die psychoneuroimmunologische Forschung dabei an neurologische ZNS-Erkrankungen an, wie z. B. der MS, bei der sich Veränderungen in der Zusammensetzung der Lymphozytenpopulationen im Blut feststellen lassen. Heute geht man davon aus, dass zur Aufrechterhaltung oder gesunden Homöostase bestimmte Lymphozytenpopulationen permanent durch das ZNS »patroullieren« und in geringem Ausmaß ein ständiger Austausch von Lymphozyten zwischen ZNS und Blut stattfindet. Durch Signale von ZNS-Zellen – vermutlich zunächst der Präsentation eines Antigens, z. B. durch Mikrogliazellen und der folgenden Antigenerkennung durch Lymphozyten – kommt es zu einer Invasion, verbunden mit der raschen Vermehrung bestimmter Zellklone, die wahrscheinlich über das periphere Blut transportiert werden. Dieser Vorgang ist mit einer erhöhten Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke verbunden, wobei den Adhäsionsmolekülen eine Schlüsselrolle zuzukommen scheint (Hampel et al. 1996).

Lymphozytenpopulation und Zytokinproduktion Die verschiedenen funktionellen Gruppen von Lymphozyten unterscheiden sich in ihrer Zytokinproduktion. Moderne immunologische Methoden machen es möglich, auch mittels der Analyse weniger Liquorzellen Rückschlüsse auf Veränderungen in der Zytokinproduktion oder in der Zusammensetzung der Lymphozytenpopulation zu ziehen. Bisher wurden bei psychiatrischen Patienten neben den NK-Zellen v. a. Gesamt-T-Lymphozyten (CD3+), THelfer/Inducer-Zellen (CD4+) und T-Suppressorzellen/ zytotoxische T-Zellen (CD8+) untersucht; die Befunde werden in  Abschn. 8.2.10 und 8.2.11 dargestellt.

8.2.10

Psychische Störungen bei Autoimmunerkrankungen

Dass Psychosen Folge von Immunprozessen sein können, zeigt das Auftreten psychotischer Phänomene bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen wie Lupus erythematodes, Sklerodermie, Sjögren-Syndrom und Antiphospholipidsyndrom (Kurtz u. Müller 1994), bei denen sich ZNS-Immunprozesse nachweisen lassen.

Aus klinischer Sicht zeigen sich Parallelen zwischen Autoimmunerkrankungen und insbesondere Schizophrenien und affektiven Störungen. Dazu gehören der häufig frühe Erkrankungsbeginn, die genetische Vulnerabilität und der schub- bzw. phasenhafte Verlauf. Parallelen zwischen MS und dem gehäuften Auftreten sowohl schizophreniformer Syndrome (Stevens 1988) als auch affektiver Störungen (Berrios u. Quemada 1990) bei MS wurden v. a. gezogen, um auf eine mögliche Immunpathogenese bzw. ähnliche pathogenetische Mechanismen dieser Störungen aufmerksam zu machen.

8.2.11

Schizophrenie und Immunsystem

Lymphozytenstatus bei schizophrenen Störungen Die Befunde zu Untersuchungen des zellulären Immunsystems bei Schizophrenen sind nicht einheitlich (Müller u. Ackenheil 1995 b). Erhöhungen der CD4+-T-Lymphozyten wurden allerdings von einer ganzen Reihe von Untersuchern gefunden (Henneberg et al. 1990; Müller et al. 1991). Zusätzlich wurden auch Erhöhungen der Gesamtzahl der T-Lymphozyten (CD3+) (DeLisi et al. 1982) beschrieben, deren Anstieg wohl v. a. auf die höhere Zahl der CD4+-Zellen zurückzuführen ist. Darüber hinaus wurden vermehrte CD5+-B-Zellen beobachtet (McAllister et al. 1989). Diese Befunde wurden als Hinweis auf eine Aktivierung des Immunsystems gewertet. Allerdings ist dabei zu beachten, dass die Patienten vielfach unter Neuroleptikabehandlung standen, die deutliche Effekte auf das Immunsystem hat. Vermutlich bringt die Neuroleptikabehandlung eine Vermehrung bestimmter Subgruppen von CD4+-Zellen und von B-Zellen mit sich.

Zytokine und Schizophrenie ! In letzter Zeit rücken die Zytokine stärker in den Vordergrund der immunologischen Forschung bei psychischen Erkrankungen. Die Hypothese, dass eine überschießende IL-2-Produktion eine wichtige Rolle in der Pathogenese der Schizophrenie spielt, wird u. a. von dem Befund gestützt, dass IL-2 dosisabhängig schizophrenieähnliche Symptome auslösen kann (Denicoff et al. 1987). Untersuchungen der IL-2-Produktion nach In-vitroStimulation von Lymphozyten schizophrener Patienten zeigten weitgehend übereinstimmend eine Verminderung der IL-2-Produktion (Hornberg et al. 1995). Es wurde beschrieben, dass sich die IL-2-Produktion umgekehrt proportional zur Ausprägung der Negativsymptomatik verhält, d.h. je niedriger die IL-2-Produktion, desto stärker die Negativsymptomatik. Darüber hinaus scheint die IL-2-Produktion auch zum Erkrankungszeitpunkt in Be-

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202

Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen

zug zu stehen (Ganguli et al. 1995). Auch der Befund einer verminderten Hemmbarkeit der Lymphozytenproliferation in mehreren In-vitro-Assays bei Schizophrenen ist durch eine verringerte IL-2-Produktion erklärbar (Müller et al. 1987). Untersuchungen der löslichen IL-2-Rezeptoren (sIL2R) im Serum Schizophrener zeigten übereinstimmend eine Erhöhung der sIL-2R (Ganguli u. Rabin 1989; Rapaport et al. 1989). Hohe sIL-2R-Werte waren mit einer schlechteren Prognose assoziiert (Hornberg et al. 1995). Da die biologische Funktion der sIL-2R vermutlich v. a. eine IL-2-antagonistische Wirkung ist und sIL-2R parallel zu IL-2 hochreguliert werden, sind diese Befunde mit einer Dysregulation von IL-2 vereinbar. Allerdings sprechen neuere Befunde dafür, dass die Neuroleptikabehandlung zu der Erhöhung von sIL-2R beiträgt. Liquordiagnostik. Für Aufsehen sorgten jüngst 2 Studien,

8

in denen IL-2-Liquorbestimmungen vorgenommen wurden. Eine Studie beschrieb gegenüber Kontrollen erhöhte IL-2-Spiegel im Liquor unbehandelter schizophrener Patienten (Licinio et al. 1993). Die andere Studie fand bei einem methodisch sorgfältig angelegten Design, dass IL-2 im Liquor der einzige Prädiktor für einen schizophrenen Rückfall nach dem Absetzen von Haloperidol war. Keinen signifikanten Prädiktoreffekt hatten 5HIAA und HVA im Liquor sowie psychopathologische Variablen wie Ängstlichkeit. Erst nach Herausnahme der Variablen IL-2 aus dem mathematischen Berechnungsmodell der logistischen Regression hatten auch die Katecholaminabbauprodukte sowie das Frühsymptom Angst einen signifikanten Prädiktoreffekt (McAllister et al. 1995). Dass Serum-IL-2-Spiegel keine prädiktive Aussage erlaubten, zeigt, dass zentrale IL-2-Effekte im Serum vermutlich durch periphere Prozesse maskiert sind. Entsprechend zeigten IL-2-Untersuchungen im Serum auch keine Erhöhung bei schizophrenen Patienten.

Stimulation katecholaminerger Neurotransmitter Eine Reihe von Befunden spricht dafür, dass eine erhöhte Ausschüttung aktivierender Zytokine im ZNS bei Schizophrenen vorliegt, die mit einer Stimulation des katecholaminergen Neurotransmittersystems verbunden ist. Möglicherweise wird das periphere Immunsystem zunächst nicht adäquat aktiviert, so dass eine Gegenregulation im peripheren Immunsystem und – damit verbunden – eine Kommunikation ZNS/peripheres Immunsystem nicht ausreichend möglich ist. Das könnte mit einem Defekt in der Antigenerkennung oder -präsentation zusammenhängen. Durch Neuroleptikatherapie kommt es offenbar zu einer Aktivierung des peripheren Immunsystems und möglicherweise damit zu einer Gegenregulation der Zytokinausschüttung im ZNS.

Inwieweit also die aufgeführten Befunde zu IL-2 und sIL-2R durch eine antipsychotische Medikation der Patienten bzw. durch eine sehr kurze Absetzperiode erklärt werden können, müssen weitere Untersuchungen zeigen.

8.2.12

Depression und Immunsystem

Interleukin-6 und depressive Störungen Auch bei depressiven Störungen rücken in der letzten Zeit die Veränderungen im Zytokinsystem in den Mittelpunkt des Interesses. Maes (1995) vertritt die Ansicht, eine IL-6-Hypersekretion spiele besonders bei depressiven Störungen eine Rolle. Er fand bei depressiven Patienten sowohl erhöhte Serumspiegel von IL-6 als auch von IL-6R sowie andere Zeichen einer Immunaktivierung, insbesondere der Akute-Phase-Proteine, die durch IL-6 stimuliert werden. Der parallele Anstieg von IL-6 und sIL-6R bei depressiver Störung, die sich als Komplex zusammenlagern und möglicherweise über Assoziation mit einem signalübertragenden Protein die biologische Aktivität von IL-6 steigern, unterstreicht die wichtige Rolle von IL-6. Bei depressiven Patienten wurde auch eine signifikante Korrelation von hohen IL-6-Werten mit Kortisolplasmaspiegeln beschrieben (Maes et al. 1995), der bei der bekannten stimulatorischen Wirkung von IL-6 auf die HPA-Achse zu erwarten war, wobei allerdings eine Suppression von IL-6 im peripheren Immunsystem als Gegenregulation zu erwarten wäre. Die Korrelation der in vitro erhöhten IL-6-Produktion aus Lymphozyten depressiver Patienten mit bei diesen Patienten erniedrigten Tryptophanplasmaspiegeln wird von den Autoren in Zusammenhang mit dem Einfluss von IL-6 auf den Serotoninmetabolismus gesehen (Maes et al. 1995). Die Serotoninsynthese im ZNS wird zumindest teilweise durch die Tryptophanverfügbarkeit im Blut gesteuert, so dass erniedrigte Tryptophanblutspiegel zu einer verminderten Serotoninsynthese im ZNS führen können. Major depression. Bei Patienten mit Major depression

fanden sich aber auch erhöhte sIL-2R- und IL-1-Konzentrationen (Maes 1995). Inwieweit also IL-6 bei depressiven Störungen eine Schlüsselrolle zukommt, kann erst durch weitere Untersuchungen geklärt werden. Bei einer Untergruppe depressiver Patienten scheinen auch Autoantikörper nachweisbar zu sein, so wurden »Antibrain-Antikörper« im Serum von 2 von 11 Patienten mit einer affektiven Erkrankung festgestellt (DeLisi et al. 1985). An der Psychiatrischen Universitätsklinik München erhobene Befunde von Anti-DNA-Autoantikörpern im Liquor einer depressiven Patientin mit Sklerodermie (Müller et al. 1992) weisen ebenfalls darauf hin, dass

203 8.2 · Psychoneuroimmunologische Grundlagen

Autoantikörper bei der Ausbildung depressiver Symptome eine Rolle spielen können.

Zelluläres Immunsystem und depressive Erkrankungen Die Befunde zum zellulären Immunsystem sind auch bei depressiven Störungen uneinheitlich. Die überwiegende Mehrzahl der Untersucher fand aber ebenfalls Zeichen einer Aktivierung des peripheren Immunsystems, wie die Erhöhung von CD4+-Zellen. Noch häufiger wird eine Erhöhung des CD4+/CD8+-Verhältnisses beschrieben (Syvälathi et al. 1985), während ein kleinerer Teil keine Veränderungen oder sogar eine Verminderung von CD4+-Zellen fand (Denney et al. 1988). In einer Studie fand sich ein interessanter Hinweis auf eine positive Korrelation der Hamilton-Depressionsskala mit der CD4+Zellzahl: je schwerer die Depression, desto höher die CD4+-Zellzahl (Levy et al. 1991). Einen ähnlichen Befund konnten Irwin et al. (1987) erheben, die eine positive Korrelation der Hamilton-Depressionsskalawerte mit der CD4+-Zellzahl beschrieben.

8.2.13

Immunologische Effekte von Psychopharmaka

Neuroleptika Wenn eine gesteigerte Konzentration aktivierender Zytokine im ZNS eine Rolle bei der Schizophrenie spielt, würde man einen hemmenden Effekt auf diese Zytokine unter Neuroleptikabehandlung erwarten. Bereits frühe Studien haben auf immunsuppressive Effekte von Neuroleptika hingewiesen (Baker et al. 1977), andere Untersuchungen haben keine Suppression des Immunsystems gefunden. Allerdings ist der Begriff immunsuppressiv vage – diese Effekte müssen näher spezifiziert werden. Einige In-vitroStudien beobachteten sogar eine immunaktivierende Funktion von Neuroleptika (Zarrabi et al. 1979). Die widersprüchlichen Ergebnisse legen nahe, dass In-vitro- und In-vivo-Effekte, aber auch Kurzzeit- und Langzeiteffekte unterschieden werden müssen. Es scheint, dass eine Kurzzeitbehandlung oder Einzeldosis von Neuroleptika keinen nachweisbaren Effekt bei Ex-vivo-Untersuchungen hat (McAllister et al. 1989 b), aber dies schließt keinesfalls immunmodulatorische Effekte im Rahmen einer längerzeitigen Neuroleptikabehandlung unter naturalistischen Bedingungen aus.

Hemmung aktivierender Zytokine Da sich das Immunsystem aus komplexen Regulationsmechanismen zusammensetzt, müssen die Effekte der verschiedenen Komponenten spezifiziert werden. Inzwischen liegen eine Reihe von Untersuchungen vor, die auf hemmende Effekte auf aktivierende Zytokine unter Neuroleptikabehandlung hinweisen. Übereinstimmend er-

wies sich, dass eine antipsychotische Neuroleptikabehandlung mit niedrigen Spiegeln von löslichem IL-6Rezeptor und hohen Spiegeln von löslichem IL-2-Rezeptor assoziiert ist (Pollmächer et al. 1995; Maes et al. 1996; Müller et al. 1997). Da lösliche IL-2-Rezeptoren Effekte auf das T-Helfer1-System widerspiegeln, die löslichen IL-6-Rezeptoren allerdings eher die Aktivität des monozytären Systems bzw. des TH-2-Systems, liegt es nahe, die Neuroleptikaeffekte als differenzielle Effekte auf das TH-1- und das TH2-System zu interpretieren. Es sieht so aus, als würde das TH-1-System aktiviert, das monozytäre- bzw. TH-2-System eher herunterreguliert.

Wirkmechanismen unterschiedlicher Neuroleptika Hemmende Effekte von Chlorpromazin, weniger ausgeprägt auch von anderen Neuroleptika (Haloperidol, Fluphenazin) auf die TNF-α-Produktion wurde in Tierversuchen ebenfalls beobachtet (Bertini et al. 1993). Chlorpromazin schützt auch vor toxischen Effekten von IL-1 und vor Endotoxin-induzierten toxischen TNF-Effekten bei Mäusen. Clozapin. Spezielle Aufmerksamkeit in Hinblick auf immunologische Effekte wurde dem Clozapin zuteil, denn immunologische Effekte wurden für das erhöhte Agranulozytoserisiko von Clozapin verantwortlich gemacht. Es ließ sich zeigen, dass Clozapin einen hemmenden Effekt auf den »granulocyte-macrophage colony-stimulating factor« (GM-CSF) aufweist (Sperner-Unterweger et al. 1993). Ex-vivo-Untersuchungen, Tier- und In-vitro-Untersuchungen zeigen, dass Neuroleptika hemmende Effekte auf die Produktion und/oder Ausschüttung aktivierender Zytokine haben.

Antidepressiva Im Gegensatz zu Neuroleptika wurden die immunologischen Effekte von Antidepressiva kaum untersucht (Miller u. Lackner 1989). Es liegen lediglich einige Befunde zum Zusammenhang von Serotonin- und Immunsystem sowie zu immunologischen Effekten serotonerg wirksamer Pharmaka vor. Da sich auch bei Depressionen Hinweise auf eine Überproduktion aktivierender Zytokine v. a. des monozytären Systems fanden, würde man auch von Antidepressiva hemmende Effekte auf Monozytenzytokine erwarten. In Tierversuchen ließen sich modulatorische, überwiegend inhibierende Effekte von Serotonin-wiederaufnahmehemmenden Pharmaka auf aktivierende Immunparameter nachweisen (Zhu et al. 1994). Auch auf Akute-Phase-Proteine ließen sich im Tierversuch hemmende Effekte von selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern nachweisen (Song u. Leonard 1994).

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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen

Bei depressiven Patienten zeigte sich eine Verminderung von IL-6 während der Behandlung mit dem Serotoninwiederaufnahmehemmer Fluoxetin (Sluzewska et al. 1995). Diese allerdings vorläufigen Ergebnisse weisen auch auf hemmende Effekte von Antidepressiva hin, allerdings sind insgesamt die immunologische Wirkung und die Effekte auf die Zytokinproduktion bisher nicht ausreichend gut untersucht.

8.2.14

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Ausblick

Dank rascher Fortschritte der Kenntnisse der funktionellen Zusammenhänge zwischen Immunprozessen und Neurotransmittern können nun ältere Befunde besser eingeordnet werden. Die bei einem Teil der Patienten auftretenden Störungen der Blut-Liquor-Schranke oder die autochthone IgG-Produktion sind Indikatoren für einen Immunprozess im ZNS bzw. einer Interaktion ZNS/peripheres Immunsystem. Ein an der Funktion des Zytokinnetzwerks im ZNS orientiertes Modell kann erklären, wie ein autochthoner Prozess unter Einbeziehung von Überträgermolekülen des Immunsystems zunächst weitgehend unabhängig von peripheren Immunprozessen einen Krankheitsprozess einleitet, welcher möglicherweise erst in einem zweiten Schritt einen peripheren Immunprozess in Gang setzt, durch dessen Eigendynamik es dann zu einer Chronifizierung des Krankheitsbildes kommen kann (Müller u. Ackenheil 1998). Auch Mechanismen des zellulären Immunsystems können nun besser eingeordnet werden, da eine differenziertere funktionelle Analyse durch genauere Kenntnis der Funktion von Subgruppen von Lymphozyten und durch methodische Fortschritte möglich ist. Kein anderes Gebiet der Medizin bringt derzeit so rasche Fortschritte wie die Immunologie. Aufgrund der leichteren Zugänglichkeit, der für viele Erkrankungen vorhandenen Tiermodelle und der Bedeutung des peripheren Immunsystems für z. B. Infektiologie, Tumorimmunologie und Transplantationsmedizin, ist der Kenntnisstand der peripheren Immunologie gegenüber dem der Neuroimmunologie und erst recht der Psychoneuroimmunologie wesentlich entwickelter. So ist die Bedeutung einer Reihe neu entdeckter Zytokine, die z. T. auch im ZNS exprimiert werden, für Vorgänge im ZNS und speziell für neuronale Vorgänge bisher völlig unbekannt. Ein Modell der Immunpathogenese psychischer Störungen muss Zytokinwirkungen im ZNS ebenso wie Funktionen des peripheren zellulären Immunsystems und der Blut-Hirn-Schranke berücksichtigen. Die Immungenetik kann zu einer erhöhten Suszeptibilität beitragen. Ein solches Modell bietet nicht nur einen faszinierenden Denkansatz – auch eine zunehmende Zahl von Befunden stützen die Annahme, dass Zytokine, mögli-

cherweise über den Weg ihres regulatorischen Einflusses auf Neurotransmitter, eine wesentliche Rolle in der Pathogenese psychischer Erkrankungen spielen. Immunologische Effekte von Psychopharmaka stellen möglicherweise nicht allein eine Nebenwirkung dar, sondern einen Teil der therapeutischen Effizienz. Dies kann weitreichende Auswirkungen auf eine zukünftige Immunpsychopharmakologie haben (Müller 1995).

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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen

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8

9 9 Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen U. Hegerl, S. Karch , C. Mulert

9.1

Elektrophysiologie und psychische Störungen

9.4

9.4.2

Epileptische neuronale Aktivität und psychische Störungen – 218 Psychische Störungen bei nichtkonvulsiven, einfachen und komplexen fokalen Anfällen – 218 Periiktuale psychische Störungen – 220

9.5

Vegetativ-autonome Funktionen – 221

– 210 9.4.1

9.2 9.2.1

9.2.2

P300 bei Patienten mit schizophrenen Störungen – 211 Bedeutung der P300-Reduktion für pathophysiologische Modelle der Schizophrenie – 212 P300 und schizophrene Psychopathologie – 214

Literatur 9.3 9.3.1 9.3.2

Akustisch evozierte Potenziale und affektive Störungen – 216 LAAEP und zentrales serotonerges System – 216 LAAEP und Medikation mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) – 217

– 223

210

Kapitel 9 · Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen

9.1

Elektrophysiologie und psychische Störungen

Schwere psychische Erkrankungen wie affektive oder schizophrene Störungen erfassen alle Lebensbereiche der erkrankten Person und gehen mit vielfältigen psychischen und biologischen Veränderungen einher. Es ist nicht verwunderlich, dass Parameter wie das EEG und die ereigniskorrelierten Potenziale (EKP), die in sensibler Weise funktionelle Aspekte des Zentralnervensystems (ZNS) abbilden, in vielfacher Hinsicht bei diesen Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollen modifiziert sind. Wichtiger und mühsamer als der Nachweis derartiger neurophysiologischer Veränderungen ist deshalb der Weg zu ihrer weiteren Charakterisierung, z. B. hinsichtlich ihrer pathogenetischen oder klinischen Bedeutung. Auf diesem Weg stellt sich immer von neuem eine Reihe von Fragen, die in der folgenden Übersicht zusammengestellt sind. Diese Fragen, die zentrale Prüfsteine der biologisch-psychiatrischen und damit auch der neurophysiologischen Forschung sind, sollen hinsichtlich einiger Punkte in nachfolgender Übersicht erläutert werden.

9 Charakterisierung biologischer Merkmale bei psychiatrischen Patienten  Wie entsteht das Merkmal?  genetisch festgelegt  erworben – vor Erkrankungsbeginn – nach Erkrankungsbeginn  Womit steht das Merkmal in Zusammenhang?  mit Grunderkrankung oder zeitstabilen Erkrankungsaspekten (Trait-Marker)  mit zustandsabhängigen Krankheitsaspekten z. B. Psychopathologie oder Erkrankungsepisode (State-Marker)  Wie ist der konditionale Aspekt des Zusammenhangs zwischen Merkmal und Erkrankung?  Merkmal ist – notwendig und hinreichend (pathognomonisches Merkmal) – hinreichend aber nicht notwendig (spezifisches Merkmal) – notwendig aber nicht hinreichend (z. B. starker Vulnerabilitätsmarker) – weder notwendig noch hinreichend (z. B. schwacher Vulnerabilitätsmarker)  Wie ist der kausale Aspekt des Zusammenhangs?  Merkmal ist – kausaler Faktor der Erkrankung – Folge der Erkrankung direkt indirekt – Epiphänomen

Genetische vs. erworbene Anteile biologischer Merkmale Zu der Frage, ob ein Merkmal genetisch festgelegt oder erworben ist, sei angemerkt, dass die erworbenen und genetischen Anteile an einem Merkmal nicht in einem reziproken Verhältnis stehen müssen. Denkbar wäre, dass ein Merkmal Folge bestimmter ubiquitärer Umweltfaktoren ist, die jedoch nur bei einer bestimmten genetischen Disposition wirksam werden. Theoretisch wäre hier ein klarer Erbgang bei einem gleichzeitig eindeutig erworbenen Merkmal möglich.

Relation von Merkmal und psychischer Störung Bezüglich des konditionalen Aspekts des Zusammenhangs zwischen Merkmal und psychischer Störung ist festzustellen, dass sich im Bereich der biologischen Psyhiatrie bisher weder pathognomonische Merkmale noch starke Vulnerabilitätsmarker für die zentralen psychischen Erkrankungen (s. Übersicht) finden ließen. Als Grund für diese relative Erfolglosigkeit wird die pathophysiologische und -genetische Heterogenität dieser Erkrankungen angeführt. Für spezifische biologische Merkmale gibt es einige wenige Beispiele. Genannt sei der auf dem Chromosom 14 gelegene Gendefekt, der mit dem Auftreten einer Unterform der präsenilen Demenz vom Alzheimer-Typ einhergeht. Dieser Gendefekt liegt nur bei sehr wenigen Patienten mit Alzheimer-Erkrankung vor, jedoch alle Personen mit diesem Gendefekt erkranken ab einem bestimmten Alter. Neurophysiologische Beispiele für schwache Vulnerabilitätsmarker, die mit der Erkrankung korrelieren, aber nicht bei allen erkrankten Personen aufzufinden sind und andererseits auch bei nichterkrankten Personen anzutreffen sind, werden weiter unten vorgestellt. Merkmale, die eine kausale Rolle im Pathomechanismus spielen, wären von größtem Interesse, da sie einen unmittelbaren Ansatzpunkt für therapeutische Überlegungen liefern könnten. Der Nachweis eines kausalen Zusammenhangs ist jedoch schwierig, da meist aufwendige Längsschnittuntersuchungen nicht zu umgehen sind. Hinzu kommt, dass bei einem hoch-rekursiven System wie dem ZNS die Trennung von Ursache und Folge oft künstlich und willkürlich sein kann, da innerhalb des pathologischen Prozesses die Folge selbst wieder zur Ursache wird. Die Vigilanzregulationsstörung mit nächtlicher Überaktivität, wie sie bei Manie auftritt, könnte Folge des Krankheitszustandes sein, könnte diesen mit verursachen, könnte aber auch Teil einer Konstellation sich gegenseitig bedingender und stabilisierender zentralnervöser Dysfunktionen sein, in der Ursache und Folge nicht mehr zu trennen sind. Eindeutiger ist die Situation bei genetischen Merkmalen, die zwar ein Epiphänomen, jedoch nicht Folge der Erkrankung sind.

211 9.2 · P300 bei Patienten mit schizophrenen Störungen

Neurophysiologische Aspekte psychischer Erkrankungen Das EEG und in vermehrtem Maße die ereigniskorrelierten Potenziale (EKP) haben das psychiatrische Interesse dadurch geweckt, dass sich korrelative Beziehungen zu psychischen, insbesondere kognitiven Funktionen nachweisen ließen. Eine Forschungslinie beschäftigte sich deshalb mit der Frage, ob EEG/EKP-Parameter als Indikatoren umschriebener kognitiver Prozesse und damit auch kognitiver Dysfunktionen bei psychiatrischen Patienten geeignet sind. Eine zweite, anders gewichtete Forschungslinie sah die Untersuchung von EEG/EKP-Veränderungen bei psychiatrischen Patienten als einen Weg zur Klärung pathophysiologischer Prozesse bei psychischen Störungen an. Dieser zweite Weg war lange Zeit dadurch behindert, dass eine Erklärungslücke zwischen den von der Kopfhaut abgeleiteten EEG/EKP und den zugrundeliegenden mikro- und makroanatomischen Strukturen und Prozessen bestand. Diese Erklärungslücke beginnt sich in den letzten Jahren zu schließen, so dass die neurophysiologische Forschung zunehmend wieder Anschluss an andere biologisch-psychiatrische Forschungsbereiche, wie die Neurochemie oder Neuropathologie, findet. Durch Fortschritte in der Ableitetechnik ist seit einigen Jahren die simultane Erfassung von EEG und funktioneller Magnetresonanztomografie möglich. Dies stellt einen Königsweg zur Untersuchung der Hirnfunktion bei psychischen Störungen dar, da sich beide Verfahren hinsichtlich der räumlich-zeitlichen Auflösung und anderer Aspekte ergänzen.

9.2

P300 bei Patienten mit schizophrenen Störungen

Das in Verbindung mit schizophrenen Störungen am intensivsten untersuchte EKP ist die P300, oder auch P3, die Mitte der 1960er Jahre erstmals beschrieben wurde. Dabei handelt es sich um ein evoziertes Potenzial, das nach seltenen, unerwarteten Reizen, die aufgabenrelevant sind, auftritt. Gesichert ist, dass die P300-Amplitude bei schizophrenen Patienten gegenüber gesunden Kontrollprobanden reduziert ist. Dies gilt für akut erkrankte, remittierte, medizierte und unmedizierte Patienten (z. B. Rao et al. 1995; Ford et al. 1994 b; Laurent et al. 1993; Eikmeier et al. 1991; Blackwood et al. 1991 a). Wiederholt, wenn auch in weniger konsistenter Weise, wurde eine Verlängerung der P300-Latenz beobachtet. Diese Befunde wurden für visuell und akustisch evozierte Potenziale (VEP, AEP) gefunden, wobei die Veränderungen der akustischen P300 überzeugender sind (Ford et al.1994) und weniger von der Psychopathologie abzuhängen scheinen als die der visuellen P300.

Eine Amplitudenminderung der P300 ist weder ein hinreichendes noch notwendiges Merkmal einer schizophrenen Störung. Verkleinerte P300-Amplituden finden sich z. B. auch bei Demenzen und, in geringerer Ausprägung, bei affektiven Störungen. Zudem weisen nicht alle schizophrenen Patienten eine verkleinerte P300 auf, sondern vermutlich nur eine Untergruppe, wie weiter unten ausgeführt wird.

P300 als Trait-Merkmal schizophrener Patienten Die bei schizophrenen Patienten gefundene P300-Reduktion – insbesondere für die akustische Modalität – ist nicht nur Ausdruck des momentanen psychopathologischen Zustands, sondern überwiegend als ein TraitMerkmal anzusehen. Dieser für die Interpretation der P300-Befunde bei schizophrenen Patienten wichtige Aspekt wird durch die folgenden Argumente gestützt. Erstens fanden Schreiber et al. (1996) bei Kindern (Alter 7–17 Jahre) schizophrener Eltern im Vergleich zu gematchten Kontrollen in 2 Studien mit akustischem Oddball-Paradigma eine signifikant verlängerte P300-Latenz, in einer dritten Untersuchung mit einem selektiven Hörparadigma eine lediglich tendenziell verlängerte P300-Latenz und eine verkleinerte P300-Amplitude. Diese Veränderungen waren allerdings normal verteilt, so dass sich kein Hinweis auf eine Extremgruppe, die möglicherweise später manifest schizophren erkranken könnte, ergab. Auch scheinen diese P300-Veränderungen eher mit einer allgemeinen Disposition zu Verhaltensauffälligkeiten als spezifisch mit schizophrenen Störungen in Verbindung zu stehen. Mit dieser Interpretation stimmen auch die Ergebnisse von Friedman und Squire-Wheeler (1994) überein. Diese Arbeitsgruppe fand in einer prospektiven High-risk-Studie zwar keine verkleinerte P300 (visuelle und akustische Paradigmen) bei Kindern schizophrener Eltern und auch keinen Zusammenhang zwischen der P300-Reduktion bei den Jugendlichen und dem Auftreten von Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis im jungen Erwachsenenalter, dagegen bestand ein deutlicher Zusammenhang zwischen kleiner P300 im Jugendalter und dem späteren Auftreten von Persönlichkeitsauffälligkeiten (»global personality functioning scale«) im jungen Erwachsenenalter. Eine P300-Reduktion ließ sich demnach im Sinne eines Trait-Merkmals lange vor dem Auftreten manifester Verhaltensauffälligkeiten nachweisen, sie stand jedoch in keiner spezifischen Beziehung zur psychischen Erkrankung der Eltern. Zudem wurden kleinere P300-Amplituden (AEP) auch bei klinisch unauffälligen Geschwistern von Schizophrenen gefunden (Saitoh et al. 1984). Ähnliches wurde für Verwandte schizophrener Patienten berichtet, wobei jedoch Alterseffekte nicht kontrolliert wurden (Kidogami et al. 1992; Roxborough et al. 1993).

9

212

Kapitel 9 · Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen

Und letztlich wird die Reduktion der P300-Amplitude (AEP) nicht durch klinische Besserung oder neuroleptische Medikation beeinflusst (Blackwood et al. 1987; Ford et al. 1994 b; Juckel et al. 1996 b) und ist auch bei gut remittierten Schizophrenen nachweisbar (Rao et al. 1995). Hinzuweisen ist jedoch auch auf widersprüchliche Befunde, so z. B. auf Verlaufsuntersuchungen, in denen eine Normalisierung der P300 bei klinischer Besserung beobachtet wurde (Asato et al. 1996; Iwasaki et al. 1996).



P300 als schwacher Vulnerabilitätsmarker

9

Diese Argumente sprechen dafür, dass die P300-Amplitudenminderung bei schizophrenen Patienten einen bereits prämorbid vorhandenen Trait entsprechend einem »schwachen Vulnerabilitätsmarker« (s. Übersicht oben) darstellt. Nicht zu entscheiden ist beim gegenwärtigen Kenntnisstand, ob von einem erworbenen oder genetisch festgelegten Trait auszugehen ist. Die P300 käme als genetischer Trait infrage, da diese Komponente teilweise genetisch festgelegt ist und insbesondere die P300-Latenz (AEP) bei monozygoten Zwillingen eine hohe Konkordanz aufweist. Von Interesse ist auch die Beobachtung, dass die P300-Amplitude und P300-Latenz bei Kontrollpersonen und Schizophrenen normalverteilt sind (Hegerl et al. 1995), während bei nichtschizophrenen Angehörigen von Schizophrenen eine bimodale Verteilung gefunden wurde. Dies wäre bei einem genetischen Trait-Marker zu erwarten (Blackwood et al. 1991).

9.2.1

Bedeutung der P300-Reduktion für pathophysiologische Modelle der Schizophrenie

Von den möglichen pathogenetischen Faktoren schizophrener Störungen, die gegenwärtig diskutiert werden, lassen sich vor allem Hirnentwicklungsstörungen mit den P300-Ergebnissen in Verbindung bringen.

P300-Amplitudenreduktion als Folge einer kortikalen Fehlanlage Da die regelrechte laminäre und kolumnäre kortikale Organisation wichtig für die Elektrogenese der P300 ist und nur eine Untergruppe schizophrener Patienten eine verkleinerte P300 aufweist, liegt die Vermutung nahe, dass eine P300-Reduktion eine Untergruppe schizophrener Patienten mit strukturellen kortikalen Auffälligkeiten charakterisiert. Folgende Befunde und Überlegungen stützen diese Interpretation:  Strukturelle kortikale Auffälligkeiten wie Volumenminderung, verminderte Neuronenzahl und neuronale Dysorganisation in kortikolimbischen Strukturen sind bei schizophrenen Patienten beschrieben

       

und u. a. als Ausdruck einer Hirnentwicklungsstörung interpretiert worden. Derartige Veränderungen betreffen auch Strukturen wie den Gyrus temporalis superior (Barta et al. 1997), die an der Generierung der P300 beteiligt sind. Sie können deshalb die Elektrogenese der P300 beeinflussen und mit kleinen P300Amplituden einhergehen. Die P300-Amplitudenreduktion bei schizophrenen Patienten ist nicht lediglich ein Mittelungsartefakt, der sich nur aus einer erhöhten Latenzvariabilität oder dem intermittierenden Fehlen der Einzelantworten ergibt, sondern resultiert zumindest teilweise aus einer generellen Reduktion der Einzelpotenziale (Ford et al. 1994 a). Dies wäre mit einem neuroanatomischen kortikalen Erklärungsmodell der P300-Reduktion vereinbar. Diskutiert wird, ob Patienten mit einer Hirnentwicklungsstörung einer schizophrenen Kerngruppe entsprechen, die durch schlechte prämorbide Anpassung mit kognitiven Störungen, frühen und schleichenden Erkrankungsbeginn, chronisch-progredienten Verlauf, Negativsymptomatik, Neigung zu Spätdyskinesien, schlechte Prognose und Häufung bei Männern charakterisiert ist.

Eine Reihe von Studien stützt die Annahme, dass schizophrene Patienten mit kleiner P300 dieser Kerngruppe entsprechen. In einer Untersuchung an 89 ambulanten stabilisierten Patienten wies die Untergruppe mit kleiner P300 vermehrte Residualsymptomatik (überwiegend Denkstörungen), häufiger Geburtskomplikationen, eine tendenziell schlechtere prämorbide Anpassung, ein Überwiegen männlicher Patienten und ein erhöhtes Spätdyskinesierisiko auf. Zwölf der 16 Patienten, die zum Ableitezeitpunkt Zeichen einer Spätdyskinesie aufwiesen, waren in der Gruppe mit kleiner P300. Noch bemerkenswerter ist, dass die 8 Patienten, die erst später während der 2-jährigen prospektiven Verlaufsbeobachtung Spätdyskinesien entwickelten, bereits vor dem Auftreten der Spätdyskinesien eine signifikant kleinere P300 aufwiesen (⊡ Abb. 9.1; Hegerl et al. 1995). Über eine schlechte Prognose der Patienten mit P300Auffälligkeiten wurde auch von anderen Autoren berichtet. Eine kleine P300 (AEP) prädizierte ein schlechtes Ansprechen auf Neuroleptika hinsichtlich der Positivsymptomatik und eine große P300-Latenz ein schlechtes Ansprechen hinsichtlich der Negativsymptomatik (Ford et al. 1994 b). In eine ähnliche Richtung weisen die Arbeiten von Strik et al. (1996, 1993 a, b). Basierend auf Leonhard’s Unterscheidung zwischen systematischer und unsystematischer Schizophrenie einerseits und zykloiden Psychosen

9

213 9.2 · P300 bei Patienten mit schizophrenen Störungen

⊡ Abb. 9.1. Gemittelte Potenziale der 8 schizophrenen Patienten, die während der 2-jährigen Verlaufsuntersuchung Spätdyskinesien entwickelten, verglichen mit denen einer hinsichtlich Alter, Geschlecht, Medikation und Psychopathologie gematchten Patientengruppe, die keine Spätdyskinesien entwickelte. Die nur nach den seltenen Tönen auftretende P300 war bei den Patienten, die später eine Spätdyskinesie entwickelten, erniedrigt

andererseits (Leonhard 1986) wurde gefunden, dass letztere, die weitgehend »akuten vorübergehenden psychotischen Störungen« (ICD-10: F23) mit einer guten Therapieresponse und Langzeitprognose entsprechen, nicht mit einer P300-Reduktion assoziiert sind, im Gegensatz zu Schizophrenien nach Leonhard (1986). In einer weiteren Studie an 29 remittierten Patienten mit zykloiden Psychosen wurden sogar größere P300-Amplituden bei diesen Patienten als bei gesunden Kontrollpersonen gefunden. Weiter ist es in Studien mit ambulanten und remittierten schizophrenen Patienten ein recht konsistentes Ergebnis, dass Patienten mit kleiner P300 vermehrt Residualsymptomatik aufweisen, überwiegend in Form von Negativsymptomatik und Denkstörungen (⊡ Tab. 9.1). Dieser Zusammenhang ist nicht Ausdruck zustandsabhängiger Einflüsse der Residualsymptomatik auf die P300, sondern des ungünstigeren Krankheitsverlaufs der Patienten mit kleiner P300.

⊡ Tab. 9.1. Zusammenhänge zwischen den P300b-Amplituden und der Psychopathologie bei stabilisierten schizophrenen Patienten [BPRS: Brief Psychiatric Rating Scale (Overall u. Gorham 1962); SANS: Scale for the Assessment of Negative Symptoms (Andreasen 1981)] Veröffentlichung

Negativsymptomatik

Positivsymptomatik

Pfefferbaum et al. 1989 (n = 18)

r = –0,57 p > Hauptprinzipien der operationalisierten Diagnostik sind zum einen der deskriptive diagnostische Ansatz mit genau festgelegten psychopathologischen Kriterien, Ausschlusskriterien und Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln, zum anderen das Komorbiditätsprinzip und die multiaxiale Diagnostik. Durch diese Operationalisierung konnte v. a. die Interraterreliabilität verschiedener Studien entscheidend verbessert werden. Durch das Komorbiditätsprinzip und die multiaxiale Diagnostik ist es möglich, die Komplexität der klinischen Bedingungen eines Patienten besser abzubilden, z. B. gleichzeitig psychische und körperliche Erkrankungen sowie psychosoziale Belastungsfaktoren.

394

Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme

17.1

Einleitung

In den vergangenen Jahren hat die Klassifikation psychischer Störungen in der klinischen Praxis und in der Forschung wieder an Relevanz gewonnen, nachdem sie aus methodischen und inhaltlichen Gründen über Jahre hinweg umstritten war. Ausgangspunkt der methodischen Kritik bildeten dabei Studien zur Anwendungsübereinstimmung (Interraterreliabilität) aus den 1960er und 1970er Jahren (zusammenfassend Stieglitz u. Freyberger 2002). In diesen Studien konnte gezeigt werden, dass v. a. für die affektiven, die neurotischen und die Persönlichkeitsstörungen die zwischen unabhängigen Diagnostikern erreichte Übereinstimmung in einem völlig unzureichenden Bereich lag.

17.2

Prinzipien der operationalisierten Diagnostik

Unzureichende Reliabilität. Von Spitzer u. Fleiss (1974),

17.2.1

Deskriptiver diagnostischer Ansatz

die die bis dahin veröffentlichten Untersuchungen zusammenfassten, wurde die unzureichende Reliabilität im Wesentlichen auf 2 Faktoren zurückgeführt:  Die sog. Beurteilungsvarianz, d. h. die diagnostische Varianz, die durch unterschiedliche Urteile und Bewertungen über Vorhandensein und Relevanz der vorliegenden Symptome bzw. diagnostischen Merkmale durch verschiedene Untersucher zustande kommt.  Die sog. Kriterienvarianz, d. h. die diagnostische Varianz, die durch die Verwendung unterschiedlicher diagnostischer Kriterien für die Diagnose derselben Störung durch verschiedene Untersucher verursacht wird.

Der Begriff der operationalen Definition geht auf den Engländer Bridgeman zurück, der diesen bereits in den 20er Jahren verwendete. Heute wird unter dem Begriff der operationalisierten psychiatrischen Diagnostik in der Psychiatrie ein Vorgehen zusammengefasst, bei dem psychische Störungen definiert werden durch  die explizite Vorgabe psychopathologischer Kriterien (Ein- und Ausschlusskriterien), die durch bestimmte Anforderungen an ihr zeitliches Bestehen und den sich ergebenen Verlauf ergänzt werden und  durch diagnostische Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln (sog. Algorithmen) für die diagnostischen Kriterien.

Der Beurteilungsvarianz wurde in der folgenden Entwicklung durch die Einführung strukturierter und standardisierter Erhebungsverfahren Rechnung getragen, während die Kriterienvarianz durch die Prinzipien der sog. operationalisierten Diagnostik reduziert wurde. Inhaltliche Kritik. Die wichtigsten Aspekte der inhaltlichen

17

Diagnostik sich ausschließlich an sog. Oberflächenmaterial orientiere und die für die Indikation und Durchführung von Psychotherapien entscheidenderen Variablen wie etwa Beziehungsfähigkeit, Konfliktkonstellation und Persönlichkeitsstruktur systematisch vernachlässige (Schneider u. Freyberger 1990, 1994). Eine Konsequenz dieser inhaltlichen Kritik ist in der Aufsplitterung verschiedener diagnostischer Betrachtungsebenen (oder Achsen) in sog. multiaxialen diagnostischen Systemen und deren konsequenter Operationalisierung zu sehen.

Kritik bezogen sich einerseits auf die möglichen sozialen Konsequenzen psychiatrischer Diagnosen für die Patienten, die in erster Linie von soziologischen aber auch von sog. antipsychiatrischen Autoren unter den Stichworten Etikettierung abweichenden Verhaltens, Stigmatisierung und soziale Kontrolle veröffentlicht wurden (vgl. Saß 1987). Andererseits wurde die unzureichende Bedeutung der Klassifikation bei der Indikation und Durchführung von Therapien kritisiert. Von biologisch-psychiatrischer Seite wurde dabei v. a. die unzureichende Syndrombezogenheit im Hinblick auf die Differenzialindikation für verschiedene psychopharmakologische und andere biologische Therapieinterventionen hingewiesen. Von psychoanalytischen Autoren wurde betont, dass eine rein symptomorientierte

Psychopathologische Kriterien. Dabei handelt es sich in der Regel um vergleichsweise beobachtungsnahe, kein zu hohes Abstraktions- oder Interpretationsniveau erfordernde Merkmale, wie etwa bestimmte Ich-Störungen oder Wahninhalte bei der Schizophrenie (s. Übersicht weiter unten). Eine weit weniger präzise Definition wurde im Hinblick auf die Zeit- und Verlaufskriterien verfolgt, die von unbestimmten Dauerangaben (z. B. »einige Tage«) bis hin zu exakten Zeitvorgaben reichen (z. B. »Symptomatik von zumindest 2 Wochen Dauer durch wenigsten 2 Monate normaler Stimmung getrennt«; vgl. Dittmann et al. 1990 a). Ausschlusskriterien. Sie werden in der Regel »Merkmale«

genannt, die bei ähnlicher Symptomatik die Zuordnung zu einer anderen Störungsgruppe rechtfertigen, wie sie für die schizophrenen Störungen in der Übersicht wiedergegeben sind. Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln. Diagnostische

Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln legen die Anzahl und Zusammensetzung der für die Diagnose mindestens geforderten einzelnen Symptome für ein definiertes

395 17.2 · Prinzipien der operationalisierten Diagnostik

Zeitintervall fest. So werden für die Diagnose einer Schizophrenie in einem geforderten Zeitintervall von zumindest einem Monat zumindest ein Symptom aus der Symptomgruppe 1 oder mindestens 2 Symptome aus der Symptomgruppe 2 gefordert (vgl. Übersicht).

Diagnostische Eingangskriterien für die Diagnose einer Schizophrenie nach ICD-10. (Nach Dilling u. Freyberger 2005) G1. Während eines Zeitraumes von mindestens einem Monat sollte eine psychotische Episode mit entweder mindestens einem der unter 1. aufgezählten Merkmale oder mit mindestens 2 der unter 2. aufgezählten Merkmale bestehen. 1. Mindestens eines der folgenden Merkmale: a) Gedankenlautwerden, -eingebung, -entzug oder -ausbreitung b) Kontroll-, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten, Wahnwahrnehmung c) kommentierende oder dialogische Stimmen oder andere Stimmen, die aus bestimmten Körperteilen kommen d) anhaltender kulturell unangemessener Wahn 2. Oder mindestens 2 der folgenden Merkmale: e) anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität, begleitet von flüchtigen Wahngedanken oder von langanhaltenden überwertigen Ideen f ) Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedankenfluss, was zu Zerfahrenheit, Neologismen oder Danebenreden führt g) katatone Symptome (wie Erregung, Haltungsstereotypien, wächserne Biegsamkeit, Negativismus, Mutismus, Stupor) h) »negative« Symptome (wie Apathie, Sprachverarmung, verflachte oder inadäquate Affekte)

men weitgehend frei zu sein und nahezu allein der phänomenologisch-symptomorientierten Störungsbeschreibung zu dienen. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich allerdings die operationalen Klassifikationssysteme keineswegs als ätiologiefrei: Neben der an ätiologischen Prinzipien orientierten Charakterisierung organischer psychischer Störungen und der Störungen durch psychotrope Substanzen werden in weiten Bereichen biologische Paradigmen berücksichtigt, wie etwa bei der Kategorisierung der depressiven und der Angststörungen. Bereits die Einteilung in die verschiedenen diagnostischen Hauptgruppen der ICD-10 (vgl. folgende Übersicht) zeigt eine Aufsplitterung und Neugruppierung der Störungsklassen. Dabei ergeben sich die in der Übersicht beschriebenen grundlegenden Veränderungen: Organische psychische Störungen (F0). Der Demenzbe-

griff wurde durch die Einführung eines Sechsmonatszeitkriteriums ausgeweitet und das nicht durch psychotrope Substanzen verursachte Delir neben dem amnestischen Syndrom, symptomatischen organischen Störungen und den organischen Persönlichkeitsstörungen als neue oder anders beschriebene Kategorien etabliert. Störungen durch psychotrope Substanzen (F1). Sie wur-

den konsequenter als in der ICD-9 von den organischen Störungen getrennt und die diagnostischen Schwellen für das Missbrauchs- (»schädlicher Gebrauch«) und Abhängigkeitssyndrom heruntergesetzt. So ist »schädlicher Gebrauch« zukünftig bereits zu diagnostizieren, wenn psychische oder körperliche Folgen des Substanzkonsums evident werden. Klassifiziert werden mit den ersten 3 Kodierungsziffern (F1x) die Substanzen und mit den weiteren Ziffern (F1x. xx) die jetzt weiter differenzierten klinischen Syndrome. Polyvalente Abhängigkeit darf zukünftig nur bei wahllosem Konsum von mehr als 3 Substanzen klassifiziert werden, was allein in diesem Bereich zu einer Zunahme der zu stellenden Einzeldiagnosen führen dürfte.

G2. Häufigste Ausschlusskriterien:

Schizophrene, schizotype und wahnhafte Störungen (F2).

1. Wenn die Patienten ebenfalls die Kriterien für eine manische (F30) oder eine depressive Episode (F32) erfüllen, müssen die oben unter G1.1. und G1.2. aufgelisteten Kriterien vor der affektiven Störung aufgetreten sein 2. Die Störung kann nicht einer organischen Gehirnerkrankung (F00–F09) oder einer Störung durch psychotrope Substanzen (F1) zugeordnet werden

Bei ihrer Klassifikation ist v. a. die Etablierung der schizotypen Störungen und einer Gruppe akuter, vorübergehender Psychosen neu, deren Einführung an das traditionelle Konzept der »psychogenen Psychose« erinnert.

Veränderungen durch die neue Einteilung Der deskriptive diagnostische Ansatz verfolgt damit den Anspruch, von theoretischen und ätiologischen Annah-

Affektive (F3) bzw. neurotische Belastungs- und somatoforme Störungen (F4). Hier wurden die wahrscheinlich

folgenreichsten Veränderungen vorgenommen. Die traditionelle Unterscheidung von neurotischer und endogener Depression wurde zugunsten einer verlaufs- und schweregradorientierten Klassifikation aufgegeben, während die neurotischen Störungen entsprechend der im Vordergrund stehenden Symptomatik differenziert wurden. Auf das psychoanalytische Neurosenmodell wurde

17

396

Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme

Die diagnostischen Hauptgruppen des Kapitels V (F) der ICD-10 F0 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen F00 Demenz bei Alzheimer-Krankheit F01 vaskuläre Demenz F02 Demenz bei sonstigen andernorts klassifizierten Erkrankungen F03 nicht näher bezeichnete Demenz F04 organisches amnestisches Syndrom F05 Delir F06 sonstige psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit F07 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns F1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen F10 Alkohol F11 Opioide F12 Cannabinoide F13 Sedativa oder Hypnotika F14 Kokain F15 sonstige Stimulanzien einschließlich Koffein F16 Halluzinogene F17 Tabak F18 flüchtige Lösungsmittel F19 multipler Substanzgebrauch und Konsum sonstiger psychotroper Substanzen F1x. 0 akute Intoxikation F1x. 1 schädlicher Gebrauch F1x. 2 Abhängigkeitssyndrom F1x. 3 Entzugsyndrom F1x. 4 Entzugssyndrom mit Delir F1x. 5 psychotische Störung F1x. 6 amnestisches Syndrom F1x. 7 und verzögert auftretende psychotische Störung

17

F2 Schizophrenie, schizoptype und wahnhafte Störungen F20 Schizophrenie F21 schizotype Störung F22 anhaltende wahnhafte Störung F23 akute vorübergehende psychotische Störungen F24 induzierte wahnhafte Störung F25 schizoaffektive Störungen F3 Affektive Störungen F30 manische Episode

F31 F32 F33 F34 F38

bipolare affektive Störung depressive Episode rezidivierende depressive Störung anhaltende affektive Störungen sonstige affektive Störungen

F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen F40 phobische Angststörungen F41 sonstige Angststörungen F42 Zwangsstörung F43 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen F44 dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) F45 somatoforme Störungen F48 sonstige neurotische Störungen F5 Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen oder Faktoren F50 Essstörungen F51 nichtorganische Schlafstörungen F52 nichtorganische sexuelle Funktionsstörungen F53 psychische und Verhaltensstörungen im Wochenbett F54 psychische Faktoren und Verhaltenseinflüsse bei andernorts klassifizierten Krankheiten F55 Missbrauch von nicht abhängigkeitserzeugenden Substanzen F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen F60 Persönlichkeitsstörungen F61 kombinierte und sonstige Persönlichkeitsstörungen F62 andauernde Persönlichkeitsänderungen F63 abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle F64 Störungen der Geschlechtsidentität F65 Störungen der Sexualpräferenz F66 psychische und Verhaltensprobleme in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung F68 sonstige Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen F7 Intelligenzminderung F70 leichte Intelligenzminderung F71 mittelgradige Intelligenzminderung F72 schwere Intelligenzminderung F73 schwerste Intelligenzminderung



397 17.2 · Prinzipien der operationalisierten Diagnostik

F8 Entwicklungsstörungen F80 umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache F81 umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten F82 umschriebene Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen F83 kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen F84 tiefgreifende Entwicklungsstörungen

als Paradigma verzichtet, da es den Autoren operationalisierter Klassifikationssysteme nicht hinreichend validiert erschien. Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen oder Faktoren (F5). In diesem Abschnitt wur-

den mehrheitlich psychosomatische und somatopsychische Störungen gruppiert. Einen Bruch mit dem Prinzip der Ätiologiefreiheit stellt die Berücksichtigung der psychischen Störungen im Wochenbett dar, die neben dem Missbrauch nicht-abhängigkeitserzeugender Substanzen hier mit aufgenommen wurden. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F6). Ähnlich wie im DSM-III-R und im DSM-IV wurden in dieser Gruppe die spezifischen Persönlichkeitsstörungen durch niedrigschwelligere Eingangskriterien aufgewertet, traditionelle Störungsgruppen wie die Perversionen neu geordnet und einige neue Kategorien, wie die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung neu eingeführt. Bei den Persönlichkeitsstörungen kommt es oft dazu, dass bei zahlreichen Patienten nicht nur eine, sondern häufig mehrere Persönlichkeitsstörungsdiagnosen zu stellen sind. Die liegt z. T. an den niedrigschwelligen Eingangskriterien und z. T. an den sich bei einzelnen Störungsbeschreibungen überlappenden diagnostischen Kriterien. Obwohl eine kombiniert kategoriale und dimensionale Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen von zahlreichen Autoren in den letzten Jahren gefordert wurde, verzichten ICD-10 und DSM-IV auf einen derartigen Ansatz.

F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend F90 hyperkinetische Störungen F91 Störung des Sozialverhaltens F92 kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen F93 emotionale Störung des Kindesalters F94 Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend F95 Ticstörungen F98 sonstige Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend

(F9). Mit diesen Abschnitten wurden eigenständige

diagnostische Gruppen für den Bereich kinder- und jugendpsychiatrischer Störungen etabliert (vgl. Knölker u. Schulte-Markwort 2002).

Hierarchische Gliederung ICD-10. Wie aus ⊡ Tab. 17.1 wiederum am Beispiel der

schizophrenen Störungen hervorgeht, ist die ICD-10 hierarchisch angeordnet. Mit der 1. Stelle (Fx) wird die diagnostische Hauptkategorie und mit der 2. Stelle (Fxx) die diagnostische Hauptgruppe beschrieben. Die 3. Stelle (Fxx. x) kennzeichnet die eigentliche diagnostische Kategorie und mit der 5. Kodierungsstelle werden optional distinkte Verlaufstypen und Schweregradklassifizierungen kodiert. Durch die z. T. strikte Operationalisierung der einzelnen Störungen werden sog. diagnostische Restkategorien (Fxx. 8 andere und Fxx. 9 nicht näher bezeichnete) aufgewertet, da eine größere Anzahl von Patienten nicht die spezifischen Kriterien erfüllt und hier diagnostisch abgebildet werden muss.

⊡ Tab. 17.1. Kodierungsebenen und Verlaufsklassifizierung am Beispiel der schizophrenen Störungen nach ICD-10. (Nach Stieglitz u. Freyberger 2002) Ebene

Kodierung

Bezeichnung

2-stellig

F2

Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen

3-stellig

F20

Schizophrenie

Intelligenzminderung (F7). In diesem Abschnitt wurde

4-stellig

F20.0

Paranoide Schizophrenie

neben der neuen Terminologie eine mehrdimensionale Diagnostik etabliert, in der neben dem Intelligenzniveau zusätzlich begleitende Verhaltensauffälligkeiten verschlüsselbar werden.

5-stellig

F20.00 F20.01

Kontinuierlicher Verlauf Episodisch, mit zunehmendem Residuum Episodisch, mit stabilem Residuum Episodisch remittierend Unvollständige Remission Vollständige Remission

Entwicklungsstörungen (F8) und Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn der Kindheit und Jugend

F20.02 F20.03 F20.04 F20.05

17

398

Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme

DSM-IV. Im DSM-IV wurde die Einteilung in diagnostische Klassen noch konsequenter nach deskriptiven Gesichtspunkten durchgeführt. So werden etwa die organischen Störungen entsprechend ihrer im Vordergrund stehenden Symptomatologie den anderen Kategorien zugeordnet und erscheinen nicht mehr als eigenes Kapitel. Wichtige Unterschiede zwischen den beiden Klassifikationssystemen betreffen  die abweichende Klassifikation affektiver Störungen im DSM-IV, die weiterhin dem Konzept der Major Depression folgt,  die im DSM-IV bei den Angststörungen vorgenommene Präferierung der Panikstörung, die in der diagnostischen Hierarchisierung Vorrang vor den phobischen Störungen und insbesondere der Agoraphobie erhält, während die ICD-10 die Panikstörung als Schweregradindikator der Agoraphobie betrachtet,  die abweichende Operationalisierung und Zusammenstellung von Persönlichkeitsstörungen im DSMIV und deren Anordnung in Clustern.

Diagnostische Manuale Während das DSM-IV in einer Standardversion für den klinischen und wissenschaftlichen Gebrauch publiziert wurde, etabliert die ICD-10 den deskriptiven Ansatz auch auf der Ebene der diagnostischen Manuale. Hier wurden je nach Verwendungszweck die Operationalisierungen der einzelnen Störungen unterschiedlich restriktiv gefasst (⊡ Tab. 17.2). Während die klinisch-diagnostischen Leitlinien durch vergleichsweise offen formulierte Zeit- und Verlaufskriterien sowie Verknüpfungsregeln dem Diagnostiker Leitlinien anbieten, die noch viel Raum für individuelle diagnostische Zuordnungen lassen, streben die Forschungskriterien über restriktive Operationalisierungen eine psychopathologisch präzisere Klassifizierung an, mit Hilfe derer eine weitreichendere Stichprobenhomogenisierung erreicht werden soll. Administrativen Zwecken dient die lediglich 4-stellig ausgelegte Kurzfassung mit kurzen und pragmatischen Beschreibungen der Störungsgruppen.

17

⊡ Tab. 17.2. Versionen des Kapitels V (F) der ICD-10 Verwendungszweck

Klinische Diagnostik

Klinische Diagnostik

Klinisch-diagnostische Leitlinien (WHO 1992; Dilling et al. 2004)

Forschung

Forschungskriterien (WHO 1994; Dilling u. Freyberger 2005)

Administration

Kurzfassung im Rahmen der Gesamt-ICD (DIMDI 1994)

Primärversorung

»Primary health care classification« (PHC; WHO 1995; Müßigbrodt et al. 2006)

»Primary Health Care Classification«. Mit dieser wird dar-

über hinaus ein auf der Ebene der Kategorisierung stark vereinfachter und auf die epidemiologisch häufigsten Störungen beschränkter Ansatz vorgelegt, den die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zudem mit spezifizierten Handlungsanweisungen etwa für Therapiegestaltung und -indikation verbunden hat. Zielvorstellung bei der Veröffentlichung dieses Manuals war es, der unzureichend präzisen Diagnostik in der primären Gesundheitsversorgung Rechnung zu tragen und die damit zusammenhängende niedrige Qualität differenzieller Therapieindikationen zu verbessern (Sartorius et al. 1993; Üstün u. Sartorius 1995; Müssigbrodt et al. 2006)

Erzielte Verbesserungen In zahlreichen empirischen Studien konnte gezeigt werden, dass sich durch eine Operationalisierung psychischer Störungen insbesondere im Hinblick auf die Interraterreliabilität deutliche Verbesserungen erzielen lassen (vgl. z. B. Freyberger et al. 1990, 1995; Wittchen 1993), die die Kommunizierbarkeit diagnostischer Einschätzungen erleichtern und wissenschaftlich relevante Stichprobenvergleiche präziser machen.

17.2.2

Das Komorbiditätsprinzip

Eine weitere wesentliche Neuerung in operationalisierten Klassifikationssystemen stellt die Einführung des Komorbiditätsprinzips dar. Komorbidität bedeutet dabei das gemeinsame Auftreten verschiedener psychischer Erkrankungen bei einer Person. Unterschieden wird zwischen  simultaner oder Querschnittskomorbidität und  sukzessiver oder Längsschnittkomorbidität. Vor allem für wissenschaftliche Fragestellungen ist zudem der Zeitraum, auf den sich die Komorbidität bezieht, von Relevanz. Unterschieden wird hier u. a. zwischen »Life-time-Komorbidität«, Sechsmonats- oder Einjahreskomorbidität und Komorbidität im Rahmen für das Gesamtverständnis der psychischen Erkrankungen relevanter sog. »repräsentativer« Störungsepisoden.

Haupt- und Nebendiagnosen Nach ICD-10 und DSM-IV sind so viele psychiatrische Diagnosen zu verschlüsseln, wie für die Beschreibung des gesamten klinischen Bildes notwendig sind. Bei mehr als einer Diagnose soll zwischen Haupt- und Nebendiagnosen differenziert werden, wobei der Diagnose Priorität eingeräumt wird, der die größte klinische Bedeutung zukommt. In einem gewissen Sinne kommt dabei den Nebendiagnosen die Bedeutung verlaufsmodifizierender Variablen zu. Da nach den Konzept operationaler Klassifikationssysteme Syndrome zu verschlüsseln sind und

399 17.2 · Prinzipien der operationalisierten Diagnostik

damit sog. »komplexe Diagnosen«, unter denen früher verschiedene Symptomcluster subsummiert wurden, aufgelöst werden, kommt es bei konsequenter Anwendung operationaler Prinzipien zu einer deutlichen Zunahme diagnostisch abzubildender Störungen. Das Komorbiditätsprinzip erlaubt abgesehen von bestimmten, in den einzelnen Systemen definierten Ausnahmen, einerseits Diagnosen aus verschiedenen Klassen (z. B. Angst- und Depressionsbereich) und andererseits Diagnosen innerhalb einer diagnostischen Klasse (z. B. Persönlichkeitsstörungen) zu stellen. Dabei ist zu beachten, dass in bestimmten Störungsbereichen, wie z. B. bei den Angst- und depressiven Störungen, eine überzufällig häufige Assoziation vorliegt und Einzelsymptome oder Symptomcluster, die unterhalb der diagnostischen Schwelle spezifischer Störungen liegen (sog. »subthreshold«-Diagnosen) für den Krankheitsverlauf eine hohe Bedeutung haben können. Für den Bereich der affektiven Störungen konnte u. a. Angst (1994) zeigen, dass in der Allgemeinbevölkerung Patienten mit sog. kurzen rezidivierenden depressiven Störungen, die etwa das diagnostische Zeitkriterium der depressiven Episode in der ICD-10 nicht erfüllen, infolge der störungsassoziierten psychosozialen Beeinträchtigungen als erkrankt aufzufassen sind, was entsprechende Konsequenzen für die Therapie und Prognose nach sich zieht. Multimorbidität. In Abgrenzung vom Konzept der Komorbidität wird von Multimorbidität gesprochen, wenn neben einer oder mehreren psychischen Störungen auch noch zusätzlich körperliche Erkrankungen vorliegen, von denen auch ein verlaufsmodifizierender Einfluss ausgeht. Die Relevanz der Multimorbidität ist im Bereich der organischen psychischen Störungen bisher am besten untersucht.

Bedeutung des Komorbiditätsprinzips Das Komorbiditätsprinzip ist von erheblicher konzeptueller Bedeutung, da es eine Abkehr von Jaspers Hierarchiekonzept darstellt, wie es z. B. noch in der ICD-9 gilt. Danach sind die psychischen Erkrankungen in Schichten angeordnet (von organischen Störungen über affektive Störungen bis hin zu Neurosen). Jede »tieferliegende Erkrankung« kann das Erscheinungsbild der darüberliegenden annehmen. Die eigentliche Diagnose muss anhand der tieferliegenden Erkrankung erfolgen. Der erste Schritt operationalisierter Diagnostik ist entsprechend des Komorbiditätsprinzips in einer rein klinisch orientierten Hierarchisierung syndromaler Diagnosen zu sehen, der, wie oben bereits ausgeführt wurde, auf diese Art definierter »komplexer Diagnosen« verzichtet. Theoretische Aspekte. Die Etablierung des Komorbidi-

tätsprinzips hat darüber hinausgehende theoretische und therapeutische Implikationen. So kann aus wissenschaft-

licher Sicht das gemeinsame Auftreten bestimmter Störungen Hinweise auf eine gemeinsame Ätiologie bzw. Pathogenese liefern, wie in zahlreichen Familienstudien gezeigt werden konnte. Prinzipiell kann dabei eine Störung die Voraussetzung für die Entwicklung einer zweiten Störung darstellen, wie dies etwa bei Patienten mit einer Substanzmittelabhängigkeit der Fall ist, die eine erhebliche Tendenz aufweisen, auch Abhängigkeitssyndrome von weiteren Substanzen zu entwickeln (Regier et al. 1990). Interne Komorbidität in diesem Bereich kann somit gemeinsame Risiko- und pathogenetische Faktoren repräsentieren, für die sich aus der klinischen und tierexperimentellen Forschung neurobiologische und genetische Hinweise ergeben. Klinische Aspekte. Aus klinischer Sicht kann der Behandlungserfolg bei komorbiden Patienten schwerer zu erreichen sein, mit den entsprechenden Implikationen für die Planung und Durchführung von Therapieinterventionen und den Verlauf. Patienten mit mehr als einer Diagnose dürften darüber hinaus auch in weiten Bereichen als die schwerer kranken Patienten angesehen werden. So konnte z. B. für den Bereich der Komorbidität zwischen schizophrenen Störungen einerseits und Störungen durch psychotrope Substanzen andererseits in den vergangenen Jahren gezeigt werden, dass spezielle Behandlungsprogramme erforderlich sind, um gegenüber »monomorbiden« schizophrenen Patienten auch nur annähernd gleiche Therapieresultate erzielen zu können.

! Die damit zusammenhängenden methodischen Schlussfolgerungen für Therapiestudien jeder Art dürften, obgleich dies bisher nicht ausreichend wissenschaftlich geklärt ist, folgenreich sein, da sich komorbide und nichtkomorbide Patienten möglicherweise nicht oder nur sehr eingeschränkt miteinander vergleichen lassen. Schwachpunkte des Komorbiditätsprinzips. Ein wesent-

liches, bisher empirisch nicht hinreichend bearbeitetes Problem des Komorbiditätskonzepts ist, dass im Rahmen des deskriptiven Ansatzes auf eine sequenziell-ätiologische Reihung der phänomenologischen Diagnosen ebenso verzichtet wird, wie auf die Formulierung eines komplexen Störungsmodells. Auf die Charakterisierung zeitlich und pathogenetisch primärer und sekundärer Störungen wird verzichtet, so dass die Beziehung der Störungen untereinander offen bleibt. Damit bleiben ätiologisch relevante Konzepte, etwa im Bereich der Alkoholund Drogenabhängigkeit unberücksichtigt, die im Rahmen von Familienstudien gut abgesichert wurden und den verlaufsmodifizierenden Charakter dieser Störungsklasse vernachlässigen. Durch den Verzicht auf komplexe Störungsmodelle wird der Diagnostiker zudem gezwungen, eine Vielzahl von Diagnosen abzubilden, ohne diese in Beziehung setzen zu können.

17

400

Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme

17.2.3

Multiaxiale Diagnostik

⊡ Tab. 17.3. Das multiaxiale System der ICD-10. (Nach Siebel et al. 1997)

Ein weiterer wichtiger Fortschritt in der Entwicklung operationalisierter Diagnosesysteme stellt die Etablierung des multiaxialen Ansatzes (Synonyme: multiaxiale Klassifikation, multiaxiale Diagnostik) dar. Das Konzept der multiaxialen Diagnostik hat in der Psychiatrie eine lange Tradition (vgl. Dittmann et al. 1990 b), wurde von Kretschmer bereits ansatzweise mit dem Begriff der »mehrdimensionalen Diagnostik« umschrieben, von EssenMöller u. Wohlfahrt 1947 erstmalig konzeptualisiert und 1969 durch die Arbeitsgruppe um Rutter (Rutter et al. 1975) konsequent auf den Bereich der kinder- und jugendpsychiatrischen Erkankungen angewandt (vgl. Remschmidt et al. 2006). In der Erwachsenenpsychiatrie wurde er erst mit Einführung des DSM-III weiter verbreitet. Grundgedanke der Vielzahl zwischenzeitlich publizierter Ansätze ist, der Komplexität der klinischen Bedingungen eines Patienten dadurch gerecht zu werden, dass dieser anhand von klinisch als bedeutsam angesehenen Merkmalen, Merkmalsbereichen oder Betrachtungsebenen, die auch als sog. Achsen bezeichnet werden, beschrieben wird. Hinsichtlich der Frage, welche Achsen zur Beschreibung herangezogen werden, herrscht allerdings bisher kein Konsens (Mezzich u. Bergenza 2005). Das multiaxiale System der ICD-10 verankert auf der Achse I insofern das Komorbiditätsprinzip, als dass neben der Kerngruppe psychischer Störungen auf separaten Subachsen Persönlichkeitsstörungen und Störungen durch psychotrope Substanzen als die wichtigsten verlaufsmodifizierenden Zusatzdiagnosen abgebildet werden (⊡ Tab. 17.3). Diese getrennte Klassifizierung beruht zudem auf Befunden, die zeigen, dass diese Störungen bei einer derartigen Verankerung in einem multiaxialen System häufiger und adäquater abgebildet werden (Michels et al. 1996). Im DSM-III-R und DSM-IV werden in einer nahezu analogen Differenzierung auf den Achsen I und II neben den psychischen Störungen Entwicklungs-, Intelligenzund Persönlichkeitsstörungen erfasst (⊡ Tab. 17.4). Psychosoziale Funktionseinschränkungen. Der in der

17

ICD-10 weitgehend fehlenden Berücksichtigung psychosozialer Funktionseinschränkungen in den diagnostischen Kriterienbeschreibungen wird dadurch Rechnung getragen, dass eine entsprechende, vergleichsweise einfach und damit benutzerfreundlich konstruierte Fremdbeurteilungsskala (WHO-DDS: Disablement Diagnostic Scale) berücksichtigt wird, die die Abbildung sozialer Funktionseinschränkungen in verschiedenen Bereichen erlaubt (vgl. ⊡ Tab. 17.3). Dabei ist die weitgehend fehlende Berücksichtigung dieser Aspekte in den Kriterienbeschreibungen der ICD-10 darauf zurückzuführen, dass die Kriterien psychosozialer Funktionseinschränkungen interkulturell stark variieren, so dass die ICD-10 mit

Achse I

Psychische Störungen und körperliche Erkrankungen la

Achse II

Psychische Störungen

Ib

Persönlichkeitsstörungen

Ic

Störungen durch psychotrope Substanzen

Id

Körperliche Störungen

Beurteilung der sozialen Funktionseinschränkung (WHO Disablement Scale) IIa Selbstfürsorge (Körperhygiene, Kleidung, Ernährung usw.) IIb Beruf (bezahlte Arbeit, Studium, Hausarbeit usw.) IIc Familie und Haushalt [Interaktion mit dem (Ehe-)Partner, Eltern, Kindern, und anderen Verwandten] IId Funktionsfähigkeit im weiteren sozialem Kontext (Beziehung zu Gemeindemitgliedern, Teilnahme an Freizeit- und sozialen Aktivitäten) IIe Globaleinschätzung (Gesamtbeeinträchtigung)

Achse III

Psychosoziale Belastungsfaktoren Ereignisse und Merkmale aus folgenden Bereichen: 1. Negative Erlebnisse in der Kindheit 2. Erziehung und Bildung 3. Primäre Bezugsgruppe einschließlich Familie 4. Soziale Umgebung 5. Wohnungsbedingungen und finanzielle Verhältnisse 6. Berufstätigkeit und Arbeitslosigkeit 7. Umweltbelastungen 8. Psychosoziale oder juristische Probleme, 9. Krankheiten oder Behinderungen in der Familie 10. Lebensführung/Lebensbewältigung

ihrem Anspruch einer internationalen Klassifikation mit dieser Skala eher allgemeine Konstrukte abbildet. Mit der seit langem etablierten Global Assessment of Functioning Scale (GAF) wird auf der Achse V des DSMIII-R und DSM-IV ein vergleichbarer Ansatz verfolgt (vgl. ⊡ Tab. 17.4). Von der WHO werden zudem gegenwärtig Anstrengungen aus den 70er Jahren fortgesetzt, separat einen Diagnosenschlüssel zu »disabilities, impairments und handicaps« zu entwickeln, die ebenfalls auf der syndromalen Achse nicht hinreichend beschrieben sind (vgl. Matthesius et al. 1995). In diesem Zusammenhang wird an einer Weiterentwicklung des von der WHO 1988 herausgegebenen »Psychiatric Disability Assessment Schedule« gearbeitet, mit dem die Erfassung sozialer Behinderung auf der Grundlage der Beurteilung sozialer Interaktionen und der Erfüllung kulturell bedeutsamer Normen erfolgte.

401 17.2 · Prinzipien der operationalisierten Diagnostik

⊡ Tab. 17.4. Multiaxiale Ansätze im DSM-III-R und DSM-IV Achse I

Achse II

Achse III

Achse IV

DSM-III-R:

Klinische Syndrome und »V-Kodierungen«

DSM-IV:

Klinische Störungen und andere klinische Zustandsbilder

DSM-III-R:

Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen

DSM-IV:

Persönlichkeitsstörungen, Intelligenzstörungen

DSM-III-R:

Körperliche Störungen und Zustände

DSM-IV:

Allgemeine medizinische Zustandsbilder

DSM-III-R:

Schweregrad psychosozialer Belastungsfaktoren – überwiegend akute Ereignisse (Dauer weniger als 6 Monate), – überwiegend länger andauernde Umstände bzw. Lebensbedingungen (Dauer mehr als 6 Monate)

Achse V

DSM-IV:

Psychosoziale und Umgebungsfaktoren

DSM-III-R:

Globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus (Global Assessment of Functioning Scale/GAP) – derzeit, – höchster Funktionszustand im letzten Jahr

DSM-IV:

Globalbeurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus (GAF-Skala)

V-Kodierungen im DSM-III-R stehen für andere, klinisch relevante Zustandsbilder, wie etwa Missbrauchserfahrungen.

Psychosoziale Belastungsfaktoren. Ebenfalls in beiden

Systemen wurden zudem Achsen etabliert, mit deren Hilfe Merkmale und Faktoren klassifiziert werden können, die mit der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen in Zusammenhang stehen. In dem multiaxialen System der ICD-10 findet sich hierzu die mit dem entsprechenden Ansatz im DSM-IV weitgehend kompatible Achse III, mit der in Anlehnung an den Lifeevent-Ansatz psychosoziale Belastungsfaktoren abgebildet werden. In dem multiaxialen System der Kinder- und Jugendpsychiatrie findet sich hierzu die Entwicklung eines speziellen Glossars (Remschmidt et al. 2006).

Optionale Achsen Mit multiaxialen diagnostischen Systemen lassen sich darüber hinaus eine Reihe weiterer therapie- und verlaufsrelevanter Aspekte abbilden. Sie wurden aus Reliabilitätsgründen wie aus Gründen der besseren Kommunizierbarkeit aus der auf die syndromale Ebene beschränkten Störungsdiagnostik eliminiert. So finden sich im DSMIII-R und DSM-IV verschiedene optionale Achsen:

 Skala zur Erfassung der Abwehrmechanismen und Copingstile mit Glossar,  Skala zur globalen Erfassung des Funktionsniveaus von Beziehungen (GARF),  Skala zur Erfassung des sozialen und beruflichen Funktionsniveaus (SOFAS).

Operationalisierte psychodynamische Diagnostik Von einer Gruppe psychodynamisch orientierter Wissenschaftler wurde in den vergangenen Jahren das multiaxiale System der »operationalisierten psychodynamischen Diagnostik/OPD« entwickelt (Arbeitskreis OPD 2006) und in ersten Studien empirisch überprüft (Freyberger et al. 1998; Rudolf et al. 1996). Leitgedanke dieses multiaxialen Systems ist es, auf der Grundlage einer konsequenten Operationalisierung und Manualisierung, psychodynamische Konstrukte auf einer vergleichsweise beobachtungsnahen Ebene erfassbar zu machen, um so reliablere Daten für differenzielle Therapieindikationen und die Betrachtung des psychotherapeutischen Prozesses zu gewinnen.  Mit der Achse I werden Merkmale der Krankheitsverarbeitung und der Behandlungsvoraussetzungen erfasst, die sich u. a. mit dem Schweregrad der vorliegenden Erkrankungen und dem Inanspruchnahmeverhalten in Beziehung setzen lassen (⊡ Tab. 17.5).  Den Konzepten von Kreismodellen interpersonellen Verhaltens folgend, werden mit der Achse II (Beziehung) repetitive dysfunktionale Beziehungsmuster abgebildet, die anhand vorgegebener Beziehungsmerkmale aus der Perspektive des Patienten- bzw. Untersuchererlebens kodiert werden.  Die Achse III (Konflikt) ist der Einschätzung intrapsychischer und interpersoneller repetitiver Konfliktmuster vorbehalten, die anhand umschriebener faktischer Lebensbereiche in einem passiven und aktiven (kontraphobischen) Modus definiert wurden.  Mit der Achse IV (Struktur) werden persönlichkeitsstrukturelle Merkmale entsprechend ihrem Integrationsniveau abgebildet.  Die Achse V schließlich definiert unter Verwendung des ICD-10-Ansatzes Syndromdiagnosen.

Vorteil multiaxialer Ansätze Wie insgesamt gezeigt werden konnte, liegt der prinzipielle Vorteil multiaxialer Ansätze in einer ausführlichen Betrachtung der Umstände des Einzelfalls im Rahmen eines biopsychosozialen Ansatzes, in der systematischen Erfassung und Dokumentation klinisch bedeutsamer Merkmale, der systematischen Erfassung von Informationen für Behandlungsplanung und -prognose, als didaktisches Hilfsmittel sowie als wichtiges Instrument einer klinisch und epidemiologisch orientierten Forschung.

17

402

Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme

⊡ Tab. 17.5. Das multiaxiale diagnostische System zur Opera-

(Fortsetzung) ⊡ Tab. 17.5. Das multiaxiale diagnostische System zur Opera-

tionalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

tionalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

Achse I

7. Identitätskonflikte (Identität vs. Dissonanz)

Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen [4-stufige Fremdeinschätzung von 1 (= niedriger) bis 4 (= hoher Ausprägungsgrad)] 1. Beurteilung des Schweregrads der somatischen Erkrankung

8. Fehlende Konflikt- und Gefühlswahrnehmung 9. Aktualkonflikte Achse IV

Struktur [Fremdeinschätzung mit 4-stufigem Rating von 1 (= gut integriert) bis 4 (= desintegriert)]

2. Beurteilung des Schweregrades der psychischen Erkrankung

1. Selbstwahrnehmung

3. Leidensdruck

3. Abwehr

4. Beeinträchtigung des Selbsterlebens

4. Objektwahrnehmung

5. Ausmaß der körperlichen Behinderung

5. Kommunikation

6. Sekundärer Krankheitsgewinn

6. Bindung

7. Einsichtsfähigkeit in psychodynamische Zusammenhänge 8. Einsichtsfähigkeit für somatopsychische Zusammenhänge 9. Einschätzung der geeigneten Behandlungsform (Psychotherapie) 10. Einschätzung der geeigneten Behandlungsform (körperliche Behandlung)

2. Selbststeuerung

7. Gesamtniveau Achse V

Psychische und psychosomatische Störungen nach dem Kapitel V (F) der ICD-10

Achse Va

Psychische Störungen

Achse Vb

Persönlichkeitsstörungen (Kategorien F60 und F61 der ICD-10)

Achse Vc

Körperliche Erkrankungen (andere Kapitel der ICD-10)

11. Motivation zur Psychotherapie 12. Motivation zur körperlichen Behandlung 13. Compliance 14. Symptomdarbietung: somatische Symptomatik steht im Vordergrund

17.3

Der diagnostische Prozess

15. Symptomdarbietung: psychische Symptomatik steht im Vordergrund

17.3.1

Ausbildung und Training

16. Psychosoziale Integration 17. Persönliche Ressourcen 18. Soziale Unterstützung 19. Angemessenheit der subjektiven Beeinträchtigung zum Ausmaß der Erkrankung Achse II

Beziehung (dysfunktionelles habituelles Beziehungsverhalten; Fremdeinschätzung von jeweils 2 im Sinne interpersoneller Kreismodelle definierten nach Relevanz gewichteten Merkmalen je Perspektive und Dimension) 1. Perspektive A: Das Erleben des Patienten mit den Dimensionen »Der Patient erlebt sich immer wieder so, dass er ...« und »der Patient erlebt andere immer wieder so, dass er ...« 2. Perspektive B: Das Erleben des Interviewers mit den Dimensionen »Der Untersucher erlebt den Patienten immer wieder so, dass er ...« und »Der Untersucher erlebt sich gegenüber dem Patienten immer wieder so, dass er ...«

17

3. Psychodynamische Formulierung des dysfunktionalen Beziehungsverhaltens (Option) Achse III

Konflikt [Fremdeinschätzung mit 4-stufigem Rating von 0 (= nicht vorhanden) bis 3 (= hoch) für jeden definierten Konflikt] 1. Abhängigkeit vs. Autonomie 2. Kontrolle vs. Unterwerfung 3. Versorgung vs. Autarkie 4. Selbstwertkonflikte (narzisstische Konflikte, Selbst- vs. Objektwert) 5. Über-Ich- und Schuldkonflikte (egoistische vs. prosoziale Tendenzen) 6. Ödipale und sexuelle Konflikte

Die Anwendung operationalisierter Diagnosensysteme setzt die Beachtung einer Reihe methodischer Bedingungen voraus. Wie bereits eingangs dieses Kapitels erwähnt wurde, bilden Beobachtungs- und Kriterienvarianz bedeutsame Fehlerquellen des diagnostischen Prozesses, die zumindest auf der Ebene der Störungsdefinitionen durch operationalisierte Systeme in ihrer Bedeutung reduziert werden konnten. Wie bereits die Erfahrung mit lange etablierten Systemen zur psychopathologischen Befunderhebung, wie etwa dem AMDP-System (Haug u. Stieglitz 1997) zeigt, setzt die angemessene Anwendung ein umfassendes Training voraus, durch das die Reflektion der individuellen Aspekte der Beobachtungs- und Kriterienvarianz und das Erlernen der diagnostischen Kriterien gewährleistet werden soll. So werden seit längerem von Arbeitsgruppen der Diagnosenkommission der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde ICD10-Trainingsseminare angeboten, die einem Curriculum mit Grund- und Aufbaukursen folgen und unterschiedliches didaktisches Material verwenden (vgl. z. B. Freyberger u. Dilling 1993; Dilling et al. 1997). Während für die mit den Klassifikationssystemen verbundenen strukturierten und standardisierten diagnostischen Interviews spezielle Trainingsseminare mit einem z. T. beträchtlichen Aufwand verbunden sind, ist etwa das Erlernen des multiaxialen Ansatzes der OPD mit mindes-

403 17.3 · Der diagnostische Prozess

tens 3 Grund- und Aufbaukursen verknüpft, die, wie bei den anderen Systemen auch, für eine spätere reliable Anwendung unerlässlich sind.

17.3.2

Weitere Fehlerquellen im diagnostischen Prozess

Nichtbeachtung der diagnostischen Kriterien. Der diag-

nostische Prozess wird darüber hinaus von einer Reihe möglicher Urteilsfehler beeinflusst, die einerseits direkt mit der Konzeption operationalisierter Diagnosensysteme in Zusammenhang zu bringen sind, andererseits aber auch allgemeinpsychologische Gesichtspunkte berühren (vgl. nachfolgende Übersicht). Die unter dem Aspekt von Ausbildung und Training bereits genannte wesentlichste Fehlerquelle stellt die Nichtbeachtung der diagnostischen Kriterien dar.

rakter in nur einer komplexen Diagnose abzubilden, kann als eine der Fehlerquellen in der operationalisierten Diagnostik gelten. Etwa für den Bereich der Komorbidität zwischen schizophrenen und Suchtstörungen konnte in der Vergangenheit gezeigt werden, dass vor diesem Hintergrund überzufällig häufig die Suchtdiagnosen nicht gestellt und damit inadäquate Entscheidungen im Hinblick auf weitere Therapieinterventionen getroffen wurden (Krausz u. Haasen 1996). Andere theoretische Konzepte. Diagnostiker werden al-

lerdings auch häufig von theoretischen Konzepten in ihrer Diagnosenstellung beeinflusst, die keinen oder keinen unmittelbaren Zusammenhang zur operationalisierten Diagnostik aufweisen. So weicht etwa das BorderlineKonzept der ICD-10 in wesentlichen Anteilen von psychodynamischen Konzepten ab, wie sie etwa von Gundersson oder Kernberg entwickelt wurden. Diagnostische Unsicherheit. Darüber hinaus führt diag-

In der Praxis auftretende Fehlerquellen im diagnostischen Prozess. (Nach Stieglitz u. Freyberger 1996) 1. 2. 3. 4.

Nichtbeachtung der Symptom- und Zeitkriterien Nichtberücksichtigung der Ausschlusskriterien Nichtberücksichtigung des Komorbiditätsprinzips Beeinflussung durch theoretische Konzepte, die nichts mit operationalisierter Diagnostik zu tun haben (z. B. verschiedenen Borderline-Konzepten) 5. Einfluss eigener diagnostischer Unsicherheit bei der Entscheidung für eine Diagnose (z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörung, schizoaffektive Störung) 6. Rückschluss auf eine Diagnose aufgrund eines singulären Phänomens (z. B. hysterisch = hysterische Persönlichkeitsstörung) 7. Falsche Schlussfolgerungen (z. B. Halo-Effekt)

Mangelnde Informationserhebung. Darüber hinaus setzt

die Anwendung operationalisierter Diagnosensysteme auf mehreren Ebenen die Vollständigkeit der Informationserhebung voraus. Psychopathologische Merkmalsbereiche müssen systematisch erfragt bzw. erfasst werden, um entsprechend dem Komorbiditätsprinzip multiple Diagnosen überhaupt abbilden bzw. ausschließen zu können. In diesem Bereich stehen als (didaktisch wertvolle) Unterstützung für den Untersucher zahlreiche strukturierte und standardisierte Interviewverfahren und Symptomchecklisten zur Verfügung. Vernachlässigung und Komorbidität. Entsprechend dem

traditionellen diagnostischen Prinzip, verschiedene Syndrome insbesondere bei Störungen mit hohem Signalcha-

nostische Unsicherheit zur Zuweisung von Patienten zu diagnostischen Kategorien, die sich im Grenzbereich zwischen verschieden Störungsgruppen finden (z. B. schizoaffektive Störungen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen). In diesen Bereich fallen zweifelsohne auch die falschen Rückschlüsse auf eine Diagnose aufgrund eines singulären Phänomens (z. B. theatralisches Verhalten = histrionische Persönlichkeitsstörung) sowie falsche Schlussfolgerungen (z. B. Halo-Effekt = ein besonders markantes Merkmal beeinflusst die Wahrnehmung anderer Merkmale).

17.3.3

Instrumente

Zur Reduktion der verschiedenen diagnostischen Fehlerquellen sind in den vergangenen Jahren eine Reihe von Instrumenten zur klassifikatorischen Diagnostik entwickelt worden. Unterschieden werden heute strukturierte bzw. standardisierte Interviews und sog. Symptomchecklisten. Die Mehrzahl dieser Instrumente ist modular aufgebaut, d. h. dass einzelne Störungsgruppen mit separaten Interview- oder Checklistenabschnitten erfasst werden können. Die meisten Instrumente erlauben zudem ein polydiagnostisches Vorgehen, d. h. dass Diagnosen verschiedener Klassifikationssysteme (z. B. DSM-IV und ICD-10) gestellt werden können.

Standardisiertes Interview Bei den standardisierten Interviews werden alle Ebenen des diagnostischen Vorgehens präzise festgeschrieben, d. h. der Ablauf der Untersuchung, die Art und die Reihenfolge der Fragen, die Art der Kodierung der Informationen und die Diagnosenstellung erlauben dem Untersucher keinen individuellen Spielraum. Wie die in ⊡ Abb. 17.1

17

404

Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme

⊡ Abb. 17.1. Eingangsfragen der Sektion D (Angststörungen) des Composite International Diagnostic Interview (CIDI). (Nach Wittchen u. Semmler 1992)

SEKTION D D1 Hatten Sie schon einmal einen Angstanfall, d. h. wurden Sie ganz plötzlich und unerwartet von einem Gefühl starker Angst oder Beklommenheit überfallen, und zwar in Situationen, in denen die meisten Menschen nicht ängstlich wären?

NEIN (o D11) . . . . . . . . . . . . 1 JA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

D2 Solche Angstanfälle treten manchmal auf, wenn man in ernster Gefahr ist oder wenn man im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit anderer steht. Trat(en) Ihr(e) Angstanfall/-fälle auch unabhängig von solchen Situationen auf?

PRB: 1 2 3 4 5

WENN JA, FRAGE VOR DEN PRÜFFRAGEN: Können Sie mir einen dieser Angstanfälle etwas näher beschreiben? BEISPIEL: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .................................................................. DR.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

PB.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

WENN D2 mit PRB 1 KODIERT WURDE, GEHE ZU D11 D3 SPRACH DER PB. MIT EINEM ARZT DARÜBER (D2)?

D4 Versuchen Sie jetzt bitte, sich an einen Ihrer schwersten Angstanfälle zurückzuerinnern und an die körperlichen Symptome, die Sie dabei hatten. KODIERE IN SPALTE 1, WIEDERHOLE FALLS NÖTIG: »Hatten Sie während dieses Angstanfalls . . . !« 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

Atemnot oder Schwierigkeiten, Luft zu bekommen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herzklopfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwindel, Benommenheitsgefühle?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie ein Engegefühl oder Schmerzen in Brust oder Magen? . . . . . . . Hatten Sie Kribbel- oder Taubheitsgefühle in den Fingern oder Füßen? . . Hatten Sie Erstickungsgefühle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fühlten Sie sich einer Ohnmacht nahe?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haben Sie geschwitzt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haben Sie gezittert oder gebebt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie Hitzewallungen oder Kälteschauer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfanden Sie sich selbst oder die Dinge um Sie herum als unwirklich? . Hatten Sie die Befürchtung, dass Sie sterben könnten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie die Befürchtung, verrückt zu werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verspürten Sie einen Brechreiz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie Bauchschmerzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie Atemnot oder Beklemmungsgefühle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie einen trockenen Mund? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

NEIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 JA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

SPALTE I NEIN JA 1 5* 1 5* 1 5* 1 5* 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5* 1 5* 1 5 1 5

SPALTE II NEIN JA 1 5 1 5 1 5 1 5

1 1

5 5

FRAGE FÜR JEDES MIT 5* KODIERTE SYMPTOM IN SPALTE I: Litten Sie unter . . . (SX) jemals auch in anderen Situationen, also wenn Sie keinen Angstanfall hatten? KODIERE IN SPALTE II.

17

D5 WURDE IN D4 1–17 MEHR ALS EINE 5/5* KODIERT?

NEIN (o D11) . . . . . . . . . . 1 JA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

D6 Wann hatten Sie zum (ersten/letzten) Mal einen derartigen Angstanfall, mit einigen der genannten Symptome wie z. B. . . . (NENNE EINIGE MIT 5/5* KODIERTEN SYMPTOME AUS D4, 1–17)?

ONS: 1 2 3 4 5 6 ALTER ONS: _ /_ REC: 1 2 3 4 5 6 ALTER REC: _ /_

D7 Gab es jemals eine Zeitspanne von mehr als einem Monat, in der Sie jede Woche mindestens 4 solcher Angstanfälle hatten?

NEIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 JA (o D10) . . . . . . . . . . . . . 5

D8 Hatten Sie jemals 4 Angstanfälle innerhalb von 4 aufeinanderfolgenden Wochen?

NEIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 JA (o D10) . . . . . . . . . . . . . 5

gezeigten Eingangsfragen aus der Angstsektion des Composite International Diagnostic Interview (CIDI) zeigen, weisen derartige Interviews die folgende Struktur auf:  Mit einem definierten Interviewabschnitt (hier die Fragen D1–D4) werden die in den Diagnosensystemen operationalisierten Kriterien für eine umschriebene Störung (hier Panikstörung) erfasst.  Mittels einer Eingangsfrage (hier D1) wird ein Screening vorgenommen, das im Falle einer positiven Antwort zu einer weiteren Überprüfung der diagnostischen Kriterien führt (Fragen D2–D4).

 Im Falle einer negativen Antwort findet ein Sprungvermerk Anwendung (hier springe zu Frage D11), der den Interviewer zur nächsten Subsektion des Interviews (hier generalisierte Angststörungen) gelangen lässt.  Zur weiteren Symptomerfassung werden dann entweder standardierte Interviewtechniken (sog. Prüffragen, vgl. Frage D2) verwendet, die eine Kodierung entsprechend der Genese des betreffenden Symptoms beinhalten (Kodierung PRB 1 2 3 4 5) oder einfache Antwortalternativen (vgl. Frage D4) vorgeben.

405 17.3 · Der diagnostische Prozess

Bei einem Teil der Fragen können zusätzlich Beispiele angegeben (Frage D2) oder eine Experteneinschätzung (Kodierung Dr. für Doktor, Pb für Proband) mit den Angaben des Probanden kontrastiert werden, um eine Post-hocValidierung zu ermöglichen. Im Übrigen werden für eine computerisierte oder auf einer Handauswertung beruhende Diagnosenstellung bestimmte Auswertungsalgorithmen vorgelegt, wobei die im Einzelnen erfassten Symptome und Kriterien definierte Bezeichnungen erhalten (linke Spalte in ⊡ Abb. 17.1).

der Regel stichwortartig zusammengefasst (⊡ Abb. 17.2). Dem Untersucher steht es offen, selbst Fragen zu formulieren und eine entsprechende Kodierung vorzunehmen. Der Ablauf der Informationserhebung bleibt ebenfalls dem Untersucher vorbehalten. Damit zeichnen sich die Checklisten durch eine besondere Benutzerfreundlichkeit aus; ihre Anwendung setzt allerdings eine breite klinische Erfahrung voraus. Zudem sind sie bezüglich des Zeitaufwands ökonomisch einsetzbar und erlauben z. T. auch eine Erhebung anhand von Krankengeschichten.

Strukturiertes Interview Strukturierte Interviews geben demgegenüber einfach die Reihenfolge der zu erhebenden psychopathologischen Merkmale, Zeit- und Verlaufskriterien sowie der anderen diagnostisch relevanten Variablen vor. Für den schrittweisen Gang der Exploration finden sich vorformulierte, aber in der Regel weniger elaborierte Fragen sowie Zusatzfragen zur Verifizierung der erhobenen Informationen. Für die Bewertung und Gewichtung der erhobenen Informationen werden in der Regel Einschätzungskriterien angegeben; dem klinischen Urteil des Untersuchers wird allerdings ein relativ breiter Spielraum gegeben. Dies hat zur Folge, dass strukturierte Interviews nur von klinisch erfahrenen und trainierten Untersuchern angewendet werden können. ! Im Vergleich zu strukturierten Interviews ist mit standardisierten Verfahren eine entsprechend höhere Interraterübereinstimmung zu erreichen. Zudem lassen sich standardisierte Interviews auch von gut trainierten Laien einsetzen, was für große epidemiologische Studien von erhebungsökonomischer Relevanz ist.

Vor- und Nachteile der Interviewverfahren Prinzipiell gilt, dass sich die Komorbidität in der Regel mit Interviewverfahren adäquater abbilden lässt, da weniger Störungen übersehen werden. Zudem erreichen Interviews bei Patienten entgegen vieler Erwartungen eine durchaus gute Akzeptanz. Vor allem für Forschungsfragestellungen und die Klärung schwieriger differenzialdiagnostischer Fragen können diese Verfahren empfohlen werden. Dem steht jedoch auch eine Reihe von Nachteilen gegenüber. Mit dem Ausmaß der Strukturierung bzw. Standardisierung des diagnostischen Interviews gehen subjektive, emotionale und szenische Informationen wie auch das psychotherapeutische Element des Erstgesprächs verloren; subjektiven Akzentuierungen der Patienten wird ein geringer Stellenwert eingeräumt. Zudem ist der Zeitaufwand, der für die umfassenden Verfahren z. T. mehrere Stunden beträgt, erheblich. Durch die Vielzahl der erhobenen Informationen kann die Auswertung in der Regel nur computerisiert erfolgen, wobei aber nur für einen Teil der vorliegenden Interviews bisher Programme vorliegen.

Check- und Merkmalslisten

Übersicht gebräuchlicher Instrumente

Bei den Check- oder Merkmalslisten sind die interessierenden Symptome oder diagnostischen Kriterien in

⊡ Tab. 17.6 gibt einen Überblick zu einer Auswahl gegen-

wärtig vorliegender Instrumente. Dabei ist zu berücksich-

⊡ Tab. 17.6. Untersuchungsinstrumente zur Diagnostik nach ICD-10 und DSM-III-R. (Nach Stieglitz u. Freyberger 1996) Bereich

Gruppe

Bezeichnung/Abkürzung

System

Gesamtbereich psychischer Störungen

StrI

Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-III-R (SKID)

DSM-III-R

StrI

Schedules for Clinical Assessment in Neuropsychiatry (SCAN)

ICD-10, DSM-IIII-R

StrI

Schedule for Affective Disorders and Schizophrenia (SADS)

DSM-III-R

StaI

Composite International Diagnostic Interview (CIDI)

ICD-10, DSM-IIII-R

CL

Internationale Diagnosenchecklisten (IDCL)

ICD-10, DSM-IV ICD-10

CL

Merkmalsliste (ICDML)

Persönlichkeitsstörungen

StrI

International Personality Disorder Examination (IPDE)

ICD-10, DSM-IIII-R

StrI

Standardized Assessment of Personality (SAP)

ICD-10

CL

Internationale Diagnosenchecklisten für Persönlichkeitsstörungen (IDCL-P)

ICD-10, DSM-IV

Demenz

StrI

Strukturiertes Interview für die Diagnose von Demenzen (SIDAM)

StrI: strukturiertes Interview; Stal: standardisiertes Interview; CL: Checklisten

17

406

Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme

IDCL

Internationale Diagnosen Checkliste für ICD-10

Schizophrenie G1 • •

Ermitteln Sie die Art der psychotischen Symptomatik Zeitkriterien für alle Symptome: die meiste Zeit in einer mindestens einen Monat dauernden psychotischen Episode (oder irgendwann während der meisten Tage)

Anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität, jeden Tag für mindestens einen Monat, • begleitet von (flüchtigen oder undeutlich ausgebildeten) Wahngedanken ohne deutliche affektive Beteiligung, • oder begleitet von anhaltenden überwertigen Ideen. b Neologismen, Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedakenfluss, was zu Zerfahrenheit oder danebenreden führt. c Katatone Symptome z. B. Erregung, Haltungsstereotypien, Negativismus, Mutismus, Stupor. d »Negative« Symptome, nicht verursacht durch Depression oder Neuroleptika z. B. auffällige Apathie, Sprachverarmung, verflachter oder inadäquater Affekt.

Kriterium G1 ist unter folgenden Bedingungen erfüllt: • Mindestens 1 Merkmal aus 1a bis 1d trifft zu • oder mindestens 2 Merkmale aus 2a bis 2d treffen zu

❑ ❑ ❑

Ja

82219-7

Schizophrenie

Seite 3

Hebephrene Schizophrenie

o Verdacht

F20. 1 x

• • •

F20. 2 x

Ja



❑ ❑ ❑ ❑

Ja

❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑

o Verdacht

17

• • •

Eines oder mehrere der folgenden katatonen Symptome stehen im Vordergrund für einen Zeitraum von mindestens 2 Wochen: Stupor (deutliche Verminderung der Reaktionen auf die Umgebung und Verminderung der spontanen Bewegungen und Aktivität), oder Mutismus Erregung (anscheinend sinnlose motorische Aktivität, die nicht durch äußere Reize beeinflusst ist) Haltungsstereotypien (freiwilliges Einnehmen und Beibehalten unsinniger und bizarrer Haltungen) Negativismus (ein anscheinend unmotivierter Widerstand gegenüber Aufforderungen oder Versuchen, bewegt zu werden, oder Bewegungen in die entgegengesetzte Richtung) Rigidität (Beibehaltung einer steifen Haltung gegenüber Versuchen, bewegt zu werden) Wächserne Biegsamkeit (Verharren von Gliedern und Körper in Haltungen, die von außen auferlegt sind) Befehlsautomatismus (automatische Befolgung von Anweisungen)



Ja



Nein Verdacht Ja

❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑

❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ Undifferenzierte Schizophrenie F20. 3 x oVerdacht ❑ Ja ❑ • • •

Kriterium G2/1 ist erfüllt, wenn die Kriterien einer manischen oder depressiven Episode nicht erfüllt sind. Kriterium G2/1 ist erfüllt, wenn die Kriterien einer manischen oder depressiven Episode zwar erfüllt sind, aber Kriterium G1 der Schizophrenie bereits vor der Entwicklung der nicht Verdacht affektiven Symptome bestanden hatte. erfüllt | erfüllt Ende m

Beurteilen Sie Kriterium G2/1:

G2/2

Die Symptome erfüllen nicht die Kriterien für die Subtypen paranoide Schizophrenie, hebephrene Schizophrenie, katatone Schizophrenie, postschizophrene Depression oder schizophrenes Residuum; oder so zahlreiche Symptome, dass die Kriterien für mehr als einen dieser Subtypen erfüllt sind





Verdacht | Nein





erfüllt Verdacht

Schizophrenie

nicht erfüllt



Überprüfen Sie, welche der anderen untenstehenden Diagnosen für psychotische Störungen in Frage kommen (falls möglich, mit Hilfe der entsprechenden IDCL).

• • • • • •

Schizophrenia simplex

Verdacht

Schizoaffektive Störung

Verdacht

Wahnhafte Störung

Verdacht

❑ ❑ ❑

Ja Ja Ja



❑ ❑ ❑

Bestimmen Sie den Typus der Schizophrenie und die entsprechende Diagnose (Seiten 3 und 4).

Vorübergehende psychotische Störung

Verdacht

Affektive Störung mit psychotischen Symptomen

Verdacht

Andere (F28)/nicht näher bezeichnete (F29) nichtorg. Störung

Verdacht

❑ ❑ ❑

Schizophrenie

Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:

Nein Verdacht Ja * Deutliche Affektverflachung * Passivität und Initiativemangel * Psychomotorische Verlangsamung oder verminderte Aktivität

❑ ❑ ❑

❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑



❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ Ja



❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑

Nein Verdacht Ja * Verarmung der Sprache (Menge oder Inhalt * Vernachlässigung in sozialer Leistung oder Körperpflege * Geringe nonverbale Kommunikation durch Mimik, Blickkontakt, Stimmmodulation oder Körperhaltung

❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑

8 = Andere Schizophrenie 9 = Nicht näher bezeichnete Schizophrenie

F 2 0.

❑ ❑ ❑

Nein Verdacht Ja

Die allgemeinen Kriterien der Schizophrenie (Typus F20.0–F20.3) waren einmal in der Vergangenheit erfüllt, sie sind derzeit jedoch nicht erfüllt. Mindestens vier der folgenden »negativen« Symptome waren in den letzten 12 Monaten durchgehend vorhanden.

Diagnose:

Ja

Ja

F20. 5 x oVerdacht ❑

Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:



Ja

Nein Verdacht Ja

Die allgemeinen Kriterien der Schizophrenie (Typus F20.0–F20.3) waren während der letzten 12 Monate erfüllt, sie sind derzeit jedoch nicht erfüllt; eines der Symptome G1(2) a, b, c oder d besteht derzeit noch. Depressive Symptome sind anhaltend, schwer und umfassend genug, um mind. die Kriterien einer leichten depressiven Episode zu erfüllen.

Schizophrenes Residuum



Ja

Seite 4

Postschizophrene Depression F20. 4 x oVerdacht ❑





Schließen Sie aus: Organische Ätiologie Die Störung ist auf eine Erkrankung des Gehirns oder Ja auf alkohol- oder drogenbedingte Intoxikation, Abhängigkeit oder Entzug zurückzuführen. Ende m ❑



Nein Verdacht Ja

Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:

• •

Schließen Sie aus: Schizoaffektive oder affektive Störung

• •



o Verdacht

Eindeutige u. anhaltende Verlachung o. Oberflächlichkeit d. Affekts, oder eindeutiger u. anhaltender inadäquater o. unangebrachter Affekt. Verhalten ist ziellos und unzusammenhängend statt zielstrebig, oder eindeutige Denkstörung, die sich in unzusammenhängender, weitschweifiger oder zerfahrener Sprache zeigt. Das klinische Bild ist nicht beherrscht von Halluzinationen oder Wahn (obwohl diese Symptome in leichter Form vorhanden sein können).

Katatone Schizophrenie



Nein Verdacht Ja

Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:

G2/1

❑ ❑ ❑

❑ ❑ ❑

Wahn oder Halluzinationen stehen im Vordergrund Das klinische Bild ist nicht beherrscht von verflachtem oder inadäquatem Affekt, katatonen Symptomen oder Zerfahrenheit (obwohl diese Symptome in leichter Form vorhanden sein können).

Früher: Symptomatik bestand zu einem früheren Zeitpunkt (angeben: ___________)

❑ ❑ ❑

© 1995 Verlag Hans Huber, Bern

F20. 0 x

❑ Ja ❑ Verdacht

Derzeit und früher: Symptomatik besteht derzeit und lag auch zu einem früheren Zeitraum vor.

Falls Kriterien G1, G2/1 und G2/2 erfüllt:

Verdacht Nein |

Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:

❑ Ja ❑ Verdacht

Derzeit: Symptomatik besteht derzeit erstmalig.

❑ ❑ ❑

Ende

Paranoide Schizophrenie

❑ Ja ❑ Verdacht

Verdacht Nein | Ja

Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung, Gedankenentzug ❑ ❑ ❑ oder Gedankenausbreitung b Kontroll- oder Beeinflussungswahl oder Gefühl des Gemachten, ❑ ❑ ❑ deutlich bezogen auf Körper- oder Gliederbewegungen oder auf bestimmte Gedanken, Tätigkeiten oder Empfindungen; Wahrnehmung. c Hören von Stimmen, ❑ ❑ ❑ • die das Verhalten des Patienten laufend kommentieren, • oder die im Dialog über ihn sprechen, • oder andere Formen von Stimmen, die aus bestimmten Körperteilen kommen. d Anderer anhaltender Wahn, ❑ ❑ ❑ der kulturell unangemessen und völlig unmöglich ist z. B. das Wetter kontrollieren zu können oder mit Wesen einer anderen Welt in Beziehung zu stehen.

2a

Seite 2

Ordnen Sie die angekreuzte Symptomatik zeitlich ein:

Name: ___________________________ Alter: _______ Datum: _____________

1a

• •

Schizophrenie

F20.

x oVerdacht ❑

Ja

Tragen Sie ein: 4. Stelle der Diagnose Typus der Schizophrenie Tragen Sie ein: 5. Stelle der Diagnose Verlaufsbild

kontinuierlich (keine Remission psychotischer Symptome im Beobachtungszeitraum) episodisch, mit zunehmender Entwicklung »negativer« Symptome zwischen den Episoden episodisch, mit anhaltenden, aber nicht zunehmenden »negativen« Symptomen episodisch remittierend, mit (fast) vollständigen Remissionen zwischen den Episoden unvollständige Remission vollständige Remission anderes Verlaufsbild Verlauf unsicher, Beobachtungszeitraum weniger als ein Jahr

⊡ Abb. 17.2. Internationale Diagnosencheckliste für die Eingangskriterien einer Schizophrenie. (Nach Hiller et al. 1996)

= = = = = = = =

0 1 2 3 4 5 8 9



407 Literatur

tigen, dass alle Interviewverfahren, die den Anspruch verfolgen, den Gesamtbereich psychischer Störungen abzubilden, die Persönlichkeitsstörungen nicht erfassen. Das wahrscheinlich international am weitesten verbreitete Interviewverfahren ist das für epidemiologische Untersuchungsansätze entwickelte CIDI (zur Erklärung der Abkürzungen vgl. ⊡ Tab. 17.6), für das zudem ein computerisierter Auswertungsalgorithmus sowie eine interaktive Laptopversion für Patienten vorliegt. Ebenfalls in Zusammenarbeit mit Arbeitsgruppen der WHO wurde das SCAN entwickelt, das als abwärtskompatibles Nachfolgeinstrument des v. a. in der Schizophrenieforschung breit verwendeten Present State Examination (PSE) von einiger Bedeutung ist. Vor allem für Familienstudien wurde von amerikanischen Arbeitsgruppen das SADS entwickelt, das neben dem SKID v. a. in den USA häufig verwendet wird. Für diese Instrumente liegen deutsche Übersetzungen vor, die DSM-IV-Kriterien werden gegenwärtig integriert. Zur Erfassung von Persönlichkeitsstörungen kann das IPDE als das international führende Interviewverfahren herausgestellt werden, während für den Bereich der Demenzen das SIDAM am anerkanntesten ist. Bezüglich ihrer Reliabilität und Validität gut untersucht, sind die Internationalen Diagnosenchecklisten für den Gesamtbereich psychischer Störungen, die durch spezielle Checklisten für die Erfassung von Persönlichkeitsstörungen erweitert wurden.

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17

408

Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme

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17

18 18 Biografische und Krankheitsanamnese P. Hoff

18.1 Einführung – 410 18.1.1 Die Anamneseerhebung im Rahmen der psychiatrischen Untersuchung – 411 18.2 18.2.1 18.2.2 18.2.3 18.2.4 18.2.5 18.2.6 18.2.7 18.2.8

Biografische Anamnese – 411 Herkunftsfamilie – 412 Schwangerschaft und Geburt – 412 Frühe Kindheit und Vorschulalter – 412 Schulische Entwicklung – 413 Pubertät und Adoleszenz – 413 Ausbildung und Beruf – 413 Beziehungsanamnese – 413 Aktuelle Lebenssituation – 414

18.3

Angaben zur Sexualität und zu Lebenspartnerschaften – 414

18.4

Selbstwahrnehmung im Zeitverlauf

18.5 Psychiatrische Krankheitsanamnese – 415 18.5.1 Aktuelle Anamnese – 415 18.5.2 Spezielle Anamnese des vorliegenden Krankheitsbildes – 415 18.5.3 Allgemeine psychiatrische Anamnese – 415 18.6

Suchtanamnese

18.7

Familienanamnese – 416

18.8

Somatische Krankheitsanamnese – 417

18.9

Forensische Anamnese – 417

18.10 Fremdanamnese Literatur

– 416

– 417

– 417

– 414

> > Die sorgfältige Anamneseerhebung ist Voraussetzung, ja sogar integraler Bestandteil jeder psychiatrisch-psychotherapeutischen Diagnostik und Therapie. Die hier vorgestellte Systematik spricht die wesentlichen Bereiche an; im Interesse einer möglichst vollständigen Datenerhebung empfiehlt sich die konsequente Anwendung eines derartigen Schemas. Jenseits dieses formalen Aspekts kommt es aber entscheidend darauf an, die Balance zu halten zwischen umfassender Datensammlung auf der einen und Respekt vor der Individualität und Intimität des Patienten auf der anderen Seite. Hier wird jeder Untersucher mit wachsender Erfahrung einen eigenen »Stil« entwickeln müssen. Dies steht keineswegs im Gegensatz zu einem strukturierten Vorgehen wie dem hier vorgeschlagenen. Im Gegenteil: Erst die persönliche Ausgestaltung der vorgegebenen Struktur stellt die dem individuellen Patienten angemessene Weise der Anamneseerhebung dar.

410

Kapitel 18 · Biografische und Krankheitsanamnese

18.1

Einführung

Die Erhebung der Vorgeschichte, die Anamnese, stellt einen unabdingbaren Bestandteil jeder medizinischen Untersuchung dar. In der Psychiatrie gilt dies umso mehr, als die hier zu erkennenden und behandelnden Erkrankungen oft besonders eng mit der Biografie und der aktuellen Lebenssituation des Patienten verwoben sind (Dahmer 2006; Deegener 1984; Hersen u. Turner 1985; Kind u. Haug 2002; Leon 1982; MacKinnon u. Yudofsky 1986; Schmidt u. Kessler 1976). Nun geht es bei der psychiatrischen Anamneseerhebung um sehr vielgestaltige Phänomene, deren Bedeutung für den jeweiligen Einzelfall zu Beginn einer Behandlung oft noch gar nicht endgültig abgeschätzt werden kann, etwa die Selbstschilderung des Patienten, Angaben seiner Angehörigen oder frühere somatische Befunde. Diese außerordentliche Vielfalt des abzubildenden Materials sowohl in quantitativer wie qualitativer Hinsicht hat die Anamneseerhebung mit der Erfassung des psychopathologischen Befundes gemeinsam. Auch dort ist das Problem ohne klare Begrifflichkeit und ebenso klare gedankliche Strukturierung, die sich bis zu einer straffen Operationalisierung erstrecken kann, nicht lösbar.

hat. In der englischsprachigen Literatur wird auch der Begriff »psychiatric database« verwandt. Die Kernstruktur dieser »psychiatrischen Datensammlung« vermittelt die nachfolgende Übersicht. Diese Grundstruktur enthält freilich noch nicht alle für die psychiatrische Diagnostik erforderlichen Angaben, etwa den gesamten somatischen Bereich. Dieser wird ebenso wie die psychopathologische Befunderhebung an anderer Stelle des vorliegenden Bandes besprochen. Hier, im Kontext der Anamneseerhebung, ist es sinnvoll, die im Schema dargestellte Datenbasis noch weiter aufzufächern, um der tatsächlichen Differenziertheit des untersuchten Patienten gerecht werden zu können. Der in der folgenden Übersicht skizzierten Aufteilung wird die weitere Darstellung folgen.

Essenzielle Bestandteile jeder psychiatrischen Datensammlung (Silberman u. Certa 1997)        

»Psychiatrisches Anamnesenmosaik« Die Erhebung der biografischen und der Krankheitsanamnese ist eingebettet in die gesamte psychiatrische Befunderhebung und damit Teil dessen, was Dilling (1986) das »psychiatrische Anamnesenmosaik« genannt

Persönliche Grunddaten Hauptbeschwerden aktuelle Vorgeschichte psychiatrische Anamnese somatische Anamnese Familienanamnese biografische Anamnese psychopathologischer Befund

Die einzelnen Bereiche der Anamneseerhebung  Biografische Anamnese:  Herkunftsfamilie  Schwangerschaft und Geburt  frühe Kindheit und Vorschulalter  schulische Entwicklung  Pubertät und Adoleszenz  Ausbildung und Beruf  Beziehungsanamnese  aktuelle Lebenssituation  Partnerschafts- und Sexualanamnese  Selbstwahrnehmung im Zeitverlauf

18

Überschneidung der Anamnesebereiche Diese Unterteilung, die zur besseren Übersicht dienen und die Anamneseerhebung praktikabler machen soll, darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass die genannten Bereiche unabhängig voneinander und inhaltlich scharf getrennt seien. Ganz im Gegenteil: Sie sind aufs engste miteinander verbunden und überlappen sich oft. Die Verkennung dieses Umstands kann nachteilig für den

 Psychiatrische Krankheitsanamnese:

    

 aktuelle Anamnese  spezielle Anamnese des vorliegenden Krankheitsbildes  allgemeine psychiatrische Anamnese Suchtanamnese Familienanamnese Somatische Krankheitsanamnese Forensische Anamnese Fremdanamnese

diagnostischen Prozess und die darauf aufbauenden therapeutischen Maßnahmen sein. Dies zeigt sich etwa im Fall der beiden Bereiche »Biografie« und »Krankheitsanamnese«: Deren schroffe Trennung beinhaltet die Gefahr, wichtige Zusammenhänge psychopathologischer Phänomene mit Lebensereignissen oder -entwicklungen zu unterschätzen oder gar zu übersehen.

411 18.2 · Biografische Anamnese

Cave Ein aussagefähiges Beispiel für eine Überakzentuierung eines Teilaspekts ist der Begriff der »Primärpersönlichkeit«. Er suggeriert nämlich eine eindeutige Grenze zwischen der vor der Erkrankung bestehenden Persönlichkeit und den Persönlichkeitsmerkmalen im Laufe der Erkrankung bis hin zum aktuellen Untersuchungszeitpunkt. Implizit legt er sogar die völlige Unabhängigkeit von Persönlichkeit und seelischer Störung nahe, eine Annahme, die durch empirische Untersuchungen älteren und jüngeren Datums nicht gestützt wird.

Weniger anfällig für Fehldeutungen ist die Bezeichnung »prämorbide Persönlichkeit«, die nur auf den zeitlichen Aspekt abhebt, oder schlicht die Rede von »der Persönlichkeit« des Patienten, die sich im Laufe der Biografie einschließlich der Krankheitszeiten auf bestimmte Art entwickelt oder verändert hat. Selbst wenn sich also zwischen den genannten Bereichen im konkreten Fall immer wieder deutliche Überlappungsbereiche zeigen sollten, so ist es doch sinnvoll, sich für die Anamneseerhebung eines Schemas zu bedienen, um wesentliche Aspekte nicht zu übersehen.

18.1.1

Die Anamneseerhebung im Rahmen der psychiatrischen Untersuchung

Die Exploration muss bestimmten minimalen äußeren Anforderungen genügen: Sie sollte in einem ansprechenden Raum und unter 4 Augen erfolgen und, soweit möglich, nicht durch Telefonate oder andere Nebenbeschäftigungen gestört werden. Vor allem wenn der Patient erstmalig psychiatrisch untersucht wird, empfiehlt es sich, ihm Art und Umfang der vorgesehenen diagnostischen Maßnahmen verständlich zu erläutern und ihn zu Rückfragen zu ermuntern. Erfahrungsgemäß kann durch ein solches Vorgehen schon viel von der Anspannung und Zurückhaltung abgefangen werden, die manche Patienten zu Untersuchungsbeginn verspüren (Reiser u. Schroder 1980; Schüffel u. Schonecke 1973). Ein wichtiger Punkt ist der Umfang der zu erhebenden Daten. Die Lebensgeschichte eines Menschen ist ein nahezu unerschöpfliches Reservoir von Ideen, Verhaltensweisen, Erinnerungen, Gefühlen, Meinungen und Sachverhalten. Aus dem an sich richtigen Bemühen, der Individualität des Patienten gerecht zu werden, erwächst insbesondere für den unerfahrenen Untersucher die Gefahr, sich in unwichtigen Details zu verlieren. Er scheut es, manches nicht weiter zu vertiefen oder nicht zu dokumentieren und kann paradoxerweise gerade dadurch den für das biografische Verständnis entscheidenden Überblick verlieren. Das andere Extrem stellt der erfahrene

Psychiater dar, der sich auf seine gewachsene Intuition verlässt und jeglichen Strukturierungs- oder gar Operationalisierungsversuchen in der Anamnese- und Befunderhebung wegen der damit verbundenen Einengung mit großer Skepsis begegnet. Eine thematische Vorstrukturierung des zu erwartenden Materials ist aber unabdingbar. Freilich wird und soll jeder Untersucher im Laufe der Zeit einen eigenen Stil entwickeln. Die Grundlinien sollten aber insoweit übereinstimmen, als die im Folgenden angesprochenen wesentlichen Bereiche in die Exploration einfließen. Das »Vergessen« eines wichtigen anamnestischen Aspekts, etwa weil sich die Exploration vorwiegend mit dem aktuellen Zustandsbild beschäftigt, ist nicht akzeptabel.

18.2

Biografische Anamnese

Objektive und subjektive Lebensgeschichte Oft wird die »äußere« Biografie, bei der die relevanten objektiven Daten erhoben werden, unterschieden von der »inneren« Lebensgeschichte, die sich mit den persönlichen Erinnerungen und vor allem Bewertungen früherer Ereignisse, Erlebnisse oder Vorstellungen beschäftigt. Ob man diese beiden Bereiche nun auch in der Gesprächsführung klar voreinander trennt oder nicht, ist von untergeordneter Bedeutung. Zwar stellt die gleichzeitige Erfassung beider Aspekte die für Patient und Untersucher zweifellos natürlichste und vom zu erzielenden Informationsgewinn her günstigste Vorgehensweise dar, sie ist aber auch die schwierigste. Gerade bei sehr umfangreichen Biografien, bei schwer explorierbaren Patienten oder im Fall eines unerfahrenen Untersuchers ist daher nichts dagegen einzuwenden, verschiedene Aspekte der Biografie getrennt zu besprechen. Es erleichtert den Kontakt zum Patienten erheblich, wenn man ihn an dieser Stelle noch einmal kurz über den geplanten Ablauf des Gesprächs und den Sinn der Fragen informiert. Schließlich empfinden es viele Personen als ungewohnt und unangenehm, mit einem anderen Menschen, den sie nur ganz kurz kennen, umfassend und offen über die eigene Lebensgeschichte zu sprechen. Erst recht gilt dies natürlich für Patienten, die unfreiwillig zur stationären Untersuchung und allenfalls auch Behandlung gebracht worden sind. Diesem Umstand muss die Art der Gesprächsführung im Allgemeinen und der Anamneseerhebung im Speziellen in vertrauensbildender Weise Rechnung tragen.

Reihenfolge der Themen Auch mit Blick auf die Reihenfolge der anzusprechenden Themen gibt es verschiedene Möglichkeiten, die jeweils Vor- und Nachteile haben. Beginn mit Themenwahl des Patienten. Man kann bei der

Thematik beginnen, die der Patient auf eine ganz offene

18

412

Kapitel 18 · Biografische und Krankheitsanamnese

Frage nach dem Verlauf seines Lebens spontan anbietet. Dies wirkt auf den Patienten am wenigsten gezwungen, doch bleibt der Untersucher über die Motive des Patienten für gerade diese Themenwahl zunächst im Unklaren, was das Verständnis erschweren kann. Chronologisches Vorgehen. Man kann entlang der Zeit-

achse vorgehen, was die einfachste und keiner besonderen Begründung bedürfende Strukturierung darstellt. Von Nachteil ist dabei, dass es auf den Patienten eigenartig wirken kann, in Anbetracht seiner in der Regel drängenden aktuellen Probleme und Konflikte zunächst einmal auf die eigene Schwangerschaft, Geburt und früheste Kindheit angesprochen zu werden. Flexible Abfolge vorgegebener Themenbereiche. Schließ-

lich – und dies dürfte bei flexibler Anwendung die probateste Methode sein – kann man sich inhaltlich an die im folgenden genannten Bereiche anlehnen, deren Reihenfolge jedoch dem Gesprächsverlauf und der Art der vorliegenden seelischen Störung anpassen. Hier verbindet sich der Vorteil einer strukturierten Gesprächsführung, nämlich das geringere Risiko, Wesentliches zu übersehen oder zu vergessen, mit einer Beziehungsgestaltung, die aus der Sicht des Patienten offen wirkt und den Eindruck starrer Raster oder des bloßen Abhakens vorgegebener Themen vermeidet.

18.2.1

18

Herkunftsfamilie

Der Patient wird um eine Schilderung der sozialen Situation gebeten, in die er »hineingeboren« wurde. Dabei geht es um  äußere Gegebenheiten, etwa Berufe der Eltern, finanzielle Verhältnisse, Größe der Wohnung,  die persönlichen Eigenschaften der entscheidenden Bezugspersonen. Das werden in der Regel, müssen aber nicht, die Eltern sein. Es sollte nach allen Personen, die im elterlichen Haushalt lebten, und nach den sonstigen, aus der Erinnerung des Patienten bedeutsamen Menschen gefragt werden.  Die Partnerschaftssituation der Eltern zum Zeitpunkt der Geburt ist ein wesentlicher Aspekt.  In Zusammenhang damit wird man auch zu erfragen versuchen, ob der Patient ein erwünschtes Kind war oder nicht. Obwohl viele Patienten dazu kaum Angaben machen können, weil in der Familie tatsächlich nicht über dieses Thema gesprochen worden ist, trifft man nicht selten auf Patienten, die über diese Aussprachemöglichkeit geradezu erleichtert sind und betroffen schildern, dass sie ein völlig unerwünschtes Kind gewesen seien oder sogar – ein besonders heikler Punkt – hätten abgetrieben oder zur Adoption freigegeben werden sollen.

Umgang mit schwierigen Themen. Es sei an dieser Stelle

daran erinnert, dass die Angaben des Patienten nicht ohne weiteres als historische Tatsachen anzusehen sind, sondern dass nachträgliche Deutungen und Erinnerungsverformungen auf unterschiedlichster Grundlage in Rechnung zu stellen sind. Nun gilt dies zwar grundsätzlich für alle Anamnesebereiche, eine schwierige Gesprächssituation ergibt sich aber v. a. im soeben besprochenen Kontext oder etwa bei Angaben über einen stattgefundenen sexuellen Missbrauch. Die Exploration solcher Zusammenhänge, über die der Patient bislang kaum oder noch nie gesprochen hat, erfordert Erfahrung, Gespür und einen persönlichen »Stil« des Untersuchers. Er sollte dem Patienten den Eindruck vermitteln können, dass er ein echtes Interesse an seiner Person hat, sich nicht durch ausweichendes Verhalten des Patienten von seiner Linie abbringen lässt, gleichzeitig aber die Individualität und Intimität des anderen respektiert.

18.2.2

Schwangerschaft und Geburt

Zu fragen ist nach dem Alter der Eltern bei der Geburt des Patienten, nach dem Schwangerschaftsverlauf bei der Mutter, insbesondere nach der medizinischen Betreuung und nach aufgetretenen körperlichen oder psychischen Störungen einschließlich eines Substanzmissbrauchs. Manche Patienten können recht präzise Angaben über die Umstände ihrer Geburt machen:  Zu Hause oder in der Klinik?  Termingerecht?  Spontan oder eingeleitet?  Gewicht?  Zangengeburt?  Kaiserschnitt?  Postpartale Störungen bei Mutter und Kind? Auch den unmittelbar anschließenden Zeitraum sollte man ansprechen und den Patienten fragen, ob er etwas über diese Periode der Neugestaltung der familiären Strukturen erfahren hat. Dies schließt die Frage nach etwaigen seelischen Störungen der Eltern in zeitlichem Zusammenhang mit der Geburt des Patienten ein, z. B. eine postpartale Depression oder Psychose oder ein reaktualisierter oder neu entstandener Partnerkonflikt.

18.2.3

Frühe Kindheit und Vorschulalter

Hier geht es zunächst um die zeitliche Abfolge beim Erwerb sensomotorischer, sozialer und sprachlicher Kompetenzen und um die Frage nach frühen Ernährungs- und Entwicklungsstörungen. Der Erziehungsstil der Eltern wird ebenso zur Sprache kommen wie Art und Zeitpunkt

413 18.2 · Biografische Anamnese

der Reinlichkeitserziehung, die Reaktion auf die Geburt von Geschwistern und evtl. aufgetretene Ängste oder anderweitige Störungen der Emotionalität und des Verhaltens, etwa Bettnässen, Nägelkauen oder Pavor nocturnus. Eine große Rolle spielen:  Art und Intensität der Beziehungen zu Eltern, Geschwistern und Spielkameraden,  der Umgang mit konflikthaften oder schmerzlichen Situationen wie Trennungen vom Elternhaus und Getrenntleben der Eltern sowie schließlich  das Verhalten im Kindergarten. Viele Patienten können aus eigener Erinnerung und aus Schilderungen von Bezugspersonen recht plastisch über ihre persönlichen Eigenschaften, ihr »Temperament«, als Kleinkind und Schulkind berichten. Als Hintergrundinformation ist dabei stets die soziale Situation des Elternhauses zu bedenken, etwa im Hinblick auf finanzielle Probleme, Arbeitslosigkeit oder Wohnungswechsel.

18.2.4

Schulische Entwicklung

Neben der vorwiegend kognitiven Entwicklung (Schulleistung im engeren Sinn, Erlernen von Grundfertigkeiten) sollte großer Wert auf den Aspekt der emotionalen und sozialen Kompetenz gelegt werden. Im Schulalter zeigt sich dies an der Art der Integration in den Klassenverband, der Beziehung zu Lehrern, zu Freunden und an der Freizeitgestaltung. Trennungsängste manifestieren sich zu Beginn der Schulzeit oft besonders deutlich. Zu fragen ist nach affektiven Auffälligkeiten depressiver, ängstlichasthenischer oder impulsiv-aggressiver Tönung sowie nach Besonderheiten der motorischen Entwicklung, z. B. Hyperaktivität, besonderes Interesse für Sport oder auffallende motorische Ungeschicklichkeit. Die in dieser Lebensphase zu erlernende Teilautonomie zeigt sich z. B. daran, dass das Kind ab einem bestimmten Zeitpunkt ohne Angst alleine bleiben kann oder dass ihm kleinere Aufgaben im häuslichen Bereich in verantwortlicher Weise übertragen werden können. Auch die Art, in der der Patient als Kind mit starken Belastungssituationen, etwa eigene Erkrankung oder Erkrankung der Eltern, umgegangen ist, kann hier angesprochen werden.

sorgfältig in der Anamneseerhebung zur Sprache kommen. Verstärkt wird man auf die spannungsreichen Beziehungsaspekte achten. Familiäre und schulische Konflikte sind v. a. dann genau zu explorieren, wenn sie dauerhaften Charakter haben. Gab es ausgeprägte krisenhafte Zuspitzungen mit »Weglaufen« von zu Hause oder abrupte Wechsel von persönlichen Einstellungen und Verhaltensweisen? Die Einbindung in den Freundeskreis, die dort eingenommenen oder angestrebten Rollen, die Entwicklung sexueller Beziehungen sind weitere wesentliche Punkte. Hier ergeben sich freilich Überschneidungen zum  Abschn. 18.3. Zusammenfassend sollten alle Personen, Gruppen, Institutionen, Weltanschauungen und »Kulturen«, die für den Patienten in diesem prägenden Lebensabschnitt von Bedeutung waren, Gegenstand des Gesprächs sein.

18.2.6

Im Zentrum steht hier zunächst die Wahl einer bestimmten Ausbildung und eines entsprechenden Berufsziels. Wichtig ist die Frage, ob diese Entscheidungen wesentlich vom Patienten selbst getroffen wurden oder von den Eltern oder anderen Bezugspersonen. Neben dem äußeren Ausbildungsgang (Dauer, Zwischen- und Abschlussprüfungen, Finanzierung, Wohnsituation) sind die Einstellung zur gewählten Ausbildung und zum angestrebten Beruf, der Grad der Zufriedenheit und die realen und imaginierten Zukunftsperspektiven von Bedeutung. Besonders wichtig sind natürlich die äußeren und inneren Gründe für den Wechsel oder Verlust eines Arbeitsplatzes. Die konkrete Situation am Arbeitsplatz sollte durchaus im Detail erörtert werden, da dies oft wesentliche Aufschlüsse über soziale Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmale gibt, aber auch über mögliche Auslöser oder Verstärker von seelischen Störungen. Bei männlichen Patienten sollte die Wehr- oder Zivildienstpflicht angesprochen werden, weil dieser Zeitabschnitt durch einen im Leben des Betreffenden häufig erstmaligen längeren Ortsund Situationswechsel charakterisiert ist. Allein dadurch können konflikthafte seelische Momente deutlicher in Erscheinung treten oder neu entstehen.

18.2.7

18.2.5

Pubertät und Adoleszenz

Das Thema der Verselbständigung im »äußeren« Sinn (Loslösung vom Elternhaus), aber auch im »inneren« Sinn (Selbstfindung, sexuelle Identität, Vorstellungen zur Berufsausbildung, Lebensziele) steht in dieser Lebensphase im Vordergrund des Erlebens und sollte entsprechend

Ausbildung und Beruf

Beziehungsanamnese

Der Patient wird gebeten, seine typischen Erlebens- und Verhaltensmuster in zwischenmenschlichen Beziehungen zu schildern. Dabei kommt es nicht etwa nur auf »Auffälliges« oder »Krankhaftes« an, sondern auf Eigenschaften, die der Patient aus der eigenen Sicht und aus der ihm erkennbaren Perspektive Dritter als kennzeichnend für seinen Umgang mit anderen Personen erlebt.

18

414

Kapitel 18 · Biografische und Krankheitsanamnese

    

Zu fragen ist nach dem Bestehen oder Fehlen fester Freundschaften, dem Alter, den Persönlichkeitsmerkmalen und dem sozialen Status der Partner, der eigenen Position innerhalb von Zweierbeziehungen, dem Erleben in Gruppen und der Einnahme typischer Rollen, etwa derjenigen des »Anführers« oder des »Sündenbocks«.

Wenn auch jede künstliche Trennung vermieden werden sollte, so wird es doch oft sinnvoll sein, der Beziehung zu einem festen Lebenspartner einen eigenen Gesprächsabschnitt zu widmen ( Abschn. 18.3). So kann man mit gutem Grund auch mit dem sexuellen Bereich verfahren. Vor allem die in psychiatrischen Krankengeschichten nicht selten zu beobachtende dürftige bis ganz fehlende Erwähnung der Sexualität macht ein solches Vorgehen sinnvoll. Doch wird man auch hier die jeweilige Situation des Einzelfalls berücksichtigen.

18.2.8

Aktuelle Lebenssituation

Gerade am Ende der biografischen Anamnese bietet es sich an, den Patienten ausführlich über die aktuelle Lebenssituation berichten zu lassen. Dabei werden manche Aspekte des Untersuchungsgesprächs noch einmal aufgegriffen, etwa die berufliche, finanzielle und partnerschaftliche Situation, aber eben – und dies ist wichtig – unter dem Blickwinkel der aktuellen und nicht rückschauenden Bewertung, selbst wenn diese aktuelle Sicht des Patienten im Einzelfall auch stark von der vorliegenden seelischen Störung geprägt sein mag.

18.3

18

Angaben zur Sexualität und zu Lebenspartnerschaften

Sofern nicht bereits im Kontext der biografischen und Beziehungsanamnese angesprochen, wird hier auf die sexuelle Entwicklung des Patienten eingegangen. Da das Thema nicht selten als peinlich oder irritierend erlebt wird (und dies nicht nur auf Patientenseite), sind besonderer Takt, aber auch eine gewisse Nachhaltigkeit am Platz, um Verleugnungstendenzen nicht zu unterstützen. Nicht ausgespart werden sollte der Bereich der kindlichen Sexualität, etwa in bezug auf die sog. »Doktorspiele«. Besonderen Augenmerk wird man auf die Art der sexuellen Aufklärung legen und auf die Entwicklung des sexuellen Erlebens und Verhaltens während und in der Phase direkt nach der Pubertät (Masturbation, erste sexuelle Partnererfahrungen, homosexuelle Kontakte, sich abzeichnende sexuelle Identitätsstörungen bis hin zu Transvestitismus, Transsexualität und Perversionen).

Lebenspartnerschaft Wenn eine feste Lebenspartnerschaft besteht, so sollte deren Entwicklung eigens besprochen werden. Dabei kommt es auf die Qualität der Beziehung im weitesten Sinne an. Aspekte der Nähe und Distanz zwischen den Partnern, der Offenheit im Umgang, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die beim Patienten vorliegende seelische Störung, der Existenz und Relevanz weltanschaulich-religiöser Grundüberzeugungen sowie der Konfliktfähigkeit sind von zentraler Bedeutung. Gleiches gilt für den sexuellen Bereich, der in der Regel bei den gerade aufgezählten Themen bereits zur Sprache gekommen ist:  Regelmäßige sexuelle Kontakte?  Sexuelle Funktionsstörungen wie Impotenz, Anorgasmie, Vaginismus?  Gleichartige oder stark divergierende sexuelle Interessen der Partner?  Sexualpartner außerhalb der festen Beziehung?  Allgemeine Einstellung zur Sexualität? Besonderen Wert wird man auf die Frage nach einer gemeinsamen Lebensplanung legen:  Ist die Bewertung der aktuellen Lebenssituation übereinstimmend oder nicht?  Teilen beide Partner langfristige Ziele oder verfolgen sie getrennt evtl. konkurrierende Ziele?  Familienplanung?  Einstellungen zu Erziehungs- und Ausbildungsfragen hinsichtlich der Kinder?

18.4

Selbstwahrnehmung im Zeitverlauf

Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung sind Bereiche, die bei der Erhebung sowohl der Vorgeschichte als auch des psychopathologischen Befundes eine große Rolle spielen. Hier geht es um den Aspekt der zeitlichen Entwicklung der Selbstwahrnehmung im Verlauf der Biografie. Nun wirkt die Frage, wie er sich denn selbst sehe, was er für wesentliche Eigenschaften habe, auf den Patienten oft überraschend und führt nicht selten zu der Antwort, darüber könne er nichts sagen, darüber habe er noch nie so richtig nachgedacht. Dennoch sollte man das Gespräch weiter in diese Richtung treiben, da das Selbstbild ein wesentliches Moment bei der Beurteilung seelischer Störungen darstellt. Dies gilt sowohl für die Selbsteinschätzung vor Beginn der aktuellen Störung, sofern eine zeitliche Grenze zwischen gesund und krank im Einzelfall überhaupt so klar erkennbar wird, als auch für das Selbstbild während der aktuellen Krankheitsphase. Wenn es gelingt, den Patienten zu differenzierten Äußerungen zu diesem Bereich zu bewegen, so erlebt er dies oft als erleichternd und bereichernd. Außerdem ergeben sich hier gute Ansatzpunkte für therapeutische Interventionen

415 18.5 · Psychiatrische Krankheitsanamnese

und deren Evaluation im weiteren Verlauf. Das frei geschilderte Selbstbild kann durch Fragebogenerhebungen ergänzt werden, doch sollte das Vieraugengespräch nie fehlen.

18.5

Psychiatrische Krankheitsanamnese

Hier ist zu unterscheiden zwischen der aktuellen Anamnese, die auf den Zeitraum unmittelbar vor der jetzigen Behandlung abzielt, der speziellen Anamnese des vorliegenden Krankheitsbildes, die – etwa im Falle einer chronischen Psychose – lange Zeiträume umfassen kann, und der allgemeinen psychiatrischen Anamnese, die nach dem früheren Auftreten irgendwelcher seelischer Störungen fragt, die mit der aktuellen Erkrankung in Zusammenhang stehen können, aber nicht müssen.

18.5.1

Aktuelle Anamnese

Die aktuelle Anamnese ist derjenige Teil, der aus der Sicht des Patienten neben der Erhebung des Befundes der wichtigste ist. Er erfasst die unmittelbare Vorgeschichte des zur ambulanten, teilstationären oder stationären Behandlung führenden Zustands. Hier wird man fragen,  welche Beschwerden wie lange in welcher Intensität bestehen,  in welchem lebensgeschichtlichen Kontext sie aufgetreten sind und  wie der Patient sie subjektiv einschätzt hinsichtlich des Beeinträchtigungsgrades, den sie hervorrufen. ! Zu achten ist auf komplizierende Faktoren, die im Kontext ganz unterschiedlicher seelischer Störungen auftreten können, etwa Selbstbeschädigungsneigung, Missbrauch psychotroper Substanzen, suizidale Phantasien, Gedanken und Handlungen sowie delinquentes Verhalten. Dieser Bereich überlappt sich z. T. mit der Erhebung des psychopathologischen Befundes, aber auch mit anderen anamnestischen Bereichen, z. B. wenn der Beginn der Störung im zeitlichen Zusammenhang mit einem Partnerkonflikt oder mit hohem Alkoholkonsum steht. Wichtig sind Fragen nach bereits eingeleiteten Behandlungsmaßnahmen medikamentöser, psychotherapeutischer oder sozialpsychiatrischer Art und der dazu bestehenden Einstellung des Patienten (Compliance). Dies leitet über zu den ebenfalls anzusprechenden Erwartungen, die der Patient an die jetzige Therapie hat und an die Motivation, die er dafür aufbringt.

18.5.2

Spezielle Anamnese des vorliegenden Krankheitsbildes

Die spezielle Anamnese des vorliegenden Krankheitsbildes konzentriert sich auf den Langzeitverlauf dieser besonderen seelischen Störung, etwa einer bipolaren affektiven Störung, bei dem gerade untersuchten Patienten. Zu fragen ist nach früheren Erkrankungsmanifestationen (z. B. nach Anzahl, Intensität, jahreszeitlicher Häufung), nach situativen und somatischen Auslösefaktoren, nach dem Ansprechen auf die Behandlung einschließlich einer eventuellen Langzeitmedikation.

Gesamtverlauf Wichtig ist der Gesamtverlauf: Dieser kann phasenhaft sein und jeweils mit Vollremissionen einhergehen, schubförmig mit Besserungen, die den Patienten aber nicht das frühere (»prämorbide«) Funktionsniveau erreichen lassen, oder chronisch, sei es im Sinne eines zeitlich stabilen Defizits oder – im ungünstigsten Fall – einer progredienten Verschlechterung. Die Grenzen zwischen phasenhaftem, schubförmigem und primär chronischem Verlaufstyp sind allerdings in zweierlei Hinsicht unscharf: Zum einen kann der Verlaufstyp beim selben Patienten im Laufe der Jahre wechseln, etwa von einem phasenhaften zu einem schubförmigen, weitaus seltener umgekehrt, zum anderen hängen die Begriffe »Phase« und »Schub« entscheidend von der Definition von »Vollremission« ab. Voreilige Schlüsse vom Verlaufstyp auf die Diagnose müssen vermieden werden: Ein schubförmiger Verlauf ist zwar bei schizophrenen Störungen häufig, aber keineswegs zwingend; schizophrene Psychosen können voll remittieren, affektive hingegen zu bleibenden Defiziten führen und insoweit auch einen »schubweisen« Verlauf nehmen. Das subjektive Moment der Wahrnehmung der eigenen Erkrankung durch den Patienten muss besonders ernst genommen und in der Exploration entsprechend gewichtet werden, spielt es doch für den Langzeitverlauf, also auch für die Langzeitprognose, oft eine bedeutsame Rolle.

18.5.3

Allgemeine psychiatrische Anamnese

Frühere Erkrankungen und Komorbiditätsprinzip.

Schließlich ist der Patient auf das frühere Auftreten anderer seelischer Störungen als der aktuell vorliegenden anzusprechen. In den letzten Jahren ist in Forschung und Praxis auf den Aspekt der Komorbidität besonderer Wert gelegt worden. Es wird betont, welche unzulässige und für die Therapieplanung ungünstige Einengung es darstellt, etwa beim Vorliegen einer schizophrenen Psychose wichtige Bereiche wie die Persönlichkeit, die Suchtanamnese

18

416

Kapitel 18 · Biografische und Krankheitsanamnese

oder den affektiven Bereich wenig oder gar nicht zu berücksichtigen. Schichtenregel nach Jaspers. Bei einer derartigen Verkürzung, die sich tatsächlich in vielen Krankengeschichten finden lässt, mag die – dann allerdings zu eng ausgelegte – Schichtenregel von Jaspers Pate gestanden haben, wonach die »tiefste« erreichte Schicht den Ausschlag für die Diagnose gibt. Ein Beispiel: Wenn sich bei einer Persönlichkeitsstörung (Schicht 1) überraschenderweise typische produktiv-psychotische Symptome einstellten (Schicht 2), sei insgesamt eine Schizophrenie zu diagnostizieren, und wenn noch Desorientierung und Bewusstseinsstörung hinzuträten (Schicht 3), eine körperlich begründbare Psychose. Schichtenregel und Komorbiditätsprinzip. Jaspers selbst

hat auf den pragmatischen Wert, aber eben auch auf die theoretischen Schwächen dieser Schichtenregel hingewiesen. Um dringliche Therapiemaßnahmen nicht zu verschleppen, ist sie klinisch nach wie vor nützlich, etwa wenn ein Patient mit einer bereits länger bestehenden depressiven Symptomatik akut eine Bewusstseinsstörung entwickelt, woraufhin ein Hirntumor festgestellt wird (Bewusstseinsstörung als »führendes« Symptom). Sie sollte jedoch nicht als Widerspruch zum Komorbiditätsprinzip verstanden werden: Selbstverständlich können mehrere seelische Störungen aus verschiedenen »Schichten« zur gleichen Zeit oder zeitversetzt dasselbe Individuum betreffen. Diese Situation ist z. B. gegeben, wenn ein Patient mit selbstunsicherer Persönlichkeit eine paranoid-halluzinatorische Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, später eine Alkoholabhängigkeit sowie in deren Gefolge eine Korsakow-Psychose und eine Demenz entwickelt. Die Frage, ob früher ein Substanzmissbrauch oder eine Sucht vorgelegen haben, kann bereits an dieser Stelle des Untersuchungsgespräches erörtert werden.

18.6

Suchtanamnese

Stoffgebundene Süchte. Der Umgang mit suchterzeu-

18

genden Substanzen für die gesamte Lebensspanne ist zu erfragen. Bedeutsam sind die Einstellungen des Elternhauses, des Freundeskreises und späterer wesentlicher sozialer Bezugsgruppen etwa zu Alkohol, Nikotin und Drogen. Einer gerade hier oft anzutreffenden Beschönigungstendenz des Patienten sollte nicht nachgegeben werden. Vielmehr sind die Details eines missbräuchlichen oder abhängigen Verhaltens bezüglich Substanz, Menge und Häufigkeit sowie bevorzugte Situation des Konsums, Art der Beschaffung und Rückwirkungen auf das familiäre und berufliche Umfeld genau zu erörtern. Auch frühere therapeutische Maßnahmen wie Entziehung,

Entwöhnung (stationär oder ambulant, mit oder ohne medikamentöse Unterstützung) und Rückfälle (wie häufig, wie schwer, aus welchem Kontext heraus, Einstellung des Patienten zum Rückfall) müssen erfragt werden. Nichtstoffgebundene Süchte. Die im Falle der stoffgebundenen Süchte schon schwer zu ziehende Grenze zwischen »normalem« und schädlichem Gebrauch sowie zwischen Missbrauch und Abhängigkeit stellt bei den nichtstoffgebundenen Süchten ein besonderes Problem dar. Die bloße Häufung eines bestimmten Verhaltens, sei es Glücksspiel, Ladendiebstahl oder Brandstiftung, macht noch keine Sucht aus. Die Anamneseerhebung in diesem schwierigen, oft auch forensisch relevanten Bereich muss der Verknüpfung des fraglich süchtigen Verhaltens mit der Persönlichkeit, der Biografie und der aktuellen Lebenssituation besonderes Augenmerk widmen.

18.7

Familienanamnese

Hier geht es um mehr als die knappe Beantwortung der Frage, ob in der näheren und weiteren Verwandtschaft seelische Störungen aufgetreten sind oder nicht. Vielmehr sollen wesentliche psychosoziale Informationen über die Herkunftsfamilie des Patienten eingeholt werden, wobei sich Überlappungen mit der biografischen Anamnese ergeben werden. Es sollte nach der Großeltern-, Eltern- und Patientengeneration, ggf. auch nach den Nachkommen gefragt werden. In einem ersten Schritt verschafft man sich durch die Grunddaten wie Alter, Beruf, Familienstand, Wohnverhältnisse einen Überblick, um dann die Informationen über eine eventuelle familiäre Belastung mit seelischen Auffälligkeiten oder körperlichen Krankheiten besser einordnen zu können. ! Dabei interessieren nicht nur die eindeutig psychotischen Störungen, sondern gerade auch die »leichteren« seelischen Auffälligkeiten, die nicht unbedingt sofort in diagnostische Begriffe umgesetzt werden müssen. Im Zweifel sollten die Schilderungen des Patienten möglichst wortgetreu wiedergegeben werden, etwa im Falle auffälliger Persönlichkeitszüge oder eines fraglichen Substanzmissbrauchs bei einem Verwandten. Suizide, Suizidversuche und dissoziales oder delinquentes Verhalten sollten hier erörtert werden, wobei ausdrücklich auch die weitere Verwandtschaft einzubeziehen ist. Beharrliches Nachfragen kann nützlich sein, da der offene Bericht über einen seelisch kranken Verwandten für viele Patienten mit Schamgefühlen und Verunsicherung verbunden ist und daher gerne vermieden wird. Durch entsprechende Gesprächsführung sind diese negativen Af-

417 Literatur

fekte aber meist zu überwinden. Bei weitverzweigten Familien mit unterschiedlichen seelischen Störungen legt man zweckmäßigerweise einen Stammbaum an.

18.8

Somatische Krankheitsanamnese

Zu erfragen sind körperliche Erkrankungen, die im Leben des Patienten aufgetreten sind, begonnen mit den »Kinderkrankheiten« bis hin zu neueren, möglicherweise noch bestehenden und behandlungsbedürftigen Störungen. Besonderen Wert wird man zwar auf solche körperlichen Erkrankungen legen, bei denen direkte oder indirekte psychische Auswirkungen wahrscheinlich sind (z. B. Unfälle mit Schädel-Hirn-Trauma, neurologische Systemerkrankungen, chronische Herzerkrankungen), doch sollte man diese Grenze nicht zu eng ziehen. Eine Medikation, die über längere Zeit verabreicht wurde, ist ebenso zu erfassen wie die aktuell eingenommene. Nach ambulanten und stationären Behandlungen einschließlich nachfolgender Rehabilitationsmaßnahmen muss gefragt werden.

einem kritischen Punkt kann die Frage werden, ob der Patient bei der Erhebung der Fremdanamnese anwesend sein soll bzw. darf oder nicht. Hier lässt sich keine verbindliche Regel formulieren, die Entscheidung ist vom Einzelfall abhängig. Dem Patienten muss aber stets klar sein, dass seine gesundheitlichen und persönlichen Belange im Vordergrund der ärztlichen Bemühungen stehen und bei konkurrierenden Interessenslagen – drastisches Beispiel: spontane fremdanamnestische Angaben eines Arbeitgebers, der im Gegenzug Informationen über die Erkrankung und ihre Prognose erwartet – eindeutige Priorität haben. ! Jeder Eindruck, dass Dinge hinter dem Rücken des Patienten geschehen, muss sorgfältig vermieden werden. Selbstverständlich gilt die ärztliche Schweigepflicht auch gegenüber Familienangehörigen, was nicht ausschließt, dass diese nach entsprechender Information des Patienten und mit seinem Einverständnis in die Therapie mit einbezogen werden.

Fazit 18.9

Forensische Anamnese

Hier geht es zum einen um die Frage, ob es im Leben des Patienten zu Gesetzesübertretungen gekommen ist, die juristische Folgen nach sich gezogen haben, zum anderen aber auch darum, ob etwaige strafrechtlich relevante Fehlverhaltensweisen in Zusammenhang mit einer seelischen Störung standen. Man wird im Rahmen der psychiatrischen Anamneseerhebung diese dem ausführlichen Gutachten vorbehaltene Frage nicht erschöpfend erörtern können, doch sollte der Themenkreis nicht völlig ausgespart bleiben. Wie bei anderen potenziell heiklen Bereichen muss hier taktvoll und umsichtig gefragt werden, um die Auskunftsbereitschaft des Patienten nicht zu untergraben. Ein gesonderter Hinweis auf die ärztliche Schweigepflicht kann nützen, nicht zuletzt um die diesbezüglich sehr unterschiedlichen Rollen des behandelnden Arztes und des Gutachters hervorzuheben. Mit Blick auf die Sozialgerichtsbarkeit hat Zeit (1997) die Problematik der fachspezifischen Anamnese herausgearbeitet.

18.10

Fremdanamnese

Es handelt sich um Informationen über den Patienten, die nicht unmittelbar von diesem selbst stammen, sondern von seinem sozialen Umfeld im weitesten Sinne, also von Familienangehörigen, Freunden, Verwandten, Nachbarn, Berufskollegen, aber auch von früher behandelnden Ärzten oder vom akut hinzugezogenen (Not-)Arzt. Zu

Ein weiterer sensibler Punkt ist der soeben erwähnte Kontakt des behandelnden Arztes zu Arbeitskollegen bzw. zum Arbeitgeber des Patienten. Natürlich kann ein solcher Kontakt nur mit Zustimmung des Patienten erfolgen unter kritischer Abwägung von Vorteilen, etwa der Erhebung diagnostisch und therapeutisch relevanter Informationen über die Lebenssituation des Patienten, und Nachteilen, etwa der Entstehung von Vorurteilen am Arbeitsplatz bis hin zur dessen Gefährdung durch das Bekanntwerden einer psychischen Störung.

Literatur Dahmer J (2006) Anamnese und Befund: Die ärztliche Untersuchung als Grundlage klinischer Diagnostik, 10. Aufl. Thieme, Stuttgart Deegener G (1995) Anamnese und Biographie im Kindes- und Jugendalter, 2. Aufl. Hogrefe, Göttingen Dilling H (1986) Das psychiatrische Anamnesenmosaik. Nervenarzt 57: 374–377 Hersen M, Turner S M (1985) Diagnostic interviewing. Plenum, New York Kind H, Haug HJ (2002) Psychiatrische Untersuchung: Ein Leitfaden für Studierende und Ärzte in Praxis und Klinik, 6. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio Leon RL (1982) Psychiatric interviewing. Elsevier, North Holland New York MacKinnon RA, Yudofsky SC (1986) The psychiatric evaluation in clinical practice. Lippincott, Philadelphia Reiser DE, Schroder AK (1980) Patient interviewing: the human dimension. Williams & Wilkins, Baltimore

18

418

Kapitel 18 · Biografische und Krankheitsanamnese

Schmidt LR, Kessler BH (1976) Anamnese. Methodische Probleme, Erhebungsstrategien und Schemata. Beltz, Weinheim Schüffel W, Schonecke OW (1973) Die Anamneseerhebung als Gespräch. Therapiewoche 23: 2478–2484 Silberman EK, Certa K (1997) Psychiatric interview: settings and techniques. In: Tasman A, Kay J, Lieberman JA (eds) Psychiatry, vol 1. Saunders, Philadelphia London Toronto Montreal Sydney Tokio, pp 19–39 Zeit Th (1997) Psychiatrische Anamnesen im Gutachten: Konsequenzen für Gerichtsgutachten im Sozialrecht. Gentner, Stuttgart

18

19 19 Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung B. Widder

19.1

Allgemeinmedizinische Untersuchung

19.2

Neurologische Untersuchung wacher Patienten – 420 Hirnnerven – 420 Reflexe – 423 Motorik – 424 Sensibilität – 424 Bewegungskoordination – 425 Sprache – 426

19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4 19.2.5 19.2.6 19.3

19.4

Untersuchung bewusstseinsgestörter Patienten – 426

– 420

19.5

»Red flags« der neurologischen Untersuchung – 429

19.6

Bildgebende Diagnostik – 430

19.7

Elektrophysiologische Diagnostik – 431

19.8 19.8.1 19.8.2 19.8.3

Ultraschalldiagnostik – 431 Neurovaskuläre Ultraschalldiagnostik – 431 Hirnparenchymsonografie – 432 Nervensonografie – 432

19.9

Liquordiagnostik – 432

Erkennen psychogener neurologischer Ausfälle – 428

> > Der gründlichen allgemeinmedizinischen und neurologischen Untersuchung kommt auch in der Psychiatrie wesentliche Bedeutung zu. Aufgrund der engen Überschneidungen zwischen dem neurologischen und psychiatrischen Fachgebiet steht dabei die neurologische Befunderhebung im Vordergrund. Das vorliegende Kapitel enthält die für den Psychiater wichtigsten Techniken. Die allgemeinmedizinische Untersuchung wird demgegenüber nur kurz gestreift. Zu Details sei auf entsprechende Lehrbücher und Manuale verwiesen.

420

Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung

19.1

Allgemeinmedizinische Untersuchung

Zumindest im stationären, im Einzelfall jedoch auch im ambulanten Rahmen gehört zur psychiatrischen Untersuchung auch eine allgemeinmedizinische Befunderhebung. Das hierfür erforderliche »Minimalprogramm« findet sich in ⊡ Tab. 19.1. Weitere Untersuchungen erfolgen einzelfall- und symptombezogen (z. B. digitale Untersuchung des Afters und der Prostata, Beurteilung des Stütz- und Bewegungsapparates, Inspektion der Ohren).

19.2

Neurologische Untersuchung wacher Patienten

Außerhalb von Notfallsituationen, bei denen sich die neurologische Untersuchung auf die Erhebung von für die unmittelbare Versorgung wesentlichen Befunden beschränken muss ( Abschn. 19.3), empfiehlt sich ein möglichst gleichbleibender Ablauf, da der Untersucher auf diese Weise pathologische Befunde am wenigsten übersieht. Dabei kann der Untersuchungsablauf häufig da-

⊡ Tab. 19.1. »Minimalprogamm« der körperlichen Untersuchung bei psychiatrischen Patienten Untersuchung

Wesentliche Punkte der Befunderhebung

Inspektiona

 Allgemein- und Ernährungszustand einschließlich Körperpflege  Zustand der Zähne und des Zahnfleisches  Farbe, Durchblutung, Turgor und Trophik der Haut (insbesondere Hände und Füße)  Verletzungen und Narben am Stamm und den Extremitäten

Lymphknotenb

 Zervikale und axilläre Lymphknoten

Brust- und Bauchorgane

 Auskultation von Herz, Lunge und Abdomen  Tastbefund im Bereich des Abdomens und der Nierenlager (Abwehrspannung, umschriebener Druckschmerz)

Gefäßstatusc

 Auskultation der Halsgefäße  Seitenvergleichende Tastung der Radialis- und Fußpulse  Bestimmung des Blutdrucks – bei seitenunterschiedlichem Pulstastbefund beidseitig – und der Herzrate

19

a b

c

am bis auf die Unterwäsche entkleideten Patienten. wesentliche Bedeutung für systemische neoplastische und entzündliche Erkrankungen (z. B. HIV). einschließlich Anamnese vaskulärer Risikofaktoren (Nikotin, Alkohol, Diabetes mellitus, Übergewicht).

durch zeitgerecht gestaltet werden, dass Ausfälle beim kooperativen Patienten bereits durch entsprechendes Befragen ausgeschlossen werden bzw. Funktionsprüfungen zusammen erfolgen können (z. B. Zeigeversuche zusammen mit dem Romberg-Versuch).

19.2.1

Hirnnerven

Die 12 Hirnnerven geben über die Funktion des Hirnstamms sowie über die peripheren Leitungsbahnen im Bereich des Kopfes Auskunft. Ausfälle der Hirnerven III–IV deuten auf eine Schädigung im Mittelhirn, der Hirnnerven VI–VIII auf eine pontine Läsion hin. Läsionen der Hirnnerven IX–XII sind der Medulla oblongata zuzurechnen. Lediglich der N. trigeminus (N. V) ist aufgrund seines langgestreckten Verlaufs sowohl bei Schädigungen des Pons als auch der Medulla oblongata betroffen. Der Vorschlag eines diagnostischen »Minimalprogamms« zur Untersuchung der Hirnnerven findet sich in ⊡ Tab. 19.2.

Riechvermögen (N. olfactorius) Die ausführliche Prüfung des Geruchssinnes erfolgt durch seitengetrennte Darbietung aromatischer Substanzen (z. B. Kaffee, parfümierte Desinfektionsmittel). Beim wachen, kooperativen Patienten genügt im Allgemeinen die Frage nach Veränderungen in der Wahrnehmung von Umgebungsgerüchen oder von Speisen und Getränken. Wird eine Hypo- oder Anosmie angegeben, sind »Gegenprüfungen« sinnvoll:  Schleimhautreizende Substanzen (z. B. Ammoniak, Essigsäure): Sie führen auch bei vollständiger Anosmie zu einem Brennen in der Nase (Versorgung der Nasenschleimhaut über den N. trigeminus).  Prüfung des Geschmacksinns: Der Geschmackssinn mit seinen 4 Qualitäten süß, sauer, salzig und bitter wird geprüft. Das Geschmacksempfinden ist nicht dem N. olfactorius zuzuordnen, sondern dessen Bahn verläuft für die Qualitäten süß/sauer/salzig zunächst über den N. trigeminus (R. mandibularis), dann nach »Passage« über die Chorda tympani weiter über den N. facialis. Bittere Geschmacksstoffe werden im hinteren Drittel der Zunge wahrgenommen, die Weiterleitung erfolgt über den N. glossopharyngeus. Zentrale Ausfälle des Geschmackssinnes gehören zu den Raritäten. ! Die Angabe einer kombinierten Geruchs- und Geschmacksstörung (ggf. einschließlich fehlender Wahrnehmung von Trigeminusreizstoffen) ohne entsprechende strukturelle Läsionen im Schädelbereich und ohne Mitbetroffensein weiterer Hirnnerven deutet angesichts der komplexen Nervenversorgung auf eine psychogene Ursache hin.

421 19.2 · Neurologische Untersuchung wacher Patienten

⊡ Tab. 19.2. »Minimalprogramm« einer Routineuntersuchung der Hirnnerven zum Ausschluss einer Hirnnervenläsion Hirnnerv

Funktion

Technik

»Minimalprogramm«

I

Riechvermögen

Anamnese

Veränderter »Geschmack« von Speisen?

II

Sehvermögen Gesichtsfeld

Anamnese Untersuchung

Probleme beim Lesen (trotz Sehhilfe)? 4 Quadranten des Gesichtsfelds

II, III

Pupillomotorik

Untersuchung

Direkte und indirekte Lichtreaktion

III, IV, VI

Okulomotorik

Untersuchung

Augenfolgebewegungen nach allen Richtungen

V

Gesichtssensibilität

Anamnese

Taubes Gefühl im Gesicht und/oder Mund?

VII

Gesichtsmotorik

Untersuchung

Mimische Muskulatur

VIII

Hörvermögen Gleichgewicht

Anamnese Untersuchung

Schlechteres Hörvermögen, Ohrgeräusch? Stand- und Gangsicherheit

IX, X

Schlundmuskulatur

Untersuchung

Hebung des Gaumensegels

XI

Halsmuskulatur

Untersuchung

Kopfdrehung und Schulterhebung, Muskelrelief Hals-/Schultermuskulatur

XII

Zungenmuskulatur

Untersuchung

Herausstrecken der Zunge

Sehvermögen (N. opticus) Die seitengetrennte Testung des Sehvermögens kann mit entsprechenden Visustafeln, im einfachsten Fall durch Verwendung einer Zeitung mit verschiedenen Schriftgrößen erfolgen. Sehprobleme werden von Patienten jedoch auf Befragung meist auch spontan berichtet. Der ophthalmoskopischen Beurteilung des Augenhintergrunds kommt angesichts der verfügbaren Schichtbildgebung (CT, MRT) und mangels der für eine zuverlässige Beurteilung erforderlichen Übung heute nur noch untergeordnete Bedeutung zu.

Gesichtsfeld (N. opticus) Häufig spontan nicht bemerkt werden demgegenüber Gesichtsfeldausfälle. Für eine orientierende Prüfung genügt es, den Patienten zu bitten, auf die Nase des vor ihm stehenden Untersuchers zu sehen, und dann in der Mitte zwischen Patient und Untersucher die Erkennbarkeit von Fingerbewegungen in den 4 Quadranten zu erfragen. Detailliertere Prüfungen sind Aufgabe der augenärztlichen Untersuchung.

Pupillomotorik (N. opticus, N. oculomotorius) Weite und Form der Pupillen sind wichtige Beobachtungsparameter (z. B. Miosis beim Horner-Syndrom), zusätzlich gilt es die direkte und konsensuelle Reaktion auf kurzzeitige Beleuchtung der Pupille z. B. mit einer Taschenlampe zu beurteilen. Die Konvergenzreaktion wird nur bei fehlender Lichtreaktion geprüft. Primär weite Pupillen deuten auf einen hohen Sympathikotonus bzw. auf Medikamenteneffekte hin, sehr enge Pupillen finden sich bei Opiatkonsum oder beim Glaukom. Bei Vorliegen einer Anisokorie sollte zunächst durch Vergleich mit Fotografien (z. B. Passbild) beurteilt werden, ob diese schon länger besteht oder jetzt erst neu aufgetreten ist.

In hellen Räumen genügt häufig das kurzzeitige Verdecken der Augen mit der Hand bei anschließender Beobachtung der Pupillenreaktion nach Wegziehen der Hand. Bei primär bereits eng gestellten Pupillen ist die Lichtreaktion oft schwer zu beurteilen. Hier kann entweder der Raum abgedunkelt oder der Patient gebeten werden nach oben in die zu einem »Sonnendach« geformte Hand des Untersuchers zu blicken.

Okulomotorik (N. oculomotorius, N. trochlearis, N. abducens) Zwar wird das Bestehen von Doppelbildern meist bereits spontan von den betroffenen Patienten berichtet, trotzdem gehört die Beurteilung der Augenfolgebewegungen auch ohne derartige Klagen zum Standard jeder neurologischen Untersuchung, da hiermit wichtige Informationen zu erhalten sind. Hierzu gehören:  Ein disharmonischer Ablauf der Augenbewegungen (»sakkadierte Blickfolge«) ergibt Hinweise auf das Vorliegen einer zerebellären Störung.  Das Vorliegen eines – vor allem asymmetrischen – Blickrichtungsnystagmus deutet auf eine Störung des Gleichgewichtssystems hin (s. unten). Er darf nicht mit dem physiologischen, symmetrischen Endstellnystagmus bei Extremstellungen der Augenbulbi verwechselt werden.  Ein »Nachhinken« der Adduktion eines Auges bei schnellen Augenfolgebewegungen zeigt eine internukleäre Ophthalmoplegie (»INOP«) durch eine Schädigung der zwischen den verschiedenen Kernen verlaufenden Bahn (»mediales Längsbündel«) an.  Eine verminderte vertikale Augenbeweglichkeit kann auf eine supranukleäre Blickparese (Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom) hindeuten.

19

422

Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung

Gesichtssensibilität (N. trigeminus) Das Vorliegen von Gefühlsstörungen im Gesicht wird vom wachen und kooperativen Patienten auf Nachfrage stets (ausführlich) beschrieben, so dass sich eine detailliertere Untersuchung im nicht-pathologischen Fall erübrigt. Als objektiver Parameter bei geklagten Sensibilitätsstörungen dienen die seitenvergleichende Prüfung des Kornealreflexes sowie der »Festigkeit« der Kaumuskulatur beim Zusammenbeißen der Zähne, die vom N. trigeminus motorisch versorgt wird. Außerdem ist die unterschiedliche topografische Zuordnung bei zentralen und peripheren Trigeminusläsionen zu berücksichtigen (⊡ Abb. 19.1).

Gesichtsmotorik (N. facialis) Bei der Prüfung der vom N. facialis versorgten mimischen Muskulatur sind gleichermaßen – wenn auch anatomisch nicht ganz korrekt – zentrale und periphere Läsionen zu unterscheiden, bedingt durch die Tatsache, dass die zentralen Fasern zur Innervation der Stirnmuskulatur sowohl zum ipsi- als auch kontralateralen Fazialiskern ziehen. Ein Mitbetroffensein der Stirnmuskulatur sowie eine vorhandene Geschmacksstörung der ipsilateralen vorderen Zungenhälfte (sauer/süß/salzig) deuten demnach auf eine Läsion peripherer Nervenfasern im langen Verlauf des N. facialis hin. ! Von Fazialisparesen abzugrenzen sind nichtpathologische Gesichtsasymmetrien vor allem im Mundbereich, die typischerweise bei Prüfung der einzelnen mimischen Muskeln verschwinden.

Hörvermögen (N. cochlearis) Hörstörungen werden von kooperativen Patienten regelmmäßig spontan berichtet, so dass sich eine seitenvergleichende Prüfung (z. B. leichtes Fingerreiben) im Nor-

malfall erübrigt. Detailliertere Untersuchungen (Weber-, Rinne-Versuch) sind Aufgabe des HNO-Arztes.

Gleichgewicht (N. vestibularis) Zum Nachweis von Störungen des Vestibularapparates (und anderer Formen von Gleichgewichtsstörungen) dienen verschiedene Stand- und Gangprüfungen. Die wichtigsten sind:  Romberg-Versuch: Hierbei wird das sichere Stehen mit geschlossenen Augen bei eng zusammenstehenden Füßen geprüft. Verschwindet eine auftretende Schwankneigung bei Ablenkung (z. B. gleichzeitiger Finger-Nase-Versuch), ist dies als eindeutiges Zeichen einer psychogenen Gleichgewichtsstörung zu werten.  Unterberger-Versuch: Eine Drehung um mehr als 45° nach Treten auf der Stelle mit geschlossenen Augen deutet auf eine homolaterale Vestibularisstörung hin.  Seiltänzergang: Balancieren auf einem imaginären Seil (mit offenen und geschlossenen Augen) stellt bereits hohe Anforderungen an das Gleichgewicht.  Einbeinstand: Die sensibelste, vor allem für den Seitenvergleich taugliche Prüfung ist das Stehen auf einem Bein mit – nach Ausbalancieren – geschlossenen Augen. Auch Gesunde schaffen dies kaum länger als 5–10 s.

Schlundmuskulatur (N. glossopharyngeus, N. vagus) Routinemäßig beurteilt wird die symmetrische Hebung des Gaumensegels bei Phonation (Cave: Asymmetrien nach Tonsillenoperation). Die seitenvergleichende Prüfung des Würgreflexes kann, da von Patienten häufig als sehr unangenehm empfunden, auf die Fälle beschränkt werden, bei denen sich aufgrund einer heiseren oder nä-

1 2 3 19 ⊡ Abb. 19.1. Unterschiedliche Verteilung von Sensibilitätsstörungen im Gesicht bei peripheren (links) und zentralen (rechts) Trigeminusläsionen. 1 N. ophthalmicus, 2 N. maxillaris, 3 N. mandibularis

423 19.2 · Neurologische Untersuchung wacher Patienten

selnden Sprache (N. recurrens des N. vagus) bzw. berichteter Schluckstörungen klinische Anhaltspunkte für eine mögliche Störung der Schlundmotorik ergeben.

Halsmuskulatur (N. accessorius) Auch hier erscheint eine detailliertere Prüfung der Kopfwendung (M. sternocleidomastoideus) und der Schulterhebung (M. trapezius) nur erforderlich, wenn sich bei der Beobachtung der Spontanmotorik entsprechende Hinweise ergeben bzw. (asymmetrische) Atrophien der Schultergürtelmuskulatur erkennbar sind.

Zungenmuskulatur (N. hypoglossus) Isoliertes Abweichen der Zunge oder fehlendes Herausstrecken auf Aufforderung hat nicht selten eine psychogene Ursache. Bei Bestehen über mehr als einige Tage hinaus sind Störungen der Zungenmotorik daher nur dann als pathologisch zu werten, wenn sich gleichzeitig eine (einseitige) runzlige Atrophie der Zunge abgrenzen lässt.

19.2.2

Reflexe

Eine ausführliche Prüfung der Reflexe gehört zum »Standardprogramm« jeder neurologischen Untersuchung, da diese – im Vergleich zu vielen anderen Prüfungen – weitgehend von der Kooperation des Patienten unabhängig sind und daher als objektive Parameter Bedeutung besitzen. Unterschieden werden Eigen- und Fremdreflexe.

Muskeleigenreflexe Routinemäßig zu prüfen sind: Bizepssehnenreflex (BSR), Trizepssehnenreflex (TSR), Patellarsehnenreflex (PSR) und Achillessehnenreflex (ASR) (⊡ Tab. 19.5). Bei nicht auszulösenden Eigenreflexen sollte stets eine Fazilitation durch Bahnung (Jendrassik-Handgriff) versucht werden (Armeigenreflexe: Zähne zusammenbeißen; Beineigenreflexe: Auseinanderziehen der Hände). Im Einzelfall weitere wichtige Muskeleigenreflexe sind:  Radiusperiostreflex (RPR): Schlag auf das distale Drittel des Radius in Mittelstellung zwischen Pronation und Supination. Der RPR kann sehr gut im Seitenvergleich geprüft werden und gibt ggf. Hinweise auf das Vorliegen einer Radialisparese.  Trömner-Reflex: Beobachtung der Daumenbeugung nach schnellender Bewegung von volar gegen die Fingerkuppen II–V. Dieser Reflex ist nur inkonstant bei hohem Reflexniveau auslösbar, eignet sich dann jedoch hervorragend für den Seitenvergleich.  Adduktorenreflex: Adduktion der Beine bei Schlag auf die Innenseite des Kniegelenks. Ein »Übersprechen« auf die kontralaterale Seite deutet auf ein Betroffensein »langer motorischer Bahnen« (Pyramidenbahnschädigung) hin.

 Fußklonus: Hierbei handelt es sich um eine rhythmische Folge von Eigenreflexen der Wadenmuskulatur, ausgelöst durch ruckartige Dorsalbewegung des Fußes. Bei lebhaftem Reflexniveau ist die Zahl der Zuckungen bis zum Abklingen (»erschöpflicher« Fußklonus) hervorragend für den Seitenvergleich geeignet, ein »unerschöpflicher« Fußklonus ist so gut wie immer Zeichen einer Pyramidenbahnschädigung. Das wichtigste Beurteilungskriterium der Muskeleigenreflexe sind Seitenunterschiede, wobei asymmetrisch auslösbare Reflexe zunächst nichts darüber aussagen, ob diese auf einer Seite aufgrund einer peripheren Nervenläsion abgeschwächt oder auf der anderen Seite aufgrund einer Schädigung zentraler langer Bahnen (Pyramidenbahnläsion) pathologisch gesteigert sind. Einschätzungen sind daher nur im klinischen Gesamtkontext möglich. Zu beachten sind auch Unterschiede zwischen Arm- und Beineigenreflexen. Sind letztere wesentlich lebhafter auslösbar als die Reflexe an den Armen, kann dies auf eine Schädigung des thorakalen Rückenmarks hinwiesen. ! Klinische Bedeutung der Muskeleigenreflexe:  Steigerung = Zentrale Läsion (Gehirn oder Rückenmark),  Abschwächung = Periphere Läsion (Nervenwurzel oder peripherer Nerv).

Fremdreflexe Im Gegensatz zur monosynaptischen Auslösung der Muskeleigenreflexe ist der Reflexbogen hier polysynaptisch, d. h. ein taktiler Reiz führt – erschöpflich (!) – zu einer motorischen Antwort. Die wichtigsten Fremdreflexe sind:  Bauchhautreflexe: Symmetrisch in allen Etagen nicht auslösbaren Bauchhautrreflexen (Segmente Th5– Th12) kommt keine Bedeutung zu. Einseitig nicht auslösbare Bauchhautreflexe sind jedoch ein sehr sensibles Zeichen für das Vorliegen einer zentralen Schädigung. Eine geklagte Hemihypästhesie bei gut auslösbaren, symmetrischen Bauchhautreflexen deutet auf eine psychogene Störung hin.  Kremasterreflex: Beim Mann führt Bestreichen der Innenseite des Oberschenkels zur Hebung des gleichseitigen Hodens (M. cremaster).  Analreflex: Bei angegebenen Mastdarmstörungen und (artefiziell?) vermindertem Analsphinktertonus schließt ein auslösbarer Analreflex eine relevante Kaudasymptomatik aus, ist allerdings nur inkonstant auslösbar.  Babinski-Reflex: Definitionsgemäß immer pathologisch ist ein positiver Babinskireflex als Zeichen einer Pyramidenbahnschädigung. Bei fehlender Sensibilität der Fußsohle z. B. im Rahmen einer Polyneuropathie (»stumme Sohle«) kann dieser jedoch auch fehlen.

19

424

Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung

⊡ Tab. 19.3. Wichtigste Formen von Spontanbewegungen der Muskeln Begriff

Bewegungseffekt

Vorkommen

Fibrillieren

Zuckungen einzelner Muskelfasern, optisch nur an der Zunge sichtbar, ansonsten im EMG nachweisbar (»Spontanaktivität«)

Wie Faszikulieren

Faszikulieren

Sichtbare Zuckungen von wechselnden Muskelfaserbündeln (Faszikeln) ohne Bewegungseffekt

Bei Schädigung des peripheren motorischen Neurons, jedoch auch »benignes« Faszikulieren möglich

Myoklonien

Nichtrhythmische, blitzartige Kontraktionen von Muskeln mit Bewegungseffekt

Physiologisch als »Einschlafmyoklonien«, familiär, bei verschiedenen Hirnkrankheiten

Hyperkinese

Schnelle, unwillkürliche Bewegungen

Chorea, Medikamentenüberdosierung bei Parkinson, Neuroleptika

Athetose

Langsame, »wurmartige« Bewegungen

Schädigung der Basalganglien

19.2.3

Motorik

Bei der Prüfung der Motorik kommt der Beobachtung des Patienten herausragende Bedeutung zu. Die detaillierte Muskelprüfung dient oft lediglich der Quantifizierung der bereits festgestellten Befunde. Wesentliche Kriterien der Beobachtung sind:  Muskelatrophien (z. B. isolierte Atrophie eines Muskels bei peripherer Nervenläsion, Inaktivitätsatrophie einer gesamten Gliedmaße bei Schonhaltung, »Storchenbeine« bei Polyneuropathie);  Spontanbewegungen der Muskulatur: Hierbei sind die in ⊡ Tab. 19.3 genannten Formen zu unterscheiden;  Stand- und Gangbild (z. B. hinkender Gang mit steif gehaltenem Bein bei psychogener Parese, demgegenüber zirkumduzierender »Wernicke-Mann-Gang« bei spastischer Parese);  Bewegungsmuster (z. B. vermindertes Mitschwingen eines Armes beim Hemiparkinson, eng an den Körper angepresster Arm bei psychogener Parese, Vernachlässigung einer Seite bei Neglekt).

Zentrale motorische Störung

19

Zum Ausschluss bzw. zur Sicherung einer zentralen Parese gilt es vor allem komplexe muskelübergreifende Bewegungen zu untersuchen, während die detaillierte Prüfung einzelner Muskeln (⊡ Tab. 19.5) wenig Sinn macht. Die Angabe des Kraftgrades (⊡ Tab. 19.4) sollte sich demnach auch lediglich auf muskelübergreifende Funktionen beschränken (z. B. 0/5 Handfunktion). Die Untersuchung umfasst hauptsächlich folgende Punkte:  Muskeltonus: Das Vorhandensein einer vor allem bei ruckartigen passiven Bewegungen auftretendenden spastischen Tonuserhöhung weist auf eine Schädigung der Pyramidenbahn hin, während ein »wächserner« Rigor Ausdruck einer extrapyramidalen Bewegungsstörung (z. B. Parkinson, Medikamenteneffekt) ist.

⊡ Tab. 19.4. Beurteilung des Kraftgrades bei radikulären und peripheren Nervenläsionen Kraftgrad

Ergebnis

0

Fehlende Muskelkontraktion

1

Eben sichtbare Muskelanspannung

2

Bewegung bei Ausschaltung der Schwerkraft

3

Bewegung gegen Schwerkraft

4

Aktive Anspannung gegen mäßigen Widerstand

5

Normale Kraftentfaltung

 Vorhalteversuche: Eine Absinktendenz beim Armvorhalteversuch mit Pronation weist auf eine zentrale Parese hin. Fehlt die Pronation, ist an eine psychogene Parese zu denken.  Bewegungskoordination: ( Abschn. 19.2.5).

Periphere motorische Störung Radikuläre und periphere Nervenläsionen führen zu umschriebenen schlaffen Paresen einzelner Muskeln oder Muskelgruppen, der Kraftgrad der betroffenen Muskeln ist nach der international üblichen Skala (z. B. Armbeugung 3/5) zu bewerten (⊡ Tab. 19.4). Die Kennmuskeln bzw. Muskelfunktionen radikulärer und peripherer Nervenläsionen finden sich in ⊡ Tab. 19.5. Durch gezielte Selektion geeigneter Funktionsprüfungen lässt sich auf diese Weise schnell eine Untersuchung aller wichtigen Nervenwurzeln und peripheren Nerven durchführen.

19.2.4

Sensibilität

Unter klinischen Gesichtspunkten sind aufgrund der unterschiedlichen anatomischen Bahn 2 Arten der Sensibilität zu unterscheiden:

425 19.2 · Neurologische Untersuchung wacher Patienten

⊡ Tab. 19.5. Wichtigste Kennmuskeln und Reflexe zervikaler und lumbosakraler Nervenwurzeln und peripherer Nerven Zervikale Nervenwurzeln Segment

Kennfunktion

Reflex

C5

Abduktion in der Schulter

Deltoideusreflex, BSR

C6

Armbeugung im Ellbogen

BSR, RPR

C7

Armstreckung im Ellbogen

TSR

C8

Kleinfingerabduktion

Trömner-Reflex

schiedlichem Aufwand zur Verfügung (z. B. Berührungsempfindung mit einem Wattestäbchen, Lageempfindung in Gelenken, Erkennen von auf die Haut geschriebenen Zahlen, Vibrationsempfindung). Aufgrund der Möglichkeit zur Quantifizierung besitzt vor allem die Beurteilung der Vibrationsempfindung mit der skalierten Stimmgabel Bedeutung z. B. bei der Verlaufsbeobachtung diabetischer Polyneuropathien. Die Untersuchung unterliegt jedoch der Kooperation des Untersuchten, was zu berücksichtigen ist. Temperatur- und Schmerzempfindung. Temperatur- und

Periphere Armnerven Nerv

Kennfunktion

Reflex

N. axillaris

Abduktion in der Schulter

Deltoideusreflex

N. musculocutaneus

Armbeugung (supiniert)

BSR

N. medianus

Daumenopposition



N. radialis

Daumenstreckung

RPR

N. ulnaris

Kleinfingerabduktion



Lumbosakrale Nervenwurzeln Segment

Kennfunktion

Reflex

L2

Hüftbeugung

Kremasterreflex

L3

Hüftadduktion, (Kniestreckung)

PSR

L4

Fußhebung

PSR

L5

Großzehenhebung, Hüftabduktion

Tibialis-posteriorReflex

S1

Fußsenkung

ASR

S2–5

Analsphinkter

Analreflex

Schmerzempfindung mit Kreuzung zur Gegenseite bereits auf der entsprechenden Rückenmarksebene und Verlauf über die kontralateralen Tractus spinothalamici. Für eine orientierende Temperaturprüfung im Seitenvergleich bzw. zum Vergleich verschiedener Körperteile genügt die Verwendung eines hinreichend kalten Metallteils (z. B. Reflexhammer) oder einer Mineralwasserflasche. Detaillierte Prüfungen erfordern z. B. Reagenzgläser mit unterschiedlich temperiertem Wasser. Die Schmerzempfindung kann unschwer mit einer Nadel geprüft werden, wobei sich die »Spitz-stumpf-Empfindung« gleichermaßen wie das oben genannten Zahlenschreiben für eine »Forced Choice«-Untersuchung zur Erkennung psychogener Sensibilitätsstörungen eignet (s. Übersicht unter  Abschn. 19.4). Beim wachen, kooperativen Patienten kann die Untersuchung sehr reduziert durchgeführt werden, da umschriebene Sensibilitätsstörungen letztlich vom Betroffenen besser als bei jeder Untersuchung bemerkt werden. Lediglich sich langsam entwickelnde Störungen der Tiefensensiblität (z. B. bei Polyneuropathie) entgehen der Beobachtung und müssen zusätzlich erfragt werden (Unsicherheit beim Gehen im Dunkeln und/oder auf unebenem Boden). Gleiches gilt für – bei Syringomyelien häufig bereits seit Kindheit bestehenden – Störungen der Schmerz- und Temperaturempfindung, die dann meist jedoch mit Verbrennungsnarben und sonstigen Verletzungsfolgen einhergehen.

Periphere Beinnerven Nerv

Kennfunktion

Reflex

N. femoralis

Kniestreckung

PSR

N. peroneus

Fußhebung



N. tibialis

Fußsenkung

ASR

N. obturatorius

Hüftadduktion

Adduktorenreflex

Oberflächen- und Tiefensensibilität. Oberflächen- und Tiefensensibilität mit ipsilateralem Verlauf über die Hinterstänge nach kranial bis zum Hirnstamm (erst dort erfolgt die Kreuzung zur Gegenseite). Für die Prüfung steht ein beachtliches Arsenal an Möglichkeiten mit unter-

19.2.5

Bewegungskoordination

Koordination ist die Zusammenfassung von einzelnen Innervationen zu geordneten, fein dosierten oder zielgerichteten Bewegungen. Die Untersuchung umfasst im Wesentlichen folgende Elemente:  Beobachtung eines vorhandenen Tremors (⊡ Tab. 19.6);  Zeigeversuche mit Finger-Nase- und Knie-HackenVersuch. Konstantes Vorbeizeigen deutet auf eine psychogenes Geschehen hin;  Prüfung der Feinmotorik vor allem durch Beobachtung des Auf- und Zuknöpfens der Kleidung;

19

426

Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung

⊡ Tab. 19.6. Wichtigste Tremorformen

⊡ Tab. 19.7. Orientierende Einteilung von Sprach- und Sprechstörungen

Tremor

Symptomatik

Ursache Störung

Leitsymptome

Expressive Sprachstörung

Wortfindungsstörungen, Wortverwechslungen (Paraphasien), Beschränkung auf Einfachsätze (Agrammatismus), gestörter Sprachfluss

Essenzieller (familiärer) Tremor

Rezeptive Sprachstörung

Gestörtes Sprachverständnis, Entwicklung einer »Privatsprache« mit Wortneubildungen (Neologismen) bei ungestörtem Sprachfluss

Zitterbewegungen kurz vor Erreichen eines Ziels (z. B. Finger-Nase-Versuch)

Zerebelläre Schädigung

Artikulationsstörung

Verwaschene, unartikulierte Sprache bei erhaltener Wortwahl

Gemischter Tremor

Nicht an bestimmte Aktionen gebundener Tremor

Alkoholentzugstremor

Flattertremor (flapping tremor)

Langsamer (1–3/s), meist grobschlägiger Tremor (»Flügelschlagen«)

Hepatische oder urämische Enzephalopathie

Ruhetremor

Vor allem in Ruhe bestehender Antagonistentremor (»Pillendrehertremor«) mit Verstärkung bei Emotionen

ParkinsonSyndrom

Haltetremor

Zittern beim Halten von Gegenständen, jedoch auch Kopf(Halte)tremor, Besserung unter Alkohol

Intentionstremor

 Prüfung der Diadochokinese, d. h. der Fähigkeit zu rasch aufeinander folgenden Bewegungen, durch z. B. »Klavierspielen« oder »Einschrauben einer Glühbirne«;  Stand- und Gangprüfungen wurden bereits bei der Prüfung des Gleichgewichts beschrieben.

19.2.6

19

Sprache

Bei Vorliegen von Auffälligkeiten des Sprachverständnisses und/oder der Sprache gilt es, diese – soweit allein aufgrund der Exploration ohne entsprechende Sprachtests möglich – charakteristischen pathologischen Mustern zuzuordnen. Sprachstörungen (Aphasien) werden im deutschen Sprachraum üblicherweise in 4 Haupttypen (amnestische Aphasie, Broca-Aphasie, Wernicke-Aphasie, globale Aphasie) eingeteilt. Aufgrund der häufig bestehenden Überschneidungen erscheint es in der klinischen Praxis sinnvoller, lediglich die ICD-10-Unterteilung zu verwenden, die in (eher) expressive oder rezeptive Sprachstörungen unterscheidet (⊡ Tab. 19.7). Zusätzlich gilt es, Sprachstörungen von Sprechstörungen (Dysarthrie, Dysarthrophonie, Artikulationsstörung) aufgrund einer Koordinationsstörung der Sprechmuskulatur abzugrenzen. Es versteht sich von selbst, dass Mischformen jeder Art bis hin zur oben genannten »globalen« Aphasie auftreten können.

19.3

Untersuchung bewusstseinsgestörter Patienten

Bei der Untersuchung bewusstseinsgestörter Patienten mit entsprechend fehlender Kooperation sind die meisten der in  Abschn. 19.2 genannten Untersuchungstechniken nicht einsetzbar. Zusätzlich handelt es sich regelmäßig um Notfallsituationen, bei denen weniger die Vollständigkeit der Untersuchung als das schnelle Ziehen diagnostischer und/oder therapeutischer Konsequenzen im Vordergrund steht. Die Notfalluntersuchung beinhaltet daher einige wenige, für die weitere Versorgung jedoch entscheidende diagnostische Maßnahmen (⊡ Tab. 19.8). Vom Rettungsdienst gebrachte Patienten bringen regelmäßig ein Notarztprotokoll mit, auf dem neben Angaben zur kardiopulmonalen Situation beim Erstkontakt auch eine Einschätzung nach der Glasgow Coma Scale

⊡ Tab. 19.8. Notfalluntersuchung bewusstseinsgestörter Patienten Fremdanamnese

Notarzt, Notarztprotokoll, Angehörige Einnahme von Medikamenten

Beobachtung

Verletzungszeichen, Hautturgor und -farbe, kardiopulmonale Parameter, Einstichstellen, Atemgeruch

Tiefe der Bewusstseinsstörung

Reaktion auf Ansprache und Schmerzreize

Neurologische Untersuchung

Nackensteifigkeit Hirnstammfunktionen Beurteilung motorischer Funktionen Reflexstatus

Notfall-Labor

Elektrolyte, Blutzucker, Kreatinin, GPT, CK, kleines Blutbild, Gerinnung, ggf. Blutgase

19

427 19.3 · Untersuchung bewusstseinsgestörter PAtienten

vorliegt (⊡ Tab. 19.9), so dass sich hieraus erste diagnostische Schlüsse ziehen lassen. Wesentliche Bedeutung kommt auch Angaben zur Einnahme von Medikamenten aufgrund der Notarztbeobachtung bzw. der Rückfrage bei Angehörigen zu. Die körperliche Notfalluntersuchung umfasst neben einer eingehenden Inspektion eine Einschätzung der Tiefe der Bewusstseinsstörung (⊡ Tab. 19.10) sowie eine auf wenige Parameter beschränkte neurologische Untersuchung.

⊡ Tab. 19.9. Glasgow Coma Scale (GCS) zur Beurteilung bewusstseinsgestörter Patienten Untersuchungsparameter Augenöffnen

Verbale Reaktion

Motorische Reaktion

Reaktion

Punkte

Spontan

4

Nach Aufforderung

3

Auf Schmerzreize

2

Kein Augenöffnen

1

Orientiert

5

Verwirrt

4

Inadäquat

3

! Die Untersuchung auf einen bestehenden Meningismus gehört bei geklagten Kopfschmerzen und/oder bewusstseinsgetrübten Patienten zu den zwingend zu erhebenden und dokumentierenden Befunden.

2

Hirnstammfunktionen

Keine verbale Reaktion

1

Kommt Aufforderungen angemessen nach

6

Wesentliche Bedeutung kommt der Untersuchung der sog. Hirnstammreflexe zu, die unabhängig von der Kooperation des Patienten zu untersuchen sind und Aufschlüsse über die Lokalisation und Ausdehnung einer Hirnstammschädigung geben (⊡ Tab. 19.11). Neben den bereits in  Abschn. 19.1 beschriebenen Funktionen gehört hierzu auch die Prüfung des okulozephalen Reflexes. Dieser wird durch schnelles Drehen oder Kippen des Kopfes geprüft. Beim wachen, jedoch auch beim hirntoten Patienten bleiben die Augen während dieses Tests ohne Reaktion in ihrer Ausgangsstellung. Bei komatösen, nicht hirntoten Patienten kommt es demgegenüber zu einer langsamen Gegenbewegung der Augen. Hieraus resultiert der Name des »Puppenkopfphänomens«.

Nur halbseitig

5

Normale Beugung z. B. auf Schmerzreize

4

Abnorme Beugungsbewegung

3

Strecken

2

Keine Reaktion

1

(quantitativen) Bewusstseinsstörungen Begriff

Leitsymptome

Somnolenz

Schläfrigkeit, jedoch Weckbarkeit auf Anrufe und/oder leichte Schmerzreize

Sopor

Tiefschlafähnlicher Zustand, der durch erhebliche Außenreize kurz unterbrochen werden kann

Koma Grad II

Die Beurteilung eines Meningismus als Leitsymptom einer akut entzündlichen Hirnerkrankung oder einer Subarachnoidalblutung gehört zu den unverzichtbaren Bestandteilen der Untersuchung bei bewusstseinsgetrübten Patienten und/oder bei akutem Kopfschmerz, und auch das Nicht-Vorliegen eines solchen sollte aus forensischen Gründen zwingend dokumentiert werden. Differenzialdiagnostische Probleme ergeben sich in 2 Situationen: 1. Bei komatösen Patienten kann trotz Vorliegen einer meningealen Reizung die reflektorische Muskelverkrampfung nicht mehr nachweisbar sein, so dass in diesem Fall keine Aussage möglich ist. 2. Bei schmerzhafter Blockierung der Halswirbelsäule kann ein »Pseudo-Meningismus« bestehen. Die schmerzhafte Muskelanspannung zeigt sich jedoch typischerweise dann nicht nur bei der Nackenbeugung, sondern auch bei Rotation des Kopfes.

Unverständlich

⊡ Tab. 19.10. Neurologische Einschätzung der Tiefe von

Koma Grad I

Nackensteife

Auf Schmerzreize konstant gezielte Abwehrbewegungen Auf Schmerzreize konstant ungezielte Abwehrbewegungen

⊡ Tab. 19.11. Prüfung der Hirnstammreflexe bei Bewusstlosen Hirnstammreflex

Hirnnerv

Pupillenweite und -reaktion

II, III

Okulozephaler Reflex (»Puppenkopfphänomen«)

III–VIII

Kornealreflex

V, VII

Koma Grad III

Auf Schmerzreize inkonstant Bewegungen, vor allem Beuge- und Strecksynergismen

Reaktion auf Schmerzreize im Trigeminusbereich

V

Koma Grad IV

Keine Reaktion auf Schmerzreize

Trachealreflex (Würgreiz)

IX, X

428

Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung

⊡ Tab. 19.12. Synopsis der Symptomatik bei der Entwicklung von Hirnstammsyndromen Mittelhirnsyndrom 1

Bulbärhirnsyndrom 2

3

4

1

2

Komatiefe

Somnolent

Soporös

Koma

Koma

Koma

Koma

Spontanmotorik

+

(+)









Schmerzreize

+

+

Streckung

Beugung



Babinski



+

+

+

(+)



Pupillenweite

Eng

Mittelweit

Weit

Lichtreaktion

+

+

(+)

(+)





Bulbusstellung

Konvergenz

Divergenz

Divergenz

Divergenz





Bulbusbewegungen

Schwimmend











Okulozephaler Reflex



+

+







Kornealreflex

+

+

+

(+)

(+)



Trachealreflex

+

+

+

+

(+)



Atmung

Cheyne-Stokes

Schnappatmung









+ = vorhanden; (+) = eingeschränkt bzw. fraglich; – = fehlend

Beurteilung motorischer Funktionen Bei bewusstseinsgestörten, jedoch nicht tief komatösen Patienten kommt es bei Setzen von Schmerzreizen zu motorischen Reaktionen, die indirekt Aufschluss über bestehende Paresen geben. Ausnahmen sind hier die – an ihrem uniform reproduzierbaren Auftreten erkennbaren – Beuge- und Streckbewegungen der Arme und/oder Beine auf Schmerzreize (»Synergismen«), die Folge einer spinalen Enthemmung sind und typisches Merkmal tiefer Mittelhirnsyndrome sind (⊡ Tab. 19.12).

Reflexstatus Insbesondere in der Erkennung von Halbseitensymptomen kommt auch der Prüfung der Eigen- und Fremdreflexe wesentliche Bedeutung zu. Das Auftreten eines beidseitigen Babinski-Reflexes spricht beim bewusstseinsgestörten Patienten für eine generalisierte Hirnstammläsion z. B. im Rahmen einer Basilaristhrombose, beim wachen Patienten für eine Rückenmarkläsion. Ein einseitiger Babinski-Reflex lässt demgegenüber an eine umschriebene Hirnläsion denken.

Atmung

19

Selbstverständlicher Bestandteil der Untersuchung bewusstseinsgestörter Patienten ist die Beurteilung der Atmung einschließlich einer Blutgasanalyse bzw. zumindest einer Bestimmung der Sauerstoffsättigung des Bluts. Das Auftreten insuffizienter Atmungsformen (⊡ Tab. 19.12) erfordert ggf. eine kontrollierte Beatmung.

19.4

Erkennen psychogener neurologischer Ausfälle

Psychogene neurologische Symptome sind bemerkenswert häufig, und es gibt so gut wie kein neurologisches Beschwerdebild, das nicht auch psychogen verursacht sein kann. Die Differenzierung psychogener von körperlich begründbaren neurologischen Ausfällen stellt für den Untersucher stets eine erhebliche Herausforderung dar. Die Angst vor dem Übersehen einer »echten« Schädigung des zentralen oder peripheren Nervensystems führt häufig zu umfangreichen Abklärungen, die dissoziative Störungen weiter »zementieren« und eine erfolgreiche Behandlung erschweren können. Es ist daher von wesentlicher Bedeutung, die wichtigsten differenzialdiagnostischen Kriterien zu kennen, um möglichst frühzeitig eine entsprechende Verdachtsdiagnose stellen zu können. Charakteristische Befunde bei allen Formen psychogener neurologischer Ausfälle sind:  Widerspruch zwischen geltend gemachten Symptomen und objektiven Untersuchungsbefunden,  fehlende Übereinstimmung mit den bekannten anatomischen Bahnen und physiologischen Mechanismen aufgrund der laienhaften Vorstellungen des Patienten von einer körperlichen Erkrankung,  auffällige Gleichgültigkeit gegenüber der Störung im Sinne einer »belle indifférence« (allerdings nur bei einem Teil der Betroffenen). Darüber hinaus zeigt die nachfolgende Übersicht eine Synopsis der für die Differenzialdiagnose wichtigsten Befunde bei klinisch häufigen dissoziativen Symptomkonstellationen.

429 19.5 · »Red flags« der neurologischen Untersuchung

Charakteristische Befunde bei psychogenen neurologischen Symptomen  Psychogene Bewusstseinsstörungen  Normale Atmungs- und Kreislaufparameter  Regelmäßige Schluckbewegungen am Kehlkopf

 Aktiver Widerstand beim passiven Öffnen der Augenlider

 Fehlender okulozephaler Reflex (⊡ Tab. 19.11)

 Normales EEG

 Psychogene Anfälle  Regellose, ausfahrende »Krampfbewegungen«

 Keine weite lichtstarre Pupille oder Blickdeviation

 Erhaltener Kornealreflex (Blinzelreflex)  Fehlen von Blutdruckspitzen oder Zyanose  Zungenbiss sehr selten, dann jedoch eher multipel oder an der Zungenspitze

 Einnässen und Einkoten nur sehr selten  Normales EEG während und kurze Zeit nach dem Anfall

 Normaler Prolaktinspiegel im Blutserum 15–30 min nach dem Anfall

 Zeitlicher Zusammenhang zwischen den Anfällen und belastenden Situationen

 Psychogene Sehstörungen  Häufig Verlust der Sehschärfe, Abnahme der Tiefenschärfe, Verschwommen- oder »Tunnelsehen«, selten komplette Blindheit  Beim »Tunnelsehen« fehlende Gesichtsfeldzunahme bei größerer Entfernung  Häufig gute Orientierung im Raum trotz geklagter Sehstörung  Erhaltene Pupillomotorik  Erhaltener optokinetischer Nystagmus (Fixieren eines Objektes im bewegten Gesichtsfeld)  Unauffällige visuell evozierte Potenziale (ggf. Halb- und Viertelfeldreizung)  Psychogene Lähmungen  Unauffällige Muskeleigenreflexe, fehlende Pyramidenbahnzeichen  Unauffälliger Muskeltonus

19.5

»Red flags« der neurologischen Untersuchung

Neben den einzelnen Untersuchungsbefunden sollten jedem Psychiater auch die kritischen Befundkonstellationen (»red flags«) geläufig sein, die unverzüglich (!)

 Fehlen von Muskelatrophien (bei längerem Bestehen bedeutsam)

 Bei inkompletten Lähmungen sakkadierter Einsatz der Muskelkraft

 Übertrieben wirkende Kraftanstrengungen bei Muskelprüfungen

 Aufgehobene Lähmungen im Schlaf und bei Routinetätigkeiten  Nach Halten und anschließendem plötzlichen Loslassen fällt die Extremität beim liegenden Patienten nicht den Erwartungen der Schwerkraft entsprechend (z. B. auf das Gesicht) und auch nicht sofort herab  Bei Ablenkung synergistische Mitinnervation angeblich gelähmter Muskeln  Gleichzeitige Aktivierung agonistischer und antagonistischer Muskelgruppen  Unauffällige magnetisch evozierte Potenziale (beweisend)  Psychogene Sensibilitätsstörungen  Abgrenzung der Sensibilitätsstörung entspricht nicht dem Muster einer radikulären oder peripheren Nervenläsion (meist handschuh- bzw. strumpfförmig, den Begrenzungen von Kleidungsstücken entsprechend)  Bei halbseitigen Sensibilitätsstörungen strenge Mittellinienbegrenzung  Adäquates Betasten von Gegenständen trotz angegebener völliger Gefühllosigkeit  Vermehrt Fehlantworten bei schnell wechselnden »Forced-choice-Prüfungen« (z. B. regelmäßig spitz als stumpf und stumpf als »gar nichts gespürt« angegeben)  Unauffällige somatosensibel evozierte Potenziale (beweisend bei guter Reproduzierbarkeit)  Psychogene Gleichgewichtsstörungen  Häufig wild gestikulierende Ausgleichsbewegungen  So gut wie keine Stürze mit Verletzungen  Unsicherheit beim Stehen mit geschlossenen Augen verschwindet bei Ablenkung (z. B. gleichzeitig durchgeführte Zeigeversuche)

Anlass zu weiteren diagnostischen Maßnahmen und/oder zur Heranziehung eines Fachneurologen geben sollten, da in diesen Fällen durch schuldhaftes Zögern möglicherweise deletäre Folgen entstehen können. Die wichtigsten dieser Befundkonstellationen finden sich in ⊡ Tab. 19.13.

19

430

Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung

⊡ Tab. 19.13. Kritische Befundkonstellationen (»red flags«) mit der Erfordernis unverzüglicher diagnostischer und/oder therapeutischer Maßnahmen Symptomkonstellation

Verdachtsdiagnose

Mögliche Konsequenzen

Akute Bewusstseinsstörung  Mit Ateminsuffizienz

Variable Ursachen

Maschinelle Beatmung

 Mit beidseits positivem Babinski-Reflex

Basilaristhrombose

Lysetherapie

 Mit anhaltenden motorischen Entäußerungen (ggf. auch nur Nesteln oder Schmatzen)

(Komplex-fokaler) Anfallsstatus

Antiepileptika, ggf. Narkose

 Mit Meningismus

Meningitis/Subarachnoidalblutung

Antibiotikatherapie/Aneurysmaausschaltung

 Mit Krampfanfall

Sinusvenenthrombose

Antikoagulation

 Mit Entzündungszeichen und/oder Meningismus

Herpesenzephalitis

Virustatika

 Mit Störung der Okulomotorik und/oder Sehstörungen

Basilaristhrombose (Basilarisspitzensyndrom)

Lysetherapie

Akute Halbseitenlähmung

Hirninfarkt/-blutung

Lysetherapie nach Ausschluss einer Hirnblutung/operative Entlastung

Umschriebener Rückenschmerz mit erhöhtem CRP im Labor

Abszess im Bereich der Wirbelsäule

Antibiotikatherapie/operative Entlastung

Aufsteigende Beinschwäche mit Verlust der Muskeleigenreflexe

Polyradikulitis

Maschinelle Ventilation bei Ateminsuffizienz/Immunglobuline

Akute Blasen-/Mastdarmstörung

Rückenmarks-/Kaudaläsion

Operative Entlastung

Akuter Kopfschmerz

Psychotische Symptome

Sonstige Symptome

19.6

Bildgebende Diagnostik

Die Kernspintomografie (MRT) einschließlich der damit verbundenen Gefäßdiagnostik (MRA) ist heute Methode der Wahl zur Erkennung bzw. zum Ausschluss der meisten neurologischen Störungen. Die (native) Computertomografie (CT) ist dem gegenüber nurmehr bei bestimmten Indikationen sowie in Notfallsituationen von

Bedeutung (nachfolgende Übersicht). Röntgen-Kontrastmitteluntersuchungen (digitale Subtraktionsangiografie, Myelografie, Kontrastmittel-CT) spielen in der Routinediagnostik kaum mehr eine Rolle und sollten aufgrund der möglichen Gefährdung des Patienten nur nach strenger Indikationsstellung eingesetzt werden, wenn andere Methoden nicht einsetzbar sind. Zu Details  Kap. 25.

Wichtigste Indikationen zur Durchführung von CT-Untersuchungen von Kopf und Wirbelsäule  Notfalldiagnostik  Untersuchungen bei unruhigen Patienten  Beurteilung knöcherner Strukturen (z. B. Schädelknochen, kraniozervikaler Übergang, Wirbelsäule)  Generelle MRT-Kontraindikation [Herzschrittmacher, ferromagnetische Teile im Körper; nichtmagnetische Metalle (z. B. Aneurysma-Clips) stellen keine Kontra-

19

indikation dar, können jedoch aufgrund von Artefakten ggf. die Beurteilung unmöglich machen]  Beantwortung spezieller Fragen (z. B. äußere und innere Liquorräume, Atrophiezeichen)  Kontrastmitteldarstellung des Spinalraums (»MyeloCT«)

431 19.8 · Ultraschalldiagnostik

19.7

Elektrophysiologische Diagnostik

Die verschiedenen Methoden der elektrophysiologischen Diagnostisk (⊡ Tab. 19.14) ermöglichen insbesondere bei klinisch unklarer Symptomatik eine umfassende Beurteilung der Funktion des zentralen und peripheren Nervensystems. Zu Details der Elektroenzephalografie  Kap. 24.

19.8

Ultraschalldiagnostik

19.8.1

Neurovaskuläre Ultraschalldiagnostik

Die Ultraschalldiagnostik in Form der extra- und transkraniellen Duplexsonografie hat mit den heute zur Verfügung stehenden Geräten ein hohes diagnostisches Niveau erreicht. Insbesondere in Ergänzung zur Magnetresonanzangiografie (MRA) ist damit eine zuverlässige Er-

⊡ Tab. 19.14. Methoden der elektrophysiologischen Diagnostik mit ihren wichtigsten Beurteilungskriterien und Problemen Elektroenzephalografie (EEG) Ziel

Erkennung und Differenzierung zerebraler Krampfanfälle, diffuser Hirnfunktionsstörungen sowie Schlafstörungen, Einsatz in der sog. »Hirntoddiagnostik«

Technik

Ableitung der Hirnpotenziale mit Oberflächen-, im Einzelfall auch Nadelelektroden

Kriterien

Allgemeinveränderung (Verlangsamung des Grundrhythmus) Epilepsietypische Potenziale (z. B. Spike-wave-Komplexe) Herdbefund (angesichts bildgebender Befunde heute ohne Bedeutung)

Probleme

Artefakte bei unruhigen, stark schwitzenden und adipösen Patienten

Elektromyografie (EMG) Ziel

Erkennung und Differenzierung von Neuro- und Myopathien

Technik

Ableitung typischer Kennmuskeln mit Nadelelektroden

Kriterien

Willküraktivität: Polyphasische, verbreiterte Potenziale als Hinweis auf eine ältere neurogene Schädigung (hohe Amplituden) oder auch Myopathie (niedrige Amplituden) Spontanaktivität: Fibrillationen und positive scharfe Wellen als Hinweis für eine frische neurogene Schädigung

Probleme

Nach akuter Nervenschädigung EMG erst nach ca. 14 Tagen »positiv«

Elektroneurografie Ziel

Prüfung der Intaktheit der peripheren motorischen und sensiblen Nervenleitung

Technik

Elektrische Reizung von Nerven und Ableitung der motorischen bzw. sensiblen Antwort vom Muskel bzw. Nerv

Kriterien

Distale Latenz: verlängert vor allem bei distalen Engpasssyndromen (z. B. Karpaltunnelsyndrom) Nervenleitgeschwindigkeit: verlangsamt bei demyelinisierenden Nervenschäden Amplitude des Antwortpotenzials: vermindert bei axonalen Nervenschäden F-Welle: Prüfung der proximalen motorischen Strecke bis zum Rückenmark

Probleme

Selten Ableiteprobleme bei ausgeprägter Adipositas und/oder Ödemen

Visuell/akustisch/somatosensibel evozierte Potenziale (VEP, AEP, SEP) Ziel

Prüfung der Intaktheit von Nervenbahnen bis zum Kortex

Technik

Visuelle, akustische oder sensible Reizung und Ableitung kortikaler (bei SEP auch spinaler) Antwortpotenziale

Kriterien

Latenz zwischen Reiz und Antwort als Kriterium für Intaktheit der sensiblen Nervenbahn, zusätzliche Hinweise anhand der Amplituden (Normwerte, Seitenvergleich)

Probleme

Relativ störempfindlich und abhängig von der Kooperation des Patienten

Magnetisch evozierte Potenziale (MEP) Ziel

Prüfung der Intaktheit der zentralen und peripheren motorischen Bahn, nur minimal abhängig von der Kooperation des Patienten

Technik

Gezielte Magnetstimulation des Kortex bzw. spinal und Ableitung der betreffenden Muskelkontraktion

Kriterien

Latenz zwischen Reiz und Antwort sowie Amplitude als Kriterium für Intaktheit der motorischen Nervenbahn (Normwerte, Seitenvergleich)

Probleme

Nicht einsetzbar bei Herzschrittmacher und ferromagnetischen Gegenständen in der Nähe der Stimulation

19

432

Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung

kennung und Bewertung von Stenosen und Verschlüssen der extra- und intrakraniellen hirnversorgenden Arterien möglich. Die »einfache« Dopplersonografie mit der Stiftsonde besitzt demgegenüber nur noch bei einigen weni-

gen klar definierten Fragestellungen Bedeutung. Die nachfolgende Übersicht nennt die wichtigsten Indikationen zur Durchführung neurovaskulärer Ultraschalluntersuchungen.

Wichtigste Indikationen zur Ultraschalldiagnostik an den hirnversorgenden Arterien  Extrakranielle Dopplersonografie  Erkennung und Verlaufsbeobachtung hochgradiger Stenosen der extrakraniellen A. carotis  Erkennung eines Subclavian-Steal-Effekts bei größeren Blutdruckdifferenzen an den Armen  Extrakranielle Duplexsonografie  Erkennung und Abklärung therapeutischer Konsequenzen bei Karotisstenosen und -verschlüssen  Beurteilung von Durchblutungsstörungen im vertebrobasilären System  Abklärung pulsierender Halstumoren

19.8.2

Hirnparenchymsonografie

Eine relativ junge sonografische Methode, die jedoch auch für den Psychiater von Bedeutung sein könnte, stellt die Darstellung von Hirnstrukturen, insbesondere des Mittelhirns, dar. Nach aktuellem Kenntnisstand sind dabei 2 therapierelevante Aussagen möglich: 1. Beim idiopathischen Parkinson-Syndrom zeigt sich eine vermehrte Echogenität im Bereich der Substantia nigra, die sich bei anderen extrapyramidalen Erkrankungen mit Ausnahme der kortikobasalen Degeneration nicht findet. 2. Die Echogenität der Hirnstamm-Raphe scheint ein Prädiktor für den Therapieerfolg mit Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) bei depressiven Störungen zu sein.

19.8.3

19

Nervensonografie

Bislang nur relativ wenig verbreitet ist die sonografische Diagnostik von Nervenläsionen. Mit Hilfe hochfrequenter Sonden (10–13 MHz) lassen sich die wichtigsten peripheren Nerven sonografisch darstellen und in ihrem Verlauf verfolgen. Insbesondere das Karpaltunnel- und das Sulcus-ulnaris-Syndrom als häufigste Engpasssyndrome können auf diese Weise zuverlässig diagnostiziert werden, da die typische Einschnürung des Nerven und der Verlust der faszikulären Struktur bildlich darstellbar ist.

 Transkranielle Dopplersonografie (TCD)  Ausschluss intrakranieller Gefäßsstenosen  Beurteilung der zerebrovaskulären Reservekapazität bei Karotisverschlüssen

 Nachweis eines kardialen Rechts-Links-Shunts (offenes Foramen ovale)

 Erkennen und Verlaufsbeobachtung von Vasospasmen

 Erkennen des zerebralen Kreislaufstillstands

 Transkranielle Duplexsonografie – wie TCD,

zusätzlich  Erkennung und Verlaufsbeobachtung intrakranieller Gefäßverschlüsse und -stenosen  Gefäßdiagnostik beim akuten Schlaganfall

19.9

Liquordiagnostik

Die wichtigsten Indikationen zur Durchführung einer Liquordiagnostik finden sich in nachfolgender Übersicht. Voraussetzungen für die Durchführung von Liquorpunktionen sind:  Ausschluss eines wesentlichen Hirndrucks im CT oder MRT (die ophthalmoskopische Untersuchung auf das Vorliegen einer Stauungspapille ist heute als obsolet anzusehen),  Ausschluss einer relevanten Gerinnungsstörung (Thrombozyten > Psychologische Testdiagnostik hat u. a. die Erhebung von kognitiver Leistungsfähigkeit, Leistungseinbußen und Persönlichkeitsmaßen zum Ziel. Bei der neuropsychologischen Diagnostik steht die Verbindung mit Krankheitsprozessen im Mittelpunkt der Betrachtung. Sie erfasst dazu spezifische Funktionsstörungen in den Bereichen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, Aufmerksamkeit und Orientierung, Lernen und Gedächtnis, Planung, Handlungsregulation, problemlösendes Denken, Sprache, Visomotorik und Emotionsverarbeitung. Typische Indikationsbereiche sind:  Erfassung der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit, z. B. zur Abgrenzung von Minderbegabungen,  Abklärung von eignungsspezifischen Leistungsschwächen und -stärken (z. B. Beratung bei der beruflichen Integration),  Abklärung von störungsspezifischen Leistungsdefiziten (sehr häufig bei Demenzen, aber auch bei anderen psychischen Störungen),  Mithilfe bei der Diagnostik durch die Anwendung von klinischen Persönlichkeitsfragebögen,  Mehrfacherhebungen zur Messung von Verläufen.

484

22

Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik

22.1

Allgemeiner Teil

22.1.1

Einleitung

Psychologische Tests haben in der Psychiatrie eine lange Tradition, die zurückgeht bis zu den Anfängen der experimentellen Methodik in der Psychologie. Während die Väter der experimentellen Psychologie (Wilhelm Wundt in seinem 1879 in Leipzig gegründeten Institut für experimentelle Psychologie, Hermann Ebbinghaus als Schöpfer der experimentellen Gedächtnisforschung) sich eher für die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der psychischen Funktionen interessierten, begannen Mitarbeiter und Schüler schon sehr bald damit, dieselben Aufgaben und Versuchsanordnungen auch für die systematische Prüfung von Unterschieden zwischen Personen zu verwenden (s. z. B. Kraepelin 1896). Emil Kraepelin übertrug Wundts experimentell-psychologische Methodik auch auf die Untersuchung der Wirkung ZNS-aktiver Substanzen wie Tee, Kaffee und Alkohol und gilt als Begründer der modernen Pharmakopsychologie. Zur Erfassung der zentralen Wirkung von Arzneimitteln wurden dabei Aufgaben wie Lesegeschwindigkeit oder fortlaufende Additionen über 5 min, Zeitschätzung, Reaktionszeitmessungen und Erlernen von 12-stelligen Zahlenreihen eingesetzt (Debus 1992; Hoff 1992; Spiegel 1988). Ziel der testpsychologischen und neuropsychologischen Diagnostik in der Psychiatrie ist:  die Dokumentation der aktuellen kognitiven Leistungsfähigkeit eines Patienten,  die Bestimmung von Art, Ausmaß und differenzialdiagnostischer Bedeutung kognitiver Leistungseinbußen,  die testpsychologische Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen,  die Beantwortung prognostischer (z. B. eignungsdiagnostischer) Fragen bei krankheitsbedingten Leistungsdefiziten sowie  die testpsychologische Verlaufsdokumentation im Rahmen von Längsschnitterhebungen z. B. bei der Dokumentation von Therapieverläufen.

Literatur Im deutschsprachigen Raum trugen Lautenbacher u. Gauggel (2004) erstmals Beiträge aus der Neuropsychologie für die Erfassung psychischer Störungen in einem Lehrbuch zusammen. Die allgemeinen Aspekte der testpsychologischen Diagnostik lassen sich aus Standardwerken wie Amelang u. Schmidt-Atzert (2006) oder Jäger und Petermann (1999) entnehmen, den methodischen Hintergrund gibt z. B. Krauth (1995) für die klassische und Rost (2004) für die probabilistische Testtheorie. Ein nahezu vollständiges Kompendium klassischer und international bekannter neuropsychologischer Testverfahren findet sich bei Lezak, Howieson und Loring (2004). Als klinisch orientierte

Handbücher neuropsychologischer Diagnostik können Hartje u. Poeck (2002), Lehrner et al. (2006), Goldenberg (2002), von Cramon et al. (1993), Prosiegel (2002) und Vanderploeg (1999) empfohlen werden. Eine gute Übersicht über neuropsychologische und neurobiologische Grundlagen geben Devinsky u. D’Esposito (2004), D’Esposito (2003), Gazzaniga (2004), Kandel et al. (2000), Karnath und Thier (2006) und Kolb und Whishaw (2003).

22.1.2

Begriffsbestimmungen

Definition: Psychologischer Test Die wesentlichen Bestimmungselemente eines psychologischen Tests sind in der Definition von Lienert (1961, S. 7) enthalten: »Ein Test ist ein wissenschaftliches Routineverfahren zur Untersuchung eines oder mehrerer empirisch abgrenzbarer Persönlichkeitsmerkmale mit dem Ziel einer möglichst quantitativen Aussage über den relativen Grad der individuellen Merkmalsausprägung.«

Diese Definition ist einerseits breit genug, um auch projektive Verfahren (s. unten) noch einzuschließen, sie betont aber auch, dass ein Test nur empirisch abgrenzbare Merkmale möglichst quantitativ erfassen soll. Die Definition umfasst keine Instrumente, die ad hoc nach rein inhaltlichen Kriterien zusammengestellt werden. Der Begriff »wissenschaftliches Routineverfahren« bedingt, dass bei der Konstruktion eines Tests bestimmte Regeln vor dem Hintergrund der klassischen oder probabilistischen Testtheorie (s. unten) beachtet werden. Im Wesentlichen handelt es sich um folgende Schritte:  Sammlung von Fragen oder Aufgaben (Testitems) unter Beachtung inhaltlicher wie formaler Konzepte,  Vorgabe des Tests bei einer Stichprobe der Population, für die der Test Gültigkeit haben soll,  Analyse der Items nach statistischen Konzepten in Abhängigkeit von der zugrunde gelegten Testtheorie,  Auswahl der Items und Erstellung der Testendform,  Vorgabe des Tests an einer repräsentativen Stichprobe der Zielpopulation (Normierung),  Publikation des Tests und des Testhandbuchs.

Verfügbare Instrumente In der Psychiatrie dienen Testverfahren vorwiegend der Persönlichkeitsbeschreibung und der funktionalen Messung von Fähigkeiten und Defiziten des Patienten. In der Praxis besteht heute ein fließender Übergang zwischen  einfachen Prüffragen in der psychiatrischen Exploration (z. B.: Wiederholen Sie die 5 Wörter, die ich Ihnen zuvor genannt habe! Was ist der Unterschied zwischen Hecke und Zaun?), die eine ökonomische Zuordnung zu den Kategorien gesund und gestört erlauben,

485 22.1 · Allgemeiner Teil

 Bedside-Tests, die am Krankenbett durchführbar sind, wie z. B. der AABT (Aachener-Aphasie-BedsideTest) von Biniek (1993),  einfachen, bereits quantifizierenden Screening- und Schweregradsmaßen wie dem Mini-Mental State (ein 10-minütiges, international gebräuchliches Demenzscreeningmaß u. a. mit Fragen zur Orientierung und zum Benennen von Gegenständen,  Abschn. 22.2.4),  Ratingskalen und strukturierten klinischen Interviews (s. Kap. 21),  umfangreichen normierten Testverfahren wie dem Wechsler Intelligenztest für Erwachsene (WIE; Aster et al. 2006),  änderungssensitiven und isolierte kognitive Funktionen erfassenden experimentellen Verfahren und  automatischen Testvorgabe-, Auswertungs- und Interpretationssystemen mit eingebauten Datenbanken wie dem Wiener-Testsystem (Schuhfried 2006) oder dem Hogrefe-Testsystem (Hänsgen 2006). Derzeit sind in Deutschland über 750 Testverfahren und Fragebogen käuflich erhältlich [Übersicht z. B. auf der Webseite der Testzentrale (http://www.testzentrale.de/) oder über Verlagskataloge], die wichtigsten davon sind in Brickenkamps Handbuch (2002 b) ausführlich besprochen. Hinzu kommen spezifisch neuropsychologische Verfahren, wie sie häufig aus experimentellen Untersuchungen ihren Weg in die Routinediagnostik gefunden haben und über die man zusammenfassend am besten aus Lehr- und Handbüchern informiert wird (Mitrushina et al. 2005, Spreen u. Strauß 1998, Strauß et al. 2006, Lezak et al. 2004). Bedenkt man, dass das Erstellen eines qualitativ hochwertigen Testverfahrens jahrelange Entwicklungsarbeit erfordert, wird deutlich, welchen Wert die heute für die unterschiedlichsten Fragestellungen vorliegenden Testverfahren darstellen.

Skalenniveau und Normierung Testergebnisse von psychologischen Tests werden nur selten in absoluten Zahlen (z. B. Anzahl gelöster Aufga-

⊡ Abb. 22.1. Normalverteilung und zugeordnete Standardskalen

ben, Fehlerhäufigkeit, kurz: Rohwerte) mitgeteilt, sondern meist in statistische Maßzahlen (Standardwerte) umgerechnet, die die Stellung des Probanden im Vergleich mit der oder den Normstichproben angeben. Die dafür verwendeten Skalen sind alle der Normalverteilung (Gauß-Glockenkurve, ⊡ Abb. 22.1) entlehnt, da komplexe Persönlichkeitsmerkmale in der Bevölkerung normalverteilt sind. Psychologische Testergebnisse in Form von Standardwerten lassen sich deshalb auch direkt in sog. Prozentränge umrechnen, die die Stellung eines Probanden im Vergleich mit der Norm in Prozent angeben. ⊡ Abb. 22.1 zeigt die gebräuchlichsten Messskalen für psychologische Tests und ihre Beziehungen zur Normalverteilung. Absolute Messwerte vs. statistische Maßzahlen. Dem

Vorteil der unmittelbaren Interpretierbarkeit standardisierter Testwerte steht die Aufgabe der absoluten Messskala als Nachteil gegenüber. Bei psychologischen Tests bedeuten absolute Messwerte nicht viel, schon gar nicht im Vergleich zwischen verschiedenen Tests. In den Naturwissenschaften ist das anders: hier liegen die primären Messwerte meistens – wenn auch keineswegs immer, siehe z. B. die semiquantitativen Ergebnisse einiger bildgebender Verfahren – als physikalische Maßeinheiten vor, die sich als sog. Verhältnisskalen miteinander mathematisch verrechnen und in Beziehung setzen lassen (etwa ml/kg). Die Aufgabe dieser Eigenschaft wäre ein erheblicher Nachteil. Laborwerte werden deshalb meist in Form von Rohwerten mitgeteilt, für deren medizinische Interpretation man auf Referenztabellen zurückgreifen muss. Vergleichbarkeit von Tests. Ein Hauptproblem standardi-

sierter Testwerte ist die oft mangelhafte Vergleichbarkeit von Tests, die auf der Grundlage unterschiedlicher Normstichproben standardisiert wurden. Einem IQ von 100 im Test A muss keineswegs ein IQ von 100 in einem inhaltlich vergleichbaren Test B entsprechen, obwohl gerade das durch die Normierung beabsichtigt ist. Stichproben-

22

486

22

Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik

verzerrungen, Merkmalsänderungen über die Zeit (und dementsprechend unterschiedliche Standardwerte bei älteren im Vergleich zu neueren Standardisierungen) und Zufallseffekte bei kleinen Normierungsstichproben spielen hier eine relativ große Rolle. Im Abschnitt über die Intelligenzmessung wird dies an einem Beispiel näher erläutert.

Gütekriterien Zu den primären Gütekriterien eines Tests zählen:  die Objektivität,  die Zuverlässigkeit (Reliabilität) und  die Gültigkeit (Validität). ! Für jedes der 3 Kriterien sind Verfahren festgelegt, mit deren Hilfe sich ein oder mehrere Kennwerte gewinnen lassen. Im Fall der Objektivität und – mit Einschränkungen – der Reliabilität sind diese ohne theoretischen Hintergrund verständlich und nachvollziehbar. Koeffizienten für die Validität lassen sich dagegen oft nur im Rahmen der zugrundeliegenden Testtheorie interpretieren. Objektivität. Ein Test ist objektiv, wenn er von der Person des Untersuchers und/oder Auswerters unabhängig ist. Das Ausmaß der Übereinstimmung verschiedener Untersucher oder Auswerter lässt sich mit einem Korrelationskoeffizienten quantitativ angeben und sollte über 0,90 liegen. Reliabilität. Zu den Kennwerten der Zuverlässigkeit zählen:  Testhomogenität oder interne Konsistenz: Messen die einzelnen Aufgaben eines Test (oder Subtests, falls es sich um eine Testbatterie handelt) ein ähnliches Konzept, konkret: Korrelieren sie hoch miteinander?  (Zeitliche) Stabilität oder Wiederholungsreliabilität: Die meisten psychologischen Tests messen Merkmale, die per definitionem mehr oder weniger zeitstabil sein sollen. Deshalb erwartet man bei wiederholter Testdarbietung einen ähnlichen Messwert. Die Korrelation zwischen erster und zweiter Testdarbietung ergibt den Kennwert der Stabilität. Es ist klar, dass dieser Kennwert nicht nur von der instrumentellen Güte des Messinstruments, sondern auch von der zeitlichen Stabilität des gemessenen Merkmals abhängt.  Paralleltestreliabilität: Viele Leistungstests lassen sich in kurzem Zeitabstand nicht gut wiederholen, weil die Aufgaben leichter durchzuführen sind, wenn sie schon einmal bearbeitet oder sogar gelöst wurden. Manchmal werden deshalb bereits bei der Testkonstruktion 2 oder mehr Parallelversionen eines Tests erstellt, deren Korrelation miteinander bei zeitnaher Vorgabe ein Maß für die Güte der Instrumente ist.

Validität. Zu den Kennwerten der Validität zählen:  Externe Validität: Im Allgemeinen versteht man hier-

unter die Korrelation des Tests mit einem externen Kriterium, das der Test schätzen soll. Dies kann schon gleichzeitig vorliegen (konkurrente Validität, dabei hat der Test den Charakter einer Leistungsprobe oder Prüfung) oder erst in der Zukunft erhebbar sein (prädiktive Validität, z. B. Eignungstest).  Interne Validität oder Konstruktvalidität: Hierunter versteht man die Gültigkeit eines Tests vor dem Hintergrund einer Theorie. In der Praxis kommen Schätzwerte für die interne Validität aus Korrelationen mit anderen Tests, aus Ergebnissen von Faktoren- oder Pfadanalysen sowie aus experimentellen Untersuchungen.

Sekundäre Gütemerkmale Daneben gibt es noch sekundäre Gütemerkmale, die nicht so spezifisch für psychologische Tests sind, sondern mehr oder weniger für alle diagnostischen Verfahren gelten: Adäquatheit der Normierung, Bandbreite, Ökonomie, Relevanz, Zumutbarkeit, Verfälschbarkeit und andere. Die bei diagnostischen Maßnahmen zur Trennung eines dichotomen Kriteriums wichtigen Gütekriterien der  Sensitivität (Verhältnis der durch den Test als krank identifizierten Personen zu allen tatsächlich Kranken) und  Spezifität (Verhältnis der im Test als gesund Identifizierten zu allen tatsächlich Gesunden) spielen bei psychologischen Tests eher eine untergeordnete Rolle, da von ihnen meist quantitative Vorhersagen und keine Ja-/Nein-Entscheidungen verlangt werden.

22.1.3

Konzepte

Testtheorie Klassische Testtheorie. Die sog. klassische Testtheorie,

nach der die Mehrzahl der derzeit erhältlichen Tests konstruiert ist, ist im Wesentlichen eine Fehlertheorie, die Annahmen über Art und Verteilung auftretender Messfehler macht. Vor ihrem Hintergrund lassen sich Aussagen über Homogenität, Reliabilität, Validität sowie den Standardmessfehler eines Tests (= Vertrauensbereich einer Messung unter Berücksichtigung der Reliabilität) machen. Die klassische Testtheorie bietet keine Beurteilungsgrundlage für die Güte und Adäquatheit der Messskalen selbst. Latent Trait Theory. Dies wird erst durch neuere Modelle

nach der Latent Trait Theory gewährleistet, deren Anspruch darin liegt, auch Aussagen über die der Messung zugrunde liegende Skala zu geben. Beispiele für solche Modelle sind das in Europa (zumindest in der Theorie)

487 22.1 · Allgemeiner Teil

recht populäre Modell von Rasch (1960) und die auf Lord (1950) zurückgehende Item Response Theory. Bisher wurden in der klinischen Psychodiagnostik nur wenige Tests nach diesen Modellen konstruiert; allerdings ist ihre potenzielle Bedeutung groß, v. a. bei computerunterstützten Tests, bei denen die Itemauswahl vom Leistungsniveau des jeweiligen Probanden abhängt (computerunterstützte adaptive Tests, s. z. B. Wainer 2000).

Fähigkeitskonzepte vs. neuropsychologisch orientierte Defizitmessung Für die Kategorisierung kognitiver Leistungen gibt es 2 theoretische Wurzeln, die lange wenig miteinander zu tun hatten: 1. die differenzielle Psychologie kognitiver Leistungen und 2. die Neuropsychologie kognitiver Leistungen. Während die differenzielle Psychologie (Amelang u. Bartussek 2001) bestrebt ist, die kognitiven Leistungen gesunder Probanden möglichst genau zu messen und mit Hilfe von statistischen Verfahren (zum Beispiel der Faktorenanalyse) inhaltlich zu kategorisieren, liegt der Hauptaspekt der neuropsychologischen Forschung auf einer Kategorisierung, die den Bezug zu anatomischen und/oder funktionalen zentralnervösen Strukturen erleichtert (Lezak et al. 2004). Beide Begriffssysteme lassen sich nur ungenügend aufeinander abbilden. Obwohl weitgehend identische Aufgaben vorgegeben werden, werden die gemessenen Leistungen unterschiedlichen Prozessen zugeschrieben, was in der Praxis z. B. dazu führen kann, dass ein und dieselbe Reaktionszeitaufgabe für den einen nur Aufmerksamkeit, für den anderen motorische Geschwindigkeit und für einen dritten »mental speed« als eine basale biologische Intelligenzkomponente (Vernon 1987) misst. Die psychologische Leistungsdiagnostik in der Psychiatrie muss versuchen, beiden Begriffssystemen gerecht zu werden, da innerhalb beider sinnvolle Fragestellungen formuliert werden können und demzufolge auch beantwortet werden müssen. Aufgrund der Erkenntnisse aus struktureller und funktioneller Bildgebung wird zunehmend die Berücksichtigung beider Sichtweisen unerlässlich. An einem Beispiel lässt sich dies leicht verdeutlichen: Bei einem Berufsunfähigkeitsgutachten über einen Patienten mit einer psychischen Störung muss der Gutachter zweierlei leisten – zum einen muss er die aktuellen Fähigkeiten des Patienten testen und im Hinblick auf die Erfordernisse seines Berufs bewerten. Dazu ist eine Diagnostik der Fähigkeitsstruktur notwendig. Zum anderen muss er aber auch einen Blick dafür haben, ob die eventuell gemessenen Defizite neuropsychologisch gesehen mit der vorliegenden Störung vereinbar sind.

Altersbedingte Veränderungen kognitiver Leistungen Es ist eine aufgrund von Alltagserfahrung und klinischer Beobachtung bekannte Tatsache, dass es Fähigkeiten gibt, die empfindlich auf Faktoren wie Alter, Krankheit, ZNSaktive Substanzen, Schlafentzug, Doppelbelastung oder Übung reagieren, während andere Fähigkeiten weitgehend stabil gegenüber diesen Einflüssen sind. Insbesondere die umfangreichen Ergebnisse zum Verlauf einzelner kognitiver Fähigkeiten über die Lebensspanne aus Querschnitt- und Längsschnittstudien bei Gesunden sind ein Anhaltspunkt zur Beurteilung der Änderungssensitivität spezifischer Fähigkeiten. ⊡ Abb. 22.2 zeigt exemplarisch wie in einer nach Alter und Intelligenz stratifizierten Gruppe Gesunder Wortschatz und Allgemeinbildung bis ins hohe Alter stabil bleiben, während Motorik, Gedächtnis und Konzeptbildung mit zunehmendem Lebensalter einem Abfall unterliegen. Cattell (1971) hat in seinem faktorenanalytischen Modell dafür die Begriffe »kristallisierte« (abbaustabile) und »fluide« (abbauanfällige) Komponente der Intelligenz eingeführt. Bereits früh wurde auf die Ähnlichkeit zwischen Verfahren, die besonders empfindlich für solche altersbezogenen Veränderungen sind und solchen, die sensitiv für organische Hirnschäden in einer gemischten neuropsychiatrischen Gruppe mit Hirnläsionen verschiedener Lokalisation und Ausmaß sind, hingewiesen (Salthouse 1991, S. 11ff.).  Als eher resistent gelten: sprachliche und bildungsabhängige Fähigkeiten, gut bekannte, überlernte und häufig praktizierte Tätigkeiten, Spezialisierungen, früher erworbene Erfahrungen und Metawissen.  Als alters- und abbausensitiv gelten: episodisches Gedächtnis, Psychomotorik, geschwindigkeitsbetonte und perzeptuell-konstruktive Fertigkeiten, Konzentration, problemlösendes Denken bei neuartigen Anforderungen, Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und die rasche Verarbeitung zahlreicher komplexer Informationen. Aus qualitativ hochwertigen Einzelitemantworten, aus der höchsten Leistung in abbaustabilen Tests oder aus der Kombination mehrerer abbaustabiler Tests lassen sich deshalb bei krankheits- oder altersbedingten Veränderungen oft Rückschlüsse auf das prämorbide Leistungsniveau ziehen.

Interpretation von Abbaumaßen Bei der Interpretation derartiger Abbaumaße sind jedoch einige Einschränkungen im Einzelfall zu beachten: Lokalisierte und schwere Hirnschäden vs. diffuse Schäden und Netzwerkstörungen. Alterssensitive Verfahren,

deren Rationale auf der Messung einer globalen Leistungseinbuße im Sinne einer Voralterung des Gehirns

22

488

Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik

1,5 1,0 Zunahme ,5 Leistungsänderung

22

0,0 MehrfachwahlWortschatz-Test

-,5 -1,0

Allgemeines Wissen

-1,5

Halstead Category Test

-2,0

Freie Wiedergabe von 25 Wörtern

-2,5

Mosaik-Test

-3,0 Abnahme -3,5 18-29

Zahlen-Symbol-Test 30-39

40-49

50-59

60-69

70-85

Altersgruppen ⊡ Abb. 22.2. Psychologische Testverfahren mit typischen Verläufen über die Altersspanne von 18–85 Jahren (Leistungsänderung in z-Werten)

beruhen, sind bestenfalls zum Nachweis diffuser Hirnschädigungen geeignet; die Auswirkungen lokalisierter Hirnschäden sind mit ihnen nicht zu erfassen. Ferner gibt es Einbußen wie z. B. Aphasien oder Orientierungsstörungen, die spezifisch für schwere Hirnschäden sind und bei Gesunden auch im hohen Alter nicht auftreten. Künstliche Erhöhung und Erniedrigung. Sowohl abbau-

stabile als auch abbausensitive Fähigkeiten können künstlich oder berufsbedingt erhöht oder erniedrigt sein und daher nur bedingt als Maß der prämorbiden Leistungsfähigkeit oder als Indikator für eine kognitive Einbuße geeignet sein. Prämorbid niedriges Leistungsniveau. Bei Patienten mit

bereits prämorbid sehr niedrigem Leistungsniveau ist ein Leistungsabfall generell nur schwer nachzuweisen. Prämorbid hohe fluide Fähigkeiten. Bei Patienten mit

prämorbid durchschnittlichen sprachlichen, aber überdurchschnittlichen geschwindigkeitsabhängigen (»fluiden«) Fähigkeiten, die durch eine Hirnschädigung in den fluiden Leistungen auf ein durchschnittliches Niveau absinken, hat man mit diesem Ansatz kaum eine Möglichkeit, den Abfall nachzuweisen.

22.1.4

Indikationen

Typische Fragestellungen für psychologische Testverfahren in der Psychiatrie sind:  kognitive Leistungsfähigkeit allgemein,  Berentung, Schulprobleme allgemein,

 Leistungsfähigkeit bei Leistungsversagen im Rahmen einer psychischen Erkrankung,  inhibitorische und disinhibitorische Symptome (Herrmann et al. 1999),  soziale Kompetenz und Entwicklungsstand/-störung,  Persönlichkeit allgemein,  Mithilfe bei der Differenzialdiagnose,  Therapiekontrolle, Verlaufsmessung. Einen großen Bereich bilden Fragen nach der kognitiven Leistungsfähigkeit, sei es als globale Fragestellung im Sinne einer Messung von Intelligenz, Anpassung (v. a. bei Kindern) oder Kompetenz (v. a. bei dementen Patienten) oder sei es als spezifische Frage nach Einbußen in der Leistungsfähigkeit. Einen weiteren Bereich bilden diejenigen Fragestellungen, bei denen die diagnostische Abklärung mehr im Vordergrund steht. Die früher häufig zu findenden Fragen nach der Abgrenzung von Neurose und Psychose sind selten geworden, nicht zuletzt durch die stärkere Operationalisierung der psychiatrischen Diagnostik durch ICD10 und DSM-IV. Vermehrt haben sich hingegen Fragen an den neuropsychologischen Spezialisten um Mithilfe bei der Aufklärung von Zusammenhängen zwischen organischen Beeinträchtigungen und gestörtem Leistungsverhalten. Dabei liefern psychologische Tests stets adjunktive Daten, die einer klinischen Gewichtung bedürfen. Sie sind ein gutes quantitatives Hilfsmittel z. B. für die Erstellung einer Diagnose, die Bestimmung des Schweregrades einer Beeinträchtigung, die Evaluation von Therapien, die Bestimmung von Ein- und Ausschlusskriterien für eine Spe-

489 22.1 · Allgemeiner Teil

zialuntersuchung oder die Charakterisierung von Patientengruppen im Rahmen von wissenschaftlichen Untersuchungen. Oft unverzichtbare Informationsquellen zur Abklärung der ICD-10-Diagnosen »organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen, psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« und »Intelligenzminderung« sind psychologische Leistungstests. Zur Abklärung von »Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen« sind Persönlichkeitsfragebogen geeignet.

und Auswertung begegnet werden. Gerade im psychiatrisch-neurologischen Bereich ist eine extrem starre, am Wortlaut des Testhandbuchs haftende Testvorgabe oft weder sinnvoll noch zu realisieren, wenn das Leistungsoptimum eines Patienten erfasst werden soll. Vanderploeg (ebd., S. 19 ff.) weist darauf hin, dass hier Standardisierung weniger das immer gleiche Testleiterverhalten bedeutet, sondern eher das gleiche Verstehen der Aufgabe auf Seiten des Patienten beinhaltet. Verfälschen der Testleistung. Ein gewisses Problem ergibt

22.1.5

Praxis

Die Organisation der Testdiagnostik obliegt i. Allg. einem hinreichend ausgebildeten und diagnostisch erfahrenen Psychologen, die/der die Testauswahl (sowohl allgemein als auch jeweils für den Einzelfall) vornimmt. Unter ihrer/ seiner Anleitung führen psychologisch-technische Assistenten die Tests durch und nehmen die Auswertung vor. Den Psychologen obliegt wiederum die Abfassung des Befundberichts, der neben den Testwerten selbst auch die Beantwortung der diagnostischen Fragestellung enthält. Rahmenbedingungen. Für die Durchführung der Unter-

suchung sind bestimmte Rahmenbedingungen notwendig. Wichtig sind ein ruhiger Raum, in dem sich nur Proband und Testleiter aufhalten sowie eine ausreichende Wahrnehmung (Brille, Hörgerät) auf Seiten der Probanden. Den Testleitern obliegt die Herstellung einer vertrauensvollen Arbeitsatmosphäre, nachdem am besten schon der Überweisende dem Patienten Art und Notwendigkeit der Untersuchung dargelegt hat.

Störeinflüsse Die Aussagekraft psychologischer Testergebnisse kann durch eine Reihe von Störeinflüssen eingeschränkt sein (s. a. Übersicht bei Vanderploeg 1994 a). Unsicherheit und reduziertes Leistungsvermögen des Patienten, Verständnisprobleme, Verfälschungstendenzen oder der Einfluss von Psychopharmaka sind mögliche Störeinflüsse auf Seiten des Patienten. Untersucher können Fehler machen durch eine falsche Selektion von Testinstrumenten (zu schwer, zu leicht) oder Verfahrensfehler bei der Testvorgabe oder Auswertung. Auch schlecht standardisierte Umgebungsbedingungen können Testergebnisse verändern. Testleiterverfahren. Einschränkungen der Durchfüh-

rungs- oder Auswertungsobjektivität wie dem »examiner drift«, einem vom Testleiter selbst nicht wahrgenommenen Abweichen von den Durchführungsvorschriften des Testmanuals bei langjähriger Testanwendung (Vanderploeg 1994 a), kann u. a. durch regelmäßige gegenseitige Qualitätskontrollen oder PC-gestützte Testvorgabe

sich daraus, dass einerseits Patienten und Allgemeinheit ein Recht zu umfassender Aufklärung über Art und Aussagekraft von psychologischen Testverfahren haben, andererseits Testverfahren jedoch andere Fähigkeiten messen, wenn die Lösungsstrategie teilweise bekannt oder der Lösungsweg beispielsweise über Zeitungsartikel oder »Testknacker« überlernt ist. Generell müssen Patienten zu Beginn der Testuntersuchung nach Testvorerfahrungen befragt werden. Ein weiteres Problem stellen unbewusste oder auch bewusste Verfälschungen von Testleistungen im Sinne einer Leistungsverschlechterung durch die Patienten dar, vor allem in Gutachtensituationen (Lezak 1995, S. 330 ff.):  Bei der Aggravation handelt es sich um eine bewusste und willentliche Übertreibung von (z. B. subjektiv empfundenen) Defiziten;  Bei der Simulation handelt es sich um eine ebenfalls bewusste und willentliche Vortäuschung von Defiziten mit der Absicht, einen erkennbaren Vorteil zu erlangen;  Die selbstmanipulierte Krankheit, z. B. MünchhausenSyndrom, unterliegt zwar anteilig einer willentlichen Kontrolle, doch kann der Betroffene sich ihrer nicht erwehren. Diese Patienten verfolgen Ziele, denen sie »unfreiwillig« unterworfen sind, die ihnen letztlich nicht bewusst sind. Es existieren eine Reihe von Strategien und Verfahren zur Erhärtung des Verdachts auf eine willentliche Verfälschung der Testergebnisse. Anhand großer Vergleichszahlen lassen sich zum Beispiel Konsistenzprüfungen von Testkonfigurationen durchführen. In den letzten Jahren sind eine Reihe von Verfahren konstruiert worden, die unter der Bezeichnung »Symptom Validity Tests« zusammengefasst werden. Beispiele dafür sind der »Test of Memory Malingering« (TOMM; Tombaugh 1996) oder der Word Memory Test (WMT; Green et al. 2005). Häufig benutzt wird auch der 15-Items-Memorization-Test von Rey (Cimino 1994; Heubrock 1995). In Deutschland haben Heubrock u. Petermann mit der »Testbatterie zur Forensischen Neuropsychologie« eine ganze Sammlung einschlägiger Verfahren vorgelegt (2000).

22

490

22

Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik

22.2

Funktionsbereiche und Verfahren

22.2.1

Globale kognitive Leistung und Intelligenz

Die kognitive Leistungsfähigkeit psychiatrischer Patienten ist häufig allgemein beeinträchtigt. Hierfür kommen zahlreiche verursachende Faktoren wie die psychiatrische Grunderkrankung, allgemeine körperliche Begleiterkrankungen, vordiagnostizierte oder noch nicht bekannte Hirnschäden, Entwicklungsstörungen, Hospitalisierung und sozialer Rückzug, emotionale und motivationale Störungen, medikamentöse Nebenwirkungen und Intoxikationen in Betracht.

prämorbiden Leistungsfähigkeit mittels auf demografischen Daten basierenden Formeln in einem beträchtlichen Anteil der Einzelfälle insbesondere in Extrembereichen der Leistungsfähigkeit zu Werten, die zu tatsächlich gemessenen Leistungsergebnissen deutlich diskrepant sind (Vanderploeg 1994 b, S.56). Abbaustabile Testergebnisse. Ein früheres Leistungs-

niveau lässt sich aus einer gegenwärtigen Testuntersuchung extrapolieren, wenn man selektiv nur die weitgehend abbaustabilen Testergebnisse betrachtet. Eine Integration dieser Daten mit vorliegenden anamnestischen Informationen dürfte in der Praxis der am häufigsten beschrittene Weg sein.

Wechsler Intelligenztests Querschnittmessung vs. Defizitmessung Will man wissen, um wie viel sich die kognitive Leistungsfähigkeit vermindert hat, muss man streng genommen eine Differenz aus 2 Messungen bilden: eine Messung der kognitiven Leistungsfähigkeit vor und eine Messung nach der Erkrankung. Nur in Ausnahmefällen wird ein solcher direkter Leistungsvergleich möglich sein, etwa wenn frühere bei Schulberatung, Bundeswehr, TÜV oder Arbeitsamt erhobene normierte Leistungsmaße verfügbar sind. Denkbar ist auch der Fall einer echten Messwiederholung mit demselben Testverfahren, wenn beispielsweise ein älterer Patient mit einer depressiven Episode einige Jahre später mit der Frage nach einer beginnenden Demenz erneut testpsychologisch untersucht wird oder Vorbefunde im Rahmen von testpsychologischen Gutachten vorliegen.

Schätzung des früheren Leistungsniveaus In den meisten Fällen werden testpsychologische Vorbefunde jedoch fehlen, und das frühere Leistungsniveau muss geschätzt werden. Als Referenz für das geschätzte frühere Leistungsniveau wurden im Wesentlichen 3 Vorgehensweisen vorgeschlagen, die in der Praxis sinnvollerweise kombiniert eingesetzt werden: Werdegang des Patienten. Schulischer und beruflicher

Werdegang, besondere Einzelqualifikationen, Hinweise auf frühere handwerkliche, organisatorische, grafische, planerische Fertigkeiten, Hinweise auf Belastbarkeit, Eigen- und Fremdanamnese sowie Zeugnisauskünfte und Beurteilungen durch Vorgesetzte oder Verwandte stellen zentrale Informationsquellen dar. Demografische Daten. Mittels regressionsanalytisch ge-

wonnener Formeln, in die krankheitsunabhängige demografische Faktoren wie Alter, Geschlecht, Händigkeit, Bildung, Beruf, geographische Herkunft und einzelne Testleistungen eingehen können, lassen sich prämorbide Fähigkeiten schätzen. Allerdings führt die Schätzung der

Die Intelligenztests von David Wechsler sind seit rund 50 Jahren die im klinischen Bereich international am weitesten verbreiteten Tests. Es gibt Versionen für Erwachsene, Schulkinder und Vorschulkinder. Der aktuelle deutsche Test für Erwachsene ist der »Wechsler Intelligenztest für Erwachsene« (WIE – Aster et al. 2006), der auf der »Wechsler Adult Intelligence Scale – III« basiert (WAISIII – Wechsler 1997 a). Der WIE löst den »HamburgWechsler Intelligenztest für Erwachsene – Revision« (HAWIE-R – Tewes 1991) ab. Alle Tests von Wechsler basieren bislang auf einem eher globalen Intelligenzbegriff, der lediglich bestimmte Facetten (Verbalintelligenz, Handlungsintelligenz) aufweist, die durch mehrere Untertests gemessen werden. Auch die Untertests sind nicht so konstruiert, dass sie Primärfunktionen erfassen (seien diese nach kognitionspsychologischen oder nach neuropsychologischen Modellen konzipiert). Die Zusammenstellung der Subtests geschah aufgrund historischer Vorbilder nach dem Prinzip, dass sie einerseits unterschiedliche Inhalte erfassen, gleichzeitig aber möglichst hoch mit dem Gesamt-IQ korrelieren sollen. In dieser Hinsicht entsprechen die Verfahren Wechslers also nicht mehr den modernen Ansprüchen einer kognitionswissenschaftlichen (Amelang 1995; Jäger 1984) oder neuropsychologischen Komponentenforschung. Die Tests sind jedoch gerade im klinischen Bereich aus mehreren Gründen gut bewährt:  Sie verfügen über eine hohe Augenscheingültigkeit;  die Subtests bestehen aus vielfältigen Materialien, was für eine gewisse Abwechslung sorgt;  durch den direkten Kontakt zwischen Proband und Testleiter gibt es gute Möglichkeiten zu einer zusätzlichen Motivierung der Patienten;  die Subtests oder bestimmte Konstellationen von Subtests haben für manche klinischen Fragestellungen eine hohe Relevanz. Vergleich WIE und HAWIE-R. Im Vergleich zum HAWIE-R

(Tewes 1991) wurde der WIE (Aster et al. 2006) um 3 auf

491 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren

nun 14 Untertests erweitert (neue Untertests: Symbolsuche, Buchstaben-Zahlen-Folge, Matrizen-Test; ⊡ Tab. 22.1. für eine Übersicht über alle Subtests). Obwohl das Grundkonzept Wechslers beibehalten wurde, weist der Test auf Aufgaben- und Skalenebene grundlegende Unterschiede zu seiner Vorgängerversion auf, die über die üblichen Aktualisierungen der Iteminhalte und der Normwerte hinausgehen. Beim WIE liegt ein flexibleres Untersuchungskonzept vor, bei dem einige

Untertests wahlweise eingesetzt werden können. Die ursprünglich 3-stufige hierarchische Struktur der Ergebnisinterpretation wurde auf 4 Ebenen ausgeweitet – neben Gesamt-IQ, Verbal- und Handlungs-IQ und Subtestergebnis können im WIE Indexwerte für verschiedene Teilleistungsbereiche bestimmt werden (⊡ Tab. 22.2): Sprachliches Verständnis (SV), Wahrnehmungsorganisation (WO), Arbeitsgedächtnis (AGD) und Arbeitsgeschwindigkeit (AGS). Die neuen Leistungskomponenten

⊡ Tab. 22.1. Untertests des Wechsler Intelligenztests für Erwachsene Untertest

Geprüfte Funktion

Beispiele, die den WIE-Testaufgaben ähnlich sind

Verbalteil

7 sprachgebundene Untertests

Wortschatz-Test

Verbale Ausdrucksfähigkeit, Fähigkeit, Wortbedeutungen zu erläutern, sprachliche Entwicklung, semantisches Lexikon

Was ist ein Gipfel? Ein Hurrikan?

Gemeinsamkeitenfinden

Sprachliche Konzeptbildung, sprachliche Abstraktionsfähigkeit

Was ist das Gemeinsame bei einer Birke und einer Eiche?

Rechnerisches Denken

Rechenfähigkeit unter Zeitdruck, logisches Denken, Arbeitsgedächtnis, Konzentration

Wie viele CDs kann man für 200 Euro kaufen, wenn eine CD 40 Euro kostet?

Zahlennachsprechen

Zahlenspanne, akustische Merkfähigkeit, Arbeitsgedächtnis, Konzentrationsfähigkeit

Sprechen Sie bitte die Zahlen »5-7-3-6« rückwärts nach!

Allgemeines Wissen

Allgemeinbildung, Interesse an der Umwelt, kulturspezifische Kenntnisse, Langzeitgedächtnis für Fakten

Wer erfand die Glühbirne? Seit wann existiert menschliches Leben auf der Erde?

Allgemeines Verständnis

Verständnis sozialer und ethischer Normen, praktisches Urteilsvermögen

Warum verdienen Minderheiten einen besonderen Schutz?

Buchstaben-Zahlen-Folgen

Akustische Merkfähigkeit, Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit u. Konzentrationsfähigkeit

Bitte wiederholen sie S-7-A-2 und ordnen sie dabei zuerst die Zahlen in aufsteigender Folge und dann die Buchstaben in alphabetischer Folge, also »2-7A-S«!

Handlungsteil

7 handlungsgebundene und geschwindigkeitsabhängige Untertests

Bilderergänzen

Wahrnehmungsgenauigkeit, Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Details, Unterscheidung von Wesentlichem u. Unwesentlichem, logisches Schlussfolgern

Fehlende Details sollen auf Bildkärtchen erkannt werden

Zahlen-Symbol-Test

Visumotorische Geschwindigkeit und Koordination, visuelles assoziatives Kurzzeitgedächtnis, Konzentration

Symbole müssen unter Zeitdruck Zahlen zugeordnet werden

Mosaik-Test

Visuell-analytische Wahrnehmung, Unterscheidung von Teilen und Ganzem, visuomotorische Koordination, Handlungsregulation, Problemlösen

Mit verschieden farbigen Würfeln müssen geometrische Muster nachgelegt werden

Matrizen-Test

Visuelle Informationsverarbeitung, abstraktes Denken, induktives Denken, Erkennen visueller Analogien, fluide Intelligenz

Aus 5 möglichen Lösungsalternativen muss entsprechend der vorgegebenen Regel ein richtiges Muster ausgewählt werden

Bilderordnen

Erfassen komplexer Handlungszusammenhänge in ihrer zeitlichen Abfolge, logisches Denken

Bildkärtchen müssen zu einer sinnvollen Geschichte zusammengelegt werden.

Symbolsuche

Beobachtungsgenauigkeit u. Konzentration, Geschwindigkeit geistiger Verarbeitungsprozesse

Detektion von jeweils maximal 2 Symbolen in einer Reihe von 5 Symbolen

Figurenlegen

bildhafte Vorstellungsfähigkeit, Gestalterfassung

Zerschnittene Figuren müssen ohne Vorlage zusammengelegt werden

22

492

Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik

⊡ Tab. 22.2. Zuordnung der Untertests zu den Indexwertskalen. (Nach Aster et al. 2006)

22

Sprachliches Verständnis

Wahrnehmungsorganisation

Arbeitsgedächtnis

Arbeitsgeschwindigkeit

Wortschatztest

Bilderergänzen

Rechnerisches Denken

Zahlen-Symbol-Test

Gemeinsamkeitenfinden

Mosaik-Test

Zahlennachsprechen

Symbolsuche

Allgemeines Wissen

Matrizen-Test

Buchstaben-Zahlen-Folgen

Die Untertests sind nach der Reihenfolge der Vorgabe nummeriert. Die Untertests Bilderordnen, Allgemeines Verständnis und Figurenlegen gehen nicht in die Berechnung der Index-Werte ein

kommen einer inhaltlichen Interpretation entgegen, weil sie im Gegensatz zu der Unterteilung nach verbalen und handlungsbezogenen Leistungen in 2 Testteile, relativ homogene Komponenten kognitiver Fähigkeiten messen, die sowohl kognitionspsychologischen als auch neuropsychologischen Modellen entsprechen. Insbesondere werden Arbeitsgedächtnis und Arbeitsgeschwindigkeit als zentrale Leistungskomponenten berücksichtigt. ! Die obere Altersgrenze für die Testanwendung wurde auf 89 Jahre erhöht, so dass der WIE jetzt auch für die Untersuchung gerontopsychiatrischer Fragestellungen eingesetzt werden kann. Die neue Normierung wurde in Deutschland, der Schweiz und Österreich vorgenommen. Leider liegen noch keine Normenvergleichsstudien zwischen HAWIE-R und WIE vor. Bei früheren Überarbeitungen und Neunormierungen der Wechsler-Tests wurden jeweils massive Normunterschiede gefunden, ohne deren Kenntnis und Beachtung eine Verlaufsbeurteilung kaum möglich ist (z. B. vom HAWIE zum HAWIE-R: Satzger et al. 1996).

Andere Intelligenztests Neben den Wechsler-Tests gibt es im deutschen Sprachraum eine ganze Reihe weiterer Intelligenztestbatterien, z. B. den Intelligenz-Struktur-Test (IST2000R) von Amthauer et al. (2001), das Leistungsprüfsystem (LPS) von Horn (1983), eine Version für ältere Probanden als LPS50+ von Sturm et al. (1993), den Mannheimer Intelligenztest (MIT) von Conrad et al. (1986) und den Berliner Intelligenzstruktur-Test (Süß et al. 1997). Im klinischen Bereich konnte sich keines dieser Instrumente nennenswert etablieren.

Kurzverfahren Kurzverfahren zur Abschätzung der Intelligenz werden dagegen sehr häufig eingesetzt, auch wenn deren Gütekriterien nicht immer befriedigend sind. Zwei Gruppen von Verfahren lassen sich unterscheiden:  die Vorgabe von Wortschatztests zur Messung der kristallisierten Intelligenz,  die Vorgabe von weitestgehend als sprachfrei angelegten Tests zur Messung der Denkfähigkeit.

Wortschatztests. Beispiele sind der Wortschatztest (WST)

von Schmidt u. Metzler (1992) oder der MehrfachwahlWortschatz-Intelligenztest (MWT-B; Lehrl 1989), die beide in einem Multiple-Choice-Format vorliegen und somit nicht die dauernde Anwesenheit eines Testleiters erfordern. Beide korrelieren, wie auch der Subtest »Wortschatztest« der Wechsler Intelligenztests, sehr hoch mit dem Gesamt- und Verbal-IQ und sind für eine Abschätzung der kristallisierten Intelligenz in den meisten Fällen durchaus ausreichend. Auch bei dieser Schätzung des IQ aus dem Wortschatz dürfte die mangelnde Vergleichbarkeit der Normen in der Praxis weit größere Probleme machen als die mangelnde Vergleichbarkeit der Tests an sich. Speziell der MWT-B überschätzt die mit dem HAWIE-R gemessenen Intelligenzquotienten erheblich, während der WST geringere Normabweichungen vom HAWIE-R zeigte (Satzger et al. 2002). Sprachfreie Tests. Bei den (mehr oder weniger) sprach-

freien Tests zur Abschätzung der allgemeinen Intelligenz sind v. a. die verschiedenen Versionen des Raven-Tests (Raven 1996) zu nennen. Er misst die Fähigkeit zum folgerichtigen Denken, wobei allerdings auch große Anforderungen an die visuelle Auffassungsgabe, an die Motivation und an die Fähigkeit, durch Versuch und Irrtum zu Lösungen zu kommen, gestellt werden. Ähnlich wie der Mosaiktest aus dem HAWIE-R korreliert er in der Größenordnung von r = 0,70 mit dem Gesamt-IQ. Lange Zeit hatte man die Hoffnung, dass sprachfreie oder spracharme Tests zugleich auch eine größere Testfairness gegenüber Angehörigen anderer Kulturkreise hätten. Diese Hoffnung konnte nicht erfüllt werden (Jensen u. McGurk 1987).

22.2.2

Spezielle kognitive Fähigkeiten

Aufmerksamkeit Unter Aufmerksamkeit versteht man die Fähigkeit eines Menschen, Reize über eine gewisse Zeitspanne schnell und korrekt wahrzunehmen. Dabei wird eine korrekte Wahrnehmungsfähigkeit auf der Ebene des jeweiligen Sinnesorgans vorausgesetzt. Eine reduzierte Aufmerksamkeit wirkt sich verschlechternd auf nahezu alle ande-

493 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren

ren kognitiven Testleistungen aus, da i. Allg. die korrekte und schnelle Identifikation von Reizen bei allen Tätigkeiten von Vorteil ist. Die Klärung von Aufmerksamkeitseinbußen ist deshalb von großer Wichtigkeit, um Fehlinterpretationen bei anderen Tests zu vermeiden. Ideal wäre es, wenn man Aufmerksamkeit mit einem Test messen könnte, der gleichzeitig keine anderen kognitiven Leistungen verlangt. In der Praxis ist dies natürlich nicht möglich, man kann sich lediglich auf möglichst einfache Reaktionen beschränken. Aufmerksamkeit als basale kognitive Fähigkeit steht im Zentrum vieler psychologischer Theorien (Broadbent 1958; Deutsch u. Deutsch 1963; Treisman u. Gelade 1980; Posner u. Rafal 1987; Shiffrin u. Schneider 1977; van Zomeren u. Brouwer 1994). Entsprechend detailliert ist die Unterscheidung verschiedener Aspekte der Aufmerksamkeit. Van Zomeren u. Brouwer (1994) unterscheiden nach Intensitäts- und Selektivitätsaspekten der Aufmerksamkeit. Diese beiden Dimensionen sind wiederum in Subkomponenten zerlegbar: Die Intensitätsdimension der Aufmerksamkeit umfasst die Komponenten Alertness (Reaktionsbereitschaft) und Vigilanz als basale Prozesse der kurz- sowie längerfristigen Aufmerksamkeitsaktivierung bzw. -aufrechterhaltung. Die Selektivitätsdimension ist unterteilbar in die fokussierte bzw. selektive Aufmerksamkeit und in die geteilte Aufmerksamkeit. Diese Unterteilung ermöglicht eine recht gute Zuordnung von typischen Untersuchungsparadigmen für die verschiedenen

Aufmerksamkeitsbereiche (⊡ Abb. 22.3; s. a. Sturm u. Zimmermann 2000). Kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit und Alertness.

Die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit und Reaktionsbereitschaft kann am reinsten durch Reaktionszeitmessungen (z. B. im Wiener Determinationsgerät oder in der Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) von Zimmermann und Fimm (2002) erfasst werden. Indirekt ist auch eine (quasi über einen längeren Zeitraum integrierende) Messung durch Papier-Bleistift-Tests wie den Zahlen-Verbindungs-Test (Oswald u. Roth 1987) oder den Teil A des Trail-Making-Tests (»Pfadfindertest«, z. B. Spreen u. Strauss 1998) möglich, bei denen quasi eine Serie von Reaktionszeiten über einen längeren Zeitraum integriert gemessen wird. Wichtig ist, dass die Aufgabe einfach ist und nicht höhere kognitive Fähigkeiten für die Durchführung notwendig oder auch nur förderlich sind. Deshalb wäre z. B. der Teil B des Trail-Making-Tests ungeeignet. Selektive und fokussierte Aufmerksamkeit. Für die

Messung der selektiven Aufmerksamkeit ist im deutschen Sprachraum der Test d2 (Aufmerksamkeits-BelastungsTest) üblich und zweckmäßig (Brickenkamp 2002 a). Aus der Aufmerksamkeitstestbatterie von Zimmermann und Fimm (2002) ist der Subtest »Go/No Go« geeignet.

⊡ Abb. 22.3. Aufmerksamkeitsdimensionen und -bereiche, denen spezifische Untersuchungsparadigmen zugeordnet werden können. [Nach van Zomeren u. Brouwer (1994); Sturm u. Zimmermann (2000)]

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494

Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik

Geteilte Aufmerksamkeit. Die Verteilung der Auf-

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merksamkeit auf eingehende Informationen aus verschiedenen Informationskanälen wird in der Regel anhand sog. Dual-Task-Aufgaben erfasst, zum Beispiel mit dem Subtest »Geteilte Aufmerksamkeit« aus der Aufmerksamkeitstestbatterie von Zimmermann und Fimm (2002). Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus und kognitive Flexibilität. Unter dem Aufmerksamkeitswechsel wird in der

Regel der Wechsel des Fokus von einem räumlichen Stimulus zu einem anderen verstanden. Aus der Aufmerksamkeitstestbatterie von Zimmermann u. Fimm (2002) sind die Subtests »Reaktionswechsel« sowie »Verdeckte Aufmerksamkeitsverschiebung« geeignet, um die Fähigkeit des Wechsels der Aufmerksamkeit auf verschieden lokalisierte Stimuli zu prüfen. Die kognitive Flexibilität, wie sie z. B. mit dem Trail-Making-Test Teil B (Reitan 1958) geprüft wird, kann auch den exekutiven Funktionen zugeordnet werden (s. unter »Exekutive Funktionen«). Vigilanz. Die meisten der Verfahren zur Messung der

Daueraufmerksamkeit oder Vigilanz kommen eher aus dem Bereich der Arbeitspsychologie und eignen sich zur Beurteilung der Fähigkeit zum Monitoring von Industrieanlagen und ähnlichem. Von dort kommt ursprünglich auch die Continuous Performance Task (CPT; Cornblatt u. Keilp 1994; Kathmann et al. 1996), ein Test, der v. a. in der Schizophrenieforschung eingesetzt wird und von dem vermutet wird, dass er Defizite der Daueraufmerksamkeit bei diesen Patienten gut quantifizieren kann. Alle Aufmerksamkeitstests (mit Ausnahme der Vigilanztests) erfordern eine schnelle motorische Reaktion. Falls Gründe für die Annahme einer rein motorisch bedingten Verlangsamung bestehen, kann auch der ein-

fachste Aufmerksamkeitstest nicht mehr eindeutig interpretiert werden.

Visuomotorische Koordination, Steuerung und Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit Motorische Geschwindigkeit und konstruktive Fähigkeiten zählen neben Gedächtnisparametern zu den altersund abbausensitivsten kognitiven Funktionen (Salthouse 1991). Das verfügbare Testinstrumentarium ist reichhaltig und liegt teilweise in wenig veränderter Form seit vielen Jahrzehnten vor.

Visumotoriktests Als allgemeiner Test sei hier das Wiener Testsystem (Schuhfried 2006) erwähnt, das zahlreiche Subtests dazu anbietet. Im psychiatrischen Bereich bekanntere Visumotoriktests sind der Purdue Pegboard Test (Tiffin 1968), bei dem der Patient Metallstifte mit jeder Hand einzeln und mit beiden Händen gleichzeitig in eine Reihe Löcher in einem Holzbrett stecken muss. Testwert ist die Anzahl von eingesteckten Stiften in jeweils 30 s. Beim Grooved Pegboard (Klove 1963) ist die Aufgabe dadurch erschwert, dass die Stifte an einer Längsseite mit einer Metallfeder versehen sind und nur in einem bestimmten Winkel in die mit einer Nut versehenen Löcher eingesteckt werden können. Zahlen-Symbol-Test. Der bekannteste Papier- und Bleistifttest, der Zahlen-Symbol-Test aus den Wechsler Intelligenztests, enthält neben einer Aufmerksamkeits- und einer Gedächtniskomponente eine starke motorische Komponente. In einer Beispielzeile sind den Zahlen von 1–9 Symbole wie »–«, »o« oder »x« zugeordnet, die nach einer kurzen Übungsphase in leere Kästchen unter einer Zufallsfolge einstelliger Zahlen übertragen werden müssen (⊡ Abb. 22.4). Gemessen wird die Anzahl korrekt

⊡ Abb. 22.4. Modifizierte, nicht zur Testdurchführung bestimmte Version des Zahlen-Symbol-Tests

495 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren

übertragener Symbole in der Testzeit von 90 s. Während 20- bis 24-Jährige im Durchschnitt 55 Symbole übertragen können, schaffen 70- bis 74-Jährige im Durchschnitt nur 26,5 Symbole.

in Aufgaben zur vorstellungsmäßigen Ausführung räumlicher Operationen wie Rotation, Spiegelung, Faltung etc. wie sie z. B. in Untertests des Leistungsprüfssystems (Horn 1983) enthalten sind.

Zahlen-Verbindungs-Tests. Diese Tests haben eine lange

Visuelle Konstruktion. Weitere Verfahren prüfen über die

testpsychologische Tradition. Der Trail-Making Test (deutsch: Pfadfindertest; Reitan 1958) liegt in 2 Formen vor. In der ersten Form sind die über das Blatt Papier verstreuten Zahlen von 1 bis 25, in der zweiten Form abwechselnd die Zahlen 1 bis 13 und die Buchstaben A bis L (also 1-A-2-B-3-C …) möglichst schnell mit Bleistiftstrichen zu verbinden. Neben den einzelnen Zeiten als organisch sensitiven Maßen ist auch die Differenz der Testzeiten B–A ein Hinweis auf eine abbaubedingte Flexibilitätseinbuße. Eine einfachere Variante des Tests ist der nach informationstheoretischen Gesichtspunkten aufgebaute Zahlen-Verbindungs-Test (Oswald u. Roth 1987), der unter anderem durch 3 Übungsdurchgänge und den Mittelwert aus 2 eigentlichen Testbögen die Wiederholungsreliabilität des Tests zu verbessern sucht.

Wahrnehmungsorganisation hinaus auch die Rekonstruktion von visuell dargebotenen oder erinnerten Objekte im zwei- bzw. dreidimensionalen Raum. Die bei weitem bekannteste konstruktive Aufgabe ist der Untertest »Mosaiktest« aus den Wechsler Intelligenztests. Der Mosaiktest besteht aus 9 Würfeln mit je einer weißen, roten, blauen und gelben Seitenfläche sowie einer entlang der Diagonale geteilten weiß-roten bzw. einer blau-gelben Seitenfläche. Insgesamt müssen 9 zunehmend komplexere Muster nachgelegt werden, wobei Schnelligkeit und Richtigkeit gewertet werden. Der Mosaiktest korreliert relativ hoch mit dem Gesamt-IQ (etwa r = 0.70). Auch das Kopieren der Rey-Osterrieth Complex Figure (Rey 1941) erfordert über die visuelle Analyse der Vorlage hinaus die Rekonstruktion der Figur. Aufgabe ist es, die abstrakte Figur möglichst exakt abzuzeichnen. Die Geschwindigkeit geht dabei nicht in die Bewertung ein. Die Leistung wird von der visuomotorischen Informationsverarbeitung und der Planungsfähigkeit mitbestimmt (⊡ Abb. 22.5).

Wahrnehmung Eine ausführliche Prüfung von Wahrnehmungsfunktionen wie z. B. bei von Cramon et al. (1993) beschrieben, wird meist Patienten mit neurologischen Störungen vorbehalten bleiben. Bei psychiatrischen Patienten sollte im Rahmen der Testuntersuchung zumindest orientierend eine ausreichende Sehschärfe (z. B. über die Vorlage einer Sehtafel) und – v. a. bei älteren Patienten – ein ausreichendes Hörvermögen sichergestellt werden. Visuelle Wahrnehmung. Die visuelle Wahrnehmungsorganisation und Analysefähigkeit kann durch eine Vielzahl von Aufgabenarten wie die Tafeln zur Farbenblindheit (Ishihara 1979), das Verfolgen von Linien in einem Linienknäuel, Linienorientierung, visuelle Vergleichsaufgaben, Erkennen fragmentierter, in komplexeren Figuren versteckter, zerschnittener, übereinandergezeichneter oder maskierter geometrischer Figuren und Gegenstände erfasst werden. Bekannte Aufgaben für die 2-dimensionale Wahrnehmung hierfür sind der Hooper Visual Organisation Test (Hooper 1983) und die Untertests 10 (versteckte Muster erkennen) und 11 (unfertig gezeichnete Bilder erkennen) des Leistungsprüfsystems (Horn 1983). Der Test Judgment of Line Orientation (Benton 1978) sowie der Uhrentest (Goodglass u. Kaplan 1983) prüfen die Fähigkeit zur Einschätzung räumlicher Relationen und die Umsetzung von Konzepten. Störungen der 3-dimensionalen visuellen Wahrnehmung manifestieren sich in der Unfähigkeit, sich in der näheren oder weiteren Umgebung zurechtzufinden (topografische und geografische Desorientierung; z. B. Zeichnen des Wohnungsgrundrisses, der Einkaufswege, der Station, des Staates mit wichtigen Hauptstädten) und

Visueller Neglekt. Beim Neglekt handelt es sich um ein

Syndrom der halbseitigen, kontralateralen Vernachlässigung von sensorischen Reizen und/oder motorischen Funktionen, welches auch als Störung der räumlichen Aufmerksamkeit aufgefasst werden kann. Visuelle Neglektphänomene lassen sich u. a. durch folgende einfache Testverfahren erfassen: Der Patient durchkreuzt auf dem Blatt Papier verstreut aufgemalte Linien, streicht auf dem Blatt Papier zwischen andere Objekte eingestreute seltene Objekte an (ähnlich im Subtest »Neglektprüfung« der TAP, Zimmermann u. Fimm 2002) oder muss den Mittelpunkt unterschiedlich langer Linien markieren. Eine Zusammenstellung von 15 Einzeltests findet sich im Neglekt-Test (NET, Fels u. Geissner 1996) und von 9 Subtests im VS-Programm (Kerkhoff u. Marquardt 1998), während der Kölner Neglect Test die Symptomatik anhand von 7 Subtests erfasst (Kessler et al. 1995). Im englischsprachigen Raum ist das gängigste Verfahren der Behavioral Inattention Test (BIT; Wilson et al. 1987), welches sowohl für die Status als auch die Verlaufsdokumentation des Neglekts geeignet ist. Wahrnehmung anderer sensorischer Modalitäten. Über

den paarweisen Vergleich von Takten im Seashore Rhythm Test aus der Halstead-Reitan Battery (Reitan u. Wolfson 1993) kann die nonverbale auditive Wahrnehmung geprüft werden. Taktile Wahrnehmung wird u. a. in Subtests der Halstead-Reitan Battery (Reitan u. Wolf-

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Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik

son 1993) und der Luria-Nebraska Neuropsychological Battery (Golden et al. 1985) erfasst. Ein normiertes Verfahren zur Erfassung des Geruchssinnes stellt der Smell Identification Test (SIT; Doty 1984) dar.

Apraxie Apraxien sind mögliche Folgesymptome linkshemisphärischer Läsionen oder Dysfunktionen (Goldenberg 2000). Die Leitsymptome sind motorische Fehlhandlungen, die nicht auf eine motorische Behinderung zurückführbar sind. Apraxien bezeichnen eine Vielzahl von Störungen mit unterschiedlichen zugrunde liegenden neuronalen Funktionsstörungen (Goldenberg 1999). Die Diagnostik der Gliedmaßenapraxien erfolgt über die Prüfung der Imitationsfähigkeit von Gesten, der Durchführung von Gesten nach Aufforderung sowie des Objektgebrauchs (Goldenberg 1999). Bei der bukkofazialen Apraxie bezieht sich die Störung ausschließlich auf das Gesicht. Von unterschiedlichen Neuropsychologen wurden Normwerte ihrer eigenen Apraxieprüfungen veröffentlicht (z. B. de Renzi et al. 1980; Goldenberg 1996, Goldenberg u. Hagmann 1998).

Agnosie Agnosie bedeutet soviel wie »Nichterkennen« und bezeichnet die Schwierigkeiten beim Erkennen von Dingen, bzw. von Konzepten und Handlungsabläufen. Neben den visuellen Agnosien wie z. B. der Formagnosie, dem Fehlerkennen und Misslingen des Vergleiches einfacher Formen (z. B. Benton Test) oder wie der Prosopagnosie, dem fehlerhaften Erkennen von Gesichtern (de Renzi et al., 1991; z. B. Famous Faces Test – Fast et al. 2006 a; oder Facial Recognition Test – Benton et al. 1994) existieren weitere Agnosietypen wie z. B. die sogenannte Autotopagnosie, die Schwierigkeit Körpterteile auf Aufforderung hin zu zeigen (Personal Orientation Test – Weinstein 1964), oder die Unfähigkeit, die Finger zu benennen (Fingeragnosie; z. B. Finger Localisation Test – Benton et al. 1994). Je nach Schädigungslokalisation ist das Auftreten von Agnosien anderer Sinnesmodalitäten möglich, z. B. auditive oder auch taktile Agnosie.

Sprache Sprachstörungen werden formal unterteilt in:  Sprachstörungen bei psychischen Krankheiten (z. B. Sprachstörungen bei schizophrenen Psychosen, Mutismus bei Katatonie, monotones Sprechen bei Depression oder Aphonie bei Hysterie),  periphere Sprachmotorik- und Artikulationsstörungen und  zentrale hirnorganisch bedingte Sprachstörungen (Aphasien; Mumenthaler 1979, S. 221ff.). Aphasien, Störungen der höheren integrativen Sprachfunktionen bei weitgehend erhaltener peripherer Sprach-

motorik und weitgehend erhaltener Intelligenz, gelten neben Agnosie und Apraxie als klinisch auffälligste der 3 sog. »Werkzeugstörungen«. Testbatterien zur Aphasieprüfung umfassen in der Regel Aufgaben zur Spontansprache, zum Nachsprechen, zum Sprachverständnis, zum Benennen, zum Lesen und zum Schreiben. Die Prüfung der Sprache ist vor allem bei der Differenzialdiagnostik im Bereich der progredienten Erkrankungen des Alters von Bedeutung. So stellen Sprech- und Sprachstörungen vor allem bei der frontotemporalen Demenz (FTD), der primär progredienten Aphasie (PPA), der semantischen Demenz (SD), der frontotemporalen Demenz mit Parkinsonismus bei Mutation auf dem Chromosom 17, der kortikobasalen Degeneration (CBD), die in der neueren Literatur ab 1998 dem Pick-Komplex zugerechnet wird, aber auch beim Verlauf der Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT) wichtige differenzialdiagnostische Funktionen da. Token-Test. Der am weitesten verbreitete Aphasie-Scree-

ningtest ist der Token-Test (Originalversion: De Renzi u. Vignolo 1962; deutsche Version: Orgass 1981). Der TokenTest besteht in der Originalversion aus 20 Plättchen aus Holz oder Plastik (großen und kleinen Kreisen oder Rechtecken in 5 Farben), mit denen der Proband 62 mündliche Anweisungen des Testleiters (z. B. »Zeigen Sie das kleine grüne Viereck«, »Legen Sie den roten Kreis zwischen das gelbe Rechteck und das grüne Rechteck«) ausführen soll, und erfasst primär das Sprachverständnis. Gesunde machen in diesem Test in der Regel weniger als 5 Fehler (Mittelwert 1,25, SD 0,48). Der Token-Test ist relativ leicht durchzuführen und auszuwerten, reliabel und wies in wiederholten Studien eine hohe Zuordnungsgenauigkeit auf. Beispielsweise klassifizierte der Test 88% einer Gruppe Gesunder und Hirngeschädigter mit und ohne Aphasie korrekt (Boller u. Vignolo 1966). Aachener Aphasietest. Zur Unterscheidung verschiedener Unterformen der Aphasie (amnestische, globale, Broca-, Wernicke-Aphasie und Mischformen) hat sich im deutschen Sprachraum der Aachener Aphasietest (AAT) mit den 6 Untertests Spontansprache, Token-Test, Nachsprechen, Schriftsprache, Benennen und Sprachverständnis durchgesetzt (Huber et al. 1983). Der komplette AAT ist jedoch relativ zeitaufwendig (Durchführung 30– 90 min, Auswertung 30–60 min).

Gedächtnis Was man im Alltag als Gedächtnis bezeichnet, ist genauer betrachtet ein nur locker zusammenhängender Verbund unterschiedlicher Fähigkeiten mit jeweils eigenen kortikalen Verarbeitungsarealen, die von Krankheitsprozessen auch in unterschiedlicher Weise in Mitleidenschaft gezogen werden (zur Übersicht ⊡ Tab. 22.3). Während das explizite episodische Gedächtnis bei zahlreichen neurolo-

497 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren

⊡ Tab. 22.3. Gedächtnissysteme, Beschreibung, Abrufmodus und Hirnstrukturen. [Nach Tulving (1995); Brand u. Markowitsch (2003)]

System

Prozedurales Gedächtnis

Zugeordnete Hirnstrukturen

Alternative Bezeichnung

Beschreibung und Subsystem

Abrufmodus und zugeordnete Bewusstseinsstufe

Enkodieren

Speicherung

Abruf

Nichtdeklaratives Gedächtnis

Motorische und einfache kognitive Fertigkeiten, basales Konditionieren, einfaches assoziatives Lernen

Implizit, anoetisch

Basalganglien, Zerebellum

Basalganglien, Zerebellum

Basalganglien, Zerebellum

Beschreibungen von Strukturen, erhöhte Wiedererkennenswahrscheinlichkeit

Implizit, anoetisch

Primäre Assoziationskortizes

Primäre Assoziationskortizes

Primäre Assoziationskortizes

Wiedererkennen durch Bekanntheit auf der Basis sensorischer Eigenschaften

Implizit, noetisch

Posteriorer sensorischer Kortex

Posteriorer sensorischer Kortex

Posteriorer sensorischer Kortex

Verknüpftes Gedächtnis, räumliches Gedächtnis

Implizit, noetisch

Zerebraler Kortex, limbisches System

Zerebraler Kortex, Assoziationsareale

Frontotemporaler Kortex links

Explizit, noetisch

Präfrontaler Kortex, Assoziationsareale

Präfrontaler Kortex, Assoziationsareale

Präfrontaler Kortex, Assoziationsareale

Explizit, noetisch

Präfrontaler Kortex, Limbisches System

Zerebraler Kortex (Assoziationsareale), limibsches System

Frontotemporaler Kortex rechts, limbisches System

Perzeptuelles Repräsentationssystem Priming Perzeptuelles Gedächtnis

Semantisches Gedächtnis

Faktenwissen, generisches Gedächtnis

Primäres Gedächtnis

Kurzzeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis

Episodisches Gedächtnis

Persönliches Gedächtnis, Ereignisgedächtnis

Visuell, auditiv

gischen und psychiatrischen Krankheiten oft deutlich beeinträchtigt ist, sind überlernte, semantische und implizite Gedächtnisprozesse wie Priming, Konditionierung oder motorisches Lernen eher krankheitsresistent (Markowitsch 1997; Petersen u. Weingartner 1991). Die episodische Gedächtnisleistung ist zudem stark von situativen Einflüssen wie Anstrengungsbereitschaft, Stimmung, Einsatz von Gedächtnisstrategien, Übungseffekten, Distraktion, Medikamenteneinwirkung, materialspezifischen Aspekten und dem Alter des Patienten abhängig. Werte für die konkordante Validität und die Retestreliabilität liegen daher oft bedeutend niedriger als Reliabilitätskoeffizienten für Intelligenztests (Bäumler 1974; Gauggel et al. 1991). Bei der Vorgabe mehrerer episodischer Gedächtnistests sind uneinheitliche Ergebnisse eher die Regel als die Ausnahme. Die Auswahl eines geeigneten Gedächtnistests richtet sich nach Kriterien wie Alter des Patienten, Art und Schweregrad der Erkrankung, Frage nach Statusoder Verlaufsmessung, ökologische Validität und Verfügbarkeit des Testinstruments. Aus praktischen Gründen unterscheidet man zwischen Gedächtnistestbatterien, die unterschiedliche Aspekte des Gedächtnisses in einem

gemeinsam normierten Verfahren zusammenschließen, und Einzeltests.

Gedächtnistestbatterien Wechsler Memory Scale (WMS). Sie wurde von Wechsler

mit dem Gedanken entwickelt, einen dem IQ entsprechenden Gedächtnisquotienten zu bestimmen (Wechsler 1974). Inzwischen liegt sie auf englisch in der 3. Aufl. vor (»WMS-III« Wechsler 1997 b). Die deutsche Ausgabe (Härting et al. 2000) ist eine Adaptation der 2. Aufl. der Testbatterie (»WMS-R«), die in den USA seit 1987 im Einsatz war. Die WMS-R besteht aus 13 Untertests, aus denen sich 4 Indizes berechnen lassen: verbales Gedächtnis, visuelles Gedächtnis (beide zusammen bilden den allgemeinen Gedächtnis-Index), Aufmerksamkeit/ Konzentration und verzögerte Wiedergabe. Ein zusätzlicher Subtest misst Information und Orientierung – ein Bereich, der ziemlich am Rand dessen liegt, was man gemeinhin als Gedächtnis bezeichnet und folgerichtig auch nicht in die aus den anderen 13 Subtests berechneten Indizes eingeschlossen wird. Die deutsche WMS-R ist für den Altersbereich von 15–75 Jahren normiert und eignet sich besonders gut für den klinischen Einsatz. Der Test kann

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Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik

(ähnlich wie die Wechsler-Intelligenztests) nur als Individualtest vorgegeben werden. Im Vergleich zu den Wechsler-Intelligenztests wurde die WMS von einer Ausgabe zur nächsten stark verändert. Die ursprüngliche Form hatte nur 7 Subtests, die revidierte Form hat 14. Auch die WMS-III wurde wieder stark verändert, u. a. um der Kritik einer zu starken Sprachlastigkeit zu begegnen: nur 7 Subtests aus der WMS-R wurden beibehalten, 4 dafür neu konstruiert, von denen 2 explizit nichtsprachlich kodierte Informationen (Gesichter, Familienbilder) enthalten. Weitere Gedächtnistestbatterien. Dazu zählen der Lern-

und Gedächtnistest (LGT-3, Bäumler 1974), der Tempoleistungs- und Merkfähigkeitstest Erwachsener (TME; Roether 1984), der Berliner Amnesietest (BAT; Metzler et al. 1992), der Rivermead Behavioural Memory Test (RBMT; Wilson et al. 1985), der speziell alltagsnahe Testaufgaben benutzt, sowie die weitestgehend sprachfreie Cambridge Neuropsychological Test Automated Battery (CANTAB; Robbins et al. 1994), die neben exekutiven Funktionen auch die Erfassung der visuellen Wahrnehmung und des visuellen Gedächtnisses ermöglicht.

Verbale Gedächtnistests Auditory Verbal Learning Test. Der Auditory Verbal

Learning Test (AVLT; Rey 1964) liegt seit 2001 in einer deutschen Version als verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest (VLMT; Helmstaedter et al. 2001) vor. Er besteht aus einer Liste A mit 15 Wörtern, die dem Patienten 5-mal vorgelesen werden und die nach jedem Lerndurchgang unmittelbar anschließend vom Patienten in beliebiger Reihenfolge frei wiedergegeben werden sollen. Nach der einmaligen Vorgabe und freien Wiedergabe einer Liste B mit ebenfalls 15 Wörtern sollen die Wörter der Liste A vom Patienten unmittelbar und nach etwa 30 min nochmals ohne weitere Darbietungen frei wiedergegeben werden. Die Vorgabe einer Wiedererkennensliste mit 50 Wörtern (alle Wörter aus Liste A und B sowie 20 Distraktoren) kann sich anschließen, wobei der Patient lediglich Wörter der ersten Liste markieren soll. Vorteil des AVLT ist, dass durch die 5-malige Darbietung in den Lerndurchgängen dem Patienten ausreichend Gelegenheit gegeben wird, sich die Wörter der ersten Liste einzuprägen. Zahlreiche Ergebnismaße können berechnet werden, von denen das wichtigste die Anzahl der frei erinnerten Wörter ist. California Verbal Learning Test. Der California Verbal

Learning Test (CVLT; Delis et al. 2000) unterscheidet sich vom AVLT v. a. darin, dass jedes der 16 Wörter der Liste A zu einer von 4 Kategorien (Früchte, Gewürze, Kleidungsstücke und Werkzeuge) gehört. Insofern prüft der Test daher auch die Effizienz konzeptueller Lernstrategi-

en und die Wirksamkeit der Vorgabe der 4 Kategorien als Hinweisreize beim freien Abruf. Selective Reminding. Bei der Methode des Selective Reminding (Buschke u. Altman-Fuld 1974; eine deutsche Version ist in dem Demenztest von Kessler et al. 1988 enthalten) wird eine Wortliste zur unmittelbar anschließenden freien Wiedergabe dargeboten. In allen folgenden Darbietungen der Wortliste werden nur diejenigen Wörter erneut vorgegeben, die der Proband in der jeweils vorhergehenden Wiedergabe nicht nennen konnte. Der Test erlaubt die Berechnung verschiedener Gedächtnisparameter zum Kurz- und Langzeitgedächtnis, die allerdings untereinander relativ hoch korrelieren, und erfordert insbesondere bei älteren oder dementen Patienten eine erhöhte Belastbarkeit, da der Patient einerseits im Kopf behalten muss, jedes Mal alle Wörter wiederzugeben, sich durch die Vorgabe lediglich der zuvor nicht genannten Wörter jedoch die Darbietungsreihenfolge jedes Mal ändert und der Patient so stets auch an seine Fehler erinnert wird.

Figurale Gedächtnistests International bekannte Tests zum figuralen Gedächtnis sind der Benton-Test (Benton 1981; in der Standardversion Nachzeichnen von 10 Vorlagetafeln mit 1–3 einfachen geometrischen Formen nach 10 s Darbietung), der ReyOsterrieth Complex Figure Test (Rey 1941; Abzeichnen, unmittelbare und verzögerte freie Reproduktion einer komplexen Zeichnung, ⊡ Abb. 22.5), der Rey Visual Desgin Learning Test (Rey 1964) und der »Recurring Figures Test« (Kimura 1963; deutsche Versionen von Hartje u. Rixecker 1978; Sturm u. Willmes 1997; aus einem Satz von 20 sukzessive zuvor gezeigten Stimuluskarten mit geometrischen und irregulären Mustern kommen 8 Stimuluskarten in den folgenden 140 Testkarten 7-mal erneut vor). Als deutsche Eigenentwicklung ist das Diagnostikum für Zerebralschädigung (DCS; Weidlich et al. 2001) zu erwähnen, in dem der Patient vorher gezeigte Figuren aus dem Gedächtnis mit 5 Holzstäbchen nachlegt. Das DCS liegt inzwischen in 4. Aufl. vor und verfügt über umfangreiche Normen für den Altersbereich von 6–79 Jahren.

Gesichtererkennen Im Bereich des Erlernens und Wiedererkennens von Gesichtern wurde von Warrington (1984) der RecognitionMemory-Test für Gesichter entwickelt. Andere Verfahren erfassen die Fähigkeit, zu Gesichtern Namen oder Berufe zu lernen (Namen-Gesichter Assoziationstest – Kessler et al. 1999; Gesichter-Namen Lerntest – Schuri u. Benz 2000; Gedächtnis-für-Personen-Test – Pahlke u. Bulla-Hellwig 2002).

499 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren

Implizite Gedächtnistests

a

Der Fragmentierte Bildertest (Kessler et al. 1993) wurde entsprechend einem von Gollin (1960) entwickelten Prinzip erstellt. Hierbei werden fragmentierte Strichzeichnungen von Gegenständen dargeboten, die bei jeder neuen Vorlage zunehmend besser erkennbar sind. Aufgabe des Probanden ist es, möglichst schnell die dargestellten Objekte zu erkennen. Das implizite Gedächtnis wird durch eine wiederholte Vorgabe derselben Strichzeichnungen geprüft, ausgehend von der Annahme, dass bei einem intakten impliziten Gedächtnis die Objekte früher identifiziert werden. Andere implizite Gedächtnistests sind der Supra-Blockspanne Test (Corsi 1972; Schellig 1997) und der Wortkomplettierungstest (Graf et al. 1984).

Tests für Altgedächtnis

b

c ⊡ Abb. 22.5.a-c. Rey-Osterrieth-Complex Figure einer 45-jährigen schizophrenen Patientin nach Rey (1941). a Kopie der Figur, b unmittelbare freie Wiedergabe der Figur, c verzögerte freie Wiedergabe der Figur

Der Kieler Altgedächtnistest (Leplow et al. 1993) besteht aus Multiple-Choice-Fragen zu 106 trennscharfen »famous events«, die zum Zeitpunkt der Tagesaktualität nur von über 21 Jahre alten Probanden sicher beantwortet werden können (z. B. ähnliche Items wie: Wodurch starben im Juni 1998 über 100 Menschen im Norden Deutschlands? A Flugzeugabsturz, B Tanklastzugexplosion, C Zugunglück, D Amokläufer, E Schiffsunglück, F ich kann mich nicht erinnern) und erlaubt eine Erfassung des Verlaufs retrograder Amnesien für Faktenwissen. Ähnliche Verfahren sind der Famous Faces Test von Fast, Fujiwara und Markowitsch (2007) und der »Berühmte-PersonenTest des Altgedächtnisses für öffentliche Daten 1961–1995« von Vollmer-Schmolck, Garbelotto und Schmidtke (2000). Während diese Verfahren die Abbildung eines zeitlichen Gradienten der Gedächtnisleistungen ermöglichen, kann mit dem »semantischen Altgedächtnisinventar« (Schmidtke u. Vollmer-Schmolck 1999) überlerntes Weltwissen, d. h. die Kenntnis allgemeiner Fakten ohne speziellen raum-zeitlichen Kontext, geprüft werden. Letzteres ist mit Wissenstests wie z. B. dem Subtest »Allgemeines Wissen« der Wechsler Intelligenztests vergleichbar. Zwei weitere deutschsprachige Testverfahren zur quantitativen Erfassung retrograder Gedächtnisstörungen im Bereich des autobiografisch-episodischen Altgedächtnisses stellen das autobiographische Gedächtnisinventar (Kopelman et al. 1990; in deutscher Überarbeitung Fast et al. 2007) sowie das autobiographische Altgedächtnisinterview (Schmidtke u. Vollmer-Schmolck 1999) dar. Beide Verfahren dienen der Erfassung der Erinnerungsfähigkeit an Episoden und Wissen der eigenen Biografie aus verschiedenen Lebensphasen.

Exekutive Funktionen Unter der Störung exekutiver Funktionen wird in der Regel die Störung äußerst verschiedenartiger, komplexer

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Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik

kognitiver Prozesse höherer Ordnung verstanden, denen in der Fachliteratur Begriffe wie Konzeptbildung, kognitive Flexibilität, Umstellungsfähigkeit, Koordination von Informationen/Prozessen, Sequenzierung, Zielüberwachung, Antizipation, Planungsfähigkeit, Initiierung, Inhibition und Problemlösen zugeordnet werden. Exekutive Beeinträchtigungen finden sich häufig nach Läsionen oder Funktionsbeeinträchtigungen des präfrontalen Kortex, sie können jedoch auch im Zusammenhang mit Dysfunktionen anderer Hirnareale auftreten (Lezak 1995; Luria 1966; Tranel et al. 1994). Der Begriff der Exekutivfunktion bezieht sich demnach auf ein multioperationales System, in welchem verschiedene kognitive Funktionen gebündelt sind, welche vor allem von den präfrontalen Hirnarealen und deren reziproken kortikalen sowie subkortikalen Verknüpfungen gesteuert werden (Stuss u. Benson 1986). Dieses System höherer Ordnung umfasst wiederum untergeordnete kognitive Funktionen, von denen das Arbeitsgedächtnis sicherlich eine der wichtigsten darstellt (Friedman et al. 2006; Tranel et al. 1994). Arbeitsgedächtnis. Das von Baddeley und Hitch (1974; vgl. auch Baddeley 1997) konzipierte Arbeitsgedächtniskonzept revidiert die Vorstellung eines einheitlichen Kurzzeitgedächtnisses und postuliert stattdessen die Existenz mehrerer kurzzeitiger Speichersysteme, die durch eine übergeordnete Instanz (zentrale Exekutive) überwacht und koordiniert werden. Es dient dem Halten und Manipulieren von Informationen, wie es für Leistungen wie z. B. das Verstehen von Sätzen, Kopfrechnen, Lernen im Allgemeinen benötigt wird. Es wird als die Schnittstelle zwischen Gedächtnis und komplexen kognitiven Prozessen verstanden. Die Annahme eines zentralen Kontrollprozesses legt eine Zuordnung des Arbeitsgedächtnisses zu den exekutiven Funktionen nahe. Die klinische Untersuchung des Arbeitsgedächtnisses beinhaltete traditionell die Erfassung einfacher Gedächtnisspannen für verbale und visuelle Informationen (z. B. in den Wechsler Gedächtnis- und Intelligenzbatterien). Da einfache Gedächtnisspannen relativ störunanfällig sind, wird dieses Konzept zunehmend kritisiert und die Messung durch komplexere Aufgaben ersetzt (Subtest Buchstaben-Zahlen-Folgen im WIE – Aster et al. 2006; Subtest Arbeitsgedächtnis in der TAP – Zimmermann u. Fimm 2002). Diese Aufgaben erfordern sowohl das Halten von Informationen als auch das gleichzeitige Bearbeiten dieser Informationen.

strategisches und effektives Handeln. Einen Überblick über die beschriebenen testpsychologischen Verfahren zum problemlösenden Denken und planvollen Handeln findet sich bei Lezak, Howieson und Loring (2004). Zwei Konzeptbildungstests wurden häufig zur Abklärung einer Dysfunktion des Frontallappens nach Schädel-HirnTrauma oder bei Schizophrenie eingesetzt und werden im Folgenden ausführlicher dargestellt. Halstead Category Test. Der Halstead Category Test (HCT;

Halstead 1947, DeFilippis et al. 1979, in überarbeiteter PCForm Engel u. Fast 2007) besteht aus 208 visuell nacheinander dargebotenen Items, die in 7 Untertests nach unterschiedlichen Prinzipien gruppiert sind. In den ersten 6 Untertests sind die Items nach 4 Prinzipien geordnet (römische Zahlen von I–IV, Anzahl der Bildelemente von 1–4, Position 1–4 von hervorgehobenen Bildelementen horizontal und als Quadranten im Uhrzeigersinn angeordnet, Anteil durchgezogener im Vergleich zu punktiert markierten Bildelementen; ⊡ Abb. 22.6). Der 7. Untertest enthält Items aus den vorangegangenen Untertests und prüft die Erinnerungsfähigkeit. Aufgabe des Probanden ist es, bei jedem Item eine Zahl zwischen 1 und 4 anzugeben und über die Rückmeldung über die Richtigkeit der von ihm genannten Zahl zu prüfen, ob das von ihm gewählte Prinzip für den jeweiligen Subtest zutreffend ist. Der HCT stellt daher eher ein Lernexperiment als einen klassisch konstruierten Test dar. Von dem Test, der ein Bestandteil der Halstead Reitan Test Battery ist, existieren mehrere Versionen, die bezüglich Itemzahl (84–360) und Darbietungsart (Dia, Papier, PC) variieren. Am ökonomischsten dürfte die PC-Version mit den klassischen 208 Items im Hogrefe Testsystem sein, die in Kürze erscheinen wird (Engel u. Fast 2007). Der HCT gilt als Standardmaß für Konzeptbildung und abstrahierendes Denken, prüft aber auch die Fähigkeit, flexibel Rückmeldung in den weiteren Lösungsprozess zu integrieren, selbständig-kreatives Denken und v. a. Frustrationstoleranz. Patienten mit diffusen hirnorganischen Schäden schneiden in dem Test oft schlecht ab. Eine von Halstead (1947) angenommene Spezifität für frontale Läsionen ließ sich in Folgestudien nicht bestätigen (DeFilippis et al. 1979; Wang 1987). Bei der Interpretation ist zu berücksichtigen, dass die Leistung im HCT mit zunehmendem Lebensalter abnimmt und der Test eine wenigstens durchschnittliche Intelligenz voraussetzt. Wisconsin Card Sorting Test. Beim Wisconsin Card Sort-

Konzeptbildung, Planungsfähigkeit, Denken Problemlösen als höchste kognitive Fähigkeit erfordert neben intakten grundlegenden Funktionen wie Wahrnehmung, Motorik, Sprache und Gedächtnis meist konvergentes und divergentes Denken sowie sog. exekutive Fähigkeiten wie Willenskraft, Planen und zielgerichtetes,

ing Test (WCST; Berg 1948) soll der Proband 4 Stimuluskarten Antwortkarten nach den Kategorien Farbe, Form und Anzahl zuordnen und flexibel auf den vom Versuchsleiter nicht angekündigten Wechsel der Kategorie reagieren (⊡ Abb. 22.7).

501 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren

⊡ Abb. 22.6. Beispiel-Item des Halstead Category Tests im Hogrefe-Test-System (Engel u. Fast 2007)

Beispiel Vor dem Probanden liegen dabei 4 Stimuluskarten, die ein rotes Dreieck, 2 grüne Sterne, 3 gelbe Kreuze bzw. 4 blaue Kreise zeigen, in einer horizontalen Reihe. In der Standardversion soll der Proband 128 Antwortkarten, die 1–4 Symbole (Dreiecke, Sterne, Kreuze oder Kreise) in den Farben Rot, Grün, Gelb und Blau zeigen, nacheinander vor die 4 Stimuluskarten legen. Der Proband beginnt einfach zu legen und erfährt aus der Rückmeldung (»richtig«, »falsch«), ob die Zuordnung der vom Testleiter zuvor ausgewählten Kategorie entspricht. Ist die Kategorie des Testleiters beispielsweise Farbe, muss eine Antwortkarte mit 1 gelben Stern unter die Stimuluskarte mit den 3 gelben Sternen gelegt werden. Nach jeweils 10 richtigen Reaktionen des Probanden wechselt der Testleiter ohne Ankündigung das Konzept. Der Test beginnt mit der Kategorie Farbe, wechselt zu Form und Anzahl, dann nochmals zu den Kategorien Farbe, Form und Anzahl und endet, wenn die 6 Kategorien richtig (d. h. 10-mal nacheinander) gelegt wurden, der Proband den Testablauf entweder offensichtlich nicht versteht oder den Test korrekt erklären kann.

Die wichtigsten Auswertungskategorien sind die Anzahl der vollständig erreichten Kategorien (maximal 6), die Anzahl perseverativer Fehler (Beibehalten einer falschen Kategorie zu Beginn des Tests oder einer richtigen Kategorie, nachdem der Testleiter das Prinzip gewechselt hat) und das vorzeitige Verlassen einer richtigen Kategorie. Modifizierte Version. In einer modifizierten Version des

Wisconsin Card Sorting Tests (MWCST; Nelson 1976), die

⊡ Abb. 22.7. Wisconsin Card Sorting Test, wird im Beispiel erklärt

inzwischen die am häufigsten benutzte ist (Grant u. Berg 1993), wird der Wechsel der Kategorie durch den Testleiter angekündigt, werden Karten, die mehreren Kategorien zugleich zugeordnet werden können, entfernt, und der Patient legt durch seine Wahl beim ersten Item die erste Kategorie selbst fest. Der MWCST ist daher für Patienten leichter als der WCST und wird auf der Basis von 48 Antwortkarten durchgeführt. Diagnostischer Wert. Insbesondere die Anzahl persevera-

tiver Fehler im WCST ist bei Patienten mit Frontalhirnläsionen höher als bei gesunden Kontrollen (Lezak 1995, S. 632). Innerhalb von Patientenpopulationen ist der WCST auch sensitiv für diffuse Hirnschäden und Leistungseinbußen u. a. bei Demenz, Alkoholismus, Morbus Parkinson und multipler Sklerose (Lezak 1995, S. 624).

22

502

Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik

Verbale Assoziationsfähigkeit, Wortflüssigkeit

22

Wortflüssigkeitstests fordern vom Testnehmer, in begrenzter Zeit möglichst viele Wörter zu nennen, die mit einem bestimmten Anfangsbuchstaben beginnen (»lexikalische Wortflüssigkeit«) oder Elemente einer bestimmten Kategorie (z. B. Tiere) sind (»semantische Wortflüssigkeit«). Sie lassen sich schnell durchführen und sind nicht zuletzt deshalb als Elemente von Testbatterien beliebt, zum Beispiel im Leistungsprüfsystem (LPS, Horn 1983) oder in der CERAD-Testbatterie (s. unten). Für eine umfassende Testung steht seit einigen Jahren der Regensburger Wortflüssigkeitstest zur Verfügung (RWT; Aschenbrenner et al. 2000).

Testbatterien für exekutive Funktionen Wilson et al. haben 1996 das »Behavioural Assessment of the Dysexecutive Syndrome« (BADS) publiziert, eine Testbatterie mit 6 Subtests zu den Bereichen Planungsfähigkeit und Konzeptbildung. Für diesen Test gibt es auch eine deutsche Testanweisung, aber (noch) keine deutschen Normen. Auf Grund der für einen neuen Test schon recht umfangreichen Validitätsangaben dürfte dieses Verfahren im Vergleich mit den oben genannten Einzeltests gewisse Vorteile bei der klinischen Anwendung haben.

22.2.3

Persönlichkeit

In der Praxis sind 2 ihrer Konstruktion nach sehr unterschiedliche Methoden zur Erfassung der Persönlichkeitsstruktur üblich: 1. die psychometrischen Persönlichkeitstests (meist Persönlichkeitsfragebögen) einerseits und 2. die projektiven Tests andererseits. Persönlichkeitsfragebögen. Sie füllt ein Proband oder Pa-

tient meist selbständig aus. Er gibt quasi eine Art schriftliche Selbstauskunft ab. Diese Tests sind ähnlich objektiv wie Leistungstests, d. h. sie sind von der Person des Untersuchers oder Auswerters weitgehend unabhängig. Auch hinsichtlich Zuverlässigkeit und Gültigkeit lassen sich die von den Leistungstests her bekannten Regeln und Verfahren anwenden. Ein wichtiger Unterschied, der gerade im klinischen Bereich gelegentlich Probleme bereitet, liegt in der größeren Verfälschbarkeit: Leistungstests provozieren eine maximale Leistung und sind – sieht man einmal von gezielten Vorbereitungsmaßnahmen auf den Test ab – nur in eine Richtung willkürlich verfälschbar (man kann willkürlich nur eine schlechtere Leistung als die geforderte produzieren). Dagegen fordern Persönlichkeitstests ein typisches Verhalten, weshalb sowohl eine Simulation auffälliger Verhaltensweisen bei Gesunden als auch eine Dissimulation bei Kranken möglich ist.

Als Standard für psychometrische Persönlichkeitsfragebögen haben sich in der akademischen differenziellen Psychologie für den Bereich der Normalpersönlichkeit Fragebögen auf dem Hintergrund der Fünf-FaktorenTheorie der Persönlichkeit etabliert. Zu nennen sind vor allem das NEO-Persönlichkeitsinventar nach Costa und McCrae, revidierte Fassung (NEO-PI-R – Ostendorf u. Angleitner 2004, s. a. Costa u. McCrae 1992) und dessen Kurzfassung, das NEO-Fünf-Faktoren-Inventar (NEOFFI, Borkenau u. Ostendorf 1993). In Deutschland konstruierte, aber bisher weniger verbreitete Tests dieser Art sind das TIPI (Trierer integriertes Persönlichkeitsinventar – Becker 2002) und das HPI (Hamburger Persönlichkeitsinventar – Andresen 2002). Für die Anwendung in der Psychiatrie sind diese Persönlichkeitstests, die explizit die Beschreibung der Normalpersönlichkeit anstreben (ein weiteres Beispiel dafür ist der 16 PF-Persönlichkeitstest von Cattell, Schneewind et al. 1998), meist wenig ergiebig. Im Folgenden werden deshalb nur Fragebögen besprochen, bei denen die Erfassung von klinisch relevanten Normabweichungen im Vordergrund steht. Freiburger Persönlichkeitsinventar. Es erfasst in seiner

revidierten Version (FPI-R; Fahrenberg et al. 2001) 10 relativ unabhängige Persönlichkeitsdimensionen und die beiden übergreifenden Faktoren Extraversion und Emotionalität (in anderen Bögen als Neurotizismus bezeichnet). Zu den Dimensionen zählen neben Charaktereigenschaften im engeren Sinne (Lebenszufriedenheit, soziale Orientierung, Leistungsorientierung, Gehemmtheit, Erregbarkeit, Aggressivität, Beanspruchung, Offenheit) auch psychosomatische Konzepte wie körperliche Beschwerden und Gesundheitssorgen. Damit reicht das FPI über den relativ engen Gültigkeitsbereich »normaler« Persönlichkeitsinventare (s. oben) hinaus, ohne jedoch den Bereich psychischer Störungen komplett abzubilden. Für das FPI liegen umfangreiche Hinweise zur faktoriellen Validität wie zur Kriterienvalidität vor. Gießen-Test. Einen ähnlichen Anwendungsbereich deckt auch der Gießen-Test (Beckmann et al. 1990) ab, wobei aber sozialpsychologische Konzepte wie Dominanz, Durchlässigkeit, soziale Potenz, soziale Resonanz, Kontrolle und Grundstimmung im Vordergrund stehen. MMPI-2. Das Minnesota Multiphasic Personality Inventory-2 (MMPI-2; Hathaway u. McKinley 2000) deckt den Merkmalsbereich psychischer Störungen am vollständigsten ab. In den 1930er Jahren wurde das Instrument aus einem psychiatrischen Fragenkatalog von gut 1000 Fragen entwickelt. Die derzeit gültige Version enthält 567 Items, die sich sowohl auf überdauernde Persönlichkeitsmerkmale als auch auf Symptome psychischer Störungen beziehen. Die Standardauswertung, für die nur

503 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren

die ersten 370 Items des MMPI-2 notwendig sind, erfolgt auf der Basis von 3 Validitätsskalen und 10 klinischen Standardskalen. Mit allen Items können 15 weitere Inhaltsskalen und 3 weitere Validitätsskalen ausgewertet werden. In der Praxis geben die 3 (bzw. 6) Validitätsskalen dem Anwender eine relativ zuverlässige Information über die Gültigkeit des Testprofils, ein Aspekt, der gerade bei psychiatrischen Patienten von besonderer Wichtigkeit ist. Die klinischen Skalen erfassen inhaltlich den gesamten Bereich psychischer Störungen. Es existiert eine reichhaltige, in großen Teilen empirisch abgesicherte Hintergrundinformation zur Häufigkeit von Skalenerhöhungen (Profilkonfigurationen) bei bestimmten Patientengruppen, die auch systematisch für computerisierte Testinterpretationen verwendet wird (Engel 1980). Mit dem MMPI-2 ist es möglich, relativ ökonomisch eine umfassende Selbstauskunft über Persönlichkeit und Beschwerden eines psychiatrischen Patienten zu erhalten. Neben der Handauswertung bietet der Verlag auch einen Auswertungs- und Interpretationsservice per Fax an. Projektive Testverfahren. Ihr Wesen liegt darin, aus Reaktionen einer Person auf wenig strukturiertes Reizmaterial Rückschlüsse auf wichtige Komponenten der Persönlichkeit zu ziehen. Auf sie trifft das Merkmal der Objektivität in weit geringerem Maße zu: Hier sind sowohl die Darbietungsregeln als auch v. a. die Auswertungsverfahren weniger präzise und intersubjektiv gültig zu formulieren. Projektive Verfahren haben mehr den Charakter einer klinischen Untersuchung, in der mit Hilfe von Bildmaterial Geschichten oder Deutungen verlangt werden. Die Interpretation erfolgt aufgrund empirischer oder (häufiger!) nur theoretisch erwarteter Beziehungen zwischen Eigenheiten der Antworten wie z. B. Wahrnehmungsschärfe, Kontextabhängigkeit, Inhalt oder Realitätsnähe und deren Vorkommen bei Persönlichkeitstypen oder klinischen Gruppen. Für die meisten projektiven Verfahren gibt es mehrere Interpretationssysteme. Die wichtigsten projektiven Tests sind das RorschachVerfahren (Rorschach 1992) und der Thematische Apperzeptionstest (Murray 1991). Beide sind international gebräuchlich, und es gibt eine Fülle an Literatur über die Tests. Für den Rorschach-Test ist im deutschen Sprachraum die Anleitung von Bohm (1995) weit verbreitet, daneben gibt es auch eine deutsche Anleitung nach dem Verfahren von Klopfer u. Davidson (1974). Das bei weitem am besten standardisierte Auswertungssystem von Exner (1993), das sich in den USA großer Wertschätzung erfreut, konnte sich hier noch wenig durchsetzen, es gibt auch keine deutsche Übersetzung. Die projektiven Verfahren haben sich v. a. in der forensischen Gutachtenspraxis eine gewisse Stellung erhalten. Sie werden hier wegen ihrer vermutlich geringeren Verfälschbarkeit den Fragebogenverfahren vorgezogen.

22.2.4

Störungsspezifische Diagnostik

Neben dem diagnostischen Ziel, abgrenzbare Persönlichkeitsmerkmale durch Tests zu erfassen, sind gerade in der diagnostischen Praxis der Psychiatrie Verfahren verbreitet, die störungsspezifische Einbußen messen sollen. Ihr Ziel liegt in der zusammenfassenden Beurteilung von Leistungen (bzw. Leistungsdefiziten), die für eine bestimmte Störung typisch sind. Der aus methodischen Gründen i. Allg. angestrebte Wunsch nach Homogenität von Tests bzw. Subtests wird damit explizit aufgegeben. Am häufigsten sind solche Verfahren im Bereich der Demenzdiagnostik. Allerdings lassen sich auch manche neuropsychologischen Testbatterien hierunter subsumieren, weil bei ihnen (s. unten) ein Test oder Subtest eher einzelne Symptome einer Störung misst und nicht in erster Linie ein zusammenhängendes und bei allen Personen erhebbares Merkmal kognitiver Leistungsfähigkeit. Die Abgrenzung der in diesem Abschnitt diskutierten Verfahren von den standardisierten Verfahren zur Einschätzung von Existenz und Schweregrad einer psychischen Störung bzw. zur Erhebung von Diagnosen ( Kap. 21) ist unscharf. Entsprechend der geänderten Zielsetzung sind sie meistens nicht an einer Normstichprobe geeicht und liefern dementsprechend keine standardisierten Scores. An die Stelle einer statistisch definierten Normdeviation (z. B. eine oder zwei Standardabweichungen) treten bei diesen Verfahren inhaltlich festgelegte Kriterien für das Vorliegen einer Störung. Diese Kriterien beziehen sich i. Allg. nicht auf einzelne Skalen sondern auf Konfigurationen mehrerer Merkmale. In diesem Abschnitt sind die entsprechenden Verfahren dann aufgenommen worden, wenn zu ihrer Anwendung kein klinisches Wissen notwendig ist und sie von Hilfspersonal durchgeführt werden können.

Demenz Bei der Demenz stehen Störungen der Kognition im Mittelpunkt der Symptomatik. Daraus ergibt sich direkt die hohe Relevanz, die einer neuropsychologischen Testuntersuchung für diese Diagnose zukommt. Für die Abgrenzung einer Demenz von einer altersgemäß durchschnittlichen Kognition gibt es viele relativ einfache und schnelle Testverfahren (z. B. MMSE, s. unten). Die diagnostische Sicherung einer Demenz bei einem kognitiv Minderbegabten kann dagegen schon höchst komplex sein (s. a. Jahn 2004). Zudem gewinnen in der Demenzdiagnostik zunehmend Fragen der Frühdiagnostik (Collie u. Maruff 2000) und der Differenzialdiagnostik verschiedener Demenzformen (Kessler u. Kalbe 2000) an Relevanz. Auch die Abgrenzung der Demenz von anderen psychiatrischen Krankheitsbildern gewinnt an Bedeutung: Während die Differenzialdiagnose von Demenz, Pseudodemenz und Depression schon lange untersucht wird (Beblo u. Herrmann 2000), weisen jüngere Studien auch auf die Rele-

22

504

22

Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik

vanz der Abgrenzung von spät beginnender Schizophrenie oder bipolarer Störung von der Demenz hin (Arciniegas 2006; Kitabayashi et al. 2005; Young et al. 2006). Aus diesen differenzialdiagnostischen Fragestellungen ergibt sich häufig die Notwendigkeit, neben den kurzen Screening-Verfahren auch standardisierte Testbatterien zur Leistungsprofilerstellung einzusetzen (s. a. Dunn et al. 2000). Mini-Mental State Examination. Ein einfaches und häufig

gebrauchtes Screening-Verfahren zur Erfassung schwerer kognitiver Störungen und zur Einschätzung des Schweregrads einer Demenz ist der MMSE (Mini Mental State Examination) von Folstein et al. (1975), der auch in mehreren Versionen auf Deutsch vorliegt (z. B. Folstein et al. 1990). Innerhalb von 5–10 min werden Fragen und Aufgaben in den Bereichen Orientierung, Aufmerksamkeit, Rechnen, Gedächtnis, Sprache und Ausführung einfacher Handlungen vorgegeben und zu einem Globalscore verrechnet (⊡ Tab. 22.4). Mit dem MMSE wird insbesondere bei klinischen Prüfungen, aber auch bei anderen wissenschaftlichen Untersuchungen, der Schweregrad der untersuchten Stichprobe dementer Patienten beschrieben. Der MMSE erfordert kein spezifisch klinisches Wissen und kann problemlos von angelernten Personen vorgegeben werden. Zu fordern ist lediglich, dass diese generell mit der Durchführung von Tests bei kognitiv beeinträchtigten Patienten vertraut sind. Alzheimer`s Disease Assessment Scale. Eine erweiterte

Form des MMSE ist die »Alzheimer’s Disease Assessment Scale« (ADAS – Rosen et al. 1993), die über einen kognitiven Testteil und einen nichtkognitiven Ratingteil verfügt. Der kognitive Teil dauert mit 30–40 min erheblich länger als der MMSE, gewichtet Gedächtnisdefizite aber auch viel stärker und wird damit den spezifischen Defiziten Dementer besser gerecht. CERAD-Batterie. Im Rahmen einer Zusammenarbeit amerikanischer Gedächtnisambulanzen entstand Ende der

80er Jahre eine Screening-Testbatterie zur (Früh-)Erkennung von Demenzen (The Consortium to Establish a Registry for Alzheimer’s Disease/CERAD – Morris et al. 1989; Welsh et al. 1991; Welsh et al. 1994), die ebenfalls Gedächtnisstörungen betont. Inzwischen ist diese CERAD-Batterie auch in andere Sprachen übersetzt und wird als Screening-Instrument häufig verwendet. Eine deutsche Version haben Thalmann et al. (1998) publiziert. Das Testmaterial kann man frei über das Internet herunterladen, es gibt auch einen Auswertungsservice für den Test. Zusammen mit Validierungsdaten haben Satzger et al. (2001) eine einfache grafische Auswertung vorgelegt.

RBANS-Batterie. Aus den letzten Jahren ist eine weitere Testbatterie für den Einsatz in der Demenzzdiagnostik zu nennen, die Repeatable Battery for the Assessment of Neuropsychological Status (RBANS) von Randolph (1998). In 12 kurzen Subtests werden Leistungen in den Bereichen Aufmerksamkeit, Sprache, Visuomotorik, Lernfähigkeit und Gedächtnis erfasst. Im Vergleich zur CERAD bietet die RBANS vor allem eine umfassendere Gedächtnisprüfung. Die differenzialdiagnostische Eignung beider Batterien ist durch die fehlende Erhebung exekutiver Funktionen eingeschränkt, deren Erfassung vor allem für frontalhirnbetonten Demenzen wichtig ist. Für eine ergänzende Diagnostik sind weitere Verfahren notwendig, zum Beispiel zur Erfassung der Handlungsplanung und -regulation (Turm von London – Culbertson u. Zilmer 2001; Planungstest – Kohler u. Beck 2000), des Problemlösens (Standardisierte Linksche Probe – Metzler 2000) und des flexiblen Denkens (Halstead Category Test – DeFilippis et al. 1979). Frontal Assessment Battery (FAB). Die FAB ist ein als

»Bedsidetest« angelegtes kurzes Screeningverfahren, das frontalhirnassoziierte kognitive und behaviorale Funktionen untersucht. In 6 Untertests werden die Funktionen Kategorienbildung, mentale Flexibilität, motorische Programmierung, exekutive Handlungskontrolle, Interferenzanfälligkeit, Selbstregulation, Inhibitionsfähigkeit und Unabhängigkeit von Umweltreizen geprüft (Dubois et al. 2000).

Neuropsychologische Testbatterien Aus der großen Mannigfaltigkeit neuropsychologischer Testverfahren, von denen viele eher ad hoc konstruierten experimentellen Prüfungen gleichen, deren Gültigkeit mehr durch Einzelfälle als durch breite Validitätsuntersuchungen belegt ist und deren Darstellung den Rahmen dieses Kapitels bei weitem sprengen würde, ragen einige Verfahren heraus, die als neuropsychologische Testbatterien breitere Anwendung auch in der Psychiatrie gefunden haben. Testbatterien. Die Halstead-Reitan Neuropsychologische Testbatterie (Heaton et al. 1991; Reitan u. Wolfson 1993)

ist eine Sammlung von Tests, über die es v. a. in den USA umfangreiche Untersuchungen gibt. In Deutschland sind nur einzelne Teile dieser Batterie (v. a. Category-Test und Trail-Making-Test) in Gebrauch. Daneben gibt es Testbatterien aus den Arbeitsgruppen von Arthur Benton (Benton et al. 1994) und Larry Squire (Davis et al. 1995). Charakteristisch für diese Verfahren ist ein normorientierter Ansatz bei der Konstruktion der Tests, ein einfacher Testaufbau, der eine Anwendung durch Hilfskräfte möglich macht, und das Ziel einer gruppenstatistischen Validierung.

22

505 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren

⊡ Tab. 22.4. Modifizierte, nicht zur Testdurchführung bestimmte Version des Mini-Mental-Status-Test: Beispielaufgaben in Anlehnung an die Originalform Nummer

Punktzahl

1

Welcher Wochentag ist heute?

1

2

Welches Datum?

1

3

Welcher Monat?

1

4

Welche Jahreszeit?

1

5

Welches Jahr?

1

6

Wo sind wir hier? (zuhause, Krankenhaus, Heim)

1

7

Welches Stockwerk?

1

8

In welchem Ort, in welcher Stadt?

1

9

In welchem Bundesland?

1

10

In welchem Land?

11

Sprechen Sie nach (1 Wort pro Sekunde; bei Verständnisschwierigkeiten bis zu 5-mal vorsagen)

1

12 13

Apfel

1

Becher

1

Seil

1

14–18

Buchstabieren Sie rückwärts! Stier (jeder richtige Buchstabe in rückwärtiger Reihenfolge zählt als ein Punkt):

Wenn » r-e-i-t-s« buchstabiert wird

5

19

Welches waren die 3 Wörter, die vorhin nachzusprechen waren?

Wenn »Apfel« genannt wird

1

20

Wenn »Becher« genannt wird

1

21

Wenn »Seil« genannt wird

1

22

Was ist das? (Stift wird vorgezeigt)

Wenn »Stift« gesagt wird

1

23

Was ist das? (Uhr wird vorgezeigt)

Wenn »Uhr« gesagt wird

1

24

Sprechen Sie nach: »Bitte keine warum und weshalb«

Wenn »Bitte keine warum und weshalb« gesagt wird

1

25

Ausführen von Befehlen

Nehmen Sie ein Blatt Papier!

1

26

Falten Sie es in der Mitte!

1

27

Legen Sie es auf den Stuhl!

1

»Öffnen Sie den Mund!«

1

Vorgabe einer Figur

1

28

Lesen und anschließendes Ausführen eines auf Papier gut lesbaren Befehls

29

Schreiben Sie auf dieses leere Blatt irgendeinen Satz

30

Zeichnen Sie diese Figur ab

Gesamtpunktzahl

Neuropsychological Assessment Battery (NAB). Die NAB

(Stern u. White 2003) ist eine neue, umfassende, integrative und modular aufgebaute Batterie von 33 neuen neuropsychologischen Tests, die Störungen einer Vielzahl neuropsychologischer Fertigkeiten und Funktionen bei Erwachsenen zwischen 18 und 97 Jahren erfasst. Die Batterie setzt sich aus den Modulen Aufmerksamkeit, Sprache, Gedächtnis, räumlich-visuelle Fähigkeiten und exekutive Funktionen zusammen und bietet zusätzlich eine Screening-Version mit 14 Subtests aus den genannten Bereichen. Es ist eine adaptive Vorgehensweise möglich, bei

1

max. 30

der man zunächst die Screening-Version vorgibt und danach nur die Bereiche intensiv untersucht, bei denen sich Defizite ergeben haben. Cambridge Neuropsychological Test Automated Battery (CANTAB). Die CANTAB (Robbins et al. 1994) ist eine PC-

gestützte Testbatterie, die in 12 Untertests weitestgehend sprachfrei Lernfähigkeit und Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Verarbeitungsgeschwindigkeit, räumlich-visuelle Analyse, Arbeitsgedächtnis, Problemlösen und planerische Fähigkeiten prüft. Neben der ausführlichen Ge-

506

Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik

dächtnisprüfung liegt ein Schwergewicht auf der Erfassung exekutiver Funktionen. Bisher wurde sie vorwiegend im Rahmen klinischer Prüfungen eingesetzt.

22

Ausblick Die psychologische Testdiagnostik blickt auf eine 100jährige Tradition zurück. Phasen der Euphorie über neue Methoden und neue Tests wurden abgelöst von Phasen der Skepsis, wobei letztere mehr durch inhaltliche Vorbehalte gegen den Zweck der Testung als durch Einwände gegen die Testmethodik per se gekennzeichnet waren. Beispiele dafür sind gesellschaftskritische Einwände gegen Auswahlverfahren insgesamt (Pulver et al. 1978), speziell gegen die Fairness der Tests bei Minoritäten (Equal Employment Opportunity Commission 1974), oder auch der absichtliche Verzicht auf normorientierte Diagnostik (zugunsten einer individuumszentrierten Verhaltensanalyse) in der Frühzeit der Verhaltenstherapie. Die verbesserte Kooperation von Psychiatrie, Neurowissenschaften und Neuropsychologie hat in den letzten 20 Jahren unsere Kenntnisse über die neuronalen Grundlagen menschlichen Erlebens und Verhaltens erheblich verbreitert, sowohl im Bereich kognitiver Prozesse (»Cognitive Neurosciene«) als auch für das Erleben und den Ausdruck von Affekten (»Affective Neuroscience«). Die Integration von Bildgebung, Neuropathologie und Neuropsychologie könnte das diagnostische Vorgehen in Psychiatrie und Psychosomatik in den nächsten Jahrzehnten verändern, weil der systematische Erkenntnisgewinn einer objektiven integrativen Diagnostik zu neuen Diagnosekonventionen führen sollte, die mehr als bisher auch neurowissenschaftliche Erkenntnisse einbeziehen.

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Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik

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22

23 23 Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring B. Bondy, M. J. Schwarz

23.1 Klinische Routineuntersuchung – 512 23.1.1 Laborkontrollen im Rahmen der medikamentösen Therapie – 512 23.1.2 Lues-Screening – 513 23.1.3 Schilddrüsenuntersuchung – 513 23.2 23.2.1 23.2.2 23.2.3

Liquordiagnostik – 514 Liquorpunktion und erste Untersuchungen – 515 Quantitative Bestimmungen – 515 Isoelektrische Fokussierung zum Nachweis oligoklonaler Banden (IEF) – 516 23.2.4 Zellpopulationen im Liquor – 516 23.3 Biochemische Marker des Alkoholismus – 517 23.3.1 Klinisch-chemische Parameter bei Alkoholismus – 517 23.3.2 Carbohydrate Deficient Transferrin (CDT) – 519 23.3.3 Ethylglucuronid – 520

23.4 Alzheimer-Demenz (AD) – 520 23.4.1 Apolipoprotein E (ApoE) – 520 23.4.2 β-Amyloid(1-42), τ-Protein und phospho-τ Protein im Liquor cerebrospinalis – 521 23.5 Therapeutisches Drugmonitoring (TDM) – 522 23.5.1 Indikationen für TDM psychotroper Medikamente – 522 23.5.2 TDM der Antidepressiva – 524 23.5.3 TDM der Antipsychotika – 524 23.5.4 Phasenprophylaktika und Antiepileptika – 525 23.5.5 Andere psychotrope Medikamente – 526 23.5.6 Methodische Aspekte – 526 23.5.7 Empfohlene therapeutische Bereiche – 526 Literatur

– 527

> > Die Psychiatrie ist mehr als andere Bereiche der Medizin abhängig von der klinischen Untersuchung der Symptome; sie kann sich bisher nicht darauf verlassen, anhand von Laborbefunden eine Diagnose definitiv bestätigen oder auszuschließen zu können. Dennoch führte die zunehmende Etablierung psychopharmakologischer Behandlungsstrategien und auch die wachsende Erkenntnis, dass zahlreiche organische Störungen psychische Symptome induzieren können dazu, dass heute die psychiatrische Diagnostik verschiedene Laborparameter mit einbezieht. Ein weites Spektrum an Möglichkeiten steht dabei zur Verfügung. Neben den in der Allgemeinmedizin üblichen klinisch chemischen, serologischen oder hämatologischen Methoden werden zunehmend auch biochemische, molekularbiologische oder immunologische Untersuchungsstrategien herangezogen. Außer der Aufklärung zugrundeliegender organischer Störungen wird von diesen Befunden zunehmend erwartet, dass sich mit ihrer Hilfe Diagnosen sichern lassen und somit Marker für psychopathologische Einheiten zur Verfügung stehen, die das nosologische Verständnis unterstützen oder erweitern. Die laborchemische Diagnostik dient auch dazu, die Behandlung zu überwachen und mögliche toxische Wirkungen der Medikamente frühzeitig zu erfassen. Die Bestimmung der Plasmakonzentrationen von Psychopharmaka, die Überprüfung der Leber- und Nierenfunktion, die Kontrolle des hämatopoetischen Systems oder die Überwachung der Schilddrüsenfunktion gehören heute zu den Routineuntersuchungen im Rahmen einer effektiven Behandlung mit Psychopharmaka.

512

Kapitel 23 · Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring

23.1

23

Klinische Routineuntersuchung

Obwohl es bisher keine einheitlichen Richtlinien gibt welche Parameter bei psychiatrischen Patienten zu untersuchen sind, richtet man sich nach dem allgemeinen klinischen Standard. Vor allem zu Beginn einer stationären Behandlung werden die folgenden Parameter routinemäßig überprüft:  Blutbild,  klinisch chemische Untersuchung des Serums mit Blutzucker, orientierenden Werten der Leber- und Nierenfunktion und Bestimmung der Elektrolyte sowie  Urinuntersuchung (Normwerte in ⊡ Tab. 23.1). ! Vielfach hat sich auch die routinemäßige Untersuchung der Schilddrüsenparameter durchgesetzt, da bei Störungen in diesem Bereich gelegentlich depressive Verstimmungen im Vordergrund der klinischen Symptomatik stehen oder eine bereits bestehende psychotische Symptomatik noch erheblich verschlechtert werden kann. Die Entscheidung für weiterführende Untersuchungen, wie die Suche nach antinukleären Antikörpern oder die Urinuntersuchung auf Porphyrine oder Schwermetalle wird nicht zuletzt von der Kosten-Nutzen-Analyse beeinflusst. Allerdings muss in Erwägung gezogen werden, dass Infektions- und Bindegewebserkrankungen oder Kupferstoffwechselstörungen (Morbus Wilson) zumindest vorübergehend als psychiatrische Störung imponieren können. Aber auch bei anderen neurologischen oder somatischen Erkrankungen (multiple Sklerose, Morbus Parkinson, Alzheimer-Demenz, HIV-Infektionen) treten psychiatrische Symptome auf.

Lumbalpunktion In vielen Institutionen hat sich die Untersuchung des Liquor cerebrospinalis als Routinemaßnahme bei der Erstmanifestation von Psychosen durchgesetzt. Obwohl die Lumbalpunktion nur bei geeigneten technischen Voraussetzungen von Klinik und Labor (unter strenger Beachtung der Kontraindikationen) durchgeführt werden sollte, lassen sich mit ihrer Hilfe doch zumindest mögliche organische Ursachen oder Begleiterkrankungen, wie blande verlaufende entzündliche Prozesse oder maligne Tumoren ausschließen ( Abschn. 23.2).

23.1.1

Laborkontrollen im Rahmen der medikamentösen Therapie

Obwohl Psychopharmaka im Allgemeinen eine relativ große therapeutische Breite haben, gibt es doch bei zahlreichen Patienten eine Reihe von unerwünschten Wir-

kungen. Da diese auch bei bereits bekannten und bewährten Substanzen auftreten, sind regelmäßige Laborkontrollen in allen Fällen erforderlich. Betroffen sind in erster Linie die Hauptausscheidungsorgane Leber und Nieren, sowie das blutbildende System. Obwohl die Mehrzahl dieser unerwünschten Wirkungen nicht lebensbedrohend ist, stellen gelegentlich fulminant verlaufende Blutbildveränderungen ein erhebliches Risiko dar.

Blutbild Veränderungen des weißen Blutbildes gehören zu den häufigsten Nebenwirkungen im Rahmen einer Therapie mit Psychopharmaka. Meist treten nur passagere, geringgradige Leukozytosen, Leukopenien oder Eosinophilien auf, v. a. bei der Behandlung mit niederpotenten Neuroleptika oder Clozapin (Klimke u. Klieser 1995). ! Obwohl es sich meist um Befunde ohne wesentliche klinische Relevanz handelt, sollte bei jeder Leukopenie (Anzahl der Leukozyten 4 Zellen/μl) die weitere mikroskopische Diagnostik durchgeführt (Carson u. Serpell 1996). ! Um eine einwandfreie Beurteilung der Zellen zu gewährleisten, ist es unbedingt erforderlich, dass möglichst innerhalb von 2 h die Zellzahl ermittelt und ggf. das Präparat für die Zelldifferenzierung hergestellt wird. Auch eine kurzfristige Aufbewahrung unter Kühlung kann die Beurteilung der Zellen erheblich beeinträchtigen.

Untersuchung nach PANDY Häufig wird parallel zur Zellbestimmung die einfache Untersuchung nach PANDY durchgeführt, um orientierend Aufschlüsse über einen möglicherweise erhöhten Eiweißgehalt des Liquors festzustellen. Dazu werden einige Tropfen Liquor mit einer 1%igen Karbollösung vermengt. Die Mischung zeigt sich entweder farblos bis opal (normaler Eiweißgehalt) oder mehr oder weniger trüb, was im Befund mit einem oder mehreren Pluszeichen angegeben wird. Der normale Liquor ist klar, farblos, nahezu frei von Zellen (10/3 oder >4/μl werden die Zellen mit Hilfe einer Zytozentrifuge auf einen Objektträger schonend sedimentiert und nach PappenheimFärbung weiter differenziert (Walts u. Strigle 1995).

Zellen des normalen Liquors Im lumbal entnommenen und nicht durch eine Erkrankung des zentralen oder peripheren Nervensystems veränderten Liquor kommen regelmäßig Lymphozyten und Monozyten (70% gegen 30%) vor. Es handelt sich um inaktive Zellen, die weitgehend bei einer konstanten Konzentration gehalten werden. Neben diesen Zellen finden sich gelegentlich Granulozyten, häufig auch (punktionsbedingt) Erythrozyten. Nur die ersten 3 ml des entnommenen Liquors weisen diesen zytologischen Befund auf, in späteren Portionen macht sich eine quantitative und qualitative Zellveränderung bemerkbar, Zeichen der Degeneration und Aktivierung können auftreten. Gelegentlich lassen sich auch Ependymzellen oder Zellen des Plexus chorioideus finden, ohne dass diesen eine pathognomische Bedeutung zukäme. Zu den Zufallsbefunden zählen ebenfalls Knorpelzellen, die anhand ihres charakteristischen Aussehens leicht zu erkennen sind. Gelegentlich finden sich retikuläre Zellen, unspezifisch polymorph gestaltete Zellen, die als Vorstufen der Makrophagen angesehen werden. Bei ausgereift phagozytierenden retikulären Zellen zeigt sich das Protoplasma aufgelockert, granuliert und netzartig strukturiert. Gerade bei normaler Zellzahl ist es fast immer schwierig, anhand einzelner zytomorphologischer Veränderungen darüber zu befinden, ob es sich um einen normalen oder pathologischen Zellbefund handelt.

Pathologisches Zellbild Von Interesse für die Psychiatrie sind v. a. akute Infektionen, die ein rasches Handeln mit geeigneten Maßnahmen erfordern. Oft ist das Differenzialzellbild des Liquors der einzige Parameter, der eine rasche Charakterisierung erlaubt. Zu Beginn einer bakteriellen Infektion überwiegt die neutrophile Zellreaktion mit deutlichen Pleozytosen von bis zu 15.000 Granulozyten/μl. Bei effizienter antibakteri-

eller Behandlung kann sich die Zellzahl in wenigen Tagen halbieren. Auch bei Virusinfektionen kann initial eine neutrophile Phase auftreten; meist findet sich aber zum Zeitpunkt der ersten Punktion ein rein lymphozytäres Bild, mit einer im Vergleich zur bakteriellen Infektion wesentlich geringeren Pleozytose. In späteren Stadien der Erkrankungen und v. a. unter Behandlung kommt es zu einem Shift der Zellpopulationen. Gelegentlich lassen sich bereits bei der routinemäßigen Färbung im Liquorsediment auch Bakterien oder Pilze erkennen, die jedoch weiter differenziert werden müssen. Auch Tumorzellen können im Liquor auftreten und verlangen oft nach einer weiteren Differenzierung mit geeigneten Färbungen.

23.3

Biochemische Marker des Alkoholismus

Hinsichtlich seiner sozialen, ökonomischen und medizinischen Konsequenzen zählt der Alkoholismus zu den schwerwiegendsten Suchterkrankungen unserer Gesellschaft. Vor allem die durch den Alkoholabusus induzierten zahlreichen toxischen Organschäden stellen eine enorme volkswirtschaftliche Belastung dar. Da auf Befragen sowohl über die Menge als auch den chronischen Gebrauch des konsumierten Alkohols nur selten korrekte Angaben gemacht werden und da schwere und nachweisbare Funktionsstörungen meist erst nach längerem, oft jahrelangem Missbrauch auftreten, gilt das Bemühen der Forschung der Suche nach verlässlichen Indikatoren. Das Ziel hierbei ist v. a. die Früherkennung des Alkoholmissbrauchs, da sich damit die Erfolgsaussichten einer medizinischen und präventiven Behandlung erheblich verbessern lassen.

23.3.1

Klinisch-chemische Parameter bei Alkoholismus

Zahlreiche Veränderungen der Laborparameter wurden im Verlauf der Alkoholkrankheit beobachtet, darunter Störungen auf hämatologischer oder hepatischer Ebene, Veränderungen des Fettstoffwechsels und der Immunfaktoren (Sillanaukee 1996). Da die akuten, v. a. aber die chronischen Effekte des Alkohols fundamentale Wirkungen auf die zellulären Membranen und den intermediären Stoffwechsel zeigen, ergeben sich eine Reihe von labortechnisch erfassbaren Veränderungen, die sich prinzipiell als Marker für Alkoholismus eignen. Dazu gehören neben der Aktivität der γ-Glutamyltransferase (γ-GT), die schon seit langer Zeit als spezifischer Parameter diskutiert wird, auch die Aspartataminotransferase (AST) mit

23

518

23

Kapitel 23 · Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring

Gesamtaktivität und mitochondrialem Isoenzym, das mittlere korpuskuläre Erythrozytenvolumen (MCV) und noch einige andere Parameter, deren alleinige Untersuchung allerdings nicht ausreicht, um chronischen Alkoholmissbrauch zu beweisen (Miller et al. 2006). Eine Zusammenfassung der wichtigsten Parameter findet sich in ⊡ Tab. 23.2.

γ-Glutamyltransferase (γ-GT) Als mitochondriales Enzym der Leber katalysiert die γGT die Übertragung von Glutamylresten auf Aminosäuren und spaltet Glutathion in Glutamat und Cysteinylglycin. Die Normbereiche werden mit 96 μm3) zu beobachten, die auf eine alkoholtoxische Knochenmarksschädigung zurückgeführt wird (Anger u. Heimpel 1987). Die hierfür erforderliche Ethanolbelastung liegt in einem Bereich von 80 g Alkohol pro Tag über einen Zeitraum von mehreren Monaten. Aber auch diese Veränderungen sind nicht spezifisch, sondern auch bei Vitamin-

⊡ Tab. 23.2. Laborparameter bei Alkoholikern. (Nach Gilg u. Soyka 1997)

γ-GT ASAT (GOT) ALAT (GPT) GLDH HDL-Cholesterin MCV CDT

Normalwerte

Sensitivität in %

Spezifität in %

Normalisierung nach Entzug

75 μV)



+

Traumschlaf

REM

V



Wie Stadium l mit Perioden rascher Augenbewegung

+++



534

Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden

der schlafpolygrafischen Befunde ist es wichtig, dass der Patient Gelegenheit hat, sich durch eine vorgeschaltete Adaptationsnacht an die Situation im Schlaflabor zu gewöhnen.

Schlafstadien

24

Als Standard für die Schlafpolygrafie haben sich die Richtlinien von Rechtschaffen u. Kales (1968) durchgesetzt. Die Einteilung und Definition der verschiedenen Schlafstadien ist in ⊡ Tab. 24.1 zusammengefasst. Die am häufigsten gebräuchliche Einteilung von Rechtschaffen u. Kales orientiert sich an den von Dement u. Kleitman (1957) vorgeschlagenen EEG-Stadien. Diese für die Untersuchung der Schlafphysiologie konzipierte Einteilung konzentriert sich auf die eigentlichen Schlafstadien und vernachlässigt die subvigilen Intermediärstadien, die beim Übergang vom Wachzustand bis zum Schlaf durchlaufen werden. Diese subvigilen Intermediärstadien mit ihren sehr unterschiedlichen EEG-Mustern werden in einem EEG-Stadium (Stadium I) zusammengefasst. Subvigile Intermediärstadien. Die Beachtung dieser Zwi-

schenstadien kann jedoch gerade für psychiatrische Fragestellungen von Interesse sein (s. z. B. Ulrich 1994). Ausgehend vom Loomis et al. 1937 wurden von Bente (1964) und Roth (1961) diese subvigilen EEG-Stadien sorgfältig ⊡ Abb. 24.2a, b. Schlafprofil eines (a) älteren und eines (b) jüngeren gesunden Probanden (Einteilung nach Rechtschaffen u. Kales). Während jüngere Menschen meist in der ersten Schlafhälfte Tiefschlafstadien 4 (S4) erreichen, werden diese Stadien im Alter seltener oder nicht erreicht. Auch ist im Alter die zyklische Abfolge der verschiedenen Stadien weniger regelmäßig, und Wachstadien sind häufiger

beschrieben und in 6 Unterstadien (A1–3, B1–3) unterteilt. Eine genaue Kenntnis dieser physiologischen subvigilen EEG-Muster und ihre Abgrenzung von pathologischen EEG-Befunden sind für die klinische Beurteilung des EEG wichtig. Sie öffnet zudem den Blick auf die sich im EEG manifestierende Vigilanzdynamik, d. h. die Fluktuation zwischen den verschiedenen Vigilanzstadien während einer Wachableitung. Gerade diese Vigilanzdynamik kann bei bestimmten psychopathologischen Syndromen gestört sein (Ulrich 1994).

Beurteilung Zur Beurteilung des Schlafes werden, basierend auf den Kriterien von Rechtschaffen u. Kales (1968), Schlafprofile erstellt (⊡ Abb. 24.2a, b). Für quantitative Auswertungen können eine Reihe von Parametern wie z. B. die REMLatenz, die totale Schlafzeit oder die Aufwachhäufigkeit bestimmt werden. Zur Beurteilung der Einschlafneigung am Tage wird im Rahmen des multiplen SchlaflatenzTests (MSLT) wiederholt tagsüber schlafpolygrafisch die Einschlaflatenz bestimmt, wobei ein Wert unter 10 min als auffällig gilt. Die standardisierte Durchführung des MSLT hat u. a. bei vermehrter Tagesmüdigkeit mit Schlafattacken und klinischem Verdacht auf eine Narkolepsie differenzialdiagnostischen Stellenwert.

535 24.2 · Methodik der EEG- und EKP-Untersuchung

24.2.4

Elektrogenese

Die elektrischen Potenziale, die als EEG oder EKP an der Kopfhaut gemessen werden, ergeben sich überwiegend aus der Summation von intrakortikalen Strömen, die durch postsynaptische Potenziale induziert werden. Diese postsynaptischen Potenziale entstehen durch die Wirkung von Neurotransmittern auf postsynaptische Rezeptoren und reflektieren damit unmittelbar kortikale neurochemische Aspekte. Das Wissen darüber, welche Kortexareale an der Generierung des EEG oder bestimmter EKP beteiligt sind, ist in den letzten Jahren durch  intrakranielle Ableitungen,  magnetenzephalografische Untersuchungen,  Läsionsstudien,  tierexperimentelle Untersuchungen,  funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) deutlich erweitert worden. Für die P300 ist z. B. gezeigt worden, dass der Gyrus temporalis superior und der parietale Kortex, aber auch andere Kortexareale involviert sind. Im Hippocampus ist ebenfalls eine hochamplitudige P300 ableitbar, die jedoch vermutlich keinen wesentlichen direkten Beitrag zu der an der Kopfhaut abgeleiteten P300 leistet. Die in den letzten Jahren eingeführte kombinierte (simultane) Ableitung von EEG und fMRT erlaubt die Verbindung der jeweiligen Stärken dieser Techniken, d. h. die hohe zeitliche (EEG) und räumliche (fMRT) Auflösung, und hat weitere wichtige Erkenntnisse über die Generatoren ereigniskorrelierter Aktivität und deren Aktivierung im Zeitverlauf ermöglicht (Mulert et al. 2004 a, b, 2005).

24.2.5

Vor- und Nachteile des EEG und der EKP

EEG- und EKP-Parameter bilden direkt die kortikale neuronale Massenaktivität, man könnte sagen die

»Hirnrindenmelodie«, ab. Dies leistet kein anderes Untersuchungsinstrument. FMRT, SPECT (Single-Photonen-Emissions-Computertomografie) oder PET (Positronenemissionstomografie) erlauben lediglich eine indirekte Beurteilung der zentralnervösen Funktion durch Messung metabolischer Aspekte wie Blutfluss, Oxygenierung, und Glukosemetabolismus oder durch Markierung von Bindungsstellen für Neuromodulatoren. Ob metabolische Änderungen Ausdruck vermehrter inhibitorischer oder exzitatorischer Aktivität sind oder in welchem Frequenzbereich die Änderungen der neuronalen Aktivität liegen, kann hierbei nicht unterschieden werden. In ⊡ Tab. 24.2 sind die Vor- und Nachteile des EEG/EKP und des fMRT gegenübergestellt. Die hohe zeitliche Auflösung der EEG/EKP-Methode ist ein entscheidender Vorteil, da kognitive Prozesse im Millisekundenbereich ablaufen und deshalb beim Menschen nur mit diesem Verfahren untersuchbar sind. Weiter kann das EEG auch bei wenig kooperationsfähigen Patienten abgeleitet werden. Cave Für das Oddball-Paradigma zur Untersuchung der P300 ist jedoch eine gewisse Kooperationsfähigkeit Voraussetzung, so dass z. B. die Ableitung der P300 bei Patienten mit schwerer Demenz meist nicht mehr möglich ist.

EEG und EKP sind nicht geeignet, zerebrale Läsionen zu entdecken und zu lokalisieren. Ein Grund hierfür ist die Tatsache, dass nur aktives kortikales Gewebe messbare Potenziale generiert. Nicht die Läsionen selbst, sondern Effekte dieser Läsionen auf die Funktion der noch aktiven kortikalen Strukturen werden sichtbar. Zu bedenken ist auch, dass das EEG zwar sehr empfindlich kortikale Prozesse, subkortikale Prozesse aber nur indirekt oder gar nicht abbildet. Die wichtigsten Anwendungsbereiche von EEG und EKP in der Psychiatrie liegen in der Diagnose und Differenzialdiagnose von hirnorganischen Prozessen

⊡ Tab. 24.2. Vor- und Nachteile des EEG/EKP und des fMRT EEG/EKP

fMRT

Zeitauflösung

Millisekunden

mehrere Sekunden

Räumliche Auflösung

2 cm

mm

Was wird gemessen?

Synchronisierte postsynaptische Potenziale

Änderungen des Blutflusses und der Oxygenierung

Welche Hirnstrukturen werden erfasst?

Kortex

Kortikale und subkortikale Strukturen

Nicht erfasst werden

Unsynchronisierte Aktivität

nicht-stimulus-gekoppelte Aktivität

Änderungen in der Synchronisation

sehr kurze Aktivitätsänderungen Weitere Beschränkungen

Kontrolle unspezifischer Faktoren (z. B. Vigilanz) problematisch

24

536

Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden

und von psychischen Störungen im Rahmen epileptischer Aktivität sowie in der Beurteilung hirnelektrischer Veränderungen unter einer Behandlung mit Psychopharmaka.

24

24.3

EEG/EKP und organische psychische Störungen

24.3.1

Demenzen

Alzheimer-Demenz Die klassischen Veränderungen bei visueller und quantitativer EEG-Analyse von Patienten mit leichter und mittlerer Alzheimer-Demenz zeigen sich als:  Zunahme der relativen und absoluten θ-Aktivität,  Verlangsamung der α-Grundaktivität,  Abnahme der β-Aktivität,  Zunahme der δ-Aktivität,  Amplitudenabnahme und Latenzzunahme der P300. Bei Verwendung der quantitativen EEG ist der sensitivste Parameter, der auch Patienten mit leichter AlzheimerDemenz von gleichaltrigen gesunden Personen trennt, der Anstieg der relativen θ-Aktivität (Szelies et al. 1994;

⊡ Abb. 24.3. a EEG eines 72-jährigen Patienten mit leichter Alzheimer-Demenz (Mini-Mental-State-Examination: 26 Punkte) im Vergleich zu einem Normalbefund. b Bei dem Patienten findet sich

Soininen et al. 1991; Penttilä et al. 1985; Coben et al. 1985, 1990). Eine Verlangsamung der α-Grundaktivität auf 8 Hz oder darunter findet sich ebenfalls bereits bei Patienten mit leichter Alzheimer-Demenz (ca. 40%; Prinz u. Vitiello 1989) und bei der Mehrzahl der Patienten mit mittlerer Alzheimer-Demenz. Hilfreich ist das Vorliegen eines Vor-EEG, anhand dessen z. B. eine Verlangsamung von 11 auf 9 Hz erkannt und als pathologisch eingestuft werden könnte. Das EEG eines Patienten mit leichter Alzheimer-Demenz im Vergleich zu einem Normalbefund zeigt ⊡ Abb. 24.3a, b.

Sensitivität und Spezifität Bei der diagnostisch schwierigen Patientengruppe mit leichter Alzheimer-Erkrankung berichten die meisten Studien von einer lediglich mäßigen Sensitivität der EEGParameter (Prozentsatz der Alzheimer-Demenz-Patienten mit pathologischem EEG: 20–40%), wenn die Spezifität (Prozen