Nichtmedikamentöse Schmerztherapie: Komplementäre Methoden in der Praxis
 3211335471, 9783211335475 [PDF]

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Zitiervorschau

Günther Bernatzky, Rudolf Likar, Franz Wendtner, Gerhard Wenzel, Michael Ausserwinkler und Reinhard Sittl (Hrsg.) Nichtmedikamentöse Schmerztherapie Komplementäre Methoden in der Praxis

SpringerWienNewYork

Univ.-Professor Dr. Günther Bernatzky Naturwissenschaftliche Fakultät, Universität Salzburg, Salzburg, Österreich

Univ.-Dozent Dr. Rudolf Likar Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin, LKH Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich

Mag. Franz Wendtner Salzburger Landeskliniken, Universitätsklinik für Innere Medizin 3, Salzburg, Österreich

Dr. Gerhard Wenzel Schwarzach, Österreich

Dr. Michael Ausserwinkler Klagenfurt, Österreich

OA Dr. Reinhard Sittl Klinik für Anästhesiologie, Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2007 Springer-Verlag/Wien Printed in Austria SpringerWienNewYork ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.at Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch/wissenschaftlichen Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Insbesondere Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eine Haftung der Herausgeber, der Autoren oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. Textkonvertierung und Umbruch: Grafik Rödl, Pottendorf, Österreich Druck und Bindearbeiten: Druckerei Theiss GmbH, St. Stefan, Österreich, www.theiss.at Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier – TCF SPIN: 1156832

Mit 61 Abbildungen und 14 Tabellen Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

ISBN 978-3-211-33547-5 SpringerWienNewYork

Widmung

Günther Bernatzky: Ich widme dieses Buch meinen Eltern, vor allem meiner Mutter Maria, die mir viel Liebe und Zuwendung zur Schmerztherapie gegeben hat. Rudolf Likar: Ich widme dieses Buch meinen Eltern. Franz Wendtner: Ich widme dieses Buch meinen Eltern. Gerhard Wenzel: Dank an alle meine Lehrer und an alle meine Patienten. Jeder Tag ein guter Tag. Michael Ausserwinkler: Ich widme dieses Buch all jenen Patienten, die mir den Ausflug in die Politik verziehen haben. Reinhard Sittl: Ich widme dieses Buch meinen Kindern Ruth, Ursula und Kim.

Vorwort

Schmerzen sind Teil unseres Lebens. Sie sind ein wichtiges biologisches Warnzeichen. Doch oft werden sie – wie wir besonders von Menschen mit chronischen Schmerzen wissen – als sinnlose Pein erlebt. Gerade ein solcher den ganzen Menschen erfassender Schmerz (Total Pain) erfordert eine ganzheitliche Therapie, die Körper, Geist und Seele der Betroffenen, ihre Beziehungen zur Umwelt und ihre Spiritualität in den Blick nimmt. Eine solche ganzheitliche Therapie wird immer eine interdisziplinäre sein und sie wird die zahlreichen heute zur Verfügung stehenden Methoden der nichtmedikamentösen Schmerztherapie mit einbeziehen. Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Fülle der „komplementären“ Methoden zur Behandlung von Schmerzen. Vorangestellt sind Informationen über Schmerzentstehung und -messung, die Geschichte der Schmerztherapie und den Placeboeffekt. Dann werden mehr als 30 nichtmedikamentöse Verfahren vorgestellt und über ihre Anwendungsweisen und Wirkungen berichtet. Um dem wissenschaftlichen Anspruch des Buches gerecht zu werden wird auf die Verwendungsmöglichkeiten der vorgestellten Komplementärmethoden in der Praxis bzw. auf Indikationen und Kontraindikationen besonderer Wert gelegt. Soweit es möglich ist, wird die Wirkung der einzelnen Methoden im Sinne der „Evidence-Based-Medicin“ beschrieben. Falls nur Anwendungsbeobachtungen vorliegen, werden die Nebenwirkungen dargestellt. Vorgestellt werden komplexe Methoden der Gesunderhaltung wie die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), Qi Gong, ANMO-Massage, Akupunktur und Ayurveda ebenso wie Auriculomedizin oder Ayahuasca, der „Pfad südamerikanischer Schamanen zur Heilung und Auflösung von Schmerzen“, den Christian Kobau beschreibt. Vieles aus den genannten Naturheilverfahren hat längst Eingang in moderne medizinische Verfahren gefunden. So etwa korrespondieren moderne Entspannungsverfahren zur Schmerzlinderung oft mit uralten Heilweisen. Ähnliches gilt auch für die bereits jetzt breit eingesetzten Schmerzbehandlungsverfahren etwa aus dem Bereich der modernen physikalischen Medizin oder der heutigen Phytomedizin. Mehrere Beiträge befassen sich damit, wie Musik bei Schmerzen helfen kann. So sind heute die Erfolge von aktiver und rezeptiver Musiktherapie wissenschaft-

VIII

Vorwort

lich belegt. Auch über die positiven Erfahrungen mit der „Klangwiege“, die chronische Schmerzen lindern kann oder mit der heute wieder praktizierten „Altorientalischen Musiktherapie“ wird berichtet. Was Hypnose bei der Behandlung von akuten und chronischen Schmerzen leisten kann, wird im vorliegenden Buch ebenso beschrieben wie die Möglichkeiten psychologischer und psychotherapeutischer Verfahren. Ein Beitrag zeigt, wie die bereits erfolgreich in der Praxis angewandten Methoden des Mentaltrainings für Sportler auch bei bestimmten Gruppen von SchmerzpatientInnen eingesetzt werden können. Hier liegt der Schwerpunkt darauf, die Eigenressourcen bzw. die Kompetenz der Betroffenen im Umgang mit Schmerzen zu stärken. Die Erhöhung der Selbstwirksamkeit der PatientInnen bei der Bewältigung von Schmerzen ist bei fast allen in dem Buch beschriebenen komplementären Therapiemethoden ein wesentlicher Punkt. Doch diese (Selbst)Wirksamkeit hat Grenzen, das müssen oft auch jene erkennen, die SchmerzpatientInnen medizinisch und pflegerisch betreuen. Ein Mittel, diesen Grenzen zu begegnen ist ein von Herzenswärme, Verständnis und Einfühlungsvermögen getragener Humor, so schreibt Ingrid Patsch in ihrem Beitrag „Humor trotz(t) Schmerzen“. Die Kunst sich auf den anderen einzulassen, ihn einfühlsam zu beobachten, mit ihm mitzufühlen und eine gemeinsame Verständigungsebene herzustellen ist besonders gefragt, wenn es darum geht den alles umfassenden Lebensschmerz hochbetagter Demenzkranker durch „Total soothing“ zu lindern. Gerade diese Menschen leiden an vielen – oft unerkannten – körperlichen, seelischen, sozialen und spirituellen Schmerzen und dies umso mehr je schwächer Geist und Körper werden, so berichten Marina Kojer, Martina Schmidl und Ursula Gutenthaler in ihrem Beitrag. „Total soothing“ ist das Beispiel für eine ganzheitliche interdisziplinäre Schmerztherapie, die – fachliche – „Kompetenz und Kunst“ – der MitMenschlichkeit, der Kommunikation und Intuition – eng miteinander verbindet. Auch zwischen der medizinischen und pflegerischen Kompetenz, welche alle heute zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Schmerztherapie zu nützen versteht, und der spirituellen Begleitung der PatientInnen sollte es eine enge Verbindung geben, so schreibt Michael Peintinger im Beitrag „Glaube, Hoffnung und Schmerz“. Nur dann kann Glaube bei der Schmerz- und Leidensbewältigung echte Hilfe leisten. Diese kommt sowohl den PatientInnen zugute als auch jenen, die sie betreuen. Schmerz ist – so ist heute die Sicht der Wissenschaft – ein bio-psycho-soziales System. Schmerztherapie erfordert eine hochqualifizierte interdisziplinäre Zusammenarbeit. Dies ist einerseits die Grundlage wie auch die Konklusio des vorliegenden Buches, an welchem VertreterInnen ganz unterschiedlicher Disziplinen mitgearbeitet haben. Ziel ist es, Hilfe für Leidende zu ermöglichen und weiter zu verbessern. So gesehen ist dieses Buch nicht abgeschlossen. Es ist zu erwarten und auch zu hoffen, dass schon bald neue Erkenntnisse die Möglichkeiten der medikamentösen wie auch der nichtmedikamentösen Schmerztherapie weiter verbessern werden.

Danksagung

Wir danken den Autoren für die Bearbeitung der einzelnen Kapitel. Für die redaktionelle Bearbeitung danken wir Fr. Dr. Heide Gottas (Salzburg) und Dr. Mag. Patrick Bernatzky (Salzburg). Unser ganz besonderer Dank gilt den Mitarbeitern des Springer-Verlags Wien, Fr. Renate Eichhorn und Fr. Susanne Mayr sowie Hrn. Raimund Petri-Wieder für die Einladung, dieses Buch zu bearbeiten, sowie für die große Unterstützung am Zustandekommen dieses Buches. Unser Dank richtet sich auch an all jene, die mit Ideen und Hilfestellung zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben: Bernd J. Kreutner (Ehringshausen), Peter Gleim (Triesen) und Fr. Dr. Astrid Leitsberger (Graz).

Inhaltsverzeichnis

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV Schmerzentstehung und Schmerzbehandlung – neue Erkenntnisse wirken in die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. BERNATZKY, R. LIKAR Der Schmerz ist älter als die Menschheit G. BERNATZKY, R. LIKAR

1

. . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Schmerzmessung und Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . W. PIPAM, G. BERNATZKY, R. LIKAR

15

Wirkung ohne Wirkstoff – der Placebo-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . R. LIKAR, G. BERNATZKY

23

Glaube, Hoffnung und Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. PEINTINGER

31

Was kann ihren Schmerz lindern? „Total soothing“ bei demenzkranken Hochbetagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. KOJER, M. SCHMIDL, U. GUTENTHALER

51

Von der Schmerzorientierung zur Kompetenzorientierung im Sport . P. BERNATZKY, W. KNÖRZER, G. AMESBERGER, G. BERNATZKY

65

Psychotherapeutische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. BACH

75

Entspannungsverfahren in der Schmerztherapie unter besonderer Berücksichtigung des Biofeedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . W. PIPAM

89

Biofeedback in der Schmerzbehandlung: Wirkfaktoren und Effektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 D. KROPFREITER

XII

Inhaltsverzeichnis

Hypnose bei akuten und chronischen Schmerzen – Möglichkeiten und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 W. HÄUSER Nicht-medikamentöse Therapien bei primären Kopfschmerzen . . . . 129 G. LUTHRINGSHAUSEN Psychologische Behandlung von Kopfschmerzen und Migräne . . . . . 141 J. MALY Humor trotz(t) Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 I. PATSCH Musik mit Entspannungsanleitung bei Patienten mit Schmerzen . . . 157 G. BERNATZKY, W. KULLICH, F. WENDTNER, H. P. HESSE, R. LIKAR Aktive Musiktherapie bei chronischen Schmerzen – theoretische Konzepte und Untersuchungen zur Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . 171 C. MÜLLER-BUSCH Die Klangwiege in der Musiktherapie bei Patienten mit chronischen Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 T. SCHRÖTER Altorientalische Musiktherapie – als regulations- und beziehungsorientierter Therapieansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 G. TUCEK Die Feldenkrais-Methode in der Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . 211 M. WITTELS Schmerztherapie mit Angewandter Kinesiologie . . . . . . . . . . . . . 221 G. LEHNER-KAMPL Physikalische Interventionen in der Schmerztherapie . . . . . . . . . . 229 A. WICKER TENS – Transkutane Elektrische Nervenstimulation . . . . . . . . . . . 243 B. DISSELHOFF Kneipp-Therapie bei Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 R. M. BACHMANN Radon als schmerzlinderndes natürliches Heilmittel . . . . . . . . . . . 287 G. LIND-ALBRECHT Bio-Elektro-Magnetische-Energie-Regulation (BEMER): Das physikalische Konzept und sein Einsatz bei Schmerz auslösenden Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 W. A. KAFKA Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie im Gruppensetting. . 319 R. SITTL, N. GRIESSINGER, C. KOHNEN

Inhaltsverzeichnis

XIII

Qigong . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 F. WENDTNER Selbstmassage / ANMO in der Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . 353 G. WENZEL, N. HERWEGH Nichtmedikamentöse Methoden in der Notfallmedizin . . . . . . . . . 373 C. HESSLER, B. GUSTORFF, A. KOBER, K. HOERAUF Akupunktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 H.-P. HESSE Die Auriculomedizin in der Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . 391 M. REININGER Akupunktur in der zahnärztlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 C. KOBAU Ayurveda in der Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 W. SCHACHINGER Die Möglichkeiten der Homöopathie in der Schmerztherapie . . . . . 427 E. PICHLER Aromatherapie und Schmerzbehandlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 W. STEFLITSCH, M. STEFLITSCH Gesundheitsmodulation durch Nahrungsinhaltsstoffe . . . . . . . . . . 461 W. KULLICH Phytotherapie bei Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 R. LÄNGER, E. MUR Ayahuasca. Der Pfad südamerikanischer Schamanen zur Heilung und Auflösung von Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 C. KOBAU Heilbehelfe und Hilfsmittel in der Schmerztherapie . . . . . . . . . . . 503 B. MÜHL Migräne-Tagebuch (MTB). Handbuch zur nichtmedikamentösen eigenaktiven Migräne-Vorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 G. BERNATZKY, R. LIKAR, G. LUTHRINGSHAUSEN, M. WENKO Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521

Autorenverzeichnis

Amesberger Günter, Univ.-Prof. Dr., Universität Salzburg, Sportpädagogik und Sportpsychologie, Rifer Schlossallee 49, 5400 Hallein, Österreich, Tel.: +43 (0)662/8044-4857, [email protected] Ausserwinkler Michael, Dr., Hans-Gasser-Platz 6a, 9500 Villach, Österreich, Tel.: +43 (0)4242-29 222, offi[email protected] Bach Michael, Prim. Univ.-Prof. Dr., Abteilung für Psychiatrie Steyr und Department für Psychosomatik Enns, Sierninger Straße 170, 4400 Steyr, Österreich, Tel.: +43 (0)50554/66-26500, Fax: ++43 (0)50554/66-26504, [email protected] Bachmann Robert M., Dr., Facharzt für Allgemeinmedizin, Balneologie, medizinische Klimatologie und Naturheilverfahren, Postfach 1143, 86814 Bad Wörishofen, Deutschland, Tel.: +49 (0)8247/3930, Fax: +49 (0)8245/4301, www.drbachmann.de Bernatzky Günther, Univ.-Prof. Dr., Naturwissenschaftliche Fakultät der Universität Salzburg, Fachbereich für Organismische Biologie, Arbeitsgruppe für Neurodynamics und Neurosignalling, Hellbrunnerstraße 34, 5020 Salzburg, Österreich, Tel.: +43 (0)662/8044-5627, [email protected] Bernatzky Patrick, Dr. Mag., Universität Salzburg, Sportpädagogik und Sportpsychologie, Rifer Schlossallee 49, 5400 Hallein, Österreich, Tel.: +43 (0)662/8044-4857, [email protected] Disselhoff Bertram, Dr., Hörnsheimer Eck 19, 35578 Wetzlar, Deutschland, Tel.: +49 (0)6411/6792327, [email protected] Grießinger Norbert, OA Dr. med., Anästhesiologische Klinik, Akutschmerzdienst, Schmerzambulanz, Universitätsklinikum Erlangen, Krankenhausstraße 12, 91054 Erlangen, Deutschland, Tel.: +49 (0)9131/85-2558, [email protected]

XVI

Autorenverzeichnis

Gustorff Burkhard, OA Univ.-Prof. Dr., Abteilung für Allgemeine Anästhesie und Intensivmedizin B, AKH Wien, Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien, Österreich, Tel.: +43 (0)1/40400-0, [email protected] Gutenthaler Ursula, 1. Medizinische Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie, Geriatriezentrum am Wienerwald, Jagdschlossgasse 59, 1130 Wien, Österreich, Tel.: +43 (0)1/80110, [email protected] Häuser Winfried, Dr. med., Ärztlicher Leiter Zentrum für Schmerztherapie, Klinikum Saarbrücken GmbH, Winterberg 1, 66119 Saarbrücken, Deutschland, Tel.: +49 (0)681/963-2020, Fax: +49 (0)681/963-2022, [email protected] Herwegh Norbert, Mag., Hiltenspergerstraße 21, 80798 München, Deutschland, Tel.: +49 (0)89/2717923, [email protected] Hesse Horst-Peter, Univ.-Prof. Dr., Am Hopfenberg 3, 37130 GleichenWeissenborn, Deutschland, Tel.: +49 (0)5508 923111, [email protected], www.horstpeterhesse.de Heßler Christine, Dipl. Ing., Clinical Study Manager, Grünenthal GmbH., Campus 21, Liebermannstraße A01/501, 2345 Brunn am Gebirge, Österreich, Tel.: +43 (0)2236/379550-45, [email protected] Hoerauf Klaus, Univ.-Prof. Dr., Medical Director, Grünenthal GmbH., Campus 21, Liebermannstraße A01/501, 2345 Brunn am Gebirge, Österreich, Tel.: +43 (0)2236/379550-47, [email protected] Ilias Wilfried, Univ.-Prof. Prim. Dr., Abteilung für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, Große Mohrengasse 6, 1020 Wien, Österreich, Tel.: +43 (0)1/21121-1318 (5040), [email protected] Kafka Wolf A., Prof. Dr., International Association on the Research of the Physiological Effects of Electromagnetic Fields under normal and extreme (space) conditions (EMPHYSPACE), Johannishöhe 9, 82288 Kottgeisering, Deutschland, Tel.: +49 (0)8144/206, [email protected] Knörzer Wolfgang, Prof. Dr., Pädagogische Hochschule Heidelberg, INF 720, 69120 Heidelberg, Deutschland, Tel.: +49 (0)6221/477606, [email protected] Kohnen Christiane, Global Marketing – Pain Education, Grünenthal GmbH, 52099 Aachen, Deutschland Kobau Christian, DDDr., Facharzt für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Arzt für Allgemeinmedizin, Ferdinand Rauneggergasse 41, 9020 Klagenfurt, Österreich, Tel.: +43 (0)463/512527, [email protected] Kober Alexander, Univ.-Prof. Dr., Abteilung für Allgemeine Anästhesie und Intensivmedizin B, AKH Wien, Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien, Österreich, Tel.: +43 (0)1/40400-0, [email protected]

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Kojer Marina, DDr., Ernst-Karl-Winter-Weg 8, 1190 Wien, Österreich, Tel.: +43 (0)1/3205676, [email protected] Kropfreiter Dieter, DI Dr., Insight Instruments, Steglandweg 5, 5400 Hallein, Österreich, Tel.: +43 (0)6245/71149, [email protected] Kullich Werner, Univ.-Doz. Dr., Ludwig-Boltzmann-Institut, Thorer Straße 26, 5760 Saalfelden, Österreich, Tel.: +43 (0)6582/74936, [email protected] Lehner-Kampl Gabriele, Sekull 135, 9212 Techelsberg am Wörther See, Österreich, Tel.: +43 (0)4272/24114, Mob.: 0664-4632573, [email protected] Länger Reinhard, Univ.-Prof. Dr., Leinpaumgasse 8, 3100 St. Pölten, Tel.: +43 (0)676/5311759, [email protected], [email protected] Likar Rudolf, OA Univ.-Doz. Dr., Landeskrankenhaus Klagenfurt, St. Veiter Straße 47, 9020 Klagenfurt, Österreich, Tel.: +43 (0)463/538-23703, [email protected] Lind-Albrecht Gudrun, Prim. Dr., Gasteiner Heilstollen, 5645 Böckstein/ Bad Gastein, Österreich, Tel.: +43 (0)6434/37530, [email protected] Luthringshausen Gernot, OA Dr., Universitätsklinik für Neurologie, Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Christian-Doppler-Klinik, Ignaz-Harrer-Straße 79, 5020 Salzburg, Österreich, Tel.: +43 (0)662/4483-0, [email protected] Maly Joachim, Ass.-Prof. Dr., Leiter der Abteilung Klinische Neuropsychologie, Neurologische Universitätsklinik der Medizinischen Universität Wien, Währinger Gürtel 18, 1090 Wien, Österreich, Tel.: +43 (0)1/40400-0, Fax: +43 (0)1/40400-3141, [email protected] Mühl Bernhard, Dr., Salzburger GKK, Faberstraße 19–23, 5020 Salzburg, Österreich, Tel. +43 (0)662/8889, [email protected] Müller-Busch Christof, Prof. Dr. med., Abteilung für Anästhesiologie, Palliativmedizin und Schmerztherapie, Gemeinschaftskrankenhaus Havelhoehe, Kladower Damm 221, 14089 Berlin, Deutschland, Tel.: +49 (0)30/36501160, [email protected], [email protected] Mur Erich, Univ.-Doz. Dr., Universitätsklinik für Innere Medizin, Anichstraße 35, 6020 Innsbruck, Österreich, Tel.: +43 (0)512/504-23370, -81416, [email protected] Patsch Inge, TILO – Tiroler Institut für Logotherapie nach Viktor E. Frankl, Lizumstraße 34, 6094 Axams, Österreich, Tel.: +43 (0)5234/68844, [email protected]

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Autorenverzeichnis

Peintinger Michael, Univ.-Lektor OA Dr., Lehrbeauftragter für Medizinethik an der Medizinischen Universität Wien, FA für Anästhesie und Vorsitzender der Ethikkommission der KA „Göttlicher Heiland“, Grinzingerstraße 26, 1190 Wien, Österreich, Tel.: +43 (0)676/3208013, [email protected] Pichler Erfried, Dr., Arzt für Allgemeinmedizin, Homöopathie und Chirotherapie, Herbertstraße 10, 9020 Klagenfurt, Österreich, Tel.: +43 (0)463/511573, [email protected] Pipam Wolfgang, Dr., Zentrum für interdisziplinäre Schmerztherapie, Onkologie und Palliativmedizin, Landeskrankenhaus Klagenfurt, St. Veiter Straße 47, 9020 Klagenfurt, Österreich, Tel.: +43 (0)463/538-22970, [email protected] Reininger Manfred, Dr., Kirchenfeld 20, 4722 Peuerbach, Österreich, Tel.: +43 (0)676/4347200, [email protected] Schachinger Wolfgang, Dr. med., Arzt für Allgemeinmedizin, Leiter des Maharishi Ayurveda Gesundheitszentrums, Bahnhofstraße 19, 4910 Ried/ Innkreis, Österreich, Tel.: +43 (0)7752/86622, Fax: +43 (0)7752/86622-4, [email protected], www.ayurvedaarzt.at Schmidl Martina, OA Dr., 1. Medizinische Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie, Geriatriezentrum am Wienerwald, Jagdschlossgasse 59, 1130 Wien, Österreich, Tel.: +43 (0)1/80110-3369, [email protected] Schröter Thomas, Dipl.-Sozialpädagoge, Musiktherapeut BVM, Praxis für Musiktherapie, Liggeringer Straße 4, 78315 Radolfzell am Bodensee, Deutschland, Tel.: +49 (0)7732/938070, [email protected], www.musiktherapie-praxis.de, www.musiktherapiepraxis.ch Sittl Reinhard, OA Dr. med, Dipl. Soz., Schmerzzentrum, Universitätsklinikum Erlangen, Krankenhausstraße 12, 91054 Erlangen, Deutschland, Tel.: +49 (0)9131/85-2558, [email protected] Steflitsch Michaela, Österreichische Gesellschaft für wissenschaftliche Aromatherapie und Aromapflege, Weinheimergasse 16/6/13, 1160 Wien, Österreich, Tel.: +43 (0)664/9765071, offi[email protected] Steflitsch Wolfgang, Dr., OttoWagner Spital, Aromatherapeut, Baumgartner Höhe, 1140 Wien, Österreich, Tel.: +43 (0)664/2205733, wolfgang.stefl[email protected] Tucek Gerhard, Mag. Dr., Institut für Ethnomusiktherapie, Niederneustift 66, 3924 Schloss Rosenau, Österreich, Tel.: +43 (0)2282/51248, [email protected] Wendtner Franz, Mag., Universitätsklinik für Innere Medizin 3, Universitätsinstitut für Klinische Psychologie, SALK, Müllner Hauptstraße 48, 5020 Salzburg, Österreich, Tel.: +43 (0)662/4482-58707, [email protected] Wenko Margit, Dr., König-Ludwig-Straße 20, 5020 Salzburg, Österreich, Tel.: +43 (0)662/ 82 79 30

Autorenverzeichnis

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Wenzel Gerhard, Dr., Siedlung 55, 5620 Schwarzach, Österreich, Tel.: +43 (0)6415/6190, [email protected] Wicker Anton, Prim. Univ.-Prof. DDr. Mag., Abteilung für Physikalische Medizin, St. Johanns-Spital, Müllner Hauptstraße 48, 5020 Salzburg, Österreich, Tel.: +43 (0)662/4482-4201, [email protected] Wittels Martina, OA Dr., Schmerzambulanz, LKH Klagenfurt, St. Veiter Straße 47, 9020 Klagenfurt, Österreich, Tel.: +43 (0)463/538-0, [email protected]

Schmerzentstehung und Schmerzbehandlung – neue Erkenntnisse wirken in die Praxis G. B E RNA T Z K Y u n d R. L I K A R

Schmerzen sind Teil unseres Lebens. Sie sind ein wichtiges biologisches Warnzeichen. Bereits im Mutterleib können wir schmerzliche Erfahrungen machen. Schon früh beginnt das „Schmerzlernen“. Wie andere Lernvorgänge auch werden die Erfahrungen mit Schmerzen gespeichert. Das individuelle „Schmerzgedächtnis“ bildet sich aus. Wie wir heute wissen, geschieht das bereits ab der 28. Schwangerschaftswoche. Ab diesem Zeitpunkt sind, so zeigten Konditionierungsversuche, allgemeine Lernvorgänge nachweisbar (Zimmermann 1993). Bereits bei neugeborenen Kindern und auch schon bei Frühgeborenen kann man durch evozierte Potentiale reproduzierbare kortikale Reizantworten auf noxische Reize erhalten.

Schmerzen prägen sich ein Heute weiß man, dass bereits Kleinstkinder Schmerzen empfinden. Und man weiß auch, dass frühe Schmerzerfahrungen auch noch die Schmerzerlebnisse von Erwachsenen bestimmen. Der Grund dafür ist, dass sich Reaktionen auf schmerzhafte Reize in Form sogenannter Engramme derart einprägen, dass sie über gleichzeitig eingeprägte Begleitfaktoren auch nach langen Jahren wieder auftreten können. Als Auslöser fungiert dabei manchmal ein bestimmtes Geräusch, ein Bild, ein Geruch, ein spezieller Geschmack auf der Zunge, der sich mit der ursprünglichen Schmerzerfahrung verbunden in unser Gedächtnis eingegraben hat. Der charakteristische Geruch im Krankenhaus, wo ein Kind eine schmerzhafte Behandlung über sich ergehen lassen musste, ist nur ein Beispiel dafür. Übrigens wird heute in verschiedenen Arbeiten aus der Psychopathologie über die Entstehung psychiatrischer Krankheiten infolge frühkindlicher Schmerzerlebnisse berichtet (Holden 1977).

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G . Be r n a t z k y u n d R. L i k a r

Aus zahlreichen Untersuchungen kennt man heute den physiologischen Ablauf dabei recht gut. Und man weiß auch, dass wiederholte Schmerzreize zu einer Sensibilisierung führen. Das bedeutet einerseits, dass die Erregungsschwelle in den Nozizeptoren für nachfolgende Schmerzen herabgesetzt wird. Andererseits vermehrt sich die Anzahl aktivierbarer Rezeptoren und es kommt infolge der netzartigen neuronalen Verschaltung rund um das geschädigte Feld zu einer deutlichen Vergrößerung der Neurone. Damit reagiert nun auch die Umgebung der Schmerzstelle empfindlicher auf äußere Reize. Die Depolarisierungsschwelle wird gesenkt, das Perzeptionsfeld wird vergrößert. Die Folge ist ein intensiviertes Schmerzerlebnis und eine dementsprechend verstärkte vegetative Reaktion. Über eine Rückkopplung über das Hinterhorn des Rückenmarks findet eine Hypersensibilisierung statt und es erfolgt eine verstärkte Reizweiterleitung zu den Schmerz wahrnehmenden Zentren im Gehirn. Die Schmerzdauer wird verlängert und die Schmerzintensität verstärkt. Aus all dem folgt: Um diese Rückkopplungsprozesse zu vermeiden, sollten Schmerzen immer rasch behandelt werden. Schmerzvorsorge und -vermeidung ist für Menschen aller Altersgruppen wichtig. Das gilt besonders auch für jene, die ihrem Schmerzempfinden nicht oder auch nicht mehr so Ausdruck verleihen können, dass sie verstanden werden. Dazu zählen Früh- und Neugeborene aber auch hochbetagte Menschen ebenso wie für Demenzkranke und Menschen mit bestimmten Behinderungen. Der geschilderte Ablauf ist durch zahlreiche wissenschaftliche Studien belegt. So führt beispielsweise eine Entzündung an einem Gelenk mit der Zeit zu einer erhöhten Erregbarkeit der zugehörigen Rückenmarksneurone (Schmidt 1991). Bei Patientinnen nach gynäkologischen Eingriffen konnte eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber elektrischen Reizen, verbunden mit stärkeren Schmerzen festgestellt werden (Dahl et al. 1992). Auch dramatische Schmerzerlebnisse im perioperativen Bereich, also rund um Operationen, können eine Engrammbildung hervorrufen. So kann die unphysiologisch hohe Entladungstätigkeit in einem Nerv, wie sie etwa nach dessen Durchtrennung im Zuge einer Operation auftritt eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit auslösen. Grund für eine Engrammbildung kann übrigens auch schon ein Sonnenbrand sein. Nach einem andauernden noxischen Schmerzreiz, hervorgerufen etwa durch Verbrennungen, Verätzungen oder andere Formen von Nervenverletzungen, erfolgt die Schmerzreizleitung über die sogenannten A- und C-Fasern. Dabei wird die Ausschüttung eines Transmitters, des sogenannten „second messenger“ aktiviert. Als „second messenger“ können je nach Neurotransmittertyp cAMP oder Ca2+ ausgeschüttet werden. Diese Botenstoffe lösen die Expression von „Immediate Early Genes“ (IEGs), von so genannten Transkriptionsfaktoren aus. Weil auf diese Weise auch langfristige Veränderungen im Hippocampus ausgelöst werden können und man aus der Gedächtnisforschung ein ähnliches zelluläres Lernmodell kennt, wurden diese IEGs mit der Gedächtnisfunktion in Zusammenhang gebracht (Zieglgänsberger et al. 1993). Es ist naheliegend, dass eine vergleichbare Abfolge auch bei der Entstehung chronischer Schmerzen eine große Rolle spielt. Die neuen Ergebnisse der Schmerzforschung zur zentralnervösen Neuroplastizität und zu den Lernvorgängen im Hinterhorn des Rückenmarks liefern sehr gute Möglichkeiten,

Schmerzentstehung und Schmerzbehandlung

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den Entstehungsmechanismus von Schmerzüberempfindlichkeit (Hyperalgesie) und einiger Formen chronischer Schmerzen zu verstehen. Langfristige Veränderungen im Nervensystem lassen sich heute mit molekularbiologischen und biochemischen Methoden nachweisen.

Was bedeuten diese Ergebnisse für die medizinische Praxis? Ein wesentlicher Punkt ist, dass bei jeder Schmerzbehandlung nicht nur die pharmakonabhängige Toleranz bzw. die Pharmakokinetik zu berücksichtigen ist, sondern auch die Erkenntnisse zur neuronalen Plastizität samt den genannten molekularen Vorgängen rund um das Schmerzgeschehen. Dies gilt beispielsweise gerade für die gezielte Schmerzbehandlung rund um Operationen. Immer noch leiden bis zu 70 Prozent der Erwachsenen wie auch der Kinder nach Operationen unter starken Schmerzen und entsprechenden negativen Auswirkungen. Demgegenüber haben zahlreiche Studien gezeigt, dass die Gabe eines geeigneten Analgetikums präoperativ zu geringeren Schmerzen führt als die Gabe des gleichen Analgetikums postoperativ. Die Gabe eines Opiates (Morphin) verhindert die Produktion einiger Transkriptionsfaktoren und kann damit prophylaktisch gegeben werden (Negre et al. 1993; Presley et al. 1990). Doch es gibt auch andere Methoden, die bereits vor einer Operation eingesetzt werden können. So helfen beispielsweise psychologische und spirituelle Betreuung, Entspannungstechniken oder rezeptive Musiktherapie dabei, die Schmerzen während der Operation und nachher zu reduzieren. Mit diesen Methoden kann die Produktion von Stresshormonen (z.B. BetaEndorphin, Noradrenalin, Adrenalin, Glukagon, Aldosteron und Cortisol) zumindestens reduziert werden. Stresshormone werden beim Auftreten von Schmerzen erhöht produziert und beeinflussen sowohl die Operation als auch den Genesungsprozess danach negativ. Es ist heute eine gesicherte Erkenntnis, dass während der Operation – trotz einer Narkose, die das Bewusstsein ausschaltet – Schmerzen neu auftreten können bzw. weiterhin vorhanden sind. Wenn man davon ausgeht, dass jeder Schmerz im Schmerzgedächtnis gespeichert wird, wird verständlich, warum alle Möglichkeiten zur Schmerzausschaltung genützt werden sollten. Operationschmerzen graben sich nicht nur im Gedächtnis ein, sie haben auch gravierende Folgen für die Vitalkapazität der Betroffenen. So führt postoperativer Schmerz im Oberbauch und Thorax meist zu einer schmerzbedingten Schonatmung und damit einer starken Einschränkung der Sauerstoffversorgung des Organismus. Der nach einer Operation auftretende Abfall der Vitalkapazität lässt sich in bestimmten Fällen durch eine Periduralanästhesie wirksam ausgleichen. Diese Form der rückenmarksnahen Lokalanästhesie ermöglicht es, ohne Betäubung des Patienten Schmerzfreiheit seiner unteren Körperregionen zu erreichen. Die Indikation für epidurale Opioide dagegen ist vor allem bei größeren chirurgischen Eingriffen am Oberbauch oder Brustkorb und bei größeren orthopädischen Operationen gegeben (Zenz 1990). Für die postoperative medikamentöse

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Schmerztherapie gibt es grundsätzlich keine Standarddosierungen. Es besteht jedoch eine direkte Korrelation zwischen dem Alter der PatientInnen und ihrem Opioidbedarf. Dieser nimmt bei beiden Geschlechtern mit dem Alter ab. Es sollte überlegt werden, ob nicht durch Kombination mit komplementären Methoden eine Verbesserung der Medikamentenwirkung erreicht wird. Eine jede Schmerztherapie rund um Operationen sollte heute immer darauf ausgerichtet sein, die Bildung von Engrammen samt ihren unerwünschten Auswirkungen auf das Schmerzgedächtnis zu vermeiden. Komplementäre Methoden können eine wichtige Rolle in der perioperativen Schmerzbehandlung übernehmen. Zusammenfassend ist dazu zu sagen: – Prophylaktische Schmerztherapie ist heute eine Notwendigkeit! Sie muss zum Standard der Chirurgie werden! – Die alten Faustregeln, dass nach bestimmten Operationen eben Schmerzen auftreten und die Betroffenen eben damit leben müssen, sind abzulehnen! – Ziel ist eine interdisziplinäre Schmerztherapie, bei der sich medikamentöse und komplementäre Behandlungsformen ergänzen.

Schmerzen im Alter Welche Folgen eine ungenügende Schmerzvorsorge und -behandlung in jungen Jahren hat, zeigt sich heute bei den alten Menschen. Epidemiologische Studien belegen signifikant, dass etwa ein Viertel bis die Hälfte der zu Hause wohnenden alten Menschen und bis zu 80 Prozent jener, die in Altersheimen leben, unter starken Schmerzen leiden. Zwar wird den körperlichen Schmerzen alter Menschen heute mehr Beachtung geschenkt als früher, doch werden ihre psychischen Schmerzen nach wie vor zu wenig beachtet. Alte Menschen erleben Schmerzen anders als junge. Sie haben bereits Erfahrung mit Schmerzen und meist bestimmte Strategien im Umgang damit entwickelt. Viele der Hochbetagten von heute haben in ihrer Jugend gelernt, Schmerzen als gott- und schicksalsgewollt anzunehmen und zu erdulden. Viele von ihnen haben eine starke Abneigung gegenüber einer Behandlung mit Medikamenten, sie haben Angst vor Nebenwirkungen. Komplementäre Methoden der Schmerztherapie werden deshalb gerade für alte Menschen immer wichtiger. Schmerz ist einer der Hauptfaktoren, welche die Lebensqualität – gerade auch alter Menschen – negativ beeinflussen. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Schmerzfreiheit, Lebensfreude und der sozialen Kompetenz eines Menschen. Bei der Versorgung von Hochbetagten stehen daher vor allem Aspekte der Lebensqualität im Vordergrund. Schmerzsyndrome im Alter sollten unbedingt interdisziplinär behandelt werden. Auch im Alter bleibt Schmerz ein wichtiges Warnsystem. Dies, obwohl klinische Erfahrungen zeigen, dass im Alter schmerzlose Herzinfarkte und auch Magengeschwüre ohne Schmerzen nicht selten sind. Das bedeutet aber nicht, dass von einer geringeren Schmerzempfindung im Alter gesprochen werden

Schmerzentstehung und Schmerzbehandlung

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kann. Ältere Studien sprechen zwar von einer erhöhten Schmerzschwelle bei alten Menschen (Harkins, Price 1992). Jetzt wurde jedoch nachgewiesen, dass sich die Schmerzschwelle nicht ändert. Was im Alter abzunehmen scheint, ist die Fähigkeit, Schmerzreize zu unterscheiden. So zeigten Studien, dass die kognitive Verarbeitung von Hitzereizen im Alter verlangsamt ist. Durch elektrophysiologische Tests ist auch belegt, dass die Reaktionszeit nach einem Schmerzreiz bei älteren Menschen deutlich verlängert sein kann (Desmedt, Cheron 1980). Gründe dafür liegen in der im Alter veränderten Dicke und Elastizität der Haut und darin, dass nun weniger rasch leitende A-Delta-Fasern vorhanden sind. Die Alterungsprozesse der Haut betreffen vor allem die Epidermis und Dermis. Dabei schwinden Zell- und Faserelemente. Die Haut alter Menschen ist dünner und verliert an Elastizität. Gleichzeitig enthält das Rückenmark alter Menschen eine größere Zahl degenerierter Nervenfasern (Axone). Die die Nerven umgebenden Markscheiden sind bei ihnen zum Teil abgebaut. Die Dichte myelenisierter und nichtmyelenisierter Fasern hat abgenommen (Ochoa, Mair 1969). All dies bedeutet, dass ab einem Alter von rund 65 Jahren meist auch die Funktion der Schmerzleitwege reduziert ist. Gleichzeitig ist die Wundheilung verzögert, wobei es jedoch – bedingt durch die mit dem Alter verbundenen Funktionseinbußen – häufiger zur Entstehung von Wunden kommt. Gerade bei alten Menschen kommt zum Tragen, dass die subjektive Schmerzwahrnehmung unter anderem vom Ausmaß der zentralen Schmerzhemmung abhängig ist. Dabei beeinflussen seelische Leiden wie Depression, Angst, Verzweiflung oder Einsamkeit die Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung ganz entscheidend mit. Aus diesem Grund kann gerade bei älteren PatientInnen Schmerz auch eine Somatisierung von Leid sein. In einer Studie, in der 283 SeniorInnen mit einem Durchschnittsalter von etwa 76 Jahren befragt wurden, führte fast jede/r zweite an, traurig und niedergeschlagen zu sein (Basler 2003). Gleichzeitig berichten drei Viertel der Befragten, dass eine Schmerzlinderung am ehesten durch Schonverhalten zu erreichen sei. Allerdings dürfte gerade dies in vielen Fällen zu einer Zunahme der Beschwerden führen. Viele epidemiologische Studien legen nahe, dass mit steigendem Alter „allgemeine Schmerzen“ zunehmen. Die meisten Studien dazu stammen aus den USA und Skandinavien. Die teilweise recht unterschiedlichen Ergebnisse der verschiedenen Studien dürften überwiegend darauf zurückzuführen sein, dass verschiedene Fragebögen verwendet wurden. In manchen Fällen waren die Stichproben zu klein und deshalb nicht repräsentativ. Andererseits gab es auch Unterschiede in der Schmerzmessung (Drechsel, Gerbershagen 1998). Ein weiterer Grund für die Unterschiede liegt sicher im verschieden starken „Underreporting“ von Schmerzen durch alte Menschen (Ferrell, Ferrell 1991). Das heißt konkret, dass dieses Phänomen in den verschiedenen Ländern und Kulturen unterschiedlich ausgeprägt sein dürfte. „Underreporting“ beschreibt die Tatsache, dass besonders hochbetagte Menschen oft nicht von ihren Schmerzen erzählen. Schmerzen werden von ihnen – oft auf Grund erziehungsbedingter Fehleinschätzung, dass „nicht gejammert werden soll“ – schlicht und einfach geleugnet (Gioiella, Bevil 1985).

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Hier einige Ergebnisse: An ständig vorhandenen oder wiederkehrenden Schmerzen leidet ein Viertel bis die Hälfte aller älteren Menschen (Anderson, Worm-Pedersen 1989; Sternbach 1986). Nach Gagliese und Melzack haben sogar 60 bis 80 Prozent der befragten 60- bis 89-jährigen chronische Schmerzen (Gagliese, Melzack 1997). Eine andere Studie belegt, dass acht von zehn Menschen dieser Altersgruppe an mindestens einer chronischen Erkrankung leiden. Insgesamt nehmen Schmerzen mit den Jahren zu (Smith 2001). In Deutschland berichten über 90 Prozent der über-75-jährigen von Schmerzen im Bereich der Körperachse und der Gelenke (Gunzelmann 2002). In Spanien befragte man Menschen über 65. Mehr als 40 Prozent sagten, dass sie an Schmerzen leiden (Catala 2002). Eine Untersuchung in Schweden ergab, dass drei Viertel der Über74-jährigen Schmerzen haben. Ein Drittel dieser Menschen leidet an schweren und schwersten chronischen Schmerzen. Im Alter kommen vor allem folgende Schmerzsyndrome vor: Degenerative Wirbelsäulenveränderungen, Arthrose, Osteoporose, arterielle Verschlusskrankheit, Trigeminusneuralgie, rheumatische Erkrankungen, Angina pectoris, postzosterische Neuralgien. Am häufigsten sind Schmerzen aufgrund von Erkrankungen des Bewegungsapparates (IASP Press, Crombie et al. 1999). Mit steigendem Lebensalter nehmen Gelenkschmerzen, oft verbunden mit Schwellungen und Morgensteifheit insbesondere der Kniegelenke zu. Eine der Hauptursachen ist Arthrose. Sie führt bei mehr als 80 Prozent der Senioren über 65 Jahren mit der Zeit zu Funktionseinschränkung und Schmerzen (McCaffery 1999). Auch Schmerzen durch sturzbedingte Verletzungen wie z.B. Oberschenkelhalsbrüche sind bei älteren Menschen häufig (Rubinstein 1984). Weitere Studien befassen sich mit Tumorschmerzen. Verschiedene Krebsformen treten im Alter häufiger auf, wobei acht von zehn der an einem Tumor erkrankten Menschen unter starken Schmerzen leiden. Das einzige, das bei älteren Menschen deutlich weniger wird, sind Kopfschmerzen. Diese kommen ebenso wie Migräne und unspezifische Rückenschmerzen am häufigsten im mittleren Lebensalter vor und nehmen dann mit steigendem Alter ab. Dafür nehmen seelische Schmerzen bei alten Menschen meist zu. Besonders beim Eintritt ins Altersheim gibt es meist viele emotionelle Schmerzen aufgrund des Verlustes der gewohnten Umgebung oder auch des Gefühles, nun nichts mehr wert zu sein und abgeschoben zu werden. Angesichts dieser durch Studien belegten „Schmerzsituation“ im Alter bleibt vor allem Zweierlei zu tun: – Einerseits gilt es, alle medikamentösen wie nichtmedikamentösen Möglichkeiten zu nützen, um alten Menschen eine adäquate Schmerztherapie zukommen zu lassen. Hierbei können auch die in diesem Buch vorgestellten komplementären Methoden eine wichtige Rolle spielen. – Andererseits geht es um eine bessere Aufklärung aller Beteiligten darüber, dass eine optimale Schmerzbehandlung und Schmerzvorbeugung bei Kindern und jüngeren Menschen wesentlich dazu beitragen kann, dass sie selber im Alter nicht so viele Schmerzen zu leiden haben. Dem dient ein vermehrtes

Schmerzentstehung und Schmerzbehandlung

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Gesundheitswissen der Menschen, insbesondere auch über komplementäre Methoden der Schmerztherapie wie sie in diesem Buch beschrieben werden. Besonders jene therapeutischen Verfahren, die ihr Schwergewicht auf eine umfassende Gesundheitsschulung legen, können hier hilfreich sein. Zu nennen wäre das Kneipp-Therapiesystem (S. 267–286) ebenso wie die Traditionelle Chinesische Medizin sowie Qigong (S. 339–352) und die AMNO-Selbstmassage (S. 353–372). Auch verschiedene physio-, psycho- und musiktherapeutische Verfahren und Entspannungstechniken können nicht nur zur Behandlung von bereits vorhandenen Schmerzen, sondern auch prophylaktisch eingesetzt werden. Eine wirksame Vorbeugung gegen Schmerz und Leid sind nicht zuletzt Mitmenschlichkeit, Humor (S. 147–156) und Glaube (S. 31–50)!

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G . Be r n a t z k y u n d R. L i k a r

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Der Schmerz ist älter als die Menschheit G. BE RNA T Z K Y u n d R. L I K A R

Schmerz ist ein von der Evolution angelegtes Frühwarnsystem. Es schützt lebende Wesen vor Gefahren, solchen, die ihnen von außen und von innen drohen. Der Schmerz ist somit älter als die Menschheit und nicht nur wir Menschen fühlen Schmerz. Menschen haben wie andere Lebewesen zu allen Zeiten versucht, ihre Schmerzen wieder loszuwerden oder wenigstens zu lindern. Das beweisen etwa Keilschriftdokumente aus Mesopotamien um 4000 vor Christus. Darin wird von der Behandlung von Kopfschmerzen mittels operativer Eingriffe berichtet. Hier findet sich auch schon die besonders bei den semitischen Völkern verbreitete Vorstellung, dass Schmerzen durch in den Körper eingedrungene Dämonen verursacht werden. Die bösen Geister befallen die Menschen zur Strafe für begangene Sünden. Dieser Glaube wirkte auch im Christentum lange nach.

Gottesgeschenk Opium Für die Griechen der Antike waren Medizin, Mythos und Religion eng miteinander verbunden. So wurde Opium, das schon damals als schmerzlinderndes Mittel eingesetzt wurde, als göttliches Geschenk angesehen. Die Heilung von schmerzhaften Krankheiten erfolgte im Rahmen des Asklepios-Kults. Die Patienten wurden in Heilstätten aufgenommen, die an Asklepios-Tempel angeschlossen waren. Dort mussten sie zunächst fasten. Mit Hilfe von Opium wurden sie dann in einen Heilschlaf versetzt. Während sie schliefen, befreite sie der Gott, ein Sohn des Sonnengottes Apollo, von ihren Schmerzen.

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Schmerz ist Krankheit Von den Philosophen Pythagoras und Anaxagoras wurde der Schmerz als Element der fünf Sinne gedeutet. Als Zentrum der fünf Sinne galt das Gehirn. Der Arzt Hippokrates setzte als erster Schmerz gleich mit Krankheit. Die Ursache von Schmerzen sah er vor allem in Störungen der vier wichtigen Körpersäfte. Für den Philosophen Plato war das Herz Sitz der Sinnesempfindungen, der Gefühle und auch des Schmerzes.

Störung des Kräftegleichgewichts Noch klarer gesehen wurde der Schmerz bei den Römern: Galenus von Pergamon, Arzt des Marc Aurel und anderer römischer Kaiser, sah im Schmerz einen Teil des Tastsinns. Er erklärt Schmerzen als Störung des Kräftegleichgewichtes. Sie entstehen dann, wenn Reize übermäßig werden. Die Behandlung von Schmerzen hatte für ihn göttliche Bedeutung. Als Schmerzmittel verwendete Galenus Kamille, Efeu, Myrrhe, Lauch, Senf und Opium. Die Wirkungsstärke dieser Substanzen dokumentierte er in einer Skala. Das ist der erste Versuch in der Medizingeschichte, gesetzmäßige Beziehungen der pharmakologischen Wirkung erfassen und daraus exakte Behandlungsrichtlinien zu entwickeln. Galenus war auch der erste Arzt, der Schmerzen als pulsierend, stechend, einschießend beschrieben hat, um sie entsprechend zu behandeln. Keinen Rat wusste der römische Arzt allerdings bei quälenden Dauerschmerzen. In seinen Schriften ist deshalb von Selbstmord als letztem Ausweg die Rede.

Schmerzen „ableiten“ oder ertragen Auch die arabische Medizin des Mittelalters sah in der Behandlung von Schmerzen eine wesentliche Aufgabe. Man wendete eine Art Stufenschema an und benutzte Verfahren, die man heute als „Gegenirritationsmethode“ bezeichnen würde. Konkret wurde versucht, Schmerzen durch andere starke Reize zu vertreiben. So wurden bei Migräne verschiedene Brenneisen eingesetzt. Diese Methode der Kauterisation verwendete man auch, um Lähmungen „abzuleiten“. Auch Aderlässe waren in der Schmerzbehandlung üblich. Was Schmerzmedikamente betrifft, wissen wir, dass der Arzt Abul-Quasim (936–1013) bei stärkeren Schmerzen Koriander und Opium einsetzte. Demgegenüber hatte der Schmerz im christlichen Bereich einen anderen Stellenwert. Man glaubte, dass jene die auf Erden ihre Schmerzen geduldig ertragen, ins Paradies eingehen, wobei Christus am Kreuz das große Vorbild für das Ertragen von Schmerzen war.

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Trost und Behandlung Dennoch versuchten auch christliche Ärzte die Schmerzen Kranker zu lindern. Die Idee von Nächstenliebe und Barmherzigkeit bildete die Grundlage für das Entstehen sozialkaritativer Einrichtungen im frühen Mittelalter. Sie wurden vor allem durch den von Montecassino ausgehenden Benediktinerorden getragen. Während der Kreuzzüge und danach gründeten und betrieben besonders die Deutschordensritter und die Brüder vom Heiligen Geist Hospitäler in ganz Europa. Hier erhielten Kranke, Behinderte und Sterbende neben geistlichem Trost auch körperliche Versorgung und ärztliche Hilfe. Die Linderung von Schmerzen gehörte dazu. Aus den alten Hospitälern hat sich im Laufe der Zeit das moderne Spitalswesen entwickelt.

Gottgegebenes Übel Die Renaissance brachte die Wiederentdeckung von Erkenntnissen der Antike. So setzte sich nun auch die Meinung durch, dass das Gehirn Sitz der Wahrnehmungen und der Gefühle sei. Für Leonardo Da Vinci erschien das Leiden des Körpers als das „größte Übel“. Doch die Mediziner der Zeit waren zum Großteil noch zu sehr der tradierten Vorstellung verbunden. Sie sahen Schmerzen als gottgegebene Strafe für begangene Sünden an, die man tapfer zu ertragen hatte. Schmerzbekämpfung war zunächst also noch kein zentrales Thema der medizinischen Forschung. Eine ganz andere Sichtweise entwickelte der Arzt, Magier und Wissenschafter Theophrastus Paracelsus (1493–1541). Paracelsus war der Ansicht, dass die Hauptaufgabe des Arztes es sei, die „Not zu wenden.“ Dieses therapeutische Leitbild der Barmherzigkeit sollte auch heute wieder vermehrt zur Geltung kommen! 100 Jahre nach Paracelsus entwarf der französische Naturwissenschafter und Philosoph René Descartes (1596–1650) erstmals ein Modell der neuralen Übertragung von Schmerzinformationen. Nach seiner Darstellung entsteht der Schmerz im Gehirn im Pinealorgan.

Magnetismus gegen Schmerzen Im 18. Jahrhundert traten phyikalische Anwendungen wie Elektrizität und Magnetismus in der Schmerztherapie in den Vordergrund. Schon aus dem antiken Rom ist die Therapie rheumatischer Erkrankungen mittels „elektrischer Fische“ überliefert. Die Anwendung magnetischer Methoden machten Franz Anton Mesmer (1734–1815) berühmt. Der Wiener Arzt begründete die bald in ganz Europa und der neuen Welt bekannte Lehre des „animalischen Magnetismus“. Da Messmer auch ohne Magnete Behandlungserfolge erzielte, schloss er daraus, dass er selber magnetische Kräfte habe. 1841 prägte dann der englische Arzt James Braid für Messmers Therapie den Begriff Hypnose (S. 115–128).

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Morphin, Chlorophorm und Salycil Im 19. Jahrhundert kam es dann zu bahnbrechenden Beiträgen von Pharmazie und medizinischer Praxis zur Schmerztherapie. 1806 gelang es dem Deutschen Apotheker Sertürner, das Morphin benannt nach Morpheus, dem griechischen Gott des Schlafes, in Reinform herzustellen. Dann entdeckte der Bostoner Arzt und Chemiker Charles T. Jackson (1805– 1880) den Ätherdampf, mit dem sich die Schmerzwahrnehmung zeitweise unterdrücken ließ. Zahnärzte und Chirurgen nutzen dies. Auch Entbindungen mit Chloroform Narkose waren nun möglich. Heftige Kritik kam von calvinistischen Geistlichen in Schottland. Für sie war nach dem Bibelwort über die Vertreibung aus dem Paradies „Du sollst unter Schmerzen Kinder gebären“ der Schmerz der Gebärenden etwas Gottgewolltes. 1839 wurde das Glykosid Salicyl aus dem Saft der Salweide isoliert. Diesen hatte man seit dem Altertum zur Schmerzstillung verwendet. Schließlich stellte 1884 die Einführung der Lokalanästhesie beispielsweise bei Eingriffen am Auge eine Sensation dar. Verwendet wurde Cocain, eine Substanz, mit der sich auch Freud befasste.

Neue Forschungen, neue Fragen Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte Heere von Kriegsverletzten und damit Schmerzbetroffenen. Es brachte auch mehr und ganz neue Forschungen zum Thema Schmerz. Es brachte auch die Frage, ob die Schmerzempfindlichkeit gegenüber früheren Jahrhunderten zugenommen hat? Als Grund für eine Zunahme wird die fortschreitende Zivilisation der Menschheit genannt. So wird diskutiert, dass die Einführung der Narkose mit ein Grund für steigende Schmerzempfindlichkeit sein könnte. Aber auch andere Aspekte spielen eine Rolle: Schmerz wird heute von der Gesellschaft als Krankheit gesehen. Die Medizin hat verbesserte Möglichkeiten der Schmerztherapie entwickelt. Damit entstand auch der Anspruch, Schmerztherapie zu erhalten und möglichst von Schmerzen befreit zu werden. Schmerz hat in der Zwischenzeit einen selbständigen Krankheitswert erhalten. Nicht immer wird Schmerz ausschließlich als Symptom einer Krankheit angesehen. Schätzwerte über das Vorhandensein von Schmerzen in der Bevölkerung differieren sehr stark und hängen oft auch vom politischen und vom religiösen Hintergrund ab. Mehr als 25% der Bevölkerung in westlichen Ländern leiden unter chronischen Schmerzen. Ca. 600.000 sogenannte therapieresistene Schmerzpatienten werden allein in Deutschland vermutet. Schmerz kann nur gemeinsam behandelt werden: Dazu sind alle Beteiligten aufgefordert – Grundlagenforscher, Ärzte, Psychologen, Therapeuten, Patienten, Gesellschaft und die Medien. Laut internationalen Studien leiden Patientinnen mit chronischen Schmerzen durchschnittlich 11,5 Jahre und konsultieren in dieser Zeit durchschnittlich 10,7

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Ärzte, bevor sie eine adäquate Behandlung erhalten. Jährlich werden weltweit zwei- bis dreitausend Selbsttötungen wegen chronischer Schmerzen verübt.

Literatur Goerk F (1992) Paracelsus – Arzt unserer Zeit. Patmos, S 528 Morris DB (1994) Geschichte des Schmerzes. Insel, S 461 Zimmermann M (2002) Zur Geschichte des Schmerzes. In: Buch Zenz, Jurna: Lehrbuch der Schmerztherapie, Grundlagen, Theorie und Praxis für Aus- und Weiterbildung, 2. Aufl. Wisenschaftliche Verlagsges.mbH Stuttgart, ISBN 3-8047-1805-1, S 3–24

Schmerzmessung und Dokumentation W . P IP A M, G. BE RNA T Z K Y u n d R. L I K A R

Einleitung Menschen, die aufgrund von Schmerzen einen Arzt aufsuchen, erwarten von diesem auch, dass er die Ursache ihrer Schmerzen findet. Die Alltagserfahrung legt uns nämlich die Vermutung nahe, dass Schmerz ein rein körperliches Problem sei, dass dem aber nicht so ist, wissen wir heute. Schmerz ist ein subjektives, komplexes und mehrdimensionales Phänomen, dessen Erfassung nicht wirklich objektiv geschehen kann. Jeder Patient ist gleichsam sein eigener Zeuge, es ist aber absolut notwendig, so viel wie möglich vom Schmerz zu verstehen, um ihn auch richtig behandeln zu können. Es gibt verschiedene Wege, um sich dem Problem der Schmerzmessung zu nähern. Eine Betrachtungsweise bezieht die Merkmale und die Konsequenzen des Schmerzes mit ein und erfasst: – – – –

die Intensität des Schmerzes die Lokalisierung des Schmerzes die Qualität des Schmerzes die Konsequenzen für verschiedene Lebensbereiche • psychische Belastungen durch Schmerzen (Ängste und Depressivität) • Symptome mit möglichem psychophysiologischem Hintergrund • gesundheits- und krankheitsbezogene Einstellungen des Patienten • Bewältigungsstrategien bei Schmerz und bei Stress • Verhalten in Schmerzsituationen (vgl. Flor 2003)

Eine andere Annäherung an die Erfassung von Schmerzsyndromen basiert auf den Ergebnissen und Erkenntnissen der Verhaltensmedizin, einer jungen und interdisziplinären Wissenschaft, die sich mit der Berücksichtigung biologischer, psychischer und sozialer Faktoren bei der Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung von Gesundheit und Krankheit befasst. Ehlert (2003) fasst die Kernaussagen über die Verhaltensmedizin wie folgt zusammen:

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Definition Im Kontext einer biopsychosozialen Sichtweise von Gesundheit und Krankheit ist die Verhaltensmedizin das interdisziplinäre Arbeitsfeld, in dem 1. Gesundheits- und Krankheitsmechanismen unter Berücksichtigung psychosozialer, verhaltensbezogener und biomedizinischer Wissenschaften erforscht werden und 2. die empirisch geprüften Erkenntnisse und Methoden in der Prävention, Diagnostik, Behandlung und Rehabilitation eingesetzt werden. In der Verhaltensmedizin wird Schmerz heute als eine Reaktion aufgefasst, die auf mehreren Ebenen des Organismus ablaufen kann (vgl. Basler 2003). 1. Subjektiv – verbale Ebene: • Kognitionen (Bewertungen des Schmerzes, Krankheitskonzepte, Überzeugungen und Erwartungen). • Emotionen (Angst, Depressivität) • Verbalisierungen (Klagen, Stöhnen, Schmerzäußerungen) 2. Motorisch – verhaltensmäßige Ebene: • Mimik • Gestik • Körperhaltung • Schonverhalten • Einnahme von Medikamenten • Aufsuchen von Ärzten und Therapeuten 3. Physiologische Ebene: • vegetative Reaktionen (biologische Aktivierungsreaktionen, z.B. Tonussteigerung der Muskulatur) • Erregung der Nozizeptoren Da die Schmerzreaktion immer auf allen drei Ebenen mit allerdings unterschiedlicher Dominanz ablaufen kann, ist es sinnvoll, sich mit der Diagnostik der einzelnen Ebenen zu befassen. Für die Beurteilung des Schmerzgeschehens sind folgende Quellen heranzuziehen: – Befragung des Patienten und seiner Angehörigen Wie stark ist der Schmerz und welche Beeinträchtigungen lassen sich beobachten? – Klinische Untersuchungen Welcher Mechanismus liegt dem Schmerz zugrunde – nozizeptiv, neurogen oder psychogen? – Funktionelle Einschätzung – Einschätzung des Verhaltens und der Beeinträchtigung inklusive der Lebensqualität

Schmerzmessung und Dokumentation

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Es hat sich in den letzten Jahren eine Vielzahl von Messmethoden entwickelt. Im Folgenden wird auf die im klinischen Alltag gängigen Methoden eingegangen. Auf Methoden zur experimentellen Schmerzmessung wird weitestgehend verzichtet. Die Einteilung der klinischen Methoden erfolgt in zwei große Blöcke, nämlich in eindimensionale und mehrdimensionale Methoden.

Eindimensionale Methoden Messskalen werden dann als eindimensional bezeichnet, wenn sie nur eine Dimension erfassen, nämlich die vom Patienten angegebene Schmerzstärke. Die am häufigsten im klinischen Alltag verwendeten Methoden sind die Visuelle Analog Skala (VAS), die Verbal Rating Scale (VRS) und die Numeric Rating Scale (NRS).

Visuelle Analogskala (VAS) Die VAS ist exakt 10 cm lang wird und mit einer Ausrichtung von links nach rechts dem Patienten vorgelegt. Der linke Rand wird mit „kein Schmerz“, der rechte Rand mit „stärksten vorstellbaren Schmerzen“ bezeichnet. Der Patient setzt nach eigener Einschätzung der Schmerzstärke ein Kreuz zwischen diese beiden Endpunkte. Ausgewertet wird auf mm genau. Es liegen auch Formen vor, bei denen die Patienten nicht schreiben, sondern einen Schieber verstellen können, auf der Rückseite ist dann die Schmerzstärke abzulesen.

Verbal Rating Scale (VRS) Dem Patienten wird eine Frage vorgelegt wie z.B. „Wie stark sind Ihre Schmerzen im Moment?“, die er dann auf einer fünfteiligen Skala, welche von 0 (kein Schmerz) bis 4 (sehr starker Schmerz) reicht. Der Patient kreuzt die zutreffende Zahl an.

Numeric Rating Scale (NRS) Bei der NRS verteilt der Patient Noten zwischen 0 und 10. Die Note 0 wird für „kein Schmerz“ und die Note 10 für „stärkster vorstellbarer Schmerz“ verwendet, in das aufliegende Kästchen wird der jeweilige Wert eingetragen. Im Alltag sind diese drei Skalen gut verwendbar, manchmal gibt es bei der VAS Verständnisprobleme. Allgemein ist hier aber folgende kritische Frage zulässig: Messen diese drei Skalen wirklich das, was sie vorgeben zu messen?

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W. P i pa m e t a l .

Mehrdimensionale Methoden Diese Skalen zielen darauf ab, komplexere Verarbeitungsmuster auf der subjektiv – verbalen Ebene zu erheben und bestimmte Erwartungen, Überzeugungen und Einstellungen zum Schmerz zu erfassen. Den Patienten werden Fragebögen mit Adjektiven vorgelegt, die spontan beschrieben werden sollen, um unterschiedliche Schmerzdimensionen herauszuarbeiten. Im deutschsprachigen Raum haben sich folgende Schmerz-Skalen im klinischen Alltag bewährt:

Schmerzempfindungs-Skala von E. Geissner (1996) Diese Skala erfasst sowohl den affektiven als auch den sensorischen Anteil des Schmerzes und ist mit 24 Items rasch zu beantworten.

Hamburger Schmerz-Adjektiv-Liste (HSAL) von F. Hoppe (1991) Die HSAL fasst ebenfalls mehrdimensionale Aspekte des Schmerzerlebens. Die Schmerzquantifizierung erfolgt über vier Dimensionen (Schmerzleiden, Schmerzschärfe, Schmerzangst und Schmerzrhythmik).

McGill Pain Questionnaire (MPQ) von Melzack (1971) Der MPQ stellt den ersten und wahrscheinlich prominentesten Schmerzfragebogen dar, erfasst sowohl die sensorische als auch die affektive Kategorie des Schmerzes, ist aber in deutscher Sprache nur eingeschränkt einsetzbar, da es sprachliche Probleme bei der Übersetzung gibt.

Schmerzfragebögen Vor Behandlungsbeginn werden den Patienten standardisierte Schmerzfragebögen zugeschickt, um eine gute Übersicht über die Krankheitsgeschichte, den Schmerzzustand und die Konsequenzen des Schmerzes zu erhalten. Beispiel: Strukturiertes Schmerzinterview der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS – Fragebogen).

Schmerztagebücher Tagebücher als Mittel der Diagnostik setzen bei einer möglichst ereignis- und erlebnisnahen Schmerzerhebung an und sind sowohl diagnostisch als auch als

Schmerzmessung und Dokumentation

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Therapieevaluation interessant. Der Patient wird in die Handhabung des Tagebuches eingewiesen, und im Allgemeinen werden entweder stündlich, mehrmals am Tag oder beim Auftreten von Schmerzen die Schmerzintensität, die Schmerzqualität und die Schmerzdauer sowie Art und Umfang der Beeinträchtigung erhoben. Aktivitäten, Medikamenteneinnahme, Stimmung, belastende Ereignisse, können ebenfalls dokumentiert werden und liefern einen umfassenden Beitrag zur Erfassung des Schmerzgeschehens und seinen Konsequenzen. Diese Form der Selbstberichterstattung wird von dem Patienten für eine Zeit von einigen Tagen bis wenigen Wochen durchgeführt und gemeinsam mit dem Behandler besprochen. Aus der Praxis ergibt sich aber die Erkenntnis, dass mitunter eine Woche Beobachtungszeitraum reicht, da sonst die Compliance der Patienten deutlich nachlässt (s. dazu Schmerztagebuch [Bernatzky, Lika 2007]).

Psychophysiologische Methoden Mittels psychophysiologischer Untersuchungsmethoden können zweierlei Fragestellungen beantwortet werden. Zum einen kann die individuelle Stressreaktion, die durch den Schmerz beim Patienten ausgelöst wird, sichtbar gemacht werden. Es werden beim Patienten physiologische Parameter wie elektrodermale Aktivität, Pulsfrequenz, Atemfrequenz, Hauttemperatur und Muskelspannung gemessen und sichtbar gemacht. Der Patient erhält eine sofortige Rückmeldung seines momentanen psychophysiologischen Zustandes. Zum zweiten liegt die Überlegung zugrunde, dass für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Schmerzen ein intraindividuelles Reaktionsmuster eine Rolle spielen kann, z.B. dass Patienten auf alle unspezifisch anfallenden Stresssituationen mit einer Erhöhung des Muskeltonus reagieren. Diese Reaktionsmuster können ebenfalls den Patienten im Rahmen eines biopsychosozialen Modells vermittelt werden (Näheres zum Biofeedback siehe in diesem Buch, S. 106–114).

Fragebögen zur Erfassung des psychischen Zustandes Vor allem chronische Schmerzen sind häufig mit Angstzuständen und depressiven Zustandsbildern assoziiert. Die gängigen Verfahren sind unten aufgelistet.

Hospital Anxiety and Depression Scale – Deutsche Version (HADS-D) von Hermann-Lingen, Buss und Snaith HADS-D stellt ein Verfahren zur Selbstbeurteilung von Angst und Depressivität bei Erwachsenen mit körperlichen Beschwerden bzw. körperlichen Erkrankungen dar. Dieses Verfahren hat auch noch den zusätzlichen Vorteil, dass es auf körperliche Indikatoren psychischen Befindens verzichtet, die ja in der untersuchten Klientel häufig der Ausdruck der körperlichen Krankheit und nicht der psychischen Störung sind.

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W. P i pa m e t a l .

Allgemeine Depressionsskala (ADS) von Hautzinger und Bailer (1993) Das ADS ist ein Selbstbeurteilungsinstrument, welches das Auftreten und die Dauer der Beeinträchtigung durch depressive Affekte, körperliche Beschwerden, motorische Hemmung und negative Denkmuster erfragt. Es lässt sich gut als Screening – Methode in der epidemiologischen Forschung einsetzen.

Beck-Depressions-Inventar (BDI) von Hautzinger (1995) Das BDI stellt ein Selbstbeurteilungsverfahren zur Erfassung des Schweregrades einer depressiven Symptomatik dar und ist anzuwenden, wenn in der HADS-D erhöhte Depressionswerte diagnostiziert wurden.

Hamilton Depression Scale (HAMD) nach Hamilton (1960) Der HAMD ist ein Fremdbeurteilungsinstrument zur Erfassung des Schweregrades der Depression durch einen Interviewer und stellt gleichsam den Evergreen unter den Depressionsfragebögen dar.

Screening für somatoforme Störungen (SOMS) von Rief, Hiller und Häuser (1997) Das SOMS dient zur Klassifikation, der Quantifizierung und Verlaufsbeschreibung von Patienten mit somatoformen Störungen. Da in der Behandlung von Schmerzpatienten immer häufiger die Diagnosen einer „posttraumatischen Belastungsstörung“ sowie von „Persönlichkeitsstörungen“ getroffen werden, empfiehlt es sich, bei Bedarf folgende Verfahren anzuwenden:

Strukturiertes Klinisches Interview nach DSM-IV für Achse I und Achse II (SKID I, II) von Wittchen et al. (1997) Strukturiertes Interview zur Erfassung des Psychopathologischen Status inklusive Persönlichkeitsstörungen.

Impact of Event Scale (IES) von Horowitz et al. (1979, deutsche Fassung nach Maercker und Schützwohl 1998) Zur Erfassung einer Posttraumatischen Belastungsstörung.

Fragebögen zur Erfassung der Behinderung durch Schmerzen Pain-Disability-Index (PDI) deutsch von Nilges (1997)

Schmerzmessung und Dokumentation

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Funktionsfragebogen Hannover (FFbH) von Kohlmann (1996) Anwendungsbereich: Patienten mit Rückenschmerzen

Fragebögen zum Gesundheitszustand und zur Lebensqualität SF 36 Der SF 36 Fragebogen zum Gesundheitszustand von Bullinger und Kirchberger (1998). Die Einsatzmöglichkeiten des SF 36 liegen im klinischen Bereich und in der epidemiologischen Forschung. Der SF 36 ist ein krankheitsübergreifendes Messinstrument zur Erfassung von acht Dimensionen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Dazu gehören körperliche Funktionsfähigkeit, körperliche Rollenfunktion, körperliche Schmerzen, allgemeine Gesundheitswahrnehmung, Vitalität, soziale Funktionsfähigkeit, emotionale Rollenfunktion, psychisches Wohlbefinden.

WHO-QOL Der WHO-QOL 100 von Angermaier, Killian und Matschinger (2002) ist ein Instrument zur Erfassung der subjektiven Lebensqualität.

Fragebögen zur Bewältigung von Schmerz Freiburger Fragebogen – Stadien der Bewältigung chronischer Schmerzen (FF-STABS) von Maurischat, Härter und Bengel (2006) Der FF-STABS ermöglicht es, die individuelle motivationale Bereitschaft zu ermitteln, an der Schmerzbehandlung überhaupt mitzuwirken bzw. sich in Schmerzprogramme einzulassen. Mit diesem Fragebogen liegt erstmals ein geeignetes Verfahren zur Erfassung der Motivationslage von Patienten vor.

Zusammenfassung Die Aufzählung sowohl eindimensionaler als auch mehrdimensionaler Verfahren zur Schmerzmessung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie soll aber einen Überblick darüber geben, was derzeit in der Diagnostik des Schmerzes möglich ist. Die vielfältigen Möglichkeiten sollen auch nicht zu einer Überforderung der Patienten führen, jede schmerztherapeutische Einrichtung soll eine mehrdimensionale Diagnostik verwenden, denn zu einer guten und adäquaten Schmerztherapie gehört eben auch eine gute Schmerzdiagnostik.

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Literatur Basler HD, et al (Hrsg) (2003) Psychologische Schmerztherapie: Grundlagen, Diagnostik, Krankheitsbilder, Behandlung, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Bernatzky G, Likar R (2007) Schmerztagebuch, 2. Aufl. Clara Lumina, Salzburg Ehlert U (2003) Was ist eigentlich Verhaltensmedizin? In: Ehlert U (Hrsg) Verhaltensmedizin. Springer, Berlin Flor H (2003) Chronische Schmerzsyndrome. In: Ehlert U (Hrsg) Verhaltensmedizin. Springer, Berlin Testkatalog 2006/2007 der Testzentrale Göttingen. Hogrefe Verlag, Göttingen

Wirkung ohne Wirkstoff – der Placebo-Effekt R. LI K A R u n d G . B E RNA T Z K Y

Das Wort „Placebo“ wurde zum ersten Mal 1340 von Geoffrey Chaucer in Anspielung auf den Psalm 116.9 spöttisch benutzt, dessen erste Zeile „Placebo Domino in regione vivorum“ (Ich werde wandeln vor dem Herrn im Lande der Lebenden) lautet und der von Priestern und Mönchen mit Eifer und gegen Entgelt für den Toten gesungen wurde (Kiss 2000). Zunächst wurde der Begriff auch in „das Plazebo singen“ benutzt, um auszudrücken, dass jemandem nach dem Mund geredet wird. Das lateinische Wort „placebo“ bedeutet „ich werde gefallen“. Bereits im 17. Jahrhundert hatten Mediziner in England „inaktive“ Medikamente als Placebo bezeichnet. Als Medikament ohne Wirkstoff, aber mit großer Wirkung machte das Placebo in den letzten Jahrzehnten eine besondere Karriere. In der modernen Medizin werden Placebos unter anderem erfolgreich bei der klinischen Prüfung von Medikamenten eingesetzt. Dabei wird ein bestimmtes Arzneimittel und ein ihm nachgebildetes Scheinmedikament ohne dessen entscheidende Wirkstoffe in ihrer Wirkungsweise verglichen. Auf diese Weise sollen die pharmakodynamischen Effekte des „echten“ Arzneimittels von seinen immer auch vorhandenen unspezifisch-therapiefördernden Wirkungen getrennt werden. Das Konzept über Placebo hat sich in den letzten zehn Jahren deutlich geändert: Es wurden zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zur Placebowirkung durchgeführt. Die Wissenschaftler versuchten verstärkt, die Wirkungen der Psyche auf den Körper zu erkunden. Nach neuen Erkenntnissen beruhen die nachgewiesenen Heilwirkungen von Placebos auf den Erwartungen und Wünschen, der Konditionierung und dem Glauben der PatientInnen. Man kann dies auch zusammenfassen unter Kognition, Antizipation und Expectation. Gleichzeitig haben die neuen Untersuchungen zahlreiche Fehlmeinungen zum Placeboeffekt aufgedeckt:

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R. L i k a r u n d G . B e r n a t z k y

Tabelle 1. Responserate mit Placebo unter verschiedenen klinischen Bedingungen bei akuten und chronischen Schmerzen (Moore et al. 2003) Schmerzart

Behandlung

Besserung

Dauer

Anz. der Pat. mit Placebo

% Schmerzlinderung mit Placebo

Akuter post– operativer Schmerz

Orale Analgetika

Zumindest 50%

4–6 Std.

12.000

18

Verstauchung, Zerrung

Topische NSAIDS

Zumindest 50%

7 Tage

3239

39

Migräne

Orales Triptan

Kein bis leichter Schmerz

2 Std.

3148

28

Migräne

Orales Triptan

Schmerzfrei

2 Std.

2661

7

Menstruations– beschwerden

Orale Analgetika

Zumindest 50%

ca. 1 Tag

1607

22

Trigeminus– neuralgie

Antiepileptika

Zumindest 50%

3–7 Monate

224

18

Diabetische Neuropathie

Tricyclische Antidepressiva

Zumindest 50%

3–7 Monate

200

36

Diabetische Neuropathie

Topisches Capsaicin

Zumindest viel besser

4–8 Wochen

165

49

Atypischer Gesichtsschmerz

Tricyclische Antidepressiva

Zumindest 50%

3–7 Monate

85

35

Postherpetische Neuralgie

Tricyclische Antidepressiva

Zumindest 50%

3–7 Monate

68

12

Die häufigsten Irrtümer oder Missinterpretationen sind folgende – Man war bisher der Meinung, nur eine bestimmte Prozentanzahl (ca. ein Drittel) von PatientInnen würde bei gewissen Interventionen auf Placebo reagieren. Nun zeigten verschiedene Studien, dass der Anteil von Placeboreaktionen stark differiert. – Falsifiziert werden konnte auch die Meinung, dass der Placeboeffekt desto größer ist, je größer der Effekt der Behandlung ist. In verschiedenen Studien wurde vielmehr bewiesen, dass es keinen fixen Anteil von Placeboresponse gibt. – Es stimmt auch nicht, dass der Anteil von Placeboantworten umso höher ist, je invasiver die Methode der Behandlung ist. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Placebowirkung von Medikamenten keineswegs höher ist wenn sie intramuskulär gespritzt werden, als wenn sie als Tabletten oder in Form von Nasenspray verabreicht werden.

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Wirkung ohne Wirkstoff

– Ebenso konnte gezeigt werden, dass Placebos im Gegensatz zu früheren Annahmen nicht nur bei psychischen Erkrankungen wirken. Man war früher der Meinung, Placebos wären zur Differenzierung zwischen somatischen und psychischen Erkrankungen geeignet. Vielmehr ist nun gut belegt, dass Placebos bei vielen Beschwerden organischer Genese, z.B. Karzinomschmerzen wirksam sind. – Schließlich wurde auch die Annahme widerlegt, dass PatientInnen, welche auf Placebos reagieren, besondere psychische Merkmale haben. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Empfänglichkeit für Placebowirkungen mit einer bestimmten psychischen Eigenschaft oder psychiatrischen Erkrankung in Zusammenhang steht. Tabelle 2. Response von Placebo bei akutem postoperativem Schmerz bei oraler und intramuskulärer Verabreichung der Placebos Aktive Intervention

Route

Zahl d. Placebo

%-Anzahl mit mind. 50% Schmerzlinderung

Alle Placebo

Oral und IM

> 12,000

18

Aspirin 600/650 mg

Oral

2562

16

Ibuprofen 400 mg

Oral

2183

14

Paracetamol 600/650 mg

Oral

613

22

Paracetamol 600/650 mg plus Codein 60 mg

Oral

432

20

Tramadol 100 mg

Oral

414

8

Morphin 10 mg

IM

460

16

Ketorolac 30 mg

IM

183

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Wie Placebos wirken Neue Untersuchungen zum Placeboeffekt erbrachten unter anderem folgende Ergebnisse: – Unterschiedliche Medikamente, diverse medizinische Behandlungen, Operationen, Biofeedback, transkutane Nervenstimulationen (TENS), Akupunktur, Tabelle 3. Response von Placebo bei akuter Migräne bei oraler Verabreichung und solcher mittels Injektion der Placebos Verabreichungsart

Anzahl Versuche

2-h-Kopfschmerz Response mit Placebo (Anzahl/gesamt)

% Anzahl der Responder (95% CI)

Oral Subkutan Intranasal

30 14 6

875/3148 382/1257 205/650

28 (26 von 29) 30 (28 von 33) 32 (28 von 35)

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Psychotherapie und diagnostische Eingriffe können eine Placeboantwort auslösen. – Die Häufigkeit der Placeboreaktionen ist sehr unterschiedlich: Bei klinischen Schmerzen kommen sie häufiger vor als bei experimentell ausgelösten Schmerzen. Generell wird von einer Placeboanalgesie gesprochen, wenn durch das Scheinmedikament die Schmerzintensität um mehr als die Hälfte des Ausgangswertes reduziert wird. Wichtig sind die Erwartungen, die in ein Placebo gesetzt werden. Wird einem Placebomedikament eine hohe schmerzlindernde Wirkung zugesprochen, so ist auch die Placeboreaktion stärker. Dies konnte besonders beim Einsatz von Placebos zur Behandlung von Karzinomschmerzen beobachtet werden. – Die Wirkdauer von Placeboreaktionen ist sehr unterschiedlich. Sie kann von einer Stunde bis Tage und Monate anhalten. – Ein Placebo kann auch negative Wirkungen haben. In diesem Fall spricht man von einem Nozebo. So können spezifische unerwünschte, aber als „normal“ erwartete Nebenwirkungen einer Therapie auch durch Placebomedikation hervorgerufen werden (Barsky et al. 2002).

Neue Forschungen Die internationale Forschungsgemeinde ist den Geheimnissen der Placebowirkung gerade in den letzten Jahren ein gutes Stück näher gekommen. Der Placeboeffekt kann nur unter Laborbedingungen in experimentellen Studien untersucht werden. Bei klinischen Untersuchungen ist es kaum möglich, alle für den dafür ausschlaggebenden Faktoren adäquat zu kontrollieren da man ja auch den natürlichen Verlauf einer Krankheit (regression to the mean) bei der Beurteilung eines Placeboeffektes ins Kalkül ziehen muss (Price 2001). Die mittlere Größe des placeboanalgetischen Effektes kann man nur bei einer Gruppe von Patienten messen, wenn man eine Gruppe ohne Behandlung, eine andere Gruppe mit Placebo behandelt und die Ergebnisse vergleicht. Das bedeutet, wenn man nur eine Placebogruppe allein hat, heißt es nicht, dass man hier den wirklichen Placeboeffekt misst. Es folgen Hinweise auf einige neue Ergebnisse speziell, was die analgetische (schmerzmindernde) Wirkung von Placebos betrifft: Es sei jedoch erwähnt, dass mittels Placebogaben auch Verbesserungen der Motorik bei Parkinson-Patienten erreicht werden konnten (Benedetti et al. 2004). Eine große Rolle spielt dabei die durch ein Placebo erhöhte Erwartungshaltung, welche ihrerseits dazu beiträgt, das körpereigene Dopaminsystem zu aktivieren. Untersuchungen mit Parkinsonpatienten zeigten, dass es dabei zu einer Interaktion zwischen den körpereigenen dopaminergen (auf Dopamin reagierenden) Systemen und den Opioidsystemen kommt. Der Placeboeffekt bei Schmerzen wird bestimmt von Faktoren wie der klassischen Konditionierung, dem Wunsch der PatientInnen nach Schmerzlinderung und ihrer Erwartungshaltung. So kann die wiederholte Gabe von effektiven An-

Wirkung ohne Wirkstoff

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algetika den Placeboeffekt erhöhen, da damit die Erwartungshaltung steigt. Der Grad der Erwartung bei den PatientInnen bestimmt also die Größe des Placeboeffektes wesentlich mit. So ist auch zu erklären, warum ein Placebo effektiver ist, wenn man es nach einer Behandlung mit wirksamen Analgetika verabreicht, als wenn nach einer ersten Placebobehandlung eine weitere durchgeführt wird. Wesentlich für die Placebowirkung ist auch das Umfeld, in dem der Patient behandelt wird. Besonders wichtig sind die Worte, die der Arzt benützt. Das durch Placebo aktivierte endogene Opioidsystem hat eine präzise somatotopische Organisation. Eine hohe spezifische Placeboantwort kann in spezifischen Teilen des Körpers hervorgerufen werden, und diese lokale Placeboantwort kann durch Naloxon blockiert werden. Viele Studien haben den Placeboeffekt untersucht und die verbale Suggestion der Analgesie benutzt. Weiters gibt es Untersuchungen, bei denen verbale Erwartungen von Schmerzreaktionen indiziert wurden. Die Assoziation zwischen dem Context, bei welchen der Patient behandelt wird (konditionierter Stimulus) und Painkiller (unkonditionierter Stimulus) kann gelernt werden durch die Erwartungshaltung. Es gibt eine Evidenz, dass die Administration von Placebo kombiniert mit der Vermutung, dass es ein Schmerzkiller ist (verbaler Kontext), den Schmerz durch einen Opioid- und Nicht-Opioid-Mechanismus reduziert. Der Opioid-Mechanismus (endogene Endorphinfreisetzung) kann durch Naloxon blockiert werden, der Nicht-Opioid-Mechanismus (Erwartungshaltung) kann nicht durch Naloxon blockiert werden (Colloca, Benedetti 2005). Das Nicht-Opioid-System kommt in Gang, wenn es gelingt im Patienten die Erwartung zu wecken, dass seine Schmerzen gestillt werden. In einer Studie, in der Patienten mit chronischen Schmerzen mit Placebos behandelt wurden, konnte nachgewiesen werden, dass bei jenen Personen, bei denen es zu einer Placeboantwort kommt, eine höhere Konzentration von Endorphinen im cerebralen Liquor nachweisbar ist. Es konnte auch gezeigt werden, dass ein Placebo die nozizeptive Transmission, das heißt die Weiterleitung der Schmerzreize entlang der Schmerzbahnen im Rückenmark reduziert. Diese Placeboantwort, verursacht durch die starke Erwartungshaltung ist unempfindlich gegenüber Naloxon. Es gibt spezielle Daten, welche die Rolle der endogenen Opioide bei der Placeboanalgesie unterstützen. Basierend auf der Antiopioidwirkung von Cholecystokinin ist der Cholecystokinin Antagonist Proglumid imstande, den Placeboeffekt zu verstärken durch die Potenzierung des placeboaktivierten Opioidsystems. Aus diesem Grund scheint die Placeboanalgesie das Ergebnis einer Balance zwischen endogenen Opioiden und endogenem Cholecystokinin zu sein. Placeboverabreichung kombiniert mit verbaler Beeinflussung der Analgesie beruht also auf Opioid- oder Nicht-Opioid-Mechanismen durch Erwartung und/ oder Konditionierungssysteme. Das C-adrenergische sympathetische System des Herzens ist während der Placeboanalgesie gehemmt. Obwohl der vorliegende Mechanismus nicht bekannt ist, könnte die Reduktion vom Schmerz selbst oder die direkte Wirkung durch endogene Opioide hervorgerufen werden. Cholecystokinin hebt die Wirkung der endogenen Opioide auf und antagonisiert die Placeboanalgesie.

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R. L i k a r u n d G . B e r n a t z k y

Zu den verwendeten Begriffen: Als „analgetische Placeboantwort“ wird die Reduktion von Schmerz bei einem Individuum resultierend aus einer Placebogabe bezeichnet. Unter dem „analgetischen Placeboeffekt“ versteht man die gemessene mittlere Schmerzreduktion bei einer Gruppe von Patienten, welche eine Placebobehandlung erhält. Die mittlere Größe des placeboanalgetischen Effektes kann man nur durch den Vergleich von zwei Patientengruppen messen. Dabei bleibt die eine Gruppe ohne Behandlung, eine andere Gruppe erhält ein Placebo. Nur mit einer Placebogruppe allein kann man den tatsächlichen Placeboeffekt nicht messen. Der Unterschied zwischen einer Placebogruppe und einer Nichtbehandlungsgruppe repräsentiert den wirklichen „psychobiologischen Placeboeffekt“ (Price 2005).

Den Placeboeffekt für die Praxis nützen Auch wenn viele Details zum Placeboeffekt immer noch im Dunkeln liegen, sollten einige Erkenntnisse dazu bereits jetzt Eingang in die Praxis finden. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass mit Hilfe der Placeboanalgesie in bestimmten Fällen die Gabe von Schmerzmitteln deutlich reduziert werden könnte. Damit ist es auch möglich, die negativen Nebenwirkungen dieser Medikamente zu verringern. Manche neuen Erkenntnisse zum Placeboeffekt lassen sich aber jetzt schon nützen. Die Wirksamkeit von „echten“ Schmerzmitteln kann nämlich durch bewusstes Hervorrufen des Placeboeffektes noch gesteigert werden. Der auf diese Weise optimierte Therapieeffekt beinhaltet den „Nettoeffekt“ des Medikaments plus der Placeboantwort. Wie bereits festgestellt, spielt – nicht nur – für die Placebowirkung die durch den Arzt beim Patienten geweckte positive Erwartungshaltung eine große Rolle. Voraussetzung einer jeden guten Therapie ist demnach, dass der Arzt mit den PatientInnen ein Vertrauensverhältnis aufbaut und über reelle Heilungschancen spricht. Dadurch werden die Selbstheilungskräfte des Körpers angeregt. Die nachfolgenden Therapiemaßnahmen wirken besser. Die Placebo-Antwort ist nicht limitiert auf das Gebiet der Schmerzlinderung, sondern ist also auch unter anderen Bedingungen vorhanden (wie die Konditionierung, die Belohnung und die versteckten Behandlungen). Placeboinduzierte Erwartungen der Verbesserung der Motorik bei Patienten mit Parkinson haben gezeigt, dass sie das endogene Dopaminsystem im Striatum aktivieren und Übungsmuster der Neurone im subthalamischen Kern verändern. Es wurde angenommen, dass placeboinduziertes Freisetzen von Dopaminen den Belohnungseffekt verstärkt (s. eingangs) (Colloca et al. 2005). Es ist wichtig, die Interaktion zwischen dopaminergen und Opioidsystemen zu erkennen. Endogene Opioidpeptide sind auch in den Belohnungsmechanismus involviert. Um im klinischen Alltag den Placeboeffekt besser zu verstehen, müssen wir eine neue klinische Suche entwickeln, neue therapeutische Protokolle erstellen, um die Verbindung Medikamente – Placebos zu erforschen mit dem Ziel, dass

Wirkung ohne Wirkstoff

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damit die Einnahme von toxischen Medikamenten und damit auch die Nebenwirkungen reduziert werden (Gracely et al. 1985). Es ist notwendig, den Impact der Placeboforschung auf die Gesellschaft auszuweiten und die positiven und negativen Aspekte zu erforschen (Davis 2002). Wir können und müssen die neuen Erkenntnisse zum Placeboeffekt, welcher durch die Erwartung, die Konditionierung, die Wünsche und den Glauben des Patienten bestimmt ist, für die Therapie nutzen. Der optimierte Therapieeffekt ist der Nettoeffekt des Medikaments plus der Placeboeffekt (Fields, Price 1997). Für den Placeboeffekt spielt neben dem endogenen Opioidsystem auch die Erwartungshaltung eine große Rolle. Aus diesem Grund ist die Voraussetzung für eine gute Therapie, dass zwischen Patient und Arzt die Erwartungshaltung, die reellen Therapieziele offen dargelegt werden (Sullivan et al. 2005). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass weitere Untersuchungen zur Placebowirkung ein für die medizinische Praxis wichtiges Anliegen sind. Angesichts der Zunahme der Anzahl älterer Menschen und damit auch der Zahl von SchmerzpatientInnen nicht nur in den westlichen Industrieländern sind wir mit ständig steigenden Gesundheitskosten konfrontiert. Es wäre deshalb sowohl im Hinblick auf den Einzelnen wie auf die Gesamtgesellschaft sinnvoll, die positiven Placeboeffekte in der Schmerzbehandlung und darüber hinaus besser zu nützen. Dieser Beitrag versteht sich somit auch als Anregung, die schmerzlindernden und gesundheitsfördernden Eigenschaften von Placebos – als solche können nicht nur Medikamente sondern auch Akupunkturbehandlungen eingesetzt werden – sowohl in Forschung wie Praxis stärker zu beachten. Zumal durch Nutzung der Placebowirkung ein weiteres wichtiges Ziel erreicht werden kann, nämlich die stärkere Einbeziehung der PatientInnen in den Behandlungsprozess. Wie man heute weiß, hängt nämlich die schmerzlindernde oder sonstige positive Wirkung eines Placebos wesentlich von den Erwartungen der Kranken ab bzw. davon, ob ein Vertrauensverhältnis zwischen Behandler und Behandeltem aufgebaut werden kann. Positive Erwartungshaltung und Selbstwirksamkeitsüberzeugung des Patienten sind also wichtige Helfer des Arztes bei der Behandlung von Schmerzen. Andererseits ist durch Studien belegt, dass bei „versteckter“ Verabreichung eines Placebos (der Patient sieht nicht, welches Medikament er erhält) auch die schmerzlindernde Wirkung oder auch der Erfolg einer Behandlung mit Placebo bei Parkinsonerkrankung zumindest reduziert erscheint, wenn nicht ganz wegfällt. Beide Ergebnisse verweisen auf jene Möglichkeiten, die „richtig“ eingesetzte Placebos in der Praxis eröffnen.

Literatur Barsky AJ, Saintfort R, Rogers MP, Borus JF (2002) Nonspecific medication side effects and the nocebo phenomenon. JAMA 287: 622–627 Benedetti F, et al (2004) Autonomic and emotional responses to open and hidden stimulations of the human subthalamic region. Brain Res Bull 63: 203–211 Colloca L, Benedetti F (2005) Placebos and painkillers: is mind as real as matter? Perspectives. Nature Rev (6): 545–552

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R . L i k a r u n d G . Be r n a t z k y

Colloca L, Lopiano L, Benedetti F, Lanotte M (2005) The placebo response in conditions other than pain. Sem Pain Med 3: 43–47 Davis CE (2002) The science of the placebo. Guess HA, Kleinman A, Kusek JW, Engel LW (eds) toward an interdisciplinary research agenda. BMJ Books, London, UK, pp 158–166 Fields HL, Price DD (1997) The placebo effect. Harrington A (ed) An interdisciplinary exploration. Havard Univ-Press Cambridge, Massachusett, USA, pp 93–116 Gracely RH, Dubner R, Deeter WR, Wolskee PJ (1985) Clinician’s expectations influence placebo analgesia. Lancet 1: 43 Kiss I (2000) Plazebo. Der Schmerz 14: 252–256 Moore A, Edwards J, Barden J, MacQuay H (2003) Bandolier´s little book of pain. Oxford University Press, Oxford New York, pp 968–973 Price DD (2005) New facts and improved ethical guidelines for placebo analgesia. J Pain 6: 213–214 Price DD (2001) Assessing placebo effects without placebo groups: an untapped possibility? Pain 90: 201–203 Sullivan M, et al (2005) APS position statement on the use of placebos in pain management. J Pain 6: 215–217

Glaube, Hoffnung und Schmerz M. P E I NT I NG E R

Einführung „Not lehrt beten“, so lautet eine gängige Volksweisheit. Und in extremen, nach naturwissenschaftlichen Kriterien therapeutisch erfolglosen oder unbehandelbaren Situationen kann es sogar geschehen, dass selbst agnostische Mediziner1 meinen, „hier helfe nur mehr ein Gebet“. Zumeist also erst, wenn „menschliche Weisheit am Ende ist“,2 wie dies gerade im Umgang mit Schmerzen und Leiden des Öfteren der Fall sein kann, beginnt die Suche nach weiteren Hilfsmöglichkeiten, gerät sogar das bis dahin Bezweifelte, wenn nicht gar Belächelte, ins Blickfeld. Gleichzeitig jedoch erhebt sich die Frage, inwieweit denn der Glaube tatsächlich helfen könne, oder ob es sich doch bloß um eine billige Vertröstung handle. Gilt das Wort „Wer heilt, hat Recht“, selbst wenn die Vermutung nahe liegt, dass es sich nur um eine innerweltliche Manipulation oder gar um einen psychologischen Taschenspielertrick handelt? – Hilft also der Glaube? Wenn ja, wie, und welcher Glaube? Sind Effekte des Glaubens sogar nachweisbar, oder bleiben mögliche positive Folgen nur deshalb im Reich vager Vermutungen, weil sie beispielsweise nach wissenschaftlichen Kriterien zumeist nicht reproduzierbar sind? Im Folgenden soll aufgezeigt werden, welche Erfahrungen sich weltweit mit dem Glauben als mögliches therapeutisches Agens verbinden, welche Denkmodelle zur Erklärung entworfen oder adaptiert wurden, und inwieweit diese zwischen realistischer Einschätzung und mystisch anmutender Überdehnung angesiedelt sind. 1 Geschlechtsspezifische Termini sind aus Gründen der leichteren Lesbarkeit nur einfach angeführt. Das jeweils andere Geschlecht ist dabei selbstverständlich mitgemeint! 2 Vgl. z.B. Altes Testament, Ps 107, 27.

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Grundsätzliches Die Erfahrungen von Schmerz und Glauben sind so alt wie die Menschheit selbst.3 Konzepte, die diese beiden Erfahrungen in Bezug zueinander setzten, waren und sind von den jeweiligen Welt- und Menschenbildern abhängig, welche Leidende und Helfer verbinden oder entzweien können. Sie basieren auf dem Selbstverständnis, das der Mensch von sich hat und auch auf jenem, welches die Medizin für die Ausübenden besitzt. Da Schmerzen und Leiden keine rein medizinischen oder theologischen Probleme darstellen, sondern menschliche – und zwar sowohl individuell als auch gemeinschaftlich verstanden! –, ist es auch erforderlich, dass sich jede inner- und außermedizinische Disziplin damit befassen sollte, welchen Beitrag sie zur Minderung des Problems leisten könnte! Gerade in den letzten Jahren haben sich viele Mediziner wissenschaftlich mit der Wirksamkeit des Glaubens beschäftigt und in zahlreichen Studien versucht, diese nachzuweisen oder zu widerlegen. Es erscheint dabei wenig erstaunlich, dass der größte Teil der Studien in den USA entwickelt und durchgeführt wurde, bedenkt man den Stellenwert der Religion in der amerikanischen Gesellschaft.4 Der weitgehend offene und ungezwungene Umgang, der sich beispielsweise auch darin erweist, dass ein – wie immer geartetes – öffentliches religiöses Bekenntnis keineswegs gegen die „political correctness“ verstößt, erlaubt auch friktionsfreiere Zugänge zur Thematik! Parallel dazu lässt sich allerdings feststellen, dass sich Kirchen und Glaubensgemeinschaften selbst zur Frage nach einer therapeutischen Wirkung des Glaubens häufig in größter Zurückhaltung üben. Zu den einschlägigen Themen, die bislang in den mehr als 300 Studien5 behandelt wurden, zählen unter anderem die grundsätzliche Hilfe des Glaubens zur Verbesserung und Erhaltung der Gesundheit,6 längeres Leben,7 größere Lebenszufriedenheit und weniger Depressionen,8 und zwar sowohl bei alten Menschen,9 als auch bei Studenten,10 bis zur Bewältigung von Todesangst11 oder der Hinauszögerbarkeit des Todes.12 3

Näher dazu: Müller-Busch, Kulturgeschichtliche Bedeutung des Schmerzes, 147–163. Laut der Umfrage von Newsweek, 1996, beten 54% der Amerikaner täglich, 29% sogar mehrmals täglich: Woodward KL, „Is God Listening?“, in: Newsweek 129 Nr. 13 31. März 1997, 56–57. 5 Vgl. Matthews D, Glaube macht gesund, 13. 6 Untersuchung an 1077 Studenten der Northern Illinois University, zit in: Oleckno WA, Blacconiere MJ, Relatinsship, 819–826. 7 Untersuchung bei Gläubigen der 7-Tage-Adventisten, Holland 1983, in: Matthews Glaube, 35; 1982: Studie an 1170 Teilnehmern: Regelmäßige Kirchbesucher waren mit ihrem Leben zufriedener: Ebd, 47. 8 So etwa Sherman, Religious struggle, 359–367; ferner: Aukst-Margetic, Religiosity, 250– 255; weiters: Brown, Religiosity, 55–68, zit in: Matthews, Glaube, 38f. 9 Hunsberger B, Religion, 243–250; vgl auch: Steinitz LY, Religiosity, 60–67; weitere Studien siehe Matthews, Glaube, 165f. 10 Frankel, Religion, 62–73. 11 Matthews D, Glaube macht gesund, 48. 12 Ebd., 35; Strawbridge, Frequent Attendance, 957–961. 4

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Nicht zuletzt fanden sich auch Studien, die aus naturwissenschaftlicher Sicht unerklärliche Heilungen und Spontanremissionen beschrieben.13 Dabei wurde wiederholt auch die kritische Frage untersucht, inwieweit religiöse Menschen vermehrt neurotische Züge aufwiesen und deshalb besonders empfänglich für Glaubenshilfen wären. Dieser häufig geäußerte Verdacht konnte, nicht zuletzt in einer deutschen Studie, ausreichend entkräftet werden.14 Als besonders interessant erweisen sich Studien, die den Glauben, bzw. das Gebet mit unmittelbaren therapeutischen Effekten in Verbindung setzten. Diese reichen von der Erfolgs- und Überlebensrate bei Patienten mit Operationen am offenen Herzen15 über die bessere Überlebensrate nach Myocardinfarkten16 bis zu Outcome-Vergleichen nach Bypass-Operationen zwischen gläubigen und nicht-gläubigen Patienten.17 Häufig thematisiert wird auch die Frage nach der Wirksamkeit von Fürbittgebeten, wobei geradezu klassisch konzipierte Doppelblindstudien, etwa jene von Randolph Byrd im General Hospital in San Francisco, eine Wirkung nachwiesen, die allerdings von anderen Autoren nicht oder nur partiell bestätigt werden konnte.18 Im Kontext mit diesem Buch interessiert besonders die Frage nach einer möglichen Hilfe des Glaubens bei Schmerzen und Leiden. Gerade in diesem Zusammenhang sind auch in jüngster Zeit zahlreiche Studien veröffentlicht worden, die nahezu ausnahmslos auf positive Effekte wie Schmerzreduktion oder Verminderung von schmerzaggravierenden Depressionen verweisen.19 Aktuelle Studien, welche bei chronischen Schmerzpatienten unterschiedliche religiöse CopingStrategien untersuchten, oder den „multidimensionalen Faktor Religion/Spiritualität“ von chronischen Schmerzpatienten in Beziehung zum allgemeinen Gesundheitserleben20 setzten, konnten ähnliche positive Wirkungen auf Menschen 13 Herschbach P, Psychosoziale Probleme, zit in: Aach, Brustkrebs, 79. Auf die Aspekte von tatsächlichen und fraglichen Wunderheilungen kann hier nicht näher eingegangen werden. Jedoch auch bei stattgehabten Wundern bleibt die Sinnfrage noch offen und erfordert eine umfassende und mitunter besonders belastende Reflexion. Zudem bleibt die Frage, ob nicht gerade eine Fokussierung auf Wunderheilungen die eigentliche und hauptsächliche Bedeutung der Hilfe von Religion und Spiritualität im Leiden verstellt! 14 Schwab R, Religiousness, 335–345 zit in Matthews D, Glaube, 167f. 15 Oxman TE, Lack of Social Participation, 5–15. 16 Friedman M, Feasibility, zit in: Fuchs, Therapeutische Meditationen, 102. 17 Saudia TL, Health Locus, 60–65. 18 Byrd RB, Positive Therapeutic Effects, 826–829, zit in: Matthews D, Glaube macht gesund, 236; Sherman, Religious struggle; ferner z.B.: Palmer RF, A randomized trial, 438–448. 19 Zu Depression: Aukst-Margetic, Religiosity; Arthritispatienten: Matthews DA, Prayer, 177–187; Schmerz: Toth JC, Faith in God, 19–21; Chron. Schmerzen: Rosendahl G, Chronic pain, 931; sowie ganz rezent: Coping Strategie bei Strahlentherapie-Patienten, Becker G, Glaube als Copingstrategie, 270–276. 20 Z.B. Matthews D, Glaube macht gesund;; Bush EG, Religious coping, 249–260; Rippentrop E, The relationship, 311–321: Hier insb. die Auffassungsunterschiede zwischen religiösen und nicht-religiösen Schmerzpatienten: Religiöse neigen laut dieser Studie dazu, eine größere Gottverlassenheit zu empfinden, oder verspürten weniger den Wunsch, das allgemeine Leid in der Welt zu verringern!

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feststellen, die sich selbst als gläubig oder spirituell einstuften. Alle zuletzt genannten Studien erhoben aufgrund ihrer positiven Ergebnisse ausnahmslos die Forderung nach zusätzlichen Forschungen, welche diese Ergebnisse bestätigen oder korrigieren sollten. Dieser Appell, verbunden mit der Suche nach neuen Ansätzen zur Entwicklung noch effektiverer Schmerztherapien bewog beispielsweise Wissenschafter am „Centre for Science of the Mind“ an der Oxford University, einem Forschungszentrum, in dem Neurologen, Pharmakologen, Theologen und Philosophen zusammenarbeiten, zu einer auf zwei Jahre anberaumten Studie. Bei freiwilligen Probanden soll, unter anderem mittels Überprüfung der Gehirnaktivitäten (Kernspintomographie), die Frage beantwortet werden, inwieweit Menschen mit einem starken Glaubenssystem imstande seien, Schmerzen besser zu ertragen.21

Hilft ein oder der Glaube? Dieser Frage, die ein wenig an die Frage anklingt, ob Medikamente helfen könnten, nähern sich Wissenschafter der unterschiedlichsten Richtungen aus verschiedenen Sichtwinkeln. Zumeist handelt es sich durchaus um pragmatische Zugänge, wie beispielsweise die geradezu naturwissenschaftlich anmutende Erklärung, wonach der Glaube – wie vieles andere auch – imstande sei, Endorphine zu erzeugen.22 Ebenso pragmatisch erscheint auch die Erklärung, wonach die Glaubenshilfen im Sinne einer einfachen psychologischen Reaktion des darauf besonders ansprechenden Patienten umgedeutet werden. Mag darin auch die aus den jeweiligen Erfolgen genährte Grundhaltung aufleuchten, wonach alles, was hilft „Recht behalte“ und daher in der Folge auch rezeptiert werde, greift dieser Ansatz doch zu kurz. Wer im Glauben, in Religion und Spiritualität nur einen Zugang unter vielen anderen Therapieansätzen sieht und nach Art eines zusätzlichen Hilfsmittels anwendet, mag möglicherweise erstaunliche Wirkungen erzielen, – das eigentliche Wesen erscheint dadurch jedoch in zweifacher Weise kaum ausgeleuchtet. Einerseits wird ohne entsprechenden Hintergrund die Beziehung zwischen Glauben und Selbstbestimmung des Menschen kaum einsichtig. Andererseits erinnert die Deutung des Glaubens als „Endorphin“-Erzeuger ironischerweise an Karl Marx’ widerlegtes Edikt, wonach Religion lediglich als „Opium des Volkes“ diene. Zudem scheint eine Verzweckung des Glaubens – selbst bei bester Intention, helfen zu wollen – letztlich ebenso wenig erfolgreich zu sein, wie etwa die Instrumentalisierung von Liebe: Bei größerer Einsicht oder längerem Verlauf fördert dies zumeist nur Beziehungsstörungen, was letzen Endes wieder nur zu einer Verstärkung des Leidens beitragen wird. 21 Herr M, Wie der Glaube, – Spiegel Online – 17. 1. 2005; Der modernen Hirnforschung zufolge scheint es Hirnregionen zu geben, in denen spirituelle und religiöse Erfahrung stattfindet. „Religiöse Erfahrungen haben offensichtlich eine neuroanatomischen Basis“: Weiher E, Spirituelle Ressourcen, 140. 22 Vgl. dazu etwa den lexikalischen Eintrag zum Thema auf www.hotsport.ch/1/lexikon/ lexikon_index.htm, visitiert am 6. Juni 2006.

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Zur Bewertung der Hilfsfähigkeit und -mächtigkeit des Glaubens, seiner Heilkraft und seiner Auswirkung auf das Schmerzerleben des Patienten sollten einige Begriffsinhalte geklärt sein.

Glaube In einer Gesellschaft, in der sich in den vergangenen Jahrzehnten ein gewisser „Transzendenzverlust“ feststellen lässt,23 wird das Zeitwort „glauben“ entweder als Festhalten an wissenschaftlich ungesicherten Möglichkeiten verstanden, oder „daran glauben“ im Sinne einer Placebowirkung verstanden. Ebenso kann es als eine bloß der emotionalen Bedürfnislage entspringende „irrationale Glaubensgewissheit“ geringgeschätzt werden, gegebenenfalls noch verbunden mit der unreflektierten Übernahme von religiös verwalteten Wahrheitskanons. Selbst wenn seine therapeutische Wirksamkeit möglich erscheint, wird Glaube meist nur als Kraft verstanden, welche „der Geist über den Körper besitzt.“ Schwer fällt es jedoch, Glauben als Ausdruck einer vertrauensvollen Hinwendung zu dem/einem transzendentalen Gott zu verstehen, oder – was für den hier beschriebenen medizinischen Zusammenhang letztlich von größter Bedeutung sein mag – als eine prozesshaft ablaufende Entfaltung einer seelischen Kraft, die zu einem „ganzheitlichen“ Denken führt. „Glauben“ ist nicht auf Inhalte oder Konfessionen bezogen, sondern beschreibt die Kraft, die zu einer höheren Erkenntnis führt und auch befähigt, „sich in dieser Erkenntnis zu beheimaten“.24 Sie ermöglicht damit ein erfülltes Menschsein, das aus einer wie immer gearteten Rückgebundenheit in ein größeres Ganzes mitunter auch innerweltlich sinnlos erscheinenden Geschehnissen (wie beispielsweise dem Tod) noch einen Sinn abzuringen vermag.

Schmerz und Leiden Unabhängig von allen Anstrengungen zur Überwindung gehören Schmerzen und Leiden unausweichlich zur menschlichen Verfasstheit. Ähnlich wie Gesundheit und Krankheit zählen sie zu Phänomenen, die körperliche, seelische, soziale, geistige und spirituelle Dimensionen aufweisen.25 Während allerdings der Schmerz als bekanntes und vielfach beforschtes Phänomen einen festen Platz in der wissenschaftlichen Wahrnehmung eingenommen hat, scheint der Begriff „Leiden“ oder „Das Leid“ in der Medizin – nicht zuletzt aufgrund seiner individuellen Aspekte, die sich einer statistisch gestützten Einordnung und Bewertung entziehen – eher zum unbekannten Terrain des menschlichen Seins zu zählen. 23 Dazu, sowie zu dem damit in Verbindung stehenden Bewertungen eines „Höchsten Gutes“ siehe: Peintinger, Therapeutische Partnerschaft, 192ff. 24 Vgl. Matthiessen PF, Prinzipien der Heilung im Neuen Testament, 161; vgl. z.B. Ruff W, Entwicklung religiöser Glaubensfähigkeit, 293–307; weiters: Katechismus der Katholischen Kirche, §§ 27ff. 25 Vgl. dazu auch Kröner-Herwig B, Schmerz, 8.

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Leiden reicht über den konkreten, eventuell organbegrenzten Schmerz hinaus. Denn im Leiden zeigen sich die Selbstreflexion des Menschen und seine Bezugnahme zu dem schmerzenden Geschehnis, das er einem Werturteil unterzieht. Schmerz kann lokal begrenzt und als solcher auch lokal erfahrbar werden. Leiden und Leid, selbst wenn es einem umschriebenen Schmerz entstammt, betrifft den Menschen in seiner Gesamtheit, nimmt Bezug auf seine personale Erfahrung, und verlangt eine gesamtmenschliche Antwort. Mit anderen Worten: Der Empfindung des Schmerzes steht die Erfahrung des Leidens gegenüber. Letztere beruht dabei auf der dem Schmerz-Erleben folgenden persönlich wertenden Reflexion, welche – nicht zuletzt anhand der je individuellen Erfahrungen – den Grad des Leidens feststellt. So gesehen ist es wenig verwunderlich, dass alle Aspekte, welche die therapeutischen Hilfen des Glaubens und dessen Heilsamkeit zum Gegenstand haben, mehr mit dem Leiden als dem konkreten Schmerz korrespondieren.

Der leidende Mensch und seine Selbstbestimmung Der Mensch, der „ganzheitlich leidet“, indem beispielsweise sein konkreter Schmerz, individuell reflektiert und damit zum psychologischen, sozialen und spirituellen Leiden wird, fühlt sich zumeist nicht nur als passives, ohnmächtiges Opfer, sondern auch als jemand, der durch das Leiden herausgefordert ist und selbst dazu Stellung nehmen möchte. Denn der Mensch – so Kierkegaard – entwickelt unter Bedrohung den verzweifelten Willen, „er selbst zu sein“.26 Darin liegt der enge Bezug zu seiner Selbstbestimmung. Die Intention des Menschen besteht nämlich – ungeachtet der naturwissenschaftlichen Möglichkeiten – darin, das ihm durch Schmerzen und Leiden entglittene Eigenleben nach und nach wieder selbst in die Hand zu nehmen. Sein Ziel ist erreicht, wenn er dank einer erfolgreichen Coping-Strategie sein Leben im Sinne einer „bedingten Gesundheit“,27 selbst unter bestehen bleibender Belastungs- und Behinderungssituation, wieder relativ autonom gestalten kann. Selbstbestimmung als zentrales medizinethisches Prinzip, beruht dabei auf der individuellen Wertorientierung, welche mit einem vorhandenen Glauben und der Spiritualität eng verknüpft ist.28 Sie bedarf – bei aller grundsätzlichen Kontingenz – einem gewissen Maß an Entscheidungsfreiheit, und damit des Fehlens von innerer und äußerer Nötigung. So verstanden sind die Defizite der Selbstbestimmung unter Schmerz in zweifacher Hinsicht besonders bedeutsam. 26

Vgl. Biser E, Kann Glaube heilen? 44. Vgl. Siegrist J, Medizinische Soziologie; vgl. insb, Malherbe JF, Medizinische Ethik; vgl. dazu näher: Peintinger, Therapeutische Partnerschaft, 91–102; Auf dem Weg zur Wiedergewinnung der Selbstbestimmung zählen Beten und Meditation zu den häufigsten positiven Selbstbewältigungsversuchen, neben den Gesprächen mit Partnern und Freunden, Arbeit oder kultureller Kreativität. Andere auch häufige Formen der Selbsthilfe dienen eher der Leidens-Zunahme, wie aggressives Autofahren oder Selbstmedikation mit Alkohol und Drogen: vgl. Hell, Der Umgang mit dem Leiden, 100. 28 Vgl. Peintinger M, Autonomie und Spiritualität. 27

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Zum einen ist jede Entscheidungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit durch das Schmerzerlebnis oder eine insuffiziente Schmerztherapie – im Sinne einer Nötigung – zumindest erheblich eingeschränkt. Zum anderen erweist sich eine unklare oder nicht ausreichend reflektierte Wertorientierung, ebenso wie eine sich unter Belastung als brüchig erweisende Spiritualität oder Gläubigkeit, als zusätzliches Hemmnis, das Widerfahrene sinnvoll in den eigenen Lebenskontext einzuordnen und daraus heilsame Entscheidungen oder zumindest Bewältigungsansätze zu entwickeln. Um einen unter Belastung wenig hilfreichen Glauben besser zu verstehen, ist es erforderlich, die unmittelbare Beziehung zwischen Person und Religion zu hinterfragen und zwischen äußerer und innere Religiosität zu unterscheiden. Dabei wird als „äußere religiöse Ausrichtung“ eine Haltung verstanden, die Religion als Mittel zum Zweck versteht, andere Ziele zu erreichen.29 Als „innere religiöse Ausrichtung“ wird ein authentischer Glaube beschrieben, der weniger auf soziale Erwartungen abgestellt ist, sondern von der Grundfrage getragen ist, was der Glaubende selbst zum Wachstum von Religion und Gemeinschaft beitragen kann. Dies stellt nun keineswegs eine Unterscheidung dar, die zu unterschiedlichen moralischen Fremdbewertungen einladen soll. Vielmehr zeigt es sich, dass die je unterschiedliche Form der Religiosität auch differente Auswirkungen auf die Heilsamkeit oder zumindest Hilfsmächtigkeit des Glaubens aufweist. Wenig überraschend konnte anhand zahlreicher Studien nachgewiesen werden, dass eine äußere Religiosität weniger positive Effekte der Glaubenshilfe aufzuweisen hat, ja mitunter sogar noch weniger als bei einer religiösen Indifferenz!30 Ähnlich unterschiedliche Studienergebnisse zeigen sich in analoger Weise, wenn nur von einer unreflektierten allgemeinen „Gläubigkeit“ oder „Religionsausübung“ ausgegangen wird! Die für die autonome Lebensgestaltung unverzichtbare Wertorientierung stellt jedoch auch in anderen Hinsichten einen wesentlichen Aspekt für mögliche Schmerztherapien dar. Denn ergänzt durch gelebte kulturelle Normen sowie Traditionen, die der eigenen ethnischen Zugehörigkeit entstammen,31 prägt sie beispielsweise die Auffassung über die Anwendung von Schmerzmitteln in Abhängigkeit von Art und Stadium der Krankheit oder dem therapeutischen Handlungsort (Krankenhaus, Praxis, Hausbehandlung). Weiters beeinflusst sie mögliche Befürchtungen hinsichtlich einer Suchtgefahr, den Stellenwert einer drohenden Bewusstseinsreduktion, den Umgang mit einer terminalen Sedierung oder die Möglichkeit einer medikamentös induzierten Lebensverkürzung!32

29 Vgl: Ang DC, Ethnic differences, 471–476; Hodes R, Cross-cultural medicine, 29–36; Die Frage der äußeren religiösen Ausrichtung lautet: „Was kann die Religion für mich tun?“: Matthews D, Glaube macht gesund,, 73. 30 Herschbach P, Psychosoziale Probleme. 31 Vgl. z.B. Ilkilic I, Begegnung und Umgang mit muslimischen Patienten. 32 Vgl. dazu die etwa die Arbeiten zum Thema Terminale Sedierung in der Zeitschrift Ethik in der Medizin, Bd 16, Nr. 4, 2004, sowie rezent: Körtner UHJ, Lebensanfang.

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Chronische Schmerzzustände Wenn die Selbstbestimmung unter Schmerz gewichtige Defizite aufweist, so trifft dies besonders bei chronischen Schmerzzuständen zu. Intellektuell nicht mehr als „Warnsymptom“ erfassbar, zermürbt er durch seine Persistenz, erweist sich als aushöhlende, die Persönlichkeit verändernde Kraft und verringert die Sozialkontakte. Letzteres sowohl, weil die Betroffenen selbst durch das ständige Ankämpfen zu wenig Kraft dafür erübrigen können. Zum Teil aber auch, weil sich Menschen aus der Umgebung – schon grundsätzlich unsicher im Umgang mit der Problematik – dem ständigen vorhandenen Kreisen um die Thematik entziehen wollen, oder den vor Augen geführten Schmerz als latente, teilweise uneingestandene Bedrohung der eigenen Integrität erfahren und sich sukzessive zurückziehen. Mangels Ansprechpartner wird es „still um den Kranken“33 und zum Leiden an dem Schmerz kommt erschwerend der Umstand, dass sich immer weniger Möglichkeiten finden, das Widerfahrene auszusprechen und damit eine „Seelenhygiene“ zu betreiben. Die Sprachlosigkeit bleibt bei dem zu erduldenden Leid und „vergiftet den Menschen“.34 Hier kann der Glaube, und in besonderer Weise die Spirituelle Begleitung, helfen, diese peinigende Stille wieder zu durchbrechen und die Wortlosigkeit entweder im mitmenschlichen Gespräch oder sogar in der Ermutigung zu einer hiobartigen Leidklage zu Gott zu bekämpfen. Die zentrale individuelle Reflexion des Leidens verbindet die Frage nach dem Sinn des erfahrenen Schmerzes mit den bedrängenden existentiellen Fragen nach dem „Warum?“, nach einem „Warum ich?“ und „Warum jetzt?“. Fehlt eine Bedeutungsgebung, stellt dies einen zusätzlichen massiven Stressfaktor dar, wodurch jedes Leiden noch vertieft, ja sogar unerträglich werden kann. Der Mensch leidet dann tatsächlich an einer als sinnlos erkannten Wirklichkeit.35 Im „analgetischen Zeitalter“, in dem Schmerz nur mehr als atavistisches Überbleibsel der Natur verstanden, und ein generelles Recht auf Schmerzfreiheit postuliert wird, ist jedoch eine Sinnhaftigkeit besonders schwierig zu beantworten. Dies erklärt – und erfahrene Palliativmediziner bestätigen dies –, warum das Leiden des Menschen beispielsweise bei einigen chronischen Schmerzen dramatische Ausmaße annehmen kann, selbst wenn durch naturwissenschaftliche Methoden die Schmerzintensität bereits auf ein erträgliches Maß reduziert werden konnte. Hier setzen auch zahlreiche salutogenetische Konzepte, von Antonovsky über Weizsäcker bis Siegrist36 an, welche neben der vernachlässigten Emotionalität aufs Neue die Spiritualität einzubringen versuchen, um auf diese Weise einen 33

Vgl. Picard M, Die Welt, 153. Weil S, Schwerkraft und Gnade, 13f; Es geht darum, „die existentielle Not durch die kommunikative Not zu lindern“: Gottschlich M, Sprachloses Leid, 3. 35 Vgl. dazu Frankl V, Das Leiden am sinnlosen Leben. vgl. Antonovsky A, Salutogenese; „Menschen müssen ihrem Schicksal eine Bedeutung geben um es bestehen zu können“: Weiher E, Spirituelle Ressourcen erschließen, 139f. 36 Vgl. dazu ausführlich: Banis R, Macht Glaube gesund?, 774–778; Weizsäcker V v, Der Mensch; Siegrist J, Medizinische Soziologie. 34

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Beitrag zur Lebensqualität im ursprünglich verstandenen mehrdimensionalen Sinn zu leisten. Ihre Implementierung, speziell im Rahmen einer kommunikativen und gegenüber der spirituellen Dimension offenen Palliativmedizin, vermag deren Erfolgsgeschichte wohl mehr zu begründen als der Umstand, dass sie gewohnte klinische Alltagsdefizite auszugleichen versteht!37 Die Frage nach dem Sinn von Schmerz und Leiden, sowie jene nach den Gründen des Schicksals sind letztlich Fragen metaphysischer Natur. Auf der Suche nach Antworten wird daher besonders nach transzendentalen Konzepten Ausschau gehalten. Da diese am einfachsten und zugleich bedeutendsten von den Religionen beigesteuert werden, lässt sich die Kernkompetenz von Spiritualität, Gläubigkeit und auch organisierten Religionen verdeutlichen.

Religion, Gläubigkeit und Spiritualität Unter Spiritualität wird die individuelle Beziehung zu einer absoluten transzendenten Wirklichkeit verstanden, die zur persönlichen Suche nach Antworten auf die letzten Fragen des Lebens und nach dem Sinn des Daseins herausfordert. Die Religion hingegen betont eine gemeinschaftlich getragene Überzeugung, die im Rahmen eines organisierten Systems mit Ritualen und Symbolen den gemeinschaftlichen Weg der Annäherung zum transzendentalen Gegenüber fördert und, innerhalb der Systemgrenzen, den je individuellen spirituellen Weg unterstützt. Von besonderer Bedeutung erweisen sich dabei die großen monotheistischen Religionen – Christentum, Islam und Judentum –, die alle Lebenszusammenhänge, und damit auch die Sinnfrage im Leiden, wenn auch auf je unterschiedliche Weise, in Bezug zu einem personalen Gott setzen.38 Dabei ist für den leidenden Gläubigen das lebensgeschichtlich erworbene Gottesbild von entscheidender Bedeutung. Wenn Gott nämlich als ein liebevolles und hilfreiches Gegenüber erfahren wird, trägt dies verständlicherweise zu einer größeren Unterstützung durch den Glauben bei, als wenn das transzendente Wesen als strafender Richter angesehen wird, wozu mitunter auch die individuellen (Kindheits-) Erfahrungen, namentlich ausgelöst durch problematische Vater-Kind-Beziehungen, beitragen! In diesen Beziehungskonstrukten liegt beispielsweise eine der Begründungen für positive oder negative religiöse Coping-Mechanismen mit je unterschiedlichen Erfolgsraten! 37 Vgl. die ursprüngliche Lebensqualitäts-Messung durch den Karnovsky-Index, der ursprünglich aus 4 Dimensionen bestand: Körperlich, geistig, sozial und spirituell: Karnofsky DA, 634–656; Gerade in der Palliativmedizin stellen spirituelle Aspekte einen neuen Forschungsfocus dar. Vgl. dazu: Breitbart W, Spirituality, 272–280. 38 Auch in den wenigen dazu existierenden Studien sind keine unterschiedlichen Wirkungen von spezifischen Religionen feststellbar: Matthews D, Glaube macht gesund,, 105f; Biser schätzt allerdings überhaupt nur das Christentum als therapeutische und mystische Religion ein: Biser E, Kann Glaube heilen? 37; vgl. weiters Ilkilic I, Der muslimische Patient; Egner H, Heilung und Heil; Körtner UHJ, Lebensanfang; Sailer M, Medizin in christlicher Verantwortung.

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Was allerdings den monotheistischen Religionen traditionellerweise lange anhaftete und auch zum Vorwurf gemacht wurde, war die mitunter rigide moralisierende Verbindung von Leiden und Sünde, sowie eine Pädagogik des Leides, die das Gottesbild verzerrte und die moralische Last des Leidenden ähnlich vergrößerte wie eine unreflektiert schwärmerische oder sektiererische Spiritualität. In diesen Ansätzen wurde das Leiden sowohl instrumentalisiert als auch in seiner Wichtigkeit letztlich bagatellisiert.39 Diese Haltung mit teilweise durchaus fatalen Folgen wurde – ohne Preisgabe der zentralen Glaubenswahrheiten – zugunsten der Förderung einer spezifisch spirituellen Begleitung verlassen. Diese mag dabei gewisse Ähnlichkeiten mit einer psychotherapeutischen Hilfe aufweisen: Konzipiert als Hilfe zur Selbsthilfe, in der die eigenen Gefühle und Einschätzungen ausgesprochen werden dürfen, ist sie weder generell darauf aus, das Unglück zu beseitigen, was ihre Fähigkeiten ebenso übersteigen, wie einer „Reparaturmentalität“ Vorschub leisten würde, noch zum Leidenden bloß deshalb von Gott zu sprechen, „weil er könnte, was der beste Operateur nicht schafft“, 40 sondern, weil er die Glaubensgewissheit gibt, dem Menschen in Licht und Dunkel beizustehen. Es geht also keineswegs um eine – mitunter auch in amerikanischen Studien verdeckt angepriesene – „Erfolgsgarantie“, wohl aber um eine Hilfe, die es ermöglicht, im Leiden selbst an Stärke zu gewinnen und Hoffnung zu schöpfen. Dieser Ansatz widerspricht zudem auch einem weiteren an die Kirchen gerichteten Vorwurf, wonach sie nur eine Art Leidensmystik verträten, die dem Leiden gegenüber bloß Ergebung, nicht aber Widerstand entgegensetze. Schon der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer verwies darauf, dass der Glaube keine Aussage darüber treffe, was Leiden an sich sei. Vielmehr sage er nur, was der Gläubige im Leiden erreichen könne, nämlich „Mensch vor Gott zu werden“.41 Spirituelle Begleitung erweist sich letztlich aber auch als unverzichtbar, bedenkt man, was beispielsweise der Begründer der Analytischen Psychologie, Carl Gustav Jung, aufgrund seiner therapeutischen Erfahrungen zu Leiden und Heilsamkeit feststellte. Er schreibt, dass „unter allen meinen Patienten jenseits der Lebensmitte, das heißt jenseits 35“ nicht ein einziger gewesen sei, „dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre“, und dass praktisch auch keiner wirklich geheilt sei, „der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht“ hätte.42 Ebenso meint die Zürcher Psychotherapeutin Ursula Wirz, dass 39 „… wenn persönliche Erfahrungen zu einer allgemeinen Leidenstheorie ausgeweitet werden, wird Gott zu einem Meister der „schwarzen Pädagogik“: Brantschen J, Vom Umgang mit Schmerzen und Leiden, 49. Ein gewisses Maß an Leidenspädagogik lässt sich auch in der Gegenwart nachweisen. So z.B. bei Papst Johannes Paul II, Salvifici doloris, 1984 oder bei seiner Ansprache anlässlich seines Besuches 1983 im Haus der Barmherzigkeit in Wien: Verlautbarungen Nr. 50. Vgl: Purdy W, Theological reflections, 13–17; vgl. Körtner UHJ, Wie lange noch, 45ff; weiters auch: Blatter K, Zwischen Wahn und Wirklichkeit; Albisser R, Psychiatrie und Seelsorge, 158. 40 Mayer-Scheu J, Seelsorge, 603. 41 Bonhoeffer D, Widerstand und Ergebung, 254. 42 Jung, CG, Gesammelte Werke Bd 11, 362. „Leider muss man die Entdeckungen, zum Beispiel eines Sigmund Freud oder Carl. Gustav Jung, noch immer gleichsam als komplemen-

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spirituelle Erfahrungen wesentlich zur Heilung schwerer lebensgeschichtlicher Traumata beitragen,43 wozu Schmerz und Leiden zweifellos zu zählen sind! Eine weitere Hilfe, die organisierte Religionen im Gegensatz zu einer bloß individuell gelebten Spiritualität bieten, besteht in der Bereitstellung von Strukturen und Ritualen. Insbesondere die Letzteren, welche zwar häufig kritisch kommentiert werden, aber den weniger bewussten Teil der Spiritualität zur Resonanz bringen können, dienen mitunter sogar als einziges Hilfsmittel, dass die Sprachlosigkeit und Einsamkeit angesichts eines übermächtig erscheinenden Leidens gemildert oder überwunden werden kann. So können beispielsweise lang tradierte Rituale wie etwa einfache Segnungen an frühe Kindheitserlebnisse anknüpfen und im Sinne eines „erinnerten Wohlbefindens“ ein gewisses Maß an Geborgenheit vermitteln. Zudem erfordern viele rituelle Handlungen, wie zum Beispiel das Sakrament der Krankensalbung in der katholischen Kirche, einen direkten körperlichen Kontakt und können zusätzlich zu ihrem religiösen Gehalt auf diese Weise zur Beruhigung und Entspannung beitragen. Rituale dienen unter anderem auch dazu, in existentiellen Krisen – wie diese in Schmerz und Leid zweifellos bestehen – die Übergänge in verschiedenen Lebensphasen sinnhaft wahrnehmbar zu gestalten, was selbst bei verwirrten, geschwächten und bewusstseinseingeschränkten Menschen gut gelingen kann. Rituale werden überdies zumeist gemeinsam gepflegt und sind daher oft in ein Gemeinschaftserleben eingebettet. Deshalb kann die religiöse Gemeinschaft – neben ihrem fürbittenden Gebet – auf diese Weise auch zur Überwindung der bestehenden sozialen Isolation und damit zur Heilsamkeit beitragen.44 Von ritueller Bedeutung sind weiters die formelhaften Gebete. Ungeachtet mancher problematischer Formulierungen45 und dem Umstand, dass in ihnen keine „eigenen Gedanken“ zum Ausdruck kommen, kann es dem Leidenden mit ihrer Hilfe dennoch gelingen, das Widerfahrene in Worte zu fassen und so die bestehende Sprachlosigkeit aufzubrechen. Auf diese Weise entlastet, kann sich ein individuelles Gespräch entwickeln, das die tatsächliche persönliche Betroffenheit wiedergibt, während die Formeln an Bedeutung verlieren und zurückweichen. Neben der auf einer umfassenden Kommunikation aufbauenden spirituellen Begleitung wird der Meditation als Beitrag zur Leidensbekämpfung besondere Bedeutung beigemessen. Sowohl individuelle Spiritualitätskonzepte als auch Religionsgemeinschaften erkennen dabei Meditation auch als einen Weg an, „um den Glauben des Menschen zu verleiblichen.“46 tärmedizinisches Konzept bezeichnen, weil sie noch nicht in die Schulmedizin integriert sind“: Nager F, Von der Vielfalt, 167. 43 Albisser R, Psychiatrie und Seelsorge, 158. 44 Zur Frage der Rituale siehe auch: Weiher E, Spirituelle Ressourcen erschließen, 145ff; weiters: Rokach A, The subjectivity, 475–481; Spiegel D, Effect of Psychosocial Treatment, 888–891; Matthews D, Glaube macht gesund, 290. 45 So beschäftigte sich beispielsweise Engelke bereits 1980 mit der Problematik, dass kirchliche Texte so formuliert seien, dass sie offenbar einen ergebenen Kranken voraussetzten und keineswegs die Interessen des Kranken (z.B. das Aktuelle Erleben vor der Sorge um religiöse Zukunft) als Maßstab nähmen: Engelke E, Sterbenskranke, 62–81 und 112f; vgl. auch Aach, Brustkrebs, 41. 46 Fuchs B, Therapeutische Meditationen, 104.

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Der Meditation wird aber auch seitens der Medizin durchaus als hilfreich erachtet. So publizierte beispielsweise der Kardiologe Benson47 zunächst über die naturwissenschaftlichen Folgen einer „allgemeinen“ Meditation, die sich besonders in der Senkung von Herzschlag und Energieverbrauch manifestierte. Im Zuge dessen konnte er jedoch zur eigenen Überraschung feststellen, dass sich der therapeutische Wert besonders dann erwies, wenn die Patienten durch ihren Glauben unterstützt wurden, oder – was immerhin 80% der Untersuchten taten – das Gebet als Gegenstand der Meditation wählten, wobei rund ein Viertel der Patienten im Zuge der Meditation spirituelle Erlebnisse erfuhr. Diese von anderen Forschungszentren bestätigten therapeutischen Vorteile bei Meditation führten dazu, dass beispielsweise zusehends mehr amerikanische Kliniken gezielt transzendentale Meditationsprogramme einsetzen. Auch im deutschen Sprachraum nehmen die Angebote zu, generelle Meditationskonzepte in therapeutisches Handeln zu integrieren. Diese sind meistens säkular konzipiert und verlangen keine „religiösen Vorleistungen“ des Patienten, stehen jedoch den an sie individuell herangetragenen spirituellen Ansätzen durchaus aufgeschlossen gegenüber. Aufgrund der spirituellen Rückgebundenheit erfährt die erneut errungene, unter Belastung weiterentwickelte Selbstbestimmung des gläubigen Menschen eine weitere Qualitätszunahme. Denn weit entfernt von blinder Unterwerfung oder stummer Resignation wird die wieder gewonnene „Freiheit von“ einer Leidenssituation (oder zumindest der Versuch, unter Belastung freier zu leben!) zu einer „Freiheit für“ eine konkrete, dem Reifungsprozess entstammende Lebensgestaltung, welche einer geänderten Stellungnahme zum eigenen Welt- und Selbstbild entstammt. Dieser Reifungsprozess ermöglicht somit einen wesentlich umfassenderen und tiefergehenden Bewältigungsprozess im Sinne positiver, spirituell verankerter Coping-Strategien. Aus den spirituellen und religiösen Bedürfnissen, die dem selbstbestimmten Menschen dazu verhelfen, auch in Schmerz- und Leidenszuständen ein Leben in „bedingter Gesundheit“ anzustreben, ergeben sich Forderungen an die Begleiter, von denen bereits viele implizit beschrieben wurden.

Die medizinischen und spirituellen Betreuer Mit zunehmender, wohl auf Descartes zurückzuführender Entflechtung zwischen Medizin und Theologie wurde Spiritualität – ungeachtet der absoluten Notwendigkeit, dass sich die Ärzteschaft zunächst und zuallererst als tatkräftiger Gegner des Schmerzes verstehen muss – seitens der Medizin als irrelevant eingeschätzt.48 Als Folge dessen wurde nahezu jegliche spirituelle Begleitung delegiert. Schwerer wiegt allerdings im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Glaubenshilfe und „bedingter Gesundheit“ der Umstand, dass beispielsweise in 47 Benson H, Heilung, 188; Zu Meditation und Imagination siehe auch: Rehfisch HP, Entspannung, 546ff, vgl. auch Fuchs B, Therapeutische Meditationen, 100ff, Friedman M, Feasibility of Altering. 48 Bösch J, Spirituelles Heilen.

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therapeutischen Gesprächen religiöse Erfahrungen und Glaubenshilfen gewissermaßen „ex cathetra“ ironisiert oder disqualifiziert werden. Ähnlich problematisch erscheint es auch, wenn sowohl die grundsätzliche Sinnfrage, als auch die Frage nach der spirituellen Bedeutung bagatellisiert werden oder zögernde Ansuchen um religiöse Hilfe bewusst oder achtlos übersehen werden! Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, dass die zur Entfaltung für jede Begleitung notwendige Kommunikation, die derzeit im therapeutischen Kontext generell kritisch bewertet werden muss, auch unter dem grundsätzlichen Problem steht, dass die Wiedergabe von Gefühlen und Empfindungen rasch an die Grenzen der Sprache stößt, worauf letztlich weder Ärzteschaft noch – in geringerem Ausmaß – Pflegepersonal in den Ausbildungen hinreichend vorbereitet werden!49 Spirituelle Begleitung, mittlerweile auf internationaler Ebene bereits als „Spiritual Care“ beschrieben, erweist sich unter Zugrundelegung der bisherigen Aspekte als ein einfühlendes „Dabeisein“, eine „Verbindung von Fühlen und Tun“, was weder in Aktionismus, noch im Versuch, Leiden verbal zuzudecken, mündet.50 Sie sollte daher keinesfalls im Sinne einer naturwissenschaftlichen Methodik erfolgen, die lediglich versucht, einen psychologischen Trost transzendental „aufzuladen“. Auch sollten Glaube, Gebet und spirituell unterstützende Zuwendung nicht als „Trostpreis“ für mangelnde Therapie oder fehlende therapeutische Erfolge verstanden werden. Spirituelle Hilfen oder eine Religionsausübung sollte auch nicht in Form einer Bedürfnisbefriedigung als bloßes Surrogat für defizitäre soziale Beziehungen oder als Ausfluss eines in seinen Begriffsdeutungen schillernden Mitleidens banalisiert werden. Dies käme letztlich auch einer Instrumentalisierung des Glaubens gleich, da existentieller Sinn und grundsätzliche Lebensdeutungen im Glaubenskontext über kurzfristige Interessen hinausreichen. Eine auf richtige Weise konzipierte Begleitung trägt damit auch zu einem spirituellen Reifungsprozess bei, der einerseits das rechte Maß zwischen Widerstand und Ergebung51 findet, andererseits den Versuch ermöglicht, einen trotz allem zuversichtlichen persönlichen Lebensstandpunkt zu erringen, der Halt und Hoffnung geben kann. Dieser neue Lebensstandpunkt gipfelt letztlich im Vertrauen, dass Gott die „Gebete im Sinn der tatsächlichen und umfassenden Bedürfnisse erhören wird“.52 Spirituelle Begleiter sollten sich zudem – unabhängig von ihrer jeweiligen Profession – der grundsätzlichen Symbolkraft ihrer Rolle für den Patienten be49 Vgl. dazu ausführlich Peintinger, Therapeutische Partnerschaft, Kap. 3; Engelhardt D v, Schmerz und Leiden im Dialog von Natur und Kultur, 31; So hat beispielsweise die American Psychiatric Associtiation darauf reagiert und „Richtlinien zur Förderung der Einbeziehung der Spiritualität in die Ausbildung der Psychotherapeuten“ erlassen: Larson DB, The Forgotten Factor; auch: Pettus MC, Implementing, 745. 50 Albisser R, Psychiatrie und Seelsorge, 158; „Frommes Reden, welches das Leiden wegreden und zudecken soll, ist ein Kunstfehler“: Weiher E, Spirituelle Ressourcen erschließen, 142. 51 „Widerstand und Ergebung sind meines Erachtens die christliche und menschliche Haltung dem Leiden gegenüber … Weisheit und Gnade ist es, zu wissen, wann es Zeit ist, zu widerstehen – und wann es Zeit ist, sich zu ergeben.“: Brantschen J, Vom Umgang mit Schmerzen und Leiden, 51. 52 Lewis CS, Letters to Malcolm: Chiefly on Prayer, New York, 1963. zit in: Matthews D, Glaube macht gesund, 257 (Hervorhebung: MP).

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wusst sein, und sich deshalb der Versuchung verweigern, daraus Macht- oder Bedeutungsvorteile zu schöpfen, oder eine Machbarkeit der Sinngebung zu suggerieren. Denn die Ressource „Spiritualität“ befindet sich bereits im Patienten selbst!53 Der Dienst des Helfers besteht im hermeneutischen Prozess, die möglichen Sinnzusammenhänge ans Licht zu bringen und auf diese Weise „begreifbar“ zu machen, wozu insbesondere die Erschließung von symbolischen Aussagen zählt! Erforderlich dafür ist eine ausreichende Sensibilität für die zugleich übermittelten Botschaften auf den je unterschiedlichen Kommunikationsebenen.54 Dabei sollte zwei wesentlichen Versuchungen widerstanden werden. Die eine besteht darin, Fragen vorschnell und plakativ zu beantworten, was zu einer Entfremdung und Apathie des Leidenden führen kann. Die andere Versuchung besteht in der Anwendung einer „Argumentations-Doppelmühle“, in der bei fehlender Linderung die schmerzliche Erfahrung doch letztlich durch einen zukünftigen transzendentalen Vorteil beschwichtigt wird. Diese Hilfe kann und sollte letztlich von allen Professionen, die sich um den Leidenden bemühen, insoweit geleistet werden, als diese sich ihrer eigenen Wertorientierung, gegebenenfalls ihres Glaubens oder ihrer spirituellen Ressourcen, sowie ihrer aktuellen Kräfte für diesen anspruchsvollen Dienst bewusst sind. Angesichts dieses wertvollen Dienstes am unter Schmerzen als Grenzerfahrung leidenden Menschen, seiner Wichtigkeit und seiner Hilfsmächtigkeit insbesondere für die Selbstbestimmung des Leidenden, scheint der Appell gerechtfertigt, die eingespielte Arbeitsteilung zwischen Medizin – als zuständig für das Machbare – und der spirituellen Hilfe – „wenn nichts mehr zu machen ist“ – zugunsten einer hochqualifizierten Teamarbeit bei gleichzeitiger Respektierung der gegenseitigen Möglichkeiten und Grenzen zu verlassen!55 Dies nicht zuletzt auch unter dem Aspekt, dass dieser Dienst, ganz im Sinne des Malherbe’schen Autonomie-Axioms verstanden,56 nicht nur dem Leidenden zugute kommt, sondern, dass auch alle Beteiligten aufgrund der geradezu zwangsläufigen Reflexionen einen Schritt auf dem Weg der weiteren individuellen Reifung durchleben.

Ausblick Kann also der/ein Glaube bei der Schmerz- und Leidensbewältigung helfen? Diese Frage lässt sich zweifellos bejahen, wenn man weder von einem bloß the53

Vgl. Weiher E, Spirituelle Ressourcen erschließen, 145. Vgl. insb. die Arbeiten von Schulz von Thun, näher behandelt in: Peintinger, Therapeutische Partnerschaft, 188f. 55 Vgl. Körtner UHJ, Wie lange noch, 55; „Sowohl die Gleichschaltung wie das gegeneinander Ausspielen von Medizin und Gebet, Glaube und Therapie, ist unsinnig, wollen sich beide doch an unterschiedliche Ebenen des Menschen richten“: Dondelinger P, Kann der Glaube heilen?, 131; „Menschliche Grenzerfahrung ist erst in ihrer Ganzheit verstehbar, wenn auch die spirituelle Dimension wahrgenommen wird“: Albisser R, Psychiatrie und Seelsorge, 160. 56 „Handle immer so, dass du die Autonomie des anderen förderst, dann wird sich zugleich deine eigene Autonomie entwickeln.”: Malherbe, Medizinische Ethik, 53. 54

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rapeutischen Verständnis des Glaubens ausgeht, noch ihn als direkte Alternative zu medizinischem Handeln versteht.57 Vielmehr zielt dieses uneingeschränkte „Ja“ auf die Hilfsmächtigkeit ab, die Autonomie des Menschen in Krisensituationen zu stützen, zu tatsächlich tragfähigen Coping-Mechanismen beizutragen und durch die erfolgreiche Bewältigung einen Beitrag zur Hoffnung und der Wiederherstellung eines selbstbestimmten Lebens im Sinne der „bedingten Gesundheit“ zu leisten. Der Glaube wirkt heilsam, wenn er als kompromissloser Verteidiger der Würde des Menschen dazu beiträgt, dass diese, ungeachtet des Schmerzes, der Hilflosigkeit oder der Armseligkeit des Leidenden, seitens des therapeutischen Teams wahrgenommen werden kann, und sich auch der Leidende aufgrund dessen in der Selbstreflexion seiner unverlierbaren Würde bewusst bleibt. Als eine der wenigen Möglichkeiten, selbst dem Sinnlosen mitunter noch einen Sinn abringen zu können wird sich – mit sensibler Unterstützung – der Versuch einer Leidensbewältigung mithilfe von Glaube und Spiritualität selbst dann als hilfreich erweisen können, wenn therapeutische Möglichkeiten an unüberwindlich erscheinende Grenzen geraten. „Das Leid geht vorüber, das Gelittenhaben nicht.“58 Der Umgang mit dem Schmerz und die Versuche, ihn auf je unterschiedliche Weise zu bewältigen oder zu überwinden, verändern in diesem Sinne auch die Kultur des Leidens.59 Alle Partner im Kampf gegen Schmerz und Leiden – Gesundheitsberufe wie spirituelle Helfer und Religionen – können dazu nur beitragen, wenn sie ohne Rivalität zu einem gemeinsamen Handeln finden. Als Leitorientierung für diese explizit gemeinsame Hilfe mag dabei das Wort Sören Kierkegaards dienen. Er schreibt: „…jede wahre Kunst der Hilfe muss mit einer Erniedrigung anfangen. Der Helfer muss zuerst … begreifen, dass zu helfen nicht zu herrschen ist, sondern zu dienen; – dass Helfen nicht eine Macht, sondern eine Geduldausübung ist.“60

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Körtner UHJ, Wie lange noch, wie lange?, 72f; Dondelinger P, Kann der Glaube heilen?

128. 58 59 60

Leon Bloy, zitiert in Kern W, Theodizee, 576. Vgl. Engelhardt D v, Schmerz und Leiden im Dialog von Natur und Kultur, 29. Kierkegaard S, 1859: Eine einfache Mitteilung, zit in: Huseboe S, Palliativmedizin, 34.

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Was kann ihren Schmerz lindern? „Total soothing“ bei demenzkranken Hochbetagten M. K OJE R, M. S CHMID L u n d U. G UT E NT HA L E R

Die Frage nach der Leidensfähigkeit demenziell erkrankter Menschen wird nicht oft gestellt. Im Bewusstsein der Allgemeinheit hält sich auch ohne begründete Hinweise die Meinung, dass Dementen ein großer Teil bewussten Leidens erspart bleibt, weil sie „ohnedies nichts mehr mitbekommen“. Selbst das Vorhandensein körperlicher Schmerzen wird nicht selten stillschweigend in Frage gestellt. Diese Haltung zeigt deutlich, wie groß die innere Distanz ist, die „normale Menschen“ vorsichtshalber zwischen sich und die von dieser peinlichen, „entwürdigenden“ Krankheit Betroffenen legen. Jedem Tier wird mit Selbstverständlichkeit Leidensfähigkeit zugestanden. Tierschutzvereine machen sich zu Recht für die Verbesserung der Lebensqualität von Hühnern durch artgerechte Haltung (Deutscher Tierschutzbund EV 2004) oder für den „menschenwürdigeren“ Transport von Schweinen, Rindern und anderen Schlachttieren stark (www.Tierschutz.org). Streunende Katzen und ausgesetzte Hunde (Servicezeit, Sendung vom 8. 1. 2006) wecken in der Regel mehr Mitgefühl als alte demenzkranke Menschen. Wie „artgerecht“ (d.h. menschenwürdig) ist die Betreuung, die alten Demenzkranken zuteil wird? Die Palette häufiger Misshandlungen ist groß: – – – – – – – –

Nichtbeachtung von Schmerzzeichen Medikamentöse Unterdrückung unerwünschten Verhaltens Verständnislosigkeit Respektlosigkeit Missachtung von Bedürfnissen Ungeduld Demütigung Zwang und Machtausübung …

Demenz ist durch den allmählichen Verlust der Hirnleistungsfähigkeit charakterisiert. Gedächtnis, Wahrnehmungsfähigkeit und Denken sind davon betroffen, das Gefühlsleben hingegen ist nicht in Mitleidenschaft gezogen. Demente

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M. Kojer et al.

Menschen verfügen sogar über besonders feinsinnige Antennen: Sie lassen sich nicht täuschen sondern spüren, ob ihr Gegenüber Ihnen mit echter Herzlichkeit begegnet oder nur eine freundliche Maske aufgesetzt hat. Ihre besondere Feinfühligkeit befähigt sie zu einem „emotionalen Verstehen“. Auf diese Weise „erkennen“ sie die Einstellung anderer Personen und „wissen“, was diese für sie empfinden. Zugleich können sich die Kranken ohne die Hilfe anderer in ihrem Leben nicht mehr zurechtfinden. Dieses Zusammenspiel von Empfindsamkeit und Hilflosigkeit erklärt die hohe seelische Verletzlichkeit Demenzkranker. Die Gabe der gesteigerten Sensibilität wird für sie somit leicht zum Danaergeschenk.

Woran leiden demente Menschen? 1. Chronische Schmerzen. Die Hauptursachen sind Abnützungserkrankungen von Wirbelsäule und Gelenken, Osteoporose, Knochenbrüche und ihre Folgen, Insultfolgen und Immobilität. Da den Kranken die Worte fehlen, werden ihre Schmerzäußerungen oft übersehen oder falsch gedeutet. Eine zielführende Behandlung bleibt dann aus. Fehlbehandlungen sind häufig (der Schmerz bleibt zwar unerkannt aber die Schmerzensschreie werden mit „beruhigenden“ Medikamenten „behandelt“). D.h. die Schmerzfolgen (z.B. Unruhe, Schreien, Abwehrbewegungen) werden unkritisch für eigenständige Störungen („Verhaltensstörungen“) gehalten und pharmakologisch unterdrückt. 2. Seelische Schmerzen. In den ersten Stadien der Demenz quält die Betroffenen die Angst, die Kontrolle über ihr eigenes Leben zu verlieren und angesichts der zunehmend unverständlicher werdenden Welt alleine und verlassen zu sein. Sie leiden unter dem fortschreitenden Verlust ihrer Hirnleistungsfähigkeit, sie fürchten andere könnten ihr Versagen merken und sind tief beschämt und verletzt, wenn sie darauf hingewiesen werden. In späteren Stadien nimmt die Angst vor der fremd und unbegreiflich gewordenen Welt zu. Gleichzeitig wächst der Schmerz erleben zu müssen, dass die im Laufe des Lebens erlernten Bewältigungsstrategien, das geistige Werkzeug um mit Krisen fertig zu werden, jetzt nicht mehr greifbar sind. Somit ist der demente Patient ohnmächtig seinem Schicksal ausgeliefert. Immer wieder bricht auch der Schmerz über die vielen Verluste durch, die ein langes Leben mit sich bringt. Der Schmerz über die verlorene Sicherheit und Geborgenheit in den schützenden Armen der Mutter versiegt nie. 3. Soziale Schmerzen. Auslöser sind vor allem Mangel an, bzw. Misslingen der Kommunikation. Das Leid, andere Menschen nicht zu verstehen und von ihnen nicht mehr verstanden zu werden, begleitet Demenzkranke nicht selten bis zu ihrem Tod. Beidseitige Sprachlosigkeit führt zu ständigen Missverständnissen und Verletzungen, verhindert das Entstehen von Gefühlen der Wärme und Nähe, verhindert das Wachsen von Vertrautheit und führt die Kranken immer mehr in die Isolation.

Was kann ihren Schmerz lindern?

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4. Spirituelle Schmerzen. In einer verständnislosen Umwelt laufen demente Menschen Gefahr im Meer tief empfundener Hoffnungslosigkeit und Sinnlosigkeit unterzugehen. Wird ihnen keine Beschäftigung angeboten, die sie selbst als sinnstiftend erleben, verzweifeln sie an dem Gefühl nutzlos zu sein und von niemandem gebraucht zu werden. Sie spüren, wenn andere sie für wertlos halten, dadurch sinkt ihr Selbstwertgefühl noch mehr. Nirgends finden sie Halt. Um diesen Schmerz zu ertragen ziehen sie sich immer tiefer in ihr eigenes Inneres zurück, so weit, dass wir sie nicht mehr erreichen und nicht mehr verletzen können. Diese vielfältigen Schmerzen lassen sich nicht voneinander trennen. Gemeinsam bilden sie einen nie versiegenden, das ganze Bewusstsein erfüllenden Leidensquell, den „Lebensschmerz“ dementer Menschen.

„Total pain“ im Kontext von Demenz Cicely Saunders hat den Begriff „total pain“ für den alle Dimensionen des Lebens umfassenden Schmerz Krebskranker in ihrem letzten Lebensabschnitt geprägt (Saunders et al. 1993). Auf der Suche nach einem Ausdruck, der das vielschichtige Leid Demenzkranker charakterisiert, es für uns fassbarer macht, finden auch wir keinen treffenderen Begriff als diesen: „Total pain“. Sich dem Schmerz aus der Perspektive des Dementen nähern zu wollen ist eine unlösbare Aufgabe. In der Folge möchten wir trotzdem versuchen, diesen Schmerz so weit möglich, nicht von außen sondern vom anderen her zu betrachten (vgl. dazu Dörner 2001). Die oben genannten Schmerzqualitäten körperlich, seelisch, sozial und spirituell leiten sich aus der reflektierenden Schau des Außenstehenden ab, führen zu besserem Verständnis und ermöglichen damit sinnvollere Hilfestellungen. „Total pain“, d.h. das gelebte Leid, lässt sich mit Hilfe dieser Kategorisierung jedoch schon beim zerebral Intakten nicht voll erfassen, viel weniger noch bei Menschen, die in einer Gegenwart ohne Kausalität und Logik leben. Der folgende Abschnitt stellt den tastenden Versuch dar, eine aussagekräftigere Einteilung anzudenken. Dabei soll das Entstehen von Schmerz und seine steppenbrandartige Ausbreitung über eine Welt der Gefühle aus der erahnten Erlebniswelt der Erkrankten abgeleitet werden. Vier große Quellen speisen den Lebensschmerz Demenzkranker: 1. 2. 3. 4.

Der Der Der Der

unerkannte (und unbehandelte) körperliche Schmerz Schmerz nicht verstanden zu werden Schmerz der unbegreiflichen Bedrohung Schmerz entwürdigend behandelt zu werden

Der unerkannte körperliche Schmerz Hochbetagte waren über lange Zeit die Stiefkinder der modernen Schmerztherapie. Dies begann sich erst in den letzten Jahren langsam zu ändern (Gagliese,

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Melzak, 1997; Ferrell 2004). Innerhalb dieser bis heute häufig unterversorgten Patientengruppe nehmen die Demenzkranken eine Sonderstellung ein: Ihre Schmerzen werden noch seltener ausreichend behandelt als die anderer alter Menschen (Kaasalainen et al. 1998, Bernabei et al. 1998). Das manifestiert sich u.a. auch in der Tatsache,, dass Pflegeheimpatienten ohne Schmerztherapie einen signifikant niedrigeren MMSE-Score (Mini Mental State Examination) haben als Patienten mit Schmerztherapie (Closs et al. 2004). Vermeidbare Schmerzen ziehen sich wie ein roter Faden der Qual durch das Leben vieler demenziell erkrankter Hochbetagter. Es wäre meist nicht schwer Abhilfe zu schaffen. Heute stehen genügend viele (medikamentöse und nicht medikamentöse) Therapieoptionen zur Verfügung, mit deren Hilfe sich Schmerzen alter Menschen in der Regel sehr gut beherrschen lassen. Das eigentliche Problem besteht darin, dass die Schmerzen Demenzkranker häufig nicht erkannt werden (Schmidl 2006). Ein Patient, der nicht mehr in der Lage ist zu orten wo es ihm wehtut, der seinen Schmerz nicht benennen kann, ist darauf angewiesen, dass andere sich ihm verständnisvoll zuwenden und erfassen, was ihn quält. Werden Hilferufe nicht gehört, nicht beachtet, nicht verstanden, heizen Hilflosigkeit, Angst und Verzweiflung den Circulus vitiosus der Schmerzspirale immer weiter an. Damit nicht genug: Schmerzgepeinigte die „keine Ruhe geben“ werden oft unfreundlich und ungeduldig behandelt, allein in ein Zimmer geschoben, so stark sediert, dass sie nicht mehr schreien können. Welche Eskalation an Leid wird dadurch ausgelöst!

Der Schmerz nicht verstanden zu werden Gelingende Kommunikation ist für alle Menschen die wesentlichste Voraussetzung guter Lebensqualität (Kojer 2005; Kojer et al. 2005). An fortgeschrittener Demenz Erkrankten fehlen nicht nur die Worte, es versagt auch die landläufige nonverbale Kommunikation. Ein sprachunkundiger Ausländer vermag seine Bedürfnisse pantomimisch darzustellen bzw. durch Hinzeigen deutlich zu machen. Diese Vorgangsweise setzt eine Denkleistung voraus, nämlich die Übersetzung von Worten in Gesten und Handlungen. Demente können diese schwierige Aufgabe nicht mehr erbringen. Daher werden z.B. immer wieder – dringende Bedürfnisse („Meine Blase ist voll, ich muss auf die Toilette!“) nicht erkannt; – Willensäußerungen („Ich will heute im Bett bleiben“) nicht beachtet; – schmerzbedingte Abwehrbewegungen („Halt, Du tust mir weh!“) für Aggressionen gehalten; – Angstschreie („Ich habe Angst vor der Dusche!“) nicht erkannt und mit Machtausübung beantwortet. Von niemandem verstanden zu werden führt zu den Gefühlen tiefster Verlassenheit, zu Hilflosigkeit und Wut. Das daraus erwachsende, meist unerwünschte Verhalten löst neuerlich Missverständnisse und Schmerzen aus.

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Der Schmerz der unbegreiflichen Bedrohung Mit dem Verlust des Denkvermögens geht die Fähigkeit kausale Zusammenhänge zu erkennen verloren. Die Aufeinanderfolge von Ereignissen und Abläufen bleibt für die Kranken unerklärbar. Aus diesem Grund sind Demenzkranke in besonders hohem Ausmaß stressgefährdet. Schmerzen, interkurrente Erkrankungen, ein Umgebungswechsel, aber auch kleine Dinge wie eine zufallende Tür oder laute Musik können unvorstellbare Angst hervorrufen und einen Ausnahmezustand auslösen. Eines Morgens treffe ich die über 90-jährige Frau K in panikartiger Aufregung an. Sie zittert am ganzen Körper, ist leichenblass und wirkt verzweifelt. Als sie mich sieht deutet sie mit schreckgeweiteten Augen auf die andere Seite, sagt sehr dringlich: „Da, da, da…“ Ich schaue in die angegebene Richtung, sehe dort nichts. „Furchtbar…“, „schrecklich“ sagt Frau K mit besonderer Betonung, „ein Waaaahnsinn!“. Um ihr zu zeigen, dass ich verstehe, dass sie Angst hat, wiederhole ich: „ein Waaaahnsinn!“. Frau K schaut mich erstmals voll an, nickt, greift nach meinen Händen. Dann schüttelt sie verzweifelt den Kopf „ich hab Angst!“. Ich umfasse ihre Schultern und wiederhole „Angst!“. Frau K nickt und zieht mich zu sich „bleib bei mir!“. Wir halten einander fest, Frau K scheint sich für einige Augenblicke zu beruhigen, dann flackert die Panik erneut auf. Sie schreit gequält auf: „Ich kann nicht!“, „furchtbar…“. Durch Anbieten von Nähe und Körperkontakt lässt sie sich wieder kurzfristig beruhigen. Dann beginnt sie erneut zu zittern und schreit auf… Die Angst bleibt. Nach einiger Zeit kommt eine Schwester um Frau K zur Toilette zu führen. Ich erfahre, dass die alte Frau vor einer halben Stunde ein Stuhlzäpfchen bekommen hat. Als sie nach einigen Minuten von der Toilette kommt ist ein wenig Farbe in ihr Gesicht zurückgekehrt. Sie ist ruhiger, wirkt aber noch immer sehr ängstlich und schreckt bei jedem Geräusch zusammen. Ich sitze ihr gegenüber, unsere Knie berühren sich; ich halte sie sanft an den Schultern und summe ein Kinderlied. Frau K entspannt sich endlich und schläft erschöpft ein. Sie schläft den ganzen Vormittag. Was bedeutet ein solches Erlebnis für einen Menschen, der seine Eindrücke nicht mehr in einen Sinnzusammenhang einordnen, Schmerz und Unbehagen nicht mehr orten kann? Die Applikation eines Suppositoriums ist für niemanden angenehm. Der für Frau K unerwartet und rasch (die Schwester war in Eile) erfolgende Eingriff in ihre Intimsphäre ist für sie nicht nur beschämend, er erschreckt sie tief, macht ihr große Angst. In solchen Situationen brauchen Demenzkranke die Nähe anderer Menschen ganz besonders. Aber Frau K bleibt im Anschluss an die auslösende Stresssituation sich selbst überlassen. In den nächsten Minuten überfallen sie dann – für sie wieder unbegreiflich – die zu erwartenden Missempfindungen aus dem Bauchraum, aus denen allmählich mehr oder weniger schmerzhafte Krämpfe werden. Auch geistig Gesunde wären alarmiert stellten sich bei ihnen plötzlich unerklärliche Schmerzen ein. Frau K geriet dadurch in Panik. Mein Eingreifen erfolgte zu spät. Demütigung, Erschrecken,

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Angst, körperliches Unbehagen und Schmerz hatten Frau K bereits in Panik versetzt. Erst nach Abklingen der körperlichen Beschwerden konnte es gelingen sie zu beruhigen. Die Panik hatte ihr allerdings so viel Kraft geraubt, dass sie vor Erschöpfung einschlief.

Der Schmerz missachtet und nicht ernst genommen zu werden Demenzkranke können sich nicht gegen Respektlosigkeit, Taktlosigkeit und Demütigung wehren. Das Repertoire dieser häufig (wenn auch selten absichtlich) verursachten Verletzungen ist groß: – Ich sage in Anwesenheit des dementen Menschen „Das kann er (sie) nicht mehr“, „Der (die) bekommt nichts mehr mit“, „Den (die) halte ich nicht mehr aus!“ – Ich lasse ihn (sie) während des Waschens nackt liegen. – Ich deponiere ihn (sie) ungeduldig in einem Rollstuhl, Lehnstuhl, in seinem Bett und sage im Befehlston: „So, da bleiben Sie jetzt sitzen (liegen)!“ – Ich spreche in herablassendem, belehrenden Tonfall mit ihm (ihr) als wäre er (sie) ein dummes Kleinkind. – Ich setze mich nicht zu ihm (ihr), wenn ich ihm (ihr) Nahrung verabreiche sondern bleibe daneben stehen … Ihre Krankheit verwandelt diese Patienten nicht von Menschen in Sachen (Dörner 1994)! Es geht nicht an, sie mit der gleichen inneren Einstellung zu waschen, mit der man ihre Nachtkästchen säubert! Sie sind keine Leibeigenen, über die nach Gutdünken verfügt werden kann! Je schwächer Geist und Köper werden, desto schmerzlicher wird die eigene Ohnmacht, werden Scham, Kränkung und Demütigung empfunden; die Betroffenen haben nichts mehr, was sie dagegen einsetzen könnten.

„Total soothing“: Die Kunst den Lebensschmerz Demenzkranker zu lindern Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus. Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch. (Martin Buber)

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Das Erfassen und Lindern von „total pain“ bei alten, an fortgeschrittener Demenz leidenden Menschen erfordert ein hohes Ausmaß an fachlicher Kompetenz und die Zusammenarbeit von mehreren Berufsgruppen. Das bedeutet nicht, dass die erforderlichen Aufgaben sich in exakt voneinander abgrenzbare Teilbereiche gliedern lassen, für die jeweils eine Berufsgruppe zuständig ist. Es reicht nicht aus, wenn die Schwester ordentlich pflegt, der Arzt angemessene Medikamente verordnet, der Seelsorger die Kommunion spendet und die Therapeutin Gedächtnistraining macht. Die Arbeit an immer neuen Brücken vom Ich zum veränderten, sich stetig verändernden Du lässt sich nicht in Planquadrate zerlegen oder am Computer ausarbeiten. Sie erfordert nicht nur fachliche Kompetenz: Sie verlangt die kritische Auseinandersetzungen mit dem eigenen Ich, das Erfassen von neuen Realitäten und die kreative Auseinandersetzung mit ihnen, das Herstellen und Gestalten von Beziehungen … Damit überschreitet diese Arbeit die Grenze zwischen beruflichem Können und Kunst. Ob Seelsorger, Arzt, Schwester oder ehrenamtlicher Mitarbeiter: Jeder Helfer muss, um gute Arbeit zu leisten, mit dem ganzen Menschen in Beziehung treten und dies nicht nur in seinem beruflichen Zuständigkeitsbereich! Jeder muss in seiner Weise für Leib und Seele sorgen. Er muss den Kontakt zu dem Demenzkranken herstellen, ihm respektvoll begegnen, sich in ihn einzufühlen, ihn berühren. Allen gemeinsam kann es dann gelingen die vielen kleinen Beobachtungen und Erkenntnisse wie die Steinchen eines nur bruchstückhaft erhaltenen Mosaiks behutsam zu einem erahnten Bild zusammenzufügen. „Total soothing“ besteht zum einen aus einem großen „technischen“, lehrund lernbaren Anteil, der „Facharbeit“ der einzelnen Berufsgruppen im engeren Sinn und zum anderen aus einem „künstlerischen“ Teil, der Intuition, Kreativität und Liebe erfordert. Beide Bereiche sind unverzichtbar. Daraus wird ersichtlich, dass sich nicht jeder Mensch dafür eignet qualitätvolle Arbeit mit und für demenzkranke Menschen zu leisten. Unsere Auseinandersetzung mit „total soothing“ konzentriert sich vor allem auf den nicht lehr- und lernbaren Anteil. Zur Diskussion stehen: 1. 2. 3. 4.

Die Die Die Die

Kunst Kunst Kunst Kunst

der Mit-Menschlichkeit der Kommunikation sich auf den anderen einzulassen der einfühlsamen Beobachtung

Diese Künste bedingen, ergänzen und überlappen sich gegenseitig. Gemeinsam schaffen sie die unabdingbaren Voraussetzungen für den fruchtbaren und zielführenden Einsatz fachlicher Kompetenz.

Die Kunst der Mit-Menschlichkeit Das Erfassen der Schmerzen dementer Menschen setzt die innere Zustimmung zur Gleichwertigkeit und „Gleichwürdigkeit“ aller Menschen voraus. Diese Haltung verzichtet darauf Maßstäbe an den alten kranken Menschen anzulegen oder

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Defizite zu bewerten, sie nimmt ihn ohne wenn und aber so an wie er ist. Andreas Heller spricht in diesem Zusammenhang von „radikaler Patientenorientierung“ und meint damit die „Anerkennung des anderen um seiner selbst willen“ (Heller 2000). Erst diese Einstellung befähigt uns dazu die Not des anderen zu sehen, auch wenn uns selbst gerade etwas anderes vordringlich erscheint. Die mittelgradig demente, halbseitig gelähmte Frau M lag nackt auf ihrer linken Seite als ich ins Zimmer kam. Der Pfleger (gut ausgebildet und ehrlich bemüht) wollte gerade ihr Gesäß eincremen als das Telefon läutete und die Pflegdienstleitung ihn in ein wichtiges dienstliches Gespräch verwickelte. Frau M blickte stumm und gequält vor sich hin. Ich trat an ihr Bett und begrüßte sie. Gleichzeitig deckte ich sie zu. Sie schaute mich dankbar an. Wir verständigten uns mit Gesten und wenigen Worten darüber, dass sie unbequem lag. Behutsam drehte ich sie auf den Rücken, sie half so gut es ging mit. Frau M schenkte mir ein erlöstes Lächeln, „danke!“. Wer helfen will „muss begreifen, dass zu helfen nicht zu herrschen ist, sondern zu dienen“ (Kierkegaard 1859). Das Begreifen des anderen als ein verwandtes Du und die Bereitschaft ihm zu dienen sind in unserer Gesellschaft fast in Vergessenheit geraten. Der Leitsatz „schau auf dich selbst!“ scheint „liebe Deinen Nächsten“ abgelöst zu haben. Schlechte Aussichten für all jene, die nicht oder nicht mehr auf sich selbst schauen können. Glücklicherweise ist die Kunst der Mit-Menschlichkeit noch nicht ganz verloren gegangen. Wir können sie in der Tiefe unserer Seele wieder finden, wenn wir das Wagnis eingehen, dem anderen in die Augen zu schauen und uns von seiner Hilflosigkeit anrühren zu lassen.

Die Kunst der Kommunikation Zuwendung, Hilfsbereitschaft und guter Wille alleine reichen oft nicht aus um mit einem aufgeregten Demenzkranken guten Kontakt zu finden. Die Kommunikation glückt nur dann, wenn es dem Betreuer gelingt eine gemeinsame Verständigungsebene herzustellen und den anderen dort abzuholen, wo er zuhause ist. Wer mit Demenzkranken kommunizieren will, muss ihre Sprache erlernen. Die Validation nach Naomi Feil (Feil 2002; Feil et al. 2005; Kojer et al. 2003), eine aus der Praxis für den Umgang mit desorientierten sehr alten Menschen entwickelte Kommunikationsmethode, ist dafür hervorragend geeignet. Mit Hilfe dieser Methode gelingt es leichter Kontakt aufzunehmen, Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle besser zu verstehen, den Boden für eine tragfähige Beziehung zu schaffen und den völligen Rückzug demenziell Erkrankter hintanzuhalten. Die Betreuer bleiben nicht unbelohnt: Sie erleben jetzt die Arbeit mit und für demente Menschen als sinnvoll und befriedigend. Der schwer dementen Frau S wurden nach dem Kopfwaschen die Haare geföhnt. Damit war sie gar nicht einverstanden und schrie. Das Föhnen ist längst vorbei aber sie schreit noch immer laut und ausdauernd. Die Schwester ist am

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Rande ihrer Nerven und ruft eine Kollegin zur Hilfe. Die andere beugt sich ganz nahe zu der alten Frau, berührt sie mit beiden Händen an den Schultern und spricht sie ruhig mit warmer, tiefer Stimme an. Frau S schreit weniger laut und scheint weniger aufgeregt. Die Schwester bleibt dicht über sie gebeugt. Eine ihrer Hände umfasst weiter die Schulter von Frau S, die andere wandert behutsam zum Hinterkopf und beginnt dort mit zarten kreisenden Bewegungen. Es fallen nur wenige Worte. Die Schwester sagt „das ist gut … ja … gut“. Frau S hört innerhalb kurzer Zeit auf zu schreien, sie öffnet die Augen und schaut die Schwester an. Auch als Zuschauerin spüre ich die enge Verbindung, die in diesem Augenblick zwischen den beiden Menschen besteht. Frau S macht die Augen wieder zu. Sie lächelt und wirkt ganz entspannt. Validierende Betreuer versuchen den Patienten auf der Gefühlsebene zu begegnen und sie einfühlsam in ihre Welt zu begleiten. Auf diese Weise gelingt es oft erstaunliche Veränderungen zu erzielen: Stationsflüchtige Demenzkranke bestehen nicht mehr darauf nach Hause zu gehen (Breitenwald-Khalil et al. 2003), aggressives Verhalten kann verschwinden (Falkner 2003), teilnahmslos Dahinvegetierende kehren ins Leben zurück (Gutenthaler 2003). Schreitet die Demenz immer weiter fort, verliert die Sprache stetig an Bedeutung. In späten Stadien der Erkrankung wird die Beziehung vor allem über Berührungen gespeist. Neben der Validation wird jetzt die Basale Stimulation immer bedeutsamer. Diese Methode wendet sich an Menschen jeden Alters, die in wesentlichen Funktionen beeinträchtigt, und/oder bewusstseinsgestört sind. (Bienstein, Fröhlich 2004; Nydahl 1999). Dabei erfolgt die Kontaktaufnahme in erster Linie über die „beseelten“ Hände der Pflegenden. Die Ziele dieser Einflussnahme sind u.a. den Kranken dabei zu helfen sich selbst und ihre Umwelt besser wahrzunehmen, ihre Angst zu lindern, sie Beziehung erleben, Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit verspüren zu lassen (Buchholz et al. 2003; Gutenthaler 2003).

Die Kunst sich auf den anderen einzulassen Sich einlassen heißt mit einem anderen mitfühlen, sich in ihn einfühlen, sich von fremdem Schmerz berühren zu lassen. Erst das ermöglicht uns zu erkennen, was dem anderen wichtig ist und öffnet uns Wege um ihm zu helfen. Der andere ist nicht mehr nur „ein Strafgefangener“ oder „ein Bettler“ oder „ein Demenzkranker“. Er hat aufgehört „irgendeiner“ zu sein; die Fähigkeit mit ihm mitzufühlen hat ihn für uns zu einer Person gemacht, an der wir Anteil nehmen. Frau L, eine mäßig demente Parkinsonpatientin ist voll pflegeabhängig. Sie kann sich fast nicht bewegen. Stets wirkt sie deprimiert und mit allem unzufrieden. Selten sagt sie, scheinbar zusammenhanglos, ein Wort. Es ist schwer mit ihr in Kontakt zu treten. Einer Schwester gelingt es dennoch eine gute Beziehung zu Frau L aufzubauen. Eines Tages sagt Frau L während sie in den Rollstuhl gehoben wird leise: „Gehen“. Die Schwester beugt sich ganz nahe zu

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ihr und wiederholt: „Gehen?“ Die alte Frau sagt mit den Augen ja. „Sie möchten einmal wieder gehen können?“ Ein fast unmerkliches Nicken, die Augen sind voller Sehnsucht. Ein unerfüllbarer Wünsch; Frau L wird nie wieder richtig gehen können. Auf Bitten der Schwester beschließt das Team trotz Zeitmangels mit Frau L zu üben, um ihr diesen Wunsch so weit es geht zu erfüllen. Nach einer Woche „geht“ Frau L von 2 Pflegepersonen mehr getragen als gestützt 1–2 Schritte. Erstmals seit ihrer Aufnahme schaut sie zufrieden aus. Oft wird, unter Einbeziehung objektiver Kriterien und vernünftiger Überlegungen sehr rasch entschieden, dass etwas keinen Sinn hat, den Aufwand nicht lohnt. Jedem solchen Entschluss müsste das empathische Bemühen vorausgehen, sich in die Schuhe des anderen zu stellen: Was bedeutet es, wenn man täglich in einen Rollstuhl gepackt wird wie ein Kartoffelsack? Wie weh tut es, gar nichts mehr selbst machen zu können? Welches Erlebnis ist es nach langer Zeit, wenn auch mit Hilfe, wieder auf den eigenen Beinen zu stehen, einen kleinen Schritt gehen zu können. Gebrechliche alte Menschen haben, vor allem wenn sie dement sind, wenig Gelegenheit Erfolg zu erleben. Wieder zu stehen heißt: „Ich habe es geschafft!“ Hinzu kommt ein weiteres positives Erlebnis, nämlich die vermehrte Zeit, die die Betreuer dem Kranken schenken, ihre Zuwendung und Aufmerksamkeit. Mitfühlen heißt erahnen und aus dieser Ahnung heraus zu begreifen. Empathie macht sensibel für die Bedürfnisse des anderen und verhindert, dass wir mit Selbstverständlichkeit davon ausgehen, weil er dement ist habe er keine Wünsche und keinen Willen oder müsse unsere Wünsche teilen. Die demente Lehrerin, Frau A., wurde vor vielen Monaten in einem alten Pflegeheim mit hässlichen Räumen und langen Gängen aufgenommen. Obwohl Frau A sehr gut betreut wurde und sich wohl fühlte, waren ihre Angehörigen entsetzt. Frau A lebte in ihrer Welt. Ihre tägliche Beschäftigung bestand darin, mit einer Mappe unter dem Arm den langen Gang auf und abzugehen. Sie ging von einer Klasse zur anderen, wie früher. Das gab ihrem Leben Sinn. Als die Angehörigen sie, gegen den Rat ihrer Betreuer, in ein „schönes“, neues Pflegeheim ohne hässliche lange Gänge übersiedelten, verlor sie mit einem Schlag alles was ihr lieb war.

Die Kunst der einfühlsamen Beobachtung Demenzkranke sprechen durch ihr Verhalten zu uns. Wer ihre Ausdrucksformen besser verstehen, ihre schweigenden Bitten wahrnehmen will, muss immer wieder bereit sein die Alltagsroutine wenigstens für kurze Zeit zu verlassen um die Welt vom anderen her zu betrachten. Aufmerksames Schauen und das Registrieren jeder Kleinigkeit alleine genügen dafür nicht. Einfühlsame Beobachtung erfordert Anteilnahme am Leiden des anderen, auch und vor allem dann, wenn es gilt erst herauszufinden, was den anderen quälen könnte.

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Herr P gilt als aggressiv und unberechenbar. Niemand im Team geht gerne zu ihm. Er verhält sich bei der Pflege ganz passiv, dann aber schlägt er plötzlich zu. Besonders häufig geschieht dies beim Anziehen. Schwestern und Pfleger sind auf der Hut. Sie passen genau auf und gehen schon beim kleinsten Anzeichen in Deckung. Eines Tages kommt eine neue Schwester auf die Station. Die Schwester sieht wie verkrampft Herr P daliegt und dass seine Hände zu Fäusten geballt sind. Sie fragt sich, was wohl in ihm vorgeht. Ist er verzweifelt? Fühlt er sich einsam? Hat er Schmerzen? Hat er Angst? Man kann ihn nicht danach fragen, Herr P ist schwer dement. Die Schwester nimmt behutsam die Beziehung auf. Sie versucht Blickkontakt mit ihm zu bekommen. Sie bereitet ihn auf jeden Handgriff vor, berührt ihn vorsichtig und beobachtet ihn dabei. Innerhalb kurzer Zeit sammelt sie auf diese Weise eine Menge von Hinweisen dafür, dass Herr P Schmerzen im Bereich des Schultergürtels hat. Ein kurz darauf angefertigtes Röntgen bestätigt den Verdacht: Es zeigt schwere Schultergelenksarthrosen beidseits. Eine geeignete Schmerztherapie und der behutsamere Umgang mit den schmerzenden Gelenken beenden das aggressive Verhalten des Herrn P rasch und endgültig. Einfühlsame Beobachtung kann nur dann erfolgen, wenn der Beobachter auch dann respektiert, was für den anderen wichtig und wertvoll ist, wenn er es selbst nicht nachvollziehen kann. Frau O ist eine freundliche alte Frau. Sie ist den ganzen Tag mit ihrem Stoffbären beschäftigt, füttert ihn mit allem Essbaren, spricht mit ihm, wiegt ihn in ihren Armen, deckt ihn zu … An manchen Tagen schreit Frau O und lässt sich nicht beruhigen. Sie schlägt wild um sich und beschimpft jeden, der ihr in die Nähe kommt. Dies geschieht immer dann, wenn der durch viele Fütterungsversuche verschmutzte Bär zur Generalreinigung in die Waschmaschine kommt. Das muss aus hygienischen Gründen sein. Für demente Menschen können Puppen oder Stofftiere Kinder, Freunde, Vertraute sein, sie sind Gesprächspartner, schenken ihnen die Nähe, Wärme, Liebe und Sicherheit, nach der sie sich als Kinder oft vergeblich gesehnt hatten. Kindheit und Jugend der heute Hochbetagten fielen in wirtschaftlich schwere Zeiten. Die Ehen waren kinderreich, die Eltern wirtschaftlich und persönlich überfordert. Oft mussten die Kinder die Liebe von Vater und Mutter entbehren. Auch das Bedürfnis nützlich zu sein und ein sinnerfülltes Leben zu führen findet nicht selten seinen Ausdruck in der Beschäftigung mit Stofftieren. Darüber hinaus bieten Stofftiere eine gute Möglichkeit mit den Demenzkranken in Beziehung zu treten und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Könnte der Bär nicht auch abends, wenn Frau O schläft, in der Waschmaschine landen? Das Ordnungssystem, das Menschen mit intaktem Denkvermögen zur Verfügung steht und die Welt für sie begreifbar macht, liefert bewährte Verhaltensschablonen und Handlungsstrategien, die Sicherheit geben und mithelfen soziale Abläufe reibungsloser gestalten. Dieses Ordnungssystem hört für Demenzkranke

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bald auf zu existieren. Wie aus heiterem Himmel überfällt sie jeder körperliche Schmerz, alles Unerklärliche, das Körper und Seele trifft wird zur existentiellen Bedrohung. Oft versagt eine verständnislose und kalte Umwelt ihnen den Schutz und liefert sie einer fremd und unheilvoll erscheinenden Welt aus. Lange versuchen sie sich zu wehren und kämpfen verzweifelt um nicht unterzugehen. Schließlich geben sie auf und ziehen sich in ihr Inneres zurück. Sie nehmen dann keinen erkennbaren Anteil mehr am Leben. Wir nennen das dann Endstadium der Demenz. Aber muss es so sein? Immer? Sind wir nicht häufig mit einem vermeidbaren, durch unerträglichen Lebensschmerz erzwungenen, inneren Selbstmord konfrontiert? „Herr, lehre mich die Kunst der kleinen Schritte. Lass mich erkennen, dass gute Vorsätze allein nicht weiterhelfen. Hilf mir, das Nächstliegende so gut wie möglich zu tun und die jetzige Stunde als die Wichtigste zu erkennen.“ (Antoine de Saint-Exupéry)

Literatur Bernabei R, Gambassi G, Lapane K, Landi F, Gatsonisis C, Dunlop R, Kipsitz C, Steel K (1998) Management of pain in elderly patients with cancer. SAGE Study Group. systematic assessment of geriatric drug use via epidemiology. JAMA 279 (23): 1877–1882 Breitenwald-Kahlil M, Falkner E (2003) Frau Ida findet eine neue Heimat. In: Kojer M (Hrsg) Alt, krank und verwirrt“, 2. Aufl. Lambertus-Verlag, Freiburg Buchholz T, Schürenberg A (2005) Lebensbegleitung alter Menschen. Basale Stimulation in der Pflege alter Menschen, 2. Aufl. Verlag Hans Huber, Bern Closs SJ, Barr B, Briggs M (2004) Cognitive status und analgesic provision in nursing home residents. Br J Gen Pract 54 (509): 919–921 Deutscher Tierschutzbund EV (2004) Aktion Freiheit für die Hühner. www.tierschutzbund.de Dörner K (2001) Der gute Arzt. Schattauer-Verlagsgesellschaft, Stuttgart Dörner, K (2005) Über die institutionelle Umwandlung von Menschen in Sachen. (In: Frankfurter Rundschau Dokumentation, 11. Okt. 1994. Zit nach Gröning K, Wenn die Seele auswandert) Forum Supervision 13 (26): 64–75 Falkner E: Hermi S (2003) war ein richtiges Ekel … In: Kojer M (Hrsg) Alt, krank und verwirrt“, 2. Aufl. Lambertus-Verlag, Freiburg Ferrell BA (2004) The management of pain in long-term care. Clin J Pain 20 (4): 240–243 Gagliese L, Melzak R (1997) Chronic pain in the elderly. Pain 70 (1): 3–14 Gutenthaler U (2003) Maria M., 85 Jahre alt … eine lebende Tote. In: Kojer M (Hrsg) Alt, krank und verwirrt, 2. Aufl. Lambertus-Verlag, Freiburg Heller A (2000) Die Einmaligkeit von Menschen verstehen und bis zuletzt bedienen. In: Heller A, Heimerl K, Husebö S (Hrsg) Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun, 2. Aufl. Lambertus-Verlag, Freiburg Kaasalainen S, Middleton J, Knezacek S, Hartley R, Stewart N, Ife C, Robinson L (1998) Pain and cognitive status in the institutionalized elderly: perceptions and interventions. J Gerontol Nurs 24 (8): 24–31 Kierkegaard S, zitiert nach Husebö S (2003) Ethik. In: Husebö S, Klaschik E (Hrsg) Palliativmedizin, 3. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Kojer M, Schmidl M, Gutenthaler U (2005) Demenz und Lebensqualität. In: Rudolf Likar R, Bernatzky G, Pipam W, Janig H, Sadjak A (Hrsg) Lebensqualität im Alter. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo

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Kojer M (2005) Kommunikation im Alter. In: Rudolf Likar R, Bernatzky G, Pipam W, Janig H, Sadjak A (Hrsg) Lebensqualität im Alter. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Saunders C, Sykes N (1993) The management of terminal malignant disease, 3. Aufl. Edward Arnold Verlag, London Schmidl M (2006) Schmerzen erkennen bei Dementen. In: Bernatzky G, Sittl R, Likar R (Hrsg) Schmerzbehandlung in der Palliativmedizin, 2. Aufl. Springer, Wien New York

WDR: Servicezeit Tiere suchen ein Zuhause. Sendung vom 8. 1. 2006 http://www.wdr.de/tv/service/tiere/inhalt/20060108/b_1.phtml 3. 6. 2006

Tierschutz im Internet http://www.tierschutz.org/tierschutz/problembereiche/nutztiere/transporte/index.php 3. 6. 2006

Von der Schmerzorientierung zur Kompetenzorientierung im Sport P. B E RNA TZK Y , W . K NÖRZ E R, G . A ME S B E RG E R u n d G . B E RNA T Z K Y

Der Mensch als eines der komplexesten und faszinierendsten Systeme, besteht aus Myriaden von Zellen, die selbst wieder sehr komplexe Gebilde sind. Offenbar ermöglicht deren wohlgeordnetes Zusammenwirken, dass höhere Lebewesen fähig sind, ihre Aktionen flexibel auf die eigenen Bedürfnisse und die Bedingungen ihrer Umwelt abzustimmen. Aus den Erkenntnissen über die Selbstorganisation makroskopischer Systeme, die sich aus hinreichend vielen miteinander wechselwirkenden Einzelsystemen zusammensetzen, hat sich die Theorie der Synergetik entwickelt. In der Theorie der Synergetik (Haken 1982) werden derartige selbstorganisierte Ordnungsübergänge thematisiert. Die Synergetik und somit die Perspektive der Selbstorganisation hat in der Psychologie in den letzten Jahren zunehmendes Interesse gefunden, wenn es darum ging, psychische und soziale Prozesse zu beschreiben und zu erklären. Gegenwärtig ist das bio-psycho-soziale Beschreibungsmodell (Engel 1980; Uexküll, Wesiack 2003) das kohärenteste, kompakteste und auch bedeutendste Theoriekonzept, innerhalb dessen der Mensch in Gesundheit und Krankheit erklärbar und verstehbar wird. Krankheit und Gesundheit sind im bio-psycho-sozialen Modell nicht als ein Zustand definiert, sondern als ein dynamisches Geschehen. Dieses dynamische Gesundheitsverständnis bildet auch den Ausgangspunkt für die Überlegungen Antonovskys (1987) in seinem Modell der Salutogenese. Er geht dabei von der Annahme aus, dass der Gesundheits- bzw. Krankheitszustand eines Menschen wesentlich durch eine individuelle, mentale Einflussgröße bestimmt wird, nämlich durch die Grundhaltung des Individuums gegenüber der Welt und dem eigenen Leben. Von dieser Grundhaltung hängt es seinem Verständnis nach maßgeblich ab, wie gut Menschen in der Lage sind, vorhandene Ressourcen zum Erhalt ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens zu nutzen. Je ausgeprägter das

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Kohärenzgefühl einer Person ist, desto gesünder ist sie bzw. desto schneller wird sie gesund und bleibt es. In diesem Sinne kann auch Schmerzerleben und Schmerzverhalten mit dem bio-psycho-sozialen Modell beschrieben werden. Krankheit und Schmerz stellt sich demnach dann ein, wenn der Organismus die autoregulative Kompetenz zur Bewältigung von auftretenden Störungen auf das System Mensch nicht ausreichend zur Verfügung stellen kann und relevante Regelkreise für die Funktionstüchtigkeit des Individuums überfordert sind bzw. ausfallen. In der Systematik der Synergetik wirkt Schmerz als Attraktor und führt somit zu einer Versklavung des Gesamtsystems. Durch Kompetenzorientierung werden neue Aufmerksamkeitsrichtungen zur Verfügung gestellt, die das Auffinden eines neuen Attraktors ermöglichen. Während dieses Prozesses kommt es zum sog. critical slowing down: Das System versucht, innerhalb der Fluktuation zunächst immer noch zum alten Attraktor zurückzukehren. Die Zeitabstände zwischen jedem Zurückkehren werden aber immer größer, die Rückkehr zum alten Attraktor also immer langsamer. Je langsamer diese Rückkehr geschieht, desto näher rückt der Übergang in den neuen Attraktor (Haken, Schiepek 2006). So gesehen muss Gesundheit in jeder Sekunde des Lebens geschaffen werden. In diesem Sinne verstehen wir unter Kompetenzorientierung, das Schaffen von Bedingungen für die Möglichkeit der Selbstorganisation des komplexen bio-psychosozialen Systems Mensch, die mit einer Entwicklung des Kohärenzgefühls einhergeht. Kompetenzorientierung wird im Sport mittels mentalen Trainings bereits erfolgreich eingesetzt. Dieser Beitrag stellt einen Versuch dar, bestimmte Methoden und Maßnahmen in die nichtmedikamentöse Schmerztherapie zu transferieren und nutzbar zu machen. Im Leistungsport ist ein erstrebtes Ziel, sich an seiner obersten Leistungsgrenze zu bewegen. Der Sportler muss die Fähigkeit entwickeln, seine Leistung ungeachtet internaler und externaler Einflüsse abzurufen. Durch Kompetenzorientierung wird der Sportler gezielt darauf vorbereitet. Mentale Strategien werden erarbeitet und unterstützen bei der Verarbeitung von Stress, Schmerz und Druck. Eine klare Zielorientierung und die bewusste Hinwendung zu den Ressourcen des Sportlers bilden die Grundlage für die Entwicklung von Selbstwirksamkeit. Auch aufgrund der durch Dopingrichtlinien eingeschränkten Nutzbarkeit von Schmerzmittel im Leistungssport, ist es für den Sportler unumgänglich gezielte Schmerz-Coping-Strategien zu entwickeln. Diese Kompetenzorientierung, bei gleichzeitig erlebter Sinnhaftigkeit im Sport führt möglicherweise im Sinne Antonovskys, zu einer Steigerung des Kohärenzgefühls und kann für den Schmerzpatienten nutzbar gemacht werden. Das Kohärenzgefühl mobilisiert vorhandene Ressourcen, die zu einer Spannungsreduktion führen und damit indirekt auf die physiologischen Systeme der Stressverarbeitung wirken. Während eine kurzfristige physiologische Stressreaktion (Anspannung) von Antonovsky als nicht gesundheitsschädigend eingeschätzt wird, wenn sie durch eine anschließende Erholungsphase ausgeglichen wird, entsteht eine Schädigung dann, wenn die selbstregulierenden Prozesse des Systems gestört sind. Genau diese selbstregulierenden Prozesse sind bei chro-

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nischen Schmerzpatienten außer Kontrolle geraten. Beim chronischen Schmerzpatient kommt es weitgehend zu einer Aufmerksamkeitsveränderung hin zum Schmerz. Die Patienten entwickeln Werte, Überzeugungen und Haltungen zum Umgang mit dem Phänomen Schmerz, die in den therapeutischen Prozess mit einfließen. Schmerzbewältigungsprogramme, -trainings oder Behandlungsverfahren zur Schmerzkontrolle lenken die Aufmerksamkeit zusätzlich auf den Schmerz. Diese Fokussierung auf den Schmerz führt zu einer Einengung der Lebensperspektive, die mit einer unter Umständen dauerhaften Veränderung des Lebensgefüges einhergeht. Ein Ziel der Kompetenzorientierung beim Schmerzpatienten ist diese Fixierung auf den Schmerz zu lösen. Zentrale Forderung wäre das Sich-Lösen von einer nur pathogenen Betrachtung des Schmerzpatienten zu einer individuellen, gesundheitsorientierten Sichtweise. Das Schmerzerleben an sich wird von zahlreichen Komponenten beeinflusst und ist multifaktoriell. Dabei scheinen Lernprozesse eine zentrale Rolle bei der Chronifizierung zu spielen (Sandkühler 2000). Dies spiegelt sich in der Organisation und Veränderung schmerzverarbeitenden Strukturen des Nervensystems wider. Dabei werden Signale aus dem Körper bei Menschen mit chronischen Schmerzen anders verarbeitet als bei Gesunden (Flor 1999). Unter Chronifizierung wird verstanden, dass der Lernprozess mit Gedächtnisbildung einhergeht (Sandkühler 2001). Klinisch relevante Schmerzen entstehen also nicht nur durch eine bloße Aktivierung des nozizeptiven Systems, sondern sie werden durch neuroplastische Vorgänge mitbestimmt. Neuroplastizität ist nicht nur ein Modewort. Der Begriff bringt eine ganz zentrale Erkenntnis zum Ausdruck: die Fähigkeit des Nervensystems sich zu adaptieren und seine strukturale Organisation und Funktion zu modifizieren. Je hartnäckiger der Schmerz ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er mit bestimmten Schmerzerinnerungen verbunden ist. Chronischer Schmerz dauert also wahrscheinlich durch den gleichen Prozess an, der im normalen Gedächtnis bei der Speicherung von Informationen abläuft, nämlich Long Term Potentiation (Afrah et al. 2002). Insbesondere scheint sich dabei das assoziative Gedächtnis zu entwickeln (Wallenstein 2003). Das assoziative Abspeichern von Schmerzen mit anderen Faktoren, die im Zusammenhang mit Schmerz auftreten, scheint zur Entstehung von chronischen Schmerzen zu führen. So aktivieren z.B. Aufmerksamkeit und Schmerz die gleichen Gehirnteile (Wall 2002). Der Gyrus cinguli scheint gleichzeitig eine wichtige Rolle in Verbindung mit Angstgefühlen zu spielen. Somit könnte Schmerz, Aufmerksamkeit, Angst und Besorgtheit von den gleichen neuronalen Prozessen gesteuert werden (Hammer 1999). Das gleichzeitige Feuern der Neuronen (wiring) bewirkt eine intersynaptische Verschaltung. Dieses sog. wiring bietet somit eine neuronale Erklärung dafür, dass allein der Gedanke an Schmerz, den Schmerz wieder auslösen kann. Auch Hutchison (1999) zeigte in seinen Studien, dass der cinguläre Kortex nicht nur bei Angst vor Schmerzen beteiligt ist, sondern auch dann, wenn man sich die Schmerzen in der Fantasie nur vorstellt. Assoziative Schmerzerinnerungen haben also einen starken Einfluss auf unser aktuelles Schmerzerleben. Doch selbst wenn sich eine Schmerzerinnerung gebildet

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hat, ist es möglich umzulernen und die verbundenen neurophysiologischen Antwortmuster zu verändern. Im erwachsenen Gehirn benötigt die Modifikation solcher schon lange festgesetzter neuronaler Verbindungen, im Gegensatz zum sich rasch entwickelnden kindlichen Gehirn, eine intensivere und wiederholtere Stimulation durch mentale Interventionen (Arnstein 1997). Auch sensorische Rückmeldung führt in den Hirnarealen, die durch das somatosensorische Schmerzgedächtnis verändert wurden, zu einer Umorganisation, die mit der Verminderung von Schmerz einhergeht. Diese Veränderungen können durch sensorisches Feedback, operante oder kognitive Verhaltenstherapie wie auch Vorstellungsübungen beeinflusst werden (Flor 2006). Für ein salutogenetisch orientiertes Interesse ist diese Sicht faszinierend. Wenn grundsätzlich jedes menschliche Gehirn das Potential zur Gesundheit besitzt, ist dies ein neurowissenschaftliches Argument für eine ressourcenaktivierende Arbeitsweise. Ressourcenaktivierung gilt nach Grawe (2004) als einer der wesentlichen Wirkfaktoren erfolgreicher Psychotherapie und bestünde aus der Sicht der Neurowissenschaft darin, das Gesundheitspotential menschlicher Gehirne optimal anzuregen. Ziel von mentalen Interventionen ist die emotionale Umstimmung, die weg von Druck, Stress und Schmerz und hin zu einem höheren Ausmaß an positiven Gefühlen und mehr Freude am Leben führt. Die emotionale Lage beeinflusst nicht nur direkt den Zustand des Organismus (und damit auf Dauer Erkrankungs- und Heilungsprozesse), sondern über die selektive Wahrnehmung (Aufmerksamkeit) und die Art des Denkens auch die Wahrnehmung von Umwelt und Körper, für die auch persönliche Überzeugungen, Werte und selektive Erinnerungen eine Rolle spielen. Der in Bremen forschende Neurobiologe Gerald Hüther postuliert: „Der Einzelne muss die neuronalen Verschaltungen in seinem Gehirn reorganisieren“ (2006). Von der Umsetzung her ist das Erlernen und Automatisieren eines neuen neuronalen Erregungsmusters natürlich mit all den Schwierigkeiten und Mühen verbunden, die für Lernen allgemein gelten: Zeit, Geduld und Ausdauer werden benötigt. Autofahren lernt man schließlich auch nicht an einem Tag. Neu entstandenen Erregungsmuster benötigen bewusste Verarbeitungskapazität, solange sie noch nicht eingespielt sind. Durch häufige Wiederholungen werden die neu entstandenen Verbindungen aber immer besser gebahnt. Sie sind immer leichter aktivierbar und gewinnen so immer leichter Einfluss auf die psychische Aktivität, ohne dass dies mit Bewusstsein verbunden ist (Grawe 2004). Hüther (2006) hat u.a. betont, dass grundlegende Veränderungen nur durch die Aktivierung der limbischen, also emotionalen Zentren, möglich würden. Der amerikanische Psychologe Panksepp (1998) geht davon aus, dass verschiedenen Emotionen auch entsprechende neuronale Schaltkreise zugrunde liegen, die bestimmte Hirnstrukturen und neurochemische Systeme miteinbeziehen. Weiters geben seine Forschung Evidenz dafür, dass kognitive Prozesse emotionale Systeme modulieren können. Emotional bedeutsame Erinnerungen können durch das Repräsentieren von früheren Kontexten und verbunden mit entsprechenden sensorischen und mo-

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torischen Anteilen erfolgreich aufgerufen werden. Erst was ganzheitlich repräsentiert ist, kann mit Ressourcen und anderen Erinnerungen verknüpft und verändert werden (Grawe 2004). Kompetenzorientierung unterstützt gezielt die Generierung solcher neuen Erregungs- bzw. Ordnungsmuster. Diese Art gesundheitsfördernder Ordnungsmuster wird von Antonovsky (1987) in seinem Modell der Salutogenese beschrieben, wenn er vom Sense of coherence spricht als einem Gefühl innerer Stimmigkeit. Auf Grundlage dieser inneren Stimmigkeit hat Kompetenzorientierung das Ziel ein Gesundheitsverhalten zu generieren und wird als Zusammenspiel mehrere theoretischer Zugänge und Komponenten verstanden. Die Realisierung von Handlungsvoraussetzungen in unterschiedlichen Stressund Schmerzsituationen ist möglicherweise in großem Maße vom Kohärenzgefühl abhängig. Der Zugang zu den eigenen Ressourcen und der Grad der inneren Stimmigkeit beeinflussen die Selbstwirksamkeit des Sportlers, als auch des Schmerzpatienten. Ob jemand selbstwirksam handelt, hängt davon ab, was er erreichen will (Ziele) und was er bezüglich des geforderten Handlungsfelds von sich selbst hält (Selbstbild). Von der eigenen Wirksamkeit überzeugt sein heißt, sich das Erreichen eines gesetzten Ziels oder Soll-Zustands unter den herrschenden Bedingungen zuzutrauen. Self-Efficacy ist also zielabhängig und kontextgebunden. Self-Efficacy wurde von Bandura aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer Sicht wie folgt definiert: Self-Efficacy ist „die eigene Vorstellung über die Fähigkeiten, Kontrolle über Ereignisse im eigenen Leben auzuüben” (Bandura 1977, S. 193). Es wurde festgestellt, dass eine hohe Self-Efficacy einen großen Einfluss auf das Schmerzverhalten hat (Bandura 1989, 1997). Umgelegt auf den Schmerzpatient erhöht die Selbstwirksamkeit den wahrgenommenen Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung und deren Verarbeitung. Dabei haben die formulierten Ziele der Schmerzpatienten einen wesentlichen Einfluss auf den Therapieerfolg. Moderne zieltheoretische Ansätze analysieren gemäß Gollwitzer (1999) zielorientiertes Handeln immer in Relation zu einer vorausgegangenen Zielsetzung. Sie gehen davon aus, dass Zielsetzungen das menschliche Handeln wesentlich beeinflussen. Die exakte Zielformulierung bildet die grundlegende Voraussetzung für die Beeinflussung unserer mentalen Prozesse. „Ziele beinhalten das, was Menschen aufgrund eigener Vornahmen oder fremder Vorgaben zu erreichen suchen. Sie geben dem menschlichen Handeln die Richtung vor, steuern Auswahl und Einsatz der physischen und psychischen Leistungsvoraussetzungen […], die zur Zielerreichung notwendig sind, beeinflussen die Ausdauer bei der Zielverfolgung und sind dadurch auch verantwortlich für den Zeitpunkt eines Handlungswechsels“, beschreibt Kleinbeck (2002, S. 43) das moderne Zielverständnis im Lexikon der Psychologie. Die motivationale Priming-Theorie postuliert zwei Motivsysteme, die den emotionalen Reaktionen zugrunde liegen könnten. Einerseits reagieren wir auf aversive Reize mit einem Vermeidungsverhalten und andererseits sind positive

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Reize mit einem Annäherungsverhalten gekoppelt (Lang 1994). Beide Systeme reagieren weitgehend unabhängig voneinander. Wenn jemand jedoch viele Vermeidungsziele hat, wirkt sich das negativ darauf aus, wie gut er seine Annäherungsziele realisieren kann (Grawe 2004). Das vollständige Potenzial der Zielarbeit entfaltet sich dann, wenn der Schmerzpatient die Zielerreichung auf der gedanklich-kognitiven Ebene vorwegnimmt und zusätzlich emotional und körperlich erlebt. Damit Patienten aus der Definition ihrer Ziele einen maximalen Nutzen ziehen können, ist es notwendig, sich diese möglichst intensiv und sinnvoll zu vergegenwärtigen. Das Vorwegerleben der Zielerreichung stärkt die Motivation und aktiviert Energien. Ziele, die in der Vorstellung bereits mehrfach erfolgreich erlebt wurden, stärken das Selbstvertrauen. Es werden kraftvolle Erinnerungen an die Zukunft (Liggett 2004) geschaffen. Viel Forschung hierzu kommt aus dem Themenkreis der goal-psychology, dem Zweig der Psychologie, die sich mit persönlichen Zielen befasst. Eine Zusammenfassung hierzu findet sich bei Storch und Krause (2002). Aus dieser Forschungstradition ist bekannt, dass „Menschen, die ihre Ziele mit einem hohen Grad an subjektiv eingeschätzter Selbstbestimmung, Selbstverpflichtung oder intrinsischer Motivation verfolgen“ (Kuhl 2001, S. 223) ein deutlich höheres Ausmaß an Lebenszufriedenheit und subjektivem Wohlbefinden angeben als Menschen mit fremdkontrollierten Zielen. Erst durch konkrete positivere Lebenserfahrungen kommt es zu sich selbst aufrechterhaltenden neuen, gesünderen Strukturen und Abläufen im Gehirn (Grawe 2004). „Wahrnehmungen hängen nicht nur von den vorgebahnten Erregungsmustern, sondern auch von dem neuronalen Input durch die Sinnesorgane ab und dieser wiederum von den tatsächlich gegebenen situativen Bedingungen. Neurotransmitter werden in allererster Linie als Reaktion auf Sinneserfahrungen ausgeschüttet und so können sich die neuronalen Strukturen als Ergebnis dieser Erfahrungen entwickeln. Die tatsächlich resultierenden Wahrnehmungen können ganz mit dem vorgebahnten Erregungsmuster übereinstimmen und damit die bisherigen Vorerwartungen festigen. Ein Erlebnisschema wird variantenreicher, es differenziert sich, neue synaptische Verbindungen werden gebahnt, die in Zukunft leichter aktivierbar sind, wenn das Erregungsmuster von irgendeinem Teil aus aktiviert wird“ (Grawe 2004). „Es wäre am besten die erwünschten imaginierten Zielzustände somatosensorisch zu repräsentiert. Die neuen, positiveren Kognitions-Emotions-Verhaltens-Muster müssten anschließend stabilisiert und automatisiert werden. Es sei darauf zu achten, dass diese Muster verfügbar gehalten würden und eine positive Verstärkung erhielten“ (Schiepek 2003). Dies würde dafür sprechen, dass das intensive und wiederholte Erleben der Zielerreichung zur Bildung von neuen synaptischen Verbindungen führt. Aus dem Sport wissen wir, dass die Qualität einer Bewegung durch ihre innere Vorstellung beeinflusst wird (Eberspächer 1995). Beim Aufbau präziser Zielvorstellungen geht es zum einen um eine exakte Beschreibung des erwünschten Zieles, zum anderen um den Aufbau eines schnel-

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len Zugangs zu dem damit einhergehenden positiven Gefühl. Je stärker die Person aus diesem Gefühl der inneren Stimmigkeit heraus handelt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie in den Zustand idealer Gesundheit gelangt und Schmerzerleben wird so weniger wahrscheinlich. Wenn sich der Schmerzpatient nun intensiv seinen Zielzustand bzw. einen erwünschten Gesundheitszustand vorstellt, gilt es auf die damit verbunden körperlichen Signale und Empfindungen zu fokussieren. Damasio (1997) beschreibt, dass Menschen alle im Laufe ihres Lebens gemachten Erfahrungen in einem emotionalen Erfahrungsgedächtnis speichern. Das emotionale Erfahrungsgedächtnis konserviert Wissen in Form von Gefühlen und Körperempfindungen. Mittels eines Signalsystems, das über Veränderungen des Körperzustands und über Emotionen arbeitet, kann ein Organismus aus Erfahrungen lernen und das Gelernte blitzschnell abrufen (Goleman 1997). Die hervorgerufenen Körpersignale helfen dem Menschen bei der Entscheidungsfindung und Damasio beschreibt sie als somatische Marker. Die somatischen Marker des Kohärenzgefühls werden bei der Kompetenzorientierung gezielt erarbeitet und aktivieren im Sinne des operanten Konditionierens die Ressourcen des Kohärenzgefühls. Es werden gezielt die Qualitäten der Ressourcen erarbeitet, um das Erleben von positiven Kontroll- und Selbstwerterfahrungen zu unterstützen. Eine Stärkenanalyse dient zunächst der Selbsteinschätzung des Patienten. Auf der Grundlage der Stärkenanalyse werden Strategien erarbeitet, bewusst Kontakt zu den persönlichen Stärken zu finden, um sie noch weiterzuentwickeln. Im Sport wird diese Herangehensweise bereits erfolgreich eingesetzt. Der Ansatz des integrativen Mentaltrainings im Sport (Amler, Bernatzky, Knörzer 2006) orientiert sich konsequent an einer stärkenorientierten Herangehensweise. Die intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Stärken und deren Weiterentwicklung besitzt für den Sportler einen hohen Eigenmotivationscharakter. Gerade diese kompetenzorientierten Strategien können für den Schmerzpatienten von Nutzen sein. Der Entwicklung von Selbstmotivationsstrategien kommt also eine zentrale Bedeutung zu. Mit ihrer Hilfe gelingt es im Sport dem Sportler, seine Stärken gezielt abzurufen und sie im geeigneten Moment einzusetzen. In der sportpsychologischen Literatur versteht man in der Regel unter Selbstmotivationsstrategien interne verbale Anweisungen, die sportliche Handlungen positiv unterstützen (Eberspächer 1995). Kleinert (2003) untersuchte in einer Studie die handlungsregulierenden Funktionen von Selbstgesprächen bei körperlichen Schmerzen im Marathonlauf. Vergleicht man die Ergebnisse mit Befunden aus Studien zum Schmerzbewältigungsprozess (Geissner, Würtele 1992; Hasenbring 1999), so fällt auf, dass Selbstgespräche bei den untersuchten Läufern deutlich flexibler und funktionell breiter angewendet werden, als es bei chronischen Schmerzpatienten der Fall ist. Für einen Transfer auf therapeutische Maßnahmen bei Schmerzpatienten sind insbesondere die Möglichkeiten beachtenswert, durch Selbstgespräche Bewältigungshandlungen zu initiieren, ihre Realisierung zu unterstützen und im Rahmen der Interpretation der Schmerzbewältigung Selbstvertrauen und Selbstwirk-

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samkeit aufzubauen. Die Studienergebnisse bestärken hiermit erste Ansätze, Selbstgespräche, zum Beispiel im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie, als einen festen Bestandteil in der Arbeit mit Schmerzpatienten zu implementieren (Budde 1996; Schneider 1994; Flor 1999). Insbesondere der selbstgesprächsinduzierte Wechsel von Handlungsebenen und der Aufbau von Selbstwirksamkeit über aufgabeorientierte handlungsbegleitende oder interpretative Selbstgespräche verdienen weitere therapeutische Überlegungen. Selbstgespräche können dabei helfen von der wahrgenommenen schmerzzentrierten Inkompetenz abzulenken und auf Handlungskompetenzen in anderen Bereichen zu fokussieren. Letztlich dienen diese verschiedenen Methoden und Strategien des Mentaltrainings dazu, wohladaptive neuronale Erregungsmustern zu erlernen, die durch Übung und Training soweit automatisiert werden, dass sie immer öfter anstelle der alten, maladaptiven Erregungsmuster Regulationsfunktion übernehmen können. Ein solcher Umlernprozess bedarf dabei jedoch immer eines bestimmten Zeitrahmens, der es ermöglicht neue neuroplastische Strukturen aufzubauen. Im Sinne einer salutogenetischen Herangehensweise kann eine konsequente Kompetenzorientierung einen Beitrag leisten, die bio-psycho-soziale Gesundheit des Schmerzpatienten wiederherzustellen und zu stabilisieren.

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Einleitung Die Internationale Schmerzgesellschaft definiert Schmerz als eine unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung. Schmerz ist daher untrennbar als somato-psychische Erlebnisverarbeitung aufzufassen. An der Entstehung und Aufrechterhaltung von Schmerzen sind neben biologisch-sensorischen auch affektivemotionale, motivationale und kognitive Faktoren beteiligt. Darüber hinaus sind interaktionelle und soziokulturelle Faktoren des Schmerzerlebens und Schmerzausdrucks als Determinanten von Chronifizierungsprozessen wirksam. Die klassische Dichotomisierung zwischen „psychogenen“ und „somatischen“ Schmerzen kommt zwar dem Bedürfnis nach klar abgrenzbaren diagnostischen Entitäten nahe, doch sind gegenwärtig die beiden Begriffe „psychogen“ und „somatisch“ (bzw. „somatogen“) eher als zwei Pole eines dimensionalen Kontinuums aufzufassen. Die hier vertretene psychosomatische Sichtweise versteht sich demnach nicht als „entweder somatisch – oder psychisch“, sondern als dynamisches mehrdimensionales Krankheitskonzept unter Berücksichtigung biologischer, psychologisch-psychotherapeutischer und soziokultureller Modellvorstellungen (Bach et al. 2001, Abb. 1). Zum Verständnis des chronischen Schmerzes hat sich bewährt, folgende psychosoziale Faktoren in der Entstehung und Aufrechterhaltung der Schmerzen zu unterscheiden: – Prädisponierende Faktoren: Bei vielen Betroffenen dürfte bereits eine gewisse psychosoziale Vulnerabilität zur chronischen Schmerzentwicklung bestehen. Hierzu zählen prädisponierende Persönlichkeitsmerkmale (z.B. Modelle der Alexithymie, somatosensory amplification“, „repression/sensitization“, „negative affectivity“, Selbstwertmangel, übermäßiger Leistungsanspruch), aber auch eine deutlich erhöhte Prävalenz an schwerwiegenden psychischen Traumatisierungen in der Vorgeschichte (schwere Misshandlung bzw. Missbrauch, Verwahrlosung, Verlust einer zentralen Bezugsperson, Verfolgung, Krieg, Fol-

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Abb. 1. Bio-psycho-soziales Schmerzmodell

ter, etc.). Insbesondere für die Entwicklung ausgeprägter hypochondrischer Krankheitsbefürchtungen scheint auch spezifische Kindheitserfahrungen im Umgang mit Gesundheit und Krankheit in der Herkunftsfamilie Relevanz zu besitzen. Allerdings ist zu beachten, dass bislang keine spezifische prämorbide Schmerzpersönlichkeit validiert werden konnte. – Auslösende Faktoren: Unmittelbar vor Beginn der Schmerzerkrankung finden sich häufig lebensverändernde Ereignisse (in erster Linie Verlusterfahrungen wie z.B. Trennungen, Beziehungskrisen, Verlust des soziokulturellen Umfeldes durch Migration), auch akute Traumatisierungen oder chronische Belastungen und Konflikte (am Arbeitsplatz und/oder in der Partnerschaft bzw. Familie). Aus tiefenpsychologischer Sicht erfüllt der Schmerz in diesem Zusammenhang nicht selten eine psychoprothetische Funktion, d.h. er begrenzt und kompensiert eine narzistische Kränkung, die beispielsweise durch den Verlust des Partners, des Arbeitsplatzes, oder des sozialen Umfeldes entstanden ist. Auch die „Konfliktverdrängung ins Somatische“, d.h. die Somatisierung im Sinne des klassischen Konversionsmechanismus wird für manche Betroffene diskutiert. Aus der Prädiktorenforschung ist weiters bekannt, dass das akute Auftreten einer depressiven Störung oder einer Angststörung als negativer Prädiktor für eine Schmerzentwicklung und eine spätere Schmerzchronifizierung angesehen werden kann. – Aufrechterhaltende Faktoren: Am Übergang vom akuten zum chronischen Schmerz finden sich als psychosoziale Faktoren die Verstärkung des Schmerzerlebens und Ausdrucksverhaltens im Rahmen von Lernprozessen, wie z.B. das Erlernen von Schonhaltungen durch Schmerzvermeidung, die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf dysfunktionale Körpervorgänge, die Verstärkung des Schmerzerlebens durch Bezugspersonen oder Gratifikationsangebote (sog. „sekundärer Krankheitsgewinn“ durch z.B. Schmerzensgeld oder Berufsunfähigkeitspension).

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Entscheidend für die Therapieplanung ist die individuelle Gewichtung aller relevanten Faktoren und die Einschätzung ihrer Wechselwirkungen im konkreten Krankheitsverlauf Betroffener. Die klassischen Spezifitätstheorien früherer psychosomatischer Schmerzkonzeptionen (d.h., spezifische psychische Konflikte führen zu spezifischen körperlichen Erkrankungsmustern) müssen aus heutiger Sicht relativiert werden. So gibt es beispielsweise keinen spezifischen psychosozialen Prädiktor für chronischen Schmerz – frei nach dem Motto: wenn z.B. eine Depression vorliegt, ist das bereits die Ursache der Schmerzen. In diesem Zusammenhang muss auch das Konzept der larvierten bzw. somatisierten Depression kritisch hinterfragt werden: zu widersprüchlich ist die bisherige empirische Evidenz hierfür.

Psychotherapie bei Schmerzen: wann und wie? Die Frage, unter welchen Bedingungen psychotherapeutische Verfahren bei chronischem Schmerz angemessen sind, kann mangels eindeutiger Indikationskriterien nur spekulativ beantwortet werden. Nicht jeder Patient mit chronischem Schmerz bedarf zwangsläufig einer psychotherapeutischen Schmerzbehandlung. Umgekehrt ist jedoch auch die Frage zu klären, ob somato-medizinischen Verfahren in jedem Fall der Vorrang vor dem Einsatz der psychotherapeutischen Medizin gegeben werden soll, letztere also nur bei Misserfolg der somato-medizinischen Behandlung einzusetzen sind. Infolge der Multidimensionalität des chronischen Schmerzes soll hier für eine komplementäre Anwendung unterschiedlicher Ansätze plädiert werden. Organmedizinische und psychotherapeutische Behandlungsverfahren sind gerade beim chronischen Schmerz nicht als konkurrierende, sondern einander ergänzende Interventionen aufzufassen. In einer Meta-Analyse von 65 Effektivitätsstudien solcher Kombinationsbehandlungen zeigt sich eine signifikante Überlegenheit gegenüber eindimensionalen Behandlungssettings: Nach einer multidimensionalen Schmerztherapie fanden sich klinische Verbesserungen von durchschnittlich 56%, gemittelt für unterschiedliche Erfolgskriterien, wie z.B. Reduktion der Schmerzstärke, des subjektiven Beeinträchtigungsgrades, Aktivitätsniveau, Medikamentenverbrauch, Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit und Inanspruchnahme medizinischer Leistungen (Flor et al. 1992). Die Behandlungseffekte lagen hier im Durchschnitt etwa doppelt so hoch wie die Effekte eindimensionaler Behandlungen. In mehreren prospektiven Langzeitstudien ließ sich weiters zeigen, dass diese Behandlungseffekte bei sorgfältig durchgeführter Psychotherapie langfristig stabil sind.

Symptombezogene und symptomübergreifende Therapieverfahren In den letzten Jahren wurden eine Reihe psychotherapeutischer Behandlungsansätze für chronische Schmerzpatienten entwickelt. Das Spektrum der Methoden

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reicht von klassisch verhaltenstherapeutischen (operanten) Verfahren und kognitiv-behavioralen Ansätzen über psychodynamisch ausgerichtete Interventionen und humanistischen Therapieverfahren bis hin zu künstlerischen Therapien. Hauptanliegen symptombezogener psychotherapeutischer Interventionen ist die Förderung der Eigenaktivität und Selbstkompetenz der Patienten im Umgang mit den Schmerzen und deren Folgen, sodass diese nicht passiv-leidend und hilflos ihren Schmerzen ausgeliefert sind, sondern aktiv und bewusst in das Schmerzgeschehen eingreifen können. Ein weiterer Behandlungsschwerpunkt ist der Aufbau gesundheitsbezogener Maßnahmen (z.B. Reduktion des Analgetikakonsums, gestufter Aktivitätsaufbau, psychosoziale Rehabilitation und Reintegration) mit dem Ziel einer Förderung von Lebensqualität trotz chronischer Schmerzen. Neben den direkt symptombezogenen Behandlungsmaßnahmen, die im weitesten Sinne als „Schmerzbewältigungsverfahren“ bezeichnet werden können, sind symptomübergreifende (konfliktzentrierte, erlebnisorientierte, interaktionelle) Interventionsmaßnahmen zu erwähnen. Diese sind indiziert, wenn die Schmerzsymptomatik in Zusammenhang steht mit tiefgreifenden Störungen der Affektregulation (z.B. im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen), traumatischen Erfahrungen (wie z.B. schwerwiegender Misshandlung oder Missbrauch), akuten lebensverändernden Ereignissen (häufig im Rahmen von Verlusterfahrungen, wie z.B. Trennung, Tod, Migration) oder einer Dekompensierung infolge chronischer Überlastungssituationen. In den meisten psychotherapeutischen Behandlungskonzepten nehmen jene Interventionen einen großen Stellenwert ein, die auf psychophysiologischer Ebene ansetzen, wie beispielsweise Entspannungsverfahren (Progressive Muskelrelaxation, Autogenes Training, Applied Relaxation) und Biofeedback-Verfahren, teils kombiniert mit Imaginations- und Suggestionstechniken bzw. Hypnose zur Aufmerksamkeitslenkung. Um Redundanz zu vermeiden, sollen diese Interventionstechniken hier nicht beschrieben werden, da ihnen im Buch eigene Kapitel gewidmet sind. Im Weiteren werden zwei zentrale psychotherapeutische Konzepte ausführlicher dargestellt, deren Behandlungseffektivität in der Schmerztherapie mittlerweile schlüssig belegt werden konnte: 1) verhaltenstherapeutische (bzw. verhaltensmedizinische) Ansätze und 2) psychodynamische (bzw. tiefenpsychologischpsychosomatische) Ansätze.

Verhaltenstherapie / Verhaltensmedizin Allgemeiner Hintergrund Die Verhaltenstherapie versteht sich als psychotherapeutische Grundorientierung, die auf empirischen Erkenntnissen der Psychologie beruht – in erster Linie auf lernpsychologischen, kognitions- und sozialpsychologischen Modellen (Margraf 2000). Unter dem Begriff „Verhaltenstherapie“ werden eine Reihe von störungsspezifschen und störungsunspezifischen Interventionsformen zusammen-

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gefasst, die aufgrund von empirisch überprüftem Störungswissen und psychologischem Änderungswissen eine systematische Besserung der zu behandelnden Probleme anstreben. Aus der Sicht der Verhaltenstherapie umfasst der Begriff „Verhalten“ nicht nur die äußerlich sichtbare motorische Verhaltensebene (im Fall von Schmerzen: z.B. verzerrter Gesichtsausdruck, Einnahme einer körperlichen Schonhaltung), sondern bezieht auch die subjektiv-verbale Ebene – in offener (z.B. Klagen, Stöhnen) und verdeckter Form (z.B. Gedanken, Gefühle, Vorstellungen, Erinnerungsbilder) – sowie die physiologische Ebene (z.B. Erregung der Nozizeptoren, biochemische Prozesse der Schmerzverarbeitung, physiologische Stressreaktionen) mit ein. Im Sinne eines bio-psycho-sozialen Schmerzmodells lässt sich die Entstehung und/oder Aufrechterhaltung von Schmerzen aus der Wechselwirkung dieser unterschiedlichen Prozessebenen begreifen. Der verhaltensmedizinische Ansatz stellt eine interdisziplinäre Integration von Verhaltenstheorie und biomedizinischen Wissenschaften dar mit dem Ziel einer empirisch begründeten bio-psycho-sozialen Diagnostik und Therapie vorwiegend körperlicher Krankheitsbilder und Leidenszustände. Verhaltensmedizinische Schmerzmodelle orientierten sich in früheren Jahren überwiegend an lerntheoretischen Ansätzen, in weiterer Folge auch an kognitionspsychologischen und psychophysiologischen Erkenntnissen. In den verhaltensmedizinischen Schmerzkonzeptionen der letzten Jahren wurden zunehmend Ergebnisse der neurobiologischen Grundlagenforschung, Psychotraumatologie und Emotionsforschung integriert (Flor et al. 1999).

Prinzip und Wirkmechanismen Ideengeschichtlich haben sich folgende verhaltenstheoretische Schmerzkonzeptionen etabliert: aus lernpsychologischer Sicht das respondente und das operante Modell, aus kognitions- und sozialpsychologischer Sicht das Konzept des Modelllernens und das kognitiv-behaviorale Modell, sowie zuletzt – durch Integration mit neurobiologischen Konzepten – das psychobiologische Modell der Verhaltensmedizin (Flor, Hermann 1999).

Operantes Modell Beim operanten Modell wird die Abhängigkeit des Schmerzes von seinen Konsequenzen gesehen. Die Interaktion des Individuum mit seiner Umwelt (Kommunikation von Schmerz, Ausdrucksverhalten) führt zu Reaktionen, die ihrerseits schmerzverstärkend wirken können. Hierbei unterscheidet man die positive Verstärkung (z.B. Schmerzverstärkung durch vermehrte Zuwendung durch Partner, Freunde, Ärzte), die negative Verstärkung (Schmerzverstärkung durch Wegfall unangenehmer Tätigkeit oder Vermeidung von Verantwortung durch gehäufte Krankenstände, analog dem Modell des sekundären Krankheitsgewinns). Schließlich kann auch das Fehlen einer positiven Verstärkung für gesundheitsbezogene

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Aktivitäten (= Löschung durch mangelnde Verstärkung, z.B. fehlende Unterstützung bei der Durchführung von Sport) eine ungünstige Verstärkung von Schmerzen zur Folge haben. Die Betonung von schmerzaufrechterhaltenden Faktoren im operanten Modell gibt einen Einblick in psychosoziale Chronifizierungsmechanismen von Schmerzzuständen. Ein grundlegender Mangel dieses Modells ist allerdings, dass die Auslösung von Schmerzen in der Regel nicht erklärt wird. Nach diesem Konzept wird angenommen, dass Schmerz ursprünglich nozizeptiv-reflexhaft auftritt und dass das Schmerzverhalten dann durch Lernprozesse modifiziert wird. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass sich die schmerzaufrechterhaltenden Faktoren fast ausschließlich auf äußerlich sichtbares (motorisches) Verhalten beziehen, während kognitiv-emotionale Faktoren und physiologische Regelprozesse weitgehend unberücksichtigt bleiben.

Respondentes Modell Beim respondenten Modell wird von der klassischen Konditionierbarkeit der akuten Schmerzreaktion ausgegangen – in Anlehnung an die Konditionierungsexperimente von Pavlow (1941). Im Gegensatz zum operanten Modell wird Schmerz hier vorallem als physiologischer Prozess (z.B. erhöhte Muskelanspannung) oder als Emotion mit negativer Valenz (z.B. Angst) im Kontext von Umweltvariablen gesehen. Die Assoziation des Schmerzerlebens mit zunächst unabhängigen Umgebungsbedingungen (z.B. ein Arztbesuch) kann bei genügender Frequenz, Dauer und Intensität eine konditionierte Angstreaktion mit Muskelanspannung und Sympathikusaktivierung in Verbindung mit Schmerzen führen. Aufbauend darauf bieten die sogenannten Angstvermeidungsmodelle einen Erklärungsansatz für den Zusammenhang zwischen Schmerzen vom muskulären Spannungstyp und negativen Umgebungsbedingungen (z.B. Verspannung der Schulter-Nacken-Muskulatur bei Konfrontation mit Kritik oder Abwertung). Ebenso wie das operante Modell setzt jedoch auch das respondente Modell bereits das Vorhandensein von Schmerz bzw. eine akut somatische Genese von Schmerzen voraus, ohne allerdings diese Aspekte in das Modell selbst konzeptionell zu integrieren.

Modelllernen Nach der Theorie des sozialen Lernens (Bandura 1977) kann Verhalten, das nicht Bestandteil des eigenen Verhaltensrepertoires ist, durch Beobachtung Anderer erworben werden. Durch Modelllernen werden einerseits neue Verhaltensweisen gelernt, andererseits können schon bestehende Verhaltensweisen modifiziert werden. Es wird angenommen, dass auch die Beobachtung von Schmerzverhalten bei Anderen (verbale Äußerungen, Bewegungsvermeidung, Medikamenteneinnahmeverhalten) zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Schmerzsyndromen beitragen kann. Christensen und Mortensen (1975) konnten belegen, dass Kinder von Schmerzpatienten überzufällig häufig jene Schmerzzustände aufweisen, die

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ihre Eltern zum gegenwärtigen Zeitpunkt selbst hatten, und weniger solche, die die Eltern in ihrer Kindheit hatten (dies würde eher für genetische Faktoren sprechen). Turk et al. (1987) gehen beim Phänomen der „Schmerzfamilien“ davon aus, dass soziale Lernmechanismen das gehäufte Auftreten von Schmerzsyndromen bei Partnern und Verwandten von Schmerzpatienten begünstigen. Ein methodischer Kritikpunkt am Modell des sozialen Lernens ist der Mangel an experimentellen Studien (zur Veränderungsmessung experimentell induzierten Schmerzverhaltens bei chronischen Schmerzpatienten) oder prospektiven Längsschnittstudien, die die Entwicklung von Schmerzsyndromen in Schmerzfamilien schlüssig nachweisen. Schwachpunkt auch dieses Modells ist, dass überwiegend äußerlich sichtbare Verhaltensaspekte in Lernprozesse einbezogen werden.

Kognitiv-behaviorales Modell Beim kognitiv-behavioralen Modell steht die Wechselwirkung zwischen Schmerz und kognitiven, affektiven und behavioralen Faktoren im Mittelpunkt. Zentrale Grundannahme dieses Modells ist die Abhängigkeit des Schmerzerlebens und Schmerzausdrucks von individuellen Überzeugungen und Bewertungen, d.h. von kognitiven Faktoren. Zahlreiche empirische Untersuchungen konnten belegen, dass der Krankheitsverlauf bei chronischen Schmerzen in entscheidendem Maße von Gefühlen der Hilflosigkeit und Bedrohung durch den Schmerz, von Selbstwirksamkeitserwartungen und subjektiven Schmerzbewältigungsfertigkeiten (z.B. kognitiven Coping-Mechanismen) beeinflusst wird (Turk et al. 1983). Aspekte der Schmerztoleranz und Schmerzakzeptanz spielen auch beim Modell der Somatosensorischen Amplifikation (Barsky 1992) eine Rolle: je stärker die Neigung zu katastrophisierenden Bewertungen von körperlichen Beschwerden, desto ungünstiger die Krankheitsbewältigung. Ergebnisse der Prädiktoren-Forschung konnten belegen, dass negative Kognitionen bereits die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von körperlichen Beschwerden begünstigen können und damit auch pathogenetische Bedeutung erlangen. Hierdurch gelang erstmals die empirische Formulierung von DiatheseStress-Modellen auf der Basis nicht nur somatischer, sondern auch psychosozialer Vulnerabilitätsannahmen (Gatchel, Turk 1996). Eine konzeptionelle Schwäche der kognitiv-behavioralen Schmerzmodelle ist die ungenügende Einbeziehung psychophysiologischer Reaktionsmuster. Bemerkenswert ist auch, dass die Ergebnisse der kognitiven Psychologie nur unzureichend integriert wurden. Die kognitive Psychologie hat in den letzten Jahren theoretische Konzepte sowie experimentelle Verfahren zur Erfassung kognitiver Prozesse entwickelt, die noch mehr in die kognitiv-behavioralen Modellvorstellungen des Schmerzes einfließen könnten (Flor 1991).

Psychobiologisches Modell Im Unterschied zu den zuvor beschriebenen verhaltensorientierten Modellen spielen hier in viel stärkerem Maße biologische Faktoren (z.B. die genetische

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Belastung, neurobiologische Auffälligkeiten und somatische Vulnerabilität durch dysfunktionale körperliche Belastung bzw. Beanspruchung) eine Rolle. Als Beispiele seien hier das neurobiologische Mediatoren-Modell der kortikalen Überstimulation bei der Migräne (Gerber 1986) oder die kortikale Reorganisation der somatosensorischen Verarbeitung nach Amputation beim Phantomschmerz (Flor et al. 1995) angeführt. Auch die Ergebnisse der modernen Traumaforschung finden Eingang in psychobiologische Konzeptionen, zumal belegt werden konnte, dass insbesondere PatientInnen mit somatoformen Schmerzsstörungen eine deutliche erhöhte Häufigkeit an Traumatisierungen in der Kindheit aufweisen (Traue 1998). Durch die Einbeziehung intrapsychischer (gegenseitige Verstärkung kognitiver, affektiver und physiologischer) Faktoren und interpersoneller Beziehungsaspekte erscheint das psychobiologische Modell gegenwärtig als einziges geeignet, den Anspruch einer umfassenden, empirisch abgesicherten biopsycho-sozialen Konzeption chronischer Schmerzen zu erfüllen.

Durchführung Für die verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Behandlung steht eine Reihe von empirisch überprüften Interventionsverfahren zur Verfügung. Diese können als Einzelverfahren mit anderen schmerztherapeutischen Maßnahmen kombiniert werden (z.B. Entspannungsverfahren, Biofeedback-Verfahren). Weiters wurden von verschiedenen Arbeitsgruppen auch umfassendere, multimodale (d.h. durch Kombination mehrerer verhaltenstherapeutischer Verfahren) Schmerzbewältigungsprogramme etabliert: Exemplarisch seien hier erwähnt die Konkordanztherapie zur Behandlung chronischer Kopfschmerzen (Therapiemanual von Gerber et al. 1989) oder das psychologische Schmerzbewältigungsprogramm für Kopfund Rückenschmerzen (Therapiemanuale von Basler, Kröner-Herwig 1995). Diese oder ähnliche Programme setzen sich meist aus drei Behandlungsphasen zusammen: die psychoedukative Phase (Informationsteil), die übende Phase (Schmerzbewältigung) und die Transferphase (bzw. Praxisphase). In der Psychoedukation geht es vor allem um den Informationsaustausch zwischen Patienten und Therapeuten und die Förderung von Therapiemotivation im Sinne einer aktiven Veränderungserwartung. Die Patienten erhalten ausführliche Informationen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Schmerzen unter neurobiologischen und psychosozialen Gesichtspunkten. Die Therapeuten erhalten im Gegenzug eine Reihe wichtiger Informationen von den Patienten zur subjektiven Einschätzung der Schmerzursachen (Schmerzattributionen), zu Vorbehandlungen und individuellen Ressourcen. Ziel dieser einleitenden Behandlungsphase ist die schrittweise Erarbeitung eines bio-psycho-sozialen Schmerzmodells, das auch die Verbesserung der Selbstwirksamkeitserwartung („Ich selbst kann etwas tun“) und die Korrektur überzogener Heilungserwartungen an die Medizin („Die Anderen müssen etwas tun“) mit einschließt. Anstelle von Schmerzfreiheit als primäres Therapieziel tritt somit die Förderung von Eigenaktivität und Selbstkompetenz der Patienten im Umgang mit (chronischen) Schmerzen und deren Folgen („Hilfe zur Selbsthilfe“).

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Ansatzpunkt einer aktiven Schmerzbewältigung in der Übungsphase ist zunächst die Einflussnahme auf innere (Befürchtungen, Gefühle, Erinnerungen) und äußere (Stressoren) Schmerzauslöser im Sinne einer Präventivmaßnahme. Die Anleitung zur Selbstbeobachtung mit dem Ziel eines systematischen Erkennens und Bearbeitens individuell schmerzassoziierter Faktoren (sog. Verhaltensanalysen) lässt sich beispielsweise mittels Schmerztagebüchern fördern. Zentraler Ansatzpunkt der Schmerzbewältigung ist dann die Schmerzreduktion durch Anwendung verschiedener erlernbarer Techniken. Hierzu zählen Entspannungstechniken (z.B. die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson) und Selbstregulationstechniken (z.B. Biofeedback), Techniken zur aktiven (inneren und äußeren) Aufmerksamkeitslenkung (sog. „Fakirtechniken“: Wahrnehmungsübungen, Imaginationsübungen und Meditationstechniken) und Techniken der kognitiven Umstrukturierung (zur Modifikation schmerzverstärkender Gedanken und Einstellungen). Ein weiterer Behandlungsschwerpunkt aus operanter Sicht ist der Aufbau gesundheitsfördernder Maßnahmen, wie z.B. das (Wieder-)Erlernen von Genussfähigkeit, ein gestufter Aktivitätsaufbau und der sinnvolle Einsatz medikamentöser und anderer schmerztherapeutischer Verfahren (z.B. TENS), mit dem Ziel einer Reduktion von subjektiven Beeinträchtigungsgraden („pain disability“) und einer Förderung von Lebensqualität. Die während der Übungsphase im geschützten Umfeld der Therapie erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten werden in der anschließenden Transferphase systematisch im Alltag des Patienten eingesetzt. In Ergänzung zu den bereits angeführten Verfahren kommen hier häufig Verfahren zum Aufbau von sozialkompetentem Verhalten und zur Verbesserung der Fähigkeit zur Konfliktbearbeitung (z.B. Selbstsicherheitstraining, Problemlösetraining) zur Anwendung. Ziel dieser Interventionen ist die Förderung zufriedenstellender zwischenmenschlicher Beziehungen (Partnerschaft, Familie, Freundeskreis, Arbeitsplatz) und die schrittweise Entlastung des Schmerzgeschehens. Bei Patientengruppen, deren Schmerzgeschehen in engem Zusammenhang mit psychischen Störungen gesehen werden – z.B. bei posttraumatischen Veränderungen oder tiefgreifenden Beziehungsstörungen bzw. Störungen der kognitivemotionalen Entwicklung – ist neben dem Einsatz von Schmerzbewältigungsverfahren eine umfassendere psychotherapeutisch-psychosomatische Behandlung indiziert (Bach et al. 2001). Aus verhaltenstherapeutischer Sicht stehen hierfür beispielsweise der schematheoretische Ansatz unter Berücksichtigung erlebnisaktivierender, emotiver und interpersoneller Interventionen (Young 1990) sowie traumatherapeutische Konzeptionen (Maercker 2003) zur Verfügung.

Psychodynamische Therapie Allgemeiner Hintergrund Bereits Freud hat sein Konversionskonzept anhand einer Patientin mit chronischen Schmerzen entwickelt. Vor dem Hintergrund dieser triebtheoretischen

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Konzeption ist auch das häufig zitierte Werk von Engel (1959) zu sehen, in dem das Konzept einer Schmerzpersönlichkeit („pain-prone personality“) als Ursache für psychogene Schmerzsyndrome entworfen wurde. Die Anleihen bei einem cartesianischen Schmerzverständnis (somatischer versus psychogener Schmerz) werden hier deutlich. Demgegenüber widmen sich neuere psychodynamische Arbeiten vermehrt der Auseinandersetzung mit interpersonellen Aspekten des Schmerzes, der als Folge emotionaler Deprivation bzw. schwerwiegender frühkindlicher Traumatisierung gesehen wird. Unerfüllt gebliebene kindliche Versorgungs- und Abhängigkeitswünsche prägen dann die Beziehungsgestaltung im Erwachsenenalter. Diese werden auch im Rahmen von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen in der therapeutischen Beziehung manifest. Maßgebend für die therapeutische Arbeit mit Schmerzpatienten sind weiters die Ergebnisse der Säuglingsforschung und die daraus resultierenden bindungstheoretischen Konzeptionen (Egle, Hoffmann 1993). Demzufolge führt die frühe emotionale Deprivation zu einem unsicheren Bindungsverhalten und damit einer ängstlich-selbstunsicheren Grundpersönlichkeit, die durch übermäßige Leistungsorientierung und Überaktivität zu kompensieren versucht. Aktuelle Belastungen – sei es körperliche Krankheit, Unfälle, Verlust von Beziehungen oder inneren Konfliktsituationen – können zu einer Dekompensierung dieses fragilen Gleichgewichtes führen und sind somit schmerzauslösend. Psychoanalytisch orientierte Verfahren bearbeiten vor allem biographische Faktoren, die bereits vor dem Einsetzen des Schmerzes existierten. Die Deprivation in der Beziehung des Kindes zu den Eltern, ein rigider Erziehungsstil, körperliche Misshandlungen oder sexualisierte Gewalterfahrungen werden in diesem Zusammenhang häufig genannt.

Prinzip und Wirkmechanismen Ideengeschichtlich hat die psychoanalytische Tradition drei Erklärungsmodelle zur Entstehung von Schmerzen etabliert (Egle, Hoffmann 1993). Die drei Modelle der Schmerzgenese unterscheiden sich im Hinblick auf die Funktion, die der Schmerz innerhalb der Organisation der Persönlichkeit einnimmt.

Narzisstischer Mechanismus Synonym mit dem narzisstischen Modus wird häufig auch von der „psycho-prothetischen Funktion“ des Schmerzes gesprochen, die dieser für die Stabilisierung der Person annehmen kann. Der Schmerz verschafft dem Betroffenen Halt und Struktur. Zumeist handelt es sich um Personen mit Selbstwertmangel, die infantile Unverletzlichkeitsphantasien errichten und diese durch Härte gegen sich selbst und durch hohe Leistungsideale abzusichern suchen. Häufig sind es Unfälle oder plötzlich erforderliche Operationen, die diese Unverletzlichkeitsillusion zerstören und die Person im Kern verunsichern. Die im folgenden auftretende Hilflosigkeit hat in aller Regel Vorläufer in harten, teils traumatisierenden Kind-

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heitsbedingungen, die nie wirklich bewältigt, aber in der beschriebenen Weise behelfsmäßig kompensiert worden waren. Die Arzt-Patient-Beziehung ist von abwechselnder Idealisierung und Enttäuschung charakterisiert.

Konversionsmechanismus Der Konversionsmechanismus ist das am häufigsten verwendete tiefenpsychologische Erklärungsmodell für die Schmerzentstehung. Grundlage dieses Modells ist die Annahme von inneren Konflikten, die durch körpersprachliche Symbolisierung ausgedrückt werden. Der Begriff „Konversion“ drückt die Umwandlung eines psychischen Konfliktes in das körperliche Symptom aus, wodurch es zu einer Konfliktentlastung kommt. Im Symptom wird etwas zum Ausdruck gebracht, was auf anderem Wege nicht kommuniziert werden kann. Durch konversionsneurotische Schmerzen wird häufig folgendes ausgedrückt: Schmerz als Entlastung von Schuldgefühlen (Selbstbestrafung), als Identifikation mit einer wichtigen Person (Modell), als Darstellung der schmerzhaft erlebten Vergangenheit (z.B. Misshandlungen), als Entlastung von aktuellen schmerzhaften Affekten (z.B. Kränkungen), oder als Erhaltung eines bedrohten sozialen Bezugs (z.B. Schmerz statt Depression). Die Konversion unterscheidet sich von anderen Typen der Schmerzgenese auch dadurch, dass sie eine kreative, ein hohes psychisches Strukturniveau voraussetzende Leistung darstellt. Dementsprechend ist sie auch dem traditionellen analytischen Vorgehen eher zugänglich. In der therapeutischen Beziehung wird die Problematik mit starkem handlungsmotivierenden Appell spürbar. Der Gesprächspartner ist gewöhnlich affektiv involviert, weshalb man als Therapeut leicht zu einem Teil der Inszenierung wird.

Schmerz als Affektäquivalent Psychovegetative Syndrome kommen auch zustande, wenn der seelische Aspekt von Affektzuständen aus bestimmten Gründen seine handlungs- bzw. erlebensleitende Bedeutung verliert. In der frühen Persönlichkeitsentwickung werden angeborene Affekte anfangs als körperlich erlebt und erst später zu Gefühlen entwickelt und differenziert. Dieser Vorgang wird als Desomatisierung bezeichnet. Man könnte auch von der „Psychisierung“ von Affekten sprechen, die eng mit der Sprachentwicklung und der Fähigkeit zur Verbalisation von Gefühlen einhergeht. Dennoch bleibt auch im Erwachsenenalter ein gewisses Maß an körperlicher Begleitreaktion insbesondere bei heftigem emotionalen Erleben (z.B. Stresssymptome bei Angst). Durch frühkindliche Traumatisierung oder Ausbleiben von Prägungsvorgängen kann es zu einer Störung dieser Persönlichkeitsentwicklung und zur affektiven Desintegration kommen, es bleibt eine unzureichende Desomatisierung und ungenügende Verbalisationsfähigkeit von Gefühlen. In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff der Alexithymie (wörtlich: „Keine Worte für Gefühle“) eingeführt zur Beschreibung des Unvermögens,

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emotionales Erleben in Form von Gefühlen subjektiv zu erleben und dies auch zu kommunizieren („emotionale Hilflosigkeit“). Diese spezifische Störung der Affektregulation führt dazu, dass alexithyme Menschen im Falle heftiger Gefühlsregungen körperliche Begleitreaktionen wie abgekoppelt vom Erleben empfinden. Die somatische Erregungskomponente des Affekts bekommt dann ein Übergewicht und alle Aufmerksamkeit wird auf diese Symptome gerichtet, die Betroffenen „somatisieren“. Im Gegensatz zum Konversionsmodell, das eine reife Ich-Struktur voraussetzt, beruht dieses Konzept eher auf einem Defizitmodell, d.h. auf dem (entwicklungsgeschichtlich bedingten) Unvermögen, Affekte in adäquater Form zu verarbeiten.

Durchführung Die emotionale Einsicht in die eigenen unbewussten handlungs- und erlebensleitenden Motive wurde lange als der therapeutische Wirkfaktor schlechthin angenommen. Die Dynamik intrapsychischer Konflikte galt als Grundlage seelischer Äußerungen. In neueren Diskussionen wird nun auch die therapeutische Beziehungserfahrung den Wirkfaktoren zugeordnet. Systemische und neurobiologische Prozesse werden stärker berücksichtigt und auch die Erkenntnisse aus der Bindungs- und Säuglingsforschung fließen in die psychodynamische Arbeit ein. Als Therapieziele der psychodynamisch orientierten Schmerztherapie lassen sich formulieren (Nickel, Egle 1999): 1. Der Patient erlangt ein Verständnis seiner Schmerzsymptomatik als einen unbewussten Versuch einer biographischen Sinngebung. 2. Es werden Triebkonflikte zu Sexualität und/oder Aggression und Selbstwertprobleme bearbeitet und bewusst gemacht. 3. Verinnerlichte Objektbeziehungen (Identifikationen) können durch unbewusste Bindungen und Aufträge am Schmerz verhaftet sein. Die Bearbeitung dieser führt zur Klärung von derartigen Verbindungen. Generell haben in der psychodynamischen Behandlung somatoformer Schmerzpatienten Manifestationen der Biografie, das heißt frühere Beziehungserfahrungen der Patienten in aktuellen Beziehungen, eine entscheidende Bedeutung. Die häufig sehr schlechten Erfahrungen zeigen sich in der Interaktion und den Übertragungs-/Gegenübertragungsreaktionen innerhalb des Einzel- oder Gruppensettings. Die spezifischen Wirkmechanismen der psychodynamisch-interaktionellen Therapie sind die Symptomklage (Raum für Beschwerden und Beeinträchtigungen), die inkohärente Kommunikation (Fehlende Symbolisierungsfähigkeit, kommunikative Integration), die Schmerz-Affekt-Differenzierung (Differenzierung der Akzeptanz erwünschter Affekte und der Ablehnung unerwünschter Affekte sowie des Symptoms/Schmerzes) und die Stabilisierung bzw. der Kohärenzsinn (Entwicklung einer kohärenten Kommunikation und eines kohärenten Selbstgefühls). Darüber hinaus integrieren moderne psychodynamische Konzep-

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tionen eine Reihe von Interventionstechniken aus anderen Therapieschulen, z.B. aus der Verhaltenstherapie die Strukturierung der Selbstwahrnehmung mittels Symptomtagebüchern oder die Vermittlung von Psychoedukation und Selbstmanagement.

Effektivität von Psychotherapie in der Schmerzbehandlung Mittlerweile liegen zur Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer und psychodynamisch orientierter Schmerzbehandlungsansätze zahlreiche empirische Studien vor. Erfolgsquoten von bis zu 60% und mittlere Effektstärken weisen eine Wirksamkeit für psychotherapeutische Verfahren aus, die vergleichbar ist beispielsweise der Schmerztherapie mittels Opioiden (Flor et al. 1992; Nickel, Egle 1999; Kröner-Herwig 2006). In Kosten-Effektivitäts-Studien wird die Psychotherapie zur Behandlung chronischer Schmerzen nicht nur als effektive, sondern auch als zeit- und kostenökonomische Behandlungsform ausgewiesen (Hildebrandt, Pfingsten 1999). Im Zuge der Diskussion um unterschiedliche konzeptionelle Zugänge zur Psychotherapie chronischer Schmerzen – bekannt als „Schulenstreit“ der Vertreter einzelner Therapierichtungen – wird immer wieder die Frage nach Differentialindikation und differentieller Therapie diskutiert. Hier ist kritisch anzumerken, dass beispielsweise die Frage: „Verhaltenstherapie oder Psychodynamische Psychotherapie bei chronischem Schmerz“ allein schon durch die Komplexität von Schmerzsyndromen hinsichtlich ihrer Ätiologie und der an ihrer Aufrechterhaltung beteiligten Prozesse zur kaum lösbaren Aufgabenstellung wird, zumal direkte Vergleichsstudien unterschiedlicher psychotherapeutischer Maßnahmen zur Schmerzbehandlung bislang weitgehend fehlen (Nickel 2006). Eine Differentialindikation für einzelne Therapiemaßnahmen lässt sich daher beim gegenwärtigen Wissensstand nur spekulativ erstellen. Als Alternative bietet sich hier der eklektische Brückenschlag zwischen verschiedenen Therapierichtungen in Richtung schulenübergreifender Psychotherapie an. Mehrere Arbeiten in jüngster Zeit liefern Hinweise, dass sich die Psychotherapie chronischer Schmerzen in Richtung einer störungsspezifischen, schulenübergreifenden Behandlungsform hinentwickelt, die sich auf die Erkenntnisse der empirischen Grundlagen- und Anwendungsforschung unterschiedlichster Fachbereiche beruft (Nickel 2006; Bach 2006).

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Entspannungsverfahren in der Schmerztherapie unter besonderer Berücksichtigung des Biofeedback W. P I P A M

Einleitung Ein geflügeltes Wort beschreibt Entspannungsübungen als das „Aspirin“ der psychologischen Methoden in der Schmerztherapie. Entspannungsübungen scheinen für „vieles und alles gut“ zu sein. Betrachtet man den klinischen Alltag, so findet man dort tatsächlich eine Vielzahl von Entspannungsverfahren, die in der Therapie von Schmerzpatienten eingesetzt werden. Traditionelle Ansätze wie das Autogene Training und die progressive Muskelentspannung wechseln sich hier mit neueren Ansätzen zur Aufmerksamkeitslenkung und Achtsamkeitsübungen ab, die Methodenvielfalt ist enorm, der Überblick über einzelne Übungen kaum mehr bewältigbar. Entspannungsverfahren gehören aber auch zu den gut untersuchten Methoden in der Psychotherapie und ihre Wirksamkeit ist dementsprechend auch gut belegt (vgl. Vaitl, Petermann 2004). Auf folgende Entspannungsverfahren wird näher eingegangen: – – – – – –

Biofeedback progressive Muskelentspannung autogenes Training Hypnose imaginative Verfahren Achtsamkeit und Meditation

Grundlagen und Wirkfaktoren Die meisten Entspannungsübungen basieren auf dem Grundprinzip der Interozeption. Wenn Menschen in einen Dialog mit ihrem eigenen Körper treten,

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entfallen weitestgehend äußere Einflüsse, die sonst über die Sinneskanäle wahrgenommen werden. Signale aus dem Körperinneren erhalten erst somit die Möglichkeit, sich deutlich bemerkbar zu machen. Die Wahrnehmung und die Empfindung von körpereigenen Signalen wird somit zum Indikator dafür, ob eine Entspannungsübung gelingt. Entspannungsmethoden sind in ihrer Anlage natürlich übende Verfahren, sodass es in jeder Phase des Entspannungsprozesses zu Körpersensationen kommt. Diese Körperempfindungen sind aber nicht immer nur angenehm, es kann auch zu Sensationen kommen, die von den Übenden als störend oder auch ängstigend erlebt werden. Diesbezüglich ist es wichtig, dass der Therapeut über die Psychophysiologie der Interozeption bescheid weiß (Vaitl 2004). Gelingen Entspannungsübungen, können Sie in mehrfacher Hinsicht wirksam sein: – Entspannung wirkt beruhigend: Spannungs- und Erregungszustände, die häufig mit Schmerzen einhergehen, werden verringert und die damit verbundene Stressreaktion mit ihren körperlichen und psychischen Begleiterscheinungen wird gemildert. – Durchbrechen des Circulus vitiosus: Entspannungsübungen ermöglichen eine Unterbrechung des Teufelskreises aus Schmerzen und Muskelspannung, welche sich gegenseitig aufschaukeln und zu einem dauerhaft erhöhten Muskeltonus führen können. – Verbesserung der Wahrnehmung und Konzentration: Die Durchführung von Entspannungsübungen ist immer auch eine gezielte Lenkung von Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsprozessen. Dadurch ist es zum Einen möglich, störende Alltagsreize gezielt abzublocken bzw. die Schmerzwahrnehmung in den Hintergrund treten zu lassen. – Verbesserung der Selbstkontrolle: Entspannungsübungen fördern auch den Erwerb von Eigenkompetenz und Selbstwirksamkeit. Die Übenden erfahren das Gefühl der Kontrolle über verschiedene Körperfunktionen und auch über die eigenen Gedanken (vgl. Glier 2002; Petermann, Vaitl 2004).

Biofeedback Eines der faszinierenden Kapitel der Psychophysiologie stellt die Beeinflussung von Körpervorgängen aufgrund von Lernprozessen dar. So bekannten Therapieverfahren wie dem autogenen Training oder der Meditation bescheinigte man bestenfalls eine Wirkung auf das seelische Wohlbefinden, nicht aber auf Körperprozesse. Erst der Einsatz von Computertechnologie ermöglichte eine genaue Registrierung und Rückmeldung von Körpersignalen. So kam es in den 1960er Jahren zu einem wahren Biofeedback-Boom. Da der Umgang mit den Apparaturen aber damals sehr aufwändig war und die Messungen häufig artefaktgestört, blieb es bei der Anwendung in wenigen Labors und der Transfer in den klinischen Alltag fand kaum statt.

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Durch die Verbesserung der Computertechnologie und der technischen Messvoraussetzungen kam es in den 1990er Jahren zu einer wahren Renaissance des Biofeedback. Mittlerweile blicken wir auf eine mehr als 30jährige Erfahrung in der Grundlagen- und Anwendungsforschung zurück. Das Biofeedback ermöglicht es nun, kognitive Prozesse, Emotionen und Körpersignale in ein Gesamtbild zu integrieren. Patienten können somit eine Brücke von seelischen Prozessen zu körperlichen Reaktionen schlagen.

Was ist Biofeedback? Biofeedback beschreibt ein Verfahren, bei dem physiologische Prozesse, die nur sehr schwer oder ungenau durch Sinnesorgane erfasst werden, der bewussten Wahrnehmung zugänglich gemacht werden. Diese Körperprozesse werden kontinuierlich aufgezeichnet und dem Patienten optisch oder auch akustisch zurückgemeldet. Positive Änderungen dieser Funktionen werden systematisch verstärkt, sodass Patienten lernen, diese Funktionen zu beeinflussen.

Welche physiologischen Funktionen sind durch Biofeedback beeinflussbar? Eine Vielzahl von Körperfunktionen ist beeinflussbar, die nachfolgende Aufstellung zeigt die gängigsten Funktionen, deren Beeinflussung in der Therapie derzeit die besten Ergebnisse bringt (vgl. Rief, Birbaumer 2000): – – – – – – – –

periphere Durchblutung Muskelaktivität Atemfunktionen Blutdruck Durchmesser von Blutgefäßen Hauttemperatur elektrophysiologische Prozesse des Gehirns Schweißdrüsenaktivität als allgemeines Maß für autonome Erregung

Notwendige Ausstattung für eine Biofeedback-Therapie Der Patient sitzt üblicherweise in einem bequemen Entspannungsstuhl mit guter Sicht auf den Bildschirm. Die Registrierung der Körpersignale, deren Verarbeitung und Wiedergabe an den Patienten erfolgt computergesteuert. Der Patient ist Teil eines Regelkreises. Je nachdem, welche Körperfunktion rückgemeldet wird, gibt es unterschiedliche Ableitungsmöglichkeiten. Ein Mehrfachsensor, der am Ringfinger der nicht dominanten Hand angelegt ist, misst mehrere Parameter gleichzeitig: Hauttemperatur, Hautleitwert, Pulsfrequenz, Pulsamplitude, Pulskurve.

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Ein Vasosensor registriert den Puls und das Blutvolumen an anderen Körperstellen, ein Atemsensor/Atemgürtel misst die Atemkurve, die Atemfrequenz und die Atemtiefe. Oberflächenelektroden zur Ableitung des Elektromyogramms (EMG) werden auf der Hautoberfläche über den zu registrierenden Muskel geklebt. EEG-Elektroden werden zur Aufzeichnung elektrischer Strömungen im Gehirn verwendet, Anal-Vaginal-Sensoren, die auf EMG Basis beruhen, werden zur Therapie der Inkontinenz eingesetzt.

Biofeedback in der Schmerztherapie (siehe auch S. 107–115) Es lassen sich störungsübergreifende und störungsspezifische Anwendungsmöglichkeiten unterscheiden.

Störungsübergreifende Anwendungsmöglichkeiten Vermitteln eines psychophysiologischen Stressmodelles Ziel: Der Patient soll den Zusammenhang zwischen Stressoren und den körperlichen Reaktionen darauf erkennen lernen. Die Wahrnehmung körpereigener Prozesse (Interozeption) wird durch die direkte Rückmeldung physiologischer Prozesse verbessert und gezielt geschult. Körperfunktionen (Messparameter): elektrodermale Aktivität (Hautleitwert), Herzrate (Pulsfrequenz), periphere Durchblutung (Pulsvolumenamplitude).

Entspannung Ziel: Vermittlung von Entspannungsreaktionen bzw. Verbesserung und Vertiefung bereits gelernter Entspannungsstrategien zum Erwerb einer gesamtorganismischen Entspannungsreaktion. Körperfunktionen (Messparamer): Atmung (Atemfrequenz, Atemamplitude), Herzrate (Ruhepuls).

Störungsspezifische Indikationsstellungen Spannungskopfschmerz Bei der Genese des Spannungskopfschmerzes spielen muskuläre Verspannungen eine zentrale Rolle, wenn sie auch das Schmerzgeschehen nicht vollständig er-

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klären können. Dumpfe und drückende Schmerzen verweisen auf myogene Kopfschmerzen, die dann entstehen, wenn die Kopf- und Nackenmuskulatur mehr Muskelarbeit leisten muss, als sie durch Erholungsprozesse kompensieren kann (Schwartz 1995). Ziel: Erfassung und Reduzierung der Muskelspannung im Kopf- und Nackenbereich, die für die Entstehung der Schmerzen verantwortlich gemacht wird. Ableitungsorte: Elektromyogramm des M. frontalis, M. masseta, M. trapezius. Eine Kombination mit einer allgemeinen Entspannung erweist sich als sinnvoll.

Migräne Die Genese der Migräne ist ebenfalls nicht vollständig geklärt. Der pochende und hämmernde Kopfschmerz weist auf eine pathophysiologische Veränderung der Temporalis-Arterie während eines Migräneanfalls hin. Zwei Therapieansätze haben sich hier bewährt: 1. Vasokonstriktionstraining Ziel: Die Patienten lernen den Dehnungszustand ihrer Blutgefäße zu beeinflussen und während eines Migräneanfalls die Schläfenarterie zu verengen und somit den Schmerz zu reduzieren. Ableitungsort: Der Blutfluss der Temporalis-Arterie wird mit hochsensiblen Sensoren (Photoplethysmographen) gemessen und dem Patienten am Bildschirm als Kreisring, dessen Durchmesser zu beeinflussen ist, rückgemeldet. 2. Handerwärmungstraining Ziel: Steigerung der Fingertemperatur aufgrund eines verbesserten Blutdurchflusses in der Peripherie, die auch gleichzeitig die allgemeine Entspannung anzeigt. Ableitungsort: Temperatursensor an der Fingerkuppe. Beide Verfahren können auch miteinander kombiniert werden.

Rückenschmerzen Bewährt hat sich der Einsatz von Biofeedback vor allem bei „low back pain“, also Schmerzen von zumeist muskulärer Genese. Hier findet sich häufig eine musku-

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läre Insuffizienz, die durch Schonhaltung, Inaktivität, Bewegungsmangel oder auch ständige Überbelastung der Wirbelsäule wie zum Beispiel durch chronischen Stress hervorgerufen wird. Behandlungsschritte: – Vermittlung eines psychophysiologischen Stressmodells, verbunden mit gezielter Information der Patienten über die Anatomie und Physiologie des Rückens. – Erstellung eines psychophysiologischen Stressprofiles, da RückenschmerzPatienten häufig dazu neigen, auf emotional bedeutsame Stressoren mit einem deutlichen Anstieg der EMG-Werte im LWS-Bereich zu reagieren. Ziel: Aufzeigen des Zusammenhanges zwischen emotionalem Stress und Anstieg der Muskelaktivität und Reduktion des erhöhten Muskeltonus, weiterführend auch die Aufgabe der Schonhaltung und Inaktivität. Ableitungsort: EMG im Bereich der LWS, auf beiden Seiten der Rückenmuskulatur.

Morbus Raynaud Durch eine anfallsartig auftretende pathologische Vasokonstriktion der peripheren Arterien der Hände und Finger kommt es zu schmerzhaften ischämischen Zuständen. Verbunden damit ist ein auffallender Abfall der peripheren Hauttemperatur. Ziel: Verbesserung der peripheren Wärmeregulation durch Hauttemperatur-Biofeedback. Ableitungsort: Wärmesensor an der Fingerkuppe. Es erweist sich als sinnvoll, störungsunspezifische und störungsspezifische Anwendungen zu kombinieren, da eine verbesserte Entspannungsreaktion und eine verbesserte Interozeption auch bei speziellen Störungsbildern einen Therapieerfolg steigern.

Weitere Anwendungsmöglichkeiten von Biofeedback Neben den Anwendungen in der Schmerztherapie gibt es noch gute Belege für den Einsatz von Biofeedback bei folgenden Erkrankungen (vgl. Rief, Birbaumer 2000): – Inkontinenz und Obstipation – neuromuskuläre Rehabilitation

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– Angststörungen – somatoforme Störungen – Tinnitus

Durchführung einer Biofeedback-Therapie Je nach Indikationsstellung ist die Zahl der Therapiesitzungen unterschiedlich. Für die Vermittlung eines psychophysiologischen Stressmodells werden nicht mehr als 1–2 Sitzungen benötigt, für das Erlernen einer gezielten Entspannung beträgt die Sitzungshäufigkeit zwischen 5 und 10 Sitzungen. Das EMG-Feedback bei Spannungskopfschmerzen und das Vasokonstriktionstraining bei der Therapie der Migräne benötigen in der Regel 10–15 Sitzungen. Die Sitzungen haben alle einen ähnlichen Aufbau, die Atmosphäre soll angenehm gestaltet werden, da die Patienten beim Versuch körperliche Funktionen wesentlich zu beeinflussen, nicht unter Leistungsdruck kommen sollen.

Wirkfaktoren bei der Biofeedback-Therapie Setzte man früher Biofeedback mit Entspannung gleich, weiß man heute, dass neben der erlernten Beeinflussung von Körperfunktionen auch psychische Prozesse wie eine erhöhte Selbstwirksamkeitserwartung und verbesserte Kontrollüber-zeugungen einen wichtigen Ausschlag für den Therapieerfolg geben. Zahlreiche kontrollierte Therapiestudien haben den positiven Effekt von Biofeedback nachgewiesen (Fichter 2000). Ein weiterer Wirkungsaspekt ist die hohe Akzeptanz des Biofeedback bei Patienten. Rief und Birbaumer (2000) beschreiben, dass beinahe 90% von über 1600 befragten Patienten einer Klinik die Biofeedback-Behandlung als hilfreich oder sehr hilfreich bewerteten. Die Behandlung mittels Biofeedback erweist sich im klinischen Alltag praktisch als nebenwirkungsfrei.

Welche Voraussetzungen sind für eine erfolgreiche Behandlung notwendig? – Eine klare Indikationsstellung – Geeignete Messgeräte, die eine exakte und artefaktfreie Erfassung der Körperfunktionen ermöglichen – Eine Software, die eine patientennahe Rückmeldung gewährleistet – Gut ausgebildete und engagierte Therapeuten

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Progressive Muskelentspannung Die Methode der progressiven Muskelentspannung geht auf den amerikanischen Physiologen Edmund Jakobsen zurück und wird von diesem im Jahr 1929 beschrieben. Die moderne und erweiterte Form stammt von den Autoren Bernstein und Borkovec (1992). Das Ziel des Entspannungsverfahrens ist die willentliche, kontinuierliche Reaktion der Spannung einzelner Muskelgruppen des Bewegungsapparates. Der Schwerpunkt liegt auf der willentlichen Beeinflussung, auf Suggestiv-Formeln wird weitestgehend verzichtet.

Wie wird die progressive Muskelentspannung durchgeführt? Das Wirkprinzip besteht im Wesentlichen aus einer sukzessiven, bewussten Anspannung verschiedener Muskelgruppen mit nachfolgender bewusst wahrzunehmender Lockerung. Diese Methode ist recht leicht erlernbar, sollte aber um den geeigneten Erfolg zu erzielen täglich wiederholt werden. Es existieren verschiedene Formen der progressiven Muskelentspannung. Einer Langform von. ca. 90 min steht auch eine kürzere Form mit einem Zeitraum von 20–30 min gegenüber. Während der Übung konzentrieren sich die Patienten auf die angegebene. Muskelgruppen und spannen sie spürbar bis ca. 10 sec. lang an und versuchen auch, diese Spannung bewusst wahrzunehmen. Danach wird die Muskelgruppe gezielt entspannt, indem losgelassen wird, auch hier soll die Entspannung bewusst wahrgenommen werden.

Reihenfolge der Muskelgruppen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

Dominante Hand und Unterarm Dominanter Oberarm Nicht dominante Hand und Unterarm Nicht dominanter Oberarm Stirn Obere Wangenpartie und Nase Untere Wangenpartie und Kiefer Nacken und Hals Brust und Rücken Bauchmuskulatur Dominanter Oberschenkel Dominanter Unterschenkel Dominanter Fuß Nicht dominanter Oberschenkel

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15. Nicht dominanter Unterschenkel 16. Nicht dominanter Fuß Bei regelmäßiger Übung ist die Entspannungsreaktion ca. nach einem Monat ausreichend konditioniert, man fasst dann die Muskelgruppen in Bereiche zusammen und trainiert nur mehr die Anspannung und Entspannung der Arme, des Kopfes, des Rumpfes und der Beine. Hauptindikationsgebiete in der Schmerztherapie sind vor allem Spannungskopfschmerzen, Rückenschmerzen sowie Migräne. Vor allem in der Behandlung des Spannungskopfschmerzes gibt es beeindruckende Erfolge (Blanchard et al. 1982). Wichtig ist es bei der Arbeit mit Patienten auf eventuelle körperliche Beeinträchtigungen einzugehen und solche Muskelgruppen gesondert zu behandeln oder auch einfach ausfallen zu lassen. Eine moderne Erweiterung dieser Methode, die sich in den letzten Jahren zunehmend etabliert hat, besteht in der „angewandten Entspannung“ von Öst (1987).

Autogenes Training Das autogene Training stellt neben der progressiven Muskelentspannung eine der bekanntesten Entspannungsmethoden dar. Entwickelt wurde diese Methode von dem Berliner Nervenarzt J. H. Schultz (1884–1970). Das autogene Training ist ebenfalls ein übendes Verfahren, und es handelt sich hierbei um eine konzentrative Selbstentspannung. Schultz (1973) unterscheidet drei Übungskomplexe: 1. psychophysiologische Standardübungen (6 Unterstufen-Übungen) 2. meditative Übungen (sog. Oberstufen-Übungen) 3. spezielle Übungen Im klinischen Alltag kommen vorwiegend die Unterstufen-Übungen vor.

Wie wird das autogene Training durchgeführt? Vor allem die Unterstufen-Übungen sind in ihrem Aufbau klar verständlich, gut nachvollziehbar und leicht lehr- und erlernbar. Geübt wird einzeln oder in kleinen Gruppen, wichtig ist der Hinweis, dass die Effekte nicht spontan auftreten, sondern einer längeren Übung bedürfen. Es ist auch nicht immer von Vorteil, den Übenden genau die Funktionsweise zu erklären, statt dessen sollten sie ihren eigenen Erfahrungen überlassen werden und diese sollten im Anschluss an die Übung in der Gruppe ausführlich besprochen werden. Die 6 Unterstufen-Übungen sind nach einem sehr einfachen Schema aufgebaut, die Übenden sprechen gleichsam im Geiste bestimmte Formeln vor, deren

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Form, Inhalt und Abfolge einem einfachen Schema folgen. Die Inhalte der so genannten Formen beziehen sich direkt auf einen physiologischen Effekt, z.B. „der rechte Arm ist ganz warm“. Der Inhalt der Formel betont nicht eine aktive und zielgerichtete Reaktion der Patienten, sondern eher eine passive, mehr auf den Zufall ausgerichtete Einstellung gegenüber den körperlichen Reaktionen. Auch sollten die Formeln keine Negationen enthalten (Vaitl 2004).

Standardformen der Unterstufen-Übungen Schwere-Übung: „der rechte Arm ist ganz schwer“(Schwere empfinden). Diese Formel kann auf den linken Arm und auf beide Beine erweitert werden. Wärme-Übung: „der rechte Arm ist warm“ (Wärme empfinden). Diese Formel kann auch auf den linken Arm, beide Arme und beide Beine erweitert werden. Herz-Übung: „das Herz schlägt ruhig und gleichmäßig“ (Wahrnehmung des Herzschlages). Atem-Übung: „…“ (Wahrnehmung der Atmung). Sonnengeflecht-Übung: „Sonnengeflecht strömend warm“ (Wärmeempfindungen im Bauchraum). Stirnkühle-Übung: „Stirn angenehm kühl“ oder „Kopf leicht und klar“ (Empfindung von Kühle und Frische im Stirnbereich).

Indikationsstellung für das autogene Training Ursprünglich wurde vom Begründer der Indikationsbereich sehr weit gestellt, sodass es bei jedem möglichen Problem und jeder Erkrankung angewendet wurde. Dies führte aber sehr häufig zu einer hohen Zahl von Abbrechern, da das Erlernen der Methode zu unspezifisch war. Fasst man die Indikationsstellung enger, zeigen sich gute Ergebnisse bei Kopfschmerzen vom Spannungs- und Migränetyp, bei Rückenschmerzen und bei der somatoformen Schmerzstörung. Über den Schmerzbereich hinaus zeigen sich Effekte bei leichter bis mittelgradiger Hypertonie sowie bei koronaren Herzerkrankungen. Kontraindikationen gibt es nur wenige, zum Einen, wenn das Wahrnehmen von körperlichen Veränderungen aufgrund von plötzlich auftretendem Herzrasen, Zittern oder Schweißausbrüchen führt und somit bei den Übungen Angst ausgelöst wird, zum Anderen bei Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis, wo es um das Problem der Selbstkontrolle geht. Eine weitere Kontraindikation liegt dann vor, wenn es Übenden einfach nicht gelingen will, das autogene Training überhaupt zu erlernen.

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Hypnose (siehe auch S. 115–129) Aus Untersuchungen wissen wir, dass die Empfindung von Schmerzen über zentralnervöse Prozesse wie Aufmerksamkeit und Erwartung beeinflusst werden. Aus der Literatur können zahlreiche Erfahrungsberichte angeführt werden, so wird z.B. von Soldaten berichtet, die trotz schwerer Schussverletzungen im Gefecht keinen Schmerz verspürten, da während des Kampfes keine Aufmerksamkeit übrig blieb, den Schmerz wahrzunehmen. Oder die Mutter, die ihre eigenen schlimmen Schmerzen vergisst, wenn sie sieht, dass ihr Kind in großer Gefahr schwebt oder verletzt ist. Solche Arten der Schmerzbewältigung kommen im Alltag in Situationen vor, in denen der Schmerz durch intensivere Reize anderer Art aus dem Bewusstsein verdrängt wird. Andere Beispiele stellen auch noch Zahnschmerzen dar, die auf dem Weg zum Zahnarzt verschwinden oder Kopfschmerzen, die während eines spannenden Filmes nicht bemerkt werden. Über das Erleben der Trance in der Hypnose ist es möglich, Prozesse der Aufmerksamkeit und der Erwartung zu beeinflussen und eine Dämpfung der Sympathikuserregung zu bewirken.

Was ist Hypnose? Mit der Methode der Hypnose wird ein veränderter Bewusstseinszustand, der Trance genannt wird, hervorgerufen. Dieser Bewusstseinszustand ist gekennzeichnet durch subjektive Veränderungen und beobachtbare physiologische Prozesse. Zu den subjektiv wahrgenommenen Veränderungen gehören Veränderungen der Körperwahrnehmung, Trance-Logik (Toleranz gegenüber logischen Widersprüchen), Zunahme der Vorstellungsaktivität, veränderte Zeitwahrnehmung, größere Emotionalität, Verbesserung dissoziativer Prozesse, erhöhte Suggestibilität. Zu den physiologisch beobachtbaren Veränderungen gehören hirnphysiologische Veränderungen, die mit einer Zunahme der Theta-Aktivität verbunden sind. Weiters sind Auswirkungen auf das autonome Nervensystem nachweisbar, wobei es zu einer Dämpfung in der Sympathikuserregung kommt sowie zu einer entsprechenden Veränderung von autonomen Reaktionen wie Atemfrequenz, Blutdruck, Temperatur. Die subjektiven und physiologischen Veränderungen lassen sich nur mit der Methode der Hypnose erreichen, sondern auch mit anderen Verfahren wie autogenem Training, Meditation, Imagination. Die Art und Weise, wie Hypnosetherapie Trance einsetzt, unterscheidet sich allerdings von den anderen Ansätzen.

Traditionelle Hypnose und moderne Hypnose In der traditionellen Hypnose wird Trance als ein veränderter Bewusstseinszustand verstanden, der zu einer beabsichtigten erhöhten Suggestibilität des Pati-

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enten führt. In diesem Zustand sind Suggestionen von besonderer Wirkung und wirken auch späterhin im Alltag nach. Häufig wird rein symptomorientiert gearbeitet und versucht, mit direkten Suggestionen Erleben und Verhalten zu verändern. In der klassischen Hypnose kommt der Autorität des Hypnotiseurs große Bedeutung zu, die Rolle des Patienten ist eher passiv. Die moderne Hypnose bedient sich hingegen vorwiegend indirekter, auf den Patienten individuell abgestimmter Interventionsmethoden, wichtig ist dabei vor allem der Zugang zum emotionalen Erleben des Patienten. Es wird weniger Wert auf Implementierung von Suggestionen gelegt, Ziel ist vielmehr, die in der Trance auftretenden belastenden Gefühle des Patienten, die an inadäquatem Verhalten und dysfunktionalen Kognitionen beteiligt sind, zu bearbeiten. Dabei wird besonderer Wert auf die Nutzung der Ressourcen, d. h. der positiven eigenen Erfahrungen des Patienten gelegt und diese für Veränderungen nutzbar gemacht (Utilisation). Die Planung ist somit nicht rein symptomorientiert, sondern eine tatsächliche ursächliche Behandlungsmethode, die die Bedeutung des Symptoms und dessen lebensgeschichtliche Einbettung berücksichtigt.

Wie hilft Hypnose bei Schmerzzuständen? – Hypnose kann Schmerzen eliminieren oder wenigstens beträchtlich reduzieren helfen. – Die Hypnotherapie erfolgt ohne das Auftreten von Nebenwirkungen, es kommt somit zu keiner Steigerung der Schmerzschwelle, die so ihren Abwehrwert für den Rest des Organismus weiter behält. – Es erfolgt keine Reduktion des Aktivitätsniveaus. – Hypnose kann die Wirkung anderer eingesetzter Behandlungsformen verstärken. – Die Technik der Hypnose kann vom Patienten auch in Form von Selbsthypnose erlernt werden, daraus ergibt sich ein hohes Vertrauen in die Behandlungsmethode. – Patienten können unmittelbar einen angenehmen Zustand erleben (vgl. Springer 2002). Der Einsatz von Hypnose in der Schmerztherapie verlangt mehr als die einfache Anwendung einer Induktionstechnik und darauf folgender schmerzreduzierender Suggestionen. Gefragt ist eine einfallsreiche Integration im Rahmen einer weiter ausholenden psychologischen Intervention. Patienten erlangen dadurch, dass sie in der Hypnose gewöhnlich unwillkürliche physiologische Funktionen zu kontrollieren versuchen und kognitive sowie perzeptive Veränderungen ausprobieren, eine bessere Kontrolle der Schmerzwahrnehmung. Die Möglichkeit der Schmerzkontrolle durch Hypnose entsteht nicht durch Entspannungseffekte, sie unterscheiden sich auch von kognitiven Strategien der Schmerzkontrolle. Wesentlich für den Therapieerfolg ist der veränderte Bewusstseinszustand, der durch die Hypnose induziert wird sowie die sensorischen und affektiven Veränderungen.

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Besondere Anwendung findet die Hypnose in der zahnärztlichen Praxis, in der Geburtshilfe, als Analgetikum bei kleineren chirurgischen Eingriffen wie z.B. bei schmerzhaften Interventionen bei Kindern. Eine weitere Indikation stellt die Behandlung von schweren Verbrennungen dar sowie Einsatz bei posttraumatischen Schmerzen, postoperativen Schmerzen, Phantomschmerzen, Kopfschmerzen, Gesichtsschmerzen.

Hypnose bei chronischen Schmerzen Psychische Faktoren spielen bei der Aufrechterhaltung von chronischen Schmerzen eine große Rolle. Unter psychischen Faktoren versteht man einerseits psychische Störungen wie z.B. Depressionen, aber auch psychische Belastungen, wie sie aus Lebensproblemen entstehen können. Weiters ist ein Unterschied zu treffen zwischen primären Faktoren, also jenen, die schon vor der Schmerzstörung bestanden haben und an deren Auslösung sie beteiligt sein könnten und sekundären Faktoren, die sich als Folge der Schmerzstörung entwickelt haben. Daraus ergibt sich die therapeutische Konsequenz, ob primär am Symptom, dem Schmerz im Sinne der symptombezogenen Hypnose oder an den aufrechterhaltenden psychischen Bedingungen angesetzt werden soll, wobei hier der Schwerpunkt auf der so genannten problembezogenen Hypnose liegt. Ein fehlender Organbefund spricht eher für die Bedeutung psychischer Faktoren, beweist jedoch noch nicht das Vorhandensein derselben, ebenso wenig wie ein vorhandener Organbefund dies ausschließt. Für eine symptombezogene Hypnose spricht ein klarer Organbefund sowie ein medizinisches Krankheitsmodell des Patienten, welcher aus psychischen Faktoren negiert.

Symptombezogene Interventionen Nach einer ausführlichen Exploration der Schmerzcharakteristik und der Schmerzqualität kommen sensorische Strategien und kognitive Strategien zur Anwendung. Sensorische Strategien arbeiten mit der Aufmerksamkeitsfokussierung auf die Körperempfindungen. Gemeint sind dabei Strategien wie Analgesie, Verschiebung, Umdeutung, partielle Dissoziation von Schmerzen. Zu den kognitiven Strategien zählt die totale Dissoziation, Arbeit mit Schmerzbildern, schmerzbezogene Anekdoten, Symptomverstärkung. Diese Strategien arbeiten mit der Aktivierung von Erinnerungen und Fantasien, welche als Ressource für die Schmerztherapie genutzt werden (Milzner 1999).

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Problembezogene Strategien Problembezogene Anekdoten Ist das bestehende Problem weitestgehend bekannt, werden Vorschläge zur Problemlösung in Form von Anekdoten, Geschichten, Metaphern gekleidet und auf indirekte Weise angeboten.

Rekonstruktion negativer Erfahrungen Problematische, das sind meist traumatische Erfahrungen, die mit hoher Sicherheit mit den Schmerzen zusammenhängen, werden in Trance reaktiviert. Über verschiedene Techniken wird ein alternativer Umgang mit der problematischen Situation angeregt.

Umdeutung Dem Schmerz wird eine positive Bedeutung zugeschrieben, z.B. insofern er den Patienten auf ein zu lösendes, psychisches Problem hinweist. Dadurch verliert der Schmerz seine ausschließlich negative Bedeutung und die therapeutische Bearbeitung wird leichter ermöglicht. Es kann sein, dass die Schmerzlinderung nur auf die Zeit der Hypnose beschränkt ist, dann empfiehlt es sich, posthypnotische Suggestionen zu verwenden, wie den Patienten aufzufordern, diesen Zustand noch am Weg nach Hause zu verwenden. Eine weitere Möglichkeit liegt darin, dem Patienten Selbsthypnose beizubringen und dadurch den Therapietransfer in den Alltag zu gewährleisten (vgl. Revensdorf, Peter 2001).

Imaginative Verfahren Imaginative Verfahren nutzen die menschliche Vorstellungskraft, um sowohl spontan auftretende wie auch bewusst herbeigeführte innere Bilder für therapeutische Zwecke zu nutzen. Diese Vorstellungen sind ein Weg, mit unseren unbewussten intrapsychischen Fähigkeiten in Kontakt zu treten. Es existieren zahlreiche unterschiedliche Anwendungsformen, die sich auch zum Teil eigenständig entwickelt haben. Als bekanntestes Verfahren darf die Katathym-Imaginative Psychotherapie (KIP) nach Leuner (1986) erwähnt werden. Ein speziell für Tumorpatienten entwickelter Ansatz lässt sich auf Hartmann (1999) rückführen. In der Therapie ist es das Ziel, innere Bilder hervorzurufen, sie kreativ zu bearbeiten und damit die eigenen intrapsychischen Fähigkeiten und Potenziale zur Schmerzreduktion zu entfalten. Voraussetzungen für die meisten imaginativen Techniken ist ein entspannter Zustand des Patienten. Eine der Hauptstrategien besteht in der Durchführung von Fantasiereisen, z.B. ein Spaziergang über eine Waldlichtung oder ein Gang am Meeresstrand entlang.

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Gelingt diese Imagination, so ist es möglich, die Aufmerksamkeit des Patienten vom Schmerz abzulenken und zu einer entspannten, wohltuenden Ruhe zu gelangen. Generell kann man die menschliche Vorstellungskraft dazu nutzen, um Verhalten in der Vorstellung einzuüben, auch wenn dies in der Realität nicht möglich ist.

Achtsamkeit und Meditation Der Begriff Achtsamkeit ist tief verwurzelt in der buddhistischen Lehre und beschreibt die Grundhaltung des reinen, unabgelenkten Beobachtens: keine Wertungen, keine vorschnellen gefühlsbasierten Urteile. Die Dinge sollen quasi für sich selbst sprechen und der achtsamen Lehre zuhören (Lanner 1997). Obwohl das Wort aus dem Buddhistischen kommt, hat es in der deutschen Übersetzung von „mindfulness“ immer mehr in der westlichen Psychotherapie Fuß gefasst. Meditation ist eine gute und bewährte Strategie bei der Schmerzbewältigung, die oben angeführte Autorin Ellen Lanner ist immerhin der Auffassung, dass Meditation nicht als grundlegende Bedingung für Achtsamkeit vorhanden sein muss. Es genüge, sich die Umwelt und die Mitmenschen buchstäblich zu vergegenwärtigen. „Achtsamkeit ist ein Geisteszustand, in dem wir offen und sensibel sind für Neues, selbst in vertrauten Situationen. Achtsam sein bedeutet, die Wahrnehmung zu schärfen und überall Nuancen und Veränderungen zu erkennen. Wer achtsam ist, ist ganz bei der Sache und verschafft sich dadurch immer wieder neu ein unvoreingenommenes Bild der Realität. Er kann flexibel und langfristig erfolgreicher reagieren, im Zustand der Achtsamkeit bleiben wir offen für alle Aspekte einer Situation.“ (Lanner 1997; zit. von Stern 2004) Der Einfluss der Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie, der z.B. in der Verhaltenstherapie als so genannte dritte Wende beschrieben wird, geht ganz stark auf die Arbeiten des amerikanischen Verhaltensmediziners Jon KabatZinn zurück. Er und seine Mitarbeiter entwickelten in den 1970er Jahren in der Stress-reduction-clinic in Massachusetts ein mehrwöchiges achtsamkeitsbasiertes Stressreduktionsprogramm – MBSR (Mindfulness-based stress-reduction) (vgl. Kabat-Zinn 1985, 1996, 1998). Die achtsamkeitsbasierte Stressreduktion ist ein strukturiertes Gruppenprogramm, das Achtsamkeitsmeditation einsetzt, um mit körperlichen und psychischen Störungen verbundenes Leiden zu lindern. Das Programm ist nicht religiös und nicht esoterisch und basiert auf dem Ansatz, die Bewusstheit der Erfahrung von Moment zu Moment zu entwickeln. In den letzten Jahren wurden viele Studien zur Achtsamkeit als klinischer Intervention durchgeführt und eine Metaanalyse von O.A. Grossmann (2004) belegt die Erfolge. Die Studienergebnisse zeigen vor allem gute Daten für die Anwendung der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion bei chronischen Schmerzen, bei chronifi-

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zierter Depression sowie in der Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörung. Weiters fanden sich viel versprechende Ergebnisse bei der Behandlung von Krebs, Herzerkrankungen und Angstzuständen. Eine Vertiefung in die Welt der Achtsamkeit würde bei weitem den Rahmen dieses Artikels sprengen. Wir wissen nur, dass es aufgrund von Achtsamkeit zur Distanzierung von negativen Emotionen wie Schmerz, Angst und Aggression kommen kann. Zum Abschluss eine kurze Verdeutlichung der Prinzipien des achtsamen Gewahrseins (zitiert nach Psychologie heute, Juli 2004): Ein Weiser wurde einmal gefragt, warum er trotz seiner vielen Beschäftigungen immer so gelassen sein könne. Er sagte: „Wenn ich stehe, dann stehe ich; wenn ich sitze, dann sitze ich; wenn ich gehe, dann gehe ich; wenn ich esse, dann esse ich; wenn ich spreche, dann spreche ich ….“ Da fielen ihm die Fragesteller ins Wort: „Das tun wir doch auch, aber was machst Du darüber hinaus?“ Er antwortete: „Wenn ich stehe, dann stehe ich; wenn ich sitze, dann sitze ich; wenn ich gehe, dann gehe ich; wenn ich esse, dann esse ich; wenn ich spreche, dann spreche ich….“ Wieder sagten die anderen: „Das tun wir auch!“ Er aber sagte: „Nein, das tut ihr nicht. Wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon; wenn ihr steht, dann geht ihr schon; wenn ihr geht, dann seid ihr schon am Ziel!“

Literatur Bernstein DA, Borkovec TD (1992) Entspannungstraining. Pfeiffer, München Blanchard AB, et al (1992) Biofeedback and relaxation treatment of three kinds of headache: treatment effects and their prediction. J Consulting Clin Psychol 50: 562–576 Fichter N (Hrsg) (2000) Biofeedback. Verhaltenstherapie 10 (4): 216–271 Glier B (2002) Chronische Schmerzbewältigung. Pfeiffer, Stuttgart Grossmann B, Niemann L, Schmidt S, Wallach H (2004) Ergebnisse einer Metaanalyse zur Achtsamkeit als klinischer Intervention. In: Heidenreich TH, Michalak J (Hrsg) Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie. DGVT Verlag, Tübingen Hartmann SM (1999) Praktische Psycho-Onkologie. Pfeiffer, München Jakobson I (1929) Progressive relexation. University of Chicago Press, Chicago Kabat-Zinn J, Lipworth L, Burney R (1985) The clinical use of mindfullness meditation for the self regulation of chronic pain. J Behav Med 8 (2): 163–190 Kabat-Zinn J, Lipworth L, Burney R, Sellers W (1986) Four-year follow up of a meditation based program for the self regulation of chronic pain: treatment outcomes and compliance. Clin J Pain 2: 159–173 Kabat-Zinn J (1998) Im Alltag Ruhe finden. Das umfassende Meditationsprogramm für alle Lebenslagen. Herder, Freiburg Lanner E (1997) The power of mindful learning. Edison Lesley, Reading Leuner H-C (1986) Die Grundprinzipien des katathymen Bilderlebens (KB) und seine therapeutische Effizienz. In: Singer JL, Pope KS (Hrsg) Imaginative Verfahren in der Psychotherapie. Baderborn

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Milzner G (1999) Schmerz und Trance: Die Hypnotherapie von Schmerzsyndromen, Bd 1. Carl Auer, Heidelberg Öst L-G (1987) Applied relaxation: description of a coping technic and review of controlled studies. Behav Res Therapy 25: 397–409 Petermann F, Vaitl D (2004) Entspannungsverfahren – eine Einführung. In: Vaitl D, Petermann F (Hrsg) Entspannungsverfahren. Das Praxishandbuch, 3. überarbeitete Aufl. Beltz Verlag, Weinheim Basel Revensdorf D, Peter P (Hrsg) (2001) Praxis manuale Hypnose: Hypnose in Psychotherapie, Psychosomatik und Medizin. Springer, Berlin Rief W, Bierbaumer N (2000) Biofeedbacktherapie. Schattauer, Stuttgart Schwartz MS, et al (eds) (1995) Biofeedback, a practitionous guide, 2nd edn. Guilford Press, New York Schultz DH (1973) Das autogene Training. Konzentrative Selbstentspannung, 14. Aufl. Thieme, Stuttgart Springer W (2002) Hypnotherapie, Hypnose und Schmerztherapie. In: Bernatzky G, Likar R (Hrsg) Schmerztherapie bis ins hohe Alter. Salzburg Stern H (2004) Alle Antennen auf Empfang: Wer achtsam lebt, lebt besser. Beltz Verlag, Weinheim Vaitl D (2004) Autogenes Training. In: Vaitl D, Petermann F (Hrsg) Entspannungsverfahren. Das Praxishandbuch. Beltz Verlag, Weinheim Basel Vaitl D, Petermann F (Hrsg) (2004) Entspannungsverfahren. Das Praxishandbuch, 3. vollständig überarbeitete Aufl. Beltz Verlag, Weinheim Basel Vaitl D (2004) Psychophysiologie der Interrozeption. In: Vaitl D, Petermann F (Hrsg) Entspannungsverfahren. Das Praxishandbuch, 3. überarbeitete Aufl. Beltz Verlag, Weinheim Basel

Biofeedback in der Schmerzbehandlung: Wirkfaktoren und Effektivität D. K RO P F RE I T E R

Das Biofeedback-Prinzip Biofeedback wird immer häufiger in der Behandlung von chronischen Schmerzen, insbesondere bei Spannungskopfschmerz, Rückenschmerz und Migräne eingesetzt. Biofeedback ist eine psycho-physiologische Behandlungsmethode, verwendet also die Zusammenhänge zwischen Psyche und Körper als Basis für die Therapie. Die Reaktionen des Körpers auf psychische Faktoren werden durch Sensoren gemessen und auf einem Bildschirm sofort sichtbar gemacht. Nur durch Rückmeldung ist Lernen möglich. Der Rückmeldekreislauf (Mensch-BiofeedbackSensor-Bildschirm-Mensch) ist Basis dafür, dass die Patienten erlernen, vegetative Erregung, muskuläre Verspannungen und respiratorische Vorgänge, bis hin zu zentralnervösen Abläufen zu beeinflussen und damit Selbstkontrolle zu erlangen, die im Alltag weiter besteht. Die „Deutsche Kopfschmerz- und Migränegesellschaft“ bezeichnet Biofeedback als die erfolgreichste, nichtmedikamentöse Kopfschmerzbehandlung. Ebenso erkennt die „Österreichische Schmerzgesellschaft“ Biofeedback als wirksam an.

Wirkfaktoren bei der Schmerzbewältigung durch Biofeedback Anhand des Teufelskreismodells chronischer Schmerzen (Abb. 1) können die Wirksamkeitseffekte von Biofeedback verdeutlicht werden.

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Abb. 1. Der Teufelskreis bei chronischen Schmerzen (nach Bach 2002)

1. Körperliche Reaktion: An erster Stelle der Wirkfaktoren steht die direkte, physiologische Beeinflussung, z.B. die Verringerung von Muskelverspannungen, die sich bereits „einprogrammiert“ haben und die Schmerzen verstärken. EMG-Biofeedback kann innerhalb kurzer Zeit eine Dekonditionierung von „überflüssigen“ Verspannungen bewirken. Entspannung und Verminderung des vegetativen Erregungsniveaus wirken ebenfalls positiv auf die Schmerzwahrnehmung. 2. Aufmerksamkeitsfokussierung: Biofeedback verbessert die Interozeption (Eigenwahrnehmung) und verkürzt damit die Zeit zwischen dem Auftreten von Verspannungen und dem Einsatz geeigneter Copingstrategien (z.B. Entspannungspausen). 3. Bewertung: Die Erhöhung der Selbstkompetenz und Selbstwirksamkeitserwartung ist ein wesentlicher Wirkfaktor der Biofeedbackbehandlung. Der Patient fühlt sich nicht mehr ausgeliefert, da er selbst etwas gegen seine Schmerzen tun kann und die Auswirkungen sofort am Bildschirm verfolgen kann. 4. Gefühle: Ängste, Depressivität und Hilflosigkeit vermindern sich durch die Erhöhung der Selbstkompetenz.

Therapeutisches Vorgehen Biofeedback hat den Vorteil, dass der Patient selbstständig trainiert, Kontrolle über relevante Körperprozesse zu erlangen, wobei die durchschnittliche Behandlungsdauer erstaunlich gering ist, nämlich 10–15 Sitzungen zu je ca. 35 Minuten.

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Abb. 2. Ableitung des Trapezius-EMGs beim EMG-Biofeedback zur Kopfschmerzbehandlung

Beim Spannungskopfschmerz wird die Muskelspannung im Kopf- und Nackenbereich (Abb. 2) durch EMG-Messung sichtbar gemacht und der Patient trainiert, diese bewusst wahrzunehmen und sukzessive zu verringern, also Entspannung zu erreichen und diese auch im Alltag aufrecht zu erhalten. Belohnungseffekte (wie das Einblenden von Videos, Musik etc.) bei Erreichen des Entspannungszustandes fördern das Lernen und die Neukonditionierung von Entspannung (Abb. 3).

Abb. 3. Typische Rückmeldung der Muskelverspannung beim EMG-Biofeedback. Die Patientin sieht unmittelbar den Verlauf ihrer Muskelspannung am Bildschirm. Als „Belohnung“ öffnet sich eine Rose, wenn Entspannung erreicht wird

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Abb. 4. Atemfeedback mittels berührungsloser Atemsensoren

Atem-Training (Bauchatmung) ergänzt die Behandlung mit dem Ziel, das vegetative Gleichgewicht zu erlangen und erhöhte Sympathikus-Aktivierung, die meist mit Schmerzen einhergeht, zu verringern (Abb. 4). Beim chronischen Rückenschmerz ist das Prinzip ähnlich wie bei der Behandlung des Spannungskopfschmerzes (Abb. 5). Insbesondere Rückenschmerzen bei Patienten mit sitzenden Berufen (PCArbeitsplatz) können durch BFB sehr effektiv über die Auswirkung von schlechter Haltung auf chronische Muskelverspannung aufgeklärt werden, indem man während der PC-Arbeit das EMG des oberen Trapezius dem Patienten rückmeldet (Rief, Birbaumer 2006).

Abb. 5. Lumbale Ableitung beim EMG-Biofeedback zur Rückenschmerzbehandlung

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Biofeedback in der Schmerzbehandlung

Abb. 6. Der Vasosensor misst die Durchblutungsstärke mittels Infrarotplethymografie

Bei der Migräne hat das Biofeedbacktraining das Ziel die vaskuläre Kompetenz des Patienten zu steigern. Hier wird trainiert, die Durchblutung im Kopfbereich zu steuern. Durch Abnahme der Durchblutung an der A. temporalis superfiscialis mit einem „Vasosensor“ (Abb. 6) ist es möglich, dem Patienten genau rückzumelden wann sich die Durchblutung in Richtung Vasokonstriktion ändert. Ziel ist also, bewusst und kontrolliert eine Vasokonstriktion im Kopfgefäßsystem herbeizuführen und somit die starke Vasodiliatation, die beim Migräneanfall mit den Schmerzen einhergeht, zu verringern. Die Patienten verfügen nach der Behandlung somit über eine Fertigkeit, die Symptome zu kontrollieren: Patienten können den Migräneanfall kupieren oder zumindest die Anfallhäufigkeit reduzieren (Lisppers 1990).

Wissenschaftliche Fundierung Die Effektivität von Biofeedback zur Schmerzbehandlung ist mittlerweile weitgehend anerkannt und durch eine Vielzahl von Studien belegt (Überblick in Rief, Birbaumer 2006). Tabelle 1 zeigt einen Überblick über die häufigsten Schmerzformen.

Tabelle 1. Zusammenfassung Schmerztypus

Biofeedback-Intervention

Effektivität (Reduktion der Schmerzintensität um 50%)

Kopfschmerz, Spannungstyp

EMG, Atemfeedback, Vegetative Entspannung

60–70%

Migräne

Vasokonstriktionstraining, Handerwärmungstraining

50–60%

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Abb. 7. Schmerzreduktion durch Biofeedbacktherapie bei muskuloskelettalen Schmerzen (N = 79). EMG Biofeedback (BFB) im Vergleich zu Pseudotherapie (Setting wie BFB) und Kontrollgruppe (aus: Flor, Birbaumer 1993)

Chronische Kopf- und Rückenschmerzen Flor und Birbaumer (1993) zeigten, dass EMG-Biofeedback kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapiemethoden und medizinisch konservativer Behandlung bei Patienten mit muskuloskelettalen Schmerzen (N = 78) deutlich überlegen ist (Abb. 7). Auch in der 6 und 24 Monate Katamnese war lediglich bei der Biofeedbackgruppe eine Schmerzreduktion beibehalten (Abb. 8). Diese Langzeitwirkung zeigt sich auch in der Verringerung der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems und der Steigerung aktiver Copingstrategien.

Abb. 8. Biofeedbacktherapie bei muskuloskelettalen Schmerzen (N = 79). EMG Biofeedback erweist sich als wirksamste Therapie mit Langzeitwirkung (aus: Flor, Birbaumer 1993)

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Abb. 9. Biofeedbacktherapie bei Migräne: Abnahme der Migräne-Intensität im Vergleich mit medikamentöser Therapie (Weinkirn 1995)

Migräne Eine Metaanalyse von Hermann et al. (1995) zeigte, dass Biofeedbackbehandlung bei der kindlichen Migräne gegenüber anderen Behandlungsverfahren (pharmakologische z.B. Serotonin-Antagonisten; psychologische und behavouristische Therapien) deutlich überlegen ist. Eine Schmerzreduktion von mindestens 50% erreichen nach einigen Autoren (z.B. Gerber 1986, Schwartz 2003) etwa 60% der Patienten während einer Biofeedbackbehandlung. Auch zeigte sich, dass die Patienten beim Vasokonstriktionstraining eine physiologische Veränderung durch das Training erreichen: Die Pulsamplitude, also die Stärke der Durchblutung verringerte sich signifikant (Rief, Birbaumer 2006) während der Biofeedbacktherapie (8 Sitzungen zu je 40 Minuten). Weinkirn (1995) zeigte, dass das Vasokonstriktionstraining eine signifikante Reduktion der Schmerzintensität und -häufigkeit bewirkt und auch der medikamentösen Therapie signifikant (z = –2,16; p = 0,03) überlegen ist (Abb. 9, 10). Die

Abb. 10. Biofeedbacktherapie bei Migräne: Abnahme der Migränehäufigkeit im Vergleich mit medikamentöser Therapie (Weinkirn 1995)

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D . Kr o p f r e i t e r

Biofeedbackgruppe (N = 15) erhielt 10 Sitzungen mit Vasokonstriktionstraining zu je 34 Minuten, die Medikamentengruppe (N = 50) erhielt eine Therapie mit Propanol und Flunarizin.

Ausblick Die Biofeedbacktherapie nutzt, die im Menschen vorhandenen Fähigkeiten, über psychische Faktoren Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung zu erlangen. Diese Therapiemethode ist vor allem geeignet, bei chronischen Schmerzen Einsatz zu finden, bei denen die psychische Verfassung der Patienten eine große Rolle spielt. Die vielfältigen, positiven Effekte von Biofeedback, wie anhaltende Schmerzreduktion, Verbesserung der Selbstkompetenz und verbesserte Interozeption machen sie zu einer Methode der Wahl bei chronischen Schmerzpatienten.

Literatur Flor H, Birbaumer N (1993) Comparison of the efficacy of electromyografic biofeedback, cognitive behavioral therapy and conservative medical interventions in the treatment of chronic muscosceletal pain. J Consult Clin Psychol 61: 653–658 Weinkirn D (1995) Die Effizienz der Vasokonstriktionstechnik bei Migräne. Diplomarbeit, Univ. Wien Rief W, Birbaumer N (Hrsg) (2006) Biofeedback. Grundlagen, Indikationen Kommunikation, praktisches Vorgehen in der Therapie. Schattauer, Stuttgart Lisspers J, Oest LG (1990) BVP-Biofeedback in the treatment of migraine: the effects of constriction and dilatation during different phases of migraine attack. Behav Modif 14: 200–221 Hermann C, Kim M, Blanchard EB (1995) 1995) Behavorial and preventic pharmacological intervention studies of pediatric migraine: an exploratory meta-analysis. Pain 60: 239–255 Gerber WD (1986) Verhaltnesmedizin der Mirgäne. Edition Medizin. VCH, Weinheim Schwartz MS, Anrasik F (2003) 2003) Headache. In: Schwartz MS (ed) Biofeedback: a practioner’s guide. Guilford Press, New York, pp 275–348 Bach M (2002) Biofeedback in der Psychosomatik. Schmerzsymposium Vortrag, Salzburg

Hypnose bei akuten und chronischen Schmerzen – Möglichkeiten und Grenzen W. HÄ US E R

Die Reaktionen der etablierten Medizin auf die Hypnose reichte in den letzten 200 Jahren von völliger Ablehnung bis enthusiastischer Begeisterung. In den beiden letzten Jahrzehnten ist wieder ein zunehmendes Interesse an der Hypnose in Medizin und Psychotherapie inklusive der Schmerztherapie zu verzeichnen. Auf Grund ihrer manchmal spektakulären Heilungserfolge bei Beschwerden, welche auf die konventionelle Therapie der jeweiligen Zeit nicht ansprachen, ist die Hypnose diejenige wissenschaftliche Behandlungsmethode, deren Wirksamkeit und Wirkmechanismen seit 200 Jahren überprüft wurden. Im Jahrzehnt der evidenzbasierten Medizin und Neurowissenschaften hat medizinische und psychotherapeutische Hypnose den Ruf eines esoterischen oder „zudeckenden“ Verfahrens endgültig abgelegt. Warum Hypnose in ihrer Wirksamkeit zu den am besten abgesicherten schmerztherapeutischen Behandlungsmethoden gehört und welchen Beitrag die Hypnoseforschung zum neurobiologischen Verständnis des Schmerzes beigetragen hat, soll im Folgenden dargestellt werden.

Geschichte der Hypnose Seit der Jungsteinzeit wurden von Schamanen archaische Trancerituale zur Behandlung körperlicher Erkrankungen und seelischer Störungen eingesetzt. Hypnoide Methoden wurden in der priesterlichen Medizin der Chaldäer, Ägypter, Inder und Griechen (z.B. Tempelschlaf der Asklepiaden) praktiziert. Der Heilungsprozess wurde durch die Übertragung göttlicher Energien bzw. die Vertreibung böser Geister erklärt (Stocksmeier 1984). Die wissenschaftliche Hypnoseforschung hat ihren Ursprung in Österreich. Pater Johann Joseph Gaßner erkrankte um 1750 an heftigen Kopfschmerzen mit Übelkeit und Schwindelgefühlen – wahrscheinlich litt er an einer Migräne und einer ecclesiogenen Neurose. Diese Symp-

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tome traten hauptsächlich während seiner priesterlichen Obliegenheiten auf. Die Beschwerden widerstanden hartnäckig konventionellen Behandlungen, u.a. auch an der medizinischen Fakultät in Innsbruck. Mit der Idee, dass seine Krankheit keine natürlichen, d.h. organisch bedingten Ursachen habe, wandte er bei sich selbst den Exorzismus an und hatte Erfolg. Um sicher zu sein, dass tatsächlich der Teufel seine Hände im Spiel hatte, befahl er diesem im Namen Jesu, die Symptome wieder zu erzeugen. Das geschah prompt, und mit Hilfe der Exorzismusformel befreite sich Gaßner abermals. Von seinen Fähigkeiten als Exorzist überzeugt, wandte er den Exorzismus auch bei den kranken Mitgliedern seiner Pfarrgemeinde in Klösterle am Arlberg an und wurde bald so berühmt, dass um seine Exorzismen 1775 eine heftige Auseinandersetzung der Aufklärung entbrannte, in welche die Bayerische Akademie der Wissenschaften und der damals in Wien lebende Arzt Franz Anton Mesmer verwickelt waren (Peter 2001a). Mesmer erklärte die Wirkungen der Behandlungen Gaßners durch natürliche pyhsikalische Kräfte. Ausgehend von der Theorie des Paracelsus, dass die Gestirne einen Einfluss auf die Menschheit und deren Krankheiten ausüben, vertrat Mesmer die Ansicht, dass die Menschen untereinander und mit dem Kosmos durch ein materielles Fluidum (belebte Schwerkraft) verbunden sind. Dieses Fluidum sei übertragbar und könne physiologische Heilkräfte entfalten. Zu Anfang arbeitete Mesmer mit einem Magneten zur Übertragung des Fluidums, später vertrat er die Meinung, dass dieselbe Kraft auch von einem Menschen ausgehen könne. Mesmer zog 1777 nach Paris und eröffnete eine Praxis, in dem er seine hypnotischen Kuren teilweise in Gruppensitzungen durchführte. Seine Fluidum-Theorie wurde von den beiden wissenschaftlichen Kommission, welche der französische König 1784 einsetzte, abgelehnt. Die Wirksamkeit der Behandlung wurde nicht in Frage gestellt, jedoch (in heutiger Sicht modern) durch psychologische Prozesse wie Erregung der Einbildungskraft und Nachahmung sowie das Absetzen der Medikamente erklärt (Peter 2001b). Von Laien und Ärzten wurde der Magnetismus auch nach dem Bann der Wissenschaft gegen Mesmer weiter ausgeübt. In der romantischen Medizin erlebte die Fluidumtheorie in Deutschland und Österreich eine Renaissance. Der englische Augenarzt Braid prägte 1843 das Wort „Hypnose“ (griechisch: Hypnos = Schlaf). Als Ursache des Zustandes beschrieb er die eingeengte Aufmerksamkeit des Hypnotisierten, welche durch Suggestionen (z.B. einen Gegenstand konzentriert zu betrachten) hervorgerufen wurde. Der französische Internist Bernheim postulierte als Wirkmechanismus der Hypnose einen natürlichen psychologischen Mechanismus, die Suggestion, welche über eine Autosuggestion wirke (Stocksmeier 1984). In Frankreich wurden 1824 die erste gut berichtete Zahnextraktion durch Delatour und 1829 die erste Brustamputation durch Cloquet mit Hilfe des Mesmerisierens durchgeführt (Peter 2001a). Der englische Chirurg John Elliotson (1843) führte mit der Methode mehrere schmerzarme Operationen durch. Elliotson verlor daraufhin seine Medizinprofessur an der Universität London sowie seine Mitgliedschaften in den Königlich Medizinischen und Chirurgischen Gesellschaften. Von 1843–1855 gab Elliotson die medizinische Zeitschrift „Zoist“ heraus, in der nicht nur vom erfolgreichen Einsatz des Mesmerisierens bei 200

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Operationen, sondern auch bei chronischen Schmerzen wie Neuralgien, Kopfschmerzen und Rheumatismus berichtet wurde. Der schottische Arzt der East Indian Company in Kalkutta, James Esdaile, berichtete 1846 über mehrere hundert Operationen – u.a. Arm-, Penis- und Brustamputation – sowie über die radikale Entfernung von eingewachsenen Zehennägeln und Hodentumoren. Die Prozedur des Magnetisierens bestand darin, dass Esdaile die jeweiligen Patienten von Hilfspersonen mit den sog. Mesmerschen Passes bestreichen ließ (knapp über der Haut durchgeführte „Luftstriche“ vom Kopf bis hinunter zu den Füßen), manchmal bis über eine Stunde lang, bis die Patienten auf Hitzereize (Test mit glühenden Kohlen) nicht mehr reagierten. Verbale Instruktionen oder Suggestionen wurden nicht gegeben. Esdaile berichtete, dass hierdurch nicht nur eine sehr gute Schmerzkontrolle gelang, sondern auch die postoperative Mortalitätsrate von damals üblichen 40% auf etwa 5% gesenkt werden konnte (Esdaile 1951). Eine medizinische Kommission der englischen Regierung stellte 1850 fest: „(Die Unterzeichnenden) stellen fest, dass mit Mesmerismus auch bei den schwersten Operationen die vollständige Unempfindlichkeit dem Schmerz gegenüber herbeigeführt wurde, und dass der Einfluss des Mesmerismus auf die Reduktion des Operationsschocks auf jeden Fall günstig war“. Als 1846 Äther, 1847 Chloroform und später auch andere chemische Anästhetika eingeführt wurden, ersetzten diese Verfahren nicht nur die bis dahin häufig zur Anästhesie verwendeten Drogen Opium und Alkohol, sondern drängten das Mesmerisieren weiter zurück (Peter 2001b). Ist es ein Zufall, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts, an dem die Grenzen der technischen Schmerztherapie deutlich werden, die Hypnose in der Schmerztherapie eine kleine Renaissance erfährt?

Definition von Hypnose, Trance und Hypnotherapie Es gibt bis heute keine international anerkannte Definition von Hypnose. Der Begriff „Hypnose“ wird sowohl zur Beschreibung einer Technik, um einen veränderten Bewusstseinszustand zu erzielen, als auch zur Beschreibung des Zustandes selbst verwendet. Die Deutsche Gesellschaft für Ärztliche Hypnose und Autogenes Training diskutiert im Rahmen ihrer Leitlinienentwicklung folgende Definition der Hypnose: „Unter Hypnose wird im ärztlichen und psychotherapeutischen Bereich die zweckgerichtete, systematische Verwendung direkter und indirekter fremdsuggestiver Techniken zur Erreichung eines heilsamen und ressourcenaktivierenden, temporär veränderten Bewusstseinszustandes verstanden“ (Krause 2000). Der temporär veränderte Bewusstseinstzustand wird auch als Trance bezeichnet. Unter dem durch Mesmerisieren hervorgerufenen veränderten Bewusstseinszustand (Somnambulismus) wurde noch im 19. Jahrhundert ein künstlicher oder provozierter Schlaf verstanden, in welchem die suggestible Beeinflussbarkeit einer Person gesteigert ist. Diese Auffassung spiegelt sich auch heute noch in dem laienhaften Missverständnis wider, dass man eine Person nur tief genug hypnotisieren muss, um dann ungehinderten Zugang zu ihrem „Unbewussten“

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zu haben, im guten wie im bösen Sinne. Tiefe Trance wird hier missverstanden als eine Art Bewusstlosigkeit, welche jegliche manipulative Eingriffe ermöglicht. Nach heutigem Verständnis zeichnen sich Trancezustände in Unterscheidung zum Alltagsbewusstsein durch gering ausgeprägtes oder fehlendes kritisch-rationales Denken, vermehrtes primärprozesshaftes Denken, gesteigerte bildliche Vorstellung, vermehrte Fokussierung auf inneres Erleben sowie erhöhte psychophysiologische Plastizität aus (Revenstorf, Peter 2000). Trancezustände sind normale psychologische Phänomene, die auch im Alltag vorkommen (Alltagstrance z.B. beim Tagträumen, Sporttreiben oder Musizieren) bzw. durch andere psychologische Verfahren wie Meditation oder katathymes Bilderleben hervorgerufen werden können. Erlebens- und Verhaltensmuster, welche nicht mit den Bedürfnissen und dem Wertesystem eines Menschen vereinbar sind, lassen sich durch therapeutische Trance nicht induzieren (Peter 2003). Der Begriff „hypnotische Trance“ wird verwendet, um einen durch die Technik Hypnose hervorgerufene Trance zu kennzeichnen. Hypnotische Trance unterscheidet sich vom natürlichen Schlaf – physiologisch wie erlebnismäßig. Das subjektive Erleben kann von tiefer Entspannung bis hin zu vermehrter Wachheit und Aktivität reichen, je nach Situation, Aufgabenstellung und Typ der Tranceinduktion. Für die therapeutische Praxis kann man Trance operational definieren als einen Zustand erhöhter Reaktionsbereitschaft, der interindividuell, situationsund aufgabenbezogen sehr unterschiedlich sein kann. Zwischen der sog. Tiefe einer Trance, der Durchführung bestimmter therapeutischer Aufgaben und dem therapeutischen Effekt gibt es keine gesicherte Korrelation. Dies hat u.a. auch damit zu tun, dass hypnotische Trance keine unidimensionale Größe ist, sondern sich aus mehreren Faktoren zusammensetzt und von sozialpsychologischen Faktoren wie aufgabenbezogene Motivation, intensives Rollenspiel oder Compliance mitbestimmt wird (Peter 2003). Hypnotische Phänomene sind Handlungen, Affekte, Kognitionen oder physiologische Prozesse, die (fremd- oder auto-) suggestiv erzeugt sind und einen hohen Anteil an Unwillkürlichkeit und Evidenz besitzen. Zu ihnen zählen motorisch-kinästhetische, sensorisch-affektive und kognitive Phänomene wie z.B. Katalepsie, Levitation, Halluzination oder Illusion, Altersregression, Amnesie und posthypnotische Aufträge. Hypnotische Phänomene unterscheiden sich von psychopathologischen Phänomenen dadurch, dass sie kommunikabel sind, d.h. dass zu ihnen Kontakt und Kommunikation möglich ist. Hypnotische Analgesie ist eine negative sensorisch-affektive Illusion, die durch explizite verbale Kommunikation (Suggestion) erzeugt worden ist und sich damit innerhalb des „Kommunikationsraumes“ einer Person befindet. Umgekehrt kann beispielsweise eine somatoforme Schmerzstörung verstanden werden als ein sensorisch-affektives Phänomen, das sich außerhalb des Kommunikationsraumes befindet, so dass kein Kontakt mehr möglich ist. Hypnotische Trance ist eine therapeutische Technik, um Kontakt und Kommunikation zu unwillkürlichen Phänomenen wieder herzustellen (Peter 2003). Unter Suggestibilität verstand man um 1900 noch eine Art von „Gehirngefügigkeit“. Auch heute noch denkt der Laie eher an leichte Beeinflussbarkeit oder

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Willensschwäche denn an das Ergebnis einer intensiven Kooperation von Patient und Therapeut. Dieses Missverständnis kann mit der wörtlichen (lateinischen) Begriffs des Suggestion zusammenhängen, was in der wörtlichen Übersetzung „Unterschieben“ bedeutet. In Wirklichkeit handelt es sich bei Suggestionen um Vorschläge bzw. Aufträge zu Handlungen (englisch/französisch: suggestion) oder um Prozesse, die gewöhnlich nicht der willkürlichen Beeinflussung unterliegen (Peter 2003; Revenstorf, Peter 2000). Wissenschaftlich wird das Thema der Suggestibilität bis heute kontrovers diskutiert. Zum einen scheint hypnotische Suggestibilität ein relativ stabiles Persönlichkeitsmerkmal zu sein, welches jedoch wiederum keine Korrelationen zu anderen Persönlichkeitsmerkmalen aufweist. Circa 10% der Menschen sind hoch-, 10% gering- und 80% hochsuggestibel (Revenstorf, Peter 2000). Zum anderen ist Suggestibilität aber auch eine Funktion des therapeutischen Rapports und kann innerhalb der Therapie nicht unabhängig von anderen therapierelevanten Variablen, wie z.B. Therapiemotivation, gesehen werden. Für die Verwendung von Hypnose in der Schmerztherapie ist die Unterscheidung einer medizinischen von einer psychotherapeutischen Hypnose (Hypnotherapie) von Bedeutung (Häuser 2003). Die medizinische Hypnose werden direkte Suggestionen eingesetzt, um akute oder chronische körperliche Symptome wie Hautveränderungen (z.B. Warzen), Blutungsneigung, allergische Reaktionen) mit symptomorientierten Suggestionen zu lindern oder zu heilen. Seelische Prozesse werden nicht angesprochen. In der Hypnotherapie wird durch direkte und indirekte Suggestionen eine Modifikation kognitiver und affektiver Prozesse sowie Verhaltensweisen angestrebt (Peter 2003). Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie als auch der psychodynamischen Therapie können in hypnotischer Trance eingesetzt werden (Kirsch 1994). Bei der Differentialtherapie von medizinischer Hypnose und Hypnotherapie in der Schmerztherapie ist daher eine diagnostische Einordnung des Schmerzes gemäß dem biopsychosozialen Modell (Egle et al. 2001) notwendig: – Akute bzw. chronische, nozizeptive oder neuropathische Schmerzen ohne psychische Komorbidität: Medizinische Hypnose – Chronische nozizeptive oder neuropathische Schmerzen mit psychischer Komorbidität: Medizinische Hypnose und Hypnotherapie – Funktionelle somatische Schmerzsyndrome (z.B. Fibromyalgiesyndrom) bzw. psychischen Störungen mit Leitsymptom Schmerz: Hypnotherapie – Psychische Störungen mit Leitsymptom Schmerz: Hypnotherapie Bühnen- oder Showhypnose benutzt Hypnosetechniken, arbeitet aber auch mit Tricks und sozialpsychologischen Mechanismen wie Bereitschaft oder Zwang zum Rollenspiel (Revenstorf, Peter 2000). Hypnose wird auch als Forschungsmethode zur Untersuchung von Bewusstseinsphänomenen wie Schmerz (siehe Kapitel Wirkmechanismen der Hypnose) bei gesunden Probanden eingesetzt (Häuser 2003).

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Hypnotische Techniken bei Schmerz Dissoziativen Techniken haben das Ziel eine gegebene kinästhetische „SchmerzGestalt“ aufzulösen, in ihren Grenzen zu verwischen, in ihren Proportionen, in ihrer Lokalisation und in ihrer Sinnesmodalität und -qualität zu verändern. Dissoziative Techniken sind indiziert für ein symptomorientiertes Vorgehen. Sie sind wahrscheinlich um so wirksamer, je suggestibler ein Patient ist. Aus der Position des beobachtenden Ichs kann man Dissoziation in zwei Hauptgruppen einteilen, „heraustretend“ – das beobachtende Ich verlässt den leidenden Körper – und „abspaltend“, der schmerzende Körperteil wird abgespalten oder abgetrennt. Die Suggestion zielt darauf ab, den Körper „vom Hals abwärts einschlafen zu lassen“, ihn „mit dem Geist ganz zu verlassen“, so dass der Patient sich entweder in einer „anderen Wirklichkeit“ aufhält und/oder aus räumlicher oder zeitlicher Entfernung – ohne affektive Beteiligung und vielleicht auch ohne oder mit reduzierter sensorischer Schmerzwahrnehmung – zurückschauen kann. Eine solche Pseudoorientierung in Raum und Zeit soll sich auf Situationen beziehen, welche schmerzantagonistischen Charakter haben und lebensgeschichtlich bedeutungsvoll genug sind, um motivierend zu wirken. Sie ist dann angebracht, wenn der Schmerz zu umfassend ist, mitten im Kopf oder im Rumpf lokalisiert ist und deshalb andere Formen der Dissoziation nicht möglich sind. Diese Technik ist insbesondere geeignet, den affektiven Schmerzanteil zu reduzieren. Mit „abspaltender“ Dissoziation ist eine Teil-Körper-Dissoziation gemeint. Hier wird versucht, den schmerzenden Teil vom Rest des Körpers abzuspalten. Dies gelingt am ehesten bei Schmerzen in den Extremitäten oder bei Schmerzen, die klar umgrenzt und deutlich auf der Körperoberfläche lokalisierbar sind. Eine weitere Technik ist die Veränderung des sensorischen Schmerzerlebens, in dem eine Gefühllosigkeit oder eine andere Sinnesempfindung (z.B. Jucken oder Kribbeln) suggeriert wird (Parästhesie bzw. Anästhesie). Bei der Technik der Symptomverschiebung wird der Schmerzen hinsichtlich Größe oder Position verändert (Peter 2003). Assoziative Techniken eignen sich sowohl zur symptom- wie zur problemorientierten Behandlung von Schmerzen. Während mit dissoziativen Techniken die „Schmerz-Gestalt“ aufgelöst werden soll, so zielen die assoziativen Techniken zunächst auf die Herstellung einer klaren Schmerzgestalt, entweder – bei diffusen (somatoformen) Schmerzen als Voraussetzung für eine sinnvolle Bedeutungsgebung (siehe unten bei den symbolischen Techniken) – bei nozizeptiven/neuropathischen Schmerzen als Voraussetzung für deren Veränderung hinsichtlich Sinnesmodalitäten und -qualitäten – wenn dissoziative Techniken aus anderen Gründen wie z.B. mangelnder Hypnotisierbarkeit nicht möglich sind. Assoziative Techniken erfordern, weit mehr als die dissoziativen, die aktive Mitarbeit und eine hohe Motivation auf Seiten der Patienten, deren Hypnotisierbarkeit indessen nicht so hoch sein muss. Sie können also bei weit mehr Patienten angewandt werden als die dissoziativen. Assoziative Techniken werden in der

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Verhaltenstherapie unter der Bezeichnung „Schmerzfokussierung“ geführt, d.h. sie können auch ohne explizite Hypnoseinduktion durchgeführt werden. Assoziative Techniken haben manchmal, zumindest kurzfristig, eine schmerzverstärkende Wirkung und eignen sich deshalb nicht für manche nozizeptiven oder neuropathischen bedingten Schmerzen wie z.B. Phantom- oder Krebsschmerzen; hier sollte man gleich dissoziativ oder symbolisch vorgehen. Die Konstruktion der Schmerzgestalt wird im kinästhetisch/propriozeptiven Modus über eine genaue Lokalisation der Schmerzen („wo genau im Körper“) begonnen und dann deren Grenzen bestimmt („wenn Sie den Schmerz außen mit einem Filzstift einrahmen, so dass Sie spüren: bis dahin reicht der Schmerz und ab dieser Grenze ist schmerzfreies Gebiet“). Als nächstes folgen Fragen nach der Wahrnehmungsmöglichkeit in einer anderen Sinnesmodalität („wenn man den Schmerz sehen/hören/berühren könnte, wie sähe er aus/würde er sich anhören/anfühlen“). Und schließlich folgt der Versuch der Veränderung der Sinnesqualitäten (visuell: „Wenn man das grelle Rot verändern könnte, entweder dunkler oder bleicher, was würde dann geschehen?“ auditiv: „Wenn dieses laute Hämmern oder Bohren sich langsam entfernen würde, wenn Sie auf etwas anderes horchen …“ taktil: „Wenn Sie es vorsichtig in die Hand nehmen, streicheln, formen oder drücken …“). Über die „Fernsinne“ soll der Schmerz zunächst externalisiert (was schließlich wieder dissoziative Qualitäten hat) und dann aktiv manipuliert werden, was die Selbstkontrolle stärkt und darüber hinaus aufmerksamkeitsablenkende Funktion hat. Über die Veränderung der Qualitäten kann es zumindest zu einer Veränderung der affektiven Schmerzkomponenten kommen. Dies wird deutlich, wenn man eine Variante dieser Technik betrachtet, die darin besteht, mitten in den Schmerz hineinzugehen und sich dort das physiologische Schmerzgeschehen in den Schmerzrezeptoren „anzusehen“, z.B. wie die Natrium- und Kaliumionen durch die semipermeable Wand des Nervs hindurch gleiten oder wie die „Natriumpumpe“ funktioniert. Das erfordert Imaginationsfähigkeit auf Seiten des Therapeuten und des Patienten (Peter 2003). Symbolische Techniken haben eine Neuinterpretation zum Ziel, der Schmerzgestalt also eine Bedeutung zu verleihen. Auch sie erfordern keine formale Hypnose und hohe Hypnotisierbarkeit, obwohl beides von Vorteil ist, wohl aber Imaginationsfähigkeit. Symbolische Techniken sind für problemorientiertes Arbeiten bei funktionellen somatischen oder somatoformen Schmerzen gut geeignet, erfordern aber gerade bei Letzteren schon eine gewisse Bereitschaft und Einsichtsfähigkeit, um nicht als bloße „Psychospielereien“ abgetan zu werden. Aufbauend auf der durch assoziative Techniken konstruierten, externalisierten Schmerzgestalt kann man des weiteren versuchen, eine sinnstiftende Bedeutung für den Schmerz zu finden. Das klassische Beispiel ist die Stuhl-Technik aus der Gestalttherapie, nämlich den Schmerz auf einem anderen Stuhl Platz nehmen zu lassen, ihm eine Stimme zu geben und direkt sprechen zu lassen. Es reicht in Trance gewöhnlich, aufmerksam auf die Stimme dieser Gestalt zu hören. Auf der visuellen Ebene entspricht dies der Frage:“ Wenn die Schmerzgestalt ein Gesicht hätte, was könnte man in ihrer Mimik lesen? Oder umfassender: Wenn der Schmerz eine Person wäre, die desgleichen mit Ihnen macht, kommt Ihnen das

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irgendwie bekannt vor, macht das irgendeinen Sinn?“ Letztere Frage führt dann leicht zu einem psychodynamisches Vorgehen (siehe unten). Wenn es nicht gelingt, den Schmerz in Form einer Gestalt zu externalisieren und für diese eine angemessene Bedeutung zu finden – beispielsweise wenn der Schmerz schon zu sehr mit der Person verbunden ist –, so kann man versuchen, den Patienten in eine Beobachterperspektive zu dieser „Schmerzperson“ zu bringen. Zu den symbolischen Techniken gehören aber auch jene Imaginationsbilder aus dem katathymen Bilderleben z.B. die „alte weise Gestalt“, die es dem Patienten erlaubt, zunächst auf symbolischer Ebene Möglichkeiten der Kontrolle zu finden, auszuprobieren und einzuüben, die er in der Rolle als Patient noch nicht tolerieren kann. Die verschiedenen esoterischen Ansätze zur Bedeutungsgebung können unter dieser Perspektive als symbolische Techniken angesehen werden, wenn es nämlich gelingt, „Krankheit als Chance“ zu begreifen, oder zu verstehen, dass man aufgrund schwerer Verfehlungen in „früheren Leben“ nun noch eine ganze Menge abzubüßen hat und die Schmerzen einem die gute Gelegenheit hierzu geben. Hypnose erhöht die Suggestibilität und damit die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen an das in Trance Erlebte als Teil ihrer historischen Wahrheit glauben. Es ist daher abhängig von der professionellen Ethik des jeweiligen Therapeuten, die mit symbolischen Techniken konstruierten Wirklichkeiten in die eine oder andere Richtung zu lenken (Peter 2003). Hypnotherapie (Psychodynamisches Vorgehen in hypnotischer Trance) ist indiziert bei funktionellen und somatoformen Schmerzen sowie nozizeptiven/ neuropathischen Schmerzen, welche durch psychische Komorbidität bzw. die Lebensgeschichte des Patienten deutlich moduliert werden: Ungelöste psychische Konflikte oder fortwirkende bzw. unbewältigte Traumata sind als verursachend oder mitbedingend für die Schmerzsymptomatik vom Patienten tatsächlich erinnert oder als auf Grund der Symptomatik und/oder psychiatrischen Exploration als wahrscheinlich anzunehmen. Eine formale Tranceinduktion ist in der Regel sinnvoll. Eine gute Suggestibilität und Imaginationsfähigkeit sowie Bereitschaft des Patienten, psychosomatische Zusammenhänge prinzipiell anzuerkennen, notwendig. Sind dem Patienten die lebensgeschichtlichen Zusammenhänge bewusst, kann er über hypnotische Altersregressionen in die kritische Zeit zurückgeführt werden. Ziel ist, zunächst die Ursprungssituation(en) zu rekonstruieren; hierbei kommt es darauf an, mögliche abgespaltene Aspekte des Erlebens zu reassoziieren und so die Erinnerung zu komplettieren (z.B. von der visuellen Repräsentation abgespaltene Affekte wieder zu reaktivieren oder einer bloß affektiven Erinnerung die zugehörigen visuellen/akustischen Inhalte wieder hinzuzufügen). Manchmal reicht eine solchermaßen rekonstruierte Erinnerung oder auch nur die „Abreaktion der Affekte“ schon aus, eine bedeutende oder gar vollständige Schmerzreduktion zu erzielen. In vielen Fällen muss darüber hinaus jedoch eine aktive Umstrukturierung des Erlebens vorgenommen werden. Hierzu können adäquate Copingstrategien aus dem jetzigen oder vergangenen Lebensabschnitten des Patienten exploriert und in Trance der damaligen kritischen Situation hinzugefügt werden. Sind dem Patienten keine Zusammenhänge bewusst, kann der Therapeut über ideomotorisches Signalisieren das Unbewusste

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fragen, ob die heutigen Schmerzen mit irgendwelchen Vorkommnissen in der Geschichte des Patienten im Zusammenhang stehen. Eine Ja-Antwort bewirkt fast immer eine spontane Altersregression und es kann wie oben beschrieben fortgefahren werden (Peter 2003).

Wirksamkeit der Hypnose bei akuten und chronischen Schmerzen Die Wirksamkeit der Hypnose als Ergänzung zur medizinischen Routineversorgung in der operativen Medizin kann auf der höchsten Stufe der evidenzbasierten Medizin (Metaanalyse randomisierter Studien) als gesichert gelten. In eine Metaanalyse wurden 933 Probanden in 12 Studien eingeschlossen: 235 Patienten mit klinischen Schmerzsyndromen: Verbrennungsschmerz (2 Studien), Schmerzen bei interventionellen angiologischen Prozeduren (2 Studien), Kopfschmerz (1 Studie), Krebsschmerz (1 Studie) und verschiedene chronische Schmerzsyndrome (1 Studie); 598 Studenten mit experimentell induziertem Schmerz (3 Studien mit mechanisch induziertem und 2 Studien mit ischämischem Schmerz, 6 Studien mit kälteinduziertem Schmerz). Die Anzahl der Probanden pro Studie lag zwischen 16 und 137. Die Effektstärken bei experimentellem Schmerz (d = 0.70) und klinischem Schmerz (d = 0.80) unterschieden sich nicht bedeutsam. Die Effektstärken der hypnotischen Analgesie bei Hochsuggestiblen (d = 1.22) unterschieden sich signifikant (p < 0.05) von Niedrigsuggestiblen (d = 0.10) (Montgomery 2000). Montgomery et al. analysierten in einer weiteren Metaanalyse 22 kontrollierte Studien in der operativen Medizin: 9 Studien waren nichtrandomisiert, 13 Studien randomisiert. 1624 Patienten wurden berücksichtigt. 5 Studien erfolgten bei gynäkologischen und operativen Eingriffen im Gesichts-, Mund-Kiefer- und Halsbereich, 4 Studien bei Herzoperationen, 2 Studien bei operativen Eingriffen im Gastrointestinaltrakt sowie je 1 Studie bei orthopädischen, pädiatrischen, Augen-, sowie Handoperationen und interventionellen angiologischen Eingriffen. Die Anzahl der Patienten pro Studie lag zwischen 20 und 339. In 14 Studien erfolgte eine Lifehypnose, in 8 Studien eine Hypnose mittels Audiokassette. Die durchschnittliche korrigierte Effektstärke war mäßig bis stark (d = 0,72). 89% der Patienten in der Hypnosebehandlungsgruppe wiesen günstigere Ergebnisse auf als Patienten in den Kontrollgruppen. Die korrigierten Effektstärken für die einzelnen Ergebnisvariablen sind in Tabelle 1 dargestellt. Es fanden sich keine signifikanten Unterschiede der Effektstärken zwischen randomisierten und nichtrandomisierten Studien, zwischen Studien mit Routineund Aufmerksamkeitskontrollgruppe sowie zwischen Life- und Audiokassettenhypnose (Montgomery et al. 2002). In der Radiologie konnte in einer prospektiven randomisierten Studie bei perkutanen vaskulären Interventionen der positive Effekt (Reduktion von Medikamenten, Ängsten, Schmerz, hämodynamischer Instabilität und Untersuchungszeit) von Hypnose als Ergänzung der intravenösen Analgosedierung und ihre Kosteneffektivität (Reduktion der Behandlungskosten

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W. H ä u s e r

Tabelle 1. Effektstärken der Hypnose für die einzelnen Ergebnisvariablen von Studien zu Hypnose in der operativen Medizin (Montgomery et al. 2002) Ergebnisvariable

Anzahl Effektstärken

Studiengröße adaptierte Effektstärke D

Negativer Affekt

18

1,07

Studiengröße adaptierte Standardabweichung der Effektstärke VarD 1,38

95% Konfidenzintervall von D 0,53–1,61

Schmerz

13

1,69

4,37

0,56–2,82

Schmerzmedikation

19

1,17

2,85

0,41–1,93

Physiologische Indikatoren

23

0,27

0,08

0,16–0,38

Erholungszeit

12

3,61

24,00

0,85–6,37

Behandlungszeit

21

0,76

2,15

0,14–0,38

um $ 338 pro Behandlungsfall) von einer Arbeitsgruppe nachgewiesen werden (Lang, Rosen 2002). Weniger gut ist die Wirksamkeit von Hypnose bei chronischen Schmerzsyndromen gesichert. Die meisten und überzeugensten Studien liegen für die darmgerichtete Hypnose bei Patienten mit Reizmagen und Reizdarm vor (Häuser 2003). In einer Übersichtsarbeit (keine Metaanalyse) wurden 14 Studien (davon 6 mit Kontrollgruppen) mit 644 Patienten referiert. Alle Studien zeigten konsistent eine Reduktion nicht nur der gastrointestinalen, sondern auch der psychosomatischen Randsymptome (Tan 2005). In weiteren Studien wurde der Effekt der Hypnose in Katamnesen bis zu 5 Jahren nachgewiesen und auch eine Reduktion der direkten und indirekten Krankheitskosten beschrieben. 71% der Patienten sprachen initial auf die Hypnose an. Von diesen gaben 81% eine anhaltende Besserung der Beschwerden auch nach bis zu 5 Jahren an (Calvert et al. 2002; Gonsalkorale et al. 2003). Auf Grund der Wirksamkeit auch bei Patienten, welche auf die konventionelle medizinische Therapie nicht ansprechen, wurde inzwischen an einer englischen gastroenterologischen Universitätsklinik eine Hypnotherapieeinheit eingerichtet. Unter den Bedingungen der klinischen Routineversorgung (konsekutiven Patienten, nur 2% primär an Hypnose interessiert) konnte die Wirksamkeit der Methode erneut – unabhängig von Alter, Geschlecht, Art des Reizdarmsyndroms sowie Angst/Depressivität – bestätigt werden (Gonsalkorale et al. 2002). Von der britischen gastroenterologischen Gesellschaft wird darmgerichtete Hypnose mit dem Empfehlungsgrad B bei Patienten mit Reizdarm und keinen bis mäßigen psychopathologischen Auffälligkeiten empfohlen, welche auf die konventionelle medikamentöse Therapie nicht ansprechen (Jones 2000). In einer Analyse aller kontrollierten, in internationalen medizinischen und psychologischen Datenbanken publizierten Studien, kam ein interdisziplinäres Expertengremium der American Pain Society zu dem Ergebnis (Goldenberg et al. 2004), dass es – auf Grund einer Studie (Haanen et al. 1991) – eine mäßige Evi-

Hypnose bei akuten und chronischen Schmerzen

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denz für die Wirksamkeit der Hypnose beim Fibromyalgiesyndrom gibt. Die Autoren berücksichtigten nicht die Ergebnisse einer italienischsprachigen kontrollierten Studie, in der eine Überlegenheit Ericksonianischer Hypnotherapie gegenüber dem Autogenen Training bezüglich der Parameter Nachtschlafqualität und Morgensteifigkeit nachgewiesen werden konnte (Rucco et al. 1995). Studien zum Einsatz psychotherapeutischer Verfahren bei Migräne und Spannungskopfschmerz fanden vergleichbare Effekte von Hypnose und Autogenem Training (Berlin et al. 1990; Ter Kuile et al. 1994). Eine weitere kontrollierte Studie bestätigte die positiven Wirkungen von Hypnose (Reduktion Zahl und Dauer Anfälle) bei chronischem Spannungskopfschmerz (Melis et al. 1991).

Wirkmechanismen der hypnotischen Analgesie Die Neodissoziationstheorie von Hilgard nimmt an, dass die hypnotische Analgesie durch einen unspezifischen Placeboeffekt (Entspannung, Aufmerksamkeitsablenkung, Angstreduktion) und einem hypnosespezifischen Dissoziationsprozess – die Schmerzen werden von der bewussten Wahrnehmung abgetrennt – beruht (Hilgard, Hilgard 1975). Neuere Studien mit bildgebenden Verfahren der zentralnervösen Verarbeitung von experimentellem Akutschmerz werden im Sinn der Neodissoziationstheorie gedeutet. Trippe und Kollegen interpretieren ihre Studien mit späten Komponenten (N150/P260) von ereigniskorrelierenden Potentialen im EEG bei experimentellem Akutschmerz im Sinne der Neodissoziationstheorie: Unter Hypnose komme es zu einer Dissoziation zwischen den Hirnstrukturen, welche für die somatosensorischen Aspekte der noxischen Reize und den Hirnstrukturen, welche für die kognitiv-affektive Reizbewertung zuständig sind (Trippe et al. 2004). Auf Grund ihrer Studien, in der die selektive Veränderbarkeit der sensorischen und affektiven Schmerzkomponente durch Suggestionen nachgewiesen werden konnte (Rainville et al. 1997, 1999), postulieren Rainville und Kollegen eine Aktivierung zentraler schmerzwahrnehmungshemmender Mechanismen durch Hypnose. Faymonville und Kollegen konnten in PET-Analysen ebenfalls eine Reduktion der affektiven und sensorischen Schmerzkomponente in hypnotischer Trance nachweisen, welche mit Änderungen des regionalen Blutflusses im Gyrus cinguli anterior korreliert waren (Faymonville et al. 2000). De Pascalis und Kollegen postulieren auf Grund ihrer Studien mit somatosensorischen Potentialen, dass hypnotische Analgesie durch einen aktiven inhibitorischen Prozess entsteht, welcher von der bewussten Wahrnehmung dissoziiert ist. Der anteriore frontale Kortex soll als Teil einer inhibitorischen Feedbackschleife, welche die thalamische und posteriore kortikale Aktivität reguliert, eine entscheidende Rolle spielen (De Pascalis et al. 1999). Schulz-Stübner und Kollegen wiesen bei hypnotischer Analgesie eine vermehrte Aktivität in den anterioren Basalganglien und dem linken Gyrus cinguli anterior nach, welche sie als mögliche Hemmung einer bewussten Schmerzwahrnehmung interpretieren (Schulz-Stübner et al. 2004).

126

W. Häuser

Die Studien zum Postulat der Neodissoziationstheorie, dass die hypnotisch induzierte dissoziative Analgesie nur bei Hochsuggestiblen möglich ist, hat zu divergenten Resultaten geführt. Die analgetische Wirkung der Hypnose ist nicht endorphinvermittelt, da sie durch die Gabe von Naloxon nicht beeinflusst werden kann (Peter 2003).

Möglichkeiten und Grenzen der Hypnose in der Schmerztherapie Schweden, Dänemark und Israel sind die einzigsten Länder der Welt, welche die Ausübung von Hypnose auf ausgebildete Ärzte und Psychologen beschränken. Deshalb fällt es in den übrigen Ländern Laien schwer, zwischen Showhypnotiseuren, selbst ernannten Hypnosetherapeuten und gut ausgebildeten ärztlichen oder psychologischen Therapeuten mit Hypnoseweiterbildung zu unterscheiden (Revenstorf, Peter 2000). Institutionell wird der Einsatz von Hypnose limitiert durch das fehlende Wissen administrativer und medizinischer Entscheidungsträger in der Schmerztherapie und die geringe Honorierung der Methode innerhalb der deutschen ärztlichen Gebührenordnung (Häuser 2003). Beim Arzt/Psychologen wird der Einsatz von Hypnose limitiert durch mangelndes Wissen über Möglichkeiten und Grenzen der Methoden, ungenügende Kenntnisse des biopsychosozialen Modells der Schmerztherapie sowie mangelnder Ausbildung, Eigenerfahrung und Supervision in Hypnose. Schwierigkeiten des Psychotherapeuten mit Übertragung und Gegenübertragung, Omnipotenzwünsche sowie Angst vor oder Bedürfnis nach intensivem Kontakt weisen auf eine ungenügende Selbsterfahrung hin. Daher sollte Hypnotherapie nur von Psychotherapeuten ausgeübt werden, welche über ausreichend Selbsterfahrung im Rahmen ihrer Ausbildung in einem anerkannten Psychotherapieverfahren wie psychodynamische Therapie, kognitive Verhaltenstherapie, wissenschaftliche Gesprächtherapie oder systemische Therapie verfügen (Peter 2003). Bei Patienten mit akuten und chronischen Schmerzen gelten grundsätzlich jene Kontraindikationen, die gegen die Anwendung von Hypnose als Behandlungstechnik sprechen (Peter 2003; Revenstorf, Peter 2000): Strukturell gestörte Personen, welche zwischen imaginierter und „wirklicher“ Wirklichkeit nicht unterscheiden können und welche erhebliche Kommunikations- und Interaktionsprobleme haben wie Patienten mit Psychosen oder Borderlinepersönlichkeitsstörung. Bei schwerer Ausprägung seelischer Störungen (Angst-, Depressions-, Zwangs- Ess-, Persönlichkeitsstörungen) sollte Hypnose von psychiatrisch erfahrenen Psychotherapeuten ausgeführt werden (Häuser 2002). Eine weitere Kontraindikation sind unrealistisch hohe Erwartungen des Patienten an die Hypnose. Ferner muss beim Patienten ein Mindestmaß an Suggestibilität gegeben und eine gewisse Fähigkeit zur Imagination und Absorption vorhanden sein. Schließlich muss bei chronischen Schmerzen ein vertrauensvoller Rapport sowie Einigkeit zwischen Therapeut und Patient über die geeignete „Form“ der Hypnose und das Ziel der Behandlung bestehen (Peter 2003).

Hypnose bei akuten und chronischen Schmerzen

127

Bei akuten Schmerzen, z.B. bei operativen Eingriffen in Medizin und Zahnmedizin, ist medizinische Hypnose als Monotherapie dann indiziert, wenn chemische Analgetika versagen oder bei Allergien (z.B. Lokalanästhetika) kontraindiziert sind. Hohe Motivation und Suggestibilität sind Voraussetzung (Peter 2003). Wie bei den Wirksamkeitsstudien dargestellt, ist Hypnose als alleiniges Anästhetikum bei in der Regel nur leicht schmerzhaften Eingriffen wie bei unkomplizierten Zahnbehandlungen, möglich. In der übrigen operativen Medizin ist Hypnose eine Ergänzung zur medikamentösen Analgesie (Montgomery et al. 2002). Bei chronischen nozizeptiven oder neuropathischen Schmerzen kann medizinische Hypnose die meist irreversible Gewebsschädigung nicht beheben. Die Dauer der hypnotischen Schmerzlinderung reicht von Minuten bis Stunden (Ebell et al. 1994). Daher ist eine regelmäßige Anwendung, z.B. in Form von Selbsthypnose oder mediengestützter (z.B. Audiokassette, CD), notwendig – vergleichbar der zwei- bis dreimaligen Einnahme eines Schmerzmittels am Tag. Hierzu ist Selbstdisziplin und zur Verfügung stehende Zeit zur regelmäßigem Anwendung notwendig. Die Einnahme eines Medikamentes ist bequemer und schneller. Bei somatoformer Schmerzstörung ist eine Heilung des Schmerzes durch die Lösung des intrapsychischen Konfliktes bzw. Traumarekonstruktion prinzipiell möglich. Wie bei anderen in der Schmerztherapie eingesetzten psychotherapeutischen Verfahren auch, stößt Hypnose bei die Schmerzsymptomatik chronifizierenden psychosozialen Faktoren wie Armut oder Rentenbegehren an ihre Grenze.

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Nicht-medikamentöse Therapien bei primären Kopfschmerzen G . L UT HRI NG S HA US E N

Einleitung Kopfschmerz gehört zu den häufigsten Krankheitssymptomen, die zu einem Arztbesuch führen. Nach der aktuellen internationalen Klassifikation werden über 200 verschiedene Kopf- und Gesichtsschmerzen unterschieden. Dies bedeutet für Betroffenen und den Arzt und Therapeuten eine große Herausforderung eine exakte Diagnose zu stellen und danach ein passendes individuelles Behandlungskonzept zu finden. Nach Schätzungen leiden etwa 8–12% der Erwachsenen unter regelmäßigen starken Kopfschmerzen, wobei auch sehr viele Kinder mit etwa gleich deutlichem Kopfschmerz betroffen sind. In der Praxis werden etwa 90% der Kopfschmerzen der Migräne und dem Spannungskopfschmerz zugeordnet, nachdem eine sorgfältige Anamnese und klinische Untersuchung sekundäre Kopfschmerzen ausgeschlossen haben. Nur selten sind ergänzende Untersuchungen, wie z.B. Computertomographie, Laboruntersuchungen oder neurophysiologische Untersuchungen nötig, sofern ein primärer Kopfschmerz (wie z.B. Migräne, …) auf Grund der Diagnosekriterien feststeht. Bei einem chronischen Kopfschmerz sollte jedoch einmalig ein CCT angefertigt werden, da bekannterweise durch den möglichen vorliegenden Leidensdruck und der Angst des Patienten an einem „Tumor im Kopf“ zu leiden, genommen wird und leichter eine Akzeptanz der konservativen Therapien er-

reicht wird.

Akute nichtmedikamentöse Therapie In vielen Ratgebern für Migräne werden Empfehlungen und Tipps veröffentlicht, die eine Sammlung verschiedenster Methoden und Strategien einschließt (Ber-

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G . L u t h r i n gs h a u s e n

natzky et al. 2006; Diener 2002), die jedoch vorwiegend auf Einzelerfahrungen beruht, und prinzipiell nicht abzulehnen sind. Dazu gehören unter anderen das Auflegen kalter Kompressen („cool packs“) oder Druckmassagen am Kopf bzw. im Schläfenbereich. Wirksamer ist es jedenfalls sich bei Beginn einer Migräneattacke in einen ruhigen, leicht verdunkelten Bereich oder Raum zurückzuziehen und zu ruhen. Diese Reizabschirmung kann vereinzelt eine rasche Besserung der Kopfschmerzen bringen und folgende eventuelle notwendige weitere nichtmedikamentöse und/ oder medikamentöse Therapien unterstützen. Zu den weiteren empfohlenen Methoden gehören unter anderen verschiedene Entspannungstechniken anzuwenden. Alternativen bieten transcutane Nervenstimulation, Hypnose, Akupunktur und Nervenblockaden (occipital, supraorbital) zu setzen.

Nichtmedikamentöse Prophylaxetherapie Allgemein Aufklärung über Auslöser, Lebensstil, Stressanalyse, Kopfschmerztagebuch Ein wichtiger Pfeiler in der modernen Kopfschmerztherapie ist die „Nichtmedikamentöse Therapie“, die ein Teil des gesamten Therapiekonzeptes sein soll. Dazu gehören insbesondere bei der Migräne an erster Stelle das Erkennen und Meiden erkannter individueller Trigger- und Auslösemechanismen. Durch sorgfältige Selbstbeobachtung können individuelle Auslöser/Trigger identifiziert werden. Dazu gibt ein Kopfschmerz/Migränetagebuch (Bernatzky et al. 2006) Hilfestellung, um danach gezielt zu suchen (Tabelle 1). Nach Führen eines KS-Kalenders kann leichter eine Diagnose gestellt werden, aber auch das Vorliegen eines eventuellen Zweitkopfschmerzes erkannt werden, der in der Therapieplanung berücksichtigt werden muss. Dazu ist es unumgänglich, dass anfangs eine umfassende Beratung und Führung des Betroffenen anfangs notwendig ist. Diese muss unter anderem eine persönliche Therapieplanung enthalten mit Empfehlungen hinsichtlich „Diät“, Schlafhygiene, Meiden von Stressbelastungen, sportlichen Aktivitäten und Medikamentengebrauch.

Leichte Ausdauersportarten (Fahrradfahren, Jogging, Nordic walking, Schwimmen) Es hat sich bewährt, bei Vorliegen eines chronischen Kopfschmerzes leichte regelmäßige körperliche Aktivitäten zu empfehlen, die einerseits zur Entspannung führen, einen persönlichen „Zeitbedarf“ definieren und vom üblichen Tagesablauf abgekoppelt werden müssen. Neben den zu erwarteten körperlichen Wohl-

Therapien bei primären Kopfschmerzen

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Tabelle 1. Triggerfaktoren und Migräne Äußerer Auslöser – Wetterwechsel – Hormone (Menstruation) – Nahrungsmittel (Alkohol, Kaffee, Schokolade, Südfrüchte, Käse) – Umweltfaktoren (Lärm, Flackerlicht, Qualm …) – Medikamente Innerer Auslöser – Schlaf-Wachrhythmus – Stress – Wegfall von Stress (Veränderung des Stressniveaus) – Emotion – Selbstüberforderung? – Lebensführung – regelmäßige Mahlzeiten – Begleiterkrankungen?

befinden, kann es durch die regelmäßige zeitliche Abkopplung vom üblichen Tagesablauf zu „geistigen“ Regeneration und folgender Entspannung kommen.

Physikalische Therapie Physiotherapie Kotraversiell wird der Stellenwert der Physikalischen Therapie bei Kopfschmerzen eingestuft. Bei Vorliegen eines Spannungskopfschmerzes mit muskulären Verspannungen im Schulter-Nackenbereich ist es durchaus sinnvoll durch lokale Therapie eine Entspannung zu erreichen. Unphysiologische Fehlhaltungen werden damit positiv beeinflusst. Hypothetisch wird der analgetische Effekt an den Schmerzfasern und Schmerzrezeptoren durch die angewandte Physiotherapie angenommen. Unspezifische Reize führen zu Muskelentspannung, Gefäßerweiterung bzw. Gefäßtonisierung. Bewertung: Bisher liegen keine ausreichenden Studien vor, die dies ausreichend belegen. Daher ist Physiotherapie nur als eine zusätzliche Therapie bei Spannungskopfschmerz und Migräne zu empfehlen.

Thermo-Therapie Mittels lokaler Wärmeapplikation in Form von Moorpackungen, Fango, warmen Kompressen oder Bäder wird eine lokale Erwärmung erreicht, die durch Hyperämie den lokalen muskulären Stoffwechsel aktiviert und Stoffwechselabbauprodukte entfernt. Zusätzlich reduziert die Wärme den muskulären Tonus und den Schmerz. Vorteilhaft ist Wärmetherapie beim chronischen Spannungskopfschmerz, sollten jedoch Thermotherapie (mit Wärme) nicht in der Akuttherapie angewandt werden.

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Bei der akuten Kopfschmerzattacke können hingegen Kälteanwendungen („Kryotherapie“) zu einer raschen Schmerzlinderung führen. Es wird angenommen, dass Schmerzrezeptoren, aber auch die Schmerzleitung über die Nervenfasern durch den Kältereiz blockiert werden. Es entsteht dadurch ein abschwellender und tonisierender Effekt an den Kopfgefäßen, der eine Erleichterung bringen kann. Nur selten können Migräneattacken alleine durch diese Kältetherapie behandelt werden, bringen aber anfangs rasche Linderung und kann einfach angewandt werden (siehe auch „cool packs“). Über diese Therapieanwendungen Thermotherapien (Kälte/Wärme) fehlen bisher kontrollierte Studien.

Elektrotherapie, Massage, Manuelle Therapie und Heilgymnastik Verschiedene Therapieansätze in der Physiotherapie sollen in dem kopfschmerzfreien Intervall vorsorglich Muskelverhärtungen im Nackenbereich (perikranielle Muskulatur) verhindern und mögliche bestehende Myalgelosen lockern. Eine verbesserte Durchblutung wird durch Reize erreicht, die einerseits durch manuelle Techniken, wie Nackenmassage oder Ultraschall durchgeführt wird, andererseits kann Elektrotherapie durch ihre Reizwirkung und dem durchblutungsfördernden Effekt eine Schmerzlinderung erreichen (Gübel 2004). Verschiedene Stromarten zur Reizung der Muskulatur und Nerven stehen zur Verfügung, wobei galvanische Ströme, diadynamische Ströme und mittelfrequente Ströme (Interferenzstrom) zur Anwendung kommen können. Durch TENS (transcutane elektrische Nervenstimulation) können die schnell leitenden Nervenfasern (markhaltig) stimuliert werden und die langsamen schmerzleitenden C-Fasern im Rückenmark gehemmt werden. Dadurch kommt es zur Unterdrückung von Schmerzimpulsen. Über Hautelektroden im Nacken, paravertebral wird etwa 20 Minuten über ein TENS Gerät, das leicht mitgenommen und getragen werden kann, stimuliert und Schmerzimpulse unterdrückt. Dieses Elektroanalgesieverfahren kann bei Spannungskopfschmerzen (auch bei Kindern), aber auch bei einer akuten Migräneattacke oder „cervikogenen“ Kopfschmerz eingesetzt werden. Laut ÖKSG werden für diese Therapie keine Empfehlungen gegeben. Bewegungstherapie soll vorsorglich Verspannungen der Schulter-Nackenmuskulatur verhindern und im Rahmen von Rücken- und Haltungsschulung eine Basis zu den verbesserten Bewegungsmustern bieten. Ergänzt werden soll diese aktive Therapie durch leichten Ausdauersport, wie z.B. Joggen oder Schwimmen. Durch die Anwendung von Druckreizen und Dehnung auf Muskulatur, Gelenke und Bandapparat kann hypothetisch durch die Manuelle Therapie eine eventuell vorliegende Funktionsstörung im Bereich der Halswirbelsäule, als möglicher Auslösefaktor der Kopfschmerzen behoben oder korrigiert werden. Bewertung: In einer Metaanalyse zeigte sich eine gewisse Effektivität dieser Therapien bei Spannungskopfschmerzen.

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Therapien bei primären Kopfschmerzen

Neuraltherapie (nach Huneke) Unter Neuraltherapie versteht man sowohl ein therapeutisches aber auch ein diagnostisches Verfahren. Es werden lokal Anästhetika (Betäubungsmittel) injiziert, um Schmerzen zu lindern und ev. Erkrankungen aufzuspüren und danach zu heilen (Federspiel, Herbst 2005). Als Grundlage der Neuraltherapie werden die Störfeldtheorie (Herd- oder Fokaltheorie) und die Segmenttherapie angesehen. Krankhafte Veränderungen in einem Organ können störende Einflüsse auf andere Organe haben. Äußere Einflüsse (z.B. Infektionen, Verletzungen) können ein vorerst stabiles Störfeld aktivieren. Eine lokale Betäubung eines Störfeldes (Fernwirkung der Neuraltherapie) kann dabei bestehende Beschwerden verbessern oder zum Verschwinden bringen. Dieses Phänomen wird von den Therapeuten als Beweis angesehen. Dieses „Sekundenphänomen“ tritt jedoch nur sehr selten auf.

Tabelle 2. Therapieoptionen bei Migräne (Konsensusteam der ÖKSG 2003) Wirksamkeit (Studien)

Empfehlung (ÖKSG)

Neuropsychologische Verfahren Entspannungstraining Biofeedback Verhaltenstherapie

B–C B–D B–C

II II II

Botolinum – Toxin

B

II

Akupunktur – Akupressur

B–C

III

Phytotherapeutika Pestwurz Mutterkraut („Feverfew“)

B C

III/? III/?

Homöopathie

D

N.E.

Physikalische Therapie TENS Manualtherapie Sonst. Physikalische Therapien

E E E

N.E. N.E. N.E.

Diverse Therapieformen Magnetfeldtherapie Psychophonie Sport (diverse)

C E E

N.E. N.E. ?

Bewertungen: Wirksamkeit: in publizierten Studien; A einheitliche positive Wertung; B überwiegend positive Wertung; C positive Wertung (Verschiedene Qualität der Studien); D (überwiegend) negative Wertung (Verschiedene Qualität der Studien); E nicht beurteilbar (nur Fallserien, Expertenmeinungen vorhanden). Empfehlung (Konsensusteam ÖKSG): I Empfehlung 1. Wahl; II Empfehlung 2. Wahl; III Empfehlung 3. Wahl; N.E. nicht empfehlenswert; ? nicht beurteilbar.

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Es existieren nervale Verbindungen zwischen Organen und der Haut. Dieser Hautbezirk wird als Head-Zone bezeichnet und gibt bei Irritationen oder Schmerz Hinweise für eine mögliche organische Erkrankung, teilweise auch dem Hautareal fern. Sinn einer lokalen Injektion ist es, das vegetative Nervensystem und die Organsysteme zu regulieren. Die therapeutische Lokalanästhesie, die bei lokalen Schmerzen durchgeführt wird, bezeichnet man dagegen als Infiltrationstherapie – die intramuskuläre Injektion bei Triggerpunkten. Bei Migränepatienten werden Nervenaustrittspunkte oder Akupunkturpunkte unterspritzt. Besonders wird hervorgehoben, dass nach einer lokalen Injektion mit einem Anästhetikum an trigeminale Störfelder Linderung der Kopfschmerzen erreicht werden könnte. Da auch der „Unterleib“ als peripheres Störfeld der Migräne angesehen wird, werden suprapubische Infiltrationen bzw. Instillation von Lokalanästhetika am Frankenhäuser-Plexus empfohlen. Ein positiver Effekt in der Therapie des Kopfschmerzes konnte bisher durch kontrollierte Studien nicht erbracht werden.

Botolinum-Toxin Da man bei der etablierten Botulinum-Toxinbehandlung wegen dystoner und spastischer Syndrome eine zusätzliche schmerzreduzierende Wirkung erkannte, wurden zuletzt auch vielfach primäre Schmerzsyndrome behandelt. Durch die Annahme, dass eine muskuläre Störung als Faktor bei verschiedenen Kopfschmerzformen besteht, wurden in letzter Zeit vielfach versucht Spannungskopfschmerz und Migräne mit Botolinum-Toxin (teilweise mit Erfolg) zu behandeln. Botolinumtoxin ist ein Neurotoxin, das dosisabhängig an der neuromuskulären Endplatte wirkt und zu einer lokalen Relaxierung für einige Monate führt. Der exakte Wirkmechanismus von Botolinum-Toxin bei der Kopfschmerzbehandlung ist noch nicht ausreichend geklärt. Man nimmt an, dass ein länger anhaltender muskelrelaxierender Effekt (Kopf- und Nackenmuskel) zu einer Modulation des peripheren sensiblen Inputs und zu einer Änderung der zentralen Schmerzverarbeitung führt (Federspiel, Herbst 2005; Keidel et al. 2006). Mehrere Studien in verschiedenem Design und Fallberichte konnten die Wirksamkeit von Botolinum-Toxin in der Behandlung von Kopfschmerzen belegen, wobei vorwiegend Spannungskopfschmerz, „cervikogene“ Kopfschmerzen bei einer nicht einheitlichen Patientengruppe eine deutliche Besserung zeigte (Begleiterkrankungen, Mischkopfschmerz …). Die Injektionen mit Botox® oder Dysport® in individuelle Triggerpunkte oder Schmerzpunkte hat sich als wirksamer herausgestellt als bei einem standardisierten Injektionschema. Bewertung: Botulinum-Toxin Therapie könnte in Zukunft eine alternative Therapieoption bei Spannungskopfschmerz und ev. auch bei Migräne bieten.

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Therapien bei primären Kopfschmerzen

Tabelle 3. Therapieoptionen bei Spannungskopfschmerz (Konsensusteam der ÖKSG 2003) Wirksamkeit (Studien)

Empfehlung (ÖKSG)

Neuropsychologische Verfahren Entspannungstraining EMG – Biofeedback Stressbewältigungstraining Kognitive Methoden

B–C B–C B–C B–C

II II II II

Physikalische Therapie Heilgymnastik Manualtherapie TENS Massage Sonst. Elektrotherapie

C C C E E

III III III ? N.E.

Diverse Therapieformen Akupunktur Homöopathie Sport (diverse)

C E E

III N.E. ?

Bewertungen: Wirksamkeit: in publizierten Studien; A einheitliche positive Wertung; B überwiegend positive Wertung; C positive Wertung (Verschiedene Qualität der Studien); D (überwiegend) negative Wertung (Verschiedene Qualität der Studien); E nicht beurteilbar (nur Fallserien, Expertenmeinungen vorhanden). Empfehlung (Konsensusteam ÖKSG): I Empfehlung 1. Wahl; II Empfehlung 2. Wahl; III Empfehlung 3. Wahl; N.E. nicht empfehlenswert; ? nicht beurteilbar.

Akupunktur – Akupressur Aus der Traditionellen chinesischen Medizin stammt die Akupunktur, die immer mehr als alternative Behandlungsmöglichkeit bei verschiedenen, oft chronischer Erkrankungen in den Vordergrund tritt (Federspiel, Herbst 2005). Durch Reizung mittels Nadel oder Laser an ganz bestimmten Hautpunkten (auf Meridianen gelegen) werden Effekte ausgelöst, die einerseits als Kurzzeitoder Soforteffekte bezeichnet werden mit lokaler Wirkung. Eine Erklärungsmöglichkeit dafür wäre, dass es dabei zu einer Durchblutungsverbesserung bei Ausschüttung vasoaktiver Neuropeptide (antiinflammatorische Wirkung, somatoviszerale Reflexe) kommt. Langzeiteffekte könnten durch neuronale, endokrine und/oder vegetative Wirkungen erklärt werden. Eine Hemmung nozizeptiver Impulse auf spinaler Ebene und eine Aktivierung absteigender hemmender supraspinaler Bahnen. Auch die Freisetzung von Endorphinen und Enkephalinen, Oxytocin, Serotonin im ZNS könnte eine Erklärung dafür bieten. Akupunktur wird als eine Reflextherapie aufgefasst, um eine angenommene Gleichgewichtsstörung im Organismus auszugleichen und zu korrigieren. In der Behandlung werden in meist etwa 10 Sitzungen in wöchentlichem Rhythmus nach genauem Auswahl der Akupunkturpunkte Nadelreize gesetzt und etwa 30 Minuten belassen.

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Akupressur bietet eine Alternative zur begrenzten Selbsthilfe und bedeutet nur eine Variation der Akupunktur zur Behandlung leichterer Schmerzzustände. Dabei werden mit Hilfe eines Holzstäbchens oder Fingerbeere die gewählten Punkte gereizt. Weitere Variationen bieten Druckmassagen (z.B. Tuina oder Shitsu), die in der Kopfschmerztherapie eingesetzt werden kann. Bewertung: In den bisher vorliegenden Studien wird die Effektivität der Akupunktur als relativ wahrscheinlich dargestellt. Meist erzielt man damit kurzanhaltende Wirkungen, seltener längerfristige positive Effekte. Risiken der Akupunktur sind meist gering. Einsatzgebiete bei Kopfschmerz sind vor allem bei Spannungskopfschmerz, Migräne und atypischem Gesichtsschmerz zu finden.

Homöopathie Die Homöopathie gehört zu den beliebtesten Alternativbehandlungen des Kopfschmerzes überhaupt. Immer wieder werden unkonventionelle Behandlungsstrategien bei chronischen Leiden gesucht und dabei wird auch bei lang bestehenden, immer wieder kehrenden Kopfschmerzen scheinbar „nichtmedikamentöse“ Behandlungen angewandt, die durch die Einnahme nicht „schädlich“ erscheint. Daher gehören diese individuell verdünnten Mixturen (Prinzip der potenzierten Arznei) zu einem fixen Bestandteil der derzeit blühenden Komplementärmedizin. Bei der Homöopathie werden Kopfschmerzen mit verschieden hohen Verdünnungen von Heilkräutern behandelt. „Ähnliches mit Ähnlichem“ zu heilen ist das zu Grunde liegende Prinzip der Homöopathie („similia similibus curentur“). Durch die Homöopathie soll der somatische und der psychische Bereich der Kranken beeinflusst werden. Es werden abgestimmte, dem Symptomen ähnliche Substanzen (Medikamente) gegeben und abgestimmt (= Simile). Das Individuum in seiner Ganzheit –Soma und Psyche – wird damit erfasst. Es soll durch eine diffizile Exploration das Individuelle erkannt werden (z.B. 25 Schmerzqualitäten) und durch die erfolgte Arzneimittelfindung eine Harmonisierung und Stabilisierung oder Heilung erreicht werden (Wessely et al. 2003). Hömöopathische Arzneimittel zur Kopfschmerzbehandlung enthalten oft eine Mischung aus: – – – –

Geisemium (wilder Jasmin), Cyclamen (Alpenveilchen), Melilotus (Steinklee), Iris (Schwertlilie) und anderen.

Bisher ist zuwenig über die Wirkung und der Langzeiteffekte bekannt. Bewertung: Durchgeführte Studien in den letzten Jahren brachten insgesamt keine signifikante Besserung bei homöopathischer Behandlung gegenüber einer Behandlung mit Placebo.

Therapien bei primären Kopfschmerzen

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Die durchgeführten, publizierten Kopfschmerz-Studien in den letzten Jahre zeigte insgesamt keine signifikante Besserung bei homöopathischer Behandlung gegenüber einer Behandlung mit Placebo. Zusammenfassend muss gesagt werden, dass aktuell Homöopathische Präparate zur Kopfschmerztherapie nicht empfohlen werden können, da eine wissenschaftliche Belegung derzeit nicht besteht.

Naturheilverfahren und Phytotherapeutika Schon lange hat man den positiven Effekt von Pfefferminze, lokal als Öl aufgetragen (z.B. Stirn und Schläfe), zur Linderung von Kopfschmerzen erkannt und als alternative (Akut-)Therapie empfohlen (Wessely et al. 2000). Weitere Phytotherapeutika sind Mutterkraut- und Pestwurzextrakte die als Migräneprophylaktikum Verwendung finden. Verschiedene Diätprogramme für Kopfschmerzpatienten erstellt, sollen durch Entschlackung und „Entgiftung“ ein allgemeines Wohlbefinden und Beschwerdeerleichterung erreichen. Ernstzunehmende Studien brachten bisher keinen Hinweis für Wirksamkeit.

Psychophonie Bei der Psychophonie® handelt es sich um ein auditives Stimulationsverfahren, das einen neuen Ansatz in die Gruppe der „Neurophysiologischen Therapieverfahren“ bringt. Zur Generierung der Klangfolgen werden die individuellen EEG Signale des Patienten verwendet, um dann wieder auf die bioelektrische Aktivität des Gehirnes einzuwirken. Die Psychophonie® verwendet zur Generierung der Klangfolgen die eigenen bioelektrischen Signale des Gehirns, die in einer entspannten Ruheperiode mit einem EEG Gerät registriert werden (Trinka et al. 2002). Hypothese: Die aus dem entspannten Ruhe-EEG gewonnenen Klangfolgen enthalten auch die Informationen, die aus einer Oberflächenregistrierung des EEG gewonnen werden können. die Stimulation mit diesen Signalen, die als Reiz in Form von Klangfolgendargeboten werden kann somit wieder auf die bioelektrische Hirntätigkeit einwirkt. Ein individueller Ausgangspunkt ist gleichsam Ziel der Stimulation. Der angenommene therapeutische Erfolg der Psychophonie® wird damit erklärt, dass durch regelmäßiges Anhören der erstellten Tonfolgen Gehirnzentren positiv stimuliert werden, wodurch sich Kopfschmerzen vermindern. Die Methode ist bislang umstritten und wird von der ÖKSG und der DMKG bisher nicht empfohlen und als unwirksames Verfahren eingestuft. Ausständig sind die Ergebnisse weiterer wissenschaftlicher Studien.

Neuropsychologische Verfahren Frühzeitig soll bei beginnender Chronifizierung der Kopfschmerzen eine neuropsychologische Schmerzbehandlung nach klinischer Abklärung, interdisziplinär

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eingeleitet werden. Bevorzugt sollen bei Patienten mit Spannungskopfschmerz und Migräne bei vorliegender Indikation (siehe auch Empfehlungen der American Academy of Neurology im vorangehenden Kapitel) frühest möglich eine ergänzende psychologische Schmerzbehandlung erhalten (Niederberger, Kropp 2004; Pryse-Phillips et al. 1998). Dazu gehören neben verhaltenstherapeutische Strategien, Entspannungstechniken, Biofeedbackverfahren, Vasokonstriktionstraining, Stressbewältigungstechniken aber auch Autogenes Training. Eine zentrale Stellung nimmt die „Muskuläre Entspannung und Relaxation“ bei der Therapie von Migräne und Spannungskopfschmerz ein.

Progressive Muskelrelaxation (PMR) nach Jacobson Die Methode wurde vom Physiologen Edmund Jacobson entwickelt und beruht auf der Basis, dass eine Muskelkontraktion und der folgenden Entspannung eine nervöse Erregung der Großhirnrinde verursacht und systematisch angewendet zu einer Beruhigung des ZNS führt. Der Patient soll lernen seine Muskelverspannungen zu erkennen und zu lokalisieren und sie durch Entspannung zu beseitigen. Besondere Lokalisationen sind dabei Kopf-Nacken und Gesichtsmuskel, die zunächst angespannt und einige Zeit gehalten und anschließend entspannt werden sollen. Wer diese Technik beherrscht, kann sie selbst überall, das heißt ortsungebunden, jederzeit anwenden und (Kopf-)Schmerzattacken verringern bzw. verbessern.

Biofeedback Ergänzend zu den Entspannungstechniken bieten die Biofeedbackverfahren, die Möglichkeit Reaktionen des Organismus, Muskelanspannung akustisch oder visuell wahrzunehmen und in entspannter Situation nach entsprechenden Vorgaben zu steuern oder zu modifizieren. Als Sonderform kann ein EMG Biofeedback Gerät eingesetzt werden. Erfolgreich wird ein Temperaturbiofeedbackverfahren bei Migräne angewendet.

Verhaltenstherapie und Stressbewältigungstraining Patienten mit chronischen Kopfschmerzen und insbesondere bei Migräne und Spannungskopfschmerz benötigen neben einer exakten klinischen Diagnostik ein ausführliches psychologisches Anamnesegespräch. Ein Kopfschmerztagebuch, in dem wichtige Informationen über Schwere, Häufigkeit, Dauer, Beeinträchtigungen und Qualität der Kopfschmerzen dokumentiert werden (Bernatzky et al. 2006; Wessely et al. 2003). Dabei sind mögliche Auslösefaktoren im Nach-

Therapien bei primären Kopfschmerzen

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hinein leichter zu finden. Begleitphänomene, wie depressive Symptome können leichter erkannt und Behandlungen besser in das gesamte Therapiekonzept eingebaut werden. Nach Analyse der erkennbaren Begleitphänomenen und Selbstwahrnehmung und nach Einleitung verschiedener Entspannungstechniken ist der Weg zum Erlernen individueller Schmerzbewältigungstechniken frei. Ziele werden vom Patienten und Therapeuten gesetzt und können zu einer Verbesserung der Schmerzbewältigung, Schmerzkontrolle, Erhöhung der Lebenszufriedenheit führen. Bei optimaler Therapie können auch die Schmerz- und Attackenhäufigkeit, Schmerzintensität und Schmerzmittelverbrauch verbessert werden. Diese Therapieverfahren sind sowohl in Kombination mit Entspannungstechniken schmerzspezifisch als auch führen sie zu einer „Stärkung der Selbstkontrollkompetenz“ und verbesserten Schmerzbewältigung.

Magnetfeldtherapie Magnetfelder verschiedener Stärke werden gegen Kopfschmerzen eingesetzt. Es gibt keine Studien, die die Wirksamkeit bei Kopfschmerzen belegen.

Zusammenfassung Es gibt vielfältige unkonventionelle Behandlungsverfahren, die sehr oft und sehr intensiv angewandt werden, aber deren Verträglichkeit bzw. auch Wirksamkeit nicht ausreichend untersucht wurden, aber dem Einzelnen gelegentlich Besserung brachte. Eine generelle Empfehlung dafür kann jedoch nicht gegeben werden. Teilweise können angewandte „Therapieverfahren“ sogar Verschlechterung bringen oder auch als Auslöser für Kopfschmerz- und Migräneattacken angesehen werden. Dazu gehören unter anderen z.B. Massagen, Manuelle Therapie und Chiropraktik, Kältetherapie oder Besuch einer Sauna. Lebensstiltherapie, progressive Muskelrelaxation, Verhaltenstherapien, Entspannungstechniken sowie Stressabbau- und Bewältigungsstrategien, sind wirkungsvolle Maßnahmen zur Mitbehandlung bei Vorliegen einer Migräne. Beibehaltung eines regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus (auch an Freizeit/Wochenenden), Vermeiden bekannter Trigger (zB. Alkohol, Nikotin), regelmäßige körperliche Aktivität, wie z.B. Joggen oder anderen leichten Ausdauersport können leicht angewendet werden und langzeitige Besserung bringen. Autogenes Training, Biofeedback, Vasokonstriktionstraining lassen sich in wissenschaftlichen Untersuchungen nicht mit medikamentöser Prophylaxe vergleichen bzw. schneiden als alleinige Therapie schlechter ab, werden aber als Begleitmaßnahme zur medikamentösen Therapie von der ÖKSG empfohlen und sollen jede eingeleitete Prophylaxetherapie ergänzen.

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Akupunktur in ihren verschiedensten Verfahren wird heutzutage kontraversiell diskutiert. Umfangreiche Studien liegen vor, die mäßige, großteils nur kurzfristige positive Therapieeffekte zeigten. Therapie mit „Homöopathie“ ist eine Alternativbehandlung, die sehr beliebt ist, weil ihre Einnahme nicht „schädlich“ ist. Bisher fehlt jedoch der Nachweis eines evidence-based Effektes. Alternative Behandlungen können im Einzelfall kurzzeitige Besserung bringen, müssen aber immer kritisch gesehen werden, um nicht durch falsch erweckte Hoffnungen oder falsch interpretierte Versprechungen die ärztliche Vertrauensbasis zu belasten.

Literatur Bernatzky G, Likar R, Luthringshausen G, Wenko M (2006) Mein Migräne-Tagebuch, Aktiv werden bei Migräne, Vorsorge-Modell, 1. Aufl. Verlag Clara Lumina, Salzburg, 49 S Diener HC (2002) Kopf- und Gesichtsschmerzen. Thieme, Stuttgart Federspiel K, Herbst V (2005) Die Andere Medizin. Stiftung Warentest Göbel H (2004) Die Kopfschmerzen 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg, New York Tokyo Keidel M, et al (2006) Kopfschmerzmanagement in der Praxis. Thieme, Stuttgart Niederberger U, Kropp P (2004) Die nichtmedikamentöse Behandlung der Migräne. Schmerz 18 (5): 415–420 Pryse-Phillips William EM, et al (1998) Guidelines for the nonpharmacologic management of migraine in clinical practice. CMAJ 159 Trinka E, Luthringshausen G, et al (2002) An auditory electrophysiological intervention in migraine. J Neurother 6: 21–31 Wessely P, Wöber C, et al (2003) Behandlung von Kopf- und Gesichtsschmerzen. Therapieempfehlungen der ÖKSG Facultas Wessely P, et al (2000) Praktischer Umgang mit Kopf- und Gesichtsschmerzen. Springer, Wien New York

Psychologische Behandlung von Kopfschmerzen und Migräne J . MA L Y

Patienten mit chronischen Kopfschmerzen sollten im Rahmen einer spezifischen Facheinrichtung (Schmerzambulanz, Schmerzklinik) prinzipiell neben der medizinischen auch einer klinisch-neuropsychologischen Abklärung zugeführt werden, da chronische Schmerzen in vielen Fällen ein besonderes verhaltenspsychologisches Problem darstellen. Chronische Schmerzen entstehen bei einem Teil der Patienten durch eine abnorme Dauerkontraktion verschiedener Muskelgruppen, insbesondere des M. trapezius. Die vermehrte Muskelspannung tritt anfänglich unbemerkt auf und macht sich erst in späterer Folge als Schmerz bemerkbar. Zu diesem Zeitpunkt ist es meist schon zu einer Chronifizierung der muskulären oder auch vaskulären Fehlsteuerung gekommen. Berufstätigkeiten mit unphysiologischen Belastungen, Anspannung und psychische Fehlhaltungen fördern die Entstehung und Aufrechterhaltung der chronischen Schmerzen. Häufig findet sich bei diesen Patienten eine verminderte Wahrnehmungsfähigkeit eigener Empfindungen und Gefühle. Nach den Empfehlungen des US Headache Consortium der American Academy of Neurology sind psychologische Behandlungsmethoden vor allem bei folgenden Patienten zur Anwendung zu bringen: – – – –

Patienten, die nichtmedikamentöse Behandlungen bevorzugen Patienten mit schlechter Verträglichkeit medikamentöser Behandlungen Patienten mit Kontraindikationen für eine medikamentöse Behandlung Patienten mit ungenügendem oder fehlendem Ansprechen auf eine medikamentöse Behandlung – Patientinnen mit geplanter oder bestehender Schwangerschaft – Patienten mit einem langanhaltenden und/oder exzessiven Medikamentenmissbrauch

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Zu den etablierten psychologischen Behandlungsmethoden mit nachgewiesenen therapeutischen Erfolgen zählen (Kröner-Herwig, Frettlöh 2004; Maly 2003, 2004; Maly, Wessely 2006; Niederberger, Kropp 2004): – – – – – – – –

Muskuläre Entspannung und Relaxation Verhaltenstherapie Stressbewältigungstechniken Kognitive Therapie EMG-Biofeedbacktraining Vasokonstriktionstraining Temperatur-Biofeedback – Handerwärmungstraining Autogenes Training

An dieser Stelle soll in erster Linie auf das Vasokonstriktions- und das Handerwärmungstraining bei Migräne eingegangen werden. Die weiteren Verfahren werden bei der psychologischen Behandlung des Spannungskopfschmerzes dargestellt.

Vasokonstriktionstraining zur Behandlung von Migräne Viele Patienten kennen einen vorwiegend im Schläfebereich pulsierend-pochenden Kopfschmerz, der oft mit Übelkeit und anschließendem Erbrechen einhergeht. Dieser pulsierende Schmerz an der Schläfearterie stellt für die Patienten ein ausgeprägtes aversives Körperempfinden dar, welches ihnen die Beteilung der Blutgefäße am Migräneanfall deutlich macht. Solche Patienten sind prädestiniert für ein Vasokonstriktionstraining (VKT), welches auf eine aktive und selbstregulierende Kupierung des Anfalls hinzielt (Gerber 1986). Die Therapie gliedert sich in vier Schritte: a) In der Phase der Selbstbeobachtung lernt der Patient mit Hilfe des Kopfschmerzkalenders und des Schmerzfragebogens den Ablauf seiner Migräneattacke kennen und zu beschreiben. b) In der zweiten Phase wird das Erlernen einer systematischen Körperwahrnehmung geübt. Die Übungen dienen dazu, den vom Migräneanfall betroffenen Körperteil (z.B. Schläfenarterie) in unterschiedlicher Intensität zu empfinden und ein inneres Gefühl für den Rhythmus des Pulsschlages zu entwickeln. Dem Patienten wird anschließend der Behandlungsablauf und das Therapieziel dergestalt beschrieben, dass er erlernen soll, seine Blutgefäße willentlich zu verengen, da in der eigentlichen Phase des Migräneanfalls eine Gefäßerweiterung vorliegt. c) Dem eigentlichen Therapiebeginn geht die Ableitung und Aufzeichnung eines noch unbehandelten Migräneanfalls mit dem Vasokonstriktionsgerät voraus. Der Patient wird durch eine an der Schläfearterie liegende Elektrode (Infrarotpulsplethysmographie) an das Gerät angeschlossen und soll versuchen, seine Blutgefäße willkürlich zu verengen. Er bekommt eine Rückmeldung in Form eines Kreises und wird aufgefordert, diesen möglichst klein zu machen.

Psychologische Behandlung von Kopfschmerzen und Migräne

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Danach nimmt der Patient seine gewohnte Medikation ein. Diese Registrierung des Migräneanfalls ermöglicht vor dem Therapiebeginn eine Erfassung des Anfallsgeschehens unter den Bedingungen der Selbstregulation und der Medikation. d) Danach folgt die Phase des Gefäßtrainings nach einem genauen Ablaufschema. Der Patient erhält 10 Sitzungen in der Dauer von etwa einer Stunde in wöchentlichen Abständen, wobei der jeweilige Lernfortschritt sichtbar gemacht wird. Wie alle Biofeedbackverfahren basiert auch das VKT auf den lernpsychologischen Kriterien des operanten Konditionierens, die es erforderlich machen, dass jeder Lernfortschritt verbal belohnt wird. Haben die Patienten Schwierigkeiten, eine adäquate Strategie zu finden, so werden ihnen Hilfsvorstellungen (z.B. Enge, Kälte) angeboten, die das Erreichen des Therapiezieles erleichtern. Die Ergebnisse des VKT sind ähnlich ermutigend wie die des EMG-Biofeedbacktrainings. Etwa 66 Prozent der mit VKT behandelten Migränepatienten erlernen das Gefäßtraining im Laufe von 8–10 Sitzungen und vermögen es erfolgreich zur Anfallskupierung einzusetzen.

Temperaturbiofeedback zur Behandlung von Migräne Beim Handerwärmungstraining (HET) lernt der Patient, gezielt eine Steigerung seiner Fingertemperatur und damit seiner peripheren Durchblutung zu bewirken. Das HET ist sehr einfach durchzuführen und stellt zugleich ein gutes Training der generellen Entspannungsfähigkeit dar. Ein Temperatursensor gehört zum Standard einer jeden Biofeedbackanlage. Temperaturbiofeedback (HET) und Vasokonstriktion (VKT) gelten heute als sehr effektive psychologische Verfahren zur Behandlung der Migräne und werden häufig in Kombination mit anderen Entspannungsverfahren (Autogenes Training, Progressive Muskelrelaxation) eingesetzt. Die generelle Effektivität beider Methoden ist in etwa vergleichbar. Das VKT besitzt seine besondere Wirksamkeit bei der direkten Anfallskupierung, das HET wird besonders zur Intervallprophylaxe eingesetzt.

EMG-Biofeedback bei Spannungskopfschmerzen Unter Biofeedback versteht man die apparative Erfassung eines physiologischen Prozesses und dessen kontingente Rückmeldung an einen Patienten. Es handelt sich dabei, wie z.B. bei der muskulären Anspannung, um Vorgänge, die nur unzureichend wahrgenommen werden können, und die sich der willkürlichen Kontrolle weitgehend entziehen. Die Biofeedbacktherapie verwendet diese transformierten, nunmehr sichtbaren und hörbaren Funktionen zur Erlernung einer bewussten Kontrolle über diese sonst weitgehend autonom ablaufenden Vorgänge (Jessup, Gallegos 2005; Rief, Birbaumer 2006).

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Unter Anwendung des operanten Lernparadigmas (Festlegung eines Lernkriteriums, Rückmeldung kriteriumsorientierter Veränderungen als Verstärker) kann Biofeedback zur willentlichen Kontrolle der jeweiligen physiologischen Funktion genutzt werden. Daraus resultieren eine Verbesserung der Wahrnehmung und Diskriminationsfähigkeit physiologischer Veränderungen, der Einsatz geeigneter mentaler Kontrollstrategien sowie die Selbstverstärkung bei Verringerung der Diskrepanz zwischen Entspannungsleistung und Kriterium. In der Standardprozedur der Biofeedbacktherapie versucht der Patient, in entspannter Position liegend, die wahrgenommenen Signale in die als Therapieziel (Kriterium) definierte Richtung zu modifizieren. Jede Veränderung wird sofort als Amplitudengraphik auf einem Videoschirm und als amplitudenmodulierter Ton über Kopfhörer angezeigt. Biofeedback und seine Anwendung als psychologische Therapie vor allem beim Spannungskopfschmerzen und Migräne setzt einen ausreichenden Stand der elektronischen Mess- und Regeltechnik sowie die Anwendbarkeit lernpsychologischer Paradigma im humanpsychologischen Bereich voraus.

EMG-Biofeedback Die Behandlung von Patienten mit chronischen Kopf- oder Kreuzschmerzen erfolgt an einem mehrkanaligen Biofeedbacksystem. Bis zu 4 EMG-Ableitungen erfassen den Spannungszustand der Stirn-, Gesichts-, Nacken-, Schulter- und Rückenmuskulatur. Zusätzlich wird die Atmung über eine bewegungssensible Infrarotregistrierung der Atemexkursion und der Atemfrequenz erfasst (respiratorisches Feedback). Liegen Hinweise auf eine vegetative Dysregulation vor, so werden zusätzlich von der Haut die Oberflächentemperatur und die elektrische Leitfähigkeit (psychogalvanische Reaktion) abgeleitet. Generell liegt dem EMG-Biofeedback, oft kombiniert mit dem Atemfeedback die gesicherte Beobachtung zu Grunde, dssß es gegen muskuläre Spannungszustände wirkt, wie sie im Zusammenhang mit chronifizierten Schmerzen auftreten. Die Möglichkeit zur Entspannung ist eine lebenswichtige Voraussetzung für jede gerichtete Aktivität. Ziel der Biofeedbacktherapie ist es, Entspannung zu erlernen, falls die natürliche Fähigkeit dazu verlernt wurde oder im Zuge besonderer Lebensumstände oder einer Krankheit verloren ging. In der Regel geschieht das Wiedererlernen im Rahmen einer psychologischen Intervention, die bei vielen Patienten häufig während des stationären Aufenthaltes begonnen und danach ambulant fortgesetzt wird. Ein Behandlungsblock umfasst 10 Sitzungen in der Dauer von 30 Minuten, wobei in Abhängigkeit vom Ansprechen des Patienten bis zu 3 Behandlungsblöcke mit dazwischen liegenden Pausen in der Dauer von vier bis sechs Wochen durchgeführt werden. Die Behandlungsergebnisse und der Behandlungsverlauf werden an Hand eines Schmerzkalenders ausführlich dokumentiert. In etwa 70% der Fälle von

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Patienten mit chronischen Schmerzen wird nicht nur eine signifikante Abnahme der Frequenz und Intensität der Beschwerden, sondern auch ein deutlicher Rückgang der Einnahme von schmerzstillenden und spannungslösenden Medikamente beobachtet. Die Übertragung der einzelnen Therapieerfolge in den Alltag beginnt bereits nach der ersten Trainingssitzung. Der Patient wird angewiesen, jeden Tag mindestens eine Entspannungsübung in der Dauer von 10–15 Minuten durchzuführen. Etwa ab der sechsten Übungssitzung beim Therapeuten soll die erlernte Entspannung zur aktiven Stress- und Spannungsbewältigung eingesetzt werden. Es ist dabei nicht unbedingt erforderlich, dem Patienten ein Heimgerät für sein tägliches Training mitzugeben. Es hat sich gezeigt, dass die meisten Patienten in der Lage sind, die Therapiesituation als Orientierung für die häuslichen Entspannungsübungen zu benützen. Das zusätzliche Erlernen einer muskulären Entspannungstechnik oder die Verwendung einer Tonbandkassette erweist sich jedoch meist von Vorteil. Nach den Kriterien der evidence based medicine handelt es sich bei allen oben angeführten psychologischen Verfahren um Therapiemethoden der 2. Wahl, womit ausgesagt wird, dass Metaanalysen und kontrollierte Studien mit überwiegend positiver Wertung vorliegen. Für die Wirksamkeit von Hypnose, psychoanalytischer Einzeltherapie, Paarund Familientherapie bei der Behandlung von chronischen Spannungskopfschmerzen und Migräne liegen keine fundierten Studien vor (Gerber 1986).

Literatur Gerber WD (1986) Verhaltensmedizin der Migräne. Edition Medizin. VCH, Weinheim Jessup BA, Gallegos X (2005) Relaxation and biofeedback. In: Wall PD, Melzack R (eds) Textbook of pain. Churchill Livingston, Edinburgh Kröner-Herwig B, Frettlöh J (2004) Behandlung chronischer Schmerzsyndrome: Plädoyer für einen multiprofessionellen Therapieansatz. In: Basler HD, Carmen F, Kröner-Herwig B, Rehfisch HP (Hrsg) Psychologische Schmerztherapie. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 499–524 Maly J (2003) Nichtmedikamentöse Therapie-Neuropsychologische Verfahren. In: Wessely P, Wöber C (Hrsg) Behandlung von Kopf- und Gesichtsschmerzen. Therapieempfehlungen der österreichischen Kopfschmerzgesellschaft. Facultas, Wien, S 113–118 Maly J (2004) Psychologische Behandlungsmehtoden bei Patienten mit chronischen Schmerzen. In: Kress HG (Hrsg) Aktuelle Schmerztherapie. EcoMed 2.3.1., 1–9 Maly J, Wessely P (2006) Neuropsychologische und neurologische Aspekte ausgewählter Kopfschmerzformen. In: Lehrner J et al (Hrsg) Klinische Neuropsychologie. Springer, Wien New York, S 347–363 Niederberger U, Kropp P (2004) Die nichtmedikamentöse Behandlung der Migräne. Schmerz 18: 415–420 Rief W, Birbaumer N (2006) Biofeedback-Therapie. Schattauer, Stuttgart

Humor trotz(t) Schmerzen I . P A T S CH

Schmerzen werden erst, nachdem sie nachgelassen, angenehm. Heinz Erhardt Ist von Humor die Rede, gilt die verbreitete Meinung: entweder wir haben oder wir haben keinen Humor. Sprechen wir von Schmerzen, gibt es viele Menschen, die aus eigener Erfahrung Schmerzen kennen. Der Begriff „Schmerz“ ist ein Wort und ein Wort tut uns nicht weh. Ebenso geht es uns mit dem Wort „Spritze“. Zunächst ist Spritze ein Wort und sticht niemanden. Das Wort „Spritze“ beginnt erst zu leben, wenn wir eine bestimmte Erfahrung damit verbinden. Was taucht in der eigenen Erinnerung an unsere erste Spritze auf? Sind wir erschrocken? Hat uns der Stich weh getan? Je nach Erfahrung kann das Wort Spritze etwas Unangenehmes auslösen. Trotz aller Erklärungen, dass das Medikament in der Spritze vor unliebsamen Krankheiten schützt, den Schmerz vergessen wir nicht. Schmerz- und Humorerlebnisse haben eine Gemeinsamkeit: unser persönliches Gefühl drückt sich in beiden aus. Da wir Menschen einmalig und einzigartig sind, lachen wir auch über Unterschiedliches. Der Witz, der bei manchen Menschen schallendes Gelächter hervorruft, äußert sich bei anderen in einem gequälten Lächeln. Schmerzen, welche manche Menschen empfinden, zwingen einige ins Bett, während andere noch immer ihren Alltag bewältigen. Weder für den Humor noch für den Schmerz gibt es eine Skala, an der wir ablesen können, ob wir noch lachen können oder schon weinen sollen. Die Begleitung von Schmerzpatienten darf nie im Denken enden: „Ich weiß, wie ich Schmerzen behandle“. So wichtig ein gutes Maß an fachlicher Kompetenz ist, so wesentlich ist die Erkenntnis, dass Fachwissen allein nicht ausreicht. Ohne Menschlichkeit wird das Fachwissen zum eiskalten Gewusst-Wie. Einfühlungsvermögen, Zuwendung, Empfinden für Nähe und Distanz sind spezifisch menschliche Fähigkeiten. Sie sind Voraussetzungen für den guten Draht, der Begegnung und Beziehung mit Schmerzpatientinnen erleichtert. Es braucht beides: Die fach-

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liche Kompetenz, wie wesentlich eine effiziente Schmerztherapie ist und die Menschlichkeit des leisen Händedrucks im rechten Augenblick. Fehlt eines von beidem wird die Behandlung von den Betroffenen manchmal als unerträglich erlebt. Während der Humor als Fähigkeit gilt den Schwierigkeiten und Missgeschicken des Alltags mit heiterer Gelassenheit zu begegnen, alarmiert uns der Schmerz über eine Störung im Körper. Der Humor wäre überfordert, wenn wir von ihm verlangen den Grund für die Störung zu beheben. Der Humor ist nicht geeignet, Schlimmes weniger schlimm zu machen. Mit Hilfe des Humors können wir die Begleitumstände von Schmerzen erträglicher machen. Der Humor ist ähnlich einem Rettungshubschrauber, der uns aus der akuten Gefahrenzone bringt. Der Humor ist der Hubschrauber, der uns Distanz für Sekunden schenkt. Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, der dritten Wiener Richtung der Psychotherapie schreibt: Der Humor ist eine Waffe der Seele im Kampf um ihre Selbsterhaltung. Ist es doch bekannt, dass der Humor wie kaum sonst etwas im menschlichen Dasein geeignet ist, Distanz zu schaffen und sich über die Situation zu stellen, wenn auch nur, wie gesagt, für Sekunden. Die Lizenz als Humor-Hubschrauberpilot kann jeder Mensch erwerben. Die frohe Botschaft der Hirnforschung lautet, dass nichts im Gehirn so bleibt, wie wir es gewohnt sind. Lernen wir unsere Gewohnheiten zu verändern, lernen auch unsere Nervenzellen neue Verschaltungen im Gehirn anzulegen. Diese Erkenntnis gilt für Schmerzpatienten und für das Pflegepersonal, wenn wir Humor als Lebenskunst erlernen wollen. Humor hilft vor allem Grenzen erkennen und diese Grenzerfahrungen auch auszuhalten. Der Humor hilft uns zu unterscheiden, ob es sich um Trauer oder Selbstmitleid handelt.

Selbstmitleid und Humor Jeder Mensch braucht eine gewisse Zeit zum Abschiednehmen von Gewohntem. Schmerzpatienten müssen nicht nur mit den Schmerzen fertig werden, sondern auch mit den äußeren Bedingungen, die sich verändert haben. In dem Buch „Dienstags bei Morrie“ schildert Mitch Albom die Begegnung mit seinem alten Professor Morrie Schwartz, der an ALS erkrankt ist. Die Gedanken sind geprägt von Morries Humor und seinem tiefen Verständnis für das Menschliche. Auf diese Weise begegnet er auch seiner wachsenden Hilflosigkeit und seinem Selbstmitleid. Ich fragte Morrie, ob er sich selbst bemitleide. „Manchmal, am Morgen“, sagte er. „Das ist die Zeit, in der ich trauere. Ich betaste meinen Körper, ich bewege meine Finger und meine Hände – alles, was ich noch bewegen kann –, und ich betrauere, was ich verloren habe. Ich betrauere die langsame, heimtückische Art, wie ich sterbe. Aber dann höre ich auf zu trauern.“ „Einfach so?“

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„Ich gestatte mir, einmal richtig zu weinen, wenn ich das brauche. Aber dann konzentriere ich mich auf all die guten Dinge, die es noch in meinem Leben gibt. Auf die Leute, die mich besuchen kommen. Auf die Geschichten, die ich hören werde. Auf dich – wenn es Dienstag ist.“ Ich lächelte. „Mehr Selbstmitleid als das gestatte ich mir nicht. Ein bisschen jeden Morgen, ein paar Tränen, das ist alles.“ Manche Menschen haben in schwierigen Situationen eines gelernt: Jammern. Klagen ist wichtig und Trauern über den Verlust der Gesundheit wesentlich. Doch das permanente Jammern ist wie ein Schwimmen im Meer des Selbstmitleids. Betroffene, die im Meer des Selbstmitleids auf Rettung warten, sind darauf fixiert, dass sich die Bedingungen verändern. Sie sehen weder das Rettungsboot noch das rettende Ufer. Beides verschwimmt im Nebel der endlosen Jammerei, der aus dem Meer des Selbstmitleids aufsteigt. Für Patient und Ärztin, für Patientin und Krankenpfleger ist die beleidigte Forderung eine der uenrträglichsten Situationen. Die Auseinandersetzung mit den eigenen veränderten Bedingugen an andere zu delegieren, löst bei allen Beteiligten Hilflosigkeit aus. Die Chance aus der lähmenden Lethargie heraus zukommen, besteht im Ergreifen von möglichen Aktivitäten. Auch für Schmerzpatienten – sofern sie bei Bewusstsein sind – gibt es Möglichkeiten aktiv zu werden. Morrie Schwartz lebte dies eindrücklich. Aktiv werden bedeutet nicht aus dem Bett springen und Kniebeugen machen. Aktiv werden kann man auch geistig. Eine der schönsten Formen geistiger Aktivität ist der Humor.

Humor als geistige Aktivität – Lesen Sie Humorvolles und Ermutigendes! Gedichte und Kurzgeschichten eignen sich besonders. Z.B. Eugen Roth Die Welt, sie ist im Grund roh, und trotzdem sind die Menschen froh. Drum lest und lacht – denn, Gott sei Dank, es lacht so leicht sich keiner krank. – Schreiben Sie sich humorvolle Antworten aus Filmen oder Theaterstücken auf und wenden Sie diese an. Hier sind einige Aussprüche: „Wär’ ich lieber vorsichtig gewesen, dann müsst ich jetzt nicht so nachsichtig sein.“ „Ich ärgere mich gar nicht, ich bin nur wütend!“ „Mit dem bin ich nicht gern allein!“ – Hängen Sie Cartoons auf und wechseln Sie diese von Zeit zu Zeit aus.

Humor als Kooperation mit dem Unvermeidlichen Kooperieren mit dem Unvermeidlichen bedeutet zu wissen, dass der Tod das irdische Leben beendet. Gedanken an den unvermeidlichen Tod könnten uns

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hindern von uns und anderen unerfüllbare Wunder zu verlangen. Die Errungenschaften der Medizintechnik grenzen fast an Wunder. Auf der Suche nach dem Grund der Schmerzen mögen die Bild gebenden Diagnosemöglichkeiten unangenehm sein, aber sie verursachen kaum Schmerzen. Doch nicht alles, was technisch machbar ist, ist menschlich möglich. Die persönliche Auseinandersetzung mit der veränderten Lebenssituation aufgrund von Schmerzen, nimmt uns kein noch so wirksames Medikament ab. Die sinnvolle Auseinandersetzung bleibt den Betroffenen nicht erspart. Die Erkenntnis, dass trotz Einfühlungsvermögen und allem Bemühen die Wirksamkeit des Helfens eine Grenze hat, bleibt den Pflegenden nicht erspart. Wir leben in einer Kultur, die der Thematik Schmerz und Leid wenig Zuwendung widmet. Wir lehren die falschen Dinge. Und man muss stark genug sein, um zu sagen: Wenn die Kultur nicht funktioniert, dann pass dich ihr nicht an. Schaff dir deine eigene. Die meisten Menschen können das nicht. Sie sind unglücklicher als ich – selbst in meiner augenblicklichen Verfassung. Dieses Plädoyer von Morrie Schwartz könnte einigen Menschen helfen, sich trotz aller schmerzlichen Einschränkungen eine eigene Kultur des Humors zu schaffen. Humor erfordert Liebesfähigkeit und Schmerzen verlangen Leidensfähigkeit. Liebes- und Leidensfähigkeit sind eng aneinander gebunden und so flüstert der Humor den Schmerzen zu: „Was schwer ist, muss nicht schwer genommen werden.“

Wie finde ich mein Maß zwischen Nähe und Distanz? Für Menschen, die im Pflegebereich arbeiten, könnte die Erinnerung, dass nicht alles, was schwer ist auch schwer genommen werden muss, hilfreich sein. Nur wie geht dies in der praktischen Umsetzung? Hier ein Beispiel: Frau Myriam arbeitet als DGKS auf einer Unfallstation. Als sie nach einigen freien Tagen wieder zum Dienst erscheint, wird sie von ihrer Stationsschwester mit den Worten empfangen: „Na, arbeitest du auch wieder einmal!“ Frau Myriam erwiderte lächelnd: „Ich arbeite immer dann, wenn ich lt. Dienstplan dran bin und der ist von dir.“ Als die Stationsschwester in das fröhliche Gesicht von Myriam blickte, musste sie hellauf lachen. Das Funktionieren um jeden Preis und der permanente Perfektionismus sind zu einem unbedingten Muss geworden. Das „Funktionieren-Müssen“ und der Perfektionismus bekommen vom Streben nach Erfolg und der Maximierung nach Glück neue Nahrung. Neben dem Gewusst-Wie ist die innere persönliche Haltung entscheidend. So wie der eigene Körper der Pflege bedarf, braucht auch die innere Haltung jedes Menschen, der einen helfenden Beruf ausübt eine Pflege. Die innere Haltung ruht auf der Freude an der Arbeit trotz aller Schwierigkeiten. Die Freude an der Arbeit drückt sich in der guten Laune aus. In meinem Buch Die Humorstrategie steht:

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Wenn die schlechte Laune der Schnupfen des Gemüts ist, sind die Schuldgefühle der Muskelkater der Seele. Der seelische Muskelkater eines Menschen bleibt chronisch, wenn er dauernd mit den Schnupfenviren des Gemütes bombardiert wird. Woran man diesen Schnupfen erkennt? Am Nörgeln, Meckern, Kritisieren und – im fortgeschrittenen Stadium – am eisigen Schweigen! Aus der schlechten Laune kann uns der Humor retten. Allerdings müssen wir etwas dafür tun. Solange wir der Meinung sind, dass wir erst dann Humor einsetzen könnten, wenn unsere lieben Mitmenschen mehr arbeiten würden und netter wären, wird der Rettungshubschrauber des Humors an uns vorbeifliegen. Ein ideales Übungsfeld für den Humor sind Kollegen und Mitarbeiterinnen. Bei Sr. Tanja ist der Humor nicht vorbei geflogen, sondern gelandet. Sr. Hildegard, eine Kollegin, schaffte es auch dann Hektik zu verbreiten, wenn kein Grund vorlag. Immer dann, wenn besonders viel los war, begann Sr. Hildegard den Medikamentenschrank aufzuräumen. Überdies hatte Sr. Hildegard das besondere Talent, ihr Bemühen um Ordnung den anderen vorzuwerfen. Der Vorwurf erwischte Tanja: „Ich habe dir schon so oft gesagt …“ Tanja unterbrach Hildegard, schaute sie mit einem verschmitzten Lächeln an und sagte: „… dass du mich magst. Ich hab dich auch lieb.“ Sr. Hildegard war so erstaunt, dass sie vergaß, dass sie eigentlich klagen wollte.

Menschlichen Grenzen mit Humor begegnen Der Humor kann uns aus Situationen retten, in denen uns der normal verrückte Alltag an unsere Grenze bringt. In diesen Stunden tut es gut zu wissen, dass wir uns nicht nur auf unsere eigenen Fähigkeiten verlassen können, sondern auch auf die Hilfe anderer. Professor Christian Barnard, Ende 1967 durch die erste Herzverpflanzung weltberühmt geworden, trieb auf Reisen mancherlei Unfug. In Montreal war er es satt, immer wieder denselben, wortwörtlich ausgearbeiteten Vortrag vor Ärzten zu halten, tauschte mit seinem Chauffeur den Anzug und beauftragte diesen, einen agilen, sprachgewandten Burschen, den Vortrag zu verlesen. Der tat das auch erstaunlich geschickt. Doch plötzlich bekam er einen massiven Zwischenruf. Ohne mit der Wimper zu zucken, erwiderte er: „Ich muss mich doch wundern, dass Sie mit einem so billigen Einwand kommen. Dazu kann sogar mein Chauffeur Stellung nehmen, der dort hinten im Cordanzug sitzt. Fragen Sie ihn nach dem Vortrag und stören Sie mich nicht weiter.“ Wesentlich ist, dass wir uns bewusst werden, dass wir Menschen sind und das bedeutet, wir sind begrenzt. Jetzt geht es weniger um die Grenze, welche der Tod dem Lebendigen setzt, sondern um die Einstellung: „Es ist nie genug!“ Es gibt Menschen, die sehen nie das, was bereites getan wurde. Das Unerledigte zieht sie magisch an. Diese Menschen, ob Patienten oder Vorgesetzte, sehen nur das, was nicht getan wurde.

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Das Beispiel von Prof. Barnard brachte Irene, eine Gesundheits- und Krankenschwester, die in einem Pflegeheim arbeitete auf die Idee sich vertreten zu lassen. Eine Heimbewohnerin war von allen gefürchtet. Jeder, der in ihr Zimmer kam wurde mit einer Klagemauer verwechselt. Nicht nur das Pflegeteam, sondern auch die Angehörigen kamen an ihre Grenzen. Sr. Irene brachte zur Dienstbesprechung eine lebensgroße Figur aus Karton mit. Sie hat die Figur im Supermarkt organisiert. Der eigentliche Zweck der Figur, sie stellte Mozart dar, war Werbung für Mozartkugeln. Irene zog dem Mozartkugelmann Schwesternkleidung an und hing der Figur einen Notizblock um den Hals. Nachdem alle im Team einverstanden und die Familienangehörigen verständigt waren, brachte sie die allzeit bereite Beschwerdeschwester ins Zimmer der Heimbewohnerin. Irene erklärte feierlich: „Liebe Frau, wir haben heute eine Überraschung für Sie. Aufgrund der Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen haben wir neue Mitarbeiter bekommen. So wie die Polizei auf den Straßen manchmal von Attrappen vertreten wird, helfen uns in Zukunft die so genannten Beschwerdeschwestern. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, notieren Sie Ihre Beschwerde.“ Zum ersten Mal war die Heimbewohnerin sprachlos und meckerte nicht. Irene und ihrem Team ging es mit dieser Aktion nicht darum, die alte Dame nicht ernst zu nehmen, sondern um ihr zu zeigen, dass nicht jede Unannehmlichkeit sofort gemeldet und behoben werden muss. Das Erstaunliche daran war, dass die Heimbewohnerin aufhörte einen Grund für Beschwerden zu suchen. Bei aller Freude über Gelungenes werden wir immer wieder mit Situationen konfrontiert, die unsere menschliche Begrenztheit deutlich machen. Meistens ist dann Veränderung gefragt.

Humor hilft bei der Veränderung von Gewohnheiten Nicht nur Schmerzen können chronisch werden, sondern auch Gewohnheiten. Gewohntes und Liebgewordenes aufgrund von Schmerzen nicht mehr tun zu können, ist ebenso schwierig wie neue Gewohnheiten zu erlernen. Wie dank ich euch, ihr Krankheitstage, die ihr so hoch gesegnet seid! Die ihr uns trennet von der Plage der irdischen Beweglichkeit. Entwickelt sich aus der Erleichterung der ersten Tage, in denen man der „Plage der irdischen Beweglichkeit“ entkommen ist, die Gewohnheit sich bedienen zu lassen, wird es für alle Beteiligten schwierig bis unerträglich. Je länger einem Menschen der Zustand jenseits der Plage der irdischen Beweglichkeit gefällt, umso schwieriger wird es für ihn selbst und vor allem für das Pflegeteam. Allerdings gibt es für den Humor kein Rezept, aber jede Menge Zutaten. Herzenswärme, Ideenreichtum, Verständnis und Einfühlungsvermögen sind unverzichtbare Zutaten, sonst verwandelt sich der Humor in Zynismus.

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Humor ist Ausdruck eines liebevollen Miteinanders. Er macht die Unzulänglichkeiten etwas zulänglicher, den Schaden etwas leichter, den Schmerz etwas erträglicher. Nur die Überheblichkeit macht er lächerlich, die lacht er aus. Henri Nannen

Praktische Anregungen für den Pflegealltag Wenn Sie diese Anregungen lesen, meldet sich vielleicht ein Gedanke zu Wort: „Was soll ich denn noch alles tun!“ Folgende Anregungen sind nicht zum Aufregen gedacht, sondern als Möglichkeit die Trampelpfade der Gewohnheit zu verlassen. Sollten Sie bei der Anwendung von Humor von Zweifeln geplagt werden, vertrauen Sie Ihrer Intuition!

Aktiv Radio hören Manche Patienten nehmen nur jene Dinge wahr, die sie selbst nicht tun können. Sie wissen nicht, dass es einiges an Möglichkeiten gibt. Die meisten Menschen haben ihr Leben in der Haltung „Zuerst die Arbeit, dann das Spiel!“ gelebt. Das Fehlen ihrer Nützlichkeit erleben viele Menschen als vollkommen sinnlos. Sinnlos ist für viele Patienten gleichbedeutend mit nutzlos. Eröffnen Sie Ihren Patienten neue Möglichkeiten. Sr. Sonja arbeitet in einem Pflegeheim. Einen Bewohner, den Gelenksschmerzen ziemlich beeinträchtigen, dessen Gehör jedoch ausgezeichnet ist, hat sie gebeten Radio zu hören. „Ich habe eine Bitte an Sie. Heute Mittag kommt im Radio die Sendung über Männer, die in Pension sind: „Wir können alles, außer jammern!“ Ich habe leider keine Zeit zum Hören, da ich Dienst habe. Würden Sie für mich Radio hören? Vielleicht gibt es da einige Hinweise, die ich meinem Vater sagen könnte.“ Fast überall gibt es die Möglichkeit zum Radio hören. Oft genügt ein Blick auf das Radioprogramm, um ganz gezielt eine Sendung auszuwählen. Manche Patienten sind einfach froh, dass sie für jene Menschen etwas tun können, von denen sie betreut werden.

Aktiv Zeitung oder Bücher lesen Manche Patientinnen hören schlecht, aber sehen gut und haben auch einiges an Lektüre auf ihrem Nachttisch liegen. Obwohl es manchen Patientinnen von den Schmerzen her möglich wäre, fehlt die Freude am Lesen. Ermutigen Sie Ihre Patienten durch eine Bemerkung: „Etwas Gutes hat das Bett doch, jetzt können Sie nach Herzenslust lesen.“ Vielleicht gibt es auf Ihrer Station eine Bibliothek, dann scheuen Sie sich nicht die geistige Nahrung zu empfehlen.

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Die Ressource Musik Die Orientierung an etwas, das schlicht ausgedrückt mehr ist als unser kleines Ich, stellt eine wesentliche Ressource dar, die vielen Menschen hilft. Womit könnte sich ein Mensch trösten, wenn es keine Menschen gibt, an die er sich wenden kann? Oder wenn Menschen und Medikamente nicht ausreichen, um seinen Schmerz zu beruhigen? Effiziente Schmerzmedikamente sind wichtig, um das Leiden zu lindern. Heilung entsteht nicht durch die ausschließlich Konzentration auf den Schmerz, sondern durch Aktivierung der Eigeninitiative der Patienten. Die Musik kann zur Aktivierung beitragen. Musik hat etwas Tröstliches und Tröstendes. Sr. Birgit begegnete Frau Anna auf der Orthopädie im Nachtdienst. Frau Anna hatte eine Wirbelsäulenoperation überstanden und Sr. Birgit bot ihr ein Schlafmittel an. Frau Anna lehnte ab: „Sie wissen ja, ich habe meine Musik!“ Als Sr. Birgit um 2.00 in der Nacht die Infusion wechselte, war Frau Anna wach und wippte mit den Zehen. Birgit fragte: „Welche Musik macht Sie denn mitten in der Nacht so fröhlich!“ „Ich höre die Filmmusik aus dem Film „Wie im Himmel“. Auf der CD gibt es einen Tanz, den horche ich mir jetzt schon über zehn Mal an. Es geht mir richtig gut, obwohl ich weh habe. Die Musik beflügelt mich und meine Gedanken. Ich habe mir gerade vorgestellt, dass ich irgendwann wieder tanzen kann.“ Um jene Art von Musik zu finden, die den einzelnen Menschen tröstet und von seinem Schmerz ablenkt, braucht es Zeit und die Bereitschaft neue Wege zu gehen. Schon der Hinweis, dass Musik Schmerzen erträglicher macht, könnte Angehörige ermutigen verschiedene CDs und einen Walkman mitzubringen. Die Aktivierung der Eigeninitiative und die Fähigkeit zu innerem Wachstum gelingen manchmal auch mit Unterstützung von außen. Vielleicht kennen Sie die Schilderung von Viktor Frankl aus dem KZ, wie er in eisiger Kälte hinausgeht aus dem Lager und unter unmenschlichen Bedingungen einen Graben ausheben muss. Da gebrauche ich einen Trick: plötzlich sehe ich mich selber in einem hell erleuchteten schönen und warmen, großen Vortragssaal am Rednerpult stehen, vor mir ein interessiert lauschendes Publikum in gemütlichen Polstersitzen – und ich spreche: spreche und halte einen Vortrag über die Psychologie des Konzentrationslagers. Frau Anna, die sich vorstellte, dass sie irgendwann wieder tanzen wird, verwendete einen ähnlichen Trick. Mit Hilfe der Musik schwebte sie in Gedanken aus ihrem Bett in einen Tanzsaal.

Gewohnte Strategien verändern Meistens bemüht sich das Pflegepersonal dort zu beschwichtigen, wo besonders viel gejammert wird. Verändern Sie Ihre Gewohnheit klagen Sie darüber, dass

Humor trotz(t) Schmerzen

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Sie heute mit dem linken Fuß aufgestanden sind und jammern Sie, was ihnen heute alles weh tut. Der Sinn dieser paradoxen Jammerei liegt im Staunen, welches Sie bei Ihrem Gegenüber auslösen können. Das Staunen wird dadurch ausgelöst, dass notorische Jammerer erwarten, dass sie von denen getröstet werden, die gut drauf sind. Viele Schwierigkeiten treten in der Begegnung mit Angehörigen auf. Freundlichkeit und Entgegenkommen wird immer wieder mit Besserwisserei und Beschwerden belohnt. Hilfreicher als jede Rechtfertigung ist der Mut sich selbst kleiner zu machen als man ist. Sr. Beate arbeitet im ambulanten Team im Sozialsprengel. Sie betreut einen älteren Herrn, der in der Wohnung seiner Tochter wohnt. Am Morgen, wenn Beate läutet, empfängt die Tochter sie mit den Worten: „Schon wieder Sie. Haben Sie niemanden Kompetenten?“ Beate versuchte sich zu rechtfertigen und verwies auf ihr Diplom. Die Meinung der Tochter änderte sich nicht. Als Beate am nächsten Morgen wieder kam, sagte sie lächelnd: „Guten Morgen. Leider hat heute wieder niemand Dienst, der kompetent ist, deshalb bin ich da!“ Die Tochter des Patienten war sprachlos und stellte Beate eine Tasse Kaffee hin. Der Mut zur Unvollkommenheit könnte Ihnen das Leben erleichtern. Besonders in jenen Situationen, in der Sie völlig grundlos verdächtigt werden inkompetent zu sein.

Erarbeiten eines „Notfallprogramms“ Für Patienten, die an chronischen Schmerzen leiden könnte das Erarbeiten eines Notfallprogramms hilfreich sein. Wesentlich dabei ist, dass der Patient selbst initiativ wird und sich nicht ausschließlich auf fremde Hilfe verlässt. Das Erarbeiten des Notfallprogramms ist nur in Zeiten von geringerem Schmerzerleben möglich und braucht mehr Zeit als fünf Minuten. Folgende Fragen können helfen: Welches Medikament wirkt? Wen ruf ich an? Welche Musik hilft mir? Überdies sind die Erkenntnisse der modernen Gehirnforschung auch hilfreich. Nichts im Hirn bleibt so, wie es ist, wenn es nicht immer wieder so genutzt wird wie bisher. Auch Schmerzen nicht! Vielleicht schützt manche Menschen, die in der Pflege arbeiten ein Gedanke von Friedrich Nietzsche vor dem grenzenlosen Bemühen, das in der Resignation oder im Burn out enden kann: Wer einem Kranken seine Ratschläge gibt, erwirbt sich ein Gefühl von Überlegenheit über ihn. Deshalb hassen reizbare und stolze Kranke die Ratgeber noch mehr als die Krankheit. All jene, die sich danach sehnen ihren Pflegeberuf in einer heitere Gelassenheit auszuüben, könnte das Gedicht an die Möglichkeiten von Fröhlichkeit und Lebensfreude erinnern:

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I . Pa t s c h

Jede Sorge, Freund, vermeide, jedes Weh sollst du verachten. Sieh die Lämmer auf der Weide: sie sind fröhlich vor dem Schlachten. Ahnst du nicht, wie dumm es wär wären sie’s erst hinterher? Heinz Erhardt

Literatur Albom M (2002) Dienstags bei Morrie. Goldmann, München Erhardt H (1991) Das große Heinz Erhardt Buch. Goldmann, München Frankl VE (1998) … trotzdem Ja zum Leben sagen. Dtv,München Patsch I, Titze M (2004) Die Humorstrategie. Kösel Verlag,München Köhler P (2001) Das Anekdotenbuch. Reclam, Stuttgart Reiners L (1955) Der ewige Brunnen: Segen der Krankheit Gottfried Kinkel. Beck, München, S 891 Roth E (2000) Der Wunderdoktor. Hanser, München Wien Sloterdijk P (1997) Nietzsche ausgewählt und vorgestellt von Rüdiger Safranski. Fischer, München

Musik mit Entspannungsanleitung bei Patienten mit Schmerzen G. B E RNA TZK Y , W . K UL L I CH, F . WE NDT NE R, H. P . HE S S E u n d R. L I K A R

Schmerz stellt einerseits eine große Belastung für die Patienten dar, andererseits sind dadurch höhere Kosten und u.U. längere Krankenhausaufenthalte der Fall. Schmerz ist immer subjektiv und wird individuell unterschiedlich erlebt. Psychische Faktoren, wie Hilflosigkeit, Angst, Depression usw. steigern die Wirkung von Schmerz als physiologischen Stressor und haben Einfluss auf die Schmerzstärke. Ängste, Verspannungen und Herabsetzung der Schlafqualität mindern das Wohlbefinden und verzögern den Genesungsprozess. Musik in Kombination mit einer gesprochenen Entspannungsanleitung kann über den Einfluss auf affektive, kognitive und sensorische Vorgänge eine maßgebliche schmerzhemmende Wirkung entfalten. Ziel unserer Studien ist es, den Effekt einer standardisierten Musik in Kombination mit einer gesprochenen standardisierten Entspannungsanleitung, bei chronischen Rückenschmerzpatienten zu evaluieren. Gleichzeitig soll in diesem Beitrag gezeigt werden, welche Wirkung eine stimulierende Musik bei Patienten mit Morbus Parkinson hat.

Einleitung Schmerz als psychophysiologische Einheit Schmerz ist eine psychophysiologische Einheit und sollte daher entsprechend in einem multidisziplinären Therapieansatz behandelt werden: Chronische Kreuzschmerzen verursachen einen hohen Prozentsatz von Arbeitsausfällen und Ausgaben für medizinische Behandlungen. Die Auswirkungen chronischer Kreuzschmerzen werden wesentlich vom Grad der schmerzbedingten Behinderung

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bzw. der Beeinträchtigung des betroffenen Patienten sowie durch die Bewertung der Symptomatik durch den Patienten und seine Umgebung bestimmt (Ulreich 1997). Die Angst vor dem Schmerz und dem, was dahinterstehen könnte, potenziert die Beschwerden des Patienten. Diese Furcht vor dem Schmerz, Schmerzvermeidungsstrategien, Schonhaltung und daraus resultierende psychische Belastungen bewirken oft mehr Beeinträchtigung als der Schmerz selbst (Ulreich, Kullich 1997). Diese zusätzlichen Körperverspannungen können wiederum eine Schmerzverstärkung auslösen. Bei vielen Krankheiten sind Ängste und Depressionen begleitende Verstärker der Krankheit. Es ist daher notwendig, geeignete Strategien zu finden, um die genannten Krankheitsverstärker zusätzlich zur eigentlichen Therapie zu beseitigen bzw. an deren Entstehung zu hindern.

Musik und Schmerz Heute versteht man unter Musiktherapie die wissenschaftlich fundierte, diagnosespezifische Nutzung von Musik oder von musikalischen Elementen zu Heilzwecken (Hesse 2003). Sie bedient sich entweder der Musikrezeption (Rezeptive Musiktherapie) oder der musikalischen Aktivität des Patienten (Aktive Musiktherapie), die als geleitete oder freie Improvisation durchgeführt wird. In diesem Beitrag wird ausschließlich auf die rezeptive Musiktherapie eingegangen. Die Musiktherapie erstreckt sich in Abhängigkeit vom Charakter der verwendeten Musik in zwei verschiedene Richtungen: Entweder kann eine Aktivierung des Patienten angestrebt werden, wobei es sich um eine reine körperliche Aktivierung oder um eine emotionale Neuorientierung handeln kann, oder es wird Entspannung zum Ziel gesetzt, wobei es um die Lösung von körperlicher Verspannung bzw. um die Beseitigung von psychischen Spannungen, wie z.B. Angst, gehen kann. Um eine aktivierende Wirkung zu haben, muss die Musik in den meisten Fällen eine mittlere bis große Lautstärke und ein schnelles Tempo, eventuell mit häufigen Lautstärkeveränderungen und Tempowechseln, aufweisen. Zusätzlich sollte ein weiter Tonumfang und ein mindestens mittlerer harmonikaler Komplexitätsgrad gegeben sein. Am Beispiel der vorliegenden Untersuchung bei Patienten mit Morbus Parkinson wurde eine stimulierende Musik verwendet. Eine beruhigende Wirkung wird dagegen bei geringer Lautstärke und langsamem Tempo, mit wenigen Lautstärkeveränderungen und Tempowechseln, erreicht. Dabei soll der Tonumfang eng sein und eine geringe harmonikale Komplexität vorliegen (Gembris 2002). Es gibt allerdings etliche Fälle, in denen die Musik von diesen Regeln abweicht (Harrer 1990). Viele Beobachtungen zeigen, dass Musik Wirkungen auf subcortikale Zentren des Gehirns ausübt und starken Einfluss auf die psychologische und physiologische Situation des Organismus hat (Harrer, Harrer 1977; Spintge, Droh 1992; Panksepp, Bekkedal 1997; Panksepp, Bernatzky 2002; Hesse 2003). Musik hat deutliche Effekte auf Atmung und Entspannung (Guzzettam 1989; Fried 1990). Es ist auch bekannt, dass das Hören von bestimmter Musik sowohl bei akuten als auch bei chronischen Schmerzen eine deutliche

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Schmerzhemmung, sowie eine Verbesserung der Schlaf- und der gesamten Lebensqualität bewirkt (Bernatzky et al. 1999a, b; Kullich et al. 2003; Godley 1987): In unseren Studien wurde der Effekt von entspannungsfördernder Musik in Verbindung mit einer gesprochenen Entspannungsanleitung auf den Verlauf chronischer Schmerzen und auf verschiedene Leidensprozesse mit Hilfe physiologischer und psychologischer Messungen untersucht.

Methodik Chronische Rückenschmerzen In die Untersuchungen wurden 65 Patienten beiderlei Geschlechts im Alter von 21–68 Jahren mit schmerzhaften Wirbelsäulensyndromen eingeschlossen. 46 Patienten litten unter chronischen Kreuzschmerzen bei radiologisch bzw. computertomographisch verifiziertem Diskusprolaps. Bei den verbleibenden 19 Patienten bestand ein schmerzhaftes chronisches Lumbalsyndrom bei Zustand nach Laminektomie. Von der Studie ausgeschlossen wurden Patienten mit Hypakusis, Tinnitus, medikamentös behandelten psychiatrischen Erkrankungen, Epilepsie, Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenabusus, minderjährigem Alter unter 18 Jahren bzw. einer Abwehrhaltung gegen die Musiktherapie. Alle teilnehmenden Patienten gaben zu Beginn nach einem Aufklärungsgespräch ihr persönliches Einverständnis an den Studien. Die Gruppe I (n = 32) erhielt ein standardisiertes stationäres Physiotherapieprogramm (bestehend aus Wirbelsäulengymnastik trocken und unter Wasser, Mechanotherapie, Massage, Parafango und Elektrotherapie) + einer Musiktherapie mit Anwendung einer standardisierten Musik + Entspannungstext (CD „Entspannung bei Schmerzen“). Die Musikanwendung erfolgte bei den Patienten mittels geeigneter Stereokopfhörer in ungestörter Umgebung mindestens 1x pro Tag für die Dauer von 25 Minuten am Abend im Bett. Die Lautstärke der CD wurde in allen Tests individuell von den Patienten selbst gewählt. Die mittlere Beschwerdedauer der Patienten (19 Männer, 13 Frauen; 47,0 ± 9,7 Jahre) betrug 134 ± 104 Tage vor Beginn der Therapie; der Bodymass-Index 27,1 ± 3,6. Die Gruppe II (n = 33) fungierte als Vergleichsgruppe, bei der die Patienten das oben beschriebene standardisierte Physiotherapieprogramm ohne die therapeutische Anwendung von Musik und Entspannungstext erhielten. Dieses Kollektiv war sowohl in der Altersverteilung (49,7 ± 7,9 Jahre), in der Geschlechtsverteilung (22 Männer, 11 Frauen) als auch im Bodymass-Index (28,7 ± 3,8) der Gruppe I vergleichbar. Trotz Randomisierung litten die Patienten der Vergleichsgruppe mit 146 ± 115 Tagen im Schnitt 12 Tage länger an ihren Wirbelsäulenbeschwerden als jene der Musikgruppe. Nach einer umfassenden klinischen Untersuchung bei Aufnahme in das Rehabilitationsverfahren wurde zu Beginn der Studie, nach 11 ± 3 Tagen und nach 21 ± 2 Tagen die globale Schmerzsymptomatik mittels der 10teiligen visuellen Analogskala (VAS) ermittelt.

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Am Tag 0, 10 und 21 erfolgte eine Analyse verschiedener Befindlichkeiten unter Zuhilfenahme folgender Fragebögen: VAS (Visuelle Analogskala zur Erfassung der Schmerzempfindung): Durch Selbstbeurteilung wird der subjektive Wert des Schmerzempfindens auf einer horizontalen Linie (von „keine Schmerzen bis „äußerst starke Schmerzen“) angekreuzt. Der genaue Wert wird durch exaktes Ausmessen der Position des Kreuzes auf der Linie ermittelt. Diese Werte können sowohl zur Beurteilung der aktuellen subjektiven Schmerzempfindung als auch für Verlaufskontrollen bei Behandlung durch Schmerztherapie zu unterschiedlichen Tageszeitpunkten sowie über die Tage der Behandlung herangezogen werden. Roland & Morris Fragebogen (Roland, Morris 1983): Zur Erfassung des Ausmaßes der Behinderung, verursacht durch den chronischen Kreuzschmerz, wurde der Fragebogen von Roland und Morris verwendet (Roland, Morris 1983). Dieser klinische Fragebogen für Rückenschmerzen beinhaltet 24 subjektive Detailfragen, welche die Funktionsbeeinträchtigung, verursacht durch die Wirbelsäulenbeschwerden, ermitteln und in einem Gesamtscore ausdrücken. Dabei wird unter anderem die Behinderung beim Gehen, Beugen, Aufstehen aus einem Sessel, Socken anziehen und bei der Verrichtung schwerer Arbeiten miteingeschlossen. Als grobe Anleitung geben Roland und Morris an, dass ein Unterschied in 2–3 Punkten des Fragebogens als Minimum für klinisch bedeutende Änderungen angesehen werden soll. PSQI (Deutsche Version: Pittsburgh Schlafqualitäts Index, Fragebogen zur Erfassung der Schlafqualität, Buysse 1988): Dieser Fragebogen ist eine Mischung aus 19 Fragen zur Selbstbeurteilung sowie 5 Fragen zur Fremdbeurteilung und einigen objektiven Daten. Die Fremdbeurteilung wird von einem Partner bzw. Mitbewohner vorgenommen und geht in die quantitative Auswertung ein, um einen Gesamtwert bzgl. der allgemeinen Schlafqualität errechnen zu können. Weiters werden die Fragen zu folgenden 7 Komponenten (Dimensionen) zusammengefasst: (1) subjektive Schlafqualität, (2) Schlaflatenz, (3) Schlafdauer, (4) Schlafeffizienz, (5) Schlafstörungen, (6) Schlafmittelkonsum, (7) Tagesmüdigkeit. Ein globaler Gesamtscore wird durch Transformation und nicht durch einfache Addition der 7 Teilergebnisse berechnet, wobei Gesamtscore 0 keine Schlafstörung, der höchste Wert 21 eine starke Schlafstörung bedeutet. Bei allen 7 Komponenten und dem Gesamtscore entsprechen höhere Werte einer verminderten Schlafqualität. HADS-D (Deutsche Version: Fragebogen zur Erfassung von Angst und Depression in der somatischen Medizin): Dieser Fragebogen ist ein Instrument zur Selbstbeurteilung von Angst und Depressivität bei körperlichen Beschwerden bzw. Erkrankungen im Bereich der somatischen Medizin. Gleichzeitig dient dieser Fragebogen als Screening-Verfahren in der Differenzialdiagnostik funktioneller Störungen sowie zur Evaluation von Behandlungseffekten.

Verwendete Musik-CD Die in der Schmerzstudie verwendete CD wurde von Günther Bernatzky, Universität Salzburg, Franz Wendtner, Salzburger Landeskliniken, und dem in Salz-

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burg lebenden Musiker Robert Kovar in wissenschaftlicher Zusammenarbeit mit dem Herbert von Karajan Centrum Wien speziell dafür entwickelt, um sie unterstützend bei der Behandlung von Schmerzen einzusetzen. Die CD bietet Musik speziell ausgewählter „Naturinstrumente“. Dazu zählen tief schwingende balinesische Gongs, tibetanische Klangschalen, das Monochord, das indische Saiteninstrument Tamboura sowie eine indische Bambusflöte, alle gespielt von R. Kovar. Das Didgeridoo spielt Klaus Wintersteller, die „Vocals“ stammen von Johi Weber. Die Entspannungsanleitung – entwickelt und gesprochen von Franz Wendtner – bezieht die verschiedenen Energiezentren des Körpers (Chakren) mit ein (Mentalis Verlag GmbH, Essen, LC 4218; € 19,95). „Entspannung bei Schmerzen: Musik und Entspannungsanleitung für mehr Lebensqualität bei Krankheit, Schlafproblemen und vegetativen Störungen.“ ISBN Nr. 3-932239-95-4: Best. Nr. 20602.

Statistische Analysemethoden Die EDV-mäßige Erfassung der Daten und die statistische Auswertung erfolgte mit Hilfe der Tabellenkalkulationsprogramme Lotus 1,2,3 for Windows, Millenium Edition. Microsoft Excel 2000 und der statist. Programmpakete MedCalc ware, Belgien) und Systat 9.0 Statistics for Windows (SPSS Inc., USA). Als statist. Auswerteverfahren wurden folg. Testverfahren angewandt: deskr. Statistik, Wilcoxon-Test für Paardifferenzen, Student-t-Test sowie eine Regressionsanalyse (Spearman, Pearson) zur Berechnung kausaler Korrelationen. Als Vertrauensgrenze wurde eine Irrtumswahrscheinlichkeit von = 0,05 definiert.

Ergebnisse Chronische Rückenschmerzen Während des 3-wöchigen stationären Aufenthaltes konnte bei den Patienten mit Low back Pain eine signifikante Verbesserung des globalen Schmerzempfindens (ermittelt mittels visueller Analogskala) erzielt werden (Abb. 1). Dabei ist die Schmerzverringerung in der Musikgruppe, die täglich die vorgegebene Musik mit dem gesprochenen Entspannungstext gehört hat (Gruppe I), ausgeprägter als in der Vergleichsgruppe (Gruppe II). Dies ist bereits nach 10 Tagen statistisch signifikant feststellbar.

Roland und Morris-Fragebogen für Low back pain Die sensitive Erfassung der subjektiven Behinderung mit Hilfe des Scores nach Roland und Morris (1983) zeigte im Gesamtscore der 24 Fragen eine signifikante Verbesserung in beiden Behandlungsgruppen nach 3 Wochen (Abb. 2). Die Scorereduktion war in der Musikgruppe (Gruppe I) jedoch ausgeprägter (p < 0,00002) als bei der Vergleichsgruppe (p < 0,002) mit standardisiertem Physiotherapiepro-

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Abb. 1. Schmerzmessung mittels VAS (Kullich et al. 2003)

gramm ohne tägliche Musikanwendung. Interessant erscheint die Tatsache, dass das multidisziplinäre Therapieprogramm mit Musik und Entspannung den Roland und Morris-Gesamtscore bereits nach 10 Tagen signifikant verminderte (p < 0,005) und die Patienten in der Vergleichsgruppe ohne Musiktherapie (Gruppe II) im Schnitt erst nach 21 Tagen eine Verbesserung ihrer durch die Wirbelsäulenbeschwerden verursachten Behinderungen angaben. Bei der Auswertung der Einzelfragen konnten ebenfalls interessante Ergebnisse ermittelt werden: Die Auswertung der Frage 18: „Ich schlafe weniger gut wegen meinem Rücken“ zeigte, dass unter der täglichen additiven Musikanwendung sich die Zahl der Rückenschmerzpatienten, welche eine Schlafbeeinträchtigung angaben, halbierte; ohne Musik konnte diese positive Entwicklung nicht registriert werden. Dieses Resultat spiegelt sich auch in den nachfolgend beschriebenen Auswertungen des Pittsburgh Sleep Quality-Index wider, welcher genaue Details über die Veränderungen der Schlafqualität beinhaltet.

Analyse des Schlafes mit Hilfe des Pittsburgh Sleep Quality-Index (PSQI) Die Auswertung des Pittsburgh Sleep Quality-Index (globaler Score), für den 0 keine Schlafstörung bedeutet und ein Gesamtscore von 21 eine starke Schlafstörung, zeigte, dass im Mittel in der Musikgruppe sich der Score von 9,59 auf 5,81 nach 21 Tagen signifikant verminderte, wobei auffällt, dass der PSQI-Gesamtscore in der Musikgruppe mit 6,74 bereits nach 10 Tagen unter der Therapie mit Musik + Entspannungstext (Gruppe I) signifikant vermindert war. Im Gegensatz dazu erwies sich die Verringerung von 8,88 auf 8,22 und 8,13 in der Gruppe II (Vergleichsgruppe ohne Musiktherapie) als nicht signifikant. Die Analyse von 7 Teilergebnissen (= Components), welche aus den 19 Selbst- und 5 Fremdbeurteilungs-

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Abb. 2. Roland und Morris Behinderungsfragebogen (Kullich et al. 2003)

fragen errechnet werden können, ergibt bei den subjektiven Parametern in 5 Teilkomponenten ein Ergebnis über die subjektive Schlafqualität, die subjektive Beurteilung des Ausmaßes der Schlafstörung, die Bewertung der Ursachen von Schlafunterbrechungen, Angaben zur Tagesmüdigkeit und Antriebsstörung. So konnte gezeigt werden, dass die subjektive Schlafqualität nach 3 Wochen sowohl in der Musikgruppe als auch in der Vergleichsgruppe signifikant gebessert werden konnte. Es fällt jedoch auf, dass jene Wirbelsäulenpatienten mit Musiktherapie bereits nach 10 Tagen eine signifikante Verbesserung ihrer subjektiven Schlafqualität hatten. In der Musikgruppe (Gruppe I) konnte nach 21 Tagen eine signifikante Besserung der Schlafstörungen errechnet werden. Aus der Schlafdauer und der im Bett verbrachten Zeit wird im PSQI als zweiter weiterer objektiver Parameter die Schlafeffektivität („Habitual Sleep Efficacy“) berechnet. Da die Schlafeffektivität sich aus der Schlafdauer ableitet, ergab sich auch hier eine signifikante Verbesserung der Schlafeffizienz, ausgedrückt in einem erniedrigten Score bei den Patienten mit Wirbelsäulenbeschwerden, welche sich in der Musikgruppe befanden.

Analyse von Angst und Depression mit Hilfe des HADS-D Fragebogens Angst und Depression haben sich in beiden Gruppen während der Therapiephase signifikant verringert. Sowohl bei Angst als auch bei Depression ist der Effekt deutlich stärker in der Musikgruppe ausgeprägt als in der Vergleichsgruppe. Es konnte gezeigt werden, dass ein signifikanter Unterschied (p < 0,014) zwischen Musik- und Vergleichsgruppe bei der Angst bestand. Es wurden die Differenzen von Angst und Depression geprüft. Angst und Depression hat sich auch in der Kontollgruppe signifikant verbessert. Allerdings waren die Ergebnisse in der Musikgruppe deutlich stärker ausgeprägt.

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Abb. 3. PSQI-Index – Ergebnisse. 24 Fragen, 19 Selbst- und 5 Fremdbeurteilungsfragen. Tagesmüdigkeit und subjektive Schlafqualität in beiden Gruppen signifikant verbessert; Schlafdauer z.B. in Vergleichsgruppe unverändert (Kullich et al. 2003)

Diskussion Die Bedeutung der schmerzhaften Wirbelsäulensyndrome liegt in deren enormer Häufigkeit. Die Lebenszeitprävalenz von Kreuzschmerzen, das entspricht der Häufigkeit von Wirbelsäulenbeschwerden bezogen auf das ganze Leben, wird mit 50–80% angegeben (Ulreich 1997). Komplexe Therapien chronischer Lumbalsyndrome im Sinne einer umfassenden Rehabilitation, bei der die bestmöglichen körperlichen und seelischen Bedingungen des Patienten erreicht werden sollen, sind nachweislich effizient (Faas 1996; Turner 1996). Als empfohlener Standard für den Erfolg einer Therapie bei Low back pain werden 5 Punkte angeführt: Rückenspezifische Funktion, Schmerz, Gesundheitsstatus, Arbeitsfähigkeit und Zufriedenheit des Patienten (Bombardier 2001). In einem multidisziplinären Therapiekonzept hat die Anwendung einer Musiktherapie mittels der täglichen Anwendung spezieller Musik, kombiniert mit einem von dem klinischen Psychologen F. Wendtner erstellten Entspannungstext, die Effizienz der Therapie bei chronischem Kreuzschmerz nachweisbar verbessert. Dabei kam es zur Verbesserung der rückenspezifischen Funktion, des Schmerzes, und der Zufriedenheit der Patienten. Aus diesen Verbesserungen kann der Schluss gezogen werden, dass die hier verwendete rezeptive Musiktherapie als empfohlener Therapiestandard für Rückenschmerz verwendet werden kann. Aus amerikanischen Studien ist bekannt, dass bereits ein einziges Musikkonzert, durchgeführt von 5 Musiktherapeuten, in der Lage war, positive Effekte auf die drei Variablen Schmerzkontrolle, physisches Befinden und Entspannung zu bewirken (Krout 2001). Musik kann nach Operationen Schmerz durch Unterbre-

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chung des postoperativen Schmerzzyklus verringern (Good 1996). Dabei zeigte Musik mit zusätzlicher Entspannungsanleitung eine sehr gute Wirkung bei emotionellem Schmerz, war aber weniger effektiv bei sensorischem Schmerz. Unsere eigenen Untersuchungen mit Schmerzsyndromen an der Wirbelsäule deuten auch darauf hin, dass vor allem das Schmerzempfinden unter der Musiktherapie wesentlich stärker verringert wird als dies klinisch zu erwarten wäre. Interessant waren die Ergebnisse, dass jene Patienten, die in der Musikgruppe waren, deutlich weniger Ängste und Depressionen im Laufe Ihrer Therapie enwickelten als jene Patienten, die keine Musikintervention hatten. Dies deckt sich mit Ergebnissen von Amodei u.a., die ebenso von signifikanten Einflüssen von Musik auf Ängste berichten (Amodei, Kaempf 1989). Auch in anderen Studien konnte gezeigt werden, dass sich Musiktherapie bei akuten stationären Behandlungen als die beste Möglichkeit erwies, Angstzustände und Schmerzen der Patienten zu reduzieren (Henry 1995). Musiktherapie wurde in einer Studie als dasjenige ITNI (= unabhängige therapeutische Pflegeintervention) angegeben, welches am häufigsten angewendet wurde, um Schlaf zu verbessern und Verwirrung, Aggression und Depression zu verhindern (Gagner-Tjellesen 2001). Der Gebrauch von ITNIs, wie die Musiktherapie, erhöht die Lebensqualität des Patienten. Daher kann gefordert werden, dass das medizinische Pflegepersonal eine Schulung für die Anwendung von Musiktherapie erhalten soll. Die Ergebnisse unserer Untersuchungen an Patienten mit Low back pain stehen im Einklang mit Untersuchungen an 30 Frauen mit Rheumatoider Arthritis (RA) vor, während und 1–2 Stunden nach dem Hören von Musik (Schorr 1993), in denen anhand des McGillSchmerzscores gezeigt werden konnte, dass der Gebrauch von Musik bei schmerzhaften rheumatischen Erkrankungen eine vorteilhafte Intervention darstellt. Musiktherapie, kombiniert mit psychologischer Betreuung und begleitender physikalischer Therapie, verbesserte bei RA-Patienten das Krankheitsbild, verringerte Medikamentenkosten und Kosten stationärer Aufenthalte, erhöhte die Arbeitsfähigkeit und verlängerte Remissionsperioden von 6 Monaten auf bis zu 1,5 Jahre (Siniachenko, 1990). Interessant erscheinen auch Untersuchungen zur Musikanwendung bei chronischem muskuloskelettalem Schmerz (Steihaug 1994). Es konnte dabei bewiesen werden, dass physiotherapeutisches Training mit Musik 2 x pro Woche über einen Zeitraum von 3 Monaten eine wirksame Therapie darstellt, bei der eine Verringerung von Schmerz (nachgewiesen mittels der VAS) und ein besseres „Wohlfühlen“ (nachgewiesen mittels eines Health Questionnaire) auftritt und die Aktivität der Patienten sich verbessert. Im Gegensatz zu den vielen positiven Berichten über den Einsatz von Musik bei Schmerzzuständen konnte in einer Studie an Patienten nach akuten muskuloskelettalen Traumen kein Vorteil von Musik zu einer Standardtherapie, bestehend aus Eis und Immobilisierung, nachgewiesen werden; es ist jedoch zu beachten, dass in dieser Studie auch die Verabreichung eines nichtsteroidalen Antirheumatikums keine Verbesserung erreichte (Tanabe 2001). Die von uns nachgewiesene Wirkung der Musiktherapie auf die Schlafqualität bei Patienten mit Rückenschmerzen, gemessen mit dem PSQI, wurde auch in der Kardiologie an Patienten nach koronarer Bypass-Operation beobachtet. Ein Musikvideo führte ab der zweiten postopera-

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tiven Nacht zu einem besseren Schlafscore am Richard Sleep Questionnaire als in einer Kontrollgruppe (Zimmermann et al. 1996). Schlaffördernde Vorteile durch Musik als „nichtpharmakologische“ Therapie wurde bei kritisch Kranken im höheren Lebensalter ermittelt (Steihaug, 1994). Bei den Schmerzmessungen und den Resultaten des Roland und Morris-Fragebogens für Rückenbeschwerden in unserer Studie fiel auf, dass trotz einer im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne Musikanwendung nicht unterschiedlichen Besserung mehrerer klinischer Parameter wie Schober Index, Finger-Fußboden-Abstand etc. unter der Musikanwendung sich anscheinend das Schmerzempfinden ändert und Behinderungen des täglichen Lebens dem Patienten weniger ausmachen. Diese Tatsache verbessert einerseits die Messparameter und bedeutet andererseits für den Patienten eine nachweislich erhöhte Lebensqualität. Eine verbesserte Schlafqualität ergibt sich auch aus der Tatsache, dass die Patienten der Musiktherapiegruppe eine deutlich verbesserte Schlafqualität aufweisen. Musik und Entspannungsanleitung sind daher geeignete Therapiemethoden, die als additive schmerztherapeutisch relevante Therapiemaßnahmen zu sehen sind. Es kann daher empfohlen werden, sowohl bestehende medikamentöse Therapieformen mit Musik und Entspannungsanleitung als auch bestehende nichtmedikamentöse Therapiemethoden mit beiden Möglichkeiten zu kombinieren. Auf Grund der hohen Wirkeffektivität und der geringen Wahrscheinlichkeit an Nebenwirkungen kann daher bei richtiger diagnosespezifischer Anwendung davon ausgegangen werden, dass bei allen Schmerzformen, die mit Verspannung, Schlafstörungen, Ängsten, und depressiven Verstimmungen einhergehen, Musik mit einer Entspannungsanleitung ein idealer Beitrag nicht nur zur Therapie sondern auch zur Gesunderhaltung sein kann. Geeignet zur Verwendung der genannten Musik mit Entspannungsanleitung erscheinen alle somatoformen Schmerzformen. Ein wichtiger Aspekt, der nochmals dargestellt werden soll, ist die musikbedingte Verbesserung der Therapiewirkung. Das heißt, dass diese Patienten eine bessere Compliance zur medikamentöse Therapie zeigen, als andere Patienten, die keine Musiktherapie bekommen. Für zukünftige Studien besteht die Notwendigkeit, auf weitere Aspekte im Detail einzugehen: Wie lange hält die Wirkung der Musik (und der Entspannungsanleitung) an? Was ist die ideale Musik bzw. wie lange soll die Musik gespielt werden? Ebenso relevant ist die tageszeitliche Anwendung der Musik bzw. die Frage nach der optimalen Tonquelle.

Zusammenfassung Unsere Studien zeigen, dass Musik, die mit einer Entspannungsanleitung kombiniert ist, ein geeignetes Interventionsverfahren zur Schmerztherapie darstellt: Durch die Verwendung von Musik und Entspannungsanleitung konnten hochsignifikant Schmerzen reduziert und begleitende negative Emotionen und Kognitionen verbessert werden. Die Effizienz der im Rahmen von Schmerztherapien üblichen Therapieverfahren wurde signifikant verbessert. Diese Form der Thera-

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pie hat eine hohe Patientencompliance und führt vermutlich (bei richtiger Anwendung) zu keinen Nebenwirkungen. Aufgrund dieser Ergebnisse kann davon ausgegangen werden, dass Musik, die gemeinsam mit einer Entspannungsanleitung dargeboten wird, positive Effekte auf die Schmerzempfindung und die psychische Situation der Patienten bewirken. Die Musiktherapie als Zusatz zur medikamentösen Schmerztherapie ist vor allem dann von Bedeutung, wenn die routinetherapeutischen Maßnahmen, wie Gabe von Opioiden oder Nichtopioiden aufgrund des therapieresistenten und rezidivierenden Beschwerdeverlaufes eine Chronizität erlangen und eine Therapie notwendig machen.

Danksagung Wir danken dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (Forschungsnetz Mensch und Musik), der österreichischen Schmerzgesellschaft, dem Fonds Gesundes Österreich und dem Herbert von Karajan Zentrum (Wien) für die finanzielle Unterstützung der Forschungsprojekte. Wir danken vor allem den Professoren G. Ladurner, W. Staffen, (Christian Doppler Klinik) und H.-P. Hesse (ehemals Mozarteum) für die gute Zusammenarbeit. Herrn Dr. H. Schimke sei für die statistischen Auswertungen gedankt. Dank gilt auch Prof. Dr. G. Harrer für viele anregende Diskussionen. Unser besonderer Dank gilt allen Patienten/ innen und Probanden/innen, die an diesen Studien mitgemacht haben.

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Aktive Musiktherapie bei chronischen Schmerzen – theoretische Konzepte und Untersuchungen zur Wirksamkeit C. MÜL L E R-B US CH

„Wenn ich nach der Musiktherapie im Auto gesessen habe, ging es mir mit Sicherheit viel besser. … Wenn‘s mir schlecht geht, singe ich schon mal: an manchen Tagen mehr, an anderen weniger.“ Pat. D. 61 J mit Fibromyalgiesyndrom „Im Ganzen fühle ich mich wesentlich wohler … irgendwie bin ich zufriedener …, ich kann besser mit den Schmerzen umgehen, bin fröhlicher, singe schon mal.“ Pat. R., 72 J mit chronischen Rücken- und Gelenkschmerzen Musik gehört zu den ältesten Heilmitteln in der Medizin. Schon in den Heilungsritualen der Naturvölker spielten die therapeutische Wirkung von durch Musik unterstütztem Tanz und Magie eine große Rolle. Im alten Testament wird berichtet, wie ca. 1000 v. Chr. David dem König Saul auf der Leier vorspielte, um dessen Depressionen zu beruhigen bzw. von bösen Geistern zu erlösen. Liebliches Flötenspiel wurde im antiken Griechenland zur Linderung starker Ischiasbeschwerden eingesetzt. Im 17. Jahrhundert empfahl Baglivi aktives Singen als besonders gute körperliche Übung zur Linderung von Gichtschmerzen. Im 18. und 19. Jahrhundert erschienen zahlreiche Untersuchungen über die „Heilwirkung der Musik“, in denen auch physiologische Erklärungsversuche unternommen wurden. So wurde Musik nicht nur bei Depressionen und Melancholien, sondern auch zur Geburtserleichterung, aber auch bei chirurgischen Eingriffen, Kopfschmerzen, Gicht, Ischias-, Rücken- und Gelenkbeschwerden, zur Linderung der Schmerzen bei Lues sowie bei Krebserkrankungen eingesetzt (Kümmel 1977). Nach dem 2. Weltkrieg nahm sowohl in den USA als auch in Europa das Interesse an der Musiktherapie explosionsartig zu. Zahlreiche musikmedizinische

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und -therapeutische Fachgesellschaften wurden gegründet und es entstanden spezielle Ausbildungsprogramme für Musiktherapeuten. Impulse erhielt die Musiktherapie vor allem aus der Wahrnehmungs- und Musikpsychologie aber auch aus der Sonderpädagogik und der anthroposophischen Heilpädagogik. Am häufigsten wird Musiktherapie als eigenständige oder adjuvante Methode in der Psychotherapie im Bereich der Psychiatrie und Psychosomatik eingesetzt, sowie in der Betreuung und Rehabilitation geistig Behinderter zur Unterstützung anderer komplementärer Behandlungsmethoden, z.B. der Physio- und Ergotherapie bzw. der Tanz- und konzentrativen Bewegungstherapie (Decker Voigt 1991). Erst in den letzten Jahren wurde die Musiktherapie zur gezielten Verhaltensänderung und Befindlichkeitsverbesserung, auch bei nichtpsychiatrischen meist chronischen Erkrankungen eingesetzt. Neuere Anwendungsgebiete der Musiktherapie finden sich im Bereich der Neurologie, z.B. zur Behandlung zerebraler Bewegungsstörungen (Lähmungen, Spastiken etc.) und in der Rheumatologie, in verschiedenen Bereichen der Inneren Medizin z.B. bei Asthma, M. Crohn und anderen chronischen Erkrankungen bzw.in der Rehabilitation Koronar- und Kreislaufkranker, in der Geburtshilfe und Neonatologie, in der Zahnmedizin sowie in der Traumatologie, Anästhesie, Intensiv- und Palliativmedizin (Spintge, Droh 1992; Aldridge 1999). Mit Musiktherapie konnten in der Intensivmedizin bei der Frührehabilitation zerebral geschädigter und komatöser Patienten erstaunliche Entwicklungen gezeigt werden (Gustorff 1992). Die Wiederentdeckung der Musik zur Schmerzbewältigung in der Anästhesie sowie der Einsatz von musiktherapeutischen Verfahren in der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen hat dazu geführt, dass Erklärungsmodelle entwickelt wurden, die neuere Ergebnisse der Schmerzforschung berücksichtigten und systematische Untersuchungen zur Wirksamkeit durchgeführt wurden (Bernatzky et al. 2005).

Musiktherapie bei chronischem Schmerz – Erklärungsmodelle Zwischen den Phänomenen Schmerz und Musik bestehen enge Beziehungen. Musikerleben und Schmerzerleben sind kognitive Vorgänge, bei denen Lernprozesse und emotionale Mechanismen eine wesentliche Rolle spielen, wobei in besonderer Weise das limbische System als Empfindungs- und Kontrollorgan fungiert (Roederer 1985). In Abhängigkeit von der Art der Musik und der von Lernvorgängen, Erinnerungen und Einstellungen bestimmten, emotionalen Steuerung bzw. Verarbeitung der musikalischen Empfindung, werden neurochemische und physiologische Mechanismen aktiviert, die im besonderen auch das Schmerzerleben und -verhalten in komplexer Weise mitbestimmen. Durch rhythmische, melodiöse, metrische und andere Merkmale lassen sich verschiedene Formen der Musik unterscheiden, die zu unterschiedlichen Reaktionen führen (Frank 1982). Das Musikerleben und die emotionellen Reaktionen

Aktive Musiktherapie bei chronischen Schmerzen

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durch Musik werden aber wesentlich auch von den individuellen musikalischen Vorerfahrungen und Einstellungen bestimmt (Harrer 1993). Neurophysiologische und psychologische Befunde zum Musikerleben (Harrer 1982; Gembris 2002), deuten darauf hin, dass eine rhythmische Aktivierung im ZNS erfolgt, die Variationen in der Schmerzmodulation (Bailey 1986; Melzack 1963), aber auch von biologischen Rhythmen zur Folge hat (David et al. 1983) (Abb. 1). Allerdings sind die Beziehungen musikalischer Rhythmen zu den funktionellen Rhythmen zentralnervöser Vorgänge, die auch an der Schmerzmodulation beteiligt sind, noch weitgehend unerforscht. Die engen anatomischen Verbindungen zwischen den Strukturen, die bei der Schmerzwahrnehmung und denen, die beim Musikerleben aktiviert werden, machen es wahrscheinlich, dass durch akustische Reize und Musik das Schmerzerleben in vielfältiger Weise modifiziert wird, wobei Rhythmus, Tempo und Lautstärke die wesentlichen musikalischen Elemente sind, durch die eine Veränderung des Schmerzerlebens bewirkt wird. Die physiologischen Prozesse, in denen sensorische, motorische und vegetative Mechanismen, die beim aktiven Musizieren und Singen eine Rolle spielen, miteinander verflochten sind, führen zu affektiven und kognitiven Lernprozesse, die Regulations- und Verhaltensänderungen zur Folge haben. Die Einbeziehung kognitiver und positiver emotionaler Erfahrungen durch Musik in die persönliche Lebensgestaltung, kann deshalb für die Neuorientierung und den Umgang mit chro-

Abb. 1. Musiktherapie bei chronischem Schmerz – psychophysiologisches Modell

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nischen Schmerzen bei Schmerzpatienten eine wichtige Bedeutung bekommen (Kullich et al. 2003). Auch die psychologisch orientierten Erklärungsmodelle zur Wirkungsweise von Musik bei akuten und chronischen Schmerzen basieren auf der Erkenntnis, dass Schmerzerleben ein mehrdimensionales Phänomen ist. Wie die Vertreter unterschiedlicher psychologischer Konzepte in der Schmerztherapie berufen sich auch Musiktherapeuten programmatisch auf das von Engel entwickelte biopsychosoziale Modell (Engel 1980), dem auf verschiedenen Ebenen begegnet werden kann Maranto 1991). Unter systemtheoretischen Gesichtspunkten bedeutet dies, dass Schmerz auch in der Musiktherapie nicht nur als Funktionsstörung auf einer Systemebene, sondern als Signal für eine Erschütterung der Integrität des gesamten Ordnungssystems verstanden werden kann. Schmerz und Musik können unter therapeutischen Aspekten aufeinander bezogen werden. Dabei signalisiert Schmerz ein Problem, das sich für den bzw. die Betroffenen auf verschiedenen Ebenen manifestiert, während Musik in einem umfassenderen Sinne als Impuls für mögliche regulatorische Prozesse angesehen wird (Aldridge 1993). Unkonventionelle Behandlungsmethoden, zu denen auch die Musiktherapie gezählt werden kann, sollten weniger nach ihrer Wirksamkeit auf einer Ebene beurteilt werden, sondern danach, wie durch sie selbstregulatorische Prozesse zur Erhaltung bzw. dynamischen Entwicklung des Gesamtsystems beeinflusst werden. Unter psychologisch-psychodynamischen Aspekten lassen sich in der Musiktherapie verschiedene Interventionsebenen unterscheiden: 1. die affektiv-emotionale Ebene, 2. die kommunikative Ebene, 3. die kreative Ebene, 4. die imaginative Ebene, 5. die ästhetische Ebene, 6. die suggestive Ebene und 7. die Ebene der projektiven Distanzierung (Abb. 2). Die psychodynamischen Erklärungsmodelle der Musiktherapie zur Schmerzreduktion stützen sich auf die umfassenden Wirkungen der Musik auf die emotionale Reaktionsbereitschaft des Menschen. Verhaltensänderungen sollen wirkungsvoller und nachhaltiger sein als die durch intellektuelle Einsicht bzw. verbale Instruktionen erreichbaren Veränderungen. Dabei spielt der in vielen aktiven Formen der Musiktherapie besonders geförderte Aspekt der kommunikativen Erfahrung, der kreativen Aktivierung, der projektiven Distanzierung und Stimulierung imaginativer Fähigkeiten für eine verbesserte Schmerzbewältigung eine wichtige Rolle (Müller-Busch 1996). Die psychodynamischen Erklärungsmodelle der Musiktherapie bei Schmerzen gehen stärker davon aus, dass Schmerz erkenntnistheoretisch als Bewusstseinsphänomen angesehen werden kann, bei dem verschiedene Teilaspekte differenziert werden sollten: 1. eine physiologische Dimension, in der sich Schmerz als Empfindung manifestiert, die durch Erregung spezifischer Nerven und Modulation dieser Erregung durch hemmende Systeme zustande kommt; 2. eine kognitive-emotionale Dimension, in der Schmerz als Gefühl in Beziehung zu anderen emotionalen Qualitäten wie Wohlbefinden, Lust, Freude, Wut, Trauer, Depression und Angst erlebt wird; 3. eine kommunikative Seite, die sich in Formen des Verhaltens sowohl zu sich selbst, dem eigenen Körper aber auch zur Umwelt manifestiert und 4. einen existentiellen Aspekt, der durch die individuelle Schmerzerfahrung, historische und kulturelle Einflüsse, Familienstruk-

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tur, Erziehung, religiöse Überzeugungen und andere Faktoren gekennzeichnet ist (Müller-Busch 2003).

Neurophysiologisches Untersuchungen und klinische Befunde zur Wirkung der Musiktherapie bei Schmerzen Die Wirksamkeit von Musiktherapie bei chronischem Schmerz wird durch psychophysiologische Untersuchungen und klinische Befunde gestützt. Dabei müssen die multifaktoriellen Entstehungs- und Chronifizierungsbedingungen des Phänomens Schmerz berücksichtigt werden. Entwicklungsgeschichtlich wird dem Hörsinn ebenso wie der Schmerzsensibilität eine bedeutsame körperliche Schutzfunktion zugeschrieben. Schon vor der Geburt sind Erfahrungen vorhanden, die die individuelle Entwicklung der Schmerzkontrolle, des Musikerlebens und der damit verbundenen Emotionalität wesentlich beeinflussen. Ebenso wie die Schmerzempfindlichkeit kann auch die Wahrnehmung von akustischen Reizen bzw. von Musik etwa ab der 24. bzw. 26. Schwangerschaftswoche nachgewiesen werden. Zur gleichen Zeit sind auch die Strukturen des peripheren Nervensystems und die zentralen Erregungsstrukturen so weit ausgebildet, das sich Reaktionen auf schmerzhafte Reize feststellen lassen. Die rhythmische Erlebnisbereitschaft des Neugeborenen und Kleinkindes ist nicht nur für das spätere

Abb. 2. Musiktherapie bei chronischen Schmerzen – psychologisch-psychodynamisches Modell

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musikalische Verhalten von Bedeutung sondern auch für die psychisch-emotionale Entwicklung. Akustische Reize sind auch die letzten, die beim Menschen nachgewiesen werden können. Dies erklärt, weshalb Sterbende gerade in der letzten Phase besonders intensiv hören und auch auf Musik reagieren können. Die für das moderne Verständnis des Phänomens Schmerz von Melzack und Wall 1965 formulierte Gate-Control Theorie der Schmerzentstehung ist auch auf der Grundlage experimenteller Untersuchungen entstanden, bei denen durch akustische Signale schmerzhafte Stimuli unterdrückt werden konnten. Nach dieser Theorie werden schmerzhafte Impulse über die peripheren Nerven nicht einfach an das Gehirn weitergeleitet, sondern die Übertragung dieser Impulse wird durch „Tore“ im Bereich des Rückenmarks und Gehirns in vielfältiger Weise gesteuert und kontrolliert. Die Öffnung der „Tore“ ist von der Stärke der hemmenden oder aktivierenden Impulse abhängig. Auch wenn diese Theorie in den letzten Jahren in einigen Punkten modifiziert wurde, bleibt sie ein fruchtbares Modell, um die vielfältigen Einflüsse, die die Wahrnehmung von Schmerz mitbestimmen, verständlich zu machen. Das neurovegetative System des Menschen ist besonders aufnahmebereit für musikalisch-akustische Reize. Der menschliche Hörsinn ist von allen Sinnen der sensibelste und besonders mit unseren Gefühlen verbunden. Die engen anatomischen Verbindungen der für die Schmerzwahrnehmung im ZNS bedeutsamen Strukturen zur Hörbahn und den für die emotionale Verarbeitung musikalischer Reize verantwortlichen Nervengebiete im Thalamus, limbischen System und den vegetativen Kerngebieten im Hirnstamm erklären nicht nur die schmerzmodifizierenden Effekte akustischer und rhythmischer Impulse, sondern auch die beim Hören im Vergleich zu anderen sensorischen Reizen häufig besonders ausgeprägten vegetativen Reaktionen, die sich u.a. in Veränderungen des Muskeltonus bzw. von Puls- und Atemfrequenz bemerkbar machen (Hesse 2003). Zahlreiche Experimente wurden durchgeführt, in denen nachgewiesen wurde, dass bestimmte musikalische Elemente (besonders Rhythmus, Lautstärke, Tonhöhen) einzelne Organfunktionen über eine Aktivierung des sympathischen oder parasympathischen Nervensystems gezielt beeinflussen können. Besonders deutlich wird dies z.B. in Veränderungen des Hautwiderstandes, der Schweißsekretion und der Muskelspannung: Musik kann einerseits entspannen und einschläfern, dann aber auch wieder so anregen, dass sie zu rhythmischen Muskelkontraktionen und besserer Beweglichkeit führt, die sich in Bewegungsdrang, Tanz bis zur Ekstase manifestiert (Müller-Busch 1994). Auch im EEG und durch Positronen-Emissions-Computertomographie lassen sich die Effekte musikalischer Reize in verschiedenen Hirnregionen nachweisen. Neuroendokrinologische Untersuchungen zeigten, dass die Sekretion für das Schmerzerleben und -verhalten wichtiger Substanzen wie Endorphine und Stresshormone durch Musik beeinflusst wird (Spintge 1991). Die Aktivierung neuronaler Strukturen im Thalamus und limbischen System, des sog. emotionalmotivierenden Systems der Gate-Control Theorie, stellt auch eine wesentliche neurophysiologische Erklärung für die Wirkungsweise aktiver Musiktherapie bei Patienten mit chronischen Schmerzen dar, zumal die affektive Beteiligung und

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Stimulation bei aktiven Musizieren viel intensiver ist als bei rezeptivem Musikerleben. Besonders Singen und Summen sind psychomotorische Verhaltensweisen, in denen sich nicht nur körperliches und seelisches Befinden widerspiegelt, sondern die durch den gezielten Einsatz der Atmungsmuskulatur auch eine wichtige therapeutische Bedeutung zur Angst- und Schmerzbewältigung haben können. Das alte griechische Sprichwort: „Die Menschen haben den Gesang gegen den Schmerz“ deutet an, dass schon damals die große Bedeutung des Singens zur Schmerzlinderung bekannt war. Gerade die kognitiv-emotionalen und kommunikativ-verhaltensmäßigen Dimensionen des Schmerzes werden in therapeutischen Bemühungen bei Schmerzpatienten häufig zu wenig beachtet. Für ein Verständnis von Musiktherapie, besonders der aktiven Formen, sind sie jedoch von wesentlicher Bedeutung. In der aktiven Musiktherapie spielt besonders der Aspekt der kommunikativen Interaktion, der kreativen Aktivierung, projektiven Distanzierung und der Stimulierung affektiver und imaginativer Impulse durch gemeinsames Improvisieren eine Rolle. Die umfassende Wirkung der Musik bzw. von musikalischer Aktivität auf die emotionale Reaktionsbereitschaft des Menschen soll zu wirkungsvolleren und nachhaltigeren Verhaltensänderungen führen als die durch intellektuelle Einsicht bzw. verbale Anleitungen erreichten Veränderungen. Gerade Patienten mit chronischen Schmerzen fällt es häufig schwer, die Bedeutung psychischer Aspekte für den Chronifizierungsprozess anzunehmen. Das erklärt vielleicht auch, weshalb Patienten mit chronischen Schmerzen häufig leichter einen Zugang zur Musiktherapie als zu anderen psychotherapeutischen Verfahren finden. Über die Wirksamkeit von Musiktherapie bei Patienten mit chronischen Schmerzen liegen bisher nur wenige Publikationen vor, zumal der Indikationsbereich „chronischer Schmerz“ auch für viele Musiktherapeuten immer noch wenig zugänglich ist (Bailey 1986; Klapp et al. 1992; Brown et al. 1989; Risch et al. 2001). Vor allem das Biofeedback und die progressive Muskelrelaxation werden häufig durch Musik unterstützt (Fried 1990; Bernatzky et al. 1999). Während funktionelle Musik als „Audioanalgetikum“ und die passiv-rezeptive Form der Musiktherapie gelegentlich auch zur Schmerzlinderung empfohlen wird, gibt es zum Einsatz von aktiver Musiktherapie bei Patienten mit chronischen Schmerzen kaum Erfahrungen bzw. systematische Untersuchungen (Müller-Busch 2004). Dennoch kann gerade die umfassende Wirkung von Musik und musikalischer Aktivität auf die emotionale Reaktionsbereitschaft neue Erlebnisdimensionen für den Umgang mit Schmerzsituationen und deren Bewältigung eröffnen, die das Spektrum psychotherapeutischer Methoden in der Schmerztherapie bereichern würde. Die moderne Musiktherapie ist eine diagnosespezifische Behandlungsmethode, bei der durch geschulte Musiktherapeuten zusammen mit dem therapeutischen Team bzw. dem behandelnden Arzt und den Patienten die Behandlungsziele bestimmt werden. Im allgemeinen wird eine passiv-rezeptive und eine aktive Form der Musiktherapie unterschieden, wobei mit dem Begriff „rezeptiv“ verdeutlicht werden soll, dass auch das Hören von Musik einen aktiven Vorgang darstellt. In der aktiven Musiktherapie hat die durch gemeinsames „ Musizieren“ bzw. die durch gemeinsame „musikalische Improvisation“ bestimmte Therapie-

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beziehung zwischen Therapeut und Patient eine zentrale Bedeutung. Eine besondere musikalische Begabung seitens des Patienten ist keine Voraussetzung für die Durchführung einer solchen Behandlung. Vielmehr wird die musikalische Ausdrucksfähigkeit, die „innere Musik“ des Patienten – wie auch immer diese sich gestaltet – als therapeutisches Potential angesehen, welches ihm in seiner Persönlichkeitsentwicklung und in der Aktivierung seiner Selbstheilungsfähigkeiten helfen soll. Aktive Musiktherapie kann – indem sie die kreativen Fähigkeiten eines Patienten anspricht und ästhetische Erfahrungen therapeutisch zu nutzen versucht – als eine Form der Kunsttherapie angesehen werden. Viele Musiktherapeuten verstehen Musiktherapie als eine ergänzende bzw. besondere Methode der Psychotherapie. Es lassen sich je nach erkenntnistheoretischem, psychologischem bzw. psychotherapeutischem Hintergrund psychoanalytische, gestalttherapeutische, verhaltenstherapeutische, anthroposophische, humanistische und andere Formen unterscheiden, gemeinsam ist ihnen jedoch der therapeutische Einsatz von Musik mit dem Ziel. Emotionen zu stimulieren, Kommunikation zu ermöglichen, neue Erfahrungen bzw. Kräfte zu sammeln und Spannungen zu vermindern. Musiktherapeutische Konzepte werden häufig in andere Therapieverfahren integriert z.B. beim Psychodrama, dem sog. Symboldrama oder der Transaktionsanalyse nach Berne. Der musikalische Entwicklungsprozess wird als wesentliches Sinnbild für den sich im Laufe der Therapie verändernden Menschen angesehen, wobei es darum geht, die Fähigkeit des Patienten zur Selbstentfaltung, Autonomie und Selbstverwirklichung durch kreative musikalische Kommunikation anzuregen bzw. zu verbessern. Je nach musiktherapeutischer Schule unterscheiden sich auch die Ansätze, Formen und die Dauer der Therapie bei Schmerzpatienten, wobei die Möglichkeiten der verschiedenen musiktherapeutischen Methoden im Hinblick auf Befindlichkeitsverbesserung, Schmerzintensitätsverminderung, Verhaltensänderung und Aktivitätssteigerung bisher nur in Ansätzen erforscht wurden (Schwabe 1982). Die schöpferische Musiktherapie nach Nordoff/Robbins kann als die weltweit bekannteste und entwickeltste Methode der aktiven Musiktherapie angesehen werden. Musik ist bei Nordoff/Robbins das verbindende Element zwischen Patient und Therapeut, durch das der schöpferische Patient und der schöpferische Therapeut im freien Improvisieren miteinander kommunizieren. Therapeutisches Ziel der Nordoff/Robbins Methode ist es, durch „musikalische Kommunikation und kreative musikalische Begegnung“, die Fähigkeit des Patienten zur „Selbstentfaltung, Autonomie und Selbstverwirklichung“ anzuregen bzw. zu verbessern. Der musikalische Prozess, durch den es natürlich auch zur Gestaltung eines musikalischen „Ergebnisses“ kommt, wird als wesentliches Sinnbild für den sich im Verlaufe einer Therapie verändernden Menschen angesehen. In den therapeutischen Intentionen von Nordoff/Robbins lassen sich deutliche Bezüge zu den Zielsetzungen der humanistischen Psychologie und zum Kreativitätsverständnis Maslows erkennen (Nordoff, Robbins 1986). Beobachtungen bei Patienten mit chronischen Schmerzen, die nach der Nordoff/Robins Methode musiktherapeutisch behandelt wurden, haben gezeigt, dass diese schon nach wenigen musiktherapeutischen Sitzungen teilweise er-

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staunliche Entwicklungen machten, indem sie im musikalischen Dialog musikalische Angebote aufgriffen und in Eigeninitiative gerichtete Aktivitäten und musikalische Gestaltungsmöglichkeiten erkennen ließen. Dies sind Reaktionsweisen, die unter psychotherapeutischen und verhaltensmedizinischen Gesichtspunkten für eine Neuorientierung bzw. Umbewertung und positive Bewältigung chronischer Schmerzen einen hohen Stellenwert haben. Die Einbeziehung von Musiktherapie in schmerztherapeutische Behandlungskonzepte erfolgte unter der Vorstellung, dass aktive Kreativität und Musik bei chronischen Schmerzpatienten hilfreich sein könne, die durch den Schmerz gestörte Körpererfahrung zu verändern und dadurch zu einer verbesserten Schmerzbewältigung bzw. Einstellung gegenüber dem Schmerzerleben zu gelangen. Die Grundannahme dieses therapeutischen Ansatzes ist damit begründet, dass zwischen Gesundheit und Wohlbefinden, Selbstverwirklichung und Kreativität enge Beziehungen bestehen, die durch künstlerische Aktivität gefördert werden soll (Duncan 1987) und durch kreative Erfahrungen Einstellungs- und Verhaltensänderungen initiiert werden. Wenn das Phänomen Schmerz als Ausdruck einer gestörten Kommunikation zum eigenen Körper, der „Körpererfahrung“, angesehen werden kann, so könnte durch die Erfahrung musikalischer Kommunikation auch die kommunikative Bedeutung des Schmerzes verändert werden (Petersen 1989). Die Bedeutung der von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen aber auch von vielen äußeren Einflüssen geprägten „Körpererfahrung“ für gesundheitliche, rehabilitative und pädagogische Entwicklungen bzw. für die Selbstgestaltung des Lebens ist in den letzten Jahren vermehrt ins Blickfeld geraten, besonders auch unter dem Aspekt, präventive Möglichkeiten zur Verhinderung chronifizierender Entwicklungen aufzuzeigen. Eine weitere Hypothese ist, dass die affektive, emotionale Internalisierung einer aktiven musiktherapeutischen Erfahrung zu einer Verbesserung der körperlichen Befindlichkeit beitragen kann. Schließlich können die Kommunikationsstörungen von Patienten mit chronischen Schmerzen auch als „Verlust an Autonomiefähigkeit“ (Matthiessen 1994) verstanden werden. Unter diesem Aspekt könnte eine musiktherapeutische Beziehung auch dazu beitragen, eine differenzierende Wahrnehmung des Schmerzerlebens zu ermöglichen und eine selbstverantwortliche oder zumindest mehr selbstbestimmte Perspektive des „trotz Schmerzen zu leben“ zu entwickeln.

Untersuchungsergebnisse zur Musiktherapie Die meisten Untersuchungen zur Musiktherapie bei chronischen Schmerzen weisen erhebliche methodische Mängel auf. So konzentrieren sich die Untersuchungen zur „Effizienz“ der funktionellen Musik in der Regel darauf, Befindlichkeitsverbesserungen beim Musikhören darzustellen oder zumindest vegetative und biologische Veränderungen z.B. in der Konzentration von Stresshormonen nachzuweisen. Da Musiktherapie in einem besonderen Maße den Menschen als Individuum auf verschiedenen Ebenen anspricht, erlauben die Messdaten häufig nur sehr bedingt Aussagen über die Wirksamkeit musiktherapeutischer Verfah-

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ren, zumal die Wirkeffekte meist zeitlich nicht parallel mit dem Verlauf der Musiktherapie einhergehen. Hinzu kommt, dass Musiktherapie zur Schmerzlinderung selten als einzige Behandlungsmethode angewandt wird, sondern im Rahmen „multimodaler“ Therapiekonzepte, was die therapeutische Evaluation von miteinander vergleichbaren Patientenkollektiven und Therapiesettings erschwert, zumal sich pragmatisch-experimentelle Situationen nur bedingt auf klinische Situationen übertragen lassen. Obwohl man in der Therapieforschung von einer Zuordnung verschiedener künstlerischen Therapien zu einzelnen Krankheitsbildern noch weit entfernt ist, wird es mehr und mehr notwendig sein, die Bedeutung dieser Therapien auch in einer nachvollziehbaren „Ergebnisqualität“ darzustellen. Die Verflechtung der personalen und medialen Ebene in der musiktherapeutischen Beziehung erfordert ein methodisches Vorgehen, das eine Nachvollziehbarkeit der Bedeutung des Behandlungsprozesses im Einzelfall erlaubt, so dass zum „Wirksamkeitsbeweis“ hier weniger der Vergleich randomisierter Kollektive geeignet ist als die systematisierte Längsschnittdokumentation von exemplarischen Fällen. Hinzu kommt, dass die wissenschaftliche Erforschung der musiktherapeutischen Begegnung eine eigene Methodik erforderlich macht, die als phänomenologisch-deskriptives Vorgehen gut charakterisiert ist (Ferrara 1991; Tüpker 1990). Die von uns als prospektiven Pilotstudie bei chronischen Schmerzpatienten durchgeführte Verlaufsdokumentation verfolgte diesen Ansatz. Dabei fanden wir nicht nur eine Veränderungen von Befindlichkeitsparametern (Abb. 3) sondern vor allem auch Therapiebewertungen der Patienten, durch die die Bedeutung aktiver Musiktherapie für diese Patienten individuell nachvollziehbar wurde (Müller-Busch 1999). Die bisher nur im Ansatz dargestellte Analyse des musiktherapeutischen Prozesses zeigte, dass bei den musiktherapeutisch behandelten Schmerzpatienten, der Gesichtspunkt der musikalischen Phrasierung (d.h. die Fähigkeit einen musikalischen Rhythmus aufzunehmen und selbst zu gestalten bzw. zu phrasieren) für die therapeutische Entwicklung eine wesentliche Bedeutung hatte. Bringt man diesen musikalischen Gesichtspunkt mit klinischen Aspekten in Beziehung, so wird deutlich, dass für die Musiktherapie das Phänomen Schmerz sich in einer besonderen Weise auch als eine Störung kommunikativer Fähigkeiten manifestiert. Die bei Schmerzpatienten untersuchte Qualität des Phrasierens muss allerdings im Hinblick auf seine Bedeutung für methodische Ansätze in der Musiktherapie als auch im Vergleich zu anderen chronischen Krankheitsbildern noch weiter untersucht werden (Hoffmann 1998). Ein weitere interessante Beobachtung, die sich bei der systematisierten Untersuchung musiktherapeutisch behandelter Schmerzpatienten fand, ist die – in einigen Berichten der Patienten – wiederholt als bestimmendes Erlebnis berichtete, wichtige „Entdeckung des Singens“ zur Schmerzbewältigung. Diese schon aus dem Altertum bekannte Tatsache, sollte in auf autonome Schmerzbewältigung angelegten, verhaltenstherapeutischen Ansätzen viel mehr Beachtung finden. Im Singen manifestieren sich wichtige kreative und kommunikative Fähigkeiten. Die Stimm- und Lautbildung beim Singen ist ein äußerst komplizierter neurophysiologischer Vorgang, an dem affektive und kognitive Elemente aber

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Abb. 3. Schmerzintensität und Schmerzerleben vor und nach Musiktherapie (p < 0,05 für VAS, MSS, FSB und LQS in der Musikgruppe)

auch der vegetativ-physiologischen Selbstregulation und „energetischen Selbstorganisation“ (Adamek 1990) miteinander wirken, wobei das Singen als „Äußerung“ auch wieder unmittelbare Rückwirkungen auf die Gesamtstruktur des Menschen hat. Auch der besonders bei Schmerzpatienten wichtige Aspekt des Anspannens und Entspannens kann im Singen und den damit verbundenen Atemtechniken erlebbar gemacht und therapeutisch genutzt werden. Schließlich zeigten die in unserer Verlaufsstudie gefundenen Ergebnisse, dass sich trotz langdauernder Chronifizierungsprozesse bei Schmerzerkrankungen nach relativ wenigen musiktherapeutischen Sitzungen erstaunliche Entwicklungen erkennen ließen, indem bei einigen Patienten eigene Impulse zu einem veränderten Schmerzumgang angeregt wurden. Dennoch müsste für eine sinnvolle und systematisierte musiktherapeutische Arbeit mit Schmerzpatienten, die sich dann auch stärker an den o.g. musikalischen Qualitäten orientieren könnte, eine längere Behandlungsdauer angesetzt werden, wobei es auch notwendig ist, dass seitens der Musiktherapeuten, das Phänomen Schmerz in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und Determinanten noch besser verstanden wird. Dies erfordert auch – wie bei allen interdisziplinären und multimodalen Behandlungsansätzen – eine gute Kommunikation und Information der an der Betreuung eines Patienten beteiligten Fachdisziplinen.

Ausblick Auch wenn es noch wenige Kriterien gibt, für welche Patienten und für welche speziellen Indikationen Musiktherapie eingesetzt werden soll bzw. für welche

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Schmerzzustände die unterschiedliche Formen der Musiktherapie geeignet sind, so haben doch zahlreiche Untersuchungen und Einzelbeobachtungen bei Schmerzpatienten gezeigt, dass Musik eine wirksame, hilfreiche und „nebenwirkungsarme“ Behandlungsmethode darstellt. Musiktherapie sollte in integrierten und multimodalen Behandlungskonzepten bei Schmerzpatienten als komplementäre Methode häufiger berücksichtigt werden und auch seitens der Kostenträger erstattungsfähig anerkannt werden. Musik sollte dann eingesetzt werden, wenn es Schmerzpatienten angesichts übermäßiger körperlicher und seelischer Belastungen „die Sprache verschlägt“. Wenn die Sprache des Schmerzes auf der Ebene der Worte nicht vermittelt oder verstanden werden kann, wird Musiktherapie eine in besonderem Maße anregende aber auch entspannende Kommunikationstherapie. Sie berührt sowohl die kommunikative Beziehung zum eigenen Körper, zum „Ich“, als auch die zur Umwelt. Die Einbeziehung von Musiktherapie in schmerztherapeutische Behandlungskonzepte sollte unter der Vorstellung erfolgen, dass aktive Kreativität und Musik bei chronischen Schmerzpatienten hilfreich sein kann, die durch den Schmerz gestörte Körpererfahrung zu verändern und dadurch zu einer verbesserten Schmerzbewältigung bzw. Einstellung gegenüber dem Schmerzerleben zu gelangen. Sowohl aktives musikalisches Begegnen in einer musiktherapeutischen Beziehung als auch rezeptives Musikerleben kann die Bewältigungsfähigkeiten im Umgang mit Schmerzen z.B. durch Distanzfinden wesentlich verbessern und dazu beitragen durch die „eigene Musik“ wieder neuen Mut und Selbstvertrauen zu finden bzw. den „Sinn für das Selbst“ zu stärken (Müller-Busch, Fausch 2003). Aktive Musiktherapie ist für solche Patienten „indiziert“, die bereit sind, die in ihnen selbst vorhandenen Möglichkeiten der Schmerzbewältigung durch musikalische Erfahrung emotional zu entdecken und zu entwickeln. Das bedeutet nicht, dass „Musikalität“ eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg ist. Auch wenn die Bereitschaft der meisten Patienten an der Musiktherapie teilzunehmen sehr groß war, scheint die Motivation ein wichtiger Aspekt zu sein, der auch den Erfolg einer solchen Behandlungsmethode bestimmt. Dies setzt allerdings schon ein erweitertes Verständnis der Schmerz bestimmenden Faktoren voraus. Auch wenn Musiktherapie in erster Linie eine Behandlungsmethode ist, die den Menschen in seiner Gesamtheit anspricht und die wohl weniger auf bestimmte Erkrankungen zu beschränken ist, sollten im Bereich der Algesiologie weitere Untersuchungen durchgeführt werden, mit denen sich Kriterien entwickeln lassen, für welche Patientengruppen und welche speziellen Indikationen bzw. Schmerzzustände ein musiktherapeutischen Behandlungsversuch in einer bestimmten Form besonders sinnvoll erscheint. In diesem Zusammenhang müsste vor allem auch die Bedeutung der individuellen Motivation, sich auf die eigene, „innere Musikalität“ einzulassen, näher untersucht werden.

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Die Klangwiege in der Musiktherapie bei Patienten mit chronischen Schmerzen T. SCHRÖTER

Einleitung Die Zusammenhänge von Schmerz und Musik werden vielerorts systematisch untersucht, weiterentwickelt und gelehrt. Dies spiegelt sich auch in der Ausbildungslandschaft wieder. So gibt es seit 2005 erstmals eine vom Deutschen Zentrum für Musiktherapieforschung in Heidelberg (Viktor Dulger Institut e.V.) durchgeführte Weiterbildung zum musiktherapeutischen Schmerztherapeuten. Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass es eine Zunahme von neuen Musikinstrumenten gibt, bei denen akustische Schwingungen über die Haut auf den Patienten übertragen werden. Auf dem internationalen Musiktherapie-Weltkongress in Hamburg 1996 wurden solche vibro-akustischen Musikinstrumente ausgestellt, z.B. das Monochord der Ton-Transfer-Therapie von Cramer aus München, das Verrophon von Bitterli und Reckert aus der Schweiz, die grosse KombiSchlitztrommel von Böhme aus Heuchelheim, der Klangstuhl von Deutz aus Berlin, die Klangschaukel und die Klangwiege von Harbeke aus Bad Zwesten. Gemeint sind hier nicht technische Geräte mit elektroakustischen Schallwandlern, sondern Musikinstrumente bei denen auf mechanischem Weg mit Hilfe eines Spielers, meist durch anzupfen oder anstreichen von Saiten, Schwingungen erzeugt werden. In diesem Beitrag geht es um den Einsatz eines solchen Musikinstrumentes bei Patienten mit chronischen Schmerzen. Im Gesundheitszentrum Sokrates in Güttingen (CH) werden seit 2002 Patienten von einem Musiktherapeuten mit der Klangwiege von Harbeke behandelt. Die Ergebnisse der dort im Auftrag der Stiftung Sokrates durchgeführten Pilotstudie mit 10 chronischen Schmerzpatienten sind sehr ermutigend und lassen es lohnenswert erscheinen dieses musiktherapeutische Behandlungsverfahren in der Behandlung von chronischen Schmerzen adjuvant einzusetzen.

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Überlegungen zum Schmerzerleben „Schmerz ist nicht nur Ausdruck einer körperlichen Funktionsstörung, sondern ein existenziell bestimmendes Bewusstseinsphänomen, das den Patienten und sein soziales Umfeld maßgeblich beeinflusst und beeinträchtigt.“ Müller-Busch Bei chronischen Schmerzkranken stossen bekanntermassen einseitig auf Symptomlinderung ausgerichtete Behandlungsmethoden häufig an Grenzen und bringen nur bei ca. 30% der Patienten eine spürbare Besserung. Als ein möglicher Hauptgrund kann hierfür die einseitige Betrachtungsweise des Phänomens Schmerz geltend gemacht werden. Die Ursache für die Chronifizierung von Schmerzen wird nach dem heutigen Erkenntnisstand multifaktoriell gesehen. Schmerz ist mehr als nur eine körperliche Empfindung. Er ist eine ganzheitliche Erfahrung, bei der Körper, Geist und Seele beteiligt sind. Schon allein das Zusammenspiel der verschiedenen körpereigenen Systeme, die beim Entstehen und der Chronifizierung von Schmerzen beteiligt sind, ist ausserordentlich komplex. Welche Bedeutung dabei Gedanken und Emotionen haben wird intensiv beforscht. Soviel ist sicher: Das Schmerzerleben ist auch ein kognitiver Vorgang, bei dem emotionale Mechanismen eine Rolle spielen (Müller-Busch 1997, S. 64f). Schmerz erzeugt Angst, diese erzeugt Verspannung, die wiederum den Schmerz verstärkt. Ähnliche Wechselwirkungen finden wir auch zwischen Emotionen und Gedanken. Was als beängstigend empfunden wird, hängt wesentlich von unseren Erfahrungen und Überzeugungen ab. Die beschriebenen Wechselwirkungen bei chronischen Schmerzen führen beim Patienten oft zu körperlichen Bewegungseinschränkungen, mit denen nicht selten ein Rückzug aus beruflichen und sozialen Bezügen einhergeht und langfristig Depressionen und Persönlichkeitsstörungen folgen. Schmerzen beinhalten immer die Erlebnisqualität von Erstarrung im körperlichen, seelischen und sozialen Bereich. Das Selbst- und Körperbild erstarrt ebenso, wie die sozialen Beziehungen und die Erinnerung an früheres Wohlbefinden. Vom Patienten werden zunehmend einfachere und weniger flexible Verhaltens- und Erlebensweisen bevorzugt. Hillecke spricht vom „erstarrten Bezugskorrelat“ und meint damit Erstarrung im Sinne von Variabilitätsverlust, als dynamische Begleiterscheinung von chronischen Schmerzen, der die ganze Persönlichkeit betrifft (Hillecke 2005, S. 42f). Dies macht sich auch in einer Einschränkung des emotional-expressiven Ausdrucks bemerkbar, der mit musiktherapeutischen diagnostischen Verfahren hörund erfahrbar gemacht werden kann. Ein möglicher Ausweg daraus wäre eine Flexibilisierung, die mit dem hier vorgestellten musiktherapeutischen Verfahren erreicht werden kann.

Die Klangwiege in der Musiktherapie

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Überlegungen zum Musikerleben Musikerleben ist Hören und Spüren. Wie sehr Hören und Fühlen zusammenhängen wird verständlich, wenn man sich bewusst macht, dass wir im Mutterleib über das Fruchtwasser nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem ganzen Körper hören. Bis zur Geburt hat jeder Mensch im Mutterleib etwa 26 Millionen Herzschläge seiner Mutter, daneben ihre Stimme, die Geräusche der Atmung, des Darms, der Blutzirkulation und andere akustische Reize im ursprünglichen Sinne des Wortes „ganzheitlich“ gehört. Wir können davon ausgehen, das dies im Normalfall mit Gefühlen einer hochgradigen Geborgenheit, Sättigung und Sicherheit verbunden ist. Es ist anzunehmen, dass uns diese Erfahrungen niemals verloren gehen, und dass auf unbewusster Ebene beim Hören durch Musik eine Art Erinnerung an unsere Urerlebnisse im Mutterleib stattfindet. Auf der Basis des vorgeburtlichen Hörens entfaltet sich im Wechselspiel von Individuum und Umwelt die individuelle Musikbiografie eines Menschen, und zwar unabhängig davon, ob es eine spezifische musikalische Sozialisation gibt oder nicht. Durch die vorgeburtlich gesammelten Höreindrücke der Welt ausserhalb des Mutterleibes, wird uns bei der Geburt der Übergang zur Außenwelt erleichtert. Musik wird in der Musiktherapie deshalb auch als Übergangsobjekt bezeichnet. Noch vor dem Spracherwerb hat das Klangerleben die Funktion, Menschen bei der Orientierung in der Welt zu helfen und Beziehungen herzustellen. Die vorgeburtliche „Musik“ der Mutter setzt sich im Idealfall fort im Wiegenlied und den wunderschönen Lauten, die Mutter und Vater für ihr Kind haben. Sie ist Ausdruck der Liebe und Zuneigung, die allem Stress und Unbehagen begegnen kann. Wer einmal zugehört hat, wie eine Mutter mit einer liebevollen, wiegenden und melodiösen Stimme ihr weinendes Kind tröstet, wird keinen Zweifel daran haben, dass diese Musik Stress mindert, Schmerz lindert und ganz allgemein die Lebensenergie stärkt. In jedem menschlichen Leben gibt es unzählige Musikerfahrungen, die erfreulicherweise fast immer positive Assoziationen hervorrufen. Häufig kann dem Hören auch ein räumlicher und sozialkommunikativer Kontext zugeordnet werden. Wir kennen die Erfahrung, dass ein bestimmtes Musikstück plötzlich die Erinnerung an ein vergangenes Ereignis auslöst. Jeder kennt die Erfahrung, dass Musik sowohl beruhigen, als auch aktivieren kann – beides ist für Schmerzpatienten wichtig. Mit Musik wird die emotionale Seite des Menschen positiv beeinflusst. Es entstehen Synchronisationen und Resonanzen, die automatisch tief in das Unterbewusstsein dringen und dort Stimmungen auslösen können. Wir fühlen uns dann entspannt oder angeregt, den Tränen nahe oder zum Spielen aufgelegt. Nicht unwesentlich ist die Tatsache, dass dem Hörerlebnis immer ein mechanisches Schwingungserleben vorausgeht. Musik ist so gesehen eine Art indirekte Berührung. Unser Hörsinn gilt als einer der stärksten und genauesten Sinne und ist etwa zehnmal so empfindsam wie der Sehsinn. Während wir mit unseren Ohren, je nach Alter, Schallwellen im Bereich von 18 Hz bis ca. 20’000 Hz hören, können wir Schallwellen vor allem zwischen 10 Hz und 200 Hz bei ausreichender Intensität auch über die

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Rezeptoren unserer Haut als Vibration unmittelbar wahrnehmen (Müller-Busch 1997, S. 51). Musik berührt und bewegt uns. Der Vibrationssinn gilt entwicklungsgeschichtlich zusammen mit dem Tastsinn als Vorfahre des Hörsinns (Cramer 2005, S. 56). Die neuronalen Zusammenhänge von Hör- und Tastsinn erlauben es uns, mit vibro-akustischen Reizen das Schmerzerleben in vielfältiger Weise zu modifizieren. Neue positive körperliche, kognitive und emotionale Erfahrungen durch Musik können für die Neuorientierung und den Umgang mit chronischen Schmerzen eine wichtige Bedeutung haben.

Musiktherapie als integrative Behandlungsmethode Musiktherapie nutzt Klänge, Töne und Schwingungen um über eine Veränderung der Wahrnehmung und des Erlebens gesundheitsfördernde regulatorische Prozesse in Gang zu setzen. Bekanntermassen wirkt Musik bereits im Unterbewusstsein regulatorisch, z.B. wenn sie im Spielfilm Spannung erzeugt, im Kaufhaus zum Kaufen anregt oder in der U-Bahn beruhigt. Man kann davon ausgehen, dass die Wirksamkeit von Musik mit einer erhöhten Wahrnehmungsbereitschaft des Hörers und einer größeren Spezifizierung der Musik zunimmt. Je besser die Musik auf uns abgestimmt ist und je mehr wir uns ihr öffnen und hingeben können, desto stärker ist ihre Wirkung. Wie soll dies besser möglich sein, als in einer vertrauensvollen Umgebung im Beisein eines zugewandten Therapeuten. Im aufnahmebereiten Zustand der entspannten Konzentration treten Gedanken und Worte in den Hintergrund und innere Bilder und andere Empfindungen tun sich auf. Diese repräsentieren eine zeit- und raumlose seelische Realität, die im Alltag oft nicht mehr erfahren wird. Musik kann die Kluft zwischen der sichtbaren, materiellen Welt und der inneren, spirituellen Welt überwinden. Gerade in diesen Grenzbereichen steckt ein enormes Heilungspotenzial. Darin enthalten ist eine psychische Energie, die transformativ wirken und uns tiefgreifend verändern kann. Eine veränderte Wahrnehmung der eigenen Person kann helfen über sich selbst hinauszuwachsen und die Verbundenheit mit allem zu spüren. Die Schönheit und Tiefe der Klänge ist in der Lage, dem Patienten die Gewissheit zu vermitteln, dass ihm ständig eine höhere Macht zur Seite steht, die ihm Stärke und Unterstützung zukommen lässt, wenn er diese braucht. Musiktherapie zeichnet sich dadurch aus, dass sie die scheinbare Abgrenzung zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Behandlung überwindet. Sie kann sowohl physische, psychische und soziale Einflüsse geltend machen und dabei seelische und spirituelle Dimensionen berühren. Die Erfahrungen reichen weit über die Grenzen der Verbalisierungsmöglichkeiten hinaus. Das dabei eingesetzte Medium Musik ist, genau wie die Schmerzerfahrung, eine ganzheitliche sinnliche Erfahrung. Bei ganzheitlicher Betrachtung zeigt sich Schmerz als ein mehrdimensionales Phänomen, wobei dieser nicht nur als Funktionsstörung, sondern als ein Signal für eine Erschütterung der Integrität des gesamten Ordnungssystems verstanden

Die Klangwiege in der Musiktherapie

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werden kann. Musiktherapie setzt mit Klängen, Tönen und Schwingungen Impulse, um gesundheitsfördernde Prozesse in Gang zu setzen.

Der Einsatz von akustischen Musikinstrumenten zur vibratorischen Stimulation Eine Möglichkeit der positiven Schmerzveränderung ist die akustisch-vibratorische Stimulation des Patienten mit Hilfe von schwingungsreichen Musikinstrumenten, die direkt mit dem Körper in Berührung gebracht werden. Hier gibt es ein breites Spektrum, angefangen von Musikinstrumenten, die auf den Körper aufgelegt werden (z.B. Klangschalen, Tontransfer-Monochord) über solche zum Draufsetzen (z.B. Big Bom) bis zu denen, auf die man sich drauf- oder hineinlegt (z.B. Klangliege, Klangwiege). Da wir nicht nur mit den Ohren, sondern Klänge auch über die Haut und durch das knöcherne Skelett aufnehmen, werden die Schwingungen dem gesamten Organismus zugeführt und von diesem „ganzheitlich“ gehört. In der Musiktherapie werden diese Musikinstrumente vom Patienten oder vom Therapeuten gespielt, der im Sinne des dialogischen Prinzips während der Behandlung mit dem Patienten in unmittelbarem Kontakt steht. Zu unterscheiden ist diese Art der vibroakustischen Verfahren vom Einsatz der von O.Skille (in Lutz Berger 1997, S. 37ff) ausgiebig beschriebenen Verfahren, bei dem mit Hilfe von elektroakustischen Schallwandler vorher bestimmte Frequenzen auf den Körper übertragen werden. Eines der neuesten Geräte in diesem Bereich ist z.B. die Infraschallliege, die ebenso zur Schmerzlinderung eingesetzt wird. Die Anwesenheit eines Therapeuten ist bei der Behandlung nicht erforderlich. Das von uns vorgestellte Verfahren mit der Klangwiege unterscheidet sich von diesen wesentlich dadurch, dass es sich hier um ein Musikinstrument und nicht um ein medizinisches Gerät handelt. Dementsprechend benötigt die Nutzung auch keine elektrische Energie, sondern menschliche Zuwendung. Ohne Zweifel ist es bedeutungsvoll, dass hier nicht eine Maschine Schwingungen erzeugt, sondern eine Musik für den Patienten gemacht wird. Das hat auch Auswirkungen auf den erzeugten Klang, der eine ebenso ästhetische wie nicht maschinell perfekte, aber der Natur entsprechende Variabilität besitzt.

Die Klangwiege Die Klangwiege ist ein Abkömmling des Monochords, das bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. von Pythagoras beschrieben und zur Berechnung von kosmischen Gesetzmäßigkeiten genutzt wurde. Die Behandlung mit dem Liege-Monochord und dessen unterschiedlichen Modellen, wie Klangbett, Klangstuhl, Sandawa-Monochord u.a. gilt als eines der eindrücklichsten rezeptiven Verfahren in der Musiktherapie. Mit der Weiterentwicklung durch den Musikinstrumentenmacher Claus Harbeke aus Bad Zwesten

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seit 2001 zu der heute bestehenden Form der Klangwiege ist eine praktikable Anwendung im klinischen Bereich möglich. Sie wird mittlerweile an einigen Kliniken, so in der Abteilung für psychosomatische Medizin im Sana-Klinikum in Remscheid, im Landeskrankenhaus Göttingen oder der Sonnenbergklinik in Bad Sooden Allendorf bei Krebspatienten angewendet. Die Klangwiege besteht aus einem wiegeähnlichen 180 x 76 x 34 cm großen, nach oben gewölbten Holzkörper, mit 36 seitlich aufgespannten Saiten. Das Instrument ist jeweils zur Hälfte auf a und auf d gestimmt. Der Patient kann sich in sie hineinlegen und erfährt so zusätzlich zum Hörerlebnis eine vibro-taktile Stimulation. Die Wölbung des Instrumentes ermöglicht während des Spielens ein sanftes Wiegen. Die jeweils gleich gestimmten Saiten werden im Wechsel der beiden Hände gleichmässig mit den Fingerkuppen sanft angestrichen. Nach dem Resonanzprinzip werden dadurch auch die anderen gleichgestimmten Saiten zum Mitschwingen angeregt. Dabei entsteht ein tief schwingender Grundton, über den sich auf natürliche Weise eine nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten nach oben hin offene, sphärisch anmutende Obertonmelodie legt. In der Struktur der Obertonreihe eines einzelnen Tones sind alle musikalischen Möglichkeiten angelegt und enthalten. Die Behandlung mit der Klangwiege wird von den meisten Patienten als äußerst beeindruckend erlebt. Dies hängt damit zusammen, dass der Klang

Abb. 1. Klangwiege von Harbeke im therapeutischen Gebrauch

Die Klangwiege in der Musiktherapie

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nicht nur mit den Ohren gehört, sondern ebenso mit den besonders leitungsfähigen Röhrenknochen, der Haut und den Zellen gespürt werden kann. Diese Verbindung vom Hören und körperlichen Spüren potenziert die Klangerfahrung zu einem ganzheitlichen Schwingungserlebnis. Dabei empfindet der Patient häufig ein Verschmelzen mit dem Klangkörper, bei dem sein Körper wie ein erweiterter Resonanzraum, quasi als Verlängerung des Instrumentes empfunden wird. Somit kann der Patient im Idealfall, wenn er sich in den Klang ein- und mitschwingt, seine Verbundenheit mit der Schöpfung und sich selbst als Teil eines größeren Ganzen erleben. Das Liegen in der Klangwiege fördert ein völliges körperliches Loslassen bis zur Regression. Die mit der Tiefenentspannung verbundenen klangimmanenten Strukturen und Ordnungsmuster machen körperliche und seelische Befindlichkeiten dynamisch wandelbar. Im hör- und spürbaren „Raum“ können ebenso Schmerz, Abschied und Trauer Platz finden. Die Behandlung mit der Klangwiege hat eine gewisse Sogwirkung, dem sich der Patient nur schwer entziehen kann. So können z.B. bei traumatisierten Menschen durchaus auch verdrängte Ängste und starke Gefühle des Kontrollverlustes, Gefühle der Ohnmacht, Wut und der Trauer mobilisiert werden. Um solche Reaktionen auffangen zu können, sollte die Behandlung mit der Klangwiege unbedingt in einem geschützten Rahmen von einem erfahrenen Musiktherapeuten durchgeführt werden.

Pilotstudie zur Wirksamkeit der Klangwiege in der Musiktherapie In der Zeit 2003–2004 wurde im Gesundheitszentrum Sokrates in Güttingen (CH) im Rahmen einer durch die Stiftung Sokrates geförderten Studie die musiktherapeutische Schmerzbehandlung mit der Klangwiege entwickelt und wissenschaftlich ausgewertet. An der Pilotstudie nahmen 10 Patienten, davon neun Frauen und ein Mann mit überwiegend starken chronischen Schmerzen teil. Die vorherrschenden Beschwerden der Studienteilnehmer waren andauernde oder immer wiederkehrende schwere und quälende Schmerzen, die durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden konnten. Die häufigsten Diagnosen waren Kopf- und Rückenschmerzen, teilweise als Folge von Verspannungen im Nacken-Schulterbereich, Migräne, sowie Fibromyalgie und somatoforme Schmerzstörungen nach ICD 10 F45,4. Der Klangwiegenbehandlung ging ein vom Arzt durchgeführtes medizinisches Aufnahmegespräch voraus, in dem der aktuelle Gesundheitszustand, die Lebenssituation, die Motivation und die Ziele der Schmerzbehandlung angesprochen wurden. Darauf folgte das musiktherapeutische Aufnahmegespräch durch den Musiktherapeuten mit dem Kennenlernen des Settings und der Klangwiege. Statt von „Behandlung“ wurde von „Klangreise“ gesprochen, bei dem der Patient als „Reisender“ und der Musiktherapeut als „Reisebegleitung“ bezeichnet wurden. Dieser feine Unterschied in der Bezeichnung diente der Rollendefinition von Patient und Therapeut, bei der vor allem die Patientenautonomie einen wichtigen Stellenwert bekommen sollte. Im Aufnahmegespräch war es für den Patienten

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möglich sich behutsam, nach ausreichender „Reisevorbereitung“ der Klangwiege zu nähern und Probe zu liegen. Die Patienten erhielten jeweils zehn Klangwiegenbehandlungen.

Behandlungsmethode Bestandteil jeder Behandlung war ein Vorgespräch (ca. 15 Minuten), bei dem es um die aktuelle Befindlichkeit, besondere Vorkommnisse und Themen des Patienten ging. Dann erfolgte das Klangwiegenspiel (ca. 30 Minuten) und im Anschluss ein Nachgespräch (ca. 15 Minuten), in dem die Klangerfahrung besprochen und die Verbindung zur aktuellen Lebenswirklichkeit des Patienten hergestellt wurde. Das Klangwiegenspiel erfolgte im Kontakt des Musiktherapeuten mit dem Patienten, so dass Spielweise und Spielintensität an die Patientenwünsche angepasst werden konnten. Die bei der Behandlung entstandene „Musik“ wurde live aufgezeichnet und dem Patienten auf CD gebrannt mit nach Hause gegeben. Der Patient bekam die Anweisung täglich diese CD zu hören, sowie ein Schmerztagebuch zu führen, in das u.a. die durchschnittliche tägliche Schmerzstärke (von 1–10), die subjektive Befindlichkeit, besondere Ereignisse, sowie die Wirkung des CD-Hörens eingetragen wurde. Zur Erfassung der unmittelbaren Wirkung der musiktherapeutischen Intervention wurden die analoge Schmerzskala von 1–10 und die Basler Befindlichkeits-Skala (Hobi 1985) eingesetzt. Die Fragebogen wurden jeweils vor und nach den Therapiesitzungen ausgefüllt.

Ergebnisse der Pilotstudie Die Einzelbehandlung mit der Klangwiege wurde von allen Patienten als entspannungsfördernd und schmerzlindernd beschrieben. Fast immer wurden die Schmerzen während der Behandlung regelrecht vergessen, so dass diese Zeit von den Patienten als sehr erholsam empfunden wurde. Zum Teil hielt dieser Effekt für einige Stunden oder auch Tage an. Diese direkte Schmerzlinderung konnte mit der Befragung direkt vor und nach der Klangwiegenbehandlung gut dokumentiert werden (siehe Abb. 2). Sämtliche Patienten erfuhren durch die Klangwiege eine akute Schmerzlinderung. Durchschnittlich sank der Wert von 4,4 ± 2,3 auf 3,4 ± 2,1 auf einer Zehnerskala, also eine Abnahme um rund 10%. Außer bei Patientin E verspürten alle neun Patienten eine deutliche Verbesserung der Gesamt-Befindlichkeit durch die Klangwiegen-Behandlung (Baseler Befindlichkeitsfragebogen BBS). Die durchschnittliche Erhöhung betrug 17,2 ± 10.8 Punkte (siehe Abb. 3). Mit Hilfe der Basler Befindlichkeits-Skala wurde die aktuelle Befindlichkeit im Bezug auf die vier Befindlichkeitsfaktoren Vitalität(VT), Intrapsychischer Gleichgewichtszustand (IG), Soziale Extravertiertheit (SE) und Vigilität/kognitive Steuerungs- und Leistungsfähigkeit (VG) untersucht. Die Summe der Punktwerte für alle vier Skalen lieferte den Gesamtwert für die Befindlichkeit.

Die Klangwiege in der Musiktherapie

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Abb. 2. Schmerzstärke (0–10) der Patienten (A–M) unmittelbar vor und nach der KlangwiegenSitzung

Es zeigte sich, dass sich die Behandlung auf alle Bereiche gleichermaßen positiv auswirkte. Die Erhöhung betrug: VT 5,5 ± 3,4 Punkte, IG 5,3 ± 3,2 Punkte, SE 2,6 ± 3,1 und VG 3,8 ± 2,9 Punkte Punkte (siehe Abb. 4). Die Berichte im Nachgespräch der Klangwiegenbehandlungen zeigten eindeutige Veränderungen im Körpererleben der Patienten. Die Bandbreite der Empfindungen reichte von angenehmer Schwere bis über Leichtigkeit bis zur Körperlosigkeit. Einige Patienten erlebten in der Klangwiegensitzung zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder ein angenehmes Körpergefühl. So hatte ein seit fünfzehn Jahren an schweren chronischen Schmerzen leidender Patient, der sich mit seinen Schmerzen wie in einem Käfig fühlte, während der Behandlung das Gefühl wie ein Vogel fliegen zu können. Dieses Erlebnis hatte ihn regelrecht „beflügelt“. Manche Patienten berichteten von einem anfänglich auch schmerzhaften Spüren einzelner Körperteile und Organe, das sich später regelrecht in einem Gefühl der Durchlässigkeit auflöste. Neben den physiologischen Veränderungen erlebten fast alle Patienten während der Klangwiegenbehandlung überraschende Bewusstseinsphänomene, die durchaus auch als hypnotische Reaktionen bezeichnet werden können. Am häufigsten zeigten sich Erlebnisse und Assoziationen rund um die Bereiche Wasser, Fliessen, Fliegen, Schweben und Licht. Am deutlichsten traten Veränderungen im Zeitempfinden auf. Die Wahrnehmung der verschiedenen Tonhöhen des Instrumentes wurde manchmal auch als gegensätzlich, z.B. als oben und unten, nah und weit oder als Imagination von Himmel und Erde erlebt. Auch das CD-Hören Zuhause mit der aufgenommenen Klangwiegenbehandlung bewirkte fast immer eine Entspannungsreaktion, die allerdings im Vergleich zur Klangwiegenbehandlung abgeschwächter ausfiel.

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Abb. 3. Gesamt-Befindlichkeit der Patienten unmittelbar vor und nach der KlangwiegenSitzung

Erklärungsversuche Die musiktherapeutische Behandlung mit der Klangwiege ist ein auf den ersten Blick relativ einfaches Verfahren, das dennoch eine Vielzahl von möglichen sich gegenseitig beeinflussenden und verstärkenden Wirkfaktoren enthält. Dass alleine schon das Wiegen in der Klangwiege für die meisten Patienten als positive emotionale Zuwendung erfahren wurde, bedarf keiner weiteren Erklärung. Ebenso hatte es sicher auch einen positiven Einfluss, dass der Patient sich Zuhause im Laufe des Tages ein halbe Stunde Zeit zum Ausspannen und Hören der Klangwiegen-CD nahm. Komplexer sind die Veränderungen, die sich während der Behandlung durch die hör- und fühlbaren Schwingungen ergeben. Die hohen Töne der Klangwiege sind als fein obertonreiche Klanghülle erfahrbar, während die tieferen Schwingungen eher vibratorisch wahrnehmbar und fühlbar sind. Hier ergibt sich in den meisten Fällen ein Schmerzdämpfungseffekt. Die Koppelung von akustischen mit sensomotorischen Reizen führt zu einer günstigen vegetativen Reaktion, die sich in einer aussergewöhnlichen Tiefenentspannung äussert. Einhergehend sind eine verbesserten Durchblutung des ganzen Körpers, sowie die Aktivierung von Alphawellen und Ausschüttung von Endorphinen im Gehirn. Da das Klangspektrum der Klangwiege in der Regel nicht unseren Hörgewohnheiten entspricht, entsteht eine Aufmerksamkeitsumlenkung die dazu führt, dass Schmerzen regelrecht ausgeblendet und vergessen werden. Die sphärischen Klänge können ein Gefühl von Leichtigkeit und Loslassen induzieren, was eine

Die Klangwiege in der Musiktherapie

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Abb. 4. Befindlichkeitsfaktoren der Patienten unmittelbar vor und nach der KlangwiegenSitzung

willkommene Musterunterbrechung der im Schmerz gefangenen Menschen sein kann. Die gehörten und gespürten Schwingungen werden fast immer als energetisierend, aber auch wie eine schützende Hülle oder ein tragender Teppich mit nährender Qualität erlebt. Glücksgefühle von „kosmischer Verbundenheit“ bis hin zu „ozeanischer Selbstentgrenzung“, wie sie Strobel für den Einsatz des Monochordes umfassend beschrieben hat sind keine Seltenheit (Strobel 1999, S.109). Mit der Klangwiege können Gefühlsqualitäten ausgelöst werden, nach denen sich jemand jahrelang gesehnt hat. Auch wenn vieles wegen unzureichender Forschungsergebnisse noch spekulativ ist, so kann man schon bei dieser kleinen Patientengruppe erkennen, dass es bei der musiktherapeutischen Behandlung ansatzweise gelingt, die bei Schmerzpatienten meist vorhandene Erstarrung aufzulösen und eine stärkere Flexibilität herbeizuführen.

Fazit Die musiktherapeutische Behandlung mit der Klangwiege kann das Schmerzerleben von Patienten mit chronischen Schmerzen verringern und zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität beitragen. Die Pilotstudie zeigt, dass es mit der musiktherapeutischen Klangwiegenbehandlung auch bei Patienten mit schweren chronischen Schmerzen möglich ist, ein körperlich-seelisches Wohlbefinden zu induzieren, so dass es in den meisten Fällen während der Behandlung, teilweise auch danach, zu einer deutlichen Schmerzlinderung kommt. Schmerzpatienten können diese Art von Berührung oft besser annehmen als eine unmittelbare Körpermassage. Die Erfahrungen von Entspannung, Loslassen, Vertrauen, Sicherheit, Geborgenheit, herrliche Farben,

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stimmungsaufhellende Lichterfahrungen, Wärmegefühle, inneres Raumgefühl, durch den Körper fliessende Energieströme, wohliges Umhülltsein, Ruhe und Geborgenheitsgefühle, Empfindung von Bodenständigkeit und Leichtigkeit zugleich, Aufhebung des Gefühls von Abgetrenntsein, Empfindungen von Liebe, Verbindung von Himmel und Erde, sind ausreichende Indikatoren dafür, dass mit dieser musiktherapeutischen Behandlung tatsächlich Körper, Geist und Seele als ganzheitlicher Organismus angesprochen wurden. Ohne Zweifel gibt es bei dieser Behandlungsmethode neben der Technik eine Reihe von unspezifischen Wirkfaktoren, wie Beziehung zum Therapeuten, Klientenvariablen und außertherapeutische Ereignisse, sowie Erwartungs- und Placeboeffekte, die im Einzelnen nicht untersucht werden konnten. Letzten Endes ging es bei dieser Pilotstudie in erster Linie auch nicht um die Beforschung eines Musikinstrumentes, sondern um die Entwicklung eines interessanten musiktherapeutischen Verfahrens. Die bisherigen Ergebnisse lassen es lohnenswert erscheinen diese Behandlung Patienten anzubieten, bei denen Schmerzen im Zusammenhang mit stressbedingten körperlichen Verspannungszuständen stehen und bei denen chronische Schmerzen bereits zu einer gestörten Körperwahrnehmung sowie der gefühlsmäßigen Abspaltung von Körperpartien geführt haben. Angewendet werden sollte die Klangwiege nur in einem vertrauensvollen therapeutischen Rahmen von einem erfahrenen Musiktherapeuten. Es ist sicher lohnenswert die spezifische Wirkung der Klangwiege näher zu untersuchen. Methodisch wäre es sehr interessant die Korrelation der neuro-physiologischen Prozesse mit dem subjektiven Erleben des Patienten zu verfolgen. Auch wenn die Patientengruppe noch zu klein und unspezifisch ist um daraus generelle Schlüsse zu ziehen, so lässt sich abschliessend sagen, dass die musiktherapeutische Klangwiegenbehandlung nicht nur eine unproblematische adjuvante Behandlung für Schmerzpatienten, sondern vor allem ein annehmbares liebevolles Angebot zur Kontaktaufnahme mit dem eigenen Körper ist und damit ohne Zweifel zu einer Verringerung der emotionalen und affektiven Schmerzbelastung beiträgt. Da viele Schmerzpatienten das Gefühl haben im Leben „nicht genug bekommen zu haben“, kann das mit dieser Behandlung mögliche „Nachnähren“ gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Literatur Aldridge D (1999) Musiktherapie in der Medizin, Forschungsstrategien und praktische Erfahrungen. Hans Huber, Bern Berger L (Hrsg) (1997) Musik, Magie & Medizin, Neue Wege zu Harmonie und Heilung. Junfermann, Paderborn Cramer A (2005) Erfahrungen mit dem therapeutischen Monochord der Ton-Transfer-Therapie. In: Dosch J, Timmermann T (Hrsg) Das Buch vom Monochord. Reichert Verlag, Wiesbaden Decker-Voigt HH, Escher J (Hrsg) (1994) Neue Klänge in der Medizin, Musiktherapie in der Medizin, Dokumentation eines schweizerisch-deutschen Praxisforschungsprojektes. Trialog-Verlagsgesellschaft, Bremen Hillecke K (2005) Heidelberger Musitherapiemanual: Chronischer maligner Schmerz. uni-edition, Berlin Hobi V (1985) Basler Befindlichkeits-Skala. Weinheim

Die Klangwiege in der Musiktherapie

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Müller-Busch HC, Bolay HV (Hrsg) (1997) Schmerz und Musik, Musiktherapie bei Patienten mit chronischen Schmerzen. Gustav Fischer, Stuttgart Seidel A (Hrsg) (2005) Verschmerzen. Musiktherapie mit krebserkrankten Frauen und Männern im Spannungsfeld von kurativer und palliativer Behandlung. Reichert-Verlag, Wiesbaden Strobel W (1999) Die klanggeleitete Trance in der Psychotherapie. In: Strobel W (Hrsg) Reader Musiktherapie. Reichert-Verlag, Wiesbaden Zech A (1998) Klangmeditation-Praxis-Bausteine. Vortrag auf dem Symposium Musiktherapie in der Onkologie in der Klinik für Tumorbiologie, Freiburg

Weiterführende Links Musiktherapieforschung: www.musictherapyworld.com Berufsverband der Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten in Deutschland: www.musiktherapie-bvm.de Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie: www.musiktherapie.de Gesundheitszentrum Sokrates Güttingen CH: www.gesundheitszentrum-sokrates.ch Website des Autors: Praxis für Musiktherapie und Gesundheitsberatung Radolfzell: www.musiktherapie-praxis.de

Altorientalische Musiktherapie – als regulationsund beziehungsorientierter Therapieansatz G . T UCE K

Altorientalische Musiktherapie ist ein seit ca. 1000 Jahren dokumentiertes und praktisch bewährtes System mit – aus heutiger Sicht – therapeutischer, prophylaktischer und rehabilitativer Bedeutung. In ihrer historischen Form wurde sie im Rahmen der islamischen Heilkunde ab dem 9. Jh. im Rang einer regulären medizinischen Hilfsdisziplin in den Spitälern zur Anwendung gebracht. Theoretische Grundlagen waren zum einen die Humoralpathologie (VierSäfte-Lehre) sowie die religiös– philosophisch begründete Überzeugung, dass Musik – als hörbare musikalische Umsetzung des kosmischen Klanges – sowohl die „Geistseele“ wie auch den „materiellen Leib“ nähre. Man war der Überzeugung, mittels unterschiedlicher mikrotonaler Tonskalen (Makamat) sogar gezielte Wirkungen auf Organsysteme und Emotionen ausüben zu können, indem die dargebotene Musik regulierend auf die „Säfte“ einwirke. Weiterführende historische Details siehe Literaturliste (Kümmel 1977; Neubauer 1990; Schipperges 1987; Shiloah 2002; Tucek 2003b). Heute gründet sich der therapeutische Effekt nicht mehr auf einem von außen einwirkenden „kosmischen Ordnungsprinzip“ sondern auf der Restrukturierung einer inneren Ordnung. Dies geschieht im Erarbeitungsprozess bedeutungsvoller musikalischer Inhalte und sinnvoll erlebter Ausdrucksformen.. Methodisch kommen hierfür der wechselseitige musikalische Dialog zwischen Patient und Therapeut (vgl. Tucek 2005a), die „regulationsmedizinische“ Wirkung einer vom Therapeuten live gespielten Musik sowie therapeutische Bewegungs- und Tanzübungen zur Anwendung. Erkenntnisse der Hirnforschung lassen das menschliche Gehirn auch als ein Organ1 begreifen, das aufgrund seiner spezifischen dynamischen Struktur eine 1 Neben der genetischen Grundlegung ist menschliches Erleben von einer Vielzahl „epigenetischer“ Faktoren (kulturelles, soziales, individuelles Erfahrungsumfeld) beeinflusst.

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ideale biologische Basis für sozio-kulturelles Verhalten bietet. Vor diesem Hintergrund scheint die Theorie einer 1:1 Übertragbarkeit spezifischer emotionaler Inhalte mittels arabischer oder türkischer Musikstile auf den europäischen Patienten fragwürdig. Dies liegt weniger in möglichen kulturellen Vorurteilen, als vielmehr in kulturell geprägten (Klang)Idealen und Vorstellungsbildern (des Musiktherapeuten und des Patienten). Dennoch zeigt die klinische Praxis der Altorientalischen Musiktherapie mittlerweile eindeutig dokumentierte therapeutische Effekte. Hierzu ierzu einige Überlegungen aus kultur- und sozialanthropologischer Sicht: Hinsichtlich der Rezeption von Musik ist der Mensch gleichermaßen ein universelles wie auch kulturspezifisches Wesen. – Auf einer universell menschlichen Ebene siedelt sich die psycho-physiologische Wirkung von Rhythmen (Trommel, Rassel etc.) und Klangflächen (Obertongesang, Gong etc.) an. – Die Ebene kulturell gemeinsam geteilter Erfahrung mit daran gebundenen Assoziationen lässt sich modellhaft an folgendem Beispiel darstellen: Das Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht …“ wird von der Mehrzahl der Menschen in unserem Kulturraum mit festlich-freudvoller Stimmung assoziiert. – Gesetzt den Fall, ein Familienvater bricht während des gemeinsamen Singens vor dem erleuchteten Weihnachtsbaum mit Herzinfarkt zusammen und verstirbt. Es ist anzunehmen, dieses Lied in weiterer Folge für die übrigen Familienmitglieder keine festliche Stimmung, sondern Trauer hervorrufen2 (Ebene subjektiver Erfahrung). Unter der Voraussetzung, dass sich das orientalische Musikmaterial im Zuge seiner Ausbildung und supervidierten Praxis tief in der Persönlichkeit des Therapeuten verankert hat, vermag der Transfer emotionaler Stimmungen wie Freude, Ruhe, Friede, etc. über eine die Musik begleitende liebe- und freudvolle therapeutische Beziehung gelingen. Auf diesem Weg lassen sich neuartige – vom Patienten positiv empfundene – Klangerfahrungen (mittels Makam-Skalen und orientalischen Instrumenten) etablieren. Bei der Auswahl der Makamat und Musikstücke gilt es jedoch zu beachten, dass die gewählten musikalischen Strukturen nicht allzu weit von den Hörgewohnheiten des Patienten entfernt liegen. Vereinfacht gesagt, gilt es den Weg zwischen der potentiellen „Faszination“ durch das Neue, und der potentiellen Ablehnung des „allzu Fremden“ zu finden. Gelingt dies dem Therapeuten, wird er im Patienten positive emotionale Veränderungen hervorrufen, deren physiologische Korrelate sich chronobiologisch messen und darstellen lassen. Der Vorteil dieses therapeutischen Ansatzes liegt darin, dass beim Erstkontakt durch die Neu- und Andersartigkeit des Klangbildes etwaige – durch Vorerfahrung – etablierte (individuelle) Assoziationen zu bekannten Musikstilen vermieden werden. Dies schafft den Raum für den Aufbau neuer Strukturen und Assoziationen. 2 Wie von Mastnak (Ordinarius für Musikpädagogik an der Hochschule für Musik und Theater in München mitgeteilt, handelt es sich hierbei um eine faktische Begebenheit.

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Altorientalische Musiktherapie

Musiktherapie in der Medizin/Musikmedizin In aller zu Gebote stehenden Kürze möchte ich das Spannungsfeld zwischen „Musikmedizin“ und „Musiktherapie in der Medizin“ ansprechen: Nachfolgendes Schema von Krautschik (Internetquelle 2003) fasst die wichtigsten Positionen synoptisch zusammen, die auf die jeweiligen therapeutischen Weltbilder und deren Forschungsdesigns wesentlichen Einfluss nehmen (Tabelle 1). Aus meiner Sicht eines klinisch tätigen Musiktherapeuten erscheint es jedoch wenig sinnvoll, die für die Genesung eines Patienten so wesentliche zwischenmenschliche und soziale Dimension (Musiktherapie in der Medizin) gegen ein Modell auszuspielen, das seinen Fokus mehr auf das therapeutische Potential von Musikprogrammen legt (Musikmedizin). Hierzu ein Beispiel: Tief bewegt hat mich die Selbstattribuierung eines Patienten nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma am Neurologischen Rehabilitationszentrum der AUVA in Wien Meidling, der sich gegenüber den anderen Patienten im Gemeinschaftsraum im Anschluss an eine Therapiestunde, in der er sich aktiv am musikalischen Geschehen beteiligt hatte, als „Künstler“ bezeichnete. Hierzu Aldridge: „… health is a performance that can be achieved. Health is not simply a singular performance; it is performed with others.“ (2005, S. 264) Die entscheidende Frage ist, welches therapeutische Angebot welchem Patienten in welcher Situation und Therapiephase die sinnvollste Hilfestellung anbieten kann. Es wäre fatal, Musiktherapeutenstellen in Hinkunft aus Kostengründen durch Musikprogramme ersetzen zu wollen.

Aus der Empirie in eine wissenschaftliche Fundierung Die heutige klinische Ausprägung der Altorientalischen Musiktherapie verbindet beide Denkmodelle durch ihren gleichermaßen „regulationsmedizinischen“ und „beziehungsmedizinischen“ Ansatz. Tabelle 1 Musikmedizin

Musiktherapie in der Medizin

Positivistische Wissenschaftstradition

Hermeneutische Wissenschaftstradition

Biomedzinisches Denkmodell

Beziehungsmedizinisches Denkmodell

Musik an sich besitzt therapeutisches Potential

Betonung einer Beziehung: Therapeut – Klient; Musik – Klient

Symptomorientiert

gesundheitsorientiert

Ausgangspunkt im „Kranken“

Ausgangspunkt im „Gesunden“ (Ressourcen)

Musik als Medikament

Künstlerisch-kreative Betätigung

= gewünschte biologische Wirkung

Erhöhung der Lebensqualität durch schöpferischen Selbstausdruck

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G. Tucek

Bisher evaluierten wir an hand empirischer Beobachtungen und Dokumentationen (Fallbeschreibungen, Videodokumentationen) klinische Therapieverläufe. Darüber hinaus bemühen wir uns auch um eine Fundierung dieses Ansatzes mittels physiologischer „hard-facts“. Erste klinische Studien (Murg et al. 2002; Tucek 2005b; Tucek et al. 2006) waren wichtige Schritte, doch zeigten sich im klinischen Alltag vielfache organisatorische Hindernisse.) Darüber hinaus engen forschungsmethodische Vorgaben oftmals den methodischen Spielraum des Therapeuten stark ein. Daher blieben wir auf der Suche nach Methoden, die den Musiktherapeuten (im Sinne eines „best practice – Modells“) nicht mehr auf eine vorher festgelegte Interventionsmethode (aktiv / rezeptiv) beschränken.

Regulationsmedizinisches Denken und rezeptive Altorientalischen Musiktherapie Methodisch wechseln einander im rezeptiven Therapieansatz (der Therapeut spielt für den Patienten) komponierte Stücke (vergleichbar mit den s.g. PlaySongs in der Nordoff-Robbins-Musiktherapie) mit rhythmisch improvisierten Passagen ab. Dabei ließen sich bislang aktivierende bzw. deaktivierende (sympatikotone/parasympatikotone) Wirkungen beobachten. In oben erwähnter klinischen EEG – Studie am Neurologischen Rehabilitationszentrum Meidling der AUVA an Patienten mit schwerstem Schädel-HirnTrauma ließ sich zeigen, dass dieser rezeptive Ansatz eine entspannende Wirkung (Reduktion von Spasmen) bei gleichzeitiger Erhöhung von Vigilanz hervorruft (Murg et al. 2002; Tucek et al. 2006). Ähnliche relaxierende und anxiolytische Wirkungen ließen sich auch im Rahmen einer Studie an 64 Patienten am kardiologischen Rehabilitationszentrum Groß Gerungs zeigen (Tucek 2005b). Eine aktuelle klinische Studie im Rahmen der stationären Behandlung „depressiver Episoden“ verweist in eine ähnliche Richtung (Scharinger 2006). Bisheriges Fazit: Altorietalische Musiktherapie scheint tatsächlich ein probates Mittel zu sein, um regulierend auf psycho-physiologische Abläufe einzuwirken. Nach erfolgter klinischer Etablierung ist nunmehr eine weiterführende Frage, ob neben regulierenden (aktivierenden/deaktivierenden) Wirkungen auch differenziertere Organbeeinflussungen sind. Z. Zt arbeiten wir in entsprechenden Studiendesigns, die jedoch noch nicht abgeschlossen sind. Folgende – modellhaft vereinfachte – Aspekte finden dabei Berücksichtigung: – Liegt das therapeutische Agens per se in der Struktur der Tonskalen, dann müsste diese im Sinne eines physikalischen Resonanzphänomens direkt auf den Körper wirken. (Postulat: Makam wirkt (physiologisch) unabhängig von kultureller Vorprägung). – Liegt das therapeutische Agens in der psychischen Beeinflussung über den assoziativen Kanal, wäre Musik in ihrer (vorhersagbaren) Wirkung an kulturelle

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und individuelle Vorerfahrungen gebunden. (Postulat: Jedes Volk – ja vielmehr jeder Mensch – hat „seine“ Musik) – Liegt das therapeutische Agens in der musikalischen Beziehung, wäre Musik ein menschlich-beziehungsrelevantes Resonanzphänomen (Postulat: Musik wirkt als bedeutsames Erlebnis- und Gestaltungsfeld) Im Folgenden soll die beziehungs- und regulationsmedizinische Dimension an hand zweier Messbeispiele mittels unterschiedlicher chronobiologischer Erhebungsmethoden dargestellt werden: – Beispiel 1 zeigt die Veränderung des Regulationszustandes bei einem Patienten mit akuter myeloischer Leukämie (AML)3 durch Musiktherapie – Beispiel 2 veranschaulicht die Beziehungsdimension zwischen Therapeut und Patientin mit akuter lymphatischer Leukämie (ALL)4 während einer Therapieeinheit an hand einzelner synchroner Phasen (vgl. Tucek et al. 2006).

Beispiel 1 Mittels eines tragbaren EKG – Geräts dessen Abtastfrequenz (4096 Hz.) um ein Vielfaches über den herkömmlicher Langzeit EKG – Geräten liegt, werden Messungen der Herzrhythmen vorgenommen. In dem daraus erstellten s.g. „Spektrogramm“ spiegelt sich die Rhythmik zahlreicher endogener Systeme (Atmung, Peristaltik, Hormonsekretion etc.) wider. Die Unterschiedlichkeit in der Herzschlagfolge zeigt die jeweilige Dominanz eines der beiden komplementären interaktiven Systeme des Vegetativen Nervensystems auf den Schrittmacherknoten des Herzens: – Der Sympathikus wirkt als beschleunigender Anteil des Autonomen Nervensystems (ANS), und generiert Kampf, Flucht, Leistung etc. – Der Parasympathikus fördert hingegen die Regeneration und ermöglicht Erholung. Daher ist der parasympathisch gesteuerte Anteil der Herzratenvariabilität (HRV) Ausdruck von Erholungsfähigkeit, die eine unabdingbare Voraussetzung für die Gesundheit darstellt. Beide Funktionskreise sind ausgesprochen differenziert und ineinander verwoben. Durch die Koordination von Atemfrequenz und Herzschlagfolge kommt es zu einer Restrukturierung der psycho-physiologischen Abläufe im Sinne einer „Ökonomisierung“ des Gesamtsystems, die sich im „Spektrogramm“ widerspiegelt. 3 Die AML ist eine bösartige Krebserkrankung der Myeloblasten. Sie sind die unreifen Vorläufer der unterschiedlichen Granulozyten. Die unreifen Granulozyten sind funktionsunfähig und teilen sich unkontrolliert. Dann verdrängen sie die gesunden Blutzellen aus Blut und Knochenmark und wandern oft weiter in Milz, Leber und Gehirn. Die AML ist die häufigste Leukämieform bei Erwachsenen. (Referenz: www. ArztScout.com Stand 13.7.06) 4 Bei der ALL geschieht Folgendes: Lymphozyten (Unterart der weißen Blutkörperchen), die für die Abwehr zuständig sind, entarten. Entartete leukämische Zellen sammeln sich im Knochenmark, zerstören heranwachsenden Blutzellen und nehmen ihren Platz ein (Referenz: www. ArztScout.com Stand 13.7.06).

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Abb. 1

Diese setzt sich aus folgenden Frequenzbereichen zusammen (Abb. 1): – Very-Low-Frequency-Bereich (VLF), der sich in einem Periodenbereich zwischen 25 sec. und 5 min. in der Frequenz von 0,04–0,0033 Hz. bewegt, in Abhängigkeit von Körperlage, körperlicher Aktivität und Thermoregulation. – Low-Frequency-Bereich (LF), der sich in einer Periodendauer von 7 bis 25 Sekunden zwischen 0,04 und 0,15 Hz. bewegt. Er ist parasympathisch und sympathisch gesteuert und korrespondiert mit der Blutdruckrhythmik. – Der High-Frequency-Bereich (HF) im Bild bewegt sich in einer Periodendauer zwischen 2,5 und 7 Sekunden in der Frequenz von 0,15 bis 0,4 Hz. Er ist parasympathisch gesteuert und wird über die Atmung moduliert. Ein weiterer wichtiger Begriff im Rahmen der Regulationsdiagnostik ist jener der „respiratorischen Sinusarrhythmie“ (RSA): Darunter versteht man die Koordination von Herz- und Atemfrequenz, im Idealfall in einem Verhältnis von 4:1 (z.B. 60 Herzschläge bei 15 Atemzügen pro min). Die RSA wird im Spektrogramm in horizontalen Linien im Bereich zwischen 0,2 und 0,4 Hz vorwiegend im erholsamen Schlaf sichtbar. Weiterführende Literatur: Hildebrandt et al. 1998; Moser et al. 1994, 1999;; Moser, in Tucek (Hrsg) 2005b.

Die Messung einer rezeptiven Musiktherapiesitzung Abbildungen 2 und 3 zeigen eine exemplarisch durchgeführte Messung an einem 21-jährigen männlichen Patienten5 (Herr P.) mit myeloischer Leukämie während einer rezeptiven Therapiesitzung. Der Patient lag ruhig im Krankenbett, während 5

An der kinderonkologischen Station der OÖ Landes-Kinder- und Frauenklinik in Linz.

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der Therapeut mit einer arabisch/türkischen Kurzhalslaute und einer Harfe direkt zum Patienten gewandt musizierte. Herr P. befand sich zum Zeitpunkt der Messung in der Phase eines Chemotherapie-Blocks. Im Vorfeld der Messung klagte er über Schwäche, Müdigkeit, diffusem Schmerz und Unwohlsein.

Erklärung und Interpretation der Abbildungen Ausgehend von einem mittleren Aktivierungsniveau mit gleichzeitig erkennbaren Ermüdungszeichen (RSA) (Abb. 2), verschwinden diese nach 15 min. vollständig. Zu Sitzungsende (Abb. 3) zeigt sich eine Vervierfachung der Herzratenvariabilität (von 100 auf 400 msec2) mit Zeichen körperlicher Aktivierung (blaue Einfärbung im niederfrequenten Spektralbereich). Die Herzfrequenz des Patienten fiel im Sitzungsverlauf von einem Mittelwert von 82 auf 58 Schläge/min. Dies lässt darauf schließen, dass der vom Patienten vor Therapiebeginn geäußerte reduzierte Allgemeinzustand mit Schwächegefühl, Übelkeit und diffusem Schmerz in eine vegetative Stabilisierung mit Schmerzreduktion (Herzfrequenzreduktion), erhöhter Vitalität (HRV-Anstieg um das Vierfache) und Verschwinden der Übelkeit (spontane Äußerung des Patienten nach der Sitzung) übergeführt werden konnte. Diese Interpretation bestätigte sich auch im Zuge der Befragung zur subjektiven Befindlichkeit des Patienten nach der Sitzung.

Abb. 2

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G. Tucek

Abb. 3

Beispiel 2 Mittels einer SMARD-Watch – einem weiteren System für die nicht-invasive Messung und Analyse zur Regulations-Diagnostik lassen sich die Parameter Herz- und Pulsfrequenz (HF und PF), Muskelaktivität (EMG), Hautpotential6 (HP), Hautwiderstand7 (HW), Hauttemperatur (HT) und Konvektionstemperatur (KT)8 messen.9 Abbildung 4 zeigt die Dynamikfunktionen der Messung der an ALL erkrankten Patientin A (oben) und des Therapeuten (unten) im Verlauf der Sitzung an der selben kinderonkologischen Station. Zur Vereinfachung wurde jeweils über alle drei physiologischen Parameter Hautwiderstand (vegetativ-emotionale Prozesse), Hautpotential (nerval-kognitive Prozesse) und Elektromyogramm (muskuläre Prozesse) gemittelt.

6 7 8 9

2005.

Bureš (1960). Boucsein (1988). ISF (2000). Literatur: Balzer, Hecht 2000; Boucsein 1988; Bureš, Petrá et al. 1960; Ferstl 2005; Fritz

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Abb. 4

Erklärung und Interpretation der Abbildung Insgesamt lässt die überwiegende Ähnlichkeit in den Kurvenverläufen in dieser Abbildung darauf schließen, dass eine hohe Synchronisation zwischen dem Therapeuten und der Patientin A vorlag. Dieser Verlauf ist dahingehend zu interpretieren, dass es dem Therapeuten gelang, die Patientin in dieser Musiktherapiesitzung unmittelbar zu erreichen und „mitzuziehen“. Dies unterstreicht die grundsätzliche Bedeutung und messtechnische Darstellbarkeit der Beziehungskomponente in der Musiktherapie. In diesem Sinne spielen die Verfassung und das Einfühlungsvermögen des Therapeuten und das daraus resultierende Eingehen auf den Zustand des Patienten (Wahrnehmen und musikalisches Umsetzen der Bedürfnisse) eine entscheidende Rolle für das Gelingen einer Musiktherapiesitzung.

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Zusammenfassung und Ausblick Erfahrene Forscher im Bereich der Musiktherapie kennen im klinischen Alltag die schwierigen Erhebungsbedingungen im Sinne von Wiederholbarkeit und Standardisierung (vgl: Tucek in Aldridge (Hrsg) 2005; Scharinger 2006). Gleichzeitig besteht die berechtigte Forderung nach „validen“ Daten hinsichtlich Therapieeffizienz. Ohne im Rahmen dieses Beitrags tiefer in eine grundsätzliche Diskussion dieses Themas einsteigen zu können, haben die hier gezeigten Zugänge zwei Vorteile: – Beide Messverfahren ermöglichen dem klinisch tätigen Musiktherapeuten methodisch flexibel auf die Patientensituation einzugehen. – Beide Messverfahren liefern physiologische „hard-facts“ wie z.B. Herz- und Pulsfrequenz (HF und PF), Muskelaktivität (EMG), Hautpotential (HP), Herzratenvariabilität (HRV) etc. Die dargestellten Messprinzipien bieten dem Therapeuten ein zusätzliches Hilfsmittel, um die Rückmeldungen von Patienten sowie eigene Wahrnehmungen und Einschätzungen der Situation an hand objektiver Messdaten zu reflektieren. Die hier gezeigten Ansätze neue Möglichkeiten und Perspektiven für die Evaluierung musiktherapeutischer Prozesse. Eine Vielzahl bisher erhobener Messdaten bestätigt den Trend der in diesem Beitrag exemplarisch dargestellten Messungen. Wir sind nunmehr dazu übergegangen, die Langzeitwirkung der therapeutischen Effekte Altorientalischer Musiktherapie mittels Erhebung der Schlafqualität10 des Patienten zu erfassen.

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Die Feldenkrais-Methode in der Schmerztherapie M. WI T T E L S

Dr. Moshé Feldenkrais über das Lernen: „Sie tun es, ob Sie es wollen oder nicht.“

Wer war Dr. Moshé Feldenkrais? Moshé Feldenkrais wurde 1904 in der Ukraine geboren, verließ 1919 knapp 15-jährig sein Elternhaus und wanderte nach Palästina aus. Dort half er am Aufbau des Landes mit und war als Landvermesser tätig. Er schließt erfolgreich das Gymnasium ab und verdingt sich als Nachhilfelehrer für Gutsituierte, aber auch als Lehrer für Kinder mit Lernschwierigkeiten. Er praktiziert Jiu-Jitsu und unterrichtete darin die Hagana, die Verteidigungsorganisation der jüdischen Siedler, die damals nur einen waffenlosen Kampf führen durfte. Später beginnt er Mathematik zu studieren und widmet sich mit Neugier und Kreativität seinen vielfältigen Interessen, die vom Kampfsport über Fußball reichen, wodurch er sich eine Knieverletzung zuzieht, die wesentlich dazu beiträgt, dass Feldenkrais an sich selbst Bewegungsexperimente für einen schmerzlosen, funktionalen und heilungsfördernden Gebrauch seines Beins und im weiteren Sinne seines Körpers anstellt. Er studiert die gängige Psychologie, und übersetzt auch die Arbeiten Émile Coués, die sich mit der Selbstverbesserung durch den Einsatz von Autosuggestionen auf unbewusster Ebene befassen, ins Hebräische. Durch seine mannigfaltigen beruflichen Tätigkeiten, die von Anfang an das Unterrichten einschließen, richtet sich Feldenkrais‘ Blick auf die pädagogische Verbindung zwischen der Lehre eines asiatischen Kampfsports und der Kunst, das Interesse von Kindern zu wecken, ohne sie gegen ihren Willen zu zwingen. Im Jiu-Jitsu ist eine der Grundregeln, nie direkt gegen den Widerstand seines Gegenübers zu opponieren; die wahre Fertigkeit besteht darin, die Stärke des Gegners dem eigenen Willen nutzbar zu machen. Diese Sicht Feldenkrais‘ auf die für ihn so wichtigen

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Elemente des Lernens – die Verstärkung des Musters und die sanfte Unterstützung des Widerstands – lässt das Erlernte nachhaltig wirken und betrifft den ganzen Menschen. Das sind die Anfangstakte der Ouvertüre zur späteren Feldenkraismethode. Die weitere Lebensgeschichte dieses Mannes könnte den Stoff für einen großen Roman liefern: Zu Studienzwecken geht Feldenkrais nach Paris und promoviert 1933 an der Sorbonne in angewandter Physik. Noch im selben Jahr beginnt er bei Frédéric und Irène Joliot-Curie im berühmten Institut du Radium, in dem schon Marie Curie ihre mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Arbeit geleitet hat, am Kernspaltungsprogramm zu arbeiten. Immer bleibt die Hingabe an Bewegung und Kampfsport für Moshé Feldenkrais ein Lebenselixier; so begegnet er bei einem Vortrag Prof. Igoro Kano, dem Erfinder des Judo, und wird dessen Privatschüler – Feldenkrais’ Fragen an Kano hatten die Neugier des alten Herrn geweckt. In der Folge erkämpft sich Feldenkrais als erster Europäer den schwarzen Gürtel und gründet die erste Judoschule in Frankreich. 1935 bekommt das Ehepaar Joliot-Curie den Nobelpreis für Chemie für die Synthese eines Radionuklids. Als Frankreich von den Deutschen besetzt wird, beenden die Joliot-Curies 1940 ihre Arbeit und gehen in den Widerstand. Es gibt Quellen, die besagen, dass Feldenkrais durch die Hilfe der französischen Untergrundbewegung unbeschadet mit zwei Koffern nach England fliehen konnte. In den Koffern befand sich das gesamte Dokumentationsmaterial der ersten französischen Kernspaltung! Die englische Regierung nimmt sich eines Grüppchens hochdotierter Wissenschafter – darunter Moshé Feldenkrais – an und bringt sie im schottischen Ort Fairlie unter. Feldenkrais arbeitet dort für die Versuchsabteilung der U-Boot-Abwehr, da es aber an diesem abgelegenen Ort an vielem mangelt, nutzen die Wissenschafter die Zeit, um sich gegenseitig Vorträge über wissenschaftliche Themen zu halten. Aus den Vorträgen für diese illustre Runde, die den klingenden Namen „Association of Scientific Workers in Fairlie“ trägt, münden Feldenkrais‘ Gedanken und provozierende Thesen in einer ersten Publikation über eine neue Art des neuronalen Lernens. Dieses Buch, das in der deutschen Übersetzung langweilig mit „Der Weg zum reifen Selbst“ betitelt ist, klingt im englischen Original wie die moderne Odyssee: „Body and Mature Behaviour – A Study of Anxiety, Sex, Gravitation and Learning“. In dieser Studie geht Feldenkrais der Beobachtung von Phänomenen einer menschlichen Urangst – der Angst zu fallen – nach, räsoniert über die physikalischen Grundlagen des aufrechten Gangs des Menschen, die Bedeutung des kinästhetischen – sogenannten sechsten – Sinnes und zieht aus seinen Behauptungen Schlüsse, die fast alles über Bord werfen, was das damalige Glaubenssystem über Motorik, Gehirn, Gefühle und die Seele auf einem soliden Sockel ruhen ließ. Er zieht die Psychoanalyse in Zweifel indem er behauptet, dass alle menschliche Angst dieser Urangst des Fallens, einer automatischen Reaktion, die durch Reizung des Nervus vestibularis getriggert wird, entspringt und dazu führt, dass sich die gesamte Beugemuskulatur zusammenzieht und eine gleichzeitige Hemmung der gesamten Streckmuskeln einsetzt. Er glaubt nicht daran, dass sich das Individuum

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Abb. 1

ausschließlich dadurch verbessern kann, dass es sich seiner unbewussten Ängste bewusst wird, viel eher sind seiner Beobachtung und Erkenntnis nach Bewegungsübungen, die sanft und ohne Anstrengung, ohne vordergründiges Ziel, nur mit der Hinwendung auf sensorische Prozesse durchgeführt werden, geeignet, Menschen von ihrer übermäßigen Spannung zu befreien. Durch Regulierung der verkürzten Beugemuskulatur im Bauchbereich, der eingeengten Atmung in einem steifen Brustkorb und der Unbeweglichkeit im Beckenbereich lösen sich die somatischen Zeichen der Angst auf und in der Folge das dazugehörende Gefühl. Wenn man mit Menschen in der Feldenkraismethode arbeitet, entweder innerhalb der vierjährigen Ausbildung oder danach als FeldenkraislehrerIn stellt man genau dieses fast magisch anmutende Phänomen fest: Menschen aller Altersstufen, der unterschiedlichsten intellektuellen Prägungen und Berufe, erheben sich nach Abschluss einer solchen verbal geleiteten Bewegungsübung – genannt Bewusstheit durch Bewegung – vom Boden, und sehen sich verwundert um, fühlen sich breiter, größer, freier, leichter, flinker und sind meistens gut gelaunt. Soweit ein kurzer Abriss über das Leben Feldenkrais, der für das Verständnis seiner Bewegungslehre unverzichtbar ist (Feldenkrais 1949, 1981; Hanna 1984– 1985).

Die Methode Die Feldenkraismethode, wie sie heute gelehrt wird, besteht aus zwei Teilen: Bewusstheit durch Bewegung und Funktionale Integration. Bewusstheit durch Be-

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Abb. 2

wegung wird in der Gruppe gelehrt, der Feldenkraislehrer führt die Schüler verbal durch eine der über 1000 Bewegungsanleitungen, die Feldenkrais entwickelt hat. Feldenkrais hat keine Heilmethode sondern ein Lernmethode entwickelt, daher gibt es eigentlich keine Therapeut-Patient-Beziehung sondern ein Lehrer-Schüler-Konstrukt, das sich über das große Thema Lernen austauscht. Die Bewegungen werden meist im Liegen durchgeführt, bei Schmerzpatienten empfiehlt es sich auch, Anleitungen zu geben, die auf einem Stuhl sitzend ausgeführt werden können. Oft ist das zu Boden gehen und das Aufstehen vom Boden für Menschen mit chronischen Schmerzen nur schwer oder gar nicht möglich. Im Liegen aber auch im Sitzen werden die Kräfte der Schwerkraft gegen die wir uns im Lot halten, weitgehend ausgeschaltet. So wird ein Teil der Anstrengung aus unserem Handeln herausgenommen und damit die Voraussetzung für optimales Lernen geschaffen: Leichtigkeit, Entspannung und durch die Hinwendung zu inneren Prozesse eine konzentrierte Wachheit. Ähnlich wie in Hypnose, in der wir leichter seelische Zusammenhänge unter Ausschaltung des Bewusstseins aufspüren können, scheint es, dass wir unter der Ausschaltung der Schwerkraft besser motorische Suchprozesse einleiten können, die uns zu neuen Bewegungsmustern führen. Wenn wir neue Bewegungsmuster entwickeln, verlassen wir alte, eingefahrene und oft auch schädliche Muster, die irgendwann zu passen schienen. Innerhalb dieses ruhigen, zentrierten Arbeitens einer Bewusstheit durch

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Bewegung – Lektion werden Bewegungen, Stück für Stück in kleinen Schritten angewiesen. Etwa eine Armbewegung in Seitenlage, der nach vielen Wiederholungen und eingeschobenen kleinen Ruhepausen eine Beinbewegung folgt. Durch die verbale Anleitung werden die Liegenden immer wieder aufgefordert, sich in ihrer Wahrnehmung auch um Teile ihres Körpers zu kümmern, die anfangs in die Bewegung nicht eingebunden sind. Wenn am Ende der Stunde die Ausführenden sich leicht wie Kinder von einer Seite auf die andere rollen, in der Seitenlage zusammengekauert, am Rücken langgestreckt und wohlig gedehnt, in einer Bewegung wie aus einem Guss – eine Bewegung, die jederzeit umkehrbar ist und im gesamten Bewegungsablauf in die Gegenrichtung fortgeführt werden kann –, dann hat man das Gefühl, dass ein uraltes Bewegungsmuster wieder entdeckt worden ist. Das Rollen findet nun unter Einbeziehung des Nackens, des Kopfes, der sich zu Beginn der Anleitung nicht von der Stelle gerührt hat, eines beweglicheren Beckens und einer wenig überraschenden Gelöstheit der Beteiligten statt. Hat man zu Beginn die Gruppe gebeten sich von der linken Seitenlage auf die rechte Seite zu drehen, dann hat man beobachten können, dass dieser Seitenwechsel auf vielen ungelenken, ruckartigen und umständlichen Bewegungsteilen basiert, obwohl so ein Seitenwechsel eine alltägliche Handlung ist. Da wir uns in all unserem Handeln nie nur der Bewegung hingeben können ohne die anderen drei Instanzen, die am Handeln beteiligt sind: Sinnesempfindung, Gefühl und Denken einzuschließen (Feldenkrais 1967), wird bald klar, dass eine Veränderung unserer Haltung, eine Erweiterung unserer Bewegungsmöglichkeiten, ein freieres Atmen, bewusstere Hände oder das überraschende Nachlassen von lange bestehenden Beschwerden nicht ohne Auswirkungen im Denken, Fühlen und im Bereich der Sinnesempfindung bleiben kann. Das heißt umgekehrt aber auch, dass wir uns bewegen, wie wir denken, fühlen und wie wir mit unseren Sinnen die Welt wahrnehmen (Abb. 3). Funktionale Integration hingegen ist eine Einzelarbeit, in der mit sanften Berührungen und passiven Bewegungen, der meist liegende Körper des Schülers auf einer speziell für diese Arbeit konstruierten Liege vom Lehrer bewegt wird, um Bereiche des Körpers, die im Verlauf von bestimmten Bewegungen erreicht werden sollten, aber unerreicht bleiben, aufzuspüren. Durch Berührung werden dem Nervensystem diese „leblosen“ Teile gemeldet (Wadler 2005). Alsbald wird dort aber Bewegung entstehen, denn das Nervensystem ist vergleichbar mit einem Ohr, das ohne Unterlass fragend die Welt abhorcht. Jede Informationsaufnahme ist notwendigerweise die Aufnahme einer Nachricht von einem Unterschied. „Keine neue Ordnung oder kein neues Muster kann ohne Information hergestellt werden“ (Ginsburg 2004). Auch wird das Nervensystem dort Bewegung entstehen lassen, wo es durch Funktionalität überzeugt wird. Das heißt, dort wo der Lehrer Bewegungen initiiert, die ein größeres Ganzes anregen, werden Muskeln plötzlich stimuliert, weil die zerebrale Repräsentanz komplexer Bewegungsabläufe ihre Beteiligung fordert. Hier scheint das Ohr nach innen gewandt zu sein. Wenn Funktionale Integration gelingt, wird für das Nervensystem eines Menschen ein erkennbarer Unterschied geschaffen, den die Person aufnehmen und

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Abb. 3

in ihr Selbstbildnis integrieren kann (Ginsburg 2004), dann ist die Kommunikation zweier Nervensysteme – desjenigen der berührt und bewegt, mit jenem, der berührt und bewegt wird – geglückt. Ist bei einer Funktionalen Integration die Ausschaltung eines Schmerzes gefragt, so wird man sich nicht nur dem schmerzenden Bereich zuwenden, sondern davon ausgehen, dass der schmerzende Teil jener Körperteil ist, der am meisten durch eine Fehlbelastung ausgenutzt wird. Man wird versuchen, das Bewegungsmuster des Schmerzgeplagten zu erkennen, um auf Bewegungsabläufe hinzuweisen, die viel eher geeignet sind, die Arbeitsbelastung auf sämtliche Körperteile gleichmäßig zu verteilen. Damit wird der Reiz aus dem schmerzenden Bereich entfernt (Wadler 2005). Die Bewegungen, die innerhalb der Funktionalen Integration durchgeführt werden, haben viel mit den Bewußtheit durch Bewegung – Lektionen zu tun, und die Qualität der Veränderungen, die beim anderen herbeigeführt wird, hängt in großem Maße von Geschick und Feingefühl der Lehrerin und des Lehrers ab.

Wissenschaftliche Forschung Kaum überraschend ist es, in der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur nur wenige Arbeiten zu finden, die sich mit der Feldenkraismethode auseinandersetzen. In fast allen dieser Arbeiten beklagen die Autoren, dass die bereits durchgeführten Studien, Mängel im Design aufweisen. Es existieren reale Probleme,

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die es erschweren, gute klinische Studien zur Evaluierung der Feldenkraismethode durchzuführen. Die Schwierigkeiten beziehen sich auf die Kosten und den Zeitaufwand des Anwenders (Feldenkraislehrer), die lange Studiendauer und die Etablierung von Kontrollgruppen oder Placebogruppen. Wenn Anwendungen interaktiv sind, führt dies fast immer zur Unmöglichkeit, verblindete Protokolle zu führen. Es ist nicht einfach, auf die notwendigen Probandenzahlen zu kommen und die Abweichungen, die durch die unterschiedlichen Anwender der Methode verursacht werden, zu berücksichtigen; und es fehlt an objektiven, standardisierten Wirksamkeitsnachweisen (outcome-measures) (Jain et al. 2004). Dennoch gibt es paar interessante Arbeiten, die hier genannt werden sollen. Eine gut kontrollierte, randomisierte Studie zeigt signifikante funktionelle Veränderungen nach Feldenkraislektionen. Die Autoren untersuchten über eine Studienperiode von einem Jahr weibliche Fabriksarbeiterinnen mit Nacken- und Schulterschmerzen. Es gab eine Kontrollgruppe, eine Physiotherapiegruppe, und die Teilnehmerinnen wurden den Gruppen randomisiert zugewiesen. Es wurden in der Physiotherapiegruppe geringe oder keine Veränderungen von Funktion und Schmerz gefunden, die Kontrollgruppe verschlechterte sich teilweise und die Feldenkraisgruppe verbesserte sich in Funktion und Schmerz (Lundblad et al. 1999). Malmgren-Olsson untersuchte 78 Patienten mit unspezifischen muskuloskelettalen Erkrankungen und verglich drei Gruppen: eine Feldenkraisgruppe, eine Physiotherapiegruppe und eine Gruppe erhielt Body Awareness Therapy, kurz BAT genannt. In jeder Gruppe wurden 20 Einheiten angeboten. Die Feldenkraisgruppe erhielt sowohl Gruppenlektionen als auch Stunden in Funktionaler Integration. Untersucht wurde psychischer Stress, Schmerz und Selbstbild über ein Jahr lang. Vom statistischen Standpunkt aus differierte keine der drei Gruppen in diesen Parametern signifikant, es zeigte sich aber tendenziell eine Besserung in der BAT- und der Feldenkraisgruppe. Somit scheinen BAT und Feldenkrais die gesundheitsbezogene Lebensqualität und die Selbstwirksamkeit im Umgang mit Schmerz in einem höheren Maß zu beeinflussen (Malmgren-Olsson, Bränholm 2002). Eine Arbeit von Dunn und Rogers versucht die Auswirkungen von sensorischen Vorstellungen auf das Ausmaß einer Beugebewegung des Oberkörpers zu beurteilen. Diese Studie lehnt sich an eine Feldenkraisthese an, die besagt, dass sensorische Aufmerksamkeit zur Verbesserung in der funktionalen Bewegung führt. Eine verbale Anleitung wurde gegeben, in der die Probanden aufgefordert wurden, sich 30 Minuten lang eine weiche Borstenbürste, die über eine Hälfte ihres Körpers streiche, vorzustellen, während der Körper regungslos am Boden lag. Danach wurde in einer „sit-and-reach-box“ die Beugung für jede Körperhälfte bestimmt. Zehn der zwölf Testpersonen, die berichteten, dass sie jene Körperhälfte, die in der Vorstellung von der Bürste bestrichen worden ist, leichter und länger empfänden, zeigten eine Verbesserung der Vorwärts-Beugung um durchschnittlich 2,4 cm. Im Gegensatz zum Studienansatz vieler anderer Studien, die mit der Vorstellung arbeiten, um funktionelle Bewegungen zu verbessern, hat diese Studie ausschließlich die Vorstellung auf sensorische Ver-

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änderungen gerichtet und keinerlei Bewegungen durchführen oder vorstellen lassen (Dunn, Rogers 2000). Die Feldenkraismethode findet erst langsam Einlass in verschiedenen medizinischen Institutionen. Vermehrt trifft man auf Angebote in psychosomatischen Einrichtungen, in Schmerzkliniken, in Rehabilitationseinrichtungen und Spezialkliniken (etwa für Multiple Sklerose-Patienten oder für Patienten mit Essstörungen). Das Interesse von leitenden Personen, die Budgets verteilen, kann aber nur zögernd oder gar nicht für die Feldenkraismethode geweckt werden und somit verbleibt die Anwendung der Feldenkraismethode vorerst überwiegend im privaten Bereich und entzieht sich so einer wissenschaftlichen Beurteilung. Vereinzelt werden Anwendungen von privaten Krankenversicherungen übernommen, wodurch die Methode aber noch nicht als Heilmethode verifiziert ist. So gesellt sich zu den Mängeln im Design, der Mangel an Bereitschaft, den Nachweis der Feldenkraismethode zu finanzieren. Wenn man davon ausgeht, dass innerhalb der Feldenkraisarbeit neuronales Lernen stattfindet, würden Studien interessieren, die durch Neuroimmaging (PET oder MRT) versuchten, das neuronale Lernen darzustellen. Man könnte beispielsweise die Gehirne einer Gruppe von Menschen zu Beginn ihrer vierjährigen Feldenkraisausbildung – immerhin um die vierzig Menschen – in Zusammenhang mit verschiedenen alltäglichen Bewegungen aufzeichnen und mit den Aufzeichnungen nach der vierjährigen Ausbildung vergleichen. Als Vergleichsgruppe könnte man vierzig Probanden nehmen, die in den vier Jahren weiterleben wie bisher. Wenn die These des Lernens stimmt, müssten sich die Gehirne der Feldenkraisabsolventen durch die Neuroplastizität strukturell und hinsichtlich ihrer Aktivitätsmuster sichtbar verändern. Vielleicht gibt es einmal einen Mäzen, dem durch die Feldenkraismethode geholfen wird und der diese Studie in Dankesbezeigung finanzieren würde? Anzunehmen ist aber, dass die Feldenkraismethode vorerst eine gut wirksame Methode am Rande der Schulmedizin bleiben wird und sich jene glücklich schätzen, denen sie geholfen hat.

Der Mensch im Schmerz „Die Mehrzahl der Menschen hört auf, sich weiterzuentwickeln, wenn sie geschlechtsreif ist. Sie gilt als erwachsen und empfindet sich auch so. Was man danach noch lernt, hat vorwiegend nur gesellschaftliche Relevanz“, stellt Feldenkrais im Vorwort zu seinem Buch, „Die Entdeckung des Selbstverständlichen“, fest. Auch stellt er Überlegungen dahingehend an, dass der Mensch in seinen motorischen Funktionen im Lauf seines Lebens zurückbleibt und viele Bewegungen aus seinem Repertoire ausscheiden, „etwa das Springen, das Über-denKopf-Rollen, auch die Drehbewegungen. Sie werden abgebaut oder so vernachlässigt, dass es bald vollends unmöglich wird, sie noch auszuführen“ (Feldenkrais 1981). Hat man beruflich mit vielen Menschen zu tun, die an chronischen Schmerzen leiden – mit den von uns so benannten Schmerzpatienten – und beobachtet

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man diese Menschen gut, weiß man bald, dass sie im obigen Sinne noch viel mehr motorische Funktionen verkümmern lassen. Befasst man sich mit der Feldenkraismethode und versucht diese in den Krankenhausbetrieb einzubinden und auch dort mit den Augen einer Feldenkraislehrerin zu sehen, dann wird es nicht mehr verwundern, dass Patienten, die ursprünglich Schmerzen im Lendenwirbelsäulenbereich hatten, nun auch welche im Halswirbelsäulenbereich bekommen. Es wird auch nicht verwundern, dass verletzte Körperteile sich immer mehr verschlechtern, wenn Menschen sich ihnen nicht mehr zuwenden, sie ausgrenzen aus ihrem Körperbild, uns manchmal sogar bitten, Teile ihres Körpers zu amputieren, weil diese Teile nur mehr schmerzen und stören würden. Erwähnt muss aber auch werden, dass die Krankenhausmedizin vielen dieser Patienten nicht dauerhaft helfen kann. Schmerz wird zusehends als ein biopsychosoziales Phänomen wahrgenommen, doch viel Wohltuendes ist vorerst nicht verankert. Es wird mechanisch repariert, medikamentös therapiert, physikalisch Strom, Ultraschall, Schlamm und Wasser angewandt und in der Physiotherapie soll sich der Schmerzpatient nun bewegen. Der aber sagt: „Kann ich nicht. Es tut mir weh.“ Die Feldenkraismethode wäre ungeachtet einer noch ausständigen wissenschaftlichen Nachweisbarkeit eine sinnvolle Ergänzung der praktizierten Medizin. Einerseits, weil sie das Verständnis für andere Zusammenhänge wecken und damit die Auseinandersetzung über das Thema Schmerz variieren würde, andererseits, weil sie eine Methode ist, die vorsichtig, schmerz- und ziellos, und ohne Anforderungen an die Leistung des Schmerzpatienten angewendet werden kann, ohne dabei wirkungslos zu bleiben. Wie Feldenkrais sagt, gibt es keinen Menschen, der eine freundliche Berührung nicht von einer unfreundlichen zu unterscheiden vermag. Ich denke, dass wir unsere Patienten wieder mehr berühren sollten, auch innerhalb einer aufmerksamen klinischen Untersuchung und dass wir darauf achten sollten, durch eine freundliche Berührung, den Einlass zu einer anderen Kommunikation mit dem Nervensystem des Patienten zu finden. Dies wäre ein erster Schritt, mit Funktionaler Integration im Krankenhaus zu beginnen.

Literatur Die Angaben über Feldenkrais‘ Leben und die Entwicklung der Lehre entstammen folgenden Literaturstellen: (a) Feldenkrais M (1949) Der Weg zum reifen Selbst. Junfermann Verlag, Paderborn. (b) Feldenkrais M (1981) Die Entdeckung des Selbstverständlichen. Suhrkamp, Frankfurt. (c) Hanna T (1984–1985) Moshé Feldenkrais: The Silent Heritage. Somatics Dunn P, Rogers D (2000) Feldenkrais sensory imagery and forward reach. Perceptual and Motor Skills 91: 755–757 Feldenkrais M (1967) Bewußtheit durch Bewegung. Suhrkamp, Frankfurt Feldenkrais M (1981) Die Entdeckung des Selbstverständlichen. Suhrkamp, Frankfurt Ginsburg C (2004) Die Wurzeln der Funktionalen Integration. Bibliothek der Feldenkrais-Gilde Deutschland e.V. Jain S, Janssen K, DeCelle S (2004) Alexander technique and Feldenkrais method: a critical overview. Phys Med Rehabil Clin N Am 15: 811–825

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Lundblad I, Elert J, Gerdle B (1999) Randomized controlled trial of physiotherapy and Feldenkrais interventions in female workers with neck-shoulder complaints. Journal of Occupational Rehabilitation 9: 179–194 Malmgren-Olsson E, Bränholm I (2002) A comparison between three physiotherapy approaches with regard to health-related factors in patients with non-specific musculoskeletal disorders. Disability and Rehabilitation 24 (6): 308–317 Wadler E (2005) Grundlagen Funktionaler Integration, Hinweise zur Feldenkraisarbeit. Von Loeper Literaturverlag, Karlsruhe

Schmerztherapie mit Angewandter Kinesiologie G . L E HNE R-K A MP L

Was ist Angewandte Kinesiologie? Der Name geht zurück auf „kinesis“, das griechische Wort für Bewegung. Medizinisch gesehen würde man darunter die Bewegungslehre und Untersuchung der Muskeln verstehen. Angewandte Kinesiologie meint hier jedoch eine neue, sehr innovative Methode, körpereigene (neuromuskuläre) Feedbacksysteme geschickt zu nutzen, um so oft verblüffend einfach präzise Aussagen über energetische und biochemische Vorgänge im Körper zu erhalten. Seine Entdeckung gründet auf Erfahrungen und Untersuchungen des amerikanischen Chiropraktikers Dr. George Goodheart. Er beobachtete, dass sich physische wie psychische Vorgänge im Menschen u.a. auch im Funktionszustand seiner Muskeln widerspiegeln. Daraufhin entwickelte er 1964 ein einfaches Testverfahren, mit dem man in der Lage ist, Muskelfunktionen ohne Zuhilfenahme von technischen Apparaturen zu erfassen und zu beurteilen. Auf der Basis des sog. „Muskeltestens“ gelingt dem Kinesiologen eine direkte „Befragung“ des Körpers. Das Feedback erhält er vom Körper direkt: Über das Gehirn und das autonome Nervensystem gesteuert zeigt der gerade angesprochene Muskel eine normale Reaktion oder eben nicht. Wie Goodheart zeigte, lässt diese Reaktion Rückschlüsse zu auf bestimmte, dem jeweiligen Muskel zugeordnete Funktionen im Körper wie auch Emotionen oder Gedankenmuster (Abb. 1–3).

Einsatzmöglichkeiten und Anwendungsbereiche der Kinesiologie Das was der Angewandten Kinesiologie seit Jahrzehnten einen besonderen Stellenwert unter allen Therapieformen gibt, ist ihre breit gefächerte Ausrichtung und Offenheit gegenüber anderen Therapierichtungen. Die Kinesiologie selbst mach-

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Abb. 1. Indikatormuskeltest: Muskel: Quadrizeps; Meridian: Dünndarm

Abb. 2. Indikatormuskeltest: Muskel: Delotoideus; Meridian: Gallenblase

Abb. 3. Armlängenreflex-Test

te sich viele bestehende Heilkonzepte zunutze, unter anderem das Energiemodell der chinesischen Akupunkturlehre oder bestimmte Elemente der indischen und tibetanischen Medizin. Das Spektrum der Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Methoden und die sich dadurch ergebenden Anwendungsmöglichkeiten sind nahezu unbegrenzt. Über die Jahre hinweg nutzten zahlreiche Fachleute diese Möglichkeit und entwickelten die Kinesiologie zu dem, was sie heute ist: Eine umfassende, ganzheitlich orientierte Technik, die in viele Bereiche der Heilkunde, aber auch in andere Bereiche wie Sport, Ernährung, Pädagogik, Coaching und

Schmerztherapie mit Angewandter Kinesiologie

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Persönlichkeitsentwicklung Eingang gefunden hat und als hauptsächliches oder unterstützendes Tool eingesetzt werden kann. Ärzte und Heilpraktiker entwickeln auf der Basis ihres Fachwissens mit Hilfe der Kinesiologie „maßgeschneidert“ Therapiewege und erreichen dadurch kürzere Behandlungszeiten. Zahnmedizinern bietet die Angewandte Kinesiologie eine Möglichkeit, die Materialverträglichkeit zu testen und die Kaumuskeln zu balancieren. Masseure, Krankengymnasten und Chiropraktiker können sich die zahlreichen Muskelaktivierungstechniken zunutze machen. Mit großem Erfolg setzen bereits seit Jahren viele Lehrer und Lerntrainer die kinesiologischen Bewegungsübungen (Brain Gym®) ein und haben damit das Lernvermögen ihrer Schüler verbessert (Abb. 4). Neueste Erkenntnisse der Gehirnforschung sind in diesen Bereich der Kinesiologie eingeflossen. Psychotherapeuten kann das Muskeltesten dabei helfen, die Ursprünge psychischer Leiden zu identifizieren. Zahlreiche Musiker, Sportler, Studenten und Führungskräfte haben mit kinesiologischen Techniken ihren Stress abgebaut und ihre vermeintlichen Grenzen überschritten.

Ein ganzheitlicher Zugang zum Menschen Die Angewandte Kinesiologie geht von der Annahme aus, dass der menschliche Organismus selbst am besten „weiß“, was ihm gut tut, was ihm hilft, was ihm fehlt und was ihn stört. Dabei betrachtet sie den Menschen als ganzheitliches Wesen, d.h. alle seine Aspekte wie strukturelle, biochemische, emotionale, mentale, soziale wie spirituelle, bilden eine untrennbare Einheit. Die Entdeckungen Goodhearts zeigen die Zusammenhänge zwischen diesen Aspekten klar auf. Sind

Abb. 4. Cook-Hook-Up-Übung aus Brain Gym

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wir beispielsweise mit Unwohlsein oder Schmerz konfrontiert, so bedeutet dies ein Ungleichgewicht im gesamten „System“. Die Kinesiologie macht es sich zur Aufgabe herauszufinden, wo man im „System“ ansetzen muss, um das Gleichgewicht im Menschen wieder herzustellen.

Den Schmerz nutzen Die Mehrheit der Menschen sieht im Schmerz vordergründig oft keinen wirklichen Sinn. In der Regel wird er vorerst einfach als lästig empfunden. Der Fachmann erkennt darin zumindest ein wichtiges Warnsignal für etwaige Gefahren für oder Fehlfunktionen im Körper, wie z.B. beim Greifen auf die heiße Herdplatte. Die Reaktion – der Schmerz – als Antwort auf eine Aktion gibt uns eine bestimmte Botschaft, und damit die Gelegenheit zu lernen, ob unsere Aktion für uns persönlich sinnvoll war oder nicht. Das Schmerz-Lust-Prinzip diktiert so gesehen unsere Denk- und Handlungsweise in jedem Augenblick des Lebens. Man könnte also sagen, der Schmerz beinhalte eine geniale Logik, sozusagen die „Sprache der Seele“, die dann zu sprechen beginnt, wenn wir zu unbewusst leben und vom Weg abweichen. Das würde bedeuten, dass die echte Befreiung vom Schmerz einen ganz bestimmten Bewusstwerdungsprozess zur Voraussetzung haben müsste. Während der Schmerz eine vordergründige Realität darstellt, umfasst dieses Bewusstwerden das Dahinterliegende, quasi den „Schrei der Seele“ wahrzunehmen. Wie keine andere Methode sind kinesiologische Techniken dazu geeignet, die oft unbewussten Stressfaktoren zu identifizieren, die dem Schmerz als Grundlage dienen, und so in recht kurzer Zeit einen Zugang zur Ursache zu schaffen. Die folgenden Beispiele aus der Praxis mögen die Vorgangsweise bei der kinesiologischen Arbeit eindrucksvoll demonstrieren.

Behandlungsbeispiele aus der kinesiologischen Praxis Beispiel Schulterschmerzen Hr. S. kommt in unsere Praxis mit chronischen Schmerzen in der rechten Schulter. Bisherige Maßnahmen brachten nur geringe und wenig anhaltende Linderung. Er wirkt sensibel, bedrückt und leicht zerstreut. Die kinesiologische Testung ergibt eine Blockade des Dickdarm-Meridians sowie zusätzlich eine Schwächung des Dünndarm-Meridians. (Anm.: Beide Akupunktur-Meridiane verlaufen über die Schulter.) Auf der biochemischen Ebene findet sich eine Nahrungsmittelunverträglichkeit von Kuhmilch, die den Darm belastet und auch das Meridiansystem beeinträchtigt. Dahinterliegend zeigt sich ein ungelöster Konflikt als Entsprechung zur Dickdarmblockade (Thema „Nicht-Loslassen-Können“). Der Klient berichtet daraufhin, dass seine Ehefrau vor 5 Jahren verstorben ist und dass er diese Situation bis jetzt noch nicht wirklich annehmen konnte. Die weitere

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Abb. 5. Akupressur: Akupunkturpunkt Dickdarm 4

Austestung betrifft die Behandlungsschritte. Der Muskeltest reagiert auf sog. neurolymphatische und neurovaskuläre Reflexpunkte, die mit dem Dickdarmund Dünndarm-Meridian in Zusammenhang stehen. Zuerst werden jeweils die neurolymphatischen Zonen sanft massiert und im Anschluss die neurovasculären Zone berührt. Sodann wird der Akupunkturpunkt „Dickdarm 11“, mit der Bachblüten-Essenz „Cherry plum“ (steht für „Loslassen“) stimuliert. Im Anschluss wird der Akupressurpunkt – und wichtiger Schmerzreduktionspunkt – Dickdarm 4 akupressiert (Abb. 5). Danach folgt eine Behandlung der „Emotionalen Stressreduktionspunkte“ am Kopf für etwas 20 Minuten (Abb. 6). In dieser Zeit spürt der Klient den Schmerz in der Schulter vorübergehend stärker. Auch setzt bei ihm eine vegetative Reaktion ein, die Augen werden feucht, ohne dass er bewusst an seine Konfliktsituation gedacht hätte. Schließlich atmet er einige Male tief durch und der Kinesiologe spürt am Puls, dass sich

Abb. 6. Emotionale Stressabbaupunkte

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Entspannung und Energiefluss einstellt. Der Klient fühlt sich irgendwie erleichtert und die Schulterschmerzen sind plötzlich kaum mehr spürbar. Die Abschlusstestung ergibt, dass im Moment Stressfreiheit besteht, der Klient jedoch diesen Zustand zu Hause selbst mit der Akupressur eines Dickdarm-, eines Dünndarmund zweier Schulter-Punkten drei Wochen lang stabilisieren muss.

Beispiel Migräne Eine häufige Indikation in unserer Praxis ist Migräne. Bei Fr. B. bestehen recht häufig Kopfschmerzen sowie migräneartige Anfälle bis zu zweimal in der Woche. Die Austestung mittels kinesiologischem Test ergibt erst einmal eine Blockade mit Überenergie im Gallenblasen-Meridian (Verlauf u.a. über den Schädel pariental) und im Leber-Meridian (Verlauf u.a. über die Leber). Des Weiteren ist auf der biochemischen Ebene eine Nahrungsmittelunverträglichkeit von Ei, Weizen und säurehältigem Obst zu finden. Es liegt eine Gärungssituation im Darm vor. Die Klientin gibt an, meist spät abends zu essen, auch mit Vorliebe Rohkost sowie Süßigkeiten. Durch die dadurch entstehenden Gärungsalkohole lässt sich eine Überbelastung der Leber gut erklären. Weitere Austestungen ergeben auch Nährstoffmängel, insbesondere ein Mangel an basischem Kalzium und Magnesium. Weiters zeigt sich neben den ungünstigen Ernährungsgewohnheiten auch ein emotionaler Konflikt. Die Austestung im emotionalen Bereich ergibt den Themenkomplex Aggression und Wut. Bis zu diesem Zeitpunkt zeigt die Klientin keinerlei Emotionen. Sie wirkt bis jetzt eher geknickt. Die Konfrontation mit dem Thema, welches Leber und Gallenblase zugeordnet ist, bewirkt jedoch eine spontane Änderung in ihrem Verhalten. Deutlich emotional berichtet sie, dass sie sich von ihrem eifersüchtigen Ehemann ständig kontrolliert und eingeschränkt fühle, dass sie jedoch nicht die Kraft habe, ihm entsprechend entgegenzutreten oder die Beziehung in eine für sie angemessene harmonische Weise zu verändern. Die damit angestaute Wut findet ihren Ausdruck in ihrer Problematik. Vorerst erscheint es sinnvoll, das Ernährungsverhalten entsprechend zu verändern, um die Verdauungsorgane einschließlich der Leber zu entlasten. Zusätzlich empfiehlt sich Cardus Marianus-Mariendistel – Spagyrische Tropfen 3-mal täglich 8 Tropfen für 6 Wochen sowie eine basische Mineral-Mischung mit hoher Bioverfügbarkeit 2-mal täglich. Die Aussprache betreffend die Probleme mit ihrem Ehemann bringt vorerst Erleichterung. Die Stimulation von Akupressurpunkten des Leber- und Gallenblasen-Meridians sowie eine Spezialbehandlung mit Vitalfeldtherapie runden die erste kinesiologische Behandlung ab. Beim nächsten Termin drei Wochen später berichtet die Klientin, dass ihre Kopfschmerzen bereits deutlich vermindert seien und dass sie mehr Energie habe. Nun zeigt der Körper über den kinesiologischen Test die emotionale Dysbalance besonders deutlich als Priorität an. Mittels weiterer Tests zeigt sich eine vorgeburtliche Stressbelastung und es kann ein genauer Zeitpunkt während der Schwangerschaft identifiziert werden. Durch die emotionale Stressreduktion gelangt die Klientin nun in einen tiefen entspannten Zustand. Bei vollem Bewusst-

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sein beschreibt sie symbolhaft ihren eigenen embryonalen Zustand. Mit Visualisierungstechniken kann dieser bei ihr als unangenehm wahrgenommene Zustand in eine neue angenehme Wahrnehmung umgewandelt werden. In den zwei folgenden Wochen erlebt die Klientin immer wieder auffallend intensive Träume. Die begleitende Einnahme von Bachblüten-Essenzen wird von ihr als sehr angenehm empfunden. Es treten keinerlei belastende Gefühle oder Ängste auf. Beim Kontrolltermin nach vier Wochen erzählt sie, dass sie Gelegenheit gefunden habe, mit ihrem Mann über ihre Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen und dass sie seither gut mit ihm auskomme und er ihr versprochen hat ihr mehr individuellen Freiraum zu geben. Ihre Migräneanfälle seien völlig verschwunden und Kopfschmerzen nur selten. Wir testen abschließend ein kurzes Bewegungsprogramm, zusammengestellt aus kinesiologischen Übungen aus BrainGym® und Energym®, um Leber- und Gallenblasen-Meridian zu stärken, welches die Klientin täglich zu Hause durchführen kann. Fünf Wochen später sind auch die restlichen Kopfschmerzen gänzlich verschwunden.

Abschließende Betrachtung Gerade in der kinesiologischen Arbeit wird die Funktion des Schmerzes als „Signal der Seele“ deutlich. Insbesondere bei Schmerzzuständen des Bewegungsapparates, aber auch in vielen anderen Fällen von chronischem oder akutem Schmerz erleben Kinesiologen die ganzheitliche Herangehensweise immer wieder als sehr effektiv und grundlegend lösend. Damit kann gerade in Fällen, in denen konventionelle Therapieformen nicht zu greifen scheinen, oft relativ kostengünstig geholfen werden.

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Physikalische Interventionen in der Schmerztherapie A . WI CK E R

Einleitung In der Beeinflussung von Schmerzzuständen, sowohl chronischer als auch akuter Art, wird auch physikalischen Behandlungsmethoden ein großer Stellenwert zugeschrieben. Zusätzlich zu der differenzierten, medikamentösen Therapie gibt es zahlreiche physikalische Möglichkeiten zur Schmerzbehandlung, die bei richtiger Indikation und Dosierung weitgehend nebenwirkungsfrei auch über lange Zeiträume als Therapiemittel angewendet werden können. Eine Besonderheit der physikalischen Anwendungen besteht darin, dass zumeist die aktive Mitarbeit des Patienten gefordert ist und dieser Therapieform eine ganzheitliche Komponente zugrunde liegt. Mit den therapeutischen Konzepten der Physikalischen Medizin und Rehabilitation können neben der Beeinflussung der nozizeptiven Reize auch die Psyche und die Funktionsfähigkeit des Bewegungsapparates verbessert werden, was allgemein zu einer Verminderung des Leidensdruckes führt. Durch aktives Mitarbeiten werden die PatientInnen wesentlich intensiver in den Behandlungsprozess eingebunden als dies bei einer nur medikamentösen Therapie der Fall ist. Besonders Schmerzen am Bewegungsapparat lassen sich hiermit sehr effizient und dauerhaft beeinflussen. Physikalisch-medizinische Therapiemittel zur Schmerzbekämpfung: – – – – – – –

Lagerungen Massagetechniken Thermotherapie Manuelle Medizin/Osteopathie Elektrotherapie Ultraschall Laser

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– Magnetfeldtherapie – Hydrotherapie – Bewegungstherapie

Lagerungen Durch richtige, an die Schmerzsituation angepasste Lagerungen, die funktionellen und physiologischen Prinzipien und der Aktualitätsdiagnose entsprechend und exakt auf den jeweiligen Patienten adaptiert sind, können die nozizeptiven Afferenzen vermindert und damit eine Schmerzsenkung erreicht werden. Es kommt zu einer Senkung des Muskeltonus, einer Verbesserung des Abflusses von Ödemen und somit zu einer Druckentlastung. Zusätzlich wird die Ernährungssituation verbessert, was wiederum positive Einflüsse auf die Reparationsvorgänge hat. Mittels Lagerung der unteren Extremitäten auf einem Kissen oder Würfel in 90° Flexion, sowohl in den Hüftgelenken als auch in den Kniegelenken, erfolgt eine Verminderung der Lordose der LWS und es kommt dadurch zu einer Reduzierung der Muskelaktivität, die gegen die Schwerkraft arbeitet. Dies führt, hier als Beispiel aufgezeigt, zu einer Reduzierung der Schmerzen. Auch in Bauch- und Seitenlage kann mit Lagerungshilfen eine Entlastung der Wirbelsäule erzielt werden. Ebenso kann bei Schmerzen in den Extremitäten durch eine adäquate Lagerung eine wesentliche Anhebung der Schmerzschwelle erreicht werden. Traktionen, die entweder im Rahmen manueller Techniken, oder auch durch die Anwendung von Geräten (Schlingentisch, Seilzüge, etc.) durchgeführt werden, bewirken einen geringeren Gelenksdruck und damit eine Reduzierung der Schmerzreize.

Massagetechniken Es gibt eine Vielzahl von Massagetechniken, die verschiedene physiologische Wirkungen im Rahmen von Reflexabläufen hervorrufen. Die bekanntesten Massagearten sind die Lymphdrainage, die klassische Massage, die Bindegewebsmassage, die Segmentmassage und die Periostmassage.

Lymphdrainage Das Prinzip der manuellen Lymphdrainage beruht auf bestimmten Grifftechniken, die zu einer Steigerung der Peristaltik der Lymphgefäße führen und dadurch eine Entstauung mit Ödemabbau bewirken. Technisch werden bei der Lymphdrainage zarte, teilweise ausstreichende, rhythmisch kreisende, pumpende Griffe angewandt. Diese Bewegungen entstehen durch flaches Auflegen der Finger bzw. Hände bei fein dosiertem Druck, der nicht mehr als 30 Torr betragen soll (Korpan et al. 2001).

Physikalische Interventionen in der Schmerztherapie

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Die manuelle Lymphdrainage ist bei richtiger Ausführung ein hervorragendes Schmerzmittel, erfordert jedoch einen hohen Zeitaufwand (mindestens 45 Minuten) und sehr gut ausgebildete Therapeuten. Die Indikationen der manuellen Lymphdrainage beziehen sich vorwiegend auf eiweißreiche lymphostatische oder lymphodynamische Ödeme. Sehr gute Erfolge sind auch bei akuten Verletzungen mit Schwellungszuständen durch die hervorgerufene Druckentlastung zu beobachten. Der manuellen Lymphdrainage wird eine reflektorische, vegetativ schmerzlindernde und die Funktion des Immunsystems positiv beeinflussende Wirkung zugeschrieben (Bringezu et al. 1987). Die Kontraindikationen für die manuelle Lymphdrainage sind unbehandelte maligne Tumore, akute bakterielle und virusbedingte Entzündungen und dekompensierte Herzinsuffizienz. Als Kontraindikationen für örtliche Behandlungen gelten akute Venenerkrankungen mit Thrombosierung und Entzündung, sowie infektiöse Hauterkrankungen.

Klassische Massage Direkte Messungen des Muskeltonus anhand elektromyographischer Untersuchungen zeigen eine Verminderung des Muskelaktionspotentiales und damit eine Detonisierung (Schmidt 1968) – dies bewirkt eine Schmerzlinderung. Die Grifftechniken der klassischen Massage sind vorwiegend auf die Muskulatur gerichtet. In Abhängigkeit von der Intensität können auch narbige, fibrotische Veränderungen an Haut, Unterhaut und Faszie gelöst werden. Besonders gut beeinflusst wird der schmerzhafte Muskeltonus (Hofkosh 1985). Bei der klassischen Massage zur Schmerzbekämpfung als therapeutischer Zielsetzung steht die Lockerung der hypertonen Muskulatur im Vordergrund. Sinnvoll sind hier Grifftechniken wie Streichungen, Schüttelungen und Vibrationen.

Segmentmassage Bei dieser Sonderform der Massage werden im Besonderen die oberflächlichen Schichten beeinflusst. Es wird zielgerichtet auf ein Segment hin behandelt, um über Reflexvorgänge Stoffwechselveränderungen im Gewebe herbeizuführen. Die Techniken sind vielfältig (Fingerkuppen, Stäbchen, etc.) und werden auch nicht einheitlich gehandhabt. Als Therapieerfolg zeigt sich eine strukturelle Normalisierung der Gewebe (Kee et al. 1990).

Bindegewebsmassage Für diese Spezialmassage ist charakteristisch, dass tangential am Unterhautbindegewebe und an der Faszie Zugreize gesetzt werden. Dadurch werden me-

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chanische Wirkungen, wie auch vegetative Reaktionen ausgelöst, die zu einer Schmerzlinderung führen.

Periostmassage Hier werden mittels der Finger lokalisierte, rhythmische Druckreize am Periost gesetzt. Während der Behandlung wird der Schmerz verstärkt. Der deutliche, mechanische Druck auf das Gewebe zieht mehr oder weniger intensive, vegetative Reaktionen nach sich. Als Indikationen für die Periostbehandlung gelten ausstrahlende Schmerzzustände am Bewegungsapparat, insbesondere an Knochen und Bändern.

Akupunktmassage Diese Spezialmassage setzt Kenntnisse in der chinesischen Lehre der Akupunktur voraus. Es werden durch besondere Grifftechniken entlang der Meridiane und an Akupunkturpunkten Reize gesetzt, die auf den Energiefluss im Körper wirken.

Fußreflexzonenmassage Durch manuelle Reize an den Reflexzonen der Füße wird hierbei versucht, Einfluss auf korrespondierende, innere Organe und deren physiologische Funktionen auszuüben. Sie wirkt adäquat durchgeführt, entspannend und tonussenkend.

Unterwasserdruckstrahlmassage Bei dieser Massageart handelt es sich um eine großflächige Behandlung von Haut und tieferliegenden Geweben, insbesondere der Muskulatur. Sie wird in Spezialwannen mit Hilfe eines in seiner Flächen- und Druckwirkung regulierbaren Wasserstrahles ausgeführt. Die Unterwasserdruckstrahlmassage findet bevorzugt in der Behandlung posttraumatischer Beschwerden und von muskulären Schmerzbildern, die durch degenerative Gelenk- und Wirbelsäulenveränderungen bedingt sind, ihre Anwendung (Rulffs 1995).

Thermotherapie Wärmetherapie Die Wärmetherapie macht sich einerseits die Reaktionen im Bereich der Haut auf Wärmezufuhr zunutze, andererseits kann die Wärmezufuhr eine gleichmäßige und mehr oder weniger tiefe Gewebserwärmung bewirken.

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Im ersten Fall erfolgt überwiegend eine Stimulierung von Thermorezeptoren, in deren Folge es zu einer Reiz-Reaktionsbeziehung im Sinne der Nutzung von reflektorischen oder segmental-reflektorischen Effekten (z.B. konsensuelle o. cuti-viscerale Reaktionen) kommt. Im zweiten Fall, bei dem es zu einer gleichmäßigen Erwärmung des Gewebes kommt, wird als Ziel eine Steigerung der Durchblutung und damit des Stoffwechselgeschehens, eine Erhöhung der biochemischen Aktivitäten, eine Veränderung in den neuromuskulären Abläufen und in den bindegewebigen Eigenschaften angestrebt. Eine Wärmebeeinflussung des Körpers über die Schleimhäute findet dann statt, wenn sich der Organismus in heißer Umgebung, z.B. Sauna oder Dampfbad, befindet (Günther et al. 1986). Wärmestrahlen, die auch als Infrarotstrahlen bezeichnet werden können, sind elektromagnetische Wellen, die im Spektrum zwischen 0,78 Mikrometer bis 1 mm Wellenlänge angeordnet sind. Für medizinische Zwecke wird nur der Bereich zwischen 780 und 5000 Nanometer verwendet. Was die bei der lokalen Wärmetherapie anzustrebenden Erhöhungen der Gewebstemperaturen betrifft, gibt es nur allgemeine Richtlinien. Eine intensive Tiefenerwärmung setzt eine hohe Applikationstemperatur voraus, die wiederum an die Wärmetoleranz der Haut (44 bis 46 Grad Celsius) gebunden ist. In der gezielten Anwendung der Wärmetherapie zur Schmerzlinderung muss berücksichtigt werden, dass hier die Dauer und die Häufigkeit der Anwendungen, sowie die Luftfeuchte (nasse Haut leitet 3 bis 4-mal schneller als trockene), entscheidende Auswirkungen auf den Effekt hat (Wicker 1996). Als Anwendungsformen zur Wärmetherapie haben sich Packungen, Paraffin, Hydro- und Balneotherapie sowie Rotlicht bewährt.

Packungen Für Packungen eignen sich Materialien, die ein schlechtes Wärmeleitvermögen und eine gute Plastizität aufweisen. Peloide (pelos, griechisch = weicher Ton, Schlamm, Lehm) wie Moor, Fango, Lehm, Ton etc. weisen diese physikalischen Eigenschaften auf. Weiters kommen feucht heiße Säcke (z.B. Heublumensäcke) und Packungen mit Kräuterfüllung, sowie Paraffin zur Anwendung. Sonderformen für die Wärmetherapie zur intensiven Durchwärmung tiefer liegender Gewebeschichten stellen die Hochfrequenztherapie, sowie die Kurzund Mikrowellentherapie dar. Diese Wärmetherapien werden auch als Diathermie bezeichnet. Elektrische und magnetische Wechselfelder werden hier therapeutisch zur Gewebserwärmung in der Tiefe genutzt. Absolut contraindiziert sind diese Anwendungen bei Metallimplantaten. Indikationen für die Wärmetherapie sind subakute und chronische Schmerzzustände entzündlicher und degenerativer Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen, Weichteilrheumatische Erkrankungen (Insertionstendinopathien, Periostosen, Myotendinosen, Enthesopathien), sowie postakute Zustände nach Trau-

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men und Operationen am Bewegungsapparat. Weiters funktionelle Durchblutungsstörungen, sowie Reizzustände des Gastrointesinaltraktes und des Urogenitalsystems.

Kryotherapie Unter Kryotherapie versteht man eine im Rahmen der Physikalischen Medizin, zeitlich begrenzte Anwendung von Kältereizen.

Wir unterscheiden Kurz- und Langzeitkryotherapie. Bei der Kurzzeitkryotherapie wird eine Anwendungsdauer von 1 bis maximal 3 Minuten gewählt. Sehr gut bewährt haben sich hier Eis am Stiel oder einfache Eiswürfel. Durch den kurzen aber intensiven Kältereiz der Haut kommt es zu einer Vasokonstriktion der Gefäße und einer Reizung von Thermorezeptoren. Über die Gate Control Therapie nach Melzack und Wall (1965) kommt es zu einer Reduzierung der Schmerzreize. Reflektorisch erfolgt auf die Vasokonstriktion eine Vasodilatation mit Hyperämie und verbesserter Stoffwechselsituation in den Geweben, was ebenfalls zur Schmerzlinderung beiträgt. Die Kombination von Kurzzeitkryo, Dehnung und Injektionen in Triggerpunkte ruft eine Schmerzlinderung bei myofascialen Schmerzzuständen hervor (Travell 1992). Bei der Langzeitkryotherapie wird eine Senkung der Gewebstemperatur mit dadurch bedingter Reduzierung des Stoffwechsels hervorgerufen. Ihr wesentlicher Effekt kann als Eingriff in die Pathogenese, des lokalen Entzündungsprozesses, aufgefasst werden. In der Folge lässt sich auch das lokale Ödem beeinflussen (Ernst et al. 1994). Die Langzeitkryotherapie hat vier verschiedene klinische Wirkungen: Sie stoppt oder verlangsamt Blutungen, verhilft zur Gewebshypothermie, mindert die Spastizität und lindert Schmerzen (Meeusen 1986). Bei akuten Schmerzen am Bewegungsapparat, insbesondere bei Traumen, hat sich die Langzeitkryotherapie in Form von milden Kälteanwendungen (Hot Ice), mit einer Anwendungstemperatur zwischen 5 und 12 Grad Celsius und einer Anwendungsdauer von 5-mal täglich ca. 60 Minuten, sehr bewährt. Als Kältemedien werden kalter Topfen (Quark), Kryomoor oder Eiswasserkühlung verwendet (Wicker 1997). Eine zu starke Abkühlung des Gewebes wirkt sich kontraproduktiv aus, da die reaktive Entzündung getriggert wird, was zu einer Verlangsamung des Heilungsprozesses beiträgt (van Wingerden 1990).

Manuelle Medizin und Osteopathie Die Manuelle Medizin weist sich als eine mit den Händen durchgeführte, spezielle Technik aus, die eine segmentale Diagnostik und eine gezielte, rasch wirk-

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same und sofort kontrollierbare Behandlung erlaubt. Vertebrale, spondylogen ausstrahlende, periphere arthrogene und myofasziale Schmerzen können bei geeigneter Indikation durch diese Methoden erfolgreich angegangen werden. Die wichtigsten Techniken der Manuellen Medizin sind die Mobilisierungen, die Manipulationen und die Muskelernergietechniken. Die Manualtherapie von schmerzhaften Wirbelgelenksblockierungen ermöglicht dank genauer segmentaler Funktionspalpation, zahlreiche, den Patienten über lange Zeit belastende Krankheitsbilder aus dem rheumatischen Formenkreis gezielt, rasch und korrekt ausgeführt und frei von Nebenerscheinungen erfolgreich anzugehen und die Beschwerden oft in erstaunlich kurzer Zeit zu beheben. Die akuten vertebralen Blockierungen, wie Schiefhals, Störungen der Funktion der Rippengelenke, sowie der lumbalen Wirbelsäule und der ISG sind Hauptindikationen der Manualtherapie, ebenso die so zahlreichen spondylogenen, pseudoradikulär ausstrahlenden Syndrome (Baumgartner 1983). Im Vordergrund der Betrachtung jener der Therapieverfahren, bei denen die Hände die wichtigsten Therapiemittel darstellen (Manuelle Medizin, Chirotherapie, Osteopathie), steht die Einflussnahme auf die schmerzinhibitorischen Systeme, wo vor allem das GABA-erge (meist durch A-Beta-Fasern vermittelte) inhibitorische System, das opioiderge (überwiegend durch A-Delta-Fasern getragene) System und das serotoninerge absteigende System die wichtigsten Rollen spielen. Die überwiegende Mehrzahl der Methoden die unter dem Begriff Manuelle Medizin, Chirotherapie und Osteopathie subsummiert sind, haben in wechselnder Weise Zugriff auf diese Systeme. Auf der Ebene der zunehmend weiter entwickelten, neurophysiologischen Erkenntnisse wird es immer schwerer die Begriffe Manuelle Medizin, Chirotherapie, Osteopathie und physikalisch-therapeutische Ansätze gleich welcher Provenienz voneinander zu trennen, da die Effekte an den Membranen und in der neuronalen und interneuralen Szene am Ende identisch sind (Locher 2002). Allen gemeinsam ist dass sie in der Schmerztherapie einen wesentlichen Stellenwert besitzen.

Elektrotherapie Die Elektrotherapie bietet zahlreiche Verfahren zur Schmerztherapie an. Einen direkten analgetischen Effekt, bzw. eine analgetische Nachwirkung, zeigen vor allem die Gleichstromtherapie (Galvanisation) und die niederfrequenten Reizströme.

Galvanisation Unter Galvanisation versteht man die Behandlung mit konstanter Spannung, Stromrichtung und Stromstärke.

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Jede Galvanisation ist, abhängig von der Stromintensität, von deutlichen sensiblen Empfindungen begleitet, die als Prickeln, Kribbeln, Brennen bzw. als Schmerz empfunden werden. Das Ziel der Galvanisation ist die Analgesie und insbesondere die analgetische Nachwirkung. Mit Hilfe der Galvanisation können auch Medikamente (z.B. NSAR) über die Haut eingebracht werden. Dieser Vorgang wird als Iontophorese bezeichnet. Man versteht darunter den perkutanen Transport von ionisierten Pharmaka mit Hilfe des Gleichstromes. Die Penetration der Medikamentenmoleküle erfolgt ausschließlich durch Diffusion zur entgegengesetzten Elektrode. Aufgrund der immer gleichen Fließrichtung des Stromes müssen Schutzmaßnahmen (Schwämme unter den Elektroden, kein Metallkontakt der Haut, etc.) getroffen werden. Eine Sonderform der Gleichstromtherapie ist die Galvanisation mit hydrotherapeutischer Anwendung. Die hydrogalvanischen Anwendungen (Zweizellenbad, Stangerbad, Vierzellenbad) verbinden additiv die analgetischen Wirkungen der Gleichstromtherapie mit den Effekten eines zumeist thermoindifferenten Voll- bzw. Teilbades. Das Wasserbad stellt gleichzeitig eine großflächige Elektrode dar (Seichert 1988)

Niederfrequente Reizströme Als niederfrequente Reizströme bezeichnet man Stromformen, die im Gegensatz zur galvanischen Reizung geeignet sind, an Nerven- und Muskelfasern Aktionspotentiale auszulösen. Da hierfür eine rasche Depolarisation der Zellmembran notwendig ist, verwendet man Rechtecks- oder Dreiecksimpulse, die sich nach definierten Reizintervallen wiederholen (Senn 1990). Therapeutische Ziele dieser Ströme sind die Muskelwirkung (bei efferenter Reizung) zur Erhaltung/Verbesserung der Willkürmotorik und die analgetische Wirkung (bei afferenter Reizung).

Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) Dieses elektrotherapeutische Verfahren ist am besten bekannt und in der Schmerztherapie weit verbreitet. TENS ist nur eine von vielen niederfrequenten Stromformen und kann mit jedem Reizstromgerät durchgeführt werden. TENS an sich stellt keine eigene Elektrotherapieform dar. Die moderne Technik hat kleine, batteriebetriebene Stimulatoren entwickelt, sodass diese Therapieform nicht nur mit den großen netzbetriebenen Geräten in der Klinik oder den Ordinationen durchgeführt werden kann, sondern auch zu Hause. Batteriebetriebene Kleinstimulatoren haben den Vorteil der Transportabilität, des einfachen Handlings durch den Patienten nach fachgerechter Einschulung und der durch den Heimgebrauch gesteigerten Therapiekompetenz des Patienten. Im Vergleich zu einem netzbetriebenen Standgerät besteht jedoch der Nachteil einer geringeren Leistungsfähigkeit durch die Verwendung von gerin-

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gen Stromspannungen, sowie eine geringere Variabilität bei der Auswahl der Stimulationsparameter. Indikationen für die TENS Therapie: – chronische Schmerzzustände unterschiedlichster Ursachen zur Stärkung der aktiven Therapiekompetenz des Patienten – umschriebene Schmerz- und Triggerpunkte im Rahmen von Periarthropathien – segmentale Schmerzzustände (Cervicalsyndrom, Costovertebralsyndrom etc.) – posttraumatische Schmerzzustände (z.B. nach Rippenfrakturen) – Neuralgien (Zoster-, Trigeminus) – pseudoradikuläre und radikuläre Schmerzsyndrome – degenerative Gelenkserkrankungen – Polyneuropathien – entzündlich rheumatische Erkrankungen

Ultraschall In der Anwendung des therapeutischen Ultraschalls finden mechanische Schwingungen von ca. 800 KHz Verwendung (Rusch 1988). Der Haupteffekt der Beschallung ist in der Wärmebildung zu sehen. Da das Knochengewebe die Schallwelle sehr gut absorbiert und die Welle an der Gewebsgrenze zum Knochen eine starke Ablenkung erfährt, kommt es zur deutlichen Erwärmung im Bereich der Knochen-Muskelgrenze (Lehmann 1968). Die Intensität und die Verteilung der Gewebserwärmung ist abhängig von der Ausgangsleistung, dem Kontakmedium, der Schallkonstanz (konstant oder gepulst), der Schallkopfdynamik, der Behandlungsdauer und der Frequenz. Als Kontaktmedium stehen Gele, Öle und Wasser zur Verfügung. Werden Medikamente, wie zum Beispiel NSAR zur parenteralen Applikation zwischen Schallkopf und Haut aufgebracht, so wird diese Behandlung als Ultraschallphonophorese bezeichnet. Eine Besonderheit von praktischer Bedeutung, insbesondere in der Therapie der Finger- und Zehengelenke, ist die Anwendung des therapeutischen Ultraschalls im Wasserbad. Die Schallköpfe sind wasserdicht und das Wasser dient als gute Koppelsubstanz. In der Schmerztherapie wird der Ultraschall als Wärmetherapie gezielt bei Neuralgien, Myalgien, Tendinosen, Osteochondrosen, Spondylarthrosen, Omarthrosen, Gonarthrosen, Coxarthrosen, Epikondylopathien und beim Carpaltunnelsyndrom eingesetzt (Ebenbichler 1999).

Low Level Lasertherapie Die Low Level Lasertherapie ist eine Sonderform der Phototherapie, jedoch ohne Wärmeentwicklung, da die Laserleistung im mW Bereich liegt. Das Laserlicht ist ein kohärentes (alle Teilchen schwingen im selben Takt) Licht mit einer defini-

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tiven Wellenlänge. Diese Wellen können im sichtbaren Bereich liegen, wie z.B. beim Helium-Neon-Laser mit 634 nm oder beim Infrarot-Laser mit 904 nm. Laserlicht bewirkt in den Mitochondrien eine vermehrte Bereitstellung von ATP im Rahmen der Atmungskette und damit eine Verbesserung der Stoffwechselsituation mit einer Erhöhung der Proliferationsrate der Zellen. Weiters kommt es zu einer Energieersparnis durch die Anregung der Cytochrome. Die Erhöhung der Phagozytose verstärkt die Immunabwehr und Laserlicht führt auch zu einer vermehrten Ausschüttung von Endorphinen, was wiederum zu einer Verringerung der Schmerzsymptomatik beiträgt. Die Indikationen für den Einsatz des Lasers in der Schmerztherapie sind Insertionstendinopathien, Contusionen und Distorsionen.

Magnetfeldtherapie Magnetfelder werden seit über 2000 Jahren in der Medizin vor allem in der Behandlung von Störungen des Bewegungsapparates verwendet. In jüngerer Zeit erlebt diese Therapieform einen gewaltigen Aufschwung und man kann fast täglich in den Medien von neuen und teilweise an Wunder grenzenden Therapieerfolgen hören. Bezüglich der schmerzdämpfenden Wirkung einer Magnetfeldbehandlung wurden von Valbona 1998 50 Patienten mit muskuloskeletalen Schmerzen bei Postpoliosyndrom behandelt. Es wurden dabei permanent Magneten, über einen Zeitraum von 45 Minuten über dem schmerzenden Areal getragen. Die Flussdichte war 300–500 Gauss. Diese Studie war doppelblind und plazebokontrolliert angelegt. Es konnte in der Verumgruppe eine 76%ige Schmerzreduktion im Vergleich zu 19% in der Kontrollgruppe festgestellt werden. Bei aller Euphorie darf allerdings nicht vergessen werden, dass nach wie vor berechtigte Zweifel an der Wirksamkeit der Magnetfeldtherapien bestehen und dass der Übergang von einer seriösen medizinischen Behandlung zur Quacksalberei ein fließender ist (Riedhart et al. 2001). Um so wichtiger erscheint es deshalb, die grundlegenden Mechanismen zu beleuchten und deren potentielle Einsatzmöglichkeit in der Medizin an Hand von kontrollierten und hochwertigen Studien zu prüfen.

Hydrotherapie Die Bewegungstherapie im Wasser ist ein spezielles Therapiekonzept, das sowohl für Funktionsverbesserungen, als auch für die Schmerzreduzierung eingesetzt werden kann. Die Wirkfaktoren des Wassers wie Auftrieb, hydrostatischer Druck, Temperatur, Widerstand und Zusammensetzung des Wassers üben einen positiven Einfluss auf die Funktion und auf die Schmerzsituation aus. Durch den Auftrieb kommt es zu einer deutlich spürbaren Gewichtsverminderung. Die Belastung des passiven Bewegungsapparates, insbesondere der un-

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teren Extremitäten und der Wirbelsäule nimmt in dem Ausmaß ab, in dem der Mensch tiefer ins Wasser eintaucht und somit mehr Wasser verdrängt. Bei Herausragen des Kopfes aus dem Wasser wiegt der untergetauchte Körper nur noch etwa 1/10 seines Gewichtes gegenüber dem tatsächlichen Gewicht. Diese Druckentlastung wirkt sehr oft schon alleine schmerzlindernd (Schöning 1988). Der hydrostatische Druck des Wassers nimmt mit der Wassertiefe kontinuierlich zu und beträgt in einem Meter Wassertiefe 0,1 bar (100 cm Wassersäule). Die Umfangsverringerung beim Eintauchen in das Wasser beträgt durchschnittlich am Thorax 1,0 bis 3,5 cm und am Bauch 2,5 bis 6,5 cm. Eine solche Druckerhöhung wirkt antiödematös, abschwellend und damit schmerzlindernd. Der Wasserwiderstand wächst proportional zur Geschwindigkeit des durch das Wasser bewegten Gegenstandes. Die Krafteinwirkung kann dadurch stufenlos verstellt werden, indem man die Geschwindigkeit ändert. Durch das Zusammenwirken von Auftrieb und Widerstand werden ein bewusstes Erleben und eine Harmonisierung funktioneller Bewegungsabläufe erzielt, was ebenfalls zur Senkung der Beschwerden beiträgt. Die Temperatur im Bewegungsbecken, die je nach Indikation zwischen 30 und 35 Grad Celsius, in manchen Fällen sogar bis an die 40 Grad liegt, wirkt auf die quergestreifte Muskulatur detonisierend, entspannend und regenerationsfördernd. Die Zusammensetzung des Wassers mit verschiedenen Mineralien, Spurenelementen und Zusatzstoffen kann ebenfalls einiges dazu beitragen, dass Bewegung im Wasser einen wesentlichen Beitrag zu einer effizienten Schmerzreduktion leistet. Die eben genannten Wirkfaktoren des Wassers können hier intensiv benützt werden um eine schmerzarme Gang- und Koordinationsschulung sowie Muskelkräftigung durchzuführen (Wicker 1996). Durch den verminderten Belastungsdruck auf den Stütz- und Halteapparat lassen sich Bewegungen wesentlich leichter und mit verringerter Schmerzsymptomatik ausführen. Zudem wird im Wasser auch die Angst vor Bewegungen und Schmerzen reduziert was sich wiederum positiv auf den Bewegungsablauf und die Schmerzschwelle auswirkt.

Bewegungstherapie „Bewegung ist Leben“ – dieser Spruch zeigt auf, dass Bewegung einen wesentlichen Einfluss auf den Lebensablauf ausübt. Veränderungen des Bewegungsverhaltens beeinflussen das Erleben und Verhalten des Patienten (Spirduso 1980). Primäres Ziel der Bewegungstherapie ist es die Funktion zu erhalten, zu kompensieren, anzupassen, zu reaktivieren und zu verbessern. Das zweite Ziel ist, die Leistung zu verbessern und das dritte Ziel die Schmerzen, meistens im Bereich des Bewegungsapparates zu vermindern (Gardner 1995). In der chronischen Schmerzphase ist es primäres Ziel, den Patienten zu unterstützen, seine Schmerzen aktiv, d.h. durch Bewegung zu kontrollieren.

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Der optimale Rehabilitationsplan besteht aus folgenden trainingstherapeutischen Maßnahmen: Verbesserung der Beweglichkeit, der Ausdauer, der Kraft und der Sensomotorik. Zusätzlich zu den bewegungstherapeutischen Maßnahmen können noch passive Maßnahmen wie Ultraschall, Elektrotherapie oder Massage eine sinnvolle Ergänzung darstellen. Selbst bei akuten Schmerzen kann durch eine adäquat dosierte, sowohl aktive, als auch passive Bewegungstherapie, eine ausgezeichnete Schmerzlinderung durch z.B. Druckentlastung angeschwollener, entzündeter Gelenke erreicht werden.

Passive Bewegungstechniken Sie finden durch äußeren Einsatz von Kräften (Therapeut, apparativ) ohne willkürliche Muskeltätigkeit des Patienten statt. Passive Techniken sollen nur dann eingesetzt werden, wenn periphere Lähmungen, Bewusstseinseinschränkungen oder verletzungsbedingte Entlastungen dazu zwingen. In der Regel dient das passive Bewegen der Prophylaxe von Kontrakturen und soll so bald als möglich vom aktiven Bewegen abgelöst werden.

Aktive Bewegungstechniken Es sind dies Techniken die nicht unterstützt, sondern vom Patienten selbständig oder unter Anleitung durchgeführt werden. Rhythmisch schwingende Bewegungen können hypertone Muskeln entspannen. Aktive Bewegungsübungen führen zu: – – – – – – –

Verbesserung der Funktion Verbesserung der Kraft, Ausdauer und koordinativen Fähigkeiten Verbesserung der Schmerzkontrolle Reduzierung des Druckes in den Gelenken Anhebung der Schmerzschwelle Verbesserung des Körpergefühles Verbesserung des seelischen Wohlbefindens

Medizinische Trainingstherapie Der sinnvolle Einsatz von Trainingsreizen mit Berücksichtigung trainingswissenschaftlicher Aspekte, wie zum Beispiel Art, Umfang, Dauer und Intensität der Trainingsreize ist zu empfehlen (Platen 1995). Die immer noch in Verwendung befindliche Therapieanweisung „Mehr Bewegung“ ist zu wenig. Das verordnete Bewegungstraining muss genau dosiert werden, da nur dadurch ein optimaler Effekt erzielt werden kann. Es gibt mehrere Studien die belegen, dass insbeson-

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dere ein Ausdauertraining von mehr als 40 Minuten die Schmerzschwelle hebt und antidepressiv wirkt

Entspannungstraining Die Konzentration auf den Körper, bzw. die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf körperliche Funktionen kann auf Grund der Bewusstseinszentrierung zur Entspannung führen. Sie ist beim Halten, bei passiven und freien Bewegungen, sowie bei Atembewegungen einsetzbar. Das Entspannungsverfahren der progressiven Relaxation nach Jacobson und die Biofeedback-Methoden sind verbreitete Behandlungsverfahren, die erfolgreich bei verschiedenen Schmerzsyndromen eingesetzt werden. Randomisierte Studien zeigen, dass richtig indizierte und adäquat angewandte Bewegungsreize zu einer wesentlichen Verbesserung zahlreicher Beschwerdebilder des menschlichen Organismus beitragen.

Zusammenfassung Das breit gefächerte Spektrum physikalisch-medizinischer Therapieverfahren kann bei nahezu allen Schmerzsyndromen vorrangig oder flankierend eingesetzt werden. Bei richtiger Indikation und adäquater Anwendung ermöglichen diese Therapiemittel eine gute und auch über lange Therapiezeiten weitgehend nebenwirkungsfreie Schmerzbehandlung. Gerade in einer Zeit in der durch den Fortschritt in der Medizin die Lebenserwartung der Menschen steigt und dadurch degenerative und chronische Leiden zunehmen, werden physikalische Anwendungen ein zunehmend an Bedeutung gewinnender Pfeiler einer optimalen und effektiven Schmerzbehandlung mit dem Ziel möglichst hoher Lebensqualität auch bei nicht mehr heilbaren Leiden.

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TENS – Transkutane Elektrische Nervenstimulation B . DI S S E L HO F F

Das Prinzip der transkutanen Applikation elektrischer Impulse ermöglicht die Stimulation sensibler und motorischer Nerven. Sie dient in erster Linie der Schmerzbehandlung, wird aber auch zur Durchblutungsförderung, Wundheilung und weiteren Indikationen verwendet. TENS wurde in den USA zunächst als Screening-Verfahren vor Implantation eines Spinal-cord Stimulators genutzt. Seit den siebziger Jahren wurde ihr Stellenwert als eigenständige Therapie mit der wachsenden Zahl von positiven Veröffentlichungen wie der von Long et al. 1975 über Erfolge in der Therapie von 500 chronischen Schmerzpatienten erkannt. In den nächsten Jahrzehnten folgte eine weltweite Verbreitung. In Deutschland wurde 1987 eine spezielle kassenärztliche Abrechnungsziffer für TENS etabliert. TENS hat in vielen Lehrbüchern als Teil einer Behandlungsstrategie gegen zahlreiche chronische und akute Schmerzen Eingang gefunden und wird von einer Vielzahl von Fachgesellschaften zur Schmerztherapie empfohlen.

Charakteristika der TENS TENS zeichnet sich als nebenwirkungsarmes Verfahren aus, das vom Patienten selbständig eingesetzt wird. Die kleinen Stimulatoren können stets mitgeführt werden und bieten die Möglichkeit einer aktiven Beeinflussung des Schmerzgeschehens. Die digitale Technik ermöglicht für verschiedene Schmerzindikationen fertige Stimulationsprogramme zur Anwendung und vereinfacht die Bedienung auf das Einschalten des Gerätes und die Intensitätswahl (Abb. 1) Das Spektrum der Kontraindikationen ist relativ klein. TENS wird meist zusammen mit weiteren Schmerztherapien angewendet, mit denen es sich gut kombinieren lässt.

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B. Disselhoff

Abb. 1. Programmiertes TENS-Gerät Tenstem eco, Firma schwa-medico

Die TENS-Technik In aller Regel werden 2-Kanal Geräte verwendet, an denen 2 Paar Elektroden angeschlossen werden können. Die Kanäle können jeweils mit verschiedenen Parametern eingestellt und so, voneinander getrennt, für unterschiedliche Schmerzlokalisationen eingesetzt werden. Der Impulsbereich liegt zwischen 0,5–120 Hz, selten darüber. Meist werden biphasische Rechteckimpulse generiert, die ein mehr oder weniger ausgeglichenes Phasenverhältnis haben. Die Impulsbreite ist entweder fest eingestellt oder variierbar und liegt im Bereich von 50– 200 µsec. Der maximale Ausgangsstrom beträgt um die 70 mA, gemessen an Belastung mit 1 k 8 reell. Die Stromversorgung geschieht über Batterien oder Akkus. Die Geräte können über Schutzfunktionen wie z.B. eine Elektrodenerkennung verfügen.

Die physiologische Wirkung Die TENS-Impulse wirken auf verschiedenen Ebenen. Sie innervieren aufgrund des elektrisch geringeren Widerstandes sensible Nervenfasern mit größerem Durchmesser, vor allem AC- und AE-Fasern. Die antidrome Leitung der applizierten TENS-Impulse und Kollision mit afferenten Impulsen hemmt die Nervenleitung der innervierten Nervenfasern (Johnson 2001). Auf spinaler Ebene dagegen wird durch die Reizung der AC- bzw. AE-Fasern die C-Faser Aktivität suprimiert (Gate-Control Theorie). Supraspinal kommt es zur schmerzmodifizierenden Ausschüttung verschiedener Neurotransmitter. Darüber hinaus kann TENS als Gegenirritationsverfahren zur Löschung eines Schmerzgedächtnisses beitragen (Sandkühler 2001). Die Grundlagenforschungen im Umfeld TENS sind noch lange nicht abgeschlossen. Interessante Schwerpunkte bilden der Einfluss der Elektrostimulation

TENS – Transkutane Elektrische Nervenstimulation

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z.B. auf die Genexpression (Guo et al. 2004; Zhang et al. 1996) und auf die Wirkung der analgetischen Medikation (Chabal et al. 1998; Motta et al. 2002; Sluka, Chandran 2002).

Einfluss der Parameter auf die TENS-Wirkung Nach Wolf et al. 1981 und Johnson et al. 1991 besteht kein direkter Zusammenhang zwischen Schmerzdiagnose, Parametern und Erfolg der TENS-Therapie. Daraus darf nicht abgeleitet werden, dass die TENS-Parameter für die Therapie beliebig sind. Vielmehr sind die optimalen Parameter der TENS zur Behandlung eines spezifischen, individuellen Schmerzzustandes nur sehr eingeschränkt aufgrund der Diagnose vorhersagbar. Bjordal et al. zeigen, dass die Effizienz der TENS entscheidend von den verwendeten Parametern abhängt (Bjordal et al. 2003). In ihrer Metaanalyse, in die 21 kontrollierte Studien einbezogen wurden, errechnen die Autoren eine hochsignifikante Reduktion der postoperativen Medikation um 35,5% vs. Placebo bei adäquater Stimulation mit starker, aber nicht schmerzhafter Intensität und einer Frequenz zwischen 1–8 Hz bzw. 25–150 Hz. In 9 Studien, in denen diese Parameter nicht ausdrücklich bestätigt wurden, wird dagegen eine Reduktion um 4,1% erreicht. Patienten haben auch oft individuelle Vorlieben für Parameter (Johnson et al. 1991a), die aber nicht immer die effektivste Wahl darstellen.

Die Frequenzen Es wird TENS-spezifisch zwischen einer hochfrequenten, mittelfrequenten und niederfrequenten Stimulation unterschieden. Diese Begriffe haben nichts mit der elektrophysikalischen Einteilung der Frequenzen zu tun. Die Frequenzbereiche rufen unterschiedliche physiologische Reaktionen hervor (Gopalkrishnan, Sluka 2000; Han 2003).

Die hochfrequente Stimulation Sie umfasst den Frequenzbereich zwischen 50 und 100 Hz, wobei die 80 Hz und 100 Hz am intensivsten untersucht sind. Hier liegt der Wirkmechanismus der Gate-Control Theorie zugrunde. Dadurch wird die Bedeutung einer segmentalen Elektrodenanlage bei der hochfrequenten Stimulation deutlich. Naloxon führt nur in sehr hohen Dosen zur teilweisen Antagonisierung der innerhalb von Minuten eintretenden analgetischen Wirkung. Im Liquor tritt ein hochsignifikanter Anstieg von Dynorphin A auf, das auf L-Rezeptoren wirkt. Die Gabe eines L-Rezeptor-Antagonisten blockiert dementsprechend eine analgetische Wirkung dieser Stimulation (Han 2003).

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Klinische Verwendung der hochfrequenten Stimulation Der schnelle Wirkungseintritt eignet sich besonders für den akuten Schmerz; das subjektiv angenehme Stimulationsgefühl für den neuropathischen Schmerz. In der Regel wird eine moderate Intensität (gut wahrnehmbar, aber angenehm) ausreichend sein. Durch etwas größer gewählte Elektroden kann die Wirkung intensiviert werden, da der spinale Input durch Innervation einer größeren Anzahl Nervenfasern und ggf. der benachbarten Segmente intensiviert wird.

Die niederfrequente Stimulation Frequenzen zwischen 1–10 Hz stellen den niederfrequenten Bereich dar. Im Gegensatz zur hochfrequenten Stimulation müssen bei dieser Stimulationsform (sichtbare) Muskelzuckungen hervorgerufen werden, um den vollen Stimulationseffekt zu erreichen. Dazu wird eine etwas höhere Intensität bzw. etwas breitere Impulse benötigt. Erreicht wird eine supraspinale analgetisch wirkende Neurotransmitterfreisetzung. Im Liquor kommt es zur signifikanten Erhöhung von Met-Enkephalin-Arg-Phe. Die Wirkung tritt erst nach einer gewissen Stimulationszeit ein und erreicht ihr Maximum nach ca. 30 Minuten. Sie tritt unabhängig von der Elektrodenanlage auf. Nach Stimulationsende besteht eine längere Nachwirkung. Der Stimulationseffekt lässt sich durch kleinere Gaben Naloxon antagonisieren und kann durch prätherapeutische Gabe von µ- und E-Rezeptorantagonisten blockiert werden (Han 2003).

Klinische Verwendung der niederfrequenten Stimulation Die prolongierte analgetische Wirkung ist besonders bei chronischen Schmerzen hilfreich. Die Verwendung kleinerer Elektroden erleichtert das Hervorrufen von Muskelzuckungen. Obwohl prinzipiell eine segmentale Elektrodenanlage nicht erforderlich ist, kann diese die Wirkung verstärken.

Die mittelfrequente Stimulation Der Bereich zwischen 10 Hz und 50 Hz wird als Mittelfrequenz bezeichnet. Diese Frequenzen haben sowohl hoch- als auch niederfrequente Charakteristika, sind aber insgesamt in beide Richtungen hin weniger effektiv.

Klinische Verwendung der mittelfrequenten Stimulation Klinisch wird der mittelfrequente Bereich für die Jenkner-Nervenblockaden verwendet (s.d.). Die Neuropeptidausschüttung, Rezeptoren und die Abhängigkeit von der Frequenz wird in Abb. 2 dargestellt.

TENS – Transkutane Elektrische Nervenstimulation

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Abb. 2. Frequenzspezifische Opioid-Freisetzung (nach Han et al. 2003). EA Electroanalgesia, EM Endomorphin, ENK Enkephalin, EP Endorphin, DYN Dynorphin

Frequenzkombination: Die Han-Stimulation Die gut dokumentierten Wirkungsbereiche der hoch- und niederfrequenten Stimulation bewegten J.S. Han zu dem Versuch, durch eine Frequenzkombination einen kombinierten, synergistischen Effekt zu ereichen. Er entwickelte die „Dense-Disperse Stimulation“, die heute weitgehend „Han-Stimulation“ genannt wird. Ein Wechsel der Frequenzen 2 Hz und 100 Hz alle 3 Sekunden bewirkt hierbei eine stärkere Analgesie durch die Ausschüttung der Neuropeptide der hoch- und niederfrequenten Stimulation und ihre teilweise simultane Wirkung (Han 2003; Abb. 3). Die Han-Stimulation ist in einigen TENS-Geräten realisiert worden (Abb. 1). Die Wirkung von Frequenzkombinationen und speziell der Han-Stimulation ist in Untersuchungen positiv beurteilt worden (Chen et al. 1994; Chiu et al. 1999; Hamza et al. 1999; Wang et al. 1998).

Abb. 3. Häufige Überschneidungen der Wirkungsperiode von Enkephalin (Enk) und Dynorphin (Dyn) beim Frequenzwechsel alle 3 Sekunden (obere Kurve) im Gegensatz zum Frequenzwechsel alle 6 Sekunden (untere Kurve) (nach Han et al. 2003)

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Klinischer Einsatz der Han-Stimulation Die Han-Stimulation eignet sich als primäre Stimulation für fast alle Schmerzindikationen. Dies vereinfacht die Anwendung der TENS erheblich. Es ist darauf zu achten, dass in der niederfrequenten Phase Muskelzuckungen auftreten, nicht aber in der hochfrequenten Phase.

Frequenzmodulationen, Burst-Stimulation und Stochastik Einige Patienten empfinden die Muskelzuckungen der niederfrequenten Stimulation als unangenehm. Durch die Burst-Stimulation, bei der einzelne Impulse in Impulspakete zerschnitten werden, entsteht eine andere und etwas angenehmere Wahrnehmung der Stimulation. Ein therapeutischer Vorteil entsteht wahrscheinlich nicht (Eriksson et al. 1979). Frequenzmodulationen, bei denen ein größerer Frequenzbereich innerhalb einer gewissen Zeit durchlaufen wird sowie stochastische Impulsfolgen, sollen in erster Linie einer Habituation und einem Wirkungsverlust entgegenwirken. Eine Habituation gegenüber der analgetischen Wirkung der elektrischen Stimulation ist in der Literatur beschrieben (Chang et al. 2002; Pomeranz, Niznick 1987). Über die Effektivität dieser Programme gibt es nur wenig Informationen.

Die Intensität Eine stärkere Intensität hat ein größeres analgetisches Potential (Garrison, Foreman 1996; Wang et al. 1997; Woolf 1979). Sandkühler 2000 zufolge wirkt die TENS vermutlich im Sinne einer Langzeithemmung der synaptischen Übertragung, wenn bei chronischen Schmerzpatienten durch wiederholte niederfrequente und intensive Reizung auch AE-Fasern erregt werden. (Allerdings hängt es vom Zustand des postsynaptischen Membranpotentials ab, ob die periphere Stimulation zur long term potentiation [LTP, bei Depolarisation] der spinalen dorsalen Neurone beiträgt und somit keine analgetische Wirkung, bzw. sogar eine Schmerzverstärkung verursacht, oder zur long term depression [LTD] mit dem gewünschten analgetischen Effekt [Sandkühler 2001].) Diese variable Balance zwischen Aktivierung und Inhibierung wird auch von Randic et al. 1993 beobachtet. Neben den üblicherweise verwendeten Intensitäten (hochfrequente Stimulation: deutlich wahrnehmbar, aber nicht-schmerzhaft; niederfrequente Stimulation: etwas höhere Intensität um Muskelzuckungen zu provozieren, aber nicht schmerzhaft) besteht also die weitere Möglichkeit, mittels der Reizung der AEFasern leicht schmerzhaft zu stimulieren. Diese Stimulationsform sollte bei sehr starken oder therapierefraktären Schmerzen eingesetzt werden.

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Die Impulsform Die überwiegend verwendeten Rechteckimpulse haben den Vorteil eines schnellen Impulsanstieges und einer höheren Eindringtiefe in das Gewebe. Die früher verwendeten monophasischen Impulse sind aufgrund ihrer hautreizenden Eigenschaft größtenteils durch biphasische Impulse ersetzt worden. Diese werden entweder als biphasisch symmetrisch, biphasisch asymmetrisch, oder als monophasisch mit negativer Nachschwankung beschrieben. Über die klinische Relevanz der unterschiedlichen biphasischen Impulskonfigurationen ist wenig bekannt. Unausbalancierte Impulse begünstigen infolge erhöhter Gleichstromanteile den Aufbau von Ionenwällen um die Elektrode mit der Gefahr der Hautirritation. Diese können bei Langzeitanwendern und hautsensiblen Patienten ein erhebliches Problem darstellen. Von deutlichem Nutzen sind hier hautschonende Impulsformen wie die Ausgangskurzschlussschaltung „AKS“, bei der nach jedem Impuls zwischen Gerät und Haut kurzgeschlossen und das wie ein Kondensator reagierende Gewebe entladen wird.

Sonderformen der TENS Die Kaada-Stimulation ist eine nichtsegmentale Stimulation mit 2 Hz und standardisierter Elektrodenanlage. Die Kathode wird an der dominanten Hand zwischen dem 1. und 2. Metacarpale, die Anode auf die ulnare Handkante gegenüber angelegt (Abb. 4). Sie erhöht die Schmerzschwelle und führt zur Temperatur-

Abb. 4. Kaada-Stimulation

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erhöhung an den Akren; sie wurde deshalb auch außerhalb der Schmerztherapie zur Wundheilungsförderung eingesetzt (Kaada 1984). Die analgetische Wirkung ist der lokalen und segmentalen Anlage unterlegen; dafür bietet sie praktische Vorteile bei multilokalen Schmerzerkrankungen sowie bei gehandicapten Patienten, die einer einfachen Elektrodenanlage bedürfen. Die Jenkner-Stimulation dient der elektrischen Nervenblockade. Sie kann bei relativ oberflächlich liegenden sensiblen Nerven durchgeführt werden. Dabei werden mittelfrequente monophasische Impulse verwendet, die unter der Anode eine Hyperpolarisation und Erhöhung der Depolarisationschwelle verursachen. Es wird eine relativ hohe Intensität und Stromdichte benötigt, die durch Verwendung einer kleinen Elektrode und dichten Anlage an den Nerven erreicht wird. Oft muss die Anode manuell noch in Richtung Nerv oder Ganglion gedrückt werden, was durch spezielle Elektroden mit Griffleiste wie beim Pierenblock vereinfacht wird. Die große Kathode dient nur zur Schließung des Stromkreises und wird meist der Anode gegenüber angelegt. Nach ausreichender Einweisung kann die Blockade vom Patient selbständig zu Hause durchgeführt werden. Das Indikationsspektrum ist analog zu den Möglichkeiten der Nervenblockaden groß. Für genauere Informationen sei hier auf die von Jenkner (1992) verfasste Literatur verwiesen.

Die Elektrodentypen Am häufigsten werden selbstklebende Elektroden verwendet. Sie sind mit leitendem Gel versehen und werden direkt auf die Haut geklebt. Eine vorherige Hautreinigung verlängert ihre Lebensdauer erheblich. Für die Langzeitverwendung bieten sich Silikongummielektroden an, die eine Haltbarkeit von ca. 2 Jahren haben. Diese Elektroden müssen vor Gebrauch mit Elektrodengel bestrichen und mittels Heftpflaster befestigt werden. Für manche Indikationen (z.B. Polyarthritiden oder Polyneuropathien) im Hand oder Fußbereich eignen sich Socken- oder Handschuhelektroden. Vor dem Anziehen sollte die Haut leicht befeuchtet werden. Schmerzsymptome im Bereich des kleinen Beckens können durch anale bzw. vaginale Sondenelektroden behandelt werden, die mit einem leitenden Gleitgel versehen werden.

Elektrodenanlage Die lokale und segmentale Elektrodenanlage hat den besten analgetischen Effekt (Chesterton et al. 2003; Gottschild 1999; White et al. 2000). Alternativ kann eine weiter proximal gelegene Anlage über dem möglichst superfiziell gelegenen Nerven oder paravertebral über der ipsilateralen Nervenwurzel erfolgreich sein. Die Gegenelektrode (meist Anode) verbleibt dann im Schmerzareal oder wird über die kontralaterale Nervenwurzel angebracht. Ge-

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lenke werden möglichst durch Anlage auf den medialen und lateralen Gelenksspalt „querdurchflutet“. Falls eine ipsilaterale Anlage nicht möglich ist, kann eine kontralaterale Anlage erfolgreich sein, bei der die gesunde Seite wie die Erkrankte behandelt wird. Der Abstand der Elektroden bestimmt das von dem Strom durchflossene Behandlungsareal und beeinflusst auch die Ausbreitung des Stromes in die Tiefe des Gewebes: je geringer der Abstand, um so weniger penetriert der Strom.

Elektrodengröße Prinzipiell sollte die Elektrodengröße der Größe des Schmerzareals angepasst sein. Die applizierte Stromdichte wird entscheidend durch die Größe der Elektroden bestimmt. Kleinere Elektroden haben eine größere Stromdichte, führen zur stärkeren Innervation der Nerven und wirken in einer tieferen Gewebeebene. Sie werden also bei tieferen Schmerzlokalisationen bevorzugt sowie bei der niederfrequenten Stimulation verwendet, die eine etwas stärkere Intensität erfordert. Größere Elektroden führen zum vermehrten spinalen Input durch eine größere Anzahl von innervierten Nerven im mehr oberflächigen Gewebeniveau. Sie eignen sich bei oberflächigen Prozessen und eher hochfrequenter Stimulation.

Elektrodenpolung Die Elektrodenpolung spielt bei nicht völlig ausbalancierten biphasischen Impulsen eine Rolle. Bewährt hat sich bei der lokalen Anlage die Platzierung der Anode auf dem Hauptschmerzpunkt bzw. Schmerzursprung und die der Kathode auf dem distalen Punkt der Schmerzausstrahlung bzw. der gegenüberliegenden Gelenksseite.

Dosierung und Behandlungszeitraum Eine TENS-Behandlung hat eine ideale Dauer von ca. 30 Minuten und kann mehrmals am Tag wiederholt werden. Akute bzw. neuropathische Schmerzen erfordern teilweise erhebliche Stimulationszeiten. Aufgrund der Habituation wird von Dauerstimulationen abgeraten. Bei der TENS sind längere Behandlungszeiträume häufig. Osiri et al. 2001 in ihrem Cochrane Review stellen fest, dass sich die Wirkung der TENS bei der Osteoarthritis des Knies nach einer Stimulation von weniger als 4 Wochen nicht signifikant von einer Plazebo-Stimulation unterscheidet. Eine TENS-Behandlung von mindestens 4 Wochen dagegen resultierte in einer gegenüber der Plazebogruppen signifikanten Schmerzerleichterung. Konsequenterweise fordern die Autoren Behandlungsprotokolle von mindestens 6 Wochen, um die TENS-Wir-

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B. D i s s e l h o f f

kung beurteilen zu können. Marchand et al. 1993 sowie McQuay et al. 1997 stellen ergänzend dazu fest, dass sich der Effekt der TENS beim chronischen Schmerz langsam aufbaut.

Kombination mit anderen Therapien Die TENS hat ihre besten Erfolge als Teil einer multimodalen Therapie (Sjölund et al. 1990). Diese kann, wie bei gleichzeitiger Opioid-Therapie, nicht nur synergistisch wirken, sondern sich gegenseitig in der Wirkung potenzieren. In Kombination mit TENS kann die Morphindosis ohne analgetische Verluste gesenkt werden (Chiu et al. 1999; Rosenberg et al. 1978; Wang et al. 1998; Yuan et al. 2002). Da durch die niederfrequente TENS eine Aktivierung der opioidsensiblen µ- und E-Rezeptoren erfolgt (Han 2003), ist die zugrundeliegende Physiologie nachvollziehbar. Sobald eine Morphiumtoleranz auftritt, verliert auch die niederfrequente TENS bei der sekundären Hyperalgesie an Wirkung, im Gegensatz zur hochfrequenten Stimulation, die sich dann zur Anwendung empfiehlt (Sluka et al. 2000). Chabal 1999 weist auf die Wirkungsverstärkung zentral wirkender Pharmaka durch TENS als zukünftiges Forschungsgebiet hin und nennt als Beispiel Antidepressiva, die in der Kombination mit TENS einen stärkeren analgetischen Effekt haben. Sluka et al. 2002 untersuchten das Clonidin, das in Kombination die TENS-Wirkung deutlich verstärkt. Ähnliches stellen Motta et al. 2002 beim Captopril fest.

Effektivität und Responderrate Zu Beginn der Therapie liegt die durchschnittliche Effektivitätsrate bei 45–80%; in der Langzeittherapie vermindert sie sich nach Verdoux et al. nach 3 Jahren auf 35% (Verdouw et al. 1995). Eine kontinuierliche Betreuung des Patienten und ggf. Korrekturen des Therapieregimes können den Behandlungserfolg deutlich steigern. Eine Reihe Patienten reagieren als komplette bzw. partielle primäre Non-Responder gegenüber einzelnen elektrischen Parametern (Greif et al. 2002; Johnson et al. 1989). Als Ursache werden unterschiedliche Faktoren diskutiert. Park et al. 2002 finden erhebliche genetische Einflüsse bei der Maus, die sich auf den Effekt der hoch- und niederfrequenten Stimulation auswirken. Nach Han 2003 spielt die individuelle Freisetzung des Anti-Opioids Cholezystokinins (CCK-8) im ZNS eine Rolle; im Tierversuch zeigten Ratten, die als Non- oder Low-Responder reagierten, eine erhöhte CCK-8 Ausschüttung (Liu et al. 1999). CCK-8 wird vor allem durch eine höherfrequente Stimulation getriggert. Eine Möglichkeit, frequenzspezifischen Non-Respondern zu begegnen, besteht in der Verwendung von Frequenzkombinationen wie der Han-Stimulation sowie dem Erproben unterschiedlicher Parameter im Laufe der Therapie.

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TENS ist eine individuelle Therapie Sie erfordert, wie von vielen Autoren festgestellt, eine individuelle Parameterwahl sowie eine längerfristige Betreuung (Flöter 1986; Johnson et al. 1991a, 1992; Sjölund 1993). Kawamura et al. 1997 erzielen ihre guten Ergebnisse beim Phantomschmerz durch Testung mehrerer Elektrodenanlagen vor der eigentlichen Behandlung. Lampl et al. 1998 können durch eine längere und intensivere Einweisungsphase und Begleitung des chronischen Schmerzpatienten das Resultat der Behandlung von 44% auf 55% steigern. Es besteht nach Johnson et al. 1993 kein Zusammenhang zwischen soziologischen oder psychologischen Variablen und dem Erfolg der Behandlung; ebensowenig zum Schmerztyp, elektrischen Parametern und auch nicht zur persönlichen Erwartungshaltung des Patienten. Hingegen finden Kreczi et al. 1987 sowie Lampl et al. 1998 signifikante Variablen aus verschiedensten Bereichen, die Einfluss auf das Therapieergebnis der TENS bei chronischen Schmerzpatienten haben. Dazu gehören z.B. sehr starke Schmerzen, wiederholt gescheiterte Therapien, Analgetika-Missbrauch, Depressionen und soziale Isolation. Auch Widerström et al. 1992 und Widerström-Noga et al. 1998 finden unter den NonRespondern erhöhte Angst- und Depressionswerte.

TENS in Studien und Praxis In allen Reviews und Metaanalysen wird die mangelnde Qualität der publizierten Arbeiten beklagt. Immer wieder können aufgrund dieser Probleme in Metaanalysen keine klaren Schlussfolgerungen gezogen werden (Carroll et al. 1996). Wie alle physikalischen Therapien leiden TENS-Studien an Verblindungsproblemen. Andere Aspekte, wie Gerätetechnik und -qualität werden überhaupt nicht berücksichtigt. Johnson stellt 2001 zum akuten Schmerz fest: es besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen den Ergebnissen systematischer Reviews und der klinischen Erfahrung. Dieses gilt im gleichen Maße für den chronischen Schmerz. Unabhängig von der akademischen Diskussion ist die Akzeptanz der TENS bei Therapeuten und Patienten sehr hoch. Auch in Studien tritt immer wieder die Situation ein, dass trotz negativer Studienergebnisse ein großer Teil der Probanden die Therapie fortsetzen möchte (Deyo et al. 1990; Harrison et al. 1987; Thomas et al. 1988).

Ökonomische Aspekte TENS führt zur Einsparung bei der analgetischen Co-Medikation (Bjordal et al. 2003; Eriksson et al. 1979; Fried et al. 1984). Chabal et al. 1998 zeigen in ihrer Analyse von 376 chronischen Schmerzpatienten mit mindestens 6-monatiger TENS eine Reduktion der Medikamentenkosten um ca. 55%, neben der Einsparung weiterer physikalischer Therapien. Fishbain et al. 1996 beschreiben darüber

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hinaus den positiven Einfluss der Therapie auf eine Reihe sozialer Faktoren im privaten und beruflichen Bereich.

TENS-Indikationen Nach der Analyse von Johnson et al. 1991a ist kein Schmerz prinzipiell TENSrefraktär. Im Folgenden werden einige repräsentative Indikationen besprochen und ausgewählte Literatur genannt. Die Abbildungen stellen jeweils nur eine Anlagemöglichkeit dar.

Kopfschmerzen Migräne Bronfort et al. 2004 in ihrem Cochrane Review sehen eine Wirksamkeit der TENS in der Prophylaxe und der Kombinationstherapie bei Migräne und Spannungskopfschmerz. Pothmann et al. 1989 konnten mit hochfrequenter Stimulation und mit paravertebraler, suboccipitaler oder frontotemporaler Elektrodenanlage gute Erfolge erzielen. Im akuten Anfall konnte mit niederfrequenter Stimulation in 40% der Fälle eine weitgehende bis vollständige Besserung innerhalb von 30 Minuten erreicht werden.

Spannungskopfschmerz Pothmann et al. erreichten beim kindlichen Spannungskopfschmerz nach 12 Wochen hochfrequenter Therapie des M. trapezius eine Responderrate von 75%. Bei unzureichendem Erfolg wurde niederfrequent occipital stimuliert (Abb. 5; Pothmann, v. Frankenberg 1995).

Rückenschmerz Während im Review von Pengel et al. 2002, das sich auf mehrere konservative Therapien beim subakuten unteren Rückenschmerz bezieht, TENS kein Effekt bescheinigt wird, konnten Bertalanffy et al. 2005 bei akuten, krankenwagenpflichtigen Rückenschmerzen eine schnelle und effektive Schmerzlinderung durch TENS noch beim Transport feststellen. Als Parallele dazu: in einer kürzlich veröffentlichten kontrollierten Studie mit 100 Patienten, die an einer akuten Nierenkolik litten, beurteilten Mora et al. 2006 TENS als effektive Maßnahme während des Transportes zum Krankenhaus. Beim chronischen Rückenschmerz wird häufig das Cochrane Review von Milne et al. 2002 und die Studie von Deyo et al. 1990 zitiert, die beide keine TENS-Wirkung konstatierten. Dem stehen Studien wie von Grant et al. 1999 entgegen. Auch die Analyse von Fishbain et al. 1996, die einen größeren Anteil

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Abb. 5. 2-Kanal paravertebrale Anlage beim Spannungskopfschmerz

(> 30%) von Rückenschmerzpatienten beinhaltet, zeigt gute Ergebnisse. Chiu et al. 2005 konnten bei 218 Patienten mit chronischem HWS-Syndrom unter hochfrequenter Stimulation in Kombination mit Infrarotlicht auch beim Follow-up nach 6 Monaten in Bezug auf Schmerz und anderen Parameter signifikante Erfolge im Vergleich zur Kontrollgruppe erreichen. Da Rückenschmerzen öfters neuropathische Schmerzkomponenten aufweisen, ist auf eine ausreichende Stimulationszeit zu achten. Möglichkeiten der Elektrodenanlage sind in Abb. 6 und 7 dargestellt.

Myofasciale Triggerpunkte In der Studie von Ardic et al. 2002 zeigte die TENS eine signifikante Schmerzreduktion und Steigerung der Beweglichkeit bei Patienten mit Triggerpunkten des oberen Trapezius bis zum Follow-up nach drei Monaten.

Gelenkschmerzen Eine unterschwellige Stimulation, die aus Verblindungsgründen durchgeführt wurde, zeigte bei der Coxarthrose eine gute Wirkung (Saller et al. 1988). Während das Philadelphia Panel 2001 für eine Reihe von rehabilitativen Maßnahmen wie Wärmetherapie, Massage, Ultraschall in seiner Metaanalyse für die Osteoarthritis des Knies keine klinische Relevanz feststellen konnte, so werden doch 2 Therapieformen, TENS und Übungen, als förderlich empfohlen (Abb. 9). Osiri et al. 2001 beurteilten in ihrem Cochrane Review TENS in Bezug auf Schmerz

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Abb. 6. 2-Kanal paravertebrale Anlage im HWS/BWS-Bereich

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Abb. 7. 2-Kanal paravertebrale Anlage im LWS-Bereich

und Steifheit bei der Gonathrose als effektiv, ebenso wie Paker et al. 2006 in einer Vergleichstudie mit intraartikulären Hyaluronsäureinjektionen.

Rheumatoide Arthritis Das Ottawa Panel Review 2004 empfiehlt die TENS bei Schmerz und Schwellung im Handbereich. In diese Empfehlung fließt das Cochrane Review von Brosseau et al. 2003 ein, das ebenfalls die TENS zur Schmerzbehandlung bei dieser Indikation geeignet sieht. Beide Empfehlungen sehen nachweisbare Resultate der niederfrequenten Stimulation, während von Patientenseite her die hochfrequente Stimulation der niederfrequenten vorgezogen wird. Durch die Verwendung von Handschuhelektroden besteht hier die gute Möglichkeit, die Effizienz der Behandlung in diesem Bereich noch zu intensivieren. In einem neuen Cochrane Review von Pelland et al. 2005, das sich mit der Frage der Muskelkräftigung durch die elektrische Stimulation beschäftigt, wird bei rheumatischen Patienten mit einer Muskelatrophie der Hand ein positiver Effekt bestätigt. Das Review stützt sich allerdings nur auf eine RCT, die allen Einschlusskriterien standhielt.

TENS – Transkutane Elektrische Nervenstimulation

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Neuralgien In der Studie von Bloodworth et al. 2004 zeigen sich signifikante Unterschiede durch verschiedene Stimulationsmodi und Elektrodenplatzierungen bei Patienten mit radikulären Schmerzen, bei denen Carrol, Badura 2001 guten Erfolg mit einer kurzen, fokalen Intensivstimulation aufzeigen.

Herpes zoster Neuralgie Die akute Herpes zoster Neuralgie spricht auf die hochfrequente Stimulation und segmentale Anlage gut an (Linn, Zabel 1994). Auf eine ausreichende Dosierung ist zu achten. Auch Jenkner-Blockaden können sehr hilfreich sein (Jenkner 1992).

Periphere symptomatische Polyneuropathie Die kleinen, aber interessanten Studien von Kumar et al. 1997 und 1998 sowie Forst et al. 1996 und 2004 zeigen Erfolge, die bei diesen, auch für den Therapeuten oft herausfordernden Beschwerden, ermutigend sind. Wichtig ist die Feststellung, dass TENS in der Kombination mit Amitriptylin scheinbar mehr Patienten er-

Abb. 8. Schultergelenksschmerzen. Anode auf den proc. coracoideus, Kathode gegenüber

Abb. 9. Gonathrose. Anode auf den medialen, Kathode auf den lateralen Kniegelenksspalt

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Abb. 10. Sprunggelenkbehandlung nach Supinationstrauma

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Abb. 11. Stimulation bei Polyneuropathie im Unterschenkelbereich

reicht, als die rein medikamentöse Therapie (Kumar et al. 1998). Die Deutsche Diabetes Gesellschaft empfiehlt in ihren Leitlinien 2002 zur Behandlung der symptomatischen sensomotorischen diabetischen Neuropathie die TENS als adjuvante Schmerztherapie. Neben den selbstklebenden Elektroden (Abb. 11) kommt für Patienten mit geeigneter Hautsituation und der Möglichkeit eine sorgfältige Hautpflege wahrzunehmen das Wasserbad-TENS in Frage (Abb. 12). Dabei wird in 2 wassergefüllte Plastikeimer jeweils eine Elektrode (Silikongummielektrode) hineingehängt. Die Behandlungszeit kann auf ca. 15 Minuten verkürzt werden; die Polung wird von Sitzung zu Sitzung gewechselt.

Deafferentierungsschmerz Kawamura et al. 1997 geben in ihrer unkontrollierten Arbeit beim Phantomschmerz gute Ergebnisse an. Sie testen mehrere Elektrodenanlagen vor der eigentlichen Behandlung aus und bestätigen so in der Praxis die immer wieder von Autoren betonte Notwendigkeit, auch vor allem bei dieser Indikation verschiedene Anlagen (und Parameter) auszuprobieren.

TENS – Transkutane Elektrische Nervenstimulation

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Abb. 12. Wasserbad-TENS

Traumatischer Schmerz Punktionsschmerzen können durch eine hochfrequente lokale Stimulation reduziert werden (Lander, Fowler-Kerry 1993). Oncel et al. 2002 stellen einen positiven Effekt bei unkomplizierten Rippenfrakturen, Ordog et al. 1987, allgemein bei akuten traumatischen Schmerzen unter lokaler Elektrodenanlage fest. Hier ist die hochfrequente Stimulation gegenüber den meist nicht tolerablen Muskelzuckungen vorzuziehen.

Postoperativer Schmerz Likar et al. 2001 konnten durch eine zu Verblindungszwecken unterschwellig durchgeführte 80 Hz Stimulation, die gegenüber der sensorischen Stimulation zu deutlichen Wirkungsverlusten führt, nach Eingriffen im Schultergelenksbereich in den ersten 3 postoperativen Tagen zu bestimmten Zeiten einen deutlich reduzierten Schmerzscore und Analgetikaverbrauch in der Verumgruppe erzielen. Auch Morgan et al. 1995, die mit zunehmender Stimulationsintensität bessere Erfolge ermittelten, erreichten mit hochfrequenter Stimulation eine Schmerzreduktion von 50%, mit niederfrequenter Stimulation von 38% bei der Arthrographie der „frozen shoulder“. In der Metaanalyse von Bjordal et al. 2003 zeigen die Studien, in denen adäquat stimuliert wurde (starke, nicht schmerzhafte Intensität und eine Frequenz zwischen 1–8 Hz oder 25–150 Hz), einen hochsignifikanten Einfluss (p < 0,0002) auf den postoperativen Analgetikabedarf.

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B. D i s s e l h o f f

Für den postoperativen Spitzenschmerz wie den Hustenschmerz nach Bypass-OP scheint TENS nicht ausreichend zu sein (Forster et al. 1994), obwohl Erdogan et al. 2005 eine Analgetikareduktion und bessere Respirationswerte in den ersten 5 Tagen nach Thorakotomie feststellten. Benedetti et al. 1997 kommen zu dem realistischen Ergebnis, dass die Stärke der TENS in der Behandlung schwacher bis moderater postoperativer Schmerzen liegt.

Primäre Dysmenorrhoe Verschiedene Elektrodenanlagen (dorsal, abdominal, Akupunkturpunkte) können erfolgreich sein. Neben der Schmerzreduktion wurde auch ein verbesserter Fluss und eine geringere Müdigkeit als Folge der TENS beschrieben (Dawood, Ramos 1990; Kaplan et al. 1997). Proctor et al. 2002 stellten in ihrem Cochrane Review fest, dass die hochfrequente Stimulation erfolgreich sein kann, was durch die Arbeit von Milsom et al. 1994 bestätigt wird. Der Effekt setzt relativ schnell ein und hält für längere Zeit an (Hedner et al. 1996). Ein direkter Einfluss auf die intrauterinen Druckverhältnisse kann nicht nachgewiesen werden (Hedner et al. 1996; Milsom et al. 1994).

Angina pectoris Beim visceralen Schmerz wird die analgetische TENS-Wirkung als geringer eingeschätzt (Navarro Nunez, Pacheco Carrasco 2000; Sylvester et al. 1986). Der Angina pectoris Schmerz als typischer viszeraler Schmerz stellt hier ein Gegenbeispiel dar (Börjesson 1999). Börjesson et al. 1997 zufolge scheint TENS bei der Angina pectoris vor allem eine Ischämiereduktion zu bewirken und erst sekundär eine Schmerzreduktion. Nach Theres et al. 2003 ergibt sich, bedingt u.a. durch Abnahme des myokardialen Sauerstoffbedarfs, eine Reduktion der Anfallshäufigkeit und Zunahme der Belastungsfähigkeit des Patienten. Die Arbeitsgruppe zur „Behandlung der refraktären Angina pectoris“ der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie empfiehlt als adjuvante Therapie der Wahl die Neurostimulation durch TENS und spinal cord stimulation (SCS).

Durchblutungsstörungen Eine lokal erhöhte Hauttemperatur stellte sich bei niederfrequenter motorischer Reizung ein (Cramp et al. 2000, 2002). Kjartansson et al. 1990 konnten bei intensiver hochfrequenter Stimulation eine signifikante Durchblutungsverbesserung von ischämischen Hautlappen erzielen, wobei sich der Effekt durch wiederholte Stimulation steigerte. Bei Diabetikern mit reduzierter Hautperfusion finden Peters et al. 1998 im Gegensatz zu gesunden Probanden eine Durchblutungsverbesserung und Forst et al. 1997 beobachten eine gesteigerte microvaskuläre Blutversorgung nach einer 4-Hz Sti-

TENS – Transkutane Elektrische Nervenstimulation

261

mulation. Der durchblutungssteigernde Effekt kann auch zur Wundheilungsförderung genutzt werden (Gardner et al. 1999). Dabei werden die Elektroden möglichst kranial und kaudal der Wunde im gesunden Bereich angelegt.

Kontraindikationen – Patienten mit Herzschrittmacher oder anderen elektronischen Implantaten (Crevenna et al. 2001) – Schwere Herzrhythmusstörungen in der Anamnese – Schwangerschaft – Wunden und Hautirritationen im Elektrodenbereich – Metallimplantate bei Impulsen mit Gleichstromanteil

Nebenwirkungen – – – –

Schmerzverstärkung Hautirritationen Epileptische Reaktionen Karotissinus- oder Larynxreaktionen bei Anlagen im Halsbereich

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Kneipp-Therapie bei Schmerz R. M. BACHMANN

Was kann die Kneipp-Therapie bewirken? Unter Kneipp-Therapie versteht man ein nach ihrem Urheber, Sebastian Kneipp (1821–1897), benanntes Therapie-Konzept, das nicht nur wissenschaftlich fundiert ist, sondern auf über 100 Jahre segensreiche Anwendung zurückblicken kann. Innerhalb der Medizin (Gesamtmedizin = Schulmedizin und Naturheilverfahren) hat es zwischenzeitlich einen festen und anerkannten Platz erreicht. Die ineinander greifenden Einzelkomponenten, die so genannten Säulen, dieses ganzheitlichen Therapiekonzeptes für den Bereich der Vorbeugung, der Nachbehandlung und der Behandlung von vielen akuten und vor allem chronischen Krankheitsbildern sind: – – – – –

Ordnungstherapie Ernährungstherapie Bewegungstherapie Hydrotherapie – Thermotherapie (Wasserheilkunde) Phytotherapie (Behandlung mit Pflanzen)

Die Kneipp-Therapie ist anzuwenden bei Zivilisationskrankheiten und den so genannten funktionellen Krankheitsbildern, das heißt solchen, bei denen meist keine oder noch keine organische Störungen und Organveränderungen nachweisbar sind. Um solche organischen Störungen oder Ursachen wie Infektionen, Organveränderungen oder operationsbedürftige Erkrankungen auszuschließen, muss also jeder Kneipp-Behandlung eine gründliche Untersuchung und Wissenschaftliche Diagnostik durch den anwendenden Arzt vorausgehen! Die Kneipp-Therapie empfiehlt sich: 1. zur Vorbeugung gegen Krankheiten, z.B. Erkältungen, zur Leistungssteigerung, zur Minderung der Stressanfälligkeit im Rahmen alltäglicher Gesundheitspflege. Die Originalschriften von Kneipp (z.B. „So sollt Ihr leben“) erfül-

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len noch heute größtenteils die Ansprüche an eine zeitgemäße Salutogenese und zeichnen sich durch ihre gute Praktikabilität unter häuslichen Alltagsbedingungen aus. 2. zur Behandlung von – Herz- und Kreislaufstörungen, hohem und niedrigem Blutdruck (Orthostase-Syndrom), Durchblutungsstörungen der Arterien (AVK) und Venen sowie des Lymphsystems. – nervösen Störungen (z.B. körperliche und geistig-seelische Erschöpfungszustände bei Überlastung, Niedergeschlagenheit, depressive Verstimmungszustände, psychosomatische Erkrankungen, Schlafstörungen) – Stoffwechselstörungen und Störungen der Drüsenfunktionen (z.B. Diabetes mellitus) – Entzündlichen und nichtentzündlichen Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates: Arthritis (Gelenkentzündung), Arthrose (Gelenkverschleiß), Osteoporose (Knochenentkalkung), Gicht und Weichteilrheumatismus, adjuvant bei Fibromyalgie, CFS usw. – Erkrankungen der Bauchorgange (z.B. Koliken ohne Fieber) Reizmagen, Reizdarm – Nieren-, Blasen-, Prostataerkrankungen – Frauenkrankheiten (z.B. Periodenstörungen, chronische Entzündungen der Beckenorgane, Störungen in den Wechseljahren) – Erkrankungen der Atemwege (chronische Entzündungszustände der Luftwege). Nicht mehr angewendet werden dürfen Kneippsche oder sonstige naturheilkundliche Behandlungsmethoden dort, wo schwerwiegende Infektionskrankheiten und operationsbedürftige Krankheitsbilder vorliegen. In vielen Fällen können jedoch Kneippsche Anwendungen als Hilfsmethoden adjuvant wirksam eingesetzt werden (bei Fieberzuständen z.B. Wadenwickel und Serienwaschungen). Hier ist ebenfalls eine genaue Rücksprache mit dem behandelnden Arzt erforderlich. Die Kneipp-Wassertherapie kennt über 120 verschiedene Anwendungen. Die individuell richtige Auswahl sollte ein erfahrener Arzt (Badearzt, Arzt mit Zusatzbezeichnung „Naturheilverfahren“, „Physikalische Therapie“) treffen, und die praktische Behandlung sollte von fachkundigen Personen (Kneipp-Bademeistern) durchgeführt werden. Dies geschieht u. U. am besten im Rahmen einer Kneipp-Kur. Diese individuell erfahrenen Anwendungen können dann zu Hause im Sinne eines alltäglichen Gesundheitsprogrammes zur Aufrechterhaltung eines hohen Gesundheitsniveaus bzw. zur Rezidivprophylaxe erfolgreich fortgeführt werden.

Grundlagen der Kneippschen Wasseranwendungen Die Grundprinzipien der hydrotherapeutischen Anwendungen und die Voraussetzungen für eine positive Reaktion bzw. Regulation sind:

Kneipp-Therapie bei Schmerz

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1. Akute Krankheitsprozesse erfordern eher Kaltreize, chronische Krankheitsprozesse sind eher durch Warmreize und schonende Wechselreize zu behandeln. 2. Wohlbefinden als wichtigster Parameter nach einer richtig dosierten Wasseranwendung (Gegenbeispiel einer Fehlreaktion wäre Herzklopfen nach einem Vollbad bei Hypotonie / Orthostasesyndrom. Kältegefühl nach einer kalten Anwendung auf eine kalte Haut!). 3. Jeglicher Kaltreiz darf nur am warmen Körper und auf warmer Haut verabreicht werden (ggf. Vorerwärmung aktiv durch Bewegung oder passiv durch warmes Wasser, Bettwärme). 4. Nach jeder Anwendung ist die Wiedererwärmung wichtig, aktiv durch Bewegung nach kleineren Anwendungen (Reizstärke!) bzw. passiv durch Bettwärme (Reizstärke II-III) nach stärkeren Anwendungen. 5. Keine Anwendung unmittelbar vor oder nach den Mahlzeiten! (Zeitabstand mindestens ½ Stunde!). Je weiter von der Körpertemperatur (ca. 37 °C) nach oben oder unten entfernt, je größer die behandelte Haut-/Körperfläche und je länger die Dauer der Anwendung, desto stärker ist der zu verarbeitende Reiz für den Organismus (Tabelle 2). Auch die gewählte Tageszeit spielt wegen der wechselnden Körpertemperatur eine Rolle (Tabelle 1). Die körperliche und geistig-seelische Konstitution ist bei der Stärke der Anwendungen ebenfalls zu berücksichtigen: –





Astheniker sind meist stärker wärmebedürftig. Hier werden Teilbäder und kürzere kleinere temperierte Anwendungen bevorzugt (z.B. Wechselarm-, -Fußbad, Wechselarm-, -Knieguss). Athletiker sind häufig kälte- und wärmesensibler als erwartet. Hier werden meist temperierte Anwendungen ohne extreme Warm- oder Kaltreize gut vertragen. Pykniker und Plethoriker vertragen meist kräftige, größere Kaltanwendungen. Häufig verlangen sie intuitiv danach (Beinwickel, Wechselschenkel-Unterguss, Leib- oder Kurzwickel).

Tabelle 1. Die richtige Tageszeit für die jeweiligen Anwendungen Bevorzugte Zeit

Anwendung

Morgens/früh im Bett

z.B. Ganzwaschung, Wickel, Heusack

Vormittag/später Vormittag

Güsse/Bäder

Früher Nachmittag

Teilbäder (z.B. an Arm, Fuß)

Spätnachmittag (15.00–17.00)

ggf. Schwimmen

Anmerkung: Genaue Angaben siehe bei der Darstellung der einzelnen Anwendungen – im Übrigen wie jede Anwendung nach ärztlicher Verordnung!

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„Lernet das Wasser und seine Anwendungen und Wirkungen recht kennen und es wird Euch Hilfe bringen, wo Hilfe noch möglich ist. Je gelinder, je schonender die Anwendungen gemacht werden, desto besser und wirksamer. Der Natur an die Hand gehen, damit sie ihre Dienste wieder von selber versehen kann.“ (Sebastian Kneipp) Die hydrotherapeutischen Anwendungen verbessern die vegetative Regulationsfähigkeit und Stabilität und somit die meisten funktionellen Krankheitsbilder, bessern psychovegetative Erschöpfungszustände („Revitalisierung“) und vermögen ggf. Organstörungen zur Abheilung zu bringen oder zu verhindern. Es werden am besten Wasserreize kurmäßig nach einem bestimmten ansteigenden Reizschema und genau dosiert verabreicht, wobei selbst beim kalten Wasser nie die Kälteentwicklung das Ziel der Bemühungen ist, sondern immer das Erreichen körpereigener Wärme bzw. Regulierung im Wärmehaushalt (z.B. wichtig bei rheumatischen Erkrankungen, niedrigem Blutdruck, Infektanfälligkeit). Für die Reizstärke gilt: – – –

Zu kleine Reize schwächen Gut dosierte mittlere Reize kräftigen/fördern die Lebensfunktionen Übergroße Reize schaden.

Warmes Wasser hat primär einen beruhigenden, vagatonisierenden und alkalisierenden Effekt (z.B. warmes Wannenbad). Bei Übertreibung (zu hohe Temperatur oder zu lange Badedauer) kann es jedoch auch den gegenteiligen Effekt bewirken (Aufgeregtheit, Nervosität, Schlafstörungen, v.a. bei Hypotonie oder orthostatischer Regulationsstörung). Befindet sich der Körper in einem wenig belastbaren oder unterkühlten Zustand, so werden meist Wechselanwendungen gewählt. Verboten sind: – Anwendungen zu kurz vor/nach dem Essen oder körperlichen Anstrengungen (mindestens ½ Stunde Zeitabstand) – Kaltanwendungen • auf kalter Haut • im kalten Raum (Temperatur mindestens 18 °C) – Therapeutische Anwendungen ohne ärztliche Untersuchung/Verordnung (Versicherungshaftung fehlt bei Komplikationen) – Vasoaktive Substanzen wie Nikotin, Kaffee, Schwarztee unmittelbar vor oder nach der Anwendung beeinträchtigen die gewünschte Reaktion. Vorgehen: – Beginn immer mit der mildesten Anwendung, die gerade noch zu der gewünschten Reaktion führt – Ziel: gleichmäßige milde Rötung im Sinne einer Mehrdurchblutung (Vasodilatation und Histaminausschüttung) – Fehlreaktion: längerdauernde Blässe oder bläulich-fleckige Verfärbung/Marmorierung der Haut, Herzklopfen, Frieren, Frösteln.

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Tabelle 2. Übersicht der Reizstärken von Wasseranwendungen Reizstärke I (schwache Reize)

Teilwaschungen (Okw, Ukw) Teilbäder (Arm-, Fuß-, Sitz-), 5–10 min 37 °C Wechselteilbäder (Arm-, Fuß-), 5 min 36 °C/5–6 s 10 °C Kleine Güsse (Knie-, Arm-), temperiert 18–22 °C

Reizstärke II (mittlere Reizstärke)

Ganzwaschung Trockenbürsten Wassertreten Halbbad kalt, 12–18 °C Halbbad, 10–15 min 37 °C mit kalter Abgießung 12 °C Wechselgüsse (Knie-, Schenkel-, Arm-, verlängerter Arm-, Brust-, Ober-, Rückenguss), 36–38 °C/12–14 °C Waden- und Armwickel

Reizstärke III (reizstark)

Kalte Güsse (Unter-, Rücken-, Ober-, Vollguss) 12–14 °C Lumbalguss heiß Heiße Blitzgüsse, 40–43 °C Dreiviertel-, Vollbäder, 10–15 min 37 °C mit kalter Abgießung 12 °C Temperaturansteigende Teilbäder (Arm-, Fuß-, Sitzbad), 33–39 °C in 10–15 min. Wechselsitzbad, 10 min. 37 °C, 5–6 s 12 °C Größere Wickel (Lenden-, Kurz-, Brust-, Ganzwickel) Heusack Leibauflagen

Prinzip: So warm/heiß wie nötig, so kühl/kalt wie möglich Skala der Temperaturbereiche Kalt

Temperiert

Kühl

Indifferenzbereich

Warm

Heiß

0–18 °C

19–22 °C

23–28 °C

32–35 °C

36–38 °C

ab 39 °C

Fazit Bei chronischen auch chronisch intermittierenden schmerzassoziiertren Erkrankungen haben sich KNEIPP-Anwendungen im Bereich der (Sekundär-) Prävention sowie Rehabilitation – ggf. adjuvant bei akuten Erkrankungen bewährt. Im Rahmen einer individuell angepassten und überwachten Verordnung können meist erhebliche Einspareffekte an Nebenwirkungen bzw. Reduzierung unerwünschter Interaktionen chemisch-synthetischer Medikationen erzielt werden.

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Armbad warm Schmerz-Indikation – Polyarthrosen der Hand (Heberden – Bouchard – Rhizarthrosen) – Migräne, vasomotorischer Kopfschmerz

Wirkung – – – – –

Lokal und im Segment sowie durch Inhalation Arthrose: die Beweglichkeit verbessernd (Zusatz: Heublume, Fichte) Herz: sedierend, krampflösend Lunge: bronchospasmolytisch, dilatativ, mukolytisch (Zusatz: Thymian) Haut: entzündungshemmend (Zusatz: Kamille, Molke, Kleie)

Indikationen/Einsatzbereiche – Lokale nichtentzündliche rheumatische Beschwerden, insbesondere Polyarthrosen der Hände (Heberden-, Rhiz-, Bouchard-Arthrose) – „Nervöses“ Herz, leichte Herzinsuffizienz (NYHA-Stadium I, II) – Bronchitis, Asthma bronchiale, Sinu-bronchiales-Syndrom, Sinusitis – Chronisch kalte Hände, periphere Durchblutungsstörungen – Hypotonie, Orthostase-Syndrom – Migräne, vasomotorischer Kopfschmerz Nicht geeignet / Vorsicht bei (insbesondere bei heißer Temperatur) – Lymphstau, Lymphödem des Armes (unter Ausnutzung der konsensuellen Reaktion ggf. Anwendung am kontralateralen Arm) – Hypertonie – Schwere kardiale Erkrankungen – Gefäßspasmen

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Das wird benötigt – Armbadewanne1 (ggf. Waschbecken) – Zusätze (s.o.) So wird’s gemacht – Auf bequeme, möglichst aufrechte Sitzhaltung achten – Gefäß mit warmem Wasser füllen (Temperatur: 36–38 °C) – Arme bis Mitte Oberarm eintauchen. Bei Arthrosen: Bewegung der Hände im Wasser Dauer: 15–20 Minuten – Danach Arme abtrocknen – Bettruhe oder Bewegung

Lumbalguss heiß

Schmerz-Indikation – Lumbago – LWS-SYNDROM Nebenwirkungsfreies Antirheumatikum für die LWS.

Wirkung – Entspannend/entkrampfend, detonisierend auf die Muskulatur und reflektorisch segmental auf Bauch- und Beckenorgane – Hyperämisierend und stoffwechselanregend 1

Bezugsquelle: Kneipp-Bund Bad Wörishofen, www.kneippbund.de

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Indikationen/Einsatzbereiche – Lumbago – Lumboischialgie/LWS-Syndrom – Verspannungen im Rücken/Lendenbereich Nicht geeignet / Vorsicht bei – Akute Entzündungen im behandelten Bereich, vor allem der Haut Das wird benötigt – Gummischlauch: Länge 1,5 m, Durchmesser ¾ Zoll oder – Gießhandstück2 Anmerkung: ohne Hilfsperson am besten mit Gießhandstück So wird’s gemacht – Sitzende Haltung (auf dem Wannenrand, Brett quer in der Wanne, Hocker in der Wanne) – Wasserstrahl auf die Lendenwirbelsäule richten – Temperatur von Hauttemperatur (ca. 34 °C) langsam und gleichmäßig bis zur Verträglichkeitsgrenze (ca. 43 °C) steigern – Dauer: bis eine kräftige Mehrdurchblutung (Rötung) erreicht ist (mehrere Minuten) – Anschließend: – Gründlich abtrocknen und Bettruhe (ca. 30 Minuten) in entspannter Haltung (Unterschenkel erhöht gelagert) oder – leichte gymnastische Übungen der Wirbelsäule Sonstiges Auf langsamen und gleichmäßigen Temperaturanstieg achten.

Beinwickel kalt Schmerz-Indikation – Gonarthrose

Wirkung – Wärmeentziehend (bei Liegedauer bis ca. 10 min) – Entzündungshemmend – Gewebestraffend 2

Bezug über Kneipp-Bund Bad Wörishofen, www.kneippbund.de

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– – – – –

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Schlaffördernd, beruhigend Analgetisch Vegetativ stabilisierend Antihypertensiv, herzentlastend Betasympathikolytisch bei Liegedauer über 10 min

Indikationen / Einsatzbereiche – – – – – – –

Gonarthrose, Aktivierte Arthrose, sekundäre Arthritis Generelle Überhitzungen: Fieber, „Hitzschlag“ Lokale Entzündungen: Thrombophlebitis, Hämatome, Prellungen Hypertonie Überanstrengung nach langem Stehen und Gehen Vegetative Labilität, nervöse Übererregbarkeit Einschlafstörungen

Nicht geeignet / Vorsicht bei – Akute Zystitis, Zystopyelitis, Pyelonephritis – Ischialgie – Beginnende Erkältungskrankheiten und ansteigendes Fieber – Frieren, Frösteln Das wird benötigt – 1 Leintuch – 1 Baumwolltuch – 1 Woll-/Flanelltuch Als Fertig-Set sind Kneipp-Wickeltücher in der Apotheke erhältlich3 So wird’s gemacht – Leintuch in nicht zu kaltes Wasser tauchen, leicht auswringen – Tücher faltenlos und straff um das Bein wickeln: – Auf der Haut Leintuch – Darüber Baumwolltuch – Abschließend Wolltuch – Gut zudecken und ruhen – Liegedauer im allgemeinen 15–20 Minuten Sonstiges – Zusätze sind möglich: – Quark: bei örtlichen Entzündungen hautpflegend – Lehmwasser/Lehm, Luvos-Heilerde 3 Wickel sowie weitere Kneipp-Utensilien erhalten Sie über den Kneipp-Bund, Bad Wörishofen: www.kneippbund.de

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– Schonende Fiebersenkung ist durch wiederholtes Anlegen der Beinwickel möglich. Bei kalter Haut (entspricht meist ansteigendem Fieber) keine Beinwickel! – Im Allgemeinen „muss“ Fieber erst bei Temperaturen über 39 °C gesenkt werden

Nackenguss heiß Schmerz-Indikation – HWS-Syndrom – HWS-Schulter-Arm-Syndrom

Wirkung – – – –

Muskelentspannend Durchblutungsfördernd am Kopf Gefäßentkrampfend Stoffwechselstabilisierend (Harnsäure-Myogelosen) im Segment (v.a. obere Brustwirbelsäule auch bei „Pseudostenokardien“)

Indikationen / Einsatzbereiche – – – – – – – – –

Akuter Hartspann der Halswirbelsäule Chronische Verspannung der Nackenmuskulatur Schulter-Arm-Syndrom Verkrampfungskopfschmerz Depressive Verstimmung Wetterempfindlichkeit Chronisches Ohrengeräusch/Ohrensausen (Tinnitus) Migräne Gefäßbedingter Kopfschmerz

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Nicht geeignet / Vorsicht bei – grünem Star (Glaukom) – grauem Star (Katarakt) – Bluthochdruck (Hypertonie) – Schilddrüsenerkrankungen – Herzinsuffizienz – LWS-Syndrom (wg. Haltung!) Das wird benötigt – Gummischlauch: Länge 1,5 m, Durchmesser ¾ Zoll oder – Gießhandstück4 Anmerkung: Ohne Hilfsperson am besten mit Gießhandstück. So wird’s gemacht – Oberkörper vornüberbeugend und abstützen (über der Badewanne, Vorsicht Rutschgefahr!) – Den Wasserstrahl auf den Nacken richten (Wasserplatte), sodass das Wasser seitlich am Hals ablaufen kann – Temperatur von hautwarm (ca. 34 °C) bis zur Verträglichkeitsgrenze (ca. 43 °C) steigern – Leichte Drehbewegungen des Kopfes während des Gusses unterstützen die entkrampfende Wirkung – Dauer: bis eine kräftige Mehrdurchblutung (Rötung) erreicht ist (ggf. mehrere Minuten) Sonstiges Auf langsamen und gleichmäßigen Temperaturanstieg achten.

Halswickel Schmerz-Indikation – Angina tonsillaris (ggf. adjuvant) – Laryngitis

Wirkung – – – –

Wärmeentziehend Stoffwechseldämpfend Entzündungshemmend Schleimhautberuhigend im Hals-Rachen-Bereich 4

Bezug über Kneipp-Bund Bad Wörishofen, www.kneippbund.de

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Indikationen / Einsatzbereiche – Akute Halsentzündung: Mandeln, alle Formen der Angina einschließlich Seitenstrangangina (ggf. mit Quarkzusatz), Laryngitis – Akute und chronische Epipharyngitis – Akute und chronische Sinusitis – Leichte Hyperthyreose Nicht geeignet / Vorsicht bei aufkommenden Erkältungskrankheiten und bei ansteigendem Fieber. Das wird benötigt – 3 Wickeltücher: – 1 Leinentuch nass (10 x 70 cm) – 1 Baumwolltuch (15 x 70 cm) – 1 Wolltuch (12 x 70 cm) Auch als Fertig-Set: Kneipp-Halswickeltücher in der Apotheke erhältlich. Als Zusatz ggf. Quark. So wird’s gemacht Tücher faltenlos um den Hals wickeln: – Auf der Haut: Leinentuch, in kaltes Wasser getaucht und leicht ausgewrungen (ggf. mit Quark) – Darüber: Baumwolltuch – Darüber: Wolltuch Bettruhe während der Anwendung (auch wenn kein Fieber besteht!)

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Liegedauer – Bei akuten Prozessen: Abnahme, wenn der Wickel nicht mehr als kalt empfunden wird, ggf. nach 5–10 Minuten wiederholen oder 2-mal täglich (morgens und abends) anlegen – Bei chronischen Erkrankungen ggf. mehrere Wochen lang abends anlegen und über Nacht liegen lassen Sonstiges – Keine Fremdhilfe erforderlich – Bei Schmerzzunahme während Wickel diesen sofort abnehmen – Der Wickel darf sich nicht lockern! – Kann auch über Nacht liegen bleiben

Heublumensack Schmerz-Indikation – – – – – –

HWS-SYNDROM LWS-SYNDROM Reizmagen Reizdarm Coxarthrose Gonarthrose

Wirkung – Örtlich sowie in die Tiefe, auch reflektorisch/segmental konsensuell auf die darunterliegenden Organe: – Entkrampfend/entspannend – Durchblutungsfördernd – Stoffwechselanregend

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– Zentralsedierend durch Ätherische Öle – Schmerzlindernd – Leicht hautreizend durch Kumarine/ätherische Öle (Segmentwirkung!)

Indikationen / Einsatzbereiche – Nichtentzündliche Verspannungszustände von Muskulatur (Hartspann, Myogelosen) und über konsensuelle Wirkungen im Gastrointestinaltrakt: Reizmagen, Reizdarm – spastisches Colon! – Degenerative Erkrankungen von Wirbelsäule und Gelenken im nichtentzündlichen Stadium – Verschleißerscheinungen an Gelenken und Wirbelsäule (Arthrosen, Spondylosen, Spondylarthrosen) – Akute und chronische Bronchitis (auf Brust oder Rücken legen) Nicht geeignet / Vorsicht bei – Herz-Kreislauf-Schwäche (sehr anstrengende Anwendung) – Entzündungen der Haut im Behandlungsgebiet Das wird benötigt5 – 1 Leinensack (30 x 50 cm) – Heublumen oder – Fertig-Heusack „Heubatherm“, erhältlich in der Apotheke – Gummi- oder Plastiktuch als Nässeschutz So wird’s gemacht – Heusack – bei Selbstherstellung – zu 2/3 mit Heublumen füllen – verschließen (zubinden, zunähen, ggf. Plastikreißverschluss, Plastikdruckknöpfe, Klettverschluss) oder Fertig-Heusack – Heusack unter fließendem Wasser anfeuchten – In einen Kochtopf auf einen Siebeinsatz legen (zuvor unter den Siebeinsatz Wasser füllen) – Ca. 20 Minuten dämpfen – Nach Entnahme (Gabel, Isolierhandschuhe) aufschütteln – Inhalt gleichmäßig verteilen – Temperaturverträglichkeit am Unterarm – Innenseite testen – Vorsicht, erst anlegen und dann befestigen, um frühzeitiges Abkühlen zu vermeiden – Ggf. Gummi- oder Plastiktuch als Nässeschutz unterlegen

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Bezug über Kneipp-Bund Bad Wörishofen, www.kneippbund.de

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Liegedauer Erst abnehmen, wenn der Heusack nicht mehr warm ist (ca. 45 Minuten bis 1½ Stunden), dann aber schnell, um Auskühlung zu vermeiden. Anschließend ca. ½ Stunde Bettruhe. Sonstiges Vorsicht, Verbrennungsgefahr! – Insbesondere bei zu hoher Dampfsättigung (Heublumensack zu feucht).

Literatur Bachmann RM (1996) PraxisService Naturheilverfahren. Hippokrates, Stuttgart ISBN 3-77731155-3 Bachmann RM (1999) CD-Rom zu PraxisService Naturheilverfahren. Hippokrates, Stuttgart ISBN 3-7773-1392-0 Bachmann RM (2006) Säure-Basen-Kursbuch. Knaur, München ISBN 3-426-64305-7 Bachmann RM (2006) Fasten und Heilen nach F. X. Mayr. Knaur, München ISBN 3-42664278-6 Bachmann RM, Schleinkofer GM (1989) Die Kneipp-Wassertherapie, 2. Aufl. Sachon-Verlag, Bad Wörishofen ISBN 3-923493-35-5 Bachmann RM, Schöllmann C (1998) Der Säure-Basen-Haushalt. Forum-Medizin Verlag, Stockdorf ISBN 3-910075-27-4 Bachmann RM, Resch KL (2003) Medizin mit Zukunft. Journal Pharmakologie und Therapie. Perfusion Verlag, Nürnberg Bachmann RM, Resch KL (2003) Rheumaschmerzen spürbar lindern. Trias, Stuttgart ISBN 38304-3115-5 Bachmann RM, Kofler-Bettschart B (2005) Säure-Basen-Therapie. So hilft sie mir bei MagenDarm-Beschwerden. Trias, Stuttgart ISBN 3-8304-3221-6

Internet-Adressen www.saeure-basen-therapie.de www.rheuma-naturheilverfahren.de www.osteoporose-naturheilverfahren.de www.darm-gesund.de www.geriatrie-naturheilverfahren.de www.migraenefrei.de www.schmerz-naturheilverfahren.de

Radon als schmerzlinderndes natürliches Heilmittel G . L I ND-A L B RE CHT

Einleitung und historischer Rückblick Die Geschichte des schmerztherapeutischen Einsatzes von Radon reicht viele Jahrhunderte zurück. Die Thermalquellen in Bad Gastein (Österreich) interessierten schon Paracelsus, den heißen Thermal-Sand auf der Insel Ischia (Italien) nutzten schon die Römer – nur wusste man bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht, dass Radon das wesentliche Agens dieser Heilmittel war. Radon wurde erstmals 1904 in berühmten Heilquellen des Gasteinertales, des Nahelandes und rund um das Erzgebirge nachgewiesen. 1911 wurde Radon auch erstmals in einem Bergstollen (Bad Kreuznach, Deutschland) nachgewiesen, 1952 dann im Thermalstollen im Gasteiner Heilstollen (Österreich). Das Phänomen der Radioaktivität war 1896 aufgedeckt worden durch Becquerel. Radium war 1898 vom Ehepaar Curie entdeckt worden. Um 1900 wurde dann das gasförmige Zerfallsprodukt des Radium entdeckt: ein Edelgas, welches anfangs Radium-Emanation, später dann Radon (Rn222) genannt wurde. In der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Radon quasi als Allheilmittel angesehen. Man glaubte, den legendären „Brunnengeist“ dingfest gemacht zu haben. Die verschiedensten Beschwerden – und bei weitem nicht nur Schmerzen – wurden europaweit mit Radon behandelt. Eine „Radon-Euphorie“ breitete sich aus: Es gab Radiumschokolade, Radiumzwieback und sogar Radiumkugeln für die Hosentaschen (Abb. 1). Die Radonkurorte entwickelten sich in dieser Zeit zu wichtigen rheumatologischen und schmerztherapeutischen Zentren. Medikamentöse Alternativen zur (antirheumatischen) Schmerztherapie gab es damals praktisch nicht – mit Ausnahme von Morphium, welches seit 1853 injizierbar zur Verfügung stand. Aspirin wurde zwar 1853 erstmals isoliert, aber erst 1899 patentiert und allmählich bekannt. Butazolidin war erst ab 1949 verfügbar und Diclofenac ab 1977.

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Abb. 1. Radon/Radium-Euphorie, der Joachimsthaler Radium-Zwieback zur Knochenstärkung

Heute haben wir eine Fülle von einerseits rein analgetisch und andererseits auch zugleich antiphlogistisch wirkenden Pharmaka. Dennoch hat Radon in seinen verschiedenen Applikationsformen weiterhin seinen festen Stellenwert in der Schmerztherapie bei Erkrankungen des Bewegungsapparates – wenn auch die Nutzen-Risiko-Diskussion immer wieder neu geführt wird.

Schmerztherapeutische Indikationen der Radontherapie Der vorwiegende Einsatz der Radontherapie gilt den entzündlich-rheumatischen Erkrankungen, hier vor allem dem M. Bechterew und der Arthritis psoriatica sowie der chronischen Polyarthritis. Hier existieren (teils doppelblind placebo-) kontrollierte und randomisierte Studien zum Nachweis der lang anhaltenden analgetischen Wirksamkeit (s.u.). Auch bei low back pain unterschiedlicher Genese (statische Dysbalance, Diskopathien, Osteoporose, Facettensymptomatik, Spondylolisthesis, Spinalkanalstenose …) ergibt sich ein wichtiger Einsatzbereich, ebenso bei Polyneuropathien und chronischen Neuralgien. Die Arthrosen der großen und kleinen Gelenke stellen eine weitere wesentliche Indikation dar. Selbst beim Fibromyalgie-Syndrom werden überraschende analgetische (und daneben auch stimmungsaufhellende) Wirkungen erzielt (Tabelle 1). Nicht eingesetzt werden darf die Radontherapie bei Schwangeren, bei medikamentös nicht ausreichend behandelter Hyperthyreose, bei frischen Infekten, bei Psychosen und – sicherheitshalber – im ersten Jahr nach abgeschlossener Therapie eines Krebsleidens.

Radon – physikalische Eckdaten – Charakterisierung Radon (Rn222) ist ein Edelgas und entsteht aus dem radioaktiven Zerfall des Radium. Radon zerfällt seinerseits – unter vorwiegender Aussendung von Alphastrahlung – über mehrere Zwischenprodukte weiter, bis eine stabile Bleiverbin-

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Tabelle 1. Indikationen der Radontherapie Erkrankungen des Bewegungsapparates Spondylitis ankylosans* (M.B.) bzw. Formenkreis der Spondyloarthritiden, Rheumatoide Arthritis* (cP), Sarkoidose, Psoriasisarthropathie, Fibromyalgie, Schmerzen bei Osteoporose, Arthrosen*, WS-Syndrome* (degen. + funkt.), Neuralgien und PNP Erkrankungen der Atemwege COPD, Asthma bronchiale, Sinusitis chronica, Pollinosis Erkrankungen der Haut Psoriasis vulgaris, Neurodermitis, Sklerodermie, verzögerte Wundheilung * Kontrollierte Studien zum Wirkungsnachweis liegen vor.

dung entsteht. Die physikalische Halbwertszeit des Radon selbst beträgt 3,8 Tage, die seiner Zerfallsprodukte liegt teils im Minutenbereich. Radon kann über die Atemwege, die Haut und die Schleimhaut aufgenommen werden. Es wird innerhalb von 20–30 Minuten – vorwiegend über die Atmung – wieder zur Hälfte ausgeschieden (= biologische Halbwertszeit) und hat nach 3 Stunden praktisch vollständig den Körper wieder verlassen. Radon kommt ubiquitär vor, je nach Gesteinsart und Formation sowie Wasserströmungen als Vehikel entstehen lokal höhere Konzentrationen. Als Dauerkondition wie z.B. im Wohnraum ist Radon störend und erhöht offenbar ab einer bestimmten Schwelle das Risiko für Bronchial-Carcinome. In kurzfristiger und wiederholter Verabreichung über Haut und Atemwege ruft es jedoch biopositive Effekte hervor (s.u.). Radon ist schwerer als Luft. Es geht im Körper als Edelgas keine festen Verbindungen ein. Seine Zerfallsprodukte sind lipophil und reichern sich im Körper entsprechend an, z.B. im Bereich der Nervenumhüllungen. Sie haften mehrere Stunden an der Haut- und Schleimhautoberfläche und können so ihre Wirkung auf immunkompetente Zellen entfalten. (Dieser Wirkung kommt nach neueren Erkenntnissen möglicherweise eine größere Bedeutung zu als der des Radon selbst.) Die ausgesandte Alphastrahlung beim Zerfall des Radon und der Zwischenprodukte kann 30 µm tief (3 Zellschichten) eindringen und ist punktuell hoch wirksam.

Applikationsformen der Radontherapie Eine vollständige Radonkur besteht je nach Schwere des Krankheitsbildes aus etwa 10–15 Radonbädern oder 8–12 Stolleneinfahrten, jeweils im Laufe von 3 Wochen verabreicht. Differential-Indikationen und Rhythmus sowie Dosierung der Radontherapie haben sich aufgrund langjähriger Erfahrung der behandelnden Ärzte und der Rückkopplung durch die Patienten herausgebildet. Radonbäder (mit mindestens 660 Bq/l) stellen die häufigste Applikationsform der Radontherapie dar und werden in fast allen Kurorten mit höherem Radon-

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vorkommen durchgeführt (Bad Gastein, Bad Hofgastein, Bad Zell in Österreich, Bad Brambach, Bad Münster am Stein, Bad Schlema, Bad Schmiedeberg, Bad Steben, Sybillenbad in Deutschland und Jachymov in Tschechien). Sie werden meist als reine Radonthermalbäder verabreicht, teils auch als Kohlensäure-Radon-Bäder. Speziell konstruierte Wannen sorgen dafür, dass neben der hauptsächlich wirksamen Radonaufnahme durch die Haut auch die Inhalation des aus dem Badewasser entweichenden Radon möglich wird. Die damit erreichbaren Dosierungen und Effekte sind kleiner als bei der Radon(stollen)inhalation. Die sog. „Unterwassertherapie“, eine Gasteiner Besonderheit, ist eine heilgymnastische Übungstherapie im Radonthermalbecken mit gleichzeitiger Glisson-Extension und Unterwasser-Druckstrahlmassage. Radongasbäder bzw. Radondunstbäder als kreislaufschonende Alternative der Radonaufnahme über die Haut sind möglich in Bad Schlema und Bad Gastein. Bad Kreuznach und Bad Gastein wurden aufgrund der Radonstollentherapie (in stillgelegten Bergwerken mit einem mittleren Radongehalt von etwa 40–50 Bq/ Liter Luft) zu traditionellen ‚Pilgerorten’ für Morbus Bechterew-Betroffene. Im Bad Kreuznacher Radonstollen wird bei Zimmertemperatur (21–23°) inhaliert. Die Patienten behalten ihre normale Bekleidung an, d.h. es wird fast nur die Radon-Aufnahme über die Atemwege wirksam. Im Gasteiner Heilstollen (Abb. 2a und b) liegen die Temperaturen auf 5 verschiedenen Stationen zwischen 37,5 und 41,5° Celsius, bei gleichzeitig ansteigender Luftfeuchte von 70–100%. Die Patienten sind in Badebekleidung oder gänzlich unbekleidet, Radon wird zu gleichen Teilen über Atemwege und Haut aufgenommen. Zusätzlich wird eine milde Hyperthermie wirksam (mildes therapeutisches Fieber mit Anstieg der Körperkerntemperatur bis zu 39,5° Celsius), welche zum einen eigenständig wirksam ist und zum anderen die Radonaufnahme und -verteilung potenziert. Aufgrund der Hyperthermie muss die medizinische Begleitung während der Einfahrten gewährleistet sein.

Strahlendosis bei den verschiedenen Applikationsformen Bei einer Kur mit 10 Radonbädern von je 20 Minuten bei 660Bq/l resultiert eine Äquivalentdosis von 0,2 mSv, bei einer Kur mit 15 Dunstbädern von je 15 Minuten Dauer bei 140Bq/l ergeben sich 0,02 mSv und bei einer Heilstollenkur mit 10 x 1 Stunde bei 44Bq/l 1,8 mSv (Harder 2005). Bei Thermalbädern und Dunstbädern überwiegt ganz wesentlich die Aufnahme über die Haut. Bei der Radonstollentherapie mit Neutraltemperatur überwiegt die Inhalation. Bei der Thermal-Heilstollentherapie werden Atemwege und Haut zu gleichen Teilen genutzt. Bei allen Versionen der Radonkur liegen die erreichten Dosen unterhalb des Bereiches der durchschnittlichen jährlichen natürlichen Exposition, welche einer Äquivalentdosis von 2,4 mSv entspricht.

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c Abb. 2. Im physikalischen Therapiekonzept der Spondylitis ankylosans hat die Radonstollentherapie einen hohen Stellenwert. (a) Gasteiner Heilstollen mit gleichzeitiger Radonaufnahme über Lunge und Haut sowie mit Hyperthermie. (b) Rudolfstollen in Bad Kreuznach mit Radoninhalation bei Indifferenztemperatur. (c) Lageplan der einzelnen Therapiestationen im Gasteiner Heilstollen (37,5–41,5° – Luftfeuchte von 70–100%)

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Experimentelle Arbeiten zur Wirkungsweise von Radon Dem Wirkungs-Mechanismus von Radon wurde in vielen Arbeiten des Gasteiner Forschungsinstitutes nachgegangen, es gab in den letzten 50 Jahren viele interessante Einzel-Resultate, der schlüssigen Gesamtformel kommen wir erst seit einigen Jahren allmählich näher. Diverse experimentelle Arbeiten anderer Institute mit künstlicher Alphabestrahlung (z.B. durch Americium) von Zellkulturen (z.B. Fibroblasten) haben uns wichtige Erkenntnisse vermittelt. Einige Analogien zur Wirkungsweise niedrig dosierter Röntgenbestrahlung werden sichtbar. Im Folgenden sollen nur diejenigen Aspekte der Wirkungsforschung erwähnt werden, die für das Verständnis der schmerztherapeutischen Wirksamkeit von Radon (bzw. seiner Zerfallsprodukte) wichtig sind. An Patienten mit M. Bechterew konnte gezeigt werden, dass unter der Gasteiner Heilstollentherapie die Konzentration der Substanz P abfällt (eines Neuropeptides, welches vom primär sensorischen Neuronen exprimiert wird und welches als Transmitter nozizeptiver Afferenzen sowie auch als Entzündungsmediator gesehen werden kann). Gleichzeitig stieg die Konzentration der BetaEndorphine im Serum an (Bernatzky et al. 1994). Tierexperimentell ist eine Steigerung der Konzentration von CGRP im Rückenmark und in der Schilddrüse (Bernatzky et al. 1990) nachgewiesen. Bei Kaninchen wurde nach Inhalation von Radon-Dunst eine signifikante Erhöhung der Beta-Endorphine und der M-Enkephaline im Gehirn aufgezeigt (Yamaoka 1994). An menschlichen Zellkulturen wurde ein Steigerung der SOD (Superoxiddismutase) nach niedrig dosierter Alphastrahlung festgestellt. Superoxidanionen können die laufende Entzündung unterhalten – sie werden über den SOD-Anstieg vermutlich schneller abgebaut (Frick, Pfaller 1988). Die aktuell wichtigsten Erkenntnisse zur Wirkungsweise des Radon reichen bis in den Zytokin-Bereich. Experimentell ist nachgewiesen, dass von Alphastrahlung getroffene Zellen in Apoptose gehen. Die Apoptose ist ein körpereigener Prozess der „Zell-Mauserung“, des „stillen Zelltodes“ und setzt im Gegensatz zur Nekrose keine entzündlichen Reaktionen in Gang. Nachbarzellen apoptotischer Zellen gehen, obwohl sie selbst nicht direkt getroffen wurden, ebenfalls in Apoptose (BystanderEffekt). Die apoptotischen Zellen werden durch Makrophagen oder LangerhansZellen in der Haut aufgenommen. Dabei und auch während der Apoptose selbst werden verschiedene Zytokine ausgesandt. Das wichtigste Zytokin ist hierbei das TGF-beta-1 (transforming growth factor), welches als entzündungslimitierender Botenstoff eine Art Gegenspieler des TNF-Alpha darstellt. Aktives TGF-Beta-1 wirkt zum einen bremsend auf die Differenzierung von T-Helfer-Zellen Typ 1 und zum anderen hemmend auf die Migration von Monozyten durch das Gefäßendothel (Harder 2005). Soweit zur experimentellen Grundlage. Die klinische Bestätigung dieser TGF-beta-1-Aktivierung lieferte eine kontrollierte Studie des Ludwig-Boltzmann-Institutes in Wien (Schwarzmeier 2003): Bei 80 untersuchten M. Bechterew-Patienten bewirkte die Gasteiner Heilstollenthe-

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rapie einen signifikanten Anstieg des aktivierten Botenstoffes TGF-Beta-1. In der Kontrollgruppe gab es keine entsprechenden Veränderungen. Eine deutliche Korrelation zwischen dem Ausmaß des TGF-Beta-Anstiegs und dem Ausmaß der Schmerzlinderung war sichtbar.

Klinische Studien zum Wirkungsnachweis Mehrere placebokontrollierte Doppelblind-Studien zeigten für Radonbäder bei nicht-entzündlichen Wirbelsäulenbeschwerden (Pratzel 1999) die verzögert einsetzende und mehrere Monate anhaltende Schmerzlinderung. Bei 60 Patienten mit chronischer Polyarthritis wurde in Bad Brambach im Rahmen einer stationären Reha-Behandlung eine Doppelblindstudie mit 10 Radon-CO2-Bädern gegen reine CO2-Bäder durchgeführt (Franke 2000): Sechs Monate nach Therapie-Ende war der Summenwert aus Schmerzstärke, Schmerzhäufigkeit, Morgensteifigkeit und Bewegungsfunktion in der radonbehandelten Gruppe signifikant besser als in der Kontrollgruppe. Die Wirksamkeit der Radon- bzw. Thermalstollentherapie bei M. Bechterew belegten 2 kontrollierte Studien in Bad Kreuznach und in Bad Gastein. Die Untersuchung und langfristige Nachbefragung von 262 Bechterew-Patienten der Karl-Aschoff-Klinik, Bad Kreuznach, zeigte, dass diejenigen, die während ihrer stationären Behandlung neben allen anderen Therapien auch Radonstollentherapie erhalten hatten, wesentliche Vorteile vor den Bechterew-Patienten hatten, die nicht mit Radon behandelt worden waren. Die Radonbehandelten hatten noch 9 Monate später signifikant weniger Schmerzen als die Patienten ohne Radon (Abb. 3). Sie sparten kontinuierlich bis zu einem Jahr nach

Abb. 3. Verlauf der Schmerzsituation bei 262 Patienten mit M.Bechterew im 1. Jahr nach Rehabilitationstherapie mit (n = 144) bzw. ohne (n = 118) Radonstollentherapie; Effektstärke der Veränderungen zum Ausgangswert

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der Reha-Maßnahme Medikamente zur Schmerzlinderung ein, im Durchschnitt etwa 30% ihrer NSAR-Anfangsdosis. Bei regelmäßiger Wiederholung der Radonstollentherapie war sogar nach 12 Jahren der reduzierte Medikamentenverbrauch noch immer aufzuzeigen (Abb. 4). Der Anteil der inzwischen ohne Schmerzmedikation auskommenden Probanden war in der regelmäßig radonbehandelten Gruppe deutlich höher als in der Kontrollgruppe. Das Ausmaß der Schmerzmittelreduktion war insbesondere bei Patienten mit häufiger Wiederholung der Rehabilitationsbehandlung größer, wenn sie jedes Mal zusätzlich Radonstollentherapie bekamen (Lind-Albrecht 1994, 2005) (Abb. 5). In Zusammenarbeit mit der Univ. Maastricht konnte bei 120 M. BechterewPatienten randomisiert vergleichend bestätigt werden, dass diejenigen, die eine 3-wöchige Kombinationsbehandlung aus intensiver Physiotherapie und Thermalstolleninhalation in Bad Gastein durchgeführt hatten, eine bessere und länger anhaltende Schmerzlinderung und Funktionsbesserung erfuhren als Patienten, die in den Niederlanden eine 3-wöchige Reha mit vergleichbarer Physiotherapie + Sauna erhalten hatten. Dabei wurde auch ein gesundheitsökonomischer Vorteil durch die Radontherapie aufgezeigt: Pro erreichter Einheit für Funktionsverbesserung (anhand des international standardisierten Fragebogens BASFI) und auch pro QUALY-Einheit (als Maß der wieder gewonnenen Lebensqualität) musste unter Einbeziehung von Radonthermalstollentherapie praktisch nur halb soviel in die Reha-Behandlung investiert werden wie bei einer konventionellen Maßnahme ohne Radontherapie (van Tubergen 2002).

Abb. 4. Schmerzmittelverbrauch (NSAR incl. Coxibe) im Verlauf von 12 Jahren (= T-end) mit regelmäßig wdh. Reha-Behandlung mit/ohne zusätzliche Radonstollentherapie bei 100 Patienten mit M. Bechterew

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Abb. 5. Reduktion des Schmerzmittelverbrauches auf mindestens 50% des Anfangsverbrauches bei 100 Patienten mit M. Bechterew im Laufe von 12 Jahres in Abhängigkeit von der Häufigkeit der wiederholten Reha-Behandlungen mit/ohne Radonstollentherapie

Eine Meta-Analyse hat alle wichtigen methodisch anspruchsvolleren Studien zur Radontherapie zusammenfassend überprüft und den maximalen Zusatzeffekt im Hinblick auf die Schmerzlinderung 3 Monate nach Behandlung aufgezeigt (Falkenbach 2005). Die schmerzlindernde Wirkung der Radontherapie bei Erkrankungen des Bewegungsapparates ist also sowohl plausibel, wenn auch nicht in allen Details, erklärbar als auch anhand von klinischen Studien belegt.

Nutzen-Risiko-Diskussion Die genannten therapeutischen Effekte werden über den Weg der kurzfristigen impulsartigen Behandlung mit höheren Radonkonzentrationen erreicht. Hiervon unterschieden werden muss die permanente Radon-Exposition, deren Auswirkungen in Diskussionen immer wieder vorschnell – oder vorsorglich – auf den therapeutischen Einsatz von Radon übertragen werden. Bereits seit den 80er Jahren wird die mögliche Gesundheitsgefährdung durch Radon-Dauer-Exposition im Wohnraum diskutiert. Groß angelegte europaweite neuere epidemiologische Studien mit Fallzahlen von 21.000 (davon > 7.000 Lungenkrebsfälle und 14.000 Kontrollfälle) haben oberhalb einer Dauer-Exposition von 140 Bq/qm Wohnraumluft eine Zunahme von Bronchial-Carcinomen dokumentiert (Darby 2005). Ein lineares Verhältnis zwischen Risiko-Anstieg und Höhe der Dauer-Exposition wird postuliert. Nicht einig ist man sich darüber, ob eine Schwelle existiert,

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ab welcher ein erhöhtes Risiko besteht. Schwierig in all diesen Studien ist die Umrechnung und Einbeziehung des ohnehin sehr hohen Lungenkrebs-Risikos eines Rauchers, wenn auch Rechenmodelle mit sog. Confounder-Variablen existieren. Der hypothetische Risiko-Anstieg – bei Annahme eines linearen Zusammenhanges – stellt sich folgendermaßen dar: Während ein lebenslanger Raucher ohne erhöhten Radongehalt im Wohnraum bis zu seinem 75. Lebensjahr ein Risiko von 10% hat, an einem Bronchial-Ca zu versterben, hat ein lebenslanger Nichtraucher ein entsprechendes Risiko von 0,4%. Durch Anstieg der Wohnraum-Dauerbelastung um 100Bq/qm steigt das Risiko rechnerisch für beide laut der Berechnung um 10%, das bedeutet für den Raucher einen Anstieg auf 11% und für den Nichtraucher auf 0,44%. Zum Dosis-Vergleich: Ein Patient kann fast 1000 komplette Radonbäderkuren und über 100 komplette Radonstollenkuren machen, um überhaupt erst in diese unterste hypothetische Risikoklasse zu kommen. Betrachten wir demgegenüber das Risiko einer permanenten antirheumatischen Schmerz-Medikation, so müssen wir konstatieren, dass unter NSARLangzeit-Therapie in bis zu 20% Schäden der Magen-Darm-Schleimhäute zu erwarten sind. Jedes Jahr versterben in Deutschland 1100–2200 Menschen an Magenblutungen als Folge von NSAR-bedingten Nebenwirkungen (Bolten 1999). Auch die COX2-Hemmer sind nicht völlig frei von Nebenwirkungen im MagenDarm-Trakt, vor allem aber sind zerebro- und kardiovaskuläre Nebenwirkungen bekannt. Das hepatorenale Nebenwirkungs-Potential der klassischen NSAR und der Coxibe ist ebenfalls zu bedenken. Eine ausgewogene Nutzen-Risiko-Diskussion muss immer diese Aspekte im Auge behalten und bei einer Einsparung an Medikamenten die Reduktion der Wahrscheinlichkeit von UAW als Gewinn in die Waagschale werfen. Dieser Gewinn wird ermöglicht durch eine Bestrahlungsdosis, die unterhalb der durchschnittlichen natürlichen jährlichen effektiven Äquivalentdosis liegt.

Zusammenfassung In einem multimodalen und ganzheitlichen schmerztherapeutischen Konzept hat auch heute noch die Radontherapie ihren definierten Stellenwert, vor allem wenn es darum geht, Schmerzmedikation zu verringern oder (z.B. wegen Unverträglichkeiten) zu vermeiden. Die Wirkung betrifft nicht nur die Schmerzperzeption, -verarbeitung und -weiterleitung, sondern sie reicht auch bis zur Regulation des chronischen Entzündungsprozesses über die Zytokine. Mit Hilfe der Radontherapie werden nachweislich und langfristig schmerzlindernde (antiphlogistische) Medikamente eingespart. Im gezielten und in sinnvollen Abständen regelmäßig wiederholten Einsatz kann die Radontherapie einen gänzlichen Verzicht auf NSAR möglich machen und ganz wesentlich zum Erhalt bzw. zur Wiederherstellung der Lebensqualität von Patienten mit schmerzhaften Erkrankungen des Bewegungsapparates beitragen.

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Literatur Bernatzky G, Graf AH, et al (1994) Schmerzhemmende Wirkung einer Kurbehandlung bei Patienten mit Spondylarthritis ankylopoetica. Ö Z Phys Med 4: 85–93 Bernatzky G, et al (1990) Auswirkungen niedrig dosierter ionisierender Strahlung auf regulatorische Peptide im Blut und in Geweben. Z Phys Med Baln Klim (Sonderheft 2) 19: 36– 53 Bolten WW, Lang B, Wagner AV, Krobot KJ (1999) Konsequenzen und Kosten der NSARGastropathie in Deutschland. Akt Rheumatol 24: 127–134 Darby S (2005) Radon in homes and lung cancer. BMJ 330: 223–227 Falkenbach A, Kovacs J, Franke A, et al (2005) Radon therapy for the treatment of rheumatic diseases – review and meta-analysis of controlled clinical trials. Rheumatol Int 25: 205– 210 Franke A, Reiner L, et al (2000) Long term efficacy of radon spa therapy in rheumatoid arthritis – a randomized sham-controlled study an follow up. Rheumatology (Oxford) 39: 894– 902 Frick H, Pfaller W (1988) Die Auswirkung niedrig dosierter Alphastrahlendosis auf epitheliale Zellkulturen. Z Phys Med Baln Klim (Sonderheft 1) 17: 23–31 Harder D (2005) Molekulare und zelluläre Wirkmechanismen. In: RADIZ (Hrsg) Radon als Heilmittel – Therapeutische Wirksamkeit, biologischer Wirkungsmechanismus und vergleichende Risikobewertung. Verlag Dr. Kovacs, S 42–54 Lind-Albrecht G (1994) Einfluss der Radonstollentherapie auf Schmerzen und Verlauf bei Spondylitis ankylosans. Dissertation, Johannes-Gutenberg-Universität, Mainz Lind-Albrecht G (2005) Langzeitbetrachtung von M. Bechterew-Patienten nach (wiederholter) Radonstolleninhalation im Rahmen der stationären Rehabilitation – 12 Jahres-follow-up einer kontrollierten prospektiven Studie. 14. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium. DRV-Schriften 59: 304 Pratzel HG, et al (1999) Schmerzstillender Langzeiteffekt durch Radonbäder bei nicht entzündlichen rheumatischen Erkrankugnen. In: Deetjen P, Falkenbach A (Hrsg) Radon und Gesundheit, Radon and health. Verlag Peter Lang, Frankfurt, S 163–182 Schwarzmeier J, Shehata M, et al (2003) Increased levels of TGF-beta1 in patients with ankylosing spondylitis after spa therapy. European Cytokine Network [Suppl] 14 van Tubergen A, Boonen A, Landewe R, Rutte-vand Mölken M, van der Heijde D, Hidding A, van der Linden S (2002) Cost effectiveness of combined spa-exercise therapy in ankylosing spondylitis: a randomized controlled trial. Arthritis Rheum 47: 459–467 Yamaoka K, et al (1994) Changes in biogenic amine neurotransmitters in rabbit brain after radon inhalation. Neurosciences 20: 17–22

Sonderdruck aus Nichtmedikamentöse Schmerztherapie Herausgegeben von G. Bernatzky et al. © Springer-Verlag/Wien 2007 · Printed in Austria – Nicht im Handel

Bio-Elektro-Magnetische-Energie-Regulation (BEMER): Das physikalische Konzept und sein Einsatz bei Schmerz auslösenden Störungen W. A. KAFKA

Zum Inhalt Die zu Schmerzempfindungen führenden neuronalen Mechanismen können durch unterschiedlichste Mechanismen eingeleitet werden (Bernatzky et al. 2005; Klasen et al. 2006). Die Reduktion oder sogar Vermeidung ihrer Entstehung verlangt dementsprechend möglichst ursachennah angelegte Interventionen. Die hier vorgestellte Methode der nichtinvasiven Applikation speziell (BEMERtypisch) gepulster schwacher elektromagnetischer Felder liefert hierzu einen neuen auf breite Anwendungsmöglichkeiten ausgerichteten effizienten Beitrag.1 1 Es gilt hier besonders zu beachten, dass die biologischen Wirkungen unterschiedlicher Elektro-Magnetfeldsysteme vom jeweils applizierten „elektromagnetischen Wirkstoff“ abhängen. Sie lassen sich daher grundsätzlich nicht ohne eingehende systembezogene Prüfungen aufeinander übertragen. Ähnlich, wie in der Pharmazie die Wirkung eines Medikaments vornehmlich vom physikalisch-chemischen Zustands des biologischen Materials, der im Medikament enthaltenden Wirkstoffe und dessen zeitlicher Dosierung abhängt so gilt dies auch für die (Elektro-)Magnetfeldtherapie: Statt durch die chemisch-physikalischen Eigenschaften des Arzneimittels ist die Wirkung (des „elektromagnetischen Wirkstoffs“) hier durch den zeitlichen (z.B. durch spektrale Fourier-Analyse quantifizierbaren, vgl. z.B. Abb. 3) Intensitätsverlauf des applizierten elektromagnetischen Feldes definiert. Die Nichtbeachtung dieser Fakten, letztlich also die pauschalisierte Betrachtung der (zusätzlich oft auf zweifelhafte Daten gestützten) biologischen Wirkungen, ist einer der entscheidenden Faktoren für das der (Elektro-)Magnetfeldtherapie bisweilen noch immer entgegengebrachte Missverständnis (Bernatzky et al. 2006; Bohn, Kafka 2004; Kafka 2006; Quittan et al. 2000). Sie ist insbesondere ein Manko vieler – die eigentlich an verantwortlicher Stelle – darüber reden, schreiben und urteilen. Hinzu kommt, dass der Begriff „(Elektro-)Magnetfeldtherapie“ bislang nur volkstümlich definiert ist. Er geht zurück auf Berichte aus dem Altertum worin man der Nutzung von Dauer(Permanent-)Magneten eine (bislang wissenschaftlich nicht erwiesene) heilende Wirkung zu-

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Hintergrund: Gesundheit und Vitalität als Abbild komplex organisierter molekularer Regulationsmechanismen und das Problem medizinischer Interventionen Alle Lebensfunktionen sind, von evolutionärer Seite gesehen, ausgerichtet auf naturgegebene Mechanismen zur Selbsterhaltung und damit auch auf die Anpassung an momentan vorherrschende endogene und exogene physikalische, chemische, biologische und physikalische Gegebenheiten. Wesentliche Kontrollund Steuerfunktionen übernimmt hierbei das genetische Material über die Funktion der durch sie produzierten und über eine Reihe von Signalstoffen in ihrer Aktivität modulierten Proteine. Die Regulation erfolgt dabei über hoch entwickelte, letztlich über inter- und intrazellulare Kommunikation ablaufende physikalisch-chemische Reparaturund neuro-physiologisch durch Schmerz und Angst unterstützte Schutzmechanismen. Unter anderem durch Beeinflussung des Stofftransports (Herzfrequenz, Atmung, Mikrozirkulation), des Stoffumsatzes (Energieversorgung, Wärmeregulation) oder der durch Signalstoffe über Adhäsionsmoleküle vermittelten Aktivierung des Immunsystems sind sie in der Lage auftretende Störungen innerhalb eines bestimmten Rahmens (Regelbereich) schnell und effizient zu erkennen und zu kompensieren. Bestimmte Lebens- und Umweltbedingungen – wie z.B. Ernährung, physikalisch-chemischer und sozialer Stress, mangelnde Bewegung (indirekt somit auch die Mikrogravitation in der Raumfahrt) mit ihren besonderen Konsequenzen auf Parameter des Kreislaufs, des Immunsystems und des Stützgewebes – können diese natürlich vorgegebenen Regulationsprozesse jedoch überfordern. Die Kompensation solcher, häufig durch die Vorboten von Unwohlsein, Schmerz, Angst, Depressionen und sonstigen chemischen Biomarker, angezeigten Störungen verlangt dann nach therapeutischer, möglichst ursachennaher Intervention. Sei es der Einsatz von Medikamenten, physikalisch-therapeutischen, psychologischen oder sonstigen, auch gen-orientierten Maßnahmen, sie zielen alle ab schreibt. Ohne Berücksichtigung der quantitativen Zusammenhänge von physikalischen Gegebenheiten und biologischen Wirkungen hat man diesen Begriff auch auf zeitlich veränderliche magnetische Felder übertragen, wie sie grundsätzlich auch bei jeder Änderung von elektrischen Feldern entstehen. (Deshalb der hier gewählte korrekte Begriff „Elektro-Magnetfeldtherapie“. Zu welchen Anteilen sich jedoch die elektrischen bzw. magnetischen Anteile auf die Wirkung des applizierten elektromagnetischen Feldes verteilen ist derzeit noch weitgehend unerforscht. Auch die Transepitheliale Neurostimulation (TENS) ist aus physikalischer Sicht eine Form der Elektro-Magnetfeldtherapie!). So bezieht sich dieser von medizinischer Seite geprägte Begriff „Magnetfeldtherapie“ – korrekt wäre also „Elektro-Magnetfeldtherapie“ – auf jede elektromagnetische medizinische Intervention. Er umfasst, beginnend mit dem extrem langwelligen (ELF) Bereich, über Mikro-, Radio- und Lichtwellen bis hin zu den extrem kurzwelligen Licht-, Röntgen-, Radioaktiv- und kosmischen Strahlungen – ungeachtet der bekannt unterschiedlichen biologischen Wirkungen selbst innerhalb des relativen engen Frequenzbereichs des sichtbaren Lichtes – letztlich den gesamten Bereich des elektromagnetischen Spektrums.

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auf eine möglichst schonende Kompensation dieser stets auf molekularer Basis ablaufenden funktionellen Störungen. Trotz ausgereifter Diagnostik, orientieren sich diese Maßnahmen – aus naheliegenden methodisch und praktisch Gründen, – meist an den Symptomen, nicht aber an den Ursachen solcher Störungen. Sie erfolgen somit häufig irgendwo in der Sequenz einer möglicherweise durch zusätzliche (oft kostenintensive) Folgestörungen verdeckten Krankheitsentwicklung.

Das Konzept der Bio-Elektro-Magnetischen-Energie-Regulation (BEMER): Unterstützung medizinischer Maßnahmen durch nicht-invasive Applikation spezieller „elektromagnetischer Wirkstoffe“ In der Absicht dem Aufkommen solcher systembiologischen Störungen auf breiter Ebene – möglichst schon im Keim des Entstehens – entgegenzuwirken beschreitet die BEMER-Therapie einen innovativen, holistisch und präventiv orientierten physikalischen Weg (Kafka 1998; Bohn, Kafka 2004). Ausgerichtet auf die Unterstützung der den Selbsterhaltungsmechanismen zugrunde liegenden molekularen Interaktionen stützt sie sich auf die Fakten, dass Start und Ablauf physikalisch-chemischer Interaktionen grundsätzlich an energetische Veränderungen der Elektronenkonfiguration, letztlich also an die elektromagnetische Aktivierung der beteiligten atomaren, ionalen oder molekularen Partner gekoppelt sind (Deutsch 1976). Im Detail zielt sie darauf ab diese Prozesse der molekularen Aktivierung durch die nicht-invasive Applikation geeigneter elektromagnetischer Felder möglichst breitwirksam – also bezogen auf ein weites Band unterschiedlicher molekularen Strukturen – energetisch zu unterstützen.2 Vergleichbar mit der, meist an Konformationsänderungen, z.B. die Faltung von Proteinen, gekoppelten Beeinflussung chemischer Bindungsformen durch das Licht, die katalytische Wirkung von Enzymen oder sonstiger, physikalischchemischer Promotoren (wie den Chaperonen mit ihren Kontrollfunktionen über die Einhaltung bestimmter Eiweiß-[Enzym-]Strukturen), könnte sie auf diese Weise, ein Zuviel oder Zuwenig an Stoffkonzentrationen (u.a. auch die Einnahme von Arzneimittelgaben) ausgleichend – und damit bewährte medizinische Interventionen schonend und ganzheitlich auch vorsorgend unterstützend – wesentlich zur Verbesserung des allgemeinen Gesundheitswesen beitragen. Im Folgenden werden Eigenschaften, Handhabung und Einsatzmöglichkeiten der entsprechenden Gerätesysteme (Abb. 1, 2), hier speziell ausgerichtet auf die 2 Herkömmliche (elektro-)magnetfeldtherapeutische Verfahren basieren auf der Applikation von statischen (Permanent-Magneten), bzw. sinus-, trapez- und sägezahnförmig gepulsten elektro-magnetischen Wechselfeldern. Die grundlegenden Anforderungen nach einer auf die molekularen Gegebenheiten im physiologischen System abzustimmenden Form der Stimulation (Stimulationssignal) bleiben hierin meist unerwähnt oder beschränken sich – ohne Bezug auf unumgänglich notwendige systembezogene Untersuchungsergebnisse – auf physikalischphysiologisch schwer nachvollziehbare Wunschvorstellungen.

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Abb. 1. Zertifizierte Netz- oder Akku-betriebene BEMER Medizinprodukte (a) BEMER 3000Komplettsystem für Praxis- und Heimanwendung (Steuergerät, Spulenmatte, Intensivapplikator, Tragetasche), (b) Spulenkissen und Steuergerät, (c) BEMER 3000-MFA (Multifunktionsapplikator), (d) Intensivapplikator, (e) BEMER 3000-SLT (Spezial-Licht-Therapie), (f) BEMER 3000-VET (Komplettsystem inkl. LED-Lichtdusche zur Anwendung bei Tieren)

Behandlung schmerzrelevanter Störungen, an Hand systemrelevanter GCP- konformer Untersuchungen im Sinne der Evidence-Based Medicine3 vorgestellt und diskutiert. Entsprechend des holistischen Konzepts ist hierbei der Schwerpunkt der Betrachtung nicht bezogen auf Symptome, sondern, soweit überhaupt möglich, auf die entsprechenden molekularen Mechanismen. Die – nicht immer auf den ersten Blick erkennbaren – Zusammenhänge von induzierter physiologischbiologischer Wirkung und Schmerz werden deshalb vorweg abschnittsweise kurz skizziert. 3 Good Clinical Praxis Bedingungen: www.emea.eu.int/pdfs/human/ich/013595en.pdf. Die systematische Einhaltung derartiger (und damit auch qualitätsentscheidender) Normen ist ein wesentlicher Faktor für die der BEMER-Elektro-Magnetfeld-Therapie inzwischen entgegengebrachte Akzeptanz und der darauf aufbauenden Vorreiterrolle unter den Elektro-MagnetfeldTherapie-Systemen (vgl. FN 1).

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Abb. 2. Die räumliche und gewollt stark inhomogene Flussdichteverteilung (Bohn, Kafka 2004) variiert entsprechend des Signalverlaufs von 0 bis zu einer mittleren maximalen Flussdichte von (wie abgebildet) 35 µT

Methodik: BEMER-Geräte Systeme, Verfahren zur Stimulation und Prüfung auf biologisch-medizinische Effizienz Im Detail stützt sich der (BEMER-)Therapieansatz auf die kurzzeitige (bis 8 bzw. 20 min) Applikation von in ihrem zeitlichen Intensitätsverlauf speziell pulsförmig modulierten (Pulsdauer 30 ms, Pulshäufigkeit 30/s) von sowohl Spulen- (ElektroMagnetfeldtherapie) als auch, als optionale Ergänzung, (LED-)Dioden-generierten (weitgehend monochromatisches, kaltes 660 nm Rotlicht, Lichttherapie) elektromagnetischen Feldern (Abb. 3).

Stimulation und Feldintensität Die elektromagnetischen Felder sind, soweit Spulen generiert, abhängig von der jeweils gewählten Spulenform, räumlich inhomogen und hinsichtlich ihrer magnetischen Flussdichte über das entsprechende Steuergerät variabel von null bis maximal 100 µT (= mikroTesla), bzw. beim LED Licht bis zu einer maximalen Leuchtdichte von ca. 160000 mcd/cm2 einstellbar.4 (Zum Vergleich: in unseren Breiten liegt die Erdfeldstärke bei ca. 50 µT, die Leuchtdichte der Mittagsonne bei 150000 cd/cm2). Die Wahl unterschiedlicher Intensitätsstufen erleichtert unter anderem, die Applikatoren problemlos an individuelle geometrische, physikalische und physiologische Gegebenheiten (hygienisch kontaktfrei) anzupassen. Wegen der im Detail noch offenen Fragen des Zusammenwirkens der durch die Feldeinwir4 Karu (2003) konnte z.B. nachweisen, dass bestimmte Enzyme (Donatormoleküle) in den Mitochondrien durch entsprechende Wellenlängen im sichtbaren Laser- bzw. LED-Licht unabhängig von Kohärenz und spektraler Bandbreite dazu angeregt werden können, Elektronen ihrer Elektronenhülle freizugeben, welche dann, über Elektronentransportketten weitergeleitet, zur Synthese von ATP beitragen (Photooxidation).

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Abb. 3. Spektrale Komponenten eines BEMER-typisch (a) und eines sägezahnförmig gepulsten elektromagnetischen Signals (c). Die Ordinaten in a und c reflektieren die mittlere magnetische Flussdichte (u-Tesla) in willkürlichen Einheiten. Bezogen auf die über die einzelnen Frequenzkomponenten übertragbaren Energieanteile (Ordinaten in b und d, willkürliche Einheiten) erweist sich das BEMER Signal gegenüber dem herkömmlichen z.B. sägezahnförmigen Signalform älterer Geräte, im Vorteil. Es kann offensichtlich ein wesentlich weiteres Spektrum molekularer Aktivierungen herbeiführen (Kafka 1998, 2006a; vgl. Text)

kungen unterschiedlich beeinflussten molekular-physiologischen Regulationsmechanismen (vgl. Mikrozirkulation, Gendifferenzierung, Immunaktivierung, Oxidativer Status etc.)5 können, bis auf einige wenige Ausnahmen (siehe unten), derzeit prinzipiell noch keine anderen verlässlichen Vorschläge zur Intensitätseinstellung gegeben werden. Für die Anwendung wird deshalb generell die Einhaltung eines so genannten Basisplans empfohlen, bei der die Intensität (bei täglich 2- bis 3-maliger Anwendung im zeitlichen Abstand von z.B. 6 bzw. 8 Stunden) wochenweise (beginnend bei z.B. Stufe 3) stufenweise (bis z.B. Stufe 8 oder 10) erhöht wird. Fest eingestellte Programme (P1–P4) erlauben Behandlungen nach einem hinsichtlich zeitlicher Abfolge, Dauer (0–20 min) und Intensität als bewährt erkanntem zeitlichem Muster (vgl. Vasomotorik, S. 306ff). Bei den gegebenen Feldintensitäten und deren zeitlichen Änderungen sind negative Auswirkungen durch potentiell induzierte Spannungen, Stromflüsse und Felder auf elektronische oder metallische Implantate (potentielle Wärmeentwicklung durch Stromfluss oder/und Magnetisierungsvorgänge) nicht zu erwarten Dennoch sollte keinesfalls auf eine individuell durchzuführende medizi5 Die jeweils optimale Intensität hängt ab von der Art des jeweils beeinflussten molekularen Prozesses. Obwohl bereits mit jedem Puls (im Intensitätsintervall von Null bis zum eingestellten Endwert) sämtliche Intensitätswerte kontinuierlich durchlaufen werden (Abb. 3), kann eine optimale Behandlung dennoch geringfügige Einstellungsvariationen erfordern.

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nische Prüfung auf potentielle physiologische Rückwirkungen von elektronischen Implantaten verzichtet werden (vgl. auch Nebenwirkungen, S. 313–314).

Ergebnisse: Befunde und Effizienz der BEMER Behandlungen Mikrozirkulation und Schmerz Die Mikrozirkulation umfasst die Strömungs- und Vermischungsphänomene des Plasma-Blut-Gemisches in den kapillaren arteriolären, und venulären Gefäßen (< 200 µm) im Endstrombereich des Kreislaufs. Sie ist wesentlich verantwortlich für die Vermittlung der für die Selbsterhaltung notwendigen Formen von Energie (Wärme, Nährstoffe, Metaboliten), Information (Signalstoffe, Wachstum-, Transkriptionsfaktoren) und Schutzmechanismen (Immunzellen, vgl. Interzellulare Kommunikation, S. 308ff). Sie unterliegt keiner direkten nervösen Ansteuerung. – Trotz dieser lebenswichtigen Bedeutung gilt festzuhalten, dass die Mikrozirkulation zwar eine biologisch notwendige, keinesfalls aber hinreichende Voraussetzung für das Funktionieren der für die Selbsterhaltung notwendigen Regulationsprozesse darstellt. Ihre rheologischen Merkmale werden von Bindungskräften und Flexibilität beinhalteter Zellkompartimente (Adhäsionskräfte) untereinander und mit den Gefäßwandungen sowie eine Reihe weiterer sehr effizienter lokaler, vermutlich „pulsatiler“ molekularer Komponenten (Klopp 2004; Klopp et al. 2005) der arteriolären und venulären Vasomotion reguliert. Letztere können diese Austauschfunktionen in den betroffenen Organen auf Basis einer erhöhten Zahl durchströmter Kapillaren verbessern. Wie für alle im Blut gelösten Stoffe sind hierfür das Konzentrations- (bzw. Partialdruck-)Gefälle zwischen Blut und interstitieller Flüssigkeit, die Durchlässigkeit und Fläche der Gefäßwände maßgebend. Der Transport von Sauerstoff und sein Austausch mit Kohlendioxid spielt hier insofern eine besondere Rolle als sein Mangel zu schnellsten und nachhaltigsten Störungen der Lebensfunktionen führt. Entscheidend ist hierfür seine Beteiligung an den zur Aktivierung, also den Ein- und Ausschaltfunktionen von Enzymfunktionen notwendigen Phosphorylierungen (in Form der sauerstoffhaltigen Energievermittler wie z.B. ATP-, 2,3-Biphosphoglycerat (2-3-BPG), und Kreatinverbindungen). Speziell in den Erythrozyten kommt der Bedeutung von ATP und 2,3 BPG auch insofern eine besondere Rolle zu, als sie über ihre Beteiligung an der SauerstoffHämoglobin Dissoziation die elektrischen Membranpotenziale und – in Konsequenz davon – die Flexibilität der Gefäßmembranen und damit auch von dieser Seite aus die rheologischen Merkmale mitbestimmen. Insofern steht der Funktionszustand der Mikrozirkulation auch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Aktivierung von Schutzmechanismen insbesondere auch von Schmerz und Angst6. 6 Störungen in der Mikrozirkulation sind häufig mitverantwortlich für Kopfschmerzen, Migräne und weiterer sensorisch initiierter psychischer Stress-Schmerzfunktionen. Sie können

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Biochemie humaner Erythrozyten (ATP; 2,3-BPG) Vor obig aufgezeigten Hintergrund, insbesondere der Behandlung von ischämischen Erkrankungen untersuchten Kafka und Spodaryk (2003a; Spodaryk 2001) die Hämoglobin-Sauerstoff-Affinität von Erythrozyten gesunder Erwachsener. Sie konnten nachweisen, dass tägliche BEMER-Ganzkörper-Stimulationen (35 µT, 2 x 20 min hochsignifikante Steigerungen des ATP-Gehalts um im Mittel 14% (p < 0,01) zwischen den Messzeitpunkten am Tag vor, und am 18. Tag nach Beginn der Behandlung bewirken. Die 2,3-BPG-Werte stiegen im diesem Zeitraum um 12% (p < 0,05). Trotz Anstiegs des intrazellulären 2,3-BPG-Gehalts ließ sich (möglicherweise auch methodisch bedingt) keine Veränderung der Hämoglobin-Sauerstoff-Affinität feststellen.

Vasomotorik, Strömungsverhalten und Sauerstoffutilisation in Mikrokapillaren Ausgerichtet auf die Untersuchung von Merkmalseigenschaften der Mikrozirkulation konnten Klopp und Mitarbeiter (2005; Klopp 2004) mit speziellen Methoden hochsensitiver und hochauflösender in vitro Spektralphotometrie an stressund infektdisponierten Probanden aufzeigen, dass BEMER-Ganzkörper-Feldapplikationen (10,5 µT) bereits nach 2 min zu signifikanten Veränderungen des Funktionszustands der Mikrozirkulation im Gaumenbereich (Gingiva), in der Darmschleimhaut, in den sinusoidalen Mikrogefäßen des Leberparenchyms und in diabetisch geschädigten Randbreichen von Geschwüren am Fuß (vgl. auch Elastomechanik der Haut, S. 309) führen. Im Detail ergab sich in den beobachteten Kapillargebieten der Verum Gruppe eine gegenüber Placebo um 12% gesteigerte Vasomotion, eine um 15% erhöhte Sauerstoffausschöpfung, eine um 10% erhöhte Zahl blutzelldurchströmter Kapillaren sowie ein um 10% verbesserter venulärer Rückstrom7. Diese Effekte hielten auch nach Beendigung der Applikation des elektromagnetischen Feldes an (Halbwertszeit des Wirkabfalls unter den gegebenen Bedingungen ca. 8 min). Insbesondere führten aufeinander folgende Applikationen (z.B. jeweils 4 min am 3., 5. und 8. Tag) zur Verstärkung dieser Wirkungen (Klopp et al. 2005). – Diese Befunde bestärken die zur Einstellung von Behandlungsdauer und Häufigkeit empirisch vorgegebenen Zeitwerte (vgl. Stimulation und Feldintensität).

Antioxidativer Stress Bestimmte Faktoren (z.B. chemo- und strahlentherapeutische Interventionen, chronischer Diabetes oder Alkoholabusus) können die überschüssige Bildung von in Verbindung mit Typ-2 Diabetes gekoppelten metabolischen Syndromen insbesondere zu Arteriosklerose, Nierenversagen, Erblinden, Gehirnschlag und Immunschwäche bis zum Tod führen (Gabrys 2004). 7 Diese Ergebnisse sind im Einklang mit im mikroskopischen Dunkelfeld beobachteten elektromagnetisch (hier 23 µT) induzierten Erythrozyten-Separationen (Kafka und Zapf, unveröff.).

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hochreaktiven Verbindungen (Radikale mit ungerader Anzahl von Elektronen, z.B. Peroxide, Peroxyle, Stickstoffmonoxid etc.) induzieren. Extreme Störungen hoch komplex über Anti- und Pro-Oxidantien, besonders in Lunge und endokrinen Organen, geregelter Schutzfunktionen (z.B. Pilz und Bakterienbefall, Signalübermittlung und Zellwachstum) sind die häufige Folge. Insbesondere bei Diabetes und der in schweren Fällen mit Wundentstehung und schmerzhaften polyneuropathischen Zustandsformen eng verbundenen Durchblutungsstörungen, können sie zur ungehemmten Zellproliferation (Krebs), zu Alzheimer und einer bis zur Arbeitsunfähigkeit führenden sensorischen Einschränkung von Tastund Hitzeempfindung führen (Gabrys 2004).

Reduktion von antioxidativem Stress bei alkoholbedingter Fettleber Bei älteren Patienten mit laborchemisch und echosonographisch gesichert diagnostizierter alkoholbedingter Fettleber führten BEMER Ganzmatten Applikationen (10,5 µT, 3-mal pro Tag, 3 Wochen) zu gegenüber herkömmlicher Therapiebefunden signifikant erhöhten Konzentrationswerten von reduziertem Gluthation (als Indikator für die Senkung der für diese Zustandsformen ursächlichen hochreaktiven Radikale) (Klopp et al. 2005).

Reduktion von oxidativem Stress in menschlichen Erythrozyten Kafka und Spodaryk (2003; Spodaryk 2001) fanden analoge Befunde selbst bei gesunden Probanden: Mit biochemischen Methoden wiesen sie nach, dass 3wöchige BEMER Ganzkörper Applikationen (täglich 20 min, 35 µT) die (durch erhöhte Aktivität von Glutathionreductase angezeigte) erythrozytale radikal-induzierte Lipidperoxidation signifikant absenkt.

Reduktion zytostatisch bedingter Polyneuropathien Speziell ausgerichtet auf die Behandlung zytostatisch bedingter periphere Polyneuropathien nach z.B. Peroxidations-Produkte bildender Chemotherapie bei Mammakarzinomen und gynäkologischen Tumoren bewirken BEMER Interventionen (4 Wochen, 3-mal täglich, morgens, mittags, abends, 8 min, 30 µT) bei 40,9% der behandelten Personen eine nahezu vollständige Rückbildung, bei 47,7% eine deutliche Verbesserung und bei nur 11,4% keine oder nur geringe Reduktionen der z.B. durch Kribbelparästesien bis hin zu brennenden neuritisähnlichen Schmerzen angezeigten Störungen (Gabrys 2004).

Diabetische Neuropathie an den Beinen Elektromagnetische BEMER-Interventionen (2 x 8 min/d, 10,5 µT) bei älteren Patienten mit schmerzender, mittelschwerer diabetischer (also an oxidativen Stress gekoppelte) Neuropathie an den Beinen führten bereits nach 10 Tagen zu einem gegenüber herkömmlicher Behandlung signifikant verbesserten Beschwerdebild.

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Bei der Placebogruppe ergaben sich im gesamten Beobachtungszeitraum von 60 Tagen keine Änderungen (Klopp et al. 2005).

Interzellulare Kommunikation, Immunsystem und Zellproliferation Im Laufe der Evolution entwickelte sich ein auf hochkomplexe physikalisch-chemische Filter, zellulärer und neuronaler Abwehrsysteme basierendes hoch effizientes, insbesondere durch das Kreislauf- und Lymphsystem unterstütztes Schutzsystem gegenüber der Einwirkung breit gefächerter Formen von Störfaktoren. Eine gezielte Beeinflussung der an diesen Mechanismen beteiligten Molekülstrukturen gehört zu den aktuellen molekularbiologischen und pharmakologischen Forschungsaktivitäten. Die Behandlung proliferativer meist an die Auslösung von Schmerzen gekoppelten Zellstörungen wie Auto-Immun- und Krebserkrankungen steht hierbei in der ersten Reihe (Imhoff 2006).

Aktivierung des Immunsystems Klopp (2004) konnte bei seinen Studien zur Mikrozirkulation (vgl. Vasomotorik, S. 306ff) nachweisen, dass 2-minütige BEMER Ganzkörper Applikationen neben den erwähnten rheologischen Verbesserungen zusätzlich sowohl signifikant die Anzahl von aktivierten inter-zellularen Adhäsionsmolekülen (I-CAM 1) und von Leukozyten erhöhen als auch, daran gekoppelt, das Abroll-, Adhärierungs- und Transmigrationsverhalten letzerer verbessern. Ähnlich wie die Verbesserung der rheologischen Eigenschaften der Mikrozirkulation bleibt auch dieser Effekt (mit einer ähnlichen Halbwertszeit) nach Abschalten des elektromagnetischen Feldes erhalten.

Zellproliferation und deren Suppression Gestützt auf die den BEMER Applikationen zugrunde liegenden molekularen Aspekte und ausgerichtet auf das Studium der Zusammenhänge von unkontrollierter Zellproliferation und speziellen immunologischen Mechanismen untersuchte Rihova und Mitarbeiter (2004, 2007) das Wachstum von subkutan implantiertem Tumorgewebe (1 x 105 EL 4 T cell lymphoma) in normalen Mäusen (des homogenen Stamms C57Bl/6) und in immundefizitären (lymphozytenfreien) Mäusen (des homogenen Stamms nu/nu CD 1 H-2b, Thy 1) unter dem Einfluss dieser elektromagnetischen Felder bei unterschiedlichen Feldintensitäten. Sie fanden, dass die elektromagnetische Behandlung (4-mal täglich à 30 min alle 4 Stunden für die Dauer von 21 Tagen nach subkutaner Implantation) in keinem der untersuchten Fälle ein verstärktes Tumorwachstum induzierte. Überraschenderweise stellten sie aber fest, dass diese Form der Intervention ausschließlich bei immundefizitären (lymphozytenfreien) Mäusen, nicht aber bei den normalen Mäusen zu einer signifikanten Wachstumsreduktion der transplantierten Tumorzellen führt. In Auswahl verschiedener Flussdichten (3,5, 10,5, 21 und 35 µT)

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induzierte die Flussdichte von 21 µT die stärkste Wachstumsreduktion (vgl. Physiologische Wirkungen, S. 311ff).

Wundheilung und Verletzungen Unter Wundheilung versteht man die Gesamtheit der verschiedenen Phasen der physiologischen Vorgänge zur Regeneration und Stabilisierung zerstörten Gewebes bzw. zum Verschluss der Wunde (z.B. frische Hautverletzungen, chronische Ulzera, stumpfe Traumen sowie schwere Prellungen oder Muskel und Sehnenverletzungen). Eng an die Wirkung von Signalstoffen gebunden (z.B. die genetisch gesteuerte Synthese und Beeinflussung des Aktivierungszustands von Proteinen und Wachstumsfaktoren), verdeutlicht sie eine (auch an neuro-molekulare Schmerzfunktionen gekoppelte) hoch komplex vernetzte Regulation von Heilungszustand und Heilungsbedarf.

Wundheilung: Synergismus Elektro-Magnetfeld- und LED-LichtApplikation Am Beispiel des Heilungsverlauf standardisiert herbeigeführter Wunden (Ovarektomie bei Katzen) belegen Kafka und Preissinger (2002) durch Photodokumentation, dass nur 3-malige postoperative elektromagnetische BEMER-Applikationen (10 µT, 8 min, unmittelbar nach Operation, nach 3 und 5 Tagen) die Wundheilung erheblich beschleunigen: Gegenüber den normal behandelten, noch teilweise offenen Wunden waren die behandelten am siebten Tagen bis auf geringe Restvernarbung weitgehend abgeheilt und epithelisiert. Bei gleichzeitig zusätzlicher LED-Lichtapplikation (8 min) war die Wundheilung, als offensichtliche Folge eines synergistischen Zusammenwirkens der Spulen- und LED-Dioden generierten elektromagnetischen Felder, bereits am 7. Tag abgeschlossen (volle narbenfreie Epithelisierung).

Elastomechanik der Haut, Dekubitus Analysiert mittels spezifischer Methoden der Auflichtmikroskopie und Bildverarbeitung führten gekoppelte BEMER-Elektromagnet- und BEMER LED-LangzeitBehandlungen älterer Personen (10,5 µT, 70 d, 18000 cd/cm2, 3 x 10 min/d zeitlicher Abstand 2 Stunden, 660 nm kaltes LED-Rotlicht) zu einer – über einer nach DIN bestimmten Rauhtiefe – deutlich verbesserten eleastomechanischen (und damit, abgesehen von ästhetischen Schönheitsaspekten, potentiell besser vor schmerzendes Verletzungen z.B. Dekubitus schützenden) Hautmerkmalen (Klopp et al. 2005).

Angst, Schmerz, Sport und Rehabilitation In Erfüllung von Schutzfunktionen stimulieren Schmerz und Angst (mit bestimmten Einschränkungen für chronische Zustände, vgl. chronische Rücken-

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schmerzen, S. 311ff) das Nervensystem und induzieren vermehrte Wachsamkeit, Konzentration und Handlungsbereitschaft. An unterschiedlichste physiologische Begleiterscheinungen gekoppelt reflektieren sie Reaktionen auf bereits eingetretene oder drohende Verletzungen, Gefahren oder individuelle psychische Belastungen. Wenn Schmerzen und Ängste außer Kontrolle geraten, können sie zu Stress und über z.B. psychosomatische Symptome bis hin zu extremen Leistungseinschränkungen und gesundheitlichen Störungen führen wie Herzinfarkt und Tod (Bernatzky et al. 2006).

Zahnarztangst (Vegetatives Nervensystem, Blutdruck und Pulsfrequenz) Zahnarztangst äußert sich vornehmlich über das vegetative (sympathische) Nervensystem in Form erhöhter Werte für Blutdruck und Pulsfrequenz. Sie ist ursächlich für eine erhöhte Anzahl von Arztbesuchen, unnötig in die Länge gezogenen und für Arzt und Patient erschwerte Behandlungsformen. Michels-Wakili und Kafka (2003) untersuchten den Einfluss einer einmaligen BEMER Behandlung (Intensivapplikator 10 µT, 6 min auf Solarplexus, 30 min vor jeweils verschiedenen, den Patienten (Alter 18 bis 69 Jahre) aber bekannten Interventionen (Routinechecks, Zahnextraktionen, Füllungen oder Operationen) auf Reduktion des unmittelbar vorausgehend durch validierten Test (Spiegelberger Questionnaire, Pulsfrequenz, systolischer und diastolischer Blutdruck) bestimmten Angstzustands. Gegenüber Placebo führt die elektromagnetische Intervention hochsignifikant zur Absenkung von Angstzuständen und zur Normalisierung von Kreislaufparameter (p = 0,01).

Verzögertes Auftreten von Muskelkater In der Suche nach leistungssteigernden Faktoren, vor allem im Spitzensport, konnte Spodaryk (2002) nachweisen, dass elektromagnetische BEMER Ganzkörperapplikationen (35 µT; 21 Tage, täglich 8 min, vor physischer Belastung) Zeichen und Symptome des Auftretens von Muskelkater (Hantelheben durch Oberarm-Unterarmbeugung des ungeübten Arms) signifikant (p < 0,5) verzögern (geringere Bewegungseinschränkung des Ellbogens gemessen an Flexion, Extension und Neutralposition, Reduktion der Muskelhärte und Schmerzempfinden Druckalgometer, Borg Visual Analog Skala). Spodaryk diskutiert diese Verbesserungen als Konsequenz einer durch erhöhte ATP- und 2,3-BDG Konzentrationen (Biochemie humaner Erythrozyten, S. 306ff) induzierte Beeinflussung des Metabolismus und des antioxidativen Status des Skelettmuskels.

(Sportliche) Leistungsfähigkeit Weitere, ähnlich ausgerichtete Untersuchung von Spodaryk und Kafka (2004) belegen, dass BEMER Feldapplikationen (21 Tage BEMER Ganzkörperapplikation 35 µT, täglich 12 min vor Leistungstests am Fahrradergometer) die schmerzhafte

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Empfindung des Erschöpfungszustands (im Allgemeinen, in den Beinen, in der Brust) im Bereich der maximalen Sauerstoffaufnahme (nicht aber im Bereich der ventilatorischen Kapazität, Luftnot) signifikant reduzieren. Als leistungsbegrenzend erwies sich hier die Schmerzempfindung in den Beinen.

Chronische Rückenschmerzen (Rehabilitation und Palliativmedizin) Eingegliedert in ein standardisiertes Programm von physio-therapeutischen Interventionen von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen (chronic low back pain) zeigten Bernatzky und Mitarbeiter (2006) in multizentrisch durchgeführten Untersuchungen, dass elektromagnetische BEMER Behandlungen (3 Wochen, zweimal täglich 20 min, 35 µT) die bereits als signifikant erkannten Erfolge eines standardisierten Rehabilitationsprogramms (Bernatzky et al. 2006; Kafka 2006b) in einigen Parameterwerten (Schlafqualität, Bewegungsschmerz) zusätzlich signifikant (p < 0,05) verbessern. Die Autoren heben deshalb besonders hervor, dass sich die Signifikanz ohne die parallel ausgeführten standardisierten Behandlungsformen noch weiter verbessern und auf weitere Parameterwerte erstrecken könnte.

Zellproliferation und Proteomik Das Studium der Gen-abhängigen Bildung und Aktivität von Proteinen verspricht unter Bezug auf das Wechselspiel mit weiteren Faktoren, wie z.B. Ernährung, Bewegung, Stoffwechsel, Alter und Umwelt tiefgreifende Fortschritte in der Entwicklung bestehender bioanalytischer Methoden und damit vertiefte Einblicke in die kausalen Zusammenhänge des Krankheitsgeschehen, letztlich also in der Verbesserung therapeutischer, insbesondere auch vorsorgender Interventionen (Imhoff 2006).

BEMER Stimulation und Störungen im Stützgewebe (Osteoporose, Gen Expression) Ausgerichtet auf die Behandlung von schmerzhaften Störungen in Stützgeweben, speziell Knochen- (Osteoblasten, Osteoclasten) und Knorpelzellen (Chondrozyten), insbesondere von Osteoporose konnten Kafka, Walther, Schütze und Mitarbeiter (2005) im Rahmen differentieller in-vitro Gen Chip-Analysen an Knochen- (hFOB human fetal osteoblast progenitor cells) und Knorpelzellen nachweisen, dass kurzeitige BEMER-Applikationen (35 µT, 4 Tage, 3-mal täglich im Abstand von 8 Stunden, je 8 min) gegenüber unbehandelten Proben zu messbaren Up- und Down- Regulationen in der Proteinsynthese führen: z.B. Up-Regulation: RNF6, Ringfingerprotein, potentieller Tumorsuppressor; FABP4 Lipidtransporter, Down Regulation: APP, Alzheimer Disease Oberflächenrezeptor; GOLGA3, Golgi Auto Antigen, vermutlich zur Stabilisierung des Golgi Apparats. Wenn auch aufgrund des bislang noch ungeklärten Zusammenwirkens von Genaktivitäten (Proteomik) der Gentherapie derzeit nur geringe praktische Be-

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deutung zugemessen werden kann, so ist dennoch positiv festzuhalten, dass die hier unter der BEMER-Einwirkung nachgewiesene Up- und Down-Regulation stets in gesundheitlich prospektive Richtung weist. Insbesondere trat eine verstärkte Expression von Tumorgenen nicht auf (Kafka et al. 2005).

Diskussion: Bewertung der Ergebnisse und Umsetzung für die praktische Anwendung Die physiologischen Wirkungen und die ihre unterschiedliche Prozessierung Insgesamt überdecken die hier vorgestellten BEMER Applikationen ein breit gestreutes Fächer von im Sinne der Evidence Based Medicine wissenschaftlich abgesicherten, effizienten biologisch-physiologischen, insbesondere gesundheitlich benignen Wirkungen. Sie lassen sich zusammenfassend charakterisieren durch signifikant –







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erhöhte Konzentration energiereicher Verbindungen (ATP, 2,3-BPG) in humanen Erythrozyten (Kafka, Spodaryk 2003a; Rihova 2004) verbesserten Funktionszustand der Mikrozirkulation (vitalmikroskopische und -spektroskopische Untersuchungen (Klopp 2004; Klopp et al. 2005) erhöhte Enzymaktivität in den Erythrozyten gegen Oxidantien und freie Radikale (Gabrys 2004; Kafka, Spodaryk 2003a, 2003b; Klopp et al. 2005) aktivierte Initialisierung von Immunreaktionen (Klopp 2004; Klopp et al. 2005; Rihova 2004; Rihova et al. 2007) reduziertes Lymphozyt-abhängigen Tumorwachstum (Rihova 2004) gesteigerte Protektion gegen chemische Stressfaktoren (Teratogene) in der Embryonalentwicklung (Jelínek et al. 2002) verbesserte und verkürzte Wundheilung (Kafka, Preißinger 2002) reduzierte diabetische Neuropathien an den Beinen (Klopp et al. 2005) verbesserte Oberflächengüte und Elastomechanik der Haut (Klopp et al. 2005) reduzierter (Zahnarzt-) Angstzuständen und relevanter Kreislaufparameter (Blutdruck und Pulsfrequenz) (Michels-Wakili, Kafka 2003) verzögertes Auftreten von Muskelschmerzen und verbesserter Beweglichkeit vor physischer Belastung (Spodaryk 2002; Spodaryk, Kafka 2004) erhöhtes Schwellwertempfinden sportlicher Leistungsfähigkeit vor physischer Belastung (Spodaryk, Kafka 2004) verbesserte Unterstützung standardisierter Rehabilitationsverfahren im Bezug auf Schlafstörungen, chronischen Kreuz- und Bewegungsschmerzen (Bernatzky et al. 2006; Kafka 2006b) beeinflusste differentielle Up- und Down Regulation der Proteinsynthese von humanen Osteoblasten und Chondrozyten (Kafka et al. 2005; Walther et al. 2007)

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Die hierbei festgestellten differentiellen Befunde wie z.B. die gleichzeitig induzierten Up- und Down- Regulationen in der Proteinsynthese dienen als verlässliche Nachweise dafür, dass die induzierten physiologischen Wirkungen auf durch unterschiedliche Primärprozesse initiierten molekularen Prozessen beruhen. In diese Richtung weisen auch die Prozesse die zur Bildung und Aktivierung der Adhäsionsmoleküle (ICAM-1) führen. Ähnliches gilt auch für die differentiellen Befunde zum Tumorwachstum in normalen und lymphozytfreien Mäusen8 sowie für den Synergismus der Spulen- und LED-Licht induzierten Feldapplikationen bei den Untersuchungen zur Wundheilung und Hautelastizität. Sie bestätigen letztendlich auch das der BEMER Anwendung zugrundliegende physikalisch-physiologische Konzept. Es lässt sich nicht ausschließen, dass sich einige der Befunde erst als Folge funktioneller Überlappungen von primär unterschiedlich aktivierten molekularen Mechanismen einstellen. Wegen der komplexen Vernetzung derartiger Regulationsprozesse bleiben beim derzeitigen Stand der Untersuchungen die Fragen nach Ort und Art der induzierten Aktivierungsprozesse jedoch noch ungelöst. Nur am Rande sei zur Vermeidung vor potentieller Verwirrung darauf hingewiesen, dass die für die Auslösung verantwortliche Aktivierungsenergie deutlich zu trennen ist von der bei Stoffwechselreaktionen umgesetzten Energie und damit primär in keinem Zusammenhang steht. Insofern widerlegen die Befunde die „energiemedizinisch“ vielfach vertretene Auffassung, dass Gesundheitsstörungen grundsätzlich auf Energie- insbesondere Sauerstoffmangelzustände zurückzuführen seien.9

Nebenwirkungen, (Relative) Kontraindikationen Nach Mitteilung der zuständigen Zulassungsbehörde wurde innerhalb der letzten 8 Jahre seit Markteinführung der BEMER-Systeme im Jahr 1998, also praktisch nach millionenfachen Langzeitanwendungen, kein einziger negativer Nebeneffekt angezeigt (Schriftsatz beim Verfasser). In Übereinstimmung mit Berichten über störungsfreie BEMER-Applikationen im prägnanten und vorprägnanten Zustand entkräftet dies die im Zusammen8 Die Ursache für dieses unerwartete, zukünftige Tumorbehandlungen potentiell entscheidend verwertbare Ergebnis (B- und T-Lymphozyten werden üblicherweise als an der für die Suppression ungehemmter Zellproliferation beteiligten Faktoren angesehen) ist danach in einer durch die Krebszellen induzierten Beeinflussung der Signalkette von molekularen Interaktionen zu sehen, die beeinflusst durch die elektromagnetischen Behandlung nur in den nu/nu-Mäusen zur Geltung kommt. Offensichtlich wird dieser Signalweg in den „normalen Mäusen“ durch spezielle lymphozytale Faktoren in eine andere Richtung gelenkt. 9 Dafür sprechen auch die Fakten der zunehmenden Zuwachsraten des metabolischen Syndroms Diabetes Typ 2 von derzeit ca. 140 Millionen (mit steigendem Anteil von Jugendlichen). – Die Formen der Stoffwechsel-Energie sind also offensichtlich sogar im Überschuss vorhanden. Abgesehen davon wäre es widersprüchlich in einem vernetzen, also nur als Ganzes funktionierenden Regulationssystem, einzelne Faktoren wie z.B. Sauerstoff oder ATP als funktionsentscheidend zu bewerten.

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hang mit allgemeinen elektromagnetischen Feldwirkungen (z.B. der elektronischen Kommunikation und Energieversorgung) diskutierte – letztlich auch nach amtlichen Unterlagen (WHO, und Deutsches Bundesamt für Strahlenschutz) unbegründete – Gefährdung von Schwangeren. Modell-Untersuchungen an Hühnereiern zeigen, dass BEMER-Applikationen nicht nur nicht zu Störungen der Embryonalentwicklung führen, sondern sogar die malformierenden Wirkungen von teratogenen Stressfaktoren signifikant reduzieren (Jelínek et al. 2002). Mit der ausschließlich in Richtung Tumor suppressiver Proteine gefundenen Gen-Regulation liefern auch die Ergebnisse der hier vorgestellten Gen-Chip Analyse hierzu einen weiter entlastenden Beitrag. Wenn auch durch keinerlei Befunde im bisherigen Anwendungszeitraum angedeutet, sei als relative Kontraindikation darauf hingewiesen, dass es aufgrund der Aktivierungen des Immunsystems bei frischen Fremdkörpertransplantationen eventuell zu Abstoßungsreaktionen kommen könnte. Ohne Einschränkung einer der entsprechenden medizinischen Intervention vorausgehenden BEMERBehandlung sollte also der BEMER Einsatz erst nach medizinisch diagnostizierter Normalisierung der immunologischen Abwehrreaktionen erfolgen.

Praktische Umsetzung und Anwendungsempfehlungen Vor diesem Hintergrund bietet die hier vorgestellte spezielle Form der Applikation elektromagnetischer Felder praktisch universell nutzbare und erfolgversprechende Einsatzmöglichkeiten. Speziell gestützt auf die funktionellen Verbesserungen im präventiven Einsatzbereich (Kafka et al. 2005; Kafka, Spodaryk 2003a; Klopp 2004; Klopp et al. 2005; Michels-Wakili, Kafka 2003; Spodaryk 2001, 2002; Walther et al. 2007) und deren potentiell positiven Auswirkung auf die Funktion der Mikrozirkulation, des Kreislauf- und Immunsystems, der Leistungsfähigkeit im Sport, der Verzögerung von Muskelkater etc., insbesondere auch bei der Behandlung von an Schmerz, Angst, Unwohlsein oder an sonstige biologische Marker und Diagnosen gekoppelte symptombezogene gesundheitliche Störungen wie beispielsweise Migräne, rheumatische Störungen, Neuropathien, Diabetes Typ 2, Wund- und Knochenverletzungen, Alkoholabusus, Chemotherapie oder sonstigen strahlungsbedingten oxidativen, neuronalen, chemischen oder immunologischen Stresssituationen, bietet es – weitgehend uneingeschränkt durch Kontraindikationen – hervorragende Einsatzmöglichkeiten. Trotz sehr komplexer biologisch-physiologischer Zusammenhänge gestaltet sich die Anwendung ergonomisch und denkbar einfach in 2 Schritten: 1. Positionieren der Applikatoren (Abb. 1, 2), 2. Intensitätswahl und Start. Und das – wie beim Zähneputzen – möglichst täglich dreimal (morgens, mittags, abends). Dennoch, die vielfältigen und erfolgversprechenden Einsatzmöglichkeiten auf der einen Seite und die extrem einfache und ergonomisch Bedienung sollten nicht zur Selbstdiagnose verleiten: Die BEMER-Therapie ist nicht darauf ausgerichtet

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die medizinische Versorgung (alternativ) zu ersetzen sondern diese (komplementär) zu unterstützen.

Spezielle Anwendungen (Brand-)Wunden, Verletzungen, Traumen, Sportunfälle und operative Eingriffe: Intensivapplikator maximale Intensität (auch mehrmals) unmittelbar nach Verletzung (eventuell noch vor Kühlung). Chirurgische Interventionen, analog zur Schmerzbehandlung – ein der Intervention vorausgehender Einsatz. Neurologischer, chemischer und physikalischer Stress (z.B. im Leistungsport, in der Rehabilitation und der Palliativmedizin): Ein der potentiellen Belastung vorausgehender – möglichst aber kontinuierlicher – Einsatz.

Schlussfolgerung: Eine positive Perspektive Gemessen an der Zeitschiene der letzten 100 Jahre lag das Verhältnis von akuten zu chronischen Erkrankungen um 1900 bei 50% zu 50%. Heute hat sich dieses Verhältnis – trotz zunehmender Lebenserwartung – auf das ernüchternde Zahlenverhältnis von 5% akute Erkrankungen zu 95% chronische Erkrankungen verschoben. Im selben Zeitraum stieg die Zahl der Herzerkrankungen um das 14-Fache, der degenerativen Skeletterkrankungen um das 17-Fache, der Krebserkrankungen um das 20-Fache, der Zuckererkrankungen um das 56-Fache und der Allergien um das 70-Fache! Insgesamt bietet die vorgestellte Methode der Applikation speziell gepulster elektromagnetischer Felder dem alternden, dem kranken, dem gesundenden und selbst dem gesunden Menschen – letztlich also jedem in jeder Lebenslage – eine umfassende gesundheitliche Unterstützung. Im Sinne einer ganzheitlichen und universell anwendbaren – auch Medikamente reduzierenden – Therapiemethode kann sie so dazu beitragen die Lebensqualität weiter zu verbessern. – Dennoch und trotz all dieser prospektiven Aussichten dürfen die Ergebnisse nicht darüber hinwegtäuschen, dass, wie grundsätzlich auch für keine andere Therapie, auch für diese keine 100-prozentige Erfolgsgarantie vorausgesetzt werden kann. Unabhängig davon und trotz der vielen offenen Fragen zum Wirkmechanismus kann aufgrund der hier vorgestellten wissenschaftlich abgesicherten positiven Befunde grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass die laufenden Untersuchungen dazu beitragen werden, tiefere Einblicke in die den breit gestreuten therapeutischen Erfolge zu Grunde liegenden Wirkmechanismen zu gewähren und so zu einer weiteren Optimierung therapeutischer und vorsorgenden Maßnahmen auch in der Schmerzbehandlung führen. – In der aktuellen Suche nach neuen und sicheren Wegen der Gesunderhaltung ist die hier vorgestellte Applikationsform aber schon jetzt eine solide Basis zur Kostensenkung im allgemeinen Gesundheitswesen.

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Bio-Elektro-Magnetische-Energie-Regulation (BEMER)

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Klopp R (2004) Vitalmikroskopische und reflexionsspektrometrische Untersuchungen zur Wirkung des Gerätesystems „BEMER 3000“ auf den Funktionszustand der Mikrozirkulation. Bericht aus dem Institut für Mikrozirkulation, Berlin Klopp R, Niemer W, Pomrenke P, Schulz J (2005) Magnetfeldtherapie: Komplementär-therapeutisch sinnvoll oder Unsinn? Stellungnahme unter Berücksichtigung neuer Forschungsergebnisse mit dem Gerätesystem BEMER 3000. Institut für Mikrozirkulation, Berlin Michels-Wakili S, Kafka WA (2003) BEMER 3000 type pulsed low-energy electromagnetic fields reduce dental anxiety: a randomized placebo-controlled single-blind study. 10th International Dental Congress on Modern Pain Control lFDAS June 2003, Edinburgh, Scotland Quittan M, Schuhfried O, Wiesinger GF, Fialka-Moser V (2000) Klinische Wirksamkeiten der Magnetfeldtherapie – eine Literaturübersicht. Acta Medica Austriaca 3: 61–68 Rihova B (2004) Die Wirkung der elektromagnetischen Felder des BEMER 3000 auf das Wachstum des experimentellen Mäuse-EL 4T Zellen-Lymphoms, SAMET Kongress, Interlaken Rihova, B Dbaly J, Kafka WA (2007) Special (BEMER-type) pulsed weak electromagnetic fields outwit tumor cells using lymphocytes as camouflage-caps in e- and athymic mice (in Vorbereitung) Spodaryk K (2001) Red blood metabolism and haemoglobin oxygen affinity: effect of electromagnetic field on healthy adults. In: Kafka WA (ed) 2nd Int World Congress Bio-ElectroMagnetic-Energy-Regulation. Emphyspace 2: 15–19 Spodaryk K (2002) The effect of extremely weak electromagnetic field treatments upon signs and symptoms of delayed onset of muscle soreness: a placebo controlled clinical double blind study. Medicina Sportiva 6: 19–25 Spodaryk K, Kafka WA (2004) the influence of extremely weak pulsed electromagnetic field typed BEMER 3000 on ratings of perceived exertion at ventilatory threshold. In: Marincek C, Burger H (eds) Rehabilitation Sciences in the New Millennium Challenge for Multidisciplinary Research. 8th Congress of EFRR, Ljubljana. Medimont International Proceedings, pp 279–283 Stierstadt K (1989) Physik der Materie. VCH Verlagsgesellschaft, Weinheim Walther M, Meyer F, Kafka WA, Schütze N (2007) Gen-Chip analytical control of BEMER induced up- and down regulated protein synthesis in human osteoblasts and chondrocytes (in Vorbereitung)

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie im Gruppensetting R. S ITTL, N. GRIE SS I NG E R u n d C. K O HNE N

Einführung Internationale Studien haben gezeigt, dass bei stark chronifizierten Schmerzpatienten interdisziplinäre Therapiekonzepte erforderlich sind. Monodisziplinäre Therapieansätze sind wenig erfolgreich. In diesem Kapitel wird gezeigt, wie chronische Schmerzpatienten in einer interdisziplinären Einheit behandelt werden. Die Darstellung erfolgt am Beispiel der Schmerztagesklinik am Universitätsklinikum Erlangen, Deutschland, die differenzierte Schmerztherapieprogramme für Patienten anbietet.

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R. S i t t l e t a l .

Grundsätze der interdisziplinären Schmerztherapie Einleitung Nachfolgend wird die Rationale für eine interdisziplinäre Schmerztherapie dargestellt. Der Grundstein für den interdisziplinären Ansatz in der Schmerztherapie wurde bereits in den späten 50er Jahren von dem namhaften Anästhesisten John Bonica geprägt. Er machte die Erfahrung, dass es gerade bei der Therapie chronischer Schmerzen entscheidend auf eine interdisziplinäre Kooperation ankommt.

Definition Die Begriffe „multidisziplinär“ und „interdisziplinär“ werden häufig austauschbar verwendet, sollten jedoch differenziert werden. Interdisziplinäre Zusammenarbeit geht über die gleichzeitige Behandlung des Patienten durch mehrere Therapeuten verschiedener Professionen hinaus.

Multidisziplinär Diagnose und Behandlung des Patienten durch mehrere Fachdisziplinen.

Interdisziplinär Gemeinsame, integrative Diagnose und Festlegung von Therapiezielen und Therapieplanung. Dies erfordert intensiven kollegialen Austausch und ausreichende Besprechungszeiten.

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie im Gruppensetting

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Indikation Die interdisziplinäre Schmerztherapie kommt vor allem für Patienten in Frage, bei denen der chronische Schmerz zu einem eigenständigen Krankheitsbild geworden ist. Häufig sind für die Chronifizierung von Schmerzen persönlichkeitsbedingte, psychosoziale Bedingungen (mit-) verantwortlich, die eine mehrdimensionale, interdisziplinäre Schmerztherapie notwendig machen. Typische Merkmale eines chronischen Schmerzpatienten sind -

Multilokalisation des Schmerzes Lange Schmerzgeschichte Psycho-soziale Probleme Viele ineffektive Behandlungsversuche

Das bio-psycho-soziale Modell Die Übersichtsgraphik zeigt, dass bei chronischen Schmerzpatienten nicht nur die biologischen, d.h. die somatischen Ursachen der Schmerzen berücksichtigt werden müssen, sondern dass ebenfalls die Psyche, das soziale Umfeld und die gesell-

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R. S i t t l e t a l .

Lebensqualität trotz starker Schmerzen

schaftlichen Rahmenbedingungen (z.B. Arbeitsplatzsituation, versicherungstechnische Fragen) eine ganz wesentliche Rolle spielen. Schmerz ist eben nicht nur eine reine körperliche Angelegenheit, sondern ein „bio-psycho-soziales Phänomen“.

Ziele Ziele der interdisziplinären Schmerztherapie sind: -

Interdisziplinäre Schmerzanalyse und -diagnostik Interdisziplinäre Therapieplanung und Durchführung Schmerzreduktion, nicht Schmerzfreiheit Physische, psychische und soziale Rehabilitation Geringere Inanspruchnahme des Gesundheitssystems Rückkehr zum Arbeitsplatz

Basiselemente Wichtige Elemente in multimodalen therapeutischen Gruppenprogrammen sind medizinische Trainingstherapie, psychologische Schmerzbehandlung, Entspannungsverfahren und patientenverständliche Edukation. Eine wichtige Voraussetzung für den Therapieerfolg ist eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung und eine optimale schmerztherapeuthische Basisbehandlung.

Perspektiven Zusammenfassend kann man feststellen, dass chronische Schmerzen interdisziplinär behandelt werden müssen. Eine interdisziplinäre und multimodale Schmerz-

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie im Gruppensetting

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Elemente einer multimodalen Schmerztherapie in Gruppenform

therapie zeigt nach der Literatur bessere Ergebnisse als monodisziplinäre Verfahren, aber sie ist auch aufwendig und teuer. Eine Alternative gibt es derzeit nicht.

Ausblick - Differenzierte Konzepte müssen entwickelt werden (z.B. Senioren, Kinder, spezielle Indikationen) - Qualitätssicherung ist notwendig - Konzepte müssen wirtschaftlich sein - Konzepte müssen flächendeckend angeboten werden

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R . Si t t l e t a l .

Das Team der Schmerztagesklinik Erlangen

Die interdisziplinäre Schmerztagesklinik Einleitung In diesem Abschnitt wird die praktische Umsetzung einer interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie am Beispiel der Schmerztagesklinik Universitätsklinikum Erlangen, Deutschland beschrieben.

Organisationsstruktur Die interdisziplinäre Schmerztagesklinik Erlangen ist eine Einrichtung, an der verschiedene Kliniken und Abteilungen beteiligt sind bzw. kooperieren:

Beteiligte Kliniken und Abteilungen -

Anästhesie Neurologie Orthopädie Psychiatrie/Psychosomatik Psychologie

Kooperierende Partner - Klinische Pharmakologie - Physiologie - Medizinische Trainingstherapie

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Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie im Gruppensetting

Personalstruktur Die Personalstruktur an der Schmerztagesklinik Erlangen sieht folgendermaßen aus: Anästhesist

Neurologe

Orthopäde

Psychosomatische Medizin

Psychologen

Sporttherapeut

Cotherapeut

Physiotherapeut

Pflegekräfte Personal für Organisation und Dokumentation Alle Ärzte haben die Zusatzbezeichnung spezielle Schmerztherapie.

Erläuterung Die Schmerztagesklinik in Erlangen wird von zwei Oberärzten aus den Bereichen Anästhesiologie und Neurologie geleitet. Beide Oberärzte haben die Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“. Neben diesen Oberärzten arbeiten ein schmerztherapieerfahrener Anästhesist, eine Neurologin, eine Orthopädin, einer Ärztin für psychosomatische Medizin und zwei Psychologen in der Schmerztagesklinik. Zwei medizinische Trainingstherapeuten (diplomierte Sportlehrer mit Zusatzausbildung), ein Cotherapeut (Musiktherapie und Naturerleben) und eine Physiotherapeutin vervollständigen das Behandlerteam. Eine Pflegekraft und Personal für die Organisation und Dokumentation ergänzen das Team.

Patientenanfrage Wie läuft die Patientensichtung ab? Anfrage von Patienten, Ärzten Fragebogen Sichtung des Fragebogen und der Unterlagen

Ambulanter Termin

Tagesklinischer Termin

Alternativlösung

Erläuterung Die Aufnahme von Patienten erfolgt entweder nach Anfrage von Patienten selbst, nach Voranmeldung durch niedergelassene Ärzte oder durch Zuweisung anderer Abteilungen des Klinikums. Patienten erhalten einen ausführlichen standardisierten Fragebogen.

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R. S i t t l e t a l .

Der ausgefüllte Fragebogen einschließlich der Unterlagen wird gesichtet und in eine Datenbank eingegeben und ausgewertet. Danach wird entschieden, ob der Patient einen ambulanten oder tagesklinischen Termin erhält. Bei einem Teil der Patienten werden auch Alternativlösungen, z.B. Aufenthalt in einer Schmerzklinik oder eine wohnortnahe Versorgung empfohlen.

Patientenaufnahme Wie läuft die Patientenaufnahme in tagesklinische Gruppenprogramme ab? Tagesklinischer Termin Ärztliche Untersuchung 90–120 min.

Psychologische Untersuchung 90 min.

Sporttherapuetische Untersuchung 120 min.

Screeningkonferenz Ambulante Therapiekonzepte

Empfehlung einer stationären Therapie

Differenzierte tagesklinische Gruppenprogramme für – Patienten mit chronischen Rücken/Nervenschmerzen – Patienten mit chronischen Kopfschmerzen – Patienten mit chronischen Schmerzen – Patienten mit somatoformen Schmerzstörungen

Erläuterung Wenn der Patient einen Termin in der Schmerztagesklinik erhält, erfolgt zu Beginn eine ausführliche ärztliche Anamnese und Untersuchung. Im Anschluss an die ärztliche Untersuchung erhält der Patient immer einen einstündigen Termin beim Psychologen zur psychologischen Diagnostik. Es ist wichtig, dass die Patienten bereits von Anfang an sehen, dass in unserer Abteilung Ärzte und Psychologen eng und Hand in Hand arbeiten. Bei der sporttherapeutischen Diagnostik erfolgt eine zweistündige Untersuchung durch unsere medizinischen Trainingstherapeuten. In der nachfolgenden Screening-Konferenz wird entschieden, ob der Patient für das multimodale Therapieprogramm geeignet ist, und ob er mit hoher Wahrscheinlichkeit von diesem Therapieprogramm profitieren wird. Entweder wir schlagen ein ambulantes Therapiekonzept vor, oder empfehlen eine stationäre Therapie, oder wir nehmen den Patienten in unser tagesklinisches Gruppenprogramm auf (für einzelne Patientengruppen werden differenzierte Programme angeboten).

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie im Gruppensetting

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Patienten beim Ausdauertraining

Patienten mit chronischen Rücken/Nervenschmerzen Patientenzahl: Dauer: Therapeuten: Programm:

8–10 Patienten in einer Gruppe 4–5 Wochen (täglich, 8.00–15.30 h) Festes Therapeutenteam (Arzt, Psychologe, Sporttherapeut, Physiotherapeut, Cotherapeut) Überwiegend aktive Therapien)

Patienten mit chronischen Kopfschmerzen Patientenzahl: 8–10 Patienten in einer Gruppe Dauer: 10 Wochen (2-mal pro Woche) Therapeuten: Festes Therapeutenteam (Neurologe/Schmerztherapeut, Psychologe, Sporttherapeut) Programm: Besondere Therapieelemente: Stressbewältigungstraining, Biofeedback-Therapie, Ausdauersport

Patienten bei der Entspannung

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R. S i t t l e t a l .

Senioren mit chronischen Schmerzen Patientenzahl: Dauer: Therapeuten: Programm:

8–10 Patienten in einer Gruppe 8 Wochen (2-mal pro Woche, 15.00–21.00 Uhr) Festes Therapeutenteam (…) Überwiegend aktive Therapieelemente, jedoch langsamer und vereinfacht

Seniorengruppe im Sportzentrum

Patienten mit somatoformen Schmerzstörungen Patientenzahl: Dauer:

8–10 Patienten in einer Gruppe 6 Monate (1- bis 2-mal pro Woche, 9.00–15.00 Uhr), 40 Sitzungen

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie im Gruppensetting

Therapeuten: Programm:

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Festes Therapeutenteam (Arzt für psychosomatische Medizin und erfahrener Schmerztherapeut, Sporttherapeut) Besondere Therapieelemente: psychodynamische, interaktionelle Gruppentherapie zur Differenzierung von Affekt und Schmerz, spielerische Elemente im medizinischen Training

Therapieziel-Vereinbarung Vor der Aufnahme in das Gruppenprogramm diskutieren wir mit dem Patienten die therapeutischen Ziele. Schmerzfreiheit ist nur selten zu erreichen. Unser Ziel ist eine Schmerzreduktion und eine Veränderung des Schmerzerlebens. Wir wollen erreichen, dass der Patient besser mit seinem Schmerz leben kann. Wir erklären ihm, dass v. a. aktive Bewältigungsstrategien wichtig für chronische Schmerzpatienten sind. Weiterhin wird besprochen, dass eine Funktionsverbesserung und eine geringere Inanspruchnahme des Gesundheitssystems Ziele unserer Therapie sind. Im günstigsten Fall sollte der Patient wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehren können.

Elemente eines multimodalen Therapieprogramms Die multimodale Schmerztherapie beinhaltet viele verschiedene Therapieverfahren, die je nach Programm mit unterschiedlicher Gewichtung zum Einsatz kommen. Elemente der multimodalen Schmerztherapie sind: -

medikamentöse Therapie, nichtmedikamentöse Therapie, Physiotherapie, medizinische Trainingstherapie, Entspannungstraining, Hypnose, Schmerz/Stressbewältigungstraining, psychotherapeutische Gruppe,

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R. S i t t l e t a l .

Therapieelemente des multimodalen Gruppenprogramms

-

psychotherapeutische Einzelgespräche, Patientenschulung, ärztliche Sprechstunde, Sonderverfahren.

Die diagnostischen Maßnahmen sollten vor Programmbeginn abgeschlossen sein. Während des Programms werden keine invasiven und passiven Therapie-maßnahmen angeboten. Ziel ist eine Aktivierung des Patienten und seiner Resourcen.

Medikamentöse Therapie Die medikamentöse Therapie sollte bereits vor Beginn des Programms optimiert werden. Gelegentlich sind noch Anpassungen während des Programms notwendig.

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie im Gruppensetting

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Nichtmedikamentöse Therapie Von den vielen nichtmedikamentösen Therapieverfahren wenden wir routinemäßig die transkutane Nervenstimulation an. Die Patienten erhalten eine eingehende Schulung. Die Biofeedbacktherapie (Gefäßtraining, EMG-Biofeedback) ist ein zentrales Element bei Kopfschmerzpatienten. Alle Patienten lernen die Lokalisation der sechs schmerztherapeutisch wichtigsten Akupressurpunkte, um diese Methode in Eigentherapie durchführen zu können.

Physiotherapie Neben der medizinischen Trainingstherapie werden spezielle physiotherapeutische Maßnahmen geübt (z.B. Dehnungsübungen). Auch hier gilt der Grundsatz, dass aktive Behandlungsformen bevorzugt eingesetzt werden, die Patienten später selbstständig fortführen können.

Medizinische Trainingstherapie Ein wesentlicher Baustein unseres Programms ist das medizinische Training, das jeder Patient zwei Stunden pro Tag durchführt. Hierbei werden Ausdauerdefizite, Kraftdefizite, Beweglichkeitsdefizite und Störungen der neuromuskulären Koor-

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dination behandelt. Zwei Sporttherapeuten und ein Arzt leiten die Patienten vor Ort an. Des weiteren wird dem Patienten im Unterricht vermittelt, dass bei unspezifischen Rückenschmerzen nicht Ruhe und Schonung, sondern Aktivität, Training einschließlich Stressabbau notwendig sind, um aus dem Teufelskreis der chronischen Rückenschmerzen heraus zu finden. Parallel werden auch Bewegungsabläufe aus dem Alltags- und Berufsleben trainiert und es erfolgt eine Wissensvermittlung zu Anatomie und Funktionsweise der Wirbelsäule. Mit Hilfe des medizinischen Trainings, welches zum Teil auch in Gruppen erfolgt, kann erreicht werden, dass Patienten aus der passiven Patientenrolle herausfinden, dass sie die Angst vor Bewegung verlieren, und dass sie auch Kontaktängste und soziale Isolierung überwinden.

Entspannungstraining, Hypnose Alle Patienten erlernen im multimodalen Therapieprogramm die progressive Muskelentspannung. Bis zum Ende des Gruppenprogramms sollen sie die Kurzform sicher beherrschen. Neben dem täglichen Üben in der Gruppe erhalten die

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie im Gruppensetting

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Patienten eine CD zur Durchführung dieser Therapieform am Abend. Viermal erhalten die Patienten auch eine Einführung in die Tiefentrance und Hypnose. Patienten, die mit der progressiven Muskelentspannung nicht zu recht kommen, wird ein Konzept zur Erlernung von Selbsthypnose angeboten.

Schmerz-/Stressbewältigungstraining Einen großen Anteil im Therapiekonzept nimmt das Schmerz- bzw. Stressbewältigungstraining ein, das jeweils von einem Psychologen und Cotherapeuten gemeinsam durchgeführt wird. Neben der Vermittlung des biopsychosozialen Schmerzmodells lernt der Patient Strategien, wie er Schmerzauslöser erkennen, vermeiden und überwinden kann. Ziel ist außerdem die Verbesserung der Schmerzbewältigung, Verringerung stressbedingter Einflüsse auf den Schmerz.

Psychotherapeutische Gruppe In der psychotherapeutischen Gruppe wird mit den Patienten erarbeitet, welche Funktion der chronische Schmerz für den Patienten haben könnte. Darüber hin-

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aus wird versucht, heraus zu arbeiten, ob traumatischer Erlebnisse bzw. psychosozialen Belastungsfaktoren am Schmerz beteiligt sind. Auf Grundlage dieser Ergebnisse werden dann in psychologischen Einzelgesprächen dem Patienten weitere Hilfen angeboten.

Psychotherapeutische Einzelgespräche Ein wesentliches Behandlungselement sind die psychotherapeutischen Einzelgespräche. Alle Patienten haben die Möglichkeit, pro Woche bis zu zweimal psychologische Einzelgespräche mit einem Psychologen bzw. einer Ärztin für psychosomatische Medizin zu führen, um Problematiken, die wesentlich am Schmerzgeschehen beteiligt sind, zu bearbeiten. Hier werden auch Strategien für die Zeit nach dem Programm besprochen und geplant.

Patientenschulung Die Patientenschulung umfasst je nach Gruppe zwischen sechs und acht Stunden. Dem Patienten werden die wichtigsten Informationen zu den eingesetzten Schmerzmitteln in einer interaktiven Vorgehensweise vermittelt. Neben den Me-

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dikamenten werden auch die wichtigsten nicht-medikamentösen Therapieverfahren und ihre Wertigkeit dargestellt. Weiterhin erhalten die Patienten genaue Informationen zu unterschiedlichen Schmerzsyndromen (z.B. neuropathische Schmerzen, Kopfschmerzen).

Ärztliche Sprechstunde Die Patienten im Gruppenprogramm werden von einem Arzt betreut. Neben den festen Arztgesprächen hat jeder Patient täglich die Möglichkeit sich bei akuten Problemen an den Gruppenarzt zu wenden.

Sonderverfahren Derzeit testen wir in diesen multimodalen Therapieprogrammen verschiedene andere Therapieansätze, wie z.B. Naturerleben und Musiktherapie. Im Naturerleben sollen die Patienten lernen, ihre Wahrnehmung nach aussen zu lenken, mit allen Sinnen positives zu Erleben. Die Musiktherapie hilft Emotionen auszudrücken, Freude am Experimentieren mit unterschiedliche Instrumenten zu erleben und Gemeinschaftserlebnisse zu fördern.

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Wochenplan eines multimodalen Programms (Beispiel)

Zusätzlich psychologische Einzelgespräche

Evaluierung Alle Fortschritte in den Einzelelementen des multimodalen Therapieprogramms werden kontinuierlich erhoben und dokumentiert. Auch am Ende des Therapieprogramms erfolgt mit Hilfe von sehr ausführlichen Fragebögen eine Evaluierung des Therapieerfolgs. Besonderer Wert wird dabei auf psychometrische Tests zur Erfassung der Schmerzverarbeitung und Schmerzbewältigung gelegt. Alle Daten werden in einer Datenbank gesammelt und können zu jeder Zeit eingesehen werden.

Nachsorgekonzept Um einen langfristigen Therapieerfolg von multimodalen Therapieprogrammen zu sichern, ist eine Nachsorge bei den Patienten unerlässlich.

Nachbeobachtung mit standardisierten Fragebögen Die Patienten werden mit Hilfe von standardisierten Fragebögen langfristig nachbeobachtet (z.B. nach 3–6 Monaten, nach einem Jahr usw.).

Feste Auffrischtage Ein fester Nachsorgetermin findet nach 8–12 Wochen statt.

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Ambulante Termine, Schmerztherapiewoche Bei Verschlechterung der Ergebnisse wird ein spezielles Nachsorgeprogramm in Form von ambulanten Terminen oder einer Schmerztherapiewoche angeboten.

Feste Nachsorgetag 8–12 Wochen nach dem multimodalen Therapieprogramm kommen die Gruppenpatienten gemeinsam zu einem Schmerztherapietag. In ausführlichen Gesprächen mit Arzt und Psychologen wird in einer Rückschau das multimodale Therapieprogramm aufgearbeitet und gemeinsam überlegt, welche vorgenommen Ziele bisher umgesetzt wurden. Es wird festgestellt, ob der Patient noch weitere Hilfe braucht, um seine Ziele besser zu erreichen. Im medizinischen Training wird überprüft, ob Erreichtes erhalten oder vielleicht sogar ausgebaut worden ist. Dem Patienten werden dann genaue Anleitungen mitgegeben, um das Erlernte im Alltag umsetzen zu können.

Ambulante Termine, Auffrischwoche Bei Verschlechterung der Symptomatik bieten wir den Patienten ambulante Termine zur Therapieoptimierung an. Bei besonders schwierigen Fällen bieten wir zweimal im Jahr eine Nachsorgewoche an (Gruppenprogramm, täglich sieben Stunden). In dieser Nachsorgewoche wird intensiv mit den Patienten gearbeitet, um wieder eine Funktionsverbesserung, Schmerzreduktion und verbesserte Schmerzverarbeitung zu erreichen.

Weiterführende Literatur Guzmán J, Esmail R, Karjalainen K, Malmivaara A, Irvin E, Bombardier C (2002) Multidisciplinary bio-psycho-social rehabilitation for chronic low-back pain. The Cochrane Database of Systematic Reviews, Issue 1 Jensen IB, Bergstrom G, Ljungquist T, Bodin L (2005) A 3-year follow-up of a multidisciplinary rehabilitation programme for back and neck pain. Pain 115 (3): 273–283

Qigong F . WE NDT NE R

Im Rahmen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) wird Gesundsein als Zustand der Harmonie und Ausgewogenheit begriffen, bestimmt durch das Zusammenspiel der „Vitalen Substanzen“ Qi, Jing und Shen, sowie auch Xue (Blut), Jin und Ye (Körpersäfte). Dabei ist Qi die Basis aller vitalen Substanzen. Gesundsein ist demnach geprägt von körperlichem, geistigem, seelischem und spirituellem Wohlbefinden, bestimmt vom Fließen des Qi im Rhythmus von Yin und Yang. Kommt es zu Störungen in diesem Fließen, ist ein Zustand der Disharmonie gegeben, der sich langfristig in gesundheitlichen Störungen bis hin zu Krank-sein und Schmerzen äußert. Qigong ist Bestandteil der TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) und ein Weg, den Fluss des Qi zu regulieren. In innerer Achtsamkeit werden sowohl in langsamen, sanften Bewegungen als auch in Stillen Übungen ohne körperliche Bewegung Zuviel und Zuwenig reguliert, stagnierendes Qi wieder ins Fließen gebracht und Stauungen aufgehoben. Dabei sind Imagination, Visualisierung und Vorstellungskraft wichtig und vor allem auch die Bereitschaft, wahrzunehmen, Sensibilität für sich selbst zu entwickeln, sich (wieder) zu spüren. Qigong ist seit jeher ein Weg, die eigene Gesundheit zu fördern und zu erhalten oder Gesundheitsproblemen zu begegnen. Qigong kann aber auch eine Lebenshaltung sein.

Qi und Gong Der Begriff „Qi“ wird relativ vereinfacht mit „Lebensenergie“ übersetzt, hat aber eine wesentlich weitreichendere Bedeutungsfülle. Unter „Gong“ wird unter anderem: Arbeit, Fähigkeit, Errungenschaft oder auch „sich beharrlich mit etwas beschäftigen, bis hin zur Meisterschaft (Kunst)“ verstanden. Am zutreffendsten lässt sich Qigong daher wohl als „Arbeit mit Lebensenergie“ übersetzen.

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F . We n dt n e r

Dieser Ausdruck wurde 1956 geprägt, um die vielen bis dahin unterschiedlich bezeichneten Wege der „Lebenspflege“ – Yangsheng – oder „Dao Yin“ – Leiten und Dehnen – unter einem gemeinsamen Dach zusammenzuführen. In dieser Zeit entstanden auch die „Kraniche“, eine sehr bekannte Übungsfolge des Qigong.

Ursprünge und Entwicklung Unterschiedlichen Quellen zufolge entstand Qigong vor 5000–7000 Jahren in China. Man geht davon aus, dass Qigong aus der Nachahmung von Tierbewegungen im Rahmen ritueller und schamanischer Tänze entstand. Huang Di, der legendäre Gelbe Kaiser, soll schon vor rund 2700 Jahren geübt und ein Alter von 111 Jahren erreicht haben. Die entsprechende Literatur dazu „Huang Di Nei Jing Su Wen – Der Innere Klassiker des Gelben Kaisers“ entstand zwischen 300 und 100 v. Chr., wurde von verschiedenen Autoren kompiliert und immer wieder überarbeitet, ergänzt und kommentiert und gilt als das „Corpus Hippocraticum“ der Traditionellen Medizin Chinas (Kapchuk 2001). Artefakte wie Steinnadeln (zur frühen Akupunktur) werden auf ein Alter von über 5000 Jahren geschätzt. Erste schriftliche Dokumente zu Qigong stammen aus der Zeit vor Christi Geburt wie z.B. das Daoyin tu (Plan der Übungen zum Leiten und Dehnen), ein Seidenbild im Format von 53 zu 110 cm mit 44 Abbildungen spezieller Übungsfiguren. Es wurde 1973 bei Changsha in der Provinz Hunan im Mawangdui Grab Nummer drei gefunden und auf das Jahr 168 v. Chr. datiert. 1984 wurde in der Provinz Hubei das 113 Bambustäfelchen umfassende Buch Yin-shu – „Buch über das Dehnen“ – gefunden und auf das Jahr 186 v. Chr. datiert (Engelhardt 1998). Durch die Jahrhunderte in den verschiedenen Dynastien und Perioden gepflegt und weiter entwickelt – allerdings auch immer wieder verboten und nur geheim weitergegeben – entstanden mehr und mehr Schulen und Richtungen, besonders während der Zeit der Tang- (618–906), der Sung- und Yuan-Dynastie (960–1368) (Reid 2000). Zwischen 1368 und 1912, der Zeit der Ming- und Ching-Dynastien kam es über weite Strecken zu einer Konsolidierung und Integration des Qigong, die Grenzen zwischen taoistischen, buddhistischen und konfuzianistischen Schulen und Übungen wurden durchlässiger. In den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kam es in China zur Anerkennung der Traditionellen Chinesischen Medizin TCM als wissenschaftliche Disziplin. Im Dezember 1955 wurde die Chinesische Akademie für TCM gegründet, 1956 das Qigong-Sanatorium Beidaihe mit Schwerpunkt auf wissenschaftlicher Erforschung und Anwendung des Qigong. Heute wird allein in China die Zahl der Qigong Übenden auf 60 bis 80 Millionen Menschen geschätzt. Weltweit nimmt die Anzahl der Qigong Übenden ständig zu und ist mittlerweile weit über den Status einer Modeströmung hinaus eine richtungsweisende Bewegung zur präventiven Gesundheitsfürsorge, Unterstützung bei Genesung sowie Förderung eines langen Lebens geworden. Oder wie Reid (2000) schreibt: „… Seit diesen alten Zeiten sind dem Hauptstamm des

Qigong

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Qigong viele verschiedene Zweige der Praxis entsprossen, jeder mit einem eigenen Stil und einer eigenen Zielrichtung; doch alle schenken Gesundheit und ein langes Leben, physiologisches Gleichgewicht und emotionale Ausgeglichenheit, geistige Klarheit und spirituelle Harmonie“ (Reid 2000, S. 54).

Philosophie und Grundlagen – Wuji und Taiyi, Yin und Yang Wuji – auch das Dao, das „Ureine“ – ist die Leere, die angelegte Potentialität, aus der sich im dynamischen Wechselspiel das Taiyi differenziert und in der Folge Yin und Yang. Yin und Yang sind zwei der bekanntesten Begriffe aus der TCM und vor allem auch des Qigong. Ursprünglich wird Yin mit „die im Schatten liegende Seite des Berges“ und Yang mit „die in der Sonne liegende Seite des Berges“ übersetzt. Aus dieser Translation geht bereits hervor, dass es sich hierbei um ein dynamisches Wechselspiel zwischen zwei polaren Aspekten handelt, wobei Yin und Yang nicht unabhängig voneinander existieren können, sondern in einem ständigen Ineinander-übergehen begriffen sind. Es existiert also ein sich ständig in Fluss befindliches Überwiegen des einen über das andere. Poetisch übersetzt „beginnt zu Mittag die Mitternacht“ – oder anders gesagt, am Höhepunkt des einen beginnt das andere zu wachsen. Eines ist ohne das andere nicht möglich, eines geht aus dem anderen hervor, eines braucht das andere, um wirksam werden und in seiner Art zur Entfaltung kommen zu können. In diesem Zusammenhang entstanden entsprechende Zuordnungen: – Yang: Tag, hell, Sonne, männlich, außen, oben, links, hart, Funktion, Hohlorgane (Fu), Sympathikus, erzeugt Leben … – Yin: Nacht, dunkel, Mond, weiblich, innen, unten, rechts, weich, Substanz, Vollorgane (Zang), Parasympathikus, lässt Leben wachsen und reifen … Diese Aufzählung ist bei weitem nicht vollständig. Weiter unten findet sich eine Tabelle der Zuordnungen zu den im folgenden kurz umrissenen Fünf Elementen. Denn aus dem Wechselspiel zwischen Yin und Yang entstehen die „fünf Elemente – Wuxing“ und die „10 000 Dinge“ – die Welt und alles darin …

Fünf Elemente – Wuxing Mit ihrer Einführung – verschiedenen Quellen zufolge um das dritte Jahrhundert v. Chr. – begann die Abkehr von einer schamanistisch geprägten Heilweise hin zu Beobachtung und Empirie. Erfahrung und Verstehen ersetzten nach und nach Magie. Die fünf Elemente Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser sind abstrakt als umfassendes Prinzip für alle Naturerscheinungen aufzufassen, die zyklisch auf-

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F. Wendtner

einander einwirken bzw. einander bedingen und sich gegenseitig beeinflussen. Jedes Element – auch als Wandlungsphase bezeichnet – steht in einem definierten Verhältnis zu allen anderen. So entsteht aus dem Holz Feuer und verbrennt zu Asche (Erde). In der Erde findet sich das Metall. Schmilzt es, wird es wie Wasser, dieses lässt das Holz wachsen. Dieser Ablauf , in welchem jedes Element aus seinem Vorgänger entsteht, entspricht dem Zyklus der Hervorbringung. Im Zyklus der Kontrolle oder Bändigung kontrolliert jedes Element ein anderes und wird seinerseits durch ein weiteres reguliert. Beim Vorliegen gestörter Verhältnisse, wenn die natürlichen Abläufe bereits gestört sind, spricht man von einem Zyklus der Insultierung oder Überwältigung. Dann zerschneidet Metall das Holz, Holz dringt in die Erde ein, Erde saugt das Wasser auf, Wasser löscht das Feuer, Feuer schmilzt Metall … Die Wuxing beziehen als ein System von Zuordungen und Entsprechungen den Menschen als Mikrokosmos im Makrokosmos mit ein, was für die Diagnostik in der TCM wesentlich ist (Tabelle 1). Auch dieses System ist wie die Zuordnungen zu Yin und Yang noch vielfach erweiterbar.

Tabelle 1 Holz

Feuer

Erde

Metall

Wasser

Zang (Vollorgane)

Leber

Herz

Milz

Lunge

Niere

Fu (Hohlorgane)

Gallenblase

Dünndarm

Magen

Dickdarm

Blase

Sinnesorgan/ -bereich

Auge

Zunge

Mund

Nase

Ohren

Stimmlicher Ausdruck

rufen, schreien

lachen

singen

weinen

stöhnen

Geschmack

sauer

bitter

süß

scharf

salzig

Fähigkeit

Inititative

Kommunikation

Verhandlung

Unterscheidung

Phantasie

Entwicklung

Geburt

Jugend

Reife

Alter

Tod, Wandel

Jahreszeit

Frühling

Sommer

Spätsommer

Herbst

Winter

Klimatischer Faktor

Wind

Hitze

Feuchtigkeit

Trockenheit

Kälte

Himmelsrichtung

Osten

Süden

Mitte

Westen

Norden

Qigong

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Drei Schätze – Qi, Jing, Shen Wie weiter oben bereits angedeutet ist Qi – einer der zentralen Begriffe in der traditionellen chinesischen Philosophie – nicht eindeutig zu übersetzen. Je nach Wörterbuch finden sich bis zu dreißig verschiedene Bedeutungen für Qi, u.a. Atem, Hauch, Nebel, Dampf, Luft, Emotion, Äther, Energie i. S. von Prana oder Logos. In der Literatur des alten China findet sich im BAOPUZI (Der Meister, der am Einfachen festhält), einem Hauptwerk aus dem 3. Jahrhundert n. Chr., das folgende Verständnis von Qi: „Der Mensch lebt inmitten von Qi, und Qi erfüllt den Menschen. Angefangen bei Himmel und Erde bis hin zu den zehntausend Wesen. Alles bedarf des Qi, um zu leben. Wer das Qi zu führen weiß, nährt im Inneren seinen Körper und wehrt nach außen hin alle schädigenden Einflüsse ab.“ Demnach ist Qi eine alles durchdringende, das Leben erst ermöglichende Energie in verschiedenen Manifestationen. Jing wird dabei als der materielle, der am meisten verdichtete, Shen als der immaterielle Aspekt von Qi begriffen. Bis heute ist es nicht möglich, eine dem westlichen Wissenschaftsverständnis genügende Definition von Qi zu geben. Manche Autoren sprechen von Qi als einem „elektromagnetischen Feld mit sehr breitem Spektrum“ und erfassen so nur einen Teilaspekt. Fritjof Capra (1986) untersuchte in seinem Buch „Das Tao der Physik“ Beziehungen zwischen Aussagen alter asiatischer Autoren zu Qi und der modernen Quantentheorie und fand erstaunliche Analogien. Als Nils Bohr in Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen 1947 geadelt wurde, nahm er das Taiyi-Symbol, die „Monade“, in sein Wappen auf. Gerhard Wenzel, einer der Pioniere des Qigong in Österreich und Gründer der Österreichischen Qigong Gesellschaft, schreibt: „… dass ESSENZ (Jing), QI und SHEN nur drei verschiedene ‚Aggregatzustände‘ des QI repräsentieren, wobei die ESSENZ verdichteten, QI verdünnten und SHEN immateriellen Charakter hat. … Die drei Aspekte JING – QI – SHEN haben zwar unterschiedliche Charakteristika, bilden aber ein unteilbares Ganzes, sie beeinflussen sich gegenseitig, sie können sich verbinden oder auch ineinander übergehen.“ Dabei gilt: JING ist die Grundlage, QI die treibende Kraft, SHEN ist der Anführer (SUWEN) (Wenzel 1999, S. 84ff).

Qi im Menschen Im Menschen fließt das Qi hauptsächlich in den zwölf Hauptmeridianen oder Leitbahnen – hier befinden sich die meisten Akupunkturpunkte (Wentao et al. 2003) – sowie in den acht Sondermeridianen und den fünfzehn Kollateralen im Rhythmus der Organuhr.

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Die Yin-Hauptmeridiane Lungenmeridian, Milzmeridian (bzw. Milz-Pankreasmeridian), Herzmeridian, Nierenmeridian, Perikardmeridian (bzw. Kreislauf-Sexualitätsmeridian), Lebermeridian. Die Yang-Hauptmeridiane Dickdarmmeridian, Magenmeridian, Dünndarmmeridian, Blasenmeridian, Dreifacher Erwärmermeridian, Gallenblasenmeridian. Die Hauptmeridiane sind beidseitig symmetrisch angelegt, also auf jeder Körperhälfte gleich. Im Gegensatz dazu sind die Sondermeridiane oder „Gefäße“ einzeln angelegt. Sondermeridiane Lenkergefäß, Konzeptionsgefäß, Durchdringungsgefäß, Gürtelgefäß, Yin-Verbindungsgefäß, Yang-Verbindungsgefäß, Yin-Vereinigungsgefäß, Yang-Vereinigungsgefäß. Organuhr bedeutet u.a., dass jedes Organ zu einer bestimmten, zwei Stunden dauernden Periode im definierten Fließen des Qi besonders gut für therapeutische Interventionen erreichbar ist. Das Eintreten des Qi in den Lungenmeridian um drei Uhr früh gilt als Beginn des Tages. Die angeführten Bahnen verbinden alle Bereiche und Organe, Innen und Außen in einem Netzwerk. Die Dantian (Zinnoberfeld) – Energiezentren – sind Speicher. Die drei bekanntesten sind Tianmu (Himmelsauge) mit dem Sitz etwa zwischen den Brauen, Tanzhong in der Mitte der Brust und das untere Dantian Qihai (Meer der Energie) ca. drei Querfinger unter dem Nabel.

Qi-Transformation Der Mensch braucht wie alle lebenden Wesen Qi, um die Lebensvorgänge aufrechtzuerhalten. Das Qi ist zum Teil ererbt, zum Teil wird es ständig aus der Atmung, der Nahrung und aus der Umgebung aufgenommen, gewandelt, gespeichert und verbraucht. So hat das YUANQI (Ursprungsqi) seinen Sitz in den Nieren und bewirkt neben anderen Funktionen die Aufnahme des SHUIGUQI (Nahrungsqi), welches sich mit dem DAQI (Atemluftenergie) zum ZONGQI (essentielles Qi) mischt. Durch das Zusammenwirken von YUANQI und ZONGQI entsteht ZHENQI (wahres Qi), welches als YINGQI (ernährendes Qi) und WEIQI (Wehrenergie) in uns fließt (vgl. dazu ausführlich: Wenzel 1999). Verläuft dieser komplexe Prozess des Qihua – der Transformation von Qi – harmonisch und fließt Qi optimal, ist der Mensch gesund und vital. Kommt es dagegen zu Disharmonien, sind Befindlichkeits- und Gesundheitsstörungen, Kranksein und Schmerzen die Folge.

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In der Qigong-Praxis gilt Schmerz als „Schrei des Gewebes nach fließender Energie“.

Qigong bei Schmerzen Nach Qigong im Allgemeinen nun – dem Thema des vorliegenden Bandes folgend – zu Berichten über Qigong bei verschiedenen Schmerzformen.

Qigong bei Rückenschmerzen In den Industrienationen berichten rund 56% der im Arbeitsprozess stehenden Bevölkerung, im vergangenen Jahr Rückenschmerzen gehabt zu haben. In Deutschland gehen 4% der Gesamtarbeitskraft durch Arbeitsausfallszeiten wegen Rückenschmerzen verloren, ebenso in den USA, Kanada, Schweden und den Niederlanden (Göbel 2001). In den Vereinigten Staaten sind Rückenschmerzen, sowie Schmerzen im Bereich der oberen Extremitäten und im Halsbereich bei Menschen unter 70 Jahren der häufigste Grund für eine stationäre Aufnahme und Behandlung. In Österreich belegen entsprechende Statistiken eine ständige Zunahme von Krankenständen infolge von „Störungen des Bewegungs- und Stützapparates“ und wie in den USA zählen sie zu den häufigsten chronischen Erkrankungen mit Langzeitbehinderungen. Dabei liegen nur für ca. 15% aller Rückenschmerzen eindeutige medizinische Diagnosen vor. Rund 85% der Patienten leiden an sogenannten „idiopathischen Rückenschmerzen“, deren Ursache nicht neurophysiologisch fassbar ist, daher dürften sowohl psychische wie auch funktionelle Aspekte bei Rückenschmerzen eine tragende Rolle spielen. Die Bedeutung energetischer Zusammenhänge ist im Westen noch nicht ausreichend erforscht, aus chinesischen Studien geht allerdings hervor, dass Rückenschmerzen bei Menschen, die regelmäßig Qigong üben, wesentlich seltener auftreten. Dr. Andrea Zauner-Dungl geht davon aus, dass Qigong sowohl zur Prävention wie zur Therapie von Rückenschmerzen geeignet ist: „… Betrachten wir die Körperhaltung beim Qigongtraining, so ist sie mit den Empfehlungen der modernen Haltungsinstruktionen weitgehend ident. Das Fließgleichgewicht von phasischer und tonischer Aktivität kann nur durch das Gesetz der reziproken Innervation ungestört erhalten werden. Qigong-Übungen werden diesen bewegungsphysiologischen Grundsätzen in vollem Ausmaß gerecht. Qigong erfüllt alle Kriterien der modernen Präventionsrichtlinien für idiopathischen Rückenschmerz“ (Zauner-Dungl 2004). Die Körperhaltung beim Qigong ist durch ein lockeres, achsengerechtes Stehen charakterisiert, wie Übende es aus der Grundhaltung kennen. Daraus werden die runden, fließenden Bewegungen entwickelt,

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mittels derer in innerer Achtsamkeit und durch beharrliches Üben das Qi ins Fließen gebracht und vielfach die wohltuende Wirkung erfahren wird. Wichtig für Betroffene und Patienten – auch für die betagteren Semester unter uns – ist, dass nach dem Prinzip: Das Qi folgt der Vorstellung vielfach nur angedeutete Bewegungen genügen, um das Qi ins Fließen zu bringen. Denn die Verinnerlichung der jeweiligen Übung und ihre Visualisierung sind von wesentlicherer Bedeutung als die Perfektion der Ausführung. Damit gilt kein noch so ausgeprägter Schmerz als echtes Hindernis, Qigong zu üben, denn die Übungen werden in diesem Fall dann so gut wie es eben geht, ausgeführt – ggf. „nur“ in der Vorstellung, der Visualisierung, die im Qigong so bedeutsam ist. Es kommt bei den meisten Qigong Übenden längerfristig zu einem anderen Körperbild, einer positiveren Einstellung zu sich selbst und damit auch zu mehr Lebensqualität.

Qigong bei Migräne und Spannungskopfschmerz Als Migräne bezeichnet man anfallsartig auftretende, periodisch wiederkehrende und überwiegend einseitige (hemikraniale) Kopfschmerzen, die oft mit Übelkeit und Erbrechen verbunden sind. In Deutschland leiden 16% der Frauen, 6% der Männer und 3% der Schulkinder an Migräne. Die Ursachen für diese Kopfschmerzform sind nicht endgültig geklärt. Gesichert scheint eine Beteiligung des Nervus Trigeminus. Die Schmerzattacken werden über die Ausschüttung von Entzündungsmediatoren mit gefäßerweiternder Wirkung auf die Blutgefäße im Gehirn hervorgerufen, weswegen Migräne als „vaskulärer Kopfschmerz“ gilt. Davon abzugrenzen sind Spannungskopfschmerzen. Sie werden am häufigsten diagnostiziert und gehen oft von Verspannungen im Nackenbereich aus. Die dadurch ausgelöste Minderdurchblutung führt zu einer reduzierten Sauerstoffversorgung im Gewebe, welche die Schmerzempfindlichkeit erhöht. Als häufigste Ursachen für Spannungskopfschmerzen gelten Belastungen durch dauerhafte Fehlhaltungen und psychosozial bedingter Stress.

Untersuchung Friedrichs et al. (2003) untersuchten die Wirkung von Qigong bei Migräne und Spannungskopfschmerz. Bei der Untersuchung handelte es sich um eine prospektive, multizentrisch angelegte Pilotstudie mit dem Ziel, herauszufinden ob Qigong eine wirksame Begleitbehandlung bei Migräne und Spannungskopfschmerz sein kann. Die im Rahmen einer Doktorarbeit zu Erlangung des Grades „Doktor der Medizin“ durchgeführte Untersuchung war den international gültigen Regeln der vierstufigen Einteilung der Evidence-Based-Medicine entsprechend als eine „einarmige Phase II Studie“ angelegt. Ergebnisse aus solchen explorativen klinischen Prüfungen sind formal nicht als Wirksamkeitsnachweise anzusehen, liefern jedoch die Basis für Planung und Design folgender – beweisender – Phase III-Studien.

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Methodik Die in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Gesellschaft für Qigong Yangsheng und der Deutschen Ärztegesellschaft für Akupunktur erfolgte Untersuchung war multizentrisch an 11 verschiedenen Orten unter Mitwirkung von 13 Kursleitern und verschiedenen Prüfärzten angelegt. Von anfänglich 166 Teilnehmern konnten letztlich die Daten von 95 (90 davon Frauen) ausgewertet werden. Der Fragebogen des Schmerztherapeutischen Kolloqiums (StK), der am Beginn der Studie zur Anwendung kam, sowie drei Verlaufsfragebögen während der Durchführung und ein Schmerzkalender, der neben dem Schmerzverlauf auch das Übungsgeschehen erfasste, dienten als diagnostische Instrumente. Der Ablauf der Studie richtete sich im wesentlichen nach den Empfehlungen der IHS (Internationale Kopfschmerzgesellschaft IHS – International Headache Society) zur Durchführung von Studien. Nach einer vierwöchigen Baseline (= Leerphase) folgte ein achtwöchiger Kurs mit je einem Termin à 90 Minuten pro Woche. Im Rahmen dieses Kurses wurden die ersten sechs Übungen der „15 Ausdrucksformen des Taiji Qigong“ nach dem Lehrsystem von Professor Jiao Guorui unterrichtet. Die folgenden acht Wochen waren kursfrei, aber es wurde selbstständig geübt. Im Anschluss kam es zu einem identischen Wiederholungskurs, die Teilnehmer wurden wieder während acht Wochen unterrichtet. Abschließend kam es zu einem Follow-up (kein Kurs) von vier Wochen.

Ergebnisse In der Baseline lag die mediane Anzahl der Schmerztage des gesamten Kollektivs bei acht, normiert auf 28 Tage. Im Follow-up zeigte sich im Median eine Verringerung auf fünf Schmerztage. Bei 27 Teilnehmern reduzierten sich die Schmerztage um mindestens 50%, somit galten sie gemäß internationalen Empfehlungen als Responder. In der Gruppe, die in der Baseline drei bis sieben Schmerztage angegeben hatte, lag der Anteil derjenigen Personen, die eine 50%ige Schmerzreduktion hatten, bei 30%, in der Gruppe, die acht bis vierzehn Schmerztage angegeben hatte, bei 34%. Auch die Anzahl der Schmerzanfälle nahm ab, ebenso kam es zu einer Abnahme der Schmerzintensität. Damit nahm beim überwiegenden Anteil der Teilnehmer die Lebensqualität zu, die durch die Kopfschmerzen subjektiv wahrgenommene Behinderung ab. Die Mehrheit der Teilnehmer hatte nach eigenen Angaben mehrmals pro Woche für jeweils mindestens 10 Minuten geübt. Ein Jahr nach Studienbeginn – also außerhalb des Studie – wurde eine Zufallsauswahl von 32 Personen angeschrieben und gebeten, noch einmal für einen Monat Kalender zu führen, sowie einen Fragebogen auszufüllen. Von den 25 Personen die antworteten, gaben 21 an, regelmäßig zu üben, 19 von ihnen zumindest mehrmals pro Woche. Die Ergebnisse von vier Personen waren nicht auswertbar bzw. zeigten, dass keine regelmäßige Übungspraxis mehr stattfand. Bei den Übenden hatte sich weder die Anzahl der Schmerztage und der Schmerz-

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anfälle wesentlich verändert, noch die Schmerzintensität. Nach dem Ende der Studie war es bei ihnen also weder zu einer weiteren Verbesserung, noch zu einer Verschlechterung gekommen.

Diskussion Die Ergebnisse sind aufgrund des Untersuchungsdesigns als deskriptiv zu verstehen. Sie belegen die Wirksamkeit der untersuchten Qigongübungen auf das Schmerzgeschehen und die Lebensqualität der Untersuchungsteilnehmer und damit ihre Eignung als begleitende Therapieform bei Migräne und Spannungskopfschmerz. Die Autorin weist darauf hin, dass das Ergebnis der Studie infolge der kleinen Stichprobe statistisch nur beschränkt aussagekräftig ist. Als weiterer Kritikpunkt ist anzuführen, dass nicht untersucht wurde, ob die Teilnehmer Übungsverhalten und Schmerzempfinden wahrheitsgemäß angegeben hatten. Allerdings geschieht das bei Patienten in Medikamentenstudien in der Regel ebensowenig – es sei denn, diese laufen unter Aufsicht an einer Klinik. Darüber hinaus ist auf Selbstauskünfte von Studienteilnehmern in der klinischen Schmerzforschung nicht zu verzichten. Wäre in der vorliegenden Arbeit nicht die Wirksamkeit von Qigong, sondern die Wirkung eines prophylaktischen Medikamentes untersucht worden, läge die Ansprechrate noch nicht im Bereich der erwünschten Wirksamkeit, denn in den Richtlinien zur Erforschung der Therapie von Migräne und Spannungskopfschmerz wird eine Placeborate von 20–40% angenommen (Guidelines for trials of drug treatments in tension-type headache, first edition, Cephalalgia 1995, 15: 172). Diese Werte entsprechen internationalen Empfehlungen und sind weder zwingend vorgeschrieben, noch stellt sich die Frage nach Placeboeffekten beim vorliegenden Design der Studie.

Qigong bei Krebs – Reduktion von Schmerzen und Hebung der Lebensqualität 1999 wurde wurde am Center for Integrative Medicine at Stanford Hospital and Clinics in Zusammenarbeit mit verschiedenen Kliniken und Universitäten ein Programm entwickelt, um Krebspatienten und ihre Angehörigen bei der Bewältigung der Erkrankung zu unterstützen, das Stanford cancer supportive care program (SCSCP) (Rosenbaum et al. 2004).

Unterstützungsprogramm SCSCP Das Ziel dieses Unterstützungsprogrammes ist es, die Lebensqualität sowohl von neudiagnostizierten wie palliativen Krebspatienten zu verbessern. Dazu haben die Patienten die Möglichkeit, verschiedene dieses aus elf Teilen bestehenden

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und speziell auf die Bedürfnisse von Krebspatienten zugeschnittenen Programmes in Anspruch zu nehmen. Zum Angebot gehören u.a. psychologische Betreuung, Gymnastik, Ernährungsberatung, Komplementäre und Alternative Ansätze sowie Schmerztherapie.

Erhebung Im Zeitraum zwischen Jänner 1999 und Oktober 2002 kam es im Rahmen dieses Unterstützungsprogrammes zu mehr als 10 000 Kontakten. Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer (76%) war älter als 51 Jahre, zwei Drittel von ihnen waren Frauen. 39% der Betroffenen hatten bösartige Erkrankungen der Brust, 16% Prostatakrebs, 16% Lymphome und/oder Leukämien, 29% hatten andere Krebsformen. Von 1183 Patientenbesuchen aus dem Zeitraum von Februar 2001 bis Mai 2002 konnten Daten gewonnen werden. Die Patienten konnten parallel mehrere Angebote nützen, damit waren Mehrfachnennungen möglich. Es wurde also primär die Häufigkeit der Nutzung einzelner Module und die subjektive Bewertung dieser einzelnen Teilprogramme durch die Teilnehmer erhoben. Von den vorliegenden Datensätzen kamen 398 zur Auswertung. Im Rahmen der komplementären/alternativen Ansätze kam auch Qigong zur Anwendung. Die Teilnehmer erlernten einfache Techniken („… patients learned a number of simple techniques that could be performed from sitting, standing or moving positions …“ (Rosenbaum et al. 2004, S. 9) und sollten jegliche Modifikationen in Bezug auf Schmerz, Stress, Energie, Wohlergehen und Schlafqualität einschätzen. Es wurden Visuelle Analog Skalen (VAS) zum individuellen Rating verwendet. Das Programm wurde im wöchentlichen Rhythmus durchgeführt.

Ergebnisse Die Ergebnisse zeigten sowohl eine Verbesserung der Schmerzsituation als auch der Lebensqualität. Von den 334 Patienten, die das Qigong beurteilten, berichteten 22% der Teilnehmer eine Schmerzreduktion, 78% eine Stressverminderung, 74% eine Verbesserung ihres Wohlergehens, 58% einen Anstieg ihres EnergieLevels.

Diskussion Einerseits sprechen die Ergebnisse dieser Erhebung für eine deutliche Schmerzreduktion durch Qigong bei Krebspatienten sowie eine noch wesentlich deutlichere Steigerung der subjektiv wahrgenommenen Lebensqualität. Andererseits ist kritisch anzumerken, dass infolge des verwendeten Designs dieser Erhebung nicht mit Bestimmtheit gesagt werden kann, dass die Schmerzreduktion und der Zugewinn an Lebensqualität auschließlich auf Qigong zurückzuführen ist, da die

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Patienten auch an anderen, hier nicht diskutierten Teilprogrammen partizipiert haben konnten. Darüberhinaus war keine Kontrollgruppe geführt worden. Damit ist die Aussagekraft der Erhebung eingeschränkt, sie entspricht der einer Anwendungsbeobachtung. Und so ist, wissenschaftlich gesehen, dieses Ergebnis nicht als hartes Faktum zu werten, sondern als Ausdruck der subjektiven Wahrnehmung der Teilnehmer anzusehen.

Qigong in Studien Immer wieder und leider oft zu Recht wird bei Studien und Untersuchungen zu Qigong darauf hingewiesen, dass sie methodische Mängel aufweisen und daher den Qualitätserfordernissen der Naturwissenschaften nicht entsprechen (Mayer 1999). Vor allem das Fehlen von „doppelblinden, placebokontrollierten Studien“ wird immer wieder kritisiert. Grundsätzlich ist diese Kritik zu begrüßen, denn nur sie wird letztlich die zu Recht geforderte Verbesserung der Studienqualität bewirken. Doch ebenso kritisch ist zu hinterfragen, ob dieses in der Pharmazie und der Schulmedizin nicht mehr wegzudenkende Konzept ohne Modifikation auch zur Beurteilung übender Verfahren wie z.B. Qigong übernommen werden kann, denn: „… Die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften eines Medikaments verraten selten etwas von der Wirkung und darauf beruht die Möglichkeit, bei Medikamentenstudien die Wirkung des Medikamentes mit einem scheinbar wirkenden Medikament zu vergleichen, dem ‚Placebo‘. Bei Qigongübungen dagegen ist eine solche Unterscheidung von sinnlicher Wahrnehmung und Wirkung nicht möglich. Hier spielt das ‚Gefallen‘ (der eigentliche Sinn des Wortes ‚Placebo‘), das Einlassen auf die Übungsform und die Übungsinhalte für den therapeutischen Erfolg eine große Rolle. Es lässt sich deshalb hier nicht in gleicher Weise ein Scheineffekt prozentual quantifizieren bzw. überhaupt ausmachen wie bei einem Medikament. Auch eine Verblindung der Therapie, bei der weder Patient noch Therapeut wissen, wer ein wirksames Medikament erhält und wer ein Placebo, ist bei einer Untersuchung über die Wirkung von Qigongübungen auf ein Krankheitsgeschehen nicht möglich: Sowohl Therapeut wie Patient sollten wissen, was sie tun. … Aktive Mitarbeit, Erwartungshaltung und Gefallen der Probanden an der Therapie sind erwünscht.“ (Friedrichs et al. 2003, S. 110). So ist zu fordern, dass alle beteiligten Disziplinen ihre Anstrengungen, geeignete Wege hinsichtlich der Verifikation der Wirkung von Qigong zu finden, verstärken. Denn dass Qigong wirkt – nicht nur in der Schmerztherapie – ist vielfach erwiesen, aber das ist nicht genug. Es braucht geeignete Prüfkonzepte, welche mit den Gütekriterien für Studien der Naturwissenschaften vereinbar sind und so der Nutzen dieser Methode aus der Traditionellen Chinesischen Medizin nicht nur erfahrbar, sondern wissenschaftlich nachvollziehbar wird.

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Zusammenfassung und Ausblick Es gibt seit jeher eine Vielzahl von Anwendungsbereichen von Qigong, wie z.B. die „Lebenspflege“ als persönlichen Beitrag zum eigenen Gesundbleiben, die Kampfkünste (Wushu), oder Qigong, das bei bestimmten Erkrankungen (Reuther et al. 1998; Sancier 1996) wie etwa bei Herzerkrankungen (Mayer 1999), bevorzugt eingesetzt wird. Qigong kommt ebenfalls ergänzend zur Therapie rheumatischer Erkrankungen, sowie in der Rehabilitation und der Nachsorge zur Anwendung. Qigong bei Schmerzen kann ein Weg sein, diese zu lindern und somit die eigene Lebensqualität selbstständig zu verbessern. Lebensqualität bedeutet für Menschen mit Schmerzen in erster Linie Schmerzlinderung oder sogar Schmerzfreiheit, oft auch bessere Beweglichkeit und weniger Abhängigkeit von Medikamenten und Therapie. Das gilt vor allem für chronisch schmerzkranke Menschen und palliative Patienten (Bernatzky 2004). Die Erfahrung, selbst wirksam etwas zum eigenen Wohlergehen beitragen zu können, reduziert Gefühle von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein und fördert sowohl die internale Kontrollüberzeugung als auch die Selbstwirksamkeitserwartung (Bandura 1977; Rotter 1966), was nachweislich dazu beitragen kann, Schmerz zu reduzieren (Kamolz 1996). Schmerz ist ein sehr komplexes Ganzes, das von vielen Betroffenen in noch nahezu ausschließlich organisch ausgerichteter Sichtweise verstanden wird. Daher ist im Rahmen einer qualifizierten, integrierten und multiprofessionellen Schmerztherapie nicht nur zu fordern, dass neben den medizinischen auch die psychologisch relevanten Belange in die Therapie mit einbezogen werden, sondern ebenfalls, dass Information und kompetente Beratung bezüglich der von vielen Patienten angewandten alternativen und komplementären Methoden selbstverständlich wird (Dengg et al. 2004) um eine aktive und eigenverantwortliche Beteiligung der Betroffenen an ihrer Therapie zu fördern. Qigong ist ein möglicher Weg, diese Eigenverantwortlichkeit wirksam und spürbar lindernd wahrzunehmen – bei Schmerzen. Oder schon bevor sie entstehen – im Sinne der schon weiter oben angesprochenen Lebenspflege – als persönliche Gesundheitsvorsorge und damit langfristig auch im Sinne einer Entlastung unseres gesamten Gesundheitswesens.

Literatur Bandura A (1977) Self-efficacy: toward a unifying theory of behavior change. Psychological Review 84: 191–215 Bernatzky G (2004) Flächendeckende Strukturen für Palliativversorgung gefordert. Schmerznachrichten 4: 11. Zeitschrift der Österreichischen Schmerzgesellschaft Capra F (1986) Das Tao der Physik. Scherz Verlag Dengg G, Cassileth BR, Yeung KS (2004) Complementary therapies for cancer-related symptoms. Support Oncol 2 (5): 419–426, discussion 427–429 Engelhardt U (1998) Frühe archäologische Funde zum Qigong. In: Hildenbrand G, Geißler M, Stein S (Hrsg) Das Qi kultivieren – die Lebenskraft nähren. Medizinisch Literarische Verlagsgesellschaft, Uelzen

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Friedrichs E, Pfistner B, Aldridge D (2003) Qigong-Yangsheng-Übungen in der Begleitbehandlung bei Migräne und Spannungskopfschmerz. Zeitschrift für Qigong-Yangsheng S 101–112 Göbel H (2001) Epidemiologie und Kosten chronischer Schmerzen. Der Schmerz 15 (2): 92– 98 Kamolz T (1996) Zur Vorhersage postoperativer Schmerzen mittels der Konstrukte Selbstwirksamkeitserwartungen und Kontrollüberzeugungen. Sacklerpreis der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg Kapchuk TJ (2001) Das Große Buch der Chinesischen Medizin. Heyne, München Mayer M (1999) Qigong and hypertension: a critique of research. The Journal of Alternative and Complementary Medicine 5 (4): 371–382 Reid D (2000) Chi-Gung. Econ Ullstein List Verlag, München Reuther I, Aldridge D (1998) Qigong yangsheng as a complementary therapy in the managment of asthma: a single-case appraisal. The Journal of Alternative and Complementary Medicine 4 (2): 173–183 Rosenbaum E, Gautier H, Fobair P, Neri E, Festa B, Hawn M, Andrews A, Hirshberger N, Selim S, Spiegel D (2004) Cancer supportive care, improving the quality of life for cancer patients. A program evaluation report. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Rotter JB (1966) Generalized expectancies for internal versus external control reinforcement. Psychological Monographs 80: 1–28 Sancier K (1996) Medical Applications of Qigong. Alternative Therapies 2 (1): 40–46 Wentao M, Hua T Weiya, X Jiming, H Nai, L HongYi, L, Lianxin C (2003) Perivascular space: possible anatomical substrate for the meridian. The Journal of alternative and complementary medicine 9 (6): 851–859 Wenzel G (1999) Qigong – Quelle der der Lebenskraft. Edition Tau, Nachdruck bei: Österreichische Qigong Gesellschaft, Wien Zauner-Dungl A (2004) Ist Qigong zur Prävention Idiopathischer Wirbelsäulenstörungen geeignet? Wiener Medizinische Wochenschrift 154 (23–24): 564–567 Weitere Literatur beim Verfasser

Selbstmassage / ANMO in der Schmerztherapie G. W E NZ E L u n d N. HE RWE G H

Allgemeiner Teil Selbstmassage/ANMO ist ein Teil der „Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM)“. Zur TCM gehören neben der im Westen bekannt gewordenen Akupunktur, auch die spezielle chinesische Pflanzenheilkunde, die Massagetechnik TUINA sowie Akupressur, QIGONG und ANMO. Unter Akupressur versteht man eine Massagetechnik, die auch als „Akupunktur ohne Nadeln“ bezeichnet wird. Wenn Akupressur selbständig am eigenen Körper angewendet wird, dann decken sich die Begriffe „Selbst-Akupressur“ und „Selbst-Massage/ANMO“. Bei ANMO handelt es sich also um eine Selbstbehandlung in Form einer Selbstmassage, bei der wir ganz bestimmte Punkte und Bereiche unserer Körperoberfläche drücken, kneten, reiben und klopfen. Zunächst soll darauf hingewiesen werden, dass es für die Anwendung von ANMO auch Wissen bedarf, denn zum einen ist es wichtig, bei schwereren Erkrankungen herauszufinden, ob die Beschwerden, die wir behandeln wollen, nicht noch weiter diagnostisch abgeklärt werden müssen. Zum anderen geht die Selbstmassage/ANMO weit darüber hinaus, nur ein „punctus dolendi-Drücken“ zu sein, denn dahinter steht das ganze Konzept der TCM. Und letztlich gibt es nach der Theorie und Praxis der TCM diverse Punkte unseres Körpers, die nur mit besonderer Vorsicht oder in bestimmten Situationen (z.B. in der Schwangerschaft) überhaupt nicht behandelt werden dürfen.

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Die fundiert erlernte und gewissenhaft praktizierte ANMO / Selbstmassage wirkt auf drei Ebenen unserer Körperlichkeit Auf der einen Ebene erreichen wir mittels ANMO all das, was wir für uns selbst, für unseren Körper, tun können Sei es im Erkrankungsfall oder auch vorsorglich, präventiv, wenn uns offensichtlich nichts fehlt und wir uns wohl fühlen. Im Erkrankungsfall können wir durch ANMO mithelfen, andere angewandte Therapien zu unterstützen. So übernehmen wir selbst auch Verantwortung für unseren Körper und darüber hinaus für unser Leben. Durch diese Eigenverantwortung und Mitinitiative signalisieren und praktizieren wir, dass wir unser Gesundwerden nicht nur einem Therapeuten überlassen wollen. Gleichzeitig verstärken wir dadurch unsere eigene Überzeugung, dass wir gemeinsam die Erkrankung überwinden werden. Wir ziehen damit am gleichen Strang und verdoppeln so unsere Energien. Handeln wir präventiv, dann haben wir bereits erkannt, dass für die Erhaltung unserer Gesundheit etwas getan werden muss und übernehmen so ebenfalls Verantwortung für unser Wohlbefinden. Durch die sanfte, wohltuende Berührung unseres eigenen Körpers können wir auch wieder dazu gebracht werden, zu erkennen, dass wir nicht nur Körper sondern auch Psyche/Seele und Geist sind. Die drei Aspekte unseres Wesens, Körper – Seele – Geist, können durch die Selbstberührung wieder in die Einheit zurückgeführt werden. Diese Überlegungen führen bereits zur zweiten Ebene der Auswirkungen von ANMO.

Die zweite Ebene der ANMO-Wirkung führt uns über das Selbst-Berühren zum Selbst-Annehmen Wir nehmen uns so an wie wir sind, sowohl im Gesundsein wie auch im Kranksein. Es ändert sich möglicherweise auch die übliche Einstellung des Patienten, dass er „Schmerzen HAT“, sondern es entwickelt sich durch die Berührung das Verstehen, dass man selbst in dieser Situation „Schmerz IST“. Dadurch nehmen wir uns auch mit Schmerzen an und weiter mit all unseren psychisch-seelischen „Ecken und Kanten“. Wir versuchen, durch ANMO zur Schmerzlösung und zu Wohlbefinden zurück zu kommen und darüber hinaus noch zu einem besseren Verständnis für unsere körperliche und psychisch-seelische Verfassung. Wir setzen nicht einfach Schmerzmittel ein um Schmerzfreiheit zu erlangen sondern verbinden unseren materiellen Körper mit unserer Psyche/Seele und nehmen unsere Gefühle und Emotionen wieder wahr. Durch dieses Hineinfühlen in körperlich-psychische Zusammenhänge erlangen wir nach und nach Fertigkeiten, mit unserem Körper auf einer neuen, erweiterten Ebene zu kommunizieren. So eröffnen sich neue Möglichkeiten, festgefahrene Schmerz-Regelkreise zu durchbrechen.

Selbstmassage/ANMO in der Schmerztherapie

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ANMO wirkt auch noch auf unserer geistigen Ebene; so kann aus dem getrennten Erleben von Körper, Seele und Geist ein ganzheitlicher LEIB werden Indem wir uns im Kranksein annehmen und Zeit für uns selbst nehmen, verbinden wir uns auch wieder mit dem geistigen Aspekt unseres Körpers. Wir leben ja in einer Zeit, die sich die allgegenwärtige Verfügbarkeit, die volle geistige und körperliche Leistungsfähigkeit ohne Einschränkungen und die Überbetonung des rational-analytischen Denkens auf die Fahnen geschrieben hat. Dadurch sind wir in einen Überforderungsstress (Disstress) geraten, der uns permanent dominiert und sich schädigend auf unseren körperlichen, psychisch-seelischen und geistigen Bereich auswirken muss. Krankheiten entwickeln sich in diesem Spannungsfeld von Befindensstörungen bis zu Befunderkrankungen. Wir identifizieren uns mental mit der Verpflichtung, körperlich hundertprozentig zu funktionieren. Hier muss ein Umdenken stattfinden! Durch ANMO können wir uns aus diesen eingefahrenen Denkstrukturen lösen, was einem Paradigmenwechsel gleichkommt. Es bedeutet konkret, dass wir uns nicht mehr mechanistisch betrachten sondern als Einheit von Körper, Psyche/Seele und Geist verstehen und auch danach handeln. So wird nach und nach das bestehende Übergewicht der analytischen Rationalität im Denken, das Übergewicht der ausgrenzenden, wertenden und somit dualistischen Betrachtungsweise, abgebaut werden können. In der Folge wird die Akzeptanz psycho-somatischer Diagnostik- und Behandlungskonzepte steigen – eine wichtige Voraussetzung, um die Selbstmassage/ANMO voll wirksam werden zu lassen.

Behandlungsteil Kopfschmerzen Stirnkopfschmerzen Schmerzen im Stirnbereich sind meist über die Meridiane Dickdarm und Magen günstig zu beeinflussen. Zur Behandlung werden Punkte dieser beiden Meridiane eingesetzt, die im Schmerzbereich oder in unmittelbarer Nähe liegen. Dazu werden noch andere, lokal wirksame und bewährte Punkte ausgewählt. Ergänzt und abgeschlossen wird jede Behandlung außerdem noch mit Fernpunkten, die mit den Schmerzzonen nicht unmittelbar sondern über innere Bahnen (Meridiane oder Gefäße) energetisch in Verbindung stehen. Sie liegen meist an den Extremitäten, also fern der entsprechenden Schmerzzonen. Grundsätzlich gilt für alle Behandlungen, dass das Schmerzgebiet, das sich durch Ansammlung übermäßiger, schädigender Energie auszeichnet, sediert, d.h. beruhigt werden muss. Um einen notwendigen harmonisierenden Energieausgleich zu schaffen, erfolgt zusätzlich eine anregende, tonisierende Selbstmassage über die Fernpunkte.

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Lokale Punkte im Schmerzbereich – „Halle des Lichts“/Extrapunkt 1/YINTANG: Liegt in der Mitte zwischen dem medialen Ende der Augenbrauen. Die inneren Anteile der Augenbrauen, die Haut über YINTANG, wird 12 x mit Daumen und Zeigefinger angehoben und gezupft. – „Sonne“/Extrapunkt 2/TAIYANG: liegt in der Vertiefung der Schläfe neben dem äußeren Augenwinkel. Beide Augenbrauen werden gleichzeitig mit gekrümmten Zeigefingern 12 x von YINTANG bis zum Punkt TAIYANG ausgestrichen. Dies entspricht einer Sedierung im Schmerzbereich, um gestaute, pathogene Energien abzuleiten. – Der Extrapunkt 2/„Sonne“ wird beidseits 6 x im Uhrzeigersinn und 6 x gegen den Uhrzeigersinn mit den Daumenballen sanft kreisend massiert. – „Helles YANG“/YANGBAI/Gbl 14: Liegt auf einer vertikalen Linie durch die Pupille auf der Stirn, 1 Daumenbreite (chin. 1 CUN) oberhalb der Augenbraue. Er wird beidseits mit den Mittelfingern 6 x im Uhrzeigersinn und 6 x gegen den Uhrzeigersinn sanft kreisend massiert. – „4-fache Helle“/SIBAI/MA 2: Liegt ebenfalls auf der vertikalen Linie durch G 14/„Helles YANG“ und der Pupille aber unterhalb des Auges in einer tastbaren Vertiefung (foramen infraorbitale), etwa eine Daumenbreite unterhalb der Augenhöhle. Dieser Punkt wird beidseits gleichzeitig mit den Mittelfingern 6 x im Uhrzeigersinn und 6 x gegen den Uhrzeigersinn sanft kreisend massiert.

Fernpunkte bei Stirnkopfschmerz – „Talbegegnung“/HEGU/DI 4: Liegt auf dem Handrücken an der höchsten Stelle des Muskelswulst, der beim Zusammendrücken des Daumens an den Zeigefinger entsteht. Er wird mit dem Daumen der anderen Hand gegen den 2. Mittelhandknochen hin kräftig tonisierend gedrückt (im Verlauf des Dickdarm-Meridians). Der Druck erfolgt 18 x langsam pulsierend. – „Innenhof“/NEITING/MA 44: Liegt in der Schwimmhaut zwischen dem 2. und 3. Zeh. Er wird angeregt, indem die Schwimmhaut mit Daumen und Zeigefinger 18 x langsam pulsierend gedrückt wird.

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Hinterkopfschmerzen Schmerzen im Hinterkopfbereich werden durch Punkte auf dem dort verlaufenden Blasen-Meridian günstig beeinflusst. Auch Punkte des in der Mittellinie (Medianlinie) über die Wirbelsäule verlaufenden „Lenkergefäßes“/DUMAI können bei diesen Schmerzen hilfreich sein. Zusätzlich werden auch bei diesem Schmerzbereich lokale Punkte und Fernpunkte eingesetzt.

Punkte im Schmerzgebiet bei Hinterkopfschmerzen – Das „Lenkergefäß“/DUMAI wird mit aneinander gelegten Fingerkuppen 12 x von der Stirnmitte (vom Punkt „Halle des Lichts“) bis in den Nacken und die obere Halswirbelsäule ausgestrichen. – „Hundertfacher Sammler“/BAIHUI/LG 20: Liegt als Scheitelpunkt auf der höchsten Stelle des Kopfes. Er wurde schon beim Ausstreichen des Lenkergefäßes berührt. Nun wird die Kopfhaut über BAIHUI direkt mit aneinander gelegten Mittelfingern sanft kreisend massiert, d.h. es wird nur das Gewebe verschoben, ohne zu rubbeln. 6 x im und 6 x gegen den Uhrzeigersinn. – Der Blasen-Meridian verläuft am Kopf 1,5 Daumenbreiten seitlich links und rechts der Medianlinie. In diesem Abstand von der Mittellinie wird beidseits mit aneinander gelegten Fingerspitzen 12 x von der Stirn, der vorderen Haargrenze, über den Kopf bis in den Nacken ausgestrichen. – Die Hinterhauptsschuppe wird mit den aneinander gelegten 4 Fingerspitzen von der Mitte nach außen und zurück hin und her massiert, 12 x. – Mit beiden übereinander gelegten „Tigermäulern“ (bei Frauen liegt die rechte Hand innen, bei Männern die linke Hand innen) wird sanft über das Gesicht und Kopf bis BAIHUI gestrichen, danach weiter mit festem Druck den Hinterkopf entlang nach unten bis zu den Ohren, dabei die Hände auseinander ziehen und mit den Handballen zuerst unter den Ohren und den Kieferwinkeln seitlich am Hals entlang bis zum Kehlkopf ausstreichen. Es werden dabei die wichtigen so genannten „Himmelsfensterpunkte“ an den Halsseiten unterhalb der Kieferwinkel aktiviert, die einen Zugang zu psychisch bedingten Störungen des QI-Flusses vermitteln. Durch Massage der Himmelsfensterpunkte kann direkt

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auf den YUANQI-Kreislauf, den Kreislauf des Ursprungs-QI, eingewirkt werden und damit auf die Wunder- und Sondergefäße BAMAI. Es handelt sich dabei um folgende Punkte, die wir mit dem Ausstreichen erreichen: BL 10 TIANZHEN/„Himmelssäule“, 3 E 16 TIANYOU/„Öffnung des Himmels“, 3 E 17 YIFENG/„Windschirm“, DI 18 FUTU/„Wasserpunkt“ und MA 9 RENYING/„Punkt, durch den der Mensch aufgenommen wird“ = „Menschen-Bewillkommnung“.

Fernpunkte bei Hinterkopfschmerzen – „Strahlendes, helles Licht“/GUANGMING/G 37: Liegt 5 Daumenbreiten oberhalb der höchsten Stelle des äußeren Knöchels an der Seite des Unterschenkels. Er wird mit dem Daumenballen kräftig 18 x rotierend massiert. – „Kunlun-Gebirge“/KUNLUN/B 60: Liegt auf einer Ebene des äußeren Knöchels zwischen höchster Stelle des Knöchels und der Achillessehne. Er wird aktivierend, mit dem Meridianverlauf nach unten zur Ferse hin, 36 x massiert. – „Große Troßstrasse“/TAICHONG/L 3:: Liegt auf dem Fußrücken zwischen dem 1. und 2. Zeh. Er wird rotierend 36 x massiert. Da er meist schmerzhaft ist, wird er am besten mehrmals täglich massiert. Grundsätzlich sollte der Punkt dann nach einigen Wochen schmerzfrei zu massieren sein.

Seitliche Kopfschmerzen – Migräne Diese Kopfschmerzen sind gekennzeichnet durch Einseitigkeit, kombiniert mit Schwindel und Übelkeit, meist auch mit Erbrechen und Lichtscheu. Üblicherweise werden diese Art Schmerzen mit Migräne oder Hemikranie bezeichnet. Der Gallenblasen-Meridian steht hier im Mittelpunkt der Selbstmassage, da er als so genannter „Türangel-Meridian“ die Seiten unseres Körpers regiert. Die Technik der „kontralateralen“ Behandlung sollte insbesondere bei diesen einseitigen Schmerzen angewendet werden, d.h. zuerst sollte auf der nicht schmerzhaften Seite massiert werden und dann erst auf der Seite der Schmerzen. Im Schmerzbereich selbst sollte NUR kontralateral massiert werden.

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Lokale Punkte im Schmerzbereich Als einziger Punkt nahe der Schmerzen kann„Sonne“/TAIYANG kontralateral sanft rotierend versucht werden. Wenn daraufhin die Beschwerden besser werden, kann auch der gleiche Punkt auf der Schmerzseite sanft massiert werden.

Fernpunkte bei Hemikranie – „Teich des Windes“/FENGCHI/G 20: Liegt unterhalb der Hinterhauptschuppe, vor dem Mastoid, dem Warzenfortsatz, der an den Seiten der Hinterhauptschuppe links und rechts als Höcker zu tasten ist. Zuerst sollte hier kontralateral mit dem Mittelfinger rotierend massiert werden, 24 x. Anschließend kann auch auf der Seite der Schmerzen massiert werden. Falls dies nicht angenehm sein sollte, sollte immer nur auf der kontralateralen Seite massiert werden. – Der „Schulterbrunnenpunkt“/JIANJING/G 21: Liegt in der Mitte zwischen Halsansatz und Schulter. Dieser Punkt kann beidseitig durch Klopfen mit der flachen Hand oder mit der Daumenseite bei angelegtem Daumen geklopft werden. Bei starkem Druckschmerz im Bereich des GBL 21 sollte aber zuerst mit den Fingern sanft massiert werden und zwar auf der Seite wo die Empfindlichkeit am größten ist. – Der Punkt „3 Entfernungen am Bein“/ZUSANLI/MA 36: MA 36 liegt 1 Daumenbreite seitlich der Schienbeinkante und 3 Daumenbreiten unterhalb des äußeren Knieauges seitlich neben der Kniescheibe. M 36 sollte immer direkt NACH der Massage des Schulterbrunnenpunktes erfolgen, da diese beiden Punkte eine spezielle innere Verbindung aufweisen. Die Punkte werden 36 x mit beiden Kleinfingerseiten der geschlossenen Fäuste geklopft.

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– Der Punkt „Äußerer Pass“/WAIGUAN/3 E 5: Liegt 2 Daumenbreiten oberhalb der äußeren Handgelenksquerfalte zwischen Speiche und Elle. Er wird 18 x rotierend massiert. – Der Punkt „Innerer Pass“/NEIGUAN/KS 6: Liegt 2 Daumenbreiten oberhalb der inneren Handgelenksbeugefalte auf der Innenseite des Unterarms. Er wird 18 x rotierend massiert. – Der Punkt „Fußpunkt der Tränen“/ZULINQI/G 41: Liegt auf dem Fußrücken in der Vertiefung im Winkel zwischen dem 4. und dem 5. Mittelfußknochen. Er wird 18 x rotierend massiert.

Schmerzen in der Hals- und oberen Brustwirbelsäule bis zu den Schulterblättern Allgemeine Maßnahmen Bei allen Massagen im hinteren Kopfbereich, der Halswirbelsäule und zwischen den Schulterblättern ist es wichtig, die Aufmerksamkeit hinunter in die Fußsohlen auf den Punkt „Sprudelnde Quelle“/YONGCHUAN/N 1 zu richten. Dadurch öffnen wir in unserer Vorstellung die Energiebahnen (Blasenmeridian und Lenkergefäß) in unserem Rücken und arbeiten auch geistig-mental an der Auflösung der Blockaden, die die Schmerzen ausgelöst haben. Verursacht werden solche Beschwerden überwiegend durch Ängste, die sich bevorzugt im HWS-Bereich festsetzen; aber auch verhaltene, nicht ausgelebte Emotionen wie Aggressionen, Kummer oder mangelndes Selbstwertgefühl können in dieser Körperzone den QI-Fluss blockieren und dadurch Schmerzen auslösen.

Isometrische Übungen Spezielle isometrische Übungen haben sich bei Schmerzzuständen der HWS sehr gut bewährt. Sie sind vor den eigentlichen ANMO-Anwendungen auszuführen. Bei isometrischen Übungen wird ein bestimmter Druck langsam aufgebaut, der für eine gewisse Zeit zu halten ist. Der individuell anzupassende Druck soll nicht schmerzhaft sein sondern als angenehm empfunden werden. Die optimale Zeit für den zu haltenden Druck liegt bei 3 tiefen Ein- und Ausatmungen, was etwa 10 bis 15 sec. entspricht. Die folgenden 4 isometrischen Übungen sind in der beschriebenen Reihenfolge auszuführen und als Zyklus 2 x zu wiederholen. Zwischen den einzelnen Zyklen sind Pausen einzulegen, die dazu benutzt werden sollten, Bilder und Erinnerungen aufsteigen zu lassen, die wertvolle Informationen über die Entstehung unserer Schmerzen beinhalten können. Durch ein entsprechendes Bilderleben, das nicht über unseren Intellekt sondern über Emotionen und Gefühle vermittelt wird, können wir alte, schädigende Belastungen erkennen und fortan loslassen.

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1. Isometrische Übung Mit der rechten Hand über den Kopf bis zu linken Kopfseite, dem linken Ohr, greifen. Mit ansteigendem Druck des Kopfes seitlich gegen die rechte Hand drücken und für 3 tiefe Ein- und Ausatmungen den Druck halten. 2. Isometrische Übung Mit der linken Hand über den Kopf bis zur rechten Kopfseite, dem rechten Ohr, greifen. Mit ansteigendem Druck des Kopfes seitlich gegen die linke Hand drücken und für 3 tiefe Ein- und Ausatmungen den Druck halten. 3. Isometrische Übung Die Hände verschränkt mit den Handinnenflächen auf die Stirn legen. Mit ansteigendem Druck den Kopf gegen die Hände drücken und den Druck für 3 tiefe Ein- und Ausatmungen halten. 4. Isometrische Übung Die Hände verschränkt auf den Hinterkopf/die Hinterhauptsschuppe legen und mit langsam ansteigendem Druck gegen die Hände nach hinten drücken. Den Druck für 3 tiefe Ein- und Ausatmungen halten.

Selbstmassage Punkte im Schmerzgebiet Durch Massage der Zone oberhalb und unterhalb der Hinterhauptsschuppe erreicht man eine ganze Reihe von wichtigen Punkten, die Schmerzsyndrome in diesem Bereich positiv beeinflussen können. Es sind dies die so genannten „Windpunkte“ LG 16 und GBL 20 sowie die Punkte LG 15 und BL 10.

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Wie wird massiert? Man legt die Fingerspitzen beider Hände auf die Nacken-Mittellinie und massiert von dort aus durch Hin- und Herreiben den gesamten Bereich unterhalb und oberhalb des Haaransatzes bis zum Mastoid. Durch diese Massagetechnik erreicht man alle genannten wichtigen Punkte auch ohne deren genaue Lokalisation kennen zu müssen. – Der Punkt „Windschirm“/YIFENG/3 E 17: Ein weiterer wichtiger Windpunkt, liegt hinter dem Ohrläppchen in einer Vertiefung zwischen dem Kieferwinkel und dem Warzenfortsatz der Hinterhauptsschuppe/Mastoid. Dieser Punkt wird zusammen mit seiner unmittelbaren Umgebung und mit weiteren 3 wichtigen Punkten vor der Ohrvorderseite massiert. Dazu legt man (bei beiden Ohren gleichzeitig) den Zeigefinger hinter das Ohrläppchen auf den Punkt 3E 17 und den Mittelfinger an die Ohrvorderseite, vor den Tragus. Hier befinden sich in einer senkrechten Reihe die Punkte 3E 21, DÜ 19 und G 2. Durch 24-maliges, senkrechtes Auf- und Abreiben mit Zeige- und Mittelfinger werden Verhärtungen und Blockaden der Kiefermuskulatur gelöst, Schmerzen gelindert und gleichzeitig noch das Gehör aktiviert. – Der Punkt „Grosse Reinigung“/DASHU/B 11: Liegt 1,5 Daumenbreiten seitlich des Dornfortsatzes des 1. Brustwirbels auf dem inneren Ast des Blasenmeridians, B 11 ist ein so genannter „Zustimmungspunkt“ zu den Atemwegen. Darüber hinaus wird er bei Beschwerden der Halswirbelsäule und der Schultern eingesetzt. Sein Name deutet darauf hin, dass sich seine Anwendung reinigend und schmerz lösend auswirkt. Er wird mit anhaltendem Druck für 3 tiefe Ein- und Ausatmungen gedrückt gehalten. Um zusätzliche Verspannungen zu vermeiden wird immer nur eine Seite und anschließend die andere Seite gedrückt. – Die so genannten „Schulterbrunnen-Punkte“/JIANJING/G 21: Liegen auf der Mitte der Strecke von Halsansatz und Schultern. Sie werden mit den Daumenseiten der Hände (angelegter Daumen) geklopft. Hierbei ist die Überkreuz-Haltung empfehlenswert, d.h. wir klopfen mit dem angelegten Daumen der rechten Hand auf den linken Schulterbrunnenpunkt und umgekehrt. Über die Schulterbrunnen-Punkte können Verhärtungen im

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Gewebe und Blockaden im QI-Fluss gelöst werden, was sich auch positiv im Bereich der Schulterblätter und der Schultergelenke auswirkt.

Fernpunkte bei Schmerzen in der Hals- und oberen Brustwirbelsäule Durch Fernpunkte, die eine innere energetische Verbindung zum Schmerzbereich HWS und obere BWS haben, kann QI von oben nach unten abgeleitet und der Schmerzbereich dadurch entlastet werden. Wir massieren folgende Punkte jeweils 18 x rotierend: GBL 34, GBL 41 und 3 E 3. – „YANG Hügelquelle“/YANGLINGQUAN/G 34: Liegt in der Vertiefung vor und unterhalb des Wadenbeinköpfchens/Fibulaköpfchens seitlich unterhalb des Knies. – „Fußpunkt der Tränen“/ZULINGQI/G 41: Liegt auf dem Fußrücken in der Vertiefung zwischen dem 4. und 5. Mittelfußknochen. – „Mittlere Insel“/ZHONGZHU/3 E 3: Liegt auf dem Handrücken zwischen dem 4. und 5. Mittelhandknochen in einer Vertiefung hinter dem Grundgelenk des Ringfingers.

Schmerzen im Lendenwirbel- und Kreuzbeinbereich In der Lendenwirbelsäule, am Übergang des 5. Lendenwirbels zum Kreuzbeinbereich und in den Verbindungen der Beckenschaufeln (Kreuz-Darmbein- oder Iliosacral-Gelenke), kommt es sehr häufig zu Schmerzzuständen, die durch vielfältige Blockaden hervorgerufen werden. Diese Blockaden können zum einen durch Störungen an der Wirbelsäule, den Wirbeln und den Zwischenwirbelscheiben selbst, zum anderen aber auch durch Funktionsstörungen im Bauchraum und damit zusammenhängende psychische Belastungen ausgelöst worden sein. In der Traditionellen Chinesischen Medizin/TCM, im QIGONG und der Selbstmassage/ANMO werden Funktionsstörungen, wie eingangs erwähnt, immer ganzheitlich, also psychosomatisch, gesehen und behandelt. Körperliche, psychische und geistige Beschwerden stehen in einem wechselseitigen energetischen Zusammenhang, der sich im Gesundsein durch eine harmonische Grundschwingung auszeichnet. Störungen dieses ganzheitlichen Gesundseins werden daher mit dem übergeordneten Begriff „Disharmoniemuster“, bezeichnet. Damit wird ausgedrückt, dass das für Gesundsein notwendige harmonische Funktionsmuster bestimmter innerer Organe auf charakteristische Art und Weise gestört ist. Aus diesem Grund wird auch nicht von isolierten Organen gesprochen sondern von so genannten ganzheitlichen „Organ-Funktionskreisen“, die in vielfältigen Wechselbeziehungen zueinander stehen. Im Lendenwirbel- und Kreuzbeinbereich mit seinen energetischen Bezügen zum unteren Bauchraum geht es nach den Grundsätzen der TCM insbesondere um Transformationsaufgaben, die einerseits die Fortpflanzung und andererseits die Ausscheidungen nicht mehr weiter verwertbarer Stoffe des Stoffwechsels betreffen.

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In einer ganzheitlichen Sicht des Menschen geht es bei Ausscheidungen um Aufgaben, die das Prinzip des „Loslassens und des Sich Lösens“ im psychischen und geistigen Aspekt unseres Lebens betreffen. „Kreuzweh“ im Bereich der Lendenwirbelsäule und des Kreuzbeins ist daher als eine Fehlfunktion, als eine Disharmonie, bezogen auf unsere energetischen Ausscheidungs- und Loslass-Funktionen zu werten. Es geht in diesem übertragenen Sinne darum, dass wir uns angewöhnt haben, an bestimmten, lieb gewonnenen Dingen, Meinungen und auch Überzeugungen festhalten zu wollen bzw. zu müssen. Dies gilt vielfach auch dann noch, wenn wir bereits erkannt haben sollten, dass uns die alten Verhaltens- und Denkstrukturen nicht mehr entsprechen und eigentlich nur noch hemmen. Durch dieses Verharren mit entsprechender Trägheit und Antriebslosigkeit sind wir nicht in der Lage, Neues auf- und anzunehmen um uns weiter zu entwickeln. Daraus entstehen die erwähnten Disharmonien mit Blockaden im Energiefluss und in deren Folge Schmerzen durch Verfestigungen und Fixierungen. (Schmerzen sind eigentlich nur körperliche Notsignale, die uns auf unerledigte Aufgaben hinweisen. In den meisten Fällen nehmen wir sie allerdings nicht mehr im Zusammenhang mit ihren Auslösern wahr!) Folglich müssen wir durch Qigong und Selbstmassage daran arbeiten, das loszulassen, was uns nur noch unmittelbar belastet und so unsere Weiterentwicklung hemmt. Durch Selbstmassage können wir hier den freien Durchfluss des QI wiederherstellen und die Schmerzen überflüssig machen.

Punkte im Schmerzgebiet – Die gefalteten Hände werden 24 x mit den Handflächen aneinander gerieben um sie zu wärmen. – Mit den warm geriebenen Handinnenflächen werden die Nieren und die gesamte Lendenwirbelsäule bis hinunter zum Kreuzbein 81 x gerieben. – Mit den zusammengelegten Daumen und Zeigefingern bei gefalteten Händen wird die Mitte des Kreuzbeins 36 x senkrecht auf und ab gerieben.

Fernpunkte bei Schmerzen im Lendenwirbel- und Kreuzbeinbereich – Mit beiden zusammen gelegten Mittelfingern werden die Kniekehlen 36 x kreisend und rotierend massiert. Es handelt sich hierbei um die Massage des Punktes „Mitte der Beuge“/WEIZHONG/B 40. – Auf der Höhe des äußeren und inneren Knöchels des Sprunggelenks wird 36 x mit beiden Mittelfingern das Gewebe zwischen den Knöcheln und der Achillessehne auf und ab gerieben. Beide Beine werden nach einander massiert. Es handelt sich hierbei um Massage der Punkte KUNLUN/B 60 neben dem äußeren Knöchel und um denPunkt „Großer Bach“/TAIXI/N 3 neben dem inneren Knöchel. – An beiden Beinen werden mit Daumen und Zeigefingern die Achillessehnen 36 x auf und ab gerieben.

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– Die beiden „Extrapunkte für Lenden und Beine“ an beiden Händen werden jeweils zusammen mit Daumen und Zeigerfinger in einem so genannten „Zangengriff“ 36 x rotierend massiert. Diese 2 Punkte je Hand liegen auf dem Handrücken, 1,5 Daumenbreiten vor der äußeren Handgelenksquerfalte in einer Vertiefung zwischen dem 2. und 3. sowie dem 4. und 5. Mittelhandknochen.

Schulterschmerzen Schulterschmerzen sind oft mit Schmerzen in der Hals- und oberen Brustwirbelsäule vergesellschaftet, da sich Fehlhaltungen und unverarbeitete, gespeicherte Emotionen auch in den Schultern und das sie umgebende Gewebe verfestigend und verhärtend auswirken. Daher werden bei Schulterschmerzen neben hierfür spezifischen Punkten auch noch Punkte und Körperbereiche massiert, die wir schon von der Hals- und Brustwirbelsäulenbehandlung her kennen.

Punkte im Schmerzgebiet Durch sanftes, wärmendes, kreisförmiges Reiben und Massieren im Schulterbereich können wir zunächst diejenigen Stellen ausfindig machen, die besonders wehtun und sogleich mit leichtem Druck rotierend daran arbeiten, den Schmerz zu erleichtern. Dabei sollte für 2–3 Minuten immer an der „Wohlfühlgrenze“ massiert werden, damit die Schmerzen nicht noch verschlimmert werden. – Die „Schulterbrunnenpunkte“/JIANJING/G 21: Liegt in der Mitte der Verbindung Halsansatz/Schultern Sie werden beidseits leicht geklopft und anschließend etwas fester rotierend 18 x gedrückt. Zu beachten ist hierbei, dass diese Punkte normalerweise schon schmerzhaft sein können. Der bei der Massage entstehende Schmerz sollte als nicht zu stark empfunden werden. – Auch den Punkt „Große Reinigung“/DASHU/B 11 kennen wir schon vom Hals- und oberen Brustwirbelbereich. Er liegt 1,5 Daumenbreiten seitlich des 1. Brustwirbels und kann mit Zeige- und Mittelfinger einer Hand gut erreicht

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und gedrückt werden. Da dieser Bereich oft druckschmerzhaft ist, sollte immer nur moderat an der Schmerzgrenze gedrückt werden. Zuerst ist der Druck auf der zur schmerzenden Schulter gegenüberliegenden Seite für 3 tiefe Ein- und Ausatmungen aufrecht zu halten, danach ist auf der Seite der schmerzenden Schulter für 3 tiefe Ein- und Ausatmungen zu drücken.

Fernpunkte bei Schulterschmerzen – „Mittlere Insel“/ZHONGZHU/3 E 3: Liegt auf dem Handrücken zwischen dem 4. und 5. Mittelhandknochen in einer Vertiefung hinter dem Grundgelenk des Ringfingers. Dieser Punkt hat eine spezifische Wirkung auf die Halswirbelsäule und die Schultergelenke. Er wird 18 x an der Schmerzgrenze pulsierend und rotierend gedrückt. – Der Extra-Punkt „Hand 5“/JIANDIAN: Liegt daumenseitig vor dem Zeigefingergrundgelenk, von der Fingerspitze aus gesehen. Er wird als weiterer spezifischer Schulterpunkt mit der Handkante und dem Kleinfingergrundgelenkder anderen Hand gerieben. Dadurch wird mit der anderen Hand gleichzeitig der Punkt „Hinterer Schlucht-Bach“/HOUXI/Dü 3, der genau neben dem Kleinfingergrundgelenk an der Handkante liegt, mitmassiert. Beide Hände werden so gleichzeitig 18 x aneinander gerieben und massiert. Danach sind die Hände zu wechseln, d.h. es wird mit der Handkante der ersten Hand am Extra-Punkt „Hand 5“ der zweiten Hand 18 x gerieben. – Abgeschlossen wird die Selbstmassage durch 18 maliges rotierendes Drücken des Punktes „YANG Hügelquelle“ /YANGLINGQUAN/G 34, der in einer Vertiefung vor und unterhalb des Wadenbeinköpfchens seitlich unterhalb des Knies liegt.

Flankenschmerz, Schmerzen im seitlichen Brustbreich Beschwerden im seitlichen Brustbereich weisen insbesondere auf eine so genannte „Energie-Stagnation der Leber/Gallenblase“ hin. Konkret handelt es sich dabei

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um ein schmerzhaftes Spannungsgefühl im seitlichen Brust- und Bauchraum sowie unterhalb der Rippenbögen. Für die TCM, QIGONG und die Selbstmassage/ANMO gilt in diesen Fällen, dass sich die Energie der Leber und der Gallenblase nicht frei bewegen kann, dass sie aufgestaut wird und so speziell die Organfunktionskreise Magen, Milz/ Pankreas und Dünn- wie auch Dickdarm beeinträchtigt. An konkreten Symptomen findet man bei den sich daraus entwickelnden Disharmoniemustern, neben dem schon erwähnten Spannungsschmerz, auch noch Völlegefühl bei schlechtem Appetit mit Aufstoßen, Blähungen sowie Störungen bei der Stuhlentleerung. Die psychischen Symptome sind ebenfalls sehr charakteristisch: Launenhaftigkeit mit raschen Stimmungswechseln, Wut und Zornesausbrüche aber auch depressive Stimmungslagen sind häufig anzutreffen und fallen bereits vor allfälligen funktionalen Störungen auf. Dies zeigt deutlich, wie wichtig ein freier und ungehinderter Energiefluss für unsere ganzheitliche Entwicklung ist.

Punkte im Schmerzgebiet Beide Handflächen werden seitlich unter den Brüsten auf die Rippenbögen aufgelegt. Es wird mit mittlerem Druck schräg nach unten in Richtung Bauchnabel zur Körpermitte hin und wieder zurück zu den Seiten massiert. Dieses Hin- und Herreiben wird 18 x wiederholt. Wir erreichen so jeweils links und rechts die Akupunkturpunkte „Tor des Gesetzes“/ZHANGMEN/L 13 (liegt am Ende der freien 11. Rippe) und die Punkte „Tor der Energie“/QIMEN/L 14 (liegt im 6. Zwischenrippenraum auf der Mamillarlinie, also etwa 4 Daumenbreiten seitlich der vorderen Mittellinie), die sich seitlich im Rippenbogenbereich befinden. Die 2 Daumenbreiten seitlich des Nabels gelegenen „Alarmpunkte des Dickdarms“ heißen „Türangel des Himmels“/ TIANSHU/MA 25. Sie werden durch die beschriebene Reibetechnik mit erfasst und sollten bei allen akuten Disharmonien der Darmtätigkeit massiert werden. – Als weitere Punkte in der näheren Umgebung der Flanken sind die Punkte „Mittlere Magengrube“/ZHONGWAN/KG 12 und „Meer des QI“/QIHAI/KG 6 zu massieren. Beide Punkte liegen auf der vorderen Mittellinie unseres Körpers. – „Mitte der Magenhöhle“/ZHONGWAN/KG 12: Liegt genau in der Mitte zwischen Nabel und dem unteren Ende des Brustbeins auf unserer Körpermittellinie. Er wird zunächst mit den Handinnenflächen warm gerieben und anschließend mit beiden aufgesetzten Mittelfingern sanft kreisend 18 x im Uhrzeigersinn massiert. – „Meer der Energie“/QIHAI/KG 6: Entspricht der Projektion des unteren DANTIAN auf die Körperoberfläche. Der Punkt liegt 1,5 Daumenbreiten unterhalb des Nabels auf der Körpermittellinie. Er wird ebenfalls wie KG 12 zunächst warm gerieben und danach 18 x im Uhrzeigersinn massiert.

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Fernpunkte bei Flankenschmerz – YANG Hügelquelle/YANGLINGQUAN/G 34: Liegt in der Vertiefung vor und unterhalb des Wadenbeinköpfchens/Fibulaköpfchens seitlich unterhalb des Knies. Die Punkte werden links und rechts gleichzeitig mit den Daumenballen 18 x kräftig rotierend massiert. – Der Punkt „3 Entfernungen am Bein“/ZUSANLI/MA 36: Liegt 3 Daumenbreiten unterhalb der Vertiefung, die bei gebeugtem Knie seitlich am Unterrand der Kniescheibe zu tasten ist. Der Punkt liegt 1 Daumenbreite neben der äußeren Schienbeinkante. Mit den Kleinfingerseiten der geschlossenen Fäuste können beide Punkte 36 x geklopft werden. – Mit den Handinnenflächen und den Daumenballen wird eine gut 2 Handflächen breite Zone oberhalb des äußeren Knöchels bis zur Mitte des Unterschenkels gerieben. Durch 36 maliges kräftiges Reiben über dem unteren Wadenbein und des Gewebes zwischen Wadenbein und Schienbein erreichen wir 5 wichtige Punkte auf dem Gallenblasenmeridian und Teile des unteren Magenmeridians. (Es sind dies die Punkte G 35, 36, 37, 38 und 39. Sie alle bewirken eine Verbesserung des allgemeinen Energieflusses und wirken gleichzeitig aufhellend auf unsere Psyche.) – Der Punkt „Große Troßstraße“/TAICHONG/L 3: Auf dem Fußrücken zwischen dem 1. und dem 2. Mittelfußknochen, wo sich die Furche zwischen dem 1. und dem 2. Zeh zum Rist hin schließt. Er wird in unserem konkreten Fall schmerzhaft sein. Starke Schmerzhaftigkeit weist immer auf stark gestautes Leber-QI hin. Durch rotierendes Drücken muss dieses gestaute QI aufgelöst und wieder zum Fließen gebracht werden, auch wenn die Massage etwas schmerzhaft sein sollte. Wir massieren L 3 rotierend 36 x. Sollte die Massage bereits bei sanftem Druck schmerzhaft sein, dann sollte hier mehrmals täglich behandelt werden.

Knieschmerzen Neben Schmerzen aufgrund von Arthritiden oder Arthrosen können Knieschmerzen auch mit psychischen Konflikten im Umgang mit den Eltern und den

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eigenen Kindern zusammen hängen. Da bei der Selbstmassage sehr gut auf ursächliche Zusammenhänge der Schmerzen eingegangen werden kann, werden auch hier Punkte ausgewählt, die nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang zu den Kniegelenken stehen.

Punkte im Schmerzgebiet – Mit „Knieaugen“ werden 2 Punkte beschrieben, die sich am linken und am rechten Unterrand der Kniescheibe befinden. Sie sind sehr gut bei abgewinkeltem Knie als Vertiefungen zu tasten, die sich links und rechts neben dem Kniescheibenband befinden. Das Kniescheibenband (Ligamentum patellae) verbindet die Kniescheibe mittig mit dem Schienbein und sollte auch mitmassiert werden. Zuerst werden die Knieaugen mit beiden Mittelfingern 18 x rotierend massiert. Anschließend reiben wir 18 x mit den Mittelfingern von den Knieaugen aus zur Mitte des Knies hin und wieder zurück, den gesamten Unterrand der Kniescheibe entlang und massieren damit auch das Kniescheibenband. So werden beide Knie, auch wenn nur ein Knie schmerzhaft sein sollte, massiert. – Der folgende Griff wird an beiden Knien gleichzeitig angewendet: Mit krallenartig gekrümmten Fingern einer jeden Hand werden beide Kniescheiben umgriffen und kräftig hin und her gerüttelt. Die Knie sollten dabei im Sitzen in einer nur leichten Beugung (in einem stumpfen Winkel) angewinkelt sein, damit das die Kniescheiben umgebende Gewebe möglichst locker bleiben kann. Das Rütteln sollte ziemlich schnell und so lange ausgeführt werden, bis sich eine angenehme Wärme im gesamten Knie bemerkbar macht. Hierzu ist einige Übungspraxis erforderlich. – „Meer des Blutes“/XUEHAI/MP 10: Er liegt oberhalb des Knies, auf dem – bei leicht angewinkeltem Knie – zur Innenseite des Oberschenkels hin fühlbaren Muskelbauchs des Oberschenkelmuskels (M. vastus medialis), liegt der Punkt. Wir massieren hier rotierend 18 x an beiden Beinen. – „In der Mitte der Beuge“/WEI ZHONG/B 40: Der Punkt liegt in der Mitte der Kniekehle. Mit beiden zusammen gelegten Mittelfingern massieren wir hier rotierend 18 x bei beiden Kniekehlen. – Mit kammartig geöffneten Fingern einer jeden Hand massieren wir innen und außen an den Seiten des Unterschenkels direkt unter dem Knie, entlang der Außen- und der Innenseite des Schienbeins. Auf der Außenseite massieren wir dabei Punkte des Magen- und des Gallenblasenmeridians, die wichtig für die Energieversorgung des Knies sind. Auf der Innenseite massieren wir entsprechend wichtige Punkte für die Energieversorgung des Knies auf dem Leber-, Nieren- und Milzmeridian. Es wird mit beiden Händen gleichzeitig so lang massiert, bis sich ein angenehmes Wärmegefühl einstellt. Auch hierbei sind beide Knie zu behandeln.

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– Der Punkt „3 Entfernungen am Bein/Fuß“/ZUSANLI/MA 36 wird unterhalb beider Knie mit beiden Kleinfingerseiten der geschlossenen Fäuste 36 x geklopft. (Siehe unter Fernpunkte Flankenschmerz).

Fernpunkte bei Knieschmerzen – Der Punkt DI 10 heißt „3 Entfernungen am Arm“/SHOUSANLI: Er liegt am Ende der Ellenbogenfalte, die an der Außenseite des zu 90 Grad angewinkelten Unterarms sichtbar wird. Hier wird mit dem Daumen der anderen Hand 18 x kräftig rotierend gedrückt. Dieser Punkt steht über seinen Namen und der topographischen Entsprechung des Ellenbogengelenks zum Kniegelenk in ganzheitlicher Verbindung. – In der Furche zwischen dem großen und dem zweiten Zehen liegen die Punkte L 2 und L 3. L 3 haben wir bereits kennen gelernt. In der Schwimmhaut vor L 3 liegt L 2. Wenn wir nun die ganze Furche von der Schwimmhaut bis zu deren Ende am Rist auf und ab massieren, erreichen wir beide Punkte. – Mit Daumen und Zeigefinger wird die Achillessehne 36 x auf und ab massiert. Dabei wird auch das Gewebe zwischen Achillessehne und den beiden Knöcheln erreicht. Hier liegen die Punkte „Kunlungebirge“/KUNLUN/B 60 und „Großer Bach“/TAIXI/N 3. – Der Punkt „Fußpunkt der Tränen“/ZULINQI/G 41: Liegt auf dem Fußrücken in der Vertiefung zwischen dem 4. und 5. Mittelfußknochen. Er wird 18 x rotierend massiert.

Fußbeschwerden Ähnlich wie bei Kniebeschwerden angedeutet, handelt es sich bei Schmerzen in den Sprunggelenken und Füssen häufig um eine Projektion psychischer Konflikte in den Außenbereich unseres Körpers. Häufig können die Probleme, die den Schmerzen zu Grunde liegen und die es hier zu lösen gilt, mit „Mangel an Selbstvertrauen“ umschrieben werden. Durch Selbstmassage kann eigenverantwortlich und ganzheitlich an der Behebung dieses Mangels gearbeitet werden.

Punkte im Schmerzgebiet Die inneren und äußeren Knöchel sind zunächst ganz sanft und liebevoll warm zu reiben, quasi zu streicheln. Dann ist mit festerem Druck der ganze Bereich des oberen Sprunggelenks zu massieren. Hiermit erreichen wir eine Aktivierung des so genannten „Ursprungs-QI“/YUAN QI aus unseren tiefsten energetischen Schichten, das im Umfeld der Sprunggelenke und auch der Handgelenke bei seinen Energieumläufen nahe an die Körperoberfläche kommt und hier entsprechend gut beeinflusst werden kann. Eine Stärkung des Ursprungs-QI ist der erste Schritt um unseren Mangel an Selbstvertrauen nach und nach abzubauen.

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Unser Ursprungs-QI wird durch die folgenden Massagetechniken noch weiter angeregt. Mit Daumen und Zeigefinger ist die Achillessehne 36 x auf und ab zu massieren. Dabei wird auch der Bereich zwischen Achillessehne und Knöchel mit massiert. Hier liegen ja auch die wichtigen Punkte B 60 neben dem äußeren Knöchel und N 3 neben dem inneren Knöchel. Mit der jeweils gegenseitigen Hand werden am Fuß 3 Punkte gleichzeitig massiert: wird der rechte Fuß massiert, geschieht dies mit der linken Hand, wird der linke Fuß massiert, geschieht es mit der rechten Hand. Bei dieser Methode liegt der Daumen immer auf dem Punkt „Große Trossstraße“/TAI CHONG/L 3, der Zeigefinger liegt immer auf der Innenseite der Großzehe und berührt so die ersten 3 Punkte auf dem Milzmeridian und der Mittelfinger mit den übrigen Fingern kommt so immer auf der Fußsohle, auf dem Punkt „Sprudelnde Quelle“/YONGCHUAN/N 1 zu liegen. Wenn nun mit dieser Fingerhaltung am Fuß 36 x vor und zurück gerieben wird, werden alle genannten Punkte massiert und aktiviert.

Fernpunkte bei Fußschmerzen An den Handgelenken kommt das Ursprungs-QI ebenfalls nahe an unsere Körperoberfläche. Wir können also auch hier das Ursprungs-QI günstig beeinflussen, indem wir die Handgelenke kräftig warm reiben. Dazu legen wir Hand und Handgelenk einer Hand in die geöffneten Finger der anderen Hand und drehen das Handgelenk und die Finger der anderen Hand gleichzeitig 36 x. Dann werden die Hände gewechselt und das andere Handgelenk gerieben. Dieses Reiben der Handgelenke (wie auch das Reiben der Fußgelenke) kann und sollte öfters am Tag ausgeführt werden, weil durch die Aktivierung unseres Ursprungs-QI eine Stärkung und Harmonisierung aller Aspekte unserer Lebensenergie stattfindet. Daher ist es auch wichtig, beim Massieren unsere Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass wir eigenverantwortlich an dieser Harmonisierung unserer Lebensenergien arbeiten. Es kann auch nicht schaden, wenn wir uns bei dieser Arbeit zulächeln. Vielleicht wird dann nach und nach ein inneres Lächeln ganz von selbst auf unserem Gesicht erscheinen …

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G . We n z e l u n d N . H e r w e g h

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Nichtmedikamentöse Methoden in der Notfallmedizin C. HE S S LE R, B. G US T O RF F , A . K O B E R u n d K . HO E RA UF

Abstrakt Grundsätzlich ist die Bedeutung der Schmerztherapie bei Notfall- und Traumapatienten weitesgehend unterschätzt. So weisen Untersuchungen auf diesem Gebiet auf erhebliche Defizite hin. Teilweise liegt dies zum einen an der lokalen Gesetzgebung oder auch einer Unsicherheit in der zielgerichteten Anwendung therapeutischer Maßnahmen. Weiters werden nicht-pharmakologische Maßnahmen per se unterschätzt. So wird z.B. der Schmerztherapie mit Akupressur keine große Bedeutung beigemessen. Schlüsselwörter: Prähospitale Schmerztherapie, Unfallmedizinischer Service, Akupressur.

Einleitung Der Wichtigkeit der Schmerztherapie in der Notfallmedizin wird nicht ausreichend erkannt. Speziell Patienten mit leichten Traumata in einer nicht lebensbedrohlichen Situation erhalten nur selten oder inadäquate Schmerztherapie. Dies ist in der der lokalen Gesetzgebung begründet, die dem Personal die initiale Versorgung von Traumapatienten – durch pharmakologische und/oder invasive Methoden – verbietet. Diese Situation führte dazu, dass die Möglichkeit der Schmerztherapie mit Akupressur, die vom medizinischem Personal durchgeführt wird, untersucht wurde – eine Technik mit vielversprechenden Ergebnissen, die gerade für die prähospitale Schmerztherapie in Betracht gezogen werden kann.

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Trauma, körperliche Beschwerden und Schmerz In der täglich Notfallroutine sind polytraumatische Patienten im lebensbedrohlichen Zustand glücklicherweise selten. In einer Studie an der Denver EMS (Paul et al. 1999) waren 44% der Fälle traumatisch, deren große Mehrheit (85,6% der Erwachsenen und 91,8% pädiatrischen Patienten zwischen 0–12 Jahren) geringe Traumata hatten (klassifiziert nach ISS 1–15, mit einem Mean ISS von 4,4 bei Erwachsenen und 3.8 bei Kindern). 9,8% der Erwachsenen und 6,0% pädiatrischen Patienten hatten ein mittleres Trauma (ISS 16–25, mit einem Mean ISS von 21,1 in Erwachsenen und 19.4 in Kindern) und nur 4,6% der erwachsenen Patienten und 2,2% der pädiatrischen Patienten hatten ein schweres Trauma (ISS > 25, mit einem ISS von 58,1 in Erwachsenen und 54,8 in Kindern). Wenn man die Schwere der Traumata in nicht mehr als drei Gruppen unterteilt, wird man zweifellos nicht alle Aspekte der Traumabehandlung beleuchten, aber macht dennoch deutlich, dass die Mehrheit der Traumapatienten, in der Denver Studie als leicht klassifiziert wird und nicht aufgrund ihrer Verletzung stirbt (in der Denver Studie hatten 99,7% der Erwachsenen in dieser Gruppe einen Unfall mit einer stumpfen Verletzung). So lange das Trauma keinen Einfluss hat, dass der Patient überlebt oder nicht, sollte der Schmerztherapie mehr Bedeutung beigemessen und dem Patient die Möglichkeit gegeben werden, davon zu profitieren (Maio et al. 1999). Wenn die Einflüsse auf die Patientenzufriedenheit untersucht werden (Doering 1998), geben Patienten und ihre Verwandten an, die Höflichkeit des Personals zu vermissen, das Unvermögen den Eingriff zu erklären und dem Patienten die Angst zu nehmen. Des weiteren wurde die subjektiv schlechte medizinische Versorgung und subjektiv schlechte Reaktionszeit genannt. Dies sei nur der Vollständigkeit halber angeführt, um zu erläutern, dass die Wahrnehmung durch den Patienten und seiner Angehörigen möglicherweise eine andere ist, als die des medizinschen Personals. Ein weiterer wichtiger Faktor ist der Stress, der bei dem Notfalltransport entsteht (Dorges et al. 2001) Bei Untersuchungen an Probanden zeigte die Versuchsgruppe einen Anstieg an Epinephrin und Norepinephrin im Blutplasma nachdem die Probanden drei Stockwerke über eine Treppe transportiert wurden. Ein geringerer Anstieg zeigte sich bei den Probanden nach schneller Fahrt mit Blaulicht und Sirene. Da die Höflichkeit des medizinischen Personals und die Fähigkeit mit dem Patienten mit zu fühlen schwierig zu klassifizieren und zu verbessern sein wird, kann die medizinische Versorgung nur durch Optimierung einzelner Faktoren verbessert werden, wie die Transportbedingungen und die Qualität während des Transports. Adäquate analgetische Versorgung von Traumapatienten ist von daher bei vielen Autoren ein wichtiges Ziel in der medizinischen Praxis (Todd et al. 1993), einer der Hauptprioritäten bei der notfallmäßigen Erstversorgung (Chambers, Guly 1994) und essentieller Teil der prähospitalen Versorgung des Patienten (Puidupin et al. 1995). Nicht zu vergessen ist, das eine gute Analgesie die Arbeit am Patienten bei therapeutischen Eingriffen (Chambers, Guly 1994) erleichtert.

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Weiter können pathophysiologische Effekte des Schmerzes zu Hypertonie (Gortzak, Abraham-Inpijn 1995) und einer Erhöhung des Herzschlages führen (Möltner et al. 1990).

Schmerzmanagement und Oligoanalgesia Große Bedeutung hat auch das inadäquate Schmerzmanagement, dass in Notfallabteilungen (Lewis et al. 1994; Wilson, Pendleton 1989; Selbst, Clark 1990) und Notfallzentren (Ricard-Hibon et al. 1999, 1997; Chambers, Guly 1993; White et al. 2000) herrscht. Interessanterweise zeigen alle, doch oft sehr unterschiedliche Systeme, gleiche Probleme auf. Im Allgemeinen können die meisten Systeme in zwei Gruppen aufgeteilt werden: 1) Systeme mit Sanitätern, das den Sanitätern mehr Kompetenz zugesteht (wie z.B. Venenpunktion) und 2) Systeme mit nicht-ärztlichem Personal, die keine invasiven Maßnahmen wie Venenpunktion durchführen dürfen (aber die Möglichkeit haben, einen Wagen mit Arzt zu alarmieren). Es gibt generelle Gründe für Oligoanalgesie, die unter verschiedenen Bedingungen berichtet wurden: Ärzte, die nach dem Grund gefragt wurden, antworteten folgendes (Ricard-Hibon et al. 1999): Die erste Priorität hat die Behandlung der lebensbedrohlichen Situation, was ein weniger häufig genannter Grund bei leichten Traumata ist. Der Patient hat nicht nach Schmerzmitteln gefragt, ein Fakt der vielleicht mit der außergewöhnlichen Situation erklärt werden kann, die wichtiger ist als die Schmerzreduktion. Ärzte unterschätzten die Schmerzintensität des Patienten und hatten Bedenken wegen der möglichen auftretenden Nebenwirkungen, die typisch für Opioide bei schwachen Patienten sind. Des weiteren wurde angenommen, das die Schmerzreduktion zweitrangig zu sehen ist, weil in Notfallsituationen Schmerz unvermeidlich ist – ein Argument das in der heutigen Medizin hoffentlich unhaltbar sein sollte. Außerdem wurde angeführt, dass durch eine eventuelle Schmerzreduktion eine korrekte Diagnose verhindert wird – ein Aspekt, der bei leichten traumatisierten Patienten wiederum vernachlässigt werden kann, wenn man den diagnostischen Vorteil gegenüber dem Leiden des Patienten stellt. Zusätzlich zu der fehlenden Kommunikation zwischen Patient und medizinischen Personal und auch eine gewisse Gleichgültigkeit manches medizinischen Personals wurden auch als Grund für keine oder inadäquate Analgesie genannt. Es gibt aber noch weitere potentielle Risikogruppen für Oligoanalgesie: Es wurde dokumentiert, das pädiatrischen Patienten signifikant weniger Schmerzmittel erhielten (Petrack et al. 1997). Außerdem bekommen ethnische Minderheiten eher weniger Schmerzmittel – ein Fakt der wahrscheinlich mit der kulturell begründeten Schwierigkeit einhergeht, Schmerz zu empfinden (Todd et al. 1993). Abgesehen von diesen allgemeinen Gründen und Vorwänden für eine inadäquate Analgesie, können noch Gründe, die im Ambulanz System selbst begründet sind, aufgeführt werden:

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Sanitäter, die in einem System arbeiten, in dem invasive Methoden und Schmerztherapie ausschließlich von Ärzten durchgeführt werden darf, haben die Option einen Arzt zu rufen. Natürlich sind Notfallwagen, die nur mit Sanitätern besetzt sind häufiger und daher auch eher verfügbar (Ricard-Hibon et al. 1999). Konsequenterweise ist damit eine Schmerztherapie für jeden Patienten utopisch, da Notarztwagen nur bei hoch priorisierten Einsätzen verständigt werden. Es wurde angedacht, dass Sanitäter eine Schmerzlinderung durch ein 50/50 Gemisch von Stickoxidol (Lachgas) und Sauerstoff (Amey et al. 1981) herbeiführen sollten, eine Methode, die geringe Nebenwirkungen in der prähospitalen Behandlung gezeigt hat (Stewart et al. 1983), anstatt der nicht erlaubten i.v. Gabe von Schmerzmitteln. Die Limitierung beginnt bei der Mithilfe des Patienten, die üblicherweise eher schlecht ist (Chambers, Guly 1994), und endet damit, dass der Patient die Maske sehr dicht vor das Gesicht halten muss, um das Gas sicher und gefahrlos zu applizieren (Baskett 1994; McKinnon 1981). Es wurde außerdem zu bedenken gegeben, dass Notfallwägen zu schlecht belüftet sind und für eine Routinebenutzung dieser Methode ein Absaugsystem eingebaut werden müsste (Baskett 1994). Aber selbst wenn es Sanitätern erlaubt wäre, Schmerzmittel intravenös zu verabreichen, behandeln selbst Ärzte Schmerzen selten adäquat (Ricard-Hibon et al. 1999; White et al. 2000) – ein Fakt, der nicht überrascht, wenn man bedenkt, das Schmerzen auch in einer gewöhnlichen Situation in einer Notfallabteilung nicht ausreichend behandelt werden. Obwohl es gezeigt wurde, dass Sanitäter unter speziellen Bedingungen in der Lage sind, Schmerzmedikamente sicher intravenös zu applizieren (Stene et al. 1988; Bruns et al. 1992), werden dennoch die Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Atemdepression, hämodynamische Komplikationen und Bewusstseinsstörungen befürchtet und daher limitieren viele Notfallsysteme die pharmakologische Analgesie, auch wenn es nicht per Gesetz verboten ist. Alles zusammen zeigt, dass es keinen Unterschied macht, welches Notfallsystem etabliert ist, dass aber Patienten mit geringem Trauma schlecht behandelt werden – eine Verbesserung würde eine völlig anderen Blickwinkel verlangen, eine Methode, die in der Medizin keine Tradition hat.

Akupunktur und Akupressur (siehe auch S. 385–391) Die Behandlung mit Akupunktur geht zurück auf die Fundamente der traditionellen chinesischen Medizin im 5. Jahrhundert v. Chr. (Hsu 1996). Die ursprüngliche Theorie der Akupunktur besagt, dass die Energie fließt (genannt Qi) und durch den Körper entlang der Linien (Meridiane genannt) rinnt. Diese Energieflüsse, so wurde angenommen, sind essentiell für die Gesundheit und die Unterbrechung derer, die Ursache für die Krankheiten (NIH Consensus Conference 1998). Um diese Unbalancen zu korrigieren, werden Akupunkturnadeln entlang der Meridiane gesetzt. Moderne Autoren nehmen an, dass – egal ob eine Person an den Energiefluss glaubt oder nicht – das Meridian-System durch das

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sichere Einsetzen von einer großen Anzahl von Nadeln erreicht wird (Mann et al. 1973). Des weiteren zeigten Studien, dass die Akzeptanz der Akupunktur interessanterweise sehr groß, ein Fakt, der positiv gesehen werden sollte. Die Effekte der Akupunktur können nicht auf den Placeboeffekt zurückgeführt werden (Levine et al. 1976), weil im direkten Vergleich die Akupunktur den Placeboeffekt überschätzt. Generell kann der Placeboeffekt genutzt werden, um einen niedrigeren analgetischen Level zu produzieren (Richardson, Vincent 1986). Untersuchungen mit funktioneller magnetischer Resonanztomographie bestätigen Ergebnisse, dass die Akupunktur die Aktivität des Limbischen Systems und der Subkortikalen Strukturen moduliert. Durch fühlbare Stimulation wird – wie erwartet – eine auslösendes Signal im Somatosensorischen Cortex erhöht, aber es gibt keine Signalmodulation in den Tiefenstrukturen (Hui et al. 2000). Andere zeigen, dass während der Akupunktur endogene opioide Peptide freigesetzt werden, ein Mechanismus der zumindest teilweise den analgetischen Effekt der Akupunktur erklärt. Der analgetische Effekt kann durch Opioid Antagonisten aufgehoben werden (NIH Consensus Conference 1998). Wie die Akupunktur im Detail wirkt, wird sicherlich Ziel von weiteren, zukünftigen Untersuchungen sein. Und immer noch sind der Gebrauch und die Effektivität der Akupunktur in der westlichen wissenschaftlichen und medizinischen Welt noch nicht weitreichen akzeptiert (Hui et al. 2000). Akupunktur spielt eine wichtige Rolle in dem heutigen multimodalem Ansatz der Schmerztherapie (Hsu 1996) und die WHO hat mehr als 40 Krankheitsbilder aufgelistet, unter denen die Akupunktur als Behandlung durchgeführt werden könnte (NIH Consensus Conference 1998). Akupunktur ist hilfreich bei Übelkeit und Erbrechen bei postoperativen, erwachsenen Patienten, bei Chemotherapie und Schwangerschaft. Akupunktur zeigt positive Effekte bei Abhängigkeit, Rehabilitation nach einem Schlaganfall und Asthma-Patienten. Auch bei Dysmenorrhoe, Fibromyalgie, myofasziale Schmerzen, Osteoarthritis, Rückenschmerzen, Karpaltunnelsyndrom (NIH Consensus Conference 1998) und Kopfschmerzen (Manias et al. 2000) zeigt Akupunktur eine gute Wirkung. Außerdem ist Akupunktur hilfreich bei chronischen Schmerzen (Lee et al. 1976; Levine et al. 1976) unterschiedlichster Herkunft. Natürlich wurden auch die Vorteile der Akupunktur bei chronischen Schmerzen untersucht, und die Bedingungen von chronischen und akuten Schmerzen unterscheiden sich sehr, so das eine Studie empfohlen wird (Sung et al. 1977): Postoperative Zahnpatienten wurden in 4 Grupppen unterteilt: Gruppe 1 bekam eine Placebo Tablette (Laktose) plus Placebo-Akupunktur für die Analgesie, Gruppe 2 bekam Codein plus Placebo-Akupunktur, Gruppe 3 bekam eine Placebo Tablette plus wirksame, richtige Akupunktur und Gruppe 4 bekam Codein plus wirksame, richtige Akupunktur. Die Patienten mit beiden Placebo Behandlungen hatten die höchsten Schmerzwerte. Aber interessanterweise zeigte Akupunktur allein die stärksten Reduktionseffekt für die ersten 30 Minuten und ab 2 bis 3 Stunden hatte die Kombination von beiden tatsächlichen Behandlungen einen signifikant größeren Effekt als beide einzeln.

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Wie bei jeder anderen Behandlung sind unerwünschte Ereignisse nicht unbekannt bei Akupunktur. Kleinere unerwünschte Ereignisse wie Schmerzen von der Nadel, Abgeschlagenheit und Blutungen wurden berichtet (Ernst, White 2001), schwerwiegende unerwünschte Ereignisse sind rar, aber nichtsdestotrotz lebensbedrohlich (Ernst, White 1997): Unsachgemäße Handhabung der Nadel und die Wiederbenutzung ohne adäquate Sterilisation führen zu Fällen mit Hepatitis, HIV Infektionen und subakute bakterielle Endokarditis. Die Methode, die Nadeln für einige Tage in situ zu lassen ist auch mit Infektionen verbunden. Abgesehen von Infektionen wurden einige schwerwiegende unerwünschte Ereignisse wie Pneumothorax, oder sogar Herzbeuteltamponade, Dermatitis, Rückenmarksverletzung und ein Fall von elektromagnetischen Interferenzen bei der Elektroakupunktur festgestellt, die einen Demand-Herzschrittmacher unterdrücken. Da diese unerwünschten Ereignisse nahezu komplett auf die invasive Prozedur der Akupunktur zurückzuführen ist, würde Akupressur wohl diese Risiken ernorm reduzieren, da die Stimulation der Akupunkte nur mit Druck erfolgt. Es wurde gezeigt, dass Akupressur ebenfalls bei Dysmenorrhoe (Taylor et al. 2002), postoperativen Schmerzen (Felhendler, Lisander 1996) und Kopfschmerzen (Kurland 1976) effektiv ist. Weiters kann Akupressur von den Patienten leicht selbst durchgeführt werden, z.B. bei der Reduktion von Dyspnoe bei COPD (Maa et al. 1997) oder Kopfschmerzen (Kurland 1976).

Akupressur durch Sanitäter Wenn Patienten in der Lage sind, Akupressur bei sich selbst durchzuführen, dann sollte es sicher möglich sein, Sanitäter darauf zu trainieren und Akupressur als Teil des Schmerzmanagement zu sehen (Kober et al. 2002). Österreichischen Sanitätern, denen es nicht erlaubt ist, invasive Eingriffe vorzunehmen, wurden trainiert Akupunkte mit den Fingern zu stimulieren, um den die analgetische

Abb. 1

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Effektivität zu testen. 60 Patienten mit leichtem Trauma wurden nach dem Zufallsprinzip in drei Gruppen eingeteilt: Bei den Teilnehmer der Gruppe 1 wurde Akupressur durchgeführt, bei den Teilnehmern der Gruppe 2 wurde keine richtige Akupressur durchgeführt und die dritte Gruppe erhielt überhaupt keine Akupressur. Keiner der Sanitäter hatte Vorkenntnisse in Akupressur und der Glaube an Akupressur bei den Patienten war in allen Gruppen ähnlich. Beide Seiten, sowohl die Patienten als auch die Sanitäter, waren bezüglich der Behandlung verblindet (einer Sanitäter führte die Akupressur durch, der andere erfasste die Daten). Die Studienergebnisse zeigen, dass die richtige Akupressur, die von einem Sanitäter durch geführt wurde, den Schmerz bei Patienten mit leichtem Trauma signifikant reduzierte: Gruppe 1 startete mit Schmerzen von 61,8 ± 11,8 mm VAS (Visuelle Analog Skala) und der Schmerz sank auf 34,0 ± 16,9 mm VAS gemessen zu dem Zeitpunkt als sie das Krankenhaus erreichten. Wogegen die Schmerzen der Gruppe 2 und 3 im Durchschnitt unverändert blieben. Als logische Folge sanken außerdem die Angstzustände in der Gruppe 1 signifikant im Vergleich zu dem nicht signifikanten Sinken der Angstzustände in den anderen beiden Gruppen. Mit der Betonung der Tatsache, dass kein Equipment benötigt wird, um die Akupressur durchzuführen, dass die Sanitäter nicht auf Assistenz angewiesen sind, dass das Training, um die Akupunkte zu finden sehr kurz ist und dass letztendlich die Akupressur keine Kosten verursacht, lässt den Autor zu dem Schluss kommen, diese Technik im Schmerzmanagement bei Patienten mit leichtem Trauma einzusetzen. Egal, ob ein Arzt oder nicht akademisches Personal wie Krankenschwestern oder EMS Personal die Akupressur durchführt. In einer weiteren Untersuchung (Kober et al. 2003) wurden Patienten, die einen Krankenwagentransport benötigten, nach Zufallsprinzip eingeteilt, ob sie aurikulare Akupressur an den Entspannungspunkten (n = 17) oder an Scheinpunkten (n = 19) erhalten (Abb. 1). Es wurde gezeigt, dass die Patienten in der Gruppe, deren Entspannungspunkte aktiviert wurden, beim Erreichen des Kran-

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Abb. 3

kenhauses über signifikant weniger Angstzustände berichteten, als im Vergleich dazu die Gruppe, bei denen die Scheinpunkte aktiviert wurden (37,6 ± 20,6 auf 12,4 ± 7,8 gegen 42,5 ± 29,9 auf 46,7 ± 25,9, mm VAS, p=0,002) (Abb. 2). Ähnlich war die Wahrnehmung der Patienten bei den “Schmerzen während der Behandlung” (32,7 ± 27,7 auf 14,5 ± 8,1 gegen 17,2 ± 26,1 auf 28,8 ± 21,9, mm VAS, p = 0,006) (Abb. 3) und “dem Erfolg der Behandlung ihrer Krankheit“ (46,7 ± 29,4 auf 19,1 ± 10,4 gegen 35,0 ± 25,7 auf 31,5 ± 20,5, mm VAS, p = 0,014), wo die Gruppe, deren Entspannungspunkte aktiviert wurden signifikant positive Effekte zeigte. Es konnten keine Unterschiede bei den anderen erfassten Variablen gezeigt werden. Die Autoren zogen aus den Ergebnissen den Schluss, dass die aurikulare Akupressur eine effektive Behandlung bei Angstzuständen im Prähospitalen Notfall Setting ist Basierend auf dieser Untersuchung war es Ziel einer weiteren randomisierten, doppelt verblindeten, durch einen Scheinarm kontrollierten Studie (Barker et al. 2006) zu bestimmen, ob aurikulare Akupressur neben dem Minimieren von Angstzuständen auch die Schmerzen in einer Gruppe von älteren Patienten reduziert, die an einer akuten Hüftfraktur leiden. Mit der Unterstützung des Wiener Roten Kreuzes wurden Patienten mit einer akuten Hüftfraktur in diese Studie eingeschlossen. Die Patienten wurden randomisiert in zwei Gruppen unterteilt: Eine Gruppe erhielt eine tatsächliche Behandlung und die andere dient als Kontrollgruppe. Als Baseline wurde vor der Akupressur die demographischen Daten, Angstzustand, Schmerzen, Blutdruck und Herzrate erfasst. Die Größe der Angst, Höhe der Schmerzen, das hämodynamischen Profil und die Zufriedenheit wurden nochmals bei den Patienten erfragt, nachdem das Krankenhaus erreicht wurde. Die Ergebnisse zeigen, dass die Patienten in der Behandlungsgruppe weniger Schmerzen (p = 0,0001) und weniger Angst hatten (p = 0,018) als die Kontrollgruppe. Die Patienten berichteten außerdem, dass die Zufriedenheit in der Behandlungsgruppe während Fahrt in das Krankenhaus größer war.

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Diskussion Zweifellos ist ein leichtes Trauma mit Schmerzen und körperlichen Beschwerden verbunden. Wenn man bedenkt, dass leichte Traumata sehr selten lebensbedrohlich werden (Paul et al. 1999), sollte die Kapazität der Sanitäter konsequent genutzt werden, um Schmerzen minimieren zu können. Eine Anzahl von Gründen und Vorwänden für die fehlende effektive Analgesie durch EMS Personal wurde aufgelistet (Ricard-Hibon et al. 1999), was sich wie folgt zusammenfassen lässt 1) ein Defizit beim EMS Personal des Bewusstseins wie wichtig die Schmerztherapie ist, 2) Reserviertheit gegenüber pharmakologischer Schmerztherapie, wegen möglicher unerwünschten Ereignisse 3) gesetzliche Regelungen, die die pharmakologischen Interventionen generell und im speziellen nicht erlauben und damit keine initiale Schmerzbehandlung bei Patienten mit leichtem Trauma geben können. Diese Gründe sind je nach EMS System unterschiedlich („Sanitätern ist erlaubt invasive Eingriffe vorzunehmen“ gegenüber „Sanitätern ohne die Erlaubnis aber mit der Möglichkeit einen Notarzt zum Notfall zu rufen“). Interessanterweise zeigen beide Systeme eine nicht adäquate Schmerztherapie auf diesem Gebiet. Die Akzeptanz für Akupunktur und Akupressur variiert in der westlichen wissenschaftlichen und medizinischen Welt (Hui et al. 2000), die WHO empfiehlt die Applikation unter 40 Bedingungen (NIH Consensus Conference 1998) und verschieden Studien haben einen analgetischen Effekt gezeigt (NIH Consensus Conference 1998; Levine et al. 1976; Manias et al. 2000; Lee et al. 1976; Sung et al. 1977). Die lebensbedrohlichen unerwünschten Ereignisse die bei der Akupunktur berichtet wurden (Ernst, White 1997) beziehen sich darauf, dass diese Methode invasiv ist und durch das Weglassen der Nadeln nicht mehr auftreten kann. Akupressur, eine Stimulation der Akupunkte nur durch Druck, wurde weit weniger untersucht, hat sich aber bereits als effektiv bei Schmerzen gezeigt (Taylor et al. 2002; Felhendler, Lisander 1996; Kurland 1976). Weiterhin sind Patienten erfolgreich trainiert worden, Akupressur bei sich selbst durchzuführen, um ihre Situation zu verbessern (Kurland 1976; Maa et al. 1997) – ein Fakt, der impliziert, das auch nicht akademisches Personal in der Lage sein sollte, es zu lernen. In der Tat wurde gezeigt (Kober et al. 2002), das Sanitäter ohne jegliche Vorkenntnis bzgl. Akupunktur oder ähnlicher Behandlungen leicht lernen mit wenigen Akupunkten und Akupressur eine effektive nicht invasive, nicht pharmakologische prähospitale Schmerzreduktion bei Patienten mit leichtem Trauma durchzuführen. Wenn man die Qualität dieser Behandlung bedenkt – die leicht erlernbar, sicher und schnell anwendbar ist, kaum Technik braucht oder Kosten verursacht – sollte Akupressur nicht nur von Sanitätern, die in einem System arbeiten, das die Schmerztherapie limitiert, angewendet werden, sondern könnte auch generell das prähospitale Schmerzmanagement bei leichten Traumata bereichern.

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Akupunktur H. -P . HE S S E

Akupunktur ist ein Verfahren im Rahmen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Der Name Akupunktur ist aus den lateinischen Wörtern acus (= Nadel) und punctum (= Stich) zusammengesetzt. Er wurde im 17. Jahrhundert von Jesuitenmönchen geprägt, die das Verfahren in China kennen gelernt hatten. Bei dieser Therapie werden dünne, zwischen 1,5 und 7 cm lange Nadeln an bestimmten Punkten in die Körperoberfläche gestochen, um Krankheiten zu heilen oder Schmerzen auszuschalten. Die kurzen Nadeln werden im Kopfbereich, die längeren bei Stichen in die Körpermuskulatur angewandt. Die Einstichpunkte liegen über den ganzen Körper verteilt und sind in einem auf uralten Erfahrungen beruhenden System von Meridianen angeordnet. Dieses ist auf die Anschauung der chinesischen Heilkunde gegründet, dass Krankheiten durch Störung des Gleichgewichts unter den Vorgängen innerhalb des Körpers entstehen und dementsprechend ganzheitlich kuriert werden müssen. Die Stiche bilden gezielte Reize, mit deren Hilfe Regulationsprozesse im Körper ausgelöst werden.

Qi, Yin und Yang Während sich in Europa um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Medizin zu einer analytischen Wissenschaft entwickelte und in der Pathologie damals überwiegend nach monokausalen Wirkungszusammenhängen gesucht wurde, hielt die chinesische Heilkunde an dem Prinzip fest, bei einer Erkrankung den organpathologischen Befund nicht isoliert zu betrachten und zu behandeln, sondern ihn auf gestörte Regelkreise im Körper zurückzuführen und die Therapie auf den gesamten Organismus zu richten. Dass dieser Grundsatz, der längst auch in die westliche Schulmedizin Eingang gefunden hat, in Europa zunächst nicht auf Verständnis stieß, ist großenteils auf fehlende Vertrautheit mit der chinesischen Sprache und daher auch mit den in der traditionellen chinesischen Heilkunde

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gebräuchlichen Termini – etwa QI oder YIN und YANG – zurückzuführen. QI wird außerhalb Chinas üblicherweise mit Energie übersetzt. So kann man in populär-wissenschaftlichen Schriften lesen, die Lebensenergie QI fließe in Bahnen, die als MERIDIANE bezeichnet würden, in harmonischer Ausgewogenheit ihrer Komponenten YIN und YANG durch den Körper. YIN sei das Weibliche, Irdische, Dunkle, YANG dagegen das Männliche, Kosmische, Helle. Natürlich ist ein derartig verstandenes Vokabular nicht mit naturwissenschaftlicher Rationalität zu vereinbaren. Da die Meridiane weder exakt dem Verlauf von Blutgefäßen noch demjenigen von anatomisch identifizierten Nervenbahnen entsprechen und auch die Energie QI keine physikalisch definierbare Größe ist, wurde die Theorie der Akupunktur in den Bereich des medizinischen Okkultismus verwiesen und die traditionelle chinesische Medizin daher im Allgemeinen nicht ernst genommen. Das chinesische Schriftzeichen für QI hat jedoch außer Energie mindestens dreißig weitere Bedeutungen. Wird QI als Funktion verstanden, so bedeutet „zu wenig“ QI nicht den Mangel an einer Substanz, sondern eine Hypofunktion, „zu viel“ QI eine Hyperfunktion. In Verbindung mit einem Organ, z.B. dem Magen, bedeutet „zu wenig“ QI des Magens Atonie, Sekretmangel, „zu viel“ QI des Magens dagegen Spasmus, Kolik, Hypersekretion (König, Wancura 1989). Ähnlich verhält es sich mit den aus der chinesischen Philosophie stammenden, allgemeingültigen Kategorien YIN und YANG. Sie können sowohl zwei verschiedene Phänomene von unterschiedlicher Natur bezeichnen als auch gegensätzliche Aspekte einer einzigen Erscheinung. Bei einem Berg lassen sich eine sonnige und eine schattige Seite unterscheiden; aber Licht und Schatten sind keine absoluten Eigenschaften, sondern relative Aspekte, die auf jeder Seite in beliebig vielen weiteren Unterteilungen entgegengesetzt werden können. Im menschlichen Körper kommen die Gegensätzlichkeit und gleichzeitig die komplementäre Ergänzung beider Aspekte z.B. darin zum Ausdruck, dass Wärme (YANG) die Kälte (YIN) vertreibt, und umgekehrt YIN eine zu hohe Temperatur abkühlt. Unter normalen Bedingungen wird also eine physiologische Balance im Körper aufrechterhalten, während sich ein relativer Mangel an YIN oder YANG in Form von Krankheit äußert. Auch in der modernen Medizin ist die relative Betrachtung durchaus üblich geworden und mit naturwissenschaftlichem Denken vereinbar.

TCM in Europa und USA Erst Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts lenkten vor allem spektakuläre Berichte in den Medien über Operationen unter Akupunktur-Analgesie die Aufmerksamkeit nicht nur medizinischer Laien sondern auch von Ärzten auf die Methoden der altchinesischen Heilkunst. Diesem Interesse kam die Regierung der Volksrepublik China entgegen, indem sie im Jahre 1975 in Peking, Shanghai und Nanjing internationale Zentren gründete, in denen die Grundlagen der Akupunktur für ausländische Studierende gelehrt wurden. Außerdem wurde ein umfangreiches Lehrbuch in englischer Sprache veröffentlicht, das dazu

Akupunktur

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beitrug, Irrtümer in der Einschätzung der traditionellen chinesischen Medizin aufzuklären (Cheng Xinnong 1990). In den USA und in Europa wuchs das Interesse insbesondere an der Akupunktur Jahr für Jahr; es wurden zahlreiche Studien unternommen, um Erklärungen für die geheimnisvollen Wirkungen, die durch wenige Nadelstiche hervorgerufen werden können, zu finden. Etliche Publikationen erschienen, die über die Technik der Akupunktur informierten und darüber hinaus das Indikationsspektrum für deren erfolgreiche Anwendung ständig erweiterten (Acupuncture. Acupuncture. National Library of Medicine;; Hammes et al. 2005; König, Wancura 1989; Stux 2003). Die amerikanische National Library of Medicine bietet eine im Internet abrufbare Bibliographie (Acupuncture. Acupuncture. National Library of Medicine). ). Diese ist nach Indikationen geordnet und umfasst über 2.300 Titel. Wenn auch in vielen Bereichen der Erfolg der Therapie eindeutig und daher nicht zu bestreiten war, so blieb für streng naturwissenschaftlich denkende Skeptiker ein Problem bestehen: Die beobachteten Wirkungen der Akupunktur konnten zunächst nicht auf unmittelbar erkennbare Ursachen zurückgeführt werden. Die überlieferte Theorie der Akupunktur erfüllte also nicht die Bedingungen, die eine Theorie im naturwissenschaftlichen Sinne der europäischen Wissenschaft erfüllen muss. Die chinesische Medizin ist jedoch nach dem Verständnis ihrer Gelehrten eine Erfahrungsheilkunde, in der nicht der genaue Schaltplan des Reizweges sondern die Wirksamkeit des Verfahrens das Kriterium bildet.

Meridiane Eine zentrale Methode für die Systemisierung therapeutischer Erfahrungen bilden die Meridiane, die den Körper überwiegend in Längsrichtung überziehen. Der Begriff wurde von Schiffsärzten der alten europäischen Handelsschiffe geprägt, die die annähernd vertikalen Linien in den Darstellungen der Akupunktur mit den Längengraden des Globus verglichen. Man unterscheidet zwölf Hauptmeridiane, die als Paare spiegelbildlich auf beiden Körperseiten verlaufen, und ein komplexes System von Sekundärmeridianen. Durch die Meridiane wird die Körperoberfläche in vertikal verlaufende Streifen untergliedert. Die Gliederung geht auf die auch in der westlichen Medizin bekannte Erfahrung zurück, dass zwischen bestimmten Bereichen der Körperoberfläche und inneren Organen eine Beziehung besteht. Bei Erkrankung eines inneren Organs kann es zu Schmerzen oder einer Überempfindlichkeit in bestimmten Hautregionen – den so genannten Headschen Zonen – kommen. Es handelt sich dabei um einen viszerokutanen Reflex, der auf eine über das jeweilige Rückenmarkssegment laufende Querverbindung zwischen viszeraler und kutaner Innervation zurückgeht und zu Verspannungen und Durchblutungsveränderungen auch in entfernt liegenden Muskel- und Hautpartien führen kann. Umgekehrt können durch Nadelreize in diesen Bereichen Rückwirkungen auf die erkrankten Organe ausgelöst werden. Die Meridiane sind also keine Kanäle, durch die eine mystische Energie fließt, sondern in anatomischer Bedeutung aus Arterien, Venen, Lymphgefäßen, vegetativen und sensiblen Nerven bestehende Gefäßnervenstränge, über die be-

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stimmte Abschnitte der Körperoberfläche mit inneren Organen in reflektorischer Beziehung stehen. Zugleich verbindet der in Akupunktur-Darstellungen auf der Haut eingezeichnete Verlauf der Meridianlinie die Punkte ähnlicher therapeutischer Wirkung. Es wird an dieser Stelle darauf verzichtet, auf engem Raum Einzelheiten über die genaue Lokalisation und die diagnosespezifische Auswahl der Akupunkturpunkte mitzuteilen. Dies wäre mit der Gefahr einer missverständlichen Vereinfachung verbunden und würde einer chinesischen Syndromdiagnose widersprechen. Stattdessen wird auf die Literatur (König, Wancura 1989; Stux et al. 2003) und eine seit den 90er Jahren bei verschiedenen Organisationen etablierte 140 Stunden umfassende Akupunkturfortbildung verwiesen.

Analgesie Wenn Akupunktur zur Analgesie eingesetz wird, so wirken – dem kanadischen Neurophysiologen Bruce Pomeranz folgend – drei neuronale Zentren zusammen (Pomeranz, Stux 1988): Das Schmerzsignal wird vom Reizort über Nervenfasern zu den Hinterhörnern des Rückenmarks geleitet, dort auf ein zweites Neuron umgeschaltet und zum Thalamus im Zwischenhirn und schließlich zur Hirnrinde geleitet, wo der Schmerz bewusst wird. Die Akupunkturnadel erzeugt in den Muskeln Nervenreize, die ebenfalls zum Rückenmark laufen und in dem betreffenden Segment des Rückenmarks Reaktionen auslösen, wodurch die afferenten Schmerzreize mit Hilfe der Neurotransmitter Enkephalin und Dynorphin teilweise blockiert werden können. Außerdem werden die Nadelreize auch zum Mittelhirn und zum Hypothalamus geleitet. Im Mittelhirn wird das absteigende Raphesystem aktiviert, das die Schmerzleitung im Rückenmark unterdrückt. Im Hypothalamus schließlich wird Beta-Endorphin ins Blut und in den Liquor ausgeschüttet, und dadurch eine analgetische Allgemeinwirkung ausgeübt.

Indikationen Es gibt inzwischen zahlreiche wissenschaftliche Studien, in denen die Patienten nach Zufallsauswahl einer von drei Behandlungsgruppen zugeordnet wurden: Die erste Gruppe wurde nach den Regeln der TCM – mit der so genannten VerumAkupunktur – behandelt, die zweite mit Scheinakupunktur (Sham-Acupuncture), bei der bewusst an falschen Stellen gestochen wird, um Suggestionseffekte aufzudecken, und die dritte mit Standardtherapie ohne Akupunktur. Im Jahre 1997 führten die National Institutes of Health eine Konferenz durch, im Rahmen derer die vorliegenden Forschungsergebnisse von Ärzten, Psychologen, Statistikern und Gesundheitspolitikern diskutiert wurden (Acupuncture. Acupuncture. NIH Consensus Statement Online 1997).. Die Evaluation der Forschungsergebnisse bestätigte in weitem Umfange die Wirksamkeit der Methode. Vorliegende zweifelhafte Ergebnisse konnten größtenteils auf methodische Fehler zurückgeführt werden. Die WHO und anderer Organisationen haben inzwischen Indikationslisten für die Erfolg versprechende Anwendung von Akupunktur vorgelegt, die folgende Bereiche umfassen:

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Erkrankungen des Stütz- und Bewegungssystems Neurologische Erkrankungen, Kopfschmerz, Migräne Psychische und psychosomatische Störungen, Suchterkrankungen Bronchiopulmonale Erkrankungen Herz-Kreislauf-Erkrankungen Gastrointestinale Erkrankungen Urologische Erkrankungen Gynäkologische Erkrankungen Hals-Nasen-Ohren-Erkrankungen Augenerkrankungen Hauterkrankungen Schmerztherapie (Tumorschmerz, Postoperativer Schmerz, Posttraumatischer Schmerz, Zahnschmerz)

In den Vereinigten Staaten ist die therapeutische Anwendung der Akupunktur seit etlichen Jahren weit verbreitet. In Deutschland ist sie bisher keine Regelleistung der Gesetzlichen Krankenversicherung und findet nur im Rahmen von Modellversuchen der Krankenkassen zögernd Anerkennung. Ende 2000 wurden auf Grund eines Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte, Zahnärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen (G-BA) die Initiative Deutsche Akupunktur-Studien (German Acupunctur Trials – gerac) und Acupuncture Randomised Trials (ART) gestartet, um die Wirksamkeit von Akupunktur zur Behandlung von Rücken-, Knie- und Kopfschmerzen zu untersuchen. Über einen Zeitraum von fünf Jahren beteiligten sich ca. 12.000 Ärzte an den Modellversuchen, in die einige Hunderttausend Patienten einbezogen wurden (gerac. Deutsche Akupunkturstudien). Am 16. November 2005 veröffentlichten die Deutschen Acupunctur-Studien gerac die Ergebnisse der gerac-Kopfschmerzstudien bei Migräne und Spannungskopfschmerz: „Bei beiden Kopfschmerzformen zeigte sich eine deutliche Reduktion der Anzahl Tage mit Kopfschmerzen … Überraschenderweise zeigte sich bei Migräne keine Überlegenheit der kontinuierlichen, sechsmonatigen medikamentösen Prophylaxetherapie über die sechswöchige Akupunkturtherapie. Bei beiden Kopfschmerzformen war auch keine eindeutige Überlegenheit der Verum-Akupunktur gegenüber der Shan-Akupunktur nachweisbar. Allerdings konnte bei beiden Studien in sog. Subgruppenanalysen eine größere Reduktion der Anzahl Kopfschmerztage in der Verum-Akupunkturgruppe gegenüber der Sham-Akupunkturgruppe nachgewiesen werden … Resümee: Die Akupunktur stellt beim chronischen Kopfschmerz eine effektive und risikoarme Ergänzung des therapeutischen Konzepts dar“ (gerac. Deutsche Akupunkturstudien). Der Herausgeber des 14-tägig erscheinenden Internet-Informationsdienstes zur Akupunktur, Gabriel Stux, führt den relativ geringen Unterschied zwischen Verum- und ShamAkupunkturgruppe darauf zurück, dass in der gerac-Studie eine einfache westliche Akupunktur und nicht eine auf einer Chinesischen Diagnose aufbauende Qualitätsakupunktur praktiziert wurde (Akupunktur aktuell).

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Auch beim Lendenwirbelsäulen-Syndrom und bei Gonarthroseschmerzen zeigten die gerac-Studien deutlich bessere Erfolge der Akupunktur gegenüber den Standardtherapien. Auf Grund dieser Ergebnisse beschloss der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen am 18. April 2006: „Gesetzlich versicherte Patienten mit chronischen Rücken- oder Knieschmerzen können künftig grundsätzlich eine Akupunkturbehandlung mit Nadeln als Regelleistung ihrer Krankenkassen beanspruchen“ (G-BA). Die Behandlung der Spannungskopfschmerzen und der Migräne mit Akupunktur wurde jedoch bisher – trotz der vorliegenden Nachweise ihrer Wirksamkeit – noch nicht als Kassenleistung anerkannt. Nachdem die Forschung heute bereits eine ganze Reihe von neurophysiologischen Zusammenhängen aufgedeckt hat, die bei der Akupunktur wirksam werden, soll der Blick zum Schluss noch auf ein bisher weitgehend vernachlässigtes Gebiet gelenkt werden, das – wenn die Chirurgen ihre Arbeit als angeschlossen betrachten – für viele Patienten ein Problem bildet, nämlich die Narben. Denn neben Narbenschmerzen und der lästigen Wetterfühligkeit sind in vielen Fällen Symptome zu beobachten, die anscheinend weder organisch noch psychisch erklärt werden können, und daher ohne ärztliche Hilfe dem Patienten selbst überlassen bleiben. Wenn man jedoch bedenkt, dass auch bei rein äußerlich gut verheilten Narben neuronale Reflexbögen gestört sein können, so lohnt sich die Untersuchung der durch die Narbe möglicherweise beeinträchtigten Akupunkturpunkte, um eventuelle Schäden an den Gefäßnerven aufzuspüren und möglicherweise mit Hilfe von Akupunktur die gestörten Regelungsprozesse wieder ins Lot zu bringen.

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Die Auriculomedizin in der Schmerztherapie M. RE I NI NG E R

Einleitung Der Leser dieses Artikels mag sich vielleicht wundern, dass der Begriff Auriculomedizin anstelle des bekannteren Begriffes Ohrakupunktur verwendet wird. Der Grund dafür ist leicht erklärt und liegt darin begründet, dass das Ohr nicht nur ein nahezu ideales Therapie- sondern auch Diagnosezentrum ist. So lassen sich am Ohr durch entsprechende Techniken, die später näher erläutert werden, nur aktive, das heißt, nur am Krankheitsgeschehen tatsächlich beteiligte Punkte durch mechanische, elektrische oder elektromagnetische Reizung nachweisen und behandeln. Ohrakupunkturpunkte haben im Gegensatz zu den meisten Körperakupunkturpunkten kein anatomisch-histologisches Substrat. Durch diese Kontrolltechniken lassen sich somit Rückschlüsse auf die Pathogenese einer Erkrankung ziehen, deren Hintergründe häufig durch traditionelle Überlegungen der TCM erklärbar werden. Die Auriculomedizin ist nicht als Alternative zu schulmedizinischen Therapien zu verstehen, sondern stellt eine hervorragende komplementärmedizinische Maßnahme dar. Oberstes Gebot ist nach wie vor eine fundierte schulmedizinische Diagnosestellung, sowohl beim akuten als auch chronischen Schmerzgeschehen! Gerade aber die Chronizität des Schmerzes führt den Patienten häufig zum Auriculotherapeuten, weil Chronizität und Therapieresistenz betreffende schulmedizinische Erklärungsversuche, etwas drastisch ausgedrückt, häufig insuffizient sind. Der gravierende Unterschied zur Schulmedizin ist neben der symptomatischen Therapie die Möglichkeit der gezielten Störfelddiagnostik und des energetischen Wiederaufbaus.

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Geschichtliche Entwicklung Die Ohrakupunktur in der ursprünglichen Form ist ein bereits sehr altes Therapieverfahren, welches sich schon bei den Chinesen großer Beliebtheit erfreute. Schon Hippokrates versuchte im 4. Jahrhundert vor Christus, Impotenz durch Aderlass am Ohr zu heilen. Die chinesische Schule der Ohrakupunktur unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der modernen, von Frankreich ausgehenden Form der Auriculomedizin. Traditionell überlieferte Punktlokalisationen am Ohr halten in vielen Fällen einer kontrollierten Überprüfung nicht stand und wurden und werden in der französischen Schule ständig ergänzt und wenn notwendig auch korrigiert. Da neben dem französischen Ausgangspunkt die weitere Entwicklung besonders von Deutschland aus durch Prof. Frank Bahr geprägt wurde, ist es besser, von einer europäischen Variante zu sprechen. Der „Vater“ der europäischen Form der Auriculomedizin war Dr. Paul Nogier, der in seinem „Lehrbuch der Auriculotherapie“ 1969 von seinen ersten Berührungspunkten mit der Ohrakupunktur berichtet: In Lyon, wo er seine Praxis hatte, entdeckte er bei Patienten immer wieder eine Narbe am Ohr, welche seine Aufmerksamkeit erregte. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang erscheint, dass Dr. Nogier zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wusste, dass man seit dem Altertum die Ohrmuschel reizte, um bestimmte Funktionen zu beeinflussen und bestimmten Störungen entgegenzuwirken. Er ging also ganz unbedarft an die Sache heran und erfuhr von diesen Patienten, dass es sich um eine besondere Therapieform der Lumboischialgie handelte. Heilkundige aus dem Mittelmeerraum hatten an einem ganz bestimmten Punkt des Ohres eine Kauterisation vorgenommen, um den Ischiasschmerz zu lindern. Der Punkt, der kauterisiert wurde, liegt auf der Anthelix und wird als „Kauterisationspunkt“ bezeichnet. Nogier hat in eigenen Versuchen, zunächst in Form von Kauterisationen, später etwas schonender mit Näh- oder Stecknadeln versucht, dass Phänomen nachzuvollziehen, was großteils auch von Erfolg gekrönt war. Erstaunlicherweise handelte es sich dabei auch um Patienten, welche andere Therapieverfahren ohne nennenswerte Besserung bereits hinter sich hatten. Weiterführende Untersuchungen von Nogier führten schlussendlich zur Entdeckung weiterer Punkte am Ohr und zur Erkenntnis, dass sämtliche Körperregionen, Organe, physische oder psychische Funktionen ihr Korrelat am Ohr haben. So konnte das Ohr im Großen und Ganzen als das Abbild eines Embryos in utero erscheinen (Linde 1994). Um den Rahmen des Beitrages nicht zu sprengen, kann auf die einzelnen Reflexlokalisationen leider nicht eingegangen werden. Ich darf auf Kartographien der Europäischen Akademie für Akupunktur (Bahr, Strittmatter) verweisen.

Techniken der Punktdetektion Da am Ohr Punkte nur dann aktiv und damit nachweisbar werden, wenn eine organische, funktionelle oder psychische Erkrankung auftritt, ist es wichtig, Tech-

Die Auriculomedizin in der Schmerztherapie

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niken anzuwenden, welche die Aktivität eines Punktes signalisieren. Der aktive und damit pathologische Punkt wird drucksensibel und verändert auch sein elektrisches und elektromagnetisches Verhalten. Die Drucksensibilität des Punktes wird mittels eines Drucktasters nachgewiesen. Der Drucktaster ist ein Gerät, welches eine auf einer Feder gelagerte Spitze besitzt, um einen konstanten Aufdruck von 130–150 Gramm zu gewährleisten. Das Verfahren mit dem Drucktaster ist an eine aktive Zusammenarbeit mit dem Patienten gebunden und ist großer Subjektivität unterworfen. Objektive Aussagen über die Aktivität des Ohrakupunkturpunktes erlaubt jedoch das Ausnutzen seiner veränderten elektrischen und elektromagnetischen Eigenschaften. Zur elektrischen Untersuchung kann man sich eines Punktsuchgerätes bedienen, das gewisse technische Voraussetzungen aufweisen sollte: Da das entscheidende Kriterium dabei der veränderte elektrische Hautwiderstand des Punktes gegenüber seiner umgebenden Haut ist, muss ein zuverlässiges Punktsuchgerät das Ausmaß der Potentialdifferenz messen können. Die Untersuchungsspitze muss folglich zwei Elektroden aufweisen; eine Rundelektrode zur Messung des Hautwiderstandes der umgebenden Haut und eine zentrale Stiftelektrode, um den Hautwiderstand des Punktes zu bestimmen (Bahr 1997). Je größer die mittels Potentiometer messbare Potentialdifferenz zwischen beiden, desto stärker ist die Pathologie des Punktes. Nogier entdeckte im Jahre 1968 einen speziellen Pulsreflex, den er in der Annahme, dass es sich um einen cardial ausgelösten Reflex handelt, als RAC bezeichnete. RAC steht für die Abkürzung Reflexe Auriculo-Cardiaque. Wir wissen heute, dass der RAC einen sympathischen, vegetativ gesteuerten Hautreflex darstellt. Nach seinem Entdecker wird er auch Nogier-Reflex genannt. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um eine durch einen Sympathikusreiz ausgelöste Pulswellenverschiebung, am besten tastbar an der Arteria radialis des Patienten. Mit Hilfe des RAC lassen sich die Reaktionen des Organismus auf feinste Reize hin austesten. Untersuchungen von Prof. Max Moser, Dr. Dorfer et al. haben inzwischen zweifelsfrei bewiesen, dass es sich beim RAC um ein sicher nachweisbares, physiologisches Substrat handelt. Um elektrische Veränderungen des Akupunkturpunktes mittels RAC nachweisen zu können, führte Bahr das Elektrohämmerchen (3-V-Hämmerchen) ein. Ein aktiver Punkt hat in seinem Zentrum entweder vermehrt negative Ladungen (Goldpunkt) oder positive (Silberpunkt). Durch Annäherung des Plus-Pols des 3-V-Hämmerchens werden bei einem Goldpunkt die wenigen im Zentrum des Punktes vorhandenen positiven Ladungen verdrängt (Influenz). Es wird zu diagnostischen Zwecken der bereits pathologische Punkt durch das Annähern des richtigen Pols des 3-V-Hämmerchens dieser in einen „superpathologischen“ Punkt übergeführt, was vom Organismus als Mikrostress erkannt und mit einer Sympathikusreaktion beantwortet wird. Die Folge ist ein Positivwerden des RAC. Bei Silberpunkten erfolgt Gleiches mit umgekehrten Vorzeichen (Bahr 1999). Jeder aktive Punkt hat auch ganz bestimmte elektromagnetische Eigenschaften, das heißt, es kommt zur Emission elektromagnetischer Wellen. Dieses Phänomen lässt sich mit Hilfe von frequenzmodulierten Lasergeräten und auch Filtern ausnutzen: Während die Wellenlänge der laseremitierten Strahlung für jedes Gerät eine fixe Größe darstellt, kann die Frequenz der Strah-

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lung variiert werden. Weist die laseremitierte Strahlung dieselbe Frequenz wie die punktemitierte auf, entsteht ein Resonanzphänomen, das wieder mit einer biologischen Reaktion, dem RAC beantwortet wird. Unter Ausnutzung des Resonanzphänomens genügen sehr kleine Energiemengen, um einen deutlichen RAC zu erhalten. Die frequentielle Information eines Punktes gibt über dessen Wesen natürlich wesentlich diffizilere Auskunft, als die rein elektrische. In der Praxis finden die Frequenzreihen von Nogier, Bahr und Reininger am häufigsten Verwendung (Bahr 2005; Reininger 2005).

Diagnostisch-therapeutisches Vorgehen Wie eingangs angedeutet, bedient sich die Auriculomedizin dreier Stützpfeiler: Der Symptomatik, der Energetik und der Störfelddiagnostik und -therapie. Die einfachste Form der symptomatischen Therapie ist das Locus dolendi Stechen. Die Reflexzonen von schmerzhaften Körperarealen am Ohr entsprechen Goldpunkten an der Ohrvorderseite. Sie werden mit ca. 0,4–0,8 mm im Durchmesser haltenden Goldnadeln gestochen. Vor allem bei orthopädischen Problemen empfiehlt sich dazu die „Zangentechnik“: Dabei wird nicht nur der sensible Schmerzpunkt an der Ohrvorderseite mit Gold, sondern auch der motorische Silberpunkt vis à vis an der Ohrrückseite gestochen. Ergänzt wird die symptomatische Behandlung durch die Verwendung übergeordneter Punkte, wie beispielsweise der Thalamuspunkt, der Voltaren vergleichbare Punkt oder andere entzündungshemmende und schmerzstillende Punkte. Die Medikamente vergleichbaren Namen leiten sich davon ab, weil diese Punkte auf das jeweilige Medikament im Falle ihrer Aktivität einen RAC auslösen. Auch psychische Punkte, wie z.B. der Antidepressionspunkt oder der psychosomatische Hauptpunkt können in das Schmerzgeschehen involviert sein. Einen wichtigen Stellenwert in der Physiologie der Schmerzentstehung nimmt die Störung der Lateralität, also der Händigkeit ein. Schulmedizinisch total außer Acht gelassen, können länger dauernde Schmerzzustände eine Störung im Zusammenspiel der beiden Hemisphären nach sich ziehen, welche wieder ihrerseits den Schmerz unterhalten können. Diesbezüglich kann auriculomedizinisch eine klare Aussage getroffen und entsprechende Therapieschritte gesetzt werden. Noch einmal betonen darf ich, dass nur aktive, also mit dem RAC nachweisbare Punkte gestochen werden. Die zweite Säule der Auriculomedizin ist das Störfeld. 1940 von Ferdinand Huneke an einer Patientin beobachtet, ist eine suffiziente Schmerztherapie an eine effiziente Beseitigung solcher gebunden. Huneke gelang erst durch Unterspritzen einer alten Osteomyelitisnarbe am rechten Unterschenkel einer Patientin, diese von ihren bisher therapieresistenten Schmerzen der linken Schulter zu befreien. Die bis dahin existierende Vorstellung eines Störfeldes, nämlich dahingehend, dass ein Störfeld durch bakterielle Streuung oder Toxinausschüttung definiert ist, ist als alleinige Fokusmöglichkeit unhaltbar geworden. Man versteht heute unter einem Störfeld eine Störungsstelle an einem beliebigen Ort des Körpers, die über unphysiologische Gewebsveränderungen und Fehlreaktionen das

Die Auriculomedizin in der Schmerztherapie

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komplexe Regelkreisgeschehen der Gesamtregulation durch Reizüberflutung überlastet und dadurch Reaktionsstarre und Therapieresistenz nach sich zieht. Das Störfeld stört nicht zufällig in eine x-beliebige Körperregion oder in ein Organ, sondern vorzugsweise in vorbelastete Strukturen (z.B. durch eine entsprechende Familienanamnese, traumatisch, sportliche Überanstrengung, Fehlernährung oder Ähnliches). Therapieresistenz gegenüber Regulationstherapien signalisiert also sehr häufig einen Störherd, d.h. die Symptome zum Beispiel einer Lumbalgie beruhen nicht primär auf Blockierung der Intervertebralgelenke, sondern diese sind wiederum nur die Folge einer anderweitigen Primärstörung, nämlich des Störfeldes. Störfelder werden vom Patienten zumeist subjektiv gar nicht wahrgenommen und sind häufig auch laborchemisch oder durch bildgebende Verfahren nicht nachweisbar. Mögliche Störfelder können Narben, chronisch entzündlich veränderte Organe oder auch toxische Belastungen sein. Besonders per secundam verheilte Narben, beherdete Zähne oder chronische Sinusitiden und Quecksilberbelastung ragen aus den gebotenen Möglichkeiten heraus. Gerade Quecksilber blockiert einen wichtigen „Schleim ausleitenden“ Akupunkturpunkt (Körperakupunkturpunkt KG 12, am Ohr Omega 1), wodurch oft massive Beeinträchtigungen der Mitte mit Schleim- und Tumorbildung daraus resultieren können. Durch die auriculomedizinische Störfelddiagnostik, entwickelt in erster Linie von Bahr (München), sind folgende Aussagen möglich: a) b) c) d)

Besteht ein Störfeld? Wenn ja, wie stark ist dieses? Auf welche Organ- oder Körperstruktur wirkt es vorzugsweise störend ein? Welches Vitamin und Spurenelement wird durch das Störfeld vermehrt verbraucht?

Gegenüber der Neuraltherapie sind somit probatorische Behandlungen von in Frage kommenden Störfeldern nicht von Nöten. Über entsprechende Reflexzonen am Ohr können diese unter gleichzeitiger Einnahme des jeweiligen Vitamins und Spurenelementes gezielt behandelt werden (Strittmatter 1998). Die dritte Säule wird durch energetische Behandlung des Patienten aufgebaut. Diese kann über das Stechen bestimmter Punkte (Kardinalpunkte, Hauptenergiepunkte, persönliche Meisterpunkte, Ursachenpunkte, Punkt der zirkulatorischen Enge etc.) (Reininger 2006), durch die Gabe von Substanzen (z.B. Blütenessenzen, homöopathische Mitteln, welche natürlich mittels RAC auriculomedizinisch ausgetestet werden können) (Bahr 2002), durch eine Therapie über die Chakren (Bahr 2006; Wesemann 2006) oder durch Sanierung des Terrains von statten gehen. Die Gesamtnadelanzahl pro Sitzung sollte maximal sechs Nadeln nicht überschreiten. Es gelangen vergoldete, versilberte oder Dauernadeln zur Anwendung. Erst unter Ausnutzung aller drei Säulen kann eine erfolgreiche und über einen langen Zeitraum anhaltende Linderung oder Beseitigung des Schmerzes erwartet werden. Voraussetzung dafür ist eine fundierte auriculomedizinische Ausbildung, welche in Österreich derzeit nur von der Österreichischen Gesellschaft für kontrollierte Akupunktur und TCM mit Sitz in Graz angeboten wird.

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Literatur Bahr FR (1997) Skriptum der Ohrakupunktur Stufe 1 Bahr FR (1999) Systematik und Praktikum der wissenschaftlichen Ohrakupunktur für mäßig Fortgeschrittene Bahr FR (2002) Tafel Homöopathie und Ohrakupunktur, Bachblüten und USA-Blütenessenzen Bahr FR (2005) Systematik und Praktikum der wissenschaftlichen Ohrakupunktur für Fortgeschrittene Bahr FR, Wesemann CT (2006) Chakren Linde N (1994) Ohrakupunktur. Leitfaden für Theorie und Praxis. Sonntag-Verlag, Stuttgart Reininger M (2006) Ergänzungsband zum Buch „Frequenzen, Punkte, Techniken“ Reininger M (2005) Frequenzen, Punkte, Techniken. am-Verlag, Graz Strittmatter B (1998) Das Störfeld in Diagnostik und Therapie. Hippokrates-Verlag, Stuttgart

Akupunktur in der zahnärztlichen Praxis C. K O B A U

Die Aufgabe dieses Artikels ist es, einen kurzen Einblick in die Therapiemöglichkeiten der zahnärztlichen Praxis, die mit Hilfe der Akupunktur bestehen, zu geben. Der erste Teil beschreibt in wenigen Worten die Wirkungsweise und Indikationsbreite der Akupunktur; im zweiten werden die für den Zahnarzt wichtigen Behandlungsmöglichkeiten erörtert und der dritte Bereich dokumentiert ausführlich die wichtigsten Meridiane mit den spezifischen Punkten und ihren Lokalisationen. Der Autor verwendet seit 13 Jahren Akupunktur in seiner zahnärztlichen Praxis. Zur Schmerzprävention wird die Akupunktur anstelle der Lokalanästhesie in ca. 75–80% aller Fälle verwendet (Primärpräparation von Karies, Inlays, Kronen – nicht zur Wurzelbehandlung). In 5 Fällen wurde die Akupunktur anstelle der Lokalanästhesie erfolgreich bei über 80-Jährigen zur Zahnextraktion verwendet, da diese entweder bekanntermaßen allergisch auf das Anästhetikum waren bzw. Herz-Kreislaufprobleme hatten. Im Vergleich Männer – Frauen bevorzugen 80% aller Frauen Akupunktur als Schmerzprophylaxe, hingegen nur 70% der Männer. Zum Verständnis der Wirkungsweise der Akupunktur sollte zu allererst ein Bezug zum Grundsystem nach Pischinger und dessen entscheidender Rolle bei allen Regulationstherapien gefunden werden (siehe Kapitel „Grundsystem“). Betrachten wir hierbei die einzelnen Akupunkturpunkte etwas differenzierter, können wir feststellen, dass diese als Schaltstellen des Organismus untereinander in Beziehung stehen und ein topographisches Muster integrierter Nervenbahnen zu tiefer gelegenen Strukturen von Organen (nach Bahr) darstellen. Nach dem Verständnis der modernen Physik besitzt das Bindegewebe (nach Athenstaedt) PIEZO-PYRO-Strukturen mit der Fähigkeit der Umschaltung von Energie in Materie, wobei eine Kumulation dieser Strukturen in Akupunkturpunkten auftritt. Zellen, die nicht mehr im Sinne der Homöostase funktionieren, verlieren durch Abstumpfung der Schwingungszustände den Anschluss an das Gesamt-

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informationssystem, wodurch sie vom lebensnotwendigen Informationsfluss abgeschnitten werden. Vor allem im interstitiellen Grundsystem wird sich eine Fehlfunktion der Zelle, durch falsche oder keine Information, auf regulative Vorgänge im gesamten Organismus auswirken. Dieses interstitielle Bindegewebe bildet eine Regulationsschicht, die über informativ-kybernetische Verbindungen zum Meridiansystem dessen Wichtigkeit in der Pathophysiologie erklären. Demnach könnte das Meridiansystem eine Art physikalisches Spitzen-Immunorgan sein. Die Akupunkturpunkte können, je nach Art der Stimulation, sowohl tonisierende als auch sedierende Wirkung durch neuro-muskulöse Reibung auf das autonome Nervensystem besitzen. Auf zentralem Wege werden Morphine erzeugt, wodurch eine differente Empfindung bei Schmerzen möglich wird. Es handelt sich hierbei um eine hochdifferenzierte Form der Reflextherapie. Die Wirkung der Akupunktur kommt aber nicht allein durch den Reiz an den nervalen Bahnen zustande, sondern wird auch auf humoralem Wege, somit über die Blutbahn, erklärt. Werden die Blutkreisläufe zweier Tiere, von denen nur eines akupunktiert wurde und dadurch nachweislich eine Schmerzverminderung erfuhr, verbunden, so tritt nach kurzer Zeit auch beim nicht akupunktierten Tier dieselbe positive Reaktion ein. Im Blut vermehrt vorkommendes Serotonin und andere Stoffe dürften für dieses Geschehen verantwortlich sein. Derzeit gelten folgende Wirkungen der Akupunktur als nachgewiesen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

SEDIERENDE Wirkung ANALGETISCHE Wirkung im Sinne einer Hypalgesie Allgemein regulierende Wirkung auf das autonome Nervensystem IMMUNMODULIERENDE Wirkung MOTORISCHE Wirkung VASOAKTIVE Wirkung PSYCHISCHE Wirkung HOMÖOSTASEfördernde Wirkung

Durch Aktivierung der Serotonin erzeugenden Neurone der Raphe-Kerne kann es zu einem sedierenden Effekt bezüglich der Akupunktur kommen. Die analgetische und sedierende Wirkung der Akupunktur verschwand bei der experimentellen Zerstörung der Raphe-Kerne. Diese Raphe-Kerne sind die Hauptproduzenten von Serotonin, welches also einen wichtigen Stellenwert in der schmerzhemmenden Wirkung der Akupunktur haben dürfte. Über den Nadelstichreiz im Akupunkturpunkt werden die aufsteigenden Neurone der Raphe-Kerne aktiviert und die raphe-spinale Bahn bewegt. Dadurch wird Serotonin zu den Neuronen der Substantia Gelatinosa Rolandi transportiert und die Schmerzübertragung gehemmt. Der analgetische Effekt verliert sich bei Durchtrennung des dorsolateralen Stranges. Serotonin ist im Zentralnervensystem (ZNS) wahrscheinlich der stärkste antalgische Neurotransmitter, während es außerhalb des ZNS Schmerzen verursacht. Serotonin wirkt auf den Hypothalamus ein, der zur Produktion von CRF (Corticotropin Releasing Factor) angeregt wird. Über die Beeinflussung der Hy-

Akupunktur in der zahnärztlichen Praxis

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pophyse wird ACTH (Adenocorticotropes Hormon) frei, welches die Bildung von POMC (Pro-Opio-Melano-Cortin) bewirkt. Die Aufspaltung von POMC lässt folgende Substanzen entstehen: Endorphine – ACTH – Melanozytostimulierende Hormone. Vor allem Endorphine und ACTH sind für eine Immunmodulation mitverantwortlich. Studien dokumentieren das Ansteigen des Interferonspiegels, vor allem durch Akupunktur der Punkte Di4 und MP4 – auch eine deutliche Zunahme der H-Antigene wurde festgestellt. Y. Omura berichtet von einer Zunahme des Serum Cortisol-Spiegels bis zu 220% zwischen 12 und 24 Stunden nach beidseitiger Akupunktur und ständiger 4-minütiger Stimulation der Punkte ZUSANLI (M36) (aus Acup.treatment and anaesthesia by Dr. Salim) Dr. Salim schreibt über eine Arbeit der Wissenschaftler Sabolovic und Michon, wonach verschiedene B- u. T-Lymphozytenwerte nur nach Akupunkturbehandlung alleine wieder zum Normwert gelangten, bei gleichzeitiger Verbesserung der klinischen Symptome. Gerade in der Zahnheilkunde, wo wir in zunehmendem Maß mit Patienten konfrontiert werden, die Unverträglichkeiten aufgrund von Abwehrschwächen und Verschlackungen durch Umweltbelastungen aufweisen, ist der immunmodulierende und -stimulierende Effekt der Akupunktur nicht zu unterschätzen. Indikationen der Akupunktur für den Zahnarzt 1. Unterstützung der Lokalanästhesie bzw. alleinige Anästhesie mit Akupunktur 2. Kiefergelenksbeschwerden 3. Lymphstauungen 4. Parodontopathien – Stoffwechselregulation 5. Nachbehandlung von Extraktionen 6. Muskelverspannungen 7. Amalgamausleitung 8. Neuralgien 9. Cervicalsyndrom – Migräne 10. Unterstützung notärztlicher Maßnahmen bei Kollaps und Asthma 11. Immunmodulation bei schlechter Abwehrlage 12. Sedierung Die bei den folgenden Indikationen angegebenen Punkte sind nicht alle zu stechen, sondern je nach Priorität und Notwendigkeit selektiert man die für den Patienten wichtigsten heraus. Lokalanästhesie Akupunktur: Di4 bds. auf Lu 10 M36 Di1

Grundsystem n. Pischinger Interstitielles Bindegewebe

Melanozytenstimulierende Hormone

informativ – kybernetische Verbindungen

Regulation im Sinne der HOMÖOSTASE

Rückenmark

Raphekerne

Förderung d. Photonenemission der Zellen (POPP)

Wirkungsmöglichkeiten der Akupunktur (n. Perciavalle u. Mastalier) modifiziert von Kobau

SHT-Serotonin

Vasoaktive intestinale Polypeptide

PERIPHERE VASODILATATION

IMMUNREAKTION

Nebennierenrinde

ACTH

POMC Pro-opio-melano-cortin

SHT-Serotonin Raphekerne

SEDATION Hirncortex

Förderung von granulären Lymphozyten „NK = Natural Killers“

Interferon Glykoproteine

Endorphine

PSYCHE

VEGETATIVUM – refelktorisches Organ

segmental reflektorische Zone muskuläre Entspannung

Rückenmark

ACTH (Adenocorticotropes Hormon)

Hypophyse

Corticotropin releasing factor

Hypothalamus

SHT-Serotonin

Raphekerne

Rückenmark

AKUPUNKTUR

Rückenmark

Schmerzleitung zum Gehirn

Raphekerne

SHT-Serotonin

Substantia Gelatinosa Rolandi

SCHMERZHEMMUNG

400 C . Ko ba u

Akupunktur in der zahnärztlichen Praxis

Oberkiefer: 3E20 G2 Unterkiefer: Di4 KG24 3E23

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M7 Dü18

M6, M4 Di20

Zusatzpunkte: Obere Inzisivi: Obere Canini: Obere Pramol.: Obere Mol.: Untere Inzisivi: Untere Canini: Untere Prämol.: Untere Mol.:

LG26 zu Di20 LG26 zu Di20, Dü18 Dü18 Dü18, M6 KG24 KG24 auf M5 KG24, M6 KG24, M6

Fernpunkte: G39 Lu5

Le3, Le2 KS3

Ohr: Shen Men OK/UK Zahnextraktionspunkt Organ nach Zahnzuordnung Tens Magnetfeld Arnica, Hypericum 3E23 Zur Vermeidung von allergischen Reaktionen des LA gibt man einige Tropfen oder Globuli des in der D12-D200 potenzierten LA vor der Injektion auf die Zunge. Rezept: Sdf. Tropfen (Globuli) Ubistesin D12 Staufen Pharma

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C . Ko ba u

Trigeminusneuralgie (TN) Primäre, echte oder idiopathische Trigeminusneuralgie Bestimmte Triggerpunkte im Bereich des Kiefer-Mund-Gebietes lösen die Anfälle aus, wobei der Patient jede Berührung und Bewegung vermeidet. Die Schmerzen sind meist blitzartig intermittierend in einem oder mehreren Ästen des Trigeminus. Zwischen den Attacken besteht oft Schmerzfreiheit. Neurologisch ist kaum etwas zu finden. In der Differentialdiagnose sind zahnärztlich zu untersuchende Beschwerden von Tumoren, Sinusitiden etc. abzuklären. Auch psychisch-emotional bedingte Belastungen spielen eine entscheidende Rolle.

Symptomatische Trigeminusneuralgie Im Gegensatz zur idiopathischen TN hat der Patient meist ständige Schmerzirritationen, deren Ursache im Nervenverlauf selbst bzw. zentral im Kerngebiet liegt. Ist keine Ursache im Zahn-, Mund-, Kiefer-, Nasennebenhöhlengebiet zu finden, so spricht dies für eine idiopathische TN. Die Untersuchung sollte folgende Gebiete einschließen: – Herd- und Störfeldsuche im Kopfbereich: beherdete, wurzelbehandelte Zähne, WSR, … – Okklusion – ev. Gelbschiene – Parafunktionen – HNO-Konsultation – Neurologische Konsultation – Orthopädische Konsultation – Röntgen: Schädel, HWS, BWS, LWS, Kiefergelenk – Augenärztliche Konsultation Die echte Trigeminusneuralgie ist kaum heilbar. Das Ziel der Therapie ist es, die Schmerzen zu lindern und eine Reduktion der chemischen Medikamentengaben zu erreichen. Die biologische Therapie sollte eine Kombination von Akupunktur, Neuraltherapie, Homöopathie, Phytotherapie, Laser, TENS, Chirotherapie bzw. anderen Naturheilverfahren inkludieren.

Akupunktur der Trigeminusneuralgie Die TN (König, Wancura) wird wegen ihrer attackenartigen Anfälle traditionell als „Erkrankung durch aufsteigendes Leberfeuer“ bezeichnet. Aufgrund des Schmerzverlaufes entlang des Magen- und Dickdarmmeridians handelt es sich dabei um eine YANG-MING-Störung. Die Behandlung wird mit Nah- und Fernpunkten durchgeführt.

Akupunktur in der zahnärztlichen Praxis

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1. Ast – Ophthalmicus: B1, B2, YINTRANG, TAIYANG, G14, B12, LG20 Fernpunkte: Di4, M44, 3E5 2. Ast – Maxillaris: M2, M3, Di19, Di20, Dü18, LG20, LG26 Fernpunkte: Di4, M44 oder M38, M36 3. Ast – Mandibularis: M2, M3, M8, G20, KG24, G2, LG20, M4 Fernpunkte: Di4, 3E5, M44 Bei Vorliegen von „Leberfeuer“: Le3, M44, G34 Bei Windsymptomatik: G20, Di4 LG16 Während einer Schmerzattacke werden primär die Ohrpunkte und Fernpunkte stimuliert, sowie die dem Schmerzareal gegenüberliegende Seite behandelt. Die Behandlung sollte täglich für 20 bis 30 Minuten erfolgen. Bei starken Schmerzen ist Di4 intensiver zu manipulieren, aber auch die Punkte am Kopf sind für 5–10 Minuten leicht zu stimulieren.

Homöopathische Behandlung der Trigeminusneuralgie Aconit comp. Amp (WALA) 1-mal wöchentlich Injektion Aconit comp. Glob (WALA) stündlich 5 Glob. unter der Zunge zergehen lassen Aconit comp. Oleum (WALA) Einreibung Hypericum ex herba D6-Glob. (WALA) Nervus trig. D30 Amp. (WALA) 1-mal wöchentlich Spigelon (Heel) Gelsemium Homaccord Mercurius – praecipitatus ruber Injeel forte Aconit Spl (Pascoe) Als Einzelmittel (Collin; Coulter) können je nach Arzneimittelbild noch eingesetzt werden: Nux vomica D6-D12 Belladonna D6-D12 Mezereum D6-D12 Gelsemium D6-D12 Aconit D6-D12 Hypericum D6-D12 Magn. phosp. D6-D12 Bei akuten Fällen: rechtsseitig: Sanguinaria C200, halbstündlich linksseitig: Spigelia C200, halbstündlich lokal: Plantago † auf Haut auftragen.

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Akupunktur zur Unterstützung der Amalgamausleitung Le13: Stoffwechselpunkt – ACTH-Punkt, Meisterpunkt der YIN-Organe KG12: Meisterpunkt der YANG-Organe (Amalgam schwächt die Mitte ž Alarmpunkt des Magens) B20: Zustimmungspunkt der Milz B21: Zustimmungspunkt des Magens 3E5: Kardinalpunkt für das Haltegefäß des YANG MP4: Kardinalpunkt für das Gefäß der breiten Bahn KS6: Kardinalpunkt für das Haltegefäß des YIN M36 Stoffwechselprodukte B54 Di4 N6 Ohr: Le M/MP B/Ni

Kollaps Neben den üblichen notärztlichen Maßnahmen können bei Kollaps noch folgende Therapien unterstützend eingesetzt werden: KG24 LG26 KS6 PdM

N3 M36 H7 H9

Ohr: Herz Nebenniere

Graue Substanz Niere

Di4 LG20 B15 KS9

Bachblüten: Rescue Remedyc (Krämer) Homöopathie: Veratrum album C30 Fa. WELEDA: Solutio Myrrhye (riechen) Cardiodoron Tropfen (10gtt) Camphora D3 Dil bei Hypotonikern

Carbo vegetabilis C30

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Fa. Heel: Circulo Injeel Cralonin

Niederer Blutdruck KG6 M36 sowie die Kollapspunkte MP6 Ohr: Niere Herz Graue Substanz Nebenniere

Hoher Blutdruck LG20 M36 B18,23 Le3,2

Di11 MP6 N3 (Bei sehr hohem Blutdruck sollen dieLeberpunkte nicht gestochen werden, da es zu einem abrupten Blutdruckabfall kommen kann!)

Ohr: Nebenniere Herz Shen Men

Sonne Leber Endokrinium

Bradykardie H7 Lu11

H9

Psychisch bedingte Instabilität mit Herzbeschwerden H3 B15 H5 B14 H7 KS6 H9 M36 Bachblüten Ohr: Herz Shen Men Graue Substanz

Vegetativum Dünndarm

Asthmaähnlicher Anfall (Macioca) KG17 KG6 Di4 KG22 (Vorsicht beim Stechen!)

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Lu7 Lu6 Dü6 N7

M36 KS6 B12 B13

Ohr: Lunge Shen Men Asthma

Trachea Nebenniere

Würgereiz (hysterisch) KG12 Temporal Flap Dantienatmung

M36 Rescue Remedy

Homöopathie: Ipecacuanha C200 Coccus cacti C30 Ohr: Würgereflexpunkt Rachen Mund Larynx-Pharynx Vegetativum

Parodontose Di4 M6 M44 Ohr: Magen Darm Endokrinium B11: MP4: Di4 u. Di11: MP5: B20: B18: Dü3: Ni3: B62:

KS6 LG16

wirkt überregional auf alle Knochenerkrankungen Stoffwechsel Ausscheidung Bindegewebe Zustimmungspunkt MP Zustimmungspunkt Le allg. Schleimhautpunkt Quellpunkt – Knochen Kardinalpunkt für aufsteigendes YANG – Toxinausscheidung

Stoffwechsel: B54, B58, Di4, N6, Le3

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Akupunktur in der zahnärztlichen Praxis

Hormonell: M36, B31, LG4, KG3, KG4, KG6, G3 Ohr: Leber, Galle, Magen, Pankreas, Darm

Pharyngitis – Laryngitis – Heiserkeit Di4 B15 Lu7

B54 Lu9

Ohr: Hals Nebenniere Herz

Lunge Niere Trachea

Angst H3 KS6 M36

LG20 KG15 Lu7

Bachblüten Qigongatmung – Dantien HYPNOSE NLP

Psychisch Regulierend bei Nervosität und innerer Unruhe KG15 LG20 KG6 H3 LG15 Bachblüten QIGONG Ohr: Shen Men Herz Endokrinium

KS6 MP6 H7 M36 B17

B20 Le3 MP4 B62 Dü3

Graue Substanz Niere

Sinusitis Di4 Di19 Di20 YINTANG LG20

3E17 B1 B2 B10

Darmsanierung Störfeldsuche

G20 B10 Lu7

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Ohr: Lunge Leber

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Shen Men

Mundakupunktur nach Gleditsch Die Mundakupunktur n. Gleditsch nutzt das Mikrosystem der Mundschleimhaut, welches u.a. eine besondere Lymphwirksamkeit zeigt. Die Innervation der Mundhöhle durch Fasern des N. trigeminus und die daraus folgende spontane Drucksensibilität erlauben es, spezifische drucksensible Reflex-Areale für diagnostische und therapeutische Zwecke einzusetzen. Es besteht eine enge Beziehung zur Elektroakupunktur nach Voll und Kramer: Die Mundakupunktur basiert auf einem Mikrosystem, welches dieselben Wechselwirkungen in die Schleimhaut projiziert wie auch die angrenzenden Zähne, sozusagen eine Erweiterung des Odontons. Das bedeutet, dass von der Mundschleimhaut aus gezielte Fernwirkungen auf bestimmte Organe i.S. der Funktionskreissystematik gesetzt werden können. Die oralen Punkte sind gesetzmäßig und reproduzierbar, wodurch die Voraussetzungen für ein Reflexzonensystem gegeben sind. Gleditsch unterscheidet dabei zwischen Vestibulumpunkten, die auf der labialen oder bukkalen Wangenschleimhaut den Zahnkronen gegenüberliegen, und den Retromolarpunkten in dem Gebiet, welches sich von den Weisheitszähnen bis über die Endwülste der Alveolarfortsätze erstreckt. Vor allem die Retromolarpunkte haben eine große therapeutische Effizienz bei Cephalgien verschiedener Art, sowie beim Schulter-Arm-Syndrom. Bei Rhinitis allergica und Sinusitis ist eine palpatorisch diagnostizierbare Drucksensibilität der Oberkiefer-Retromolarpunkte pathognomonisch. Gleditsch stellte fest, dass diese Empfindlichkeit der Punkte auch bei einer mit Antibiotika symptomfrei gemachten Sinusitis vorhanden bleibt, so dass Rezidive zu erwarten sind: Erst wenn die spezifischen drucksensiblen Retromolarpunkte durch Mundakupunktur „ausgelöscht“ sind, kann die Sinusitis dauerhaft ausheilen. Weiters können Lumbalgien und Ischialgien vom Unterkiefer-Retromolargebiet – bukkaler Bereich – aus gut beeinflusst werden, während HWS-Syndrome vom lingualen Areal gute therapeutische Resonanz finden. Die Detektion sollte zunächst palpativ und anschließend mit der Injektionsnadel selbst („Very-Point“-Technik nach Gleditsch) erfolgen. Der spezifische Punkt kann dann mit 0,2 ml Xylocain bzw. 0,5%igem Procain (ohne Vasokonstrikor) oder physiologischer Kochsalzlösung unterspritzt werden. Chronische Störfelder im Kopfbereich führen oft zur Einschränkung der Mobilität in der Halswirbelsäule (HWS). Diese Belastungen sind nicht nur Ausdruck lymphatischer Stauungen, sondern auch der toxischen Belastung des Grundsystems. Durch Überladung des Grundsystems kann es zur Abwehrschwäche und fallweiser Minderdurchblutung kommen. Lymphaktive Punkte der Mundschleimhaut, sowie spezifische Punkte im Hals- und Thoraxbereich („Lymph-Belt“ n.

Akupunktur in der zahnärztlichen Praxis

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Gleditsch), können lymph- und immunaktivierend wirken und so einen positiven Einfluss auf die Beweglichkeit der HWS ausüben.

Literatur Coulter CR. Portraits of homeopathic medicine. New World Press Collin. Homöopathie in der Zahnheilkunde. Haug, Stuttgart Gleditsch J. Reflexzonen und Somatotopien. WBV, Schorndorf Gleditsch J. Reflexzonen. WBV, Schorndorf Gleditsch J. Mundakupunktur. WBV, Schorndorf König,Wancura. Neue chin. Akupunktur 1 u. 2. Maudrich, Wien König,Wancura. Ohrakupunktur. Maudrich, Wien Krämer D. Bachblüten 1–3. Ansata, München Macioca. Foundations of Chinese medicine 1–3. Churchill Livingstone Salim. Acupuncture treatment. Army Press

Sonderdruck aus Nichtmedikamentöse Schmerztherapie Herausgegeben von G. Bernatzky et al. © Springer-Verlag/Wien 2007 · Printed in Austria – Nicht im Handel

Ayurveda in der Schmerztherapie W. S CHA CHI NG E R

Ursprung, Geschichte und Entwicklung Geschichte Die traditionellen Vaidyas (Ayurvedaärzte) Indiens sehen Ayurveda als Urmutter der Medizin und nicht wie viele Menschen in unseren Breitegraden als sanften Wellness-Trend mit besonders intensiven Ölanwendungen. Die wichtigsten klassischen Texte, Charaka Samhita und Sushruta Samhita, berichten, dass sie nicht menschlichen Ursprungs seien, sondern ein Offenbarungswissen aus der Vedischen Tradition und Kultur Indiens, deren Ursprung jenseits unseres historischen Denkens sei [1]. Die schriftliche Aufzeichnung dieser ursprünglich mündlich transferierten Werke von jeweils ca. 10000 Versen und Prosateilen dürfte vor 2500 Jahren stattgefunden haben. Zu dieser Zeit dürfte auch ein intensiver Austausch mit chinesischen und griechischen Ärzten stattgefunden haben [3]. Alle klassischen Texte sind im Vedischen Sanskrit, der Fachsprache der geistigen Elite der damaligen Zeit, verfasst. Aus dieser Sprache, die in idealer Weise Klang und Bedeutung miteinander verbindet, stammen auch alle heute unverändert verwendeten Fachausdrücke, die derart geladen sind mit Bedeutung, dass sie nicht adäquat übersetzt werden können. Ayurveda war in der Welt des alten Orients weit verbreitet, seine Erkenntnisse von Naturgesetzmäßigkeiten wurden in verschiedenen Kulturen aufgenommen und adaptiert. Die Traditionelle Tibetische Medizin und die Unani Medizin (traditionelle arabische Medizin) zeigen noch eine sehr große Ähnlichkeit, die Griechische und Tradionelle Chinesische Medizin (TCM) haben sich etwas deutlicher differenziert [3].

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W. Sc h a c h i n g e r

Entwicklung Am Indischen Subkontinent gab es in dieser langen Zeit divergente Interpretationen und Anwendungen aus den originalgetreu überlieferten klassischen Texten. Deswegen liegt der Schwerpunkt heute in verschiedenen Regionen Indiens in verschiedenen therapeutischen und diagnostischen Methoden. Überall in Indien werden zwar noch immer die Originaltexte zum Studium verwendet, dennoch zeigt sich, dass vor allem die ursprüngliche spirituelle Tiefe (im Sinn von Lebensweisheit, Anbindung an den Ursprung) deutlich abgeflacht oder abhanden gekommen ist.

Ayurveda heute Die rasche Verbreitung der Ayurveda-Medizin außerhalb Indiens wurde ausgelöst durch die Initiative des Vedischen Gelehrten Maharishi Mahesh Yogi, der zu Beginn der 80iger Jahre die ersten Symposien und Seminare organisierte, die schulmedizinisch gebildeten Ärzten die Möglichkeit gaben, von den führenden Ayurvedaärzten Indiens in dieses durch sprachliche und kulturelle Barrieren geschützte Heilwissen eingeführt zu werden. Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff Maharishi Ayurveda. Der Markenname Maharishi Ayurveda stellt sicher, dass der Ayurveda in vollem Einklang mit dem Wertesystem der Entstehungszeit praktiziert wird, dass die Anwendungen ganzheitlich, Kultur unabhängig und systematisch sind, dass sie nach den Standards unserer Naturwissenschaft untersucht werden und dass er mit der modernen Medizin, soweit sie ohne Nebenwirkungen praktiziert werden kann, voll kompatibel ist. Ein besonders interessantes Ergebnis dieser wissenschaftlichen Forschung sind die Arbeiten von Prof. Nader Raam zum Thema „Veda und menschlicher Körper“ [4]. Nader Raam und sein Team gingen von der überlieferten Annahme aus, dass der eigentliche Veda nicht in Büchern steht, sondern die funktionierende Intelligenz des Körpers selbst ist. Die Wirkung und Funktion der meisten Vedischen Texte liegt nicht in deren Bedeutung, sondern in ihrer klanglichen Struktur. Nader Raam und sein Team konnten zeigen, dass sich Aufbau und Struktur der 40 Zweige der Vedischen Literatur eins zu eins in Aufbau und Struktur der menschlichen Physiologie spiegeln. Als Folgerung wird u.A. postuliert, dass der Mensch „kosmischer Natur“ ist und dass Vedische Klänge zur Unterstützung der Reparatur gestörter Strukturen oder Funktionen der menschlichen Physiologie eingesetzt werden sollten.

Ziele und theoretische Grundlagen Um die therapeutischen Techniken der Ayurvedamedizin zu verstehen, ist ein kurzer Einblick in die theoretischen Grundlagen notwendig.

Ayurveda in der Schmerztherapie

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Definition von Gesundheit Die Sushruta Samhita [2] definiert Gesundheit wie folgt: „samaDOSHA samAGNIshca, samaDHATU MALAkryah: PRASANNA-atmendryamanah: SVASTHYAbhidiyate“. Gesundheit (SVASTHYA) besteht aus: ausgewogenen DOSHA (Bioregulatoren des Lebens), ausgewogenem AGNI (Regelprinzip der Transformation), ausgewogenen, gleichmäßig ernährten DHATU (Bioregulatoren der Körpergewebe) und ausgewogenen MALA (Bioregulatoren der Ausscheidung); weiters aus vollkommenem Glück (PRASANNA) von Seele, Geist und Sinnen. In dieser Definition sind alle in den klassischen Texten beschriebenen psychophysiologischen Bioregulatoren und die Rolle des ausgewogenen, ruhigen und glücklichen Geist-Seelenzustands enthalten. Jede Störung dieses äußerst sensiblen und labilen Gleichgewichts führt zu Unausgewogenheit von Geist und Körper, die nicht als getrennt, sondern als miteinander verbunden gesehen werden. Die Erhaltung, Verbesserung oder Wiedererlangung dieser Balance ist eine Verpflichtung für das Leben, die der Patient unter fachlicher Beratung des Arztes (vaidya – der Wissende) zu seinem eigenen Wohlergehen auf sich nimmt. Versprechen doch die klassischen Texte, dass die Gesundheitspflege bzw. Therapie mit ayurvedischen Methoden dazu führt, dass ein Leben in Einklang mit den angelegten Fähigkeiten (dharma), in Wohlstand (artha), mit erfülltem Liebesund Familienleben (kama), mit dem Endziel Befreiung und Erleuchtung (moksha) und in Freiheit von Schmerz, Leid und Krankheit (arogya) zu erwarten ist.

Die drei DOSHAs (VATA, PITTA, KAPHA) Das System der drei Doshas Vata, Pitta und Kapha steuert alle psycho-physiologischen Vorgänge. Dabei ist VATA für Bewegung, Transport und Kommunikation, PITTA für Verdauung und Wärmehaushalt, KAPHA für Stabilität, Struktur und Wasserhaushalt (Lubrikation) in Geist und Körper zuständig. Vata bewegt also z.B. Gedanken, Muskeln oder Nährstoffe im System, Pitta verarbeitet Nahrung ebenso wie Emotionen, und Kapha strukturiert unser Gedächtnis so effizient wie den Aufbau unserer Körpergewebe. Jeder Mensch hat eine (genetisch festgelegte) individuelle Zusammensetzung dieser drei Regulatoren, die seine Konstitution (PRAKRITI) und damit seine Fähigkeiten und Grenzen im Leben festlegen. Abweichungen von dieser Grundkonstitution, die durch innere und äußere Einflüsse entstehen, werden als VIKRITI bezeichnet und sind Schrittmacher für Krankheit und Leid. Dabei ist oft SCHMERZ das erste Symptom, das als Alarmzeichen des Systems auftritt und zumindest initial den Sinn hat, den Menschen als Warnsignal auf ein Abweichen von seiner inneren Natur aufmerksam zu machen. Dieses Signal soll ihn dazu bewegen, sein Leben wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Medizinisch gesehen führt ein Abweichen zur Anhäufung eines oder mehrerer der drei Dosha, deren Qualitäten sich vermehren. So führt ein Anhäufen von Vata z.B. zu Kälte, Steifigkeit und/oder Unruhe, ein zu viel an Pitta zu Hitze,

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Säure und/oder Reizbarkeit, ein vermehrtes Kapha u.A. zu Dumpfheit, Schwellung und/oder Müdigkeit. Der SCHMERZCHARAKTER von gestörtem Vata ist wandernd, wechselhaft, ziehend und verschlimmert sich durch trockene Kälte und nachts zwischen 2.00 und 4.00 h. Typischer Pitta-Schmerz ist brennend, heftig und tobend, verschlimmert sich um Mitternacht und bei Wärmereizen. Kapha-Schmerzen sind dumpf, lang anhaltend und konstant, oft mit Schwellungen oder Ödemen verbunden und verschlimmern sich durch feuchte Kälte und sind oft morgens und in der Zeit von 20.00 bis 22.00 am schlimmsten.

AGNI, das Regelprinzip der Transformation Für das Verständnis der ayurvedischen Schmerztherapie erscheint mir dieses Regulationsprinzip am wichtigsten. AGNI regelt die Verarbeitung aller Sinnesund Informations-inputs (einschließlich Ernährung, Medikamente etc.) und bewirkt, dass geist/körperfremde Stoffe oder Informationen in geist/körpereigene Stoffe oder Informationen transformiert werden. Zwei Beispiele: ein Mensch trinkt Milch: das körperfremde Protein wird durch den AGNI im Verdauungssystem zu Aminosäuren zerlegt und dann zu körpereigenem Protein synthetisiert; oder ein Mensch liest ein Buch: die visuellen Inputs der geschriebenen Wörter werden durch AGNI in Auge und Hirnstamm zu elektrischen Impulsen zerlegt und ergeben im Großhirn einen sinnvollen Zusammenhang. Die klassischen ayurvedischen Texte stellen folgende bedeutsame Theorie auf: kann der AGNI den psychophysiologischen Input (Nahrung, Sinneswahrnehmung, Aktivität) restlos verarbeiten, dann entsteht OJAS. OJAS wird beschrieben als die Essenz des Lebens, die subtilste Substanz, die Geist und Körper miteinander verbindet und das Leben aufrecht erhält. OJAS bewirkt Vitalität, Immunität, Glück und ist in der Lage, jeden Schmerz zu neutralisieren. Kann AGNI irgendeinen Input nicht zur Gänze verdauen und verarbeiten, dann entsteht AMA, wörtlich „das Ungekochte“, also „Komplexe“ geistiger oder körperlicher Natur, die wie Fremdkörper das System stören und sich sehr oft durch SCHMERZ äußern. Die erste Frage, die man sich als Mediziner stellt, ist natürlich, ob es messbare Äquivalente von OJAS oder AMA gibt. Hier gibt es noch viel zu erforschen, aber soviel ist sicher, dass weder OJAS noch AMA eine einheitliche Substanz ist. OJAS ist ein energetisches Prinzip und dürfte sich am ehesten in Form von Serotonin, Endorphinen und allen anderen Hormonen und Transmittersubstanzen ausdrücken, die mit Wachheit, Klarheit, Glücksgefühl und Schmerzfreiheit assoziiert werden. AMA entspricht dem in der europäischen Naturheilkunde oft gebrauchten Begriff „Schlackenstoffe“, der ebenso wenig wie Ojas eine einheitliche Substanz ist. Darin enthalten sind Stoffe wie Harnsäure, Cholesterin, Gärungs- und Fäulnisstoffe des Verdauungssystems (Cadaverin, Putriscin), aber auch nicht neutralisierte Umwelttoxine wie Schwermetalle, Herbizide und Pestizide oder elektromagnetische Einflüsse. Nicht verarbeitetes AMA führt zu Blockaden der Bio-

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regulation an den individuellen, oft konstitutionell vorgegebenen oder durch Verletzungen entstandenen Schwachstellen der Psychophysiologie und äußert sich häufig als Schmerz. Nach dieser Theorie gibt es KEINEN SCHMERZ, der nicht mit AMA in Verbindung steht. Die fachgerechte Beseitigung von AMA am Entstehungsort der Krankheit (der nicht unbedingt mit dem Schmerzort identisch sein muss) ist der Schlüssel zur ayurvedischen Schmerztherapie.

Die sieben Körpergewebe (DHATU) Hier sei nur erwähnt, dass die ausgewogene Versorgung unserer Körpergewebe mit Vitalstoffen Grundlage ihrer Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheit und Schmerz ist. Nur ein gut funktionierender AGNI in Verbund mit einfacher, vitalstoffreicher Ernährung und den traditionellen ayurvedischen Nahrungsergänzungen stellt diese Versorgung sicher.

Die Ausscheidungen (MALA) Eine wichtige Säule der ayurvedischen Schmerztherapie ist die Ordnung der Ausscheidungen. Hier ist bei Anamnese und Diagnose besonders auf die Regelmäßigkeit von Stuhlgang, aber auch Menstruation und Harn zu achten. Wie viele Kopfschmerzpatienten wären geheilt, wenn Ärzte nur die Regelmäßigkeit des Stuhlgangs beachten würden!

Die Kraft des inneren Glücks (PRASANNA) Schmerzerfahrung ist subjektiv. Ein objektiv gleicher Schmerzreiz kann von einer Testperson als gering, von einer anderen als intensiv eingestuft werden. Noch sind nicht alle Zusammenhänge zwischen Schmerzerfahrung und Psyche erforscht. Dennoch kann als gesichert angenommen werden, dass ein glücklicher, ausgewogener Geist ein sicherer Schutz gegen Schmerzerfahrung ist. Auch hier sind die bekannten Endohormone und Botenstoffe wie Endorphine, Neuropeptide, Serotonin etc. der physiologische Ausdruck der mentalen Glückserfahrung. In vielen vedischen Texten, auch im ayurvedischen Klassiker Caraka Samhita, wird darauf hingewiesen, dass dieser Geisteszustand durch die Erfahrung von Yoga (Stille) erreicht wird. Der klassische Text über Stille, Patanjalis YOGA SUTRA [5], behauptet sogar, dass jede Erfahrung außer der Stilleerfahrung (SAMADHI) mehr oder weniger schmerz- und leidvoll ist. Muss man also als Yogi der Welt ade sagen, um dem Schmerz zu entgehen? Forschungen über Transzendentale Meditation, einer von Maharishi Mahesh Yogi begründeten einfachen, wissenschaftlich sehr gut untersuchten und vor allem absolut alltagstauglichen Methode zur Stilleerfahrung, zeigen, dass es die Möglichkeit gibt, mit 2x täglich

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15–20 Minuten Meditation auch in unserer gewohnten Umgebung die gewünschten Effekte auf Schmerzempfindsamkeit zu erzielen. Bei einer Anwendungsbeobachtung gaben viele Probanden an, dass chronische Kopf- [7] oder Rückenschmerzen [8] oft schon nach wenigen Tagen des Übens verschwanden. Die positiven Auswirkungen der Transzendentalen Meditation auf Gesundheit und andere Lebensbereiche sind durch umfangreiche Forschung in mehr als 600 Studien, durchgeführt in mehr als 250 verschiedenen Forschungsinstituten und veröffentlicht in führenden wissenschaftlichen Journalen, bestätigt [10]. Eine neue klinische Studie der University of California/Irvine zeigt, dass bei Personen, die Transzendentale Meditation üben, die Schmerzreaktion im Gehirn um 40–50% abfällt [15].

Ursache und Entstehung von Krankheit (Schmerz) PRAGYA APARADHA – der verhängnisvolle Denkfehler Warum werden wir krank und erleiden Schmerzen, wenn unser Körper dem perfekten kosmischen Bauplan entspricht? Es ist unser freier Wille, der uns gestattet, auch gegen die Gesetze des Lebens zu verstoßen und dafür eben Lernimpulse in Form von Unwohlbefinden zu erhalten. Nach Anschauung der klassischen Texte (Caraka, Sushruta) geschieht dies streng nach dem Gesetz von Aktio und Reaktio (=KARMA). Die Tendenz, im Materiellen verhaftet zu sein und immer wieder die gleichen Fehler im Leben zu machen, wird von den Klassikern als „PRAGYA APARADHA“, Fehler des Denkens, bezeichnet und als Hauptursache für Krankheit, Schmerz und Leid angesehen. Wir tun uns oft schwer, diese Erklärung zu akzeptieren, weil der zeitlich-räumliche Zusammenhang zwischen Ursache (Fehlverhalten) und Wirkung (Schmerz) oft völlig verloren gegangen ist. Aus dieser Sichtweise MUSS eine ursächliche Schmerztherapie auch mit einer Verhaltensänderung einher gehen. Höchste Sensibilität von Arzt und Patient sind hier gefordert [6].

Die Stufen der Krankheitsentstehung Klarerweise führt meist nicht das erste Fehlverhalten, der erste Verstoß gegen Naturgesetzmäßigkeiten zu einer Krankheit. Die Caraka Samhita beschreibt 6 Stadien der Krankheitsentstehung, wobei einer physischen Krankheitsmanifestation immer energetische Veränderungen vorausgehen.

6 Stadien der Pathogenese Samcaya Prakopa Prasara

Anhäufung Verschlimmerung Dissemination

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Sthana samshraya Vyakti Bheda

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Lokalisation Manifestation Komplikation, Chronifizierung

Beispiel: Durch wiederholtes kaltes Essen sammelt sich Vata im Darm an (Samcaya), kaltes Wetter und kalte Füße führen zu Verschlimmerung (Prakopa) von Vata im Abdomen, lange körperliche Anstrengung führt zu Dissemination (Prasara) von Vata in die Lumbalregion und die Hüftgelenke und wird dort als leichter Schmerz oder Steifigkeit wahrgenommen. Weitere körperliche Belastung oder andere Vata-Reize führen zur endgültigen Lokalisation (Sthana samshraya) von Vata in den Hüftgelenken und in der Folge zu akuten Hüftschmerzen (Vyakti). Halten die Vata-Reize (Kälte, Anstrengung, falsches Essen etc.) an, kommt es zu einer Coxarthrose (Bheda) mit irreversiblen Schäden. Mit den diagnostischen Methoden der modernen Medizin können erst die Stadien 5–6 diagnostiziert und behandelt werden. Sensible Patienten, die schon in früheren Stadien wegen ihrer Beschwerden den Arzt aufsuchen, werden oft belächelt und ohne Befund und Therapie entlassen. Hier kann der ayurvedisch weitergebildete Mediziner in Diagnose und Therapie wesentlich früher ansetzen.

Diagnose- und Therapieverfahren Meine erste Erfahrung mit Ayurveda war im Jahr 1981 eine Pulsdiagnose bei Dr. B. D. Triguna, der damals Präsident des All India Ayurveda Congress (entspricht in etwa unserer Ärztekammer) war und intensiv mit Maharishi Mahesh Yogi und anderen berühmten Vaidyas an der Formulierung des Maharishi Ayurveda arbeitete. Dr. Triguna schien nach ein paar Sekunden Pulsfühlen alles über mich zu wissen. Einige Jahre später konnte ich selbst in ersten Seminaren erlernen, wie einfach und logisch es ist, die wichtigsten Parameter der psychophysiologischen Regulation (DOSHAs etc.) – oft zum Erstaunen des Patienten – am Puls abzulesen und auf Grund dieser Diagnose eine ayurvedische Therapie aufzubauen. PULSDIAGNOSE ist der Kern der traditionellen ayurvedischen Diagnostik und ist neben der nachträglich erfassten Anamnese und der körperlichen Untersuchung das wesentliche Entscheidungskriterium für die Wahl der richtigen Therapie. Es gilt herauszufinden, wo der Ursprung der Störung ist, wo sie sich manifestiert, welche DOSHA, DHATU und MALA beteiligt sind und wie die Funktion von AGNI beschaffen ist.

Die drei Therapiestrategien Alle Therapieverfahren des Maharishi Ayurveda wirken regulativ und unterstützen eine Entwicklung in Richtung Gleichgewicht der Regulationskräfte und Glück des Geistes. Dabei zeigt sich, dass es eine Hierarchie der Wirksamkeit verschiedener Therapien gibt. Je subtiler eine Methode ist, desto größer die Langzeitwirkung.

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Therapiemethoden -

Phytotherapie Marma-Therapie Urklang-Therapie Musiktherapie Aroma-Therapie Color-Therapie Pancha-Karma Ernährung, Verhalten, Lebensführung Meditation Heilmassagen, lokale Anwendungen, Externa Edelsteintherapie Yoga, Atemtherapie (Pranayama) und Mudras

Grundsätzlich kann eine Therapie in eine der drei folgenden Richtungen gehen: a. SHAMANA – beruhigende Therapie: wird eingesetzt als Akutmaßnahme zur Linderung von Beschwerden b. SHODHANA – ausleitende Therapie: beseitigt bei chronischen Beschwerden (Schmerzen) die Wurzel der Krankheit durch Elimination des krank machenden AMA am Ursprungsort der Krankheit. c. RASAYANA – erhaltende Therapie: meist im Anschluss an eine Ausleitungstherapie, um den Therapieeffekt zu halten oder auszubauen; besteht aus Verhaltens- und Ernährungstherapie.

SHAMANA Therapie: die Kraft der Heilpflanzen, Klänge und sensiblen Punkte (Marma) In der Charaka Samhita wird den 5 Sinnen (Hören, Tasten, Sehen, Schmecken und Riechen) nicht nur bei der Entstehung von Krankheiten, sondern auch bei der Therapie eine wichtige Rolle zugeschrieben. Durch übermäßigen, fehlenden oder falschen Gebrauch der Sinne nimmt unser System die Fehlinformationen auf, die den Geist irre leiten und auch zum Fehler des Denkens (PRAGYA APARADHA) als tiefste Ursache von Krankheit führen. Also ist es nur nahe liegend, Informationsaufnahme über die 5 Sinne zur Korrektur des Systems zu nutzen. Die Information, die zum „Fehler“ im System geführt hat, soll durch Information, die den Fehler löscht und die ursprüngliche, geordnete Natur des Geist-Körpersystems wiederherstellt, ersetzt werden.

Beispiele für Therapie über die 5 Sinne Hören: Klangtherapie, Meditation Tasten: Massage, Heilreize über Vitalpunkte (Marma) Sehen: Farbtherapie

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Schmecken: Ernähung, Heilpflanzen, Gewürze Riechen: Aromatherapie Für die Schmerztherapie sind dabei die Anwendung von Heilpflanzen, Klängen und lokale Therapien am Schmerzort besonders bedeutsam.

Heilpflanzen Heilpflanzen werden in der Ayurvedamedizin fast ausschließlich als Komplexmittel eingesetzt. Wird nur eine Heilpflanze verwendet, wird diese in sehr aufwändigen Verfahren durch wiederholtes Konzentrieren der Pflanzenextrakte potenziert. Ursprünglich war nicht der Gehalt an bestimmten Wirkstoffen ausschlaggebend für die Verwendung bestimmter Heilpflanzen, sondern ausschließlich deren Geschmack und energetische Wirkung im Körper, die von den alten Ärzten erforscht worden war. Die Komplexmittel, deren Formeln in den Klassikern minutiös aufgezeichnet sind und die bis heute verwendet werden, wurden so komponiert, dass sich bei Heilpflanzen mit ähnlicher Wirkrichtung die erwünschten Wirkungen addieren, die unerwünschten Wirkungen neutralisieren. Exemplarisch für die vielen Möglichkeiten drei Beispiele:

SHALLAKI – Boswellia serrata – Indischer Weihrauch (Abb. 1) Durch die Arbeiten von Prof. Dr. Ammon, Universität Tübingen, ist Boswellia die erste klassische ayurvedische Heilpflanze, die in Europa bekannt und breit angewendet wurde [13]. Boswellia gehört zu den Balsambaumgewächsen, deren Harz seit Jahrtausenden (nicht nur) medizinisch verwendet wird. Die Boswelliasäuren von Shallaki hemmen selektiv die 5-Lipoxygenase, ein Schlüsselenzym im Entzündungsgeschehen. Dadurch ergibt sich eine Cortison-ähnliche Wirkung, die den (unterstützenden) Einsatz von Boswellia vor allem bei Schmerzgeschehen mit entzündlicher Ursache rechtfertigt. Dies entspricht auch den klassisch überlieferten Indikationen wie entzündliche Gelenkserkrankungen, aktivierte Arthrosen, entzündliche Darmerkrankungen, entzündliche Erkrankungen des Nervensystems und schmerzhafte Entzündungen im Unterleibs- und Harnwegsbereich.

Abb. 1

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Folgende Zubereitungen stehen zur Verfügung: Weihrauch-Reinextrakt in Tabletten-Form: H 15®. Sie dienen vor allem zur begleitenden hoch dosierten Weihrauchtherapie bei chronisch entzündlichen Krankheiten wie PCP, Colitis ulcerosa, Asthma und bei Hirntumoren. Komplexmittel MA 1673: hier ist Weihrauch vor allem mit Heilpflanzen kombiniert, die die Wirkstoffe in Richtung Knochen und Gelenke lenken. Vor allem bewährt zur Unterstützung der Therapie bei Schmerzzuständen nach Verletzungen und bei entzündlichen Gelenkserkrankungen (z.B. aktivierten Arthrosen, Monarthritiden, Heberden Arthrosen der Fingergelenke). Komplexmittel MA 1674: Weihrauch in Kombination mit nervengängigen Heilpflanzen. Durch vor allem bewährt zur Unterstützung der Therapie bei entzündlich und/oder degenerativ bedingten Erkrankungen des Nervensystems wie Polyneuropathien, Nervenverletzungen und bei chronisch entzündlichen Krankheiten des Zentralnervensystems.

GUGGULU – Balsamodendron mukul (syn. Commiphora m.) – Indische Myrrhe (Abb. 2) Auch bei dieser Heilpflanze, die aus der gleichen botanischen Familie wie der Weihrauchstrauch stammt, wird das Harz verwendet [14]. Guggulu gehört zu den gut untersuchten Heilpflanzen und ist u.A. analgetisch, desinfizierend, antihypertonisch und cholesterinsenkend wirksam. Auch Guggulu wird traditionell in Kombination mit anderen Heilpflanzen, die die Wirkstoffe von in bestimmte Körperregionen lenken, als Komplexmittel verwendet. Komplexmittel MA 572: enthält neben Guggulu vor allem Stoffwechsel anregende und ausleitende Heilpflanzen und beseitigt Ama aus den Gelenken.

Abb. 2

Abb. 3

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Deswegen ist MA 572 zur begleitenden Therapie von Arthrosen und Schmerzzuständen im Bereich der Wirbelsäule empfehlenswert. Komplexmittel MA 332: in diesem Komplexmittel ist Guggulu mit Heilpflanzen kombiniert, die mehr auf die oberen Körperregionen (Kopf, Nacken) einwirken. MA 332 eignet sich sehr gut zur begleitenden Therapie von Kopfschmerzen, Cervikalsyndromen etc.

ERANDA – Rizinus communis – Rizinus (Wunderbaum) (Abb. 3) Von Rizinus wird bekanntermaßen das Öl verwendet. Es wirkt analgetisch, antirheumatisch, erwärmend und purgativ. Neben der periodischen Verwendung in hohen Einzeldosen bei der Virechana- Therapie (siehe unten) gibt es auch die tägliche Anwendung in kleinen Dosen mit dem Ziel, vor allem die analgetische Wirkung von Rizinus zu nutzen. Rizinusöl mit Curcuma: dieses einfache „Küchenrezept“ wird wie folgt zubereitet: man verrührt Rizinusöl mit etwa der gleichen Menge Curcuma-Pulver zu einer Paste. Bei akuten Schmerzzuständen (Migräne, akute Gelenksschmerzen, Tumorschmerzen etc.) gibt man halbstündlich ca. einen viertel Teelöffel dieser Mischung. Wichtig: die pflanzlichen Präparate werden nie als einzige Maßnahme, sondern immer in Verbindung mit anderen Therapien (Ausleitung, Ernährung etc.) angewendet!

Klänge Die Anwendung von Klängen in der Therapie ist für uns zunächst ungewöhnlich, findet aber auch bei uns zunehmend Anerkennung. Klang ist DAS traditionelle therapeutische Medium der Vedischen Tradition Indiens schlechthin. Ursprünglich wurden alle Vedischen Texte ausschließlich mündlich überliefert, und ihre tägliche Rezitation gehörte bei der geistigen Elite des Vedischen Indien zur täglichen inneren Reinigung und Vorbereitung auf den Alltag. Klang ist Schwingung, die die Seele berührt. Er erreicht den Kranken oft in der Welt seiner verletzten Gefühle und kann diese beruhigen und harmonisieren. Mit den richtigen Klängen kann man Schmerzzustände, die auf inneren Spannungszuständen beruhen, an der Wurzel beseitigen. Entsprechend der Bedeutung von Klängen gibt es im Maharishi Ayurveda auch eine Vielzahl von Klangtherapien, auf die hier in einigen Beispielen nur kurz hingewiesen werden soll: Transzendentale Meditation: der Patient erlernt ein Klangwort (Mantra), das er in Gedanken wiederholt. Dadurch wird ein extremer Tiefenentspannungszustand mit hoher EEG Kohärenz erreicht. Bewährt besonders bei chronischen Kopfschmerzen, Migräne, Verspannungen im Bereich der Wirbelsäule. Vedische Urklangtherapie und Primordial Sound Therapie ®: Teile vedischer Texte werden von geschulten Kräften (Pandits) rezitiert oder von Tonträgern gespielt. Zur Korrektur gestörter Strukturen entsprechend dem Modell von Veda

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im menschlichen Körper. Erste Untersuchungen zeigen günstige Erfolge auch in der Schmerztherapie von einfachen Kopfschmerzen bis zum Tumorschmerz. Gandharva Veda Musik: klassische indische Musik aus der vedischen Tradition, von Musikern live gespielt oder von Tonträgern. Es gibt eine Vielzahl verschiedener Ragas (Melodien) und Talas (Rhythmen), denen jeweils verschiedene Wirkungen zugeschrieben werden. So ist z.B. Raga Bhairavi bewährt bei rheumatischen Erkrankungen, Raga Jaunpuri bei Schmerzen im Magen-Darmtrakt. Jeder Raga zur richtigen Tages/Jahreszeit gespielt kann Verspannungen in Kopf, Nacken und Lendenwirbelsäule lösen [9].

Lokale Schmerztherapie Die lokale Schmerztherapie hat in der Ayurvedamedizin große Tradition. Dabei werden ähnlich wie bei der Akupunktur oft nicht nur die betroffenen Stellen, sondern so genannte „Marma“-Punkte als „Fernpunkte“ mit Ölen, Balsamen, Pasten (Lepam) etc. behandelt. Einige Beispiele: Öle: MA 628-Öl: Sesamöl wird sehr aufwändig mit verschiedenen Heilpflanzen mediziniert. Seine Verwendung ist vor allem bei Schmerzen im Bereich von Gelenken und Wirbelsäule empfehlenswert. Die Anwendung erfolgt sehr einfach durch kreisförmiges Einreiben über dem Schmerzpunkt. Nach einer Einwirkzeit von ca. 20 Minuten wird das Öl mit feucht-heißen Tüchern abgewischt. Lepam: MA 682 ist ein Kräuterpulver, das mit Wasser zu einer dicken Paste verrührt und auf betroffene Stellen aufgetragen wird. Anwendung bei Schmerzen durch entzündliche Hauterkrankungen, bei Schleimbeutelentzündungen und ähnlichen oberflächlichen entzündlichen Krankheiten. Balsam: MA 728 enthält u.A. Kampfer, Minze und Zimt und ist zur Erstbehandlung von Schmerzen nach Prellungen und einfachen stumpfen Traumen hervorragend geeignet.

SHODHANA Therapie: Ausleitungstherapie (Abb. 4) Die gängigen ayurvedischen Ausleitungstherapien werden unter dem Begriff PANCHAKARMA (pancha = fünf, karma = Therapie) zusammengefasst. Dabei handelt es sich um Therpieabfolgen, die systematisch aufeinander aufgebaut sind und am besten stationär durchgeführt werden.

Pancha Karma Therapien nach Charaka Vamana – Brechtherapie Shirovirechana (Nasya) – nasale Ausleitung Virechana – Purgation Niruha Basti – wässriges Klysma Anuvasana Basti – öliges Klysma

}

Beseitigt Kapha im Überschuss Beseitigt Pitta im Überschuss

}

Beseitigt Vata im Überschuss

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Pancha Karma Therapien nach Sushruta Vamana – Brechtherapie Shirovirechana (Nasya) – nasale Ausleitung Virechana – Purgation Rakta Mokshana – Aderlass Basti – Klysma

} }

Beseitigt Kapha im Überschuss Beseitigt Pitta im Überschuss Beseitigt Vata im Überschuss

Die Therapie beginnt mit der Vorbehandlung (PURVAKARMA), bei der vor allem durch diätetische Maßnahmen und Anwendung von so genannten PACHANAs die belastenden Toxine (AMA) aus den Geweben gelöst werden. Wenn nach 1–2 Wochen im Organismus die Anzeichen ausreichender Auflösung von Ama auftreten, beginnt die Hauptbehandlung (PANCHA KARMA). Dabei wird wieder jede der fünf Ausleitungstherapie durch Applikation von Öl und Wärme vorbereitet. Die meist sehr angenehmen Vorbereitungstherapien der oft anstrengenden Ausleitung haben Ayurveda bei uns im Westen bekannt gemacht. Hier werden verschiedene Massagetechniken verwendet, die meist von 2 Therapeuten ausgeführt werden und erstaunlich entspannend und wohltuend wirken. Einige dieser Anwendungen haben in den Wellnessabteilungen der gehobenen Hotelkategorien in Europa Einzug gehalten und werden dort – ohne Bezug zum eigentlichen Zweck – angewendet. Von den Ausleitungstherapien werden vor allem die angewendet, die den Sitz der Störung reinigen, also Basti bei Störungen von Vata, Virechana bei Pitta-Ungleichgewicht und Vamana bzw. Nasya bei Sitz der Störung im „Haus“ von Kapha. Die sequenzielle Anwendung dieser Therapien dauert zwischen 1 und 4 Wochen. Die abschließende Nachbehandlung (PASCHAT KARMA) steht unter dem Thema RASAYANA und sieht vor, den Kureffekt durch passende pflanzliche Zubereitungen und Verhaltensmaßnahmen zu festigen und zu vertiefen.

RASAYANA: (wieder gewonnene) Gesundheit erhalten RASAYANA heißt wörtlich „das was die Lebenssäfte (RASA) in Bewegung hält (AYANA)“ und wird oft fälschlich als „Geriatrie“ übersetzt. RASAYANA sollte, vor allem nach erfolgter SHODHANA Therapie, beim vitalen Menschen ansetzen

Abb. 4

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und nicht erst, wenn geriatrische Beschwerden und irreversible Altersschäden aufgetreten sind. RASAYANA Therapie besteht aus 2 Komponenten: der Verhaltenstherapie (ACHARA RASAYANA), die einfache Ernährung und einen moralisch verantwortungsbewussten Lebenswandel im Einklang mit den Biorhythmen vorsieht. Hier hat der Maharishi Ayurveda eine jahrtausende alte, gesundheitsorientierte Vorsorgemedizin zur Hand, die beispielhaft für unser krankheitsorientiertes „Gesundheitssystem“ ist. Hier geht es vor allem auch um Beachtung der biologischen Rhythmen bei Ernährung und Tagesablauf und um sinnvolle Vorsorgemaßnahmen zu Hause wie regelmäßige Ölmassagen, Yoga, Atemübungen und Meditation. Es genügt nicht nur, die ausreichende Menge an Vitalstoffen aufzunehmen, entscheidend für die Verwertbarkeit der aufgenommenen Substanzen ist die Zeit der Nahrungsaufnahme und der Zustand der Verdauungskraft AGNI. Ohne diese einfachen Verhaltensregeln wird immer wieder AMA im System erzeugt und alte Schmerzen und Krankheitsbilder können wieder auftreten. Die zweite Komponente der ayurvedischen Vorsorgemedizin besteht aus gezielter Ernährung der Körpergewebe durch RASAYANA-Zubereitungen, die als Nahrungsergänzungen eingenommen werden. Die klassischen Texte sehen diese meist materiell und zeitlich sehr aufwändigen Zubereitungen als direkte Quellen für die Bildung OJAS im Körper, um Jugendlichkeit, Vitalität, Immunität und Freiheit von Schmerz zu fördern. Bei wissenschaftlichen Studien über diese jahrtausende alten Komplexpräparate aus Kräutern, Mineralien und tierischen Produkten wie Ghee (Butterreinfett) hat sich gezeigt, dass einige dieser Zubereitungen wie z.B. Amrit Kalash hoch potente Radikalfänger sind und dass durch diese Qualität auch die protektive Wirkung vor Krankheit und Schmerz erklärbar ist [12].

Zusammenfassung Ayurveda Medizin, die Heilkunst der uralten Vedischen Tradition Indiens, deren Sanskrit-Originaltexte bis heute unverändert überliefert sind, hat ein klares theoretisches Verständnis der Ursachen von Schmerz und eine Vielzahl von regulativen Methoden zur Schmerztherapie. Die Essenz der klassischen Text und der divergenten regionalen Entwicklungen der Ayurvedamedizin der letzten Jahrhunderte hat sich im Westen als „Maharishi Ayurveda“ etabliert. Die verschiedenen Therapiekonzepte wie Meditation, Ernährung, Phytotherapie, Externa, Klänge und Ausleitungstherapien (Pancha Karma) sind besonders in der Behandlung subakuter und chronischer Schmerzen indiziert. Viele dieser Therapieformen sind bereits ausgiebig wissenschaftlich erforscht. Die Ayurveda Medizin bietet auch bewährte Konzepte zur primären und sekundären Rehabilitation von Schmerzpatienten und traditionelle Methoden der individuellen und kollektiven Vorsorgemedizin.

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Literatur 1. Charaka Samhita: Es gibt verschiedene englische Übersetzungen, z.B. von P.V. Sharma. Chaukhambha Orientalia, Varanasi 2. Sushruta Samhita: Original Text und englische Übersetzung von K.L. Bhishagratna. Chaukhambha Orientalia, Varanasi 3. History of Ayurveda, N.V. Krishnankutty Varier, Kottakal Ayurveda Series Nr 56, Kottakal, 2005 4. Human Physiology, Expression of Veda and the Vedic Literature, 4th edn. 2000; Nader Raam, MD, PhD. MVU Publishers, Niederlande, ISBN 81-7523-017-7 5. The Yoga System of Patanjali, J.H. Woods, Harvard Oriental Series, 1904, Neuauflage Motilal Banarsi Das, Delhi, 1988 6. Handbuch Ayurveda. In: Dr. Ernst Schrott und Dr. Wolfgang Schachinger (Hrsg). Haug Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-8304-2106-0 7. Kopfschmerz muss nicht sein, Dr. Ernst Schrott/Dr. Wolfgang Schachinger. Aurum Verlag, Bielefeld 2002, ISBN 3-89901-001-9 8. Gelenk- und Rückenschmerzen müssen nicht sein, Schrott/Schachinger. Aurum Verlag, Bielefeld 2002, ISBN 3-89901-0002-7 9. Die heilenden Klänge des Ayurveda (mit Musik CD), Dr. E. Schrott. Haug Verlag, Stuttgart, ISBN 3-8304-2055-2 10. Scientific research on the transcendental meditation program, Collected Papers, vol I bis VI. In: Orme-Johnson D, Farrow J (Hrsg). MERU Press, ISBN 3-88333-001-9 (vol I) 11. Sharma H, et al (1992) Inhibition of low densitiy lipoprotein oxidation in vitro by Maharishi ayurveda herbal mixtures MAK 4, MAK 5, MA 631, and MA Coffee Substitute. Pharmacology, Biochemistry and Behaviour, vol 43, pp 1175–1182 12. Sharma HM, et al (1991) Effect of Maharishi Amrit Kalash (MAK-5) on brain opoid receptors and neuropeptides. The Journal of Research and Education in Indian Medicine 10 (I): 1–8 13. Boswellic acids as the active principle in treatment of chonic inflamatory diseases, H.P.T. Ammon, Uniersität Tübingen. Wiener Medizinische Wochenschrift (1946) 2002-0; 152 (15–16): 373–378 14. Heilpflanzen und Präparate der ayurvedischen Medizin, Lexikon für Ärzte und Apotheker auf CD-Rom, Dr. med. Ernst Schrott/Dr. phil. James A. Duke. www.vedamed.de 15. Orme-Johnson D, et al (2006) Pain reaction. Neuro Report 17: 1359–1363 Bezugsquelle für MA Nahrungsergänzungen: MTC, PF 1126, 41845 Wassenberg, Deutschland, www.ayurveda-produkte.de

Kontakte Österreichische Gesellschaft für Ayurvedische Medizin (Ärztegesellschaft), Biberstr. 22/2, 1010 Wien, www.ayurveda.at Deutsche Gesellschaft für Ayurveda, Chausseestr. 29, 10115 Berlin, Deutschland, www.ayurveda.de Ausbildungen für Ärzte: Deutsche Ayurveda Akademie, Steyrerweg 11, 93049 Regensburg, Deutschland www.ayurveda.de/ausbildung Tel: +49 9431 7589408, mail: [email protected]

Die Möglichkeiten der Homöopathie in der Schmerztherapie E . P I CHL E R

Akute Schmerzgeschehen sprechen ebenso gut auf die homöopathische Therapie an, wie chronische Erkrankungen. Die Voraussetzung zur Anwendung der Homöopathie ist die genaue Anamnese sowie die Befunderhebung, um keine notfallmedizinischen Maßnahmen zu übersehen. Die Homöopathie ist eine medizinische Therapieform mit Einzelarzneien, welche am gesunden Menschen geprüft sind und in potenzierter Form nach dem Ähnlichkeitsprinzip verordnet werden. Sie ist aber auch eine individuelle, arzneiliche Regulationstherapie, welche sich unter Berücksichtigung körperlich, seelisch, geistiger, konstitutioneller, biographischer, sozialer und umweltbedingter Faktoren als Medizin der gesamten Person versteht. Daraus resultiert die untrennbare Einheit des Individuums, so dass einzelne pathologische Äußerungen (Krankheiten) fast immer im Konnex mit der Ganzheit zu sehen sind. Das beinhaltet jedoch nicht nur eine ausschließliche Beurteilung des gesamten Erscheinungsbildes des Menschen, sondern es werden sehr wohl einzelne Details ganz genau betrachtet, die aber dann in der Gesamtschau die Übereinstimmung des Patientenerscheinungsbildes mit dem des Arzneimittelbildes beinhalten müssen. Der Zugang zur ganzheitlichen Erfassung des Menschen geschieht meistens über auffallende Details der betreffenden Person, wobei diese als SYMPTOME bezeichnet werden. Unter Symptomen versteht man in der Homöopathie auffallende und pathologische Erscheinungen des zu behandelnden Menschen. Sie sind für jeden charakteristisch in ihrer Ausprägung, und dienen damit der genauen Arzneimittelwahl. Erst im Einklang der Symptome mit einem Arzneimittel kann die Verordnung der passenden Arznei erfolgen.

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Die Definition der Homöopathie – – – – – –

Ärztlich Arzneilich Geprüft am gesunden Menschen Potenziert Ähnlichkeitsprinzip Regulationstherapie

bildet die Grundlage dieser medizinischen Behandlungsweise.

Ärztlich Die Homöotherapie eignet sich zum Behandeln von akuten und chronischen Erkrankungen. Die Therapie unkomplizierter, einfacher, akuter Krankheiten ist je nach Wissensstand und Erfahrung von jeder (jedem) verantwortungsbewussten Homöopathieinteressierten anwendbar. Selbstverständlich ist das Beachten der Grenzen der Therapiemöglichkeit und des eigenen Wissens unabdingbar. Daher ist bei unklarem oder fehlendem Therapieerfolg unbedingt fachkundige Hilfe in Anspruch zu nehmen. Chronische Krankheiten sind nur mit entsprechendem Wissen und Erfahrung zufriedenstellend therapierbar und stellen daher die Domäne der Homöopathen/ Homöopathinnen dar.

Arzneilich In der Homöopathie werden nach genauen Herstellungsvorschriften die Arzneien produziert. Diese stammen aus der Pflanzen-, Tier- und Mineralwelt. Auch Krankheitsprodukte werden im geringeren Ausmaß verwendet und meistens als Nosoden bezeichnet.

Geprüft am Gesunden Werden homöopathische Arzneien von gesunden Menschen (Prüfern) eingenommen, so entstehen, abhängig von der Sensitivität der Personen, nach einigen Einnahmen Arzneimittelsymptome, die wie geringgradige Vergiftungserscheinungen imponieren können. (Vergleichende Überlegungen können zur Tollkirschenvergiftung – Atropa Belladonna angestellt werden.) Diese durch die Prüfung gewonnenen Symptome werden genau registriert und im Arzneimittelbild (AMB) mit Erkenntnissen der Toxikologie und der klinischen Erfahrung, auch aus der Tierheilkunde, zusammengefasst.

Möglichkeiten der Homöopathie in der Schmerztherapie

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Potenziert Zu einem Tropfen einer Zubereitung einer Ursubstanz (z.B. Kamillenpflanze) werden 9 Tropfen eines Lösungsmittels, meist 40% Alkohol, gegeben. Dieser Vorgang wird als Verdünnung bezeichnet. Danach wird diese Mischung meistens 10 x gut durchschüttelt. Auf diese Art und Weise wird eine homöopathische Arznei mit der Bezeichnung D 1 hergestellt (D = decem = 10). Der Herstellungsvorgang verdünnen und verschütteln wird als potenzieren bezeichnet. Gibt man zu einem Tropfen einer Urtinktur 99 Tropfen einer alkoholischen Lösung, so erhält man eine C 1. (C = centum = 100). Dieser Vorgangsweise können beliebig viele Potenzierungsschritte angeschlossen werden. LM (Q) Potenzen und K (Korsakoff) Potenzen werden nach anderen Herstellungsverfahren produziert.

Ähnlichkeitsprinzip Homöopathische Arzneien die in der Arzneimittelprüfung bestimmte Symptome erzeugen sind in der Lage, Krankheiten mit ähnlichen Symptomen (Erscheinungen), zu heilen.

Regulationstherapie Regulationstherapien können ihre Wirkungen nur dann entfalten, wenn der kranke Organismus noch über Selbstheilungskräfte verfügt. Die spezifischen Reize, wie sie homöopathische Arzneien ausüben, bringen die Regelkreise wieder in Normalfunktion. Dadurch werden z.B. das Immunsystem, die Hormonsysteme, Schmerzgeschehen, das Kreislaufsystem und andere kybernetische Verkettungen im Organismus durch die Aktivierung der Eigenenergie in eine Normalfunktion übergeführt. Eine Substitution ist mit Homöopathika nicht möglich. Zerstörte Strukturen sind mittels homöopathischer Arzneien nicht wieder erneuerbar, auch können keine Substanzen, wie z.B. Hormone oder Mineralien durch Homöopathika ersetzt werden. Dies sind auch die wesentlichen Grenzen der homöopathischen Therapiemöglichkeiten. Die Individualität des Menschen steht in der Homöopathie im Vordergrund und dies ist ein entscheidender Unterschied zur konventionellen Therapie, wenngleich auch hier die Strömungen, den Menschen als Einzelperson zu sehen, zunehmen. Der klinische Blick wird wieder wichtig, das Befinden der Patienten und nicht nur die Besserung der Laborwerte und anderer technischer Hilfsuntersuchungen werden für die Beurteilung des Behandlungserfolges maßgebend. Es ist damit nachvollziehbar, dass Dokumentationen von Krankengeschichten die Individualität besser widerspiegeln als diagnosebezogene Studien. Daher sind zur Beweisführung der Wirksamkeit der Homöopathie folgende Daten:

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E. Pichler

– Outcome Studien unter Praxisbedingungen – Selbstbefragung der Patienten am Besten geeignet. In diesen aus Evidence Based Medicine gewonnenen Erkenntnissen können auch Aussagen über – Lebensqualität der Patienten – Zufriedenheit mit der Therapie – Kosten getroffen werden.

Wissenschaftliche Studien und deren Metaanalysen Metaanalysen sind einer der Goldstandards um randomisierte, kontrollierte Studien auf die Effizienz einer Behandlungsweise zu überprüfen. Seit 1991 wurden fünf derartige Metaanalysen publiziert, die sämtliche der Homöopathie eine Wirksamkeit nachweisen, die über dem Placeboniveau liegen. Die eindrucksvollste Metaanalyse wurde 1997 von Linde et al. im Lancet veröffentlicht. Darin wurden 89 doppelblinde, randomisierte und placebokontrollierte Studien analysiert. Das Resultat spricht eindeutig für die Wirksamkeit der Homöopathie. Die Ratio für die homöopathischen Behandlungsergebnisse beträgt 2.45. Diese Studien wurden mehreren statistischen Analyseverfahren unterzogen, wobei jeweils der positive Behandlungserfolg nachgewiesen werden konnte. Aufgrund der doch geringen Anzahl an Studien wurde als Conclusio die Aussage gewählt: „ Die Datenlage ist noch nicht ausreichend um die Homöopathie bei allen Erkrankungen als wirksam zu bezeichnen.“ Übersicht über weitere umfassende Metaanalysen der homöopathischen Behandlungsweise:

Kleijnen et al. 1991 Veröffentlicht im British Medical Journal, 107 Studien umfassend – 77% zeigen ein positives Ergebnis für die homöopathische Behandlung – Alle Studien zeigen einen positiven Trend des Behandlungserfolges, unabhängig von der Qualität der Studien – Conclusio der Autoren: die Untersuchungsergebnisse berechtigen die Homöopathie zum Einsatz bei bestimmten Erkrankungen… – Es ist legitim und notwendig, weitere Studien und Analysen über den Wirkungsnachweis der Homöopathie durchzuführen…

Linde et Melchart 1998 Journal of Alternative and Complementary Medicine: 32 Studien überprüft, 19 in die Metaanalyse aufgenommen.

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Das Ergebnis: – Die klassische Homöopathie ist signifikant effektiver als Placebo (pooled rate ratio 1.62–95%, confidence interval, 1.17–2.23) – Die Ergebnisse der Studien mit bestem Design sind nicht signifikanter als die anderen Studien – Die Studien sollten zur Absicherung wiederholt werden Zu ähnlichen Ergebnissen gelangen auch Boissel et al. 1996 (Report for European Commisson), Cucherat et al. 2000 (European Journal of Clinical Pharmacology).

Egger 2005 Den Hintergrund dieser Metaanalyse bilden kassenpolitische Überlegungen in der Schweiz. Das Ergebnis ist, das eine weitere Honorierung der Homöopathie durch die gesetzlichen Krankenversicherungen nach fünf Jahren eingestellt wird. Für diese Analyse wurden 110 homöopathische Studien ausgewählt, wobei Studien mit Komplexmittel und Isopathika den Hauptanteil einnehmen. Es befinden sich nur 16 Studien nach klassisch homöopathischen Kriterien in dieser Auswahl. Diesem „Studienmix“ werden 110 konventionell medizinische Studien mit ähnlicher Diagnose gegenüber gestellt. Das Ergebnis dieser großen Anzahl an Studien ergab eine gute Wirksamkeit in beiden Gruppen, die auch in einer Reduzierung auf jeweils 18 Studien nachweisbar bleibt. Diese wurde deshalb durchgeführt, da die methodisch besten Studien nur in dieser Anzahl in die Metaanalyse Einschluss gefunden haben. Erst eine neuerliche Reduktion und Gegenüberstellung von acht placebokontrollierten homöopathischen Studien zu sechs placebokontrollierte konventionell medizinischen Studien, ergibt eine bessere Wirksamkeit der sechs konventionellen Studien. Im Detail sind noch etliche Mängel erkennbar, die aber den Rahmen sprengen würden.

Outcome Studien unter Praxisbedingungen Zwei von vielen Studien seien hier erwähnt:

IIPCOS 1 – International Integrative Primary Care Outcomes Study Untersuchungszeitraum: 2001–2002 Studiendesign – Eingeschlossene Krankheiten: akute Erkrankungen der oberen Luftwege wie Schnupfen, Halsschmerz, Ohrschmerz, Erkrankung der Nasennebenhöhlen, Husten – Dokumentation von Haupt- und Begleiterkrankungen

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Voraussetzung: Gesundheitsfragebogen nach Kindl Telefonischer Patientenkontakt nach 7, 14, 28 Tagen Frage: beschwerdefrei oder Besserung innerhalb von 14 Tagen behandelt wurden 2055 Patienten über 12 Monate die Therapie erfolgte nach Zufallsverteilung: 875 mit Homöopathie behandelt 629 Homöopathie und konventionelle Medizin 393 mit konventioneller Medizin therapiert

Ergebnisse Homöopathie: – Beschwerdefrei nach 7 Tagen: 32% – Beschwerdefrei nach 14 Tagen: 83% – Beschwerdefrei nach letztem Kontakt: 82% Konventionelle Medizin: – Beschwerdefrei nach 7 Tagen: 26% – Beschwerdefrei nach 14 Tagen: 68% – Beschwerdefrei nach letztem Kontakt: 79% Zufriedenheit: – Homöopathisch behandelte Patienten: 79% – Konventionell therapierte Patienten: 65% – Unerwünschte Nebenwirkungen: Homöopathie.: 17,2% , Konventionelle Medizin: ca.: 20% – Besserungen am ersten Tag: • In der Homöopathiegruppe gab es signifikant mehr Besserungen am ersten Tag als in der konventionell therapierten Gruppe IIPCOS 1, Fazit – Bei Infekten der Luftwege: • Homöopathie und konventionelle Medizin gleich wirksam • Behandlungsaufwand fast gleich • „Unerwünschte Nebenwirkungen“ in der Homöopathie geringer • Patienten sind zufriedener • Die Patienten werden rascher gesund! Eine weitere Studie stammt aus dem

Universitätsklinikum Charité, Humboldt-Univerität Berlin, durchgeführt von Dr. Claudia Becker-Witt – 1130 Kinder wurden zwischen 1997 und 1999 homöopathisch betreut – 90% der Diagnosen entsprachen chronischen Erkrankungen, mit mittlerer Erkrankungsdauer von 4,3 Jahren:

Möglichkeiten der Homöopathie in der Schmerztherapie

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• Atopische Dermatitis 20%, Infektanfälligkeit 16%, chronische Otitis media 9%, Schlafstörungen 9% – Reduktion der Diagnosebeschwerden anhand der VAS (visual analog scale): • Beurteilung durch behandelnde Ärzte: von 5,9 zu 1,5 • Beurteilung durch Patienten: von 6,1 zu 2,2 • Dies entspricht einer eindeutigen statistischen Signifikanz (p < 0,001)

Das vollständige Lokalsymptom Die Auswahl der passenden Arznei bei Akuterkrankungen erfolgt häufig mit Hilfe des „vollständigen Lokalsymptoms“. Dabei werden die Charakteristika einer Beschwerde (Krankheit) genau erfragt, um sie mit dem Arzneimittelbild der ähnlich wirkenden Arznei in Deckung zu bringen. Am einfachsten ist es wenn man sich an folgende Fragestellungen hält: – Was? – z.B. ein Schmerzgeschehen – Wo? Wohin? Woher? – Topik des Schmerzes – Seit wann? – Anfang, Verlauf, auslösende Ursachen Es dient zur genauen Charakterisierung einer Beschwerde bzw. eines Symptoms – Wie? – brennt wie Feuer, – Wann? – zeitliches Auftreten – Wie lange? – Dauer des Schmerzes – Wodurch? – Modalitäten – Beschwerden die gleichzeitig auftreten – Wie reagieren sie in dieser Beschwerde? – Gesamtbefinden? – Was ist zu heilen? Diese genaue Charakterisierung eines Schmerzgeschehens ist für die Arzneimittelfindung unabdingbar. Die Ursache liegt darin, dass fast jede Arznei auch eine „Schmerzarznei“ sein kann. Es finden mindestens 700 Homöopathika Verwendung! Daher ist eine genaue Differenzierung notwendig, um die dem Schmerzgeschehen ähnlichste Arznei zu eruieren. Dabei sind untypische, auffallende Schmerzcharakteristika wie Ausstrahlung der Schmerzen oder Vikariation wichtiger, als die üblichen Schmerzqualitäten wie stechend, brennend, drückend, ziehend oder wie wund oder ähnliches. Diese exakte Differenzierung ist deshalb von so großer Bedeutung, da für alle Schmerzqualitäten viele Arzneien zuordenbar sind. Um zu einer passenden Arznei zu gelangen, muss eine Eingrenzung der in Frage kommenden Arzneimittel erfolgen. Dies bedeutet, dass mehrere Angaben zu einem Schmerzgeschehen notwendig sind um im Sinne eines Ausleseverfahrens eine Eingrenzung der Homöopathika zu erreichen. Mit der genauen Beschreibung des Schmerzgeschehens im Sinne des vollständigen Lokalsymptoms ist dies am ehesten zu erreichen.

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Die Anamnese des vollständigen Lokalsymptoms beinhaltet auch die Modalitäten (Verbesserung und Verschlechterung der Beschwerden). Diese sind neben den auslösenden Ursachen einer Algie von größter Bedeutung. Selbstverständlich sind auch auf die seelischen und geistigen Eigenschaften des Individuums genauestens zu beachten. Dadurch erfolgt eine gezielte Reduzierung der Anzahl der Arzneien. Im Idealfall ist nur mehr eine Arznei das Endergebnis dieses Auswahlverfahrens. Ist die Arzneimittelwahl getroffen, erhebt sich die Frage nach der Arzneizubereitung, der Potenzwahl und der Verabreichung der Arznei.

Rezeptur – Welche Verarbeitungsmöglichkeit besteht bei der Arznei? – Welche Potenz soll rezeptiert werden: D, C, LM, Q, Korsakow, Flux – Welcher Arzneiträger: Glob. (Globuli), Tbl. (Tabletten), Dil. (Verdünnungen), Trit. (Verreibungen), Amp. (Ampullen), Externa (Salben, Cremen, Gel) ist angebracht? – Wie ist die Compliance des Patienten? Ist eine lang wirksame Hochpotenzgabe einer täglichen Mittelpotenzgabe vorzuziehen? – Welche Erfahrung hat sich der Verschreiber im Laufe der Jahre angeeignet? Z.B.: Guter Allgemeinzustand, keine pathologischen Veränderungen, hohe Intensität der Hauptsymptome: in diesen Fällen können Hochpotenzen (> D 30, C 30) angewendet werden. Geringe Vitalität, (Lebenskraft), Organpathologie, niedrige Intensität der Hauptsymptome: in diesen Situationen sind Tiefpotenzen (< D 12, C 12) eher der Vorzug zu geben.

Arzneieinnahme Prinzipiell soll die ARZNEIWIRKUNG ABGEWARTET werden! Sollten Zweifel bestehen, so können folgende Empfehlungen für Arzneieinnahmen angewendet werden: Tiefpotenz:

1 – mehrmals täglich

Mittelpotenz:

(D 8 –D 12, C 8-C 12) 1–2 x täglich

Hochpotenz:

mindestens drei Wochen (bei D, C 200 und höher) abwarten bis zur nächsten Gabe

STOPP bei Besserung! Bei akuten Krankheiten ist eine häufigere Gabenwiederholung möglich!

Möglichkeiten der Homöopathie in der Schmerztherapie

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Hinweise zur Einnahme homöopathischer Arzneien Die Arzneien sind nüchtern einzunehmen, da die Resorption über die Schleimhäute erfolgt. Daher soll gleichzeitig nichts gegessen oder getrunken werden. Ebenso ist Nikotin und Zahnpasta ein Resorptionshindernis. Die Einnahme soll 10 bis 30 Minuten vor oder nach einer Mahlzeit erfolgen. Homöopathische Globuli lässt man im Mund zergehen, ebenso Tropfen, Tabletten und Verreibungen. Auch das Auflösen in Wasser und die löffelweise oder schluckweise Verabreichung ist üblich. Seltener werden intravenöse, intramusculäre, subcutane, Externa oder olfaktorische Anwendungen verwendet.

Aus der Praxis Der nachfolgende Überblick über wichtige, hauptsächlich akute Schmerzgeschehen, soll die Ähnlichkeit der Arzneiwirkung mit dem vom Patienten erlebten Schmerzgeschehen verständlich machen. Dabei sind die wichtigsten Symptome der Arzneien, die zu dem jeweiligen Schmerzgeschehen eine Beziehung aufweisen, angeführt. Zwei wichtige Abkürzungen: AGG. = Aggravation = Verschlechterung AM. = Amelioration = Besserung Die Behandlung hat selbstverständlich unter der Beachtung der medizinischen Richtlinien zu erfolgen. Die Prognostik und Diagnostik ist ein wichtiger Bestandteil des therapeutischen Handelns. Folgende Arzneien werden bei Kopfschmerzen häufig verwendet:

Aconitum napellus Blauer Eisenhut Stürmischer Verlauf – Bei Erkältung tritt Frösteln, Unruhe und plötzliches Fieber auf – Empfunden wird ein reißender, brennender Kopfschmerz mit qualvoller Angst, der Kopf ist wie durch ein Band zusammengeschnürt, – die Haut ist heiß und trocken – große Ängstlichkeit mit Unruhe und paroxysmaler Tachycardie Agg: vor Mitternacht, Wind, Zugluft, Schreck Am.: wenn der Schweiß einsetzt

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Belladonna, Atropa Belladonna Tollkirsche Plötzliches Einsetzen und plötzliches Aufhören vom meist spastischen Beschwerden. Diese sind heftig, berstend, bohrend, klopfend oder pulsierend. Auch Empfindungen bohrender Kopfschmerz wie durch ein Messer oder als ob das Gehirn herausgedrückt wird, werden beschrieben. Am.: Druck, Kopf nach hinten beugen Agg.: Bücken, Anteflexion, Bewegung, Licht Die Haut ist scharlachrot, heiß und feucht, die Hände und Füße aber kühl. Pulsierende Beschwerden, Krämpfe und etwas erweiterte Pupillen sind weiter Kennzeichen dieser Arznei. Belladonna ist eine der wichtigsten Arzneien bei katarrhalischen Entzündungen im Stadium der Hyperämie. Die Patienten sind dabei unruhig, heftig und sind bei diesen hochfieberhaften Zuständen ziemlich benommen. Am.: Ruhe; Gegendruck, Beugen nach Rückwärts oder Streckhaltung Agg.: Sonne, Nässe, Kälte

Gelsemium sempervirens Wilder Jasmin Die Gesichtsfarbe ist dunkelrot, die Haut warm und feucht, der Patient ist schwach und zittrig und fühlt sich wie betäubt bzw. wie gelähmt. Der Hinterkopfschmerz ist bandförmig und heftig hämmernd. Die Extremitäten fühlen sich kalt an und ganz typisch ist vor allem am Beginn der Erkrankung ein Frösteln entlang der Wirbelsäule. Die Kopfschmerzen werden besser wenn sich Harnabgang einstellt. Gelsemium ist auch ein wertvolles Mittel zur Bekämpfung des „Lampenfiebers“. Agg.: Feuchtigkeit; Darandenken; Tabakrauch; Erbrechen; Seelische Erregung, Am.: Ausscheidung (Urin); Alkohol

Glonoinum Nitroglycerin Wellenförmige, berstende, pulsierende, stürmische Kopfschmerzen, halten den schmerzenden Kopf mit beiden Händen. Dieser ist heiß und rot. Agg.: Retroflexion; Hitze, Sonne, Haarschneiden Am.: kühl; frische Luft

Phosphor Heftiger, klopfender Kopfschmerz, das Gesicht ist rot, Kälte verschlimmert, außer bei Kopf- und Magenschmerzen. Menschen, die Phosphor brauchen, sind sehr extroviert und lieben die Gesellschaft.

Möglichkeiten der Homöopathie in der Schmerztherapie

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Agg.: Wärme; Bewegung, Hinlegen, geistige Aktivitäten, Licht, Hitze Am.: Kälte, Ruhe, kaltes Wasser (außer Kopf-und Magenschmerzen), Eiscreme

Homöopathische Behandlungsmöglichkeiten bei Verletzungen Wichtig ist die Erste Hilfe, die weiteren Fragen sind die der Behandlungsmöglichkeiten und der Behandlungsnotwendigkeit. Für die homöopathische Therapie ist die Erfragung des vollständigen Lokalsymptoms von eminenter Bedeutung. Was? Wo? Wie? Wann? Wodurch? Wer?

Auslösung: Sturz, Schlag, Prellung, Verheben, Überanstrengung, Stich, Schnitt, Thermische Einflüsse, Nässe, Lokalisation – Kopf zu Fuß Schema Schmerzart – als ob …, Farbe, Schwellung, Blutung, Hautveränderung Zeitpunkt der Besserung und Verschlechterung Modalitäten: Wärme/Kälte, Ruhe/Bewegung, Druck, Berührung, Körperhaltung Aussehen, Reaktionsweisen, Verhalten

Arnica montana Synonyme: Bergwohlverleih, Wundkraut, Johannisblume Das Verletzungsmittel, wenn folgende Symptome vorhanden sind: das Gefühl wie zerschlagen, offene Blutungen oder Hämatome. Dazu gesellt sich eine große Erschöpfung und Schwäche. Die Patienten sind extrem schmerzempfindlich, das Bett erscheint ihnen zu hart und Berührungen sowie bewegen verschlimmert die Schmerzsymptomatik. Schädel-Hirn-Traumata können zu Verwirrung und Gedächtnisverlust führen. Diese Patienten befürchten, dass sie in diesem Krankheitsgeschehen nicht wieder gesund zu werden, dass ihre Erkrankung einen letalen Ausgang nehmen werde und wollen so wenig als möglich Kontakt zu anderen Personen. Arnica ist auch ein wichtiges Mittel für Hypertoniker und den Folgezuständen wie Apoplexie oder Myocardinfarkt. Agg.: Verletzungen, wie Contusionen, Distorsionen, Stauchungen, Berührungen, langes ruhiges Liegen, nach dem Schlaf Am.: im Freien, Lageänderungen, kühle Umschläge

Ruta graveolens Weinraute Verletzung oder Überanstrengung von Sehen oder im Bereich des Periosts. Dabei treten verschiedene Schmerzqualitäten auf und ein Gefühl von großer Schwäche im Bereich des verletzten Körperteiles.

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Agg.: Kälte, Feuchtigkeit, Liegen auf der schmerzenden Seite, sitzen, vorm Aufstehen, Wind Am.: Liegen am Rücken, Wärme, Bewegung, Reiben, tagsüber, wechselt häufig die Lage, ist unruhig so wie Arnica oder Rhus toxicodendron Patienten

Hypericum perforatum Johanniskraut Nervenschmerzen nach Verletzungen im Bereich des ZNS oder der peripheren Nerven, nach Operationen, Schädel-Hirn Traumata. Dies sind heftige neuralgische, teilweise unerträgliche Schmerzen entlang der Nervenbahnen. Häufig wird eine Begleitdepression beobachtet. Agg.: Bewegung, Anstrengung, Berührung, Wetterwechsel, feuchte Kälte, Nebel Am.: die Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule bessern sich durch Rückwärtsbeugen und Reiben

Symphytum Beinwell Der Einsatz von Symphytum ist besonders lohnend bei schlecht heilenden und komplizierten Frakturen, besonders wenn prickelnder oder schlecht heilender Schmerz bestehen bleibt. Mitunter können protrahierte Entzündungen im Operationsbereich mit Symphytum günstig beeinflusst werden. Die Haut ist in diesem Bereich warm, glänzend rot, und geschwollen. Ein Versuch bei Mb. Sudeck führt immer wieder zu überraschenden positiven Resultaten.

Ledum pallustre Sumpfporst Stichverletzungen durch spitze Instrumente aber auch Insektenstiche mit schmerzhaften Hämatomen. Die betroffenen Körperpartien fühlen sich kalt an obwohl sie objektiv warm imponieren. Agg.: Wärme allgemein, Bettwärme, zudecken, Bewegung, gehen, nachts, Alkohol, hinlegen, Erschütterung Am.: Kälte, betroffene Körperteile in kaltes Wasser geben, ausruhen

Acidum sulfuricum Schwefelsäure Verletzungen bei geschwächten Menschen mit ausgeprägter Organpathologie wie Carcinome, Leberzirrhose, Äthylismus, Diabetes mellitus etc. Dabei treten spontan oder bei nur sehr geringer Krafteinwirkung Sugillationen auf. Decubi-

Möglichkeiten der Homöopathie in der Schmerztherapie

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tus, Ulcera mit Blutungs- und Entzündungsneigung passen ebenfalls zu dieser Arznei. Agg.: übermäßige Hitze und Kälte als Zeichen der schwachen Regulation, da die Adaptationsfähigkeit schon sehr eingeschränkt ist. Kaltes Wasser und kalte Umschläge, nachts und in der Bettwärme, Kaffeegeruch Am.: gemäßigte Temperaturen, warme Getränke, liegen auf der erkrankten Seite, Druck

Bellis perennis Gänseblümchen, Tausendschön – Wirkt auf die Muskelfasern der Blutgefäße – Venöse Kongestion aufgrund mechanischer Ursachen – Ist das erste Mittel bei Verletzungen der tieferen Gewebe, nach größeren chirurgischen Operationen. Verwachsungen – Bridenileus – Folgen von Nervenverletzungen mit intensiver Schmerzhaftigkeit und Unverträglichkeit gegenüber kaltem Baden, Berührung, warmes Bett, Abkühlung wenn erhitzt – Trauma der Beckenorgane – Ein ausgezeichnetes Mittel für Verstauchungen und Quetschungen, wenn nach Arnica noch eine Schwellung zurückbleibt – Wundes zerschlagenes Gefühl Am.: Bewegung und Reiben

Hamamelis Virginischer Zauberstrauch Schmerzen mit Wundheitsgefühl, Prellungen, Quetschungen mit starker Blutungstendenz. Große Empfindlichkeit und Schwäche. Verstärkte Blutungen bei Menstruation oder bei kleinsten Verletzungen. Bei Hamamelis besteht ein große Affinität zu Phlebopathien, wie Varicen, Thrombophlebitis, venenbedingte Stauungen. Agg.: Hitze, Wärme, feuchtwarm, prämenstruell. Eine hervorragende Arznei bei der Vikariation Epistaxis mit Menstruation Am.: Ruhe, stilles Liegen, kühle Umschläge, Blutungseintritt bei Menstruation

Rhus toxicodendron Giftsumach Diese Arznei und Bryonia sind in der Akuttherapie der Beschwerden des Bewegungsapparates nicht wegzudenken. Die homöopathische Differentialdiagnose zwischen beiden Arzneien lässt sich am besten durch die Modalitäten stellen. Bei Rhus tox. Werden die Beschwerden durch Bewegung besser, hingegen bei Bryonia verschlimmert die geringste Bewegung das Beschwerdebild.

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Nicht nur der Bewegungsapparat sondern auch die Haut ist ein großes Einsatzgebiet für den Giftsumach. Hauptindikation ist ein bläschenartiges Ekzem mit brennen und jucken im Sinne eines Herpes oder herpetiformem Geschehens. Die Patienten sind dabei sehr ruhelos und die Besserung der Symptome erfolgt durch heißes Wasser. Agg.: Zustand von Durchnässung, Kälte, Waschen, Zugluft, Klimaanlagen auch im Fahrzeug, Frösteln nach Erhitzen oder wenn verschwitzt, Die Schmerzen sind bei Bewegungsbeginn kurzfristig intensiver, dann bessern sie sich. Ruhe verstärkt die Symptomatik. Z.n. Verstauchung, Verheben (akute Lumbalgie), nach bückender Tätigkeit, nach Mitternacht, im Winter, liegen auf der schmerzhaften Seite, unruhig beim Liegen im Bett. Am.: fortgesetzte Bewegung, Wärme, Hitze, warme Getränke, reiben bzw. massieren der betroffenen Körperteile, liegen auf hartem Untergrund

Bryonia Zaunrübe Berstender, zerschmetternder Kopfschmerz, von frontal nach occipital ausstrahlend. Verheben, Schmerzen des Bewegungsapparates nach Minimaltraumata, wenn jede Bewegung schmerzt. Diese Patienten vertragen weder psychische noch physische Veränderungen. Alles was sich bewegt ist unangenehm! Übelkeit und Schwäche beim Aufsitzen. Großer Durst, trockener Mund. Extrem reizbar bis streitsüchtig. Wollen nur in Ruhe gelassen werden. Agg.: geringste Bewegung, Husten, Essen Am.: Ruhe, Kälte, Druck, Liegen auf der schmerzhaften Seite

Tellurium Schmerzen der Wirbelsäule, Lumboischialgie rechts, Lumbosacralgie ins rechte Bein ausstrahlend, Gefühllosigkeit der Finger beim Strecken der Hände. Scharfe wundmachende Absonderungen mit Geruch nach Knoblauch oder Fischlake. Agg.: Berührung, Erschütterung, Lachen, Niesen, Husten, Bücken, Liegen auf der kranken Seite. Kälte, periodische Schmerzen, die jede Woche auftreten Am.: Essen und Trinken verursacht Halsschmerzen

Staphisagria Stephanskörner Verletzungen durch Schnitt oder Stich, wobei die Wunden lange schmerzhaft empfunden werden. Diese Verletzungen können auch psychischer Natur sein und große seelische Verletzungen hinterlassen. Meist sind dies nachgiebige, sanfte Menschen die ihre Gefühle lange Zeit unterdrücken bis sich der Ärger plötzlich mit Entrüstung und Zorn entlädt.

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Tabakrauch wird schlecht vertragen. Rezidivierende Zystitiden sind häufig ebenso berührungsempfindliche juckende Dermatosen. Agg.: Gemütsbewegungen, Berührung, kalte Getränke, Mittagsschlaf Am.: Wärme, Ruhe

Calendula Ringelblume Außerordentliche schmerzhafte Wunden mit Eiterungstendenz. Ausgezeichnete Wirkung nach Combustionen um eine Keloidbildung zu verhindern. Agg.: Schüttelfrost bei Entzündungen, Erysipel, Verbrennungen, Verbrühungen, feuchtes Wetter, abends Am.: Wärme, vollkommen ruhiges Liegen (DD.: Bryonia), aber auch langsames Umhergehen kann die Beschwerden lindern

Conclusio Dieser Überblick über die therapeutischen Möglichkeiten der klinischen Homöopathie im Rahmen des Schmerzgeschehens dient dem Zweck, einen kleinen Einblick in die Arbeitsweise der homöopathisch tätigen Ärztinnen und Ärzte zu vermitteln. Die genaue Anamnese ist eine Grundvoraussetzung um ein passendes Arzneimittel zu finden. Nicht nur das Krankheitsbild sondern auch der Mensch in seiner Ganzheit bilden die Quelle für das Erfassen der wichtigen Symptome in der Homöopathie. Nicht nur die körperlichen Krankheitserscheinungen sondern auch die seelischen und geistigen Eigenschaften eines Menschen fließen in die Arzneimittelwahl mit ein. Weitere wichtige Kriterien in der Differenzierung der Arzneien sind die verschiedenen Modalitäten, die Art und Weise unter welchen Gegebenheiten eine Symptomatik verbessert oder verschlechtert wird. Dazu zählen auch zeitliche Abläufe, Wettereinflüsse, Temperaturverträglichkeiten oder -unverträglichkeiten. Wichtig sind auf jeden Fall alle Veränderungen einer Person während seines Krankheitszustandes. Die Wahl der Potenz einer Arznei ist im Akutfall sicher nicht von entscheidender Bedeutung. Mit mittleren Potenzen, wie C12 oder D 12 wird meistens das Auslangen gefunden. Bei chronischen Schmerzzuständen ist eine ausführliche Anamnese notwendig, die nicht nur das aktuelle Schmerzgeschehen zum Inhalt hat sondern auch die gesamt Biografie der oder des Patienten. Hier ist der Mensch das zentrale Thema im Rahmen der Arzneimittelfindung. Häufig geben in diesen Fällen die persönlichen Charakteristika des Patienten den Ausschlag zur endgültigen Auswahl der homöopathischen Arznei.

Literatur Allen HC (1999) Leitsymptome der homöopathischen Materia medica. Burgdorf Verlag, Göttingen

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Boericke W (1996) Handbuch der homöopathischen Materia medica. Haug Verlag, Stuttgart Clarke JH, Vint P (2001) Der Neue Clarke. Dr. Grohmann GmbH, Bielefeld Hahnemann S (1995) Die chronischen Krankheiten. Haug Verlag, Stuttgart Mezger J (1995) Gesichtete homöopathische Arzneimittellehre. Haug Verlag, Stuttgart Österreichische Gesellschaft für Homöopathische Medizin (2005) Homöopathie, ein Leitfaden. Wien Österreichische Gesellschaft für Homöopathische Medizin (2003) Homöopathieskriptum, Theorie. Wien Phatak SR (1993) Materia medica of homeopathic medicines. B. Jain Publishers Ltd. Pichler E (2003) Die homöopathische Behandlungsmöglichkeit an der Kinderonkologie im LKH Klagenfurt. Proceedings des Ligakongresses in Graz Pichler E (2004) Homöopathische Behandlung an der Kinderonkologie im LKH Klagenfurt. AHZ (Allgemeine Homöopathische Zeitung) 2 (249): 62–70 Pichler E (2005) Ducomenta Homoeopathica, Bd 25. Verlag W. Maudrich, Wien, S 161–201 RADAR Computerrepertorium 8.0 und 9.0 und 9.1 Schroyens F (1998) Synthesis, Repertorium homoeopathicum syntheticum. Hahnemann Inst. Vermeulen F (1996) Synoptische Materia medica. Kai Kröger Verlag, Groß Wittensee Vermeulen F (1999) Kindertypen in der Homöopathie. Sonntag Verlag, Stuttgart

Aromatherapie und Schmerzbehandlung W. u n d M. S T E F L I T S CH

Allgemeine Aspekte der Aromatherapie Ätherische Öle sind Duftstoffe, die Pflanzen in Form von winzigen Öltröpfchen in Blüten, Blättern, Stängeln und Wurzeln einlagern. Die „Himmlischen Düfte“ befinden sich dort in Ölzellen, Ölgängen, Harzkanälen oder Öldrüsenhaaren. Die Gewinnung der ätherischen, flüchtigen Essenzen scheint schon vor etwa 5000 Jahren gelöst worden zu sein. Archäologen fanden ein mesopotamisches Destilliergerät, das zur Herstellung von Essenzen diente. Und die Ägypter verwendeten 4000 Jahre vor der Zeitwende Essenzen aus Zedernholz, Zimt, Terpentin, Dill, Basilikum und Koriander zur Mumifizierung, zum Heilen und für Kosmetik. Chinesen und Inder stellten zu ältesten Zeiten vor allem Rosenöl, Kalmusöl und Andropogonöl her. Der große Arzt und Alchemist Paracelsus (1493–1541) förderte die Herstellung und den medizinischen Gebrauch ätherischer Öle. Die Aromatherapie ist die Erbin einer Jahrtausend währenden Tradition. Die moderne Aromatherapie beginnt mit dem Mann, der ihr den Namen gegeben hat, Rene Maurice Gattefosse, ein Chemiker und Parfümeur aus Lyon. Seine besondere historische Leistung war es, die verschiedenen Anwendungsformen unter dem Begriff „Aromatherapie“ zusammenzufassen. In seinem wichtigsten Buch „Aromatherapie“ beschreibt er 1937 das gesamte Wissen seiner Zeit über die Heilwirkung ätherischer Öle. Die Gewinnung der ätherischen Öle erfolgt durch Wasserdampfdestillation, Kaltpressung, Enfleurage (Einlegen der Pflanzenteile in Fett, Alkoholextraktion), chemische Lösungsmittel oder Alkohol (Absolues) sowie durch KohlendioxidExtraktion. Man benötigt eine sehr große Menge von Pflanzen zur Herstellung einer kleinen Menge an Essenz. Die ätherischen Öle können in verschiedenen Teilen der Pflanze konzentriert eingelagert sein:

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in den Blüten wie bei Rose, Jasmin, Kamille in den Blättern wie bei Salbei, Melisse, Thymian in den Wurzeln wie bei Kalmus, Angelika, Vetiver in Früchten wie bei Anis, Koriander, Kümmel im Holz wie bei Sandelholz, Zedernholz, Rosenholz in der Rinde wie bei Zimt im Harz wie bei Weihrauch, Myrrhe, Benzoe in der äußersten Fruchtschale wie bei Zitrusfrüchten

Ätherische Öle setzen sich aus einer Vielzahl verschiedener biochemischer Substanzen zusammen. Dieses „Vielstoffgemisch“ mit seiner breit gefächerten Wirkung kann weit über 100 Komponenten enthalten. Die Wirkung der ätherischen Öle ist nur gesichert, wenn qualitativ hochwertige Öle zum Einsatz kommen. Die Aromatherapie folgt den Prinzipien der Naturheilkunde. Sie will die Lebenskraft und Selbstheilungskräfte des Patienten wecken und stärken. Die Essenzen haben tiefe Wirkung auf unser psychisches Gleichgewicht. Sie bewirken eine seelische Umstimmung, regulieren aus der Balance Geratenes und entziehen einer Krankheit den eigentlichen Nährboden. Sie wirken gleichermaßen auf den Körper und die Seele, also im ganzheitlichen Sinne. Die Hauptinhaltsstoffe der ätherischen Öle sind Monoterpene (10 C-Atome), Sesquiterpene (15 C-Atome) und Diterpene (20 C-Atome). An dieses Terpengerüst hängen sich verschiedene funktionelle Alkohol-, Aldehyd- und Ketogruppen, welche die Wirkung der jeweiligen Essenz mitbestimmen. Weitere Inhaltsstoffe sind Oxide, Phenole und Ester. Aus dem Repertoire von Hunderten von duftenden, aromatischen Pflanzen werden nur etwa 700 zur Herstellung von ätherischem Öl verwendet. In der Aromatherapie bedient man sich heute maximal 70 bis 120 verschiedener Essenzen. Wenn man die Essenzen kennen lernen und ausprobieren will, genügen jedoch für den Anfang 5 bis 10 verschiedene ätherische Öle: – Lavendel, Minze, Eukalyptus – eine der vielen Zitrusfrüchte: Zitrone, Orange, Bergamotte, Mandarine, Limette, Pampelmuse – eine der Nadelbäume: Zirbelkiefer, Douglasie oder Zeder – eine der süßen Blumen: Rose, Ylang-Ylang, Neroli, Jasmin oder Geranie – ein Gewürz: Fenchel, Koriander, Dill, Estragon, Kümmel oder Wacholderbeere – ein Holz: Sandelholz, Linaloeholz oder Zedernholz Durch ihre unmittelbare Wirkung auf das Gehirn und von dort aus auf Steuermechanismen regulieren ätherische Öle psychische und physische Vorgänge. Aus diesem Grunde wird das Aufnehmen der Düfte viel über Duftlampe, Aerosolgerät und Inhalation praktiziert. Die flüchtigen ätherischen Öle beeinflussen das Limbische System, den Hypothalamus und das vegetative Nervensystem. Besonders in der Psycho-Aromatherapie gebraucht man diese Anwendungsart zur Linderung von Depressionen, Schlafstörungen, Stress-Symptomen und Angst.

Aromatherapie und Schmerzbehandlung

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Die Essenzen können die Haut durchdringen und über Bindegewebe und Lymphe in den Blutkreislauf eintreten. Von dort aus erreichen sie die ihnen zugeordneten Organe. Über Nieren und Lunge werden sie wieder ausgeschieden. Durch den Kontakt mit der Haut, unserem größten Organ, unterstützen die Essenzen diese in ihrer vielfältigen Funktion. Sie werden in Form von Einreibungen, Bädern und Kompressen verdünnt auf die Haut gebracht und wirken so nicht nur auf die Haut, sondern auch auf Körper und Psyche. Die gebräuchlichsten Anwendungsformen der Aromatherapie sind Raumbeduftung, Inhalationen, heiße und kalte Kompressen, Bäder, SaunaaufgussMischungen, Heilerde sowie Körper-, Massage- und Gesichtsöle. Ätherische Öle besitzen einzigartige Eigenschaften, aus denen sich ihre Wirkungsweise und die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten ergeben. Durch ihre unmittelbare Wirkung auf Zentren im Gehirn und von dort aus auf Steuermechanismen regulieren sie psychische und physische Vorgänge. Aus diesem Grunde wird das Aufnehmen der Düfte über Duftlampe, Aerosolgerät und Inhalation viel praktiziert. Besonders in der Psycho-Aromatherapie gebraucht man diese Anwendungsart zur Behandlung von Depressionen, Schlafstörungen, Stresssymptomen und Angst. Die Essenzen können die Haut durchdringen und über Bindegewebe und Lymphe in den Blutkreislauf eintreten. Von dort aus erreichen sie die ihnen zugeordneten Organe. Über Nieren und Lunge werden sie wieder ausgeschieden. Durch ihren Kontakt mit der Haut unterstützen die Essenzen diese in ihrer vielfältigen Funktion. In Form von Massagen, Bädern und Kompressen wirken ätherische Öle gleichermaßen auf Körper und Psyche. Die Aromatherapie lässt sich mit fast allen anderen Therapien kombinieren. Sie kann schulmedizinische Behandlungsformen ebenso unterstützen wie jede Anwendungsart der Naturheilkunde. Während einer homöopathischen Behandlung sollten jedoch Essenzen aus Kampfer, Minze und Kamille vermieden werden. Im Umgang mit ätherischen Ölen muss besonders die starke Konzentration der Öle und in vielen Fällen die Haut- und Schleimhaut reizende Wirkung beachtet werden. Hier kommt der Leitsatz „weniger ist mehr“ zum Tragen. Essenzen dürfen bis auf wenige Ausnahmen nicht pur verwendet werden, sondern nur in Trägerölen, wie zum Beispiel Mandelöl, Jojobaöl, Nachtkerzenöl, Calendulaöl und Wildrosenöl oder sonstigen Mischungen. Aufgrund ihrer Wirkstärke erfordert die Aromatherapie eine verantwortungsvolle Anwendung mit umfassendem Wissen. Die vielfältigen Möglichkeiten, welche die ätherischen Öle bieten, können bei Anwendungsfehlern schnell ins Negative umschlagen.

Aromatologische Schmerztherapie Schmerzsyndrome spielen in unserer modernen Wohlstandsgesellschaft eine große Rolle. In besonderem Maße sind aber Patienten mit chronischen Erkran-

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W. und M. Steflitsch

kungen, Tumorerkrankungen und Patienten im letzten Lebensabschnitt betroffen. Schmerzen bei Karzinompatienten können durch vielfältige Faktoren ausgelöst werden, zum Beispiel durch Operationen, Nervenschädigung durch Chemotherapie oder Druck von malignen Raumforderungen. Zusätzlich befinden sich Tumorpatienten in einem Zustand verstärkter Ängstlichkeit, wodurch die Schmerzempfindung weiter gesteigert wird. Die Möglichkeit dieser besonders empfindsamen Patientengruppe eine sanfte, nicht bedrohliche und nicht invasive Therapie anzubieten und durch die Wahl von geeigneten ätherischen Ölen sowohl den Schmerz als auch die Psyche günstig zu beeinflussen, bietet eine traditionsreiche und doch neue Qualität in der Komplementärmedizin. Aromatherapie alleine oder in Verbindung mit empathischer Berührung und sanfter Massage entfaltet eine schmerzstillende Wirkung, eine Harmonisierung der vegetativen und psychischen Reaktionen und eine zusätzliche Facette menschlicher Zuwendung. Die „National Guidelines for the use of Complementary Therapies in Supportive and Palliative Care“ (Tavares 2003) in Großbritannien empfehlen die Anwendung von Aromatherapie und Massage für die Schmerzbekämpfung. Wilkinson und Mitarbeiter kamen 1999 in ihrer klinischen Studie an insgesamt 87 Karzinompatienten zu dem Ergebnis, dass Aromatherapie die Effektivität einer Massage in Bezug auf physische und psychische Symptome sowie allgemeine Lebensqualität deutlich erhöhen kann. Corner und Mitarbeiter beobachteten über acht Wochen die Wirkung von Massage mit und ohne Ätherischölmischung auf eine kleine Gruppe von Tumorpatienten. Die Mischung bestand aus Lavendel fein, Rosenholz, Zitrone, Rose und Baldrian. Im Vergleich zur Massage-Gruppe konnte in der Aroma-Massage-Gruppe ein wesentlich größerer Effekt auf das Schmerzsyndrom festgestellt werden. Ätherische Öle zeigen sowohl alleine als auch in Kombination mit einer Massage signifikante Wirkungen wie zum Beispiel Entspannung, Förderung eines erquickenden Schlafes, Erleichterung bei Atemnot, Übelkeit und Schmerzen sowie Verminderung von Arousal-Reaktionen. Zusätzlich sorgen ätherische Öle für einen angenehmen Duft, der unangenehme Gerüche weit in den Hintergrund drängt. Auswahl ätherischer Öle zur Schmerzbekämpfung sowie vegetativen und psychischen Stabilisierung (Jeannie Dyer, Royal Marsden Hospital, London) – – – – – – –

Atlas-Zeder (Cedrus atlantica) Bergamotte (Citrus bergamia) Geranie (Pelargonium x asperum) Grapefruit (Citrus paradisi) Ho-Blätter (Cinnamomum camphora) Lavendel fein (Lavandula angustifolia) Mandarine (Citrus reticulata)

Aromatherapie und Schmerzbehandlung

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Neroli (Citrus aurantium subsp. aurantium flos) Petit Grain (Citrus aurantium subsp. aurantium fol.) Rose (Rosa damascena) Sandelholz (Santalum album) Schwarzer Pfeffer (Piper nigrum) Süßer Majoran (Oreganum majorana) Weihrauch (Boswellia carterii) Ylang Ylang (Cananga odorata)

Zusätzliche ätherische Öle bei chronischen Schmerzen – – – – – – – – – –

Gewürznelke (Syzygium aromaticum) Ingwer (Zingiber officinale) Lemongrass (Cymbopogon flexuosus) Majoran (Origanum majorana) Myrrhe (Commiphora molmol) Pfefferminze (Mentha x piperita) Rosmarin (Rosmarinus officinalis) Speiklavendel (Lavandula latifolia) Verbene (Aloysia triphylla) Wacholder (Juniperus communis)

Spezielle ätherische Öle für die Schmerzbehandlung bei Kindern – – – – – –

Römische Kamille (Chamaemelum nobile) Rosengeranie (Pelargonium graveolens) Mandarine (Citrus reticulata) Neroli (Citrus aurantium subsp. aurantium flos) Palmarosa (Cymbopogon martinii var. motia) Sandelholz (Santalum album)

Die Bedeutung der Einzelduftstoffe Menthol, Methylsalicylat und Eugenol in der Schmerztherapie Menthol, Methylsalicylat und Eugenol sind Schlüsselsubstanzen in der Schmerztherapie, die Bestandteile zahlreicher ätherischer Öle sind. Im Allgemeinen ist es schwierig, die therapeutischen Eigenschaften eines ätherischen Öls in Bezug auf Einzelkomponenten zu diskutieren, da viele andere Inhaltsstoffe über Synergismus und Antagonismus die Gesamtwirkung nachhaltig beeinflussen. In bestimmten Fällen ist es jedoch möglich, dass ein einzelner Hauptwirkstoff eine besondere therapeutische Aktivität dominiert. Und genau das ist der Fall mit den Schlüsselsubstanzen Menthol, Methylsalicylat und Eugenol bei der analgetischen Therapie. Durch eine gezielte Auswahl geeigneter ätherischer Öle kann eine Mischung gefunden werden, die maßgeschneidert für den

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Patienten sowohl den Schmerz bekämpft als auch im Sinne einer ganzheitlichen Medizin günstige Einflüsse auf Körper, Geist und Seele ausübt. Die schmerzstillenden Eigenschaften von Menthol, Methylsalicylat und Eugenol wurden auch bereits von der pharmazeutischen Industrie erkannt und in zahlreichen Präparaten praktisch umgesetzt. Für Aromatherapeuten ist es einfach, diese Schlüsselsubstanzen in der Behandlung mit ätherischen Ölen einzusetzen. Voraussetzung ist allerdings eine genaue Kenntnis der Eigenschaften und Wirkmechanismen.

Menthol Menthol ist ein gesättigter zyklischer Monoterpenoid-Alkohol mit vier Paaren von optischen Isomeren. Das linksdrehende (–)-Menthol-Isomer ist in der Natur weit verbreitet. Es besitzt einen charakteristischen minzigen und erfrischenden Geschmack und Geruch und erzeugt eine kühlende Empfindung auf Haut und Schleimhäuten. Die anderen Isomere von Menthol besitzen nicht diese ausgeprägte kühlende Wirkung, jedoch einen ähnlichen, aber nicht identischen Duft (Eccles et al. 1990). Den größten Gehalt an (–)-Menthol besitzen Mentha x piperita (50–60%) und Mentha arvensis (46–80%) (Clark 1998). Menthol verfügt über mehrere unterschiedliche Mechanismen für die Schmerzbekämpfung. Eine dieser Eigenschaften bezieht sich auf seinen kühlenden Effekt. Im menschlichen Körper werden kleine Abnahmen der Temperatur von Kältefasern Typ A registriert, gefährliche Temperaturabfälle von C-Fasern (Nociceptoren). Menthol reagiert spezifisch mit einer Subpopulation von Kältefasern, die auf Temperaturen zwischen 8 und 28°C anspricht (Jordt et al. 2003). In diesen Nervenzellen wird durch einen Einstrom von Kalzium-Ionen ein Aktionspotential ausgelöst (Braun et al. 1980). Menthol verursacht ein solches Aktionspotential durch Hemmung des Kalzium-Ionen-Efflux (Schäfer et al. 1986, 1991). Dieses Signal löst über die Kältefasern eine Kälteempfindung aus. Diese Reaktion durch Menthol kann einerseits durch eine Modulation (Swandulla et al. 1986) und andererseits durch eine Blockade (Hawthorn et al. 1988) erzielt werden. Eine in vitro Untersuchung weist darauf hin, dass Menthol zusätzlich etwa 35% der Kälte-Nociceptoren Typ C beeinflusst (Thut et al. 2003). Die Kältewirkung von Menthol besitzt einen ähnlichen Effekt wie Kälte-Applikation, zum Beispiel mit kaltem Wasser oder Eis (Melzack et al. 1980), wobei diese Effekte sowohl mit der „Gate Theory“ (Melzack, Wall 1965) als auch mit der Freisetzung von endogenen Opiaten (Kerr, Casey 1976) erklärt werden können. Im Gegensatz zur Kältetherapie beeinflusst Menthol weder die Kälte-induzierte Abnahme der Nervenleitgeschwindigkeit (Goodgold, Eberstein 1977), noch den antispasmodischen Effekt auf das Muskelgewebe (Bell, Lehmann 1987). Von besonderer Bedeutung ist, dass Menthol seinen kühlenden Effekt nur in hoher Verdünnung zeigt. Dabei sollte die Konzentration von Menthol unter 2%

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betragen. Mit einer lokalen Anwendung von Menthol 1% können die Kältefasern Typ A effizient gehemmt werden, wobei Juckreiz (Pruritus) signifikant abnimmt (Bromm et al. 1995). In derselben Untersuchung konnte gezeigt werden, dass die topische Applikation von Menthol 1% auf den Juckreiz denselben Effekt hat wie ein Kältereiz von 4°C. In Konzentrationen über 5% stimuliert Menthol die C-Faser-Nociceptoren und bewirkt eine Schmerzstillung via „Gate Theory“ und Opiat-Freisetzung. Außerdem trägt die Vasodilatation und lokale Erwärmung – ähnlich einer Wärmetherapie – zur Schmerzbekämpfung bei (Lehmann, Lateur 1982). Die topische Applikation einer Mischung aus Eukalyptus-Öl und -Menthol 15% führt zu einer signifikanten Steigerung der kutanen Perfusion und muskulären Temperatur (Hong, Shellock 1991). Lokal im Kopfbereich angewandtes Menthol erhöht den Blutfluss in Hautkapillaren (Göbel et al. 1995). Neben den kühlenden und stimulierenden Eigenschaften besitzt Menthol auch lokalanästhetische Wirkungen, indem es die Transmission in Schmerzfasern reversibel blockiert. In dieser Funktion sind (–)- und (+)-Menthol-Isomere gleichwertig (Galeotti et al. 2001). In der US Pharmacopoeia sind zahlreiche Mentholhältige Präparate als Lokalanästhetika registriert (Hendriks 1998). Topisch angewandte Mentha x piperita führt hauptsächlich durch zentralnervöse Wirkungen zu einer signifikanten Verminderung von ischämisch induzierten Kopfschmerzen (Göbel et al. 1995). Oral verabreichtes (–)-Menthol bewirkt eine Analgesie durch Aktivierung des zentralen Opioid-Systems (Galeotti et al. 2002). Pfefferminze besitzt aufgrund seiner starken antispasmodischen Eigenschaft eine lange Tradition in der Behandlung von Verdauungsstörungen (Taylor et al. 1984). Die orale Gabe von Pfefferminze allein oder in Kombination mit Kreuzkümmel (Carum carvi) zeigt eine signifikante Schmerzreduktion bei „Irritable Bowel Syndrome“ (IBS) (Dew et al. 1984) und non-ulcer Dyspepsie (May et al. 1996). Als Kalziumkanalblocker besteht bei Menthol die Möglichkeit, dass die Wirkungen von Nifedipin und anderen pharmakologischen Kalziumkanalblockern, zum Beispiel bei der Therapie der Angina pectoris, potenziert werden (Harkness, Bratman, 2003). Aufgrund seiner choleretischen und cholagogen Eigenschaften (Rangelov et al. 1988) sollte Menthol bei Obstruktionen der Gallengänge und bei Cholecystitis oral nicht verwendet werden. Menthol-hältige ätherische Öle dürfen im Gesicht von Babys und Kleinkindern nicht verwendet werden, da die Möglichkeit von laryngealen Spasmen und respiratorischem Kollaps besteht (Melis et al. 1989). Außerdem kann Menthol bei schwerem Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel nicht metabolisiert werden (Olowe und Ransome-Kuti 1980). Mit einer oralen LD50 von 3,0 g/kg (Tiere) kann Menthol als nicht toxisch bezeichnet werden. Sein Sensibilisierungspotential ist niedrig (Opdyke 1976).

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Methylsalicylat In einer erstaunlich großen Zahl von Pflanzen, einschließlich Äpfel und Weintrauben, finden sich zumindest Spuren des aromatischen Esters Methylsalicylat, aber die Hauptquellen sind Wintergrün (Gaultheria procumbens) und Süße Birke (Betula lenta). Da in diesen beiden Pflanzen Methylsalicylat als Glukosid vorliegt, wird als erster Gewinnungsschritt das Pflanzenmaterial mazeriert, um die enzymatische Hydrolyse zu erleichtern. Das durch Wasserdampfdestillation gewonnene ätherische Öl enthält 99,0 bzw. 99,8% Methylsalicylat (Clark 1999). Die Intensität des kutanen Erythems, ausgelöst durch die reizende Wirkung von Methylsalicylat, korreliert mit der Salicylat-Konzentration im lokalen Venenblut (Collins et al. 1984). Ab einer Methylsalicylat-Konzentration über 1% beginnt die Haut spürbar zu brennen. Der Schwellenwert für hitzebedingte Schmerzen sinkt ab einer Konzentration von 6%. Methylsalicylat wirkt somit auf C-FaserNociceptoren und auf A-Faser-Wärme-Rezeptoren (Green, Flammer 1989). In der Haut wird Methylsalicylat in Salicylsäure, welche auch ein aktiver Bestandteil von Aspirin® ist, umgewandelt (Behrendt, Kampffmeyer 1989). Dieser Umwandlungsprozess findet vor allem in der Epidermis statt, in geringerem Ausmaß in tieferen Hautschichten. Durch direkte Penetration erreicht die Salicylsäure das subkutane Gewebe (Megwa et al. 1995). Methylsalicylat 12,5% Creme wurde von 10 cm2 rasch aufgenommen. Innerhalb einer Stunde konnten Salicylsäure-Plasmaspiegel zwischen 0,31 und 0,91 mg/l gemessen werden. Nach der siebenten Applikation in zwölf Stunden konnten Plasmaspiegel von 2 bis 6 mg/l erreicht werden (Morra et al. 1996). In normalen Dosierungen beträgt die Plasmahalbwertzeit für Salicylat rund 12 Stunden, in hohen Dosen jedoch 15 bis 30 Stunden. Bei wiederholter Anwendung besteht deshalb die Gefahr einer Akkumulation (Gilman et al. 1990). 5 ml Methylsalicylat sind etwa 14 Tabletten Aspirin® 500 mg äquivalent (Johnson, Welsh 1984). Acetylsalicylsäure und Methylsalicylat sind Cyclooxygenase (COX) Inhibitoren und interagieren auch mit chemischen Mediatoren des Kallikrein-Systems, woraus sich analgetische und antiinflammatorische Wirkungen ergeben (Katzung 2004). Nicht alle Ester der Salecylsäure besitzen die gleichen Eigenschaften. Nach einer topischen Applikation von Methylsalicylat sind die Salicylsäure-Spiegel in der Cutis und Subcutis wesentlich höher als bei Verwendung von Triethanolamin-Salicylat (Cross et al. 1997). Methylsalicylat steigert per se den dermalen Blutfluss. In Tiermodellen kann mit der topischen Applikation von 1 g Methylsalicylat 20% Creme ein Salicylat-Plasmaspiegel von über 300 g/ml erreicht werden. Bereits bei Plasmaspiegel von 150 g/ml wird die Produktion von Prostaglandin E um 50% vermindert. Therapeutische Dosen sind in der Haut, im Unterhautfettgewebe und im oberflächlichen Muskelgewebe nachweisbar (Cross et al. 1999). Die perkutane Absorption von Methylsalicylat kann durch Wärmeapplikation aufgrund einer Steigerung von Hauttemperatur, Blutfluss und Hydration um den Faktor 3 erhöht werden (Danon et al. 1986).

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Die Anwendung von Methylsalicylat sowie den ätherischen Ölen Wintergrün und Birke sollte fachkundigen Experten vorbehalten bleiben. In den USA gibt es 14 OTC-Präparate, die bis zu 30% Methylsalicylat enthalten (Valdez et al. 1999). In Asien finden sich sogar Präparate mit einer Methylsalicylat-Konzentration bis zu 67% (Chan 2002). Durch exzessive Verwendung dieser Präparate bzw. Kombination mit Wärme oder Okklusivverbänden sind Intoxikationen aufgetreten (Heng 1987; Bell, Duggin 2002). Die größte Intoxikationgefahr geht jedoch von einer oralen Ingestion von Methylsalicylat aus, die auf keinen Fall empfohlen werden kann. Die Salicylat-Intoxikation wird als Salicylismus bezeichnet. Hauptsymptome sind Kopfschmerzen, Tinnitus, Schwindel, Verwirrtheitszustände, Erschöpfung sowie gelegentlich Übelkeit und Erbrechen. In der Folge kann es auch zu Hyperthermie, Konvulsionen, Nierenversagen, Bewusstlosigkeit und Tod kommen. Leichte Vergiftungserscheinungen treten ab 150 mg/kg Methylsalicylat auf, schwere ab 400 mg/kg Körpergewicht (Amdur et al. 1991). Die akute dermale Toxizität bei Tieren liegt bei Werten über 5 g/kg (Moreno 1973). Eine Intoxikation über die Haut kann nur bei unsachgemäßer Anwendung auftreten. Methylsalicylat ist ein sehr effektives lokales Analgetikum und ideal für die Kurzzeittherapie von akuten Schmerzen. Die Anwendung von kleinen Mengen von Wintergrün und Birke über einen kurzen Zeitraum erlaubt eine sichere und zuverlässige Lokaltherapie eines weiten Spektrums von Schmerzsyndromen. Methylsalicylat-hältige ätherische Öle oder Präparate dürfen nicht bei Aspirin®-sensiblen Asthmatikern, bei Gicht (Rang et al. 2000) oder bei Kindern mit Virusinfektionen, aufgrund der Assoziation zwischen Aspirin® und Reye Syndrom, angewendet werden. Durch Hemmung der renalen Clearance erhöhen Salicylate die Toxizität von Methotrexat (Katzung 2004). Methylsalicylat potenziert die Wirkung von Warfarin und ist als COX Inhibitor bei bestehender Antikoagulation kontraindiziert (Joss und LeBlond, 2000). Da Salicylate die Plazenta-Barriere durchbrechen können, sollte ihre Anwendung während der Schwangerschaft vermieden werden. Babys von Müttern, die während der Schwangerschaft über einen längeren Zeitraum Salicylate eingenommen haben, weisen ein signifikant geringeres Geburtsgewicht auf (Gilman et al. 1990).

Eugenol Der Phenylprobanoid-Ether Eugenol, der auch eine funktionelle HydroxylGruppe enthält, ist ein Hauptinhaltsstoff von Syzygium aromaticum (70–95%), Cinnamomum zeylanicum fol. (70–90%), Pimenta dioica (60–95%) und Pimenta racemosa (38–75%). Eugenol besitzt mehrere Eigenschaften, die sich günstig auf die Schmerzbekämpfung auswirken. In vitro verursacht Eugenol als entkoppelnder Wirkstoff eine dosisabhängige Hemmung des mitochondrialen Atemzyklus. Es trennt Komponenten des Elektronentransports von der Phosphorilation. Dadurch kommt es zu einem Mangel an Adenosin-Triphosphat (ATP) (Kotmore et al. 1979; Usta et al. 2002). Bei Kon-

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zentrationen von 10–2 M kann Eugenol innerhalb von 14 Minuten Zellen abtöten (Hume 1984). In Neuronen bewirkt ein ATP-Mangel im Rahmen des aktiven Transportes durch die Na+/K+-Pumpe eine Verminderung des Konzentrationsgradienten und somit einen Verlust der Fähigkeit, Aktionspotential zu erzeugen (Fox 2004). Eugenol besitzt deshalb Eigenschaften eines Lokalanästhetikums. Konventionelle Lokalanästhetika wirken durch eine reversible Bildung an spezifische Stellen innerhalb des Na+-Kanals. Die analgetische Wirkung von Eugenol beruht auch auf einer Beeinflussung von afferenten Nervenendungen, ähnlich der Wirkung von Capsaicin (Patacchini et al. 1990). Eugenol stimuliert ebenso wie Capsaicin die Freisetzung der Substanz P (Shibata et al. 1994). Die analgetische Aktivität von Eugenol kann durch spezifische Antagonisten des Capsaicin-Rezeptors blockiert werden (Ohkubo und Shibata 1997). Diesen Rezeptor findet man auf nicht myelinisierten nociceptiven C-Fasern und gering myelinisierten nociceptiven A-Fasern, die in der Regel auf Temperaturen über 43 °C ansprechen (Jordt et al. 2003). Im Gegensatz zu Menthol verursacht Eugenol Aktionspotentiale vor allem durch Aktivierung von Kalzium-Ionenkanälen und nachfolgendem Einstrom von Kalzium-Ionen und in wesentlich geringerem Maße durch Hemmung des Ca+2 Efflux (Ohkubo, Kitamura 1997). Diese Reizwirkung löst immer eine Wärmeempfindung aus, ganz im Gegensatz zur Kälteempfindung durch Menthol in niedriger Konzentration. Zusätzlich zur Vasodilatation durch eine Reizwirkung vermag Eugenol auch auf direktem Wege eine lokale Gefäßerweiterung auszulösen. Dieser direkte Wirkmechanismus beruht auf einer Blockade von Spannungs-sensitiven und Rezeptor-abhängigen Kanälen im vaskulären Gewebe (Damiani et al. 2003). Eugenol konnte im Rahmen von in vitro und in vivo Studien eine ausgeprägte antiinflammatorische Aktivität demonstrieren. In Tiermodellen bewirkte die intraperitoneale Applikation von Eugenol eine signifikante Reduktion des zirkulierenden Prostaglandin E (PGE). In vitro führte die Applikation von 6,6 x 10–4 mol/l Eugenol auf polymorphkernige Zellen zu einer signifikanten Abnahme der PGE-Produktion. In niedrigen Konzentrationen vermag Eugenol jedoch die PGEProduktion zu steigern (Fotos et al. 1988). Eugenol beeinflusst die PGE-Produktion einerseits durch Hemmung der COX-Aktivität (Thompson, Eling 1989), andererseits durch Suppression von COX-2-Genen in stimulierten Makrophagen (Kim et al. 2003). Niedrige EugenolKonzentrationen erhöhen die COX-Aktivität. Die Applikation von Eugenol-reichen ätherischen Ölen in hohen Verdünnungen oder auch die Verwendung von ätherischen Ölen mit geringem Eugenol-Gehalt besitzt die Potenz Entzündungsprozesse anzuheizen. Die orale Gabe von Eugenol senkt die Kallikrein-Spiegel im Synovial-Gewebe von arthritischen Gelenken (Sharma et al. 1997). Freie Radikale, die hauptsächlich von phagozytierenden Leukozyten stammen, bewirken zusätzlich zu ihrer direkten Toxizität eine Entzündungsreaktion (Conner, Grisham 1996). Eugenol besitzt hingegen starke antioxidative Eigenschaften, woraus sich ebenfalls seine antientzündliche und analgetische Wirkung erklärt (Tsujimoto et al. 1993; Naidu 1995; Wie et al. 1997).

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Tabelle 1. Analgetische Eigenschaften von Menthol (M), Methylsalicylat (MS) und Eugenol (E) Aktivität

M

MS

E

Kühlwirkung

ja

-

-

Reizwirkung

ja

ja

ja

Lokalanästhesie

ja

-

ja

Entzündungshemmung

-

ja

ja

Vasodilatation

-

-

ja

Antioxidative Wirkung

-

-

ja

Antispasmodische Wirkung

ja

-

ja

Während einer Entzündung oder Gewebeschädigung werden Adenosin und seine Phosphat-Derivate, einschließlich ATP, freigesetzt und strömen auch in den intrazellulären Raum, wo sie Nociceptoren aktivieren (Burnstock 1997) und Schmerz induzieren (Bleehan, Keele 1977). Die Wirkung von Eugenol auf die ATP-Bildung kann diese Mechanismen bremsen. Durch seinen Einfluss auf PGE-Spiegel kann Eugenol den Tonus im intestinalen und uterinen Gewebe vermindern. Dieser Effekt konnte zumindest in vitro nachgewiesen werden (Bennett et al. 1988). Die Verwendung von Eugenol besitzt eine lange Tradition in der Zahnheilkunde (Zinkoxid-Eugenol [ZOE]). Durch den Konzentrationsgradienten von Eugenol zwischen Dentin und Zahnfleisch ist die Applikation von Eugenol für die Behandlung von Zahnschmerzen sicher und zuverlässig (Markowitz et al. 1992; Hume 1984). Die direkte Applikation von hohen Eugenol-Konzentrationen auf die Mundschleimhaut sollte hingegen wegen des Risikos von Zelltod und Nekrosen vermieden werden. Der unbeabsichtigte Kontakt von Gewürznelkenöl mit dem Gesicht eines Patienten bei dem Versuch unverdünntes Öl auf einem schmerzenden Backenzahn zu träufeln führte durch einen direkten neurotoxischen Effekt zu einer permanenten lokalen Anästhesie (Isaacs 1983). Da Eugenol ein COX-Inhibitor ist, sollten Eugenol-reiche ätherische Öle nicht gemeinsam mit einer Antikoagulation verwendet werden. Außerdem beeinflusst Eugenol auch den „platelet activating factor“ (Saeed et al. 1995). Obwohl einige Literaturzitate behaupten, Eugenol wäre hepatotoxisch, gilt dies nur für eine orale Einnahme von extrem hohen Dosen. Tierversuche, in denen die Tiere oral 79,3 mg Eugenol pro Kilogramm Körpergewicht für 12 Wochen erhielten, zeigten keine unerwünschten Nebenwirkungen (Joint FAO/WHO 1967). Die verwendete Dosis von Eugenol entspricht 5 ml für einen erwachsenen Menschen. Das Sensibilisierungspotential von Eugenol kann vernachlässigt werden. Die Prüfung von Eugenol 8% auf menschlicher Haut zeigte keine Sensibilisierungsreaktion (Kligman 1971). Patienten mit allergischer Kontaktdermatitis reagierten zu 1,2% überempfindlich auf Eugenol (Guisti et al. 2001).

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Ausgewählte Beispiele für analgetische Aromaölmischungen (nach Janetta Bensouilah, Cobham, UK) Anti-Schmerz-Mischung 1: Neuralgie und Rheumatismus Majoran (Origanum majorana) Schafgarbe (Achillea millefolium) Thymian (Thymus vulgaris Ct. Thymol) Basilikum (Ocimum basilicum Ct. Linalool) Lavendel fein (Lavandula angustifolia)

20% 25% 15% 20% 20%

Diese Mischung wird in einer Konzentration von 30% in das fette Trägeröl Johanniskraut eingebracht. Traditionelle Anwendungen umfassen Neuralgien, Weichteilrheumatismus, Ischias-Neuralgie sowie allgemein lokale Schmerzen und Entzündungen (Mills, Bone 2000). Die Auswahl dieser ätherischen Öle erfolgte primär auf der Basis ihrer antientzündlichen und analgetischen Eigenschaften, insbesondere Lavendel und Schafgarbe (Schnaubelt 1998; Price 1999). Basilikum wurde wegen seiner analgetischen und emotional stimulierenden Eigenschaften aufgenommen (Price 1999; Rose 1999).

Anti-Schmerz-Mischung 2: Nächtliche Schmerzbekämpfung Ingwer (Zingiber officinalis) Zimtblätter (Cinnamomum zeylanicum) Römische Kamille (Chamaemelum nobile) Patchouli (Pogostemon patchouli) Lavendel fein (Lavandula angustifolia)

30% 20% 10% 10% 30%

Diese Mischung wird in einer Konzentration von 30% in das fette Trägeröl Johanniskraut eingebracht. Besonders geeignet ist diese Mischung für die Schmerzbekämpfung in der Nacht. Diese Anti-Schmerz-Mischung besitzt zusätzlich einen starken psychologischen Input, insbesondere aufgrund der kraftvollen Eigenschaften von Römischer Kamille und Patchouli für die geistig-emotionale Beruhigung und von Lavendel mit seinen analgetischen und sedativen Effekten (Hardy et al. 1995). Zimt und Ingwer besitzen gute wärmende und analgetische Wirkungen.

Anti-Schmerz-Mischung 3: Analgesie und Entzündungshemmung Ingwer (Zingiber officinalis) Pfefferminze (Mentha x piperita) Gewürznelke (Syzygium aromaticum) Lavendel fein (Lavandula angustifolia)

25% 10% 10% 55%

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Diese Mischung wird in einer Konzentration von 30% in das fette Trägeröl Johanniskraut 25% eingebracht. Diese wärmende Mischung eignet sich für die Behandlung zahlreicher entzündlicher Schmerzsyndrome. Ingwer und Gewürznelkenblüte strahlen Wärme ab und überzeugen durch ihre ausgeprägten analgetischen und antiinflammatorischen Eigenschaften (Sharma et al. 1997). Pfefferminze (Göbel et al. 1994; Rose 1999) und Lavendel (Schnaubelt 1998; Price 1999) entfalten in dieser Mischung besonders gut ihre analgetischen Effekte.

Anti-Schmerz-Mischung 4: Muskulo-ossäre Schmerzsyndrome Ingwer (Zingiber officinalis) Lorbeer (Laurus nobilis) Schwarzer Pfeffer (Piper nigrum) Majoran (Origanum majorana)

30% 30% 10% 30%

Diese Mischung wird in einer Konzentration von 25% in das fette Trägeröl Johanniskraut 20% und süßes Mandelöl 80% eingebracht. Lorbeer besitzt ausgezeichnete analgetische Eigenschaften, die sich besonders gut auf Erkrankungen der Muskulatur und des Skelettsystems auswirken (Mojay 1996). Schwarzer Pfeffer wirkt aufgrund seiner analgetischen und irritativen Eigenschaften (Price 1999). Majoran sorgt durch eine Vasodilatation für Wärme und einen leichten hypotensiven Effekt (Mojay 1996; Price 1999; Valnet 1980; Davis 1988).

Anti-Schmerz-Mischung 5: Muskulo-ossäre Schmerzsyndrome Lemongrass (Cymbopogon flexuosus) Majoran (Origanum majorana) Gewürznelke (Syzygium aromaticum) Lavendel fein (Lavandula angustifolia)

10% 30% 10% 50%

Diese Mischung wird in einer Konzentration von 25% in das fette Trägeröl Johanniskraut 20% und süßes Mandelöl 80% eingebracht. Lemongrass besitzt gut analgetische und antinociceptive Eigenschaften (Lorenzetti et al. 1991; Clarke, 2002; Vianna et al. 2000). Gewürznelke und Lavendel wirken analgetisch und antientzündlich. Durch die Beigabe von Lavendel können zusätzlich mögliche Hautreizungen durch Gewürznelke und Lemongrass vermieden werden.

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Aromatherapie und Schmerzbehandlung

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Link-Empfehlungen www.aromapflege.at www.aromapraxis.de www.aroma-life.at www.forum-essenzia.org

Gesundheitsmodulation durch Nahrungsinhaltsstoffe W. K UL L I CH

Immunmodulatorische Effekte von Nahrungsinhaltsstoffen Das Immunsystem ist auf die exogene Zuführ sämtlicher essentieller Nährstoffe, aber auch sekundärer Pflanzenstoffe angewiesen, damit alle für die Abwehr grundlegenden Immunmechanismen ordnungsgemäß ablaufen. Interferon-H ist ein potenter Stimulus für Monozyten/Makrophagen zur Bildung und Freisetzung reaktiver Sauerstoffmoleküle (ROS) als Teil der zytotoxischen und antimikrobiellen Aktivität dieser Zellen. Daneben werden auch weitere entzündungsanregende Zytokine bzw. Chemokine gebildet. Die mögliche Risikominderung durch alternative therapeutische Strategien ist heute vermehrt im Interesse der wissenschaftlichen Forschung, vor allem die Applikation von antioxidativ wirksamen Nahrungsinhaltsstoffen, Vitaminen bzw. Mikronährstoffen, um dem oxidativen Stress bzw. der oxidativen Schädigung entgegen zu wirken und damit Entzündungsvorgänge bzw. damit verbundene schmerzhafte entzündliche Erkrankungen zu hemmen. Allerdings die Behandlung von Patienten mit einer Monotherapie von antioxidativen Vitaminen wie B-Tocopherol bzw. Vitamin C ergaben durchaus divergente Ergebnisse (Lonn, Yusuf 1997; Dagenais et al. 2000). Metaanalysen zeigten eher ernüchternde Resultate, das Fortschreiten von Krankheiten konnte durch Applikation von einzelnen Vitaminen nicht wirklich günstig beeinflusst werden (Vivekananthan et al. 2003). Dem gegenüber ist die Erforschung der Wirkung alternativer, also „natürlicher“, antioxidativ wirksamer Substanzen, vor allem der Polyphenole und Flavonoide in der Ernährung, in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Antioxidative Inhaltsstoffe, wie die Anthocyanine (Delphinidin), Proanthocyanidine, monomere Flavonole, Flavonole (Quercetin) und Phenolsäuren ebenso wie Stilbene-Derivate (z.B. Resveratrol) könnten bei Oxidationsprozessen, die durch erhöhte Radikalbildung im Rahmen entzündlicher Reaktionen auftreten,

462

W. Kullich

entgegenwirken (Sperl 2001; Paredes et al. 2002; Fuhrman, Aviram 2001). Polyphenole werden von verschiedenen Pflanzen, wie z.B. Obst, Teepflanzen, Kakaopflanzen, etc. gebildet und sind vor allem in deren Blättern und der Schale der Früchte vermehrt zu finden (Boyer, Liu 2004; Proteggente et al. 2002). Auch Flavonoide zeigen starke antioxidative Kapazitäten und können dadurch die Oxidation von Lipoproteinen und anderen chemisch und enzymatisch mediierten Oxidationsreaktionen vermindern. In Hinblick auf den Arthroseschmerz ist die Fähigkeit von Flavonoiden hemmend auf die Bildung von Prostaglandinen bzw. Cyklooxigenasen einzugreifen von Interesse. Gerritsen et al. (1995) fanden eine durch Flavonoide induzierte Hemmung des proinflammatorischen Zytokins IL-1 sowie eine Beeinflussung der Leukozytenadhäsion an Endothelien, was klar auf eine entzündungshemmende Potenz weist. Zusätzlich dürften Flavonoide durch Stimulation der Prolin-Hydroxylierung den Kollagenstoffwechsel beeinflussen (Havsteen 1983). Inwieweit Resultate von in vitro-Experimenten aussagekräftig sind, hängt u.a. von den erreichbaren Konzentrationen der Wirkstoffe in vivo ab. Man kann aber zumindest davon ausgehen, dass die Nahrungsmittelinhaltsstoffe im Gastrointestinaltrakt unkonjugiert und in ausreichend hohen Konzentrationen vorliegen können, sodass Antioxidantien vor allem im Gastrointestinaltrakt wirksam sein können (Halliwell et al. 2000). Die antioxidative Kapazität dieser Substanzen dürfte für die Aufrechterhaltung oder Verschiebung des Redoxgleichgewichts im Gastrointestinaltrakt besonders relevant sein, was auch für das Redoxgleichgewicht des gesamten Organismus entscheidenden Einfluss haben könnte. Die derzeitigen Kenntnisse über sekundäre Pflanzenstoffe mit immunodulierender Wirkung – überwiegend aus Tierversuchen – deuten auf die Bedeutung einer Aufnahme von Carotinoiden, Flavonoiden, Saponinen, Phytinsäure und Sulfiden mit der Nahrung für eine gesundheitsfördernde Modulation des Immunsystems hin.

Peroxidation und ihre Folgen Freie Radikale Der Begriff „Freies Radikal“ bezeichnet Atome oder Moleküle mit ein oder mehreren ungepaarten, so genannten freien Elektronen, die als einzelnes ein Atombzw. Molekülorbital besetzen. Es existiert eine Fülle von chemischen und biologischen Radikalen. Ungepaarte Elektronen können mit einer großen Bandbreite an Atomen und Molekülen assoziiert sein (Fang et al. 2002). Beispielsweise oxidieren Thiol-Gruppen (R-SH) in Anwesenheit von Metallionen und bilden Thiyl Radikale (RS˙): RSH + Cu2+ n RS˙ + Cu+ + H+. Diese Thiyl Radikale können Reaktionen mit Sauerstoff oder NADH eingehen und weitere Radikale bilden. Freie Radikale entstehen während physiologischer Stoffwechselprozesse im Körper (Atmungskette in den Mitochondrien, Immunsystem etc.). Bei den ROS (reaktive oxygen species) handelt es sich um reaktive Sauerstoffverbindungen.

Gesundheitsmodulation durch Nahrungsinhaltsstoffe

463

Tabelle 1. Biologische reaktive Sauerstoffspezies (ROS) (nach Löffler und Petrides 2003) Spezies

Name

Bemerkung

O2˙¯

Superoxidradikal

Produkt vieler Autooxidationsreaktionen

HO2˙

Perhydroxyl – Radikal

Protoniere Form von O2˙¯

H2O2

Wasserstoffperoxid

Zwei-Elektronen-Reduktionszustand, häufig enzymatisch gebildet

HO˙

Hydroxylradikal

Drei-Elektronen-Reduktionszustand, Entstehung metallkatalysiert

RO˙

R-Oxyl-Radikal

Organisches Radikal; z.B. als Alkoxylradikal bei Lipidperoxidation gebildet

ROO˙

R-Peroxyl-Radikal

Organisches Radikal; z.B. als Alkylperoxylradikal bei Lipidperoxidation gebildet

ROOH

R-Hydroperoxid

Protonierte Form von Peroxylradikalen; z.B. Lipidperoxid

Bei der Zunahme des oxidativen Stresses durch ROS wird ein hochentwickeltes Abwehrsystem mit Bildung antioxidativer Enzyme, zur Vermeidung von Zellschäden, in der Aktivität gesteigert (Superoxiddismutase, Glutathionperoxidase, Glutathion-S-Transferase). Zusätzlich wird das Abwehrsystem durch exogene Antioxidantien unterstützt, die mit der Nahrung aufgenommen werden (Flavonoide, Vitamine, Mikronährstoffe etc.) (Young, Woodside 2001).

Luftverunreinigungen – Rauch Luftschadstoffe aus Industrie und Verkehr aber auch Zigarettenrauch enthalten abgesehen von den radikalischen Sauerstoffverbindungen eine große Anzahl an weiteren freien Radikalen, also Substanzen, die akute und chronische Wirkungen auf den menschlichen Körper ausüben. Tabakrauch enthält knapp 1014, zum Großteil radikalisch wirkende heterogene Partikel, aufgeteilt in Partikel- und Gasphase (Aerosol). Die Partikelphase enthält etwa 3500, zum Teil mutagen und kanzerogen wirkende Substanzen. Diese führen in biologischen Systemen zu Redoxreaktionen und somit zur Produktion weiterer freier Sauerstoffradikale (O2¯, H2O2) (Heitzer, Meinertz 2005). Ozon (O3) ist ein weiterer Vertreter aus der Klasse der Luftschadstoffe. Neben seinem Schutz gegen die UV-Strahlung in größeren atmosphärischen Höhen, stellt Ozon in der erdnahen Atmosphäre ein starkes Oxidans dar und begünstigt die Oxidation von Lipiden (Lipidperoxidation) (Halliwell, Gutteridge 1999). Bei hoher Belastung mit Luftschad