Nationales oder kosmopolitisches Europa? Fallstudien zur Medienöffentlichkeit in Europa
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Zitiervorschau

Melanie Tatur · Empiriepraktikum Frankfurt Nationales oder kosmopolitisches Europa?

Melanie Tatur Empiriepraktikum Frankfurt

Nationales oder kosmopolitisches Europa? Fallstudien zur Medienöffentlichkeit in Europa

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Anke Vogel, Ober-Olm Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16317-8

Inhalt Inhalt

Vorwort.................................................................................................................. 7 Melanie Tatur Nationales oder kosmopolitisches Europa? Einleitung zu und Schlussfolgerungen aus den Fallstudien................................................................ 9 Johanna Rehner, Sophie Schmitt, Melanie Tatur Transnationale Diskursgemeinschaften? – „Europa“ als Hintergrunddebatte der Irakkrise 2003 in linksliberalen Medien in Deutschland und Großbritannien..................................................................... 71 Beate Janosz, Wolfgang Hessberger, Melanie Tatur Diskursive Generierung „europäischer Identität“? Resonanzen auf die Habermas/Derrida Initiative in Deutschland und Polen...................................... 97 Claudia Butter Getrennt vereint? – Die Debatte um die Europäische Verfassung in den drei großen Ländern der EU .............................................................................. 119 Melanie Tatur „Europa“ als Gegenstand nationaler Mobilisierung und Demobilisierung – Der Brüsseler Gipfel 2007 zum „Reformvertrag“ in der deutschen, französischen, britischen und polnischen Presse............................................... 173 Henrike Garl EU-Erweiterung nach „Kleinasien“ ? Medien-Debatten um den Türkei-Beitritt in Deutschland und Frankreich ................................................. 203

Matthias Hofferberth Die öffentliche (Nicht-)Wahrnehmung der EU als Akteur in der Außen- und Sicherheitspolitik ........................................................................... 211

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Inhalt

Claudia Rode Einbettung und Vernetzung ? Allgemeine und Expertenöffentlichkeit – in der Debatte über die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP) .................................................................................. 223 Rüdiger Henkel Das Europäische Sozialmodell in Debatten des Europäischen Parlaments ...... 237 Yana Kavrakova Das bulgarische Geschichtsverständnis im Spannungsfeld sowjetischer Vergangenheitsmythen und europäischer Lesart............................................... 253 Jonas Grätz Zwischen Macht- und Ordnungspolitik: Russländische Mediendiskurse über die „orangene Revolution“ ........................................................................ 263

Vorwort Vorwort

Die in diesem Band vorgelegten Fallstudien sind aus Empiriepraktiken für Studierende der Frankfurter Goethe Universität entstanden. Angeregt wurde ich zu diesen Lehrveranstaltungen durch die Erfahrung von inkompatiblen Diskurswelten, die ich in der Zeit vor dem Irakkrieg 2003 als Medienkonsument in Deutschland und Polen gemacht habe. Ich bin Mitte der siebziger Jahre als „68erin“ ins sozialistische Polen gekommen und habe seither als Transmigrantin zwischen Deutschland und Polen gelebt. Unter solchen Lebensbedingungen habe ich „Fremdheit“ als Chance begriffen, meine Gewissheiten in Frage zu stellen und die Bedingungen meines Denkens zu verstehen. Dies ist die Perspektive, aus der heraus ich die deutsche Debatte um „europäische Öffentlichkeit“ gelesen habe. Ich danke allen Studierenden, die diese Arbeit ermöglicht haben, d.h. auch denjenigen, deren Arbeiten nicht zur Veröffentlichung ausgewählt wurden. Ich danke Martin Kacprzycki für Hilfe bei der Korrektur und Claudia Sabic, Enikö Baga und insbesondere Jonas Grätz für wertvolle inhaltliche Anregungen. Melanie Tatur

Nationales oder kosmopolitisches Europa? Einleitung zu und Schlussfolgerungen aus den Fallstudien Melanie Tatur Nationales oder kosmopolitisches Europa?

Die im Titel formulierte Frage lässt sich auf drei Ebenen stellen. Sie bezieht sich auf empirisch auszumachende Entwicklungstendenzen sowie auf den konzeptionellen und normativen Bezugsrahmen, in dem wir Daten erheben und erörtern wollen. Empirisch geht es darum, Hinweise dafür zu suchen, inwieweit nationale Mediendebatten in Europa sich angleichen oder divergieren, inwieweit sie interagieren oder für nationale Sichtweisen und Interessen mobilisieren. Konzeptionell geht es darum, als was „europäische Medienöffentlichkeit“ paradigmatisch zu fassen ist: als ein diskursiv herzustellender „Raum“ oder als national fragmentierte Arenen symbolischer Machtkämpfe. Normativ geht es darum, ob wir „europäische Öffentlichkeit“ als einen Kommunikationsraum in Analogie zur Nation konzeptualisieren sollen, oder ob wir sie als „transnationale Öffentlichkeit“, d.h. als Interaktionszusammenhang, der durch die Herausbildung kosmopolitischer Kompetenzen ermöglicht wird, vorstellen sollen. Ziel dieser Einleitung ist zunächst, in die deutsche Debatte über „europäische Öffentlichkeit“ und die von ihr angeregte empirische Forschung einzuführen. Die Skizze der Debatte um ein „Demokratie- und Öffentlichkeitsdefizit“ der EU bzw. einer „europäische Öffentlichkeit in nascendi“ ist auf den unterliegenden Paradigmenwechsel vom liberalen zum „deliberativen“ Demokratiebegriff fokussiert (1. Kap.). Fragestellungen, Indikatoren und Ergebnisse der von der Debatte inspirierten empirischen Studien werden auf diese paradigmatischen Ansätze bezogen (2. Kap.). Was die Vertreter der These von einer „europäischen Öffentlichkeit in nascendi“ betrifft, ist die Debatte und die Interpretation der empirischen Befunde von einem Optimismus getragen, der sich nur vor dem Hintergrund einer Stimmung erklären lässt, die Perry Anderson unlängst als „narcissism“ gegeißelt hat (Anderson 2007: 3)1. Es geht aus diesem Grund in der Einleitung auch darum, 1

Perry Anderson geht es um mehr als Selbstzufriedenheit, er verweist auf einen „apparently illimitable narcissism, in which the reflection in the water transfigures the future of the planet into the image of the beholder” (Anderson 2007: 3). Im Fall der „neuen” Debatte um Öffentlichkeit geht es nicht um die Perception der Welt in Kategorien eines idealisiertes Selbstbildes,

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die Annahmen der Debatte um „europäische Öffentlichkeit“ kritisch zu hinterfragen. Die Kritik knüpft zunächst an Positionen an, die – im Rahmen des deliberativen Demokratieparadigmas – das „Demokratiedefizit“ in ihren theoretischen Konzeptualisierungen (Eriksen 2004) und empirischen Befunden (Statham 2005; Koopmans 2004) wiederentdeckt haben. Die eigene Argumentation (3. Kap.) beinhaltet dann eine grundlegendere Kritik. Diese zielt darauf, kommunikationstheoretisch drei Vorwürfe zu begründen: 1. Homogenisierungstendenzen in Richtung der Herausbildung eines „europäischen Kommunikationsraums“ sind als Ergebnis institutioneller „supranationaler Inkorporation“ nationaler Gesellschaften in das europäische Mehrebenensystem zu verstehen und nicht als Wirkung und/oder Bedingung der Möglichkeit einer „europäischen Öffentlichkeit“ zu interpretieren. Die in der Debatte vorgenommene Konzeptualisierung einer „Europäisierung“ von Öffentlichkeit, die diese in Analogie zur Nationsbildung und Nation modelliert, verkennt den gesellschaftlichen und eben nicht herrschaftlichen Charakter demokratischer Öffentlichkeit. 2. Sie verkennt zudem die gleichzeitig wirksamen Segmentierungstendenzen und die strukturell bedingten „Wissenslücken“ zwischen fragmentierten elitären und allgemeinen Teilöffentlichkeiten, zwischen nationalen Öffentlichkeiten und – als Variante letzterer – zwischen Öffentlichkeiten in den großen Kernländern und der europäischen Peripherie. 3. Die Konzeptualisierung des medial hergestellten europäischen Kommunikationszusammenhangs als abgegrenzten „Kommunikationsraum“ stellt auch in sofern eine falsche Analogie zur „Nation“ her, als sie den clusterhaften Charakter von institutionell-territorial gebundenen Kulturen in entgrenzten Gesellschaften verkennt. Wir schlagen dagegen als normativen Bezugspunkt der Analyse von Tendenzen zur Formierung einer „europäischen Öffentlichkeit“ die Idee einer „Internationalisierung“ von Öffentlichkeit vor. Diese ist nicht notwendig auf einen homogenen und begrenzten „Kommunikationsraum“ angewiesen, sondern kann als ein – durch formale Merkmale der Diskurskultur charakterisiertes – Cluster nationaler Cluster begriffen werden, welche inhaltlich hinsichtlich der Deutungswerkzeuge divergieren. Kriterium der „Europäisierung“ ist hier nicht eine Konvergenz von Relevanz- und Sinnstrukturen sondern eine „kosmopolitische“ Kompetenz der Diskursteilnehmer und -Rezipienten. Die im Anschluss daran vorgestellten Fallstudien (4. Kap.) sind nicht als Ergebnisse eines dezidiert von der skizzierten Konzeption geleiteten Forschungsprojektes entstanden. Dennoch lassen sich aus ihnen Schlussfolgerungen ableiten, die einige der kritischen theoretischen Überlegungen stützen. Inhaltlich sondern um Idealisierung des Spiegelbildes, die allerdings in dieser normativ getrieben Debatte, die allerdings vor dem Hintergrund der von Anderson beschriebenen Tendenz verständlich wird.

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im Mittelpunkt steht der Beleg, dass gerade Konfliktdebatten um „Europa“ nicht als transnationale „kommunikative Interaktion“ über „unterschiedliche Paradigmen hinweg“ (Eder/Kantner 2000: 309) geführt, sondern dem Publikum als in nationale politische Kulturen eingeschlossene Debatten präsentiert wurden. Innereuropäische Konfliktdebatten setzten in den untersuchten Fällen nicht Lernprozesse in Gang, sondern dienen der kollektiven Selbstvergewisserung und der nationalen und nationalistischen Mobilisierung. Außerdem machen die Fallstudien auf gewichtige strukturelle Asymmetrien von medialen Debatten in den großen Kernstaaten und an der neuen europäischen Peripherie aufmerksam. Methodentheoretisch wird aus den empirischen Befunden und theoretischen Überlegungen der Schluss gezogen, dass Medientextanalysen zur „Europäisierung“ von nationalen Öffentlichkeiten nicht die Frage nach der Konvergenz oder „Überlappung“ von Deutungsrahmen oder Diskursen in den Mittelpunkt stellen sollten, sondern die Analyse von Diskursstrategien und Diskurskultur. Theoretisch läuft die Argumentation darauf hinaus, Tendenzen einer – vom europäischen Mehrebenensystem getragenen – „supranationalen Inkorporation“ (in Analogie zur Nationsbildung) von Tendenzen einer „Internationalisierung“ demokratischer Öffentlichkeit in Europa zu unterscheiden. 1

Demokratie und Öffentlichkeit: Europäisches „Demokratie- und Öffentlichkeitsdefizit“ vs. „europäische Öffentlichkeit in nascendi“

Die Europäische Union ist nach dem Zweiten Weltkrieg als schrittweise Schaffung eines gemeinsamen Marktes entstanden. Die politische Integration folgte der funktionalistischen Logik „sachlicher“ Imperative der Markterweiterungen, und entsprechend setzte sich eine europäische Regulierungsebene zunächst und schwergewichtig im Bereich der Markt schaffenden und Markt ergänzenden Rechtssetzung durch. Mit der weitgehenden Durchsetzung des „gemeinsamen Binnenmarktes“ war ein Integrationsniveau erreicht, das die vorausgegangene Dynamik an ihre Grenzen brachte: Nicht nur hatte die Verlagerung von regulativen Kompetenzen an die europäische Ebene ein Maß erreicht, dass die Rolle der Nationalstaaten im europäischen Mehrebenensystem sichtbar einschränkte. Europäisiert wurden zunehmend Bereiche, in denen sich politische Entscheidungen nicht mehr technokratisch legitimieren ließen, und divergente normative Traditionen und Orientierungen auf einander stießen. Entsprechend wurden politische Konflikte zwischen den Nationalstaaten nun sichtbarer. Zugleich beschränkt die Mehrheitsregel bzw. ihre erweiterte Anwendung in offensichtlicher Weise nationale Souveränitäten und verschärft künftige Konflikte. Vor diesem Hintergrund gewann die immer schon virulente Frage des „Demokratiedefizits“ der europäischen Institutionen eine neue Bedeutung und Aktualität.

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Ein Teilargument der These vom „Demokratiedefizit“ ist der Verweis auf ein „Öffentlichkeitsdefizit“ der EU. Dagegen ist die These von einer „europäischen Öffentlichkeit in nascendi“ formuliert worden und hat einen Schub empirischer Studien inspiriert. In der radikalen Fassung von Klaus Eder wird „europäische Öffentlichkeit“ empirisch konstatiert und normativ zugleich in den Mittelpunkt des demokratietheoretischen Paradigmas gestellt. Die Neukonzeptualisierung zielt letztlich darauf ab, auch die These von einem „Demokratiedefizit“ der EU zu widerlegen. Wir werden im Folgenden gemäßigtere Positionen2 nicht berücksichtigen, sondern die Pole der Debatte als Rahmen skizzieren. Es werden zunächst (1) die These vom „Demokratiedefizit“ und dann (2) die Gegenthese von der „europäischen Öffentlichkeit in nascendi“ skizziert. Danach wird (3) als vermittelnde Position die Argumentation von Erik Eriksen eingeführt. 1.1 „Demokratiedefizit“ und „Demokratiedilemma“ Mit der Formel vom „Demokratiedefizit“ wurde der Tatbestand belegt, dass das demokratische Prinzip in Hinblick auf die beiden Schlüsselorgane der EU – den Ministerrat (Kern der Legislative) und die Kommission (Initiativmonopol bei der Gesetzgebung und Exekutive) – „weitgehend suspendiert“ (Kielmansegg 2003: 55) ist. Die indirekte demokratische Legitimität über die im Ministerrat vertretenen nationalen Regierungen bzw. die von diesen in die Kommission delegierten Politiker greife deswegen nicht, weil bei nationalen Parlamentswahlen keine europäischen Programme zur Disposition stehen und weil Debatten und Entscheidungen im Ministerrat nicht öffentlich sind (anders als die der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlamentes) und von daher das Prinzip der Zurechenbarkeit von Entscheidungen nicht gesichert ist. Das letztere Problem erfahre mit der Durchsetzung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat eine dramatische Zuspitzung (Kielmansegg 2003: 54-55). Darüber hinaus fehle eine eindeutige Gewaltenteilung und habe das Europäische Parlament nicht nur begrenzte Kompetenzen sondern auch eine nur begrenzte Legitimität. Schließlich gehe die Aufwertung der europäischen Politikebene mit einem Funktionsverlust der nationalen Parlamente einher. Dieser Katalog von Defiziten ist durch den Hinweis ergänzt worden, dass im europäischen Mehrebenensystem Spielräume für „die Bildung und Ausweitung formal entbundener und deshalb legislativ,

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Vgl. z.B. die sehr differenzierte und vorsichtige Argumentation von Ulrich Preuß (Preuß 2004).

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administrativ und judikativ nicht mehr greifbarer informeller Macht“ (Brunkhorst 2007: 20)3 entstanden sind. Der Demokratiebegriff, welcher der Diagnose des Demokratiedefizits zugrunde liegt, hat seinen Anker in der Idee der Volkssouveränität und akzentuiert die immer wieder neu zu gebende Zustimmung der Regierten als Voraussetzung der Rechtmäßigkeit staatlicher Gewalt. Demokratie als Volkssouveränität aber gründet sich auf ein „der Verfassung vorgegebenes, sich selbst als solches begreifendes kollektives Subjekt“ (Kielmansegg 2003: 57). Da es eine politisch belastbare europäische Identität nicht gibt, spricht Kielmansegg von einem „Demokratie-Dilemma“. Der Aufbau europäischer Institutionen und die Europäisierung des Bewusstseins vollzögen sich in ganz verschiedenen, nicht synchronisierbaren geschichtlichen Geschwindigkeiten, weil dem politischen Integrationsprozess ausgeformte nationale Kommunikations-, Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaften vorgegeben sind. Mit anderen Worten: das „Demokratiedefizit“ verweist nicht nur auf ein institutionelles oder rechtliches Problem. Dahinter steht ein Defizit der gesellschaftlichen Integration, nämlich die Schwäche Europas als „Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaft“, und das Fehlen eines gemeinsamen gesamteuropäischen „Kommunikationsraums“ (Kielmansegg 2003), d.h. einer gemeinsamen „Wahrnehmungs- und Verständigungsstruktur“ (Lepsius 1991). Es fehle zudem eine „europäische Solidaritätsnorm“ (Lepsius 1999). Die Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit werde schließlich durch eine nach wie vor weitgehend national organisierte Medieninfrastruktur blockiert. Es geht hier also nicht darum, die Möglichkeit einer „europäischen Öffentlichkeit“ prinzipiell zu negieren. Der Akzent liegt auf den nicht synchronisierbaren geschichtlichen Geschwindigkeiten von Institutionen- und Identitätsbildung und darauf, dass Identitäten „sich nicht nach Belieben, und in Zeiträumen, die der Politik verfügbar sind, aufbauen oder zerstören“ lassen (Kielmansegg 2003: 58). „Öffentlichkeit“ als Medienöffentlichkeit hat im liberalen Modell intermediäre Funktionen. Sie soll über Politik und politische Alternativen/Konflikte informieren, sie soll die Herrschenden kontrollieren und sie soll die Gesellschaft über die öffentliche Austragung von Konflikten integrieren. Wegen der nationalen Schließung von politischer Öffentlichkeit, so die These der Vertreter eines „Demokratiedefizits“, funktionierten transnationale Institutionen in einem öffentlichkeitsfreien Raum. Für die nationale Öffentlichkeit bedeute dies – angesichts der Verlagerung der politischen Entscheidungsprozesse – einen Funktionsverlust und eine „Provinzialisierung“ (Gerhards 1993, 2000).

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Als Beispiel für ein „institutionell ortloses soft law” verweist Brunkhorst auf das Ergebnisprotokoll des Treffens Bologna vom 9.6.1999 (Brunkhorst 2007: 21).

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Die politische Schlussfolgerung aus dieser Diagnose ist: eine fortschreitende Integration in Richtung eines europäischen Bundesstaates ist unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten prekär, da die gesellschaftlichen Vorbedingungen für eine weitreichende Integration nicht gegeben sind und nicht intendiert geschaffen werden können.

1.2 „Europäische Öffentlichkeit“ in nascendi Gegen diese Diagnose ist eine Gegenposition formuliert worden, die es erlaubt, „Demokratiedefizit“ und „Demokratiedilemma“ nicht als strukturelle Barrieren der Integration zu fassen, sondern – im Gegenteil – als Übergangsprobleme zu begreifen, die durch eine fortschreitende politische Integration und Institutionenbildung zu überwinden seien. Mit anderen Worten: Der Paradigmenwechsel erlaubt es – in der radikalen Fassung der These durch Klaus Eder – aus den konstatierten Phänomenen gegenteilige politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Interessant ist, dass – wie wir sehen werden – in diesem „neuen“ Fachdiskurs Begrifflichkeiten, Argumente und Projekte der technokratisch orientierten Europadebatte mit denen der „neuen Linken“ fusionieren. Bemerkenswert ist ferner, dass dieser Diskurs ein vornehmlich deutscher Diskurs ist. Wir werden aufzeigen, dass die Internationalisierung der Debatte auf der Ebene theoretischer Erörterung und empirischer Fragestellungen und Ergebnisse dazu führte, dass das „Demokratiedefizit“ auch in diesem neuen paradigmatischen Rahmen „wiederentdeckt“ wird. Im Kern geht es um drei paradigmatische Neudefinitionen: das Prinzip der „Gewaltenteilung“ und der Begriff der „Demokratie“ werden in Abgrenzung zum oben zugrundegelegten klassischen liberalen Konzept paradigmatisch neu gefasst. Zugleich wird der europäische „Kommunikationsraum“ einerseits abstrakt gefasst – unter Absehung von Akteuren, symbolischen Ressourcen, und organisierenden Mechanismen – und andererseits als „politische Öffentlichkeit“ zum Kern demokratischer Legitimation gemacht. Betrachten wir Kontext, Inhalt und Funktion der von Klaus Eder formulierten These von der „europäischen Öffentlichkeit in nascendi“! Das aus der Montanunion und der Logik des ökonomischen Integrationsprozesses entstandene Institutionengefüge der Europäischen Union wird im Sinne einer funktionalen Arbeitsteilung und Gewaltenbalance interpretiert (Wallace 2003: 260f). Die ihm zugrund liegende technokratische Rationalität, die Politik über die Effizienz der Entscheidungen legitimiert, wird dadurch transzendiert, dass zum einen den „Politiknetzwerken“ (Kohler-Koch 1999) im „europäischen Mehrebenensystem“, die von Akteuren aus den Verwaltungseinrichtungen der

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verschiedenen Ebenen und den in Brüssel akkreditierten Interessenorganisationen getragenen werden, die Qualitäten einer „europäischen Zivilgesellschaft“ (Eder, Hellmann, Trenz 1998; Eder 2000; Eder 2003) zugesprochen werden. Zum anderen wird die Frage nach der repräsentativen Legitimität dieser „zivilgesellschaftlichen Akteure“ dadurch entschärft, dass die technokratische Legitimation mit dem Paradigma von der „deliberativen“ Demokratie auf eine neue Basis gestellt wird. Den an die Verwaltungen und Interessenorganisationen angebundenen und/oder kommerziell agierenden Experten wird ein von professioneller Rationalität geleiteter Diskurs zugeschrieben. Neben diesen „Wissensgemeinschaften“ (Haas) werden auch „advokatorisch“ tätige Gesinnungsnetzwerke, die in religiös oder politisch-ideologisch integrierten Milieus verankert sind, als Akteure der Zivilgesellschaft und Medien der „Deliberation“ betrachtet. Beide Formen der „zivilgesellschaftlichen“ Rückbindung werden – durch die Einbindung in den europäischen Willensbildungsprozess und dessen Orientierung auf „sachgerechte“ Lösungen – rationalisiert. Zuweilen werden die „sach- und lösungsorientierten“ Netzwerke auch gegen die Akteure der parlamentarischen politischen Öffentlichkeit ausgespielt, die – an Profilierung vor einem Wählerpublikum interessiert – dazu neigten, Konflikte zu überzeichnen statt „sachlich angemessene Lösungen“ zu suchen (Benz 2003: 319ff). Den informellen Gremien wird schließlich eine „deliberative“ demokratische Legitimation zugeschrieben, weil sie „wahrheitsorientierte“ Diskurse pflegten (Joeges/Neyer 1998). Damit wird die Uneindeutigkeit der repräsentativen Legitimität der „zivilgesellschaftlichen“ Akteure, die Entformalisierung der Willensbildung und der Regulierungsweisen durch Netzwerke ebenso wie die Aufhebung einer transparenten Grenzlinie zwischen Entscheidungssystem und Zivilgesellschaft/Expertenöffentlichkeiten als Demokratieproblem entschärft und durch das Argument einer rational höheren Qualität der Entscheidungen geadelt. Von daher können dann die Politiknetzwerke als funktional äquivalente Formen demokratischer Öffentlichkeit betrachtet werden, die thematisch zentriert (politikfeld/themenspezifisch), vor dem Publikum von Experten und Interessengruppen, direkt oder indirekt in Entscheidungsverfahren der Willensbildung eingebunden seien (Eder, Hellmann, Trenz 1998). Der Demokratiebegriff, mit dem hier explizit oder implizit operiert wird, stellt nicht mehr die Prozeduren der Gewinnung von Unterstützung und Mechanismen der Konfliktaustragung im Rahmen parlamentarischer Regierungssysteme, also die Rückbindung der Regierung an die immer wieder einzuholende Zustimmung der Regierten in den Mittelpunkt, sondern die Auflösung von Herrschaft in Rationalität im Medium einer „deliberativen“ oder – in der technokratischen Fassung „lösungsorientierten“ – Debatte. Im liberal-prozeduralen Demokratieverständnis ist die politische Öffentlichkeit ein vom politischen Entschei-

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dungsprozess abgrenzbarer Raum, in dem programmatische Alternativen der Politik vorgestellt und die Regierenden der Kontrolle durch die öffentliche Meinung unterworfen werden. Somit ist Öffentlichkeit ein Funktionserfordernis, aber nicht unmittelbarer Teil effizienter demokratischer Konfliktkanalisierung und Willensbildung. Das Konzept der „Deliberation“ löst demgegenüber einerseits die Grenze zwischen öffentlicher Debatte und politischer Willensbildung auf und macht andererseits die politische Öffentlichkeit zur Kerninstitution des demokratischen Prozesses, und zwar mit der Idee „eines durch diskursive Auseinandersetzung sich herstellenden kollektiven Willens von Bürgern“ (Eder 2003: 87). Herrschaft wird in diesem Konzept nicht legitimiert, sie löst sich auf in diskursiv – durch vernünftiges Argumentieren – hergestellte Rationalität. Dieses Konzept von Öffentlichkeit geht auf Jürgen Habermas klassische Arbeit zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“4 zurück. Dort erscheint es aber als nicht kompatibel mit moderner massenmedialer Öffentlichkeit. In neuen Arbeiten verweist Habermas demgegenüber darauf, dass „Öffentlichkeit“ nicht mehr als ein mehr oder weniger homogener Raum generalisierender Debatten zu denken sondern als ein komplexes Netzwerk unterschiedlicher, segmentierter Teilöffentlichkeiten zu begreifen sei. In unterschiedlichen Arenen kooperierten Eliten und Massen, Professionalisten und Laien, Propheten und Kritiker. Die Öffentlichkeit gewinne so eine „polymorphe, polyphonische und anarchische“ Gestalt (Habermas 1996: 373ff). Sie gilt als „offen“, sofern jedem Bürger der Zugang ermöglicht ist. Diese konzeptionelle Neufassung erlaubt es „Öffentlichkeit“ als Zusammenspiel von – im Sinne funktionaler Differenzierung – horizontal segmentier4

In seiner frühen Arbeit, macht Habermas die „Idee“ der „bürgerliche Öffentlichkeit“ in der Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhundert aus, und zwar als Vorstellung von einem Kommunikationsraum, in dem die Citoyens über das „gemeine Wesen“, d.h. die Regeln des privaten Wirtschaftsverkehrs und der öffentlichen Ordnung debattieren und in ihrem „Räsonnement“ Herrschaft in Vernunft auflösen (Habermas 1968: 121). Der hier gedachten Einheit von Vernunft und öffentlicher Meinung fehle mit der politischen Mobilisierung im 19. Jahrhundert die „objektive Bürgschaft einer gesellschaftlich verwirklichten Konkordanz der Interessen“ und der „rationalen Erweisbarbeit eines .....allgemeinen Interesses überhaupt“ (ebenda: 149). Während das sozialistische Projekt das uneingelöste Versprechen der Geschichtsphilosophie aufnehme (ebenda: 141), werde das bürgerliche Denken mit dem Liberalismus „realistisch“ (Parenthese von Habermas). Auf der Grundlage der Klassengesellschaft sollte „demokratische Öffentlichkeit“ Repräsentation, Kontrolle der Regierung und Konfliktregulierung meinen. Die „öffentliche Meinung“ werde als wankelmütig und ambivalent wahrgenommen und der Anspruch der deliberativen Rationalisierung von Herrschaft aufgegeben. Für die Entwicklung der Nachkriegsperiode zeigt Habermas, dass sich „politische Öffentlichkeit, als Sphäre der kontinuierlichen Teilhabe an dem auf öffentliche Gewalt bezogenem Räsonnement“ (ebenda: 231) aus dem Parlament in die Sphäre des Interessenausgleiches zwischen Verbänden, Parteien und zwischen diesen und Verwaltungen verschoben und sowohl Abgrenzung und Autonomie als auch den Charakter einer „deliberativen“ Debatte verloren habe.

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ten Fachöffentlichkeiten und vertikal segmentierten Experten und Laienöffentlichkeiten zu verstehen. Der Paradigmenwechsel bringt auch eine Lösung für das oben konstatierte „Demokratie-Dilemma“: Die Idee der politischen Öffentlichkeit müsse von der Vorstellung eines durch die Nationalkultur homogenisierten Kommunikationsraums – auf die eine generalisierende Debatte angewiesen ist – gelöst werden. Volkssouveränität sei nicht substantialisiert in einem definierten Demos. Sie werde in der Kommunikation ausgeübt. Volkssouveränität wird dabei im Zusammenspiel zwischen institutionalisierten und nicht institutionalisierten Körperschaften für „Deliberation“ und Willensbildung lokalisiert (Habermas 1996). Die horizontale Segmentierung national organisierter Öffentlichkeiten definiert kein „Demokratie-Dilemma“ mehr. Klaus Eder bewegt sich in diesem neuen Paradigma und meint, der durch die „europäische Staatsbürgerschaft“ räumlich definierte und durch „europäische Ereignisse“ zeitlich strukturierte „Kommunikationsraum Europa“ sei institutionell gegeben, und sozial in Transnationalisierungsprozesse eingebettet. Ansätze einer Transnationalisierung macht Eder in elitären Expertenöffentlichkeiten, in verschiedenen, der Laienöffentlichkeit zugeordneten Netzwerken von sozialen Akteuren, in transnationalen Referenzen von Berufskulturen, im Phänomen der Transmigration, ja auch auf touristischen und kulinarischen Aktivitäten der Mittelklasse und der klientelistischen Orientierung der nationalen Bauernschaften auf Brüsseler Geldtöpfe aus. Die so gefasste „europäische Vergesellschaftung“ gewönne an Dynamik und die politische Integration komme dem „transnational zu Regulierendem“ (94) kaum noch hinterher. Das Konglomerat der „europäischen Öffentlichkeit“ umfasst alle denkbaren Arenen von den privaten Küchengesprächen über nationale Mediendebatten bis zu den Expertenverhandlungen in den Politiknetzwerken. Die „demokratische Codierung“ (Eder 2003: 89) des sich formierenden „europäischen Kommunikationsraums“ beinhalte zweierlei: Zum einen gehe es um den offenen Zugang, der offensichtlich als weitgehend gesichert erscheint. Zum anderen habe Europa ein „Koordinationsproblem“, das es zu lösen gelte. Es gelte die Teilöffentlichkeiten zu vernetzen und an die Peripherie der Zivilgesellschaften zurückzukoppeln. Auch dieses Problem werde tendenziell aufgehoben: Hinsichtlich der vertikalen Segmentierung sei ein „Mechanismus“ entstanden, der Öffentlichkeit in einer ganz neuen Weise erzeuge: Einerseits würden, geleitet vom Motiv institutioneller Selbstbehauptung und Legitimierung europäischer Politik, von oben neue Gremien und deliberative Verfahren zur Inkorporation unterrepräsentierter Akteure der Zivilgesellschaft in das Mehrebenensystem europäischer Politik geschaffen und sei somit eine „institutionelle Produktion von Öffentlichkeit“ zu beobachten. Andererseits komme es zur kollektiven „Mobilisierung von europäischer Öffentlichkeit“ über Skandale und Kampagnen von

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Sozialbewegungen. Beide Tendenzen verstärkten sich gegenseitig (Eder 2003: 97-99). Bleibt die Frage der nationalen Segmentierung. Für die „Öffentlichkeit jenseits des Nationalstaates“ konstatiert Eder ein „Koordinationsproblem“, das darin bestehe die „vielen kleinen Souveräne“ (die nationalen Wahlvölker), die den „europäischen Kommunikationsraum bevölkern“, in eine „einen transnationalen Souverän konstituierende“ politischer Kommunikation „zu überführen“ (Eder 2003: 90). Denn der „demokratische Souverän“ konstituiere sich nicht als Volk und über dessen politische Verfasstheit sondern als „Netzwerk individueller und kollektiver Akteure“ im „Prozess der öffentlichen Kommunikation“ selbst (Eder 2003: 115). Die Radikalität der Eder’schen Konzeption von „europäischer Öffentlichkeit“ wird erst voll sichtbar, wenn wir seinen Begriff der „Kommunikation“ mitberücksichtigen. Kommunikation erscheint bei Eder als voraussetzungslos. „Ausgangspunkt“ der Kommunikation sei der geteilte „Gegenstand“ einer – „über unterschiedliche Paradigmen hinweg“ – geführten „kommunikativen Interaktion“ (Eder/Kantner 2000: 309). Wir werden auf diesen Punkt weiter unten zurückkommen. 1.3 Die Wiederentdeckung des Demokratiedefizits als „missing link“ Im Rahmen des am späten Habermas orientierten politikwissenschaftlichen Fachdiskurses verweist der Skandinavier Erik Eriksen auf den „missing link“ zwischen Expertenöffentlichkeit im Umfeld der europäischen Politiknetzwerke und Bürgern. Eriksen kann das Problem durch die Einführung von zwei kategorialen Unterscheidungen deutlich machen: Er unterscheidet zwischen „schwachen“ und „starken“ Öffentlichkeiten und zwischen „fragmentierten“ Öffentlichkeiten und „general public“. Damit holt Eriksen das „Demokratiedefizit“ in die Debatte zurück: „Stark“ wird Öffentlichkeit durch die rechtliche Institutionalisierung der Arena und ihre Anbindung an die politische Willensbildung im Zentrum (Eriksen 2004: 19ff). Eine „starke“ Öffentlichkeit ist – dem liberalen Denken entsprechend – auf politische Repräsentation und Rechenschaftspflichtigkeit der Regierenden – angewiesen. Aus dieser Perspektive wird – im Sinne des liberalen Paradigmas – ein „Demokratiedefizit“ konstatiert und nach Ansätzen zu einer „Stärkung“ europäischer Öffentlichkeit (Kompetenzerweiterung des EP, Verfassungskonvent) gesucht. Die zweite Unterscheidung reformuliert das „Demokratiedilemma“ und gibt ihm eine stärkere institutionalistische Ausrichtung. Die „fragmentierten Öffentlichkeiten“ bilden sich über das gemeinsame Interesse an bestimmten Themen

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(issues). Hierzu zählt Eriksen sowohl die in die europäischen Politiknetzwerke angebundenen Wissensgemeinschaften, die „advokatorischen Gesinnungsnetzwerke“, als auch die von Eder genannten Skandale und Kampagnen mit transnationaler Resonanz (17f). Diese Öffentlichkeiten seien aber sektoral fragmentiert. Widersprüche zwischen den Fachöffentlichkeiten könnten nicht von diesen verarbeitet werden, sondern seien auf eine übergreifende, politische Debatte („general public“) angewiesen. Zudem seien die Teilöffentlichkeiten in der Regel elitär. Als „general publics“ werden demgegenüber inklusive und offene Kommunikationsräume bezeichnet, die in der Zivilgesellschaft und am Rande des politischen Systems verankert sind (Eriksen 2004: 10f, 16f). Für Eriksen ist das Problem national begrenzter Kommunikationsgemeinschaften kein strukturelles Problem, weil auch er es nicht kulturell sondern institutionell-organisatorisch fasst. Das Problem liege in der fehlenden Verbindung („missing link“) zwischen segmentierten Fachdebatten und „general public debate“, insbesondere in der fehlenden Möglichkeit „themes and topics, the problems and solutions aired in the civil society and verbalized in the general public“ über transnationale Netzwerke und „starke“ Öffentlichkeiten in den Entscheidungsprozess hineinzutragen und einzufiltern (Eriksen 2004: 23f). Das heißt, das Problem wird vor allem in der fehlenden Brücke zwischen entscheidungsnahen Expertenarenen einerseits und der legitimierenden – starken und schwachen – Laienöffentlichkeit der Bürger andererseits gesehen. Transnationale Interaktion erscheint hier vor allem dadurch erschwert, dass eine „common, law based identification” fehle and deshalb die Möglichkeit eines “transnational discourse” im Rahmen eines “single European space – in which Antonio in Sicily, Judith in Germany and Bosse in Sweden can take part in a discussion with Roberto and Julia in Spain on the same topics at the same time” (Eriksen 2004: 30)5 fehle. Mit anderen Worten: Eriksen distanziert sich von Habermas und Eder und der von diesen artikulierten Idee eines entsubstanzialisierten – „im Prozess der Kommunikation selber“ sich konstituierenden – „demokratischen Souveräns“. Er bindet Souveränität zurück an die Bürger und macht Schwächen der „europäischen Öffentlichkeit“ aus: das Problem der „missing links“ zwischen Experten und Laien, Wissensgemeinschaften und Bürgern; die Schwäche der Institution des Europäischen Parlamentes und das Fehlen einer gemeinsamen, „law based“ Identifikation. Für Eriksen handelt es sich folglich um institutionelle, d.h. prinzipiell rechtlich lösbare Probleme. Mit den Einwänden Eriksens hat sich die Fragestellung verschoben. Es geht nicht mehr so sehr darum, „ob“ eine „europäische Öffentlichkeit“ entsteht, es geht vielmehr darum, wie es mit der demokratischen Qualität von Öffentlichkeit 5

Ericsen nennt hier die Debatte um die Zukunft der Verfassung als paradigmatischen Fall.

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in Europa bestellt ist. Wir werden im Folgenden die Frage der „missing links“ zwischen vertikal und horizontal segmentierten Öffentlichkeiten aufnehmen. Dabei werden wir mit Habermas und Eder davon ausgehen, dass Öffentlichkeit in komplexen Gesellschaften und erst recht in supranationalen politischen Gebilden nur als Zusammenspiel von funktional differenzierten und/oder segmentierten Arenen und Foren gedacht werden kann. Wir werden aber bezweifeln, dass „Offenheit“ und „Vernetzung“ der Arenen – als Kriterium der „demokratischen Codierung“ europäischer Öffentlichkeit (Eder) – einfach vorausgesetzt werden können. Unsere Überlegungen werden an Eriksen anschließen aber über die These von einem „missing link“ hinaus gehen und auf strukturell bedingte „Wissenslücken“ und Inkompatibilitäten verweisen. Die Formulierung „Wissenslücke“ verweist darauf, dass wir die Betrachtungsebene verschieben werden. Es wird in unserer Argumentation nicht mehr um die institutionelle Differenzierung und Vernetzung von Arenen und Foren sondern um kulturelle Räume und Flüsse, d.h. Kommunikation, gehen. Bevor wir unsere eigenen theoretischen Überlegungen entwickeln sollen zunächst Ansätze und Ergebnisse der empirischen Studien angesprochen werden, die durch die skizzierte Debatte um Öffentlichkeit in Europa angeleitet wurden. 2

Ansätze und empirische Befunde: Europäische Öffentlichkeit oder europäische Inkorporation?

Die empirischen Untersuchungen, welche die Debatte um „Öffentlichkeitsdefizit“ und „Europäische Öffentlichkeit“ angeleitet hat, beziehen sich nicht auf die Politiknetzwerke und deren Einbettung in Fachdebatten, d.h. auf das, was auch als „europäische Öffentlichkeit“ sui generis bezeichnet werden kann. Mir sind keine Studien bekannt, die versuchen, die Art der „Vernetzung“ von elitären Öffentlichkeitsarenen und nationalen Medienöffentlichkeiten zu untersuchen. Die von der politikwissenschaftlichen Öffentlichkeitsdebatte inspirierte Forschung konzentriert sich auf die Frage nach der „Europäisierung“ nationaler Medienöffentlichkeiten. Dabei wird „Europäisierung“ – je nach zugrundeliegendem Demokratieparadigma – unterschiedlich gefasst. Methodisch arbeiten alle Studien mit unterschiedlichen Instrumenten der Medientextanalyse, je nach Größe der Projekte werden die Textanalysen durch andere Daten zur Textproduktion (Interviews mit Journalisten und politischen Akteuren) ergänzt. Die jeweils spezifischen Konzeptualisierungen der „Europäisierung“ von „Öffentlichkeit“ werden in unterschiedliche Indikatoren zur Messung von „Europäisierung“ nationaler Medienöffentlichkeiten übersetzt. Wir werden im Folgenden zunächst (1) auf die unterschiedlichen Operationalisierungen von „Europäisierung“ im Kontext der unterschiedlichen paradigmatischen Fassungen von „Öffentlichkeit“ und

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„Kommunikationsraum“ verweisen. Danach werden wir (2) wichtige Ergebnisse der bisherigen Forschung und deren Interpretation im Rahmen der drei paradigmatischen Bezüge kennen lernen. Schließlich (3) werden die Ergebnisse – im Sinne einer Zwischenbilanz – im Kontext unserer Problemstellung interpretiert.

2.1 Indikatoren der „Europäisierung“ nationaler Öffentlichkeiten Je nach paradigmatischem Bezugsrahmen werden die Indikatoren für eine „Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten“ unterschiedlich gewählt. Dabei lassen sich drei Gruppen von Untersuchungen unterscheiden: a) Studien, die vom klassischen liberalen Paradigma ausgehen, formulieren die Frage nach der „Europäisierung“ nationaler Öffentlichkeiten als Frage nach der Transparenz europäischer Politik. Aus dieser Perspektive wird nach der Sichtbarkeit von Akteuren und Entscheidungsprozessen auf der europäischen Ebene gefragt. Diesem Demokratieparadigma ist auch die Studie von Christoph Meyer zuzurechen (Meyer 2002). Auch hier geht es um die Transparenz der europäischen Politikebene und es wird die Kontrollfunktion der Medien in den Mittelpunkt gerückt. Meyers Fallstudien fallen aber insofern aus dem Rahmen der hier skizzierten politikwissenschaftlichen Debatte, als er als Medienwissenschaftler „Europäisierung“ von Öffentlichkeit mit Entwicklungen auf der Ebene der Medieninfrastruktur in Verbindung bringt. An die Stelle des Brüsseler „Verlautbarungsjournalismus“, der einer von der Brüsseler Informationspolitik intendierten „Supranationalisierung“ nationaler Öffentlichkeiten entsprochen habe, sei – im Zusammenhang mit der Internationalisierung des Brüsseler Pressekorps – ein investigativer Journalismus getreten, der Kontrollfunktionen gegenüber der europäischen Politikebene wahrnehme. Der „europäische Kommunikationsraum“ wird hier an die „backstage“ (Gerhards 2003: 300) der Produktion von Mediendiskursen gebunden. Durch die internationale Kooperation der Brüsseler Journalisten würden geteilte Professionalitätsstandards entwickelt, und diese beförderten Transparenz, Kontrolle und transnationalen Austausch. Diese Tendenz bezeichnet Meyer als „Internationalisierung“ von Öffentlichkeit (Meyer 2003). b) Die vom neuen Demokratieparadigma und den Thesen Eders inspirierten empirischen Untersuchungen, verstehen die Frage nach der „Europäisierung“ nationaler „Öffentlichkeiten“ als Frage nach einer Konvergenz von Gegenständen und Referenzpunkten öffentlicher Debatten in den nationalen Medien. Der „europäische Kommunikationsraum“ wird hier als „Kommunikationsgemeinschaft“ definiert und diese wird an geteilten Relevanz- und Sinnstrukturen und einer „Teilnehmerperspektive“ festgemacht (Risse 2004). Zugleich wird die

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„Europäisierung“ des „Kommunikationsraums“ mit der „Europäisierung“ der „Öffentlichkeit“ gleichgesetzt. Indikator einer „Europäisierung“ nationaler „Öffentlichkeiten“ ist für diese Forschungsrichtung in erster Linie, dass „zur gleichen Zeit zu den gleichen Themen unter den gleichen Relevanzkriterien“ debattiert wird (Eder/Kantner 2000: 315; vgl. Risse 2002; 2004; van de Steeg 2002a; 2002b). Die „Überlappung“ von Diskursen und die Formierung transnationaler Diskursgemeinschaften gelten als Schlüsselindikator für „Europäisierung“ von „Öffentlichkeit“. Als wichtigstes methodisches Instrument gilt die Analyse der Deutungsrahmen (Frames), auch wenn dieses Instrument nicht immer und nicht einheitlich genutzt wird. Neben den Deutungsrahmen als Instrument zur Feststellung der (Nicht)Konvergenz von Relevanz- und Sinnstrukturen wird als Ausdruck der „Teilnehmerperspektive“ die Bezugnahme auf „Europa“ als Referenzkollektiv der Argumentation6 erhoben. Es gehe dabei um das Selbstverständnis als betroffener Teilnehmer (Risse 2004) und die „Inklusion des Anderen in der Grenzziehung des Gemeinwesens“ (van de Steeg 2002a: 62). Die Bezugnahme auf „Europa“ als Referenzkollektiv wird auch als „virtuelle diskursive Interaktion“7 betrachtet (van de Steeg 2002a; 2002b). Darüber hinaus ist die Generierung eines ideologischen Projektes „Europas“ als Ausdruck zunehmender „Selbstreferenz“ der europapolitischen Debatten und Aspekt der „Europäisierung“ nationaler Kommunikationsräume gedeutet wurden (Trenz 2005: 289ff). In einzelnen Studien wird auch die manifeste transnationale „dikursive Interaktion“ anhand von Gastbeiträgen, Reprints und Bezugnahmen auf Debatten in anderen Ländern erhoben. Dieser Indikator scheint aber insofern als wenig bedeutsam zu gelten, als aus dem im wesentlichen negativen Befund keine Schlussfolgerungen für die „entstehende“ europäische „Öffentlichkeit“ gezogen werden (van de Steeg 2002a; 2002b). Die hier zitierten Studien sind Fallstudien. Das Erkenntnisinteresse zeigt sich vor allen bei den frühen Studien daran, dass die Fallauswahl von der Erwartung geleitet ist, ein Beispiel für „Europäisierung“ präsentieren zu können (Eder/Kantner 2000; aber auch Risse 2004). Die Repräsentativität der „Fälle“ wird aus theoretischen Überlegungen zu den Tendenzen der Formierung „europäischer Öffentlichkeit“ abgeleitet, aber nicht getestet.8

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Marianne van de Steeg fasst die implizite oder explizite Bezugsnahme auf Europa als dem gedachten „wir” der Argumentation als „virtuelle diskursive Interaktion“ (van de Steeg 2002a: 2002b). Es geht darum, das jeweilige Formum für Gastautoren und Reprints zu öffen, und auf die diskursiver Verarbeitungeines Ereignisses jenseits der Grenzen des eigenen Landes zu verweisen (van de Steeg 2002a; 2002b; 2003). Die Verallgemeinerung der Fallstudien wird argumentativ dadurch möglich, dass die Fallstudien unter die Frage gestellt werden, „ob” es eine europäische Öffentlichkeit „geben kann”

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c) Als eine Zwischenposition in Hinblick auf das zugrunde gelegte Demokratieparadigma lässt sich der Ansatz des Internationalen Forschungsteams unter der Leitung von Paul Statham, Ruud Koopmans u.a. ausmachen (Statham 2002; Statham et al 2005; Koopmans 2004; Statham 2005).9 Es geht auch hier um die Sichtbarkeit der europäischen Politik. „Europäische Politik“ wird aber nicht wie in den unter a) angesprochenen Ansätzen mit der europäischen Politikebene gleichgesetzt, sondern – ausgehend vom Paradigma der „Mehrebenenpolitik“ – als transnationales „claim making“10 europäischer und nationaler Akteure gefasst. Gefragt wird, inwieweit über transnationales Adressieren und dessen Sichtbarmachung in den nationalen Medien ein „europäischer Kommunikationsraum“ hergestellt werde. Das heißt, es geht hier nicht um die Kontrollfunktion von Öffentlichkeit gegenüber einer wenig transparent institutionalisierten europäischen Politikebene, und auch nicht um „Kommunikationsraum“ als „Kommunikationsgemeinschaft“ und Raum für Verständigung. Die Art und Weise der medialen diskursiven Verarbeitung ist hier nicht Gegenstand der Untersuchung. Stattdessen geht es um die räumliche Reichweite medial sichtbar gemachter politischer Interaktion und deren Akteure. Es geht darum, Flüsse des „claim making“ (vertical top-down; vertical bottom-up; horizontal; national eingeschlossen) und die Sprecher (Regierungen und Parteipolitiker; zivilgesellschaftliche Akteure) – im Bereich europäischer Politikfelder – zu identifizieren. Die mir bekannte in diesem Projekt entstandene Befragung von Journalisten (mit Auswertung von Medientexten) erhebt die Wahrnehmung „Europas“ und stellt die Frage ob europäische Ereignisse in ähnlicher oder in anderer Weise

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(Risse 2004: 139; ebenso Eder/Kantner 2000). Zugleich werden aber dann Tendenzaussagen über „die” Öffentlichkeit gemacht. Unter dem Begriff der „Europäisierung“ von Öffentlichkeit unterscheiden Ruud Koopmans und Paul Statham fünf Formen: (1) eine genuin „supranationale europäische Öffentlichkeit“, der Medien und Debatten auf europäischer Ebene sowie europäische politische Parteien, Interessengruppen, soziale Bewegungen und andere kollektive Akteure zugeordnet werden; (2) eine „Europäisierung“ nationaler Öffentlichkeiten, als zunehmende Bezugnahme auf europäische Politik (dadurch dass europäische Einrichtungen nationale Akteure ansprechen, nationale Akteure die europäischen Einrichtungen adressieren, nationale Akteure sich miteinander unter Verweis auf europäische Vorgaben oder Ziele auseinandersetzen), (3) eine durch europäische Politik oder (4) horizontale, transnationale Diffusion bewirkte Konvergenz von Debatten und (5) Konfliktdiskurse entlang europäischer cleavages (winner vs. looser der Europäisierung, als neue transnationale Konfliktachse. Hierzu werden pro- anti-integration cleavages mit sozialund wirtschaftspolitischen Implikationen und neue Formen von Xenophobie und antieuropäische Mobilisierungsstrategien gezählt (Koopmans, Statham 2002: 11f). Im Mittelpunkt des Projektes steht der zweite der aufgeführten Dimensionen. Die hier angesprochenen Untersuchungen beinhalten Medieninhaltsanalysen für die Jahre 1990, 1995, 2000 und erfassen alle Mitgliedstaaten, auch wenn letzteres nicht für alle Auswertungen gilt. „Claim making” bezieht sich auf strategisches Handeln im öffentlichen Raum, durch mediale Resonanz öffentlich gemacht (Statham 2005: 12).

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betrachtet werden als die nationalen innenpolitischen Entwicklungen (Statham 2006). Als Indikator für „Europäisierung“ von Öffentlichkeit wird hier somit die Wahrnehmung europäischer Politik und die Haltung der Journalisten gegenüber der EU und europäischer Politik berücksichtigt.11

2.2 Befunde der empirischen Studien zu „europäischer Öffentlichkeit“ Die Darstellung der Ergebnisse der empirischen Studien wird in der folgenden Skizze den Kernfragen der paradigmatischen Fassungen von „Demokratie“ und „Öffentlichkeit“ zugeordnet und in drei Bündeln zusammengefasst: a) Sichtbarkeit der europäischen Politikebene, b) Konvergenz von Deutungsrahmen, Merkmale des Referenzkollektiv/der Perspektive der nationalen Diskurse und (manifeste) transnationale „diskursive Interaktion“, c) Flüsse des „claim makings“ und Akteure im sichtbar gemachten „europäischen Kommunikationsraums“. a) Zur Sichtbarkeit der europäischen Politikebene liegen unterschiedliche Ergebnisse vor. Die Mehrheit der Studien machen deutlich, dass europäischer Politikebene und europäischen Themen im Vergleich zu nationalen und globalen Themen nach wie vor geringe Medienaufmerksamkeit zukommt (Gerhard 1993; 2000; Risse 2002; Kevin 2002, Grothues 2004). Auch Ergebnisse des internationalen Forschungsprojektes machen deutlich, dass Akteure der europäischen Ebene nur in den Feldern der Geld-, Agrarpolitik und beim Thema der europäischen Integration in relevantem Umfang sichtbar sind (Koopmans 2004: 33ff; Statham 2005). In anderen Politikfeldern12 beherrschen nationale Akteure die Szene. Und selbst da, wo es um Fragen der Integration geht, haben sie ein deutlich größeres Gewicht (Statham 2005). Zu anderen Ergebnissen kommt Hans-Jörg Trenz. Das liegt z.T. daran, dass er als Indikator für den „Europäisierungsgrad“ der Berichterstattung „Referenzen zu einem europäischen Themen-, Entscheidungs-, und Handlungskontext“ (Trenz 2005: 200) erhebt. b) Den vom neuen Paradigma „europäischer Öffentlichkeit in nascendi“ inspirierten Untersuchungen geht es darum festzustellen, ob gleiche Themen, zur gleichen Zeit unter ähnlichen Relevanzgesichtspunkten erörtert werden, und inwieweit dies aus einer sich mit Europa als Referenzkollektiv identifizierenden Perspektive geschieht.

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Das Ergebnis ist, dass keine Anzeichen für Euroskepsis zu finden seien (außer beim britischen The Sun) und die Journalisten ihre Aufgabe darin sahen, die Öffentlichkeit zu informieren und durch zunehmende Aufmerksamkeit zu erziehen (Statham 2006). Erhoben wurden ferner Texte zu Immigrations-, Renten-, Bildungspoltik und Truppeneinsatz.

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In den Fallstudien, die sich mit Kampagnen, Skandalen und der HaiderAffäre befassen, wird auf die Ähnlichkeit der Relevanzkriterien, welche die nationalen Konfliktdiskurse strukturieren, hingewiesen (Eder/Kantner 2000; Trenz 2003; Risse 2004). Allerdings weist die Fallstudie zur „Santer-Affäre“ nationale Perspektiven als Deutungsrahmen der Debatte über diesen Korruptionsfall aus (Trenz 2000). Die Fallstudien verstehen sich zugleich auch als Beleg dafür, dass wir es hier mit der Öffnung eines europäischen Kommunikationsraums „von unten“ zu tun haben. Auf die Gleichzeitigkeit der Reaktion auf „europäische Ereignisse“ und ein „Überlappen“ der in den nationalen Medien deutlich werdenden Rahmen zur Deutung der Ereignisse verweisen zwei weitere Fallstudien. Marianne van de Steeg untersucht die mediale Behandlung der Osterweiterung der EU13 und zeigt, dass die nationalen Debatten einerseits einen gemeinsamen Referenzrahmen aufweisen (den Zusammenhang von Erweiterung und Vertiefung) und zugleich aber auch spezifische nationale Interessenlagen reflektieren (van de Streeg 2002a; 2002b). Van de Steeg sieht hierin ein Indiz dafür, dass „der öffentliche Diskurs [...] einer einzigen Diskursgemeinschaft“ entstammen müsse, und dass die „bloße Existenz der EU-Institutionen“ ausreiche, um ein „gemeinsames Bedeutungssystem“ in den Nachrichtenmagazinen zu evozieren (van de Steeg 2002b: 65). Nun ist der hier identifizierte Deutungsrahmen, wohl kaum der „Existenz“ der EU-Institutionen zu zuschreiben sondern der europäischen Politik und ihrem Framing des Erweiterungsprozesses. Auch eine Auswertung von 607 nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Kommentaren der britischen, deutschen und spanischen Qualitätspresse im Zeitraum 1946-1997 kommt zu ähnlichen Ergebnissen (Medrano 2001). Auch Juan Diez Medrano konstatiert eine große Parallelität der Themen und eine geteilte „kognitive Rahmung“. Damit ist allerdings hier eher ein Basiskonsens über die Integration gemeint, genauer: die positive Bewertung des Binnenmarktes und eine skeptische der Regierungsfähigkeit der EU. Dieses Ergebnis wird interpretiert als Indikator für die Entstehung einer – neben der nationalen Öffentlichkeit sekundär bleibenden – europäischen Öffentlichkeit. Trenz (2005) verweist auf eine „Konvergenz“ europapolitischer Themen, die er durch die Berichterstattung über die Einführung des Euros, die „Haideraffäre“ und die europäische Institutionenreform belegt.14

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In politischen Magazinen im Zeitraum 1089-98 in Deutschland, Frankreich, Spanien und den Nierdlanden. Untersuchungszeitraum ist das Jahr 2000, Gegenstand der Analyse sind Qualitätszeitungen in D, F, GB,Spanien, Italien, Österreich.

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Die breit angelegte15, von Deirde Kevin (2003) vorgelegt Untersuchung wertet die nationale Berichterstattung unter den Gesichtspunkten der Information und der (europäischen) Identitätsstiftung aus. Diese Medientextanalyse ist nicht von den optimistischen Annahmen des neuen Paradigmas geleitet sondern sieht in Mediensystem und Sprachgrenzen Barrieren für eine „europäische Öffentlichkeit“. Zwar zeigt auch Kevin eine Konvergenz der Themen, ihre Untersuchung unterstreicht aber zugleich, dass diese aus unterschiedlichen nationalen Perspektiven gedeutet werden. Das gelte selbst für die Wahlkampfberichterstattung zum europäischen Parlament, die der nationalen Perspektive verhaftet bleibe. Andere Autoren geben – auf der Basis von Einzelfallstudien – Hinweise auf eine europäische Perspektive bzw. auf die Bezugnahme auf Europa als dem Referenzkollektiv der Argumentation.16 Soweit die Studien sich überhaupt mit der Frage der (manifesten) transnationalen „Interaktion“ befassen, machen sie deutlich, dass von solch einer Interaktion auf der Ebene der nationalen Mediendebatten nicht gesprochen werden kann. Kevin wertet zwar Berichte über die Europawahlkämpfe in anderen Län15

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Die Studie wurde für den Zeitraum Mai und Juni 1999 in F, D, GB, NL, Spanien, Schweden und z.T. Polen durchgeführt und berücksichtigte neben der Qualitätspresse auch die Boulevardpresse und das öffentliche und private Fernsehen. Gegenstand der Analyse ist (1) die mediale Verarbeitung (a) des Wahlkampfes zum Europäischen Parlament, (b) von Kosovo Krieg und Krise europäischer Politik, (c) der Währungsunion, (d) Berichte über andere Europäer; und (2) die Repräsentationen Europas in öffentlichen und privaten Fernsehkanälen. Auch hier wurde die Medienanalyse durch Befragungen von Journalisten zu Produktionsbedingungen ergänzt. Als Indikator für eine „virtuelle Interaktion“ erhebt van de Steeg das Referenzkollektiv der Argumentation (das implizite „wir“/Adressat/Selbstreferenz – kann auf Europas/den Nationalstaat verweisen). Es geht ihr dabei um die „Inklusion des Anderen in der Grenzziehung des Gemeinwesens“ (van de Steeg 2002: 62). Die Ergebnisse der Textanalyse bleiben in diesem Punkt offen. Jörg Trenz betrachtet die journalistische Auseinandersetzung mit einem Projekt Europa und die Herausbildung einer Europaideologie als Indikator für eine zunehmende „Selbstreferenz“ der europapolitischen Debatten (Trenz 2005). Die Studie von Christine Landfied (2004) analysiert die Berichterstattung über integrationspolitische Schlüsselereignisse16 in ausgewählten in F.A.Z., Financial Times und Le Monde. Analysiert werden Anzahl der Berichte und inhaltlicher Fokus auf nationale Positionen bzw. auf europäische Probleme bzw. Beitrittsstaaten. Festgestellt wird, dass die Berichterstattung ähnliche Informationen vermittelt und eindeutig „Europa bezogen“ sei, d.h. die Ereignisse am häufigsten in Hinblick auf Europa kontextualisiert würden, und „nationale Positionen“ eine untergeordnete Rolle spielten. Es wird die „Hypothese“ (wegen der kleinen Stichprobe von Zeitungen) aufgestellt, dass „die nationale Qualitätspresse in der Lage ist, die Basis für einen gesamteuropäischen Kommunikationszusammenhang der Bürger zu schaffen“ (Landfied 2004: 135). Überzeugend ist der Nachweis Risses, der zeigt das „Haider-Affäre“ nicht nur als Problem einer europäischen „moralischen Werte und Rechtsgemeinschaft“ und in diesem Sinne aus einer abstrakten Teilnehmerperspektive erörtert wurde, sondern in den nationalen Debatten mit Problemen der Fremdenfeindlichkeit vor Ort in Zusammenhang gebracht wurde, und dass sich schließlich solche „Teilnehmerperspektive“ von der des „Beobachters“ abhob, die US amerikanische Zeitungen einnahmen (Risse 2004: 144).

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dern als Ansatz eines transnationalen Kommunikationsflusses (Kevin 2003: 52), zugleich konstatiert sie, dass wenig über Entwicklungen in anderen Ländern berichtet werde, und dass auch da, wo über Europa berichtet werde, kaum andere Europäer zu Wort kämen (Kevin 2003: 176). Auch eine Analyse der medialen Verarbeitung des „post-Nizza Prozesses“ stellt das Fehlen transnationaler Kommunikation fest (Maurer 2003 zit. nach Trenz 2005: 315). Solche Diagnosen werden auch durch die Fallstudien von van de Steeg und Medrano (van de Steeg 2002a, 2002b; Medrano 2001; 2003) bestätigt. Marianne van de Steeg erhebt als Indikator „manifester“ transnationaler „diskursiver Interaktion“ die Zahl der ausländischen Gastbeiträge und der Verweise auf Debatten in anderen Ländern. Der Befund ist negativ. Nur in spanischen und in relevanterem Umfang in den niederländischen Magazinen konstatiert sie ein begrenztes Maß an Bezugnahme auf Debatten in anderen Ländern. Interpretiert wird dieser Befund nicht. Medrano spricht – angesichts der auch von ihm ausgemachten schwachen horizontalen Vernetzung von einer nationalen „Versäulung“ der „europäischen Öffentlichkeit“ (Medrano 2003). Angesichts dieses eher gemischten und negativen Befundes ist der Optimismus der vom neuen Paradigma inspirierten Autoren erstaunlich. Durchgängig werden die Befunde als Beleg für prinzipielle Möglichkeit und konkrete Tendenz der Herausbildung einer „europäischen Öffentlichkeit“ interpretiert. c) Aus den Arbeiten des internationalen Projektes sind unterschiedliche Teilergebnisse zugänglich (hier berücksichtigt insbesondere: Koopmans 2004; Statham 2005). Da es hier nicht um Akteure der europäischen Ebene sondern um Akteure transnationalen Adressierens in europäischen Politikfeldern geht, kommt die Studie zu anderen Ergebnissen hinsichtlich der Sichtbarkeit „europäischer Politik“. Nicht „europäisiert“ erscheinen hier nur Sprechhandlungen nationaler Akteure, in denen diese andere nationale oder globale Akteure ohne Bezugnahme auf Europa adressieren. Die Ergebnisse für die berücksichtigten Politikfelder werden als Beleg für die “Europäisierung” der “öffentlichen Kommunikation” betrachtet (Koopmans 2004). Zugleich fragt die Studie nach den Akteuren der Sprechhandlungen. Hier zeigt sich, dass Akteure der „europäisierten“ Kommunikation in Europa vor allem die politischen Eliten sind. Regierungsvertreter und Parteipolitiker machen 70-80% der sichtbaren Akteure (claim maker) aus (Koopmans 2004: 45). Ökonomische Interessensgruppen und andere zivilgesellschaftlichen Akteure stellen im Durchschnitt von sieben Politikfeldern 21% der sichtbaren Akteure. Im Falle der Debatte um Europäische Integration stellen sie sogar nur 7% der Sprecher (Koopmans 2004: 45). In diesem Politikfeld bilden einer anderen Auswertung zufolge „Experten und Wissenschaftler“ die zah-

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lenmäßig größte Kategorie „zivilgesellschaftlicher“17 Akteure (Statham 2005). Interpretiert werden die Ergebnisse dahin gehend, dass die öffentliche Kommunikation in Europa „elite dominated“ sei und ein europäisches „Demokratiedefizit“ bestätige (Statham 2005: 27). Nicht weiter interpretiert wird ein weiteres Ergebnis der Untersuchung: Hinsichtlich des Flusses der Forderungen zeigt der „europäisierte Kommunikationsraum“ markante Ungleichgewichte. Die Analyse britischer und französischer Mediendebatten zur europäischen Integration (1990, 1995, 2000 Qualitätszeitungen) zeigt, dass in beiden Ländern eigene nationale claim-maker die größte Gruppe bei den Sprechern stellten, und ihre Forderungen typischerweise an innenpolitische Kontrahenten und die supranationale Ebene richteten. Nationale Sprecher anderer Mitgliedsstaaten werden vor allem dann sichtbar, wenn sie die europäische Politikebene adressieren. Supranationale Akteure werden da sichtbar, wo sie mit anderen Akteuren dieser Ebene interagieren. Sowohl „horizontale“ Interaktionen als auch vertikale top-down Forderungsflüsse bleiben weitgehend diskret (Statham 2005: 19). Auch die hier deutlich werdende Untransparenz der europäischen Politikebene dokumentiert nach Paul Statham ein europäisches „Demokratiedefizit“ (Statham 2005: 20)

2.3 Zwischenfazit Die Ergebnisse können dahin gehend zusammen gefasst werden, dass von einem europäische „Kommunikationsraum“ nur insofern gesprochen werden kann, als in beachtlichem Umfang Interaktionen politischer Akteure in Raum europäischer Mehrebenenpolitik medial sichtbar gemacht werden. Allerdings zeichnet sich die Sichtbarkeit dieses Raumes durch Asymmetrien aus: Zum einen wird dieser Raum sichtbarer europäischer Politik nahezu ausschließlich von staatlichen Akteuren und eben nicht von solchen der Zivilgesellschaft/en geschaffen. Zum anderen sind es vor allem nationale Akteure, deren an die supranationale Ebene gerichteten Forderungen sichtbar werden. Die Akteure der supranationalen Politikebene sind dagegen deutlich weniger sichtbar, und vor allem da nicht, wo sie zwischenstaatliche Konflikte austragen oder vermitteln. Auch bleibt der Kommunikationsfluss von der supranationalen zur nationalen Ebene diskret. Die Ergebnisse der Studien, die den „europäischen Kommunikationsraum“ als durch Sinn- und Relevanzstrukturen kodierten Verständigungsraum betrach17

Die Paranthese bezieht sich darauf, dass es sich bei den „Experten und Wissenschaftlern” im Bereich europäischer Integration nicht nur um Vertreter der Periphrie der Zivilgesellschaft sondern auch eines vom politischen Zentrum geschaffenen und finanzierten Expertenstabes und Wissenschaftsbetrieb handeln dürfte.

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ten, geben gemischte Hinweise. Einerseits zeigen sich Überlappungen von Diskursen andererseits aber auch national segmentierte Diskursinseln. Wenn wir die identifizierten transnational wirksamen Deutungsrahmen genauer betrachten, lässt sich unschwer erkennen, dass sie in hohem Maße auf die Framingaktivitäten der europäischen Politikebene verweisen. So zeigt sich, dass es den vertikalen Kommunikationsfluss von oben nach unten – als diskretes Framing nationaler Debatten – gibt und das Tendenzen einer Konvergenz von Perspektiven vor allem auf diese top-down Flüsse verweisen. Hinweise auf manifeste „diskursive Interaktion“ zwischen nationalen Medien gibt es so gut wie keine. Die empirischen Befunde geben somit keine überzeugende Belege für eine sich durch Inklusion von oben und Sozialbewegung von unter herstellende, „demokratisch codierte“ und interagierende oder auch nur konvergierende „europäische Öffentlichkeit“. Die angesprochenen Befunde haben zwar im Umfeld des internationalen Forschungsprojektes die These vom „Demokratiedefizit“ neu legitimiert, die euronarzisstische Sichtweise der deutschen Debatte dagegen kaum getrübt. 3

Kommunikation und Öffentlichkeit: der europäische Kommunikationszusammenhang als para-nationaler „Kommunikationsraum“ oder als kosmopolitische Öffentlichkeit?

Wenn wir nun den Faden der theoretischen Erörterung wieder aufnehmen, knüpfen wir zum einen an Eriksens These vom „missing link“ an. Wir werden die „fehlenden Verbindungen“ aber nicht institutionell sondern kommunikationstheoretisch fassen. Wir werden auf strukturell begründete „Wissenslücken“ zwischen fragmentierten Expertendebatten und generalisierender Laien-Bürgeröffentlichkeit (3.2), zwischen nationalen Clustern (3.3) und – als spezifische Variante – auf strukturelle Asymmetrien zwischen den Medienöffentlichkeiten der großen Kernländer und der peripheren Mitgliedsstaaten der EU (3.4) eingehen. In unserer Argumentation werden wir auch an die von Christoph Meyer eingeführte Unterscheidung von „Supranationalisierung“ und „Internationalisierung“ anknüpfen. Meyer bezieht diese beiden Mechanismen auf die Medienpolitik der EU und die Arbeitsbedingungen der Journalisten. Wir werden die Formulierungen auf den Kommunikationszusammenhang in Europa beziehen und „Supranationalisierung“ auf Tendenzen der Homogenisierung eines europäischen „Kommunikationsraumes“ beziehen, die in der skizzierten Debatte und empirischen Forschung einer „europäischen Öffentlichkeit“ zugeschrieben werden, tatsächlich aber auf Inkorporationsprozesse verweisen, die von den europäischen Eliten und dem von ihnen getragenen Mehrebenensystem ausgehen. „Internationalisierung“ werden wir dagegen als Mechanismus einer Integration von Öffent-

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lichkeit konzeptualisieren. Wir werden uns diesen Problemen annähern, indem wir zunächst die Konzeptualisierungen des „europäischen Kommunikationsraums“ in der oben skizzierten Debatte erörtern und zeigen, dass diese stark am klassischen Modell der Nationsbildung und der Nation orientiert sind (3.1). Wir werden dem unsere Konzeptualisierung von nationalen Kulturen als Cluster von Perspektiven/Relevanz- und Sinnstrukturen entgegen stellen (ebenda). Nachdem wir mit dieser Erörterung zugleich Tendenzen der Homogenisierung eines „europäischen Kommunikationsraums“ angesprochen haben, wenden wir uns dann den Tendenzen der Segmentierung, d.h. den oben genannten „Wissenslücken“ zu. Auf der Grundlage der Argumente dafür, dass ungeachtet der Homogenisierungstendenzen auch von der Reproduktion nationaler Cluster auszugehen ist, wird dann vorgeschlagen, „Europäisierung“ von Öffentlichkeiten in Europa als Herausbildung eines Clusters nationaler Cluster zu konzeptualisieren. Da die „nationalen“ Cluster auf inhaltliche Vielfalt der Perspektiven verweisen, wird das „europäische“ Cluster nicht primär durch Konvergenzen oder „Überlappungen“ der nationalen Cluster definiert, sondern durch Diskurskultur, insbesondere durch die Herausbildung einer „kosmopolitischen“ Kompetenz. Die Begründung dieses normativen Bezugspunktes „europäischer Öffentlichkeit“ schließt die Argumentation ab (3.5). 3.1 „Kommunikationsräume“, „ Cluster“ und Tendenzen kultureller Homogenisierung durch „supranationale Inkorporation“ Unsere kommunikationstheoretischen Annahmen stützen sich vor allem auf das Konzept von Ulf Hannerz (1992), das der von Klaus Eder und Jürgen Habermas gemachten Annahme frei fließender Bedeutungen und Diskurse eine deutliche Absage erteilt. Kommunikation erscheint als voraussetzungsvoll, sie setzt das „Handwerkzeug“ (Swidler 1986) kompatibler Symbole, Codes, Relevanz- und Sinnstrukturen und Kompetenzen – also bestimmte kulturelle Ressourcen – voraus. Kommunikation ist „gesellschaftlich organisiert“ im Rahmen des Staats, des Marktes, von Sozialbewegungen oder durch Lebensstile (Hannerz 1992: 119f). Kommunikation ist zu verstehen als „un-free flow of meaning“ (Hannerz), der ungleich verteilt ist und sich durch strukturelle Asymmetrien auszeichnet. Bevor wir die für Öffentlichkeit in Europa relevanten Asymmetrien als „Wissenslücken“ ansprechen, soll die Konzeptualisierung von nationalen und europäischen „Kommunikationsräumen“ durch die Vertreter der Debatte um europäischer Öffentlichkeit und ihre Analogie zur „Nation“ angesprochen und dem unsere Konzeptualisierung nationaler Kulturen als „Cluster“ entgegengestellt werden. Wir werden im Folgenden a) den Begriff der „Nationalkultur“ erörtern, und b) mit den Konzeptualisierungen von „europäischem Kommunikationsraum“

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durch Vertreter der „neuen“ Öffentlichkeitsdebatte befassen und dann c) darauf verweisen, dass die konzeptionelle Gleichsetzung von „Öffentlichkeit“ und „Kommunikationsraum“ verschleiert, dass hinter den – als Indikatoren für „europäische Öffentlichkeit“ eingeführten – Tendenzen ein anderer Mechanismus versteckt ist, nämlich der einer supranationalen, herrschaftlichen Inkorporation, die dem Mechanismus der Nationsbildung ähnelt. a) Die ursprüngliche These vom „Demokratie-Dilemma“ verweist darauf, dass sich in Europa gesellschaftliche Kommunikationsräume als Nationalkulturen herausgebildet haben. Zwar sind die strukturell-funktionalen Merkmale der Staats- und Nationsbildung in den europäischen Gesellschaften gleich, es divergieren aber die konkreten institutionellen Ausformungen der politischen Modernisierung und die dem entsprechenden politischen und wirtschaftlichen Kulturen (Rokkan 2000). Die nationalen Entwicklungspfade haben das Grundmuster westlicher Moderne in jeweils spezifischen institutionellen Arrangements stabilisiert und in Sprache und Bedeutungssystemen sedimentiert. So ist „Nationsbildung“ – als Schaffung eines durch eine standardisierte Hochkultur homogenisierten Kommunikationsraums (Deutsch 1994; Gellner 1991) – ein Merkmal aller europäischen Gesellschaften18. Zugleich aber definieren „Nationalkulturen“ kulturelle Grenzen für Kommunikation. Es geht dabei nicht um Sprache im engen Sinne (Wissen über sprachliche Codes) sondern um den Vorrat gesellschaftlich verankerten „(Welt)Wissens“, der Voraussetzung für Kommunikation zwischen anonymen „Zeitgenossen“ ist (Schütz/Luckmann 1979)19. Innerhalb jeder konkreten Gesellschaft ist Wissen gesellschaftlich ungleich verteilt: Allgemeinwissen ist in sozial differenzierten Versionen, und Spezialwissen nach gesellschaftlich definierten Funktionen verteilt (Schütz/Luckmann 1979: Bd.1 371ff). Diese Diver18 19

Auch wenn die Mechanismen nicht gleich waren und sich die Prozesse ungleichzeitig vollzogen. Grundvoraussetzung von Kommunikation ist nach Alfred Schütz die „Idealisierung“ einer Vertauschbarkeit der Standpunkte und der Kongruenz der Relevanzstrukturen (Schütz/Luckmann 1979: 1. Bd.: 89). In unmittelbaren (face to face) Beziehungen unter „Mitmenschen“ wird diese Grundthese der wechselseitigen Perspektiven in der kommunikativen Interaktion fortdauernd interaktiv ausgehandelt und verifiziert. Auch die Interaktion unter anonymen „Zeitgenossen“ basiert auf der Annahme wechselseitiger Perspektiven, da diese aber nicht mehr situationell ausgehandelt werden kann, ist Kommunikation unter „Zeitgenossen“ auf systematisch objektivierte Bedeutungen angewiesen (Schütz/Luckmann 1979: 1. Bd.: 87ff, 98ff). Das zur Kommunikation befähigende Handwerkzeug objektivierter Bedeutungen wird biographisch als individueller und latenter „Wissensvorrat“ erworben. Es befähigt zur Kommunikation da und insoweit der subjektive Wissensvorrat Teil eines gesellschaftlichen Wissensvorrates ist. Sprache und andere Zeichensysteme wirken als „Brücken“, die es ermöglichen räumliche, zeitliche, und intersubjektive Grenzen der unmittelbaren Lebenswelt zu überschreiten (Schütz/Luckmann 1979: 2.Bd.: 208). Als „appräsentative Strukturen, die sich intersubjektiv aufbauen, geschichtlich abgelagert sind und gesellschaftlich vermittelt werden“ (ebenda: 208) sind Zeichensysteme begrenzt und konstituieren kulturelle Grenzen.

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genzen von Wissensvorräten werden in direkten und anonymen Beziehungen erfahren und sind zumindest teilweise bewusst. Die Besonderheiten des gesellschaftlichen Wissensvorrates bleiben dagegen normalerweise verborgen. Durch die Sozialisation wird unser Wissen seines gesellschaftlichen und subjektiven Charakters entkleidet und erscheint als selbstverständlich. Die durch das Zeichensystem selber konstituierten „nationalen“ Grenzen werden eher in allgemeiner Form – als Sprachgrenze – erfahren (Anderson 1996). Die Besonderheiten der mit der Sprache verbundenen Kodierungen von Wirklichkeit erfahren wir erst durch transkulturelle Kommunikation, durch „Missverständnisse“ und Fremdheitserfahrungen, die helfen, den Schleier der Selbstverständlichkeit unseres Wissens zu lüften. Im Zuge der Entgrenzung der Kommunikation durch neue Technologien und Medien wird diese Fremdheitserfahrung im Alltag zumindest prinzipiell möglich. Inwieweit sie genutzt wird, ist eine andere Frage.20 Zugleich reproduziert die national organisierte Medieninfrastruktur das Erbe von „Nationalkulturen“.21 b) Der Bezugnahme der Öffentlichkeitsskeptiker auf die „Nationalkultur“ stellt Klaus Eder einen pragmatischen Kommunikationsbegriff entgegen. Im Sinne des „Pragmatismus Deweyscher Prägung“ könne der Kommunikationsraum in einer „heterogenen Gesellschaft ohne autoritäres Zentrum“ wie folgt definiert werden: „An konkreten Problemen der Gesellschaft werden Differenzen kommunikativ und praktisch abgearbeitet.“ Dabei könne „davon ausgegangen“ werden, dass „problemorientiertes Kommunizieren und Handeln“ gemeinsame Horizonte und Erfahrungen und damit „Gemeinschaft“ schaffe, und die „gemeinsam übernommene Verantwortung“ für angestrebte Problemlösungen und somit „Solidarität“ generiere und ein „Kollektivbewusstsein“ entstehe, welches für ein demokratisches Gemeinwesen angemessen sei (Eder/Kantner 2000: 310). Entsprechend dieser Annahmen22 entsteht „transnationale Kommunikation“ da, wo „in transnationalen Räumen supranationale Institutionen adressiert werden“, wo „nationale (oder gar subnationale) Öffentlichkeiten supranationale Institutionen als relevante Objekte öffentlicher Kommunikation (und Kritik) adressieren“, und wo „in transnationalen Kommunikationsräumen nationale Institutionen zum Gegenstand öffentlicher Kommunikation“ werden (Eder/Kantner 2000: 323). „Kommunikation“ schafft sich hier gewissermaßen ihr Handwerkzeug selbst: kompatible Symbole 20

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Eine partielle Entterritorialisierung von Kulturgrenzen sind auch mit Migration und Transmigration verbunden. Inwieweit es tatsächlich zur indivdiuellen Überschreitung kultureller Grenzen kommt, kann hier nicht geklärt werden. Ich sehe hier von transnationalen Einrichtungen wie Arte oder die Le Monde Diplomatic ab, da auch sie keine europäische Reichweite haben. Übernationale Medien wie die BBC World, NZZ oder die amerikanischen Qualitätszeitungen werden nur von einem kleinen Kreis und als zusätzliche Informationsquelle genutzt. Sie verweisen auf die Forschung zu sozialen Bewegungen.

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und geteilte Sinn- und Relevanzstrukturen, und/oder Kompetenzen der Verständigung „über unterschiedliche Paradigmen hinweg“. Aus diesen Annahmen wird abgeleitet, dass sich eine „europäische Öffentlichkeit“ herstelle und auf der Ebene der Mediendiskurse als Gleichzeitigkeit der Resonanzen auf „europäische Ereignisse“ und deren kontroverser aber in ähnlichen Sinn- und Relevanzstrukturen argumentierender Erörterung empirisch ablesen lasse. In einer späteren Arbeit geht es nur noch um die Gleichzeitigkeit der Debatte über „gleiche politische Themen“ und bleibt das Kriterium der „ähnlichen Relevanz- und Sinnstrukturen“ unerwähnt (Eder 2004: 66f). Dafür werden nun die „Grenzbildung“ des „europäischen Kommunikationsraums“ und die Konstruktion einer Repräsentation kollektiver Identität23 als Aspekte berücksichtigt. „Grenzbildung“ bezieht sich auf WirReferenzen („Europa“ etwa im Unterschied zur Nation, der Menschheit oder anderen universell gefassten vorgestellten Gemeinschaften) und einen europäischen Adressatenbezug (Eder 2004: 68f). Entscheidend sind an dieser Stelle nicht diese Modifikationen, sondern die Annahme Eders, dass „Kommunikation“ prinzipiell voraussetzungslos ist und sich der Kommunikation ermöglichende Raum in der „kommunikativen und praktischen“ Abarbeitung an Problemen herstelle. Zunächst ist darauf zu verweisen, dass von einem „kommunikativen und praktischen“ Abarbeiten konkreter Probleme der europäischen Gesellschaft – zunächst ja nur in Hinblick auf die Eliten gesprochen werden kann. Nur diese nehmen – sei es als Technokraten, Politiker oder (in geringem Maße) als Aktivisten der Zivilgesellschaft – an solchen Abarbeitungsprozessen „praktisch“ teil, d.h. Eders Modellierung von „Kommunikation“ bezieht sich auf den Handlungsraum der europäischen Eliten und die Arenen der elitären Öffentlichkeiten24. Hier können wir in der Tat Lernprozesse erwarten, die einerseits zur Anpassung von Sinn- und Relevanzstrukturen und andererseits zur Herausbildung deliberativer Kompetenzen führen mag. Das Publikum der Bürger nimmt nicht „praktisch“ und unmittelbar teil. Es partizipiert nur mittelbar und passiv über die mediale Sichtbarmachung des „Abarbeitungsprozesses“ der Eliten. Die Vorstellung breiter, transnationaler Mobili23

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Die europäische Identitätskonstruktion wird aus dem „geteilten Erfahrungsraum” abgeleitet. Dieser wiederum wird an der Erfahrung, dem europäischen Rechtsraum anzugehören, der Erfahrung einer „besonderen gemeinsamen Geschichte (als „negativem Wir”) und der „Fairnesserfahrung”, wofür die Vertragsverhandlungen im europäischen Einigungs- und Erweiterungsprozess stünden, festgemacht. Es geht um ein „Wir, das die nicht vertraglichen Grundlagen des Vertrags in der Erfahrung einer fairen Prozedur der Zugehörigkeit verortet” (Eder 2004: 75). Nun beziehen sich auch diese „Erfahrungen” auf die Ebene der poltischen Eliten. Unklar bleibt, wie Eder die identitätsstiftenden Wirkungen interpretiert, die die prozeduralare „Fairness” der europäischen Eliten im Umgangs mit Referenden der Bürger bei diesen hinterläßt. Denen wir mit Eriksen auch die Akteure von Eder akzetuierten Kampagnen, Bewegungen und advokatorischen Netzwerke zuordnen.

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sierung durch Sozialbewegungen ist durch die empirischen Studien, wie wir gesehen haben, deutlich widerlegt worden. In Hinblick auf das Publikum der Bürger ist keineswegs davon auszugehen, dass analoge Lernprozesse zu erwarten sind. Denn die Wahrnehmung wird durch nationale Mediensysteme, nationale Politik und nationale cluster von Perspektiven vermittelt. Neben diesem „pragmatischen“ Konzept des europäischen „Kommunikationsraums“ lassen sich in der auf empirische Analysen gerichteten Debatte zwei weitere Konzeptualisierungen von „Kommunikationsraums“ unterscheiden: In dem internationalen Projekt handelt es sich um einen kulturell „leeren“ Raum, der durch die Sprechakte der Akteure gefüllt wird. Der „europäische Kommunikationsraum“ wird hier gleichgesetzt mit dem medial sichtbar gemachten Raum transnationaler Sprechhandlungen. Es geht dabei um den Handlungsraum der politischen Eliten, insoweit er medial sichtbar wird.25 Im Unterschied dazu fassen andere Vertreter der Debatte um „europäische Öffentlichkeit“ den „Kommunikationsraum zumindest prinzipiell als Raum der Verständigung der Bürger und betrachten die Verstellung einer „Kommunikationsgemeinschaft“ als Problem (Risse 2002; 2004). Bemerkenswert ist, dass der „europäische Kommunikationsraum“ – soweit er als (praktisch hergestellte) Kommunikationsgemeinschaft verstanden wird – in Analogie zur Nation gedacht wird, d.h. als ein kulturell standardisierter und über eine „Teilnehmerperspektive“ (Referenzkollektiv „Europa“) integrierter Raum, der durch Repräsentationen der Kommunikationsgemeinschaft bewusst gemacht und gedeutet wird (Eder 2004; Eder 2003; Eder/Kantner 2000, Risse 2004). Zugleich wird der Wirkungsmechanismus – selbst da, wo explizit auf das Bezugsmodell „Nation“ verwiesen wird – nicht als herrschaftlicher Mechanismus und „supranationale Inkorporation“ kenntlich gemacht sondern „gesellschaftlicher“ Interaktion und „Öffentlichkeit“ zugeschrieben (Eder 2004). c) In der von der Frage nach dem „ob“ einer „europäischen Öffentlichkeit“ geleiteten deutschen Debatte, werden Tendenzen zur Konvergenz und Homogenisierung nationaler Kommunikationsräume – gegen die empirische Evidenz – vor allem mit zivilgesellschaftlichen Aktivitäten (Kampagnen, Skandalisierun25

Vgl. die Konzeptualisierung eines internationale Forschungsprojekt unter Leitung von Paul Statham, Ruud Koopmans u.a. (Statham 2002; Statham et al 2005; Koopmans 2004; Statham 2005). Der so konzeptualisierte europäische „Kommunikationsraum“ ist insofern ein kulturell „leerer“ Raum, als die medial vermittelten, an das Publikum gerichteten medialen Deutungen dieser Handlungen und eine transnationale Verständigung auf der Ebene des Publikums der Bürger hier überhaupt nicht in Betracht gezogen werden. Im Unterschied dazu fassen andere Vertreter der Debatte um „europäische Öffentlichkeit“ den „Kommunikationsraum“ zumindest prinzipiell auch als Raum der Verständigung der Bürger, und heben auf eine durch geteilte Relevanz- und Sinnstrukturen hergestellte Verständigungs- oder „Kommunikationsgemeinschaft“ ab (Risse 2002; 2004).

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gen europäischer Politik, Sozialbewegungen, Milieu verankerter Debatten) oder Inklusionsbemühungen der europäischen Einrichtungen in Verbindung gebracht (Eder/Kantner 2000; Eder 2003; 2004; Trenz 2000; 2005; Risse 2002; 2004). In all diesen Arbeiten werden Konvergenzen entweder komplexen „europäischen“ Vergesellschaftungsprozessen oder interaktiven Lernprozessen zugeschrieben. Das ist erstaunlich zum einen angesichts der von den Autoren geschaffen Analogie zur Nation, und zum anderen deswegen, weil sich die Debatte um „europäische Öffentlichkeit“ mit der Fachdebatte um „Europäisierung“ überschneidet, und diese es erlaubt, die genannten Konvergenzen als Ergebnis europäischer Steuerungstechniken, d.h. herrschaftlichen Akteurhandelns, zu verstehen. Bei „Nationsbildung“ (Deutsch 1953; Gellner 1991) handelte es sich nicht um einen „von unten“ kommenden interaktiven Lernprozess, sondern – zumindest in Westeuropa – um den Mechanismus der „bürokratischen Inkorporation“ (Smith 1994: 17f). Nun sind die Instrumente der europäischen Inkorporation nicht in erster Linie „bürokratisch“: staatliche Bildungseinrichtungen, das Militär und andere staatliche Sozialisationsagenturen stehen der europäischen Politikebene nicht (direkt) zur Verfügung, da auch die Durchführung des Unionsrechts den Nationalstaaten obliegt. Europäische Politik bedient sich rechtlicher Regulierung, Koordination und des „weichen“ Steuerungsinstruments des „Framings“ von nationalen Debatten (Radaelli 2003; Risse, Cowles, Caporaso 2001; Knill/Lehmkuhl 2002; Börzel/Risse 2000). Diese Steuerungstechnik ist „weich“ auch deswegen, weil sie nicht den staatlichen „Befehl“ nutzt sondern auf der Interaktion politischer Eliten basiert. Zudem ist sie insofern „weich“, als sie nicht notwendig erfolgreich ist. Gerade bei einem großen „mis-fit“ zwischen europäischen und nationalen Deutungsmustern gilt Lernen, bzw. erfolgreiches Framing, als eher unwahrscheinlich und es besteht die Möglichkeit, dass die nationalen Elitendiskurse zwar die europäische Phraseologie, nicht aber die dahinter stehenden Deutungsrahmen übernehmen (Börzel/Risse 2000; Knill/Lehmkuhl 2002). Wie auch immer „interaktiv“ dieser kulturelle Inkorporationsprozess sich vollzieht, er wird von den Eliten im europäischen Mehrebenensystem getragen und hat herrschaftliche Form und Funktion. Es geht bei der supranationalen Inkorporation – ähnlich wie im Fall der Nationsbildung – um die Durchsetzung einer „legitimierenden Identität“ (Castells), d.h. um Ideen, Perspektiven und Deutungssysteme “introduced by the dominant institutions of society to extend and rationalise their domination vis à vis social actors” (Castells 2006: 8). Mit demokratischer „Öffentlichkeit“ hat dieser Prozess der „Supranationalisierung“ nur sehr mittelbar etwas zu tun. d) Angesichts solcher „Europäisierung“ nationaler Kommunikationsräume aber auch anderer, globaler Kanäle der Entgrenzung von Kommunikationsflüssen, können wir heute nicht mehr von kohärenten und geschlossenen „National-

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kulturen“ ausgehen. „Kultur“ ist zu verstehen als „moving interconnectedness of perspectives“, komplex und offen aber mit – auch territorial gebundenen – „Clustern“ von Perspektiven26 (Hannerz 1992: 62ff, 167f). Die Formulierung „Cluster“ verweist zunächst auf den hybriden Charakter der aus der Verbindung von nationalen Wissensbeständen und globalen Bedeutungsflüssen kombinierten Wissensvorräte. Die Formel verweist ferner auf die territoriale Anbindung der durch die Cluster geschaffenen soziokulturellen Räume. Sie verweist schließlich darauf, dass es sich um Verdichtungen mit fließenden Grenzen und nicht um abgegrenzte „Räume“ handelt, auch wenn die nationalen Cluster an institutionell begrenzte Räume gebunden sind. Bevor wir begründen, warum wir davon ausgehen, dass nationale Cluster von Perspektiven auch im institutionellen Rahmen der europäischen Mehrebenensystems reproduziert werden (3.3), und unser normatives Konzept der „Europäisierung“ von „Öffentlichkeit“ vorstellen (3.5), soll im Folgenden zunächst auf professionelle Wissenscluster und die Asymmetrie der kommunikativen Interaktion zwischen Technokraten und Bürgern eingegangen werden.

3.2 Die Wissens- und Rationalitätslücke zwischen Experten-Technokraten und Laien-Bürgern Erik Eriksen hatte darauf verwiesen, dass die Politikfeld spezifischen Willensbildungsprozesse in den Politiknetzwerken nicht nur der Einbettung in „fragmentierte“ Fachöffentlichkeiten bedürfen. Die Politikfeld spezifischen Interessenkonstellationen und professionellen Rationalitäten bedürfen – zum Zweck der demokratischen, politischen Vermittlung – einer generalisierenden Debatte. Das Zentrum, wo politische – die verschiedene partikulare Rationalitäten abwägende – Entscheidungen gefällt werden, ist – als Öffentlichkeit – nicht „stark“ institutionalisiert, da es institutionell um Kommission und geheim tagenden Ministerrat angesiedelt ist. Zugleich konstatiert Eriksen ein „missing link“ zwischen den fragmentierten, elitären Öffentlichkeiten und der Peripherie der Zivilgesellschaft. Wir können dieses institutionell gefasste Problem als strukturelle Asymmetrie von Kommunikationsflüssen und kommunikativer Macht umformulieren. Ulf Hannerz sieht im „knowledge gap“ zwischen Experten und Laien eine der strukturellen Asymmetrien des gesellschaftlich organisierten Kommunikationsflusses und die Quelle von Macht (Hannerz 1992: 118ff). Das gilt in besonderem Maße

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„Perspektive/n” verwenden wir im Sinne Hannerz, d.h. als Synonym für „Relevanz- und Sinnstrukturen” im Sinne von Schütz, Luckmann, Berger.

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für den Staat27: Die Macht der staatlichen Technokraten erscheint unpersönlich und wird durch Generalisten an der Spitze des politischen Systems orchestriert. Eine Bereitschaft zur „Überbrückung“ dieser „Wissenslücke“ ist deswegen nicht anzunehmen, weil die Wissenslücke die Macht der Technokraten als „Experten“ legitimiert und die Autonomie der politischen Akteure stärkt Es geht also um mehr als einen „missing link“ zwischen Öffentlichkeitsarenen. Es geht um eine „Wissenslücke“ zwischen staatlichem Zentrum und gesellschaftlicher Peripherie, der eine herrschaftslegitimierende Funktion zukommt. Die „Lücke“ bezieht sich aber nicht nur auf Wissensressourcen der Akteure sondern auch auf die Rationalitätskriterien der Organisation des Kommunikationsflusses und dadurch vermittelte Kompetenzen. Elitäre Fachöffentlichkeiten und populäre Medienöffentlichkeiten sind unterschiedlich organisiert. Expertendebatten mögen sich am Idealtypus „deliberativen“ Argumentierens, eines Lernens durch Positions- und Perspektivwechsel messen lassen, weil solch eine Form der diskursiven Interaktion den Standards wissenschaftlicher Selbstreflexivität und somit der Diskurskultur der Fachöffentlichkeiten entspricht, in die sie eingebettet sind. Die mediale Öffentlichkeit der Bürger als Laien ist aber nicht als „deliberative“ Debatte institutionalisiert. Nicht nur Boulevardpresse auch Qualitätszeitungen agieren einerseits als Marktakteure und reagieren andererseits auf das Agenda-setting politischer Akteure. Als Marktakteure müssen Medien auf den Verkaufswert ihrer diskursiven Produkte achten. In Reaktion auf die Agenda setzenden Aktivitäten der politischen Akteure werden sie in deren diskursiven Strategien der Loyalitätsbeschaffung eingebunden. Zwischen diesen Koordinaten können professionelle Standards nur bedingt als fragile Garanten „deliberativer“ diskursiver Interaktion dienen. In wieweit und wie sie dies leisten, hängt von den strukturellen Merkmalen der Mediensysteme und der Definition journalistischer Professionalitätsstandards ab.28 Für die gesellschaftliche Dimension des Gefälles zwischen Zentrum und Peripherie heißt das: Wir haben es nicht nur mit einem „missing link“ zwischen fragmentierten, elitären und generalisierenden Bürgeröffentlichkeiten zu tun, sondern mit einer „Wissenslücke“ und einer „Rationalitätslücke“ zwischen die-

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Hannertz macht diesen Mechanismus durch den Vergleich von staatlichen „Technokraten” und am Markt agierenden „professionals” deutlich. Letztere sind – als Berater – gezwungen die „Wissenslücke” zu den Laien-Kunden zu überbrücken. Das gilt nicht im Verhältnis zwischen staatlichen Technokraten und Laien-Bürgern (Hannertz 1992: 118ff). Auf unterschiedliche Standards von „Professionalität” in unterschiedlichen Mediensystemen und deren Bedeutung für die Form medialer Debatten werden wir im Schlusskapitel dieses Beitrages eingehen. Überhaupt nicht berücksichtigen können wir hier die Frage nach Verschiebungen und nach nationalen Divergenzen im Konsum unterschiedlicher Typen von Medien durch die Bevölkerungen.

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sen Segmenten des Konglomerats „europäische Öffentlichkeit“, die beide systemischen Charakter und legitimierende Funktion haben.

3.3 Segmentierungstendenzen: Reproduktion nationaler Cluster Die fragmentierten Öffentlichkeiten im Umfeld der europäischen Politiknetzwerke können auf das symbolische Handwerkzeug (Swidler 1986) transnational geteilter Professions- und Wissenschaftskulturen zurückgreifen. Für die transnationale Kommunikation zwischen den nationalen Öffentlichkeitsarenen (Medien) kann von einer solchen Vorgabe nicht ausgegangen werden. Zwar gehen wir nicht mehr von kohärenten und eindeutig abgegrenzten „Nationalkulturen“ aus. Es gibt aber hinreichend Gründe dafür, von einer Reproduktion nationaler Vielfalt – in der Form nationaler Cluster – auszugehen. Solche Gründe sind: a) Die unterschiedliche Grundausstattung mit „Wissen“ (Art der Sinn- und Relevanzstrukturen „already in place“ (Hannerz 1992: 56)) spricht für eine pfadabhängige Adaption neuer Bedeutungen. b) Die unterschiedlichen strukturellen Positionen und Positionierungen der national organisierten Gesellschaften und c) die Verfasstheit europäischer Politik legt die Erwartung nahe, dass die Nation als Erfahrungsgemeinschaft reproduziert wird. a) Der erste Punkt bedarf keiner weiteren Kommentierung. Politische Unternehmer und Medien müssen die kognitiven Dispositionen ihrer Wähler/Käufer berücksichtigen. Die „Pfadabhängigkeit“ der Adaption vertikaler Bedeutungsflüsse (homogenisierendes Framing der europäischen Politikebene) dürfte dann und da besonders ausgeprägt sein, wo diese nicht durch vertikale Bedeutungsflüsse, d.h. transnationale diskursive Interaktionen, unterstützt wird. Genau diese Unterstützung fehlt – wie wir gesehen haben – auf der Ebene der Medienöffentlichkeit. b) Unterschiedliche Positionen und Positionierungen können sich aus jeweiligen inner-nationalstaatlichen Akteurskonstellationen und daraus resultierenden „nationalen Interessen“ und auch aus unterschiedlichen (ökonomischen, kulturellen) Außenanbindungen ergeben. Angesichts dessen, dass in der EU sowohl die konkrete Solidarität, d.h. die staatliche Umverteilung, als auch die außenpolitischen Entscheidungen und daraus sich ergebenen Konsequenzen (Verwendung von Steuermitteln, Militäreinsatz) als Zuständigkeitsbereich des Nationalstaates organisiert sind29, ist nicht davon auszugehen, dass die „Nation“ als Bezugsgröße kollektiver Positionierung tendenziell der Vergangenheit angehört. Von daher besteht die Möglichkeit „nationale Interessen“ zu mobilisieren.

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Hieran dürften auch der „Lisabon Vertrag” und das dort festgelegte „Kohärenzgebot” der Außen- und Sicherheitspolitik nicht grundsätzlich etwas ändern.

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c) Damit kommen wir zum dritten Punkt: Die Verfasstheit politischer Willensbildungsprozesse in der EU definiert Anreize, diese Möglichkeit zu nutzen. Insbesondere die fehlende Transparenz der Willensbildung in den informellen Politiknetzwerken und dem formellen Entscheidungszentrum Ministerrat zusammen mit einer elitären und paternalistischen Komplizenschaft der Politiker ermöglichen es den politischen Eliten, Kompromisse, die sie im Kontext der europäischen Elitenarenen mitgetragen haben, auf der Bühne nationaler Öffentlichkeit zu verleugnen und als politische Unternehmer Kapital aus populistischen Strategien mit nationalistischer Stoßrichtung zu erzielen. Diese zahlen sich nicht nur als Loyalität von Wählern sondern auch als Unterstützung für nationale Interessendurchsetzung auf der europäischen Ebene aus. Mit anderen Worten: Voraussetzungen für nationale und nationalistische Mobilisierung sind – auch im Kontext der politischen Vergesellschaftung durch das europäische Mehrebenensystem – strukturell gegeben.

3.4 Segmentierungstendenzen: Asymmetrie zwischen europäischen Kernländern und Peripherie Zusätzliche Asymmetrien der Organisation von Öffentlichkeit ergeben sich aus der territorialen Dimension des Zentrum – Peripherie Gefälles, die nach der Osterweiterung an Bedeutung gewonnen hat. Das Gefälle zwischen Kernstaaten und Peripherie bezieht sich einerseits auf ökonomische und politische Macht. Dieses Machtgefälle dürfte sich auch auf der Ebene der transnationalen Kommunikation ablesen lassen. „Macht“ kann hier in Anschluss an Karl W. Deutsch als die Möglichkeit begriffen werden, „zu reden anstatt zuzuhören“ bzw. „nicht lernen zu müssen“ (Deutsch 1969: 171). Darüber hinaus bezieht sich das Zentrum Peripherie Gefälle auf die ungleiche Ausstattung mit Wissensressourcen und Infrastrukturen der Wissensproduktion und auf unterschiedlich strukturierte Diskurslandschaften. Letzteres bezieht sich darauf, dass sich die diskursive Verarbeitung der Asymmetrien zwischen Zentrum und Peripherie in den Konfliktlinien der nationalen Diskurse niederschlägt.30 Mit anderen Worten: Das Zentrum – Peripherie Gefälle und seine diskursive Verarbeitung als inner-nationalen Kulturkonflikt peripherer Gesellschaften generiert Diskursgemeinschaften, die im europäischen Zentrum strukturell inkompatibel und deswegen ausgegrenzt bleiben.31

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Auch hieraus hat Ulf Hannerz aufmerksam gemacht (Hannerz 1992: 217ff). Hieraus verweisen Ergebnisse unserer Fallstudien. Wir werden bei der Erörterung der Ergebnisse im Rahmen der Schlussfolgerungen auf diesen Punkt genauer eingehen.

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3.5 „Europäisierung“ von Öffentlichkeit als „Internationalisierung“ und „kosmopolitische“ Kompetenz Bislang haben wir einerseits vom europäischen Mehrebenensystem ausgehende Homogenisierungstendenzen und andererseits Segmentierungs- und Abgrenzungstendenzen hervorgehoben. In Hinblick auf die horizontale (transnationale) Integration der innereuropäischen nationalen Cluster haben wir argumentiert, dass die Herausbildung eines „europäischen Kommunikationsraums“ auf der Ebene der europäischen Eliten und Elitendiskurse sich nicht bruchlos in entsprechenden Tendenzen auf der Ebene der nationalen Öffentlichkeiten fortsetzt. Wir haben auf Merkmale der gesellschaftlichen Organisation des Kommunikationsflusses verwiesen, die sowohl eine „Wissens- und Rationalitätslücke“ zwischen elitären und Bürgerforen als auch „Wissenslücken“ zwischen den national organisierten Öffentlichkeitsforen wahrscheinlich erscheinen lassen. Die nationale Fragmentierung der Bürgeröffentlichkeiten vergrößert zugleich die vertikale Distanz zwischen elitären und allgemeinen Öffentlichkeiten und erleichtert eine funktionale Spezialisierung: Den elitären Arenen wächst die Aufgabe der Entscheidungsvorbereitung zu. In den Arenen für die Laien/Bürger und deren medialen Foren werden politische Konflikte zum Zweck der Loyalitätssicherung inszeniert. Eine solche Entkopplung und funktionale Spezialisierung von fragmentierten Öffentlichkeiten widerspricht den Standards liberaler Öffentlichkeit und Demokratie. Sie lässt sich aber auch nicht mit dem Postulat politischer „Deliberation“ vereinbaren. Denn die diskursive Rationalisierung der politischen Willenbildung hätte allein eine technokratische Form. Die generalisierenden, d. h. im eigentlichen Sinne „politischen“ Entscheidungen blieben im Dunkel entformalisierter Prozeduren und untransparenter Absprachen. In Hinblick auf solche Tendenzen hat Colin Crouch von einer Entwicklung zur „post-democracy“ (Crouch 2004) gesprochen. Gegentendenzen zu solchen Entwicklungen sehen wir bestenfalls mittelbar in der Herausbildung eines „europäischen Kommunikationsraums“. Für die „Europäisierung“ demokratischer Öffentlichkeit scheinen uns nicht Tendenzen einer Inkorporation der nationalen Gesellschaften sondern Möglichkeiten einer „Internationalisierung“ von Öffentlichkeiten in Europa entscheidend. Dies – so unser Argument – setzt weniger Homogenität der Relevanz- und Sinnstrukturen als eine geteilte „kosmopolitische“ Diskurskultur voraus. Wir haben oben Argumente dafür angeführt, dass mit dem Fortbestand nationalstaatlich gebundener Clustern von Perspektiven zu rechnen ist. Und das schon deswegen, weil im europäischen Mehrebenensystem sowohl homogenisierende als eben auch segmentierende Mechanismen wirksam sind. Nun möchten wir die Unterscheidung zwischen kultureller „supranationaler Inkorporation“ der

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Gesellschaften einerseits und Mechanismen der transnationalen, diskursiven Interaktion und Vernetzung als „Internationalisierung“ der Kommunikation andererseits unterscheiden und ausführen, warum „Europäisierung“ demokratischen Öffentlichkeit in erster Linie als „Internationalisierung“ konzeptualisiert werden soll. Als normativer Bezugspunkt kann sich „Europäisierung“ demokratischer Öffentlichkeit nicht im Zusammenspiel europäischer Inkorporation und reaktiver nationaler Anpassung der vertikal top-down gemachter Vorgaben und Deutungsangebote erschöpfen. Sie setzt „Internationalisierung“ voraus, d.h. horizontale, transnationale diskursive Interaktion zwischen den nationalen Öffentlichkeiten. „Demokratische Öffentlichkeit“ kann nicht als Objekt und Produkt kultureller Inkorporation begriffen werden. Sie muss auf gesellschaftliche Subjektivität zurückgreifen können, d.h. auf gesellschaftlich aggregierte Wissensvorräte, deren „Europäisierung“ durch interaktives, gesellschaftlich-horizontales Lernen – durch „Internationalisierung“ – regeneriert und koordiniert werden kann. Aus der bisherigen Argumentation ergibt sich, dass die Voraussetzung für solche „Internationalisierung“ nicht in der Konvergenz der Relevanz und Sinnstrukturen, d.h. kultureller Homogenität gesehen werden kann. Was nicht heißen soll, dass wir negieren, dass gerade eine auf Konsensbildung angelegte Verständigung auf ein gewisses Maß an Konvergenz von Relevanz- und Bedeutungsstrukturen angewiesen ist. Es geht aber darum, nicht Konvergenz zum Kriterium der „Europäisierung“ von „Öffentlichkeit“ zu erheben. Da wir davon ausgehen, dass kulturell divergente nationale Cluster erhalten bleiben, und dass auch diese Dimension von kultureller Komplexität eine Bereicherung und einen Gewinn an Anpassungs- und Lernfähigkeit bedeutet, wollen wir „Europäisierung“ von „Öffentlichkeit“ und die Integration eines europäischen Kommunikationsclusters auf die Form der Debatte und nicht primär auf deren inhaltliche symbolische Werkzeuge beziehen. Mit der „Form der Debatte“ meinen wir eine bestimmte Diskurskultur, insbesondere eine „kosmopolitische“ Kompetenz. Im Verständnis von Jürgen Habermas bezieht sich „Deliberation“, wie wir oben gesehen haben, auf eine Diskurskultur, die den „Anderen“ als „legitimen Sprecher“ einbindet und bereit ist, Positionen und Perspektiven zu wechseln um die „guten Gründe“ des Anderen zu verstehen. Es geht hier darum, über „Deliberation“ Lernprozesse in Gang zu setzen und Konsensbildung zu ermöglichen. Das mag als normatives Konzept und Referenzpunkt für die Betrachtung von Willensbildungsprozessen sinnvoll sein. Eine auf Konsensbildung angelegte „Deliberation“ zielt aber auf Nivellierung des „Anderen“ und beinhaltet – im Kontext nicht herrschaftsfreier Debatten – die Gefahr den Anderen zu vereinnahmen. Wenn wir „Öffentlichkeit“ als Instrument der Herrschaftskontrolle, der innergesellschaftlichen Meinungsbildung – und nicht in erster Linie als Instru-

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ment der Integration – betrachten, dann ist die Bereitschaft den Anderen als „Anderen“ zu respektieren wichtiger als ihn in ein imaginiertes „Wir“ einzuschließen.32 Denn der Andere ermöglicht es uns nur als „Anderer“ kommunikative Kompetenzen und kulturelle Autonomie zu erlangen. Er verhilft uns – als „Anderer“ und nur in dieser Position – zu einer „kosmopolitischen“ Kompetenz. Diese zeigt sich nicht am Anspruch den „Anderen“ zu „verstehen“. Kosmopolitische Kompetenz zeigt sich als Fähigkeit, selber eine „metakulturelle“ Position ein zu nehmen. Diese bezieht sich auf das Verhältnis zur eigenen Kultur. Durch den Umgang mit dem „Anderen“ wird das „Eigene“ seiner Selbstverständlichkeit entkleidet. Für das Verhältnis des Kosmopoliten zur eigenen Kultur gilt: „He possesses it, it does not possess him.“ (Hannerz 1992: 253). Das heißt: den „Kosmopolit“ charakterisiert das reflexive Verhältnis zur eigenen Kultur. Eine kosmopolitische Identität bedarf des „Anderen“ nicht zur Abgrenzung eines „Wir“ sondern zur reflexiven Distanzierung vom „Eigenen“. Diese Distanz ermöglicht zwar nicht „Vergemeinschaftung“ nach dem Muster der „Nation“, sie schafft aber die Fähigkeit nach innen und nach außen „Brücken“ zu bauen. Eine so verstandene „kosmopolitische“ Kompetenz und darauf sich beziehende Identität entspricht der europäischen Konstellation in zweierlei Hinsicht. Einheitlichkeit auf der Ebene der kulturellen Form (deliberativer Positions- und Perspektivwechsel, Selbstreflexivität) und Vielfalt der kulturellen Cluster korrespondieren mit der Richtung und den Merkmalen des formal-strukturell isomorphen und inhaltlich diversifizierten europäischen Modernisierungspfades. Die europäischen Wissensvorräte beinhalten das Potential für die Vielfalt von Inhalten und Konsens über Formen. Zugleich garantieren innere Komplexität, offene und flexible Grenzen33 und die – auf Selbstreflexivität basierende – Fähigkeit, Brücken zu bauen, Anpassung an und Interaktion in einer „entgrenzten“ Welt. Wir werden im Zusammenhang der Schlussfolgerungen aus den Fallstudien unsere Thesen und das vorgestellte normative Konzept zumindest punktuell konkretisieren (5). Nun geht es zunächst darum, die Fallstudien kurz vorzustellen.

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Wir werden unten – unter Verweis auf unsere Fallstudien – zeigen, dass die konkreten Repräsentationen des „Wir” partikulare Züge tragen und als strategisches Instrument in symbolischen Machtkämpfen eingesetzt werden. „Offen” sind die Grenzen, weil sie nicht über Abgrenzung geschaffen werden und sich auf diskursive Interaktionsformen und nicht konkrete kulturelle Ressourcen beziehen. „Flexibel” sind sie, weil sie multiple politische Grenzziehungen zulassen, dergestalt, dass „deliberative Konsensbildung” und politische Integration in unterschiedlichen Bereichen unterschiedliche Reichweiten haben kann, ohne die „Identität” des Bezugsrahmens „europäischer” Öffentlichkeit in Frage zu stellen.

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Die in diesem Band zusammengestellten Fallstudien: Vorgehen und Gegenstand

Die in diesem Band zusammengestellten Fallstudien sind Ergebnisse studentischer Arbeiten im Rahmen von zwei von mir an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main durchgeführten Empiriepraktika.34 Einige Arbeiten wurden zu Diplomarbeiten erweitert. Die Praktikumsberichte bzw. Examensarbeiten wurden von den Autoren in Form des hier präsentierten Aufsätze zusammengefasst oder in Zusammenarbeit mit mir mit dem Ziel überarbeitet, vergleichende Überlegungen aus den Untersuchungsergebnissen ableiten zu können.35 Der Band enthält zudem zwei kleine von mir durchgeführte Fallstudien. Auf Grund ihres Zustandekommens sind die Fallstudien Spotlights auf zufällig36 zusammen gewürfelte Medienereignisse. Im Folgenden werde ich kurz (1) etwas zur genutzten Methode sagen und dann (2) die einzelnen Beiträge knapp vorstellen.

4.1 Methodischer Ansatz Methodisch steht bei den Fallstudien die Analyse von Deutungsrahmen im Mittelpunkt. In vielen Fällen wurde dieses Instrument durch eine Erhebung des normativen und sachlichen Bias ergänzt und in einem Fall mit einer Analyse der Sichtbarkeit von Akteuren und Positionierungen verbunden. Die Frame- oder Rahmenanalyse interessiert uns hier als Instrument der „wissenssoziologische Diskursanalyse“. Dieser Zweig der an Schütz, Berger und Luckmann orientierten Diskursanalyse geht davon aus, dass „unser Weltwissen“ auf „gesellschaftlich hergestellte symbolische Systeme oder Ordnungen“ rückführbar ist, „die in und durch Diskurse produziert werden“ (Keller 2004: 57). Aus dieser konstruktivistischen Perspektive programmiert „Wissen“ unser Handeln und damit die soziale Wirklichkeit. Untersuchungsziel der Diskursanalyse 34

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Das erste Empiriepraktikum wurde im WiSe 04/05 SoSe 05 durchgeführt. Es beinhaltete das gemeinsame Projekt der Analyse der „Hintergrunddebatte” um Europa im Kontext der Auseinandersetzungen um den Irakkrieg. Als Gesamtprojekt ist das Unternehmen in sofern gescheitert, als die unterschiedliche Qualität der Arbeiten es nicht erlaubte, die Diskurslandschaft in Europa am Beispiel dieses Ereignisses/Themas zu rekonstruieren. Beim zweiten Empiriepraktikum WiSe 06/07 SoSe 07 wurde den Studierenden freigestellt, eigene kleine Projekte zu formulieren. Natürlich habe ich allen Studierenden eine gewisse Hilfestellung bei der Umformulierung gegeben. Als Mitautor habe ich mich in den Fällen angegeben, wo ich selber zu den Textkorpi zurückgegangen bin bzw. diese erweitert und die Analyse selber substantiell verändert habe. Entscheidend waren beim Zustandekommen der kleinen Analysen Sprachkenntnisse und Interessen der Studierenden und für Eignung zur Veröffentlichung die Qualität der Analyse.

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ist es dementsprechend, „Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinn, d.h. Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. (kollektiven) Akteuren zu rekonstruieren und die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse zu analysieren“ (Keller ebd.). Mit der Rekonstruktion der Prozesse gesellschaftlicher Sinnkonstruktion verfolgt Diskursanalyse eine kritische, „dekonstruktive“ Absicht: Sie will „Wissen“ vom Schleier des Selbstverständlichen befreien, es als gesellschaftliches Konstrukt erkennbar und dadurch der Reflexion zugänglich machen. Medien erfüllen im Prozess der Konstruktion politischer Wirklichkeiten eine vermittelnde Funktion. Sie greifen die von den politischen Akteuren definierten Agenden und Situationsdeutungen auf und selektieren dabei als „gate keeper“ öffentlicher Debatten. Als kontrollierende Beobachter des politischen Prozesses („watch dogs“) können sie aber auch selber Agenden schaffen. Schließlich müssen Medientexte an Wissensvorräte ihres Publikums anknüpfen um verständlich zu sein und gekauft zu werden. Unter dem Einfluss des Sozialkonstruktivismus hat sich auch in der Medientextanalyse ein Paradigmenwechsel dahingehend vollzogen, dass es nicht mehr um die Analyse von „Verzerrungen“ der Wirklichkeit durch den zu identifizierenden „Bias“ der Berichterstattung geht (zum „realistischen“ Paradigma vgl. Bonfadelli 2002: 16, 50, 52, 101), sondern vielmehr soll durch die Analyse der Begründungsstrategien für bestimmte Haltungen und Einschätzungen, der – die Argumentation strukturierende – Deutungsrahmen/Frame ausfindig gemacht werden. Dieser „Deutungsrahmen“ erlaubt es die konstruierende Tätigkeit von Medien besser sichtbar zu machen als die Herausarbeitung des „Bias“, d.h. der Perspektive einer immer selektiven Wahrnehmung. Aus diesem Grund macht die wissenssoziologisch angeleitete Medientextanalyse die Identifikation von „Frames“ (Deutungsrahmen/Schemata)37 zum wichtigsten Instrument der Analyse. Der Begriff der „Rahmenanalyse“/“Frameanalyse“ geht auf Goffman zurück. Der Begriff „Rahmen“/“Frame“ bezeichnet „Organisationsprinzipien für Ereignisse“ (Goffman zit. nach Bonfadelli 2002: 144), die es uns erlauben, Situationen zu Phänomenen zu klassifizieren und zu deuten. Frames/Deutungsrahmen sind danach „Interpretationsschemata“, „Perspektiven“ oder „Sichtweisen“, die für die Interaktionsteilnehmer einen Verständigungshintergrund bilden, und ein Ereignis oder eine Situation in einer spezifischen Weise verständlich machen (Banfadelli 2002: 144). 37

Die Übersetzung von „frame” mit „Deutungsrahmen” ist insofern misverständlich, als das englische Wort „frame” den „Rahmen” aber auch das innere Baugerüst bezeichnet. Tatsächlich meint Frame den Rahmen eines Themas aber auch das Ordnungsprinzip, nach dem es organisiert ist (Dahinden 2006: 27f ).

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Streng genommen erfüllen Frames/Deutungsrahmen zwei Funktionen: (1) Sie erlauben es Wahrnehmungen zu bündeln, d.h. sie zu einem „Ereignis“ zu integrieren, dieses „Ereignis“ zu typisieren und ihm durch die Zuordnung zu einem Typus einen „Sinn“ zu geben, der auf Wiedererkennung basiert. Wiedererkennung und Sinnzuweisung ist deswegen möglich, weil der Deutungsrahmen auf vorgegebenes Wissen zurückgreifen kann. Die Funktion des Frames liegt hier in der Hervorhebung von Daten, die als relevanter Teil des Ereignisses betrachtet werden (Donati 2001: 151). (2) Der Frame definiert aber nicht nur das „Ereignis“ an sich, sondern er kontextualisiert es in einer Szenerie, indem er das „Ereignis“ kategorisiert. Der Deutungsrahmen stellt das „Ereignis“ dadurch in einen spezifisch konstruierten Kontext, ordnet das „Ereignis“ einem weiter reichenden Wirklichkeitsausschnitt zu und trägt zu dessen Strukturierung bei (Donati 2001: 151f). Thematisierung und Kontextualisierung haben auch eine zeitliche Dimension. Das „Szenario“ (Gamson zit. nach Keller 2004: 38) stellt „Teilereignisses“ in einen zeitlichen Zusammenhang. Solche „Inszenierung“ definiert Anfang und Ende des „Ereignisses“ und die Abfolge der Ereigniselemente. Deutungsrahmen können so auch begriffen werden als „a central organizing idea for news content“, die den Kontext liefert und unterstellt, was der „issue“ ist und so Selektion, Betonung, Exklusion und Erarbeitung anleitet (Tankard zit. nach Bonfadaelli 147). Frameanalyse fragt somit: Als was wird ein „Ereignis“ thematisiert und welche Elemente gelten als Teile des Ereignisses? Als Abfolge welcher Elemente erscheint das Ereignis? Wie wird das „Ereignis“ kontextualisiert und in welchem Spannungsverhältnis wird es verortet und strukturiert? So verstandene Frameanalyse kann auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen ansetzen. Thematisierung und Kontextualisierung können vergleichsweise konkret und nahe an den expliziten Formulierungen des Textes identifiziert werden. Sie können aber auch abstrakter auf der Ebene der paradigmatischen Fassung eines Themas oder Kontextes, oder noch allgemeiner auf den spezifischen Denkweisen38 ausgemacht werden. Die Unterscheidung von Deutungsrahmen auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus kann auch in die Identifikation von „Subframes“ und „Überframes“ oder „framesets“ übersetzt werden. Als „Diskurs“ bezeichnen wir einen mehr oder weniger logisch stringenten, empirisch festzustellenden Zusammenhang von Deutungsrahmen und Argumentationsmustern unterschiedlicher Art. Diskurse werden von Sprechern artikuliert und diese bilden „Diskursgemeinschaften“ (Wuthnow zit. nach Keller 2004: 41) 38

„Denkenweisen”/Mentalitäten bezieht sich hier auf das, was wir als Forschungsparadigmen bezeichnen, d.h. die Annahmen darüber als was wir gesellschaftliche und zwischengesellschaftliche Beziehungen überhaupt – und entsprechend „Gesellschaft” oder die „internationale Ordnung” – betrachten wollen.

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und/oder können politischen Milieus zugeordnet werden. Definierendes Merkmal eines Diskurses kann ein bestimmtes Set von Deutungsrahmen und Argumentationsmustern oder auf einer höheren Abstraktionsebene eine bestimmte Mentalität/Denkweise sein. Die Zuordnung eines Textes zu einem „Diskurs“ kann auch als Identifikation eines „Deutungsrahmens“ von hohem Abstraktionsniveau verstanden werden. Als zusätzliche Instrumente der Textanalyse und auch als Hilfsmittel zur Identifikation von Deutungsrahmen, können Argumentationsmuster, der normative Bias (Bewertung) und der „sachliche Bias“ (Elemente des Ereignisses, Themas) erhoben werden. In den „Bewertungsanalysen“ (Bonfadelli 2002: 81, 101) geht es darum, die normative Einstellung des Textes (pro, contra, neutral) gegenüber dem Ereignis bzw. Teilelementen des Ereignisses festzustellen. Der „sachliche Bias“ soll es erlauben, die Konstruktion des Ereignisses als Bündel von Teilereignissen oder Aspekten zu erheben. Meist wurden die Frames über induktive Verfahren erhoben. Zur Identifikation der Frames wurde eine Feinanalyse zufällig ausgewählter Texte durchgeführt. Die Texte wurden paraphrasiert, Argumentationsstruktur und Argumentationsmuster offengelegt und Metaphern und Schlüsselbegriffe identifiziert. Auf der Grundlage dieser Daten wurde dann ein „Frame“ für den jeweiligen Text identifiziert und vorläufig beschrieben. Auf der Grundlage der zunächst identifizierten Frames und der zugeordneten Pakete von Argumentationsmustern und Schlüsselbegriffen wurden weitere Teile des Textkorpus durchgesehen. Für die Texte, die vom identifizierten Grundmuster abwichen, wurde eine neue Analyse erstellt und im Ergebnis weitere Frames oder Gruppen von „Unterframes“ identifiziert, die sich einem übergreifenden Deutungsrahmen zuordnen ließen. In einzelnen Arbeiten wurde nach den ersten induktiven Schritten gezielt Hintergrundwissen für eine verfeinerte Frameanalyse und die Interpretation der identifizierten Deutungsrahmen erschlossen. Der Textkorpus bestand in der Regel aus Kommentaren von Qualitätszeitungen. Diese Auswahlkriterien für Texttyp und Medium entsprangen der Intention, Argumentationen und die dahinterstehenden Deutungsrahmen zu identifizieren. Das erschien uns im Fall von Kommentaren einfacher als bei der Analyse der Berichterstattung. Da uns Argumentationsmuster und Deutungsrahmen und nicht Manipulationstechniken interessierten, schien uns die Qualitätspresse sinnvoller als Boulevardzeitungen. Modifikationen des skizzierten Standardverfahrens werden, soweit gegeben, in der Präsentation der Fallstudien angesprochen.

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4.2 Gegenstand der Fallstudien Die Gegenstände der Fallstudien sind – dem Entstehungszusammenhang entsprechend – nicht systematisch ausgewählt. Der folgende Überblick verweist auf Gegenstand und Ergebnisse der Frameanalysen. Andere ausgewählte Aspekte der empirischen Befunde werden in den Schlussfolgerungen aufgegriffen. Die mediale Verarbeitung von Konfliktdebatten um „Europa“ und „europäische Identität“ sind Untersuchungsgegenstand von vier Fallstudien. Bei den Konfliktereignissen handelt es sich um die Hintergrunddebatte um Europa im Zusammenhang der Auseinandersetzungen um den Irakkrieg, die Resonanzen auf die Habermas-Derrida Initiative, die Debatte um die europäische Verfassung, und den Konflikt im Umfeld des Gipfels zu Mandatserteilung für den „Reformvertrag“ (später: „Vertrag von Lissabon“). Zur Hintergrunddebatte im Zusammenhang der Auseinandersetzungen um den Irakkrieg 2003 liegt ein kleines Bündel von Fallstudien vor, die sich mit der Resonanz des innereuropäischen Konfliktes im linken Milieu befasst. Analysiert werden Kommentare des The Guardian (Johanna Rehner), der Süddeutschen Zeitung (Melanie Tatur) und der Le Monde Diplomatique (Sophie Schmitt). Der Vergleich der Fallstudien macht deutlich, dass das „Ereignis“ innereuropäischer Konflikt, hinsichtlich des zeitlichen „Szenarios“, hinsichtlich der thematischen Dimensionen der Auseinandersetzung und hinsichtlich der Deutungsrahmen und Denkweisen in allen drei Blättern unterschiedliche „geframed“ wurde. In der britischen und der deutschen Zeitung ist das innereuropäische Konfliktereignis Gegenstand zahlreicher Kommentare. Für Le Monde Diplomatique gewinnt der innereuropäische Konflikt dagegen keine eigene Bedeutung.39 Zwischen diesem Forum und dem britische The Guardian gibt es keine Überlappungen. Dem gegenüber erscheint die deutsche SZ zunächst als Forum, auf dem sich beide Rahmungen in jeweils modifizierter Form treffen. Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese „Überlappung“ aber deswegen als problematisch, weil die „überlappenden“ Deutungsrahmen Teil jeweils unterschiedlicher Diskurse sind. Im Kontext divergenter Szenarien und Denkweisen gewinnen ähnliche Deutungsrahmen einen unterschiedlichen Stellenwert. Im Fall der britischen Zeitung sind Argumentationsmuster und Deutungsrahmen in eine „realistische“ und „pragmatische“ Mentalität eingebettet. Im Fall der Süddeutschen Zeitung sind Argumentationsmuster und Frames – nicht nur im Falle der Überlappungen mit der franzö39

Die Le Monde Diplomatique kann selbstverständlich nicht als Repäsentant der linken Milieus in Frankreich betrachtet werden. Die Schwierigkeiten der Studierenden in Frankreich die „Hintergrunddebatte“ über Europa überhaupt zu auszumachen, könnte allerdings ein Hinweis darauf sein, dass die Wochenzeitschrift in diesem Punkt auch nicht völlig untypisch für die französische Debatte ist.

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sischen linken Wochenzeitung sondern auch da, wo diese der britischen linksliberalen Zeitung ähneln – von einer „normativ-ideologischen“ Mentalität getragen, die Leitbilder oder sogar polarisierte Werte (Gut – Bös; Recht – Unrecht; Frieden – Krieg) als Bezugspunkte der Wirklichkeitsdeutung aktiviert. Wir werden auf diesen Punkt noch einmal in den Schlussfolgerungen zurückkommen. Angesichts des im Zusammenhang der Irakkrise offensichtlichen Fehlens eines außenpolitischen Basiskonsenses in der EU, versucht eine von Jürgen Habermas angeführte Diskursgemeinschaft eine Debatte über „europäische Identität“ in Gang zu setzen. Intention dieser Initiative ist es, „europäische Identität“ über die öffentliche Debatte zu generieren und damit Voraussetzungen für einen (kerneuropäischen) Basiskonsens zu schaffen. Die von Beate Janosz, Wolfgang Hessberger und der Herausgeberin verfasste Fallstudie befasst sich mit der Resonanz der Initiative. Im Mittelpunkt steht die Resonanz in Deutschland. Das ist insofern gerechtfertigt, als die Initiative nur hier eine breite Debatte auslöste. Zusätzlich wird die (deutlich geringere) Resonanz auf die „deutsche Debatte“ in Polen erhoben. Die Inhaltanalyse ist fokussiert auf den sachlichen und normativen Bias (Teilaussagen des Habermas Textes und deren Bewertung) und ordnet die Texte einem „linksliberalen“, „liberalen“, „rechtsliberalen“ Diskurs und „normativ-ideologischen“, „pragmatischen“ und „realistischen“ Mentalitäten zu. Hinsichtlich der inhaltlichen Fokussierung und der mentalen Einbettung zeigen sich bemerkenswerte Unterschiede. Die Studie macht deutlich, dass sich Diskurslandschaften in Deutschland und Polen prägnant unterscheiden: In der polnischen Debatte ließen sich die Texte einem liberalen, rechtsliberalen und punktuell linksliberalen Diskurs zuordnen. Hinsichtlich der Mentalitäten waren aber nur Beispiele für „realistisches“ und „pragmatisches“ Denken zu finden. Merkmale eines „normativ-ideologischen“ (an Leitbildern, „Visionen“ orientierten) Argumentieren wurden explizit abgelehnt.40 In der von den deutschen Zeitungen präsentierten Debatte sind alle identifizierten Diskurse und Mentalitäten vertreten. Das ist damit zu erklären, dass die Süddeutsche Zeitung sich im Fall dieses Diskursereignisses als Forum für „Gäste“ zur Verfügung stellte und auch angelsächsische Sprecher in der deutschen Debatte zu Wort kamen. Im Kontext der Debatte um Öffentlichkeit in Europa von paradigmatischer Bedeutung ist die Debatte um die Europäische Verfassung. Der von Claudia Butter vorgelegte Vergleich der 2004 in deutschen, französischen und britischen 40

Dennoch sollten solche Ergebnisse keineswegs vorschnell dahingehend interpretiert werden, dass „Überlappungen“ der Denkweisen im polnischen und zuvor angesprochenen britischen linksliberalen Milieu auf konvergierende Diskurse verweisen. Vertretern des liberalen und linksliberalen britischen Mileius wird zwar breiter Raum in der polnischen Debatte gegeben. Die Relevanz, die der Frage einer „europäischen Identität“ auch im „liberalen“ polnischen Lager beigemessen wird, weist in eine andere Richtung als die Argumentationen der in der Debatte engagierten linksliberalen Briten.

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Qualitätszeitungen veröffentlichten Kommentare zum europäische Verfassungsvertrag zeigt, dass die nationalen Diskurse jeweils von der nationalen Verfassungstradition und dem dieser entsprechendem Verfassungsbegriff „gerahmt“ wurden. Die Fallstudie zeigt ferner, dass diese Rahmung weder innerhalb der nationalen Debatten noch durch eine intermediale Auseinandersetzung mit anderen nationalen Diskursen bewusst gemacht und diskursiv abgearbeitet wurde. Entsprechend kann am Beispiel der Mediendebatten über die „europäische Verfassung“ auch kein transnationales „Lernen“ ausgemacht werden. Im Ergebnis dieser Form öffentlicher Debatte wurden über die nationalen Mediendebatten unterschiedliche Vorstellungen davon, was die „europäische Verfassung“ ist, sein kann und sein soll, als divergente Sinnzuschreibungen des Verfassungskompromisses mit diesem auf die europäische Ebene „hochgeladen“. Mit anderen Worten: Der auf der europäischen Ebene erzielte Formelkompromiss gewann – im Forum der nationalen Öffentlichkeiten – eine jeweils unterschiedliche Bedeutung. Die daran anschließende von der Herausgeberin vorgelegte Analyse der medialen Verarbeitung der Konflikte auf dem Brüsseler Gipfel zum „Reformvertrag“(Lisabon Vertrag) im Juni 2007 (je zwei deutsche, französische, britische, polnische Qualitätszeitungen) zeigt zum einen, wie die unterschiedlichen Deutungen nun noch einmal auf einander stoßen. Der Gipfel ist aber auch deswegen interessant, weil er die Realisierung eines von der Französischen Regierung inspirierten „Deals“ beinhaltet, nämlich die „Substanz“ der Verfassung in Einzelgesetzte zu zerlegen, sodass diese ohne Referenden durch die nationalen Parlamente ratifiziert werden konnten. Es handelt sich also um ein Ereignis, dessen Erörterung sich unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Legitimität europäischer Politik anbietet. Die Fallstudie zeigt, dass das Ereignis „Gipfelkonflikt“ in den drei großen Mitgliedstaaten unterschiedlich in Szene gesetzt, thematisiert und gerahmt wurde. Die national unterschiedlichen Inszenierungen werden als Ausdruck gezielter nationaler Demobilisierung (Frankreich) und Mobilisierung (Deutschland) bzw. eines innenpolitischen Konfliktdiskurses (Großbritannien) interpretiert. In der französischen „Libération“ und in der britischen Times wird ein Bezug zum „Deal“ hergestellt und das Ereignis auch im Deutungsrahmen „demokratische Legitimität“ erörtert. In Deutschland wird – von F.A.Z. und FR gleichermaßen – die Sprachregelung der Präsidentschaft und deutschen Kanzlerin übernommen. Es geht darum, die Bürger nicht zu „überfordern“, die „Substanz“ der Verfassung zu „retten“ und den „Zeitplan“ einzuhalten. In Hinblick auf die Konfliktinszenierung interessant ist, dass die strittigen Punkte, die Konfliktparteien und die Felder des Konsens von der Times deutlich vor Gipfelbeginn erörtert werden, während für das deutsche Zeitungspublikum, der Konflikt unerwartet vor dem Gipfel „ausbricht“. Die unterschiedlichen Szenarios gehen mit unterschiedlichen

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Frames zusammen: Alle Texte der beiden deutschen Zeitungen mit jeweils einer Ausnahme betrachten den Konflikt aus der Perspektive von „Notwendigkeiten“. Dieser Rahmen ist ein deutsches Phänomen. Er fehlt in der britischen Presse aber auch der schwach engagierten französischen. In diesen beiden Ländern werden die Auseinandersetzungen im Deutungsrahmen „legitimer Konflikte“ verhandelt. Dieser Deutungsrahmen findet sich in der deutschen Presse überhaupt nicht. In der polnischen linksliberalen Gazeta Wyborcza sind alle Frames der europäischen Debatte vertreten, weil durch Gastbeiträge repräsentiert. Die Fallstudie zeigt ferner, wie Phänomene, die in den oben angesprochenen Studien als Indikatoren der „Europäisierung“ (Wir Referenz und Repräsentation) betrachtet werden, als Instrumente der Ausgrenzung und Stigmatisierung der „Anderen“, d.h. nationalistischer Mobilisierung genutzt werden. Schließlich macht die Fallstudie strukturelle Asymmetrien zwischen den Medienöffentlichkeiten im „Zentrum“ (den drei großen Mitgliedländern) einerseits und der eines peripheren Landes (Polen) andererseits deutlich. Auf die letztgenannten Punkte werden wir im Rahmen der Schlussfolgerungen eingehen. Die kleine von Henrike Garl erstellte Fallstudie zur medialen Verarbeitung der offiziellen Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei durch die EU in deutschen und französischen Qualitätszeitungen zeigt eine wenig polarisierte und sich stark überlappende Debatte. Das gilt sowohl für normative Haltung gegenüber dem Türkeibeitritt als auch für die diskursiven Begründungsstrategien. Hinsichtlich des normativen Bias zeigt sich eine skeptischere Haltung bei den konservativen und eine optimistischere Haltung bei den linksliberalen Blättern, aber keine Polarisierung. Im Ländervergleich fällt zu diesem Aspekt nur ein deutlicher Unterschied auf: Während sich die französischen Texte zu ungefähr zwei Dritteln explizit pro oder contra aussprechen, halten sich zwei Drittel der deutschen Kommentare mit einem eindeutigen Urteil zurück. Auch hinsichtlich der identifizierten Deutungsrahmen sind vielfältige Überlappungen auszumachen. Hier sind signifikante Variationen nur in einem Punkt deutlich und interessant. Bei einer Argumentation aus der Perspektive der Bedeutung des Beitritts für die EU dominiert zwar in beiden Länder eine Betrachtung der Union unter dem Gesichtspunkt der Integration und Finalität und erst an zweiter Stelle in Hinblick auf ihre Funktion als außenpolitischer Akteur. Dieser zweite Rahmen hat aber in der französischen Debatte einen relevanten Anteil (38% der Texte) und ist in der deutschen marginal (6%). Die Fallstudie von Matthias Hofferberth präsentiert eine Längstschnittstudie zur (Nicht-) Wahrnehmung der EU als Akteur in Konflikten (humanitären Katastrophen) in Afrika. Am Beispiel der deutschen Berichterstattung über den Konflikt in Somalia 1993/96 und in Sudan 2004/2005 zeigt die Studie, dass sich eine Entwicklung zur zunehmenden Wahrnehmung der EU als außen- und si-

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cherheitspolitischer Akteur ausmachen lässt, auch wenn diese von einem extrem niedrigen Niveau ausging und nach wie vor schwach ausgeprägt ist. Der Beitrag von Rüdiger Henkel fällt aus dem Rahmen, da es sich hier nicht um die Analyse von Medientexten sondern den Texten politischer Akteure handelt. Ausgehend von der in der Fachliteratur vertretenden These von der tendenziellen Ablösung des „Eurokeynesianismus“ durch ein „Neues Europäisches Sozialmodell“ seit der Lissabon Agenda (2000) untersucht der Autor für den Zeitraum 2000-2004 zunächst die Resonanz des Themas „Sozialmodell“ im Europäischen Parlament und dann die mit diesem Begriff argumentierenden Legitimationsstrategien von Vertretern des Ministerrates vor dem EP. Als Ergebnis stellt er eine gewisse Veränderung der Thematisierungen zu „Sozialmodell“ und eine nach wie vor offene Debatte aber keinen eindeutig Paradigmenwechsel hinsichtlich der beiden Leitbilder fest. Die Fallstudie von Claudia Rode befasst sich mit der vertikalen Segmentierung europäischer Öffentlichkeitsarenen. Am Beispiel der Mediendebatte um die Verletzung der Defizitkriterien und die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP) beleuchtet die Studie Expertendebatten in deutschen Fachzeitschriften einerseits und deutschen Populärmedien andererseits. Die Erwartung einer „Wissenslücke“ zwischen Fachzeitschriften und Populärmedien bestätigte sich hier nicht. Insgesamt überwogen Europa fokussierte und der Änderung kritisch gegenüber stehende Kommentare. Als durchgängige Deutungsrahmen, in denen das Ereignis bewertet wird, weist die Studie die Orientierung an wirtschaftswissenschaftlichen Schulen (Neoliberalismus, Keynesianismus) aus. Zugleich ließ sich eine explizite Vernetzung dergestalt ausmachen, dass ein Gastautor der FAZ zugleich auch in der Veröffentlichung des DIW publizierte. Als einen möglichen Indikator in Hinblick auf die Frage der Kopplung/Entkopplung der beiden Öffentlichkeitsarenen betrachtet die Studie auch den Zeitpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Reform. Auch hier zeigt sich keine medientypspezifische Besonderheit. Die wirtschaftspolitischen Fachzeitschriften aber auch das Handelsblatt und die konservative F.A.Z. begleiten den Willensbildungsprozess schon während der Vorbereitung der Änderungen. Dagegen befasste sich die linksliberale FR erst nach der tatsächlichen Änderung mit dem Thema und unterstützt damit nicht den Meinungsbildungsprozess in der Planungsphase sondern nur die Legitimation des Ergebnisses.41 Yana Kavrakova vergleicht in ihrer Fallstudie die mediale Verarbeitung der Moskauer Feiern zum fünfzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in – unterschiedlichen politischen Milieus zuzuordnenden – bulgarischen Qualitätszeitungen. Die von Präsident Putin organisierten Feiern hatten durch die 41

Allerdings kommentiert auch die Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen das Ereignis erst zu diesem Zeitpunkt.

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breite Repräsentanz ausländischer Regierungschefs und den Protest der baltischen Staaten tagespolitische Aktualität gewonnen. Um die Analyse der Medienresonanz in Bulgarien verorten zu können, analysiert die Autorin auch die Kommentierung dieses Ereignisses in je einer deutschen und russischen Zeitung. Das Ergebnis zeigt, dass sich die Deutungsrahmen, in denen die Feiern thematisiert wurden, in der deutschen und der russischen Zeitung grundlegend unterschieden, und dass analoge Frames die parteipolitisch gespaltene bulgarische Presselandschaft trennte. Das heißt, die Fallstudie zeigt, dass wir es hier mit einer nationalen Debatte zu tun haben, in der sich ein Teil der Medien an der Debatte im europäischen Zentrum und der anderer Teil an einem außerhalb der Grenzen der EU gepflegten Diskurs (des alten Zentrums) orientiert. Jonas Grätz analysiert die Kommentierung der ukrainischen „orangenen Revolution“ 2004/2004 in zwei russischen Zeitungen. Dabei geht es um Resonanz und Thematisierung des Ereignisses und die Wahrnehmung des „Westens“ in diesem Zusammenhang. Relevant sind die Fragen in Hinblick auf das Verhältnis Russlands zum „nahen Ausland“, d.h. die Frage nach der Kontinuität imperialen Denkens, und in Hinblick auf russische Identität, die sich traditionell über den „Westen“ als das konstitutive Andere definiert. Die Studie zeigt breite Resonanz des Ereignisses in den russischen Medien. Über die Identifikation von „framesets“ werden Mentalitäten ausgemacht, und zwar ein quantitativ dominierendes „geopolitischen Machtdenken“ und ein „ordnungspolitischen Denken“. Die „organgene Revolution“, der „Westen“ und die russische Politik erhielten in den beiden „Gedankenwelten“(Grätz) eine jeweils ganz unterschiedliche Bedeutung. Der Autor verweist im Zusammenhang des „geopolitischen Machtdenkens“, das die Idee einer gesellschaftlicher Subjektivität nicht kennt, auf das Problem der Grenzen der Möglichkeit „deliberativer“ Debatte und Diskurskultur.

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Schlussfolgerungen: „Supranationalisierung“ vs. „Internationalisierung“ nationaler Öffentlichkeiten und Diskurse als Durchsetzungsstrategien

Wir haben deutlich gemacht, dass den polarisierten Positionen in der politikwissenschaftlichen Debatte um „europäische Öffentlichkeit“ ein komplexer Paradigmenwechsel zugrunde liegt und gezeigt, dass mit den Argumenten Erik Eriksens von „missing links“ zwischen Öffentlichkeitsarenen das „Demokratiedefizit“ auch in die „neue“, am Paradigma „deliberativer“ Demokratie orientierte Debatte zurückgeholt wurde. Wir haben daraus zunächst den Schluss gezogen, dass es nicht so sehr um die Frage gehen sollte, ob eine „europäische Öffentlichkeit“ entsteht, sondern darum, wie es um deren demokratische Qualität bestellt ist.

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Wir haben die Konzeptualisierung von „Kommunikation/Kommunikationsraum“ in den Mittelpunkt unsere theoretischen Überlegungen gerückt und uns sowohl gegen das traditionelle Konzept der „Nationalkulturen“ als auch gegen einen abstrakten Begriff von „Kommunikation“ abgegrenzt und Kommunikation in Anschluss an Ulf Hannerz als unfreien, gesellschaftlich organisierten, ungleich verteilten „Fluss von Bedeutungen“ gefasst. Aus dieser Perspektive wurde auf „Wissens- und Rationalitätslücken“ zwischen fragmentierten, funktional differenzierten, elitären Öffentlichkeitsformen einerseits und den national segmentierten Formen der Medienöffentlichkeit für die Laien/Bürger und auf fehlende Anreize zum Bau von vertikal vernetzenden „Brücken“ hingewiesen. Es wurde vorgeschlagen, den europäischen Kommunikationszusammenhang nicht – in Analogie zur Nation – als tendenziell homogenisierten „Raum“ mit Grenzen einer „Wir“ Identität – zu begreifen sondern als Cluster von nationalen Clustern. Es wurde zunächst gezeigt, dass es plausible Gründe dafür gibt, den Fortbestand territorial gebundener Cluster zu erwarten. Als solche territorial gebundenen Cluster wurden nationalstaatliche Verdichtungen von Perspektiven und unterschiedlich strukturierte kulturelle Cleavages im Zentrum (große Kernstaaten) einerseits und an der Peripherie andererseits ausgemacht. Angesichts der Kontinuität einer solchen Vielfalt von Perspektiven und ihrer nationalstaatlichen Verdichtung wurde dafür plädiert, „europäischer Öffentlichkeit“ als normativ gefassten Bezugpunkt, nicht über das Kriterium der Konvergenz von kulturellen Inhalten sondern über formale Kriterien, d.h. Diskurskultur zu definieren. Dieser Vorschlag wurde mit drei weiteren Argumenten gestützt: zum einen entspricht dieses Spannungsverhältnis von struktureller Isomorphie und konkreter Vielfalt, dem europäischen Modernisierungspfad und seinen Hinterlassenschaften, zum anderen ist die damit gemeinte kulturelle Komplexität und Offenheit von über Selbstreflexivität und nicht Abgrenzung hergestellten, „offenen“ Grenzen globalisierungskompatibel. Schließlich erlaubt diese Konzeptualisierung, das Wirken von „Öffentlichkeit“ zu identifizieren. Die Suche nach Indikatoren einer Homogenisierung von Relevanz- und Sinnstrukturen erbringt dagegen Hinweise auf Mechanismen der „supranationalen Inkorporation“ durch das Mehrebenensystem europäischer Institutionen. Aus der Präsentation von Ansätzen und Ergebnissen der empirischen Forschung haben wir das Fazit gezogen, dass diese Studien weniger „Öffentlichkeit“ als das Wirken dieses Inkorporationsmechanismus sichtbar machen. Die empirischen Befunden machen deutlich: Akteure der medial sichtbaren innereuropäischen politischen Interaktion sind vor allem die politischen Eliten und zivilgesellschaftlichen Akteuren kommt nur eine marginale Rolle zu. Vor allem die Sprechhandlungen nationaler Akteure, die an die europäische Ebene adressiert sind, werden transparent gemacht. Demgegenüber bleiben zwischenstaatliche

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Konflikte und die Adressierung der nationalen durch die europäische Ebene diskret. Was nun die Merkmale des massenmedialen Öffentlichkeitsraums betrifft, so dokumentieren alle Studien, dass eine manifeste „diskursive Interaktion“ zwischen den nationalen Öffentlichkeitsforen nicht oder kaum festgestellt werden kann. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Inhalte der in verschiedenen Fallstudien ausgemachten, sich „überlappenden“ Frames haben wir den Schluss gezogen, dass ein relevanter Teil der beobachteten Konvergenzen in den nationalen Kommunikationsräumen auf das Framing nationaler Debatten durch europäische Politik zurück gehen, d.h. Ergebnis einer weichen „supranationalen Inkorporation“ nationaler Öffentlichkeiten und nicht des Wirken einer „internationalen“ demokratischen „Öffentlichkeit“ als Sphäre einer gesellschaftlichen Interaktion, Vermittlung und als Medium der gesellschaftlichen Kontrolle der europäischen Politik sind. Die Schlussfolgerungen, die wir nun aus den in diesem Band präsentierten Fallstudien ziehen wollen, beziehen sich (1 ) auf die vertikale Vernetzung von Öffentlichkeiten, (2) auf Asymmetrien zwischen Zentrum und Peripherie und (3) die Einsichten über horizontale Vernetzung/Segmentierung der nationalen Medienöffentlichkeiten, die wir aus den Fallstudien zur medialen Sichtbarmachung innereuropäischer Konfliktdiskurse gewonnen haben. Es zeigt sich, dass – sofern der jeweilige Gegenstand europäischer Politik innenpolitisch nicht umstritten ist – die nationalen Medien nationale Politik unterstützen und entsprechende nationale Mobilisierungs-/Demobilisierungsstrategien vermitteln. Der Fokus unserer Schlussfolgerungen wird auf den diskursiven Instrumenten solcher Strategien liegen. Dabei werden wir zeigen, dass einige der in der empirischen Forschung allgemein akzeptierten Indikatoren für „Europäisierung“ von nationaler „Öffentlichkeit“ hier eine auf den nationalen Kontext bezogene diskursstrategische Funktion zukommt, die ihre Nutzung als Indikator problematisch erscheinen lässt. Die Schlussfolgerung schließt mit der Frage (4) nach den Bedingungen für „hegemoniale“ bzw. „deliberative“ Diskurskulturen und (5) einem komprimierten abschließendem Fazit. 5.1 Vertikale Vernetzung elitärer Expertenöffentlichkeiten und generalisierender Medienöffentlichkeit Nur eine unserer Fallstudien hat sich explizit mit der Frage der vertikalen Vernetzung von elitärer Expertenöffentlichkeit und Populärmedien befasst. Claudia Rode hat am Beispiel der Debatten um Verletzung und Reform des Stabilitätsund Wachstumspaktes gezeigt, dass es in diesem Fall eine thematische und sogar personelle Vernetzung gab und die Konfliktlinien quer durch die Foren entlang der Positionierungen von wirtschaftspolitischen Schulen verliefen. Sie hat zudem

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gezeigt, dass die allgemeine Debatte – zumindest im Falle der bürgerlichkonservativen Medien – den Willenbildungsprozess begleitet und nicht nur dessen Ergebnis kommentiert hat. Mit anderen Worten, wir haben hier ein Beispiel für eine „Überbrückung“ der „Wissens- und Rationalitätslücke“ vor uns. Von anderen Autoren ist darauf verwiesen worden, dass es sich bei der Auseinandersetzung zwischen „Keynesianern“ und „Neoliberalen“ um eine in der Wirtschafts- und Sozialpolitik aufzumachende transnationale ideologische Konfliktlinie in Europa handelt (Hooghe/Marks 1999; Hay/Rosamond 2001).42 Für die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit unseres Befundes der weitreichenden vertikalen Vernetzung ist eine andere Besonderheit wichtig. „Reformbegleitend“ (Rode) wurde die Fachdebatte von der F.A.Z. und dem Handelsblatt in die allgemeine Medienöffentlichkeit übersetzt, nicht aber der FR, die der rot-grünen Regierung nahe steht. D.h. die mediale Vernetzung und Transparenz könnte sich in diesem Fall vor allem daraus erklären, dass die Verletzung des Stabilitätspaktes durch Deutschland und der deutsche Reformvorschlag Gegenstand innenpolitischer Konfliktdebatten waren. Auch andere Analysen zeigen, dass medienvermittelte Debatten über europäische Themen dann lebendig sind, wenn sie als innenpolitische Konflikte repräsentiert werden (Statham 2005; vgl. auch unten 4). Auch die von Jürgen Habermas u. a. initiierte Debatte kann als ein Beispiel der Popularisierung einer Expertendebatte betrachtet werden, denn es handelt sich um eine von Philosophen u. a. Wissenschaftlern getragene Debatte um die Repräsentationen „Europas“. Diese Debatte kann als transnational vernetzt charakterisiert werden. Allerdings bezieht sich diese Beschreibung auf die Intellektuellendebatte selber, d.h. ein Milieu, um dessen Vernetzung wir wissen. Diesem Milieu stellten die deutschen Medien, insbesondere die Süddeutsche Zeitung, ihr Forum zur Verfügung. Da die Initiative aber nur in Deutschland eine große Resonanz und breite Debatte hervorrief, kann nicht gleichermaßen von einer transnationalen europäischen Mediendebatte gesprochen werden. Der Vergleich mit Polen zeigt allerdings nicht nur geringe Resonanz auf die „deutsche Debatte“ sondern auch eine längerfristige Wirkung. Im Kontext der deutschen Debatte stellt dieses Diskursereignis insofern eine Ausnahme dar, als in den anderen vergleichenden Fallstudien der Eindruck entsteht, dass der Anteil von Gästen und „fremden Stimmen“ in den deutschen Qualitätszeitungen – auch im Vergleich zu den anderen großen Mitgliedstaaten – besonders gering ist. 42

Auch die in unserem Band enhaltene Analyse von Debatten des Europäischen Parlamentes bezieht die unterschiedlichen Konzepte eines „europäischen Sozialmodells” auf die ideologische Trennlinie zwischen „Neo-liberalen” und „Eurokeynesianern” (Henkel). Allerdings ist diese Studie in unserem Zusammenhang deswegen nicht so relevant, weil sie die Legitimationsstrategien der Politiker und nicht die Mediendebatten abbildet.

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5.2 Strukturelle Asymmetrien zwischen den Öffentlichkeiten der Kernstaaten und denen der europäischen Peripherie Die Beobachtung schwach ausgeprägter transnationaler „diskursiver Interaktion“ hat sich in unseren Fallstudien zwar für die großen Mitgliedstaaten bestätigt, nicht aber für das liberale Mediensegment in Polen. Insbesondere die Studie zum medialen Umgang mit den Konflikten auf dem Brüsseler Gipfel zur Mandatsvergabe für den „Reformvertrag“ hat gezeigt, dass das liberale Segment der polnischen Presse eine radikale Ausnahme von der Regel machte. In dieser Öffentlichkeit fanden „andere Stimmen“ breite Resonanz, dabei wurde sowohl den Stimmen von möglichen Koalitionspartnern im Konflikt als aber auch den Konfliktgegnern ein breites Forum gegeben. Hinzu kam, dass auch ausländische Medienreaktionen auf die eigene Politik breit dokumentiert wurden. Man kann das insofern nicht einfach als Ausdruck der kritischen Distanz einer der Opposition nahe stehenden Zeitung zur Regierungspolitik interpretieren, als die von der Regierung auf dem Brüsseler Gipfel verfolgte Strategie durch einen nationalen Konsens gedeckt war. Wir haben das Phänomen als Ausdruck der strukturellen Asymmetrie zwischen Zentrum und Peripherie interpretiert. Das Zentrum hat die Macht „nicht zuhören zu müssen“. Die Peripherie ist aber – auf Grund ihrer Entfernung vom Zentrum und seiner Macht – gezwungen, zu verarbeiten, was im Zentrum gesagt bzw. wie gestritten wird. Wir haben in dieser Fallstudie auch gezeigt, dass die Bezugnahme auf das Referenzkollektiv Europa vs. eigene Nation nicht als Ausdruck „europäischer“ vs. „nationaler Identität“ – und Inklusion bzw. Exklusion der „Anderen“ – sondern als Entsprechung dieses Machtgefälles zu verstehen ist: Die Peripherie kann nur für sich selbst sprechen und muss sich gegenüber dem Zentrum positionieren. Diese strukturelle Asymmetrie der Öffentlichkeiten in Europa bezieht sich nicht nur auf nationale „Versäulung“ (Medrano) im Zentrum und transnationale Offenheit der Mediendebatten in der Peripherie. Sie hat einen weiteren Aspekt. Das Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie wird innerhalb der peripheren Gesellschaft selber als Zentrum Peripherie Gegensatz und Kulturkonflikt abgebildet. Denn wir haben es bei der Presselandschaft in Polen ja nicht nur mit dem weltoffenen liberalen Segment zu tun. Dem gegenüber steht ein konservativnationales Lager, das eine lokale Perspektive akzentuiert. Für eine „europäische Öffentlichkeit“ bedeutsam ist, dass die Diskurse dieser inneren Peripherie hinter den Modernitätsstandards des Zentrums zurück bleiben, nicht anschlussfähig sind und deshalb auf der europäischen Ebene ausgegrenzt bleiben. Schließlich kann gefragt werden, ob der faktische (Selbst)Ausschluss aus den europäischen Diskursgemeinschaften nicht mit einer „Anschlussfähigkeit“ an Diskurse außerhalb der EU einhergeht. Die Studie zur bulgarischen Presse

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gibt Anhaltpunkte für solch eine Hypothese: Das Beispiel der Geschichtsdebatte anlässlich der Moskauer fünfzig Jahrfeier zeigt sich in der bulgarischen Presse die Spannweite zwischen deutsch-europäischen und russischen Diskursen. Ein Vergleich der „semantischen Revolution“ der Brüder Kaczynski und ihrer Mitstreiter mit der neuen russischen Ideologie der „souveränen Demokratie“ (Schattel 2008) könnte bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden verfeindeten, „national-konservativen“ Diskursen aufweisen. Fazit: das Zentrum-Peripherie-Gefälle ist als strukturell begründete, mehrdimensionale Asymmetrie zwischen den nationalen Öffentlichkeiten zu verstehen und als eine Herausforderung für die „Europäisierung“ bzw. „Internationalisierung“ von Öffentlichkeit.43

5.3 Europäische Konfliktdiskurse als nationale Mobilisierungsstrategien Wenn wir uns nun den Fallstudien zuwenden, die europäische „Konfliktdiskurse“ zum Gegenstand haben, so ist das auffälligste Merkmal, dass diese „Konfliktdiskurse“ auf der Ebene der nationalen Medien eben nicht als Konfliktdiskurse geführt werden, zumindest in all den Fällen nicht, in denen sie innenpolitisch nicht als solche definiert und entsprechend in den nationalen Medien repräsentiert werden. Das gilt für die drei großen hier berücksichtigten Konfliktdebatten innerhalb und um Europa: die Hintergrunddebatte um Europa im Kontext der Irakdebatte, die Mediendebatten um die Europäische Verfassung und die mediale Verarbeitung der innereuropäischen Konflikte um die Mandatsvergabe für den „Reformvertrag“ (Lisabon Vertrag). In diesen innereuropäischen Konflikten zielen die Strategien der nationalen Politiker darauf, der eigenen Deutung Geltung zu verschaffen und – zumindest in den angesprochenen drei Fällen – sind die nationalen Medien Gehilfen der nationalen Politik, indem sie dem jeweiligen Geltungsanspruch den Status „selbstverständlichen Wissens“ (im Sinne Schütz/Luckmann) verleihen. Die Deutung der „anderen Seite“ wird nicht als sinnvolle Möglichkeit vorgestellt, denn genau dies würde den Anspruch der selbstverständlichen Geltung in Frage stellen. Das Fehlen „diskursiver Interaktion“ ist nicht einfach der Mangel eines Attributs „europäischer Öffentlichkeit“ sondern betrifft den Kern der Funktion, welche die nationale Medienöffentlichkeit gewinnt, nämlich die, dem Deutungsanspruch der „eigenen“ Politik in der nationalen Arena symbolische Geltungsmacht zu verleihen, und entsprechend Unterstützung zu mobilisieren bzw. zu demobilisieren. 43

Selbstverständlich bedarf es empirischer Studien um festzustellen, inwieweit sich die hier betrachten Beispiele tatsächlich verallgemeinern lassen.

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Wir werden im Folgenden a) auf die Konstruktion von Szenarien, Deutungsrahmen und Mentalitäten verweisen, und dabei den Indikator der „Überlappung“ von Deutungsrahmen problematisieren; b) auf das Referenzkollektiv „Europa“, seine Repräsentationen und die diskursstrategische Funktion der Bezugsnahme auf das Wir „Europa“ eingehen. Die Argumentation läuft auf die Aufforderung hinaus, c) Mediendebatten empirisch nicht als „deliberative“ Auseinandersetzungen sondern als symbolische Kämpfe zu betrachten, und entsprechend der Diskursstrategie und Diskurskultur mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden. a) Die Studie zu den Mediendebatten um die Europäische Verfassung erbringt den Befund von – durch spezifische nationale Framesets – national „versäulten“ Debatten in den drei großen Mitgliedsländern, ohne jegliche Anzeichen „diskursiver Interaktion“. Die mediale Verarbeitung von offenen, innereuropäischen Konfliktereignissen zeigt darüber hinaus, dass die Inszenierung des zeitlichen Ablaufes und die damit verbundene Definition des Konfliktgegenstandes durch die nationalen Medien differierten und die Positionierungen und das Agenda Setting nationaler Politik reflektierten. Da, wo sich innenpolitische Konfliktlinien hinsichtlich der Beurteilung europäischer Politik ausmachen ließen, wurden diese in die nationale Debatte hineingenommen, da wo dies nicht der Fall war, können wir von einer nationalen Mobilisierung sprechen. Die Bedeutung innenpolitischer Konflikte ließe sich an britischen, aber auch französischen Beispielen illustrieren. Von nationaler Mobilisierung können wir insbesondere in Deutschland sprechen. Im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Brüsseler Gipfel zur Mandatserteilung für den späteren Vertrag von Lissabon werden wir unter dem nächsten Punkt sogar Merkmale einer nationalistischen Mobilisierung ausweisen. Die Frameanalyse hat auch deutlich gemacht, dass die „Überlappung“ von Frames nicht notwendig Hinweise auf ein „Überlappen“ von Diskursen geben muss. Das hat insbesondere der Vergleich der Rahmungen der innereuropäischen Debatte während des Irakkonfliktes durch den britischen The Guardian und die deutsche Süddeutsche Zeitung illustriert. Der in beiden Medien stark vertretene Deutungsrahmen „Multilaterialismus“ gewann im Kontext unterschiedlicher Inszenierungen des innereuropäischen Konfliktes und insbesondere im Rahmen unterschiedlicher Mentalitäten eine jeweils unterschiedliche Funktion. In diesem Zusammenhang soll darauf verwiesen werden, dass Frameanalyse selber „gerahmt“ ist. So wird die Analyse der Deutungsrahmen in den nationalen Mediendebatten von der Frage nach Verfassungsbegriffen, Verfassungstraditionen und Finalitätskonzepten geleitet. Eine anders angelegte Studie könnte zu dem Ergebnis kommen, dass auch in dieser „europäischen“ Debatte „Überlappungen“ auszumachen sind, wie etwa die Betrachtung des Verfassungskompro-

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misses unter dem Gesichtspunkt der Demokratisierung oder der Entscheidungseffizienz europäischer Institutionen. Die Feststellung solcher „Überlappungen“ würde das hier präsentierte Ergebnis nicht in Frage stellen. Es wäre aber zu fragen, welche Funktion den Deutungsrahmen „Demokratisierung“ vs. „Effektivierung“ im Rahmen der national geprägten Diskurse jeweils zukommt. b) Die Studien zeigen auch, dass „Europa“ unterschiedlich gefasst wird und entsprechend unterschiedliche diskursstrategische Funktionen gewinnt. Unsere Fallstudien zeigen, dass „Europa“ in Großbritannien – in der konservativen Times gleichermaßen wie den linksliberalen The Guardian – empirisch verstanden wird. „Europa“ meint die EU als Mehrebenensystem und als Spielfeld nationaler Regierungen. „Europäische“ Demokratie oder deren Schwäche sind hier bezogen auf die Teilhaberechte der Bürger in der EU. In den deutschen Mediendebatten fungiert „Europa“ nicht als Bezeichnung der empirischen EU und ihrer Bürger, sondern gewinnt des Status eines Projektes und Wertes. Diese ideologischnormative Denkweise charakterisiert die bürgerliche F.A.Z. und die linksliberale Frankfurter Rundschau gleichermaßen, auch wenn die jeweils gemeinten Projekte sich inhaltlich unterscheiden und in der bürgerlich-konservativen einen technokratischen Zuschnitt haben während das Projekt in der linken Fassung eine sozialdemokratische Festung gegen die „neoliberale Globalisierung“ meint. Diese ideologisch-normative Denkweise ist in den deutschen Medien mit einer extremen Referenz auf das europäische „Wir“ verbunden. Das geht soweit, dass – anders als in Frankreich und Großbritannien – nationale Akteure kaum sichtbar sind und die Bezugsnahme auf nationale Interessen völlig fehlt. Zugleich dient die Bezugsnahme auf „Europa“ aber dazu, das eigene Projekt und nationale Interessen durchzusetzen. Während die Bezugnahme auf nationale Interessen auch den Anderen legitime nationale Interessen zugesteht, und Konflikte als legitime Vorspiele von Kompromissen betrachtet, dient die Bezugnahme auf das normativ aufgeladene Projekt „Europa“ dazu, die eigene Strategie als unanfechtbares allgemeines, „europäisches“ Interesse erscheinen zu lassen. Kritiker der eigenen Position werden „Quertreiber“ stigmatisiert. Mehr noch die normative Fassung „Europas“ erlaubt es, nicht die empirischen Europäer als Bezugskollektiv zu verstehen sondern zwischen „wirklichen“ Europäern und solchen, die keine „wirklichen“ sind, zu unterscheiden. Solche Techniken dienten in der deutschen Debatte über die Konflikte um den späteren Vertrag von Lissabon (Brüsseler Gipfel) einer nationalistischen Mobilisierung, die Briten und Polen als „Quertreiber“ und nicht „wirkliche“ Europäer aus der Gemeinschaft europäischer Staaten und Bürger ausschließt. Angesichts der „Notwendigkeit“ das Projekt Europa zu „retten“, spielten die verletzten demokratischen Rechte der Niederländer und Franzosen sowieso keine Rolle. Es ist sicher wenig plausibel, in dieser Debatte das Referenzkollektiv der Argumentation als Indikator für „Europäisierung“ zu

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begreifen. Die britische Bezugsnahme auf „nationale Interessen“ kann inklusiver sein als die deutsche auf „Europa“. Mit anderen Worten: wir können nicht auf der semantischen Ebene ansetzen sondern müssen nach der diskursstrategischen Funktion fragen. Im zitierten Beispiel dient das Referenzkollektiv „Europa“ einer „hegemonialen“ Diskursstrategie (Keller 2004:53), das Projekt Europa als „Notwendigkeit“ definiert einen totalisierenden Deutungsrahmen, der dazu dient, die eigene Position als unanfechtbar zu immunisieren und andere Sprecher auszugrenzen. c) Die methodischen Kritikpunkte an der vom Paradigma der „deliberativen“ Demokratie inspirierten empirischen Forschung verallgemeinernd möchte ich behaupten, dass diese Studien von der unangemessenen Annahme „deliberativer“ Debatten in den Medienöffentlichkeiten ausgehen. Dadurch versäumen sie es, nach Diskursstrategien und Diskurskultur zu fragen und können damit dem eigenen normativen Anspruch nicht gerecht werden. Das Agenda-Setting der Politiker im europäischen Kommunikationsraum dient nicht der „Deliberation“, sondern der Durchsetzung von Deutungen in symbolischen Kampfarenen. Diese Arenen sind in Europa in nationalstaatlichen und parteipolitischen Grenzen organisiert. Wie wir gesehen haben wird die Wahrnehmung und Erörterung europäischer Politik durch diese organisatorischen Bedingungen der Diskursproduktion geprägt. Innereuropäische Konfliktdebatten werden vor allem da transparent, wo sie durch innenpolitische Konfliktlinien repräsentiert werden, ansonsten beobachten wir eine nationale „Versäulung“ der Mediendebatten. Diese beinhaltet die Möglichkeit, dass die Medien als Instrumente nationaler Mobilisierung wirken. Zugleich vermitteln die (nationalen) Medien – über die Sichtbarmachung von Sprechhandlungen der Politiker und die Übernahme der Sprachregelung und Bedeutungen – einen von den „herrschenden Institutionen“ (Castells) ausgehenden Prozess der „Supranationalisierung“ nationaler Kommunikationsräume. „Europäische Öffentlichkeit“ mag auf ein gewisses Maß an solcherart durchgesetzter Homogenisierung des „Flusses der Bedeutungen“ angewiesen sein. Sie drückt sich aber nicht darüber aus. Eine europäische Öffentlichkeit, verstanden als „Internationalisierung“ von Kommunikationsräumen, ist auf diskursive Interaktion und eine „deliberative“ Diskurskultur angewiesen. Auf der Ebene des Diskurses meint „Deliberation“, eine Strategie, bei der die Akteure „von einer Wirklichkeitsdefinition zur anderen wechseln und folglich Situationen, Fakten, Ereignisse in neuen Begriffen Sinn und Bedeutung zuschreiben“ (Donati 2001: 165). Solche Strategien sind nicht von Politikern zu erwarten, zumindest nicht da, wo sie die Unterstützung ihres nationalen Publikums gewinnen wollen. Wohl aber können solche Strategien das Kriterium für den „europäischen“ Charakter einer nationalen Medienöffentlichkeit sein. Denn die Inklusion des „Anderen“ kann nicht heißen, dass man ihn für

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das eigene ideologische Projekt vereinnahmt, sondern nur, dass ihm Stimme gegeben und zugehört wird.

5.4 Bedingungen und Indikatoren „hegemonialer“ und „deliberativer“ Diskursführung Können wir Bedingungen für eine „hegemoniale“ bzw. „deliberative“ Diskurskultur ausfindig machen? Ich möchte die Frage auf drei Ebenen hypothetisch beantworten, a) auf der Ebene „nationalstaatlicher Identität“, b) der Mentalität und c) derjenigen der Mediensysteme. a) Die „Europäisierung der nationalstaatlichen Identität“ ist für die drei großen Mitgliedstaaten untersucht worden (Marcussen/Risse u.a. 2001). In der Analyse wird darauf abgehoben, dass eine „Europäisierung“ nationalstaatlicher Identität in der Bundesrepublik Deutschland kurz nach dem Krieg eingesetzt und dazu gedient hat, die BRD von der nationalsozialistischen Vergangenheit abzugrenzen. Ein entsprechender Prozess setzt in Frankreich mit der Krise des sozialistischen Projektes ein und diente dazu, diesem auf der „europäischen“ Ebene einen neuen Sinn zu geben. Demgegenüber bleibt „Europa“ für die britischen politischen Eliten das „freundliche Andere“, gegenüber dem sich eine „nationale“ Politik positioniert. Eine analoge „Beobachterperspektive“ haben wir für Polen ausgemacht. Anders als im britischen Fall erschien uns diese nicht als selbstbestimmte Positionierung sondern als Ergebnis der peripheren Position. Es wäre interessant festzustellen, wie sich nationalstaatliche Identitäten in anderen mittleren und kleinen und/oder peripheren Ländern verändert haben. Unser Punkt ist an dieser Stelle ein anderer: Aus der zitierten Untersuchung, kann auch ein anderer Schluss gezogen werden als die von den Autoren akzentuierte Europäisierungsthese: Die „Europäisierung“ nationalstaatlicher Identität ging mit einer „Nationalisierung“ der Repräsentation „Europas“ einher. Das Projekt „Europa“ wird in Kategorien nationaler politischer Kultur gedacht und damit vereinnahmt. Die Identifikation mit einer Repräsentation „Europa“, deren nationale Färbung in keiner Weise bewusst wird, kann als Disposition für eine hegemoniale Diskursführung betrachtet werden. b) Wir wollen noch einen Schritt weiter gehen! Eine Mentalität, die auf normative „Projekte“, „Leit-“ oder gar „Weltbilder“ als Bezugsgrößen der Argumentation rekurriert, hat insofern eine „hegemoniale“ Implikation, als sich solche normativen Bezugssysteme gegen einer „deliberative“ Rationalisierung sperren. Solche identitätsstiftenden Konstrukte eigenen sich als Gegenstand einer diskursanalytischer Dekonstruktion, die ihren Bedingungskontext und ihre Funktion aufdeckt. Ein „deliberativer“ Positions- und Perspektivwechsel setzt einen

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„mentalen Sprung“ voraus, d.h. der Sprecher muss sich entweder in eine ideologisch konstruierte Welt hinein oder aus ihr heraus in eine pragmatisch konstruierte Welt hinein denken. c) Wir haben schon oben darauf verwiesen, dass Medien nicht als Foren „deliberativer“ Diskurse institutionalisiert sind und die mediale Diskursproduktion im Feld von drei Faktoren zu betrachten ist: dem Agenda Setting der nationalen Politiker, dem Verkaufswert der Botschaft (Nachricht/Kommentar) bzw. der Nachfrage der Käufer und vom Standard journalistischer Professionalität. Journalistische Professionalitätsstandards haben sich im Kontext der Formierung unterschiedlicher Mediensysteme herausgebildet. In Europa ist die Ausgestaltung der Mediensysteme als Teilaspekt der nationalen Pfade politischer Modernisierung zu verstehen (Hallin/Mancini 2004). Daniel Hallin und Paolo Mancini unterscheiden drei idealtypische Modelle von Mediensystemen, denen die konkreten nationalen Ausprägungen (als „mixed cases“) zugeordnet werden: das marktdominierte „liberale Modell“ (USA, Großbritannien, Irland); das „demokratisch-korporatistische Modell“ mit der Koexistenz kommerzieller und politisch gebundenen Medien (nördliches Kontinentaleuropa), das „polarisiert-pluralistische Modell“ mit schwachen Märkten und starker Parteibindung der Medien (mediterranes Südeuropa) (Hallin/Mancini 2004: 11; 66-75). Die „Professionalisierung“ journalistischer Arbeit (Autonomie des journalistischen Korps; spezielle professionelle Normen, Gemeinwohlorientierung; Hallin/Mancini 2004: 34-36) hat im Rahmen des liberalen Modells seine stärkste Ausprägung und Standard setzende Fassung erhalten. Zugleich zeigen die Autoren, dass ein hoher Professionalisierungsgrad sich auch im Rahmen des demokratisch-korporativen Modells durchsetzt. Allerdings zeigen sich im jeweiligen Verständnis professioneller Standards die Spuren der unterschiedlichen Entwicklungspfade. So steht für das angelsächsische Berufsverständnis die Rolle der Medien als „watchdog“ der Politik im Mittelpunkt und die Pflege eines „fact-centered discourse“ (Chalaby zit. nach Hillin/Mancini 2004: 207). Für die Nord- und kontinentaleuropäischen Länder ist dagegen Konsens- und „Meinungsbildung“ und die Rolle der Medien als „advocacy“44 mit der Tradition des „kommentarorientierten“ Journalismus (Hallin/Mancini 2004: 74) von größerer Bedeutung. Spuren dieses unterschiedlichen Professionsverständnisses45 konnten wir auch in unseren Fallstudien ausmachen. Auch in unseren Text44

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„Advocacy” bezieht sich auf ein Professionsverständnis „that sees the media as vehicles for expression of social groups and diverse ideologies”. Im Falle des „demokratischkorporatistischen Modells” ist diese Ergebenheit gegenüber einer „Sache” verbunden mit „a high level of commitment to common norms and procedures” (Hallin/Mancini 2004: 298). Daniel Hallin und Paolo Mancini erörtern in ihrer vergleichenden Studie auch Tendenzen (Säkularisierung und Kommerzialisierung), die eine Konvergenz der Mediensysteme in Richtung auf die Verallgemeinerung des „liberalen Modells” befördern. Zugleich sind sie vorsichtig, was das Umfang einer möglichen Homogenisierung betrifft.

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korpen repräsentierte die britischen (allerdings auch die französischen) Texte einen stärker „Fakten zentrierten Diskurs“ während bei den deutschen Texten häufiger ein Selbstverständnis als „Fürsprecher“ einer legitimen Sache zum Ausdruck kam. Texte von mediterranen Medien haben wir nicht einbezogen und die von der polnischen Presse erfassten Ausschnitte lassen keine (auch nicht hypothetische) Generalisierung zu. Im Kontext unserer Argumentation erscheinen „Advokatenschaft“ (einschließlich derjenigen für „Europa“) keine günstige Bedingung für eine „deliberative“ Einbeziehung der Perspektive Anderer. Mehr noch: das europäische Medienmodell mit seinem „externen Pluralismus“46 besitzt wenig Raum im Falle innereuropäischer Konflikte, die „Anderen“ in die Debatte zu integrieren. Dieser Raum wird da noch einmal geschmälert, wo ein „advokatorisches“ Professionsverständnis die Mobilisierung für die „eigene Sache“ als legitim erscheinen lässt. Christoph Meyer hat in seinen Fallstudien zum medialen Umgang mit Korruptionsskandalen in der Europäischen Kommission, gezeigt dass die Herausbildung einer Kontrollfunktionen übernehmenden „europäischen Öffentlichkeit“ mit Veränderungen in der Zusammensetzung des Brüsseler Journalistenkorps erklärt werden kann. Ein investigativer Journalismus habe sich nach dem Beitritt der Angelsachsen und Skandinavier etabliert. Neben einer zunehmenden Nachfrage nach Europa betreffenden Informationen macht er das Professionsverständnis der britischen und skandinavischen Journalisten, vor allem aber die nun einsetzende transnationale Kooperation der Journalisten und die Herausbildung gemeinsamer professioneller Standards für die Veränderungen verantwortlich. Die Aktivierung der Öffentlichkeitsfunktion der Medien (hier Kontrolle gegenüber der Kommission) wird durch die „Internationalisierung“ des Brüsseler Journalismus ermöglicht (Meyer 2002: 184ff). Wir können aus der Perspektive unserer Untersuchungen ergänzen, dass eine „Internationalisierung“ innereuropäischer Konfliktdebatten – in der Dimension demokratischer Öffentlichkeit – es erfordert, dass die Medien ihre Foren den Stimmen der anderen Konfliktparteien zu Verfügung stellen und sich die Journalisten weniger als Advokaten „ihrer Sache“ und mehr als Vermittler internationaler Debatten verstehen.

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Die Formulierung bezieht sich darauf, dass Meinungsvielfalt und -wettbewerb „extern” durch politisch unterschiedlich profilierte Zeitungen hergestellt wird, und nicht – wie im nordamerikanischen Fall – „intern” gesichert sein soll. In diesem Punkt des „externen” Pluralismus gleichen die britischen Zeitungen dem nordeuropäischen Modell.

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5.5 Abschließendes Fazit Der „neuen“ deutschen Fachdebatte zur „europäischen Öffentlichkeit“ haben wir eine Reihe von Vorwürfen gemacht. Wir haben argumentiert, dass das Interesse an der Frage, „ob“ eine „europäische Öffentlichkeit“ entsteht oder „entstehen kann“ (Risse 2004), die Frage nach der demokratischen Qualität von „Öffentlichkeit“ in den Hintergrund gedrängt hat. Wir haben außerdem kritisiert, dass „Öffentlichkeit“ mit „Kommunikationsraum“ gleichgesetzt und/oder ersteres an letzterem gemessen wird. Demgegenüber haben wir darauf hingewiesen, dass die Herausbildung eines „europäischen Kommunikationsraums“ nicht als Indikator für „Öffentlichkeit“ betrachtet werden kann, weil sie auf einen anderen Mechanismus verweist. Diesen herrschaftlichen Mechanismus haben wir als eine – in Analogie zur Nationsbildung modellierte aber „weiche“ und „supranationale“ – Inkorporation der Gesellschaften in das europäische Mehrebenensystem identifiziert. Wir haben ferner die Angemessenheit des Konzeptes des „Kommunikationsraums“ bzw. der „Kommunikationsgemeinschaft“ für den europäischen Kommunikationszusammenhang problematisiert. Wir haben theoretische Argumente und empirische Belege dafür gebracht, dass auch im institutionellen Rahmen der Europäischen Union mit der Reproduktion nationaler Perspektiven/divergenter Relevanz- und Sinnstrukturen zu rechnen ist. Das Zusammenspiel einer „Europäisierung“ durch Inkorporation sowie anderer Mechanismen globaler kultureller Entgrenzung einerseits und die Reproduktion territorial (national) verdichteter Perspektiven und Deutungsrahmen andererseits lässt zwar nicht Konvergenz und Homogenisierung der Kommunikationszusammenhänge erwarten, stellt aber Konzepte wie „Nationalkultur“ und „Kulturraum“ – als in Analogie zur „Nation“ gedachte kulturell homogene, kohärente und abgegrenzte Räume – in Frage. Aus diesem Grund sprechen wir von „Clustern“ und erwarten die Kontinuität einer Vielfalt von (u.a.) nationalen Clustern von Perspektiven/Relevanz- und Sinnstrukturen. Mit dieser Vielfalt muss eine „europäische Öffentlichkeit“ rechnen. Mehr noch: demokratische Öffentlichkeit ist auf gesellschaftliche Subjektivität und deren interaktive Vermittlung angewiesen. Deshalb sollte es bei einer „Europäisierung“ von „Öffentlichkeit“ um eine „Internationalisierung“ nationaler Öffentlichkeiten gehen. Kommunikation ermöglichende Gemeinsamkeiten in einer internationalen Öffentlichkeit sind nicht in erster Linie geteilte kulturelle Deutungswerkzeuge (Relevanz- und Sinnstrukturen) sondern die Herausbildung „deliberativer“ und „kosmopolitischer“ Kompetenz, und eines reflexiven Verhältnisses zu den jeweils eigenen kulturellen Werkzeugen. Eine so konzeptualisierte „europäische Öffentlichkeit“ und die durch sie generierte Identität definiert sich – anders als die „Nation“ – nicht durch eindeutige Grenzen und nicht gegen Andere. Sie definiert sich über das Verhältnis zu

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sich selbst – zur europäischen Form kultureller Kompetenz (Selbstreflexivität und Selbstdistanz) und zur spezifischen nationalen Prägung. Ein durch eine „kosmopolitische europäische Öffentlichkeit“ integrierter europäischer Kommunikationszusammenhang kann als „Cluster von nationalen Clustern von Perspektiven“ innere kulturelle Diversität und „offene“ Grenzen als Komplexität aneignen und dadurch die Fähigkeiten entwickeln, Brücken innerer Integration und externer globaler Vernetzung zu bauen. Literaturverweise Anderson, Benedict 1996: Die Erfindung der Nation, Frankfurt Anderson, Perry 2007: Depicting Europe, in: London Review of Books, 20.9.2007; http://www.lrb.co.uk/29/n18/print/andeo1_html, abgerufen 19.12.2007 Benz, Arthur 2003: Mehrebenenverflechtung in der Europäischen Union, in: M. Jachtenfuchs, Beate Kohler-Koch (Hrg.): Europäische Integration, Opladen: UTB, 317-351 Berger, Peter, L; Luckmann, Thomas 1987: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/M.: Fischer Bonfadelli, Heinz 2002: Medieninhaltsforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Konstanz Brunkhorst, Hauke 2007: Unbezähmbare Öffentlichkeit – Europa zwischen transnationaler Klassenherrschaft und egalitärer Institutionalisierung, in: Leviathan, 35 Jg. H.1; 12-29 Castells, Manuel 2004: The Power of Identity. Second Edition, Oxford u. a.: Blackwell Crouch, Colin 2004: Post-Democracy, Cambridge Polity Press Dahinden, Urs 2006: Framing. Eine integrative Theorie der Massenkommunikation, Konstanz: UVK Deutsch, Karl, W. 1953: Nationalism and Social Communication, An Inquiry into the Foundations of Nationality, Cambridge MA: MIT Press Deutsch, Karl W. 1969: Politische Kybernetik. Modelle Perspektiven, Freiburg i. B.: Rombach 1969 (The Nerves of Government: Models of political Communication and control, Free press 1963) Donati, Paolo 2001: Rahmenanalyse politischer Diskurse, in: R. Keller, A. Hirseland, W. Schneider, W. Viehoefer (Hrg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. I Methoden und Theorien, Opladen, 145-175 Eder, Klaus; Hellmann, Kai-Uwe; Trenz, Hans-Jörg (1998): Regieren in Europa jenseits der öffentlichen Kommunikation? Eine Untersuchung zur Rolle der politischen Öffentlichkeit in Europa, in: Beate Kohler-Koch (Hrg.): Regieren in entgrenzten Räumen, PVS Sonderheft, Opladen: Westdeutscher Verlag, 321-344 Eder, Klaus 2000: Zur Transformation nationalstaatlicher Öffentlichkeit in Europa, in: Berliner Journal für Soziologie, 10, (2), 167-184 Eder, Klaus; Kantner, Kathleen 2000: Transnationale Resonanzstrukturen in Europa. Eine Kritik der Rede vom Öffentlichkeitsdefizit, in: Mauricio Bach (Hrg.): Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden. Westdeutscher Verlag, 306-331

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Transnationale Diskursgemeinschaften? – „Europa“ als Hintergrunddebatte der Irakkrise 2003 in linksliberalen Medien in Deutschland und Großbritannien Johanna Rehner, Sophie Schmitt, Melanie Tatur1 Transnationale Diskursgemeinschaften?

Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Kagan hat im Juni 2002 zunehmende außenpolitische Spannungen zwischen den USA und Europa als Ausdruck divergierender politischer Kulturen diagnostiziert2. Er etikettierte die USA als „Mars“ und Europa als „Venus“ und ordnete ersteren der „modernen“ Welt Hobbes und letztere einer „postmodernen“ Welt Kants zu. Mit der manifesten Krise der transatlantischen Beziehungen im Zusammenhang des Irakkrieges 2003 wurde Kagan’s Label zu einem Deutungsrahmen, der in der deutschen Öffentlichkeit die Konfliktwahrnehmung strukturierte. Solch eine Popularisierung Kagans verkehrte allerdings die Intention seiner These: Der neokonservative Politikwissenschaftler hatte die Divergenz außenpolitischer Kulturen weder aus spezifischen kulturellen Traditionen, noch aus unterschiedlichen Machtressourcen erklärt sondern – im Sinne des konstruktivistischen Forschungsparadigmas – als Wissen dekonstruiert, das jeweils unterschiedlichen Positionen und Erfahrungen in der Periode des Kalten Kriegs entsprach.3 Die Hypostasierung der These von den 1

2

3

Die Fallstudie zum The Guardian wurde im Wesentlichen von Johanna Rehner und die zur Le Monde Diplomatique von Sophie Schmitt erstellt. Im ersten Fall hat die Herausgeberin die Analyse ergänzt und im Interesse der Vergleichbarkeit modifiziert, im zweiten Fall nur auf die Ergebnisse zurück gegriffen. Die Fallstudie zur Süddeutschen Zeitung wurde von Melanie Tatur durchgeführt unter Rückgriff auf Materialien, die Patrick Kadereit zusammengestellt hat. Die Einleitung, die Ausformulierung des Textes und der Vergleich stammen von Melanie Tatur. Robert Kagan: Power and Weakness, in: Policy Review 113, Juni 2002; vgl. auch derselbe: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Siedler Verlag Berlin 2003. Die USA sicherte – gestützt auf ihre militärische Macht – das globale Machtgleichgewicht. Europa integrierte sich und institutionalisierte – im Schutz des amerikanischen Sicherheitsschirms – mit der Europäischen Union neuartige Formen zwischenstaatlicher Kooperation. Kagan wirft in seinem Text beiden außenpolitischen Kulturen vor, dass sie ihre eigene Bedingtheit nicht reflektieren. Der amerikanischen, dass sie zu gleichgültig sei gegenüber der innovativen Erfahrung der Europäer; den Europäern, dass sie naiv seien, wenn sie ihre Erfahrung als Muster einer Weltordnung verallgemeinerten und damit die machtpolitischen Rahmenbedingungen dieser Erfahrung ausblendeten.

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zwei Kulturen zum Deutungsrahmen blendet diese Reflexion der Bedingtheit der kulturellen Dispositionen aus und gibt ihr ideologische Funktion. Die innereuropäischen Konflikte zeigten zudem, dass Kagan „Europa“ vorschnell mit dem kontinentalen Westeuropa gleichgesetzt hatte. Die transatlantische Krise zeigte divergierende Interessen und außenpolitische Identitäten innerhalb Europas, welche die Formulierung einer gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Position unmöglich machten. Ostmitteleuropa, das in der Nachkriegsperiode in der Hobbes’schen Welt gelebt hatte, aber auch der britischen Politik war „realistisches“ Denken nicht fremd. Die Unfähigkeit zum Konsens spiegelt sich auf der Ebene der Mediendebatten in unterschiedlichem Framing der Wahrnehmung des transatlantischen Konfliktes in den nationalen Medien. Gegenstand der vorliegenden Analyse ist allerdings nicht die Rahmung der amerikanischen Politik und des transatlantischen Konfliktes in den nationalen Öffentlichkeiten Europas sondern die Wahrnehmung der innereuropäischen Krise. Wir werden aber sehen, dass die Deutungsrahmen zu Europa auf die kognitive Strukturierung des großen Konfliktes zurückverweisen. Die im Folgenden vorgestellten Fallstudien zeigen nationale Spaltungen hinsichtlich der Deutungsrahmen der innereuropäischen Konflikte anlässlich des Irakkrieges 2003 im linksliberalen Milieu Großbritanniens und Deutschlands. Als repräsentativ für die Milieus werden die Zeitungen The Guardian und Süddeutsche Zeitung betrachtet. Der Untersuchungszeitraum umfasst den Konfliktverlauf von dem – auf die frühe deutsche Festlegung in der Irakfrage folgenden – deutsch-französischen Schulterschluss in der Verfassungsfrage (15.1.03) bis zum Beginn des Krieges (20.3.03). Der Textkorpus beschränkt sich auf solche Kommentare und kommentierende Berichte, die Aussagen zum innereuropäischen Konflikt bzw. „Europa“ beinhalteten und nicht allein auf die außenpolitische Situation selber fokussiert waren. In den beiden Fallstudien wird jeweils im Zusammenhang der Beschreibung des Textkorpus auf die jeweilige Inszenierung des Konfliktes eingegangen, d.h. den zeitlichen Ablauf (Szenario) und die sachliche Verknüpfung von Konfliktdimensionen (Gegenstand). Ein Überblick über die „Lackmusereignisse“, auf welche die Szenarien der Mediendebatte reagierten, wird zu Beginn der ersten Fallstudie präsentiert. In einem zweiten Schritt werden dann die Deutungsrahmen der Konfliktwahrnehmung vorgestellt. Diese Rahmen werden auf zwei Abstraktionsebenen rekonstruiert: auf einem hohen Abstraktionsniveau als „Überframes“. Überframes sollen bestimmte formale Ordnungsschemata bezeichnen. Diese verweisen auch auf „Mentalitäten“. Als „Mentalitäten“ betrachten wir allgemeine Wahrnehmungsweisen von Internationalen Beziehungen. Auf mittlerem Abstraktionsniveau beziehen sich Frames auf konkrete Deutungsrahmen des Konfliktes. Gefragt wird auch nach den Konzeptualisierungen „Europas“. In der Fallstudie über die Berichterstattung des The

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Guardian steht der „Überframe“ zu Beginn der Darstellung, da sich alle konkreten Frames in diesem Rahmen bewegen. Beim Fallbeispiel der Süddeutschen Zeitung stehen dagegen die konkreten Frames am Anfang, da sie auf verschiedene Überframes bzw. mentale Rahmen verweisen. Zwischen die beiden Fallstudien eingeschoben ist eine knappe Präsentation der Frame Analyse, die Sophie Schmitt für die Le Monde Diplomatique angefertigt hat. Es geht hierbei nicht darum, die französische Debatte einzubringen.4 Die Funktion dieses Einschubs ist vielmehr, das Framing der innereuropäischen Konflikte durch den in der Zeitung repräsentierten „linken“ Diskurs einzuführen, um damit die Besonderheit des Framings im deutschen linksliberalen Diskurs sichtbarer zu machen. Die Zusammenfassung bringt dann einen systematischen Vergleich.

1

Europas „ewiges Dreieck“ – die Wahrnehmung der innereuropäischen Konflikte in The Guardian

1.1 Textkorpus, fremde Stimmen und Resonanz der innereuropäischen Konflikte The Guardian ist mit einer Auflage von 408.000 Exemplaren eine der größten Tageszeitungen Großbritanniens. Er kann aufgrund seiner relativen Nähe zur Labour-Partei als linksliberale Zeitung angesehen werden.5 Die Zeitung gliedert sich gewöhnlich in einen allgemeinen Nachrichtenteil, gefolgt von Nachrichten aus Großbritannien und internationalen Nachrichten. Charakteristisch ist die nachfolgende Sektion „Comments & Analysis“, die 3-4 Seiten umfasst und jeweils aus einem meist einseitigen Beitrag mit namentlich genanntem Verfasser, sowie einem „leading comment“ und weiteren Kommentaren ohne kenntlich gemachten Autor besteht. Ergänzt wird dieser Teil der Zeitung durch die in regelmäßigen Abständen erscheinende Beilage „The Editor“, in der ein referierender Überblick über die Meinungslage in verschiedenen europäischen aber auch US-amerikanischen, indischen u.a. Printmedien zu einem bestimmten Thema gegeben wird. Die für die vorliegende Untersuchung ausgewählten Berichte, Kommentare und Analysen stammen vor allem aus den Rubriken internationale Nachrichten, und „Comments & Analysis“, wobei den „leading comments“ besonderes Gewicht zufällt, das sie die Haltung der Zeitungsredaktion zum Ausdruck bringen. 4

5

Hierfür kann die Le Monde Diplomatique weder politisch (als ein transnational vernetztes spezifisches Segment der linken Diskursgemeinschaft) noch methodisch (als monatlich erscheinende Publikation von Analysen) als repräsentativ gelten. Vgl. http://www.go-britain.de/Service/Nedien/Britische_Rundfunkstation.htm (30.6.04)

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Untersuchungszeitraum der Fallstudie ist die Zeitspanne vom 15.1.2003 bis zum 28.4 2003. Das heißt der Textkorpus erfasst auch Berichte, Analysen und Kommentare, die nach Beginn des Krieges am 20.März veröffentlicht wurden. Aus arbeitstechnischen Gründen konnten keine Texte aus der Zeit vom 1. bis zum 9. März berücksichtigt werden.6 Ausgewählt wurden Kommentare (18), Korrespondentenberichte (17), Analysen (2) und Kommentare von „fremden Stimmen“ (6),7 insgesamt also 43 Texte.8 Einer der Kommentare ist ein Beitrag eines US-amerikanischen Wissenschaftlers. Schon diese Daten zum Textkorpus beinhalten ein erstes Ergebnis: 7 von insgesamt 24 Kommentaren und Analysen stammen aus „fremder“ Feder. Hieraus kann der Schluss gezogen werden, dass konkurrierende Sichtweisen – wenn auch in begrenzter Zahl – zu Wort kommen. Gefragt wurde nach der Resonanz des innereuropäischen Konfliktes im Zeitverlauf (Längsschnittanalyse), nach der Definition „Europas“ in den erfassten Texten und nach den Deutungsrahmen (Frames), in denen der innereuropäische Konflikt thematisiert wird. Für die Längsschnittanalyse war es sinnvoll einzelne Ereignisse zu identifizieren, um deren Resonanz zu erheben. Vor dem Hintergrund der deutschen Festlegung gegen jegliche Teilnahme an militärischen Aktionen, der sich zuspitzenden Krise und divergierender Strategien der europäischen Vertreter im Sicherheitsrat (in der Frage des Mandats der Inspektoren, der Interpretation der Resolution 1441 und der Haltung zu/bei einer zweiten Resolution) können eine Reihe von Einzelereignissen identifiziert werden, die als Indikator der Verschärfung der innereuropäischen Spaltungen betrachtet werden. In diesem Sinne wurden als „Lackmusereignisse“ für den Umgang mit „Europa“ berücksichtigt: ƒ ƒ

6 7

8 9

die deutsch-französische Übereinkunft in der Verfassungsfrage („EU-Doppelspitze“) vom 16./17.01. und die deutsch-französischen Feiern zum Élysée-Vertrag vom 22./23.01.; die Formulierung des damaligen US-Verteidigungsministers Rumsfeld vom „alten“ und „neuen“ Europa auf einer Pressekonferenz des US-Verteidigungsministeriums vom 24.01.;9

Für diese Tage standen Microfiche-Ausgaben der Zeitung zur Verfügung. Es handelt sich um je einen französischen und deutschen Kommentar zu den Elysée Feiern, und zu je einem russischen, französischem, amerikanischen und türkischen Zeitungen übernommen Beitrag. Vier aus anderen britischen Zeitungen übernommen kurze Kommentare wurden nicht in den Textkorpus aufgenommen. Vg. Defense Department Update for Foreign Media, January 22.20003, in: http://fpc.state.gov/ fpc/16799 htm; 21.04.2008.

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ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

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die Blockade der Nato durch Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg am 22./23.01.; der „Brief der Acht“ vom 31.01.;10 das britisch-französische Treffen in Touquet am 03./04.02.; die Stellungnahme von weiteren zehn Beitrittskandidaten, die sich dem „Brief der Acht“ anschließen vom 06.02.; „Dreiererklärung“ zur „Achse“ Paris-Berlin-Moskau vom10.02.; die Blockade der Nato am 11.02.; die Friedensdemonstrationen am 17.02; Chiracs verbaler Angriff auf die „infantilen“ ostmitteleuropäischen Beitrittsländer vom 17.02.; die Ankündigung des französischen Vetos gegen eine zweite UN-Resolution am 14.03.; der Kriegsbeginn am 20.03.

Betrachtet man die Verteilung der Texte nach dem Erscheinungsdatum, so schlagen sich die Europa relevanten „Lackmusereignisse“ im ersten Monat des Untersuchungszeitraums (15.01.-14.02.) in einer Kumulation von Texten nieder: 8 Berichte, 8 Kommentare (davon 3 des Herausgebers), 2 Analysen und 4 „fremde Stimmen“. Auch im zweiten Monat, der mit Chiracs beleidigender Äußerung gegen die ostmitteleuropäischen Beitrittsländer und der französischen Festlegung auf ein Votum gegen eine zweite UN-Resolution beginnt, wird den innereuropäischen Problemen mit 5 Berichten, zwei Kommentaren und 6 „fremden Stimmen“ noch relevanten Raum gewidmet. Auch im dritten Untersuchungsmonat, der fünf Tage vor dem Kriegsbeginn einsetzt, werden innereuropäische Probleme im Zusammenhang der Ereignisse kommentiert (7 Kommentare und 2 Berichte). Ebenfalls in die Analyse einbezogen wurden 2 Berichte und ein Kommentar, die nach dem 15.4.2003 erschienen und die Auswirkungen der Irakkrise auf „Europa“ aus größerer zeitlicher Distanz betrachten. Eine genauere zeitliche und inhaltliche Zuordnung zeigt, dass der deutschfranzösischen Annäherung beachtliche Aufmerksamkeit gewidmet wird (Plan der Doppelspitze und Élysée-Feiern zusammen: 6 Berichte, 2 Kommentare, 2 „fremde Stimmen“), und zwar mehr als die Rumsfeld-Äußerung (1 Bericht, 1 Kommentar), der „Brief der Acht“ (1 Bericht, 1 Kommentar) und die Chirac Äußerung (2 Berichte). Auffällig ist auch, dass die Blockade der Nato mit einem Bericht und 5 „fremden Stimmen“ gewürdigt wird. Die meisten Texte reagieren auf andere Ereignisse oder setzen sich in allgemeiner Form mit der amerikanischen Politik und der Reaktion der europäischen Staaten – und in zeitlicher Dis10

Offener Brief der acht EU-Länder zum Irak im Wortlaut, in: http://www.tagesschau.de/ausland/meldung353388.html; 21.04.2008.

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tanz z.T. auch mit den „Lackmusereignissen“ – auseinander (5 Berichte, 14 Kommentare, 4 fremde Stimmen). Diese Ergebnisse erlauben die Vermutung, dass der Konflikt in Europa schon früh – und zwar als Verschiebung der Allianzen und Kräfteverhältnisse innerhalb Europas – wahrgenommen wird, und der innereuropäische Konflikt um die außenpolitische Positionierung in der britischen Wahrnehmung mit Fragen der innereuropäischen Ordnung verbunden ist. Wir werden sehen, dass die qualitative Analyse diese Hypothese stärkt.

1.2 Deutungsrahmen und Argumentationsmuster der medialen Verarbeitung der innereuropäischen Konflikte in The Guardian Die Kommentare und Analysen des Guardian werden bis auf eine Ausnahme von einem Deutungsrahmen strukturiert, den wir als „Überrahmen“ betrachten und „Realität vs. reale Möglichkeit“ etikettieren. Dieser Überframe bringt hier eine Mentalität zum Ausdruck, die wir „rationalistischer Pragmatismus“ und/oder „realistische Ordnungspolitik“ nennen wollen. Die erste Formulierung soll signalisieren, dass Akteure als rational handelnde Akteure betrachtet werden und die Bezugsnahme auf normative Prinzipien immer mit deren empirischer Konkretisierung als Interessen verbunden ist. Die zweite Formulierung wurde eingeführt, um einen Vergleich mit dem deutschen Diskurs zu erleichtern. Sie verweist darauf, dass die ordnungspolitischen Ziele nicht primär normativ sondern in Bezugnahme auf (nationale) Interessen relevant werden. Diese Interessen unterfüttern die normativen Optionen mit empirischem Gehalt und legitimieren sie. Der Deutungsrahmen „Realität vs. reale Möglichkeit“ konfrontiert die schlechte „Realität“ des durch den Konflikt zwischen Deutschland/Frankreich vs. Großbritannien gespaltenen Europas mit einer guten „realen Möglichkeit“, als einer Situation, in der die „großen Drei“ zu einem Interessenausgleich und einer gemeinsamen Position finden. Es geht also einerseits um „realistische“ Bezugnahme auf nationale Interessen und Allianzen und andererseits um Wertungen. Die Formulierung „reale Möglichkeit“ soll deutlich machen, dass es sich bei diesem Referenzpunkt nicht um ein „Ideal“ oder „Leitbild“, d.h. ein bloß normatives Referenzmodell handelt. Das Referenzmodell der „realen Möglichkeit“ wird als eine Konstellation modelliert, deren Wünschbarkeit aber immer auch reale Herstellbarkeit – unter Berücksichtigung der Interessenlagen der Akteure – argumentativ begründet wird. Dieser Deutungsrahmen legt den Fokus auf die innereuropäische Konstellation und fasst die Krise zugleich als grundsätzlich lösbare Situation – und nicht als unüberbrückbaren normativen Gegensatz.

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Im Rahmen dieses Frames werden in den frühen Texten vor allem die innereuropäische Interessen- und Ordnungspolitik thematisiert, später rücken außenpolitische Fragen in den Mittelpunkt. Innereuropäisch wird die Ausgrenzung Großbritanniens durch die „franco-german marriage“ als Marginalisierung des Akteurs Großbritannien und als Gewichtsverschiebung im ordnungspolitischen Konflikt um die Verfasstheit Europas problematisiert. Außenpolitisch geht es um die Positionierung Europas als Konkurrent oder Kooperationspartner der USA. In beiden Dimensionen dient der Verweis auf Interessenlagen bzw. dauerhafte Interessendefinitionen der Begründung der „realen Möglichkeit“. Bei genauerer Betrachtung werden wir allerdings feststellen, dass den Interessen/Interessendeutungen auch weltpolitische Ordnungsmodelle zugeordnet werden. Bemerkenswert ist auch, dass vor allem Frankreich und kaum Deutschland im Fokus stehen, als traditioneller Bezugspunkt Großbritanniens, treibende Kraft, kompetenterer Spieler, und als der Akteur, dessen Neupositionierung die britischen Handlungsmöglichkeiten begrenzt. Auffällig ist ferner, wie sehr die Ebenen des Konfliktes – innereuropäischer Macht- und Verfassungskonflikt und außenpolitische Krise – verbunden erscheinen. Tabelle 1:

Frames und Foktus der Kommentare, Analysen, Berichte Zahl

Überframe: „Realität vs. reale Möglichkeit“ Fokus I: Europa Davon Bezug zu außenpolitischem Konflikt Fokus II: Weltpolitik Davon mit Bezug auf Verfassungskonflikt Subframe I: „Transatlantische Beziehungen u. nationale Interessen“ Subframe II: „Weltordnung“

11

17 13 (7+6)11

Andere/nicht quali- Basisgröße fiziert 1/1 37 (alle Texte ohne „fremde Stimmen“) 37 2/1

20 6

13/1

35

8

14 Kommentare, Analysen (2 nicht qual.)

4

6 Texte datieren nach Kriegsbeginn. Während in den frühen Texten ein Bezug zur Verfassungsfrage hergestellt wird, rückt in diesen Texten die „europäische Identität“ in Fordergrund.

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Die Verknüpfung der Konfliktebenen, wird dadurch erleichtert, dass „Europa“ empirisch gefasst, das heißt mit der Europäischen Union gleichgesetzt und als (institutionell verregeltes) Spielfeld nationaler Regierungen betrachtet wird. Ziel der Analysen und Kommentare ist in der Regel, Interessen und interessengeleitete Strategien transparent zu machen. Der Verweis auf Interessen und Interessengegensätze begründet auch die „reale Möglichkeit“ des positiven Referenzmodells. Die hier deutlich werdende „rationalistische“ Denkweise12 verfolgt so eine kritische Absicht und pragmatische Zielsetzung. Das oben beschriebene Grundmuster zur Rahmung der innereuropäischen Konflikte erfährt im Zeitverlauf Modifikationen, tritt auch zeitgleich in unterschiedlichen Fassungen auf, und kann unterschiedliche Bewertungen der britischen bzw. deutsch-französischen Politik transportieren. Die offensichtlichste Modifikation des Frames im Zeitverlauf bezieht sich auf die zunehmend komplexere Ausgestaltung des Deutungsrahmens. Zeitlich lassen sich überlappende Fassungen als Subframes beschreiben, die den außenpolitischen Konflikt im Rahmen der „transatlantischen Beziehungen und nationale Interessen“ oder divergenter Perspektiven auf die „Weltordnung“ thematisieren. Hinsichtlich des normativen Bias der Argumentation kann eine Verschiebung von mehrheitlich die französische (und deutsche) Politik kritisierenden Stellungnahmen zu einer die britische Fehleinschätzung der (innereuropäischen) Situation akzentuierenden Kommentierung ausgemacht werden. Der Zusammenhang von Verfassungsfrage und außenpolitischem Konflikt ist besonders auffällig daran, dass die deutsch-französische Annäherung mit Bezug auf die Krise der internationalen Beziehungen betrachtet wird. Auch die Texte nach Beginn des Krieges stellen einen Zusammenhang von „Europa“ und der Irakkrise her. Nun liegt der Akzent allerdings nicht auf der Verfassungsfrage, sondern auf der Isolation Großbritanniens in Europa und der durch den Konflikt beförderten „europäischen Identität“. Von den insgesamt 11 Texten, mit denen der Guardian auf die deutschfranzösische Annäherung reagiert, stellen 9 die Vorabsprache in der Verfassungsfrage (Doppelspitze) und die Vierzigjahrfeier der „Franco-German cooperation“ in dem Kontext der innereuropäischen Machtbeziehungen und Finalitätsvorstellungen. Einige Kommentatoren akzentuieren die Interessendivergenzen zwischen Frankreich und Deutschland und die geringe Praktikabilität des Verfassungskompromisses, und empfehlen, das „Franco-German love-in“ nicht über zu bewerten.13 Andere warnen, die französisch-deutsche „marriage of convenience“ 12 13

Das soll heißen auf die Interessen und Interessen basierten Strategien bezugnehmende Betrachtungsweise, im Sinne der Annahme rationalen Wahlhandelns. z.B. der Herausgeberkommentar vom 16.1.2003 und der Kommentar von Martin Woollacott im Guardian vom 17.1.2003.

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habe ein stabiles Fundament und Großbritannien könne sich verschätzen, wenn es wie eine „mistress“ glaube, der Geliebte (Frankreich) werde die Ehefrau je verlassen.14 Das Bild der „Ehe“ wird auch von Tymothy Garton Ash15 genutzt und durch das der „ménage á trois“ korrigiert. Sein Argument sind weniger Interessenunterschiede zwischen den „zwei Großen“ als die erweiterte Union der 27, die eine französich-deutsche Führung unmöglich mache, weil sie Gegenallianzen provozieren werde. Im Zusammenhang mit der Fragestellung dieser Fallstudie hervorzuheben sind zwei Kommentare, in denen die französisch deutsche Annäherung in den Kontext der „Irakkrise“ und der europäischen Sicherheitspolitik in ihrer Bedeutung relativiert wird. Der Kommentar von Martin Woollacott, stellt die traditionellen und aktuellen Positionen der französischen und deutschen Regierungen zur europäischen Finalität und ihr Verhältnis zu den USA zusammen, und stellt fest „something of this old tension remains“. Frankreich habe nach wie vor einen Impuls die USA in der Sicherheitspolitik herauszufordern. Zugleich aber sei das französische Denken in Fragen der Sicherheitspolitik dem amerikanischen generell näher als dem deutschen und zudem bleibe Großbritannien „the only obvious serious partner for France in any integration of European armed forces“.16 Der zweite Text, ein Bericht aus Brüssel, der sich mit der französischen- deutschen Absprache in der Frage der Institutionenreform auseinandersetzt, verweist darauf, dass französische Politiker in diesem nach eigener Einschätzung „delicate moment in international politcs“ einen „breiten Konsens“ für einen – von Großbritannien abgelehnten – europäischen Außenminister postulieren, und der deutsche Außenminister, Joschka Fischer, den französischdeutschen Plan als eine „compromise solution which would reconcile competing visions of Europe’s future“ bezeichnet habe – Einschätzungen, von denen sich der Guardian distanzieren dürfte. Ergänzt wird diese Verarbeitung des Ereignisses der deutsch-französischen Annäherung durch zwei Kommentare, die französische und deutsche Haltungen illustrieren. Bemerkenswert ist, dass der von der Libération übernommene Text die französisch-deutsche Partnerschaft in Kategorien von Interessenpolitik würdigt, während der aus der deutschen FAZ übernommene Kommentar den Verständigungsprozess nach Krieg und Feindschaft unterstreicht.17 Nach der Floskel Rumsfelds vom „alten“ und „neuen“ Europa und dem „Brief der Acht“ werden die innereuropäischen Konflikte zunehmend stärker als Konflikte um die Ausrichtung der europäischen Außenpolitik thematisiert.

14 15 16 17

Neil Ascherson in: The Guardian vom 22.1.2003. The Guardian 23.01.2003. Martin Wollacott, in: the Guardian 17.01.2003. Beide in The Guardian vom 22.01.2003.

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Zugleich wird das dichotome Ordnungsschema in unterschiedliche Richtungen erweitert. Zum einen wird die „eternal triangel“ Großbritannien-Frankreich-Deutschland als Bezugsgröße von „Realität“ und „realer Möglichkeit“ um die anderen Mitgliedsstaaten und die Kadidatenländer ergänzt. Die „Realität“ des gespaltenen und handlungsunfähigen Europas wird nicht mehr nur über den Konflikte der „großen Drei“ sondern – in unterschiedlichem Umfang – als komplexe Landschaft politischer Fronten und Allianzen von Nationalstaaten zuzüglich der Brüsseler Bürokratie thematisiert18. Zum anderen rückt nun die Rolle der amerikanischen Politik im europäischen Konflikt stärker ins Blickfeld. Die Zuspitzung des Konfliktes durch den Brief der Acht („gang of eight“19) wird als Reaktion auf die französisch-deutsche Anmaßung, für Europa sprechen zu wollen, erklärt und als „dangerous games“ problematisiert. Auf der einen Seite steht nun die „schlechte Realität“ eines zerstrittenen Europas, dessen endogene Konflikte durch die amerikanische Politik geschürt werden, und das sich als außenpolitisch handlungsunfähig erweist. Auf der anderen Seite steht die „reale Möglichkeit“ eines um eine einheitliche Position ringenden Europas unter Führung der großen drei, das eine eigenständige Position gegenüber den USA formulieren und behaupten kann. Diese „Möglichkeit“ wird auch in der komplexer werdenden Situation als Hoffnung auf einen Ausgleich mit Frankreich begründet20. Schließlich wird das Deutungsmuster dadurch komplexer, dass nun auch die Stimmungen in der Bevölkerung und die Friedensdemonstrationen als neuer Faktor berücksichtigt werden. Dabei geht es in den Texten vor Kriegsbeginn nicht um die Bewegung an sich und eine „europäische Identität“. Thematisiert wird vielmehr, dass die Stimmungen in der Bevölkerung und die Aktivitäten der Friedensbewegung die Position der von Großbritannien geführten Fraktion schwächen.21 In der ex post-Würdigung der Bedeutung der Krise für Europa wird dann die Herausbildung einer „europäischen Identität“ auf der grassroots-Ebene als Nebenergebnis der Krise thematisiert.22

18

19 20 21

22

Dabei werden drei Gruppen ausgemacht, „Falken“, „Tauben“ und Länder zwischen diesen beiden Fronten (Irland, Schweden, Finland) vgl.Ian Black und Michael White in: The Guardian 18.02.2003; ähnlich erweiterte Perspektive: Ian Black in: The Guardian 31.1.2003; Jonathan Steele in: The Guardian 07.02.2003. Diese Formulierung der griechischen Ratspräsidentschaft geht als Standardformel in Berichterstattung und Kommentierung ein. Explizit bei M. Kettle in: the Guardian 04.02.2003 anläßlich des französisch britischen Treffens in Touquet und T. Gortan Ash in: The Guardian 20.02.2003. Vgl. Herausgeberkommentar The Guardian vom 11.2.; Polly Toynbee in: The Guardian vom 12.02.2003; Ian Black und Michael White in: The Guardian 18.02.2003; H. Young in: The Guardian 25.03.2003. Polly Toynbee in: The Guardian 21.03. 2003; Jeremy Rifkin in: The Guardian 26.04.2003.

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Bei der Betrachtung der außenpolitischen Dimensionen des Konfliktes überlappen sich zwei Argumentationsmuster, die wir auch als Subframes fassen können. Es handelt sich nicht um alternative Deutungsrahmen sondern eher um unterschiedliche Rahmungen des Konfliktes, die in unterschiedlichen Kontexten bedeutsam werden. Solange die europäische und transatlantische Bühne als Arena des Konfliktes erscheint, wird der Betrachtung das erste Subframe (transatlantische Beziehungen und nationale Interessen) unterlegt. Sobald die Auseinandersetzungen innerhalb der UN in den Mittelpunkt rücken wird das zweite Subframes (Weltordnung) aktiviert. Das erste Frame, das wir „Interessenallianzen“ nennen können, akzentuiert den Gegensatz von „Altlantikern“ und „Gaullisten“, diesem „schlechten aber realen“ Gegensatz wird die „reale Möglichkeit“ einer gemeinsamen Position der großen Drei als wünschenswerte „europäische“ Option gegenübergestellt.23 Die nun dominierende außenpolitische Ebene der Konfliktwahrnehmung bleibt mit der Konstellation der innereuropäischen Bündnisse und Frontlinien und der inhärenten Verfassungsfrage verbunden. Dabei erscheint den Kommentatoren eine formal institutionelle Herstellung außenpolitischer Handlungsfähigkeit Europas (durch Kompetenzerweiterungen für Brüsseler Akteure z.B. durch einen „Außenminister“) als nicht praktikabel.24 Das zweite Frame, wir wollen es „Ordnungspolitik“ nennen, wird zum ersten Mal in einem Kommentar des britischen EG-Außenhandelskommissars Peter Mandelson artikuliert.25 In seiner Stellungnahme unterscheidet er drei Perspektiven auf das internationale System der Zukunft: eine „multipolare Ordnung“, die Amerikas Macht durch Gegenmächte (Europa, Russland, China) ausbalancieren wolle, eine „multilaterale Sicht“, die Amerikas globale Führerschaft als real und wichtig akzeptiere, und durch die Einbindung in multilaterale Institutionen zähmen aber zugleich auch stärken wolle. Die erste Orientierung leite die französische Politik, die zweite die britische an. Da diese beiden Positionen mit einander im Konflikt stünden, setze sich real eine „unilaterale Position“ durch, die von der aktuellen amerikanischen Regierung forciert werde. Auch hiermit wird die Notwendigkeit eines innereuropäischen Kompromisses begründet In dem Maße, in dem die UN in das Blickfeld gerät, wird diese Fassung des Deutungsrahmens sichtbarer. Er rahmt die Kritik an der Ankündigung des Vetos des französischen Präsidenten gegen eine zweite UN Resolution, d.h. dessen Absicht der Militäraktion den „cloak of UN legitimacy“26 zu verweigern. Er 23 24 25 26

Als explizites Beispiel vgl. T. Gortan Ash in: The Guardian vom 20.02.2003. Als Ausnahme vgl. Jonathan Steele in: the Guardian 07.02.2003. Peter Mandelson in: The Guardian 10.03.2003; ganz ähnlich, nur mit anderen Labels vgl. T. Gortan Ash in: The Guardian 20.03.2003. Ian Black in: The Guardian 15.03.2003.

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rahmt aber implizit auch die retrospektive Kritik an der britischen Politik27. In beiden Fällen steht als einer von vielen „Kollateralschäden“ der weltpolitischen Krise und des innereuropäischen Konfliktes fest: die Schwächung der Institutionen einer „multilateralen“ Ordnung: der EU, der Nato und der UN, – unabhängig davon, ob dies der französisch-deutschen Politik oder der britischen Labourregierung angelastet wird. Bei der Bewertung des Ergebnisses der Krise wird wieder der Frame „Interessenallianzen“ aktiviert. Die „Franco-German axis“ dominiere Europa und Großbritannien sei wieder einmal „the odd one out“.28 Der Entwurf der europäischen Verfassung sei „straightforwardly federal“ und Giscard d`Estaing habe mit “brutaler Offenheit” klar gemacht: “This is the future and those who do not like it are free to leave“.29 Zusammenfassend kann festgehalten werden: Der vom Guardian präsentierte Diskurs wird durch einen abstrakten Deutungsrahmen strukturiert. Dieser stellt einer schlechten „Realität“ eine gute „reale Möglichkeit“ entgegen. „Realität“ und „reale Möglichkeit“ werden in den gleichen Kategorien beschrieben: Es geht um Interessen und um komplexe Interessenkonstellationen. Es handelt sich also nicht um ein binäres Ordnungsschema. Normative Bezüge wie die Handlungsfähigkeit Europas oder eine multilaterale Ordnung werden durch Bezugnahme auf stützende Interessen realistisch aufgewertet. Diese Verbindung von Interessenund Normbezug haben wir als Mentalität des „realistischen Pragmatismus“ bzw. „realistische Ordnungspolitik“ etikettiert. Abstrakter Überrahmen und Mentalität strukturieren den gesamten Diskurs. Eine allgemeine Konkretisierung erfährt diese Sichtweise in der Wahrnehmung des innereuropäischen Konfliktes als Verschiebung der innereuropäischen Allianzen. Der schlechten Realität der französisch deutschen Allianz und der Ausgrenzung Großbritanniens wird die gute „reale Möglichkeit“ des „Dreieck“ der drei großen Mitgliedstaaten entgegengestellt. Dieses Deutungsmuster wird schon früh – und zwar als Antwort auf den Vorschlang der „Doppelspitze“ und die Élysée Feiern – aktiviert. Er bezieht sich hier auf den Konflikt in der Frage der europäischen Verfassung. Von Anfang an bezieht er auch den Konflikt um die außenpolitische Positionierung der EU mit ein. Denn als Voraussetzung der Handlungsfähigkeit Europas erscheint das „Dreieck“, d.h. der Interessenausgleich zwischen den drei großen Mitgliedstaaten. Die normative Orientierung auf eine „multilaterale Ordnung“ wird im Zusammenhang der Auseinandersetzungen in der UN und der Nato aktiviert. Der normative Bezug auf das Ziel einer „multilateralen Ordnung“ erscheint im Frame „Ordnungspolitik“ eine „reale Möglichkeit“, die innereuropäisch an das macht27 28 29

Vgl. Robin Cook in Guardian 17.03.2003. Robin Cook in: The Guardian 17.03.2003. zit. nach Gwyn Prins in: The Guardian 15.03.2003.

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politischen Dreiecks gebunden ist. Da die Option für eine „multipolare“ Strategie Europa spalte und damit die unipolare Strategie der amerikanischen Regierung stärke. Hinter dem Szenario, das die Frontverschiebungen im innereuropäischen Verfassungskonflikt und mit der Auseinendersetzung um außenpolitische Optionen verbindet, steckt somit eine Wahrnehmung von Politik, die auf Interessen, Interessenallianzen, Macht und Machtgleichgewicht und dadurch definierte Handlungsmöglichkeiten rekurriert. Dieser Diskurs fasst „Europa“ empirisch: als die EU, d. h. ein institutionell verregeltes Spielfeld nationaler Interessen. Das Spielfeld wird zwar aus der britischen Perspektive betrachtet, und die britische Regierung ist Adressat etwaiger Kritik. Zugleich gelten aber alle nationalen Interessen als gleichermaßen legitim, und es geht um einen pragmatischen, den gemeinsamen Interessen gerecht werdenden Ausgleich. Im Diskurs wird auch „europäische Identität“ berücksichtigt, allerdings nicht als normativer Bezugspunkt sondern ausschließlich als empirisches Phänomen und Faktor einer Marginalisierung der britischen Regierung.

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Antiamerikanismus – die Nichtwahrnehmung der innereuropäischen Konflikte in Le Monde Diplomatique

Le Monde Diplomatique ist eine Monatszeitung, die nach ihrem Selbstverständnis Analysen jenseits des Mainstreams der medialen Berichterstattung anbietet. Sie versteht sich als internationales Projekt, das von zivilgesellschaftlichen Akteuren gestützt wird. Die französische Ausgabe erscheint in einer durchschnittlichen Auflage von 350.000 Exemplaren, die deutsche von (als Beilage der deutschen taz und schweizer Woz) insgesamt 140.000 Stück. Die Schrift erscheint auch in englisch, griechisch, italienisch, spanisch sowie in verschiedenen nicht europäischen Sprachen. Für die Analyse wurden die Ausgaben der Monate Januar bis April 2003 berücksichtigt. Zunächst wurden Artikel ausgesucht, die den drohenden Irak-Krieg und „Europa“ oder einzelne europäische Staaten thematisierten, zuzüglich einzelner Texte, die sich nur auf Europa bezogen. Von den zunächst erfassten insgesamt 43 Beiträgen wurden 19 eingegrenzt. Diese bildeten den Textkorpus der Analyse. Sie thematisierten die Hegemonie der USA und ihre Beziehungen zu Europa (12), die französisch-amerikanischen Beziehungen (1), vier Beiträge befassten sich mit einzelnen Ländern und ihrer Positionierung im Irakkonflikt (Großbritannien, Tschechien, Türkei), und zwei beleuchteten Aspekte der Osterweiterung.

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Schon dieser Überblick deutet ein Ergebnis der Analyse an: Der innereuropäische Konflikt wird dem Konflikt in den transatlantischen Beziehungen untergeordnet und nur in diesem Kontext thematisiert. Der innereuropäische Konflikt erhält keinen Eigensinn. Das hängt nicht etwa mit dem Format der Zeitung zusammen, die nicht auf aktuelle Ereignisse reagiert und übergreifende Analysen liefert. Ursächlich für diesen Umgang mit dem Konflikt in Europa ist das Framing der Konfliktwahrnehmung. Wie im Falle der Kommentare und Berichte des The Guardian lässt sich auch für die Analysen der Le Monde Diplomatique ein diskursstrukturierendes Überframe ausmachen. Es handelt sich um einen normativ aufgeladenen Deutungsrahmen, der als „Antiamerikanismus“ bezeichnet werden kann, weil er die Haltung zu den USA und ihrer Politik zum konfliktstrukturierenden Ordnungsmuster macht. Binäre Form und normative Aufladung des Ordnungsschemas lassen Konfliktlösung in Form von Kompromissen unmöglich erscheinen. Die ordnende Idee bildet die Dichotomie zwischen den USA als militärischem und ökonomischen Imperium und dem Widerstand gegen ihre Dominanz. Inhaltlich wird diese Dichotomie moralisch aufgeladen und thematisiert als „Arrogance imperiale“30 und „illegale Aggression“31 vs. Internationales Recht und Öffentliche Meinung32; als „ewiger Krieg“ vs. „ewiger Frieden“33; „Rekolonialisierung der Welt“ im Interesse des Zugriffs auf Ressourcen34 vs. „Moral“35; als „Unipolarität“ vs. „Multipolarität“36; „neo-liberale“ Globalisierung und „récolonialisation impériale de la planète“37 vs. Widerstand dagegen. Das dichotome Ordnungsmuster kommt am deutlichsten in den Beiträgen zum Ausdruck, die sich direkt mit der amerikanischen Politik und den transatlantischen Beziehungen befassen. Der Text zur amerikanischen Friedensbewegung verlagert die Front zwischen Gut und Böse in die USA. Der innereuropäische Konflikt wird der Dichotomie Imperium vs. Widerstand untergeordnet. Er wird strukturiert durch denen Gegensatz von „Vasallen“ einerseits und französischdeutsches „mouvement de quasi-insubordination“38, bzw. der „unabhängige Stimme“ für Europa.39 „Europa“ definiert sich hier als normative Größe über den Widerstand gegen die US-amerikanische Macht. Der innereuropäische Konflikt 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

Ignacio Ramonet, Le Monde Diplomatique Februar 2003. Ignacio Ramonet, Le Monde Diplomatique April 2003. Ignacio Ramonet, Le Monde Diplomatique Februar 2003. mit Verweis auf Robert Kagan Ignacio Ramonet, Le Monde Diplomatique März 2003. Sami Nair, Le Monde Diplomatique, März 2003. Ignacio Ramonet, Le Monde Diplomatique April 2003. Ignacio Ramonet, Le Monde Diplomatique März 2003. Jean de Maillard, Le Monde Diplomatique Januar 2003. Ignacio Ramonet, Le Monde Diplomatique, Februar 2003. Sami Nair März, Le Monde Diplomatique 2003.

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verweist nicht auf divergente Interessen und/oder Identitäten sondern auf Vasallentum bzw. die Kraft zur Autonomie. Dichotome Ordnungsschema und seine normativen Ladungen werden aus einem totalisierenden Weltbild abgeleitet. Die sich hier artikulierende Mentalität kann in diesem Sinne als „ideologischer Moralismus“ bezeichnet werden.

3

Der „Riss“ in Europa – die Wahrnehmung der innereuropäischen Konflikte in der Süddeutschen Zeitung

3.1 Textkorpus, fremde Stimmen und Resonanz der innereuropäischen Konflikte Die Süddeutsche Zeitung (SZ) ist mit einer Auflage 415.000 Exemplaren die größte überregionale Tageszeitung der Bundesrepublik Deutschland. Das Blatt versteht sich als parteipolitisch ungebunden,40 kann aber dennoch einem linksliberalen Milieu zugeordnet werden. Untersuchungszeitraum dieser Fallstudie ist die Periode vom 15.1.03 bis zum Beginn des Krieges am 20.3.2003. Erfasst wurden alle Kommentare, die – im Kontext der Auseinandersetzung um die amerikanische Irakpolitik – explizit auf „Europa“ Bezug nahmen. Die Texte wurden durch Einsichtnahme in die gedruckte Fassung der Zeitung ausgewählt. Der von Patrick Kadereit zusammengestellte Textkorpus wurde mit dem Ziel der formalen Vereinheitlichung auf 53 Texte reduziert.41 Er umfasst ausschließlich Kommentare, davon 5 von ausländischen Kommentatoren. „Fremde Stimmen“ sind somit in der SZ nur sehr schwach mit ihren eigenen Argumentationen vertreten. Allerdings muss dieses Urteil insofern relativiert werden, als 10 Interviews das Thema „Europa“ im Kontext der Debatte um den Irakkrieg 2003 berühren, und es sich bei den Interviewpartnern in 5 Fällen um Personen handelte, die eine gegenüber der deutschfranzösischen Positionierung kritische Position einnehmen (3 US-Amerikaner und 2 Europäer). Die Längsschnittanalyse zeigt auch im Fall der SZ, dass der erste Monat des Untersuchungszeitraums besonders viele Texte (31) zum Thema, und der zweite deutlich weniger (19) umfasst. Drei Texte erschienen in den fünf Tagen unmittelbar vor Kriegsbeginn. 40 41

http://sueddeutsche.de/imperia//md/content/pdf/mediadaten/argumente_e.pdf Ausgeschlossen wurden alle Interviews, weil hier Interviewführung und Antworten des Interviewpartners nicht notwendig den gleichen Deutungsrahmen folgen und weil unterschiedliche Themen/Meinungen abgefragt werden, d. h. kein Argument entwickelt wird. Eine eindeutige Identifikation von Frames ist in diesen Fällen kaum möglich. Sechs Texte wurden als Berichte, einer als Buchrezension qualifiziert und deswegen ausgeschlossen.

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Die genauere Betrachtung der inhaltlich und zeitlichen Resonanz42 auf die „Lackmusereignisse“ zeigt für die Süddeutschen Zeitung eine starke Reaktion auf die Floskel des US-amerikanischen Verteidigungsministers R. Rumsfeld vom „alten“ und „neuen“ Europa (4 Kommentare) und den „Brief der Acht“ (4 Kommentare). Auch die Äußerung des französischen Präsidenten Chirac weckt starke Resonanz (3 bzw. 543 Kommentare44) und auf die „Achse“ Paris-Berlin-Moskau reagiert unmittelbar ein Kommentar. Auch die Friedensdemonstrationen werden von 3 Kommentaren angesprochen.45 Zwei Kommentare reagieren auf den EUSondergipfel, auf dem kurz vor der die Ostmitteleuropäer zurechtweisenden Äußerung Chiracs von den europäischen Regierungschefs ein Formelkompromiss in der Irakfrage gefunden wurde. Der deutsch-französischen Annäherung (Plan der Doppelspitze und‚ ÉlyséeFeiern) lassen sich nur zwei Kommentare zuordnen. Diese Zahlen lassen vermuten, dass das Szenario des Konfliktes in der Süddeutschen Zeitung anders konstruiert ist als im The Guardian. Den Beginn der Spannungen bildet nicht die „Franco-German marriage“ sondern der provozierende verweis Rumsfelds auf Divergenzen in Europa und der Brief der Acht. Diese zeitliche Konstruktion impliziert auch, dass der Konflikt sachlich anders definiert wird: als Auseinandersetzung um die außenpolitische Positionierung. Die qualitative Auswertung wird diese Hypothese von einer zeitlich und sachlich enger eingegrenzten Inszenierung des innereuropäischen Konfliktes bestätigen.

3.2 Deutungsrahmen und Argumentationsmuster in der medialen Verarbeitung der innereuropäischen Konflikte in der SZ Betrachten wir den gesamten Korpus von 53 kommentierenden Texten, so lassen sich nach dem Fokus der Argumentation zwei große Kategorien von Texten unterscheiden: 18 Texte thematisieren „Europa“ im Kontext einer Argumentation, die auf den Konflikt in den transatlantischen Beziehungen fokussiert. Insgesamt

42 43 44

45

Gezählt wurden Texte, die sich in geringem zeitlichem Abstand mit dem jeweiligen „Lackmusereignis“ auseinandersetzten. Bezieht man die Texte mit ein, die die Chirac Äußerungen neben anderen Ereignissen ansprechen. Dieser Gruppe wurden auch Texte zugerechnet, die sich – in gewissem zeitlichem Abstand zur Chirac Äußerung und in expliziter Bezugnahme auf sie - mit den Haltungen der Ostmitteleuropäer bzw. ausgewählter Staaten auseinander setzten. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass nur die Texte berücksichtigt wurden, die die Friedensdemonstrationen im Kontext der Hintergrunddebatte um „Europa“ ansprechen, es also weitere Berichte und Kommentare zu diesem Ereignis gab.

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35 Texte46 stellen Europa bzw. den innereuropäischen Konflikt in den Mittelpunkt. Die stärkere Fokussierung auf einen innereuropäischen Konflikt setzt nach der Äußerung Rumsfelds vom „alten“ und „neuen“ Europa und dem „Brief der Acht“ ein. Tabelle II gibt einen Überblick über Fokus und Framing der Texte. Wir werden zunächst die 18 Texte betrachten, die „Europa“ als Nebenthema aufweisen und uns dann den 35 Texten zuwenden, die den innereuropäischen Konflikt in den Mittelpunkt stellen. Bei den Kommentaren zur Krise in den transatlantischen Beziehungen lassen sich zwei Deutungsrahmen unterscheiden: 11 der 18 Texte thematisieren die transatlantischen bzw. deutsch-amerikanischen Beziehungen, sie nehmen den Konflikt in Kategorien der Macht- und Interessenpolitik wahr, auf „Identitäten“ wird nur in Ausnahmefällen verwiesen. Die Beziehungen zwischen Europa und den USA werden als komplex und kompliziert betrachtet und Urteile werden hier ohne einseitige Schuldzuweisungen oder überzogene Prognosen gefällt. Wir wollen diesen Rahmen (Frame 1) „transatlantische Beziehungen“ nennen. Die restlichen 7 Texte argumentieren dagegen normativ in klaren, dichotomen Entgegensetzungen wie „Krieg“ und „Frieden“ bzw. „Recht“ und „Unrecht“ oder „Gewalt“ vs. „Zivilisation“. Die Schlussfolgerungen für „Europa“ sind eher implizit und eher eindeutig. Wir werden diesen Rahmen (Frame 2) „Gewalt vs. Zivilisation“ nennen. Bereits hier wird deutlich, dass wir es in der SZ – anders als im The Guardian und Le Monde Diplomatique – nicht mit nur einem Überframe und einer eindeutigen Mentalität zu tun haben. Die Betrachtung der Texte, die den innereuropäischen Konflikt in den Mittelpunkt stellen, wird zeigen, dass wir hier analoge Frames finden. Mit anderen Worten: wir werden zwei Framepaare identifizieren, wobei sich die Paare jeweils einem abstrakten Überrahmen und unterschiedlichen Mentalitäten zuordnen lassen. Die 35 Texte, die sich schwerpunktmäßig mit Europa und dem innereuropäischen Konflikt befassen konnten bis auf einen47 vier Frames zugeordnet werden, wobei sich im Falle von zwei Texten Erklärungsbedarf und im Fall von dreien Schwierigkeiten bei der Zuordnung ergaben.

46 47

Einbezogen wurden auch 3 Texte, die sich mit „Europa“ unter anderem, insbesondere neben der innerdeutschen Debatte, auseinandersetzen. Es handelt sich um einen Kommentar zur Ambivalenz der Außenpolitik Frankreichs, das trotz seiner Sonderrolle in der Nato im Zweifelsfalle an der Seite der USA gestanden habe, und sich vom Pazifismus Schröders deutlich abgrenze. Der Text zeigt Verständnis für die Blockade der Nato und die Achs Paris-Berlin-Moskau und soll die französische Politik verständlich machen. Dabei lässt er sich weder dem Frame 1 noch dem Frame 2 zuordnen.

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Tabelle 2:

Verteilung der Texte der SZ (53 Kommentare) nach Fokus und Deutungsrahmen der Argumentation (Zahl der Kommentare (Anteil an der Zahl der Kommentare der Fokusgruppe)

Fokus I: Transatlantische Beziehungen: 18 Frame 1: „transatlantische Beziehungen“ 11 (61%)

Frame 2: „Gewalt vs. Zivilisation“ 7 (39%)

Fokus II: Europa Frame 0: „Europa ohne Konflikt“ 2

Frame 3: „multilaterale Ordnung“ 17 (48%)

Frame 4: „der große Graben“ 8 ( 23 % )

Frame 5: „europäische Differenzen“ 7

Nicht eindeutig zuzuordnen 1

Frame 0 bezieht sich auf zwei Kommentare, die anlässlich der Elysee Feiern die „deutsch-französische“ Annäherung würdigen. Diese Texte sind aber gerade deswegen interessant, weil sie einerseits „Europa ohne Konflikt“ und zugleich in einer sehr spezifischen Konzeptualisierung wahrnehmen und damit schon in den Kontext der Krise stellen. Beide Texte beziehen sich auf die Idee eines „Europe puissance“. Beide beziehen Großbritannien nicht in die Überlegungen ein. Der Gastkommentar des Le Monde Redakteurs Henri de Bresson48 verweist auf das „Stottern des deutsch-französischen Motors“ und empfiehlt die Frage der „sicherheitspolitischen Autonomie“ Europas in die deutsche Debatte einzubringen. Der Beitrag von Werner Weidenfeld49 würdigt den „weltpolitischen Horizont“, den die Adenauer und de Gaulle zugeschrieben Idee einer deutsch-französischen Union (1962/63) eröffnet habe. Es ginge um eine Union, die „weltpolitisch relevant, sicherheitspolitisch stark und außenpolitisch mit einer Stimme sprechend“ sein sollte. Der Autor fordert einen „ähnlich mutigen Schritt“. Implizit wird hier also der Anspruch der deutsch-französischen Allianz bestätigt, für „Europa“ zu sprechen. Allerdings ohne dies explizit zu thematisieren und ohne auf andere – militärisch gewichtige – Staaten und insbesondere Großbritannien zu verweisen. Texte, die den deutsch-französischen Schulterschluss in der Verfassungsfrage und die Demonstration der Einheit in den Feierlichkeiten in den Zusammenhang der innereuropäischen Konflikte um die Verfassung und die Außenpolitik stell48 49

SZ vom 22.1.2003. SZ vom 22.1.2003.

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ten, fehlen. Angesichts dieser Wahrnehmungslücke und im Kontext des – zu diesem Zeitpunkt offensichtlichen, wenn auch noch nicht eskalierten – innereuropäischen Konflikt in der Irakfrage ist die Fokussierung allein auf die „Väter“ des Vertrags bei die Ausblendung der anderen Mitgliedstaaten bemerkenswert. Im Kontext der Krise stützt diese mediale Inszenierung die implizite Botschaft der angesprochenen Kommentare, dass die beiden Großen für „Europa“ sprechen können und sollten. Der innereuropäische Konflikt erreicht die Schlagzeilen der SZ erst mit der provozierenden Formulierung R. Rumsfelds vom „alten“ und „neuen“ Europa und dem „Brief der Acht“. Denn beide widersprechen dem Anspruch der französisch-deutschen Allianz für „Europa“ sprechen zu können. Bei der Wahrnehmung der innereuropäischen Konflikte lassen sich zwei konkurrierende Deutungsrahmen ausmachen. Frame 3 rahmt den Konflikt durch den Bezug auf eine „multilaterale Ordnung“, deren Existenz nicht nur durch die Politik der amerikanischen Regierung sondern auch durch die deutsche Politik und die deutsch-französische außenpolitische Strategie bedroht erscheint.50 Er korrespondiert somit mit Frame 1, den wir „transatlantische Beziehungen“ genannt haben. Die Argumentationen stellen die dichotome Entgegenstellung Europa-USA in Frage. Sie beziehen sich damit explizit auf den Frame 4, den wir unten noch kennen lernen werden. Sie verweisen auf Spaltungen in Europa und in den USA und argumentieren aus der Perspektive einer „multilateralen Ordnung“, deren Stabilität durch die UN, die Nato und das integrierte Europa gesichert und durch die in der Krise manifest werdenden Konflikte bedroht erscheint. Aus dieser Perspektive wird das „Nationen Spiel“51 der europäischen Staaten kritisiert, die nicht zu einer gemeinsamen außenpolitischen Haltung finden. Aus dieser Perspektive wird auch die französisch deutsche Politik der „Achse“ Paris-BerlinMoskau plus China kritisiert, die dem Arsenal der „multipolaren Welt“ entnommen ist.52 Außerdem wird die innenpolitisch motivierte frühe Festlegung der deutschen Regierung unter Schröder kritisiert, weil sie die UN entwertete. Die deutsche Politik und der „pazifistische Isolationismus“ – so das Argument – spielten eben jenen Kräften in den USA in die Hände, die im Interesse einer „unilateralen“ Weltordnung eine Schwächung von UN und Nato wünschten.53

50 51 52 53

Diesem Deutungsrahmen zugerechnet wurden auch zwei Texte, die die dichotomisierende Wahrnehmung (Frame 1) distanziert darstellen und so reflektieren. Stefan Kornelius SZ 05.02.2003. Stefan Kornelius SZ 14.02.2003. vgl. z.B. Stefan Kornelius SZ 25.01.2003; derselbe SZ 25.02. 2003; Daniel Bössler SZ 10.02.2003; 52.

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Die Deutungsrahmen „transatlantische Beziehungen“ und „multilaterale Ordnung“ entsprechen einander. Sie können als Modifikationen einer Mentalität betrachtet werden, die dem ähnelt, was wir in der Fallstudie zum The Guardian als „rationalistischen Pragmatismus“/„realistische Ordnungspolitik“ bezeichnet haben. Gegen diese Interpretation spricht allerdings der Umstand, dass auch die Autoren, die sich des Deutungsrahmens „multilaterale Ordnung“ bedienen, Schwierigkeiten bei der Verortung und Bewertung der britischen Politik haben. Zunächst ist festzuhalten, dass die britische Politik, – nimmt man die bloßen Verurteilungen im Rahmen der dem Frame 4 zugeordneten Argumentationen aus – nur von einem einzigen eigenen Kommentar eingehender behandelt wird. Dieser Beitrag54 ist insofern ambivalent als er eine Diskrepanz zwischen rhetorischen Mitteln („Ergebenheitsadresse“, „Ergebenheit des Pudels“, „britischer Schulterschluss“, „Überzeugungstäter“, „missionarischem Eifer“) und Aussage aufweist. Er verweist nämlich darauf, dass die britische Regierung unter Tony Blair die amerikanische Regierung von der „Weisheit der UN-Route“ überzeugt habe, und dass man sich „vielleicht“ wie Blair verhalten müsse, wenn man Einfluss auf die Supermacht behalten wolle. Er verweist auch auf das mögliche Fiasko dieser Politik, die darin enden könne, dass Großbritannien auch ohne neue UN-Resolution in den Krieg ziehen müsse und die britische Regierung sich damit gegenüber der eigenen Bevölkerung und in Europa isolieren könne. An dieser Stelle wird dieser mögliche Lauf der Ereignisse allerdings nicht im Zusammenhang mit deutschen und französischen Strategien erörtert.55 Gegen die Interpretation der genannten Frames als Ausdruck einer „rationalistisch-pragmatischen“ Mentalität spricht auch die Blindheit gegenüber der machtpolitischen Implikation des deutsch-französischen Schulterschlusses und die völlig fehlende Verknüpfung zwischen Verfassungskonflikt und dem Konflikt um die außenpolitische Positionierung Europas. Offensichtlich werden die ordnungspolitische Frage der europäischen Finalität (Verfassungskonflikt) und die der globalen Ordnung bzw. deren konkrete Pfeiler (UN, Nato, EU) separat betrachtet und nicht – wie im britischen Diskurs – auf nationale Interessen und Machtbalancen zurück bezogen. Das macht Sinn, wenn ordnungspolitische Frage normativ betrachtet werden und eben nicht „realistisch“. Explizit wird das „nationale Spiel“ negativ konnotiert, und die französisch-deutsche Allianz nicht als

54 55

von Stefan Klein SZ 30.01.2003. Die britische Position wird darüber hinaus im Forum der SZ durch den Gastbeitrag von R.Dahrendorf vorgestellt. In der Sprache der Identitätsdebatte wendet er sich gegen die sachlich falsche Entgegensetzung europäischer und amerikanischer außenpolitischer Kulturen. Der „Brief der Acht“ habe sich gegen diese Stereotypen und ihre politische Instrumentalisierung gewandt und die Gemeinsamkeiten des „Westens“ unterstrichen. SZ 21.02.2003.

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Interessenallianz und Machtverschiebung sondern als Dienst an der ordnungspolitischen Sache (Integration durch Verfassung) wahrgenommen. In diesem Kontext sind ordnungspolitische Ziele normativ begründet und vorgegeben und müssen sich nicht an Interessen legitimieren. Aus diesem Grund nennen wir die Mentalität, die sich im Rahmen „multilaterale Ordnung“ und „transatlantische Beziehungen“ konkretisiert „normative Ordnungspolitik“. Frame 4 rahmt den Konflikt in Europa durch die Referenz auf den „großen Graben“, der sich zwischen den USA und „Europa“ auftue. Er basiert auf der Annahme unterschiedlicher außenpolitischer Kulturen in „Europa“ und den USA und beinhaltet ein binäres und normatives Ordnungsmuster. Er entspricht somit dem oben mit „Gewalt vs. Zivilisation“ benannten Rahmen. In Hinblick auf den innereuropäischen Konflikt werden auf der einen Seite „Europa“, die „europäische Bevölkerung“, die „Kriegsgegner“, die „Zivilmacht Europa“, das Völkerrecht und die UN – auf der anderen die USA, die Bush-Administration, eine imperiale Militärmacht, Unilateralismus, Rechtlosigkeit, und „Vasallentreue“ platziert. Dieser Ordnungsrahmen wird aktiviert in Reaktion auf die RumsfeldFormulierung, die Friedensdemonstrationen und den Brief der Acht. „Europa“ wird hier tendenziell mit dem deutsch-französisch geführten Kerneuropa gleichgesetzt. Der Brief der Acht wird nicht nur als „devote“ Arbeit von „Vasallen“ sondern auch als „Blamage für Europa“ und „Dekapitation Kerneuropas“ gebrandmarkt.56 Der Deutungsrahmen ist insofern nicht ganz konsistent, als auf der Seite des „Guten“ sowohl das Völkerrecht und die UN als Instrument seiner Durchsetzung stehen, als auch die radikale „souveräne Kriegsverweigerung“ der Bundesregierung und die Achse Paris-Berlin-Moskau als „großer europäischer Schirm“.57 Die moralische Rhetorik des „großen Grabens“ vermischt so Argumente der „Multilateralisten“, des populistischen Pazifismus und der „multipolaren Ordnung“. Nicht nur in dieser Vermengung weist er Ähnlichkeiten mit dem Deutungsrahmen „Antiamerikanismus“ auf, den wir am Beispiel der Le Monde Diplomatique aufgezeigt haben. Wichtigere Ähnlichkeiten sind: die binäre Struktur, deren normative Ladung und die Konzeptualisierung „Europas“ als „nichtamerikanisch“ und als eine durch ihre „Identität“ definierte Einheit. Anders als der Frame „Antiamerikanismus“ wird die Dichotomie in der deutschen linksliberalen Fassung nicht ideologisch begründet sondern auf kulturelle Identitäten zurückgeführt, die normativ gewertet werden. Hier werden somit Robert Kagans Bilder von Mars und Venus bzw. den Welten Hobbes und Kants zu Deutungsrahmen gemacht, ohne das die Konstruktionsbedingungen der außenpolitischen Kulturen mitreflektiert würden. 56 57

Heribert Prantl SZ 31.01.2003. Beide Zitate aus dem Kommentar von Heribert Prantl SZ 14.2. 2003.

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An dieser Stelle wollen wir die hier zum Ausdruck kommende Mentalität nicht „ideologisch“ nennen,58 weil die dichotomen Entgegenstellungen nicht aus einem totalisierendem Weltbild abgeleitet werden. Die politischen Kulturen werden normativ gefasst und deswegen nennen wir diese Mentalität „politischen Moralismus“. Neben diesen zwei konkurrierenden Frames ließ sich ein fünfter Rahmen ausmachen, der weniger die Konflikte in Europa akzentuiert als die Differenzen, die er aufdeckt. Diesem Deutungsrahmen wurden alle die Texte zugeordnet, die auf das „Misstrauen der Europäer untereinander“, ihre politisch-nationale Identität verwiesen, oder auf die positive Wahrnehmung der USA und des transatlantischen Bündnisses in Ostmittel- und Südosteuropa aufmerksam machten, d.h. innereuropäische Differenzen thematisierten, die durch die Irakkrise und den Konflikt nur offengelegt wurden. Fassen wir die Ergebnisse der Frame-Analyse zusammen, so können wir festhalten, dass die Kommentierung der innereuropäischen Konflikte im Kontext der Irakkrise sich nicht einem formalen Überframe, und einer dieser zuzuordnenden Mentalität zuordnen lässt. Im Mittelpunkt stehen vielmehr zwei konkurrierende Framepaare, die auf unterschiedliche Überframes und unterschiedliche Mentalitäten verwiesen. Betrachten wir die Zahlen zur quantitativen Verteilung, so ist festzuhalten, dass das Framepaar „Transatlantische Beziehungen“/„multilaterale Ordnung“ mit insgesamt 53% deutlich stärker vertreten ist als das konkurrierende Framepaar „Gewalt vs. Zivilisation“/„großer Graben“ mit 28% der erfassten Texte. Die Überframes können wir als formale Ordnungsschema ausmachen und festhalten, dass das erste Framepaar (Frame 1 und 3) den Kontext des Konfliktes als komplexe Konstellation von Akteuren strukturiert. Formales Merkmal des zweiten Framepaares (Frame 2 und 4) ist dagegen eine Dichotomie, über welche das Konfliktfeld geordnet wird. Die klare binäre Strukturierung ist mit einer normativen Aufladung der Gegensätze verbunden. Auch erscheint eine Kompromisslösung durch die Konstruktion des Konfliktes ausgeschlossen. Wir haben die Framepaare auch divergenten mentalen Rahmen zugeordnet, die wir als „normative Ordnungspolitik“ und „politischen Moralismus“ bezeichnet haben. Auch die Wahrnehmung „Europas“ unterscheidet sich. Das dichotomische Ordnungsschema bezieht sich auf den transatlantischen Konflikt und ordnet den innereuropäischen diesem unter. Dabei wird „Europa“ als Nicht-Amerika und darüber als ontologische Einheit gefasst, die durch eine kulturelle Identität und 58

Obwohl wir diese Instrumentalisierung oben als Verkehrung der Kaganschen dekonstruktiven Kritik in Ideologie kritisiert haben, und im Sinne von Karl Max eine Bewusstsein, das seine Bedingungen nicht mitreflektiert „ideologisch“ ist.

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höhere politische Moral definiert ist. Die Akteure, die sich dem Schema nicht fügen, werden als Nicht-Europäer, als „Vasallen“ der USA, ausgegrenzt. Das komplexere Ordnungsschema und die Mentalität der „normativen Ordnungspolitik“ ist dagegen interessiert am Eigensinn der innereuropäischen Konflikte. Unterschiedliche nationale Interessen und/oder Identitäten werden konstatiert und gelten als legitim. Dennoch erscheint „Europa“ auch hier als mehr als das, was es empirisch ist. Als Institutionengefüge erscheint Europa als schwach und das „Nationenspiel“ wird distanziert betrachtet. „Europa“ hat hier aber gleichzeitig auch die Bedeutung einer positiv besetzten ordnungspolitischen Norm, die mit der (möglichst weitgehenden) Integration identifiziert wird.

4

Vergleichende Zusammenfassung

Mit den Tageszeitungen The Guardian und Süddeutscher Zeitung haben wir der Fallstudie Blätter zugrundegelegt, die ein linksliberales Milieu repräsentieren. Die Fallstudie zeigt, dass dieses Milieu in Europa deutliche nationale Spaltungen aufweist und – in unserem Fall – nicht von einer transnationalen Diskursgemeinschaft gesprochen werden kann. 1. Auf den ersten Blick kann der Eindruck entstehen, dass die deutsche SZ eine vermittelnde Position einnimmt. Dafür sprechen eine vergleichsweise starke „transnationale Interaktion“ (allerdings bei beiden Blättern) und der Umstand, dass wir Überlappungen von Deutungsrahmen feststellen können. Diese gehen in zweierlei Richtung. Zum einen entspricht der britische Deutungsrahmen „Ordnungspolitik“ dem deutschen Framepaar „transatlantische Beziehungen“/„multilaterale Ordnung“. Zum anderen kommen mit „Gewalt vs. Zivilisation“ und „großer Graben“ auch Deutungsmuster zum Zuge, die – wie wir gesehen haben – starke Ähnlichkeiten mit den Deutungsschemata „Antiamerikanismus“ haben, der die Texte der Le Monde Dilpomatique charakterisiert. Entsprechungen dieser Deutungsrahmen waren im The Guardian nicht vertreten. In der deutschen Debatte fehlte eine klare Entsprechung des britischen Frames „Interessenallianzen“. 2. Divergenzen und Affinitäten zeigen sich auch bei der symbolischen Konstruktion „Europas“. Im The Guardian wird „Europa“ empirisch gefasst: „Europa“ meint die EU als rechtlich verregelten Raum und als Spielfeld nationaler Regierungen und supranationaler Akteure. Diametral entgegen steht dem eine ontologische Definition „Europas“, die mit den Frames „großer Graben“ und „Antiamerikanismus“ zusammengeht. „Europa“ wird nicht empirisch gefasst sondern normativ über ein Wesensmerkmal. In beiden Fällen wird „Europa“ als „Nicht-Amerika“ konstruiert, und definiert sich im ersten Fall durch eine politische Kultur und im zweiten durch den Widerstand gegen die imperiale Super-

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Johanna Rehner, Sophie Schmitt, Melanie Tatur

macht. Diese Definition „Europas“ impliziert zugleich, dass Akteure, die nicht ins Bild passen, als Nicht-Europäer ausgegrenzt werden; konkret: als „Vasallen“ der USA. Dazwischen bewegt sich die Europakonstruktion der Texte der Süddeutschen Zeitung, die den Rahmen „transatlantische Beziehungen“, „mulilaterale Ordnung“ und den Rahmen „europäische Differenzen“ aktivieren. „Europa“ wird hier kein Wesen zugeschrieben und differente Identitäten und Interessen erhalten Eigensinn. Die empirische Beschaffenheit der EU kommt ins Blickfeld. Aber auch hier meint „Europa“ mehr als die empirische EU und ihre Mitgliedsstaaten. Die Integration selber fungiert als Wert, der „Europa“ zugewiesen wird. 3. Auf der Ebene der formalen Deutungsschemata lassen sich zwei Überframes ausmachen. Einerseits wurde der Konflikt bzw. sein Kontext als komplexes Geflecht wahrgenommen, das es zu verstehen und in dem es sich zu positionieren galt. Andererseits wurde eine normativ belegte Dichotomie konstruiert, der das Konfliktgeschehen untergeordnet wurde. Die Positionierung blieb hier implizit und selbstverständlich, weil sie sich aus der normativ gefassten Dichotomie ergab. Eine so strukturierte Konfliktwahrnehmung dominierte die Texte der Le Monde Diplomatique und war in The Guardian nicht vertreten. In der SZ prägte sie fast 30% der erfassten Texte. Zugleich zeigten mehr als die Hälfte der deutschen Texte eine komplexe Strukturierung des Konfliktfeldes. Im Falle von The Guardian gilt das für alle Texte. Zwar haben wir den hier dominierenden Überrahmen als Dichotomie („Realität vs. reale Möglichkeit“) beschrieben. Dieser Rahmen beinhaltet aber keine binäre Wirklichkeitskonstruktion, weil sowohl „Realität“ als auch „reale Möglichkeit“ in Kategorien komplexer Interessenlagen und Beziehungsgeflechte strukturiert werden. 4. Zu analogen Ergebnissen kommt zunächst der Vergleich der „Mentalitäten“. Hier haben wir in den Texten der SZ einerseits einen „politischen Moralismus“ ausgemacht und andererseits eine „normative Ordnungspolitik“. Diese Überrahmen ließen sich die formalen Rahmen und die konkreten Rahmen zuordnen. Das gilt auch für die Mentalitäten „realistische Ordnungspolitik“, die wir in The Guardian aufgedeckt haben, und „ideologischer Moralismus“, den wir in le Monde Diplomatique gefunden haben. Wie im Falle der formalen Wahrnehmungsschemata zeigen sich auch hier zwei Grundmuster („Ordnungspolitik“ und „Moralismus“), denen jeweils zwei spezifische Ausprägungen zugeordnet werden können. Der „politische Moralismus“ bettet die normativ besetzte Dichotomie in normative Annahmen über politische Kulturen ein. Der „ideologische Moralismus“ leitet die Dichotomie aus einem Weltbild ab. Den Unterschied zwischen den Mentalitäten „realistischer“ und „normativer Ordnungspolitik“ hatten wir darin ausgemacht, dass ordnungspolitische Referenzpunkte sich im ersten Fall an Interessen (Kosten/Nutzenerwägungen der Akteure) bewähren müssen, während sie im zweiten Fall als Werte gegeben sind.

Transnationale Diskursgemeinschaften?

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5. Die so charakterisierten Unterschiede der „ordnungspolitischen Mentalitäten“ in der britischen und deutschen Fassung erklären, wieso der Frame „Interessenallianzen“ im deutschen Diskurs nicht aufzufinden war. 6. Ungeachtet der aufgezeigten Überlappungen können wir im hier untersuchten Fall von Konfliktwahrnehmung nicht von einer transnationalen Diskursgemeinschaft der Teilnehmer der linksliberalen Mediendiskurse sprechen. Wie wir gesehen haben, wurde das „Ereignis“ innereuropäischer Konflikt in der britischen und der deutschen Zeitung ganz unterschiedlich definiert. Das betrifft das zeitliche Szenario, den Gegenstand der Spannungen und die Relevanz, die dem innereuropäischen Konflikt gegeben wird. Für The Guardian beginnt der Konflikt mit dem „deutsch-französischen Schulterschluss“, bezieht sich auf Meinungs- und Interessendivergenzen im Bereich der europäischen Verfassung und der europäischen Außen- und Weltordnungspolitik. Seine Relevanz erhält er als strukturelle Verschiebung von Allianzen und Kräfteverhältnissen innerhalb der EU, und diese erklären die Ohnmacht der EU. In der Süddeutschen Zeitung beginnt der „innereuropäischer Konflikt“ mit der provokativen Formulierung Rumsfelds und dem „Brief der Acht“.59 Inhaltlich geht es hier nur um Fragen der außen- und Weltordnungspolitik bzw. die außenpolitische „Identität Europas“. Seine Relevanz erhält der Konflikt dadurch, dass er „Europa“ handlungsunfähig macht und dadurch verhindert die amerikanische Politik in ihre Schranken zu verweisen bzw. eine multilaterale Weltordnungspolitik voran zu treiben. Fragen wir uns am Schluss, wie sich diese inkompatiblen Inszenierungen und die Tatsache erklären lassen, dass die Trennlinien der Inszenierung die aufgezeigten Überlappungen von Frames, Überframes und Mentalitäten unterlaufen! Es bieten sich drei Erklärungsebenen an: a) Auf der Ebene des Eigensinns der Konstruktion des Deutungsrahmens kann argumentiert werden, dass ungeachtet der Überlappung der konkreten Frames „Ordnungspolitik“/„multilaterale Ordnung“ und der Gemeinsamkeit auf der Ebene des formalen Überrahmens (komplexer Konflikt) die divergenten Mentalitäten eine analoge Ereigniskonstruktion blockieren. Die Blockade erfolgt, da im Falle des mentalen Rahmens „realistische Ordnungspolitik“ die Ebenen innereuropäischer und internationaler Konflikte durch den jeweiligen Bezug auf eine Veränderung der Machtbalance zwischen den Mitgliedstaaten der EU verknüpft 59

Dieser unterschiedliche zeitliche und politische Definition des Ereignisses „innereuropäischer Konflikt“ in der deutschen und britischen Öffentlichkeit wird im Nachhall noch einmal im Text der Habermas/Derrida Initiative, der sich die deutsche Sichtweise aneignet, und der Antwort von Ralf Dahrendorf und Timothy Garton Ash, die auf den britischen Kalender verweisen, deutlich.

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Johanna Rehner, Sophie Schmitt, Melanie Tatur

werden. Im Rahmen einer Mentalität, die wir als „normative Ordnungspolitik“ bezeichnet haben, spielt die Machtbalance hingegen keine Rolle, entscheidend ist hier der Inhalt institutionalisierter Normen. Allerdings gibt es auch innerhalb dieses Denkmusters einen inneren, aber nicht thematisierten Zusammenhang der beiden Konfliktebenen, da aus deutscher Perspektive der umstrittene „europäische Außenminister“ eine koordinierte europäische Außenpolitik stärken soll. b) Auf der Ebene der Einbettung von Teildiskursen in einen breiteren diskursiven Zusammenhang kann argumentiert werden, dass die Wahrnehmung der Texte bzw. ihrer Autoren nicht nur durch das jeweils aktivierte Framing geprägt wird, sondern auch durch Texte, die andere Frames nutzen. Zwar lassen sich die unterschiedlichen Deutungsrahmen in der Süddeutschen Zeitung in der Regel Autoren zuordnen. Die Zeitung wird aber nicht zum Forum einer Debatte zwischen Vertretern der beiden Sichtweisen. Die Grenzen zwischen den Wahrnehmungsmustern, die wir in der SZ identifiziert haben, sind auch deswegen nicht immer scharf, weil die Deutungsrahmen in Hinblick auf unterschiedliche Konfliktebenen situationsbedingt aktiviert werden. c) Wenn wir den Rahmen diskursiven Eigensinns verlassen und die Mediendebatten als Niederschlag und Teil politisch motivierter Deutungskämpfe betrachten, ist es völlig plausibel, dass beide Zeitungen – bei der Konstruktion der Ereignisses – dem Agenda setting der eigenen Regierung folgen. Im symbolischen Machtkampf geht es darum die eigene Deutung als selbstverständlich erscheinen zu lassen. „Konflikt“ wird dann diskursiv konstruiert, wenn eigene Prioritäten bedroht erscheinen. Aus britischer Perspektive ist das in beiden Dimensionen des innereuropäischen Konfliktes der Fall, aus deutscher erst in dem Moment, wo der deutsch-französische Anspruch, für Europa zu sprechen, in Frage gestellt wird.

Diskursive Generierung „europäischer Identität“? Resonanzen auf die Habermas/Derrida Initiative in Deutschland und Polen Beate Janosz, Wolfgang Hessberger, Melanie Tatur Diskursive Generierung „europäischer Identität“?

Mit ihrer Initiative wollten Jürgen Habermas und Jacques Derrida eine europaweite Intellektuellendebatte mit dem Ziel einleiten, durch öffentliche Diskussion eine „europäische Identität“ zu generieren. Die Initiative reagierte auf die innereuropäischen Konflikte um die Haltung zur amerikanischen Politik im Zusammenhang der Intervention in den Irak 2002/2003. Der offene Konflikt hatte deutlich gemacht, dass es einen außenpolitischen Basiskonsenses in Europa nicht gab. Der von Habermas formulierte Text stellte sich als Diskussionsanstoß dar, der die diskursive Generierung einer „europäischen Identität“ befördern solle. Inhaltlich definierte er „Europa“ und seine außen- und innenpolitische „Identität“ als Gegenbild der USA.1 Die Resonanz auf diese Initiative wird zunächst zeigen, inwieweit sich die Intention eine transnationale Debatte anzustoßen realisieren ließ. Zugleich soll die Analyse der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Habermas Text in Deutschland und Polen zur Beantwortung der Frage beitragen, bis zu welchem Grad sich die thematischen Akzentsetzungen und Deutungsrahmen der Debatten in diesen beiden Ländern überlappen und aufeinander beziehen. Das soll heißen, ob sie als Ausdruck einer transnationalen Vernetzung von nationalen Öffentlichkeiten oder zumindest Teilöffentlichkeiten betrachtet werden können. Die Auswahl der beiden Länder war zufälliges Ergebnis der Interessenlagen der beteiligten Studierenden. Im Nachhinein zeigt sie sich aber in sofern als angemessen, als es sich bei der Debatte um ein deutsches Medienereignis handelt, das in den beiden anderen großen Mitgliedstaaten keine vergleichbare Resonanz2 gefunden hat. Untersucht wird somit die in Deutschland geführte Debatte und deren Resonanz in Polen.

1 2

Beschreibung und Analyse des Habermas Textes im Anhang zu diesem Beitrag. Die Recherche in den Zeitungsarchiven von Times, Guardian, Le Figaro, Le Monde, Líbération erbrachte drei Texte, die direkt bzw. indirekt auf die Habermas/Derrida Initiavtive reagierten, zwei im britischen Guardin und einen in Le Monde.

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Beate Janosz, Wolfgang Hessberger, Melanie Tatur

Textkorpus und die Resonanz der Debatte in Deutschland und Polen

Für Deutschland wurden durch die Stichwortsuche über Datenbanken (LexisNexis und Legios-Wirtschaftsdatenbank) unter Berücksichtigung der wichtigsten Qualitätszeitungen3 insgesamt 45 Artikel ausgemacht. Davon wurden 8 Texte wegen fehlender Relevanz aussortiert.4 Der Textkorpus für die Analyse setzt sich damit aus 37 Texten zusammen. Davon entfallen 9 auf die SZ, 8 auf die F.A.Z., 7 auf die taz, jeweils 6 auf die FR und DIE ZEIT und 1 auf DIE WELT. Es zeigte sich, dass sich die Debatte auf die Monate Juni bis August 2003 konzentrierte und danach keine Beiträge zum Thema erschienen. Diese Daten können so interpretiert werden, dass es in Deutschland eine breite, alle wichtigen politischen Milieus umfassende Resonanz auf die Initiative gab, diese aber verhältnismäßig kurzlebig war, und nicht von einer anhaltenden Diskussion gesprochen werden kann. Für Polen wurde der Textkorpus über eine polnische Suchmaschine (Stichwort Habermas+Derrida+Europa) gewonnen. Für den im deutschen Fall berücksichtigten Zeitraum von einem Jahr nach der Veröffentlichung des Habermas Textes ergaben sich 7 Texte. Um den Textkorpus zu erweitern, wurde der Zeitraum länger gefasst und 5 Artikel im Jahr 2004 sowie weitere 3 Beiträge aus dem Jahr 2005 eruiert und in die Analyse miteinbezogen (15 Texte). Der Zahlenvergleich lässt den Schluss zu, dass die Resonanz in Polen deutlich geringer war als in Deutschland. Das wird deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass die unmittelbare Reaktion auf den Anstoß von Habermas sich auf 7 Texte beschränkte und die Suche weniger restriktiv war als im deutschen Fall. In den später erschienen Texten bildete der Bezug auf die Habermas Initiative einen Punkt in breiter angelegten Berichten und Interviews oder anderweitig fokussierten Kommentaren. Auch in Polen kann eine relativ breite Resonanz (vom rechtsliberalen, über das liberale Milieu bis zu einer liberalen katholischen Wochenzeitschrift5) ausgemacht werden. Deutlich ist allerdings hier die hervorragende Bedeutung der – auf den liberalen und links-liberalen Flügel der demokratischen Opposition zurückgehende – Gazeta Wyborcza (GW). Auf sie entfielen deutlich mehr Artikel, 3 4

5

Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.), Die Welt, Süddeutsche Zeitung (SZ), die tageszeitung (taz), Frankfurter Rundschau (FR), und die Wochenzeitung DIE ZEIT. Hierzu gehörten Texte, in denen nur die Namen der Autoren der Initiative und andere Schlüsselwörter vorkamen, zwei Texte, die sich auf die Habermasinitiative beziehen um vor diesem Hintergrund die Entwicklung der „realen” Politik zu kontrastieren, und ein Text, der sich mit den Intellektuellen und ihren früheren Orientierungen auseinandersetzt. Auf die liberale/linksliberale Tageszeitung Gazeta Wyborcza entfielen 5, auf die rechtliberale Wochenzeitung Wprost und die zum damaligen Zeitpunkt als bürgerlich einzustufende Rzeczpospolita je 3 und auf den Tygodnik Powszechny und andere Blätter je ein Artikel.

Diskursive Generierung „europäischer Identität“?

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und sie veröffentlichte auch einen Bericht über die Initiative und den Inhalt des Habermas Textes, der hier nicht mitgezählt wurde.

2

Ergebnisse der Medientextanalyse

Um die Frage nach der „diskursiven Interaktion“ zu klären, wurde zunächst der Anteil der Gastbeiträge und der Beiträge von im Ausland lebenden Autoren6 festgestellt. Von den deutschen Texten stammten 16 von Redaktionsmitgliedern und Mitarbeitern und 21 von Gästen. Bei den Gästen handelte es sich in 14 Fällen um Beiträge von „fremden“, d.h. nicht deutschen Stimmen. Diese Zahlen vermitteln den Eindruck einer eher starken transnationalen „Interaktion“. Das Ergebnis ist allerdings zu spezifizieren. Auf die SZ entfallen 6 der 14 Beiträge von Ausländern. Die Süddeutsche Zeitung hat sich in der Debatte als Forum für „andere Stimmen“ definiert und kaum Eigenbeiträge gebracht. Bei den anderen Zeitungen war der Anteil der ausländischen Stimmen gering. Unter den ausländischen Gastbeiträgen befinden sich zwei Texte, die nicht als Repräsentanten anderer Argumentationen und Diskurse zu betrachten und ausgewählt sind, sondern Aspekte der Habermas Argumentation – in für ihr Land eher untypischer Weise – bestätigen. Schließlich ist auffallend, dass von den zehn ausländischen Gästen 10 Europäer und 4 Amerikaner waren. In Polen waren mindestens 10 von 15 Artikeln Gastbeitrage oder Interviews, in 5 Fällen waren Autoren/Interviewpartner Ausländer und in den restlichen 5 Fällen im Ausland lebende Polen. Betrachten wir nur die ausländischen Beiträge bzw. Interviewpartner so ist die transnationale Interaktion geringer als in Deutschland, beziehen wir die im Ausland lebenden Polen als Übersetzer „fremder Diskurse“ ein, ist sie deutlich größer als in Deutschland. Ein Vergleich der Texte zeigt nicht nur durch den gemeinsamen Bezug auf den Habermas Text eine Vernetzung. In beiden Öffentlichkeiten ist auch die Stimme von Timothy Garton Ash (die von ihm und Ralf Dahrendorf verfasste Polemik) zu vernehmen. Die Inhaltanalyse zeigt zudem, dass fünf Teilnehmer der deutschen Debatte (drei „fremde“ und zwei deutsche Stimmen) relativ ausführlich Bezug nehmen auf die anderen Mitstreiter der Initiative oder auf andere Teilnehmer der Debatte. Insgesamt bleibt die Einbeziehung der anderen fünf die Initiative mittragenden

6

Diese Formel berücksichtigt, dass in Polen im Ausland lebende Wissenschaftler und Journalisten polnischer Herkunft eine wichtige Rolle bei der diskursiven Interaktion spielten.

100

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Intellektuellen7 und die argumentative Reaktion auf in der laufende Debatte eingebrachte Argumentationen aber die Ausnahme. In einigen deutschen Texten tauchen Verweise als Terrainabsteckungen auf; im sachlichen Sinne, um einen „neuen“ Aspekt aufzuzeigen; im ideologischen Sinne: als Referenz auf eine polare Gegenposition. In Polen finden sich in einer großen Mehrheit der Beiträge Verweise auf andere Teilnehmer der Debatte und auch weitere relevante Autoren. Das hängt aber z.T. auch damit zusammen, dass es sich bei den hier erfassten Texten auch um die Debatte erklärende Berichte oder um Erörterungen von aktuellen Thematisierungen handelt, in denen das Habermas Papier nur einen von verschiedenen Referenzpunkten darstellt. Zusammenfassend kann angesichts der internationalen Autorenschaft, der Überlappung der Autoren und der Bezugnahmen auf einander sicher von einer „vernetzten“ Debatte gesprochen werden. Wie sah es mit der inhaltlichen Akzeptanz der Thesen von Habermas und wie mit dem „sachlichen Bias“ aus? Das heißt, wie wurde die Initiative bewertet und auf welche Teilaussagen wurde Bezug genommen? Für diese Analyse wurde die Zahl der deutschen Texte auf 32 verringert.8 Als „allgemeine normative“ Bias haben wir die Haltung gegenüber der Habermas Initiative bzw. den inhaltlichen Aussagen des Habermas Textes erhoben. Das Ergebnis zeigt eine sehr kritische, eher ablehnende Reaktion in beiden Ländern. Von den 32 berücksichtigten deutschen Texten, wurden 18 als kritisch, 7 als affirmativ9 und zwei als unentschieden eingestuft.10 Weitere 5 Texte nahmen keine Stellung zu den Habermas Thesen.11

7

8

9

10

11

Analog zu Habermas/Derrida ausgerichtete Aufrufe gab es von Adolf Muschg in der Neuen Züricher Zeitung, Umberto Eco in La Repubblica, Gianni Vattimo in La Stampa und Fernando Savater in El País. Ausgeschlossen wurden nun vier Berichte über Konferenzen zum Thema und ein Interview, in dem die Auseinandersetzung mit der Habermas/Derrida Initiative nur einen unter vielen Punkten darstellten. Im polnischen Textkorpus, der ja deutlich kleiner war, blieben ähnliche Texte berücksichtigt. So wurden auch Beiträge eingestuft, die im Sinne einer einerseits/andererseits Argumentation punktuell Kritik an brachten, insgesamt aber den Habermas Text und seine Kernaussagen befürworteten oder auch gegen Kritiker verteidigten. Hierbei handelte es sich um zwei Texte aus der F.A.Z. die entschieden die Notwendigkeit einer „europäischen Identität“ und z.T. auch „Kerneuropas“ befürworteten, bei der inhaltlichen Bestimmung von Identität und den außenpolitischen Thesen Habermas grundsätzliche Kritik anmelden. Vier brachten eigene Ideen zu „Europa” in die Debatte ein, einer setzte sich mit dem Kantbezug bei Habermas und der sachlichen Angemessenheit der Kantrezeption auseinander.

Diskursive Generierung „europäischer Identität“?

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Von den 15 Texten der polnischen Debatte lassen sich drei nicht einordnen, weil einer einen Überblick über die deutsche Debatte gibt, ein weiterer über eine Podiumsdiskussion mit Habermas, Muschg, Smolar u.a. berichtet, und ein dritter nicht eindeutig Stellung nimmt. Die restlichen 12 Texte lassen sich als kritische Bezüge auf das Habermas Papier klassifizieren. Mit anderen Worten: Anders als in Deutschland, wo das Habermas Papier durchaus auch auf positive Resonanzen stieß, ist für Polen eine sehr weit gehende Ablehnung festzustellen. Zudem handelt es sich in der Wahrnehmung der polnischen Öffentlichkeit um eine deutsche Debatte, auch wenn an dieser auch viele Nicht-Deutsche teilnehmen. Diese Einschätzung entspricht der auf Deutschland begrenzten Resonanz, nicht aber der Wahrnehmung der Debatte in Deutschland. Um die Begründungszusammenhänge der Stellungnahmen zur Habermas/Derrida Initiative zu erschließen, wurde zunächst eine Analyse des „sachlichen Bias“, d.h. der Bezug auf die verschiedenen Teilaussagen des Habermas Papiers, mit dem sich der Autor argumentativ auseinandersetzt,12 erhoben. Gleichzeitig wurde nach der normativen Bewertung der Teilaussage gefragt. Grundlage der Kategorienbildung für die Erhebung des „sachlichen Bias“ war die Beschreibung des Habermas Textes. (Siehe Anhang, fettgedruckte Stichworte in der Beschreibung). Das Ergebnis dieser Inhaltsanalyse ist in Tabelle 1. festgehalten. Die Daten zur deutschen Debatte machen deutlich, dass „Europa“ im Zentrum dieser Debatte stand, und dabei wiederum der Frage der inhaltlichen Bestimmung „europäischer Identität“ am häufigsten Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die Zahlen machen auch deutlich, dass der Habermas Text in diesem Punkt auf vollständige Ablehnung stieß, auch wenn zwei Texte eine einerseits/andererseits Erörterung zeigten. Der Schwerpunkt der Kritik lag einerseits bei der antiamerikanischen Definition Europas und andererseits bei der Orientierung am sozialdemokratisch-deutschen Ordnungsmodell der Vergangenheit. Es fehle der Bezug auf die Jahre 1989/2004 und die Erfahrungen und Zukunftsorientierungen der „neuen“ Mitgliedsstaaten. Ähnlich ablehnend ist die Reaktion auf „Kerneuropa“ als strategische Option. Nur ein Beitrag (F.A.Z.) unterstützt dezidiert die Idee eines „Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten“ und eines „Kerneuropas“. In den Kritiken liegt der Akzent auf dem Ausschluss der Ostmitteleuropäer und der Spaltungsgefahr. Zwei Beiträge setzten sich – beide affirmativ – mit dem von Habermas avisierten Modus der „Identitätsbildung“ über öffentliche Debatten auseinander. Nicht mit berücksichtigt sind hier kritische Verweise darauf, die Initiative habe ihr Ziel verfehlt, und nicht zu einer breiten Identitätsdebatte geführt. Der einzige Konfliktdiskurs, der sich im Themenschwerpunkt „Europa“ ausmachen ließ, war der um die Frage, ob Europa 12

Es geht also nicht um die Erfassung aller erwähnten Teilaspekte sondern nur um die Identifikation von den Teilaussagen, auf die sich die Argumentation bezieht.

102

Beate Janosz, Wolfgang Hessberger, Melanie Tatur

Tabelle 1:

Zahl der Texte nach sachlichem und normativem Bias

Teilthema

Weltordnung Als Mission und Utopie Als Gegengewicht in der aktuellen Konstellation Europa Kerneuropa als strategische Option Desiderat „europäische Identität“ Konstruktionsweise von „vernünftiger Identität“ und Text als Ereignis Inhaltliche Merkmale „europäischer Identität“ Aktuelle Situationsanalyse

Deutschland (23 Texte) Zahl Zahl contra/pro 11 8/4 11 7/314

Polen (15 Texte) Zahl Zahl contra/pro 7 6/013 4 4/0

3 29

2/1

3 14

3/0 13/015

11

10/416

5

5/0

10

6/4

2

0/2

2

0/2

0

23

21/217

10

10/0

2 Ursachen innereuropäischer Konflikte Friedensdemonstrationen als Geburtsstunde „europäischer Öffentlichkeit“

2

2/0

2

2/0

2

2/0

1

1/0

eine kulturelle Identität brauche. Die beiden expliziten Befürworter sind dem konservativen Lager zuzurechnen. Es muss allerdings gesagt werden, dass die Beiträge, die sich mit der inhaltlichen Bestimmung von „europäischer Identität befassen, aber auf die Frage der Wünschbarkeit einer „Identität“ nicht eingehen, den Sinn und Zweck von „europäischer Identität“ als offensichtlich erachten. Interessant – als kritische Positionierungen – sind die expliziten Gegner des Desiderats Identität. Zwei Deutungsrahmen dieser Positionierung lassen sich 13 14 15 16 17

Ein Text bewegt sich in einem anderen Weltordnungsparadigma und nimmt nicht Bezug auf die Habermasche Argumentation Der „pro“ Gruppe wurde auch ein Text zugeordnet, der die Habermas’sche Vision der Weltordnung und des „gezähmten Kapitalismus“ als zu wenig radikal aus linker Perspektive kritisiert. Ein Bericht über die Debatten ist als neutral einzustufen. Da in 3 Artikel pro und contra Argumente gebracht wurden ist die Gesamtzahl hier größer als Zahl für die Themenwahl. Zwei Texte erörterten Fragen der inhaltlichen Bestimmung „europäischer Identität” – ohne expliziten oder impliziten Bezug auf die Habermas Thesen.

Diskursive Generierung „europäischer Identität“?

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unterscheiden: ein Beitrag der F.A.Z. greift auf einen technokratischen Diskurs zurück, der die funktionale Integration im Sinne der Brüsseler Bürokratie als hinreichend beschreibt. Die anderen Kritiker argumentieren aus dem Kontext eines liberalen Diskurses, der in der Suche nach einigender und abgrenzender Identität den Ausdruck eines Euronationalismus und Eurozentrismus kritisiert, einer Selbstdefinition, die mit dem kosmopolitischen Projekt Europa nicht vereinbar sei. Diese Position wird von Timothy Garton Ash/Ralf Dahrendorf und von der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Marion Young am dezidiertesten entwickelt. Angesichts der Tatsache, dass die „europäische Identität“ als Voraussetzung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik und einer von Europa prägend mitzugestaltenden neuen Weltordnung postuliert wird, ist erstaunlich, dass sich nur 11 der 32 erfassten, in den deutschen Zeitungen publizierten Beiträge mit der Weltordnung und der Rolle Europas darin auseinandersetzen. Noch erstaunlicher ist, dass fast die Hälfte davon (4 dieser Texte) von amerikanischen Gästen stammen. Das heißt: der Bias der deutschen Debatte, insbesondere der deutschen Teilnehmer an der Debatte ist in extremer Weise auf Europa und dessen innere Probleme oder Merkmale zentriert. Die „Weltordung“ ist nicht im Fokus der deutschen Debatte, obwohl Habermas sie in einer sehr spezifischen Weise konzeptionalisiert, und obwohl er das Desiderat „europäischer Identität“ instrumentell aus der Notwendigkeit einer europäischen „soft power“ als Gegenmacht ableitet. Für die Masse der endogen deutschen Autoren ist „die Weltordnung“ nur der Raum, in dem „Europa“ sich positionieren soll. Mit anderen Worten: die Debatte hat eine euronationalistische Ausrichtung. Auch in der polnischen Debatte liegt der Fokus auf „Europa“, und dabei werden „Kerneuropa“ und die inhaltliche Definition „europäischer Identität“ in den Mittelpunkt der Kritik gestellt. Die „Kerneuropa“ Frage wird aber anders kontextualisiert und fließt mit der Kritik an der inhaltlichen Bestimmung europäischer Identität zusammen. „Kerneuropa“ wird kritisiert als „hegemonialer Anspruch“, der eine spezifische Politik zur universellen und für alle verbindlichen Norm erkläre. „Kerneuropa“ wird auch als „Drohung“ im Kontext „eurogaullistische Phantasien“ oder eines neuen „karolingischen Imperiums“ problematisiert oder zum Gegenstand der Polemik deswegen gemacht, weil der „Kern“ und sein zur „europäischen Identität“ hochgelobtes Ordnungsmodell als rückwärtsgewandt und ökonomisch erfolglos kritisiert wird – im Unterschied zu den Gesellschaftsmodellen des skandinavischen oder atlantischen Europa. Diese Argumente gehen zusammen mit der Ablehnung des Antiamerikanismus und einer Definition „Europas“ als Nicht-Amerika. In der Regel wird das damit begründet, dass Amerika für Demokratie und Liberalisierung stehe und in einem Beitrag damit, dass die polnische Kultur Ähnlichkeiten mit der amerikanischen zeige. Die Frage

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des Desiderates „Identität“ ist hier in noch geringerem Maß ein Thema als in Deutschland. Erstaunlich ist, dass die globale Dimension der Debatte in Polen einen relativ größeren Stellenwert aufweist als in Deutschland. Die polnische Kritik an Habermas verläuft entlang zweier Linien: zum einen wird das antiliberale Weltbild als illusorisch und zum anderen die „eurogaullistischen Phantasie“ als gefährlich gebrandmarkt. Zugleich finden sich aber auch drei Texte die das Programm einer „Weltbürgergesellschaft“ ansprechen oder ausführlich (in der Fassung von Zygmunt Bauman) besprechen. Wenn wir nach dem Referenzkollektiv fragen, als dem „wir“, das die Perspektive der Argumentation leitet, so können wir feststellen, dass in der deutschen Debatte „Europa“ als das imaginierte „wir“ fungiert. Die große Mehrheit der Beiträge macht „Europa“ zum Bezugspunkt, es geht um die Europäische Identität, die Handlungsfähigkeit und die Rolle Europas in der Welt. Eine globale Perspektive bildet dagegen den Bezugsrahmen des Denkens aller amerikanischen Gastbeiträge in den deutschen Zeitungen. Hier geht es um Fragen einer tragfähigen globalen Ordnung. In der polnischen Debatte verweist dagegen das imaginierte „wir“ auf die polnische Nation als Referenzkollektiv. „Europa“, „Kerneuropa“, und die „europäische Identität“ werden unter dem Gesichtspunkt betrachtet, welche Implikationen sich in Hinblick auf die polnischen Reformen und die weitere Entwicklungsstrategie, die Sicherheit des Landes und die Chance auf Anerkennung als gleichberechtigter Partner ergeben. Der globale Raum interessiert aus derselben Perspektive, es gilt die Entwicklung zu verstehen, auch um angemessen zu reagieren. Diese Differenz zwischen den Referenzkollektiven der deutschen und der polnischen Debatte ist nicht notwenig Ausdruck einer höheren (europäischen) oder unterentwickelteren (nationalen) „Identität“. Sie kann auch einfach die Handlungsmöglichkeiten nationaler Politik reflektieren, d.h. den politischen Einfluss der deutschen Regierung und die Ohnmacht des neuen, peripheren Mitgliedsstaates Polen. Bei der von Habermas initiierten Debatte handelt es sich nicht um ein abgrenzbares Ereignis, dessen „Framing“ in den Medientexten erhoben werden kann. Der diskursive Impuls der Habermas Initiative beinhaltet ein Bündel von Aussagen, die sich als Kernidee und story lines rekonstruieren lassen und eine bestimmte Mentalität zum Ausdruck bringen. Die Erhebung des Framing der Teilaussagen greift hier zu kurz. Stattdessen haben wir die Argumentation Habermas’ als Diskurs betrachtet und einer Analyse unterzogen.18 Der von Habermas repräsentierte Diskurs wurde als „linksliberaler Diskurs“ etikettiert. Aus der 18

Die Analyse des Habermastextes befindet sich im Anhang zu diesem Beitrag.

Diskursive Generierung „europäischer Identität“?

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Analyse der Texte der pointierten Kritiker (Ash/Dahrendorf; Paul Kennedy; Harold James, Iris Young, Ross u.a.) wurden zwei mit Habermas polemisierende Gegendiskurse rekonstruiert. Diese bekamen das Label „liberaler“ und „rechtsliberaler“ Diskurs. Die einzelnen Texte ließen sich – soweit sie sich eindeutig positionierten – diesen drei Diskursen zuordnen. Die so rekonstruierten Diskurse werden zunächst beschrieben und danach nach der Zuordnung der Texte zu den drei Diskursen gefragt. Der „linksliberale Diskurs“ hat zwei Kernideen: Eine ist die bei Habermas in den Mittelpunkt gestellte Vision einer – von der UNO verwalteten auf dem Völkerrecht (plus Menschenrechten) basierenden – „kosmopolitischen Weltordnung“, die dadurch erreicht werden soll, dass die militärischen Hegemonie der USA durch eine „soft power“ Europas (Diplomatie, ökonomischer Druck) „ausbalanciert“ wird. Die zweite Kernidee, die bei Habermas als storyline zur „europäischen Identität“ auftaucht, ist die Vorstellung, der Markt und die ökonomische Globalisierung müssten politisch „gezähmt“ und eingegrenzt werden. Beide Ideen werden in der Formel von der „Weltinnenpolitik“ verbunden. Diese Ideen werden artikuliert in einem Diskurs, der sich einer moralisch aufgeladenen Sprache bedient, und insofern als ideologisch bezeichnet werden kann, als er die Utopie einer von Widersprüchen und Konflikten freien Welt zeichnet, und diesen „Traum“ (Rorty) oder diese „Vision“ (Habermas) zum Leitbild. und zur Leitlinie von Urteilen und Handlungsempfehlungen macht. Der „liberale“ und der „rechtsliberale“ Diskus kritisieren gleichermaßen die beiden Kernideen: Eine Weltordnung auf der Basis des Völkerrechtes sei ohne Sanktionsmacht nicht vorstellbar. Eine – rechtlich verregelte, und in diesem Sinne „freie“ – Marktwirtschaft19 sei Garant ökonomischer Entwicklung und die Globalisierung sei eine Chance, insbesondere für die Neukommer, die als Folge der Transformationen ihre Märkte öffnen. Von hierher werden die weltordnungspolitischen Vorstellungen als illusionär und die antikapitalistische „Sehnsucht“ als Ausdruck des Eurozentrismus kritisiert. Schließlich nehmen diese Kritiker die Orientierung an einer Utopie zum Anlass, die den Diskurs tragende „ideologische“ Mentalität anzugreifen. Die Differenz zwischen „rechtsliberalen“ und „liberalen“ Diskursen ergibt sich nicht nur aus Divergenzen in ausgewählten Einzelaspekten, diese leiten sich vielmehr aus unterschiedlichen Mentalitäten ab. Der „rechtsliberale Diskurs“ denkt „realistisch“ in dem Sinne, dass rationale Interessen und Machtkalküle das Handeln von individuellen und kollektiven Akteuren weitgehend bestimmen. International geht es um Machtspiele, die nur durch Gleichgewicht oder einen (optimaler Weise einen sich dem Völkerrecht 19

Durch Recht garantierte Offenheit der Märkte.

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unterwerfenden) Hegemon in Schach gehalten werden können. Es gilt die Welt nüchtern zu betrachten, und die eigenen Interessen zu verfolgen. Aus dieser Perspektive kann (a) die Notwendigkeit einer „Identität“ der EU als integrativer Kitt der politischen Union gefordert werden (aber nicht inhaltlich definiert als Gegenbild der USA), oder es kann (b) technokratisch argumentiert werden, dass der funktionale Zusammenhalt und die spill over Effekte des gemeinsamen Binnenmarktes den Rückgriff auf zweifelhafte und konfliktträchtige Identitäten überflüssig mache. Der „liberale Diskurs“ ist nicht so klar zu definieren und in stärkerem Maß ein Konstrukt unserer Analyse. Die Gemeinsamkeit, die es erlaubt die Positionen einem „Diskurs“ zuzuordnen, ist der implizite Bezug auf die „offene“ Gesellschaft und Rationalität (im Sinne Poppers), und die damit verbundene Orientierung an Maximen gepaart mit der Ablehnung von ideologischen Leitbildern und Utopien. Von daher charakterisiert diesen Diskurs eine „pragmatische“ Mentalität, d.h. er spielt mit dem realistischen Paradigma verbindet dies aber mit einer normativen Handlungsmaxime. Ash und Dahrendorf verweisen explizit auf den Kantischen Imperativ als die Maxime, die uns an eine „Kosmopolitische Weltbürgergesellschaft“ heranführen soll. Auch das intellektuelle und politische „Abenteurertum“ von Baumans Projekt „Europa“ ist eine Maxime und kein Leitbild. Aus dieser Perspektive ist die Idee einer dem gesellschaftlichem Kollektiv zugeschriebenen, politisch-kulturell gefassten „europäische Identität“ Ausdruck eines „Euronationalismus“. Für Bauman ist im „globalen Dorf“ jeder „Europäer“, der entsprechend europäischer Prinzipien handelt. Für Ash und Dahrendorf sind es Basisprinzipien der europäischen Verfasstheit, wie sie in den Kopenhagener Kriterien definiert wurden, die Europa politisch definieren und zugleich eine kosmopolitische Perspektive eröffnen. Wenn wir die Zahlen zur deutschen Debatte betrachten, entsteht der Eindruck, dass sich „linksliberaler“ und „rechtsliberaler Diskurs“ die Waage halten und ihnen ein übermächtiger „liberaler Diskurs“ gegenüber steht. Dieser Eindruck ist aber aus verschiedenen Gründen zu relativieren. Zunächst ist der „rechtsliberale Diskurs“ auf die F.A.Z. beschränkt und definiert zugleich die Position dieser Zeitung in der Debatte. Zwei „linksliberale“ Texte sind in der taz zu finden, und jeweils einer in der SZ und der ZEIT. Der ZEIT-Artikel ist insofern interessant, als er etwas anzeigt, was man als „Vereinnahmung“ liberaler Positionen durch den linksliberalen Diskurs bezeichnen könnte. Der Autor des ZEIT-Textes hat in einem anderen Beitrag eine sehr weich formulierte affirmative Position zur Habermas Initiative formuliert, die sich den Kategorisierungen nach Diskursen nicht zuordnen ließ. In diesem, dem „linksliberalen“ Diskurs zugeordneten Text, stellt er Michnik als „personifizierte Freiheitsbewegung“ und Habermas als Intellektuellen dar, der „die emanzipierte Bürgerlichkeit als

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verbleibende Utopie des Westens“ zu Ende denke, und nun für die „Prinzipien“ streite, die die Deutschen von Amerika gelernt hätten. Damit wird Michnik als deklarierter „Liberaler“ in das linksliberale Boot gezogen. Tabelle 2:

Verteilung der Zahl der Texte nach Deutungsrahmen/Diskursen

Deutungsrahmen Linksliberaler Diskurs Liberale Diskurse Rechtsliberaler Diskurs Nicht zu klassifizieren

Deutsche Debatte 4 9 4 621

Polnische Debatte 0 6 620 422

Bemerkenswert ist auch, dass 6 von den 9 deutschen Texten, die dem liberalen Diskurs zugerechnet wurden, Beiträge von ausländischen Gästen stammen. Das heißt diese Texte zeigen eine Offenheit der Deutschen Debatte zum liberalen Diskurs, keineswegs aber dessen Stärke in der deutschen Debatte an. Die Zahlen zur polnischen Debatte weisen als auffälligstes Merkmal das Fehlen des „linksliberalen“ Diskurses auf und zeigen, dass sich „rechtliberaler“ und „liberaler“ Diskurszuordnung die Waage halten. Zu den „rechtsliberalen“ Texten wurden solche gerechnet, die das Wirtschaftsmodell „Kerneuropas“ und der von Habermas vorgeschlagenen „europäischen Identität“ aus wirtschaftsliberaler und von den polnischen Herhausforderungen geprägter Perspektive kritisieren. Bei den „liberalen“ Texten ist die Kritik am moralischen Anspruch und utopischem Leitbild der linksliberalen Position stark vertreten, die kosmopolitische Perspektive wird dabei eher von den „Gästen“ eingebracht. Interessant ist auch die Wahrnehmung eines in der renommierten (und damals noch liberalen) Rzeczpospolita zu Wort kommenden polnischen Gesellschaftswissenschaftlers.23 Cichocki stellt die „Kerneuropa“ Option und die Identitätsdebatte als Exklusionsstrategie großer Teile des französischen und deutschen Establishments vor. Diese sei im historischen Kontext zu sehen, nämlich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges als dem „goldenen Zeitalter“ des 20 21

22 23

Hierzu wurden auch alle Beiträge gerechnet, die einen ökonomischen Bias hatten. Hierzu gehören drei Texte, die die Motive der Ostmitteleuropäer erklären oder kritisieren. Ferner wurden ein Text, der sich mit der „Identität“ als Ist-Bestand auseinandersetzt, und einer der die Intention der Initiative unterstreicht und schließlich ein Beitrag, der so weich und oberflächlich argumentiert, das er sich der Klassifikation entzieht, in diese Kategorie aufgenommen. Hierzu wurden 3 Berichte über die Debatte bzw. eine Podiumsdiskussion und ein Beitrag gezählt, der sich mit der polnischen und amerikanischen Kultur auseinander setzt. Marek A. Cichocki: Ci wspaniali rdzenni Europejczycy – Nowe Podzily na starym kontynencie? (Diese wunderbaren Kerneuropäer – neue Trennlinien im alten Kontinent?) Rzeczpospolita vom 12.7.2003

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deutsch-französischen Kerneuropas. Die Selbstdefinition gegen die USA und die Exklusion Ostmitteleuropa werde im Namen der Gesamtheit „Europa“ vollzogen und mit dem moralischen Überlegenheitsgefühl der „Avantgarde“ immunisiert. Hinter dem „postnationalen Messianismus“ stünden tatsächlich nationale Interessen, Autozentrismus und sogar bloße innenpolitische Kalküle.

3

Zusammenfassung

Die Habermas/Derrida Initiative ist im Rahmen der Fallstudien insofern ein untypische „Ereignis“, als die Initiative die Initiierung einer transnationalen Debatte als ihr Ziel definierte. Wenn wir die Resonanz in Deutschland und in Polen betrachten kann zunächst gesagt werden, das dieses Ziel in Deutschland – für einen begrenzten Zeitraum, und damit in begrenztem Maß – erreicht wurde, nicht aber in Polen, wo die unmittelbare Resonanz auf das Ereignis gering blieb. Ob sich diese Einschätzung auch langfristig bestätigen wird bleibt abzuwarten. Immerhin zeigen sich Spuren der Initiative in der polnischen Öffentlichkeit über den Augenblick hinaus, und für Deutschland wurde nach solchen nicht gesucht. Ferner haben wir festgestellt, dass die Debatten transnational insofern vernetzt waren, als viele „Gäste“ in den nationalen Arenen auftraten und sich die Texte auf andere Teilnehmer bezogen haben. Auch hier müssen wir allerdings berücksichtigen, dass es sich um eine von Intellektuellen initiierte und in hohem Masse von Wissenschaftlern und Literaten getragene Debatte handelte. Mit anderen Worten: Hier haben sich bekannter maßen stärker transnational vernetzte Expertenöffentlichkeiten in den Populärmedien zu Wort gemeldet. Insofern kann die Reaktion auf die Habermas/Derrida Initiative nicht als allgemeiner Indikator einer transnationalen Vernetzung nationaler populärer Öffentlichkeiten gelten. Die Inhaltanalyse hat gezeigt, dass der Schwerpunkt der Debatte auf Europa fokussiert war, und zwar der strategischen Option für „Kleineuropa“ und der inhaltlichen Definition der „europäischen Identität“ durch Habermas. Dabei waren die Urteile in diesen Teilbereichen weitgehend kritisch. Erstaunlicher Weise nimmt das Teilthema Weltordnung/Außenpolitik – und die Rolle eines über das Desiderat „Identität“ integrierten Europas darin – in der polnischen Debatte einen relativ breiteren Raum ein als in Deutschland. Dieser Eurozentrismus der deutschen Debatte wird noch offensichtlicher, wenn wir uns daran erinnern, dass die Hälfte der Texte, die aus der globalen Perspektive argumentieren, aus amerikanischen Federn stammen. Was das Referenzkollektiv betrifft, haben wir eine europäische Perspektive in der deutschen und eine von Nationalstaat und seinen Problemen her argumentierende in der polnischen Debatte festgestellt. Für uns ist dies Ausdruck der

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Machtverhältnisse in der EU und der Exklusion der Ostmitteleuropäer aus dem Organisationsrahmen und dem inhaltlichen Zuschnitt der Habermas Initiative. Ausgehend vom Habermastext und ausgewählten Texten des Textkorpus haben wir – als Deutungsrahmen der argumentativen Auseinandersetzung mit dem Habermas Vorschlag – drei „Diskurse“ identifiziert, die sich durch eine jeweils spezifische Denkweise charakterisieren. Die Zuordnung der Texte zu den drei identifizierten Diskursen ergab, dass sich in den untersuchten deutschen Texten der „rechtsliberale“ und der „linksliberale“ Diskurs quantitativ die Waage hielten und die als „liberal“ qualifizierten Stimmen die Mehrheit hatten. Ins Auge stechend war zugleich, dass der „rechtsliberale“ Diskurs auf eine (potentiell zwei24) der erfassten Zeitungen begrenzt war, während der „linksliberale“ einerseits eine starke Position in der taz hatte, zugleich aber auch in den Zeitungen anzutreffen war, die von der Mehrheit der Texte her ein „liberales“ Profil hatten. In der polnischen Debatte konnten wir dagegen keinen dem „linksliberalen“ Diskurs zuzuordnenden Text finden, aber sonst ein Gleichgewicht der Texte, die dem rechtsliberalen“ bzw. „liberalen“ Deutungsrahmen zuzuordnen waren, feststellen. Dennoch lässt das nicht den Schluss zu, dass die polnische Debatte in keiner Weise an den „linksliberalen“ Diskurs angekoppelt war. Zum einen ist die Habermas Position einmal ausführlich anlässlich der Initiative25 und einmal weniger ausführlich anlässlich eine vom Deutschen Historischen Institut in Warschau mitorganisierten Podiumsdiskussion, an der u.a. Habermas und Muschg teilgenommen haben, dargestellt worden. Ergänzend muss hier darauf verwiesen werden, dass der „liberale“ Diskurs ein Konstrukt der Analyse ist und seine Grenzen fließend sind. So argumentiert Ash für eine nach westlichen Standards des demokratischen Kapitalismus vorangetriebene Globalisierung, während Bauman für die Verlierer der ökonomischen Globalisierung Partei nimmt, und diese als Resultat des westlichen Ordnungsund Handlungsmusters zu betrachten scheint. Mit anderen Worten: Ash steht – was die Betrachtung der Wirtschaftsordnungen/Globalisierung betrifft – „rechtsliberalen“ Positionen nahe, während die kapitalismus- und globalisierungskritischere Haltung Baumans durchaus Überlappungen zum „linksliberalen“ Diskurs erkennen lässt.26 Zudem sind die Autoren selber sicherlich insofern vernetzt als 24 25 26

Die Welt hatte an der Debatte kaum teilgenommen und der eine Text ließ sich wegen des Themenzuschnittes nicht eindeutig zuordnen. Diese Text wurde in der Auswertung nicht berücksichtigt, da auch der Habermas Text selber in der F.A.Z. nicht als Teil des Textkorpus befasst wurde. Wie die Textbeschreibung im Anhang zeigt, bezieht sich das auch auf die Beurteilung der Bedeutung der Friedensdemonstrationen im Februar 2003.

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sie diskursiv mit dem „linksliberalen“ Diskurs kommunizieren. Die Grenze zwischen den hier als „liberal“ klassifizierten Positionierung Baumans (und der gesamten polnischen Debatte) und dem „linksliberalen“ Diskurs (und der deutschen Offenheit für diesen) verläuft entlang der mentalen Grundlagen der Diskurse, die im „linksliberalen“ Fall mit ideologisch ganzheitlichen Leitbildern und Utopien im „liberalen“ und „rechtsliberalen“ Fall mit dem Rückgriff auf Handlungsmaxime operieren. Um diese Ergebnisse im kerneuropäischen Kontext einzuordnen, haben wir27 in den Archiven der wichtigsten britischen und französischen Zeitungen28 nach den Spuren der Habermas/Derrida Initiative gesucht. Das Ergebnis war insofern erstaunlich, als wir nur in Le Monde und im Guardian schwache Resonanzen fanden. In Le Monde war – mit Datum vom Juli 2003 – der Text von Ralf Dahrendorf und Timothy Garton Ash abgedruckt, den wir in der deutschen und der polnischen Debatte gefunden hatten. Im Guardian war der Beitrag von Paul Kennedy, der auch in die deutsche Debatte eingegangen war, ebenfalls im Juni zu finden. Darüber hinaus, druckte diese Zeitung im Juli 2003 einen Beitrag mit expliziter Bezugnahme auf die Debatte um die geplante Präambel für eine europäische Verfassung von Ash Amin. In diesem Beitrag setzt sich Amin kritisch mit der Bezugnahme auf europäische historisch-kulturelle Werte auseinander und grenzt sich dabei deutlich von Habermas/Derrida ab. Er fordert ein sich politisch definierendes weltoffenes Europa. Quellen der Identität und Affiliation sollten Gastfreundschaft und gegenseitige Akzeptanz sein. Alle drei Texte sind dem „liberalen“ Diskurs zuzuordnen. Sie zeugen von einer gewissen Vernetzung der Debatte. Zeigen aber in erster Linie, dass es sich bei der Debatte um eine vor allem in Deutschland geführte Auseinandersetzung handelt.

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Schlussbetrachtungen

Bevor wir diese Fallstudie mit der beruhigenden Bilanz einer vergleichsweise starken Vernetzung einer – in ihrer Relevanz nur schwer einzuschätzenden – Debatte beenden, soll die Sphäre der freischwebenden Diskurse für einen kurzen Moment verlassen werden. Wir wollen Diskurse als Machtstrategien betrachten, mit deren Hilfe Diskursgemeinschaften ihre Deutungen durchsetzen wollen. Erfolg und Misserfolg hängt dabei nicht nur von Argumenten ab, sondern auch von der materiellen Infrastruktur, über die Diskursgemeinschaften verfügen, und von den Diskursstrategien, die sie verfolgen.

27 28

Allerdings verspätet, im August 2007. Le Figaro, le Monde, Libération, Times, Observer, Guardian.

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Unter diesem Gesichtspunkt ist zunächst erwähnenswert, dass zu der im Mittelpunkt dieser Fallstudie stehenden „europäischen“ Initiative von den deutsch-französischen Initiatoren zwar neben dem italienischen Schriftsteller Umberto Eco, den spanischen und italienischen Philosophen Gianni Vattimo und Fernando Savater auch der schweizerische Schriftsteller Adolf Muschg und der amerikanische Philosoph Richard Rorty eingeladen wurden, nicht aber Briten, Iren, Skandinavier oder Ostmitteleuropäer und auch keine Historiker oder Sozialwissenschaftler. Mit anderen Worten: es hat sich eine national- und fachlich begrenzte Diskursgemeinschaft mit einem sehr spezifischen Ziel zu Wort gemeldet, nämlich dem, ihr eigenes Konzept für Europa und den eigenen Deutungsrahmen zu forcieren. Der Unterschied zwischen den Debatten in Deutschland und Polen liegt aus dieser Perspektive nicht in der geringeren oder größeren transnationale Vernetzung sondern in Unterschieden der Diskursmacht. In Deutschland verfügt die linksliberale Diskursgemeinschaft über eine ausgebaute Infrastruktur. Neben der taz und der „monde diplomatique“, ist auf Positionen in den „liberal“ eingestuften Blättern und dem Fernsehsender Arte zu verweisen. Wie schon dies deutlich macht, ist die „linksliberale“ Diskursgemeinschaft transnational – kerneuropäisch – integriert. Die Brücken zu Großbritannien, Skandinaven oder Ostmitteleuropa dagegen sind schwach. Für Polen lässt sich eine vergleichbare Infrastruktur nicht aufzeigen. Hier sind die Printmedien von ausländischen (vor allem deutschen) Konzernen aufgekauft, die neuerdings einen rechtsnationalen Diskurs unterstützen. Dennoch verfügt Polen als einziges Land in Ostmitteleuropa über eine nicht im ausländischen Besitz befindliche überregionale Zeitung, die „Gazeta Wyborcza“, die aus der Oppositionsbewegung hervorgegangen und Forum der liberalen Debatten ist. Dieses Forum und die Diskursgemeinschaft, die es nutzt, sind über Transmigranten und persönliche Kontakte in den europäerischen Zentren vernetzt. Sie besitzen darüber hinaus aber keine Ressourcen. Inhaltlich ist dieser Kreis an linksliberalen und liberalen Diskursgemeinschaften angebunden. Der „linksliberale“ Diskurs findet hier29 deswegen wenig Zustimmung, weil der Habitus der Wissenden und moralisch Ausgeklärten ebenso wie die weltanschaulich fundierte und deswegen ideologisch-totalisierende Argumentation als Merkmal eines Diskurses wahrgenommen wird, dessen hegemonialen Anspruch man ablehnt. Es hätte nicht des Rückgriffs auf den Begriff der „Avantgarde“ bedurft, um die Nähe dieser Diskursstrategie zum Machtdiskurs der „alten“ intellektuellen kommunistischen Eliten deutlich zu machen.

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Und in vieler Hinsicht auch im Umfeld der sich regenerierenden Sozialdemokratischen Partei.

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Die kleine Analyse vermittelt somit eine Ahnung von den unterschiedlichen Diskurslandschaften in Polen und Deutschland. In Polen haben wir einen liberalen Diskurs kennensgelernt, in dessen Rahmen Deutungsmuster und Argumente rechtsliberaler und sozialpolitisch linksliberaler Provenienz interagieren, der sich zugleich aber eindeutig gegen die hegemoniale Rede des „linksliberalen“ Diskurses abgrenzt.30 Diese Figuration hat eine starke Affinität zum „atlantischen“ Europa und bewundert die skandinavischen Entwicklungserfolge. In den neunziger Jahren hatte dieser – in sich heterogene – liberale Diskurs eine weitgehende Deutungshoheit in den öffentlichen Medien. Seit den Wahlerfolgen der Rechtsnationalen ist diese Diskursgemeinschaft in die Defensive gedrängt worden. In Deutschland ist der „liberale“ Diskurs deutlich abgegrenzt von den Debatten der Rechtsliberalen, und offen für den „linksliberalen“ Diskurs. Das mag mit der nationalen Tradition eines Denkens in Kategorien von „Weltanschauungen“ und mit den von der 68’er Generation hinterlassenen Deutungsmustern zusammenhängen. Das Bewusstsein über solche Divergenzen der Diskurslandschaften, ja das Interesse daran, ist in Polen sicher deutlicher ausgeprägt als in Deutschland. In unserer Studie wurde dies an der größeren „diskursiven Interaktion“ deutlich, die für die polnische Mediendebatte sichtbar wurde. In Medien wie der GW besteht ein großes Interesse Diskurse in den Zentren zu verfolgen und weiter zu leiten. In der deutschen Debatte stellten die Ostmitteleuropäer eine relevante Gruppe der Gäste und auch deutsche Reaktionen auf den Habermas Vorschlag kritisierten die Exklusion der „neuen“ und ihrer Erfahrungen. Dennoch dienten diese Beiträge in erster Linie dazu, die Motive der „Störer“ zu verstehen, und das schlechte Gewissen wegen der rüden Ausgrenzung zu kompensieren. Scheinbar kollidiert mit diesem ein anderer Befund, nämlich der, dass die deutsche Debatte in extrem hohem Maß „Europa“ als Bezugskollektiv begreift, während die polnischen Texte ihre Logik aus einer nationalen Perspektive gewinnen. Bei genauer Überlegung löst sich der Widerspruch auf: In Beidem – in der Asymmetrie des Interesses an einander und in der Identifikation mit dem Ganzen und seinem Teil – drückt sich die Position aus, von der aus die deutschen und die polnischen Diskursteilnehmer argumentieren: als Angehörige des Zentrums oder als solche der Peripherie. Wir können diese kleine Fallstudie nun damit abschließen, dass wir dazu auffordern, bei der Frage nach der „Europäisierung“ von Diskursen, Debatten und Öffentlichkeiten den Aspekt der Asymmetrie der politischen und kulturellen Macht und die Besonderheiten des Verhältnisses zwischen Zentrum und Peripherie nicht unberücksichtigt zu lassen. 30

In vieler Hinsicht schließt dieses Urteil auch die Debatten der Milieus im Umfeld der sich regenerierenden sozialdemokratischen Partei ein.

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Literatur Ash, Timothy Garton 2005: Free World: Why the Crisis of the West Reveales an Opportunity for our Times, Pinguin. Bauman, Zygmunt 2004: Europe an Unfinished Adventure, Polity Press.

Anhang 1. Beschreibung des Habermas Textes Titel „Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas“ Aufhänger: Situationsdiagnose, die den Brief der „Acht“ und die Antikriegsdemonstrationen zu einander in Beziehung setzt. Die Kritik der Acht an der deutsch-französischen Strategie wird als „Loyalitätserklärung“ der „kriegswilligen“ Regierungen für Bush gefasst, die „hinter dem Rücken der anderen EU Kollegen“ organisiert worden sei (aktueller Konflikt). Dem werden die „demonstrierenden Massen“ in – im einzelnen aufgezählten – westeuropäischen Hauptstädten gegenüber gestellt, diese „gewaltigen Demonstrationen“ werden von kommenden Historikern als „Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit“ bewertet werden (Geburtsstunde Europäischer Öffentlichkeit). Der erste Abschnitt der Argumentation fasst den Streit um die Positionierung gegenüber der amerikanischen Politik als Ausdruck eines grundsächlichen Konfliktes in der EU. Als Gegenstand des Konfliktes wird zunächst die Stellung zur „Rolle der Supermacht, zur künftigen Weltordnung, zur Relevanz von Völkerrecht und UN“ gesehen, dann aber – mit Verweis auf die Debatten im Verfassungskonvent – die Differenz „zwischen den Nationen“, die eine Vertiefung der EU „wirklich“ wollen und denen, die den bestehenden Modus des intergouvernementalen Regierens „einfrieren“ wollen. Die Fronten des Konflikts werden entlang zweier Linien ausgemacht: kontinentale vs. angelsächsische Länder und alte vs. neue Mitglieder. Die Motive der Gegner der alten Kontinentaleuropäer werden nebenbei geliefert: es ist die „spezial Relationship“ der Briten und die Angst der Osteuropäer die neue Souveränität zu verlieren. Angespielt wird darauf, dass die „Präferenzordnung von Downing Street“ keineswegs unumstritten sei. Aus dieser Diagnose wird die politische Empfehlung für ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ und für ein „avantgardistisches Kerneuropa“, das „einen Anfang“ mit der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik machen soll. Dieses Kerneuropa soll die „Türen offen halten“, nicht ausschließen, sondern „voranschreiten“, es soll als „Lokomotive“ wirken und eine „Sogwirkung“ entfalten. Eine erste Aussage über die Form und Mission der kern-

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europäischen Außenpolitik lautet: sie werde beweisen, dass in einer „komplexen Weltgesellschaft“ nicht „nur Divisionen“ sondern auch die „weiche Macht“ von „Verhandlungsagenden, Beziehungen und ökonomischen Vorteilen“ zählten. Der nächst Absatz führt diesen Gedanken aus und nennt zwei Handlungsfelder der Außenpolitik: In der Arena der UN soll Europa mit seinem „Gewicht“ den „hegemonialen Unilateralismus“ der USA „ausbalancieren“ und in den Einrichtungen einer globalen Wirtschaftspolitik seinen „Einfluss“ bei der „Gestaltung des Designs“ einer „künftigen Weltinnenpolitik“ geltend machen (Weltordnungsutopie). Im Kontext dieser Mission ist der Imperativ einer fortschreitenden politischen Integration selbstverständlich. Für diese weitere Integration braucht Europa „neue Antriebskräfte“, weil die alten Mechanismen (bürokratische Steuerung und funktionale Imperative) „erschöpft“ seien. Anders als die marktschaffende Politik bedürfe eine „gestaltende Politik“ des „gemeinsamen Willens“, der in „Motiven und Gesinnungen der Bürger“ verankert sein müsse. Bei Mehrheitsbeschlüssen müssten unterlegende Minderheiten solidarisch bleiben und dies setze „ein Gefühl der politischen Zusammengehörigkeit“ voraus. Die „schon heute ziemlich abstrakte staatsbürgerliche“ nationale Identität solle zur europäischen Identität erweitert werden, d.h. „sich ... auf Bürger anderer europäischer Nationen“ erstrecken. Das so begründete „Desiderat“ einer „europäischen Identität“ wird dann spezifiziert als „Bewusstsein eines gemeinsamen politischen Schicksals und die überzeugende Perspektive für eine gemeinsame Zukunft“. D.h. es sind zwei Fragen zu klären: die nach gemeinsamen „historischen Erfahrungen, Traditionen und Errungenschaften“ und die nach einer „Vision“ für ein künftiges Europa. Die so formal umrissene Repräsentation „europäischer Identität“ soll inhaltlich aus einer „wilden Kakophonie“ einer „vielstimmigen Öffentlichkeit“ hervorgehen. Die dann folgenden Ausführungen für eine spezifische Repräsentation werden als Versuch eingeführt, das Thema auf die Agenda zu setzen. Im Folgenden gibt Habermas seine Antworten auf die Frage nach der inhaltlichen Definition einer möglichen europäischen Identität. Im Sinne der identitätsbildenden historischen Erfahrungen/Traditionen verweist er auf die Form des „Regierens jenseits des Nationalstaates“ und „die europäischen Wohlfahrtsregime“. Beide werden dann insofern als „Errungenschaften“ gefasst, als postnationales Regieren und die „Zähmung des Kapitalismus“ auch in der Zukunft als Maßstab einer Politik „in entgrenzten Räumen“ zu gelten habe, und die erwiesene Innovationskraft „Europa“ auch das Vertrauen geben solle neue Herausforderungen zu bewältigen, d.h. „eine kosmopolitische Ordnung auf der Basis des Völkerrechts„ gegen konkurrierende Entwürfe einer Weltordnung zu verteidigen. (d.h. drei Dimensionen: (1) postnationalstaatliche

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Form des Regierens; (2) sozialstaatliche Zähmung des Kapitalismus; (3) kosmopolitische Ordnung auf der Basis des Völkerrechts; o Positionierung Europas innerhalb einer globalen Sicherheitspolitik und Wirtschaft, d.h. innerhalb einer intervenierenden „Weltinnenpolitik“). In die Ausführungen zur Konstruktionsweise des „Desiderates“ Identität eingeschoben ist der Hinweis, dass „Europa diesseits des Eisernen Vorhangs“ die Nachkriegsperiode „im Schatten des Kalten Krieges“ als „goldenes Zeitalter“ erlebt hat und dass dadurch eine „gemeinsame politische Mentalität“ entstanden sei. Habermas konstatiert, dass diese Konstallation seit 1989/90 „zerfallen“ sei, sieht aber zugleich in den Demonstrationen vom 15.Februar 2003 ein Anzeichen dafür, dass „die Mentalität selbst ihren Entstehungskontext überlebt hat“. Die Frage nach der Stabilität dieser Mentalität leitet zur Frage nach „Wurzeln in tiefer reichenden historischen Erfahrungen und Traditionen“. Dabei macht er deutlich, dass die Aktivierung von Traditionen ein Akt der Selektion und Neuerfindung ist, d.h. nicht Produkt der Tradition sondern Ergebnis des „politisch-ethische(n) Willen(s), der sich in der Hermeneutik von Selbstverständigungsprozessen zur Geltung bringt“. Es folgen weitere Ausführungen zur inhaltlichen Definition „europäischer Identität“. Inhaltlich grenzt Habermas seinen Vorschlag gegen solche Entwürfe der Repräsentation europäischer Identität ab, die an Traditionslinien der europäischen als „westlicher“ Kultur anknüpfen. Das Argument ist utilitaristisch: diese seien nicht „mehr“ geeignet weil sie kein „proprium“ Europas mehr seien und von den USA, Kanada und Australien geteilt werde. Als „proprium“ erscheint dagegen die „europäische Nachkriegsmentalität“. Zunächst im Kontext des „goldenen Zeitalters“ der Nachkriegsperiode wird „den Europäern“ bzw. „den europäischen Gesellschaften“ ein „Argwohn“ gegen Grenzüberscheitungen zwischen Politik und Religion, „großes Vertrauen“ in die Steuerungsleistungen des Staates, Fortschrittsskepsis, „Präferenz“ für Sicherheitsgarantien des Wohlfahrtsstaates und für solidarische Regelungen, eine geringe Toleranz gegen Gewalt, der „Wunsch“ nach einer „multilateralen, rechtlich geregelten, internationalen Politik“ und die „Hoffnung“ auf eine „effektive Weltinnenpolitik im Rahmen reformierter vereinter Nationen“ zugesprochen. Am Schluss werden die zuvor zugeschrieben Merkmale als „Kandidaten“ für ein „schärferes Profil“ der „europäischen Nachkriegsmentalität“ – im Sinne der oben angesprochenen „bewussten Aneignung“ ausgewählter Traditionen als „Identität“ – benannt. Dabei wird jeweils knapp auf Traditionen und dann auf daraus resultierende Orientierungen verwiesen. Im Einzelnen: das Verhältnis von Kirche/Staat und das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates und der Privatisierung des Glaubens; die demokratische Umformung des absolutisti-

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schen Staates seit der französischen Revolution und eine positive Haltung gegenüber Politik als „Medium der Freiheitssicherung wie als Organisationsmacht“; die Überwindung tiefer Klassengegensätze und das Vertrauen in die „zivilisierende Gestaltungsmacht“ des Staates und seiner Bedeutung bei der Korrektur von Marktversagen; Erfahrung mit den sozialpatholischen Folgen „kapitalistischer Modernisierung“ und Sensibilität für Paradoxien des Fortschritts; Erfahrung von Klassenunterschieden, der Arbeiterbewegung und christlich soziale Überlieferung und ein „Ethos des ‚Kampfes für mehr soziale Gerechtigkeit’ gegen ein individualistisches Ethos der Leistungsgerechtigkeit“; Erfahrung der totalitären Regime und Sensibilität gegen Verletzungen der persönlichen und körperlichen Integrität (keine Todesstrafe); bellizistische Vergangenheit und „Überzeugung ..., dass die Domestizierung staatlicher Gewaltausübung auch auf globaler Ebene eine gegenseitige Einschränkung souveräner Handlungsspielräume“ verlange. Für die „großen europäischen Nationen“ wird auf die Erfahrung des Verlustes imperialer Macht verwiesen, mit wachsenden Abstand habe sich eine „reflexive Distanz“ gegen imperiale Herrschaft entwickelt, die „die Abkehr vom Eurozentrismus“ und die „kantische Hoffnung auf eine Weltinnenpolitik“ „beflügeln könne“. 2. Analyse des Habermas Textes Der Text verknüpft Argumentationen aus vier Debatten: Weltordnung, Europäische Außenpolitik; Europäische Integration, Europäische Identität. Den Deutungsrahmen der Argumentation Habermas` bildet die Debatte zur „kosmopolitischen Weltordnung“, genauer: seine diskursive Position in dieser Debatte. Sein Weltordnungsdiskurs bildet die „Kernidee“ der Argumentation, aus der die anderen Argumentationsstränge als story lines ihre Bedeutung und Schlüssigkeit gewinnen. (1) Bezugspunkt und Kernidee des Textes ist die normative Vorstellung von einer „kosmopolitischen Weltordnung“ auf der Basis eines – axiomatisch auf den Menschenrechten und nicht dem Prinzip der Souveränität basierenden – Völkerrechts, dessen Gestaltung und Anwendung bei den Vereinten Nationen liegen soll. Ein universalistisches Projekt, dass die Perspektive einer „Weltinnenpolitik“ eröffnen soll. Diese Idee einer kosmopolitischen Weltordnung ist mit der einer Rationalisierung durch Deliberation und Institutionalisierung über Selbstbindung verbunden. Das erklärt, warum die Frage nach der Sanktionsmacht zur Sicherung des Völkerrechts keine Rolle in der Argumentation spielt. Deutlich wird das daran, dass Europa als „Gegengewicht“ gegen die USA, diese nicht militärisch ausbalancieren soll, sondern dem Prinzip der „hard power“, d.h. militärische

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Sanktionsmacht als Mittel zur Durchsetzung des Völkerrechts, durch „soft power“ („Verhandlungsagenden, Beziehungen und ökonomischen Vorteilen“) konterkarieren und perspektivisch aufheben soll. Von hierher wird Europa eine Rolle zugewiesen, die von anderen als „Friedensmacht“ bezeichnet wird. (2) Die story lines des Habermasschen Textes (2.1) Die story line zur Aufwertung der UN als prinzipielles Desiderat gewinnt in diesem Kontext auch eine instrumentelle Funktion: Nur im Sicherheitsrat ist „Europa“ mit den Vetostimmen zweier seiner Nationalstaaten hinreichend stark, um als Gegengewicht wirksam werden zu können. Tatsächlich schlägt Habermas in seiner Argumentation eine Brücke zu einem politisch-strategischen Konzeptes ganz anderer Provenienz: Die Ablösung der „amerikanischen Hegemonie“ durch eine „multipolare Ordnung“, soll – in Gaullistischer Tradition oder russischer Politik – dadurch befördert werden, dass „Europa“, Russland und China ein Gegengewicht gegen die USA bilden. Hier wird Gegenmacht in Kategorien der Machtbalance und der „bargaining power“ im gegeben Sicherheitsrat (und/oder globalen Kräftespiel !) gedacht. Diese politische Strategie verliert die politische Kultur der „Deliberation“ und der „Selbstbindung“ und auch die universelle Durchsetzung der Menschenrechte in der „kosmopolitischen Ordnung“ insofern aus dem Blick, als sie – axiomatisch – „Europa“ gegen die USA und in politischer Koalition mit Russland und China positionieren will. Auch die story lines zur europäischen Integration und zur „europäischen Identität“ sind für das im Rahmen des Weltordnungsdiskurses formulierte Ziel der außenpolitischen Handlungsfähigkeit instrumentell. (2.2) Die story line „europäische Identität“ als „Desiderat“ begründet die „Notwendigkeit“ einer „europäischen Identität“ damit, dass Europa mit einer Stimme sprechen müsse um handlungsmächtig zu werden, und dass diese „eine Stimme“ in einem „Wir Gefühl“ verankert sein solle. Dies wird doppelt begründet, zum einen weil unterlegene Minderheiten Mehrheitsentscheidungen anerkennen müssten, und zum anderen weil „gestaltende Politik“ eines „gemeinsamen Willens“ bedürfe. Dieser „gemeinsame Wille“ ist keine ad hoc Konstellation von Präferenzen, auch kein Basiskonsens über die Prozeduren der Vermittlung von Interessen und Ideen, sondern eine „europäische Identität“, die weit über den Basiskonsens hinausgeht. (In der von Habermas vorgeschlagenen inhaltlichen Ausführung wird „europäische Identität“ durch den Deutungsrahmen des „linken“ Diskurses und Projektes definiert.) (2.3.) Die europapolitische story line mit dem Votum für ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ und ein „Kerneuropa“ impliziert, dass dieses Kerneuropa als „Avantgarde“ für „Europa“ sprechen und Resteuropa im Masse

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und Gewicht geben soll, es impliziert dass „Kerneuropa“ Organisationsform und Richtung einer künftigen gemeinsamen (der europäischen Mission als Promotor der neuen Weltordnung entsprechenden) Außenpolitik vorgibt („voranschreiten“ auf einem Weg; „Avantgarde“ als die Vorschreiter, die den Weg kennen). In sofern bleibt es zwar für andere Mitglieder „offen“ nicht aber für andere Organisationsformen oder Pardigmen/Visionen der Politik. (2.4.) Die story line zur Konstruktionsweise von Identität verbindet den Verweis auf historisch akkumulierte Erfahrungen und „Schicksal“ mit einer programmatisch gewendeten konstruktivistischen Perspektive. Diese leitete hier aber nicht die Aufgabenstellung einer kritischen Dekonstruktion von Repräsentationen kollektiver Identität an, sondern die Idee einer Intellektuellendebatte in der Arena einer „vielstimmigen Öffentlichkeit“, die durch die bewusste Selektion von historischen Fixpunkten eine „vernünftige Identität“ (Charim) schaffen und eine Umdeutung von „Schicksal“ zu „Vision“ bewerkstelligen soll. In diesem Kontext ist die Habermas/Derrida Initiative ein Ereignis, das die Debatte und die Identitätsbildung in Gang bringen soll. (2.5.) Die verschiedenen story lines zur inhaltliche Ausgestaltung der „europäischen Identität“ verweisen zunächst auf „europäische“ Errungenschaften („Regieren jenseits des Nationalstaates“, Zähmung des Kapitalismus“, „europäische Wohlfahrtsmodelle“), die dem deutschen sozialdemokratischen Diskurs entspricht. Zugleich weist die dann im einzelnen vorgestellte Identitätskonstruktion zwei Merkmale auf: (a) Sie definiert „Europa“ am Gegenbild der USA, als dem „konstitutiven Anderen“. Es wird kein Merkmal genannt, das nicht diesem Prinzip entspricht, zugleich werden Merkmale als „europäisch“ definiert, die keineswegs für alle Staaten der EU charakteristisch sind. Auch hierin zeit sich der instrumentelle Charakter der Identitätsnarrative.(b.) Als wichtiger historischer Fixpunkt wird die Nachkriegsperiode und die in ihr entwickelte „Mentalität“. Diese meint die oben angesprochene außenpolitische Kultur der „soft power“ und die Orientierung auf Grundprinzipien sozialdemokratischer Gesellschaftspolitik, die oben im einzelnen aufgeführt wurden.

Getrennt vereint? – Die Debatte um die Europäische Verfassung in den drei großen Ländern der EU Claudia Butter Getrennt vereint?

Mit der Rede Joschka Fischers am 12. Mai 2000 in der Berliner HumboldtUniversität rückte die Idee, ein explizites Verfassungsdokument für die EU zu erarbeiten, ins Zentrum der öffentlichen Diskussion – und zwar europaweit. Fischer hatte sich in dieser Rede als erster amtierender Minister klar für die Verwirklichung des Projekts einer Europäischen Verfassung und für eine europäische Föderation ausgesprochen (Fischer 2001 [2000]: 41ff). Die Reaktionen aus dem Ausland kamen prompt: Nur wenige Wochen später bestätigte der französische Staatspräsident Jacques Chirac in einer Ansprache vor dem Berliner Bundestag, dass man in einigen Jahren über einen Text befinden könne, „[…] den wir dann als erste ‚Europäische Verfassung’ proklamieren könnten.“ (Chirac 2001 [2000]: 291) Ganz anderer Meinung war da der britische Premierminister: Im Rahmen einer Rede vor der polnischen Börse erklärte Tony Blair eine Europäische Verfassung für überflüssig. Anstelle einer geschriebenen Verfassung plädierte er lediglich für die Verabschiedung eines Kompetenzkatalogs im Sinne einer politischen Grundsatzerklärung (vgl. Marhold 2001: 233f.). Auch das Medienecho auf die Rede des deutschen Außenministers war geteilt. Während zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung Fischers Ideen als „herausragend“1 lobte, und es in der französischen Zeitung Le Figaro mit Blick auf die französische Ratspräsidentschaft hieß „[…] ce que Berlin a commencé, Paris doit le conclure.“2, druckte die britische Times einen Artikel, der vor einem „European superpower plan“3 warnte. Verschiedener hätten die nationalen Reaktionen schon auf den bloßen Vorschlag zu einer Europäischen Verfassung wohl kaum sein können. Und dennoch: Nur wenige Jahre später einigten sich die Staats- und Regierungschefs tatsächlich auf einen Verfassungstext. Mit der „Erklärung von Laeken“ als dem ersten offiziellen Dokument des Europäischen Rates, in dem die Möglichkeit einer „Verfassung“ erwähnt wurde (vgl. Hüttmann 2004: 147), mit der Ausarbeitung 1 2 3

Süddeutsche Zeitung: Europa vom Ende her gedacht, 13.05.2000. Le Figaro: Europe: Le frein de la cohabitation, 19.05.2000 - eigene Übersetzung: „[…] das, was Berlin begonnen hat, muss Paris vollenden.“. The Times (London): European superpower plan, 17.05.2000.

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eines Verfassungsentwurfs durch den Konvent und schließlich der Vorlage des von der Regierungskonferenz angenommenen „Vertrags über eine Verfassung für Europa“ im Juni 2004 hatte die Europäische Integrationsdynamik einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der transnationalen diskursiven Einbettung des Verfassungskompromisses. Untersuchungsgegenstand dieses Beitrages ist nicht die Reichweite der Reaktion auf die durch Fischer eröffnete Debatte (vgl. Trenz 2005), im Mittelpunkt steht vielmehr die inhaltliche Auseinandersetzung um eine Europäische Verfassung und den vom Konvent vorgelegten Vertragsentwurf in den Medien der drei großen Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Gefragt wird nach der Kompatibilität der nationalen Debatten und nach transnationalem Lernen. Unter Rückgriff auf Aspekte des „Europäisierungskonzeptes“ soll im Folgenden zunächst eine Präzisierung der allgemeinen Forschungsfrage und der Untersuchungsperspektive erfolgen. Daran anschließen werden sich Skizzen zu nationalen Verfassungstraditionen, zur Bedeutung Europas für die nationalstaatliche Identität sowie zu nationalen europapolitischen Leitbildern. Schließlich folgt der empirische Teil: Eine Medientextanalyse soll die nationalen Debatten anhand von jeweils zwei britischen, deutschen und französischen Tageszeitungen beleuchten.

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Forschungsfragen und Ausgangsvermutungen

Der Europäische Verfassungsvertrag ist ein weiterer Schritt der Europäischen Integration im Sinne der Stärkung der europäischen Ebene. Gleichzeitig schafft er auch neue Anstöße der „Europäisierung“ der nationalen policies, politics und polities – und entsprechend auch der nationalen Diskurse.4 Die Frage nach der Verarbeitung des Impulses des EU-Verfassungsprojektes bzw. des Verfassungsentwurfs auf der Ebene nationaler Debatten bezieht sich auf eben diese diskursiven Aspekte der „Europäisierung“, d.h. auf die Wirkung der europäischen auf die nationale Ebene in der Dimension des „Framings“ von Ideen bzw. Ereignissen in nationalen Diskursen. Nach der sogenannten „Logic of appropriateness“ wird nationaler Wandel als Prozess der Sozialisation und des Lernens erklärt (vgl. March/Olsen 1998: 943ff.; Börzel/Risse 2000: 7ff.). Akteure kalkulieren demnach nicht etwa auf der

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Nach Radaelli wirkt europäische Politikformulierung unter anderem auch auf nationale Debatten und Diskurse, auf nationale Identitäten, Normen, Staatstraditionen und Politikparadigmen zurück (vgl. Radaelli 2000: 7ff., 2003: 35ff.).

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Grundlage einer rein zweckrationalen Logik5 sondern sie werden von einem kollektiv als angemessen definierten Verhalten geleitet, d.h. sie handeln auf der Basis von Rollen und Identitäten, die von als legitim empfundenen, stabilen und verinnerlichten Normen und Regeln vorgegeben werden (vgl. March/Olsen 1998: 943ff.). Dabei ist es ein Vorgang der Sozialisation und der Überzeugung, eben ein kollektiver Lernprozess, der gegebenenfalls zu neuen Normen und Regeln der Angemessenheit und in der Folge zur Angleichung bzw. Veränderung nationaler Sinnstrukturen, Identitäten, Politikparadigmen usw. führt. Mithin rückt die Bedeutung von aktiven Promotoren sowie der nationalen politischen Kultur in den Vordergrund. Je nahtloser europäische Bedeutungsstrukturen, Praktiken oder Normen schließlich auf nationaler Ebene eingefügt werden können, d.h. je angemessener sie den nationalen Akteuren erscheinen, desto wahrscheinlicher ist auch, dass sie auf nationaler Ebene übernommen werden (vgl. Börzel/Risse 2000: 7ff.). Damit es zu nationalem Wandel kommt, muss die neue Idee also mit grundlegenden Bedeutungsstrukturen nationaler Traditionen kompatibel sein oder diese müssen neu interpretiert werden. Entsprechend handelt es sich im Falle der Debatte über das EU-Verfasungsprojekt bzw. den Verfassungsentwurf um eine harte Prüfung von Europäisierung als Lernen, sowohl in horizontaler als auch vertikaler Perspektive: Das jeweilige nationale Verfassungsverständnis ist einerseits extrem divergent und steht darüber hinaus im Kernbereich nationalstaatlicher Identität. Vor diesem Hintergrund lässt sich die allgemeine Fragestellung dieser Arbeit präzisieren: Inwieweit ist die Resonanz auf das Verfassungsprojekt bzw. den vorgelegten Verfassungsentwurf national geprägt? Wie sieht diese nationale Prägung aus? Beziehungsweise: Hat im Sinne der „Logic of appropriateness“ ein Lernprozess stattgefunden, der zu Veränderungen auf nationaler Ebene geführt hat? Die Ausgangsvermutung lautet dabei, dass die Reaktionen auf den Impuls der EU-Verfassung nationale Prägung aufweisen. Weiterhin wird vermutet, dass in den Debatten Kontinuität bezüglich des Nationalen angestrebt wird und die Relevanz der EU-Verfassung nicht zuletzt vor diesem Hintergrund beurteilt wird. Um diese Ausgangsvermutung der national bzw. durch nationale Traditionen geprägten Reaktionen überprüfbar zu machen, wird im nun folgenden zweiten Teil der Arbeit ein Überblick über die nationalen Verfassungstraditionen in den drei Ländern gegeben, darauf folgen Skizzen zur Bedeutung Europas für die jeweilige nationalstaatliche Identität sowie zu den nationalen Leitbildern für Europa. Diese Hintergrundinformationen sollen später einen Interpretationsrahmen für die Ergebnisse der empirischen Untersuchung bieten. 5

So die Annahme einer zweiten Logik, der „Logic of consequentialism“ der rational-instituioalistischen Perspektive (vgl. Börzel/Risse 2000: 6f.).

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Nationale Verfassungstraditionen

Mit dem Begriff einer Europäischen „Verfassung“ wird auf Konzepte zurückgegriffen, deren Bedeutung bereits auf nationaler Ebene äußerst vielfältig ist. Die Frage, was eine Verfassung ist und was sie leisten soll, wird in nationalen Kontexten unterschiedlich beantwortet. Differenzierungen ergeben sich dabei schon in Bezug auf das Verfassungsverständnis: Wird im Sinne eines materiellen Verfassungsbegriffs von den Gegenständen ausgegangen, die durch eine, sei es geschriebene oder ungeschriebene, Verfassungsordnung festgelegt werden? Oder wird einem formellen Verfassungsbegriff folgend die Existenz einer Verfassungsurkunde, eventuell mit gesondertem Verfassungsrecht bzw. einer Verfassungsgerichtsbarkeit, vorausgesetzt (Zippelius 2003: 55f.)? Eng damit zusammen hängen Vorstellungen über den Prozess der Verfassungsentstehung als einem einmaligen Akt oder einem Prozess historischen Wachstums. Wer zum Beispiel ist „pouvoir constituant“? Darüber hinaus ergeben sich Unterschiede in Bezug auf die Funktion einer Verfassung: Soll sie ausschließlich instrumentelle Aufgaben erfüllen, d.h. als Regelwerk des politischen Systems dienen? Oder wird ihr auch symbolische Funktion zugeschrieben, etwa eine identitäts- und integrationsstiftende Wirkung? Mit Blick auf die Fragestellung nach national geprägten Reaktionen auf den EU-Verfassungsimpuls soll an dieser Stelle ein Überblick über die nationalen Verfassungstraditionen Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens gegeben werden. Beleuchtet werden dabei sowohl historische Wurzeln und ideelle Ursprünge als auch deren Niederschläge in den Charakteristika der jeweiligen aktuellen Verfassungssysteme.6

6

Parallel zu nationalen Verfassungstraditionen liegen nationale Staatstraditionen bzw. Rationalisierungspfade und die damit verbundenen Konzepte von Nation. Im Falle Deutschlands lassen sich hier stichwortartig das Beamtenrecht, eine organisationsorientierte juristische Ausbildung und ein Nationsbegriff als vorstaatliches Konzept, das über kulturelle und ethnische Merkmale bestimmt wird, anführen. Für Frankreich kann auf die „Grand Corps“ mit einer organisationsorientierten Ausbildung an Eliteschulen in verschiedenen Fachdisziplinen und auf einen politisch orientierten Staatsnations-Begriff verwiesen werden. In Großbritannien war es der generell gebildete „Civil Service“, dessen kulturelles Ethos die Rationalität der Bürokratie sicherstellte, entsprechend ist der Nationstypus staatszentriert bzw. territorial - Nation als Gemeinschaft freier und gleicher Individuen, die unabhängig von deren Willen keine Existenz besitzt. Vgl. hierzu z.B. Breuer, Stefan: Der Staat: Entstehung, Typen, Organisationsstadien, Reinbeck 1998, S.161ff. und Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Nation, Europa, Frankfurt am Main 1998, S.34ff.

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2.1 Deutschland 2.1.1 Verfassungsgebung von oben Der deutsche Frühkonstitutionalismus unterschied sich merklich von den ersten modernen Verfassungen in Frankreich und den Vereinigten Staaten: Anders als diese gingen die Verfassungen in Deutschland nicht aus revolutionären Entwicklungen hervor und hatten keine herrschaftskonstituierende, sondern lediglich herrschaftsmodifizierende Bedeutung. Als nach 1815 in mehreren süddeutschen Staaten erstmals Verfassungen erlassen wurden, ließen sie das monarchische Prinzip weitgehend unangetastet (vgl. Vorländer 2004: 64). Nicht das Volk wurde konstituierend für die neuen Verfassungen, sondern der Monarch. Zum Teil selbst von aufklärerischen Ideen überzeugt, zum Teil von Finanznot getrieben, waren es die souveränen Herrscher selbst, die die Verfassungen gaben. Dabei unterzogen sie sich allerdings nur wenigen Einschränkungen ihrer absoluten Gewalt, es wurde keine neue Herrschaftsordnung etabliert, sondern die bestehende absolutistische Macht der Monarchen wurde lediglich modifiziert (Vgl. Vorländer 2004: 63f.). An der Einsetzung und Legitimität von Herrschaft hatte sich nichts geändert. Böckenförde zitiert z.B. die Bayrische Verfassung von 1818 (Tit.II §1): „Der König ist das Oberhaupt des Staats, vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt und übt sie unter den von ihm gegebenen, in der gegenwärtigen Verfassungsurkunde festgesetzten Bestimmungen aus.“ (Böckenförde 2006: 277). Damit ist die Verfassung Begrenzung, nicht Grundlage der monarchischen Herrschaft. Die Herrschaftsrechte des Monarchen gehen der Verfassung voraus und werden nicht durch sie begründet (vgl. Grimm 1991: 59, 87). Zwar garantierten die frühen Verfassungen bestimmte Freiheitsrechte und reglementierten die souveräne Macht der Fürsten, aber sie unterwarfen den Monarchen als Gesetzgeber keiner demokratischen Kontrolle. Diese spezifisch deutsche Variante des Konstitutionalismus, mit einer Gewährung von formaler Rechtsstaatlichkeit ohne Institutionalisierung von Volkssouveränität, blieb in ihren Grundzügen bis ins frühe 20. Jahrhundert erhalten (vgl. Hurrelmann 2005: 42). Ernsthafte Herausforderung war allein die Revolution von 1848. 2.1.2 Rechtsstaatlichkeit ohne Volkssouveränität Die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche beanspruchte 1848 erstmals die verfassungsgebende Gewalt für das Volk. Sie legte einen Verfassungsentwurf für eine föderal gestaltete konstitutionelle Monarchie vor, deren

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gesetzgebende Gewalt die Form eines gewählten Parlaments annehmen sollte (vgl. Vorländer 2004: 68). Auch wenn noch immer ein monarchisches System als Staatsform vorgeschlagen war, sollte diese Herrschaft doch eine vom Volk übertragene sein (vgl. Grimm 1991: 89). Mit diesem Entwurf hatte die Frankfurter Nationalversammlung Anschluss an die westliche Verfassungsentwicklung gefunden, doch letztlich scheiterte sie am Widerstand der etablierten Fürstenhäuser. Als der preußische König die Kaiserkrone ablehnte und die Paulskirchenverfassung nicht in Kraft treten konnte, war der Versuch, auf revolutionärem und demokratischem Wege eine Verfassung zu schaffen, gescheitert. In den Folgejahren wurden zwar in allen Einzelstaaten Verfassungen erlassen, das monarchische Prinzip blieb aber bestehen, keine der Verfassungen bekannte sich zur Volkssouveränität oder Parlamentarisierung (vgl. Vorländer 2004: 69). Auch nach der deutschen Vereinigung erhielt sich das monarchische Prinzip in der Verfassung von 1871. Wenngleich diese Verfassung auf die Konstituierung einer dem Volk und Parlament verantwortlichen Regierung verzichtete und sich an einem etatistischen Verständnis, das den Staat und die Staatsgewalt als eine der Verfassung vorausgehende Einheit sah, orientierte, so war sie aber doch den Prinzipien eines Rechtsstaates verpflichtet. Nach und nach wurden auf ihrer Grundlage durch Gesetzgebung bürgerlich-liberale Freiheiten abgesichert, das betraf zum Beispiel auch die Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. Vorländer 2004: 70). Monarchische Staatsgewalt und der Schutz der bürgerlichen Freiheit gingen im Bismarckreich Hand in Hand. „Der deutsche Verfassungsstaat war ein Rechtsstaat, der staatliches Handeln berechenbar machte und die wohlerworbenen Rechte und Freiheiten der Deutschen sicherte, mit ihm war aber keine Demokratisierung und Parlamentarisierung verbunden.“ (Vorländer 2004: 71). Staatliches Handeln legitimierte sich nicht aus demokratischer Zustimmung, sondern wurde als rechtlich einwandfreies Verwaltungshandeln definiert. Die Verfassung eines liberalen Rechtsstaates war in Deutschland also auf monarchischer Grundlage möglich geworden: Deutschland war den Weg einer von oben ausgehenden, staatlich gelenkten Modernisierung gegangen, als Instrument dazu diente das Recht. Die Weimarer Reichsverfassung war schließlich die erste gültige, auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhende republikanische Verfassung in Deutschland (vgl. Scholl 2006: 96).

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2.1.3 Verfassungssouveränität und verfassungszentrierte politische Kultur in der BRD War zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Vorrang der Verfassung weder gegenüber den politischen Gewalten noch gegenüber dem Gesetz anerkannt worden, so ist das im aktuellen deutschen Verfassungssystem anders: Als Konsequenz aus dem Scheitern der Weimarer Republik wurde die Autorität der Verfassung gegenüber dem Gesetz im Verfassungssystem des Grundgesetzes nach 1949 gestärkt. Dies geschah insbesondere durch die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit mit der Befugnis, parlamentarisch beschlossene Gesetze wegen eines Verstoßes gegen das Grundgesetz für nichtig zu erklären (vgl. Hurrelmann 2005: 43). Im internationalen Vergleich verfügt das Bundesverfassungsgericht über ungewöhnlich starke Kompetenzen: Ihm obliegen nicht nur die konkrete Normenkontrolle und eine Schiedsrichterfunktion, sondern darüber hinaus auch die abstrakte Normenkontrolle (vgl. Abromeit 1995: 60). Aufgrund der herausragenden Rolle, die das Bundesverfassungsgericht im politischen Leben der Bundesrepublik spielt, ist das deutsche Regierungssystem als „Verfassungssouveränität“ (Abromeit 1995: 52) klassifiziert worden, in dem die Letztentscheidung politischer Streitfragen in der Verfassung gesucht wird. Mit der Einklagbarkeit der Verfassung auf dem Rechtsweg kommt das System der Verfassungssouveränität der deutschen Tradition von Rechtsstaatlichkeit ohne Demokratie wieder nahe (vgl. Abromeit 1995: 52f.). Verknüpft wurde dieses System mit einem werthaften Verfassungsverständnis: Das Grundgesetz ist nach 1949 zum Kristallisationspunkt der Gemeinschaft geworden (vgl. Gebhardt 1999: 19). Nach der Katastrophe des „Dritten Reiches“ und des Zweiten Weltkrieges war der klassische Identifikationsweg über Volk und Nation in der Bundesrepublik diskreditiert und zudem durch die deutsche Teilung verbaut. In dieser Situation erwies sich das Grundgesetz als identitätsstiftende Institution. Das Staatsbewusstsein wurde über die Identifikation mit den demokratischen, freiheitlichen und grundrechtlichen Errungenschaften des Grundgesetzes hergeleitet. In der Folge hat sich in der Bundesrepublik eine verfassungszentrierte politische Kultur herausgebildet, in der die Verfassung einen wesentlichen Beitrag zur Integration der Gesellschaft leistet und die legitimierende Idee des Gemeinwesens verkörpert (vgl. Kimmel 1999: 129).

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2.2 Frankreich 2.2.1 Verfassung und Revolution Der französische Konstitutionalismus blickt auf eine der längsten Geschichten in Kontinentaleuropa zurück, die bis zur Verfassung von 1791 reicht. Diese frühe französische Verfassung unterschied sich in wesentlichen Punkten vom Frühkonstitutionalismus in Deutschland: Die aus revolutionären Entwicklungen hervorgegangene französische Verfassung war nicht herrschaftsmodifizierend, sondern sie etablierte eine neue Herrschaftsordnung. „Pouvoir constituant“ war dabei die Nation. Als die von der „Assemblée Nationale Constituante“ ausgearbeitete Revolutionsverfassung 1791 an die Stelle des alten monarchischen Systems trat, war damit die Hoffnung auf eine gerechte Ordnung verbunden. Die Abgeordneten der „Assemblée Constituante“, der verfassungsgebenden Nationalversammlung, waren von den drei Ständen aus ihrer Mitte gewählt worden und sie erblickten in sich die Verkörperung der Nation (vgl. Elster 1994: 44, 55). Im Sinne eines rationalvoluntaristischen Verfassungsverständnisses war die Verfassung von Vernunftüberlegungen geleitet konstruiert worden und drückte den Willen der am Verfassungsgebungsprozess Beteiligten, d.h. der Nation aus (vgl. Vorländer 2004: 15). Die kodifizierte Verfassung war das Ergebnis eines einmaligen schöpferischen Aktes, sie kombinierte einen Grundrechtekatalog mit einer gewaltenteiligen Staatsorganisation (vgl. Vorländer 2004: 53f.). Auf der Grundlage der Idee der Volkssouveränität wurde eine neue post-feudale Herrschaftsordnung geschaffen und in einem einheitlichen Verfassungsdokument, das als umfassende normative Grundordnung verstanden wurde, niedergelegt (vgl. Scholl 2006: 29ff.). In der Folge kam es jedoch in Frankreich auf die geschriebene Verfassung längst nicht so an, wie es zum Beispiel seit 1949 in der Bundesrepublik der Fall ist (vgl. Vorländer 2004: 54).

2.2.2 Souveränität der Staatsnation Das in Frankreich vorherrschende Verfassungskonzept ist durch die mythisch aufgeladene Erinnerung an die Revolution von 1789 geprägt. Im Zuge dieses revolutionären Aktes wiesen die Vertreter des Dritten Standes das Prinzip der monarchischen Souveränität zurück und ersetzten sie durch die vor aller Regierungsorganisation liegende Souveränität der Nation. Im Unterschied zum deutschen Verständnis von Nation, das sich in erster Linie auf kulturelle, ethnische Homogenität und Herkunft bezog, beruhte die Zugehörigkeit zur französischen

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Nation auf einem willentlichen Bekenntnis zum Zusammenleben in der nationalen Gemeinschaft, die Nation war politische Willens- und Bekenntnisgemeinschaft (vgl. Böckenförde 1999: 34ff.; Münch 2005: 22). Der Nationsbegriff war politisch orientiert: Nation und Staatsbürgerschaft wurden gleichgesetzt. Der Staat kann nach französischem Verständnis nur durch die Nation, die Trägerin der Souveränität, legitimiert werden. Umgekehrt ist aber auch die Nation in Frankreich nur in Verbindung mit dem Staat denkbar. Denn es oblag dem Staat die Nation, die auf der freiwilligen Zustimmung der Individuen beruht und damit stets zur Desintegration neigt, vor Spaltung im Inneren und Fremdbestimmung von außen zu schützen (vgl. Jachtenfuchs 2002: 80). Die Nation, so hielt der einflussreiche Revolutionstheoretiker Abbé Sieyès fest, ist Ursprung aller Staatsgewalt und „[…] von jeder Form unabhängig; und auf welche Weise sie auch will, die bloße Äußerung ihres Willens genügt, um […] alles positive Recht außer Kraft zu setzen.“ (Sieyès 1981 [1789]: 169). Die Nation als pouvoir constituant behält das Letztentscheidungsrecht im Falle von Verfassungskontroversen, es steht ihr „[…] jederzeit frei, ihre Verfassung zu reformieren.“ (Sieyès 1981 [1789]: 172). Damit ordnet die Verfassung im französischen Verfassungsdenken die präexistente Einheit der Nation lediglich neu, sie wird nicht zum identitätsstiftenden Bezugspunkt. Die Nation liegt der Verfassung voraus und weist ihr einen nur instrumentellen Charakter zu. Staat und Nation, repräsentiert durch das Volk und dessen Souveränität, haben Vorrang vor der Verfassung (vgl. Vorländer 2004: 54f.). Die Souveränität der französischen Nation wiederum drückte sich in der Souveränität des Gesetzes bzw. des Gesetzgebers aus. Das Gesetz repräsentierte den gemeinsamen Willen der Nation, den „volonté générale“, es konnte folglich keine höhere Autorität als das unbeschränkt geltende Gesetz der „Assemblée Nationale“ geben (vgl. Vorländer 2004: 55). Die „Majestät des Gesetzes“ (Hurrelmann 2005: 45) gegenüber der Verfassung erklärt auch, warum es in Frankreich lange keine Verfassungsgerichtsbarkeit geben konnte. Im Falle von Verfassungskrisen wurde vielmehr von der Option der Anrufung der Nation in einem Referendum Gebrauch gemacht (vgl. Hurrelmann 2005: 46).

2.2.3 Instrumentelles Verfassungsverständnis Das Einwirken des Verfassungsdenkens der französischen Revolution, d.h. die tendenzielle Abwertung der Verfassung im Vergleich zu Nation, Staat und Gesetz, mag dazu beigetragen haben, dass Frankreich in der Folge zum „größten Erzeuger und Verbraucher von Verfassungen in der westlichen Welt“ (Henkin 1994: 215) wurde. Seit 1791 kam es zu einer Abfolge von nicht weniger als 15

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Verfassungen, doch sie waren nicht mehr als Instrumente und Organisationsstatute des Regierens (vgl. Kimmel 1999: 130). Dieser rasche Wechsel von unterschiedlichen, gesellschaftlich umstrittenen und von den Herrschenden oft nur unzureichend befolgten Verfassungen führte in Frankreich zu einer allgemeinen Geringschätzung der Verfassung an sich (vgl. Kimmel 1999: 131). Im französischen politischen Leben hatten die Verfassungen eine nur geringe Bedeutung. Erst mit der V. Republik vollzog sich ein begrenzter Wandel, der durch eine Aufwertung der Verfassung charakterisiert ist (vgl. Kimmel 1999: 134). So entwickelte der „Conseil Constitutionnel“, der in der gegenwärtigen Verfassung der V. Republik installiert wurde, ein Rollenverständnis, das dem einer eigenständigen Verfassungskontrollinstanz nahe kommt (vgl. Vorländer 2004: 58). Mit der Einrichtung solch einer verfassungsrechtlichen Kontrolle brachen die Verfassungsväter deutlich mit der französischen Verfassungstradition. Gleichwohl kommt der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frankreich nach wie vor keine Bedeutung zu, die derjenigen des deutschen Bundesverfassungsgerichts gleichzusetzen wäre. Von einer verfassungszentrierten politischen Kultur kann in Frankreich auch heute nicht gesprochen werden: Im Vergleich zur Bundesrepublik bleibt die Verschiebung in Richtung eines Ansehens- und Bedeutungsgewinns der Verfassung beschränkt (vgl. Kimmel 1999: 129, 134).

2.3 Großbritannien 2.3.1 Tradition und Fehlen eines einheitlichen Verfassungsdokumentes Wohl nirgends ist es so berechtigt von einer Verfassungstradition zu sprechen, wie im Fall des Vereinigten Königreiches. Anders als in Frankreich führte in England nicht ein einmaliger schöpferischer Akt zur Verfassung: Es herrschte vielmehr ein historisch-evolutionäres Verständnis der Verfassung vor, das diese als Produkt des geschichtlichen Wachsens versteht (vgl. Vorländer 2004: 16). Die Verfassung wurde in einem weiten Sinne definiert als die Gesamtheit von Gesetzen, Institutionen und Traditionen. Diese Institutionen, Gesetze und die sie unterstützenden Anschauungen und Gewohnheiten haben sich in einem historischen Kontinuum herausgebildet. Die Verfassung gilt als kulturell gesicherte Ordnung. Als Frankreich sich Ende des 18. Jahrhunderts eine Verfassung gab, waren die Grundzüge eines modernen Verfassungsstaates in England bereits ausgeprägt (vgl. Schröder 2002: 137). Trotzdem beruht die konstitutionelle Ordnung Großbritanniens bekanntlich bis heute nicht auf einer einheitlich kodifizierten Verfas-

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sung – das Land, in dem sich der moderne Konstitutionalismus zuerst entwickelte, vollendete ihn nicht (vgl. Grimm 1991: 104). Auch ohne kodifizierte Verfassung waren die Engländer gleichwohl stets davon überzeugt eine Verfassung zu haben: Sie wird verstanden als eine aus historischer Vernunft und geschichtlicher Tradition hergeleitete Gesamtheit von Gesetzen, Institutionen und Sitten, auf die sich die Gemeinschaft verständigt hat und die für die jeweilige Regierung handlungsweisend sind. Mit der Systematisierung und Hierarchisierung der jüngeren in einem einheitlichen Text zusammengefassten Verfassungen, wie der französischen oder deutschen, ist diese Sammlung von Regeln gleichwohl nicht zu vergleichen. Die britische Verfassung besteht zum einen aus einer Reihe geschriebener Dokumente, zum anderen aus hergebrachten Rechtsprinzipien, eingeübten Praktiken und überlieferten Übereinkünften. Auf einen konstituierenden Akt kam es dabei nicht an, sondern auf die lange evolutionäre Entwicklung und Weitergabe. Die grundlegenden Regeln wurden von Generation zu Generation weitervererbt (vgl. Vorländer 2004: 14f, 34). Forderungen nach einer geschriebenen Verfassung erlangten dabei nur geringe Bedeutung (vgl. Vorländer 2004: 35). Die Vorstellung, dass England bereits eine Verfassung besitze, entwickelte sich im Wesentlichen in der Mitte des 17. Jahrhunderts. 1642 berief sich Karl I. auf die „Ancient Constitution of Government of this Kingdom“ (zitiert nach Vorländer 2004: 35) und bezeichnete damit die Beziehungen zwischen Monarch, Parlament und Untertanen, die sich über Jahrhunderte herausgebildet hatten. Als der Monarch nur wenige Jahre später mit der Beschuldigung, eben diese Ancient Constitution verletzt zu haben, angeklagt wurde, erlangte die alte und nicht kodifizierte Verfassung einen normativen Rang, der als über dem Monarchen stehend verstanden wurde (vgl. Vorländer 2004: 35). Die Ancient Constitution bestand nach der zeitgenössischen Vorstellung seit „unvordenklichen Zeiten“ und beruhte auf dem gewohnheitsrechtlichen Common Law in seiner Gesamtheit. Sie implizierte eine Beschränkung monarchischer Gewalt durch die Rechtsordnung und leitete diese Ordnung von der Gemeinschaft, nicht vom Monarchen her (vgl. Schröder 2002: 138). Aus dem Bürgerkrieg und der Revolution des 17. Jahrhunderts ging die englische Verfassungstradition insgesamt gestärkt hervor. Die Ancient Constitution war argumentativ um Elemente des Naturrechts und des Mischverfassungssystems ergänzt worden, sodass die althergebrachten Rechte der Engländer bekräftigt und die Beteiligung des Parlaments im Mischverfassungssystem gestärkt wurden. Diese Strömungen waren indes nicht mit einem revolutionären Akt verbunden, der englische Konstitutionalismus entwickelte sich vielmehr entlang des einmal eingeschlagenen evolutionären Weges fort (vgl. Vorländer 2004: 36ff.).

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2.3.2 Pluralität der Rechtsquellen Die Verfassungsordnung Großbritanniens besteht aus unterschiedlichen Rechtsquellen geschriebener und ungeschriebener Art. Wichtige Verfassungsquelle ist dabei die Rechtstradition des Common Law, in der Richter das geltende Recht auf Einzelproblemen aufbauend durch Fallrecht weiterentwickeln können. Unter Recht wird nicht ein systematisches und geschlossenes Ganzes von Rechtsnormen verstanden, „[…] sondern eine in ständiger Entwicklung befindliche, die Tradition konkret und fallbezogen fortsetzende Ansammlung von rechtlichen Prinzipien und Topoi.“ (Preuß 1994: 14). Damit bildet weniger das Recht als vielmehr eine verwurzelte Rechtspraxis den Boden der britischen Verfassung (vgl. Preuß 1994: 14). Dicey, einer der bedeutendsten britischen Verfassungsrechtler, sieht die Verfassung als Ganzes von der Tradition des Common Law durchzogen: Auch die Freiheitsrechte der Engländer seien erst durch richterliche Urteile entwickelt worden (vgl. Dicey 1967 [1885]: 195). So gab es in Großbritannien bis zum Human Rights Act von 1998 keinen Gesetzestext, in dem ein umfassender Grundrechtekatalog kodifiziert war (vgl. Scholl 2006: 136). Neben dem Common Law speist sich die Verfassungsordnung aus einer Reihe historisch bedeutsamer Verfassungsdokumente, wie zum Beispiel der Magna Charta Liberatatum oder der Bill of Rights. Wichtigste textliche Quelle britischen Verfassungsrechtes sind heute allerdings die Parlamentsgesetze. Von den Gegenständen ausgehend, die die Verfassung festlegt, werden dabei nur solche zur Verfassung gezählt, die sich auf die Regelung der Machtverteilung und der politischen Machtorganisation beziehen, formal unterscheiden sich diese Gesetze allerdings nicht von anderen (vgl. Scholl 2006: 136). Zum Verfassungsrecht im weiteren Sinne gehören außerdem eine Reihe ungeschriebener Regeln des politischen Systems und Verfassungslebens. Diese Verfassungskonventionen, d.h. durch Gewohnheit und Überzeugung gestützte Regeln, werden von Parlament und Gerichten als wohlerworbene Rechte respektiert. Seine Legitimation findet dieses System in einer langlebigen Tradition und allgemeiner Anerkennung (vgl. Vorländer 2004: 57).

2.3.3 Parlamentssouveränität Der politische Charakter des Verfassungsbegriffs kommt im englischen Verfassungskonzept erheblich deutlicher zum Ausdruck als im deutschen oder französischen. Im Wesentlichen besteht die Verfassung des Vereinigten Königreiches aus einer politisch-institutionellen Vorkehrung, aus der spezifischen Gestalt ihrer

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Regierung (vgl. Preuß 1994: 12): Grundlegende Prinzipien der Verfassung sind die Parlamentssouveränität und die Rule of law. Beide sind tief in der Tradition des Common Law verwurzelt. Wesentlicher konstitutioneller Gehalt der Rule of law ist die Verbindung der Souveränität des Parlaments zum Recht: Die Rule of law bezieht sich nicht etwa auf die Unterwerfung des Gesetzgebers unter das Recht, wie in der bundesdeutschen Verfassungspraxis, sondern meint vielmehr das Regieren durch Gesetze, d.h. die Ausübung der Souveränität in Form des Rechts (vgl. Preuß 1994: 13ff.). Damit wird Regierungshandeln an ein Verfahren, nicht an eine konkrete Norm gebunden. Dass einfache Parlamentsgesetze heute wichtigste textliche Quelle der britischen Verfassungsordnung sind heißt, dass das Parlament und nicht die Verfassung Ursprung der innerstaatlichen Rechtsordnung ist. Nicht die Gesetzgebung erfolgt auf der Grundlage einer höherrangigen Verfassungsnorm, vielmehr wird die Verfassung umgekehrt durch gesetzgeberisches Handeln des Parlaments geschaffen. In der britischen Verfassungstradition gibt es folglich keinen Verfassungstext, dessen normative Wertigkeit die einfacher Gesetze übersteigen würde. Die Macht des Parlaments, verstanden als die Dreiheit der Krone, des adeligen Oberhauses und des gewählten bürgerlichen Unterhauses, ist also theoretisch souverän (vgl. Abromeit 1995: 51). Eine bis heute nahezu unbestrittende Definition der Parlamentssouveränität stammt von Diecey: „The principle of Parliamentary sovereignty means neither more nor less than this, namely, that Parliament […] has […] the right to make or unmake any law whatever; and further, that no person or body is recognised by the law of England as having a right to override or set aside the legislation of Parliament.” (Dicey 1967 [1885]: 39f.). Deutlich wird in Diceys Definition auch, dass die Prinzipien der Parlamentssouveränität und der nationalen Souveränität zwei sich in der britischen Verfassungstradition verstärkende Bestandteile sind. Dieser Argumentationslinie folgend wurde die Parlamentssouveränität in der britischen Geschichte immer wieder als Hauptargument gegen die Abgabe von nationaler Souveränität angeführt. Verfassungsänderungen können im Vereinigten Königreich mit einem Minimum an Formalität durchgesetzt werden: Im Sinne der Parlamentssouveränität ist es möglich, die Bestandteile der Verfassung jederzeit durch einfache parlamentarisch beschlossene Gesetze zu ändern (vgl. Abromeit 1995: 52). Das Fehlen formal höherwertiger Gesetze bzw. einer formalen Unterscheidung zwischen Gesetzen konstitutioneller oder lediglich legislativer Natur hat zudem dazu geführt, dass sich in Großbritannien keine gerichtliche Instanz herausbilden konnte, die im Sinne einer Normenkontrolle die Einhaltung der Verfassung hätte über-

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prüfen können. Angesichts des nicht-formellen Verfassungsbegriffs konnte sich keine der bundesdeutschen vergleichbare Verfassungsgerichtsbarkeit entwickeln. Die Verfassungsordnung bleibt ohne positivrechtliche Normierung und deshalb nicht einklagbar (vgl. Vorländer 2004: 57). Die Skizze hat gezeigt, dass sich die drei großen Mitgliedstaaten der EU nicht nur hinsichtlich der inhaltlichen Vorstellungen über die Verfassung und ihre Funktion unterscheiden, sondern historisch unterschiedliche Verfassungsbegriffe hervorgebracht haben. Diese unterschiedlichen Verfassungsbegriffe reflektieren auch divergente Konzeptualisierungen des Verhältnisses von Gesellschaft und Staat. In Deutschland wird der Staat als ein der Gesellschaft vorgegebener Ordnungsrahmen gedacht, in Frankreich als Organisationsform der Nation und in Großbritannien als ein Aspekt der gesellschaftlichen Organisation der Engländer. Im Folgenden wird kurz das Verhältnis von nationalstaatlicher und europäischer Identität skizziert, anschließen wird sich ein Überblick über die europapolitischen Finalitätsvorstellungen in den drei Staaten.

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Bedeutung Europas für die nationalstaatliche Identität

Thomas Risse u.a. haben die Europäisierung nationalstaatlicher Identitäten der drei großen Mitgliedsländer analysiert (Marcussen et al. 2001; Risse 2001) und dabei tiefgehende Unterschiede zwischen einer von Anbeginn europäischen Identität der Bundesrepublik Deutschland, der Europäisierung des Selbstverständnisses französischer Politik und einer sich von Europa als dem „freundlichen Anderen“ abgrenzenden britischen Identität ausgemacht. Zugleich zeigt die Studie, wie sich das unterschiedliche Verhältnis zu „Europa“ aus der nationalen Nachkriegsgeschichte erklären lässt. Die Untersuchung macht darüber hinaus deutlich, wie nationale Ziele und Denkweisen auf der Ebene „europäischer“ Identitätskonstrukte reproduziert werden, und verweist so implizit auf eine Ambivalenz der „Europäisierung“ nationalstaatlicher Identität: Diese geht mit einer Nationalisierung des Projektes Europa einher. Offensichtlich wird diese Ambivalenz im innereuropäischen Konflikt um das Leitbild und die „Finalität“ der europäischen Integration. Zunächst geht es aber darum, die Art und Weise der Integration „Europas“ in die nationalstaatliche Identität zu skizzieren.

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3.1 Deutschland: Europäische Definition nationalstaatlicher Identität Nach der Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs wurde die nationalstaatliche Identität in Deutschland neu definiert. Rein auf das Nationale konzentrierte Visionen waren dabei aufgrund der eigenen Vergangenheit nicht verfügbar. Stattdessen herrschte ein breiter Konsens über eine europäische Version deutscher nationalstaatlicher Identität, der sich im Laufe der 1950er Jahre verfestigte. So wurde Thomas Manns Diktum „Wir wollen kein deutsches Europa, aber ein europäisches Deutschland“ in Westdeutschland zum Leitgedanken der Nachkriegszeit. Die Vision vom „europäisch sein“ ersetzte in der Bundesrepublik die traditionellen Vorstellungen nationaler Identität (vgl. Risse 2001: 202, 206ff.). Das „europäische Deutschland“ wurde dabei als Mittel gesehen, um die nationalsozialistische Vergangenheit zu überwinden: Es war die eigene Geschichte des deutschen Nationalismus und Militarismus, die im Prozess der postnationalen Identitätsformulierung als „das Andere“ konzipiert wurde (vgl. Risse 2001: 209). Europa dagegen stand aus westdeutscher Perspektive für eine stabile Friedensordnung, für Demokratie und Menschenrechte, für soziale Markwirtschaft und Wohlfahrt – und war somit hervorragend mit den eigenen Ideen und Konzepten der Nachkriegszeit vereinbar (vgl. Risse 2001: 212). Bereits Anfang der 1960er Jahre war die europäische Version nationalstaatlicher Identität in Westdeutschland parteiübergreifender Konsens. „Deutsch sein“ wurde gleich gesetzt mit „europäisch sein“ und ging mit der Befürwortung eines geeinten Europas einher. Damit ging die westdeutsche post-nationale Identitätsformulierung dem europäischen Integrationsprozess weitgehend voraus, die Fortschritte der europäischen Einigung hatten lediglich festigende und bestätigende Wirkung auf die europäisierte nationalstaatliche Identität (vgl. Risse 2001: 209). Bis heute ist die europäische Identitätsformulierung in Deutschland stabil geblieben – weder Regierungswechsel noch die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten haben zu Veränderungen geführt. Mögen sich seit dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Einigung Änderungen im Stil der deutschen Europapolitik abzeichnen, so ist doch der Konsens über ein „Europäisches Deutschland“ ungebrochen (vgl. Marcussen et al. 2001: 111). Zusammenfassend zeichnet sich der deutsche Fall also durch eine Transformation der nationalstaatlichen Identität mit der Intention einer Abgrenzung vom NS-Regime aus. Die europäisierte Fassung nationalstaatlicher Identität, die sich dabei herausbildete, ist seitdem in der Bundesrepublik Konsens und über alle Herausforderungen hinweg stabil geblieben. Sie erklärt zu einem großen Teil, warum Deutschland zu einem der stärksten Unterstützerländer des europäischen Einigungsprozesses werden konnte. Sie erklärt zugleich auch eine Neigung zur

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Generalisierung der nationalen Erfahrung in einer dichotomen Entgegenstellung von Nationalstaat und Europa sowie in der Konzeptualisierung des europäischen Einigungsprozesses als einem nicht rechtfertigungsbedürftigen Wert.

3.2 Frankreich: Europa als geweiteter Rahmen für die nationalstaatliche Identität Ist die kollektive nationalstaatliche Identität in Westdeutschland seit den 1950er Jahren von Kontinuität geprägt, so hat sie seitdem in Frankreich substantielle Veränderungen erfahren. Der Zweite Weltkrieg und die Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Deutschland wirkten als traumatische Erfahrung, die die französische Identität erschütterten. Heftige Debatten über die eigene nationalstaatliche Identität waren in den 1950er Jahren die Folge. Mit Beginn der 5. Republik unter Charles de Gaulle wurde die nationalstaatliche Identität schließlich umformuliert (vgl. Marcussen et al. 2001: 105ff.). Das französische „Andere“ war dabei stets der westliche Nachbar, nämlich Deutschland. De Gaulles Identitätsformulierung nahm auf historische Attribute des „Französisch seins“ Bezug – auf die Werte der Aufklärung, auf die Einheit von Staat und Nation, die Demokratie, die französische „mission civilatrice“ und auf die französische Souveränität, verstanden als nationale Unabhängigkeit verbunden mit der eigenen „grandeur“ – und kombinierte sie neu (vgl. Marcussen et al. 2001: 106). Mitte der 1960er Jahre war die gaullistische Version französischer Identität in Frankreich zum Konsens geworden. Sie zeichnete sich durch eine starke nationale Prägung aus, das „wir“ wurde auf den eigenen Nationalstaat begrenzt (vgl. Marcussen et al. 2001: 106). Doch die gaullistische Version nationalstaatlicher Identität blieb nicht lange stabil, schon im Laufe der 1980er Jahre fand eine graduelle Europäisierung nationalstaatlicher Identitätsformulierung statt (vgl. Risse 2001: 211). Die Kluft zwischen der nationalen Prägung gaullistisch-französischer Identität und dem fortschreitenden Prozess der Europäischen Integration war im Laufe der Zeit immer größer geworden, die europäische Realität und die eigene nationalstaatliche Identität waren nicht länger kompatibel. Schließlich führten das Ende des Kalten Krieges und die deutsche Einigung zu einer Krise französischer nationalstaatlicher Identität (vgl. Risse 2001: 107). Ideen von Europa, die mit der Vorstellung des französischen „grandeur“ vereinbar waren, konnten dabei Eingang in die nationalstaatliche Identitätskonstruktion finden: Noch immer sprach Frankreich sich in der Folge selbst den Status der Besonderheit zu, doch mehrheitlich wurde nun Europa in die Vision dieser Außergewöhnlichkeit integriert, der „French exeptionalism“ wurde zum

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„European exeptionalism“ (vgl. Risse 2001: 212). Eine europäische Identität wurde als geweiteter Rahmen für die eigene nationalstaatliche Identität verstanden, die eigenen traditionellen Vorstellungen des „Französisch seins“ wurden auf Europa ausgedehnt (vgl. Marcussen et al. 2001: 108). 3.3 Großbritannien: Europa als das freundliche Andere Anders als in Deutschland und Frankreich ist die britische nationalstaatliche Identität seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von Stabilität gekennzeichnet. Bis heute wird sie abgegrenzt und im Kontrast zu Europa definiert: Europa ist in britischer Wahrnehmung stets das zwar freundliche, aber dennoch „Andere“ geblieben. Das britische „wir“ wird rein national definiert, Europa dagegen wird mit dem Kontinent identifiziert (vgl. Risse 2001: 204f.). Die Wurzeln der angelsächsischen Identität reichen bis weit in die Geschichte zurück und stehen in der Kontinuität eines „them against us“ zwischen England und dem Kontinent (vgl. Marcussen et al. 2001: 112). Die britische nationalstaatliche Identität ist verbunden mit den britischen Institutionen, Symbolen und der britischen Geschichte. Sie basiert auf den nationalen Vorstellungen von der Souveränität Großbritanniens, von Liberalismus und Demokratie, dem Mythos des „free-born Englishmen“. So sind auch Institutionen wie die britische Krone, die seit dem Mittelalter die externe Souveränität von der römischen Kultur und dem Papst sowie dem Kontinent symbolisiert, und das Parlament, das die interne Souveränität gegenüber der Krone und eine über 700jährige parlamentarische Tradition repräsentiert, wichtige Elemente der nationalstaatlichen Identität in Großbritannien (vgl. Risse 2001: 205). Eine europäisch definierte Identitätskonzeption ist mit diesen tief verwurzelten Souveränitätsvorstellungen nicht vereinbar (vgl. Risse 2001: 214). So ist die britische nationalstaatliche Identität seit den 1950er Jahren stabil geblieben und kaum von Europa beeinträchtigt worden. Vielmehr wird Europa häufig als Bedrohung für die eigene Identität dargestellt (vgl. Marcussen et al. 2001: 113). Mit dieser rein nationalen Identitätsdefinition positioniert sich Großbritannien Europa gegenüber defensiv. Es geht der britischen Politik eher darum, nationale Souveränitätsrechte zu verteidigen als ein britisches Europakonzept zu forcieren. Diskursstrategisch impliziert diese Haltung eine Marginalisierung, weil sie das diskursive Kampffeld der Finalitätsdebatte jenen überlässt, die sich als „europäisch“ begreifen und „Europa“ nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten wollen. Dies wird an den im Folgenden skizzierten europapolitischen Leitbildern deutlich.

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Europapolitische Leitbilder

Die Debatte um eine Europäische Verfassung ist eng mit den jeweiligen Leitbildern für Europa, der Frage nach der Finalität der Europäischen Integration, verbunden. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ und das „Europa der Vaterländer“ waren in der Vergangenheit Schlagwörter, die die tiefgehende Unterschiedlichkeit der Zielvorstellungen signalisierten. Während das Leitbild in der Bundesrepublik von Anbeginn im Zeichen eines bundesstaatlichen Zusammenschlusses mit supranationaler Entscheidungsorganisation stand, wurde in Frankreich eine Kooperation souveräner Nationalstaaten unter französischer Führung angestrebt, in Großbritannien war die Europäische Integration als wirtschaftlicher Prozess gedacht. An dieser Stelle geht es zunächst darum, grundlegende Charakteristika der europapolitischen Traditionen und innereuropäische Konfliktlinien um das Leitbild der Europäischen Integration zu skizzieren. Folgen wird dann ein Überblick über den zur Zeit der Europäischen Verfassungsdebatte aktuellen Stand der Finalitätsvorstellungen, in denen alte Kontroversen und neue Herausforderungen zum Ausdruck kommen. 4.1 Deutschland: Supranationale Entscheidungsorganisation Seit der Gründung der Bundesrepublik bildete das Streben nach europäischer Integration den Kern deutscher Staatsräson (vgl. Schmalz 2001: 47). Nach dem Zweiten Weltkrieg schien die solidarische Einbindung Deutschlands in eine europäische Gemeinschaft notwendig, um das Misstrauen der westeuropäischen Nachbarn abzubauen und dem spezifischen Interesse nach Wiedererlangung der Souveränität sowie dem Streben nach nationaler Einheit näher zu kommen (vgl. Korthe 2002: 100f.). Nicht zuletzt schien die feste Einbindung in den Westen als der einzige Weg, um dauerhaften Frieden, Sicherheit und Wohlstand in Europa zu erreichen (vgl. Karama 2001: 58). Für viele deutsche Politiker der ersten Stunde war Europa somit Dreh- und Angelpunkt außenpolitischer Orientierung. Auch die Grundentscheidungen der Verfassungsväter standen im Zeichen des Strebens nach einem Zusammenschluss der europäischen Staaten: So definierte der Parlamentarische Rat die Einbindung der Bundesrepublik in ein vereinigtes Europa in der Präambel des Grundgesetzes ausdrücklich als deutschen Willen (vgl. Lenk/Müller-Graf 2001: 300). Doch die europäische Integration war in Westdeutschland mehr als ein Instrument zum Positions- und Souveränitätsgewinn: Sie galt als ein Wert an sich. Die Notwendigkeit der europäischen Einigung war tiefe Überzeugung (vgl. Karama 2001: 60), Europa wurde zur Ersatznation (vgl. Glaab et al. 1998: 169).

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Über die Grenzen der großen Parteien hinweg wurde die europäische Integration als Fundament der außenpolitischen Orientierung konsensuell anerkannt. Im Integrationsprozess spielte die Bundesrepublik stets eine aktive Initiator- und Fördererrolle. Seit den Anfängen der Gemeinschaftsbildung zu Beginn der 50er Jahre begleitete das Ziel eines engen bundesstaatlichen Zusammenschlusses mit supranationaler Entscheidungsorganisation das Vorgehen der BRD (vgl. Hennes 1998: 3ff., 92ff.). So verabschiedete der Deutsche Bundestag am 26. Juli 1950 eine Entschließung zur Europapolitik, in der er für die Schaffung eines supranationalen Kooperations- und Integrationsgebildes eintrat (vgl. Legleitner 2003: 71). Auch in Art. 24 des Grundgesetzes wurde diese Zielsetzung explizit angesprochen: Darin wurde die Bundesrepublik ermächtigt, durch einfaches Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen zu können. Somit war das Grundgesetz die erste und einzige Verfassung in Europa, die eine Einschränkung der Hoheitsrechte durch zwischenstaatliche Vereinbarungen vorsah. In der Folge wurden sowohl die wirtschaftliche als auch die politische Integration Europas von den deutschen Politikern zu einem vitalen Interesse per se erklärt (vgl. Schneider 2001: 128f.). Die euroföderalistische Idee verlor erst mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten an Rückhalt und Kraft. In den europäischen Nachbarländern wuchs mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten die Sorge, ein wieder voll souveränes, vereinigtes Deutschland könne übermächtig werden und einen Sonderweg einschlagen. Ganz beseitigen ließen sich diese Befürchtungen der Nachbarn nie – obwohl die Zeitenwende von 1989/90 von Seiten der deutschen Europapolitik mit einer uneingeschränkten Kontinuitätsrhetorik dokumentiert wurde. Das wiedervereinigte Deutschland bleibe, so lautete der allgemeine Tenor, ein „europäisches Deutschland“ (Genscher 1991: 105). Bundeskanzler Helmut Kohl etwa versicherte am Tag der deutschen Einheit: „Für uns gilt weiterhin: Deutschland ist unser Vaterland, das vereinte Europa unsere Zukunft.“ (Kohl 1995 [1990]: 728). Die zentrale Bedeutung des europäischen Integrationsprojektes wurde auch nach der Wiedervereinigung nicht in Frage gestellt, der grundsätzliche Wille zu Integration und Selbsteinbindung war nach wie vor ungebrochen. Dennoch zeigte sich während der 1990er Jahre, dass die deutsche Europapolitik nicht länger ein „idealistisch überhöhter Sonderfall“ (Korte 2002: 104) war, das Projekt der europäischen Integration wurde vielmehr in einen nationalen Interessenhorizont gestellt (vgl. Korte 2002: 104). Bereits 1992 distanzierte sich Bundeskanzler Helmut Kohl explizit von den „Vereinigten Staaten von Europa“, erklärte gar mit diesem Zielbild einen „Fehler“ begangen zu haben (Kohl 1997: 826f.). Deutlich wurde der schrittweise Abschied vom Zielbild des Bundesstaates auch im Urteil des Bundesverfas-

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sungsgerichts vom 12.10.1993. Dort heißt es, die EU bleibe ein „Staatenverbund“. Damit wurde der Erwartung einer fortwirkenden Verzahnung von nationaler Souveränität und supranationaler Integration Ausdruck verliehen (vgl. Janning 2006: 305). Die Union sei kein Staat, der sich auf ein europäisches Staatsvolk stützen kann. Der Nationalstaat erschien folglich als die auf absehbare Zeit gültige Ordnungskategorie.

4.2 Frankreich: Zwischen Einbindung und Selbsteinbindung Seit Beginn der Gemeinschaftsbildung bewegte sich die französische Europapolitik im Spannungsfeld von Zielkonflikten: Auf der einen Seite strebte Frankreich nach Einbindung der Bundesrepublik und verfolgte das visionäre Konzept, Europa als starken und autonomen Akteur der Weltpolitik unter französischer Führung zu entwickeln. Dem gegenüber aber standen stets die Scheu vor Selbsteinbindung und die Verteidigung der nationalen Souveränität, die seit der Französischen Revolution als Grundlage demokratischer Partizipation und Legitimation des Staates gilt (vgl. Sauder 1997: 203, 206f.; Toulemon 1999: 584). Mit Beginn der fünften Republik unter Charles de Gaulle im Jahr 1958 vertrat Frankreich die Idee eines Europas unabhängiger Nationalstaaten. De Gaulles Konzept wies dem europäischen Integrationsprojekt eine lediglich instrumentelle, an den Interessen Frankreichs orientierte Bedeutung zu: Da der französische Nationalstaat auf sich allein gestellt in der Weltpolitik keine bedeutende Rolle würde spielen können, trat de Gaulle für die Einigung Europas ein, um Frankreich weiterhin eine Weltmachtstellung zu garantieren (vgl. Müller-BrandeckBocquet 2005: 385). Das geeinte Europa, das nach de Gaulles Vorstellung unter Frankreichs Führung ein Gegengewicht zu den Supermächten USA und UdSSR bilden sollte, dachte er als ein „Europa der Nationen“, als Kooperation unabhängiger und weiterhin souveräner Einzelstaaten. Die Zusammenarbeit sollte auf intergouvernementaler Ebene, in einem staatenbündischen Rahmen erfolgen (vgl. Loth 1991: 52f.). Damit begründete de Gaulle ein Leitbild, das auch die weitere Europapolitik Frankreichs prägte. Auch wenn die Nachfolger de Gaulles zu einem pragmatischeren Umgang mit der europäischen Materie fanden, blieben die Grundlinien, wie die Orientierung an nationalen Interessen und die Bevorzugung der intergouvernementalen Methode, bis zum Ende des Kalten Krieges bestehen (vgl. Picht 1996: 176f.). Im Zentrum stand stets die Vorstellung eines „Europe puissance“, eines starken, autonomen und weltweit handlungsfähigen Europa, das äußeren Bedrohungen standhalten kann – eine Vision, die auch von der Nostalgie auf die eins-

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tige „grande nation“ inspiriert wurde. Mittels Europa sollte das einstige „grandeur“ wieder gefunden werden (vgl. Toulemon 1994: 182). Die Europaorientierung ging in Frankreich nicht mit der Intention einer Überwindung des Nationalen einher, sondern Europa wurde als eine Hülle betrachtet in der die Nation bewahrt werden kann (vgl. Axt 1999: 465). Gleichzeitig wurde eine französische Führungsrolle in Europa vorausgesetzt. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten wurde die Bundesrepublik aus französischer Sicht zur latenten Bedrohung dieses Führungsanspruchs. Die Souveränitätsbeschränkungen, denen die Bundesrepublik unterlag, fielen weg, außerdem war die Westbindung zumindest theoretisch nicht mehr die einzige außenpolitische Option der Bundesrepublik. Das vereinte Deutschland war der mit Abstand bevölkerungsreichste und wirtschaftlich dominierende Staat in Europa. Befürchtet wurde, dass die Bundesrepublik aufgrund dieser Entwicklungen versucht sein könnte, ihren Platz im europäischen Staatensystem neu zu bestimmen (vgl. Woyke 2004: 22ff.). Wieder reagierte Frankreich mit der Strategie der Einbindung des Nachbarlandes: Im Sinne eines Ausgleichs des Machtgefälles zum voll souveränen und wiedervereinigten Deutschland war Frankreich zur Intensivierung der europäischen Integration bereit (vgl. Müller-Brandeck-Bocquet 2005: 392f.). Staatspräsident Mitterand plädierte für eine innere Festigung und Vertiefung der EU. Das Ziel der Währungsunion wurde nun umso energischer verfolgt: Als Preis für das deutsche Ja zur Gemeinschaftswährung akzeptierte Mitterand im Verlauf der Verhandlungen zum Maastrichter Vertrag weitere Abstriche am intergouvernementalen Modell und stimmte einer institutionellen Aufwertung des Europäischen Parlaments zu (vgl. Müller-Brandeck-Bocquet 2005: 393). Einer Erweiterung der Union stand Frankreich dagegen ablehnend gegenüber: Ein weltpolitisch handlungsfähiges und unabhängiges Europa unter französischer Führung konnte nur realisiert werden, wenn die Zahl der Mitgliedstaaten klein und die Belange der beteiligten Staaten möglichst homogen blieben (vgl. Müller-Brandeck-Bocquet 2001: 258). Die Ambivalenz französischer Europapolitik war also keineswegs überwunden: Einerseits hat sich Frankreich zwar klar auf die Seite der Integrationsbefürworter gestellt und die einzelstaatliche Souveränität aushebelnde Mehrheitsentscheide akzeptiert. Doch noch immer wurde die Europapolitik instrumentalisiert: Zur Einbindung und Kontrolle der Macht Deutschlands und zur Wahrung der französischen Rolle als Weltmacht. Dem Integrationswillen waren sensible Grenzen gesetzt, zu einem gänzlichen Abrücken vom Konzept der zwischenstaatlichen Kooperation war Frankreich nicht bereit.

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4.3 England: Europäische Integration als wirtschaftlicher Prozess Im Mittelpunkt der britischen Interessen stand Europa nie. In der Nachkriegszeit war die britische Politik stets darauf bedacht, weiterhin eine globale Rolle zu spielen und ihre Interessen nicht auf Europa zu beschränken (vgl. Schwarz 1997: 15). Sie agierte im Schnittpunkt von drei Interessensphären, die Churchill als „drei Kreise“ bezeichnet hatte: Die USA, das Commonwealth und Europa. Diese Reihenfolge war gleichzeitig auch Rangfolge: Während der beiden Nachkriegsjahrzehnte räumten die politischen Eliten Großbritanniens der „special relationship“, der Sonderbeziehung zu den USA, und dem „Empire“ den Vorrang ein. Europa wurde im internationalen Bezugssystem nur eine nachgeordnete Bedeutung zugemessen (vgl. Schwarz 1997: 20). Als Winston Churchill 1946 in seiner berühmten Züricher Rede als erster Staatsmann die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ propagierte, sah er eine kontinentaleuropäische Vereinigung ohne Beteiligung Großbritanniens vor.7 Noch ganz im Sinne der klassischen „balance of power“-Politik denkend, war eine Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland gemeint, um den alten Unruheherd in Europa zu beseitigen (vgl. Schwarz 1997: 20). Großbritannien aber betrachtete sich nicht als Teil Europas, sondern als vermittelnde Instanz – Europa blieb das „Andere“ (vgl. Wallace 1997: 679). Schon bei der Gründung der wirtschaftlichen Vereinigung Europas standen die Briten abseits. Vor allem dank der Insellage waren der britische Staat und die britische Nation von den beiden Weltkriegen weitgehend unangetastet geblieben. Anders als die beiden Kontinentalmächte sah die britische Nachkriegspolitik deswegen keine Notwendigkeit zur Abgabe von Souveränitätsrechten und zur europäischen Integration (vgl. Schwarz 1997: 24). Folglich fanden die Gründung der Montanunion und die Unterzeichnung der Römischen Verträge ohne Großbritannien statt. Eine „visionäre oder emotionelle Einstellung zur Idee der europäischen Einigung“ (Schwarz 1997: 15) wie in Frankreich oder Deutschland hat sich in Großbritannien nie entwickelt. Als die Briten im Januar 1973 schließlich als Nachzügler Mitglied in der EG wurden – zuvor war ihr Beitrittsgesuch zweimal am Veto des französischen Präsidenten de Gaulle gescheitert – fanden sie Europa in einer Verfassung vor, an deren Gestaltung sie nicht aktiv beteiligt waren und die ihren Vorstellungen der europäischen Kooperation nicht entsprach (vgl. Gowland/Turner 2000: xiii). 7

„It is to re-create the European family […] and provide it with a structure under which it can dwell in peace, in safety and in freedom. We must built a kind of United States of Europe. […] In all this urgent work, France and Germany must take the lead together. Great Britain, the British Commonwealth of Nations […] must be friends and sponsors of the new Europe […].” (Churchill, Universität Zürich, 19.09.1946, zitiert nach Gowland 2000: 8).

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Die britische Europapolitik zeichnete sich in der Folge vor allem durch Pragatismus und kurzfristige Problemlösungen im Sinne der Maximierung nationalen Interesses aus (vgl. Winter 1999: 26). Dabei hat die europäische Frage stets nicht nur zwischen den Parteien heftige Kontroversen ausgelöst,8 sie hat die Parteien auch quer durch die eigenen Reihen gespalten. Seit Beginn der europäischen Einigung ziehen sich die Bevorzugung einer primär zwischenstaatlich ausgerichteten Kooperationsebene und die Erhaltung der nationalen Souveränität als charakteristische Konstante durch die britische Europapolitik. Das britische Konzept verfolgte stets ein „Europe of nations“, es ging Großbritannien um Kooperation, nicht um Integration (vgl. Schwarz 1997: 21, 25). Supranationalität hat seit jeher die Furcht vor dem Verlust der britischen Eigenart, der „British nationhood“, hervorgerufen (vgl. Schwarz 1997: 15, 27). So wandte sich schon Premierminister Macmillan, als er 1961 sein Beitrittsgesuch zur EWG stellte, ausdrücklich gegen „a sort of United States“ (zitiert nach Volle 1997: 459). Als Margaret Thatcher 1988 ihre vielbeachtete Rede vor dem Europa-Kolleg in Brügge hielt, sprach auch sie sich für die Kooperation souveräner Nationalstaaten aus.9 Die Europäische Integration wurde in Großbritannien eher als wirtschaftlicher Prozess mit der Perspektive eines Binnenmarktes gesehen. Die Handelsnation betrachtete Europa in erster Linie als einen Markt: Handel, freies Unternehmertum und wirtschaftlicher Wettbewerb galten als die wichtigsten Ziele, die die britischen Regierungen mit der europäischen Einigung verbunden haben (vgl. Volle 1997: 461). Demgegenüber steht eine tiefe Abneigung gegen den Gedanken eines politischen Prozesses, der zu einer föderalen Union führt (vgl. Lynch 1997: 15).10 Auch nach der Überwindung der deutschen und europäischen Teilung lehnte die Thatcher-Regierung eine weitere Übertragung von nationaler Souveränität auf die Gemeinschaft ab. Bis heute befindet sich die britische Regierung im Kampf gegen ein „ever closer“ (Schwarz 1997: 17) integriertes Europa. Die 8

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Während die Konservativen traditionell als „Europa-Partei“ galten, vertrat die Mehrheit der Labour-Party eine ablehnende Haltung gegenüber Europa. Seit den 1990er Jahren hat sich dieses Verhältnis umgekehrt: Seither gilt Labour als pro-europäisch, bei den Konservativen überwiegt die Zahl der Europaskeptiker (vgl. Lynch 1997: 17ff.). „My first guiding principle is this: willing and active co-operation between independent sovereign states is the best way to built a successful European Community. To try to suppress nationhood and concentrate power at the centre of a European conglomerate would be highly damaging and would jeopardize the objectives we seek to achieve.” (Thatcher zitiert nach Gowland 2000: 175f.). Der tiefen britischen Abneigung gegen den Gedanken des Föderalismus liegt ein abweichendes Begriffsverhältnis zu Grunde: „Federal“ wird von vielen Briten in der Regel mit Zentralismus verknüpft, dem die britische Europapolitik seit jeher ablehnend gegenüberstand. Britische Absicht war es vielmehr Europa so dezentral wie möglich zu gestalten (vgl. Volle 1997: 460).

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Ankündigung von Premierminister John Major im Jahre 1991, Großbritannien solle seinen Platz „at the very heart of Europe“ (Major zitiert nach Volle 1997: 468; Lynch 1997: 16) haben, blieb eine rhetorische Floskel. Bereits bei der Aushandlung des Maastricht-Vertrages, der im Dezember 1991 unterzeichnet wurde, bewirkte Major zwei ,opting-outs`: Sowohl an der Sozialcharta als auch an der dritten Stufe der geplanten EWU beteiligte sich Großbritannien nicht (vgl. Volle 1997: 468). Am europäischen Einigungswerk nahmen die Briten nach wie vor nur „à la carte“ (Schwarz 1997: 87) teil. Mag sich auch, insbesondere durch den Wechsel zur Labour-Regierung unter Tony Blair, an der europapolitischen Strategie Großbritanniens einiges geändert haben, so sind doch die prinzipiellen Zielvorstellungen weiterhin die gleichen geblieben. 4.4 Die neue Finalitätsdebatte Die Rede des deutschen Außenministers Joschka Fischer am 12. Mai 2000 wurde zum Ausgangspunkt einer Reihe von Zukunftsüberlegungen, in denen traditionelle innereuropäische Konfliktlinien und neue Herausforderungen zum Ausdruck kommen. Den Ausgangspunkt seiner Finalitätsüberlegungen bildete der vom Bundesverfassungsgericht geprägte Begriff des „Staatenverbundes“. Als Antwort auf die aufgeworfenen Fragen schlug Fischer den „Übergang vom Staatenbund der Union hin zur vollen Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation“ (Fischer 2001 [2000]: 48) vor. Mit seinem Modell einer „Europäischen Föderation der Nationalstaaten“ schloss er in vielem an bundesstaatliche Überlegungen an, betonte jedoch auch die Bedeutung des Fortbestehens der Nationalstaaten im Rahmen der Föderation (vgl. Janning 2006: 306). Deren Rolle sei durch eine klare Abgrenzung der Zuständigkeiten zu sichern, derzufolge „[…] die Kernsouveränitäten und nur das unbedingt notwendig europäisch zu Regelnde der Föderation übertragen [würde], der Rest aber bliebe nationalstaatliche Regelungskompetenz.“ (Fischer 2001 [2000]: 50). Zwar hatte Fischer nachdrücklich betont, es handle sich um eine persönliche Zukunftsvision, er wolle die Ausführungen nicht als Außenminister präsentieren, doch wurden ganz ähnlich klingende Thesen auch von anderer repräsentativer deutscher Seite geäußert: Im November 1998 bezeichnete Bundeskanzler Gerhard Schröder „[…] eine föderale Ordnung in Europa [als] die beste Gewähr für Solidarität und Fortschritt“ (Schröder 1998: 913f.). Schließlich werden im SPDLeitantrag „Verantwortung für Europa“ aus dem Frühjahr 2001 Forderungen zur Strukturreform der Union erhoben, die auf die Schaffung eines übernationalen Bundesstaates hinauslaufen.

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Die erste „offizielle“ französische Reaktion auf Fischers Grundsatzrede erfolgte am 13. Juni 2000. Der französische Außenminister Hubert Védrine setzte sich in einem offenen Brief, abgedruckt in der FAZ, kritisch mit Fischers Europaideen auseinander. Den Ball eines großen Entwurfes nahm der französische Außenminister nicht auf, dennoch stellte sich seine Haltung in Grundzügen dar: „[…] pragmatisch, […] dem Föderationsbegriff […] nur zögerlich folgend, mehr an ,verstärkter Zusammenarbeit’ in Form variabler Geometrie […] interessiert.“ (Marhold 2001: 28). Mit der Rede des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 2000 erreichte die Debatte zur Zukunft der EU einen weiteren Höhepunkt. Chirac machte in seiner Rede über „Unser Europa“ Vorschläge zur Konstitutionalisierung der Union. Dass ein führender französischer Repräsentant das Wort „Verfassung“ als mögliches Ziel der europäischen Entwicklung äußerte, kann durchaus als Wende der gaullistischen europapolitischen Tradition verstanden werden. Dennoch zeigt eine genaue Betrachtung der Rede Chiracs, dass er dem klassischen Leitbild eines „Europa der Nationen“ in weiten Teilen treu blieb. Die Nationalstaaten sollten nach seiner Auffassung auch in einer künftigen europäischen Union Bestand haben: „Weder sie Deutsche noch wir Franzosen wollen einen europäischen Superstaat, der an die Stelle unserer Nationalstaaten treten und deren Ende als Akteure auf der internationalen Bühne markieren würde.“ (Chirac 2001 [2000]: 288). Der britische Premierminister Blair stellte sich mit seiner Rede über „Die politische Zukunft Europas“, die er am 6. Oktober 2000 in der Warschauer Börse hielt, in die Kontinuitätslinie britischer Vorstellungen von Europa. Blair räumte darin der Erweiterung den Vorrang vor der Vertiefung ein und charakterisierte die Union als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Europa müsse eine Supermacht, kein Superstaat, werden und bedürfe einer nationalstaatlichen, nicht einer eigenen europäischen, Legitimität. Blairs Forderung nationalstaatliche Souveränität nicht an die Union zu übertragen, sondern lediglich gemeinsam auszuüben, entspricht der traditionellen britischen Vorstellung einer Kooperation von Nationalstaaten (vgl. Marhold 2001: 232ff.). 5

Empirische Analyse

Nachdem im Vorangehenden ein Überblick über die nationalen Verfassungstraditionen, die Bedeutung Europas für die nationalstaatliche Identität und die jeweiligen europapolitischen Traditionen der drei großen EU-Länder gegeben wurde, folgt nun die empirische Analyse. Die empirische Studie untersucht die Mediendebatte um das Projekt zu einer Europäischen Verfassung bzw. um den vorgelegten EU-Verfassungsentwurf

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in eben diesen drei großen Ländern der EU, in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Zu diesem Zweck wurde eine vergleichende Medientextanalyse durchgeführt, die sich auf jeweils zwei britische, deutsche und französische Tageszeitungen bezieht.

5.1 Fragestellung und methodische Herangehensweise Gefragt wurde in der vergleichenden Medientextanalyse ƒ nach der Resonanz der EU-Verfassungsinitiative in den drei Ländern ƒ nach dem normativen und sachlichen Bias der medialen Verarbeitung der Idee einer europäischen Verfassung und des vorgelegten Verfassungsentwurfs ƒ nach dem Framing der Debatten um das EU-Verfassungsprojekt bzw. den vorgelegten Verfassungsentwurf ƒ nach den europapolitischen Leitbildern, die in den unterschiedlichen Argumentationen zum Ausdruck kommen. Dabei ging es darum, Überlappungen und Divergenzen zwischen den nationalen Diskursen sowie zwischen den milieuspezifischen Diskursen, d.h. des konservativen bzw. linksliberalen Milieus, herauszuarbeiten. Im Mittelpunkt stand die Fragestellung, inwieweit sich die Argumentationen und Frames als Manifestation nationaler Entwicklungspfade und Kulturen erklären lassen bzw. Entgrenzungen und Lernprozesse zu erkennen geben. Zur Untersuchung herangezogen wurden für alle drei Länder jeweils zwei überregional erscheinende Qualitätszeitungen, die ein links-rechts Spektrum widerspiegeln: Für Deutschland die „Süddeutsche Zeitung“ (links-liberal) und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (liberal-konservativ), für Frankreich „Le Monde“ (links-liberal) und „Le Figaro“ (liberal-konservativ) und für Großbritannien „The Guardian“ (links-liberal) und „The Times“ (liberal-konservativ). Die Analyse bezieht sich auf zwei Zeiträume: (1) 15. Dezember 2001-15. März 2002 und (2) 1. Juni 2004-30. Juli 2004. Untersuchungszeitraum 1 umschließt also die Erklärung von Laeken am 15.12.2001 sowie den Beginn der Konventsarbeit am 28.02.2002. Er bezieht sich somit auf den Umgang mit der Idee zu einer EU-Verfassung. Zeitraum 2 erstreckt sich um die Annahme des Verfassungstextes durch die Regierungskonferenz am 18.06.2004, bezieht sich also auf den Umgang mit dem vorgelegten EU-Verfassungsentwurf. Damit decken die Untersuchungszeiträume wesentliche Ereignisse im Werdungsprozess der Europäischen Verfassung ab.

Getrennt vereint?

145

Die Suche nach relevanten Artikeln ist über die Datenbanksuchmaschinen „lexis-nexis“ (Süddeutsche Zeitung, Le Figaro, The Times und The Guardian) und BiblioNet (FAZ) erfolgt. Im Fall von Le Monde wurde eine Stichwortsuche über das Online-Archiv der Zeitung durchgeführt. Gesucht wurde nach Texten, die (mindestens eins) der folgenden Stichwörter enthalten: ƒ ƒ ƒ

Deutsche Zeitungen: „Europäische Verfassung“, „europäischen Verfassung“, „EU-Verfassung“, „Verfassung für Europa“ Französische Zeitungen: „Constitution européenne“ Britische Zeitungen: „European Constitution“, „EU-Constitution“

Die Auswahl der Stichwörter ist auf der Grundlage einer ersten Sichtung von Artikeln erfolgt. Dabei hat sich gezeigt, dass in Frankreich fast durchgängig von „Constitution européenne“ gesprochen wird, während in Deutschland und Großbritannien zusätzliche Begriffe verwendet werden, die eine erweiterte Stichwortsuche nötig machten. Alle über dieses Verfahren ermittelten Texte sind in die Themenfrequenzanalyse eingeflossen. Die Medientextanalyse dagegen bezieht sich ausschließlich auf Kommentare. In einem ersten Schritt wurden hier zunächst an einem begrenzten Textkorpus mittels der Medientextanalyse induktiv Leitbilder, Bewertungen und „Frames“ identifiziert11 In einem zweiten Schritt wurden zusätzlich weitere Texte daraufhin überprüft, ob sich die zuvor identifizierten „Frames“, Bewertungen und Leitbilder in ihnen wieder finden lassen. Berücksichtigt wurden dabei alle Kommentare, die während den beiden gesamten Untersuchungszeiträumen erschienen sind. Ausgeklammert wurden allein Gastkommentare. Hinter diesen Auswahlkriterien stand die Überlegung, dass sich „Frames“ in Kommentaren, deren charakteristisches Merkmal die Stellungnahme der Autoren ist, genauer ermitteln lassen als zum Beispiel in Berichten. Gastkommentare könnten beim Vergleich der Zeitungen bzw. Länder zu einem verzerrten Bild führen, insofern sie möglicherweise nicht typisch für die jeweilige Zeitung bzw. das Land argumentieren. 11

Die große Anzahl der erschienenen Texte machte eine Eingrenzung des Textmaterials, das in die Feinanalyse einfließen sollte, nötig. Zugelassen wurden ausschließlich Kommentare, die sich explizit, d.h. weitgehend durchgängig während des gesamten Textes, mit dem Thema der Europäischen Verfassung beschäftigen, die länger als 400 Wörter sind und nicht von Gastkommentatoren verfasst wurden. Für Untersuchungszeitraum 2 sind zusätzlich nur die Veröffentlichungen zwischen dem 13. und dem 30. Juni 2004 berücksichtigt worden.

146

Claudia Butter

Im Rahmen der empirischen Studie wurde zunächst eine Themenfrequenzanalyse durchgeführt, die die Resonanz auf das EU-Verfassungsprojekt und den vorgelegten Verfassungsentwurf in den einzelnen Zeitungen erheben sollte. Mittels des methodischen Instruments der qualitativen Medientext- bzw. Medieninhaltsanalyse wurde dann weiterhin beabsichtigt, die der Argumentation zugrunde liegenden Leitbilder, „Frames“ und Bewertungen zu identifizieren. Die Vorgehensweise bei der Identifikation der europapolitischen Leitbilder, d.h. der Finalitätsvorstellungen für Europa, war eher deduktiv. Leitbilder, etwa die Vorstellung einer Föderation, einer Zusammenarbeit souveräner Staaten oder einer differenzierten Integration, sind historisch vorgegeben und werden in den Texten explizit oder implizit angesprochen. Gefragt wurde weiterhin nach dem jeweiligen „Framing“ des EU-Verassungsprojekts und des vorgelegten Verfassungsentwurfs: D.h. (a) nach deren Kontextualisierung bzw. Rahmung und (b) nach den der Argumentation zugrunde liegenden Ordnungsschemas. Die Vorgehensweise dabei war überwiegend induktiv. Über einen paradigmatischen Rahmen zu einem „Frameset“ integrierte Frames wurden dabei als „Diskurs“ gefasst. Schließlich wurde auf Techniken der Bias-Analyse zurückgegriffen – ohne allerdings deren Realitätsannahmen bzw. das Aufzeigen von „Verzerrungen“ zu teilen (Vgl. Bonfadelli 2002: 50; Dahinden 2006: 73f.). Diese Techniken waren die Identifikation des normativen und des sachlichen Bias der Artikel. Mit dem normativen Bias wird auf die generelle Haltung, d.h. pro oder contra EUVerfassungsprojekt bzw. -entwurf, verwiesen. Darüber hinaus wird hier auch auf die generelle Bewertung einer EU-Verfassung Bezug genommen, d.h. auf die Frage, ob ihr großer oder geringer Eigenwert zugesprochen wird. Die Benennung des sachlichen Bias nimmt dann die im Artikel angeführten bzw. in den Fokus des Betrachtungswinkels gerückten inhaltlichen Teilaspekte der EU-Verfassung in den Blick.

5.2 Ergebnisse 5.2.1 Themenfrequenzanalyse Tabelle 1 zeigt, dass die Resonanz auf das Thema während des ersten Untersuchungszeitraums in allen Zeitungen wesentlich geringer war als im zweiten Untersuchungszeitraum – und das obwohl der erste Zeitraum einen Monat mehr umfasst als der zweite. Die meisten Artikel, die eines der gesuchten Strichwörter enthalten, hat die französische Zeitung Le Monde veröffentlicht – das gilt für beide Untersu-

147

Getrennt vereint?

chungszeiträume.12 Am zweit häufigsten hat, ebenfalls während beider Zeiträume die FAZ berichtet. Die wenigsten relevanten Artikel sind jeweils im britischen Guardian erschienen. Im Verhältnis zur jeweiligen Gesamtzahl der erschienenen Artikel, die eines der Stichwörter enthalten, haben die britische Times und, im zweiten Untersuchungszeitraum, auch der britische Guardian, vergleichsweise viele Kommentare veröffentlicht. Schaut man auf die Ebene der Kommentare mit explizitem Thema EU-Verfassung, ist die Times im zweiten Zeitraum sogar Spitzenreiter.

01.06.04 30.06.04

15.12.0115.03.02

Tabelle 1:

Themenfrequenz (Zahl der erfassten Artikel)

Artikel mit Stichwort davon Kommentare Kommentare mit thematischem Fokus EU-Verfassung davon Gastkommentare Artikel mit Stichwort davon Kommentare Kommentare mit thematischem Fokus EU-Verfassung davon Gastkommentare

FAZ 46 6

SZ 13 3

Figaro 16 9

Monde 76 11

Times 17 8

Guardian 4 --

3

1

1

4

3

--

1

1

1

2

--

--

184 20

107 18

114 16

218 21

105 41

63 29

7

4

4

10

11

7

1

1

3

7

7

5

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Häufigkeit der Berichterstattung und damit die Resonanz auf das Thema sowohl innerhalb der einelnen Länder als auch innerhalb der links-liberalen bzw. liberal-konservativen Zeitungsgruppen zum Teil erheblich unterscheidet. Das gilt für die Anzahl der erschienenen relevanten Artikel insgesamt und auch für die Anzahl der zum Thema veröffentlichten Kommentare. Die einzelnen Zeitungen sind sich aber über beide Zeiträume hinweg treu geblieben: Wer zum Beispiel schon in der Zeitspanne 2001/02 vergleichsweise wenig über das Thema berichtet hat, der hat auch im Zeitraum 2004 verhältnismäßig wenig berichtet.

12

Anzumerken ist hier auch, dass Le Monde während des zweiten Untersuchungszeitraums in fast jeder Ausgabe eine vollständige Seite mit dem Titel „union européenne“ veröffentlicht hat.

148

Claudia Butter

5.2.2 Nationale Fragmentierung der Europäischen Verfassungsdebatte Die Tabellen 2-4 präsentieren eine Übersicht über die Häufigkeit, mit der „Frames“, Leitbilder und Bewertungen in den einzelnen Ländern und Zeitungen aufgetreten sind: Tabelle 2:

Deutschland 15.12.01-15.03.02/01.06.04-30.07.04

Anzahl der analysierten Kommentare Leitbilder: Bundesstaatliches Modell Föderation von Nationalstaaten Kultur der Integration Differenzierte Integration Normativer Bias: Projekt bzw. vorgelegter Entwurf negativ bewertet Sachlicher Bias: Klärung der Kompetenzverteilung Abstimmungs- und Verfahrensregeln Grundrechtecharta Ökonomisch relevante Regeln Integrationsstiftende Wirkung Frameset der Verfassungsfrage: Hohe Bewertung einer EU-Verfassung an sich Verfassungsentwurf ist Kompromiss Verfassungsprojekt/-entwurf ist Ergebnis des Ausgleichs bremsender nationaler Interessen Verfassungsprojekt/-entwurf verdient Titel Verfassung nicht EU-Verfassung sollte mehr sein: - als die Zusammenfassung bisheriger Verträge - als die Regelung der Kompetenzverteilung - als eine bloße Ansammlung von Texten - sollte ein Staatsvolk generieren - sollte Integration stiften - sollte Symbolcharakter besitzen - sollte Legitimität an sich besitzen EU-Verfassung als Souverän Verfassungsentwurf ist besser als gar keine Verfassung Verfassungsentwurf entspricht dem, was in europäischer Wirklichkeit möglich ist Frames der Argumentation: Problem: Dominanz abweichender nationaler Interessen Problem: Europaskepsis der Bevölkerung Demokratiedefizit der EU Großbritannien und andere integrationsfeindliche Länder als Gegner Europäische Geschichte als das „Andere“ Anspruch der Politikerreden entspricht nicht der europäischen Wirklichkeit Legitimität der Verfassung würde durch Volksentscheid erhöht

FAZ 2 1 1

SZ --

FAZ 6

2 1

SZ 3

2 1

2

6

2

3 2 1 1 1

2

6 3

3 2

1

4

2

1 2

4 6 3 1 1 1 1

1

2

2 1

1 2

2 1 3 2 1 1 1

3 2

2 2 3

1

3

2

1 2

1 1

149

Getrennt vereint?

Tabelle 3:

Frankreich 15.12.01-15.03.02/01.06.04-30.07.04

Anzahl der analysierten Kommentare Leitbilder: Kultur der Integration Differenzierte Integration Kooperation souveräner Nationalstaaten Normativer Bias: Projekt bzw. vorgelegter Entwurf positiv bewertet Sachlicher Bias: Kompetenzverteilung Verfahrens- und Abstimmungsregeln Gottesbezug EU-Außenminister EU-Präsident Frameset der Verfassungsfrage: Geringe Bedeutung einer EU-Verfassung an sich EU-Verfassung sollte vor allem Organisationsstatut sein - sollte die Kompetenzverteilung regeln - sollte die Effizienz der Union sichern - sollte Verfahrens- und Abstimmungsregeln festlegen - sollte die bestehenden Verträge zusammenfassen Wichtiger als eine Verfassung ist Europas Gewicht in der Welt Verfassungsentwurf entspricht dem, was in europäischer Wirklichkeit möglich ist Frames der Argumentation: Bezugspunkt Macht Europas als globaler politischer Spieler und global fähige Wirtschaftskraft Konfligierende nationale Interessen als Barriere Vertreter einer Freihandelszone als Gegner Großbritannien und andere integrationsfeindliche Länder als Gegner Deutschland als Konkurrenz für Frankreichs Einfluss in Europa Europa als verlängerter Arm Frankreichs USA als Referenzkollektiv/das „Andere“ Europaskepsis der Bevölkerungen als Problem Demokratiedefizit der EU Repräsentativität und Legitimität des Konvents ist wichtig

Monde 2

Figaro --

Monde 3

Figaro 1

1 1

1 1 1

1

1

3

1

2 1

1 2 1 1 1

1 1 1

2 2 2 2 1

2 2 1 1 2

1 1 1

1

2

1 1 1

1

1

2

1

1 1

3

1

2 1

1 2

1 1 1 1

1 1

150 Tabelle 4:

Claudia Butter

Großbritannien 15.12.01-15.03.02/01.06.04-30.07.04 Times

Anzahl der analysierten Kommentare Leitbilder: Kooperation souveräner Nationalstaaten Differenzierte Integration Föderation von Nationalstaaten Normativer Bias: Projekt bzw. vorgelegter Entwurf negativ bewertet Projekt bzw. vorgelegter Entwurf positiv bewertet Sachlicher Bias: Kompetenzverteilung Grundrechtecharta Frameset der Verfassungsfrage: Hohe Bewertung einer EU-Verfassung an sich Wichtig ist v.a., was die Verfassung festlegt (Inhalt) Verfassung soll v.a. Kompetenzverteilung regeln Verfassung als Festlegung von Regeln u. Prinzipien Ablehnung eines gesonderten vorrangigen Verfassungsrechts Ablehnung EuGH in Rolle eines obersten Gerichtshofs/Verfassungsgerichts Keine Aufnahme eines Grundrechtskatalogs Legitimitätsgrundlage der Verfassung nur auf Nationalstaaten bezogen Verfassungsentwurf als Bedrohung für GB Verfassungsprojekt/-entwurf stimmt mit eigenen Interessen überein - deshalb positive Beurteilung Verfassungsprojekt/-entwurf stimmt nicht mit eigenen Interessen überein - deshalb Ablehnung Frames der Argumentation: Es geht um eigene nationale Interessen Wichtig sind nationale Macht und Einfluss Rücktransfer von Entscheidungsgewalt an Nationalstaaten Demokratiedefizit der EU Unabhängigkeit GB - „freeborn Englishmen“ Feindbild Superstaat Ablehnung von Föderalismus bzw. Zentralismus Wirtschaftsunion Europa als das „Andere“ Gegen Europäisierung nationaler Identität Deutschland und Frankreich (integrationsfreudig) als Gegner Pro-europäische Politiker (v. a. Blair) als Gegner Britische Medien und Politiker (europaskeptisch) als Gegner Europaskepsis der Bevölkerung als Barriere

3 2

Guardian --

Times 4 3 1

Guardian 2 2

1 2 1

4

3 2

4

2

3 3 2

4 4 4 1 2

2 2 2

1

2

2 2

1 3 3

1

2

2

4

3

4 4 4 3 2 3 1 1 1

1

2

1 2

2

2

3

2 2

2

1

2 2

Getrennt vereint?

151

Die Tabellen 2-4 haben die überwiegend induktiv generierten Ergebnisse der Analyse länderspezifisch vorgestellt. Die Ergebnisse für die einzelnen Länder lassen sich jedoch auch vergleichen. Dabei zeigt sich, dass die politischen Zeitungsmilieus nationale Denkweisen artikulieren und dass es keine Überlappungen der nationalen Debatten gibt. Betrachtet man die Tabellen 2-4 im Ländervergleich wird deutlich, dass die Leitbilder im Rahmen des nationalen europapolitischen Paradigmas bleiben und so traditionelle innereuropäische Konfliktlinien nachzeichnen. Auch der sachliche Bias weist in den Debatten der drei Länder verschiedene Schwerpunkte auf. Wichtigstes Ergebnis der Analyse ist dann, dass auch das Framing national unterschiedlich und nicht kompatibel ist. Die folgende Ländervergleichstabelle hebt dies noch einmal hervor: Sie zeigt im Überblick, dass die Frames national spezifisch sind und die politischen Lager hier nationale Denkweisen artikulieren. Die ausführliche Erklärung und Illustration der Ergebnisse folgt dann im nächsten Kapitel. Die einzelnen nationalen „Frames“ werden dabei in Tabelle 5 nicht mehr differenziert aufgelistet, sondern als integriertes Frameset mit je charakteristischem Label präsentiert: „Verfassung als Eigenwert“ verweist auf den Erwartungshorizont der deutschen Debatte, der gleichzeitig als Maßstab zur Bewertung einer EU-Verfassung angelegt wird (vgl. Tabelle 2); „Verfassung als Organisationsstatut“ fasst die Frames der französischen Debatte zusammen, die den Gewinn von Handlungsfähigkeit als Bewertungsmaßstab des Verfassungsentwurfs ansetzt (vgl. Tabelle3); „Verfassung als Bündel rechtlich bindender Bestimmungen“ schließlich benennt das britische Frameset mit seiner Würdigung bzw. Kritik von konkreten Bestimmungen (vgl. Tabelle 4). In diesem Sinne lassen sich auch die Frames der Argumentation, die sich auf die jeweiligen europapolitischen Orientierungen beziehen, zu Framesets integrieren: Zum Beispiel als „Wahrung (bzw. Rücktransfer) nationaler Souveränität“ (vgl. Tabelle 4) oder „Europa als globale politische und wirtschaftliche Kraft, als verlängerter Arm des eigenen Nationalstaats“ (vgl. Tabelle 3).

152 Tabelle 5:

Claudia Butter

Ländervergleich normativer Bias und „Frames“ Länder D

F

Anzahl analysierte Kommentare

6 11 Normativer Bias Projekt/ vorgelegter 5 Entwurf positiv bewertet Projekt/ vorgelegter Entwurf 10 negativ bewertet Frameset der Verfassungsfrage „Verfassung 10 als Eigenwert“ „Verfassung als Organisationsstatut“ „Verfassung als Bündel rechtlich bindender Bestimmungen Frames der Argumentation Europas als globale politische und wirtschaftliche Kraft, als verlängerter Arm des eigenen Nationalstaats Wahrung (bzw. Rücktransfer) nationaler Souveränität integrationsfeindliche 6 Länder als Gegner Integrationsfreudige Länder als Gegner Vertreter einer Freihandelszone als Gegner europaskeptische Medien

GB

FAZ

liberal-konservativ Times SZ Figaro

9

8

1

7

1

1

3

links-liberal Monde

Guardian

5

2

4

2

3 6 6

2

8

8

5

2 1

9

4

7

4

2

1

9 (5)

2

3

7 (5)

4

5

1

2

2

2

4

1

1 2

2

153

Getrennt vereint? und Politiker im Inland als Gegner Proeuropäische Politiker im Inland als Gegner Europäische Geschichte als das „Andere“ USA als das „Andere“ Europa als das „Andere“ Problem: Dominanz abweichender nationaler Interessen Problem: Europaskepsis der Bevölkerung Demokratiedefizit der EU

5

1

5

1 2

1 1

6

5

5

2

4

2

2

1 1

4

1

2

4

3

1

2

1

3

2

1

2

5.2.3 Nationale Profile: Verfassungsverständnis und Europäischer Verfassungsvertrag Die Ergebnisse der vergleichenden Medientextanalyse zeigen, dass es keine Überlappungen zwischen den jeweiligen nationalen Frames gibt. Zugleich lassen sich als nationale Framesets bzw. Diskurse die nationalen Verfassungskonzepte identifizieren, EU-Verfassungsprojekt und vorgelegter Entwurf werden im Rahmen des jeweiligen nationalen Paradigmas gefasst. 5.2.3.1

Deutschland

Die Argumentation in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist durch die generell sehr hohe Bewertung einer Europäischen Verfassung an sich gekennzeichnet. In allen analysierten Kommentaren wird solch einer Verfassung sehr großer Eigenwert zugemessen. Ihre Bedeutung wird während beider Untersuchungszeiträume als ausgesprochen groß charakterisiert, sodass man insgesamt von einem werthaften Verfassungsverständnis sprechen kann. In einigen Beiträgen lässt sich das der Argumentation zugrunde liegende Verfassungsverständnis noch deutlicher ausmachen: Das, was eine Verfassung

154

Claudia Butter

leisten kann und soll, wird hier nicht nur instrumentell definiert, sondern einer Verfassung wird darüber hinaus auch symbolische Funktion zugeschrieben. So sollte eine EU-Verfassung mehr erfüllen, als die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten zu regeln. Sie sollte mehr sein, als eine bloße Ansammlung von Texten oder eine Zusammenfassung bisheriger Verträge. Eine Europäische Verfassung sollte über diese instrumentellen Funktionen hinaus integrations- sowie identitätstiftende Wirkung besitzen. Außerdem wird in zwei Kommentaren deutlich, dass eine solche Verfassung Legitimität an sich besitzen sollte, dass ihre Anerkennung und Berechtigung nicht allein auf die Mitgliedstaaten bezogen werden sollte. In einem weiteren Kommentar wird explizit auf Verfassung als einem „Souverän“ Bezug genommen. In Gegenüberstellung zu dieser Definition, was eine EU-Verfassung an sich leisten sollte, werden das Verfassungsprojekt sowie der vorgelegte Entwurf dann negativ beurteilt – und zwar in allen analysierten Kommentaren. Im Untersuchungszeitraum 2001/2002 wird aufgrund bremsender nationaler Interessen und zögerlicher Bevölkerungen angenommen, dass der entstehende Verfassungsentwurf nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen wird. Im zweiten Untersuchungszeitraum, im Juni und Juli 2004, scheint sich diese Vermutung dann bestätigt zu haben: Der vorgelegte Entwurf wird als Kompromiss und Minimalkonsens charakterisiert und, der gleichen Argumentationslinie wie 2001/2002 folgend, als Ergebnis bremsender nationaler Interessen und zögerlicher Bevölkerungen dargestellt. Daraufhin kommen die Autoren in mehr als der Hälfte der analysierten Kommentare zu dem Ergebnis, dass der vorgelegte Entwurf den Titel Verfassung nicht verdiene. Eine Verfassung müsse entsprechend der oben dargelegten Charakterisierung „mehr“ sein und weiter reichen als dieser Entwurf. Parallel zu dieser Argumentation wird auf den Widerspruch zwischen dem beschönigenden Anspruch der Politikerreden und der negativ zu beurteilenden Wirklichkeit des Verfassungsentwurfes aufmerksam gemacht. Grundsätzlich folgt die Argumentation in der Süddeutschen Zeitung den gleichen Schemata wie in der FAZ. Dennoch ergeben sich Unterschiede, wenn auch nicht der generellen sondern eher der graduellen Art. Auch in der eher links-liberalen Tageszeitung wird eine EU-Verfassung an sich sehr hoch bewertet, auch hier wird ihr generell sehr großer Eigenwert zugeschrieben. Wieder lässt sich in der Mehrzahl der Kommentare ein Verfassungsverständnis ausmachen, dass über eine instrumentelle Funktion hinaus auch auf symbolische Funktionen Bezug nimmt und einer Verfassung integrationstiftende wie symbolische Wirkung zuschreibt. Wie in der FAZ beurteilen auch die Kommentatoren der Süddeutschen Zeitung demgegenüber den vorgelegten Ent-

Getrennt vereint?

155

wurf mehrheitlich als Kompromiss – als Ergebnis bremsender nationaler Interessen und zögerlicher Bevölkerungen. In der weiteren Argumentation unterscheiden sich die beiden deutschen Zeitungen allerdings: Anders als in der FAZ kommen die Autoren der Süddeutschen Zeitung zu dem Schluss, dass der vorgelegte Entwurf trotz aller Mängel aber das Beste ist, was in der europäischen Wirklichkeit möglich ist. In Anbetracht der Dominanz konfligierender nationaler Interessen und der Europaskepsis der Bevölkerungen, so die der Argumentation zugrunde liegende Auffassung, sei dieser Verfassungsentwurf doch besser als gar keiner – lieber diese mangelhafte Verfassung als gar keine Verfassung. Parallel dazu wird auf das kritisch beurteilte Demokratiedefizit der EU Bezug genommen.

5.2.3.2

Frankreich

Auch in Frankreich unterscheiden sich die Grundschemata der Argumentation nicht entsprechend der politischen Lager: Sowohl in Le Figaro als auch in Le Monde zeichnen sich die Beiträge dadurch aus, dass sie einer EU-Verfassung an sich generell nur geringen Eigenwert zusprechen. Ihre Bedeutung wird während beider Untersuchungszeiträume als klein eingestuft. Deutlich wird in beiden Zeitungen ein Verfassungsverständnis, das sich auf rein instrumentelle Funktionen beschränkt. Das, was eine Verfassung leisten soll, wird hier eher klein gehalten: In allen analysierten Kommentaren wird sie in erster Linie als Organisationsstatut definiert. Eine EU-Verfassung sollte demnach vor allem die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten regeln, sie sollte Verfahrens- und Abstimmungsregeln festlegen und somit die Effizienz der Europäischen Union sichern. Der in Le Figaro erschienene Kommentar fasst die EU-Verfassung entsprechend als eine Zusammenfassung der bestehenden Verträge. In einem Kommentar der Zeitung Le Monde wird jeglicher symbolischer Gehalt deutlich abgelehnt. Im Vergleich zu Deutschland fällt auf, dass einer EU-Verfassung keine integrierende Funktion zugeschrieben wird. Entsprechend diesem Verfassungsverständnis werden das Verfassungsprojekt bzw. im zweiten Untersuchungszeitraum der vorgelegte Verfassungsentwurf fast durchweg positiv bewertet. Ausnahme ist hier allein ein Kommentar des ersten Untersuchungszeitraums, in dem eine Bewertung des Projekts offen bleibt. Gemäß der generell nur geringen Bedeutung, die die Kommentatoren einer EU-Verfassung zuschreiben, wird dann in beiden Zeitungen mehrheitlich etwas anderes als wichtiger erachtet: Das Gewicht Europas in der Welt. Bezugspunkt der französischen Zeitungen ist während beider Untersuchungszeiträume ein „europe puissance“: Die Macht Europas als globaler politischer Spieler und als

156

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global fähige Wirtschaftskraft steht im Vordergrund. Einer EU-Verfassung wird demgegenüber nur nachrangige Bedeutung eingeräumt. Als Barrieren erscheinen, genau wie in der deutschen Argumentation, die Realität konfligierender nationaler Interessen sowie die Europaskepsis der Bevölkerungen. Ergänzend wird in einem Kommentar des zweiten Untersuchungszeitraums kritisch auf ein Demokratiedefizit der EU verwiesen. Bleibt ein weiteres Charakteristikum, das die französische Argumentation von der deutschen unterscheidet: In beiden analysierten Kommentaren, die während des ersten Untersuchungszeitraumes erschienen sind (beide in Le Monde), wird auf die Bedeutung der Repräsentativität und Legitimität des Konvents betont Bezug genommen.

5.2.3.3

Großbritannien

Die Argumentation in der Times lässt sich, wie in den deutschen Medien, durch die generell hohe Bewertung einer Europäischen Verfassung an sich charakterisieren. Während beider Untersuchungszeiträume wird einer EU-Verfassung in allen analysierten Kommentaren großer Eigenwert und große Bedeutung zugesprochen. Wert gelegt wird dabei aber vor allem auf den Inhalt der Verfassung. Die Argumentation geht von den Gegenständen aus, die durch die Verfassung festgelegt werden. Ähnlich dem französischen Verständnis soll die Leistung einer EU-Verfassung auch nach der Auffassung fast aller Kommentatoren der Times vor allem darin bestehen, die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten zu regeln. In einem Beitrag, der im zweiten Untersuchungszeitraum erschienen ist, wird zudem deutlich, dass die EU-Verfassung nicht mehr sein sollte, als eine Festlegung grundlegender Prinzipien und Regeln. Charakteristisch für die Argumentation der Times ist weiterhin die Ablehnung einer rechtlichen Normierung: In immerhin der Hälfte der analysierten Kommentare des zweiten Untersuchungszeitraums zeigt sich eine ablehnende Haltung gegenüber einem gesonderten Verfassungsrecht, das den Vorrang der EU-Verfassung vor allen anderen, d.h. auch nationalen Gesetzen, sichern würde. In einem Kommentar des ersten Untersuchungszeitraums ist diese Haltung ebenfalls zu erkennen. Darüber hinaus wird wiederum in der Hälfte der Beiträge, die im Untersuchungszeitraum 2004 erschienen sind, die Zurückweisung einer Rolle des EuGH als einem Verfassungsgericht bzw. verfassungsinterpretierendem Organ deutlich. Eine dem Supreme Court der USA vergleichbare Bedeutung sollte dem EuGH nicht zukommen. Insgesamt also soll eine EU-Verfassung laut der Argumentationslinie der Times nur politisches, nicht rechtliches Dokument

Getrennt vereint?

157

sein. Legitimation sollte die EU-Verfassung zudem nicht an sich, sondern nur auf die Nationalstaaten bezogen besitzen. Das Verfassungsprojekt und später der vorgelegte Entwurf werden bis auf eine einzige Ausnahme in allen Texten negativ beurteilt – und zwar stets mit der Begründung, dass eine Übereinstimmung mit den eigenen nationalen Interessen nicht gegeben sei. Im zweiten Untersuchungszeitraum wird der Verfassungsentwurf mehrheitlich sogar als Bedrohung für Großbritannien dargestellt. Zentraler Bezugspunkt ist also das eigene nationale Interesse, das festgemacht wird am Erhalt der nationalen Souveränität, an der Wahrung der britischen Unabhängigkeit und an der Sicherung von Einfluss und Macht in Europa. Zusätzlich wird in einem Kommentar des ersten Untersuchungszeitraums und in allen Beiträgen des zweiten Untersuchungszeitraums ein Rücktransfer von Entscheidungsgewalt der Union an die Nationalstaaten gefordert. Ergänzend wird, wie in Frankreich, Kritik am Demokratiedefizit der Europäischen Union geübt. Die Argumentation im Guardian folgt zunächst den gleichen Charakteristika wie in der Times: Der große Eigenwert, der einer EU-Verfassung an sich zugemessen wird, die Betonung der Bedeutung des Inhalts, weniger des Dokumentes an sich, und eine von den Gegenständen, die die Verfassungsordnung festlegt, ausgehende Argumentation – all das ist auch in den Kommentaren des Guardian zu finden. Wie in der Times wird das, was eine EU-Verfassung leisten soll, vor allem als Regelung der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten definiert. Ein genaueres Verfassungsverständnis wird allerdings in den Kommentaren des Guardian nicht deutlich. Auch die Argumentationslinien bezüglich der Beurteilung des vorgelegten Verfassungsentwurfs sind im Guardian die gleichen wie in der Times: Zentraler Bezugspunkt der Argumentation sind zunächst auch hier die eigenen nationalen Interessen. In Übereinstimmung mit der Times werden diese Interessen wieder als Erhalt der nationalen Souveränität und als Sicherung von Einfluss und Macht in Europa definiert. Das Fazit beider Zeitungen ist jedoch völlig gegensätzlich: Die Übereinstimmung des Verfassungsentwurfs mit eben jenen nationalen Interessen des Souveränitätserhalts, die die Times nicht gegeben sah, wird im Guardian bejaht: Der Entwurf entspricht demnach dem Interesse der Wahrung britischer Souveränität und wird folglich in allen Kommentaren positiv beurteilt. Wie ist dieser Widerspruch aufzulösen? In Ansätzen lassen sich in beiden Zeitungen jeweils verschiedene Definitionen des Erhalts nationaler Souveränität erkennen: Während die Kommentatoren der Times mehrheitlich eine Rückführung von Kompetenzen der Union an die Nationalstaaten fordern, ist die Argumentation im Guardian tendenziell Europa- bzw. integrationsfreundlicher. So werden hier als Gegner europaskeptische britische Politiker, Medien und Bürger

158

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ausgemacht, eine Kompetenzrückführung wird nirgends verlangt. Auch das Feindbild eines „Superstaates“ für die EU, das in der Mehrzahl der Beiträge der Times aufgebaut wird, fehlt im Guardian völlig. Daraus lässt sich folgern, dass die Times eine striktere Auffassung vom Erhalt nationaler Souveränität vertritt – bzw. sogar eine über den Erhalt des Status quo hinausweisende Rückgewinnung nationaler Souveränität anstrebt. In Gegenüberstellung dazu fasst der Guardian die Definition des britischen Souveränitätserhalts in einer nur schwächeren Form.

5.2.4 Nationale Profile: Leitbilder Betrachtet man die in den Texten deutlich werdenden Leitbilder für Europa, so zeigt sich auch hier, dass sie die jeweiligen nationalen europapolitischen Orientierungen reflektieren:

5.2.4.1

Deutschland

Siedelt man die Leitbilder auf einem Kontinuum zwischen dem Streben nach einer starken Integration und der Bewahrung von Nationalstaatlichkeit an, so liegen die Beiträge des Untersuchungszeitraums 2001/2002 in der FAZ näher am ersten Pol, als die des Untersuchungszeitraums im Jahre 2004. Ist im ersten Zeitraum noch ein Kommentar erschienen, der weitgehend dem Leitbild eines Bundesstaates folgt, so sind die Texte des zweiten Untersuchungszeitraums mehrheitlich der Finalitätsvorstellung einer Föderation von Nationalstaaten zuzuordnen. In einem Kommentar findet sich hier auch das Leitbild einer „Kultur der Integration“, d.h. Integration wird in diesem Text zwar positiv beurteilt, eine genaue Zielvorstellung wird dabei aber nicht deutlich. Vergleicht man beide Untersuchungszeiträume so lässt sich also insgesamt festhalten, dass in den Kommentaren der FAZ eine graduelle Abschwächung des Integrationswillens bzw. eine weniger genau definierte Zielvorstellung beobachtet werden kann. Dennoch bewegt sich die Argumentation während beider Zeiträume auf einem integrationsfreundlichen Niveau: Die Einbindung in den europäischen Integrationsprozess wird in keinem der analysierten Kommentare in Frage gestellt, vielmehr wird das europäische Projekt generell unterstützt. So wird die Europaskepsis der Bevölkerungen in rund einem Drittel aller Kommentare als ein „Problem“ empfunden, die Hälfte der Beiträge macht Großbritannien und weitere integrationsfeindliche Länder als „Gegner“ aus. Als Bar-

Getrennt vereint?

159

riere werden in Gegenüberstellung zur eigenen pro-europäischen Position also ausschließlich Integrationsskeptiker identifiziert. Anders als in der FAZ folgen die Leitbilder, die in den analysierten Kommentaren der Süddeutschen Zeitung deutlich werden, mehrheitlich dem zwar integrationsfreundlichen aber nicht genauer bestimmbaren Leitbild der „Kultur der Integration“. Einem Artikel liegt darüber hinaus das Leitbild einer differenzierten Integration zugrunde. Im Vergleich zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung sind die Zielvorstellungen in der SZ damit graduell schwächeren bzw. weniger genau definierten Integrationsbestrebungen verpflichtet. Dennoch lässt sich auch für die Süddeutsche Zeitung festhalten, dass sich die Argumentation auf einem pro-europäischen und die Integration unterstützenden Level bewegt. Genau wie in der FAZ werden Integrationsskeptiker als Gegner angeführt: Jeweils zwei Drittel der Beiträge führen die Europaskepsis der Bevölkerung und Großbritannien bzw. weitere als integrationsfeindlich ausgemachte Länder als Barriere an.

5.2.4.2

Frankreich

Die Leitbilder, die der Argumentation in der französischen eher links-liberalen Zeitung Le Monde zugrunde liegen, stehen vergleichsweise näher am Pol einer schwächeren Integration bzw. der Bewahrung von Nationalstaatlichkeit. Stellt man die Zeiträume darüber hinaus vergleichend gegenüber, zeigt sich, genau wie in der FAZ, eine graduelle Abschwächung des Integrationswillens. Sind die analysierten Kommentare, die während des Untersuchungszeitraums 2001/2002 erschienen sind, ausschließlich den Leitbildern einer „Kultur der Integration“ und einer differenzierten Integration zuzuordnen, so wird im Untersuchungszeitraum 2004 zusätzlich zu diesen Leitbildern in einem Beitrag auch die Zielvorstellung einer Kooperation souveräner Nationalstaaten deutlich. Parallel dazu erscheint in der Mehrzahl der analysierten Kommentare die Stärke Europas als der zentrale Bezugspunkt. Wichtig ist für die Kommentatoren vor allem die Macht Europas als global wettbewerbsfähige Wirtschaftskraft und als globaler politischer Spieler. Als Barriere hierfür werden im zweiten Untersuchungszeitraum, wie schon in der Argumentation der deutschen Zeitungen, Integrationsskeptiker ausgemacht: Großbritannien und weitere integrationsfeindliche Länder werden mehrheitlich als Gegner aufgefasst, ein Text nimmt auf das Problem der Europaskepsis der Bevölkerungen Bezug. Im ersten Untersuchungszeitraum ist die Bestimmung dieser Gegner noch nicht zu finden: 2001/2002 sind es vielmehr Vertreter einer Freihandelszone, die als Barriere ausgemacht werden.

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Der analysierte Kommentar des Figaro ist dem Leitbild einer „Kultur der Integration“ zuzuordnen. Generell wird die Europäische Integration befürwortet, eine genaue Finalitätsvorstellung wird aber nicht deutlich. Die Argumentation in Le Figaro unterscheidet sich in ihren Grundsätzen nicht von der in Le Monde, sie ist aber bezüglich der Leitbildvorstellungen durch eine geringe Differenzierung gekennzeichnet. Auch im Figaro ist ein „europe puissance“ der zentrale Bezugspunkt. Wieder steht die Macht Europas als globaler politischer Spieler und als global fähige Wirtschaftsmacht im Vordergrund.

5.2.4.3

Großbritannien

Im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich sind die der Argumentation zugrunde liegenden Leitbilder in den beiden britischen Zeitungen über die Untersuchungszeiträume hinweg stabil. Mehrheitlich wird in den Kommentaren der Times das Leitbild der Kooperation souveräner Nationalstaaten deutlich. Lediglich ein Beitrag plädiert für eine differenzierte Integration, in einem weiteren Artikel lässt sich das Leitbild einer Föderation von Nationalstaaten erkennen. Der Fokus ist stets auf den eigenen Nationalstaat gerichtet: In allen analysierten Kommentaren stehen die eigenen nationalen Interessen und deren maximale Durchsetzung im Mittelpunkt der Argumentation. Was zählt, ist laut allen Artikeln, die während des Untersuchungszeitraums 2004 erschienen sind, der Einfluss und die Macht Großbritanniens innerhalb der Europäischen Union. Darüber hinaus erscheint einem Drittel der Kommentatoren des ersten und allen Kommentatoren des zweiten Untersuchungszeitraums eine Rückführung von Kompetenzen der Union an die Mitgliedstaaten wünschenswert. In der Mehrzahl wird das Feindbild eines EU-„Superstaates“ aufgebaut, der als Bedrohung für die britische Souveränität empfunden wird. In jeweils einem Text wird deutlich, dass die EU vor allem aus ökonomischer Perspektive, als eine Wirtschaftsunion gedacht wird und dass Föderalismus bzw. Zentralismus abgelehnt werden. Entsprechend dieser auf den Nationalstaat bezogenen und weitgehend integrationsskeptischen Argumentation werden in der Times pro-europäische Politiker als Gegner ausgemacht. Auch in Deutschland und Frankreich als integrationsfreundlichen Ländern, werden Gegner erblickt. Auch die beiden Kommentare des Guardian folgen dem Leitbild einer Kooperation souveräner Nationalstaaten. Der Fokus liegt hier ebenfalls auf einer nationalstaatlichen Perspektive, genau wie in der Times steht die Maximierung der nationalen britischen Interessen Vordergrund.

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Dennoch ist die Argumentation im Guardian europafreundlicher als in der Times. So werden hier vor allem integrationsfeindliche britische Medien und Politiker als Gegner ausgemacht. Auch die Europaskepsis der Bevölkerung wird als Problem angeführt. Wenngleich auch einer der Texte Deutschland und Frankreich als zusätzliche Gegner wahrnimmt, so werden Barrieren doch überwiegend im Inland verortet. Föderalismus bzw. Zentralismus auf europäischer Ebene werden jedoch auch in den Kommentaren des Guardian abgelehnt, angestrebt werden vielmehr eine intergouvernementale Zusammenarbeit und Dezentralisierung. 5.2.5 Nationale Profile: Referenzkollektiv und Abgrenzung 5.2.5.1

Deutschland

Sowohl in der FAZ als auch in der Süddeutschen Zeitung wird auf ein übernational gedachtes europäisches „Wir“ Bezug genommen. In einem Kommentar der FAZ wird darüber hinaus deutlich, dass die europäisch geprägte nationalstaatliche Geschichte als das „Andere“ wahrgenommen wird. Hier wird also weniger in nationalstaatlicher Perspektive gedacht, sondern das europäisch verstandene „wir“ wird in Gegenüberstellung zur Vergangenheit konzipiert. Gleichzeitig wird dieses übernational gefasste „Wir“ aber de facto national vereinnahmt: Das europäische „Wir“ wird in der Debatte ausschließlich entsprechend der eigenen nationalen Traditionen gerahmt. 5.2.5.2

Frankreich

Auch die Argumentation in den Kommentaren der beiden französischen Zeitungen ist der Wir-Bezug überwiegend europäisch gefasst. Als Abgrenzung wird hier allerdings auf die USA als Referenzkollektiv bzw. als das „Andere“ verwiesen. In einem Kommentar von Le Monde zeigt sich ergänzend, dass Europa als „verlängerter Arm“ Frankreichs verstanden wird. Entsprechend wird Deutschland hier als Konkurrenz für Frankreichs Einfluss in Europa verstanden. Genau wie in Deutschland wird das europäische „Wir“ durchgehend entsprechend der nationalstaatlichen Traditionen gerahmt. D.h. auch in der französischen Debatte wird das als europäisch etikettierte „Wir“ de facto national vereinnahmt. 5.2.5.3 Großbritannien Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Argumentation in den Kommentaren der Times in Abgrenzung zur Europäischen Union formuliert wird. In einzelnen

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Kommentaren zeigt sich darüber hinaus, dass Europa als das „Andere“ wahrgenommen wird, während Großbritannien unter Bezugnahme auf den Mythos des „freeborn Englishmen“ in seiner Unabhängigkeit konzipiert wird. Eine Europäisierung der eigenen nationalstaatlichen Identität wird abgelehnt. Eine Abgrenzung von Europa in gleichem Ausmaße wie in der Times findet im Guardian nicht statt. In Deutschland und Frankreich ist somit „Europa“ das Referenzkollektiv der Argumentation, und nicht die jeweilige Nation und ihre Interessen. Die britische Debatte macht dagegen die nationalen Interessen der Engländer zum Bezugspunkt – egal ob dies eine Abgrenzung von Europa und eine Kritik am Verfassungsentwurf impliziert oder ob die britischen Interessen als in Europa aufgehoben betrachtet werden und der Verfassungsentwurf befürwortet wird. Dieses Ergebnis ist allerdings insofern zu relativieren, als die deutschen und französischen Leitbilder „Europa“ in Kategorien nationaler Traditionen und Interessen definieren und sich so auch inhaltlich unterscheiden. Dieser nationale Bias wird in der deutschen und französischen Debatte nicht reflektiert. Diese Ausblendung bietet den diskursstrategischen Vorteil, sich als „Europäer“ in Abgrenzung gegenüber „Antieuropäern“ präsentieren zu können. Sie blockiert aber auch die Auseinandersetzung mit den Begründungszusammenhängen der Anderen.

5.2.6 Zusammenfassender Vergleich Generelles Ziel der empirischen Studie war es, die Reaktionen auf das EUVerfassungsprojekt bzw. den vorgelegten Verfassungsentwurf in den deutschen, französischen und britischen Mediendebatten zu beleuchten. Insgesamt hat sich gezeigt, dass die gewählte Vorgehensweise, d.h. die Analyse von Bewertungen und Leitbildern sowie insbesondere die Rekonstruktion von „Frames“, geeignet ist, um die vielschichtigen Resonanzen in der Debatte herauszuarbeiten. Eine Auswertung der Ergebnisse in ihren qualitativen und quantitativen Ausprägungen ist für die einzelnen Zeitungen und Untersuchungszeiträume bereits im Vorangehenden erfolgt. An dieser Stelle soll nun ein zusammenfassender Vergleich die empirische Studie abrunden. Richtet man den Blick zunächst auf Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Untersuchungszeiträumen, d.h. zwischen der Reaktion auf das EU-Verfassungsprojekt und der Resonanz auf den vorgelegten Verfassungsentwurf, so lassen sich keine grundsätzlichen Veränderungen feststellen. Wer während des ersten Untersuchungszeitraums im Wesentlichen integrationsfreundlich argumentiert hat, tut das auch während des zweiten Untersuchungszeitraums (z.B. FAZ) und wer schon das EU-Verfassungsprojekt eher abgelehnt

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hat, beurteilt entsprechend meist auch den vorgelegten Entwurf negativ (z.B. Times). Dennoch lassen sich gewisse Unterschiede feststellen: So ist die Argumentation während des späteren Zeitraums insgesamt differenzierter und genauer geworden. Außerdem lässt sich in Bezug auf die Leitbilder sowohl in Deutschland als auch in Frankreich eine Abschwächung des Integrationswillens bzw. zumindest eine weniger genaue Bestimmung der Zielvorstellungen erkennen. Diese Verschiebung ist allerdings, wie bereits beschrieben, eher gradueller denn prinzipieller Art. Anzumerken bleibt schließlich, dass sich solch ein Vergleich zwischen den Untersuchungszeiträumen nur auf jeweils eine Zeitung pro Land beziehen kann, auf die FAZ, Le Monde, und die Times, da in den anderen drei Zeitungen während des ersten Zeitraums keine relevanten Kommentare erschienen sind. Weiterhin war die Anzahl der untersuchten Artikel während des zweiten Untersuchungszeitraums generell größer als während des ersten. Die Auswahl von je einer eher liberal-konservativen und einer eher linksliberalen Zeitung pro Land sollte außerdem eine staatenübergreifende Vergleichsmöglichkeit innerhalb bzw. zwischen den Zeitungsgruppen ermöglichen. Wesentliche Gemeinsamkeiten, so lässt sich zusammenfassend festhalten, haben sich dabei im Rahmen der jeweiligen Milieus nicht gezeigt: Die Argumentation von FAZ, Figaro und Times ist eher durch Unterschiede denn durch Gemeinsamkeiten geprägt, gleiches lässt sich über die Argumentation von Süddeutscher Zeitung, Le Monde und Guardian sagen. Die folgenden Beispiele stehen für viele: Während die Süddeutsche Zeitung einer Europäischen Verfassung generell großen Eigenwert zuschreibt, spricht ihr die Zeitung Le Monde eher nur geringe Bedeutung zu. Steht das Streben nach der Maximierung der eigenen nationalen Interessen laut der Argumentation der Times im Vordergrund, so wird genau solch eine Dominanz nationaler Interessen in der FAZ als Problem identifiziert und negativ bewertet. Und sind die Zielvorstellungen in der SZ im Vergleich zur FAZ graduell schwächeren bzw. weniger genau definierten Integrationsbestrebungen verpflichtet, so ist das Verhältnis bei den britischen Zeitungen genau umgekehrt: Hier zeichnet sich der eher links-liberale Guardian durch eine tendenziell europafreundlichere Berichterstattung aus, als die eher liberal-konservative Times. Charakteristische Divergenzen und Gemeinsamkeiten sind vielmehr entlang nationaler Konfliktlinien auszumachen. Zwar gibt es auch hier gewisse Abweichungen zwischen den beiden untersuchten Zeitungen eines Landes, doch beziehen sie sich meist nicht auf die Grundzüge der jeweiligen Debatte. Solche Abweichungen finden sich etwa in den Schlussfolgerungen der deutschen Zeitungen in Bezug auf den vorgelegten Verfassungsentwurf: Die Wahrnehmung des Entwurfs als Kompromiss führt in den Kommentaren der FAZ zur Ablehnung, in der Süddeutschen Zeitung dagegen wird der Entwurf trotz seiner Mängel als das

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Beste, was in der Europäischen Wirklichkeit zu erreichen ist, dargestellt. Gleichwohl ist der Betrachtungswinkel auf den Entwurf als einem mangelhaften Kompromiss in beiden Zeitungen der gleiche. Ein weiteres Beispiel liefern die beiden britischen Zeitungen, in denen die vergleichsweise europafreundlichere Argumentation des Guardian der europaskeptischen der Times gegenübersteht. Doch auch hier sind die inländischen Diskrepanzen beschränkt: Trotz der tendenziell europafreundlicheren Darstellung des Guardian bleibt er, genau wie die Times, dem Leitbild einer Kooperation souveräner Nationalstaaten verpflichtet. In ihren Grundzügen sind die jeweiligen nationalen Reaktionen von Übereinstimmung geprägt. Gleichzeitig ergeben sich gewisse Überschneidungen zwischen den Nationalstaaten: So wird in allen drei Ländern auf ein Demokratiedefizit der Europäischen Union verwiesen. Deutsche und Französische Zeitungen machen gleichermaßen andere integrationsfeindliche Länder, insbesondere Großbritannien, als Gegner aus und verweisen auf das Problem konfligierender nationaler Interessen. Allerdings ist hier anzumerken, dass solche länderübergreifenden Gemeinsamkeiten auf einzelne wenige Argumente und Problemdefinitionen beschränkt bleiben. Außerdem sind solche Übereinstimmungen häufiger zwischen der deutschen und französischen Argumentation, weniger mit der britischen, zu finden. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Trennlinien der Debatte, mit wenigen Ausnahmen, zwischen den einzelnen Nationalstaaten verlaufen. Die Argumentation innerhalb der nationalen Debatten präsentiert sich dagegen, mit gewissen Einschränkungen vor allem bei den britischen Medien, unabhängig von der politischen Ausrichtung der Zeitungen, relativ einheitlich. Gleichzeitig reflektieren die nationalen Debatten die jeweiligen nationalstaatlichen Traditionen und Paradigmen.

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Ergebnisse im Hinblick auf die Ausgangshypothesen

Zu Beginn der Arbeit wurde die Ausgangsvermutung geäußert, dass die Reaktionen auf den Impuls des EU-Verfassungsprojekts und des vorgelegten EUVerfassungsentwurfs in den Debatten national bzw. durch nationale Traditionen geprägt sind. Um diese Hypothese überprüfen zu können, sind der empirischen Analyse, die die Verarbeitung des EU-Verfassungsimpulses in den nationalen Mediendebatten untersucht hat, Skizzen zu den jeweiligen nationalen Traditionen vorangestellt worden. Diese Skizzen bezogen sich auf die nationalen Verfassungstraditionen, auf die Bedeutung Europas für die nationalstaatliche Identität sowie auf europapolitische Traditionen im Sinne von Leitbildern für Europa.

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Mit Blick auf die jeweiligen Charakteristika, die in den Skizzen nationaler Traditionen herausgearbeitet wurden, kann schließlich festgehalten werden, dass die Ergebnisse der empirischen Analyse die Ausgangsvermutung bestätigen: Die Reaktionen in den nationalen Mediendebatten sind national bzw. durch nationale Traditionen geprägt. Eine Gegenüberstellung zentraler Aspekte nationaler Traditionen einerseits und Reaktionen auf den EU-Verfassungsimpuls in den nationalen Mediendebatten andererseits, macht dies noch einmal deutlich: a) Deutschland Auf der Seite nationaler Verfassungstraditionen stehen in Deutschland ein werthaftes Verfassungsverständnis, eine Verfassungssouveränität und ein Bundesverfassungsgericht mit im internationalen Vergleich starken Kompetenzen. Die Verfassung erfüllt hier als identitäts- und integrationsstiftende Institution auch symbolische Funktion. Auf der Seite der EU-Verfassungsdebatte hat sich entsprechend gezeigt, dass einer EU-Verfassung an sich große Bedeutung bzw. großer Eigenwert zugesprochen wird, sie sollte neben instrumentellen Funktionen auch integrations- und identitätsstiftende Wirkung besitzen. Eine EU-Verfassung wird als Souverän gefasst und sollte Legitimität an sich besitzen. Die konkreten Bestimmungen des Verfassungsentwurfs werden an diesem Konzept gemessen. Die nationalstaatliche Identität wird in Deutschland traditionell europäisch definiert, „das Andere“ wird in der eigenen Nationalgeschichte verortet. In der EU-Verfassungsdebatte wird ebenfalls ein europäisch verstandenes „wir“ in Gegenüberstellung zur Vergangenheit konzipiert. Diese europäisierte nationale Identität machte Deutschland zu einem der stärksten Unterstützerländer des europäischen Einigungsprozesses und erklärt die Ausrichtung auf das bundesstaatliche Leitbild bzw. seit den 1990er Jahren die an einer Verzahnung von nationaler Souveränität und supranationaler Integration orientierte Vorstellung. Auch in der Verfassungsdebatte kommen diese Orientierungsmuster zum Tragen: die Abgrenzung von der nationalstaatlichen Vergangenheit und die generelle Unterstützung der Vertiefung der Union. Im Zeitverlauf tritt dabei das bundesstaatliche Leitbild gegenüber dem Ziel einer Föderation und einer „Kultur der Integration“ zurück. b) Frankreich Die nationale Verfassungstradition steht hier im Zeichen der Französischen Revolution mit der Nation „als pouvoir constituant“. Die Verfassung wird traditionell gegenüber Staat und Nation abgewertet, im politischen Leben haben die Verfassungen meist nur geringe Bedeutung erlangt. Das Verfassungsverständnis ist instrumentell modelliert. Die französische EU-Verfassungsdebatte zeigt entsprechend, dass eine EU-Verfassung rein instrumentelle Funktionen erfüllen

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sollte, dass ihr „an sich“ nur geringe Bedeutung zugemessen wird. Zentraler Bezugspunkt ist hier vielmehr ein politisch und wirtschaftlich starkes und handlungsfähiges Europa. Deutlich wird auch, dass die Legitimität und Repräsentativität des Konvents als wichtig eingestuft wird. Die nationalstaatliche Identität steht in Frankreich traditionell im Zeichen der „grande nation“, die Vision des französischen „grandeur“ ist zunehmend auf Europa ausgeweitet worden. Auch in der Reaktion auf den EU-Verfassungsimpuls wird Europa als „verlängerter Arm“ Frankreichs konzipiert. Bezüglich der europapolitischen Traditionen lässt sich eine Spannung zwischen der Scheu vor Selbsteinbindung einerseits und an Sicherheit vor Deutschland orientierter Bereitschaft zur Integration andererseits beobachten. Bevorzugt wird überwiegend ein intergouvernementales Modell. Dazu kommt ein EuropaDenken, das Europa als autonomen Akteur der Weltpolitik unter französischer Führung fasst und Frankreich so weiterhin eine Weltmachtstellung sichert. Die Leitbilder in der EU-Verfassungsdebatte liegen entsprechend näher am Pol einer schwächeren Integration, Deutschland wird als Konkurrenz für Frankreichs Einfluss in Europa wahrgenommen, wichtig erscheint vor allem die politische und wirtschaftliche Macht Europas in der Welt. c) Großbritannien In Großbritannien zeichnet sich die Verfassungstradition durch das Fehlen einer einheitlich kodifizierten Verfassung, durch die Fokussierung auf das, was die Verfassung festlegt sowie durch ihren politischen Charakter aus. Wichtigste textliche Quelle des britischen Verfassungsrechts sind heute Parlamentsgesetze, die sich auf die Regelung der Machtverteilung beziehen, es gibt keine Normenhierarchie die den Vorrang der Verfassung vor anderen Gesetzen sichert. Ergänzend ist das Fehlen eines Verfassungsgerichts im bundesrepublikanischen Sinn sowie eines Grundrechtekatalogs bis 1998 zu nennen. Die britische Debatte zeigt entsprechend, dass vor allem der Inhalt der EU-Verfassung als wichtig erachtet wird, dass sie ein politisches nicht ein rechtliches Dokument sein sollte, das vor allem die Kompetenzverteilung regelt. Ein gesondertes Verfassungsrecht, das den Vorrang der EU-Verfassung vor anderen Gesetzen sichern würde, eine Rolle des EuGH als Verfassungsgericht sowie die Aufnahme eines Grundrechtekatalogs wird abgelehnt. Für die britische nationalstaatliche Identität gilt traditionell eine Formulierung in Abgrenzung zu Europa – genau dies zeigt sich auch in der Reaktion auf den EU-Verfassungsimpuls. Die europapolitischen Traditionen schließlich stehen im Zeichen des Leitbilds einer Kooperation souveräner Nationalstaaten: Es geht Großbritannien um den Erhalt nationaler Souveränität, nicht um Integration. Im Vordergrund steht

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dabei traditionell die Maximierung des nationalen britischen Interesses. Auch die Reaktion in der EU-Verfassungsdebatte bleibt im Rahmen dieses Paradigmas: Mehrheitlich wird das Leitbild der Kooperation souveräner Nationalstaaten vertreten, im Mittelpunkt der Argumentation steht die maximale Durchsetzung britischer Interessen, deutlich wird darüber hinaus das Feindbild eines „EUSuperstaates“. Die Gegenüberstellungen zeigen deutlich, dass die jeweilige nationale Resonanz auf das Projekt einer Europäischen Verfassung bzw. auf den vorgelegten EU-Verfassungsentwurf entsprechend der jeweiligen nationalen Tradition gestaltet ist. Zugleich konnte keine Reflexion dieser nationalen Konfliktlinien ausgemacht werden. Nationale Denkweisen prägen die Debatte auf selbstverständliche Weise. Das heißt in der Konsequenz, dass im Sinne der „Logic of appropriateness“, die zu Beginn im Rahmen des „Europäisierungskonzeptes“ vorgestellt wurde, kein Lernprozess stattgefunden hat. Auf der Ebene des „Framings“ der EU-Verfassung in den nationalen Mediendebatten ist eine Harmonisierung hin zu europäischen Bedeutungsstrukturen, Normen oder Regeln nicht zu erkennen. Vielmehr zeichnen die national unterschiedlichen Traditionen, Identitäten, Werte usw. bestimmte „Pfadabhängigkeiten“ (vgl. Schultze 2002: 643) vor: Der Bedeutungszusammenhang, in den die EU-Verfassung gestellt wird, die jeweiligen Deutungsrahmen, Ordnungsschemas, Betrachtungswinkel und auch die Leitbilder, die in den Mediendebatten deutlich werden, stehen in der Kontinuitätslinie nationaler Traditionen und sind durch nationale Normen geprägt. Dies erklärt auch, warum die Trennlinien der Mediendebatte um die Europäische Verfassung vor allem zwischen den Nationalstaaten verlaufen, während sich die Argumentation innerhalb der nationalen Debatten – mit gewissen Einschränkungen vor allem bei den britischen Medien – unabhängig von der politischen Ausrichtung der Zeitungen relativ einheitlich präsentiert. Dabei sind die wenigen länderübergreifenden Gemeinsamkeiten, die in der empirischen Analyse identifiziert wurden, ebenfalls durch die jeweiligen nationalen Traditionen vorgezeichnet. In Erweiterung der generellen Ausgangshypothese wurde zu Beginn der Arbeit außerdem vermutet, dass in den Debatten Kontinuität bezüglich des Nationalen angestrebt wird und die Beurteilung der Relevanz der EU-Verfassung dann nicht zuletzt vor diesem Hintergrund erfolgt. Auch diese Ausgangsvermutung lässt sich bestätigen: Das EU-Verfassungsprojekt bzw. der Verfassungsentwurf werden meist dann positiv bewertet, wenn eine gewisse Übereinstimmung mit nationalen Traditionen gegeben ist. So sollte eine EU-Verfassung aus der Perspektive der französischen Debatte analog der nationalen Verfassungstradition rein instrumentelle Funktionen erfüllen und ein Ordnungsstatut sein – ent-

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sprechend wird der Verfassungsentwurf positiv beurteilt. Ganz anders in der deutschen Debatte: Hier werden Projekt und Entwurf mit dem Verweis, sie gingen nicht weit genug, erfüllten z.B. keine symbolische Funktion, negativ bewertet. Eine solche symbolische Funktion der Verfassung ist in der Bundesrepublik gegeben – die Ablehnung des EU-Verfassungsentwurfs erfolgt also nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines Mangels an Übereinstimmung oder Kontinuität bezüglich des Nationalen. Schließlich wird der Entwurf auch in der Perspektive der britischen Debatte genau dann abgelehnt, wenn die nationale Kontinuität nicht gehalten werden könnte, d.h. hier, wenn die Wahrung der Parlamentssouveränität in Gefahr geriete. In Ansätzen werden dabei zwei verschiedene Mechanismen des Kontinuitätserhalts deutlich: Während sich im Falle der britischen Debatte eher eine „Abschirmung“ der nationalen Traditionen zeigt, wird in der französischen und deutschen Debatte eher ein „Export“ oder ein „upload“ der eigenen Traditionen angestrebt. Lässt sich daraus nicht diskursanalytisch folgern, dass die Bezugnahme auf „Europa“ als dem „Wir“, das in der deutschen und französischen Debatte deutlich wurde, weniger eine die nationale Identität transzendierende „europäische Identität“ zum Ausdruck bringt, als eine auf Hegemonie gerichtete Diskursstrategie, die Europa zu nationalisieren trachtet? Anzumerken gilt es abschließend jedenfalls, dass sich die drei großen Länder der EU nicht gegenseitig als Diskursteilnehmer wahrnehmen – schon gar nicht als gleichberechtigte, dass sie nicht voneinander lernen, dass sie nicht einmal lernen das eigene Denken als spezifisch und partikular zu verstehen und zu relativieren. Das Entstehen eines Bewusstseins für innereuropäische Konflikte, seien sie latent oder offen, wird damit blockiert. Die Antwort auf die Frage nach der Formierung einer demokratischen europäischen Öffentlichkeit, deren Voraussetzungen in der Offenheit der Debatten und ihrer Verflochtenheit gesehen werden (vgl. Eder 2003: 90ff.), ist in der Folge negativ zu fassen: Eine Europäisierung des Ereignisses und eine Überlappung der EU-Verfassungsdiskurse scheint nicht gegeben. 7

Ausblick: Der EU-Verfassungsvertrag – ein brüchiger Formelkompromiss?

Wie diese Arbeit gezeigt hat, würde eine mögliche Einigung auf eine EUVerfassung nicht bedeuten, dass in den Mitgliedsländern jeweils dasselbe von dieser Verfassung erwartet würde – zumindest nicht auf der Ebene der nationalen Mediendebatten. Während etwa eine EU-Verfassung in Großbritannien, wenn überhaupt, als Festschreibung von Kompetenzen im Sinne einer Begrenzung weiterer Integrationsschritte befürwortet würde, würde sie in Deutschland gerade

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die Weiterführung des Integrationsprojektes symbolisieren. Das jeweilige Verfassungsverständnis und die Bedeutung, die einer EU-Verfassung zugeschrieben wird, sind national unterschiedlich. Der „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ stellt insofern einen dünnen „Formelkompromiss“ (vgl. Schwellnus 2005: 335) dar. Solch ein ausgehandelter Formelkompromiss enthält zwar eine gewisse Schnittmenge überlappender Ideen und Bedeutungen, aber diese sind nicht deckungsgleich. Ein Formelkompromiss kann also einerseits eine Brücke sein, zwischen den nationalen Bedeutungszuschreibungen und Erwartungen, gleichzeitig ist er aber andererseits auch anfällig für national unterschiedliche Interpretationen: Die Deutungen, die in ihn hineingelesen werden, können sehr unterschiedlich sein. Damit sind konfliktive Wirkungen möglich, weil die Differenzen in den nationalen Bedeutungszuschreibungen nur zugedeckt, nicht gelöst werden. Sollte also eine Einigung auf den Formelkompromiss des EU-Verfassungsvertrags erfolgen – und sei es auch in Form eines „Reformvertrags“ – könnten die nationalen Differenzen mittel- und längerfristig Deutungskonflikte begründen. So bleibt die Frage offen, ob der EU-Verfassungsvertrag als Formelkompromiss eine Brücke zwischen den nationalen Erwartungen und Verständnissen sein kann, oder ob er sich als brüchig erweist. Literatur Abromeit, Heidrun (1995): Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns. In: Politische Vierteljahresschrift (PVS) 36/1, 49-65. Axt, Heinz-Jürgen (1999): Frankreich in der Europäischen Union. In: Kimmel, A./Uterwedde, H. (Hrsg.): Länderbericht Frankreich. Wiesbaden, 465-483. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1999): Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie. München. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2006): Recht, Staat, Freiheit. Frankfurt/Main. Bonfadelli, Heinz (2002): Medieninhaltsforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. Konstanz. Börzel, Tanja A./Risse, Thomas (2000): When Europe Hits Home: Europeanization and Domestic Change. In: European Integration online Papers (EIoP) Vol.4. Breuer, Stefan (1998): Der Staat: Entstehung, Typen, Organisationsstadien. Reinbeck bei Hamburg. Chirac, Jacques (2001 [2000]): Unser Europa, Rede des französischen Staatspräsidenten vor dem deutschen Bundestag am 27. Juni 2000. In: Marhold, Hartmut (Hrsg.): Die neue Europadebatte. Bonn, 284-294. Dahinden, Urs (2006): Framing. Konstanz. Dicey, Albert Venn (1967 [1885]): An Introduction to the Study of the Law of the Constitution. London.

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„Europa“ als Gegenstand nationaler Mobilisierung und Demobilisierung – Der Brüsseler Gipfel 2007 zum „Reformvertrag“ in der deutschen, französischen, britischen und polnischen Presse Melanie Tatur „Europa“ als Gegenstand nationaler Mobilisierung und Demobilisierung

Das „europäische Ereignis“, dessen mediale Verarbeitung Gegenstand dieser Analyse ist, war von Anfang an kontrovers. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Vereinbarung über den „Verfassungsvertrag“ von 2004 kein Kompromiss über die Finalität europäischer Integration und Status und Bedeutung der europäischen Verfassung gewesen war. Sie stellte vielmehr einen Formelkompromiss dar, dessen Inhalt im Kontext nationaler Debatten unterschiedlich begriffen wurde.1 Ähnliches gilt für die gescheiterte Ratifizierung des Vertrages durch die Referenden in Frankreich und den Niederlanden und die danach einsetzenden Konflikte um die Reaktivierung des Vertragwerkes.2 Meine Frage lautet daher: Inwieweit lassen die medialen Verarbeitungen der Konflikte im Vorfeld des Brüsseler Gipfels in den drei großen Mitgliedsstaaten der EU und in Polen als Merkmale einer „Europäisierung“ nationaler Öffentlichkeiten erkennen bzw. inwieweit sind sie als Ausdruck „nationaler Mobilisierungen“ zu verstehen? Der Medientextanalyse geht (1) eine Skizze der Ereignisse im Vorfeld des Gipfels um den „Reformvertrag“ voraus. Die vergleichende Medientextanalyse fragt dann (2) nach der Sichtbarmachung der Akteure und ihren Positionierungen (3) nach Thematisierungen und Deutungsrahmen der Darstellung der Ereignisse und (4) nach dem Umfang transnationaler kommunikativer Interaktion. Verglichen werden zunächst die Ergebnisse für die drei großen Mitgliedstaaten. Vor 1 2

vgl. Claudia Butter in diesem Band. Für die Minderheitsfraktion war der Verfassungsvertrag mit den verlorenen Referenden gescheitert, der Ratifizierungsprozess beendet, und eine Neuverhandlung zwingend. Die Mehrheitsfraktion unter Führung Deutschlands – und unterstützt von der französischen Regierung – wollte den Ratifizierungsprozess fortsetzen, und warf die „18 Staaten, die bereits ratifiziert haben“ gegen die Verweigerer in die Waagschale. Diese Rhetorik verfolgte eine Argumentationsstrategie, die rechtlich nicht gedeckt war, durch die es aber gelang, die „Verweigerer“ zu politisch marginalisieren und unter Druck zu setzen. Das Muster wurde nach der „Denkpause“ wieder aufgegriffen.

174

Melanie Tatur

diesem Hintergrund werden dann (5) die Besonderheiten der medialen Darstellung in der polnischen Presse betrachtet. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen fragen, was die Ergebnisse über Öffentlichkeit in Europa aussagen, welche Fragen sie für die Konzeptualisierung von „Europäisierung“ nationaler Öffentlichkeiten aufwerfen, und was die Fallstudie in Hinblick auf die Frage aussagt, ob wir es bei der medialen Verarbeitung der Konflikte im Vorfeld des Gipfels mit einem Beispiel „europäisierter“ Öffentlichkeiten oder mit „nationalen Mobilisierungsstrategien“ zu tun haben. Der Textkorpus der Fallstudie basiert auf den Internetausgaben von 9 Zeitungen aus fünf Ländern. Als „Teilnehmer“ der Europa-politischen Debatte wurden Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Polen mit zwei Zeitungen pro Land berücksichtigt, die sich dem jeweiligen „rechten“ und „linken“ Lager zuordnen lassen: die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die Frankfurter Rundschau (FR) aus Deutschland, die Times und The Guardian auf Großbritannien, der Figaro und Libération aus Frankreich, Rzeczpospolita (RZ) und Gazeta Wyborcza (WG) aus Polen. Als „Beobachter“ wurde die Neue Züricher Zeitung (NZZ) aus der Schweiz aufgenommen. Der Textkorpus soll die Mediendebatten bis zum Beginn des Gipfels repräsentieren. Er umfasst alle Berichte und Kommentare, die am 21., 22. und 23 Juni3 über die Internetportale der Zeitungen zum Thema des Gipfels abrufbar und bis zum 21.6. erschienen waren. Nur im Falle der FR mussten die Texte nach hinten bis zum Erscheinungsdatum 13. Juni eingegrenzt werden. Mit Ausnahme einen Textes der Libération vom Mai 2007, der Teil des vergleichsweise geringen Textmaterials war, blieben die Texte damit im gleichen Zeitrahmen (13.-21.6.). Bei der NZZ wurde die gedruckte Fassung vom 13.-21.Juni zugrunde gelegt.

1

Hintergrundinformationen zum Verlauf der „Ereignisse“

Die eineinhalbjährige „Denkpause“ zum Verfassungsvertrag wurde durch die deutsche Präsidentschaft im Frühjahr 2007 beendet. In einem Brief an die Regierungen der Mitgliedsstaaten stellte Angela Merkel einen „Kompromiss“ in Aussicht, der darin bestehen sollte, dass die „rechtliche Substanz“ des durch die Referenden gestoppten Vertragswerkes bewahrt, aber in einer Weise präsentiert werden sollte, dass das in verschiedene Gesetze zersplitterte Werk – in seiner Bedeutung von der Öffentlichkeit unbemerkt – durch die Parlamente ratifiziert werden konnten. Dieser Deal war im Umkreis der französischen Regierung ent3

Alle Zeitungen wurden an allen drei Tagen abberufen.

„Europa“ als Gegenstand nationaler Mobilisierung und Demobilisierung

175

standen und entsprach deren Interesse, das Land ohne das Risiko eines neuen Widerspruchs der „Bevölkerung“ ins Zentrum europäischer Macht zurückzuführen. Der „tiefe Zynismus“ (Owen) dieses Vorschlages wurde von Experten kritisiert, fand aber keine breitere Resonanz. Letzteres galt auch für die zweiseitigen Verhandlungen, in denen die deutsche Ratspräsidentschaft die Positionen der Mitgliedsländer auslotete. Breite Medienresonanz gewann der Konflikt um den Reformvertrag erst im Vorfeld des Gipfels vom 21./22. Juni 2007. Die deutsche Ratspräsidentschaft verschickte am 14.6. einen „Bericht“ zum Stand des „Prozesses der Reform des Vertrages“ an die europäischen Regierungen und präsentierte dessen Essenz am selben Tag vor dem Bundestag. Der „Bericht“4 beinhaltete den Zeitplan für vorbereitende Treffen und die Aufgabenstellung des Gipfels, der ein umfassendes und eindeutiges Mandat für eine Regierungskonferenz formulieren sollte. Dies sollte ermöglichen, dass die Reform bis zu den Wahlen des Europaparlamentes 2009 abgeschlossen und rechtskräftig war. Inhaltlich enthielt der „Bericht“ den Deal, d.h. die Präsentation eines „Kompromisses“ derart, dass die „Substanz“ des vereinbarten Verfassungsvertrages erhalten zugleich aber einen Verzicht auf alle „Symbolik“ beinhalten sollte, die den Eindruck erwecken könnte, dass die „nature of the Union is undergoing radical change“. Als „generally recognised“ stellte der Text die Einführung des 2004 vereinbarten „set of institutional reforms“ dar. Als strittige Punkte wurden erwähnt: die Kompetenzabgrenzung zwischen nationaler und europäischer Ebene, die „weitere Aufwertung“ der Rolle der nationalen Parlamente, die Einbeziehung der Grundrechtscharta in den Vertragstext. Auch die polnische Forderung nach Aufnahme der „Energiesicherheit“ und „Klimawandel“ als Gegenstand europäischer Politik fand Erwähnung. Die der deutschen Seite bekannte polnische Zentralforderung nach einer Modifikation der Stimmengewichtung im Rat wurde nicht erwähnt. Der „Bericht“ umschrieb die Konfliktfronten vage mit den „18 Staaten, die den Vertrag ratifiziert haben“ einerseits und „einigen Staaten“ bzw. „einzelnen Delegationen“ andererseits. Die Präsentation des Zeitplans vor dem deutschen Bundestag bezog sich auf der Kern des Deals und machte ihn zugleich zur Rechtfertigung von „Kompromiss“ und Zeitplan: „... wir wollen die die Substanz des Vertrages erhalten, ohne die Bürgerinnen und Bürger zu überfordern.“5 4 5

Report From the Presidency to the European Council Pursuing the Treaty Reform Process (Full text: Merkel’s blueprint for Europe), http://www.timesonline.co.uk abberufen am 23.6.2007. „Der zu verabschiedende Fahrplan soll deshalb den Vorschlag enthalten, die notwendige Reform durch einen sogenannten Änderungsvertrag zu unternehmen – dies ist ein Rechtsinstrument, das uns in Europa seit Maastricht, Amsterdam und Nizza vertraut ist –: ein Reformvertrag in Gestalt eines Änderungsvertrages einerseits und damit die Möglichkeit für die notwendige Handlungsfähigkeit der Europäischen Union andererseits. Dabei wollen wir die Fort-

176

Melanie Tatur

Konfliktpunkte und Konfliktfronten waren dem Ratsvorsitz auf Grundlage der brieflichen Umfrage und bilateraler Verhandlungen bekannt. Auch Experten überblickten die Konfliktkonstellation, wie Berichte der Times vom 14. und 15.6. deutlich machen. Die Dramaturgie der Ratspräsidentin – und Führerin der Mehrheitsfraktion – zielte nicht auf solche Transparenz. Im Mittelpunkt stand der unumstößliche „Zeitplan“ und die „Notwendigkeit“ einer Rettung der „Substanz“ des Verfassungsvertrages. Das “polnische Problem” zeichnete sich schon vor Beginn der Verhandlungen ab. Dieses bestand darin, dass die polnische Regierung mit der Forderung nach einer Neuverhandlung der Stimmengewichtung (Quadratwurzelmodell) den Kompromiss zur Institutionenreform von 2004 zur Disposition stellen, und die Ratspräsidentschaft dies um jeden Preis verhindern wollte. Von Seiten der Ratspräsidentschaft und der Mehrheit der Mitgliedsstaaten wurde mit der „Büchse der Pandora“ argumentiert. Offensichtlich ist aber auch, dass die Regelung von 2004 – anders als die des Vertrags von Nizza – deutschen Interessen entgegen kam. Die polnische Seite argumentierte auf der Basis des rechtskräftigen Nizza Vertrages und nicht auf der des 2004 vereinbarten aber nicht rechtskräftigen Verfassungsvertrages. Mit dieser Strategie blieb sie allein. Inhaltlich ging es ihr darum, die Zunahme des deutschen Einflusses zu beschränken. Das „polnische Problem“ hatte schon vor dem 14.6. zu Interventionen geführt. Im unmittelbaren Vorfeld des Gipfels, am 14.6., besuchte der französischer Präsident Sarkozy die polnische Führung in Warschau, und zwei Tage später besuchte diese die deutsche Regierung – ohne eindeutige Ergebnisse. Die polnische Position wurde durch das Treffen der Visegrad-Staaten insofern geschwächt, als sich hier herausstellte, dass nur Tschechien die polnische Position – und auch nur in begrenztem Umfang – unterstützte. Die Außenministerkonferenz am 18.6. machte die nationalen Positionierungen öffentlich. Einen Eklat bedeutete der Widerspruch der britischen Außenministerin Margaret Beckett gegen die Kompetenzen des die Funktionen eines „europäischen Außenministers“ übernehmenden Außenbeauftragten. Die britischen Medien notierten den „Schock“ der britischen Delegation über die Ansinnen der Ratsvorsitzenden auf Titel aber nicht die Kompetenzen des europäischen Außenministers zu verzichten. Beckett kritisierte die Unklarheit über detaillierte Vorschläge der Ratspräsidentschaft als schlechte Vorbereitung des Gipfels. Die Mehrheitsfraktion der Mitgliedstaaten zeigte sich „schockiert“ über das Ansinnen der Briten, nicht nur die Bezeichnung des Außenministers sondern auch dessen Kompetenzen herunterzustufen. Die spanische Regierung reagierte mit schritte aus dem ursprünglichen Verfassungsvertrag in diesen Reformvertrag überführen und in Kraft treten lassen. Das heißt, wir wollen die Substanz des Vertrages erhalten, ohne die Bürgerinnen und Bürger zu überfordern.“ S.10569, Plenarprotokoll 16/103.

„Europa“ als Gegenstand nationaler Mobilisierung und Demobilisierung

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einer Vetodrohung und es kam zu einem spanisch-französischen „Schulterschluss“. Diese Entwicklung führte im Kontext der britischen innenpolitischen Konflikte dazu, dass Blair die „vier roten Linien“ formulierte, bei deren Überschreitung er den Verhandlungstisch verlassen werde. Die Positionen der „roten Linien“ waren nicht neu und die Erklärung war als innenpolitisches Signal zu verstehen. Am 19.6. kam es zu einer Telefonkonferenz von Sarkozy mit Blair und Brown, auf der die „4 roten Linien“ und die damit gemeinte Veto Drohung von britischer Seite bekräftigt wurde. Das so inszenierte „britische Problem“ unterschied sich in verschiedenen Hinsicht vom „polnischen“: „Opt-out“ Lösungen waren von Anfang an im Gespräch, sodass das „britische Problem“ von der Mehrheitsfraktion nicht als Gefährdung des Reformplans betrachtet wurde. Zudem erschienen die Reaktionen der Briten als transparent und nachvollziehbar, während die Polen den Eindruck erweckten, die Konventionen der europäischen Machtspiele nicht zu kennen.6 Andererseits ging es bei der polnischen Forderung nach einer Reduzierung des deutschen Stimmengewichts „nur“ um Machtprobleme.7 während die britischen Forderungen den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit der Union betrafen. Inhaltliche Forderungen stellten außerdem die Tschechen (Kompetenzabgrenzung der Ebenen) und die Niederländer („rote Karte“ für die nationalen Parlamente gegen Gesetzesinitiativen der Kommission). Am 20.6. legte der Ratsvorsitz eine Beschlussvorlage für das Mandat des Gipfels an die Regierungskonferenz vor. Der Mandatsentwurf8 schlug zwei Verträge und eine Deklaration vor, die als „Reformvertrag“ den Verfassungsvertrag ersetzen sollten. Der „nicht konstitutionelle Charakter“ des Vertragswerkes kam laut Mandatsentwurf darin zum Ausdruck, dass keine auf eine Verfassung verweisende Terminologie benutzt werde und diejenigen Artikel nicht aufgenommen würden, welche die Symbole der EU betrafen. In einem weiteren Absatz wurde auf Modifikationen verwiesen, die sich aus den Konsultationen der vergangenen sechs Monate ergeben hätten und dabei die Kompetenzabgrenzungen, die Natur der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die Rolle der Parlamente, die Behandlung der Grundrechtscharta und Mechanismen betrafen, die ein opt-out im Bereich der polizeilichen und rechtlichen Kooperation ermöglichten, erwähnt. 6 7

8

Die Times vom 21.6. zitiert einen deutschen Diplomaten: „The Poles they are something else. I am not sure they understand the game at all“. Ein Rückblick auf die Geschehnisse und die “Coulisses de Bruxelles” von Jean Quatremer (Libération 23.6.2007) verweist auf französische Stimmen, die darauf verwiesen haben, dass die polnischen Vorschläge „ne sont pas idiotes“ und dass er sich gewundert habe, welche Unterstützung die polnischen Forderungen in den Brüsseler Couloirs erhalten hätten, selbst wenn alle gesagt hätten, es sei „zu spät“. Er selber habe sich gefragt, warum man nicht mit demselben Argument den sehr viel weiter gehenden britischen Forderungen widersprochen habe. Draft of the Mandate SN 3116/2/07 Rev 2.

178

Melanie Tatur

D.h. die Forderungen der Briten, Tschechen, Niederländer aber nicht die polnischen standen zur Debatte. Der Entwurf führte dann die Punkte im einzelnen aus, und erwähnt den polnisch-tschechischen Vorschlag in einer Fußnote. Der „Bericht“, die Erklärung vor dem deutschen Bundestag und der Text der Mandatsvorlage erklärten die Absicht, den Vertrag in einer Weise zu maskieren, dass das Vertragspaket von den Parlamenten ratifiziert werden konnte ohne dass seine Bedeutung transparent würde. Die nicht kaschierte Absicht, die Bürger zu täuschen, rekurrierte auf deren wohlverstandene Interessen, nämlich darauf, „nicht überfordert“ zu werden. Die diskursive Legitimationsstrategie der Ratsvorsitzenden, der Kommission und verschiedener Vertreter der Mehrheitsfraktion betonte zum einen das Gewicht der „18 Staaten, die den Vertrag schon ratifiziert hatten“ und zum anderen die „Handlungsfähigkeit“ der EU, in deren Namen eine Ratifizierung der „Substanz“ des Vertrages bis zu den Wahlen 2009 unverzichtbar sei. Auf die Agenda wurde nicht die Reform und ihre Legitimation sondern der „Zeitplan“ und die Durchsetzung des Deals als „Kompromiss“ gesetzt. Die Konflikte um den Deal und den Inhalt der Reform wurden durch die Dramaturgie der Gipfelvorbereitung herunter gespielt. Rhetorisch wurden der „Kompromiss“ als selbstverständlich und der anvisierte „Zeitplan“ als zwingend präsentiert. Gelinge der Reformplan nicht, so habe dies „Kaum zu beschreibende, schwerwiegende Folgen für die Zukunft Europas“ (Merkel im Bundestag, Plenarprotokoll 16/103, S. 10569). Verschärft wurde die Sprache im Verlaufe der Öffentlichmachung der Konfliktfronten und angesichts der Hartnäckigkeit der Herausforderer der Mehrheitskonzeption. Der Kommissionspräsident Barroso schloss am 19.6. ein „Europa à la carte“ mit „exceptions and exemptions“ für verschiedene Mitgliedstaaten aus und formulierte „Europe’s credibility is at stake. We have to give the EU the capacity to act in the 21st century. If at the end of the negotiations we have a Europe a la carte where every member state chooses what it does and does not want we are putting in danger the very idea of a union. We need the capacity to act collectively. This is the limit of what we (the commission) can accept.” (Baroso zit. nach the Guardian 20.6.). Nicht auf dieser Linie wurde zeitgleich die Möglichkeit eines “Europa der zwei Geschwindigkeiten” – u.a. vom italienischen Regierungschef Prodi und dem Luxemburger Juncker – als Drohung gegen Polen in die Debatte gebracht. 2

Sichtbarmachung der Akteure und Positionierungen

Legt man die Zahl der über die Internetportale abrufbaren Artikel zugrunde, so war die Resonanz des Ereignisses „Gipfel zum Verfassungsvertrag“ in Deutschland deutlich größer als in Frankreich und Großbritannien. Insgesamt brachten es

„Europa“ als Gegenstand nationaler Mobilisierung und Demobilisierung

179

die beiden deutschen Zeitungen auf 41 Artikel, wohingegen die britischen nur 22 und die beiden französischen Tageszeitungen sogar nur 11 Texte zum Thema über ihre Internetportale zugänglich machten. Das unterschiedliche Gewicht, das dem Gipfel in den Medien der drei großen Mitgliedsländer gegeben wurde, wurde durch die Betrachtung der Druckausgaben vom 21.6. bestätigt.9 Die unterschiedliche Resonanz könnte mit dem deutschen Ratsvorsitz aber auch mit der uneingeschränkteren Identifikation der deutschen Medien mit dem Projekt der Reform zusammenhängen. Anders als in Deutschland war das Projekt in Großbritannien innenpolitisch umstritten und in Frankreich durch das Referendum in Frage gestellt worden. Von daher hatten die regierenden Parteien, soweit sie den „Deal“ mittragen wollten, kein Interesse, die Konflikte im Vorfeld des Gipfels allzu publik zu machen. Vergleichbar mit der deutschen Resonanz war nur die, welche den Ereignissen in Polen (35 Texte) gegeben wurde. Als erstes Ergebnis kann so festgehalten werden, dass das Ereignis „Neuformulierung des Verfassungsvertrages und dadurch manifestierte Konflikte“ unterschiedliche Resonanz in der Medienöffentlichkeit der drei großen Mitgliedstaaten fand. Auch bei der Sichtbarmachung der Akteure (Tabelle 1) zeigen sich markante Unterschiede. Gezählt wurden (1) Artikel, die sich ausschließlich mit politischen oder zivilgesellschaftlichen Repräsentanten eines Mitgliedsstaates oder diesem selber befassten und (2) die Nennungen von Akteuren als Satzsubjekte in allen Texten. Die Analyse zeigt zunächst, die geringe Sichtbarkeit der europäischen Einrichtungen. Allein die deutsche Ratspräsidentschaft (DRP) ist überall – wenn auch in unterschiedlichem Umfang – sichtbar. Die EU Kommission tritt kaum in Erscheinung. Da die Initiative bei der Ratspräsidentschaft lag, ist das nicht verwunderlich. Weniger offensichtlich ist die zweite Auffälligkeit: die unterschiedliche Sichtbarkeit der jeweils „eigenen“ nationalen Akteure. In den britischen Zeitungen nehmen britische Akteure einen breiten Platz ein. Das ist angesichts der innenpolitischen Konflikte um das Ergebnis des Gipfels und der Außenseiterrolle der Briten in Brüssel kaum erstaunlich. Auch die französische Presse widmet den eigenen, nationalen Akteuren beachtliche Aufmerksamkeit, obwohl Präsident Sarkozy in der Vorbereitung des Gipfels vor allem als Stütze der Ratspräsidentin agierte und keine eigenwillige Politik verfolgte. Im Falle der deutschen Presse fällt die Präsidentschaft mit dem wichtigsten nationalen Akteur, der Kanzlerin 9

Der Anteil der Berichte und Kommentare zum EU-Gipfel an der politischen Berichterstattung lag beim Guardian bei 7%, bei der Libération bei 13%, beim Figaro bei 15%, der FAZ bei 28%. Times und FR nachtragen.

180

Melanie Tatur

zusammen. Um so erstaunlicher, dass diese und andere nationale Akteure zusammen nur 29% (FAZ) bzw. 18% (FR) aller Akteure ausmachen. Mit dieser Zahl liegt die deutsche Presse – ungeachtet der Doppelrolle der Kanzlerin – deutlich unter den Sichtbarmachungen der eigenen nationalen Akteure in den anderen Ländern. Tabelle 1:

Sichtbarmachung der Akteure

Zahl der Artikel/Anteil der Nennungen an allen in der Zeitung genannten Akteuren (Satzsubjekt) FAZ

FR

Times

Guardian

Libération

RZ

GW

1/25 17% 4 3% 0/9 6% 5/77 52% 0/2 1% 0/1 0,1% 0/1 0,1%

0/10% 4/26%

Figaro D RP D andere

2/13% 0/16%

1/15% 0/3%

0/18% 0/1%

0/14% 0/0

1/37% 0/2

1/13%

GB

0/2%

2/15%

1/43%

0/54%

0/10%

1/25%

PL

7/56%

7/45%

1/14%

1/14%

2/34%

0/18%

NL

0/0

0/4%

0/ 4%

0/0,5%

0/0

0/1%

CR

1/5%

1/6%

0/ 2%

0/0,5%

0/0 -

0/2%

F

0/3%

0/2%

0/11%

0/7%

0/17%

1/34%

Andere alt Mitgliedsländer 0/2%

1/7%

0/1%

0/1%

0/ 1%

0/ 3%

0/1 0,1%

0/1%

0/0

0/0

0/0

0/0

0/0 -

0/3%

0/5%

0/7%

0/0

0/0

1/19%

Andere neue Mitgliedsländer 0/0 EU Kommission 0/3%

1/6% 1/35% 0/0 0/7% 1/4%

1/3% 2/4%

1/5%

Auffälligstes Merkmal ist der mit großem Abstand erste Platz, der polnischen Akteuren in der deutschen Presse zugewiesen wird. Sowohl die FAZ als auch die FR widmen den Polen eine beachtliche Anzahl von Einzelbeiträgen (46% bzw. 28% aller Berichte und Kommentare) und auch bei der Zählung der Akteure in allen erfassten Texten erscheint Polen in extremer Weise exponiert. Damit nehmen die beiden deutschen Zeitungen zugleich eine Sonderrolle in der Berichterstattung ein. Vergleichbare Aufmerksamkeit gibt es in den anderen Ländern nicht. Besonders extrem ist der einseitige Fokus auf Polen bei der FAZ. Die in der Tabelle ausgewiesene Zahl eines Anteils polnischer Akteure von 56% aller

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sichtbar gemachten Akteure untertreibt die Situation noch. Rechnet man die „Polenschelte“ deutscher Politiker hinzu, so ergibt sich ein Anteil 66% polenfokussierter Sprecher. Der vergleichsweise hohe Anteil der Tschechen ergibt sich aus dem mit Vaclav Klaus geführten Interview. Die Aufmerksamkeit hierfür wiederum ist vor dem Hintergrund des „polnischen Problems“ zu verstehen. Auffällig ist das marginale Interesse, das die FAZ der britischen Politik schenkt. Auch für die FR lässt sich der Fokus auf Polen feststellen, zugleich ist er hier nicht ganz so einseitig wie im Falle der FAZ. Ein dem deutschen halbwegs ähnliches Bild vermittelt nur der Figaro. Hier nimmt zwar die Ratpräsidentschaft den ersten Platz sichtbarer Akteure ein. Den polnischen Politikern bzw. dem Land werden hier aber zwei Beiträge und 34% der Aufmerksamkeit für Akteure gewidmet. In den britischen Zeitungen nehmen die Polen einen dritten Platz ein bzw. teilen sich den zweiten mit der Ratspräsidentschaft. In der französischen Libération besetzten sie den dritten Platz nach französischen und britischen Akteuren. Erstaunlich ist die geringe Beachtung, die den Briten auch im Figaro gegeben wird. Bei der Sichtbarmachung der Positionen und Positionierungen (Tabelle 2) geht es um die Dramaturgie des Ereignisses. Auf den „Bericht“ der Präsidentschaft vom 14.6., der den formellen Auftakt der Gipfelvorbereitung bildet, reagiert die Times mit drei Artikeln. Einer informiert über den Inhalt des Berichts (mit Link zum Text), die unstrittigen und strittigen Punkte des zu verhandelnden Vertragswerkes, die Forderungen der Herausforderer und den Stand der Konfliktlösung. Der Zweite setzt sich kritisch mit den deklarierten Zielsetzungen des Reformplans und dem Deal vom Mai auseinander. Der Dritte legt den Akzent auf die unterschiedlichen nationalen Positionen. Auch die NZZ verweist in einem Bericht vom 15. auf den Deal und bringt am Tag darauf einen Überblicksartikel zu Vorgeschichte, Deal, Konfliktfronten des anstehenden Gipfels und zwei Szenarien bei einem Scheitern Die Libération macht in ihrer Internetausgabe einen Artikel vom 16.5. zugänglich, der sich mit dem von der französischen Regierung inspirierten Deal kritisch auseinandersetzt und erkennen lässt, dass das damit gemeinte Vorgehen nicht unumstritten war. Guardian und Figaro haben – zumindest in der hier erfassten Internetausgabe – keine Beiträge zum Thema. Das gilt auch für die deutsche FR. Die FAZ bringt dagegen einen Bericht und einen Kommentar zum „Bericht“ der Ratspräsidentschaft und zum Auftritt der Kanzlerin vor dem Bundestag. Darin nimmt die FAZ aber nicht auf den Inhalt des anzustrebenden Kompromisses und die inhaltlichen Positionen der verschiedenen Mitgliedstaaten Bezug. Sie stellt den „Fahrplan“ in den Mittelpunkt und verweist aus dieser Perspektive auf das „polnische Problem“. Der Kommentar würdigt die deutsche Position.

182 Tabelle 2:

Melanie Tatur

Sichtbarmachung von Positionsbestimmungen im Zeitverlauf: (Zahl der Artikel)

„Bericht“ 14.6. Deal nat. Positionen dazu nat. Position Das „polnische Problem“. Das „britische Problem“ Vysegrad Mandatsvorlage v. 20.6. Positionierungen vor dem Gipfel Transnationale Medienwahrnehmung Nicht erfasst i.G.

FAZ 2 0 0

FR 0 0 0

Times Guard. Figaro (2) 0 0 1 1 1 0 0

Lib. 0 1 0 0

RZ 0 0 0 0

GW NZZ 0 2 0 0 0 -

10 13 1 (67%) (50%)

1

2

2

5

8

4

0

2

3

6

0

1

0

2?

1

0 1

(1) 1

0 1

0 1

0 0

0 0

0 (1)

3 (3)

1 0

1

4

2

3

2

2

3

5

0

0

0

0

0

0

0

0

8

0

1 15

6 26

0 10

1 12

1 5

0 6

0 8

1 27

1 9

Im Mittelpunkt der deutschen Berichterstattung stehen Beiträge zur Entwicklung des „polnischen Problems“, d.h. Reaktionen auf die diplomatischen Aktivitäten aber auch auf Äußerungen aus Warschau und in Brüssel agierenden Regierungsberatern. Zum „britischen Problem“ erscheinen nur in der FR zwei Artikel. Auf das Treffen der Vertreter der Visegradstaaten verweist die FR beiläufig. In den anderen Zeitungen der großen Mitgliedsländer bleibt es völlig unbemerkt. Nur der „Beobachter“ NZZ würdigt das Treffen und die Positionierung der mitteleuropäischen Mitgliedstaaten mit einem eigenen Beitrag. Die weiteren Beiträge der NZZ reagieren auf die diplomatischen Aktivitäten. Hinzu kommen zwei Beiträge mit Hintergrundinformationen zum „polnischen Problem“. Alle Zeitungen – bis auf die NZZ und die Franzosen – berichten von der Mandatsvorlage. Die FR bietet einen Link zum Text. In unterschiedlichem Umfang berichten alle unmittelbar zu Beginn des Gipfels von den Konfliktkonstellationen. Hinter der unterschiedlichen zeitlichen Synchronisierung der Sichtbarmachung der divergenten Positionen, stecken unterschiedliche Dramaturgien der Ereignisse. Das wird besonders deutlich am Beispiel der Times einerseits und

„Europa“ als Gegenstand nationaler Mobilisierung und Demobilisierung

183

der deutschen Zeitungen andererseits: Die Times berichtet mit dem Zeitpunkt der Aufnahme der Gipfelvorbereitung über die durchaus bekannten divergenten Positionen und den Stand der Kompromisssuche. Dieses Bild wird vor dem Gipfel noch einmal aktualisiert. Die deutschen Medien berichten allein vom „Fahrplan“ und „dem“ Ziel, die „Substanz“ des Verfassungsvertrages zu „retten“. Obwohl auch hier die divergenten Positionen schon im Vorfeld bekannt sind, werden sie als in der Berichterstattung über Konsultationen und Äußerungen der Kontrahenten auftauchende „Probleme“ inszeniert, und bündeln sich für den Leser in Konfliktfronten unmittelbar vor Beginn des Gipfels. Die Berichterstattung des Guardian setzt später ein, macht aber die Positionen transparent und bezieht die britische Positionierung auf die innenpolitischen Konflikte um ein mögliches Referendum. Die auffällig bescheidene Berichterstattung des Figaro, d.h. der regierungsnahen Zeitung in Frankreich, beschränkt sich auf zwei Beiträge zum „polnischen Problem“, zwei zu den Positionierungen vor Beginn des Gipfels, wobei einmal der Akzent auf der französischen Unterstützung für die deutsche Strategie liegt und das andere mal die Positionen der Briten und der Polen im Mittelpunkt stehen. Der fünfte Text ist ein Bericht zur Person Angela Merkels (nicht der deutschen Position). Auch die Libération berichtet über den Stand der diplomatischen Aktivitäten und dabei deutlich werdende „Probleme“. Dies wird aber dadurch in einen allgemeinen Kontext gestellt, dass ein Text vom Mai des Jahres Teil des Themenschwerpunktes ist, der sich mit den Konfliktfronten in der Verfassungsfrage und dem Deal auseinandersetzt. Zudem setzt sich ein Beitrag vom 21.6. anlässlich des Gipfelbeginns nicht nur mit der Konfliktkonstellation sondern auch mit dem – hinter den Formulierungen des Mandatsentwurfs sichtbar werdenden – Problem des Deals auseinander. Zusammen mit den Berichten zum polnischen und britischen „Problem“ eröffnen die Beiträge dem Leser ein differenziertes Bild der Positionierungen der Akteure. Neben der unterschiedlichen Dramaturgie der Ereignisse machen die Zahlen noch einmal den Stellenwert deutlich, den das „polnische Problem“ in der deutschen Presse einnimmt. Die deutsche Besonderheit wird hier insofern etwas relativiert als auch die NZZ diesem Thema relativ viel Raum beimisst. Allerdings sind nur zwei der vier erfassten Artikel der NZZ dem „polnischen Problem“ im engen Sinne, d.h. dem Konflikt mit der polnischen Vertretung gewidmet. Die Hintergrundinformationen informieren über das „Quadratwurzelmodell“ und die Kontinuität der polnischen Außenpolitik. Die französischen Zahlen müssen insofern kommentiert werden, als hier auch ein Text der „Libération“ dem „polnischen Problem“ zugeordnet wurde, der die deutsche Aufregung über die polnische Position und Diskursstrategie thematisiert.

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Der deutsche Fokus auf das „polnische Problem“ wird daran deutlich, dass 67% der Texte der FAZ diesem Gegenstand zuzurechnen sind. Er zeigt sich auch hier, dass die FAZ weder den britischen noch den Einsprüchen und Vorschlägen der Tschechen und Niederländer die Aufmerksamkeit eines Berichtes bzw. Hinweises widmet. Nur die „4 roten Linien“ Blairs werden in zwei Beiträgen, die jeweils einen anderen Schwerpunkt haben, angesprochen. Ganz so eng ist der Fokus der FR nicht. Zwar gilt auch hier die Hälfte der Texte dem „polnischen Problem“, immerhin widmet die Zeitung der britischen Positionierung zwei und einen halben Bericht (ungefähr 9% ihrer Beiträge zum Thema gegenüber 50% zu Polen).

3

Thematisierungen und Framing des Ereignisses „Reformvertrag“

Im Folgenden werden die inhaltlichen Aspekte der medialen Konstruktion des Ereignisses betrachtet. Als mögliche Dimensionen der Thematisierung wurden erhoben: das Verhältnis von Verfassungsvertrag und „Reformvertrag“, die „Notwendigkeit“ der Reform, die detaillierten Positionierungen der Akteure und deren Hintergründe, die Wahrnehmung der Ereignisse/der nationalen Politik durch Medien anderer Länder, Berichte über den Verlauf der Konfliktfront aus der Perspektive des Konflikts und der des Standes der Kompromissfindung. Die Zuordnung erwies sich im wesentlichen als unproblematisch.10 Mit wenigen Ausnahmen ließen sich alle Texte auch einem von zwei Frames zuordnen. Berichte und Kommentare betrachteten das Szenario der Positionen und Konfliktfronten entweder als Ausdruck „legitimer Konflikte“ um die Gestalt der Union oder als illegitime Störmanöver der „Notwendigkeit“ der Durchsetzung der Reform. Unabhängig von diesen beiden Zuordnungen wurde gefragt, ob sich die Texte auf die „Bürger“ beziehen und dabei – argumentativ auf „Interessen“ der Bürger bzw. deren „Rechte“ verwiesen. Der Verweis auf die „Interessen“ der Bürger korrespondierte mit dem Deutungsrahmen „Notwendigkeit“, der auf „Rechte“ mit dem „legitimer Konflikt“.11

10

11

Die letzte Kategorisierung erwies sich als nicht hinreichend trennscharf und die Zuordnung der Texte war schwierig. Das erscheint insofern als nicht so schwerwiegend, als beide der Oberkategorien „Konfliktfront“ untergeordnet sind, und diese Kategorisierung klar war. Erfasst wurden nur explizite Verweise, der Bezug auf die Argumentation der Ratpräsidentschaft auf die „Überforderung“ der Bürger, die durch kosmetische Veränderungen des Verfassungsvertrages vermieden werden solle, wurde nicht den „Interessen“ der Bürger

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„Europa“ als Gegenstand nationaler Mobilisierung und Demobilisierung

Thematisierungen der „Ereignisse“ und Framing der Konflikte Einheit: Artikel (eine Zuordnung, Mehrfachnennung in Klammer)

Vergleich von Verfassungs- und Reformvertrag Deal (deklarierte Täuschungsabsicht) + Frage Legitimität Reform als Notwendigkeit Positionen PL Positionen GB Ratspräsidentschaft Reflexive Öffentlichkeit Frontberichte Davon: Konfliktfronten Stand der Kompromissfindung Frame 1: legitime Konflikte Frame 2: Notwendigkeit Verweise auf „Interessen“ der Bürger Demokratische Rechte der Bürger i. G.

FAZ

FR

Times

Guard.

Figaro

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2

1

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0

0

0

0

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1 1

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3

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2

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0

0

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0

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4

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0

0

0

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O

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0

Auch was die Thematisierung und das Framing der „Ereignisse“ betrifft, stellen die Times einerseits und die beiden deutschen Zeitungen andererseits die Pole des erfassten Spektrums dar. In den deutschen Texten findet keine inhaltliche Abgleichung des Verfassungstextes und der neuen Regelung sowie der unstrittigen und strittigen Punkte statt. Auch der Deal wird nicht thematisiert sondern nur – in Anlehnung an die Formulierung der Kanzlerin – affirmativ als notweniger und sinnvoller „Kom-

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Melanie Tatur

promiss“ bestätigt. Das gilt für beide Zeitungen.12 Abstriche vom gescheiterten Verfassungsvertrag bei der „Symbolik“ erscheinen der FAZ als notwendiges Übel oder sinnvolle Rückkehr zur „bewährten Strategie der kleinen Schritte“ (FAZ 15.6.07). In der FR werden sie als weitgehende Konzession problematisiert. Der Deal selber wird in Übernahme der Sprache der Ratspräsidentschaft als legitimer und selbstverständlicher „Kompromiss“ behandelt. Die Frage der demokratischen Legitimität des verkleideten Verfassungsvertrages wird von keiner der Zeitungen thematisiert.13 Eine eingehende Darstellung von Positionen erfolgt in den beiden deutschen Zeitungen in Hinblick auf die Position der deutschen Präsidentschaft. Diese wird in einem Beitrag der FR ausführlich dargestellt und auch in einem Beitrag der FAZ detailliert behandelt. Dem Verständnis der polnischen Position sind jeweils drei Artikel gewidmet, je einer gilt dem Quadratwurzelmodell. Die große Mehrheit der Texte hat den Charakter von Frontberichten. Sie informieren über den Frontverlauf, die Bewegungen des Gegners, über Anzeichen eines Nachgebens und den Stand des Kampfes für den Sieg der gerechten Sache. Diese gerechte Sache ist der „Fahrplan“ und die „Substanz“ des Verfassungsvertrages. Das geringe Interesse am Konfliktgegenstand und den Positionen der „anderen“ ist ein Indikator dafür, dass die Konflikte nicht als legitim erachtet werden. Tatsächlich exponieren FAZ und FR die Rhetorik von der „Notwendigkeit“ der Reform, die sich „zwingend“ aus der Erweiterung ergäbe. Der Zusammenhang von Erweiterung und Vertiefung erscheint als so offensichtlich, dass er keiner Belege oder weiterer Argumente bedarf. Es wird als offensichtlich erachtet, dass die „Effizienz“ der erweiterten EU nur durch die „Substanz“ des Verfassungsvertrages gesichert werden kann. Die FAZ begnügt sich mit dieser Argumentation und hat von daher keine Probleme damit, dass die Reform „vom Sockel“ einer Verfassung herunter gestoßen wurde. Die Sprache ist hier wenig aggressiv, sie stellt weniger die Konflikte und häufiger den Stand der Kompromissfindung in den Mittelpunkt. Dieser erscheint als subjektloser Prozess: „das Werk“, „die EU“ werden zum Satzsubjekt, alternativ kommen Passivformen zur 12

13

Das gilt auch für die FR. Charakteristisch ist die Bezugnahme in einem Beitrag vom 21.6. „Als Zugeständnis“ an die „Verfassungsgegner“ sollten neben dem Titel der Verfassung auch die Symbole der EU „gestrichen“ werden. „Die Ratspräsidentschaft reagiert damit auf die Ablehnung der Verfassung durch Franzosen und Niederländer vor zwei Jahren sowie auf Befürchtungen, die EU wolle sich die Rolle eines Superstaates anmaßen.“ Es werden weitere kosmetische Veränderungen genannt, die der Mandatsentwurf vorschlägt. Eine Kommentierung gibt es hier oder an anderer Stelle nicht. Nur ein Kommentar der FR (20.6.) verweist an einer Stelle beiläufig darauf, dass die Holländer das Problem hätten, ihre Bevölkerung „hinters Licht“ zu führen, dies ist aber offensichtlich ein nationales Problem der Holländer, und für den deutschen Kommentator und Leser nicht weiter von Belang.

„Europa“ als Gegenstand nationaler Mobilisierung und Demobilisierung

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Anwendung. Es sind Positionen der Minderheitsfraktion, die „Kopfzerbrechen“ bereiten, „diskutiert werden“, „Verständnis wecken“. Dahinter steht ein technokratisch-funktionalistisches Verständnis des „notwendigen“ Vertiefungsprozesses. In der FR werden solche technokratisch-funktionalistischen Argumentationsmuster um die Idee einer politisch-moralischen „Notwendigkeit“ bereichert. Von daher kann dann auch der Verzicht auf die Verfassungssymbolik als kaum akzeptables Entgegenkommen problematisiert werden. Wichtiger noch: Der Bezug auf das moralisch-politische Projekt „Europa“, welcher den Kommentaren der FR unterliegt, hat eine aggressivere Sprache zur Folge. Es geht bei den Auseinandersetzungen um die Reform um einen Konflikt zwischen Gut und Böse: zwischen „nationalen Egoismen und Machtkämpfen“ auf der einen und dem Wunsch, Europas „Gewicht entschlossen in die Waagschale der Weltpolitik zu werfen“ und „erkennbar mehr für die Bürger zu tun“ (FR 17.6.) auf der anderen. Sozialdemokratische EU-Parlamentarier, denen die FR ein Forum gibt, ergänzen, dass „in Zeiten der Globalisierung“ Entscheidungen „in den meisten Politikfeldern“ auf der europäischen Ebene „getroffen werden müssen“ und deshalb die EU „effizienter“ und „demokratischer“ werden „müsse“ (FR 20.6.). Die Kommentatoren der FR identifizieren sich mit einem Projekt „Europa“, ohne auch nur zu fragen, ob dieses für andere Mitgliedsstaaten und deren Bürger konsensfähig ist. Das Projekt erscheint als politisch-moralischer Wert und als solcher alternativlos. Entsprechend geht es für die FR bei den Konflikten im Vorfeld des Gipfels um den Gegensatz von „wirklichen Europäern“ auf der einen und „Störenfrieden“ und „Quertreibern“ auf der anderen Seite (FR 20.6.). Das Referenzkollektiv der „Europäer“ meint hier nicht die Bürger der Mitgliedstaaten. So betrifft das „Problem“ der niederländischen Regierung ihre Bürger „hinters Licht“ führen zu müssen,14 nicht die deutschen „wirklichen Europäer“. Das Referenzkollektiv ist die Gesinnungsgemeinschaft, derjenigen, die an das ideologische Projekt glauben. Entsprechend aggressiv ist die Sprache gegenüber denen, die sich dem Konsens widersetzen. Als Echo der Drohungen der Politiker mit einem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ fordert die FR die „wirklichen Europäer“ sollten Polen „und die anderen Störenfriede“ rechts liegen lassen und alleine weiter machen (FR 20.6.). Ein Merkmal der technokratischen, wie der normativ-ideologischen Argumentation ist das paternalistische Verhältnis zu den Bürgern. Die Reformen sind „für“ die Bürger und in ihrem „Interesse“. Rechte der Bürger als politische Subjekte kommen weder in der FAZ noch in der FR vor. Dazu passt, dass die Referenden als Ausdruck einer „diffusen europaskeptischen Welle“ nicht ernst zu nehmen sind, zugleich aber dann auf Meinungsumfragen zurückgegriffen wird, 14

Verweis in FR 20.6.

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wenn sich die dort ablesbaren Ergebnisse in die Argumentationsstrategie einbinden lassen. Die „Interessen der Bürger“ werden als objektive Interessen verstanden, die den Sprechern bekannt sind, und die einer demokratischen Bestätigung durch Prozeduren wie Wahl und Referenden nicht bedürfen. Auch die Times geht davon aus, dass Regeln und Institutionen der EU „need updating“ (21.6). Die Reform wird aber nicht als „Notwendigkeit“ hypostatisiert und ideologisch begründet. Im Gegenteil, die Zeitung entlarvt die falsche Selbstverständlichkeit gängiger Glaubenssätze wie die Behauptung von der Handlungsunfähigkeit der EU nach der Erweiterung. Ein Beitrag verweist darauf, dass die EU seitdem die Verfassung „vor zwei Jahren niedergewählt wurde“ das erste Emissionshandelsschema der Welt entwickelt und die Europäische Verteidigungsagentur geschaffen hat, und dem Pariser Institut Science Po zufolge seit der Erweiterung Gesetze und Regeln um 25 % schneller eingeführt habe als davor (Times 21.6.). Vor diesem Hintergrund kann von „Notwendigkeiten“ keine Rede sein. Sachlich und detailliert wird informiert, was die wichtigsten Punkte des gescheiterten Verfassungsvertrages waren, was bleiben soll, was umstritten ist, wie der Zeitplan von Frau Merkel aussieht und was die Briten wollen. Hier geht es um Interessen- und Machtkonflikte, und die eigene Verortung darin. Die klar skizzierten Positionen werden konkreten Akteuren zugeschrieben. Zur Charakterisierung von Positionen werden Zitate der Akteure genutzt. Die inhaltliche Positionierung der Zeitung ist klar und wird argumentativ begründet. Die Transparenz der Positionierungen, welche die Zeitung ihren Lesern bietet, scheint sie von einer zurechnungspflichtigen Politik zu verlangen. Die öffentlichen (und nicht öffentlichen) „Erpressungen“ gegenüber Polen werden von der Zeitung kritisiert. Um der formalen Rechte willen, welche die Polen in Anspruch nähmen, und als Indikator für eine Form der Konfliktregelung, die wenig transparent und demokratisch sei. „To the EU’s warmest supporters, this constant batering with undefined threats and rewards represents the essence of the union’s strength: a desire to find compromise. But to Britain and Poland, which both have good reason to gibe at the proposed treaty, it represents the worst: the threat of unknown, future punishment for the offence for defending their corners (Maddox/Briefing Times 21. 6.). Als einzige der erfassten Zeitungen betrachtet die Times die Hoffnung der „EU-Eliten“, die Öffentlichkeit über die Bedeutung des Vertrages zu täuschen, als Verletzung der Rechte der Bürger und entsprechend ernst zu nehmendes Problem. Die Zeitung verweist kritisch und nicht in affirmativer Absicht auf die Intention des Reformprogramms, eine „different terminology without changing the legal substance“ durchzusetzen (Merkel zit. nach Times 21.6.). Und wendet sich an die eigenen Politiker. Diese sollten nicht die „Arroganz“ derjenigen bagatellisieren, die „so handeln als hätten die Holländer und Franzosen nie gewählt“

„Europa“ als Gegenstand nationaler Mobilisierung und Demobilisierung

189

(21.6.) Zur argumentativen Begründung dieser Haltung wird auch auf den „Vater“ des Verfassungsvertrages, Giscard d’Estaing, verwiesen und dessen Warnungen aus le Monde zitiert. Dort habe dieser die Bemühungen kritisiert die Vereinbarung des Verfassungsvertrags unkenntlich zu machen “by breaking them up into several pieces“. Dies werde bei den Bürgern die Idee vertiefen, dass die EU eine Maschinerie sei „organised behind their backs by jurists and diplomats“ (d’Estaing zit. nach Times 15.6.). Berichte und Kommentare der anderen Zeitungen lassen sich zwischen diesen Polen verorten. Die Haltung des Guardians ist weniger eindeutig als die der Times. Zudem ist sie auch deswegen schwieriger auszumachen, weil sich fast alle Berichte jeglichen Kommentars enthalten, und die Akteure sprechen lassen. Als Schlüssel für Thematisierung und Framing des Konfliktes können wir zwei Texte nutzen: eine Beschreibung zur Konfliktkonstellation und den kommentierenden Essay des Stammgastes T.G. Ash. Der erste Text bringt – im Kontext des Konfliktes um die Rechtsverbindlichkeit der Charta – zum ersten mal (am 21.6.) einen Verweis auf die Grundstrategie der Ratspräsidentschaft, die Merkel im Papier vom 14.6. und der Rede vor dem Bundestag offengelegt hatte. Der neue „Reform Vertrag“ versuche „viel“ der „Verfassung“ zu retten „minus its symbolic and solemn trappings“. „We need to mutilate the constitution in order to save it“ wird ein deutscher Beamter zitiert. Diese Intention wird nicht kommentiert. Die Information steht aber im Kontext des Konfliktes um die britischen „roten Linien“, – und der beruhigenden Aussage eines Kommissionsbeamten „The Germans have told the UK that opt outs can be organized“ (Guardian 21.6.). Damit wird der öffentlichen Schelte widersprochen, mit welcher der Kommissionspräsident Barroso ein „Europa a la carte“ ausgeschlossen hatte, und die von der Zeitung am Vortag breit zitiert worden war. Diese Thematisierung der Debatte bezieht sich auch auf die Frage, wie in GB mit der Frage des Referendums umgegangen werden kann. Die innenpolitischen Fronten in dieser Frage werden rekonstruiert, und ein kommentierender Artikel versucht zu begründen, warum ein Referendum weder notwendig noch sinnvoll sei. Der Guardian unterstützt in der Referendumsfrage die „coalition of the unwilling“ (Guardian 19.6), die er in Blair, Brown und Sarkozy ausmacht. Er zeigt auch Verständnis für das französische Interesse ein neues Referendum zu umgehen und „restore France’s battered position at the centre of the EU with a deal“ (18.6.). Das erscheint hier legitim, weil die Motive der „left wing voter“ in paternalistischer Manier erklärt werden, und das Referendum als demokratisches Veto relativieren sollen (19.6.). Der Kommentar von Ash macht die außenpolitische Unsichtbarkeit der EU zum Aufhänger eines Situationsberichts, der für britische Konzessionen zugunsten europäischer Kompetenzen in der Außenpolitik argumentiert (21.6.). Dahin-

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ter steht Ash’s These dass der „Westen“ in der „multipolar world“ gestärkt werden und Europa zu diesem Zweck seine Macht bündeln müsse. Ungeachtet dieser Zielvorstellung wird „Europa“ hier nicht als ideologisches Projekt begriffen, sondern erscheint als das, was es empirisch ist: ein Kampffeld nationaler Interessen. Für die aktuelle Situation im Vorfeld des Gipfels spricht Ash von einer „machiavellian intrigue between the member states“, wobei die Ziele dieser „nationalist intrigue“ nicht mehr territoriale Gewinne sondern „arcane legal and bureaucratic adjustemts“ seien. Der polnischen Regierung wird ein „19th-century way of thinking“ attestiert. Es wird aber auch nicht übersehen, dass die deutsche Diplomatie nach Nizza „one specifically national objective“ hatte, nämlich das, die Stimmengewichtung zu modifizieren. Dieser „realistische“ Blick – lässt ungeachtet aller Ironie – die Konflikte als unklug aber legitim erscheinen. Entsprechend werden die Konfliktlinien im Guardian neutral benannt. Sie verlaufen zwischen „Maximalisten“ unter deutscher Führung und „Minimalisten“ unter britischer Führung, die eine lockere Union vorziehen und verhindern wollten, dass mehr Macht an Brüssel übertragen werde. Die Sprache des Guardians nimmt keiner der Gruppen das Recht sich als „Europäer“ zu begreifen.15 Die Lebendigkeit der britischen Texte rühren auch daher, dass die Europapolitik im Land umstritten ist. Von daher kann der Problemhorizont nicht auf „Notwendigkeiten“ reduziert werden. Die Debatte um den Gipfel, den Deal und den zu erreichenden Kompromiss, steht im Kontext der Finalitätsproblematik, wobei die Times im Reform Vertrag einen Schritt in Richtung eines „föderativen Europa unter französisch-deutscher Führung“ (Times 18.6.) und der Guardian in der Charta als „last grasp“ der Föderalisten in einem für sie in der erweiterten Union bereits verlorenen Krieg sehen.16. Die Texte des Figaro sind schwer einzuordnen, da sie sich jeglichen Kommentars und auch weitgehend wertender Formulierungen enthalten. Es geht um das Verständnis der handelnden Personen, wobei die polnische Haltung wegen ihrer schwer verständlichen Starrheit Rätsel aufgibt. Die Akteure werden als Spieler mit Interessen und Strategien betrachtet, wobei die politisch-strategischen Intentionen im Hintergrund stehen und die Aufmerksamkeit eher instrumentellen Aspekten des Konfliktmanagements gilt. Darein fügt sich auch, dass ein Artikel die Leistungen des neuen Präsidenten würdigt und ein anderer die Persönlichkeit 15

16

Allerdings wird zumindest in den vorliegenden Texten nicht problematisiert, dass Großbritannien sich mit seiner opt-out Strategie kaum als Anführer einer Minderheitsgruppe verstehen kann. Als Kritik an den britischen Europaskeptikern formuliert der Guardian: “Never mind that the federalists have lost the war for a supra-national Europe, that the charter is their last grasp in an EU of 27 which contains such unruly states as Romania and Bulgaria, or that most of the surviving proposals (simpler voting majorities, a full-time president) are designed to make the EU of 27 work better – as it certainly needs to” (Guardian 21.6.).

„Europa“ als Gegenstand nationaler Mobilisierung und Demobilisierung

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Angela Merkels. Hinweise auf den Deal fehlen vollständig. In der Frage der britischen Haltung werden die roten Linien knapp aufgezählt und das Erstaunen eines europäischen Diplomaten dokumentiert „Ils ne veulent pas seulement supprimer le nom du ministre, mais lui oter toutes ces attributions“ (le Figaro 21.6.). Der Artikel endet dann mit einer versöhnlichen Stimme der Downing Street, die sich auf den gemeinsamen Wunsch bezieht zu einer Lösung zu kommen. Einen pathetischen Bezug auf die „Notwendigkeit“ der geplanten Reform findet man ebenso wenig wie den auf die Interessen oder Rechte der Bürger. Ganz anders als der regierungsnahe Figaro thematisiert die Zeitung Libération den Deal als französische Idee und Lösung des französischen Problems. Zugleich wird dem Leser dieser Zeitung von Anfang an klar, dass dieser Deal von den „euroskeptischeren“ Staaten nicht akzeptiert wurde, und diese eine auch inhaltlich abgespeckte Regelung wollten. Der Konflikt wird sehr sachlich dargestellt und die Positionen der verschiedenen Akteure deutlich und verständlich gemacht. Anders als der Figaro, der die Personen der Politiker als Akteure auftreten lässt, erscheinen in der Libération die Nationen als Akteure. Diese werden als politische Nationen begriffen, deren politischer Wille von Regierung aber auch Opposition und Zivilgesellschaft17 artikuliert wird und auch da legitim ist, wo die inhaltlichen Positionen schwer nachvollziehbar sind. Intention journalistischer Analyse ist es, das Machtspiel zu durchschauen. Auch in den Texten der Libération erscheint Europa als Spielfeld legitimer nationaler Interessen und nicht als ein den konkreten Interessen enthobenes Projekt. Die Zeitung enthält keine Kommentierungen zum Thema und auch über die sprachlichen Formulierungen werden keine Stellungsnahmen sichtbar. Die Ausnahme von dieser Regel ist der Artikel vom Mai und der darin enthaltene Verweis auf die Kritik von Paul Magnette, einem Professor am Institut für Europawissenschaften in Brüssel, der sich auf die Form der Konfliktaustragung bezieht: „On est mal embarqué, car en réalité on va vers une rénégotiation institutionelle d’ensemble. Or les traités sans finalité politique, sans objectif précis autre qu’institutionnel, se sont toujours terminés par un échec. » (Paul Magnette zit. nach Libération 16.5.). Der Vergleich zeigt deutliche Unterschiede in der Inszenierung der „Ereignisse“, in ihrer Thematisierung und hinsichtlich des Deutungsrahmens, in dem sie relevant gemacht werden. Deutlich wird auch ein unterschiedliches Professionalitätsverständnis von Journalisten. Während die britische Presse und auch die knapp vertretene französische Presse die – im Prinzip möglichst umfassende – Information in den Mittelpunkt stellt, geht es den deutschen Medien – in dem hier untersuchten Fall – um „Meinungsbildung“, d.h. die Bestätigung und Diffusion einer bestimmten Perspektive. 17

So im Fall des Berichtes zur deutschen Haltung im deutsch-polnischen Konflikt.

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Transnationale kommunikative Interaktion

Transnationale „diskursive Interaktion“ ist in der Literatur an der Zahl „anderer Stimmen“ und daran gemessen worden, inwieweit das Referenzkollektiv der Argumentation „Europa“ und nicht der Nationalstaat ist (van de Steeg 2002). Auch wir werden im Folgenden nach „anderen Stimmen“ und dem Referenzkollektiv der Argumentation fragen. Die Bezugnahme auf die Referenzkollektive Europa/Nation werden wir aber nicht als Indikator für „virtuelle“ transnationale Interaktion sondern als Ausdruck spezifischer Wahrnehmungen und defensiver bzw. hegemonialer Diskursstrategien verstehen. Transnationale kommunikative Interaktion Zeitung (Zahl der Texte)

Ausländische Gastautoren/ Interviewpartner

Davon Repräsentanten anderer Perspektiven

FAZ (15) FR (26) The Times (10) The Guardian (12) Le Figaro (5) Le Monde (9) Liberation (6) Rzeczpospolita (8) GW (25)

1 2 0 0 0 0 0 2 4

1 1 0 0 0 0 0 2 4

6% 3%

25% 16%

Presseberichte, die andere Perspektiven einbringen (ohne Polemiken) 0 0 0 0 0 0 0 0 7 28 %

In den Zeitungen der drei großen Mitgliedstaaten der EU finden wir zum Gegenstand dieser Untersuchung keine Gastkommentare oder Interviews mit Vertretern einer anderen als der von der Zeitung insgesamt vertretenen Position. Die Ausnahme bilden je ein Interview mit tschechischen Politikern in der FAZ und der FR. Der Hauptkontrahent, Polen, dem immerhin 67% (FAZ) bzw. 50% (FR) der Texte gewidmet sind, kommt selber nicht zu Wort.18 Zur Erhebung des Referenzkollektivs wurde gefragt, worauf sich die Argumentation des Textes – als gedachtes „wir“, dem sich der Sprecher zurechnet – bezieht: auf Europa oder die Nation bzw. ihre Bürger. Die Kategorie „andere Nation“ (andere N) verweist auf eigene Beiträge, die aus der Perspektive der Interessen einer anderen Nation argumentieren bzw. 18

Dabei ist zu notieren, dass beide Zeitungen den Regierungsberater Cichocki einen Beitrag widmen, der offensichtlich auf ein Gespräch mit dem Polen zurück geht. Das Forum für ein Interview wird ihm aber nicht eingeräumt.

„Europa“ als Gegenstand nationaler Mobilisierung und Demobilisierung

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Gastbeiträge, welche die Position eines anderen Nationalstaates transparent machen. Im Falle der Gastbeiträge bezieht sich „Nation“ auf Beiträge, welche die eigene Nation im Spiegel der Wahrnehmung anderer Öffentlichkeiten und Akteure betreffen. Keine Probleme bei der Zuordnung der Artikel ergaben sich bei den deutschen, britischen und polnischen Texten. Die Zuordnung der französischen Texten ist deswegen schwach begründet, weil hier die Texte kaum Anhaltspunkte über das gedachte Referenzkollektiv geben, dieses ist weder eindeutig „Europa“ noch die „Nation“, es ist vielmehr Frankreich „de retour en Europe“ (Sarkozy zit. nach Libération vom 16.5.07). Verbunden mit der Wahrnehmung Europas als Konfliktfeld der Nationen macht diese Perspektive die Zuordnung schwer. Deshalb wurde eine besondere Markierung gewählt. Nehmen wir Frankreich aus der Betrachtung aus, so zeigt sich, dass die deutschen Medien auf Europa als Referenzkollektiv Bezug nehmen, die Briten dagegen auf die nationalen Interessen und deren Sicherung in Europa. Angesichts des Minderheitsstatus der britischen Position ist diese Haltung kaum verwunderlich. Referenzkollektiv der Argumentation Zeitung (Zahl der Texte nicht qualifizierbar) FAZ (15 –2) FR (26-3) The Times (10) The Guardian (12) Le Figaro (5-1) La Libération (6-1) Rzeczpospolita (8 –1) GW (25)

Eigene Beiträge Europa Nation andere N 9 0 3 18 (1) 3 2 8 0 2 10 0 3 1 0 3 1 0 0 5 0 3 10 0

Gäste, Presseberichte Europa Nation andere N 0 0 1 0 0 1 0 0 0 (1) 0 0 0 0 0 0 0 0 2 0 0 4 7 (1)

Interessant sind die Ergebnisse für Deutschland und zwar unter zwei Gesichtspunkten: (1) der Bezug auf die Nation fehlt hier völlig. „Deutsche Interessen“ tauchen an keiner Stelle auf, sie verschwinden vollständig hinter der „deutschen Ratspräsidentschaft“. Das ist deswegen erstaunlich, weil die französische und die britische Presse sehr wohl einen Konflikt zwischen Deutschland und Polen wahrnehmen, der keineswegs in europäischer Politik aufgeht. Die antideutschen Äußerungen, einschließlich des Verweises auf die polnischen Bevölkerungsverluste durch die deutsche Okkupation („Kriegstote“) werden distanziert berichtet, eine Positionierung hierzu sucht man aber vergeblich. Allein der in der Tabelle in Klammern gesetzte Artikel setzt sich mit den polnischen Vorwürfen auseinan-

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der und grenzt das „demokratische Deutschland“ mit dem Verweis auf Vergangenheitsbewältigung vom NS-Regime ab, ohne sich aber zu einer klaren nationalen Position zu bekennen. Dass es bei den Konflikten und insbesondere beim „polnischen Problem“ um Fragen der zukünftigen Machtverteilung und ein deutsches Interesse an Einfluss in der Union geht, ist ein Tabu, das keiner der deutschen Texte bricht. (2) Nur in der deutschen Presse ist eine paternalistische Haltung anzutreffen, die im Namen der „wahren“ Interessen eines anderen Landes dessen Politik kritisiert. Die durchgängige Bezugnahme auf Europa und der fehlende Bezug auf nationale Interessen und Vorstellungen gehen aber nicht mit einem Interesse an den Position der anderen und deren Begründungen zusammen. „Europa“ steht – wie wir schon oben gesehen haben – für „höhere“ Notwendigkeiten und Werte. Das heißt, es geht nicht um das empirische Europa sondern um ideologische Projekte. Die Bezugnahme auf „Europa“ geht zugleich mit dem Anspruch zusammen für „Europa“ zu sprechen. Die Funktion, die das Referenzkollektiv für die Diskursstrategie hat, lässt sich nicht erschließen, ohne zu berücksichtigen, was über andere Akteure und Positionierungen berichtet wird. Wie versuchen Berichte und Hintergrundberichte die Positionen der „Anderen“ verständlich zu machen? Die Sprache der britischen und französischen Journalisten ist sachlich, auch wenn sie die exzentrischen polnischen Politiker beschreiben. Die Charakterisierung „Zwillinge“ taucht in der französischen Presse auf, in der britischen wird sie nicht als Synonym der polnischen Führung genutzt. Im Guardian spricht Ash – sachlich richtig – von einem „Denken in Kategorien des 19. Jahrhunderts“, die Times charakterisiert die polnischen Politiker als „right-of the centre-populists“ und „social conservatives“. Ironisierende oder diffamierende Formulierungen findet man weder in den französischen noch in den britischen Texten. Es wird in der Libération im Übrigen nicht nur vom „polnischen Problem“ sondern auch vom „deutsch-polnischen Konflikt“, d.h. der deutschen Reaktion berichtet – auch hier sachlich und gespickt mit Zitaten. Genauso sachlich ist die Information über die britische Position und deren Hintergründe. Die britischen und französischen Berichte können daher als Kanäle eines transnationalen Informationsflusses betrachtet werden. Das gilt für die deutsche Berichterstattung über „die Anderen“ nur bedingt. Die FAZ bedient sich in ihren Berichten – wie oben angesprochen – einer sachlichen Sprache und versucht in verschiedenen Beiträgen die polnische Position verständlich zu machen. So wird das Quadratwurzelmodell und seine Geschichte ausführlich erklärt, auch dem Wechsel der polnischen Argumentationsstrategie vom März 07 zum Juni 07 wird ein Beitrag und eine ausführliche Darstellung in

„Europa“ als Gegenstand nationaler Mobilisierung und Demobilisierung

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einem weiteren Artikel gewidmet. Die Zeitung bringt Informationen zu den innenpolitischen Hintergründen und einen informierenden Artikel zu den ambivalenten Haltungen der polnischen Bevölkerung gegenüber den Deutschen. Im Falle der FR kann in vielen Berichten nicht von einer sachlichen Sprache gesprochen werden. Beide deutschen Zeitungen argumentieren aus einer paternalistische Haltung heraus und erteilen den polnischen Nachbarn – vor einer deutschen Leserschaft! – gewissermaßen Ratschläge. Das paternalistische Argumentationsmuster ist spezifisch deutsch, es findet sich in je drei Beiträgen der FAZ und der FR. Es lässt sich in den französischen, britischen und polnischen Texten nicht auffinden. In Kontext einer Argumentation, die sich auf „Europa“ und Notwendigkeiten, nie aber auf eigene nationale Interessen bezieht, wird erörtert was „Nachteil“ und „Chance“ (FAZ 17.6.) bzw. „Schaden“ (FR 19.6.; 20.6.) für die Polen sei. Eventuell wird die „falsche“ Haltung durch Verweise auf Geschichte und Psychologie der Nachbarn erklärt. Diese Argumentation „im Interesse“ des Kontrahenten wird mit Drohungen kombiniert. Diese beziehen sich auf „das Notwendige“, das „geschehen“ muss. Mit anderen Worten: Deutschland als mächtiger Akteur und Handlanger „des Notwendigen“ bleibt im Hintergrund. Interessanterweise stehen sich FAZ und FR in diesem Bereich – was die Sprache betrifft – in nichts nach. In FAZ und FR wird ein eventuelles Veto der Polen als „Beschädigung“ (FAZ) bzw. „sprengen“ (FR) der „Solidargemeinschaft“ EU betrachtet, was Sanktionen legitimiere. In der FR „muss“ Polen mit „Abstrichen“ bei den Transferzahlungen, der „Energiesolidarität“ und der „endgültigen Öffnung der Märkte“ in der Union „rechnen“ (Krohn FR 19.6.). In der FAZ wird Polen der Verbleib im einem „undefinierten >Zwischeneuropa< auf halben Wege zwischen Moskau und Berlin“ in Aussicht gestellt und „die Erinnerung an das historische >Finis Poloniaeaufgeklärten< Europa“ pflegten und Angst vor Polen hätten, das ihnen als „chauvinistisches, endeckoklerikales Freilichtmuseum“ erschiene. Als „Medizin“ forcierten die „Euroenthusiasten“ eine Politik, die – im Unterschied zu derjenigen der anderen Mitgliedstaaten – nationale Interessen zurück stelle und unreflektiert europäische Muster imitiere (Wildstein RZ v.21.6.).20 Die Berichterstattung der GW bestätigt in gewisser Weise die hier formulierte These von der Internalisierung des Zentrum/Peripherie Verhältnisses. Die GW macht sich zum Forum einer breiten Debatte, die verschiedene Positionen des Zentrums sichtbar macht. Zudem hält sie der nationalen Politik den Spiegel der Presse der großen Länder Europas vor. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die von der Regierung in Brüssel vertretene Position auch von den Liberalen mitgetragen wurde, denen die Zeitung am nächsten steht. Polnische Akteure und das „polnische Problem“ nehmen einen erstaunlich geringen Stellenwert ein. Dieses statistische Ergebnis hängt damit zusammen, dass die Zeitung der Positionierung der anderen Akteure und ihrer Wahrnehmung des „polnischen Problems“ so viel Platz schenkt. Die „transnationale Mediendebatte“, d.h. der Reflexion der eigenen Positionierung im Spiegel der Wahrnehmung der „Anderen“ sind 36% aller Beiträge gewidmet. Nicht berücksichtigt sind hierbei Berichte zur Konfliktkonstellation, die beiläufig auf mediale Reaktionen im Ausland verweisen. Ein Unikum im gesamten Textkorpus stellt einer dieser polnischen Texte dar: Klaus Bachmann, z. Z. Professor der War19 20

Außerdem: die Polityka und die liberale und die sozialdemokratische Partei sowie die den Liberalen nahe stehende renommierte Batory Stiftung Zugleich wird von einer „links-liberal“ orientierten „europäischen Elite“ gesprochen, deren Interessen und Denkweisen von dem breiten Geflecht europäischer Einrichtungen geprägt seien und die Träger einer „europäischen Ideologie“ deren rechtliche Durchsetzung zum Ziel gesetzt hätten (Grundrechtscharta als Beispiel)). Im diesem Bereich hätten sich auch die polnischen „Euroenthusiasten“ eingerichtet.

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schauer Universität, konfrontiert die polnische Vetodrohung und die Drohung mit dem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ mit den einschlägigen Artikeln der geltenden Verträge und die spieltheoretische Begründung des Quadratwurzelmodells mit den Konventionen der Entscheidungsfindung in der EU. In allen drei Punkten entlarvt er emotionalisierende Kampfrhetoriken als sachlich unangemessen. Die polnische GW ist neben der britischen Times die einzige Zeitung, die sich mit dem Deal zur Rettung des Verfassungsvertrages argumentativ auseinander setzt. Was Thematisierung und Framing des Konfliktes betrifft, so gelten drei der Beiträge der RZ der nationalen Positionsbestimmung, einer der Skizze der Fronten und die beiden Interviews der Positionierung der Präsidentschaft. In den Interviews wird im Rahmen von „Notwendigkeiten“ erklärt was getan werden „muss“, in der Sprache wird ein anonymes es oder die Union als geschlossener Akteur zum Subjekt gemacht. Die eigenen Beiträge gehen implizit von der Legitimität der innereuropäischen Konflikte aus, auch wenn die Vision der EU, die J. Kaczynski in seinem Interview preis gibt, dem Bild EU als Feld legitimer Konflikte nicht wirklich entspricht.21 Bei der GZ fällt die breite Streuung der Thematisierung und die reflexive Öffentlichkeit auf, d.h. der Platz, der ausländischen Pressereaktionen auf die polnische Politik, gegeben wird. Im Mittelpunkt steht dabei die deutsche Presse, aber auch der Berichterstattung britischer, italienischer, französischer und russischer Medien wird Aufmerksamkeit geschenkt. Was das Framing betrifft, so argumentiert die eigene Berichterstattung in einem Deutungsrahmen, der die Konflikte um den „Reformvertrag“ als legitim betrachtet und nicht von „Notwendigkeiten“ irgendwelcher Art ausgeht. Dennoch wird der Deutungsrahmen „Notwendigkeit“ durch einen Gastbeitrag sichtbar gemacht. In einem Interview, präsentiert Marek Safjan, ein an der Europäischen Universität in Florenz arbeitender polnischer Sozialwissenschaftler, die Argumentation der Mehrheitsfraktion. Safjan beruft sich in seiner Stellungsnahme weniger auf Argumente als auf die Autorität von Personen, die an der „alternativen Version des Verfassungsvertrages“ mitgearbeitet haben. Er zitiert Prof. Amato, den stellvertretenden Vorsitzenden des Verfassungskonvent, und macht sich zu dessen Sprachrohr. Das wichtigste Argument ist die „Zeit“, die „drückt“, und die „von Kennern der europäischen Problematik“ unterstriche21

Kaczynski spricht vom Ideal einer Union, in der das Prinzip der Subsidiarität tatsächlich funktioniert und die Mehrheit der Entscheidungen bei den Nationalstaaten bleibt. „In den wenigen Angelegenheiten, in denen die gesamte Union entscheiden muss“, solle dies „ein übernationales Machtzentrum tun, das die Interessen aller Mitglieder vertritt“. In diesem „engen Bereich“ müsse die Union Kompetenzen und „reale Macht, d.h. eine Armee“ haben. (RZ 21.6.07).

„Europa“ als Gegenstand nationaler Mobilisierung und Demobilisierung

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ne Notwendigkeit der „Vorbereitung einer Konstruktion, die es möglich macht, eine Katastrophe“ zu vermeiden. Die Neuverhandlung von inhaltlichen Bestimmungen des Vertrages sei nicht möglich, weil die polnische Regierung den Verfassungsvertrag unterschrieben habe. Das dies auch für Großbritannien gilt, wird vom Interviewer nicht nachgefragt. Entscheidend ist: „Die Zeit ist sehr knapp“ (GW 18.6.). Diese Argumentation entspricht derjenigen der Ratspräsidentschaft und der Mehrheitsfraktion. Mit gleichem Datum erscheint in der GW die gekürzte Fassung des Vortrages, den Lord David Owen im Mai des Jahres im Warschauer Institut für Internationale Beziehungen gehalten hat. Hier wird die „Ideologie“ der „Integrationisten“ kritisiert, d.h. ihr Glaube institutionelle Reformen würden alle Probleme der EU lösen. Owen kontrastiert das Engagement der europäischen Eliten für Institutionenreformen mit dem zunehmenden Desinteresse der Bürger an Europa. Und geißelt dann den „tiefen Zynismus“, der hinter dem Brief der Ratpräsidentin Merkel (vom Mai 07) zum Ausdruck komme, in dem diese eine „andere Präsentation“ der durch die Referenden abgelehnten Verfassung vorschlug. Auch Owen zitiert Amato, und zwar mit einer Rede, die dieser im Februar in der London School of Economics gehalten hatte. Dort hatte Amato „gescherzt“, dass der „Vorteil“ der Neubenennung der Verfassung darin bestehe, dass „niemand in der Sache ein Referendum fordern kann“ (Amato zit. nach GW 18.6.). Mit anderen Worten, die GW gibt hier ihren Lesern die Möglichkeit, eine grundsätzliche – durch die Dramaturgie des Gipfels bewusst verschleierte, Konfliktlinie der Verfassungsdebatte kennen zu lernen. Das Referenzkollektiv der eigenen Berichte der GW und auch der Fokus der ausgewählten Presseberichte ist die eigene Nation und ihr Agieren im neuen Handlungsrahmen Europa. Hierin drückt sich nicht ein fehlendes Interesse an Europa sondern die Position eines mittelgroßen, aber peripheren Mitgliedstaates aus, der nicht für das Zentrum reden kann und dort wenig zu melden hat. Wie sehr die Nation dennoch in Europa verortet wird, zeigt die Aufmerksamkeit die der Position Brüssels und der großen aber auch kleinen Mitgliedstaaten gewidmet wird.

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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Berücksichtigt man den Umstand, dass Gegenstand des Gipfels von Brüssel die Reaktivierung des Verfassungsvertrages war, es somit um die politische Verfasstheit der Europäischen Union ging, ist festzustellen, das mediale Resonanz sehr gering war. Eine Ausnahme bilden hier Deutschland und Polen, wo dem Ereignis deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

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Bemerkenswert erscheint auch, dass die offen deklarierte Täuschungsabsicht der Ratspräsidentschaft von den Medien als legitimer Vorgang hingenommen oder gar als „Pragmatismus“ (FAZ) gewürdigt wurde. Nur die Times und der britische Gast in der polnischen GW machen diesen Aspekt zu einem Diskussionsgegenstand. Auch die Bedeutung der Reform in Hinblick auf die unterschiedlichen Finalitätsvorstellungen für die Union wird nicht erörtert. Hier ist GB die einzige Ausnahme, wohl deswegen, weil der innenpolitische Dissens über die Europapolitik unterschiedliche Einschätzungen des Verfassungsvertrages impliziert. Man kann hierin die Bereitschaft der Medien und ihrer Träger sehen, die Politik der Ratspräsidentschaft zu unterstützen. Das Engagement für Europa macht die Medien zu Gehilfen der Politik, deren Agenda Setting sie aufgreifen und umsetzen, ohne es zu hinterfragen. Mehr oder weniger bewusst gestalten sie die gewünschte Inszenierung. Auch sie scheinen ihr Publikum, die Bürger, nicht „überfordern“ zu wollen, und degradieren es zur unmündigen „Bevölkerung“. Das gilt für die deutsche Mobilisierung ebenso wie die französische Demobilisierung. Eine authentische Auseinandersetzung mit der Politik in Brüssel und zuhause ist nur in der britischen und polnischen Presse zu beobachten, d.h. dort wo die Europapolitik innenpolitisch umstritten ist. Auffallend sind die Besonderheiten der deutschen Diskursstrategie. Der Bezug auf „Notwendigkeiten“ sowie die fehlende Toleranz von Konflikt und die Bezugnahme auf ein „Europa“, das nicht auf die konkrete Vielfalt von Bürgern und/oder Mitgliedsstaaten sondern ein „Projekt“ meint. In diesem Kontext muss die vollständig fehlende Bezugsnahme auch nationale Interessen den Verdacht erwecken, dass sich nationale Interessen hinter den Projekten verstecken. Auf die sozialdemokratische Gestaltung des „Projektes Europa“ der FR haben wir oben verwiesen. Für das technokratische Projekt und die vollständige Fokussierung der FAZ auf das „polnische Problem“ liefert ein Beitrag den Schlüssel, den die Zeitung nach dem Ende des Gipfels veröffentlicht. Hier geht es dann doch um Macht und nationale Interessen. Es sei „sechs Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg“ nicht mehr zu begründen, „dass Deutschland zwar den Zahlmeister Europas geben darf, ihm aber in einer immer stärker integrierten Union, die mehr und mehr Einfluss auf das nationale Geschehen nimmt, Mitbestimmungsrechte gemäß seiner Größe verwehrt bleiben sollen“. Die „anachronistische Argumentation, mit der Warschau versuchte, den Einfluss Deutschlands in der EU zu beschneiden“ erscheint als ein „krasses Beispiel“ für die Andersartigkeit politischer Kulturen im erweiterten Europa und wird als Argument gegen die Aufnahme der Türkei gewendet (FAZ 25.6.). Das liberale Segment der polnischen Presse ist, wie wir gesehen haben, von den Vertretern national konservativer Medien als europäischer Brückenkopf

„Europa“ als Gegenstand nationaler Mobilisierung und Demobilisierung

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kritisiert worden. Tatsächlich öffnet die Zeitung ein Forum für europäische Stimmen. Das „Europa“, das hier zu Wort kommt, ist vielfältig, uneindeutig und offen. Zugleich charakterisiert sich die liberale Berichterstattung durch einen Fokus auf den Ort Polens im Kräfte und Meinungsfeld Europas und macht in diesem Sinne die eigene Nation zum Referenzkollektiv. Unsere Fallstudie hat gezeigt, dass das hier betrachtete „europäische Ereignis“ unterschiedliche Resonanz hatte, in unterschiedlicher Weise inszeniert und thematisiert und in unterschiedlichen Deutungsrahmen relevant gemacht wurde. Nicht das aber ist der Grund, warum wir in den hier betrachteten Fall – was die großen Mitgliedstaaten und insbesondere Deutschland betrifft – nicht als Beispiel für „Europäisierung“ nationaler Öffentlichkeit gelten kann. Angesichts der Differenz in Europa – zwischen nationalstaatlichen Traditionen und politischen Kulturen der Bürger – kann eine Harmonisierung von Sinn- und Relevanzstrukturen kaum als realistische und wohl auch nicht als wünschenswerte Perspektive betrachtet werden. „Europäisierung“ kann sich nur zeigen am Umgang mit Differenz. Die Toleranz von Differenz setzt aber das Bewusstsein der Partikularität des eigenen Wissens voraus. Erst eine Öffentlichkeit, die es gelernt hat, eigene Deutungsmuster und Mentalitäten als partikular und kontextuell bedingt zu verstehen, kann sich öffnen für die Deutungsmuster und Denkweisen anderer, und Konflikte als legitim akzeptieren ohne die eigene Position aufzugeben. Die Bezugsnahme auf das „Projekt Europa“ – in welcher Fassung auch immer – ist kein Indikator für die Herausbildung einer transnationalen europäischen Öffentlichkeit. Das „Projekt Europa“ ist ein Konzept von Wissenschaftlern und Politikern und ein diskursives Werkzeug im Kampf um die Hegemonie in Europa. Das sozialdemokratische „Projekt“ und die weniger pathetische technokratische Fassung sind Kandidaten für etwas was Castells als „legitimierende Identität“ bezeichnet hat (Castells 2004: 8).22 Sie gleicht strukturell der nationalen Identität, auch wenn sie sich auf ein überstaatliches Kollektiv bezieht. Die Fallstudie hat deutlich gemacht, dass dieses Identitätskonstrukt im Kontext der innereuropäischen Konflikte dazu genutzt wurde, partikulare Interessen und Deutungen zu verschleiern bzw. ihnen eine „höhere“ Weihe zu geben und einen „europäischen Konsens“ auf nationaler Ebene zu zelebrieren, d.h. mit Hilfe „Europas“ national zu mobilisieren.

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Thomas Meyer nimmt Catells falsch in Anspruch, wenn er seine „europäische Projektidentität“ aus dem Begriff Castells ableitet. Manual Castells verwendet den Begriff „Projektidentität“ in Hinblick auf soziale Akteure, die eine neue Identität bilden, welche ihre Position in der Gesellschaft verändert, und die dadurch versuchen, die gesellschaftliche Struktur zu verändern. Legitimierende Identität, dagegen ist eine kollektive Identität, „introduced by the dominant institutions of society to extend and rationalize their domination vis à vis social actors“ (Castells 2004:8).

EU-Erweiterung nach „Kleinasien“? Medien-Debatten um den Türkei-Beitritt in Deutschland und Frankreich Henrike Garl EU-Erweiterung nach „Kleinasien“?

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Thema und Fragestellung der Untersuchung

Am 17. Dezember 2004 fällten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union den Beschluss zur Aufnahme von Verhandlungen über einen EUBeitritt der Türkei. Die Fallstudie befasst sich mit der medialen Verarbeitung dieses Ereignisses. Sie vergleicht deutsche und französische Mediendebatten um den möglichen EU-Beitritt der Türkei. Angesichts der deutsch-französischen Führungsrolle und eines Selbstverständnisses, dem zufolge die „deutschfranzösische Zusammenarbeit auch in Zukunft die Schlüsselrolle für eine weitere Integration in Europa spielen wird“1, ist die Debatte um die Türkeifrage fraglos bedeutsam. Die Analyse fragt nach dem normativen Bias, den Argumentationsmustern, Deutungsrahmen und Leitbildern in den Debatten. Auf Grund von allgemeinen Vorkenntnissen und Plausibilitätsüberlegungen wurde die Untersuchung mit folgenden Erwartungen begonnen: 1. In den französischen Medien identifiziert man sich stark und ungebrochen mit nationalen Interessen und der eigenen kulturellen Identität. Infolgedessen werden sowohl negative als auch positive Folgen des Türkeibeitritts klar benannt. Eine Argumentation in Kategorien von nationalen Interessen ist selbstverständlich und in keiner Weise tabuisiert. In Deutschland dagegen bedingen nationale Vergangenheit und die Tradition der „Vergangenheitsbewältigung“ eine politische Korrektheit, die politische, wirtschaftliche und kulturelle Interessen „schamhaft“ hinter einer normativen Argumentation versteckt. 2. In den französischen Medien spricht man sich deswegen häufiger eindeutig gegen einen möglichen Türkeibeitritt aus. In den deutschen Medien bringen nur wenige Artikel eine explizite Pro- oder ContraPosition zum Ausdruck. 3. Die Beitrittsgegner in Deutschland stützen ihre Argumentation häufiger auf die christlich-abendländische Geschichte der bisheri-

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www.europa.eu.int/constitution/futurum/documents/speech/sp210102_de-htm.

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gen EU-Mitgliedsstaaten.2 Diese Argumentation wird dagegen in den französischen Medien selten oder sogar gar nicht wieder zu finden sein, da Frankreich sehr viel Wert auf seine laizistische Tradition legt3 und somit religiöse Motive und Argumente in politischen Diskussionen keine Rolle spielen. 4. Vor diesem Hintergrund wird auch erwartet, dass sich sowohl in den französischen als auch in den deutschen Medien Vertreter des konservativ-rechten Lagers eher gegen, diejenigen des liberal-linken Lagers eher für den Türkei-Beitritt aussprechen.

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Beschreibung des Textkorpus und Methoden der Analyse

Die Textgrundlage der vorliegenden Untersuchung ist eine Auswahl an Zeitungsartikeln aus „großen“ Tageszeitungen. Diese täglich erscheinenden Blätter sind für die Analyse der Debatte am besten geeignet, da sie das aktuelle Tagesgeschehen wiedergeben und kommentieren. Der Vergleich der medialen Verarbeitung des Ereignisses „Aufnahme der Türkeiverhandlungen“ konnte dadurch auf einer für beide Länder gleichermaßen repräsentativen Materialbasis erfolgen. Auf deutscher Seite wurden die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG (FAZ) als konservativ-liberale Zeitung und die links-liberale SÜDDEUTSCHE ZEITUNG (SZ) berücksichtigt. Die französischen Texte stammen aus der konservativ-rechten Zeitung LE FIGARO sowie aus der links-liberalen Zeitung LA LIBÉRATION. Der Untersuchungszeitraum bezieht sich auf das Datum der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen am 17.12.2004 und umfasst drei Wochen vom 17.12.31.12.2004. Der Zugriff auf die genannten Texte erfolgte über die OnlineDatenbank der Universitätsbibliothek Frankfurt. Gesucht wurde individuell für jede der vier Zeitungen über die Schlagwörter „Türkei“ und „EU-Beitritt“ bzw. die französischen Äquivalente „Turquie“ und „l’entrée dans l’Union Européenne“ bzw. nur „L’Union Européenne“. Die Suche führte zu folgendem Ergebnis: Für die FAZ wurden 47 Artikel mit den genannten Schlagwörtern aufgeführt. 15 Artikel fanden sich in der SZ. In den französischen Zeitungen ergab die Suche mit den französischen Schlagwörtern 75 Artikel im FIGARO und 32 Artikel in der LIBÉRATION. Die Untersuchung wurde insgesamt mittels drei textanalytischer Instrumente durchgeführt: Mit der Themenfrequenzanalyse sollte die Resonanz des Ereignisses in den Medien erhoben werden. Für diese wurden zunächst alle gefunde2

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Gemäß dieser Argumentation teilt die Türkei diese gemeinsame Geschichte nicht mit den EUMitgliedsstaaten, da sie ein vom Islam, dem osmanischen Reich und von dessen Geschichte geprägter Staat ist. Im Jahr 1905 wurde in Frankreich das Gesetz zur Trennung von Religion und Staat verabschiedet.

EU-Erweiterung nach „Kleinasien“?

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nen Artikel berücksichtigt. Im Rahmen der anschließenden quantitativen Inhaltsanalyse – der Analyse des normativen und sachlichen Bias bzw. der Argumentationsstruktur – und der erweiterten Fein-Analyse zur Ermittlung der den Texten inhärenten Frames wurde der Textkorpus auf insgesamt 46 Kommentare sowie Berichte mit kommentatorischem Charakter reduziert. Die quantitative Inhaltsanalyse diente zur Identifikation des normativen und „sachlichen“ Bias. Der normative Bias beschreibt die im Text auszumachende Position, die angesichts eines möglichen EU-Beitritts der Türkei vom Autor/von der Autorin eingenommen wird (pro, contra, nicht eindeutig). Der „sachliche Bias“ bezieht sich auf die Fragen, welche Aspekte des Themas „Probleme/Chancen der Mitgliedschaft der Türkei“ thematisiert werden und ob eher die politischen oder die ökonomischen Aspekte des „Problems“4 betont werden. Die Feinanalyse von acht zufällig ausgewählten Texten diente der induktiven Identifikation von Frames. Mit Hilfe der identifizierten und beschriebenen Frames und ausgewählten Indikatoren (Argumentationselemente) wurden die restlichen Texte der Frameanalyse unterzogen. Gefragt wurde auch nach dem Stil der Berichterstattung und nach „wir“ Referenzen.

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Ergebnisse

Die Gesamtzahl von 169 Artikeln macht deutlich, dass die Debatte um den möglichen EU-Beitritt der Türkei in beiden Ländern auf hohe Resonanz stößt. Dabei entfielen insgesamt 62 Artikel auf die deutschen Zeitungen FAZ und SZ sowie mit 107 Artikel nahezu doppelt so viele auf die französischen Blätter LE FIGARO und LIBÉRATION. Da die Gesamtzahlen der pro Zeitung erschienenen Artikel nicht erfasst wurde, fehlt eine Bezugsgröße für die Gewichtung. Mit dieser Einschränkung können die Zahlen dennoch als Hinweis darauf gedeutet werden, dass die Debatte in den französischen Medien eine größere Resonanz hatte als in Deutschland. Die Anteile an Gastkommentaren innerhalb der analysierten Artikel unterscheiden sich in der deutschen und französischen Presse erheblich voneinander: Nahezu die Hälfte der französischen Artikel (18 von insgesamt 37) wurde von Gastautoren verfasst. Auf deutscher Seite finden sich dagegen lediglich 3 von insgesamt 16 Artikeln aus der Feder nicht-hausinterner Journalisten. Die Präsenz von Gastautoren innerhalb einer Debatte kann als Indikator für die Offenheit der 4

Der Begriff „Problem“ steht hier als Umschreibung des Themas der Debatte „möglicher Beitritt in die EU der Türkei.“ Der Begriff soll der Übersichtlichkeit des Textes dienen und wird dementsprechend neutral gebraucht.

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Debatte angesehen werden. Eine größere Präsenz von Gastautoren kann von einer weniger verengten Sichtweise zeugen. Die Bereitstellung von Raum für ausländische Gastkommentare kann zudem als Ausdruck transnationaler Interaktion betrachtet werden. Wichtig ist deswegen hervorzuheben, dass in der französischen Debatte mehrfach türkische Vertreter aus Wissenschaft und Politik (allerdings vor allem Vertreter türkischer Organisationen in Frankreich) zu Wort kamen, die auch die türkische Sicht der Diskussion einbrachten. Eine analoge Offenheit wurde in den deutschen Medien nicht festgestellt. Die Ergebnisse der Bias-Analyse (normatives Bias) macht vor allem einen Unterschied der Debatten in Frankreich und Deutschland deutlich: Im französischen Textkorpus lassen sich mehr als die Hälfte der Texte (17 von 30 Artikeln) als Artikulation einer Pro- bzw. Contra-Haltung zum EU-Beitritt der Türkei klassifizieren. Zehn Artikel sprechen sich dabei für den Beitritt aus und sieben dagegen. In den deutschen Medien finden sich überwiegend Artikel, die explizite oder implizite Kritik bezüglich des Türkeibeitritts äußern oder mögliche Gefahren nennen, die mit dem Beitritt verbunden sind (12 von insgesamt 17 Artikeln). Zugleich enthalten aber nur fünf Artikel eine eindeutige Pro- bzw. ContraStellungnahme (zwei Artikel für und drei gegen den Beitritt). Offensichtlich wird die Debatte in Frankreich transparenter geführt als im Nachbarland Deutschland. Hinsichtlich des normativen Bias zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den politischen Lagern. Wie erwartet spricht sich die Mehrheit der Artikel in den bürgerlich-konservativen Zeitungen gegen den Beitritt der Türkei in die EU aus (neun Artikel in FAZ und LE FIGARO). Für den Beitritt sprechen sich vier Texte aus. In den linksliberalen Zeitschriften sind die Gewichtungen umgekehrt: Mit acht von insgesamt sechzehn Artikeln positioniert sich die Mehrheit der Texte pro Beitritt. Der Anteil von expliziter Stellungsnahmen ist im linksliberalen Spektrum ein wenig höher als im konservativen, in beiden Fällen liegt er aber in der Nähe von 50%. Im Folgenden nun die Ergebnisse der erhobenen Indikatoren zum „sachlichen Bias“ der Texte: In allen vier Zeitungen werden verschiedene Aspekte bezüglich der Chancen oder Probleme, die mit der EU-Mitgliedschaft der Türkei verbunden sind, unter vielfältigen Gesichtspunkten erörtert. Insgesamt überwieg deutlich eine politische Perspektive der Argumentation. Auf ökonomische Probleme verweisen in allen vier Zeitungen nur einzelne Texte. In den deutschen Zeitungen liegt der Akzent überwiegend auf Aspekten der innenpolitischen Lage der Türkei sowie auf Aspekten der Geschichte und Struktur Europas und seiner Bevölkerung. Die größte Variationsbreite weist der FIGARO auf. Hier beziehen sich die Artikel vor allem auf die innenpolitische Situation der Türkei sowie auf die Geschichte, Identität und Zukunft der EU.

EU-Erweiterung nach „Kleinasien“?

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Angesichts der Komplexität der Argumentationen wurden Frames in drei unterschiedlichen Dimensionen identifiziert. 1. In der Dimension der Begründung der Positionierung des Autors pro/contra Beitritt wurden zwei Frames ausgemacht: eine strategische, auf Interessen beruhende (Label „strategische Begründungsstrategie“) sowie eine auf Werte verweisende Begründung („normative Begründungsstrategie“). 2. Die zweite Dimension bezieht sich auf den paradigmatischen Bezugsrahmen der Argumentation. Hier wurden drei Frames identifiziert: eine Betrachtung der Probleme in Kategorien der institutionellen Rahmenbedingungen des Beitrittsverfahrens („institutionelles Verfahren“), in Kategorien politischer Handlungsoptionen und Interessenkonflikte („Interessenkonflikt“) und in solchen moralisch begründeter Ordnungsvorstellungen („normativer Konflikt“). 3. Die dritte Dimension verweist auf die Konzeptualisierung der EU. Hier ließen sich zwei Frames ausmachen: Die EU wird primär als ein nach innen gerichtetes Gebilde betrachtet („Binnenperspektive“), und Probleme der Finalität und Integration werden aus dieser Perspektive betrachtet; oder die EU wird eher als außenpolitischer Akteur gefasst („außenpolitischer Akteur“) und Integrationsfragen werden unter dem Gesichtspunkt der außenpolitischen Handlungsfähigkeit erörtert. Sowohl in den deutschen als auch in den französischen Printmedien verfolgt die Mehrheit der Autoren eine strategische, auf Interessen verweisende Begründungsstrategie der jeweiligen Haltung zum EU-Beitritt der Türkei (über 50% in der deutschen und nahezu 60% in der französischen Debatte). In der deutschen Debatte finden sich deutlich mehr Artikel, in denen die Position durch die Bezugnahme auf Werte begründet wird (Deutschland: 37% gegenüber ungefähr 17% in Frankreich). Auch bezüglich der Verteilung der Frames in der zweiten Dimension unterscheiden sich die Debatten in beiden Ländern: Die Probleme des Beitritts werden in rund 60% der deutschen Artikel in Kategorien eines Interessenkonfliktes (F: 20%) erörtert. In Frankreich werden in knapp 50% der Texte der institutionelle Rahmen und prozedurale Konflikte als Kontext gewählt (gegenüber 25% der deutschen Artikel). Nur wenige Beiträge betten das Problem in moralisch begründete Ordnungsvorstellungen ein (23% der französischen, 13 % der deutschen Texte). In der Dimension der Konzeptualisierung der EU, die der jeweiligen Argumentation zugrunde liegt, zeigt sich, dass die EU in beiden Ländern mehrheitlich als nach innen gerichtetes Gebilde betrachtet wird. Alternativen europäischer Finalität werden hier mit der Frage des Beitritts der Türkei verknüpft. Zugleich zeigt sich in diesem Punkt eine signifikante Divergenz. Denn anders als in Deutschland, wo diese Perspektive die gesamte Argumentation prägt (90% der Texte), spielt die Frage der außenpolitischen Handlungsfähigkeit und Macht der EU in den französischen Medien eine wichtige Rolle (fast 40 % der Texte).

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Der Vergleich nach politischen Lagern zeigt für beide Länder eine stärkere Ausprägung von strategischen Begründungsstrategien auf der Seite der bürgerlich-konservativen Zeitungen (knapp 60% im Vergleich zu knapp 40% der Texte der linksliberalen Zeitungen). Der Anteil normativer Begründungsstrategien ist entsprechend im Falle der konservativen Zeitungen geringer als im Falle der linksliberalen, und dominiert im Falle der SZ sogar. Die Begründung der Haltung zum EU-Beitritt der Türkei durch historisch-kulturelle Argumente findet sich nur in 13% der Texte der bürgerlich-konservativen und in einem Viertel der Texte der linksliberalen Blätter. Probleme und Chancen des Beitritts werden im konservativen Milieu als institutionell-prozedurale Fragen und Interessenkonflikte thematisiert, im linksliberalen Spektrum spielen Interessenkonflikte eine geringere Bedeutung und wird deutlich häufiger auf moralisch begründete Ordnungsvorstellungen Bezug genommen. In der Frage der Wahrnehmung der EU verzerren die aggregierten Daten das Ergebnis, weil – wie oben ausgeführt – die Wahrnehmung der EU als außenpolitischer Akteur nur für französische Beobachter charakteristisch ist. Die Untersuchung von Leitbildern zeigt, dass in beiden Ländern die Finalität der EU den Bezugsrahmen bildet. Eine französische Besonderheit ist die Bezugnahme auf die Alternative „christliches“ vs. „laizistisches“ Europa. Bemerkenswert ist, dass die deutsche FAZ – anders als die SZ und die französischen Zeitungen – keinerlei Bezug auf das Projekt der „privilegierten Partnerschaft“ nimmt. Was den Argumentationsstil betrifft, wurden die Texte als sachlich qualifiziert, wobei eine eher polemische Argumentationsweise am ehesten in der SZ ausgemacht wurde. Die rhetorische Bezugnahme auf ein „wir“/“nous“ wurde in der LIBÉRATION und der FAZ nur in zwei, in der SZ in keinem Artikel verwandt. Vergleichsweise häufig zeigte sie sich im FIGARO.

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Interpretation und Bewertung der Ergebnisse5

In beiden Ländern wird die Frage des EU-Beitritts der Türkei kontrovers diskutiert. Bei den expliziten Stellungnahmen dominieren in Frankreich die Befürworter und in Deutschland die Gegner und in beiden Ländern ist das bürgerlich5

Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf einen Zeitraum von drei Wochen und vier ausgewählte Tageszeitungen. Die durch die Analyse dieser Artikel ermittelten Ergebnisse sind deshalb nur im Rahmen dieser Arbeit repräsentativ und beschreiben einen kurzen Abschnitt innerhalb des Diskurses um den möglichen EU-Beitritt der Türkei. Somit kann die vorliegende Untersuchung einer kompletten Diskusanalyse nicht gerecht werden. Sie erhebt daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit, versteht sich aber durchaus als Teilstück der Beschreibung des Diskurses.

EU-Erweiterung nach „Kleinasien“?

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konservative Lager skeptischer als das linksliberale. Wichtiger als diese wenig signifikanten Divergenzen ist die Tatsache, dass die Debatte in Frankreich sehr viel offener, d. h. mit expliziteren Stellungnahmen geführt wird als in Deutschland, wo 70% der Texte nicht explizit Position beziehen. Bei den Deutungsrahmen zeigte sich in beiden Ländern die Dominanz einer strategischen, auf Interessen verweisenden Begründung der Haltungen zum Beitritt. Zugleich zeigte sich in Deutschland und im linksliberalen Lager eine häufigere Bezugnahme auf Werte. Historisch-kulturelle Begründungsstrategien spielten wider Erwarten eine relativ geringe Rolle. Die deutlichste Divergenz im Framing der Debatte zeigt sich bei der Wahrnehmung der EU. Zwar betrachten die Texte aus beiden Ländern die EU vor allem als einen nach innen wirkenden Akteur, das gilt in Deutschland aber für fast alle Texte (90%), während in Frankreich immerhin ungefähr 40% der Beiträge die EU als außenpolitischen Akteur thematisieren und die Frage nach Chancen und Problemen des EU-Beitrittes der Türkei mit der Forderung nach einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik verbinden. Hinsichtlich der „transnationalen kommunikativen Interaktion“ (van de Steeg) zeigt die Fallstudie, dass die französische Debatte mehr Raum für Gastkommentare (auch türkischer Stimmen) zur Verfügung stellt und insofern offener ist als die deutsche. „Wir“ Referenzen wurden hier als rhetorische Mittel betrachtet, um ein Gemeinschaftsgefühl zu evozieren. Dieses Mittel wurde in relevanterem Umfang nur vom konservativen FIGARO genutzt.

Die öffentliche (Nicht-)Wahrnehmung der EU als Akteur in der Außen- und Sicherheitspolitik Matthias Hofferberth

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Einleitung

Das Projekt einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik scheint (spätestens) seit den gescheiterten Koordinierungsversuchen im Winter 2002/Frühjahr 2003 für oder gegen eine militärische Intervention im Irak für viele Beobachter in Frage gestellt bzw. sogar gescheitert. In den Verhandlungen traten die konträren Positionen der verschiedenen Mitgliedsstaaten deutlich hervor und ließen sich nicht miteinander vereinbaren. Die gegensätzlichen Positionen – Frankreich und Deutschland auf der einen Seite, welche eine militärische Intervention strikt ablehnten und England, Spanien und Polen als Befürworter einer militärischen Intervention auf der anderen Seite – konnten während den Verhandlungen nicht ausgeglichen werden. Während England, Spanien und Polen sich aktiv am Irakkrieg beteiligten, betrieben die Franzosen und die Deutschen eine Strategie der „Totalopposition“ (Müller 2004: 43). Zu einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik ist es nicht gekommen. Ähnliche Gegensätze hinsichtlich der Frage nach einer gemeinsamen Außenpolitik taten sich erneut während der Vertragsverhandlungen in Brüssel im Rahmen des EU-Gipfels 2007 auf. Während zahlreiche Staaten das Projekt einer gemeinsamen EU-Außenpolitik begrüßten, verhinderte eine (primär britische) Intervention die weitere Institutionalisierung eines gemeinsamen europäischen Außenministers. Nicht zuletzt wegen dieser deutlichen Divergenzen hat die schon lange geführte Debatte über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik eine zentrale Bedeutung für das „Projekt Europa“ und für eine gemeinsame „europäische Identität“. Der Maßstab für ein erfolgreiches europäisches Projekt liegt neben der wirtschaftlichen Integration auch in der Herausbildung einer überzeugenden politischen Einigung, deren Kern eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik darstellt. Wiewohl der Posten eines europäischen Außenministers nicht in Brüssel eingeführt wurde, wird eine „gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik […] auf der Agenda der europäischen Tagesordnung bleiben und könnte das nächste große Projekt der europäischen Einigung bilden“ (Woyke 2001: 18). Daher geht dieser Beitrag davon aus, dass die öffentliche Wahrnehmung der EU als außenpolitischer Akteur eine kritische Rolle für Euro-

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Matthias Hofferberth

pa einnimmt. Nur wenn jenseits der wirtschaftlichen Integration eine politische Integration in der öffentlichen Wahrnehmung eine Rolle spielt, kann das „Projekt Europa“ erfolgreich sein und sich eine europäische Identität entwickeln. Von dieser Bedeutung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ausgehend, möchte der Beitrag die (Nicht-) Wahrnehmung der Europäischen Union als eigenständiger Akteur in den deutschen Printmedien im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik untersuchen. Konkret soll analysiert werden, ob und wie die EU als Akteur während zwei großer Konflikte in Afrika – Somalia 1993/95 und Westsudan 2004/05 – in den deutschen Medien präsentiert wurde. Fokus dieses Beitrages ist somit die Rekonstruktion von Öffentlichkeit und Wahrnehmung der EU innerhalb des nationalen Kommunikationsraums Deutschlands. Konkret werden dabei zwei Ebenen der Konflikte untersucht. Zum einen wird analysiert, aus welcher Perspektive der Konflikt betrachtet und gelöst werden soll („Akteursebene“), zum anderen wird untersucht, auf welcher Ebene der Konflikt als Bedrohung wahrgenommen wird („Problemebene“). Der Zeitraum von zehn Jahren zwischen den Konflikten ermöglicht dabei die Frage nach einem möglichen Wandel im deutschen „Wissensvorrat“ über die EU als außenpolitischer Akteur. Um die Fragestellung nach der (Nicht-)Wahrnehmung der EU als außenpolitischer Akteur beantworten zu können, gliedert sich der Beitrag wie folgt: Im folgenden Abschnitt werden die beiden Krisen als außenpolitische Herausforderung dargestellt. Im Anschluss an die Methode dieses Sammelbandes wird im folgenden Abschnitt die Generierung des Textkorpus dargestellt. Die Ergebnisse der Analyse werden anschließend im vierten Kapitel präsentiert. Hierbei soll sowohl eine mögliche quantitative wie auch qualitative Veränderungen in der deutschen Wahrnehmung der EU als außen- und sicherheitspolitischer Akteur in den Medien thematisiert werden. Kapitel fünf diskutiert als Fazit und Ausblick die Ergebnisse hinsichtlich der Frage der Relevanz für die europäische Integration und die „Idee Europas“. 2

Somalia und Sudan als außenpolitische Herausforderungen und die deutsche (Nicht-)Wahrnehmung der EU

Die Konflikte in Somalia und Sudan stellen für die europäischen Akteure und somit für eine mögliche gemeinsame Außenpolitik der EU eine zentrale außenpolitische Herausforderung der 90er Jahre und des 21. Jahrhunderts dar. Obwohl es hinsichtlich der Dauer, der Intensität und der Konfliktursachen zahlreiche Unterschiede zwischen Somalia 1993 und Sudan 2004 gibt, bestehen gleichzeitig zahlreiche Parallelen zwischen den Konflikten. Daher bieten sich diese beiden Fälle im Rahmen der Fragestellung hinsichtlich der deutschen (Nicht-)Wahr-

Die öffentliche (Nicht-)Wahrnehmung der EU als Akteur in der Außen- und Sicherheitspolitik

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nehmung der EU an. Zum einen finden beide Konflikte in Afrika statt. Somit kann ein möglicher „Bias“, welcher durch den Vergleich eines afrikanischen Konflikts mit einem der vielen Balkankonflikte als tendenziell „europäischen Konflikt“ entstanden wäre, vermieden werden. Beide Konflikte stellen darüber hinaus primär humanitäre Konflikte dar, welche durch bürgerkriegsähnliche Verhältnisse entstanden sind und durch eine lange und komplexe Vorgeschichte gekennzeichnet sind. Auch der Umgang der internationalen Gemeinschaft mit beiden Konflikten weißt Ähnlichkeiten auf. In beiden Konflikten spielt die UN die zentrale Rolle und beschließt innerhalb des Sicherheitsrates Resolutionen zur Lösung der Konflikte. Die EU scheint auf den ersten Blick politisch keine zentrale Rolle zu spielen und tritt nicht als eigener Akteur auf (Wheeler 2000: 172ff; Prunier 2005: 124ff).1 Zwischen den beiden Konflikten und ihren Untersuchungszeiträumen liegen darüber hinaus zwölf Jahre, so dass ein möglicher Wandel in der (Nicht)Wahrnehmung der EU als außenpolitischer Akteur über Zeit untersucht werden kann. Zu beachten ist jedoch, dass innerhalb der zwölf Jahre zwischen 1993 und 2005 sich zwei entscheidende Einflüsse im Rahmen der (deutschen) Außen- und Sicherheitspolitik verändern. Zum einen wandelt sich das deutsche Selbstverständnis hinsichtlich des Einsatzes von Bundeswehrsoldaten im Ausland. In diese Zeitspanne fallen die ersten „Out of Area-Einsätze“ der Bundeswehr und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994, welches die Teilnahme der Bundeswehr an UNO-Kampfeinsätzen auch außerhalb des NATO-Gebiets prinzipiell für zuverlässig erklärt (Hellmann 2006: 194ff). Außerdem wandelt sich zum anderen die Haltung westlicher Staaten gegenüber Interventionen allgemein aufgrund des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Die Bipolarität des internationalen Systems bildete für lange Zeit einen Kontext, in welchem humanitäre Konflikte eher aus machtpolitischer Perspektive betrachtet wurden. Erst mit den Erfahrungen in Afrika und auf dem Balkan etabliert sich im Laufe der 90er Jahre zunehmend der Begriff der „humanitären Intervention“. Gleichzeitig wandelt sich die NATO und der Begriff der Sicherheit (Nye 2003 (4): 112ff). Beide Aspekte – der Wandel des deutschen Selbstverständnisses und die neue Form der „humanitären Intervention“ – bilden dabei jedoch eher die Ausgangslage für die Beantwortung der Fragestellung.2 1

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Im Falle des Somaliakonfliktes siehe Security Council Resolution 814 vom 26 März 1993, online abgerufen unter htm http://www.un.org/Docs/scres/1993/scres93.htm, im Falle des Sudankonfliktes siehe Security Council Resolution 1547 vom 11 Juni 2004, online abgerufen unter htm http://www.un.org/Docs/sc/unsc_ resolutions04.html. Eben gerade wegen diesen beiden Veränderungen spielt die EU eventuell eine wichtigere Rolle in der medialen Wahrnehmung der Konflikte. So wäre etwa eine Verbindung zwischen der europäischen Perspektiven und der Problemwahrnehmung als humanitäres Menschenrechtsproblem denkbar.

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Matthias Hofferberth

Zur Auswahl und Begründung des Textkorpus

Ziel dieses Beitrages ist es, mit Hilfe der Methode der qualitativen Textanalyse herauszuarbeiten, wie die beiden Konflikte in den deutschen Printmedien als Problem auf den zwei oben genannten Ebenen gerahmt wurden. Grundlage der Auswahl des Textkorpus ist dabei das Argument der methodischen Intersubjektivität. Gemeint ist hiermit, dass die Auswahl der Texte für den Leser plausibel sein soll und die Ergebnisse somit nicht über die Textauswahl eine bestimmte Richtung oder einen „Bias“ erhalten (King et al 1994: 128ff). Der Textkorpus setzt sich aus Kommentaren der beiden großen überregionalen Tageszeitungen „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und “Süddeutsche Zeitung“ zusammen. Hierbei handelt es sich um die beiden auflagestärksten Tageszeitungen in Deutschland.3 Es ist anzunehmen, dass diese den Diskurs über die (Nicht-) Wahrnehmung der EU als außenpolitischen Akteur zumindest beeinflussen. Gleichzeitig deckt diese Auswahl in gewisser Weise das politische Spektrum von eher konservativ bis eher liberal ab, so dass durch diese Auswahl ein breiter und von verschiedenen Perspektiven sich dem Thema nähernder Textkorpus entstehen kann (Staab 1990: 30f). Als zu untersuchende Textart werden ausschließlich Kommentare analysiert, da hier über Frames einzelne „Wahrnehmungen signifikant bzw. Objekte und Ereignisse sinnhaft gedeutet“ (Donati 2001: 149) werden. Anders als in Berichten, in welchen der eigenen „Frame“ im Hintergrund verborgen bleibt, ist in einem Kommentar der Frame des Autors unmittelbar greifbar, da es sich um eine persönliche Meinungsäußerung handelt. Da diese Arbeit diese Meinungsäußerungen untersucht, wird die Auswahl der Texte somit auf Kommentare sowie Gastkommentare der Zeitung reduziert. Für den Konflikt in Somalia wird als Zeitraum die Zeit zwischen dem 1. Januar 1993 und dem 30. Juni 1995 gewählt, während für den Konflikt im Sudan die Zeit zwischen dem 1. Januar 2004 und dem 30. Juni 2005 gewählt wird. Für den jeweiligen Konflikt stellen beide Zeiträume die zentrale Phase der internationalen Wahrnehmung dar. Innerhalb der beiden Zeiträume werden die Konflikte zuerst als solche wahrgenommen und dann im Rahmen der UN diskutiert, bzw. sanktioniert.4 Um einen umfassenden Textkorpus mit allen Kommentaren zu beiden Konflikten zu erhalten, werden die konkreten Aufgreifkriterien möglichst offen gehalten. Beide Zeitungen werden für den ersten Zeitraum mit den Suchbegriffen „EU und Somalia“/„Europäische Union und Somalia“ und „Deutsch3 4

Für die aktuellen Auflagedaten verschiedener deutscher Tageszeitungen bis zum 2. Quartal 2007 siehe http://daten.ivw.eu/index.php?menuid=11&u=&p, abgerufen am 23.07.2007. Im Falle des Sudankonflikts geschieht dies deutlich schneller. Gleichzeitig wird der Konflikt quantitativ intensiver behandelt. Deshalb beschränkt sich der zweite Zeitraum auf zwei Jahre bis einschließlich Dezember 2005

Die öffentliche (Nicht-)Wahrnehmung der EU als Akteur in der Außen- und Sicherheitspolitik

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land und Somalia“ für den Somaliakonflikt durchsucht. Für den zweiten Konfliktfall werden die Begriffe „EU und Sudan“/„Europäische Union und Sudan“/„EU und Darfur“/„Europäische Union und Darfur“/„Deutschland und Sudan“/„Deutschland und Darfur“ genutzt. Insgesamt besteht der Textkorpus aus 92 Kommentaren. Zum ersten Konflikt wurden 20 Kommentare in der FAZ und 23 Texte in der SZ gefunden. Für den zweiten Konflikt wurde mit 21 Kommentaren für den Sudankonflikt in der FAZ und 28 Texte in der SZ eine vergleichbare Anzahl an Texten gefunden.

4

Die Bearbeitung des Textkorpus

Ausgehend von diesem Textkorpus wird in einem ersten Schritt eine genauere Aufschlüsselung der Suchbegriffe durchgeführt. Hierbei wird zunächst rein quantitativ unterschieden, in wie vielen Texten der Begriff „Deutschland“ und der Begriff „EU/Europäische Union“ – differenziert nach den beiden Zeiträumen – vorkommt. Da diese quantitative Annäherung zahlreiche Fragen offen lässt, wird in einem zweiten Schritt mit Hilfe der Methode der Textfeinanalyse und der Frameanalyse der Textkorpus hinsichtlich der Frage nach der (Nicht-) Wahrnehmung der EU qualitativ ausgewertet.

4.1 Die quantitative Bearbeitung Im Rahmen einer quantitativen Frequenzanalyse der Begriffe „Deutschland“ und „EU“ lässt sich für die FAZ feststellen, dass der Begriff „Deutschland“ im ersten Zeitraum in allen Texten bis auf eine Ausnahme vorkommt, während der Begriff „EU“ nur in acht Texten auftritt. Für die SZ lässt sich ein ähnliches Ergebnis festhalten. In nur einem Text kommt der Begriff „Deutschland“ nicht vor, während der Begriff „EU“/„Europäische Union“ nur in sechs Texten vorkommt. Auf den ersten Blick scheint die nationale Perspektive demnach zu dominieren und die europäische Ebene eine deutlich geringere Rolle zu spielen. Für den zweiten Konflikt verändert sich die Frequenz der beiden Begriffe im Sinne einer Verschiebung in Richtung „EU“. Für die FAZ gilt dabei, dass der Begriff „Deutschland“ in fünfzehn Texten vorkommt, das Begriffspaar „EU“/„Europäische Union“ insgesamt in vierzehn Texten. Innerhalb der SZ kommt das Begriffspaar in achtzehn Texten insgesamt sogar häufiger vor als „Deutschland“, welches nur in sechzehn Texten zu finden ist. Abbildung 1 zeigt die prozentuale Verteilung im Verhältnis zur Gesamtzahl der Texte für die einzelnen Suchbegriffe innerhalb der jeweiligen Zeitungen unterschieden nach den beiden Zeiträumen:

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100 80 60 40 20 0

"Deutschland" in der FAZ "EU / Europäische Union" in der FAZ "Deutschland" in der SZ

Somalia

Abb. 1:

Sudan

"EU / Europäische Union" in der SZ

Begriffsfrequenzanalyse in Prozent

Dieser erste Schritt der rein quantitativen Analyse des Textkorpus deutet auf eine zunehmende Wahrnehmung der EU als Akteur hin. Während der Begriff „Deutschland“ im ersten Zeitraum in beinah allen Texten auftritt und gleichzeitig der Begriff „EU“ nur in 40% (FAZ) bzw. 26% (SZ) aller Texte auftritt, verschiebt sich dieses Ergebnis deutlich im zweiten Zeitraum. Hier treten die Begriffe „Deutschland“ und „EU“ mit circa 65% etwa gleichhäufig auf. Innerhalb der SZ tritt der Begriff „EU“ sogar häufiger im Textmaterial auf als der Begriff „Deutschland“. Die europäische Ebene erscheint demnach an Bedeutung als außenpolitischer Akteur zu gewinnen.5 Jedoch muss betont werden, dass diese reine Frequenzanalyse nur begrenzten Aussagewert für die Fragestellung hat. Erst durch den zweiten Schritt einer qualitativen Auseinandersetzung mit dem Textkorpus kann die Frage angemessen beantwortet werden (Mayring 2003 (8): 16ff).

4.2 Die qualitative Bearbeitung Die qualitative Bearbeitung des Textkorpus folgt zum einen der Methode der Frameanalyse und zum anderen der Textfeinanalyse. Hierbei wird eine kleine Anzahl an Texten – aus beiden Zeitungen je zwei Artikel pro Konflikt – zufällig bestimmt. Mit Hilfe einer Textfeinanalyse, welche die Artikel in ihren zentralen Aussagen und Argumentationsschritten zusammenfasst, werden aus diesen acht Texten für beide Analyseebenen („Akteur“ und „Problem“) induktiv Frames 5

Eine weitere, genauere Themenfrequenzanalyse – aufgeschlüsselt zum Beispiel nach einzelnen Konfliktmonaten – erscheint nicht sinnig, da es weniger um die Rolle der EU innerhalb eines Konfliktes, sondern übergreifend der mögliche Wandel zwischen den beiden Konflikten dem Erkenntnisinteresse entspricht.

Die öffentliche (Nicht-)Wahrnehmung der EU als Akteur in der Außen- und Sicherheitspolitik

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gewonnen. Auf der ersten Frameebene wird dabei betrachtet, auf welcher Akteursebene die einzelnen Texte die Konflikte in Somalia und im Sudan rahmen. Dabei wird unterschieden, ob der Konflikt primär durch nationalstaatliche Akteure, durch europäische Akteure oder durch internationale Akteure (z.B. UNO) gelöst werden soll. Auf der zweiten „Frameebene“ hingegen wird betrachtet, in welcher Form der Bedrohung der Konflikt wahrgenommen wird. Unterschieden wird hierbei, ob der Konflikt als regionales Problem, als humanitäres Problem oder als ordnungspolitisches Machtproblem wahrgenommen wird. Die so per Textfeinanalyse gewonnen Frames werden in einem zweiten Schritt auf den gesamten Textkorpus angewandt Zwischen den beiden Frameebenen sind dabei verschiedene Kombinationsmöglichkeiten denkbar. Die Artikel werden demnach anhand des folgenden Schemas eingeteilt:

„Frames“ auf der Akteursebene: a. b. c.

Konflikt wird im Rahmen einer nationalen Perspektive geframt Konflikt wird im Rahmen europäischen Perspektive geframt Konflikt wird im Rahmen internationalen Perspektive geframt

„Frames“ auf der Problemebene: a. Konflikt wird als regionales Problem geframt b. Konflikt wird als humanitäres Menschenrechtsproblem geframt c. Konflikt wird als ordnungspolitisches Machtproblem geframt

5

Die (Nicht-)Wahrnehmung der EU während des Somalia-Konflikts

Wendet man dieses Frameschema auf die 43 Artikel des ersten Zeitraums an, so ergibt sich daraus – differenziert nach Zeitungen – für den Konflikt in Somalia folgende Frameverteilung: Für die insgesamt 20 Texte der FAZ lässt sich auf der Akteursebene als Hauptframe die nationale Perspektive festhalten. Elf Texte (55%) thematisieren den Konflikt aus diesem Frame heraus, während acht Texte (40%) den Konflikt als internationales Problem Rahmen. Für die Fragestellung der (Nicht-)Wahrnehmung der EU lässt sich mit nur einem Text (5%) klar festhalten, dass der Konflikt nicht aus europäischer Perspektive gerahmt wird. Auf der Ebene der Wahrnehmung lässt sich für die FAZ eine ausgeglichene Verteilung festhalten. Hier gibt es keinen zentralen Frame, da der Konflikt gleichmäßig aus den drei Perspektiven gerahmt wird. Kombiniert man nun diese Ebenen, ergibt sich daraus, dass aus nationaler Perspektive der Konflikt primär als humanitäres Problem wahrgenommen wird. Die Dominanz der Wahrnehmung als humanitäres Problem lässt sich jedoch für die internationale Perspektive nicht

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festhalten. Hier treten die anderen beiden Frames insgesamt geringfügig häufiger auf. Aus der europäischen Perspektive schließlich erscheint der Konflikt als ordnungspolitisches Problem.. Im Anschluss an die FAZ lässt sich für die insgesamt 23 Texte der SZ ebenfalls festhalten, dass auch hier die nationale Perspektive dominiert. 15 Texte (65,2%) rahmen den Konflikt auf dieser Akteursebene. Analog zur FAZ folgt die internationale Perspektive mit sieben Texten (30,4%) während nur ein Text (3,4%) den Konflikt aus der europäischen Perspektive heraus thematisiert. Im Gegensatz zu den Ergebnissen für die zweite Frameebene der FAZ wird jedoch innerhalb der SZ der Konflikt nur in sehr geringem Umfang als humanitäres Problem wahrgenommen. Vielmehr dominiert mit zehn Texten (43,4%) die Wahrnehmung des Konflikts als ordnungspolitisches Machtproblem, dicht gefolgt von dem Frame des regionalen Problems (39,1%). Kombiniert man erneut die beiden Ebenen wird deutlich, dass aus der nationalen Perspektive der Konflikt sowohl als regionales als auch als ordnungspolitisches Problem wahrgenommen wird, während aus der internationalen Perspektive die Wahrnehmung als Machtproblem dominiert. Der einzige Text, welcher den Konflikt als europäisches Problem rahmt, betrachtet den Konflikt als ein regionales Problem. Für die Fragestellung dieses Beitrages ergibt sich somit für den ersten Konflikt, dass die europäische Ebene keine zentrale Rolle in der medialen Wahrnehmung spielt. Für beide Zeitungen gilt, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die EU nicht als außenpolitisch eigenständiger Akteur auftritt. Vielmehr gilt, dass entweder die Nationalstaaten oder die UNO aktiv werden müssen, um den Konflikt zu lösen. Eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik zur Lösung des Konfliktes scheint nicht möglich oder nicht wünschenswert. Folglich wird die EU nicht als selbstständiger Akteur im Kontext des Somalia-Konfliktes wahrgenommen. 6

Die (Nicht-)Wahrnehmung der EU während des Sudan-Konflikts

Der Sudan-Konflikt tritt insgesamt in 49 Texten innerhalb des zweiten Untersuchungszeitraums auf. Dabei entfallen 21 Texte auf die FAZ und 28 Texte auf die SZ. Innerhalb der 21 Artikel der FAZ stellt auf der Akteursebene erneut die nationale Perspektive mit zehn Texten (47,6%) den „Hauptframe“ dar. Die internationale Perspektive folgt mit sieben Texten (33,3%), während aus der europäischen Perspektive vier Texte (19,1%) den Konflikt rahmen. Hierbei wird auf den ersten Blick deutlich, dass das Gesamtbild weitaus ausgeglichener erscheint. Ähnliches lässt sich für die zweite Frameebene festhalten. Hier wird der Konflikt mit neun Texten (42,8%) primär aus der Perspektive eines ordnungspolitischen Machtproblems gerahmt. Die Perspektive eines humanitären Menschenrechts-

Die öffentliche (Nicht-)Wahrnehmung der EU als Akteur in der Außen- und Sicherheitspolitik

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problems folgt jedoch mit sieben Texten (33,3%) und die Perspektive eines regionalen Problems mit fünf Texten (23,8%). Auffällig ist, dass die Sichtweise eines ordnungspolitischen Machtproblems eng verknüpft mit der Ebene des Nationalstaats erscheint, während die beiden anderen Problemperspektiven eher auf der europäischen oder auf der globalen Akteursebene angesiedelt sind. Grafisch ausgedrückt ergibt sich folgende Verteilung: Für die 28 Texte der SZ lässt sich festhalten, dass mit 17 Texten (60,7%) eindeutig die internationale Perspektive auf den Konflikt dominiert. Nur sieben Texte (25%) betrachten den Konflikt aus der Perspektive des Nationalstaats. Auf die europäische Perspektive entfallen die übrigen vier Texte (14,3%). Der Konflikt selber wird in der SZ als humanitäres Menschenrechtsproblem wahrgenommen. 19 Texte (67,9%) beschreiben den Konflikt als derartige Herausforderung, während nur fünf Texte (17,9%) den Konflikt als Machtproblem und vier Texte (14,3%) als regionales Problem betrachten. Auf allen drei Akteursebenen dominiert dabei die Wahrnehmung des Konflikts als humanitäres Menschenrechtsproblem. Interessant für die Fragestellung des Beitrages erscheint dabei, dass aus der europäischen Ebene alle vier Texte den Konflikt gleichzeitig als humanitäres Problem wahrnehmen. Hier treten die anderen beiden Ebenen nicht auf. Vergleicht man die Ergebnisse für den Sudan-Konflikt zwischen FAZ und SZ fällt zunächst auf, dass die SZ den Konflikt insgesamt häufiger thematisiert. Darüber hinaus wird deutlich, dass die beiden Zeitungen den Konflikt aus zwei verschiedenen Perspektiven wahrnehmen. Während für die FAZ wie gezeigt die nationale Perspektive dominiert, spielt für die SZ die internationale Perspektive die zentrale Rolle. Analog dazu unterscheiden sich die Zeitungen ebenfalls hinsichtlich der Problemebene, auf welcher der Konflikt angesiedelt wird. Während ordnungspolitische Machtprobleme die Darstellung der FAZ prägen, rahmt die SZ den Konflikt als humanitäre Katastrophe. Trotz dieser Unterschiede bleiben für beide Zeitungen ähnliche Ergebnisse im Sinne der Fragestellungen festzuhalten. Beide Zeitungen betrachten den Konflikt vergleichbar oft aus der europäischen Perspektive und für beinah alle Texte lässt sich dabei festhalten, dass hier die humanitäre Problemwahrnehmung dominiert. Im abschließenden Fazit werden diese Einzelergebnisse der beiden Konflikte miteinander verglichen, um somit einen möglichen Wandel in der (Nicht-)Wahrnehmung der EU als außenpolitischer Akteur über Zeit darzustellen.

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Fazit und Ausblick

Analog zur konstruktivistisch motivierten Epistemologie dieses Sammelbandes hat dieser Beitrag versucht, die deutsche (Nicht-)Wahrnehmung der EU als au-

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ßenpolitischer Akteur anhand der Medienberichterstattung in zwei deutschen Tageszeitungen nachzuzeichnen. Zentrale theoretische Annahme dabei ist, dass Kommentare als zentrale Komponente des öffentlichen Diskurses Wirklichkeit konstruieren. Anhand zwei vergleichbarer afrikanischer Konflikte – Somalia 1993/95 und Sudan 2004/05 – analysierte dieser Beitrag, ob und wie die EU als eigenständiger Akteur zur Konfliktlösung in den beiden auflagestärksten Tageszeitungen Deutschlands wahrgenommen wurde. In insgesamt 92 Kommentaren wurde herausgearbeitet, welche außenpolitische Rolle die EU im Vergleich zu nationalen und internationalen Akteuren spielt. Da zwischen den beiden Konflikten ein Zeitraum von zehn Jahren liegt, konnte somit die Frage nach einem möglichen Wandel in der Wahrnehmung thematisiert werden. Dabei hat eine erste quantitative Frequenzanalyse gezeigt, dass die EU innerhalb des zweiten Konfliktes deutlich häufiger als Begriff auftritt. Das begriffliche Gegenpaar in diesem Verständnis – Deutschland als nationaler Akteur – tritt gleichzeitig weniger häufig in den Kommentaren auf. Das Ergebnis der zunehmenden Wahrnehmung der EU als außenpolitischer Akteur wird jedoch durch die Ergebnisse der qualitativen Frameanalyse relativiert. Zwar tritt innerhalb des zweiten Zeitraumes in beiden Zeitungen der europäische Rahmen häufiger auf als innerhalb des ersten Zeitraums. Während im ersten Fall die europäische Perspektive praktisch keine Rolle spielt ändert sich dies für den zweiten Fall. Dennoch erscheint nach qualitativer Analyse des Korpus die Tendenz weniger signifikant als nach dem ersten quantitativen Schritt. Als Antwort auf die Frage dieser Arbeit nach einem (Nicht-)Wandel der Wahrnehmung der EU in zwei afrikanischen Konflikten lässt sich also ein zwar schwaches, aber immerhin eindeutiges Bild durch die Analyse gewinnen. Die Europäische Union spielt eine langsam zunehmende Rolle in der nationalen Wahrnehmung der beiden Konflikte. Innerhalb des nationalen Wissensvorrats verändert sich das Verständnis der EU. Im Sinne des Gesamtprojektes kann eine – wenn auch sehr zaghaft gedachte – gemeinsame europäische Identität in einzelnen Kommentaren attestiert werden. Es ist somit in den letzten zwölf Jahren in Deutschland zu einer zunehmenden Wahrnehmung der Europäischen Union als Akteur der Außen- und Sicherheitspolitik gekommen. Diese Tendenz ist vor dem Hintergrund der Probleme der Souveränitätsabgaben in diesem Politikfeld erwartungsgemäß schwächer ausgefallen als in anderen Politikbereichen. Dennoch erscheint gewissermaßen als „spill over“-Effekt aus anderen Integrationsbereichen die EU als zunehmend relevanter Akteur der Außen- und Sicherheitspolitik in der medialen Darstellung. Hieraus scheint sich sogar ein mögliches Problem der zunehmenden Akteurswahrnehmung und der eher begrenzten politischen Möglichkeiten der EU zu ergeben. Einerseits wird die EU als Akteur wahrgenommen, andererseits bewahren die Mitgliedsstaaten ihre Souveränität (Algieri 2004: 433ff). Ob und wie die

Die öffentliche (Nicht-)Wahrnehmung der EU als Akteur in der Außen- und Sicherheitspolitik

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erweiterte Europäische Union der 27 Mitgliedstaaten mit diesem nicht an der wirklichen Integration gemessenen, sondern medial konstruierten neuen Akteursstatus umgehen wird, bleibt abzuwarten. In Anbetracht der zahlreichen globalen Gefahren und Probleme des 21. Jahrhunderts – Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Integration der ehemaligen Ostblockstaaten und der Zunahme von ethnischen Konflikten, um nur einige zu nennen – bleibt zu hoffen, dass eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik schnell auf die Agenda der EU kommt (Woyke 2001: 18ff). Besonders vor der schwer voranschreitenden Integration im außen- und sicherheitspolitischen Bereich, den bekannten Zerwürfnissen des Irak-Krieges und den Problemen der Sicherheitsarchitektur in Europa allgemein (Varwick 2001: 247ff) sowie dem vermeintlichen Scheitern in Brüssel hinsichtlich dieses Themenfeldes muss die Diskrepanz zwischen medialer Wahrnehmung auf der einen und konkreten politischen Möglichkeiten sowie gegensätzlichen Positionen auf der anderen Seite schnell abgebaut werden. Nur so kann die EU in Zukunft außenpolitisch vereint eine Rolle spielen und die „Idee Europa“ in den Köpfen der Menschen sich durchsetzen.

Literatur Algieri, Franco 2004: Die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, in: Weidenfeld, Werner(Hrsg.): Europa-Handbuch, Gütersloh, S. 420 – 439. Donati, Paolo R. 2001: Die Rahmenanalyse politischer Diskurse, in: Keller, R. (Hrsg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. I Methoden und Theorie, Opladen, S. 145 – 176. Hellmann, Gunther 2006: Deutsche Außenpolitik. Eine Einführung, Wiesbaden. King, Gary/Keohane, Robert O./Verba, Sidney 1994: Designing Social Inquiry. Scientific Inference in Qualitative Research, Princeton. Mayring, Philipp 2003 (8), Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlage und Techniken, Weinheim. Müller, Harald 2004: Demokratien im Krieg – Antinomien des demokratischen Friedens, in: Schweitzer, Christine (Hrsg.): Demokratien im Krieg, Baden-Baden, 35-52. Nye, Joseph O. 2003 (4): Understanding International Conflicts. An Introduction to Theory and History, New York. Prunier, Gérard 2005: Darfur. The ambiguous genocide, Ithaca. Staab, Joachim F. 1990: Nachrichtenwert-Theorie: formale Struktur und empirischer Gehalt. Freiburg Varwick, Johannes 2001: Probleme der Sicherheitsarchitektur Europas, in: Loth, Wilfried (Hrsg.): Das europäische Projekt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Opladen, S. 247266. Wheeler, Nicolas J. 2000: Saving Strangers. Humanitarian Intervention in International Society, New York.

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Woyke, Wichard 2001: Die Agenda der Europäischen Union zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Loth, Wilfried (Hrsg.): Das europäische Projekt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Opladen, 9 – 26.

Einbettung und Vernetzung? Allgemeine und Expertenöffentlichkeit – in der Debatte über die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP) Claudia Rode Einbettung und Vernetzung?

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Gegenstand und Fragestellung

Gegenstand der vorliegenden Ausarbeitung ist die deutsche Debatte um den Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP), insbesondere um seine Verletzung durch Deutschland und seine Reform. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach dem Verhältnis zwischen der von Experten getragenen Diskussion in ökonomischen Fachmedien und der Verarbeitung der deutschen Politik in den Populärmedien. Im Folgenden werden zunächst einige zum Verständnis der Auseinandersetzungen nötige Hintergrundinformationen gegeben und dann die Fragestellung begründet. Der SWP ist im Zuge der Vorbereitungen zur Einführung der gemeinsamen Währung EURO entstanden. Er ist daher als wesentliche Ergänzung untrennbar mit dem Vertrag von Maastricht verbunden. Der SWP reagierte auf den Umstand, dass die Europäisierung der Geldpolitik die nationalen Kompetenzen in der Haushaltspolitik nicht berührte und so die Möglichkeit bestand, dass die Kosten mangelnder Haushaltsdisziplin eines einzelnen Staates als Inflation an alle Mitgliedsstaaten der Eurozone externalisiert werden konnten. Mit dem Vertrag von Maastricht haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am 7.2.1992 beschlossen, eine gemeinsame Währung unter Berücksichtigung eines festgelegten Zeitplanes zu schaffen und nach erfolgreicher Erreichung festgelegter Kriterien auch einzuführen1. Diese sogenannten Konvergenzkriterien sind im Einzelnen die Preisstabilität, die Höhe der langfristigen Zinssätze, die Währungsstabilität, das nationale Haushaltsdefizit, das 3% des Bruttoin1

vgl. Konsolidierte Fassung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, http://europa.eu.int/eur-lex/lex/de/treaties/drt/12002E/ pdf/12002 E_de.pdf, Rev. 2006-07-04, Dritter Teil, Titel VII – Die Wirtschafts- und Währungspolitik, Kapitel 4, Übergangsbestimmungen, Art. 121 und vgl. Thilo Sarrazin, Der Euro, Chance oder Abenteuer?, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 1998, S. 9.

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landsproduktes (BIP) nicht überschreiten darf, sowie die öffentliche Verschuldung, deren Grenzwert 60% des BIP beträgt. Im Verlauf der Diskussion um die Einführung einer gemeinsamen Währung und mit dem Verweis auf fehlende Kontroll- und Sanktionsmechanismen nach deren Einführung wurde auf Antrag des Europäischen Rates der SWP vom Rat für Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN) 1997 erarbeitet. Mit Beschluss vom 17. Juni 1997 hat der Europäische Rat von Amsterdam diesen angenommen.2 Ziel des SWP ist es, zu verhindern, dass nach Eintreten in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) in der Eurozone übermäßige Haushaltsdefizite auftreten. Als Grenzwert für das öffentliche Defizit wurden die Konvergenzkriterien zum Haushaltsdefizit (3% des BIP) und zur öffentlichen Verschuldung (60% des BIP) fortgeführt. Das für die Umsetzung notwendige Verfahren ist das sogenannte Defizitverfahren, geregelt in der Verordnung 1467/1997. Das Defizitverfahren soll mit seinen festgelegten Abläufen und Eskalationsstufen das Verhalten sanktionieren.3 Sanktionen können aber auch aufgehoben werden, wenn zum Beispiel der betreffende Staat Fortschritte in der Korrektur des Defizits macht.4 Bereits seit 2001 mussten in der Praxis einzelne Länder mit Frühwarnungen oder Defizitverfahren belegt werden. Deutschland ist eines der großen Euroländer, die nach 2001 regelmäßig die 3%-Grenze nicht eingehalten hatte.5 Die Vielzahl der Defizitüberschreitungen, nicht nur Deutschlands, veranlasste die Kommission, den Vorschlag auszusprechen, den SWP zu überarbeiten. In den Änderungen, denen der europäische Rat am 22. und 23. März 2005 zugestimmt hat, sind neben den bestehenden Konvergenzkriterien sonstige Faktoren für die Rechtfertigung einer Überschreitung eingegangen. Beispielhaft sind hier zu nennen die Ausgaben für Forschung, Entwicklung und Innovation,6 Belastungen aus der Verwirklichung der Ziele der europäischen Politik, insbesondere dem europäischen Einigungsprozess, Ausga-

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vgl. EU-Dokumente, Entschließung des Europäischen Rates von Amsterdam über den Wachstums- und Stabilitätspakt, Stabilitätspakt und Koordinierung der Wirtschaftspolitik, http://europa.eu/scadplus/printversion/de/lvb/125021.htm, Rev.2006-06-04, S. 1. vgl. EU-Dokumente, Verordnung (EG) Nr. 1467/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, Amtsblatt Nr. L.209 vom 02/08/1997; S. 0006-0011, http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ.do?uri=CELEX:3199R14 67:DE:HTML, Rev. 2006-06-03, Abschnitt 4, Artikel 11,13, S. 5. vgl. ebd., Abschnitt 4, Art. 14, S. 5 und EU-Dokumente, Durchführung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, S. 3. vgl. EU-Dokumente, Durchführung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, Stabilitätspakt und Koordinierung der Wirtschaftspolitik, http://europa.eu/scadplus/printversion/de/lvb/125057.htm, Rev.2006-06-04, S. 1. vgl. EU-Dokumente, Verordnung (EG) Nr. 1056/2005 des Rates vom 27. Juni 2005 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 über Beschleunigung Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, Art. 2, Abs. 3 neu, S. 3.

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ben für Rentenreformen7 oder Belastungen aus Finanzbeiträgen zu Gunsten der internationalen Solidarität.8 Die Änderungen des SWP sind wesentlich, da sie die bisherige erste Priorität der Preisstabilität ergänzen. Die Komponente Wachstum soll durch diese Änderungen gestärkt werden. Die Auswirkungen auf die Preisstabilität lassen sich dabei jedoch derzeit noch nicht abschätzen. Mit der Änderung des SWP vom März 2005 wird auch eine Verschiebung der wirtschaftspolitischen Ausrichtung deutlich. Der Neo-Liberalismus war das Leitbild für die Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion.9 Dies korreliert mit der damaligen politisch konservativen Mehrheit der europäischen Staaten. Der Neo-Liberalismus ist eine Weiterentwicklung des Liberalismus. Kernforderung ist der Verzicht auf staatliche Interventionen mit dem gewünschten Effekt einer effizienten Wirtschaft und damit einhergehenden Wohlfahrtsgewinnen. Preisstabilität (und ein ausgeglichener Haushalt) erscheint hier als zentrale Voraussetzung von Marktwettbewerb und somit Wachstum. Sozialpolitische Eingriffe sind danach nur für diejenigen erlaubt, die nicht für sich selbst sorgen können. Wichtigste Vertreter sind W. Eucken, von Hayek und in den 1980er Jahren M. Friedman.10 Erst mit der Änderung des SWP im März 2005 wurden keynesianische Modellelemente z.B. mit dem Leitbild der Förderung des Wachstums eingebracht. Dies entspricht auch dem politischen Leitbild der Euro-Länder, die seit Ende 1998 mehrheitlich sozialdemokratisch regiert sind.11 Der Keynesianismus geht auf J. M. Keynes (1883-1964) zurück. Dieser hatte im Rückblick auf die Weltwirtschaftskrise 1929/32 der klassischen wirtschaftspolitischen These widersprochen, dass Marktgleichgewicht ein gesellschaftliches Optimum – als Ausdruck maximaler Produktion – generiert. Er stellte fest, dass ein makroöko7

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vgl. EU-Dokumente, Verordnung (EG) Nr. 1055/2005 des Rates vom 27. Juni 2005 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, Art. 5, Abs. 1, Unterabsatz 4, S. 4. vgl. Deutsche Bundesbank, Die Änderungen am Stabilitäts- und Wachstumspakt, Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 2005, http://www.bundesbank.de/download/volkswirtschaft/ monatsberichte/2005/200504mb_bbk.pdf, Rev. 2006-06-30, S. 17. vgl. Kenneth Dyson, Germany and the Euro: Redifining EMU, Handling Paradox, and Managing Uncertainty and Contingency; Germany and EMU, in: Kenneth Dyson, European States and the Euro, Europeanization, Variation and Convergence, Oxford, 2002, S. 175. vgl. Petra Bendel, Neo-Liberalismus, in: Dieter Nohlen, Rainer Schultze (Hrsg.), Lexikon der Politikwissenschaft, Band 2, München, 2002, S. 569f. vgl. Philip Manow, Europas parteipolitisches Gravitationszentrum, Abweichende Mehrheiten zwischen Ministerrat und europäischem Parlament und die Konsequenzen für den Integrationsprozess, http://www.mpi-fg-koeln.mpg.de/pu/mpifg_jb/MpifG_2003-2004(11)_EU-gravitationszentrum.pdf, Rev. 2006-06-25, S. 72 und vgl. Kenneth Dyson, Germany and the Euro: Redifining EMU, Handling Paradox, and Managing Uncertainty and Contingency; Germany and EMU, in: Kenneth Dyson, European States and the Euro, Europeanization, Variation and Convergence, Oxford, 2002, S. 175.

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nomisches Gleichgewicht bei Unter- oder Vollbeschäftigung existieren kann. Seine wirtschaftspolitische Empfehlung lautet, bei fehlender privater Nachfrage nach Investition soll der Staat als Akteur hinzutreten. Ziel ist es, so Vollbeschäftigung wieder herzustellen. Neben der Finanzierung über Steuereinnahmen verweist er auch auf die Möglichkeit der Kreditaufnahme. In wirtschaftlich guten Zeiten sollten die Kreditmittel durch Sparen jedoch zurückgeführt werden.12 Das Ziel der Preisstabilität konkurriert somit mir dem der Vollbeschäftigung. Bis Anfang der 1970er Jahre war der Keynesianismus in der deutschen Wirtschaftspolitik maßgebend. Mit der Globalisierung der Kapital- und Produktmärkte einerseits und der Krise der Sozialsysteme andererseits wurde der keynesianistische Konsens problematisch und durch die neoliberale Dominanz bzw. den Konfliktdiskurs zwischen Neoliberalen und Keynesianern abgelöst. Seit seiner Entstehung und Ratifizierung in 1997, insbesondere aber seit den sich häufenden Defizitüberschreitungen und seiner Änderung im März 2005 ist der SWP das Objekt diverser Mediendebatten. Die Debatten offenbaren dabei auch unterschiedliche Sichten der einzelnen Akteure. In der Bundesrepublik Deutschland sind die Bundesregierung und die jeweilige Opposition Hauptakteure in der Debatte um einzelne Politikfelder. In der Zeit vor dem Regierungswechsel im Herbst 2005 standen sich die rot-grüne Regierungskoalition mit der eher keynesianisch geprägten Wirtschaftspolitik und die CDU/CSU- und FDPOpposition, die eher neoliberale Wirtschaftspolitik präferiert, konträr gegenüber. Das im SWP innewohnende Ziel der Preisniveaustabilität war in der keynesianischen Denkweise eher hinderlich als förderlich. So wurde dann auch der Weg der Bundesregierung zur Änderung des Paktes teilweise in 2003 schon öffentlich.13 Zentral waren in den Verhandlungen über die Änderung des SWP für die Bundesregierung die Berücksichtigung von Länderspezifika und Sonderfaktoren sowie die zeitliche Verlängerung beim Defizitabbau. Verständlich ist diese Vorgehensweise bzw. diese Argumentation, da Deutschland bereits seit 2001 die 3%-Haushaltsdefizitgrenze nicht einhielt. Mit der Berücksichtigung von Sonderfaktoren, der herrschenden Konjunkturlage, Ausgaben für Bildung und Forschung, Zahlungen an die EU etc. kann jedoch das Defizitverfahren ruhen. EZB und Bundesbank sind die zuständigen Organe für die Geldpolitik, wobei der Bundesbank, wie allen nationalen Zentralbanken, nur noch eine beratende Funktion zukommt. Sie präferieren einen strikt angewandten SWP zur Währungssicherung und Einhaltung der Preisstabilität entsprechend ihrer definierten Ziele. 12

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vgl. Josef Esser, Keynesianismus, in: Dieter Nohlen, Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Lexikon der Politikwissenschaft, Band 1, München, 2002, S. 403 und Manfred G. Schmidt, Wörterbuch zur Politik, Stuttgart, 1995, S. 466. Ulrich Schäfer, Weniger streng – Schröder will den Pakt aufweichen, http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/artikel/137/17120/print.html, Rev. 2005-06-08.

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Die EZB zeigt sich in Bezug auf die Änderung des SWP besorgt. Sie mahnt an, dass das neue Regelwerk nicht zu einem Vertrauensschaden des Euro und der Eurozone werden darf. Sie erklärte aber auch, dass die Reform zu einer Stärkung des Paktes führen kann, wenn in guten Zeiten gespart werden würde.14 Die empirische Fallstudie soll die Mediendebatte um die Verletzung der Defizitkriterien und die Änderung des SWP in den Fach- und Populärmedien in Deutschland beleuchten. Es wird davon ausgegangen, dass Fach- und Populärmedien sowohl die Debattenobjekte unterschiedlich betrachten, als auch die Debatten in sich unterschiedlich abbilden. Hinter dieser Hypothese steht die theoretische Überlegung, dass Fachmedien und Populärmedien Foren unterschiedlicher Öffentlichkeiten darstellen. Die Fachmedien werden als Forum von Experten, d.h. „epistemologische Gemeinschaften“ im Sinne von P. M. Haas15 gefasst, in deren Diskurse die entscheidungsnahen europäischen Politiknetzwerke eingebettet sind. Die Populärmedien dagegen repräsentieren die nationale politische Öffentlichkeit, d.h. die Bühne, auf der europäische und nationale Politik einem nationalen Wählerpublikum vorgestellt wird. Die Fallstudie soll insbesondere zwei Fragen beantworten: Charakterisieren sich die Diskurse der Expertenöffentlichkeit und der allgemeinen Öffentlichkeit – abgesehen von formalen Merkmalen – durch analoge oder divergente Fokussierungen, Deutungsrahmen und Perspektiven? Sind die Debatten vertikal vernetzt?

2

Vorgehensweise

Der Textkorpus der empirischen Fallstudie umfasst in Deutschland veröffentlichte Printmedien. Für den Bereich der Fachmedien wurden Zeitschriften, differenziert nach Bereichen, ausgewählt. Die Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen (ZfgK) repräsentiert den Bereich des Bankwesens, der Schwerpunkt Volkswirtschaft wird in den Zeitschriften und Publikationen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und in der Zeitschrift für Wirtschaftspolitik abge14

15 16

17

vgl. N24, Europäische Zentralbank sorgt sich um den Stabilitätspakt, 21.03.2005, http:// www.n24.de/wirtschaft/wirtschaftspolitik/artikel/2005/03/21/print_2005032122, Rev. 2005-0607, S. 1. vgl. P. M. Haas, Introduction , in: P. M. Haas, Knowledge, Power and International Policy Coordination, Massachusetts, 1992, S.3 In der Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen wurden analysiert: Datum: 01.11.2004, Autor: O. Schwarzer, Titel: „Sündige Europäer“; Datum: 01.03.2005, Autor: O. Schwarzer, Titel: „Stabilität ohne Pakt?“; Datum: 01.08.2005, Autor: O. Schwarzer, Titel: „Unwiderruflich!“ Die Texte sind: C. Hefeker, „Ist ein flexibler Stabilitätspakt ein besserer Pakt?“, F. Heinemann, „Die strategische Klugheit der Dummheit – keine Flexibilisierung des Stabilitätspakts ohne Entpolitisierung“; K. F. Zimmermann, „Nur Reformen retten den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt“. Alle drei erschienen in Heft 1/2004

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bildet. Das DIW ist ein Wirtschaftsforschungsinstitut und spezialisiert auf angewandte Forschung und Politikberatung. Es ist politisch und ökonomisch nicht festgelegt. Die Zeitschrift für Wirtschaftspolitik sieht nationale und internationale Wirtschaftspolitik aus wissenschaftlicher Perspektive. Politisch und ökonomisch ist sie ebenfalls nicht festgelegt. Als wirtschaftsorientierte Tageszeitung wurde das Handelsblatt gewählt. Den Bereich Populärmedien repräsentieren zudem die überregionalen Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), als wirtschaftsliberal und politisch-konservativ, und die Frankfurter Rundschau, als links-liberal orientiert. Der Betrachtungszeitraum umfasst September 2004 bis August 2005. In diesen Zeitraum fallen die thematisch wichtigen Ereignisse, wie die Veröffentlichung der ersten Vorschläge durch Währungskommissar Almunia zur Änderung des SWP am 3. September 2004, die ersten Beratungen der EU-Finanzminister über eine Reform des SWP am 16. Januar 2005 und die Einigung der EUFinanzminister über die Änderungen des SWP am 22. März 2005. Die relevanten Artikel wurden über die Zeiteinschränkung und über Stichwortsuche (Euro – Stabilitäts- und Wachstumspakt) ermittelt. Bei den Tageszeitungen wurden die Datenbanksuchmaschinen lexis-nexis (Frankfurter Rundschau), legios (Handelsblatt) und das FAZ-Archiv genutzt. Die Suche ergab 23 Artikel im Bereich Fachmedien und 399 Artikel der Rubrik Populärmedien. Die Eingrenzung des Textkorpus für die Feinanalyse erfolgte unter inhaltlichen Gesichtspunkten. Ausgewählt wurden nur die Beiträge, welche die Verletzung/Reform des SWP in den Mittelpunkt stellen. Berücksichtigt wurden 3 Beiträge der ZfgK,16 drei Texte der Zeitschrift für Wirtschaftspolitik17 und 5 Artikel des DIW Vierteljahresheftes „Zur Zukunft des Stabilitäts- und Wachstumspaktes“ (Heft 3/2004).18 Unter dem Gesichtspunkt inhaltlicher Relevanz wurden im Handelsblatt 12 (von 16 Kommentaren) von der FAZ 17 (von 75 Treffern der Stichwortsuche), der FR 10 (von 42 Treffern) berücksichtigt. Das gewählte Analyseverfahren kombiniert deduktiv-quantitative und induktive Herangehensweisen. Ausgangspunkt waren drei Hypothesen, die anhand von Indikatoren (Schlüsselbegriffen, Argumentationsmustern) getestet werden sollten. Die Berücksichtigung der wirtschaftswissenschaftlichen Schulmeinungen als Kontext und Frame der Auseinandersetzung mit dem SWP ergab sich erst aus der Auseinandersetzung mit den Texten. 1. Die Ausgangshypothese war: Merkmale der Debatten in der Expertenöffentlichkeit und der allgemeinen Öffentlichkeit unterscheiden sich markant.

18

Es handelt sich um die Beiträge der Autoren F. Höppner/C. Kastrop/S. Olbermann/T. Westphal; R. Ohr/A. Schmidt; B. Herzog; H.-P. Spahn; J. Bibow.

Einbettung und Vernetzung?

229

Im Einzelnen wurde erwartet: (1) Die Fachmedien (a) betrachten die Verletzung der Defizitkriterien kritisch, (b) argumentieren aus einem europäischen Interesse, (c) argumentieren vorwiegend ökonomisch. (2) Die Populärmedien (a) betrachten die Verletzung der Defizitkriterien weniger kritisch, (b) argumentieren aus der Perspektive eines nationalen Interessens, (c) argumentieren weitgehend politisch. Diese Hypothesen resultierten aus der Überlegung, dass Bezugspunkt der transnational vernetzten Expertendebatte eher die Effizienz der europäischen Währung und die ökonomischen Mechanismen und Zwänge einer europäischen Finanzpolitik seien, während der Horizont der nationalen Populärmediendebatte stärker durch eine nationale Perspektive geprägt sei, die einerseits empfänglich sei für die wirtschafts- und sozialpolitischen Rechtfertigungen der deutschen Paktverletzung und andererseits weniger sensibel für das Problem der Externalisierung von Kosten nationaler Paktverletzungen (Inflation) an die Staaten des gesamten Euroraums. Für die kritische/nicht kritische Haltung zur Paktverletzung und die eine europäische/nationale Perspektive wurden Indikatoren ausgemacht.19 2. Erwartet wurde eine eher schwache Vernetzung der beiden Öffentlichkeitsarenen. Die Vernetzung wurde operationalisiert als zeitliche Koinzidenz der Artikel (d.h. Kommentierung der Reformdebatte/der Positionierungen der Akteure in der 19

Für die von den Fachmedien erwartete kritischer Haltung zur Aufweichung und Reform des SWP wurden als Indikatoren folgende Argumente und Schlüsselbegriffe betrachtet: Hinweise auf Instabilität der Währung, Verlassen der Tugendpfade seitens der Politik, bevorstehende Bewährungsproben für den Euro, Kritik an der derzeitigen Wirtschaftspolitik, aber auch generelle Probleme beim „Bau“ des Stabilitäts- und Wachstumspaktes; wertende Formulierungen wie: Aufweichung des Paktes, Stabilitäts-Sünder, nicht tugendhafte Politik, Tod des Paktes, Schlupflöcher im Regelwerk. Für die bei den Populärmedien erwartete positive Bewertung der Reform und die günstigen Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung galten: Verständnis für die Berliner Sondersituation, positive Würdigung der Politiker, Kritik an Bundesbank/EZB und anderen Andersdenkenden. Als Schlüsselbegriffe galten: Diktat des Stabilitätspaktes, Starrsinn der Zentralbanker, Stabilitätswahn, ökonomische Vernunft, Entlastungsfaktoren, Wachstum. Hinweise auf eine europäische Perspektive sollten sein: die Nennung anderer europäischer Staaten, Vergleich der nationalen Haushaltspolitiken, Verweis auf den Euroraum, Problematisierung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes für verschiedene europäische Staaten, Hervorheben der europäischen Geldpolitik, der Euro- bzw. Inflationsentwicklung im Euroraum. Schlüsselbegriffe: Gemeinschaft der Defizitsünder, Währungsraum, optimaler bzw. nicht optimaler Währungsraum, Preisstabilität versus Inflationsentwicklung, Euroentwicklung. Als Hinweise für eine nationale Perspektive wurden betrachtet: Hinweise auf die positive Wirkungen der Vertragsverletzung in Deutschland, Nennung der deutschen Position, Unverständnis für Brüssel, positive Betrachtung des Spielraumgewinns nationaler Politik durch die Änderung, Verweis auf nationale Wachstumsimpulse, Hervorheben der Finanz- und Fiskalpolitik. Schlüsselbegriffe: Schröder’s Erfolg, nationale Besonderheiten.

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Debatte schon im Vorfeld der Reformentscheidung bzw. Fehlen dieser Bezüge in der Populärmediendebatte und Beschränkung auf eine Kommentierung der politischen Entscheidung) und personelle Vernetzung der Kommentatoren (Experten treten/treten nicht als Gastautoren auf). 3. Wie bereits angedeutet, zeigte sich in der Auseinandersetzung die Bedeutung der wirtschaftspolitischen Schulmeinungen, die sich als politisch-ideologischer Deutungsrahmen auch in den Texten der Populärmedien auffinden ließ.

3

Ergebnisse

Die oben formulierten Hypothesen wurden durch die Medientextanalyse weitgehend falsifiziert. Das gilt sowohl für das inhaltliche Profil der Debatten in den beiden Öffentlichkeiten als auch für die Erwartung fehlender Vernetzung. Unter formalen Gesichtspunkten unterscheiden sich die Texte in Fachzeitschriften und Populärmedien hinsichtlich der Länge und des Informationsgehaltes, auch eine Problemdifferenzierung, verbunden mit Lösungsvorschlägen, ist hauptsächlich bei den Fachmedien zu finden. Die Tabelle 1 zeigt, dass sich hinsichtlich des inhaltlichen Profils der beiden Medientypen zwar Divergenzen ausmachen lassen, die Hypothese einer Polarisierung aber keineswegs bestätigt wird. Die Übersicht zeigt, dass sich nicht nur die Fachmedien mehrheitlich kritisch gegenüber der Verletzung des SWP zeigen, sondern auch die Populärmedien, und zwar insbesondere die des bürgerlich-konservativen Lagers. Auch in der FR finden sich kritische Texte, insgesamt überwiegen hier aber „weniger kritische“ Stellungnahmen. Die Tabelle macht zugleich auch deutlich, dass das Urteil in den Fachmedien keineswegs einhellig ist und auch hier eine Zeitschrift „weniger kritischen“ Positionen ein Forum gibt. Die Divergenzen in beiden Öffentlichkeiten lassen den Schluss zu, dass es unter den Experten kontroverse Einschätzungen gegenüber der Politik der deutschen Regierung gab, und dasselbe für die allgemeine Öffentlichkeit gilt. Bestätigt wird diese Einschätzung durch den Vergleich der Haltung zur verabschiedeten Reform, der in den Texten zum Ausdruck kommt. Was nun die europäische bzw. nationale Perspektive betrifft, so bestätigt sich zwar die Erwartung, dass in der Fachdebatte eine europäische Perspektive unangefochten dominiert. Es zeigt sich aber zugleich, dass auch die Argumentationen in den Populärmedien mehrheitlich aus einer europäischen Perspektive geführt werden. Allerdings zeigen sich hier Unterschiede: die Aussage gilt für das Handelblatt und die FAZ, nicht aber für die FR. In den Texten des linksliberalen Blattes dominiert nicht nur ein „wenig kritischer“ Umgang mit Paktverlet-

231

Einbettung und Vernetzung?

zung und Reformplänen, das Verständnis für die Regierungspolitik entspringt hier auch einer Betrachtung aus der Perspektive nationaler Interessen und Handlungszwänge. Tabelle 1:

Ergebnisse der Textinhaltsanalyse

Medium

Anzahl Artikel in der Textinhaltsanalyse 3

Kritisch/ weniger kritisch

Europäisches Interesse/ nationales Interesse

Argumentation ökonomisch/ politisch

Pro/contra Änderung

3:0

3:0

2:1

0:3

3

3:0

3:0

0:2 (1 teils/teils)

DIWVierteljahreshefte

5

5:0

4:1

Das Handelsblatt

12

1:3 (1 ohne Wertung) 11:1

3:9

Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurter Rundschau

17

9:2 (1 unbestimmt) 12:4 (1 teils/teils)

0:1 (2 eigene Vorschläge) 3:1 (1 eigener Vorschlag) 1:11

7:5

0:11 (1 ohne Wert)

Summen

52

Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen Zeitschrift für Wirtschaftspolitik

12

15:1 (1 teils/teils) 4:7 (1 teils/teils) 37:12 (2 teils/teils, 1 ohne Wertung)

5:10 (2 teils/teils)

39:11 14:34 (1 teils/teils, 1 (3 teils/teils, 1 unbestimmt) ohne Wertung)

1:15 (1 ohne Wertung) 7:4 (1 unbestimmt) 12:35 (3 eigene Vorschläge, 1 ohne Wertung, 1 unbestimmt)

Ebenfalls nur bedingt bestätigte sich die Erwartung, dass die Fachzeitschriften ökonomisch und die Populärmedien politisch argumentieren. Zwar zeigte sich eine Dominanz ökonomischer Argumente in den Fachzeitschriften, allerdings wurde auch hier politisch argumentiert. In den Populärmedien spielten dagegen rein ökonomische Erwägungen eine untergeordnete bzw. im Falle der FR keine Rolle. Als verbindendes Element zwischen Fach- und Populärmediendebatte erweisen sich die ökonomischen Schulmeinungen bzw. die ideologische Orientierung, die sie vermitteln. Tabelle 2 zeigt die Ergebnisse der Frameanalyse.

232 Tabelle 2: Medium

Claudia Rode

Ergebnisse der Frameanalyse Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen 2

Anzahl Artikel in der Feinanalyse Auswer2tung der neolibeFrameral ebene: Ökonomische Denkschule

ZeitDIWschrift Viertelfür Wirt- jahresheft schaftspolitik

Das Handelsblatt

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Frankfurter Rundschau

Summen

3

3

6

6

5

25

- ( meist politische Frames)

1 - keynesianisch 1 - neoliberal

2 - neoliberal

5 - neoliberal

1- keynesianisch

2keynesianisch 10 – neoliberal

Bei der Zuordnung der Texte zu den als Frame gefassten ökonomischen Schulmeinungen wurden nur die Texte berücksichtigt, die ökonomisch argumentieren. Insgesamt zeigt sich ein deutliches Übergewicht „neo-liberaler“ Argumentationen. Dieses Ergebnis ist aber insofern verzerrt, als im Falle der Fachzeitungen nicht alle Texte diesen polarisierten Positionen zugeordnet werden konnten und die Zuordnung im Falle der Populärmedien enorme Asymmetrien zeigte. Es zeigte sich nicht nur eine Polarisierung von Dominanz eines neo-liberalen Deutungsrahmens in der FAZ und dessen völligen Fehlens in der FR. Der Umstand, dass sich nur einer der Texte der FR als „keynesianisch“ gerahmt qualifizieren ließ, bedeutet nicht, dass diese Orientierung hier schwach vertreten war. In den Zahlen drücken sich auch die in der Inhaltsanalyse deutlich gemachten Unterschiede des Argumentationsstils aus. Für die politisch argumentierenden Texte der FR bilden „keynesiansiche“ Positionen keinen eindeutlich identifizierbaren Ordnungsrahmen, wohl aber eine allgemeine und eher diffuse ideologische Orientierung. Sehen wir die Ergebnisse der Inhaltsanalyse mit denen der Frameanalyse zusammen, so kann der Schluss gezogen werden, dass für die Vermittlung von Fachdebatte und Populärmediendebatte die Kontroverse zwischen unterschiedlichen ökonomischen Schulen eine Rolle spielt. Die Einbettung der Fachdebatte in Schulen eröffnete die Möglichkeit einer vertikalen Integration entlang dieser Linien. Allerdings impliziert dies eine Vereinfachung und möglicherweise Ideo-

Einbettung und Vernetzung?

233

logisierung der Schulmeinungen. Hinweise hierauf können in der eher geringen Bedeutung ökonomischer Argumentationen bei der Begründung der Positionierung gegenüber der Verletzung und Reform des SWP, insbesondere in der FR, ausgemacht werden. Auf ein unterschiedliches Niveau der Integration von Fach- und Populärmediendebatte – bei dem bürgerlich-konservativen und linksliberalen Medium – verweisen auch die Ergebnisse zur Vernetzung der beiden Öffentlichkeiten. Die FAZ und die FR unterscheiden sich unter diesem Gesichtspunkt durch zwei relevante Merkmale: Die Betrachtung der zeitlichen Verteilung der Beiträge in den Zeitschriften und Zeitungen zeigt, dass die Reformdebatte in den volkswirtschaftlich ausgerichteten Fachmedien schon 2004 relevanten Raum einnimmt, und dass die Auseinandersetzung um die geplante Änderung nur in der FAZ (8 von 17 Artikeln) und im Handelsblatt (4 von 12) Resonanz findet, nicht dagegen in der FR. Die linksliberale Zeitung befasst sich ausschließlich mit der im März 2005 beschlossenen, tatsächlichen Änderung. Als vermehrt auftretende Schlüsselwörter lassen sich im Handelsblatt „Defizitsünder“ und in der FAZ „Aufweichung“ ausmachen. In den Kommentaren der FR, die – wie wir oben gesehen haben – eher nicht ökonomisch argumentieren, können „ökonomische Vernunft“ und „ökonomische Realität“ als Schlüsselwörter ausgemacht werden. Die unterschiedliche Vernetzung von Fach- und Populärmediendebatte wird besonders deutlich bei dem Stellenwert, den Texte von Gastautoren in der Zeitung einnehmen. Mehr als die Hälfte der Texte der FAZ konnten Gastautoren, d. h. externen Experten zugeordnet werden, dasselbe gilt für 2 von 12 Kommentaren des Handelsblatts. In der FR dagegen wurden die 12 Kommentare von insgesamt 5 hausinternen Autoren verfasst. Mit anderen Worten: insbesondere im Falle der FAZ kann eine starke personale Vernetzung von Populärmediendebatte und Fachdebatte ausgemacht werden. Im Falle der FR fehlt dagegen solch eine Vernetzung völlig.

4

Zusammenfassung

Die Medientextanalyse hat – für den Fall der Debatten um Verletzung und Reform des SWP – gezeigt, dass von einer generellen Polarisierung der Debatten in der Fachöffentlichkeit und der allgemeinen Medienöffentlichkeit nicht ausgegangen werden kann. Eine klare Polarität zeigt sich nur in einem Punkt: die Fachdebatte diskutiert ausschließlich aus einer europäischen Perspektive, in die Populärmediendebatte gehen dagegen – in unterschiedlichem Umfange – nationalen Interessen als Perspektive ein. Hinsichtlich der Positionierung zu Vertragsverletzung und Reform zeigen sich dagegen beide Öffentlichkeiten gespal-

234

Claudia Rode

ten. In beiden Foren haben wir die Rahmung der Argumentation durch ökonomische Schulmeinungen ausgemacht. Diese erklärt nicht nur – in gewissem Umfang – die divergenten Beurteilungen der Politik. Sie wurde auch als ein Medium der vertikalen Integration von Fach- und Populärmediendebatte betrachtet. Zugleich zeigten sich aber Unterschiede im Modus der vertikalen Integration. Die Pole bildeten hier die FAZ und die FR. Medium der Integration war im Fall der FAZ die Vernetzung der beiden Öffentlichkeiten. Das zeigte sich an einer auch die Reformdebatten (und nicht nur die politische Reformentscheidung) begleitenden Kommentierung und an der Teilnahme von Vertretern der Fachdebatte als Gastautoren der FAZ. Für die FR kann man im untersuchten Fall dagegen eher von einer konfusen ideologischen Einbettung ausgehen. Hier fehlte eine sichtbare Vernetzung. Inhaltlich entsprechen dem der extrem geringe Stellenwert ökonomischer Argumentationen und die Bedeutung, die hier die nationale Perspektive gewinnt. Unter dem Gesichtspunkt der Verallgemeinerbarkeit dieser Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass die relativ breite Resonanz und die politische Polarisierung in der Populärmediendebatte sicher in hohem Maße dem Umstand geschuldet ist, dass die Verletzung des Vertrages und die deutschen Reformbemühungen von der rot-grünen Regierung zu verantworten waren und angesichts der Nähe der Zeitungen zu Opposition (FAZ) und Regierung (FR) die divergenten Beurteilungen durch die Politisierung des Themas und parteipolitische Loyalitäten verstärkt wurden.

Literatur Petra Bendel: Neo-Liberalismus, in: Dieter Nohlen, Rainer Schultze (Hrsg.), Lexikon der Politikwissenschaft, Band 2, München, 2002, S. 569f. Deutsche Bundesbank: Die Änderungen am Stabilitäts- und Wachstumspakt, Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 2005, http://www.bundesbank.de/download/ volkswirtschaft/monatsberichte/2005/200504mb_bbk.pdf, Rev. 2006-06-30, S. 1521. Kenneth Dyson: Die Wirtschafts- und Währungsunion als Prozess der Europäisierung: Konvergenz, Unterschiede und Unvorhersehbarkeit, in : Markus Jachtenfuchs, Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen, 2003, S. 449-478. Germany and the Euro: Redifining EMU, Handling Paradox, and Managing Uncertainty and Contingency; Germany and EMU, in: Kenneth Dyson, European States and the Euro, Europeanization, Variation and Convergence, Oxford, 2002, S. 173-211. Josef Esser: Keynesianismus, in: Dieter Nohlen, Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Lexikon der Politikwissenschaft, Band 1, München, 2002, S. 403-404.

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236

Claudia Rode

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Das Europäische Sozialmodell in Debatten des Europäischen Parlaments Rüdiger Henkel

1

Fragestellung: Gesagt und gedacht – Europa als Modell

Europa ist eine klare Sache. Ob nun Gemeinschaft oder Union, jedenfalls eine Einheit: wirtschaftlich und sozial, ein Vorbild, auch politisch. – Falsch gedacht? Europa ist nichts davon? Einen Binnenmarkt gibt es, doch das Soziale bleibt unklar, gerade in der Europapolitik. Wie beim Thema Verfassung bleiben hier die nationalen Lösungen. Und der Streit um einen Verfassungsvertrag hat die politische Einigkeit Europas auch nicht eben vorangebracht. Zu oft standen wohl nationale Wahlen der Verständigung im Wege. Also doch kein Vorbild, kein Modell? Resigniert könnte man sagen, das Denken Europas sei nun mal in nationalen Kategorien und Debatten gefangen und der Europäische Gedanke bleibe deshalb ein Hirngespinst. Dagegen steht die These von der Europäisierung der Öffentlichkeit mit einer europaweiten Verständigung über grundlegende Fragen und Ereignisse von europäischer Tragweite. Zur Prüfung dieser These würde der Nachweis bloßer Gleichzeitigkeit nationaler Debatten über dieselben Themen nicht ausreichen. Vielmehr müsste gezeigt werden, dass ein Verständnis wichtiger Themen erst in der Debatte über nationale Grenzen hinweg entsteht oder sich von national geprägten Deutungen her kommend zu gemeinsamen Auffassungen hin verändert. Während der Auseinandersetzung um den Verfassungsvertrag wurden mehrere Themen diskutiert, an denen sich dies zeigen ließe. Das Europäische Sozialmodell (ESM) ist ein solches Thema. Es bietet sich für eine Untersuchung des europäischen Denkens auch deshalb an, weil es zugleich eine Antwort auf die Frage bietet, was denn Europa eigentlich ausmachen könnte oder sollte. Der Begriff suggeriert zunächst eine Art europäisches Erbe, eine historisch gewachsene Kombination politischer und gesellschaftlicher Institutionen, die zugleich wirtschaftliche Prosperität und sozialen Ausgleich ermöglichen soll. Ursprünglich wohl als schmeichelhafte Selbstbeschreibung Europas gedacht – vor allem in Abgrenzung zum Modell USA – und während der Kommissionspräsidentschaft von Jacques Delors in die breitere Debatte eingeführt, ist der Begriff eigentlich eher als Zielbestimmung zu verstehen. Denn ein Modell der Gesellschaft und Wirtschaft ist eben nicht mit der Realität identisch.

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Rüdiger Henkel

Es kann – und soll offenbar auch – als Beispiel dienen, ist als Leitbild oder Idealtyp zu verstehen und muss von der tatsächlich existierenden Wirtschafts- und Sozialordnung unterschieden werden (Weidenfeld 2006: 32). Folgt man der etablierten Forschung zum Wohlfahrtsstaat, dann kann innerhalb Europas von einer einheitlichen Wirtschafts- und Sozialordnung kaum die Rede sein. Doch der Begriff Europäisches Sozialmodell hält sich seit Jacques Delors hartnäckig in der politischen wie sozialwissenschaftlichen Debatte. Die notwendige Unterscheidung von Modell und Ordnung wird dabei oft versäumt, analytische und normative Ambitionen gehen häufig ineinander über. Andreas Aust, Sigrid Leitner und Stephan Lessenich haben sich schon vor einiger Zeit mit der Begriffsentstehung und -Verwendung beschäftigt (Aust et al. 2000, 2002). Auch ihre eigene Darstellung eines idealtypischen Europäischen Sozialmodells ist zum Teil kritikwürdig, wenngleich sie betonen, dass die europäischen Nationen diesem Idealtypus tatsächlich immer nur mehr oder weniger stark entsprechen (Aust et al. 2000: 18). Doch zuletzt machen sie auch auf einen weiteren wichtigen Aspekt aufmerksam. Wegweisend für die hier vorliegende Arbeit ist die Entdeckung des Sozialmodellbegriffs als Folie für den jüngeren politischen Richtungsstreit innerhalb der europäischen Sozialdemokratie und in den Institutionen der EU. Die These von der Auseinandersetzung gegensätzlicher Projekte auf der Bühne einer zunehmend “politisierten“ EU ist bereits geläufig, konzentriert sich allerdings in der Regel auf ein neoliberales Projekt der Marktschaffung und Deregulierung auf der einen Seite und das Konzept eines regulierten Kapitalismus auf der anderen Seite (Hooghe/Marks 1999: 75). Letzteres sucht die im Binnenmarkt geschwächten nationalen Regelungsmöglichkeiten durch neue und wirksamere Regulierung auf europäischer Ebene zu kompensieren und möchte damit eine eher nachfrageorientierte Politik und auch eine soziale Dimension Europas verwirklichen (Aust et al. 2002: 285f). Der Begriff Europäisches Sozialmodell wurde von den Verfechtern des regulierten Kapitalismus im Laufe der 1980er Jahre als Leitmotiv ihres politischen Projekts etabliert. Mitte der 1990er Jahre begann unter dieser Überschrift allerdings auch eine Diskussion in den Reihen der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien und Regierungen Europas um ihre künftige Programmatik und speziell um ihre europapolitischen Konzepte. Dabei sind besonders zwei Gruppen hervorzuheben, die sich zwar beide positiv auf das ESM beziehen, inhaltlich aber so unterschiedliche Positionen einnehmen, dass von zwei gegensätzlichen politischen Projekten gesprochen werden kann: Auf der einen Seite ein als Eurokeynesianismus beschriebenes Projekt, das den regulierten Kapitalismus inhaltlich fortschreibt, und auf der anderen Seite ein Projekt, das der Sozialdemokratie im Anschluss an Konzepte von Anthony Giddens und anderen einen Dritten Weg jenseits von links und rechts empfiehlt und euro-

Das Europäische Sozialmodell in Debatten des Europäischen Parlaments

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papolitisch die Forderung nach einem Neuen Europäischen Sozialmodell erhebt (Aust et al. 2002: 288f). Im März 2000 trafen sich die damals fünfzehn Regierungschefs der EU zu einem Sondergipfel und vereinbarten die bis heute vielzitierte Strategie, mit der „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ werden sollte, „einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.“ (Europäischer Rat 2000: Ziff. 5). Obwohl das damals verabschiedete Ratsdokument inhaltlich ausgewogen die Positionen der verschiedensten europapolitischen Lager aufnimmt und dabei den Begriff Europäisches Sozialmodell noch nicht einmal verwendet, wollen Aust und Kollegen gerade hier den offiziellen Aufstieg des Projekts Neues Europäisches Sozialmodell zur gemeinsamen Strategie der EU erkennen (Aust et al. 2002: 293). Diese These bildet den Ausgangspunkt eines kleinen Forschungsprojekts, das der hier vorgelegte Artikel zusammenfassend wiedergibt. Vor dem Hintergrund einer fraglichen Europäisierung der Öffentlichkeit war es darin das Ziel, in der Debatte um das ESM einen politisch bedeutenden europäischen Diskurs nachzuweisen, in dem die Vertreter der Projekte Eurokeynesianismus und Neues Europäisches Sozialmodell um das Verständnis des ESM ringen und dabei die inhaltliche Ausrichtung der Europapolitik prägen. Anstatt also die vermutete Dominanz des Projekts Neues ESM (Aust et al. 2002: 290) am tatsächlichen Regierungshandeln zu überprüfen, sollte es hier viel grundlegender darum gehen, mit einem diskursanalytischen Ansatz zu untersuchen, ob durch die Umdeutung des etablierten Sozialmodellbegriffs einer bestimmten europapolitischen Konzeption „die ideologische Grundlage entzogen“ wird (Aust et al. 2002: 293). Eine im öffentlichen Diskurs als überholt, unvernünftig oder weltfremd diskreditierte Politik hätte vermutlich kaum Aussicht, die Zukunft Europas noch entscheidend mit zu prägen. Aust und Kollegen sind jedoch in ihrer Arbeit den Nachweis schuldig geblieben, ob die gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen im öffentlichen Diskurs nach dem Lissabonner Gipfel tatsächlich unter „den Druck der normativen Neujustierung des Europäischen Sozialmodells“ geraten (Aust et al. 2002: 295). In dem hier dargestellten Projekt sollte das nachgeholt werden. 2

Das Sozialmodell im Europäischen Parlament

2.1 Resonanz Zunächst einmal musste ein europäischer Diskurs zum Sozialmodell in einem geeigneten Textkorpus rekonstruiert werden, um darin den mutmaßlichen Ein-

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Rüdiger Henkel

fluss der politischen Integrationsprojekte sowie mögliche Veränderungen darzustellen, die auf eine Umdeutung des Sozialmodellbegriffs hindeuten würden. Als Ausgangspunkt der Untersuchung bot sich das Jahr des Lissabonner Gipfels an, da das Projekt Neues ESM nach der hier vorgestellten These spätestens seit dieser Zeit die europäische Agenda dominiert und in der EU verankert sein soll (Aust et al. 2002: 290, 292f). Und weil es sich hier auch um eine Debatte handeln soll, die maßgeblich von Politikern getragen und geprägt wird, lag es nahe, die Untersuchung auf entsprechende Redetexte aus einem möglichst kontinuierlich genutzten gemeinsamen Forum zu stützen, auch wenn die anzuwendenden Methoden der Medientextanalyse entlehnt sind. Gegenstand der Untersuchung waren schließlich alle Debattenbeiträge vor dem Europäischen Parlament (EP) der Jahre 2000 bis 2005, aus denen mit einer Suchmaschine diejenigen isoliert wurden, die den Begriff „Sozialmodell“ mindestens einmal enthalten. Die Debatten des Parlaments bieten sicher keinen repräsentativen Querschnitt der tatsächlich unter den Entscheidungsträgern auf nationaler oder auf EU-Ebene wirksamen politischen Vorstellungen. Sucht man jedoch wie hier gerade nach Bemühungen von Politikern, in einem europäischen Forum die ideologischen Grundlagen und die öffentliche Akzeptanz eines politischen Entwurfs zu untermauern oder auch auszuhöhlen, dann gibt es wohl kaum eine bessere Quelle. Für eine erste quantitative Analyse wurden die insgesamt 363 gefundenen Redetexte unter anderem nach Datum sowie Fraktions- oder Institutionszugehörigkeit der Sprecher in einer einfachen Tabellenkalkulation erfasst. Um auch die Resonanz des Diskurses über die Zeitachse verfolgen zu können und um für die spätere Bildung einer Stichprobe auch einzelne Beiträge nach der Diskursaktivität in ihrer jeweiligen Periode einzuordnen, wurde für jeden Text auch die Zahl der („Sozialmodell“ enthaltenden) Beiträge in der betreffenden Sitzungswoche des Parlaments erfasst. Graphisch aufbereitet geben die Daten bereits eine erste Antwort auf die Frage nach einer mutmaßlichen Entscheidung im Streit um die Deutung des Sozialmodells auf dem Gipfel von Lissabon: Denn danach hat die Aufmerksamkeit für das Thema in den Debatten des EP nach einem anfänglichen Rückgang wieder so stark zugenommen, dass von einem Ende der Diskussion sicher nicht die Rede sein kann. Knapp zwei Drittel aller Beiträge stammen aus den letzten beiden Jahren der Untersuchung, in denen beachtliche Spitzenwerte von 19 und sogar 31 Wortmeldungen pro Sitzungswoche zu verzeichnen sind. Offenbar hat es hier einen handfesten Diskussionsbedarf gegeben, der sicher nicht für die endgültige Durchsetzung und Akzeptanz einer bestimmten Sichtweise des Sozialmodells spricht. Im Gegenteil lassen diese Daten auf eine neue und sehr intensive Runde in der Auseinandersetzung um das Europäische Sozialmodell schließen.

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Das Europäische Sozialmodell in Debatten des Europäischen Parlaments

Abbildung 1: „Sozialmodell“ in Debatten des Europäischen Parlaments1 35 240 220

30

200 180

25

20

140 120

15

100 80

Resonanz

Anzahl

160

10

60 40

5

20 0

0 2000

2001

2002

Debatten des EP mit "Sozialmodell" Nennungen Stichwort "Sozialmodell" Maximale Diskursresonanz

2003

2004

2005

Redebeiträge mit "Sozialmodell" Mittlere Diskursresonanz

Vor einer weiteren Aufschlüsselung und Interpretation dieser Daten nach den im EP vertretenen Akteuren könnte man einwenden, dass die Redner der großen Fraktionen wegen der nach Parlamentssitzen bestimmten Redezeiten nun einmal öfter und länger Gelegenheit haben, sich zum Thema Sozialmodell zu äußern. Allerdings wurden bei dieser Analyse – auch um derartige Verzerrungen zu vermeiden – alle Beiträge, die das Stichwort enthalten, mit dem gleichen Zählwert von eins berücksichtigt. Die mehrfache Nennung des Stichworts erhöht hier also nicht den Anteil einer Fraktion oder Institution an der Debatte. Und im Sinne des diskursanalytischen Ansatzes der Untersuchung können Redner grundsätzlich auch in einem Beitrag von einer Minute und mit nur einer einzigen Nen1

Resonanz = Zahl aller Beiträge mit dem Stichwort „Sozialmodell“ pro Sitzungswoche. Mittlere Resonanz = Anzahl aller Beiträge des Jahres mit „Sozialmodel“/Sitzungswochen des Jahres mit „Sozialmodell“.

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nung des Stichworts „Sozialmodell“ zu dessen Einordnung und Deutung etwas beitragen. Wenn man dies bedenkt, dann darf die Aufschlüsselung der Daten nach Akteuren durchaus als Beleg für das jeweilige Diskussionsbedürfnis in Bezug auf das Sozialmodell herangezogen werden – zumal, wenn man die Daten mit der bekannten Sitzverteilung des Parlaments vergleicht. Vor diesem Hintergrund erscheint die Diskussion des Sozialmodells insgesamt eher als ein Anliegen des linken politischen Spektrums. Die Fraktionen der Sozialdemokraten im EP und der Vereinigten Europäischen Linken haben im gesamten Zeitraum zusammen 44% der Beiträge geliefert, während sich die Christdemokraten und Konservativen mit einem Anteil von nur 23% deutlich seltener zum Thema geäußert haben. Von Sprechern der Liberalen (5%) und der Grünen (3%) sind noch weniger Aussagen zum Sozialmodell zu verzeichnen. Und auch in der als „Union für das Europa der Nationen“ auftretenden Gruppe beschäftigt das Thema kaum einen Redner (zusammen mit weiteren kleinen Gruppen 4%). Ein Blick in die einzelnen Jahre zeigt allerdings, wie sich die zunächst eher links geführte Debatte allmählich ausweitet, so dass schließlich sogar zwei Drittel der Beiträge von Rednern anderer politischer Zuordnung stammen. Auffallend ist zudem die stabile Beteiligung von Regierungsangehörigen der Mitgliedstaaten an der Debatte, die im EP als Vertreter des Europäischen Rates zu Wort kommen. Kaum ein Staats- oder Regierungschef hat die Gelegenheit einer turnusgemäßen Ratspräsidentschaft ausgelassen, um sich in grundlegenden Beiträgen auch zum Europäischen Sozialmodell zu äußern. Vergleicht man die wechselnden Ratspräsidentschaften untereinander, dann haben sich besonders die Vertreter Frankreichs, Luxemburgs und Großbritanniens bei diesem Thema engagiert. Auch die Redner der Europäischen Kommission haben zuletzt eine größere Zahl an Beiträgen beigesteuert. Allerdings sind die zum größten Teil auf gezielte Fragen und besonders auf einen einzelnen Antrag zurückzuführen, mit dem am 25. Oktober 2005 Kommissionspräsident Barroso und Kommissar McCreevy – nach einer Interviewäußerung mit Bezug zum Sozialmodell in Schweden – vor das Parlament zitiert und gezielt zu diesem Thema gehört wurden. Im Übrigen belegen die Daten aber eine eher sporadische Beteiligung der Kommission.

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Das Europäische Sozialmodell in Debatten des Europäischen Parlaments

Abbildung 2: Beiträge mit „Sozialmodell“ in Debatten des EP – Anteile der Akteure2

2005 2004 2003 2002 2001 2000 0%

GUE

20%

PSE

40%

Verts

60%

Sonstige

80%

ALDE

100%

KOM

RAT

Um sich dem Inhalt aller 363 Redebeiträge zu nähern, wurde die Themenfrequenzanalyse der von Donati beschriebenen Methode folgend zu einer compu2

Im Untersuchungszeitraum haben sich die Fraktionszusammensetzungen und –Bezeichnungen verschiedentlich verändert. Die hier gebildeten und durchgehend für alle Jahre verwendeten Gruppen wurden für die Untersuchung aber stets aus denselben Fraktionen zusammengesetzt und – soweit diese nebeneinander bestanden – dennoch stets als eine Gruppe gezählt. Es handelt sich um folgende Fraktionen des Europäischen Parlaments: ALDE: Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa; bis einschließlich 2004 die Fraktion ELDR, Europäische Liberale und demokratische Reformpartei. GUE/NGL: Konföderale Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke. PPE-DE: Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten)/Europäische Demokraten. PSE: Sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament. UEN: Fraktion Union für das Europa der Nationen. Verts/ALE: Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz. Unter ‚Sonstige’ wurden hier gezählt: Ab 2004 Fraktion Unabhängigkeit/Demokratie, davor ebenso als Teil dieser Gruppe: Gruppe für ein Europa der Demokratie und Vielfalt – EDD, Technische Gruppe ungebundener Mitglieder – TI sowie tatsächlich fraktionslose Mitglieder des EP, daneben auch Ion Iliescu als Gast des EP (2003) sowie Josep Borrell Fontelles, Präsident des EP (2005). Daneben wurden jeweils als Gruppe/als einheitliche Akteure gezählt: Die Vertreter der EUInstitutionen KOM: Mitglieder der Europäischen Kommission und RAT: Vertreter der jeweils amtierenden Präsidentschaft im Europäischen Rat.

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tergestützten Topic-Marker-Analyse (Donati 2001: 155f) erweitert. Hier wurden die Texte in der Umgebung des zentralen Suchbegriffs „Sozialmodell“ zusätzlich auf eine Anzahl weiterer thematischer Schlüsselbegriffe, Stichwörter und Wortpartikel untersucht. Letztlich kann dieses Verfahren – ebenso wenig wie andere rein zählende Verfahren – die in Texten verborgenen Deutungen besprochener Themen noch nicht aufdecken. Jedoch lassen sich damit selbst in größeren Textmengen thematische Zusammenhänge oder zumindest Nachbarschaften einzelner Themen aufzeigen. Die Liste der hier verwendeten Suchbegriffe entstand durch Abgleich der von Aust und Kollegen konstatierten politischen Projekte mit den dort angegebenen programmatischen Texten3 von Hauptvertretern dieser Konzepte. Als Indikatoren für Schlüsselthemen sowohl des Eurokeynesianismus als auch des Neuen ESM weisen die Suchbegriffe in den Redetexten auf zentrale Reibungsflächen der Debatte hin – und auch auf unerwartet wenig besprochene Themen. So ergeben etwa die drei Marker mit den höchsten Frequenzen im Test ein interessantes Bild. Sie stehen für die Themen Zusammenhalt, Solidarität und Wettbewerb4 und könnten durchaus die eingangs genannte These stützen, wonach es beim ESM um ein Erbe der Interessenvermittlung und des Ausgleichs geht. Dadurch sei es in Europa vermeintlich gelungen, wirtschaftliche Prosperität mit sozialem Zusammenhalt zu verbinden (Aust et al. 2000: 7f). In den untersuchten Redetexten zeigte sich nun, dass die zugehörigen Themen im Umfeld des zentralen Begriffs „Sozialmodell“ tatsächlich ganz breit vertreten sind. Auch die Entwicklung im Zeitverlauf ist interessant: Im Ganzen haben die Marker für Solidarität und Zusammenhalt auf der einen Seite und für Wettbewerb auf der anderen Seite ein grob vergleichbares Gewicht. In der Tendenz hat allerdings das Thema Wettbewerb gegenüber den anderen beiden Themen seit 2000 an Brisanz zugenommen – mit zwei deutlichen Schüben in den Jahren 2001 und 2003. Das heißt natürlich noch nicht, dass Wettbewerb als solcher heute breiter akzeptiert würde als früher, sondern lediglich, dass das Thema zusammen mit „Sozialmodell“ inzwischen stärker diskutiert wird. Ebenso finden auch Solidarität und Zusammenhalt nicht etwa sinkende Zustimmung im Parlament, sondern sie werden im Verhältnis zum Thema Wettbewerb inzwischen etwas seltener zur Sprache gebracht, wenn in einem Beitrag zugleich das „Sozialmodell“ thematisiert wird. Mit diesem Analyseschritt kann also noch nicht gesagt werden, welches europapolitische Projekt sich mittlerweile in der öffentlichen Debatte durchgesetzt hat. Doch werden hier wohl einige Bereiche sichtbar, an denen gerade um 3 4

Schröder/Blair 1999 und Sozialistische Partei Frankreichs 1999. Als Suchbegriffe wurden „zusammenhalt“ (129), „solidar“ (141) und „wettbewerb“ (327) eingegeben. Der Wert in Klammern gibt ihre Frequenz in den 363 Beiträgen an, die das Stichwort „sozialmodell“ enthielten.

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Das Europäische Sozialmodell in Debatten des Europäischen Parlaments

die Einordnung der Themen gerungen wird, wo sich der Streit um die Deutung des Sozialmodellbegriffs offenbar konzentriert. Abbildung 3: Topic-Marker – Solidarität und Zusammenhalt vs. Wettbewerb

2005 2004 2003 2002 2001 2000 0%

"solidar"

20%

40%

60%

"zusammenhalt"

80%

100%

"wettbewerb"

Andererseits fiel bei diesem Verfahren auch auf, dass soziale „Ungleichheit“ im Zusammenhang mit dem „Sozialmodell“ offenbar kein großes Thema war. Nur sehr vereinzelt tauchten beide Suchbegriffe gemeinsam in Redebeiträgen auf – am häufigsten noch bei Sprechern der Sozialdemokraten. Angesichts der zentralen Bedeutung des sozialen Ausgleichs im hergebrachten Konzept vom ESM ist es immerhin erstaunlich, wenn die „Ungleichheit“ in der Debatte kaum noch erwähnt wird. Am besten eignet sich die Methode jedoch für den Vergleich mehrerer Marker mit einem höheren Gewicht. So kann anhand der hier gewonnenen Daten auch ganz plakativ gezeigt werden, dass Sozialpolitik gegenüber wirtschaftspolitischen Themen nach den Lissabonner Beschlüssen doch erheblich an Gewicht verloren hatte.5 In den letzten beiden Jahren hat sich diese Tendenz aber wieder umgekehrt, so dass beide Themen wieder recht ausgeglichen im Diskurs vertreten sind. Auch hier sei wieder angemerkt, dass es sich nicht um Zustimmungswerte für Politikfelder oder gar Forderungen nach einer bestimmten Ausrichtung dieser Politik handelt. Es geht allein um den jeweiligen Diskussionsbedarf. 5

Eingabe der Suchbegriffe „sozialpolit“ (73) und „wirtschaftspolit“ (69), in Klammern die Gesamtfrequenzen.

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2.2 Stichprobe und Grundlagen für eine Feinanalyse Im Rahmen des Projekts sollten die verbreiteten Deutungsangebote der behandelten Themen an einer Stichprobe der einschlägigen Texte näher untersucht werden. Die hier verfolgte These stellt besonders auf Debattenbeiträge führender europäischer Politiker ab, die in den nationalen Regierungen der EU-Mitgliedstaaten vertreten sind. Im Rahmen des Europäischen Rates treten sie regelmäßig zusammen und haben hier den ausdrücklichen Auftrag, „der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse“ zu geben und „die allgemeinen Zielvorstellungen für diese Entwicklung“ festzulegen (Artikel 4 EU-Vertrag). Die Beratungen in diesem Zirkel werden nicht veröffentlicht, so dass es schwierig bleibt, entscheidungsnahe Debatten und das dort wirksame Denken zu erforschen. Doch soll es hier ja gerade um die in öffentlichen Redebeiträgen beförderten Deutungen und politischen Projekte gehen. Dafür bietet der Vorsitz im Europäischen Rat den nationalen Politikern ein halbes Jahr lang einen privilegierten Zugang zur europäischen Öffentlichkeit. Vor dem EP haben sie dann die Möglichkeit, in ihren Stellungnahmen für den Rat auch für eigene Ansichten zu werben oder Zweifel an gegnerischen Positionen zu nähren. Auf diese Weise haben sich die Ratsvertreter im Untersuchungszeitraum auch an der öffentlichen Deutung des Sozialmodellbegriffs beteiligt, wenn auch mit unterschiedlichem Engagement. Von insgesamt 31 Beiträgen stammen allein 14 aus dem Jahr 2005. Um die verschiedenen Vorstellungen der wechselnden Ratspräsidentschaften und auch die Entwicklung im Zeitverlauf ausgewogen abbilden zu können, musste hier eine Stichprobe gebildet werden, die möglichst ohne inhaltliche Bewertung eine gleich große Anzahl aussagekräftiger Beiträge aller Ratspräsidentschaften versammelt.6 Zu diesem Zweck wurde von jeder Ratspräsidentschaft derjenige Beitrag mit dem höchsten Resonanzwert ausgewählt.7 Dadurch stammen alle Texte aus Sitzungswochen mit möglichst vielen Wortmeldungen zum „Sozialmodell“. Von solchen Beiträgen kann wohl am ehesten angenommen werden, dass darin auch das Denken anderer Redner berücksichtigt und abgewogen wird und die Sprecher ihre eigene Deutung vom Sozialmodell dann ganz bewusst und deutlich zum Ausdruck bringen. Zur inhaltlichen Auswertung dieser Beiträge im Rahmen einer FrameAnalyse wurden nun alle Texte auf die Verwendung von Deutungsmustern der beiden vermuteten politischen Integrationsprojekte durchsucht. Hierzu war es 6 7

Nur vom italienischen Ratsvorsitz zur Zeit der Regierung Berlusconi gibt es keine Beiträge mit „Sozialmodell“. Zum Resonanz-Wert siehe oben Fn. 1. Nur einmal entschied bei Vorliegen mehrerer Beiträge derselben Ratspräsidentschaft mit demselben Resonanz-Wert zusätzlich die höchste Frequenz von „Sozialmodell“ in den betroffenen Beiträgen.

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zunächst erforderlich, der These von zwei konträren poltischen Ansätzen folgend, die typischen Deutungsmuster der beiden Projekte zu identifizieren. Die Autoren der These hatten dafür mit ihrer Darstellung der politischen Leitideen beider Projekte bereits die Grundlagen gelegt (Aust et al. 2002: 288 – 295). Aus ihrem Text geht hervor, wie zentrale Themen der Debatte um das ESM aus der jeweils unterschiedlichen Sicht dieser politischen Ansätze eingeordnet werden. Mit Hilfe der dort ebenfalls verwendeten Modelltexte (Schröder/Blair 1999, Sozialistische Partei Frankreichs 1999) konnte das Spektrum der Themen noch erweitert und zu fünf Komplexen gebündelt werden. Die so entstandene Liste enthielt nun für jeden Themenkomplex die jeweils charakteristischen Deutungen (Frames) des Eurokeynesianismus auf der einen und des Neuen Europäischen Sozialmodells auf der anderen Seite. Die Grundlagentexte hatten gezeigt, dass von beiden Projekten annähernd dieselben Themen besprochen, jedoch immer unterschiedlich eingeordnet und gedeutet werden. Beispielsweise werden Themen wie Globalisierung, Umweltbelastung oder demographischer Wandel von beiden Projekten angesprochen. Der Eurokeynesianismus ordnet diese veränderten Rahmenbedingungen in eine grundlegende Kapitalismuskritik ein und leitet daraus die Forderung ab, auch im neuen Zeitalter des Kapitalismus das „Primat der Demokratie“ zu bekräftigen. Nun müsse den an sich bekannten Unzulänglichkeiten des Marktes eben mit neuen „Formen der Regulierung“ begegnet werden, um „Ungleichheiten zu korrigieren“ (Sozialistische Partei Frankreichs 1999: 1393f). Für die Vertreter des Neuen Europäischen Sozialmodells handelt es sich dagegen hier um „Realitäten“ in der „neu entstehenden Welt“, denen sich die Politik ebenso anpassen müsse wie der einzelne Bürger (Schröder/Blair 1999: 889). Hier wird der Gestaltungs- und Führungsanspruch der Politik auf pragmatische Anpassung reduziert und die Abkehr von „alten“ Mitteln und Instrumenten empfohlen (Schröder/Blair 1999: 888f). Denken in Sachzwängen herrscht hier vor und bestimmt die Politik (Aust et al. 2002: 288). Gerade diese gegensätzlichen Deutungen von – oberflächlich gesehen – identischen Themen, ergeben in der Debatte erst den projekttypischen Sinn und befördern und legitimieren so die entsprechenden politischen Konzepte im öffentlichen Diskurs. Die aus den Grundlagentexten entstandene Frame-Liste enthält zu fünf Themenkomplexen jeweils die zwei typischen Lesarten der von Aust und Kollegen beschriebenen Projekte. Neben den bereits genannten Deutungen der veränderten Rahmenbedingungen politischen Handelns und dem jeweils angestrebten Verhältnis von Staat und Markt gehören dazu auch unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit, an denen sich staatliches Handeln orientieren soll und entlang derer sich Politik auch legitimiert. Schließlich geht es um den Weg zur Sicherung des sozialen Zusammenhalts sowie um die Rolle und Bedeu-

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tung, die Europa hier zugewiesen wird. Alle Texte der Stichprobe wurden auf diese Deutungsmuster hin untersucht und die entsprechenden Textstellen dokumentiert. 2.3 Das Sozialmodell in Beiträgen des Europäischen Rates Die Feinanalyse der ausgewählten Beiträge zeigte zunächst, dass die an der Ausgangshypothese und den Grundlagentexten entwickelten Deutungsmuster in der Debatte nicht so sortiert auftreten, wie es unter der Annahme zweier gegenseitig ausschließlicher politischer Projekte zu erwarten war. Tatsächlich kann ein Sprecher rund um den Schlüsselbegriff „Sozialmodell“ manche Themen in die Frames des Projekts Neues ESM einordnen, während er andere Themen im Sinne des Eurokeynesianismus deutet. So betont etwa ein Beitrag (Guterres 2000) bei Themen wie Internet und Zukunftstechnologien den Gedanken der „Chancengleichheit“ für alle, was als leitende Gerechtigkeitsvorstellung im Neuen ESM gelten kann. Im selben Beitrag werden dann aber auch europäische makroökonomische Politiken, eine poltische Union und der soziale Dialog zwischen den europäischen Partnern gefordert, was zu den europapolitischen Anliegen des Eurokeynesianismus zählt und vom Neuen ESM gerade nicht vertreten wird. So konnte am Ende auch nur knapp die Hälfte der Texte klar als Unterstützung des einen oder des anderen politischen Projekts identifiziert werden. Auch die Gesamtauswertung der Stichprobe ist nach den vorgefundenen Deutungsmustern relativ ausgeglichen. Weder die Zahl klarer Vertreter eines Projekts noch die Gesamtrelation der nachgewiesenen Frames sprechen für die Verdrängung des Projekts Eurokeynesianismus aus der Debatte oder eine Ablösung durch das Projekt Neues ESM. Beide Lager sind bis zuletzt mit ihren jeweiligen Deutungen in der Debatte vertreten. Im Sinne der konstruktivistischen Diskursforschung wäre ohnehin eine andere Betrachtung angemessen. Die als Basis dieses Projekts verwendeten Texte konzipieren idealtypisch zwei gegensätzliche Vorstellungen vom ESM. Erwartet wird, dass sich eine von beiden vollständig durchsetzt. Dagegen wird in der Diskursforschung davon ausgegangen, dass sich ein allgemein verbreitetes und geteiltes Verständnis von Begriffen erst durch die fortwährende öffentliche Verständigung darüber bildet und sich im lebendigen Diskurs ständig weiterentwickelt. Aus dieser Sicht wäre also gar nicht nach der vollständigen Dominanz eines hypothetischen Idealtyps zu fragen, sondern nach einer im Diskurs entstandenen, relativ zu anderen Deutungen meistverbreiteten Mischung aller tatsächlich besprochenen Aspekte eines Begriffs. Und in diesem Sinne ergibt sich für die untersuchte Stichprobe nach dem relativen Gewicht der vorgefundenen Frames ein interessantes Bild vom Europäischen Sozialmodell. Ein Bild, wie es die

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untersuchten Beiträge europäischer Regierungspolitiker in der Debatte über sechs Jahre befördert und geprägt haben. Mit den Deutungsmustern aus der oben verwendeten Frame-Liste beschrieben, würde es etwa folgendermaßen aussehen: In diesem Modell bleibt auch unter veränderten wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Anspruch auf demokratisch legitimierte politische Mitgestaltung bestehen, wobei aber nun andere Steuerungsinstrumente bevorzugt werden. Marktmechanismen zur Steuerung einzusetzen findet in diesem Modell stärkere Akzeptanz als eigene wirtschaftliche Aktivitäten des Staates. Staatliche Politik legitimiert sich nach der überwiegenden Vorstellung heute mehr durch ihr Bemühen um Chancengerechtigkeit und weniger durch ein Streben nach Verteilungsgerechtigkeit. Außer im Bildungsbereich wird soziale Ungleichheit in diesem Europäischen Sozialmodell als Anreiz für individuelle Anstrengung und eigene Vorsorge überwiegend akzeptiert. Bei Leistungslücken oder vermeintlicher Ineffizienz im öffentlichen Sektor gilt es hier als legitim, die entsprechenden Aufgaben an den Markt zu delegieren. In diesem Modell soll der soziale Zusammenhalt auch durch staatliches Wirken gesichert werden, entweder durch Organisation marktunabhängiger Solidarsysteme oder durch Befähigung aller Menschen zur Teilnahme am marktwirtschaftlichen Wettbewerb. Eine klare Präferenz für einen dieser Ansätze ist in der Stichprobe nicht zu erkennen. Die Europäische Union wird insgesamt mehr als Binnenmarkt und auch als Raum für einen Wettbewerb um die besten Lösungen angesehen. Nationale Entscheidungsspielräume zugunsten gemeinsamer europäischer Politik einzuschränken wird dagegen weniger unterstützt. Ungefähr dieses Verständnis des Europäischen Sozialmodells hätten die Beiträge der europäischen Regierungsvertreter aus diskursanalytischer Sicht in den letzten Jahren also befördert – zumindest nach den Ergebnissen der analysierten Stichprobe. Damit entspricht es keinem der postulierten idealtypischen poltischen Konzepte vollständig. Vielmehr sind Elemente aus beiden Konzepten in einer anderen Zusammenstellung vertreten. Für den Zuhörer müssten danach nun bestimmte Elemente des Eurokeynesianismus als legitim und denkbar erscheinen, während bei anderen Aspekten eher das Verständnis des Neuen ESM in Betracht gezogen würde. Ob diese Deutungen des Sozialmodellbegriffs in allen gefundenen Debattenbeiträgen aus dem EP so vertreten sind, kann mit der hier untersuchten Stichprobe nicht geklärt werden. Hierzu wäre zumindest die Feinanalyse weiterer Stichproben notwendig, etwa aus den beiden großen Fraktionen des Parlaments. Ob die Beiträge aus dem Europäischen Rat die gesamte Debatte im Parlament überhaupt entscheidend geprägt haben, bleibt ebenfalls zu prüfen. Das im dritten Abschnitt gezeigte quantitative Gewicht anderer Gruppen lässt eher erwarten, dass der Einfluss des Europäischen Rates in der Debatte begrenzt gewesen ist.

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Bilanz – Das Sozialmodell bleibt in der Debatte

Am Ende dieser Untersuchung kann festgehalten werden, dass die Debatte um das Europäische Sozialmodell mit dem EU-Gipfel von Lissabon keineswegs beendet war. Das Thema war im Europäischen Parlament bis zuletzt aktuell und wurde sogar immer stärker diskutiert. Beteiligt waren daran nicht allein Vertreter des linken politischen Spektrums, sondern zunehmend auch andere Sprecher, etwa aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei. Auch führende nationale Politiker, die im EP als Vertreter des Europäischen Rates zu Wort kommen, haben anhaltend Debattenbeiträge geliefert. Die vermutete inhaltliche Dominanz eines idealtypisch konzipierten europapolitischen Projekts ließ sich an diesen Beiträgen jedoch nicht nachweisen. Die Bilanz der untersuchten Stichprobe spricht zudem für ein sich erst im Laufe der Debatte herausbildendes Verständnis des Sozialmodellbegriffs, das sich nicht so einfach in die Schablonen der hier beschriebenen Projekte Eurokeynesianismus oder Neues Europäisches Sozialmodell einfügen lässt. Um den Einfluss dieser beiden politischen Ansätze im Parlament und in der breiteren öffentlichen Debatte zu beurteilen, wären noch weitere Forschungsarbeiten notwendig.

Literatur Aust, Andreas/Leitner, Sigird/Lessenich, Stephan 2000: Sozialmodell Europa. Eine konzeptionelle Annäherung, in: Aust/Leitner/Lessenich (Hrsg.): Sozialmodell Europa. Konturen eines Phänomens. Opladen: Leske und Budrich. 6 – 22. Aust, Andreas/Leitner, Sigird/Lessenich, Stephan 2002: Konjunktur und Krise des Europäischen Sozialmodells. Ein Beitrag zur politischen Präexplantationsdiagnostik. Politische Vierteljahresschrift 43(2), 272 – 301. Donati, Paolo 2001: Die Rahmenanalyse politischer Diskurse. In: Keller, Reiner (u.a. Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I. Methoden und Theorie. Opladen: Leske und Budrich. 145 – 176. Europäischer Rat 2000: Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Lissabon, 23. und 24. März 2000. Hooghe, Lisbeth/Marks, Gary 1999: The Making of a Polity. The Struggle over European Integration. In: Kitschelt et al. (Hrsg.): Continuity and Change in Contemporary Capitalism. Cambridge: CUP. 70 – 100. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1994: Europäische Sozialpolitik. Ein zukunftsweisender Weg für die Union (Weißbuch): Brüssel. Schröder, Gerhard/Blair, Tony 1999: Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Band 44, 887 – 896.

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Sozialistische Partei Frankreichs 1999: Beitrag der sozialistischen Partei Frankreichs zum 21. Kongress der Sozialistischen Internationale. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Band 44, 1391 – 1402. Weidenfeld, Werner 2006: Ein Wirtschafts- und Sozialmodell für Europa? – Wettbewerb der Gesundheitssysteme in der Europäischen Union. In: Klusen/Meusch (Hrsg.): Wettbewerb und Solidarität im europäischen Gesundheitsmarkt. Baden-Baden: Nomos Verlag. 24 – 39.

Das bulgarische Geschichtsverständnis im Spannungsfeld sowjetischer Vergangenheitsmythen und europäischer Lesart. Die bulgarische Mediendebatte anlässlich der Feiern zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Moskau im Kontext deutscher und russischer Medienwahrnehmung. Yana Kavrakova Das bulgarische Geschichtsverständnis

Der Sieg über Nazi-Deutschland 1945 und die Besetzung Ostmitteleuropas durch die Rote Armee markierte den Beginn der Zweiteilung Europas. In den nachfolgenden Jahrzehnten gehörte die Rolle der Sowjetunion bei Kriegsende zu den politisch und ideologisch stark aufgeladenen Themen, die in den offiziellen Geschichtsdeutungen im Osten und den Geschichtsdebatten im Westen des Kontinents gegensätzliche Interpretationen erfuhren. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Zensur 1989 prägte die Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Lesarten der Geschichte die öffentliche Debatte in vielen osteuropäischen Ländern. Im Jahr 2005 kündigte der russische Präsident Wladimir Putin die in Moskau bevorstehenden Feierlichkeiten zum 60. Jubiläumstag des Kriegsendes als symbolisches Ereignis für die Aussöhnung ganz Europas an. Die Einladung des Kremls wurde von über fünfzig Staats- und Regierungschefs angenommen, darunter auch den ehemaligen Kriegsgegnern Deutschland, USA und Frankreich. Doch in den ost- und ostmitteleuropäischen Ländern, wo der 09. Mai 1945 als Tag der Ablösung der Hitler-Diktatur durch die der Sowjets wahrgenommen wird, lösten die Vorbereitungen auf die internationalen Feierlichkeiten heftige Diskussionen aus. In den baltischen Ländern, deren völkerrechtswidrige Annektion auf der Grundlage des „Hitler-Stalin Paktes“ durch die Sowjetunion nie anerkannt wurde, mündeten diese Debatten in der Forderung der baltischen Regierungen auf Anerkennung der sowjetischen Annektion durch Russland. Die Ablehnung des Kremls, das Bild der Roten Armee als Befreier zu revidieren, veranlasste die Staatsoberhäupter Estlands, Litauens und der Ukraine zur Absage ihrer Teilnahme an den Gedenkfeiern in Moskau. Diese Kontroversen im Vorfeld des Ereignisses machten deutlich, dass eine Aussöhnung Europas über die Geschichte auch 60 Jahre nach Kriegsende noch nicht stattgefunden hat.

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Yana Kavrakova

Die Fokussierung dieser Studie auf Bulgarien wurde durch dessen besonderes Verhältnis zu Russland und der Nachkriegsordnung motiviert. Zwischen 1945 und 1989 gehörte das Land zu den Satellitenstaaten der Sowjetunion. Anders als in den meisten osteuropäischen Ländern sympathisierte die Mehrheit der Bevölkerung mit der damit verbundenen politischen Ordnung, und empfand sie nicht als erzwungen. Die Akzeptanz der sowjetischen Politik basierte auf den traditionell engen Beziehungen zu Russland und dessen, im 19. Jahrhundert im Kontext der osmanischen Herrschaft verankerten Wahrnehmung als „BefreierBruder“. Der Zusammenbruch der UdSSR löste heftige Geschichtsdebatten aus, die der nationalen Erinnerungskultur galten und die bulgarische Gesellschaft in Anhänger und Gegner der bis 1989 regierenden Kommunistischen Partei spalteten. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass das Ereignis der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes in Bulgarien von der öffentlichen Debatte zu Kommentaren genutzt wird, welche wichtige Hinweise für die bulgarische Sichtweise der Geschichte 16 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und zwei Jahre vor dem EU-Beitritt des Landes sowie für deren Kompatibilität einerseits zu der russischen und andererseits zu der europäischen Lesart der Vergangenheit liefern. Im Folgenden gilt das Forschungsinteresse der medialen Verarbeitung der Moskauer Feierlichkeiten in Bulgarien und der Frage, wie sich diese zu den Reaktionen der deutschen (europäischen) und russischen Presse verhält. Untersucht werden die Resonanz des Diskursereignisses, seine Repräsentation und die Wahrnehmungs- bzw. Deutungsmuster, die den kommunizierten Medieninhalten in den drei Ländern zugrunde liegen. Gefragt wird, wie sich das in Bulgarien innerhalb des Diskurses aufgegriffene Themenspektrum im Spannungsfeld zwischen den Medienrealitäten Deutschlands und Russlands zuordnen lässt, welche Rückschlüsse über das Verhältnis der bulgarischen Medien zum Kriegsende und der Nachkriegsordnung anhand der identifizierten Deutungsmuster gezogen werden können, und was diese über den Stand der Geschichtsverarbeitung in diesem südosteuropäischen Land aussagen. 1

Methodische Vorüberlegungen

1.1 Untersuchungszeitraum und ausgewählte Printmedien Zur Auseinandersetzung mit den oben ausgeführten Fragestellungen wurden Texte analysiert, die in den bulgarischen, russischen und deutschen Printmedien erschienen sind. Die Entscheidung, wie viele Medien pro Land berücksichtigt werden, erfolgte, nachdem im Vorfeld der Untersuchung verschiedene bulgarische, russische und deutsche Qualitätszeitungen angesichtet worden sind. Auf-

Das bulgarische Geschichtsverständnis

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grund der Tatsache, dass in Deutschland und Russland innerhalb nationaler Grenzen keine gravierenden Divergenzen bei der Darstellung des Ereignisses festgestellt wurden, wurde eine Zeitung pro Land untersucht. In Bulgarien unterschieden sich Medieninhalte zum Thema in Abhängigkeit von der politischen Gesinnung der jeweiligen Zeitung, weswegen, mit dem Ziel der Deckung eines breiten Meinungsspektrums, in die Analyse eine größere Anzahl bulgarischer Printmedien miteinbezogen wurde. Grundlage für die empirische Studie sind alle Artikel mit Schwerpunkt „Moskauer Feierlichkeiten“, die im Zeitraum 04. 05. 2005 – 12.05. 2005 in drei bulgarischen und jeweils einer russischen und einer deutschen überregionalen Qualitätszeitungen veröffentlicht worden sind. Zur Analyse des bulgarischen Mediendiskurses wurden die Zeitungen „Duma“ und „Sedem“ , die das politische links-rechts Spektrum widerspiegeln, sowie die politisch unabhängige Zeitung „Dnevnik“ herangezogen. „Duma“ erscheint zum ersten Mal im April 1990 und ist somit das erste nach dem Rücktritt der kommunistischen Regierung Bulgariens gegründete Printmedium. Die politisch links orientierte regierungsnahe Zeitung gehört zu den größten bulgarischen Qualitätszeitungen und versteht sich als Nachfolger der bis zur Wende populärsten und auflagenstärksten Zeitung Bulgariens „Rabotnitschesko delo“.1 Die Wahl für das politisch rechts orientierte Medium fiel auf die „Sedem“, war aber nicht unproblematisch, da zur Zeit der Untersuchung in der bulgarischen Medienlandschaft keine liberal-konservative Zeitung nennenswerte Bekanntheit oder Auflagen genoss. Die Zeitung „Demokratzija“, die zwischen 1990 und 2002 exemplarisch für das liberal-konservative Spektrum war, stellte im Jahr 2002 ihr Erscheinen ein, was mit den immer heftigeren innerparteilichen Spannungen in der damals größten bulgarischen politisch rechts orientierten Partei SDS korrespondierte. Zwischen 2002 und 2004 wurden von unterschiedlichen SDS-Abspaltergruppen mehrere liberal-konservative Parteien und ihnen nahe stehenden Zeitungen gegründet, die alle geringen Seitenumfang und geringe Leserschaft aufwiesen. Die „Sedem“ wurde von ehemaligen Journalisten der „Demokrazija“ gegründet und erschien zum ersten Mal im Jahr 2003.2 Die politisch unabhängige „Dnevnik“ wird 2001 gegründet und gehört zu den meist gelesenen Qualitätszeitungen in Bulgarien.3 1 2 3

Mediainfos über „Duma“ online zu sehen unter: http://www.duma.bg/2008/0208/190208/ index.html. Mediainfos über „Sedem“ online zu sehen unter: http://www.abbro-bg.org/news_title.php? nid=567. Mediainfos über „Dnevnik“ online zu sehen unter: http://www.opus-adv.bg/files/vk_Dnevnik_presentation.pdf.

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Yana Kavrakova

Zur Untersuchung der medialen Behandlung der Moskauer Feierlichkeiten in Russland wurde die „Izvestia“ ausgewählt. Das offiziell politisch unabhängige Medium gehört zu den ältesten und größten russischen Zeitungen.4 Für Deutschland wurde die „Frankfurter Rundschau“ zur Untersuchung herangezogen.5 Zur Ermittlung der relevanten Texte für die Querschnittstudie wurden die genannten Medien manuell durch Zeitungsansicht (bei „Izvestia“ – Zeitungsansicht über Internet) nach Artikeln mit Schwerpunkt „Moskauer Feierlichkeiten“ untersucht. 1.2 Analyseinstrumente Im Forschungsdesign der Studie wurden quantitative und qualitative Techniken integriert. Zur Feststellung der Resonanz der Moskauer Feierlichkeiten und zum Vergleich ihrer Relevanz wurde das quantitative Analyseverfahren der Themenfrequenzanalyse angewendet. Dabei wurde die Häufigkeit des Vorkommens des Themas innerhalb des jeweiligen Mediums im Untersuchungszeitraum erhoben und mit seiner Wichtigkeit gleichgesetzt. Das qualitative methodische Instrument der Medieninhaltsanalyse diente zur Erhebung der durch das jeweilige Medium kommunizierten Bilder des untersuchten Ereignisses sowie zur Identifikation der Deutungsrahmen (Frames), die diesen Bildern zugrunde liegen und die Medienrealität in den drei Ländern konstruieren. Berücksichtigt im qualitativen Teil der Arbeit, in dem induktiv vorgegangen wurde, wurden Berichte6 und Kommentare. Aufgrund der Tatsache, dass die Darstellung der Moskauer Feierlichkeiten in Bulgarien im Mittelpunkt der empirischen Untersuchung stand, wurden im qualitativen Teil der Studie zunächst jeweils zwei Artikel pro bulgarische Zeitung einer Feinanalyse unterzogen (Stufe 1). Nach näherer Ansicht des Materials wurde im zweiten Schritt ein Schema erstellt, das mögliche Thematisierungen zum Hauptthema Moskauer Feierlichkeiten beinhaltete. Diese Vorgehensweise hat Hilfestellung zur Erfassung der Ähnlichkeiten und Unterschiede in der medialen Wahrnehmung des untersuchten Ereignisses in den drei Ländern geleistet. Zur Erhebung der Thematisierungsschwerpunkte wurde der gewonnene Textkor4 5 6

Mediainfos über „Izvestia“ online zu sehen unter: http://www.izvestia.ru/90let/history.html) Da die Leser in Deutschland die Zeitung kennen, wird sie hier nicht vorgestellt. Als Bericht wurde die Texte qualifiziert, die keine manifeste Meinungsäußerung des Autors enthalten. D..h. in diese Kategorie wurden auch Texte aufgenommen, bei denen eine Wertung in Form der Wortwahl zu vermuten ist.

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Das bulgarische Geschichtsverständnis

pus nach den festgelegten Problematisierungen untersucht. Die Dichte und Trennschärfe der Systematik der Thematisierungen wurden anhand der Textinhalte immer wieder überprüft, woraus einige Änderungen des ursprünglichen Schemas resultierten. Länderspezifische Unterthemen, deren Problematisierung außerhalb des jeweiligen Staates eher unwahrscheinlich schien, wurden ignoriert, da sie für den intermedialen Vergleich im Rahmen der Studie irrelevant wären. Anhand des Schemas wurde geprüft, ob die Texte, deren Frames in Stufe 1 der qualitativen Analyse nicht herausgearbeitet waren, den bereits identifizierten Deutungsrahmen zugeordnet werden können. (Stufe 2) Die Artikel, die sich als unzuordenbar erwiesen, wurden gesondert einer Feinanalyse unterzogen (Stufe 3). Abschließend erfolgte eine quantitative Gewichtung der qualitativen Ergebnisse. 2

Ergebnisse

2.1 Themenfrequenzanalyse Tabelle 1 präsentiert die Ergebnisse der Themenfrequenzanalyse. Tabelle 1: Texttyp Zeitung Bericht Kommentar Gesamt

Ergebnisse der Themenfrequenzanalyse Dnevnik

Duma

Sedem

3 3 6

6 6

2 2

Frankfurter Rundschau 4 4

Izvestia 4 4

Die meisten Artikel zum Thema „Moskauer Feierlichkeiten“ erschienen im Untersuchungszeitraum in den bulgarischen Medien. Die unabhängige Zeitung „Dnevnik“ und die politisch links orientierte „Duma“ veröffentlichten jeweils sechs Artikel. Die liberal-konservative „Sedem“ widmete dem Thema nur zwei Artikel, was aber angesichts des wesentlich kleineren Seitenumfangs der Zeitung nicht mit einer geringeren Relevanz des Themas gleichzusetzen ist. „Izvestia“ und „Frankfurter Rundschau“ veröffentlichten jeweils vier Artikel zu „Moskauer Feierlichkeiten“. Im Hinblick auf die höhere Relevanz des Ereignisses in Bulgarien ist darauf zu verweisen, dass das Geschichtsverständnis in diesem ehemaligen Vasallenstaat der Sowjetunion im Unterschied zu Russland und Deutschland in der nahen Vergangenheit einer generellen Revision unterzogen worden ist, womit sich eine erhöhte Sensibilität gegenüber geschichtspolitischen Themen erklären lässt.

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Yana Kavrakova

In „Duma“ wie in „Izvestia“ erschienen nur Berichte, in „Dnevnik“ entspricht die Anzahl der Berichte der Anzahl der Kommentare, und die „Frankfurter Rundschau“ und die „Sedem“ veröffentlichten ausschließlich Kommentare zum Thema. Die Textsorte der Artikel liefert erste Hinweise über die Diskursstrategien der untersuchten Medien. Die Auffassung des Ereignisses nur als Gegenstand von Berichten lässt die Vermutung zu, dass die Feiern unkritisch als Symbol der Aussöhnung Europas, der Anerkennung des Status Russlands und Putins thematisiert werden. Die Auswahl der Textsorte des Kommentars verweist hingegen darauf, dass das Ereignis als Anlass für Debatten begriffen wird, die der Auseinandersetzung mit der russischen Sichtweise der Geschichte dienen.

2.2 Feinanalyse: Thematisierungen Tabelle 2 präsentiert die Themen, die in den untersuchten Medien im Kontext der Moskauer Feierlichkeiten behandelt worden sind und bietet eine Übersicht über ihre absolute Häufigkeit in den einzelnen Zeitungen. Anhand der Systematik der Themen, die im Kontext der Moskauer Feiern behandelt worden sind, werden die bereits ausgemachten unterschiedlichen Diskursstrategien deutlich erkennbar. Auffällig ist darüber hinaus zum einen die thematische Nähe der Artikel in „Duma“ und „Izvestia“ sowie in „Sedem“, „Dnevnik“ und „Frankfurter Rundschau“ und zum anderen, dass die thematischen Strukturen der in den bulgarischen Printmedien veröffentlichten Artikel entlang des politischen links-rechts Spektrums erhebliche Unterschiede aufzeigen. Dennoch weisen die drei Zeitungen „Duma“, „Dnevnik“ und „Sedem“, indem sie alle den Ablauf des Ereignisses beschreiben, immerhin eine minimale inhaltliche Überlappung auf, was beim Vergleich zwischen „Frankfurter Rundschau“ und „Izvestia“ nicht der Fall ist. In „Duma“ und „Izvestia“ wird dem Ablauf der Feierlichkeiten große Aufmerksamkeit gewidmet, die Leistung der sowjetischen Armee beim Kriegsende wird hervorgehoben und das Ereignis wird von „Duma“ als Symbol der internationalen Anerkennung der Rolle Russlands und der freundschaftlichen Beziehungen mit den internationalen Gästen dargestellt. In beiden Zeitungen werden konfliktbeladene Themen bis auf eine Ausnahme völlig ausgeblendet. So findet in „Izvestia“ der Streit mit den Balten um die Geschichte kaum Beachtung. In „Duma“ werden die Forderungen der Baltenstaaten in einem Artikel zwar kurz erwähnt, aber nur die Argumente Russlands dagegen erläutert und als wahr postuliert, was die Position der Balten unbegreiflich erscheinen lässt.

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Das bulgarische Geschichtsverständnis

Tabelle 2:

Systematik der Thematisierungen Thematisierung

Zeitung Ablauf der Feierlichkeiten Die Feierlichkeiten als Symbol der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und den Gästen Moskaus/Frieden in Europa, affirmativ Die Feierlichkeiten als Ausdruck aktueller politischer Konstellationen, kritisch Instrumentalisierung der Feiern zur Stärkung des Prestiges Putins – Bezug auf militärische/politische Konflikte, kritisch Instrumentalisierung der Feiern zur Stärkung des Prestiges Putins – Bezug auf innenpolitische Entwicklung, kritisch Russische Leistung für die Niederschlagung Deutschlands, positiv Russische Okkupation Osteuropas, kritisch Probleme der (nicht stattfindenden) „Vergangenheitsbewältigung“ – im Verhältnis zu Annektionsopfern/Politik, die Osteuropäer und deren Haltungen marginalisiert Probleme der (nicht stattfindenden) „Vergangenheitsbewältigung“ – im Verhältnis zu Russland selber

Duma

Sedem

Dnevnik

4

1

2

Frankfurter Rundschau

Izvestia 3

4

1

2

3

2

3

2

2

1

1

2

2

3

2

2

3

3

2

2

2

3

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Die „Dnevnik“, die „Sedem“ und die „Frankfurter Rundschau“ zeichnen sich beim Themenvergleich durch Vielfalt der behandelten Inhalte und kritische Auseinandersetzung mit den kontroversen Themen aus. Alle drei Zeitungen akzentuierten den Konflikt mit den Baltenstaaten, die nicht stattfindende Vergangenheitsbewältigung in Russland und heben die Stärkung des Prestiges von Putin als Ziel der Feiern hervor. In „Dnevnik“ und „Frankfurter Rundschau“ wird die ausbleibende Auseinandersetzung mit der Geschichte als Indikator für den Stand der Demokratie in Russland angesehen, die „Sedem“ wiederum deutet die nicht stattfindende Debatte um die Vergangenheit als Hindernis für die demokratische Entwicklung des Landes. Während die Anwesenheit zahlreicher Staats- und Regierungschefs von der Frankfurter Rundschau nicht näher betrachtet wird, wird diese von „Sedem“ als Zustimmung der Politik Putins kritisiert, und von „Dnevnik“ mit der aktuellen geopolitischen Situation erklärt.

2.3 Ergebnisse der Frameanalyse Tabelle 3 bietet einen Überblick über die identifizierten Frames und ihre Gewichtung. Im Hinblick auf die absolute Häufigkeit der Frames ist darauf zu verweisen, dass ein Artikel mehrere Deutungsrahmen aufweisen kann, infolgedessen die Gesamtanzahl der Frames die Gesamtanzahl der analysierten Texte übersteigen kann, was hier der Fall ist. Tabelle 3:

Ergebnisse der Frameanalyse

Frame

Duma

Sedem

Dnevnik

Frankfurter Rundschau

2

3

1

Zeitung Feiern als Ausdruck innerrussischer Entwicklung (kritisch) Feiern als Ausdruck innerrussischer Entwicklung, (positiv) Feiern als Ausdruck aktueller politischer Konstellationen

1

2

Izvestia

Das bulgarische Geschichtsverständnis

261

Die Ergebnisse der Frameanalyse zeigen nicht kompatible Deutungsrahmen des Ereignisses der Feierlichkeiten in Russland und Deutschland auf: Während die Berichte in „Izvestia“ den Tag des Sieges als den wichtigsten nationalen Feiertag hervorheben und die Feiern einstimmig als Manifestation seiner großen Bedeutung für Russland auffassen, erfährt das Ereignis in den Kommentaren der „Frankfurter Rundschau“ vor dem Hintergrund des Konflikts mit den Balten eine durchaus kritische Betrachtung vor allem als Ausdruck aktueller Geschichtspolitik, aber auch als Indikator für den Stand der Geschichtsbewältigung in Russland und als Anzeichen pseudodemokratischer innerrussischer Entwicklung. Das Framing des Ereignisses in Bulgarien reicht von der russischen bis zur deutschen Perspektive, zeigt jedoch Nichtkompatibilität der nationalen/bulgarischen milieuspezifischen Diskurse auf. Die Berichte in „Duma“ weisen, wie die Ergebnisse des Themenvergleichs zeigen, zahlreiche Ähnlichkeiten zu den Texten in „Izvestia“ auf. Dennoch erfolgt die Berichterstattung in beiden Zeitungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. In „Izvestia“ gilt das Interesse ausschließlich dem gefeierten Ereignis und seinem immensen Stellenwert für Russland. In „Duma“ wird hingegen auf die weltweite Dimension des Kriegsendes und auf die Akteursqualität Russlands in der internationalen Politik damals und heute akzentuiert. Daher unterscheiden sich die Deutungsrahmen, die den Texten in „Duma“ zugrunde liegen vom Framing der Jubiläumsfeierlichkeiten in „Izvestia“, sind jedoch mit diesem kompatibel. Die bulgarische politisch links orientierte Zeitung artikuliert die Jubiläumsfeierlichkeiten grundsätzlich als Symbol der gemeinsamen europäischen Geschichtsverarbeitung und ergänzend als Ausdruck der positiven innerrussischen Entwicklung, deren weltweite Anerkennung sich in der Anwesenheit der internationalen politischen Elite in Moskau manifestiert. Die „Dnevnik“ und die „Sedem“ zeigen im Hinblick auf die Deutungsrahmen der analysierten Artikel deutliche Überlappungen mit der Frankfurter Rundschau auf. Während aber im deutschen Medium der Frame „Feiern als Ausdruck aktueller Geschichtspolitik“ dominiert, weist er in den bulgarischen Zeitungen, wo der Deutungsrahmen „Feiern als Ausdruck (negativer) innerrussischer Entwicklung“ am häufigsten auftritt, die zweitstärkste Gewichtung auf. Darüber hinaus ist in „Dnevnik“ neben allen Deutungsmustern, die in der „Frankfurter Rundschau“ vorkommen, die Auffassung vom Ereignis der Feierlichkeiten als Ausdruck aktueller politischer Konstellationen relativ oft aufzufinden. Hier wird die Anwesenheit zahlreicher Staats- und Regierungschefs in Moskau angesichts des Ausbleibens einer Geschichtsauseinandersetzung auf russischer Seite sowie angesichts des fragwürdigen Stands der Demokratie in Russland im Kontext der Abhängigkeit des „Westens“ von russischen Energielieferungen thematisiert.

262 3

Yana Kavrakova

Zusammenfassende Überlegungen

Die Ergebnisse der empirischen Studie basieren auf allen Artikeln, die während des Untersuchungszeitraums in den ausgewählten Printmedien zum Thema „Moskauer Feiern“ erschienen sind und sind somit repräsentativ. Sie veranschaulichen, dass es sich bei den Jubiläumsfeierlichkeiten um ein Ereignis handelt, das in Russland, Deutschland und Bulgarien kompatiblen Relevanzstrukturen aufweist und dessen Wahrnehmung wesentlich vom jeweiligen Geschichtsverständnis bestimmt worden ist. Während die Medien in Russland die Geschichtslesung aus sowjetischen Zeiten befestigten und die Jubiläumsfeiern schattenlos darstellten, kritisierten die deutschen Medien Moskau wegen ausbleibender Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, betonten, dass der Sieg gegen NaziDeutschland für Osteuropa den Anfang der sowjetischen Okkupation markiert und thematisierten den Prestige-Gewinn, den Putin über die Feierlichkeiten erzielen kann. Die mediale Behandlung des Ereignisses in Bulgarien zeigt deutliche Divergenzen entlang politisch-ideologischer Grenzen und ein Meinungsspektrum auf, das von der russischen bis zur deutschen Betrachtungsperspektive reicht. Die Pluralisierung der bulgarischen Öffentlichkeit zum Thema Moskauer Feierlichkeiten verweist auf den Stand der nationalen Debatte über die Nachkriegsgeschichte 16 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und somit darauf, dass die Konkurrenz zwischen sowjetischen Vergangenheitsmythen und europäischem Geschichtsverständnis in Bulgarien weiterhin allgegenwärtig ist.

Zwischen Macht- und Ordnungspolitik: Russländische Mediendiskurse über die „orangene Revolution“ Jonas Grätz Zwischen Macht- und Ordnungspolitik

In diesem Aufsatz wird der Blick von Diskursen innerhalb der EU abgewendet, um die mediale Repräsentation der „orangenen Revolution“ in Russland zu analysieren.1 Die EU tritt dabei wiederum als externer Akteur in Erscheinung, dessen Repräsentation in den Medien Teil der Untersuchung ist. Die Analyse fällt jedoch insoweit aus dem Rahmen, als die Kernfrage des Sammelbandes nach der Konstituierung einer Öffentlichkeit innerhalb der EU nicht beantwortet werden kann. Weitet man den Begriff europäische Öffentlichkeit hingegen auf Gesellschaften aus, die nicht Mitglieder der EU sind, kann die folgende Untersuchung durchaus in den Kontext der anderen Studien eingepasst werden. Vor diesem Hintergrund wäre die Frage dann nach den Relevanzstrukturen und Deutungsmustern in Nachbarstaaten der EU und den Möglichkeiten transnationaler Interaktion, die sich daraus ergeben. Diese Frage ist auch in Bezug auf den „strategischen Partner“ Russland nicht uninteressant. Vor dem Hintergrund des unantizipierten russländischen2 Transformationsprozesses, der statt Demokratisierung eher Re-Autokratisierung und eine erneute Konzentration politischer und ökonomischer Macht hervorgebracht hat, wird die mediale Repräsentation eines Ereignisses analysiert, bei dem die Einhaltung demokratischer Standards eingefordert wurde. Untersucht wird dabei, wie stark die Resonanz auf das Ereignis „orangene Revolution“ in russländischen Medien gewesen ist und auf welche Wahrnehmungsmuster3 zum Zweck der Interpretation und Verarbeitung zurückgegriffen wurde. Durch eine Analyse der Wahrneh-

1 2

3

Ich danke Irina Melamed für ihre Unterstützung bei der gemeinsamen Arbeit im Rahmen des Empiriepraktikums, aus dem dieser Aufsatz hervorgegangen ist. In diesem Aufsatz wird – soweit es sich um die Russische Föderation handelt – durchgängig das Adjektiv „russländisch“ statt „russisch“ verwendet, da es sich bei Russland um eine multiethnische Föderation handelt, das Adjektiv „russisch“ jedoch nur die russische Ethnie bezeichnet. Unter Wahrnehmungsmustern werden hier generelle, kulturell verankerte Wissenskategorien verstanden, mit denen die Textproduzenten die einzelnen Ereignisse ordnen und in einen Sinnzusammenhang bringen.

264

Jonas Grätz

mungsmuster lassen sich auch Rückschlüsse auf politische Kultur und gesellschaftliche Identität in Russland ziehen. Im Folgenden wird eine kurze Übersicht über das Diskursereignis gegeben. Anschließend werden die in der Analyse behandelten Fragestellungen vorgestellt. Daraufhin werden Untersuchungsmethoden und Ergebnisse vorgestellt. Die Analyse wird sodann durch generelle Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Ausgangsfragen abgeschlossen. Die Präsidentschaftswahl in der Ukraine vom Oktober 2004 war ein in der Wahrnehmung stark umkämpftes Ereignis, das die internationale Politik für mehrere Wochen in Atem halten sollte. Schon während des Wahlkampfs übte das Europäische Parlament Kritik an der exzessiven Nutzung „administrativer Ressourcen“ zu Gunsten des von Präsident Kuma designierten Präsidentschaftskandidaten Janukovi und der lautstarken, staatlich unterstützten Diskriminierung oppositioneller Kräfte.4 Auf russländischer Seite sah man die von Gegenkandidat Jušenko angeführte Opposition hingegen als Bedrohung der eigenen Vormachtstellung in der Ukraine an und suchte daher die aktive Einflussnahme in den Konflikt.5 Die Einflussnahme wurde politisch mit Anschuldigungen gegen westliche Staaten gerechtfertigt, denen vorgeworfen wurde, die Opposition ideell und materiell zu unterstützen. Dennoch ging die Rechnung der russländischen Polittechnologen nicht auf: Nachdem der erste Wahlgang vom 31. Oktober und die Stichwahl am 21. November 2004 zu Gunsten von Janukovi ausgegangen war, begannen die bereits in Erwartung der Fälschungen vorbereiteten medienwirksamen Massenproteste der Opposition in Kiew. Die schon bald als „orangene Revolution“ bezeichneten Proteste nahmen in Berufung auf Beobachter internationaler Organisationen die massive Manipulation der Wahlen zum Anlass, um gerechte Neuwahlen zu fordern. Diese fanden schließlich am 26. Dezember 2004 statt und endeten zu Gunsten Jušenkos. Dieses polarisierende Ereignis hatte bedeutende Auswirkungen auf den Mediendiskurs in Russland und gehörte in den vier Monaten des Konflikts zu den Themen mit der größten Medienaufmerksamkeit. Inhaltlich ist die mediale Repräsentation des Ereignisses besonders interessant, da hier mehrere Dimensionen untersucht werden können:

4 5

Vgl. Entschließung des Europäischen Parlaments zu den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in der Ukraine, 28. Oktober 2004, Dok. Nr.: P6_TA(2004)0046. Dies wurde von politischen Akteuren auch nicht verhehlt: „Das waren die ersten Wahlen, in die sich Russland richtig eingemischt hat“, so Sergej Aleksandrovi Markov, „Polittechnologe“ des Kreml auf einem Briefing an der St. Petersburger Staatlichen Universität am 24.11.2004. Da die politischen, ökonomischen und kulturellen Interessen Russlands gefährdet schienen, wurde in Russland an der Einmischung kaum Kritik geübt.

Zwischen Macht- und Ordnungspolitik

1.

2.

3.

265

Der Umgang mit dem „nahen Ausland“ und die Frage nach der Ablösung imperialer Traditionen. So können anhand des Diskurses über das Ereignis gesellschaftliche Deutungs- bzw. Wahrnehmungsmuster identifiziert werden, an denen sichtbar wird, ob die Dominanz Russlands über seine Nachbarstaaten weiterhin als legitim erachtet wird, oder aber die Staaten des „nahen Auslands“ als selbständige Subjekte anerkannt werden. Da die EU und weitere westliche Staaten und Organisationen als Akteure das Ereignis zu beeinflussen suchten, kann auch die gesellschaftliche Wahrnehmung dieser Akteure untersucht werden. Die Wahrnehmung „des Westens“ (zapad) in Russland ist besonders relevant, da die Referenz auf den Westen formal strukturierendes Merkmal jeglicher Identitätsdebatte in Russland gewesen ist, seitdem überhaupt in nationalen Kategorien gedacht wurde. Der Westen diente stets als constituting other (Ignatow 2000: 26) der russischen Identität, zu dem die Elitenfraktionen im Zeitverlauf inhaltlich unterschiedliche Bezüge aufbauten.6 In diesem Sinne können über die Kategorien, in denen der Westen wahrgenommen wird, Rückschlüsse über die Rolle des Westens in der innerrussländischen Identitätsdebatte gezogen werden.7 Versteht man Identitätsbildung nicht nur als einen Abgrenzungsprozess, sondern im weiteren Sinne als einen Prozess der Konstruktion von Sinn durch kulturelle Attributierung (Castells 2002: 8), kann von den in den Texten identifizierten Wahrnehmungsmustern auch auf die Identitäten von Textproduzenten und -Rezipienten geschlossen werden. Die Reaktionen auf das politische Ereignis einer gesellschaftlichen Mobilisierung, die gegen Wahlbetrug und damit für demokratische Prinzipien eingetreten ist, lassen hier insbesondere Rückschlüsse auf die politische Kultur zu. So ist es vor dem Hintergrund der innerrussländischen Entwicklung interessant zu fragen, welcher politische Sinn dem Ereignis zugeschrieben wird, ob also das Eintreten für demokratische Prinzipien und die Idee gesellschaftlicher Souveränität akzeptiert wird, auf Unverständnis oder gar Ablehnung stößt.

Zur Beantwortung dieser Fragen wurden sowohl die Texte einer mainstreamZeitung mit hoher Auflage und weiter räumlicher Verbreitung, als auch Texte einer Zeitung, die dem liberaldemokratisch geprägten Spektrum zugeordnet 6 7

Vgl. hierzu Tchoubarian (1994); Ignatow (1999); Ignatow (2000); Simon (2000); Kirillova (2005). Zu Beginn der Untersuchung wurde erwartet, dass das Ereignis eine bewusste Identitätsdebatte auslösen würde, also eine Selbstreflexion mit dem Ziel des Vergewisserns über die Grundlagen der eigenen Gemeinschaft. Dies konnte mit dem Textmaterial jedoch nicht belegt werden. Daher liegt der Schwerpunkt hier auf den Wahrnehmungsmustern, die das Ereignis definieren und kontextualisieren und den Akteuren bestimmte Rollen zuschreiben. Damit sind auch Rückschlüsse auf Identität möglich.

266

Jonas Grätz

werden kann, analysiert. Damit soll untersucht werden, ob die Wahrnehmungsmuster für das jeweilige Spektrum spezifisch sind, oder aber übergreifenden Charakter besitzen.

4

Methodische Konzeption und Durchführung

4.1 Auswahl des Textkorpus Analysiert wurden Texte aus zwei russischsprachigen Zeitungen innerhalb eines viermonatigen Analysezeitraums. Dieser Zeitraum reichte vom 1. Oktober 2004 bis 31. Januar 2005, deckt also einen Teil der Wahlkampfperiode, die Wahlen und die anschließenden Proteste vollständig ab. Die Auswahl der Zeitungen folgte dem Ziel, einerseits den in einem populären mainstream-Medium und andererseits in einem liberaldemokratischen Medium geführten Diskurs zu untersuchen, um spezifische Unterschiede in der Wahrnehmung erfassen zu können. Als Arbeitshypothese diente dabei die Annahme, dass im mainstreamMedium Regierungskonforme Positionen vertreten werden, während das liberaldemokratische Medium das Ereignis nicht primär als Angriff auf russländische Interessen, sondern als demokratische Revolution thematisiert. Für das mainstream-Mediums fiel die Wahl auf die Komsomol’skaja Pravda (im folgenden KP), da diese Tageszeitung recht genau den Anforderungen entsprach. Die KP ist als Massenmedium geeignet, da sie unangefochtener Marktführer in Russland ist und auch die höchste Verbreitung in den Regionen besitzt. Außerdem erscheint sie auch in anderen Staaten der GUS. Auch die Leserschaft ist sehr heterogen: Über 50% der Leser gehören der Arbeiterschicht an, dennoch sind mehr als 30% der Leser der „Komsomolka“ laut Angaben der Zeitung „Entscheider aus dem Business-Milieu“.8 Auch ist die KP eine Zeitung mit Tradition und tiefer Verwurzelung in der russländischen Gesellschaft. Bis zum Zerfall der UdSSR war sie Organ der sowjetischen Jugendorganisation Komsomol und wandelte sich anschließend zu einer allgemeinen Boulevardzeitung. Bis Anfang 2007 gehörte die KP zur Firma Prof-Media, die im Besitz des kremlnahen „Oligarchen“ Vladimir Potanin ist (Gladkov 2003: 6). Im Jahr 2007 kaufte die ESN-Holding 60 Prozent der KP, u. a. von der norwegischen Medienfirma A-Pressen. Der Vorsitzende der ESN-Holding, Grigorij Berezkin, ist eng mit der staatlichen Eisenbahngesellschaft RŽD verbunden. Daher ist zu vermuten, dass der Verkauf vom Kreml gesteuert wurde.9 8 9

Vgl. Mediadaten auf http://www.advert.kp.ru/about/en/?menu=177&doc=339; 22.2.2006 Vgl. Grigorij Berezkin svjazal sebja s „Komsomolkoj“, in: Kommersant’’, 22.1.2007, http:// www.kommersant.ru/doc.aspx?DocsID=735796, 18.7.2007; Partnerom „druzej prezidenta“ v

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Als liberaldemokratisches Medium wurde die Nezavisimaja Gazeta (im folgenden NG) gewählt, da sie in der Zeitungslandschaft die stärkste liberale Prägung aufweist. Die NG ist eine Qualitätszeitung für ein Nischenpublikum und erreicht über Moskau und St. Petersburg hinaus keine nennenswerte Verbreitung.10 Auch die Möglichkeit zum Abonnement von Zeitungen wird kaum genutzt (Gladkov 2003: 3). Die NG ist ein Produkt des Umbruchs in Russland, sie wurde im Jahre 1991 als Low-Budget-Unternehmen von der demokratischen Opposition gegründet. Bis zur Übernahme durch den „Oligarchen“ Berezovskij im Jahre 1995 hatte die Zeitung ernsthafte Finanzprobleme und stand oft am Rande des wirtschaftlichen Ruins (Zassoursky 2004). Im August 2005 wurde die NG schließlich von Konstantin Remukov, einem Berater des liberal gesinnten Wirtschaftsministers Gref übernommen, der seitdem als Herausgeber auftritt.11 Als Bezugsquelle für die Texte standen die frei zugänglichen Archive der Zeitungen im Internet zur Verfügung.12 Um sicherzustellen, dass die online verfügbaren Versionen der Zeitungen den Druckversionen entsprechen, wurden Stichproben der Druckversion der NG und der KP mit der Online-Version verglichen. Da die NG keine separaten Regionalteile erstellt, waren Online-Archiv und Druckversion der Zeitung komplett identisch. Bei der KP wurden im Regionalteil einige Unterschiede festgestellt,13 was aber auf die inhaltlichen Ergebnisse der Analyse keinerlei Auswirkungen hat, da keine Regionalthemen untersucht werden. Bei der Artikelsuche wurde manuell in einem mehrstufigen Verfahren vorgegangen, d. h. es wurden keine Suchroboter verwendet.14 Im Internetarchiv der Zeitungen wurde zunächst die Gesamtzahl der Artikel am jeweiligen Tag gezählt (Stufe 1). Dann wurden die Überschriften nach relevanten Themen überprüft. Artikel, die nicht auf den ersten Blick irrelevant (wie z.B. Mode, Musik, Lokales) schienen, wurden geöffnet und auf den Inhalt überprüft (Stufe 2). Stellte sich heraus, dass der Artikel das Untersuchungsthema behandelt, wurde die dritte Stufe der Auswahl durchgeführt. Hier stellte sich die Suche mit Hilfe der Textsuchfunktion des Internet-Browsers nach Schlüsselwörtern innerhalb des Artikels als hilfreich heraus, um dessen Bezugnahme auf Europa oder den Westen zu

10 11 12 13

14

„Komsomol’skoj Pravde“ stal Grigorij Berezkin, in: polit.ru, 23.7.2007, http://www.polit. ru/news/2007/07/23/esn.html, 13.5.2008. In den Regionen ist sie an Zeitungskiosken meist nicht zu erhalten. Vgl. Remchukov Linked to Nezavisimaya, in: The Moscow Times, 5.8.2005, Seite 2. Nezavisimaja Gazeta: http://www.ng.ru; Komsomol’skaja Pravda: http://www.kp.ru. So gab es etwa je nach Region verschiedene lokale Nachrichtenmeldungen und Boulevardartikel, sodass die Gesamtzahl der Artikel je nach Regionalausgabe leicht nach oben oder unten schwanken könnte. Die Verwendung von Suchrobotern ist häufig mit Fehlern bei der Erhebung verknüpft (nicht gefundene relevante Artikel etc.) und hätte auch eine Erhebung der Gesamtzahl der im Untersuchungszeitraum veröffentlichten Artikel verunmöglicht.

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überprüfen. Als Schlüsselwörter wurden ES, zapad, evrop und OBSE (in kyrillischer Schrift) verwendet (Stufe 3). Aus den in Stufe 3 der Themenfrequenzanalyse erhaltenen Artikeln wurden dann die für die Frameanalyse relevanten Artikel ausgewählt. Hierbei kamen nur solche Texte in Betracht, die eine wertende Stellungnahme des Autors erkennen ließen, nicht also reine Sachberichte (z.B. über die Route und den Ablauf einer Demonstration). Interviews, Kurzmeldungen mit der Länge von ein bis drei Sätzen und Übersetzungen ausländischer Zeitungsartikel wurden ebenfalls aussortiert. Des weiteren wurde nach der Relevanz des im Text behandelten Themas für unser Untersuchungsthema ausgewählt. Texte, die das Thema „Revolution/Wahlen in der Ukraine“ nur am Rande, etwa mit einem Satz, behandelten, wurden ebenfalls ausgesondert. Dadurch reduzierte sich die anfänglich große Textmenge erheblich. Nach Abschluss des Auswahlprozesses lagen von beiden Medien etwa gleich viele Texte zur Analyse vor (13 Texte aus der KP und 15 Texte aus der NG). Die Anzahl der Texte aus der NG reduzierte sich vor allem deshalb stark, da viele Texte Berichts- oder Nachrichtencharakter aufwiesen. Wichtiges Ausschlusskriterium für beide Medien war außerdem die Themenrelevanz, da häufig das Thema der „orangenen Revolution“ nur am Rande innerhalb eines anderen Kontextes behandelt wurde und der Text daher nicht genug für die Analyse relevantes Material enthielt. 4.2 Spezifizierung der Analyseinstrumente Wie auch in den anderen in diesem Band enthaltenen Untersuchungen kommen in der Analyse sowohl ein inhaltsanalytische Verfahren als auch das diskursanalytische Verfahren zur Anwendung. Als quantitatives Analyseverfahren wurde eine Themenfrequenzanalyse durchgeführt. Ziel der Analyse ist es, den Anteil der thematisch relevanten Texte für jedes Medium an der Gesamtanzahl an Texten im Untersuchungszeitraum angeben zu können. Damit lassen sich Aussagen über die Relevanz des untersuchten Ereignisses für die gesamte Medienrealität im Untersuchungszeitraum treffen, was Rückschlüsse über die relative Intensität des Diskurses ermöglicht. Außerdem ermöglicht die Themenfrequenzanalyse eine Vorauswahl der für die Frameanalyse relevanten Texte. Dabei wurde eine dreistufige Themenfrequenzanalyse durchgeführt. Die dreistufige Analyse besteht aus folgenden Schritten: ƒ ƒ

Erhebung der Gesamtmenge an Texten innerhalb des jeweiligen Mediums im Untersuchungszeitraum. Erhebung der Anzahl der Texte, in denen das Thema „Wahlen/Revolution in der Ukraine“ Erwähnung findet (Gruppe I).

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ƒ

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Erhebung der Anzahl der Texte innerhalb von Gruppe I, in denen Bezug auf Westeuropa/EU oder den Westen genommen wird (Gruppe II).

Mit dieser dreistufigen Themenfrequenzanalyse kann sowohl die Relevanz des Ereignisses „orangene Revolution“ insgesamt als auch des Subthemas, der Repräsentation der Kategorien Westeuropa bzw. der Westen im Diskurs festgestellt werden.15 Im qualitativen Teil dieser Arbeit steht die Rekonstruktion von Frames im Mittelpunkt, die in der politischen Debatte genutzt werden. Die Frage ist dabei nach den verschiedenen „Rahmen“ in die die Texte zum Thema eingefasst werden. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass gesellschaftliche Realität durch die Massenmedien hergestellt wird und daher kein natürlicher, objektiver Sachverhalt, sondern kontingentes Produkt menschlichen Handelns ist (Donati 2001: 152). Empirische Geschehnisse können so die unterschiedlichsten Rahmungen und damit unterschiedliche Attributierungen von Sinn erhalten. Aus verschiedenen möglichen Rahmungen des Themas gilt es dementsprechend, diejenigen Rahmen zu rekonstruieren, die im entsprechenden Text verwendet werden. Konkret heißt das auf das Thema der Untersuchung bezogen: Das Ereignis „orangene Revolution“ erhält im russischen Mediendiskurs jeweils unterschiedliche Deutungsrahmen, die von den Wahrnehmungsmustern und Interessen der Diskursteilnehmer abhängig sind. Diese Wahrnehmungsstrukturen werden ihrerseits beeinflusst durch die Struktur eines gesellschaftlich verankerten Diskurses. Die Kontingenz möglicher Frames wird dabei oft erst deutlich, wenn alternative Rahmungsmöglichkeiten vergegenwärtigt werden. Die „Destillierung“ von Frames aus Texten erfordert deshalb ein gewisses Abstraktionsvermögen und auch Vorwissen über den Gegenstand. Bei der Gewinnung von Frames wurde ausschließlich induktiv vorgegangen, da so die größte Validität zu erreichen ist. 15

Allerdings bleibt bei der Konzeption der Themenfrequenzanalyse noch Raum zur Verbesserung: Es findet keine Gewichtung der Relevanz der einzelnen Texte nach deren Stellung innerhalb der Zeitung oder nach Fläche und Wortanzahl statt. Eine Bewertung der Stellung oder Fläche ist rein technisch nicht möglich, da die Zeitungen nicht im Original, sondern im Internet ausgewertet wurden. Eine Gewichtung je nach Wortanzahl wäre technisch zwar möglich und wohl auch sinnvoll, schied jedoch wegen des zusätzlichen erheblichen Arbeitsaufwands aus. Daher wurde jeder verfügbare Text als eine Einheit gezählt, ohne auf andere Faktoren Rücksicht zu nehmen. Auch wurde während der Themenfrequenzanalyse nicht nach Texttypen differenziert. Diese weitere Differenzierung wurde bewusst vermieden, da es sich als schwierig herausstellte, die Texte den üblichen Standardkategorien (Bericht/Kommentar/Nachricht etc.) zuzuordnen, da die Textformate häufig nicht eindeutig zuordenbar waren. Trotz dieser Einschränkungen liefert das Forschungsdesign valide Ergebnisse, da die große Grundgesamtheit verbunden mit der hohen Anzahl an Texten in Gruppe I und II die Verzerrungen wohl mehr als ausgleichen. Daher erlauben die Ergebnisse der Themenfrequenzanalyse eine Einschätzung der Relevanz des Themas und eine Gewichtung der Resultate der Frameanalyse.

270

Jonas Grätz

Trägt man vorgefertigte Kategoriensysteme an die Texte heran, kann es leicht zu Verzerrungen kommen. Mithin ist bei der Untersuchung von Mediendiskursen in deduktiver Vorgehensweise während des Forschungsprozesses häufig eine Revision des Forschungsdesigns notwendig, sofern die Validität nicht übermäßig leiden soll. Bei der induktiven Vorgehensweise kann jedoch das individuelle Vorverständnis des Forschers zur Verzerrung der Ergebnisse führen. Um möglichen Verzerrungen vorzubeugen, hat sich der Autor bemüht, sein Vorverständnis zu explizieren und während der Analyse zu kontrollieren. Die Gewinnung der Frames erfolgte induktiv in einem für jeden Text durchgeführten Abstraktionsprozess, der durch Anwendung der gleichen Standardroutine für alle Texte vergleichbar erfolgte. Nach der Textlektüre folgte die Paraphrasierung und Zusammenfassung der zentralen Punkte. Als nächstes wurden Metaphern und Schlüsselbegriffe herausgeschrieben. Mit diesen Extrakten konnten dann zunächst Frameelemente gewonnen werden. Als Frameelemente sind einzelne, analytisch unterscheidbare Sinnelemente zu verstehen, die sich teilweise logisch konsistent zu einem übergeordneten Rahmen zusammensetzen lassen, teilweise jedoch auch zueinander im Gegensatz stehen. Die Identifikation von Frameelementen wurde im Hinblick auf eine bessere Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse durchgeführt, da mit Hilfe der einzelnen, in vielen Texten gemeinsam auftretenden Elemente zunächst einzelne Frames und später aus mehreren Frames gebildete Framesets gebildet werden konnten. Framesets werden hier verstanden als Gruppierung mehrerer einzelner Frames, die zusammen ein in sich logisch kohärentes Muster ergeben. Die einzelnen Elemente bedingen und verstärken sich also gegenseitig. Die Framesets basieren dabei auf zwei bis drei konstituierenden Frames, die in allen jeweils zugeordneten Texten obligatorisch vorhanden sind. Die Identifikation der Frameelemente geschah über eine Gegenüberstellung der Elemente des aktuellen Textes mit den bereits aus anderen Texten gewonnenen Frameelementen, vor deren kontrastivem Hintergrund die Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten deutlich wurden. Mit wachsender Erfahrung konnten daher der jeweils analysierte Text mit den vorhandenen Frameelementen konfrontiert und so relativ rasch die im Text enthaltenen Frameelemente und Frames erarbeitet werden. Im Prozess der Analyse war also eine gewisse Interaktion der Frameelemente zu bemerken, da die bereits gewonnene Erfahrung auch auf den weiteren Analyseprozess zurückwirkte. Nachdem die Gewinnung der Frames für die Einzeltexte abgeschlossen war, konnten bei der Durchsicht der Frames zwei dominante Framesets identifiziert werden, die in der Mehrzahl der Texte enthalten waren. Den Framesets lassen sich außerdem mehrere variierende Frameelemente und spezifische Argumentationsmuster zuordnen, die für die Bildung des Framesets nicht konstitutiv sind, aber zusätzlich im Text enthalten sein können und die Framesets anreichern

Zwischen Macht- und Ordnungspolitik

271

können. Die Argumentationsmuster sind von den Frameelementen nochmals unterschieden, da erstere sich auf bestimmte, im Text wiederkehrende Argumentationsstränge beziehen, letztere demgegenüber auf hinter der Textebene liegende Wahrnehmungsmuster verweisen, die im Text immanent enthalten sind. Nach der Identifikation der Framesets und Argumentationsmuster erfolgte eine erneute Durchsicht der Texte und der gewonnenen Frames unter der Fragestellung, welche Texte dem jeweiligen Frameset zugeordnet werden können und wo Abweichungen zu erkennen sind. Dabei konnte ein Großteil der Texte den zwei Framesets zugeordnet werden. Mit dieser Gruppierung der Einzeltexte unter in sich kohärente Framesets konnte sodann eine quantitative Gewichtung der qualitativ erzielten Ergebnisse erfolgen. Die Frameelemente der Texte ohne konkrete Zuordnung zu einem Frameset werden gesondert aufgeführt.

5

Ergebnisse

5.1 Themenfrequenzanalyse Die Ergebnisse der Themenfrequenzanalyse bestätigen, dass in beiden Medien das Thema Wahlen/Revolution in der Ukraine hohe Relevanz besitzt. Im gesamten Untersuchungszeitraum von vier Monaten sind im Durchschnitt in der NG täglich mehr als zwei, in der KP täglich mehr als ein Artikel zum Thema publiziert worden, was auf eine hohe Themenkonstanz hinweist und die Vorannahme der Relevanz des Ereignisses bestätigt. Während der Kernzeit des Ereignisses im November und Dezember nehmen Artikel zur „orangenen Revolution“ in der NG mehr als 8 Prozent und in der KP mehr als 5 Prozent am gesamten redaktionellen Teil ein. In der NG ist damit durchgängig ein höherer Anteil an Artikeln anzutreffen, die sich mit der „orangenen Revolution“ beschäftigen als in der KP. Dies kann auf Grund der unterschiedlichen Ausrichtung der Medien erklärt werden: Der Anteil von Mitteilungen zur Tagespolitik oder zu wirtschaftlichen Themen fällt in der KP mit ca. 30 Prozent auf Grund ihres Boulevardcharakters sehr gering aus, während diese Themen in der NG über 70 Prozent des redaktionellen Teils ausmachen. Dies ist einer der Gründe, weshalb in der KP zwar mehr Artikel erschienen sind als in der NG, der Anteil an Artikeln zur orangenen Revolution im Vergleich jedoch deutlich geringer ausfällt. Bezieht man sich nur auf die politische und wirtschaftliche Berichterstattung der Zeitungen, so ist der Anteil der Berichte zum untersuchten Ereignis in der KP mit über 12 Prozent deutlich höher als in der NG (8 Prozent), was die hohe Relevanz des Themas auch für das Massenmedium bezeugt. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Ergebnisse.

272 Tabelle 1:

Jonas Grätz

Ergebnisse der Themenfrequenzanalyse

Gesamtanzahl der Artikel:

Komsomol’skaja Pravda

Nezavisimaja Gazeta

3318

3059

Anzahl

Prozentanteil an Gesamtanzahl

Anzahl

Prozentanteil an Gesamtanzahl

Artikel zur orangenen Revolution/Wahl (Gruppe I)

123

3,71

175

5,69

Artikel mit Bezug auf Westeuropa/EU oder den Westen (Gruppe II)

37

1,12

79

2,62

Deutliche Unterschiede zeigen sich bei der Teilmenge an Artikeln, die Akteure aus Westeuropa bzw. den Westen als Akteur nennen. Hier wurde in der NG täglich im Durchschnitt ca. ein Artikel veröffentlicht, während in der KP im Durchschnitt weniger als jeden zweiten Erscheinungstag ein Artikel dieser Gruppe zu finden war. Dies drückt sich auch in den Relationen der Artikel von Gruppe II zu Gruppe I aus: Während bei der NG bei mehr als 45 Prozent der Artikel, die sich mit der Revolution beschäftigen, auch ein Bezug zu Westeuropa bzw. dem Westen nachgewiesen werden konnte, beträgt dieser Anteil in der KP nur 30 Prozent. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Berichterstattung von Fakten in der NG einen größeren Stellenwert besitzt als in der KP, wo mehr Kommentare oder Stimmungsbilder, jedoch weniger „Monitoring“ der Situation in der Ukraine und der unterschiedlichen beteiligten Akteure erfolgte. Die unterschiedliche inhaltliche Struktur und die unterschiedlichen Zielgruppen der beiden untersuchten Medien sind daher für einen guten Teil der Differenzen verantwortlich. Die Themenfrequenzanalyse hat die Relevanz des untersuchten Ereignisses innerhalb der medialen Repräsentation anderer Ereignisse quantifiziert. Damit wurde belegt, dass es sich sowohl im Massen- als auch im liberaldemokratischen Medium nicht um einen marginales Ereignis handelt. 5.2 Frameanalyse Bei der Auswertung des Materials wurde deutlich, dass sich mehr als zwei Drittel der aus dem Textmaterial gewonnen Frames zwei dominanten Framesets zuordnen lassen, die sich konträr zueinander verhalten. Dies bedeutet, dass sich die Framesets inhaltlich gegenseitig ausschließen – wer A sagt, kann nicht B

Zwischen Macht- und Ordnungspolitik

273

sagen, ohne sich zu widersprechen. Die Framesets umfassen mehrere Frames, die inhaltlich zusammengehören und sich zu einem kohärenten und häufig vertretenen Deutungsrahmen zusammenfassen lassen. Sieben Texte sind keinem der beiden Framesets zuordenbar und müssen daher gesondert behandelt werden. Für das labelling der Framesets, also das Versehen mit einem „Etikett“, wurde auf die Wahrnehmung des Politischen zurückgegriffen, die in dem jeweiligen Frameset enthalten ist. Diese Wahrnehmung lässt sich mit theoretische Axiomen über Politik verknüpfen, gibt also bestimmte, auch theoretisch verortbare Grundannahmen über den Charakter von Politik wieder. Dementsprechend wurden die Framesets nach den jeweils enthaltenen Grundannahmen über den politischen Charakter des Ereignisses benannt. Das erste Frameset entspricht einem geopolitischen Wahrnehmungsmuster, während das zweite ein ordnungspolitisches Wahrnehmungsmuster widerspiegelt. Einen Überblick über die Framesets und variierende Elemente bietet Tabelle 2. Für die variierenden Frameelemente und Argumentationsmuster wurden zur besseren Identifikation Kurztitel vergeben und in Klammern kursiv hinter die jeweilige Beschreibung gesetzt. In Tabelle 2 wird sichtbar, dass die Framesets jeweils in sich logisch geschlossene Denkmuster sind, die als „Gedankenwelt“ jeweils eine in sich kohärente Interpretation des Ereignisses bieten. Die einzelnen Elemente sind logisch miteinander verknüpft und verstärken sich gegenseitig. Das geopolitische Frameset konzeptualisiert die „orangene Revolution“ als einen außenpolitischen Konflikt um Machtinteressen zwischen Russland und dem Westen, der auf ukrainischem Territorium ausgetragen wird. Innenpolitische Determinanten werden dabei weitgehend ignoriert. Beide Akteure werden durch grundsätzliche Interessengegensätze getrennt, da beide Parteien Einfluss auf die Ukraine nehmen wollen. Die Beziehung zwischen Russland und dem Westen wird dabei als antagonistisch konzeptualisiert, der Einfluss des einen Akteurs schließt den Einfluss des anderen aus, da es sich um unterschiedliche geopolitische Einheiten handelt. Dementsprechend wird der Konflikt als ein Nullsummenspiel verstanden, in dem es nur einen Gewinner und einen Verlierer gibt. Häufig ist in den geopolitisch „gerahmten“ Artikeln das Denken in absoluten Oppositionen sehr ausgeprägt, die „orangene Revolution“ erscheint so als eine endgültige Entscheidung für einen vorbestimmten Weg und kann daher beliebig dramatisiert werden. Das ordnungspolitische Frameset hingegen sieht die „orangene Revolution“ als einen innenpolitischen (Verfassungs-)Konflikt der Ukraine. Die Auseinandersetzung wird als Konflikt über Ziele und Mittel der Politik wahrgenommen. Die Proteste werden in diesem Rahmen als ein Weg der Manifestation und Durchsetzung politischer Präferenzen der Gesellschaft dargestellt, die sich von

274

Jonas Grätz

autoritärer Bevormundung durch den Staat befreit. Der Fokus liegt hier auf der gesellschaftlichen Gestaltbarkeit politischer Realität. Dementsprechend wird die Gesellschaft hier wahrgenommen als mündiger Akteur, der am Geschehen beteiligt ist und Gestaltungsmöglichkeiten wahrnimmt. Tabelle 2:

Übersicht über die dominanten Framesets

konstituierende Frames:

Geopolitik

Ordnungspolitik

- dichotomes Ordnungsmuster

- Inhaltlich-qualitative Un-

-

-

variierende Frameelemente

-

-

Argumentationsmuster

-

-

Westen vs. Russland: Der Westen/die EU und Russland werden als unvereinbare Gegensätze konzeptualisiert Machtpolitik/Geopolitik: externe Akteure setzen jeweils eigene Interessen auf dem Territorium der Ukraine durch und streben nach Ausweitung ihrer Macht Politik als Nullsummenspiel: Die Gewinne des einen sind gleichzeitig die Verluste des anderen Gesellschaftsbild: Die Gesellschaft tritt nicht auf oder bleibt passiv bzw. extern gelenkt (Gesellschaft als Objekt) Politik als Geschäft, für seine „Investitionen“ erwartet man bestimmte Ergebnisse (politische Rendite) Demokratie als ideologischer Begriff, mit dem westliche Machtansprüche legitimiert werden (Demokratie Hülle westlicher Macht) Revolution als Machtstrategie und Exportware des Westens/der EU (Revolution als Exportware)

terschiede und Alternativen in der Politik werden thematisiert, Politik dadurch als kontingenter und gesellschaftlich verhandelbarer Prozess dargestellt - politische Aktion der Gesellschaft als Emanzipation von autoritärer Bevormundung

- EU/der Westen als Refe-

renzmodell (Referenzmodell Westen)

- Revolution als Selektion

veschiedener möglicher Ordnungsmodelle (Revolution ordnungspolitische Wahl) - Bewertung der politischen Prozesse auf Basis ökonomischer Rationalitäten/ wirtschaftliche Stabilität als Voraussetzung für politische Stabilität (ökonomische Argumente)

Zwischen Macht- und Ordnungspolitik

275

Frameset Geopolitik Zu den obligatorischen Elementen der Framesets können noch variierende Frameelemente und Argumentationsmuster hinzukommen. Als variierendes Frameelement des geopolitischen Framesets ist häufig eine passivierte oder fehlende Darstellung der ukrainischen Gesellschaft anzutreffen (Gesellschaft als Objekt), die Demonstrationen werden hier häufig als vom Westen evoziert betrachtet. Ein weiteres variierendes Frameelement ist die Wahrnehmung von Politik als Business, in das jede der Seiten bestimmte Geldmittel gesteckt hat und anschließend entsprechende Ergebnisse erwartet (politische Rendite). Als Argumentationsmuster wurde einerseits identifiziert, dass Demokratie vom Westen als vordergründiges Signet verwendet wird, dahinter jedoch keine Werte, sondern pure Machtstrategien des Westens stehen (Demokratie Hülle westlicher Macht). Alternativ wurde häufig argumentiert, die Revolution sei eine vom Westen inszenierte Farce, eine Exportware des Westens, mit dem dieser seine Machtansprüche auf subtile Art und Weise durchsetze (Revolution als Exportware). Alle beschriebenen Elemente treten nur teilweise gleichzeitig auf, geben aber ein in sich schlüssiges Bild ab, da sie sich logisch miteinander verknüpfen lassen. Als Beispiel für das geopolitische Frameset und die beiden zugehörigen Frameelemente Gesellschaft als Objekt und politische Rendite, sowie das Argumentationsmuster Revolution als Exportware kann der im Folgenden beschriebene Text aus der KP gelten:16 Hier wird die Opposition zwischen dem Westen und Russland dadurch aufgebaut, dass einerseits der Westen als Hintermann und Financier der Revolution ausgemacht wird, andererseits Russland als treibender Investor hinter dem vergleichsweise großen Erfolg von Janukovi steht. Die Revolution sei dabei nur die Vorhut des Westens, der diese als Tarnung für seinen Einfluss benutze. Jedoch verteidige der Westen seine Investitionen besser als Russland. Im Folgenden wird bedauert, dass Russland seine Investitionen nicht besser verteidige und dem Westen den ukrainischen Raum überlasse. Schon Lenin habe gesagt, man müsse die Macht nicht nur ergreifen, sondern anschließend auch halten und Moskau habe nicht genug Szenarien und Handlungsoptionen für die Zeit nach der Machtergreifung entwickelt, so die Kritik. Hier zeigt sich deutlich das geopolitisch-realistische Wahrnehmungsmuster, das die „orangene Revolution“ von Anfang an in einen machtpolitischen Kontext externer Akteure stellt. Als weiteres Beispiel des geopolitischen Framesets dient ein in der NG abgedruckter Gastkommentar eines bekannten deutschen Politikberaters ukraini-

16

Sergienko, Jurij 2004: Zapad otbivaet den’gi, vložennye v Jušenko. A Rossija molit, in: KP vom 23.11.2004, http://www.kp.ru/daily/23409/34344/print/; 19.7.2007.

276

Jonas Grätz

scher Abstammung,17 obwohl sich der Argumentationsgang deutlich unterscheidet. Hier wird zwar sehr viel differenzierter argumentiert, dennoch wird auch hier in Kategorien der Machtpolitik gedacht: Beide Parteien mischen sich in den Konflikt ein, um ihre Interessen durchzusetzen. Der Autor findet dies verständlich und sieht hierin eine „Schlacht um die Zukunft Europas“. Diese „Schlacht“ wird jedoch anschließend transzendiert, da Russland laut diesem Text nicht erkannt habe, dass auch seine Zukunft in einem gemeinsamen Europa mit geteilten demokratischen Werten liege. Hier wird also eine Ungleichheitsbeziehung der beiden Kontrahenten aufgemacht, die europäische Politik handle zwar gegen Russland, jedoch sei dies nur der Fall, da Russland seine eigenen Interessen noch nicht erkannt habe. Obwohl dieser Text zum Zwecke politischer Einflussnahme eine interessante argumentative Wendung vollführt, bleiben also die zugrundeliegenden Denkstrukturen denselben geopolitischen Mustern verhaftet. Die Darstellung der beiden Beispiele verdeutlicht, dass die Texte bei gleichbleibenden Denkmustern sehr unterschiedlich argumentieren können. Bei der Identifikation von Framesets darf demnach nicht der Gang der Argumentation im Vordergrund stehen, sondern es muss darüber hinaus gegangen werden. Die Denkkategorien, mit denen die Ereignisse geordnet werden, unterscheiden sich innerhalb des Framesets im Gegensatz zu den möglichen Argumentationen nicht voneinander. Dies gerade ist es, was ein Frameset ausmacht.

Frameset Ordnungspolitik Für das ordnungspolitische Frameset wurde als variierendes Frameelement die Darstellung des Westens als politisches Referenzmodell identifiziert, d. h. die EU bzw. westliche Werte werden als ordnungspolitische Alternative zum bisherigen staatlichen System gedacht (Referenzmodell Westen). Als produktiv erwiesen sich hier zudem zwei Argumentationsmuster: Im ersten wird argumentiert, dass die Vorgänge in der Ukraine eine Wahl der ukrainischen Gesellschaft zwischen verschiedenen gesellschaftspolitischen Ordnungsmodellen darstellen (Revolution ordnungspolitische Wahl). Dies kann hier durchaus als sich gegenseitig ausschließende Gegenüberstellung zwischen Russland einerseits und der EU bzw. dem Westen andererseits thematisiert werden. Jedoch fehlt hier die Akteursqualität der genannten Referenzen, die für die Konzeptualisierung des Gegensatzes in Frameset A so bedeutsam ist. So liegt hier die Akteursqualität bei ukrainischen Akteuren, die zwischen verschiedenen Modellen auswählen und nicht wie in Frameset A bei externen Akteuren, die die Wahl quasi für die ukrai17

Rahr, Aleksander 2004: Raskol Ukrainy vedet k raskolu meždu Rossiej i Zapadom, in: NG vom 30.11.2004, http://www.ng.ru/ideas/2004-11-30/11_raskol.html; 19.7.2007.

Zwischen Macht- und Ordnungspolitik

277

nische Gesellschaft vollziehen. Als zweites Argumentationsmuster wurde eine Darstellung der Problematik unter ökonomischen Gesichtspunkten identifiziert (ökonomische Argumente). Hier wird die politische Wahl vor dem Hintergrund ökonomischer Austauschbeziehungen zwischen den Ländern behandelt und von diesem Standpunkt kritisiert. Diese Argumentationsstruktur birgt daher kritisches Potential, da sie politische Handlungen vor dem Hintergrund ökonomischer Rationalitäten bewertet und damit die Rationalität der politischen Akteure in Frage gestellt wird. Als Beispiel für das ordnungspolitische Frameset mit variierendem Frameelement Referenzmodell Westen und den Argumentationsmustern Revolution als ordnungspolitische Wahl und ökonomische Argumente kann der im Folgenden wiedergegebene Text aus der KP gelten.18 Hier wird die Wahl der Ukrainer zunächst einmal akzeptiert und anschließend versucht, diese rational zu erklären. Der Westen erscheint dabei als Repräsentant des demokratischen gesellschaftspolitischen Ordnungsmodells, das von der Ukraine gewählt worden sei, da alle anderen Varianten (es werden Kommunismus und islamischer Fundamentalismus genannt) keine Attraktivität besäßen. Daran schließt sich die Frage an, wie denn eine solche Wahl in Russland ausfallen würde. Der Autor meint dann, diese Frage würde in Russland nur undeutlich beantwortet werden können und verortet die Schuld dafür bei den Bürokraten, die ihre eigene Position sichern wollten. Als positive Vision (nach Beseitigung der ideologisierten Bürokraten), stellt er eine Wirtschaftsunion mit der Ukraine nach dem Modell USA-Kanada in Aussicht. Hier wird also versucht, politische Rationalitäten mit Hilfe von ökonomischen Rationalitäten zu transzendieren und auf dieser Grundlage alternative Politikvorschläge zu machen.

Auswertung der Framesets Eine Übersicht über die quantitative Auswertung der Framesets bietet Tabelle 3. In den ersten drei Spalten sind die absoluten Häufigkeiten der jeweils zugeordneten Texte eingetragen, in den Spalten 4 und 5 die relativen Häufigkeiten des Frameset an der Gesamtzahl der pro Medium analysierten Texte. In der letzten Spalte schließlich stellt die relativen Häufigkeiten des jeweiligen Framesets an der Gesamtzahl der analysierten Texte dar. Der auf 100 Prozent fehlende Betrag verteilt sich auf die Texte, die keinem der beiden dominanten Framesets eindeutig zugeordnet werden konnten. Die Zeilen sind den jeweiligen Framesets und zugehörigen Subframes zugeordnet. Für die Subframes wurden dabei nur die 18

Jur’ev, Sergej 2005: Jušenko vtoroj raz prezident. Teper’ vrode ne samozvanyj, in: KP vom 10.01.2005, http://www.kp.ru/daily/23436/35692/print/; 19.7.2007.

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Jonas Grätz

absoluten Häufigkeiten angegeben. Hierbei ist zu beachten, dass auch einige Texte mehrere Subframes gleichzeitig aufwiesen und die Gesamtzahl der zugeordneten Subframes daher die Gesamtzahl der jeweils zugeordneten Framesets übersteigen kann. Tabelle 3:

Quantitative Auswertung der Framesets NG (n)

Geopolitik davon Gastbeiträge FRAMEELEMENTE: Gesellschaft als Objekt politische Rendite ARGUMENTATIONSMUSTER: Demokratie Hülle westlicher Macht Revolution als Exportware Ordnungspolitik davon Gastbeiträge FRAMEELEMENTE: Referenzmodell Westen ARGUMENTATIONSMUSTER: Revolution ordnungspolitische Wahl ökonomische Argumente

KP (n)

Gesamt (n)

7 4

6 1

13 5

5 1

2 1

7 2

2

2

4

2

-

2

5 4

3 1

8 5

2

2

4

2

1

3

1

1

2

NG (%)

KP (%)

Gesamt (%)

47 57

45 17

46 38

33 80

23 33

28 62

Deutlich wird, dass das geopolitische über das ordnungspolitische Frameset dominiert. Unmittelbar einsichtig ist auch, dass beide Medien bezüglich der Dominanz des Framesets Geopolitik keine signifikanten Unterschiede aufweisen. Dies entsprach beim Medium aus dem liberaldemokratischen Spektrum nicht den Erwartungen. Hier wurden deutlichere Unterschiede erwartet, als sie nun zu Tage getreten sind. Umgekehrt fällt das ordnungspolitische Frameset im mainstreamMedium unerwartet stark aus. Bevor die Ergebnisse abschließend bewertet werden, erfolgt eine kurze Übersicht über weitere Texte, die keinem Frameset zugeordnet werden konnten. Eine Gruppe von drei Texten, die alle in der KP erschienen sind, weist einen gemeinsamen Frame auf, kann jedoch nicht einem der beiden dominanten Framesets zugeordnet werden. In diesem Frame wird zwar die Gesellschaft als Akteur dargestellt, dabei jedoch gleichzeitig als unreif und unmündig konzeptua-

Zwischen Macht- und Ordnungspolitik

279

lisiert (verführte Gesellschaft). Gesellschaftlicher Protest wird damit als illegitim betrachtet. Die drei Texte nehmen dabei eine supervisorische Position ein, indem die Autoren der ukrainischen Gesellschaft „falsches Bewusstsein“ bescheinigen. Von zwei Texten wird dabei auf das dem geopolitischen Frameset zugeordnete Argumentationsmuster Revolution als Exportware zurückgegriffen, ohne jedoch in die dichotomische Kategorie Russland – Westen zurückzufallen. Vielmehr tritt nur der Westen als Akteur auf, der die ukrainische Gesellschaft zur Revolution verleitet. Der dritte Text argumentiert völlig kontradiktorisch, indem er einerseits die ukrainische Gesellschaft als unmündig konzeptualisiert, die „orangene Revolution“ andererseits jedoch als ordnungspolitische Wahl der Gesellschaft darstellt. Vier weitere Texte, von denen drei aus der NG stammen, lassen sich keinem gemeinsamen Frame zuordnen.19 Die Darstellung der weiteren Texte, die keinem der beiden Framesets eindeutig zugeordnet werden können, verdeutlicht, dass die Pluralität an Meinungen in der NG größer ist als in der KP. Der Frame verführte Gesellschaft, der nur in der KP anzutreffen war, weist zudem vom Gesellschaftsbild her eine höhere Affinität zum geopolitischen Frameset auf, wohingegen einige der zusätzlichen Frames aus der NG vom Gesellschaftsbild eher dem ordnungspolitischen Frameset zuordenbar sind. Dadurch wendet sich das Bild wieder etwas mehr in die von erwartete Richtung. Dennoch ist evident, dass in beiden Medien der überwiegende Schwerpunkt der Wahrnehmungsstrukturen auf dem geopolitischen Muster, verbunden mit dem Bild einer unmündigen oder gelenkten ukrainischen Gesellschaft liegt. Hier unterscheiden sich beide Medien nur unwesentlich, was für eine weite Verbreitung eben dieser Wahrnehmungsstrukturen spricht. Alternative Interpretationsangebote sind zwar in beiden Medien in Form von anderen Fra19

Im ersten Text in dieser Gruppe wird eine Normalisierungsthese innerhalb eines geopolitischen Frames vertreten. Die Opposition Westen – Russland wird dabei relativiert, jedoch nicht aufgehoben. Die Ukraine behalte auch in Zukunft ihre Vermittlerrolle zwischen Ost und West. Der zweite Text dieser behandelt das Thema ebenfalls innerhalb eines geopolitischen Frames und entwürft Vorschläge für weitere politische Initiativen Russlands. Europa wird als aktiver Teilnehmer an der Revolution dargestellt. Jedoch ist hier gleichzeitig die Gesellschaft wie in Framestruktur B vertreten und ihr Engagement wird als Emanzipation und eigenständige Wahl der Gesellschaft zwischen Ordnungsmodellen und Werten gesehen. Hier wird daher das geopolitische Denkmuster durchbrochen und der Blick auf innenpolitische Kräfte gelenkt, mit denen die russländische Politik im Folgenden rechnen muss. Der dritte Text weist zunächst ein geopolitisches Deutungsmuster auf, stellt dann jedoch ebendiese Wahrnehmung des Konfliktes und das Handeln der unterschiedlichen Konfliktparteien in Frage. Dies geschieht mit Hilfe einer Argumentation, bei der ordnungspolitische und auch ökonomische Wahrnehmungsmuster zum Ausdruck kommen und so ein alternatives Verständnis des Konfliktes nahe legen. Der vierte Text dieser Gruppe übernimmt zwar das dichotomische Ordnungsschema Westen – Russland des geopolitischen Framesets, argumentiert jedoch für die Nichteinmischung beider Seiten und für eine Anerkennung der Souveränität der Ukraine. Der Interessenpolitik beider Seiten wird so die Selbständigkeit der Ukraine als höherrangiges Gut entgegengestellt.

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mes vorhanden, können sich aber nicht gegen das dominante geopolitische Muster durchsetzen. Das am häufigsten vertretene alternative Deutungsangebot – das ordnungspolitische Frameset, das die Integrität der ukrainischen Gesellschaft und die inhaltlich-ordnungspolitischen Merkmale von Politik betont – ist weit weniger relevant und letztendlich im Diskurs nicht durchsetzungsfähig. Jedoch kann attestiert werden, dass sich im Mediendiskurs eine gewisse Meinungsvielfalt widerspiegelt. Sogar im regierungs- und „volksnahen“ Blatt „Komsomol’skaja Pravda“ werden – wenn auch marginalisiert – alternative Wahrnehmungsmuster angeboten, die dem hegemonialen Framing offen widersprechen. Bleibt jedoch die Frage, warum sich die NG, die ja dem liberaldemokratischen Spektrum zugeordnet wird, nicht stärker vom hegemonialen geopolitischen Deutungsmuster abgrenzt. Dies könnte mit der hohen Relevanz des Ereignisses für die russländische Gesellschaft und Politik zusammenhängen, das nur wenig Platz für abweichende Diskurse und alternative Wahrnehmungsmuster lässt. Dem, wie auch immer definierten, „nationalen Interesse“ sehen sich offenbar fast alle Teile der Gesellschaft verpflichtet, unabhängig von sonstiger ideologischer Präformation der einzelnen Akteure. Mit anderen Worten: Die Stärke des Konflikts bewirkt hier eine Verdrängung alternativer Analysekategorien. Ein geopolitisches Deutungsmuster drängte sich wohl auch anhand der Materie des Konfliktes eher auf als andere Deutungen. Ein weiterer Aspekt zur Erklärung könnte die Möglichkeit sein, dass das liberale Spektrum in Russland sich entweder stark reduziert oder allgemein ein gewisses ideologisches mainstreaming der Bewegung stattgefunden hat. Das Interesse an einer aktiven Auseinandersetzung mit dem hegemonialen Diskurs scheint jedenfalls in der NG nicht besonders ausgeprägt zu sein. Beruhigen kann da nur die Tatsache, dass auch in der KP offenbar eine gewisse Meinungsvielfalt existiert und man alternativen Deutungen einen bestimmten Artikulationsraum gewährt.

6

Schlussfolgerungen

Schlussfolgerungen zur ersten Ausgangsfrage nach der Ablösung oder Kontinuität imperialer Traditionen lassen sich mit den erzielten Ergebnissen relativ leicht ziehen: Im hegemonialen Deutungsmuster werden die GUS-Staaten als eine Pufferzone für das russländische Imperium betrachtet, in denen die eigene Vorherrschaft gesichert werden muss. Dies kann zwar nicht mehr mit militärischen, wohl aber nach wie vor mit administrativen Mitteln und ökonomischen Abhängigkeiten geschehen. Erzielt die Einflussnahme nicht das gewünschte Ergebnis, wird sich das Land an den Westen binden und ist somit für Russland verloren. Daher wurden die friedlichen Proteste der Opposition im geopolitischen Frame-

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set als Angriff auf die eigene Vormachtstellung in der Region gedeutet.20 Folglich herrscht in der russländischen Gesellschaft überwiegend die Ansicht vor, man repräsentiere ein eigenes, vom westlichen Muster und von anderen Zivilisationen unterscheidbares Entwicklungs- und Zivilisationsmodell, dem sich auch die Gesellschaften der anderen GUS-Staaten zugehörig fühlen müssten. Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit und Attraktivität dieses Modells wird im hegemonialen Frameset nicht aufgeworfen, auch wenn sie brauchbare Antworten auf gegenwärtige russländische Probleme (und Probleme der ehemaligen „Brudervölker“ mit diesem Modell) zu Tage fördern könnte. Dass der Konflikt hauptsächlich als ein Geopolitischer wahrgenommen wird zeigt, dass sich das Denken in überkommenen machtpolitischen Kategorien immer noch großer Beliebtheit erfreut.21 In Bezug auf die zweite Ausgangsfrage konnte, wie bereits einleitend angemerkt,22 kein explizit geführter Identitätsdiskurs identifiziert werden. Zur Auseinandersetzung mit dem Identitätsdiskurs müsste wohl anderes Textmaterial gesichtet werden, das sich explizit mit einer solchen Identitätsdebatte auseinandersetzt. Die Positionierungen zu Europa werden nur implizit sichtbar, vermittelt über die untersuchten Wahrnehmungsmuster. Im dominanten Deutungsmuster tritt Europa als Gegenspieler Russlands auf, beide Akteure werden als unvereinbare Gegensätze konzeptualisiert, deren Handlungen von unterschiedlichen Machtinteressen in der Region her bestimmt werden. Die politischen Ereignisse in der Ukraine wurden also bevorzugt als Konflikt zwischen Russland und dem Westen bzw. Europa dargestellt. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die EU wieder zunehmend als Antagonist Russlands angesehen wird – zumindest, wenn es um den postsowjetischen Raum geht. Das Denken in den sich gegenseitig ausschließenden Kategorien der Westen – Russland hat sich vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse konsolidieren können. Als ordnungspolitisches Modell haben der Westen und die westliche Demokratie dagegen kaum noch Orientierungswert. Dieser Befund wird von soziologischen Untersuchungen unterstützt, die eine Entfremdung der russländischen Gesellschaft von westeuropäischen Werten und Symbolen feststellen. So orientiere sich die russländische Gesellschaft auch bei den Vorstellungen von Macht/Staat (vlast’) und Demokratie wieder stärker an der „vaterländischen Kultur“, worunter hier sowjetische Orientierungen verstanden werden (Kirillova 2005: 350f). Diese Tendenz in den kulturellen Orientierungen wird laut Ševcova von der politischen Elite geschickt 20 21 22

Dies könnte m. E. nach auch an Texten zu anderen „Revolutionen“ in der Region belegt werden. Dieses geopolitische Wahrnehmungsstruktur findet sich auch in vielen wissenschaftlichen Aufsätzen zum Thema. Vgl. z.B. Pastuchov (2005: 31ff). Vgl. oben Fn. 7

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genutzt und beeinflusst, um Unterstützung für das eigene Regime zu generieren. Sie argumentiert, Putin hätte den Westen zu einem „systemischen Faktor des bürokratisch-autoritären Systems“ (Ševcova 2006: 1) stilisiert, um Legitimität für das System des „bürokratischen Autoritarismus“ zu generieren zu stärken (Ševcova 2007: 35). Außenpolitisch werde die Mitgliedschaft in westlichen Organisationen (G8, WTO) angestrebt bzw. genutzt, um innenpolitisches Prestige zu generieren und auf internationaler Ebene mitreden zu können. Damit einher gehe eine innenpolitische Kampagne gegen das westliche Entwicklungsmodell, die sich auf die Grundlagen des Antiwestlertums stütze und durch die Suche nach einem gemeinsamen Feind wiederum identitätsbildend wirke und Unterstützung für das Regime generiere. Während die Elite sich also einerseits nach Westeuropa ausrichte, sei andererseits der Westen als Verkörperung eines Wertesystems für die Gesellschaft unzugänglich gemacht worden (Ševcova 2006: 1). Dies fügt sich gut in das Bild ein, dass sich nach der Analyse des Mediendiskurses bietet: Der Westen bzw. die Akteure EU, USA und internationale Organisationen werden in den Medien überwiegend als Gegenspieler Russlands präsentiert, zwischen denen unüberwindbare interessenpolitische Gräben liegen. Die Frage nach den Werten, von denen die „orangene Revolution“ getragen war, wurde nur im marginalisierten ordnungspolitischen Frameset aufgeworfen. Hier wäre dann die Verbindung zwischen den diskursiven Strukturen einerseits und den Interessen der politischen Akteure andererseits zu vermuten. Es bietet sich die Interpretation an, dass der Konflikt um die Revolution in der Ukraine geschickt von der politischen Elite genutzt wurde, um das traditionelle Feindbild des Westens mit neuem Inhalt zu füllen und zu Re-Aktualisieren. Der Westen dient damit heute bei der Identitätsbildung wieder viel stärker als in den 1990er Jahren als ein Pol zur Abgrenzung. In Verbindung mit der dritten Ausgangsfrage nach der Identität im weiteren Sinne bzw. der politischen Kultur lassen sich noch weitere Schlussfolgerungen ziehen. Zunächst wird durch die überwiegende diskursive Reaktion auf das Ereignis „orangene Revolution“ deutlich, dass eine demokratische politische Kultur kaum Verankerung in Russland besitzt. Schon die grundlegende Norm der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und -Handelnden ist nur schwach ausgeprägt, wie sich an der geopolitischen Deutung exemplarisch ablesen lässt. Verständnis für Idee und Praxis gesellschaftlicher Souveränität findet sich ebenfalls nur im schwächeren ordnungspolitischen Frameset. Daran, dass die „orangene Revolution“ vor allem als geopolitisches Ereignis und nicht als Auseinandersetzung um demokratische Prinzipien gedeutet wird, zeigt sich das geringe Verständnis für ordnungspolitische Fragen in der russländischen Gesellschaft. Diese geopolitisch geprägte kollektive Identität, auf deren Grundlage ein politisches Ereignis vor allem als Nullsummenspiel um Macht betrachtet wird, hat auch gewichtige Fol-

Zwischen Macht- und Ordnungspolitik

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gen für die Möglichkeiten transnationaler Interaktion und Verständigung: Die Sinnattributierung, die die Akteure durchführen, ist innerhalb der geopolitischen Identität einer ordnungspolitisch-demokratischen Identität grundsätzlich entgegengesetzt. Ereignisse erhalten auf Grundlage der jeweiligen Identität differente Sinnzuschreibungen und werden dabei zwischen den Polen „Bedrohung“ oder „Normalzustand“ verortet. Innerhalb der geopolitischen Wahrnehmung musste die „orangene Revolution“ als Bedrohung codiert werden, während sie auf Grundlage einer demokratischen Identität als übliche gesellschaftliche Reaktion auf erhebliche staatliche Wahlmanipulationen wahrgenommen wird. Diese inkompatiblen Deutungsschemata berhindern die transnationale Kommunikation zwischen den Öffentlichkeiten der EU und Russland, da die identitär verankerten und weitgehend internalisierten Codierungen nicht einfach wechselseitig ausgetauscht oder übernommen werden können, ohne dass die eigene Identität und Integrität schaden nähme. Die spezifischen Deutungsmuter sind vielmehr impliziter Bestandteil der legitimierenden Identität von Gesellschaften und damit auch der Rahmenidentität (Castells 2002: 9) von Individuen. Eine Verabschiedung des dominanten geopolitischen Wahrnehmungsmusters ist daher nur über eine allmähliche Wandlung der kollektiven Identität möglich, auf deren Basis erst alternative Deutungsangebote die Chance gesellschaftlicher Akzeptanz erhalten.

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