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German Pages 385 Year 2008
Regina Schwegler Moralisches Handeln von Unternehmen
GABLER EDITION WISSENSCHAFT
Regina Schwegler
Moralisches Handeln von Unternehmen Eine Weiterentwicklung des neuen St. Galler Management-Modells und der Ökonomischen Ethik
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Harald Dyckhoff
GABLER EDITION WISSENSCHAFT
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Dissertation Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, 2007 D 82
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frauke Schindler / Anita Wilke Gabler ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-1281-7
Geleitwort
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Geleitwort Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns gewerblicher Unternehmen ist eine aktuelle, brisante Problematik. So steht beispielsweise gemäß der WirtschaftsWoche (Nr. 34 vom 20.08.07, S. 51ff.) der durch Korruptionsvorfälle im Kern bedrohte Siemens-Konzern vor einem großen Dilemma: Gelingt es dem Vorstandsvorsitzenden Peter Löscher, seinen Anti-Korruptionskurs im Unternehmen konsequent zu realisieren, bricht Siemens in wichtigen Wachstumsmärkten möglicherweise das Geschäft weg. Dennoch betont Löscher laut eben diesem Zeitungsbericht: „Spitzenleistung und Ethik das sei kein Gegensatz, das sei ein Muss.“ Betrachtet man allerdings die herrschende ökonomische Lehre, so scheinen Spitzenleistung und Ethik nicht zusammenzupassen. In der ZEIT (Nr. 33 vom 09.08.07, S. 44) heißt es dazu: „(D)er Markt kennt keine Moral. Er kennt nur Preissignale, den Code des Geldes und die Logik des Angebots. [...] (W)as Heerscharen von Wirtschaftsweisen Hand in Hand mit einigen Luhmann-Schülern als Flügeladjutanten zu predigen nicht müde werden: dass Markt und Moral, Wirtschaft und Gesellschaft unvereinbare Kontinente sind und keine Brücke von hüben nach drüben, von der Gesellschaft zur Wirtschaft führt“. Konträr dazu wird eine Woche später ebenfalls in der ZEIT (Nr. 34 vom 16.08.07, S. 28) zur Korruptionsproblematik behauptet: „Vor allem Konzerne betrachten sich mittlerweile als Teil der Gesellschaft. Sie übernehmen Verantwortung für Menschen und Umwelt, was sie in Nachhaltigkeitsberichten dokumentieren und in sozialem Engagement ausdrücken. […] Viele Konzerne haben sich neben einer Corporate Identity auch ein Wertesystem gegeben. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion gipfelt in der selbst gewählten Bezeichnung als Corporate Citizen: Ich, das Unternehmen, will mehr als ein seelenloses Gebilde sein. Ein Bürger, ein ethisch handelndes Mitglied der Gesellschaft.“ Während es in diesem Artikel um die rechtliche Schuldfähigkeit von Unternehmen geht, fordern einige in der Betriebswirtschaftslehre verbreitete Managementkonzepte sogar ein freiwilliges moralisches Verhalten von Unternehmen. Manche Autoren, so insbesondere der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich von der Hochschule St. Gallen in seinem Konzept einer sogenannten „verständigungsorientierten Unternehmensführung“, postulieren gar, wirtschaftliche Ziele moralischen prinzipiell unterzuordnen, wobei sie nur bei einer Bedrohung der Unternehmensexistenz Ausnahmen zulassen wollen, ohne dafür jedoch klare Regeln angeben zu können. Diese konträren Positionen zeigen eindrücklich, in welchem schwierigen und zum Teil widersprüchlichen Spannungsfeld Manager agieren und Entscheidungen treffen müssen. Gleichzeitig sind theoretisch fundierte und praktisch nützliche, gesamthafte Management-Modelle rar, die unternehmensethische Fragen zufrieden stellend beantworten und Managern so wertvolles Orientierungswissen zur Verfügung stellen könnten. Das St. Galler Management-Modell versucht, ein solches Wissen zu vermitteln, und bildet die Grundlage des Wirtschaftsstudiums an selbiger, in der Praxis renommierter Hochschule. Dabei bildet das oben genannte ethische Konzept von Peter Ulrich die normative Basis des neuen St. Galler Management-Modells der dritten Generation (Rüegg-Stürm, J. (2002): Das neue St. Galler Management-Modell: Grundkategorien einer integrierten Managementlehre – Der HSG-Ansatz, Bern et al.). Frau Schwegler arbeitet in ihrer Dissertation jedoch heraus, dass dieser normative Anspruch im St. Galler Management-Modell nicht konsequent umgesetzt und eingehalten wird. Im
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Geleitwort
Gegenteil werden vor allem bei der Ableitung von Unternehmensstrategien klassische betriebswirtschaftliche Konzepte verfolgt, die einzig auf den Markterfolg ausgerichtet sind und moralische Aspekte weitgehend negieren. Damit ist nicht nur eine praktisch bedeutsame Aufgabenstellung, sondern auch eine wichtige Forschungslücke benannt. Sie im Rahmen ihres Promotionsprojekts zumindest in wichtigen Teilen zu schließen, stellt eine große Herausforderung dar, besonders auch deshalb, weil die Wirtschafts- und Unternehmensethik (leider noch) keinen Standardlehrstoff wirtschaftswissenschaftlicher Studiengänge bildet. Die differenzierten Überlegungen von Frau Schwegler zeigen, dass die Problematik nicht einfach aufzulösen ist, vor allem wenn der unternehmensethische Ansatz von Peter Ulrich im St. Galler Modell konsistent durch einen anderen Ansatz ersetzt werden soll. Dass Frau Schwegler dies mit ihrer Dissertation überzeugend gelungen ist, unterstreicht damit aber umso mehr ihre wissenschaftliche Leistung. Sie hat mit der Aufdeckung der Inkonsistenz, der Kritik an der „Ökonomischen Ethik“ von Karl Homann und der „Governanceethik“ von Josef Wieland und deren Weiterentwicklung zu einem metatheoretisch fundierten, integrierten Ansatz sowie dessen kompatiblem Einbau in das entsprechend modifizierte neue St. Galler Management-Modell einen sehr beachtlichen wissenschaftlichen Fortschritt erzielt. Allen Interessierten kann ich deshalb die Lektüre des Buches dringend ans Herz legen. Prof. Dr. Harald Dyckhoff
Vorwort
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Vorwort "Rarely do we find men who willingly engage in hard, solid thinking. There is an almost universal quest for easy answers and half-baked solutions." Martin Luther King Jr.
Welche Verantwortung tragen Menschen und Unternehmen für die Folgen ihres Handelns? Wie weit ist das Eigeninteresse eines Einzelnen dem Gesamtinteresse unterzuordnen? Wie können Menschen dazu gebracht werden, ihre eigenen Existenzgrundlagen und die ihrer Kinder nicht zu zerstören? Dieses Thema beschäftigt mich schon sehr lange. In jungen Jahren engagierte ich mich für Kirche und Umweltschutz. Während meines Hauptstudiums griff ich die Frage, wie Moral und Wirtschaft miteinander in Einklang gebracht werden können, wieder auf: Welche gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind nötig, welche einzelwirtschaftlichen Handlungen sind möglich? Dabei hat sich mit den Jahren meine Herangehensweise grundlegend verändert: Während ich früher der Meinung war, die Antworten zu kennen und zu wissen, was „richtig“ und was „falsch“ ist, hoffe ich, diese Schwarz-WeißMalerei inzwischen weitgehend hinter mir gelassen zu haben. Gibt es doch so viele Schattierungen, so viel Buntes im Leben und auf komplexe Fragen eben doch keine einfachen Antworten. Sicherlich ist es richtig und wichtig, die Kontraste und Pole im Leben zu kennen und aufzuzeigen. Allerdings führen allzu einseitige, extreme Ansichten und Konzepte in aller Regel nicht vorwärts, sondern schaffen Konflikte und stehen auf diese Weise einer Lösung unter Umständen sogar im Wege. Während ich in meiner Diplomarbeit das Thema nur sehr oberflächlich anschneiden konnte, bereitete es mir viel Freude, mein Forschungsinteresse im Rahmen meiner Dissertation regelrecht ausleben zu können. Eine Dissertation ist jedoch nur auf den ersten Blick das Werk einer einzelnen promovierenden Person. Tatsächlich aber unterstützte mich ein großes Netzwerk an Menschen aus meinem beruflichen und privaten Umfeld maßgeblich auf meinem nicht immer ganz einfachen Weg. Prof. Dr. Harald Dyckhoff, der meine Arbeit an der RWTH Aachen betreute, leitete mich mit viel Geduld fachlich an und förderte und begleitete mich kritisch, konstruktiv und tatkräftig. Seiner persönlichen Überzeugung, dass Gewinnerzielung Unternehmen nicht von gesellschaftlicher Verantwortung entbindet und dass betriebswirtschaftliche Forschung und Lehre dementsprechend nicht Werte-frei sondern Werte-getragen erfolgen muss, verdanke ich es, dass ich „mein“ Thema unter seiner Anleitung untersuchen und erforschen durfte. Auch Prof. Dr. Hans-Horst Schröder unterstützte mich als Zweitgutachter und trug mein in der „klassischen“ Betriebswirtschaftslehre teilweise immer noch als unorthodox erachtetes Thema mit. Ebenfalls danken möchte ich Herrn Dr. Michael Arretz, Geschäftsführer der Systain Consulting GmbH, Hamburg, und verschiedenen seiner (inzwischen zum Teil ehemaligen) Kollegen und Mitarbeiter, von denen ich hier stellvertretend Dr. Michael König, Peer Seipold und Torben Kehne nennen möchte. Ihnen verdanke ich das spannende Fallbeispiel eines verantwortungsvollen Unternehmens, der Otto GmbH & Co. KG. Sie gewährten mir wertvolle Einblicke in die internen Abläufe und Herausforderungen der Umsetzung eines hohen moralischen Anspruchs in einem Unternehmen.
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Vorwort
Die Möglichkeit, mein Hobby zum Beruf zu machen, verdanke ich maßgeblich Prof. Mario Schmidt, Professor an der Hochschule Pforzheim und Direktor des dortigen Instituts für Angewandte Forschung (IAF). Während der sechs Jahre am IAF konnte ich in verschiedenen spannenden Forschungs- und Beratungsprojekten zum Umweltmanagement mitarbeiten und dank Prof. Dr. Rudi Kurz auch der Umweltökonomik im Rahmen von Forschung und Lehre treu bleiben. Diese Tätigkeiten führten mich überhaupt erst an meine Forschungsfrage heran, und es waren viele spannende fachliche Diskussionen, vor allem mit Prof. Mario Schmidt, und seine große Unterstützung, ohne die eine externe Promotion kaum möglich gewesen wäre. Darüber hinaus war mir auch das Doktorandennetzwerk nachhaltiges Wirtschaften e.V. in Form von konstruktiver fachlicher Kritik und praktischen Ratschlägen eine große Hilfe. Viele liebe Freunde schenkten mir ihre moralische und tatkräftige Unterstützung. Allen voran Nicole Reinstorf, Annett Baumast, Paul Eckert-Schwegler, Bernd Kuppinger und Thomas Zimmermann, die umfangreiche Teile meiner Arbeit Korrektur lasen und mir wertvolle sprachliche und inhaltliche Rückmeldungen gaben. Sie und viele andere Freunde begleiteten, trugen und ertrugen mich durch die zahlreichen Höhen und Tiefen dieses langen, spannenden bis mühsamen „Marathons“ hindurch. Nicht zuletzt stärkte mir meine Familie stets den Rücken, insbesondere meine Eltern, die mich nicht nur finanziell, sondern mit viel Liebe, Geduld, Zuspruch und tatkräftiger Unterstützung den langen Weg meiner Ausbildung hindurch förderten. Allen hier genannten und auch den vielen nicht genannten Menschen, die mir zur Seite standen und stehen, danke ich von Herzen. Regina Schwegler
Inhaltsübersicht
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Inhaltsübersicht 1. Einleitung…………………………………………………………………………………. 1 Teil I: Metatheorien 2. Neue Institutionenökonomik…………………………………………………………….. 13 3. Neuere Systemtheorie…………………………………………………………………… 47 Teil II: Kritische Würdigung des neuen St. Galler Management-Modells 4. Geschichte des St. Galler Management-Modells………………………………………. 105 5. Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm…………………………………….. 113 Teil III: Unternehmensethische Ansätze 6. Die Ökonomische Ethik von Homann…………………………………………………. 147 7. Die Governanceethik von Wieland…………………………………………………….. 189 Teil IV: Weiterentwicklung und Anwendung des neuen St. Galler ManagementModells 8. Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens……………………………………….. 245 9. Praxisfragen unternehmerischer Moral………………………………………………… 275 10. Synthese: Sind Wirtschaft und Moral Gegensätze?…………………………………… 341
Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis Geleitwort……………………………………………………………………………………..V Vorwort…………………………………………………………………………………….. VII Inhaltsübersicht……………………………………………………………………………… IX Inhaltsverzeichnis…………………………………………………………………………… XI Darstellungsverzeichnis……………………………………………………………………. XV Abkürzungsverzeichnis…………………………………………………………………... XVII 1. Einleitung………………………………………………………………………………… 1 1.1 Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns von Unternehmen……………. 1 1.2 Das neue St. Galler Management-Modell als adäquater Bezugsrahmen…………… 5 1.3 Gang der Forschung………………………………………………………………… 6 Teil I: Metatheorien 2. Neue Institutionenökonomik…………………………………………………………... 13 2.1 Grundlagen.……………………………………………………………………….. 13 2.1.1 Gegenstand der Institutionenökonomik…………………………………… 13 2.1.2 Homo Oeconomicus………………………………………………………. 15 2.1.3 Ökonomischer Imperialismus……………………………………………... 18 2.1.4 Ökonomische Vertragstheorie…………………………………………….. 20 2.2 Marktliche Institutionen: Transaktionskostentheorie……………………………... 25 2.2.1 Ursprünge und Grundlagen der Transaktionskostentheorie………………. 25 2.2.2 Messkostenansatz………………………………………………………….. 27 2.2.3 Governancekostenansatz…………………………………………………... 31 2.3 Nicht-marktliche Institutionen…………………………………………………….. 37 2.3.1 Konstitutionelle Politische Ökonomik…………………………………….. 37 2.3.2 Property-Rights-Theorie…………………………………………………... 43 3. Neuere Systemtheorie………………………………………………………………….. 47 3.1 Eine Theorie komplexer Systeme…………………………………………………. 47 3.1.1 Grundlagen der neueren Systemtheorie…………………………………… 47 3.1.2 Grundproblem der Komplexität und Kontingenz…………………………. 49 3.1.3 Das Ganze und seine Teile: emergente Eigenschaften……………………. 56 3.2 Sinn und Grenzziehung komplexer Systeme……………………………………… 59 3.2.1 Sinn und Grenzen von Systemen………………………………………….. 59 3.2.2 Autopoiese-Konzept………………………………………………………. 61 3.2.3 Beobachtung………………………………………………………………. 64 3.2.4 Prozesse der Strukturierung: Bildung von Identität……………………….. 66 3.2.5 Strukturelle Kopplung und Resonanz……………………………………... 68 3.3 Funktionale Differenzierung und deren Probleme………………………………... 69 3.3.1 Funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft…………………. 69 3.3.2 Codes und Programme…………………………………………………….. 71 3.3.3 Symbolisch generalisierte Steuerungsmedien…………………………….. 73 3.3.4 Integrations- und Steuerungsprobleme……………………………………. 76 3.3.5 Intervention………………………………………………………………... 80
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Inhaltsverzeichnis 3.4
Spezielle gesellschaftliche Teilsysteme…………………………………………… 82 3.4.1 Wirtschaft………………………………………………………………….. 82 3.4.2 Moral………………………………………………………………………. 84 3.4.3 Organisationen…………………………………………………………….. 92 3.4.4 Unternehmen………………………………………………………………. 96
Teil II: Kritische Würdigung des neuen St. Galler Management-Modells 4. Geschichte des St. Galler Management-Modells…………………………………… 105 4.1 Modelle der ersten Generation von Ulrich und Krieg…………………………… 105 4.2 Modelle der zweiten Generation von Bleicher…………………………………... 107 5. Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm………………………………… 113 5.1 Das neue St. Galler Management-Modell.………………………………………. 113 5.1.1 Überblick über das Modell………………………………………………. 113 5.1.2 Wechselspiel zwischen Ordnungsmomenten und Prozessen……………. 118 5.2 Organisation und organisationaler Wandel……………………………………… 120 5.2.1 Wirklichkeitskonstruktion und soziale Strukturen………………………. 120 5.2.2 Routinisierung und Wandel unternehmerischen Handelns………………. 124 5.3 Inkonsistenter moralischer Anspruch……………………………………………. 127 5.3.1 Wissenschaftstheoretische Anforderungen………………………………. 127 5.3.2 Moralische Inkonsistenz…………………………………………………. 132 5.3.3 Hinweise der metatheoretischen Grundlagen……………………………. 135 5.3.4 Wie kann die moralische Inkonsistenz beseitigt werden?……………….. 140 Teil III: Unternehmensethische Ansätze 6. Die Ökonomische Ethik von Homann……………………………………………….. 147 6.1 Darstellung der Ökonomischen Ethik……………………………………………. 147 6.1.1 Normative Grundlagen…………………………………………………... 147 6.1.2 Wirtschaftsethik………………………………………………………….. 154 6.1.3 Unternehmensethik………………………………………………………. 157 6.2 Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik…………………... 160 6.2.1 Die Ökonomische Ethik als umfassender und zweckmäßiger Ansatz…… 160 6.2.2 Sind Unternehmen prinzipielle Orte der Moral?………………………… 164 6.2.3 Ist die Moral ein Funktionssystem der Gesellschaft?……………………. 174 7. Die Governanceethik von Wieland…………………………………………………... 189 7.1 Die Ökonomik der Transaktionsatmosphäre…………………………………….. 189 7.1.1 Systemtheoretische Grundlagen…………………………………………. 189 7.1.2 Institutionenökonomische Grundlagen…………………………………... 193 7.1.3 Moralische Verhaltensstandards von Unternehmen……………………... 199 7.1.4 Reputation als ökonomischer Faktor…………………………………….. 203 7.1.5 Tugendethische Moral als Unternehmensressource……………………... 209 7.2 Das Management von Moral…………………………………………………….. 213 7.2.1 Governanceethik…………………………………………………………. 214 7.2.2 Signalisierung von Glaubwürdigkeit…………………………………….. 216 7.2.3 Wertemanagementsystem………………………………………………... 221 7.3 Diskussion und Weiterentwicklung der Governanceethik………………………. 226
Inhaltsverzeichnis 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5
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Die Governanceethik und die Ökonomische Ethik als kompatible Ansätze……………………………………………………… 227 Die Governanceethik als Ergänzung der Ökonomischen Ethik …………. 230 Ist der Homo Oeconomicus ein geeignetes Akteursmodell?…………….. 235 Wie steuern Governancestrukturen die moralische Dimension einer Transaktion?……………………………………………………………... 237 Was sind die Stufen eines Wertemanagementsystems?…………………. 240
Teil IV: Weiterentwicklung und Anwendung des neuen St. Galler ManagementModells 8. Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens……………………………………. 245 8.1 Umgestaltungen des neuen St. Galler Management-Modells…………………… 245 8.2 Ethischer Ansatz auf Basis von Homann und Wieland………………………….. 246 8.2.1 Moralisches Handeln von Unternehmen: Möglichkeiten und Grenzen….. 247 8.2.2 Orte der Moral: Regeln unternehmerischen Handelns…………………... 250 8.3 Rahmenbedingungen des Unternehmens………………………………………… 252 8.3.1 Umweltsphären…………………………………………………………... 252 8.3.2 Stakeholder………………………………………………………………. 255 8.3.3 Interaktionsthemen………………………………………………………. 256 8.4 Kriterien für eine effiziente und effektive Implementierung…………………….. 257 8.4.1 Kriterium der Gerechtigkeit: umfassendes Anreizmanagement…………. 257 8.4.2 Kriterium der Glaubwürdigkeit: genuine Moral…………………………. 258 8.4.3 Kriterium der Wirtschaftlichkeit: Moral in Wirtschaft übersetzen………. 258 8.5 Integration eines Wertemanagements in die Ordnungsmomente………………... 259 8.5.1 Moralstrategien…………………………………………………………... 260 8.5.2 Moralstrukturen………………………………………………………….. 265 8.5.3 Moralkultur………………………………………………………………. 270 9. Praxisfragen unternehmerischer Moral…………………………………………….. 275 9.1 Möglichkeiten und Grenzen des Umweltschutzes……………………………….. 276 9.2 Otto: Kontinuierliche Verbesserung des Nachhaltigkeitsmanagements………… 284 9.2.1 Die Geschäftstätigkeit der Otto-Handelsgruppe…………………………. 284 9.2.2 Das Nachhaltigkeitsmanagement bei Otto……………………………….. 286 9.2.3 Wurden ökonomische und ökologische Zielkonflikte optimal gelöst?….. 290 9.2.4 Welche Strukturen und Kulturen braucht die Nachhaltigkeit?…………... 296 9.2.5 Welche Verbesserungspotenziale bargen die Strukturen und Kulturen bei Otto?……………………………………………………….. 301 9.2.6 Otto auf dem Weg einer kontinuierlichen Verbesserung………………… 305 9.3 Möglichkeiten und Grenzen des Korruptionsverzichts………………………….. 307 9.3.1 Korruption – eine gesellschaftliche Bedrohung…………………………. 308 9.3.2 Lohnt sich Korruption wirtschaftlich?…………………………………… 313 9.3.3 Kann von Unternehmen Korruptionsverzicht gefordert werden?………... 319 9.4 Siemens: Erfolgreich dank Korruptionsstrategie?……………………………….. 323 9.4.1 Korruptionsfälle bei Siemens……………………………………………. 323 9.4.2 Wirtschaftliche Auswirkungen der Affären……………………………… 327 9.4.3 Korruption – ein wirtschaftlicher Erfolgsfaktor?………………………... 333 9.4.4 Hätte von Siemens Korruptionsverzicht gefordert werden können?…….. 338
XIV
Inhaltsverzeichnis
10. Synthese: Sind Wirtschaft und Moral Gegensätze?………………………………... 341 10.1 Ausgangslage: Polarisierungen versperren den Blick für das Ganze……………. 341 10.2 Prozess: Auf dem Weg zu Ganzheitlichkeit……………………………………... 342 10.3 Ergebnis: Alles ist mit allem verbunden……………………………………….... 343 10.4 Ausblick: Erweiterte Perspektiven und deren Horizont…………………………. 345 Literaturverzeichnis………………………………………………………………………... 349 Interviewverzeichnis……………………………………………………………………….. 379
Darstellungsverzeichnis
XV
Darstellungsverzeichnis Darst. 2.1: Unterschiedliche Vertragsformen nach Macneil………………………………… 22 Darst. 3.1: Übersicht über die Systemevolution………………………………………….…. 56 Darst. 4.1: Das Konzept integriertes Management………………………………………… 108 Darst. 5.1: Das neue St. Galler Management-Modell im Überblick………………………. 114 Darst. 5.2: Zirkulärer Zusammenhang zwischen Ordnungsmomenten und Handlungen….. 118 Darst. 5.3: Zusammenhang zwischen Wirklichkeitskonstruktion und Strukturen (i.w.S.)…121 Darst. 7.1: Einfluss moralischer Codierung auf die Kooperationsrente…………………… 208 Darst. 7.2: Glaubwürdigkeit durch Selbst- und Fremdbindungsmechanismen……………. 217 Darst. 7.3: Überblick über die Einflussfaktoren auf die Glaubwürdigkeit………………… 219 Darst. 7.4: Prüfverfahren und -kriterien unterschiedlicher Güterarten…………………….. 220 Darst. 7.5: Prozessstufen des Wertemanagementsystems…………………………………. 222 Darst. 7.6: Werte-Viereck: Management of Values……………………………………….. 223 Darst. 7.7: Steuerung und Kontrolle der moralischen Dimension einer Transaktion……… 239 Darst. 7.8: Prozessstufen des modifizierten Wertemanagementsystems…………………... 241 Darst. 8.1: Das erweiterte neue St. Galler Management-Modell im Überblick…………… 254 Darst. 8.2: Moralische Grundwerte eines Wertemanagements……………………………. 262 Darst. 8.3: Das Wertemanagement im neuen St. Galler Management-Modell……………. 274
Abkürzungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis AUB
Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Betriebsangehöriger
EMAS
Environmental Management and Audit Scheme
m.w.N.
mit weiteren Nachweisen
SEC
Securities Exchange Commission
XVII
1.1 Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns von Unternehmen
1 1.1
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Einleitung Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns von Unternehmen
Welche Möglichkeiten und Grenzen gibt es für moralisches Handeln in Unternehmen? Diese Frage stellte sich im Rahmen eines Forschungsprojekts mit dem Titel „ISAC – Integration von Umweltschutz in strategisches Handeln und Ansätze für ein erweitertes Controlling“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in den Jahren 2000 bis 2002 gefördert wurde.1 Den Ausgangspunkt des Projekts bildeten die folgenden Fragestellungen: Warum gibt es in den meisten Unternehmen kein strategisches Umweltmanagement? Wie kann Umweltschutz in das strategische Handeln von Unternehmen integriert werden? Die nicht nachhaltige Nutzung der ökologischen Umwelt ist ein zentrales Problem unserer modernen Gesellschaft. Der Druck auf lokale und regionale Ökosysteme hat derart zugenommen, dass schon seit längerem von einer „globalen Umweltkrise“ gesprochen wird.2 Damit geraten Unternehmen, als eine wesentliche Nutzergruppe ökologischer Ressourcen, unter starken Legitimationszwang. Dies äußert sich für Unternehmen nicht nur in einer verschärften gesetzlichen Rahmenordnung. In zunehmendem Maße stellen Anspruchsgruppen wie beispielsweise Nichtregierungsorganisationen, Arbeitnehmer, Kapitalgeber, Kunden etc. auch ökologische Anforderungen an Unternehmen und setzen diese mehr oder weniger stark durch. Dahinter steht explizit oder implizit die Forderung, Unternehmen sollten in Bezug auf die ökologische Umwelt „nachhaltig wirtschaften“. Daher haben viele Unternehmen, teilweise freiwillig, meist jedoch aufgrund des externen Drucks, ein Umweltmanagementsystem eingerichtet, das unternehmerisches Handeln auf die Schonung der ökologischen Umwelt ausrichtet.3 Dieser Trend setzte vor allem in den 1990er Jahren mit der Etablierung der Zertifizierungssysteme ISO 14001 und EMAS (Environmental Management and Audit Scheme) ein. Inzwischen haben sich Umweltmanagementsysteme und Umweltberichte bzw. -erklärungen nicht nur in den umweltintensiven Branchen, sondern z.T. auch bei Dienstleistungsunternehmen wie Banken und Versicherungen etabliert. Die Anzahl der Zertifizierungen steigt nach wie vor kontinuierlich an.4 Der Status Quo der bereits implementierten Umweltmanagementsysteme und ihre jeweiligen Wirkungen sind jedoch nicht nur von Branche zu Branche, sondern auch von Unternehmen zu Unternehmen höchst unterschiedlich. Die Bilanz, die nach jahrelangen Erfahrungen mit Umweltmanagementsystemen gezogen werden kann, fällt ernüchternd aus. Empirische Studien beschreiben beispielsweise, dass Umweltschutz in strategischen Entscheidungen kaum eine
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Zu den Projektergebnissen siehe Schwegler (2003), Schwegler/Schmidt (2003a), (2003b), (2003c) und Schmidt/Schwegler (2003). Vgl. Deutscher Bundestag (2002), S. 53. Wichtige Problembereiche sind dabei z.B. die drohende Klimaänderung, Waldschäden, der Verlust an biologischer Vielfalt, Wassermangel und -verschmutzung – um nur wenige davon zu nennen. Siehe hierzu z.B. Deutscher Bundestag (2002), S. 325ff. Vgl. Dyckhoff (2000), S. 5. Vgl. DQS (2005). Im Januar 2006 gab es in Deutschland 1.491 Zertifizierungen von Umweltmanagementsystemen nach EMAS und 5.094 nach ISO 14001 (vgl. Peglau (2006)). Allerdings zeichnet sich seit einigen Jahren ein deutlicher Trend weg von Zertifizierungen nach EMAS hin zu solchen nach ISO 14001 ab (vgl. Loew/Clausen (2005)).
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1 Einleitung
Rolle spielt und die erhofften kontinuierlichen Verbesserungsprozesse oftmals ausgeblieben sind.5 Chancen und effektive Möglichkeiten für unternehmerischen Umweltschutz werden so nicht genutzt – mit dem Risiko für das Unternehmen, dass unklare Prioritäten und Enttäuschungen zu Fehlentwicklungen führen.6 Gleichzeitig hat sich das Grundproblem des Umweltverbrauchs in vielen Bereichen noch verschärft. Aus dieser Warte heraus werden in Theorie und Praxis verschiedene Fragen kontrovers diskutiert: Welchen Beitrag können bzw. sollen Unternehmen für eine nachhaltige Nutzung der ökologischen Umwelt leisten? Wie kann das Umweltmanagement diese Anforderungen im Unternehmen umsetzen? Diese Fragen sind von zentraler Bedeutung, geht es doch darum, die Möglichkeiten und Grenzen des unternehmerischen Umweltschutzes zu identifizieren. Die Möglichkeiten zu entdecken, ist die Voraussetzung dafür, sie überhaupt nutzen zu können. Die Grenzen zu erkennen, ist ebenso wichtig, um die eigenen knappen Ressourcen effektiv einsetzen zu können und keine überhöhten Erwartungen zu wecken, deren Enttäuschung womöglich in der Zukunft den Blick für Chancen verstellt. Damit stellt sich zunächst die Frage, welches die Anforderungen an das Umweltmanagement sind, d.h. welchen Stellenwert der Umweltschutz in Unternehmen haben sollte. Unstrittig ist, dass ein Umweltmanagement in jene Unternehmensbereiche integriert werden sollte, in denen durch Umweltschutz Wettbewerbsvorteile erwachsen. Problematisch sind hingegen ökologische Ansprüche, die nicht über den Markt, die Gesellschaft oder die gesetzlichen Rahmenbedingungen7 für das Unternehmen relevant werden, z.B. aufgrund von Marktversagen. In diesem Fall haben die Stakeholder keine ausreichenden Einflussmöglichkeiten, ihre ökologischen Ansprüche gegenüber dem Unternehmen geltend zu machen. Das Unternehmen steht dann vor einem unternehmensethischen Dilemma8: Welche Verantwortung trägt es für den Erhalt ökologischer Ressourcen? Kann von einem Unternehmen verlangt werden, zugunsten des Umweltschutzes Wettbewerbsnachteile in Kauf zu nehmen? Hier wird deutlich, dass hinter der Diskussion um die Integration des Umweltschutzes in strategisches Handeln letztlich auch eine unternehmensethische Frage steht – nämlich die nach den Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns von Unternehmen. Die Meinungen hierzu gehen weit auseinander: Friedman (1970) beispielsweise postuliert eine strikte Dominanz des Gewinnprinzips gegenüber anderen gesellschaftlichen Zielen wie dem Umweltschutz. Er weist Unternehmen als alleinige Verpflichtung die Gewinnerzielung zu: „The social responsibility of business is to increase its profits”9.
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Siehe bspw. Dyllick/Hamschmidt (2000) und Freimann (1997), S. 167ff. Vgl. Dyllick (2000b), S. 64, und Dyllick (2000a). Vgl. Dyllick/Hummel (1996), S. 13, und Dyllick/Belz/Schneidewind (1997), S. 27f. Die Identifizierung dieser drei wesentlichen Lenkungssysteme geht zurück auf Dyllick (1990), S. 86ff. Es wird hier implizit davon ausgegangen, dass die ökologischen Ansprüche ethisch legitim sind. Damit werden Fragen der Umweltethik, die sich mit dem normativ richtigen und moralisch verantwortbaren Umgang mit der ökologischen Umwelt befasst, ausgeklammert. Siehe hierzu bspw. Hösle (1991), Theobald (2004), Ott/Gorke (2000), Krebs (1997) und von der Pfordten (1996). Friedman (1970).
1.1 Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns von Unternehmen
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Eine Beschäftigung mit Umweltschutz über das hinausgehend, was den Unternehmensgewinnen zuträglich ist, ist seiner Meinung nach nicht nur unnötig, sondern sogar schädlich.10 Umweltmanagement hat aus dieser Warte heraus nur dann eine Berechtigung im Unternehmen, wenn es dessen Gewinne erhöht bzw., durch die Einhaltung von Umweltschutzgesetzen, Gewinnverluste vermeidet. Darüber hinausgehende ökologische Ansprüche sind seines Erachtens illegitim. Im Gegensatz dazu gehen Homann und Blome-Drees (1992, insbesondere S. 156ff.) davon aus, dass dem Gewinnprinzip widersprechende Ansprüche an Unternehmen trotzdem ethisch legitim sein können. Solche Situationen, in denen beispielsweise ethisch legitime ökologische Ansprüche wettbewerbsschädigend sind, bezeichnen sie als ethische Konflikte. In diesen Fällen fordern die Autoren von Managern, nach Möglichkeiten zu suchen, diese ethisch legitimen Forderungen zu erfüllen, allerdings nur, solange damit keine Wettbewerbsnachteile verbunden sind. Die Inkaufnahme von Wettbewerbsnachteilen würde dazu führen, dass besonders umweltfreundliche Unternehmen langfristig vom Markt verdrängt würden, eine im Endeffekt sogar kontraproduktive Folge für den Umweltschutz.11 Umweltmanagement hat gemäß dieser Sichtweise in Unternehmen durchaus eine eigenständige und strategische Bedeutung, ist aber letztlich auch immer an das Gewinnprinzip gebunden. Steinmann und Löhr (1988 und 1994) dagegen stellen diesbezüglich weiter reichende moralische Forderungen an unternehmerisches Handeln. Wenn die Befolgung des Gewinnprinzips ethischen Bedenken entgegensteht, die in einem idealen Dialog12 ermittelt worden sind, fordern sie, das Gewinnprinzip der Moral unterzuordnen.13 Dabei sehen sie jedoch die Grenzen dieser Forderung angesichts bestehender Wettbewerbszwänge: „Allerdings wird auch deutlich, dass die Kapazität, ethische Konflikte auf Unternehmensebene (im Alleingang) zu regeln begrenzt ist, im Extremfall sogar gegen Null gehen kann, wenn man nicht den ökonomischen Untergang riskieren will.“14
P. Ulrich (1998) verlangt in seinem Ansatz einer „integrativen Wirtschaftsethik“ gar die gänzliche Abkehr vom Gewinnprinzip zugunsten einer gesellschaftlichen Präferenzfunktion, die im Rahmen eines Diskurses aller vom unternehmerischen Handeln Betroffenen aufgestellt wird: „Es geht (...) darum, das unternehmerische Erfolgs- und Gewinnstreben kategorisch der normativen Bedingung der Legitimität unterzuordnen.“15
Allerdings anerkennt auch er, dass Unternehmen Wettbewerbsbeschränkungen unterworfen sind. Die Inkaufnahme wirtschaftlicher Nachteile ist daher seiner Meinung nach nur so weit zumutbar, wie die Unternehmensexistenz nicht bedroht ist.16 Ökologische Anliegen, die im Rahmen eines Umweltmanagements im Unternehmen aufgegriffen werden, haben bei Steinmann, Löhr und P. Ulrich eine den ökonomischen Zielen des Unternehmens prinzipiell über-
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Vgl. Friedman (1970). Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 131ff. Im Sinne der Diskursethik, siehe Steinmann/Löhr (1994), S. 76ff. Vgl. Steinmann/Löhr (1988), S. 308, sowie Steinmann/Löhr (1994), S. 109 und 207f. Steinmann/Löhr (1994), S. 108, Hervorhebung im Original. Ulrich, P. (1998), S. 428, Hervorhebungen im Original. Vgl. Ulrich, P. (1998), S. 162.
4
1 Einleitung
geordnete strategische Bedeutung. Den ökologischen Zielen sind jedoch in Form der Existenzsicherung des Unternehmens letzte Grenzen gesetzt. Es gibt allerdings auch Autoren, die im Prinzip keine Konflikte zwischen ökonomischen Unternehmensinteressen und Umweltschutz sehen. Im Gegenteil: Keller (1991) postuliert beispielsweise, dass ein Unternehmen nur dann langfristig überleben kann, wenn es nicht nur ökonomisch handelt, sondern gleichzeitig der Ökologie eine eigenständige, von ökonomischen Zielen weitgehend unabhängige Bedeutung beimisst.17 Nach Stitzel und Wank (1990, S. 113-122) lässt sich ein Konflikt zwischen den unterschiedlichen Perspektiven des strategischen Managements und der ökologisch orientierten Unternehmensführung im Rahmen eines andauernden Lernprozesses nivellieren. Ökologische Gegebenheiten werden dann als grundsätzlich gleichberechtigte Bereiche berücksichtigt.18 Eine ähnliche Position vertritt auch Müller-Christ (2001, S. 4ff., und 2003). Seiner Meinung nach ist es für ein Unternehmen zur Sicherung der eigenen Existenz immer rational, seine u.a. ökologischen Ressourcen nachhaltig zu managen. Umweltschutz spielt nach diesen Meinungen in strategischen Unternehmensentscheidungen grundsätzlich eine Rolle, da dieser im Einklang mit den langfristigen Gewinninteressen eines Unternehmens steht. Unterschiedliche Ansichten werden nicht nur in der Frage, ob Umweltmanagement strategische Bedeutung im Unternehmen hat, vertreten, sondern auch bei der Frage nach den Gründen dafür. Homann und Blome-Drees (1992, S. 140ff. und 187f.) beispielsweise sehen mögliche Ursachen für nicht betriebenen strategischen Umweltschutz in einer mangelnden Ausnutzung von Handlungsspielräumen seitens des Unternehmens oder in einer defekten Rahmenordnung. Für Steinmann und Löhr (1994) sowie P. Ulrich (1998) liegen weitere mögliche Ursachen in einem unzureichenden moralischen Bewusstsein, für Müller-Christ (2003), Keller (1991) sowie Stitzel und Wank (1990) in einem ungenügenden strategischen Denken und Handeln der Entscheidungsträger. Friedman (1970) würde demgegenüber ein strategisches Umweltmanagement, das die Gewinnerzielung zugunsten des Umweltschutzes zurückstellt, als überzogenes und sogar illegitimes Verantwortungsbewusstsein bewerten. Abgesehen von diesen ethischen Fragen wird auch ein Mangel an adäquaten Entscheidungsgrundlagen als eine zentrale Ursache für fehlenden strategischen Umweltschutz diskutiert. Praxisvertreter beklagen vor allem ein Instrumentendefizit im Bereich des strategischen Umweltmanagements.19 Und auch Schaltegger et al. (2002), die den Informationsbedarf für eine nachhaltige Unternehmensentwicklung den vorhandenen Konzepten und Instrumenten gegenüber stellen, gelangen zu dieser Einschätzung. Weitere Kausalitäten für ein fehlendes strategisches Umweltmanagement werden in den engen Regelungen der Umweltmanagementsysteme EMAS und ISO 1400120, den bestehenden Organisationsstrukturen in Unternehmen21 oder der Unternehmenskultur22 vermutet. 17 18 19 20 21 22
Zitiert aus Dyllick/Belz (1994), S. 61. Siehe hierzu ebenfalls Stitzel (1988), S. 298. Siehe z.B. Frings (2003) und Schwegler/König (2003). Vgl. Freimann (1997), S. 171, Dyllick/Hamschmidt (1999), S. 537, und Dyllick/Hummel (1995), S. 24. Vgl. z.B. Schwegler/König (2003). Zur Bedeutung der Unternehmenskultur für die Schließung von Lücken im Umweltmanagement siehe z.B. Schwegler (2003), S. 53f.: Beitrag der Kultur zur Lösung von Rollenkonflikten; oder Gminder/Bieker/ Dyllick (2003), S. 61: Bedeutung der Kultur für die Einführung einer Sustainability Balanced Scorecard.
1.2 Das neue St. Galler Management-Modell als adäquater Bezugsrahmen 1.2
5
Das neue St. Galler Management-Modell als adäquater Bezugsrahmen
Die Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen ökologischen Handelns von Unternehmen und was die Ursachen dafür sind, sind, wie aus dem obigen kurzen Abriss deutlich wurde, äußerst komplex. Sie erfordern einerseits die Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen dem Unternehmen, seinen Anspruchsgruppen und der ökologischen Umwelt sowohl aus einer (unternehmens-)ethischen als auch aus einer wettbewerblichen Perspektive. Darüber hinaus ist eine Betrachtung des Unternehmens selbst, insbesondere des Umweltmanagements und dessen Wechselwirkungen mit seinem Super-System, dem Management insgesamt, relevant. Denn diese spiegeln letztlich die Wechselwirkungen zwischen den ökonomischen und ökologischen Zielen des Unternehmens wider. Das Umweltmanagement an sich ist bereits ein äußerst vielschichtiger Aufgabenkomplex: Umweltschutz ist eine Querschnittsaufgabe und damit ein Teilaspekt fast jeden Aufgabenbereichs im Management – sowohl was die verschiedenen Funktionen (Personalmanagement, Finanzmanagement, Marketing, Forschungs- und Entwicklungsmanagement etc.) als auch die unterschiedlichen Entscheidungsebenen (normatives, strategisches und operatives Management) anbelangt.23 Aus diesen vielfältigen internen und externen Wechselwirkungen ergeben sich letztlich die Anforderungen an eine adäquate Aufgabenerfüllung durch das Umweltmanagement und damit die Möglichkeiten und Grenzen des unternehmerischen Umweltschutzes im Allgemeinen und des strategischen Umweltschutzes im Besonderen. Die Auseinandersetzung im Rahmen des Forschungsprojekts mit diesen wichtigen Fragen, ebenso wie eine Stellungnahme zu den oben diskutierten Thesen, bedurfte eines theoretischen Bezugsrahmens. Dieser sollte, um der komplexen, vielseitigen Fragestellung gerecht zu werden, ganzheitlich sein. Denn gemäß „Ashby’s Law of Requisite Variety“, dem fundamentalen Gesetz der Organisations-Kybernetik, kann nur eine gewisse Komplexität des Bezugsrahmens, d.h. nur Varietät selbst, Varietät absorbieren:24 „An effective management system must own a repertory of potential behaviours (~ ‘Variety’), which is equivalent to the repertory of behaviours (~ ‘Variety’) of the system to be managed.”25
Auf der Suche nach einem adäquaten theoretischen Bezugsrahmen für das Forschungsprojekt wurde das „neue St. Galler Management-Modell“ von Rüegg-Stürm (2002) als zielführend identifiziert. Dieses wurde als ganzheitliches Modell der komplexen Aufgaben eines Unternehmens konzipiert und kontinuierlich weiterentwickelt und dient als Grundlage der renommierten26 Management-Lehre an der Universität St. Gallen (HSG). Es beschäftigt sich implizit und explizit mit den zentralen Aspekten der Ausgangsfragestellung:
23 24
25 26
Siehe z.B. Dyllick/Hummel (1996), S. 16ff. Vgl. Ashby (1970), zitiert aus Schwaninger (2001b), S. 1213. Ashbys ursprüngliche Version lautet: „Only variety can destroy variety“. Später ersetzte Stafford Beer „destroy“ durch „absorb“ (vgl. Schwaninger (2001b), Fußnote 7). Schwaninger (2001b), S. 1213. In den 1990er Jahren wurde in einem Rating von Forbes die Management-Schule an der Universität St. Gallen (HSG) als die Nummer eins unter den Management- und Business-Schools in den deutschsprachigen Ländern bewertet (vgl. Schwaninger (2001b), S. 1219).
6
1 Einleitung x
Darstellung der vielfältigen Aufgaben des Managements,
x
Problematisierung der Wechselwirkungen innerhalb des Managements und mit dem Umfeld des Unternehmens aus einem Anspruchsgruppenkonzept heraus,
x
Beleuchtung einer wettbewerblichen und einer unternehmensethischen Perspektive,
x
Analyse der Entstehung ökologischer Ansprüche und den daraus resultierenden Aufgaben des Umweltmanagements.
Das neue St. Galler Management-Modell erschien insbesondere aus diesen Gründen als konzeptionelle Basis für das Forschungsprojekt als geeignet und hat sich im Rahmen der Bearbeitung dieses und anderer Forschungsprojekte27 bewährt. Im Laufe der Arbeit mit diesem Modell wurde jedoch deutlich, dass es hinsichtlich seines moralischen Anspruchs an unternehmerisches Handeln Schwächen aufweist. Daraus entstand schließlich das Ziel der vorliegenden Arbeit, den Widerspruch im neuen St. Galler Management-Modell herauszuarbeiten und ihn durch eine entsprechende Weiterentwicklung des Modells zu beseitigen.
1.3
Gang der Forschung
Zunächst galt es, in der vorliegenden Arbeit die Inkonsistenz des neuen St. Galler Management-Modells deutlich herauszuarbeiten. Zu diesem Zweck wurden zuvor die wissenschaftstheoretischen Anforderungen an das Modell geklärt. Denn als Verstehensmodell der angewandten Forschung hat es andere Anforderungen zu erfüllen als Erklärungs- und Prognosemodelle der Grundlagenforschung: es hat widerspruchsfrei und nützlich zu sein. Auf Basis dieser Anforderungen wurde das Management-Modell einer kritischen Analyse unterzogen und der Widerspruch im Modell offen gelegt: Der unternehmensethische Anspruch, der auf der integrativen Wirtschaftsethik von P. Ulrich (1998) beruht, ist nicht vollständig in das Modell integriert. Es stellte sich die Frage, wie diese Inkonsistenz beseitigt werden könnte, ohne neue Inkonsistenzen zu schaffen. Folgende Möglichkeiten bestanden: das Modell an den unternehmensethischen Ansatz von P. Ulrich (1998) anzupassen, oder den ethischen Ansatz durch einen anderen zu ersetzen, der mit den Grundannahmen des Modells übereinstimmt. Um diese Frage zu beantworten, wurden die metatheoretischen Grundlagen des Modells, die Neue Institutionenökonomik und die neuere Systemtheorie, genauer untersucht. Daraus wurde deutlich: Das Management-Modell im Sinne des Ansatzes von P. Ulrich (1998) umzugestalten würde bedeuten, dass diese Metatheorien verworfen werden müssten und mit ihnen grundlegende Annahmen wie die folgenden: Ein Unternehmen kann (gemäß der neueren Systemtheorie) als Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems nur solche Anforderungen erfüllen, die letztlich wirtschaftlich Sinn haben. Ansonsten läuft es (gemäß der Neuen Institutionenökonomik) Gefahr, dass die wirtschaftlichen Transaktionen über andere Unternehmen oder den Markt abgewickelt werden, d.h. das Unternehmen letztlich seine Existenz verliert.28
27
28
So auch im Rahmen der Bearbeitung des Projekts „EFAS – Erfolgsfaktoren für betriebliches Energie- und Stoffstrommanagement“, gefördert von 2005 bis 2006 durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg. Zu den Projektergebnissen siehe Schwegler/Schmidt/Keil (2007). Vgl. Abschnitt 2.2.
1.3 Gang der Forschung
7
Diese Annahmen zu verwerfen hätte letztlich bedeutet, das System der Marktwirtschaft an sich in Frage zu stellen. In Ermangelung besserer, theoretisch plausibler und praktisch umsetzbarer Systemalternativen wurde die Entscheidung gefällt, den unternehmensethischen Ansatz von P. Ulrich (1998) aus dem neuen St. Galler Management-Modell herauszunehmen. Als geeigneter Ersatz erschien der wirtschafts- und unternehmensethische Ansatz einer „Ökonomischen Ethik“ von Homann u.a.29. Denn zum einen hält Homann einen moralphilosophisch fundierten normativen Anspruch an unternehmerisches Handeln aufrecht, so dass damit die normative Ausrichtung des Management-Modells erhalten bleibt. Zum anderen zeichnet sich die Ökonomische Ethik durch eine Fundierung auf dem Theoriegebäude der neueren Systemtheorie und der Neuen Institutionenökonomik aus. Damit ist zum einen die Kompatibilität zum neuen St. Galler Management-Modell gewährleistet. Zum anderen gelingt es Homann dadurch, moralische Ansprüche an unternehmerisches Handeln mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen von Unternehmen in Einklang zu bringen und daraus konkrete Handlungsstrategien für Unternehmen abzuleiten.30 Im Laufe einer genaueren kritischen Analyse der Ökonomischen Ethik zeigten sich allerdings neben den genannten Stärken auch verschiedene Schwächen in Bezug auf die hier behandelte Fragestellung. U.a. stellte sich heraus, dass die Integration der Metatheorien, insbesondere der Neuen Institutionenökonomik, bislang nur unzureichend erfolgt ist. Darüber hinaus lässt Homann die organisationstheoretischen Implikationen seiner moralischen Handlungsstrategien (bewusst) offen, so dass eine direkte Integration der Ökonomischen Ethik in das neue St. Galler Management-Modell nicht möglich war.31 Aus diesem Grund wurden auch in diesem Ansatz die Stärken und Schwächen herausgearbeitet und letztere weitgehend beseitigt. Dies gelang nicht zuletzt durch die Kombination mit einem zweiten unternehmensethischen Ansatz: der Governanceethik von Wieland. Die Verbindung beider Ansätze war relativ problemlos möglich, da beide die gleiche theoretische Fundierung beinhalten und sich, wie die Urheber der Ansätze selbst betonen, sehr gut ergänzen:32 Wielands organisationstheoretische Ausarbeitungen seiner „Ökonomik der Transaktionsatmosphäre“ sind rein deskriptiv. Sie wären folglich für sich genommen keine ausreichende unternehmensethische Basis für das neue St. Galler Management-Modell. Damit ist das moralphilosophische Fundament der Ökonomischen Ethik nach wie vor für die Ausarbeitung eines unternehmensethischen Ansatzes für das neue St. Galler Management-Modell von grundlegender Bedeutung. Das große Verdienst von Wieland (1996) besteht nun darin, die Ansätze der Neuen Institutionenökonomik kritisch analysiert und im Rahmen seiner Ökonomik der Transaktionsatmosphäre weiterentwickelt zu haben. Auf diese Weise werden die ökonomischen Auswirkungen 29
30 31 32
Beiträge zu Homanns Ökonomischer Ethik haben u.a. Andreas Suchanek (z.B. Suchanek (2001) und (1997) sowie Homann/Suchanek (2000)), Franz Blome-Drees (z.B. Homann/Blome-Drees (1995) und (1992)) und Ingo Pies (z.B. Homann/Pies (1994), (1991), Pies (1997), (1993) und Pies/Blome-Drees (1993)) geleistet. Vgl. Kapitel 6. Vgl. Abschnitt 6.2. So schreibt Homann (2001a), S. 41: „Weil die Fragestellungen kompatibel, jedoch nicht identisch sind, kann man ohne Widerspruch beide Forschungsprogramme nebeneinander verfolgen.“ Ebenso sieht Wieland (2001b), S. 25, den Ansatz von Homann „als eine zur Governanceethik komplementäre Forschungsrichtung.“
8
1 Einleitung
der Moral in Unternehmen für die „Neue Organisationsökonomik“ theoretisch adäquat verarbeitbar. Des Weiteren vermag er mit seinem Ansatz zu begründen, dass die Moral ein eigenes funktionales Teilsystem der Gesellschaft ist und für Unternehmen eine existenzielle Leistung und Funktion erbringt. Damit leistet er auch für die neuere Systemtheorie einen wesentlichen Beitrag. In der vorliegenden Arbeit können mit Hilfe der Ökonomik der Transaktionsatmosphäre die organisationstheoretischen Schwachpunkte in Homanns Ansatz beseitigt werden.33 Im Kern der Unternehmensethik von Wieland (u.a. 1999, 2001b) steht dessen „Governanceethik“, die an dieser Stelle normativ wird und, gemäß der strikten Anwendungsorientierung seines Ansatzes, die Fragen nach der konkreten Integration der Moral in unternehmerisches Handeln beantwortet: Er empfiehlt die Implementierung eines Wertemanagementsystems. Mittels dessen ist es möglich zu beschreiben, wie Unternehmen moralisches Handeln aus ökonomischen Gründen konkret in der Managementpraxis umsetzen können.34 Dieser Anwendungsbezug ist essenziell für den Brückenschlag zum neuen St. Galler Management-Modell als einem Modell der angewandten Forschung, das u.a. in der Weiterbildung von Managern eingesetzt wird. Um schließlich auch den normativen, moralphilosophischen Anspruch von Homann (z.B. 1995b) mit aufnehmen zu können, wird das Wertemanagementsystem weiterentwickelt, indem es um die moralischen Unternehmensstrategien ergänzt wird, die vorab aus Homanns Ansatz abgleitet werden. Damit steht schlussendlich einer Weiterentwicklung des neuen St. Galler Management-Modells nichts mehr im Wege: Der Anspruch von P. Ulrich (1998) wird ersetzt durch einen unternehmensethischen Ansatz, der die Ökonomische Ethik von Homann (z.B. 1995b) weiterentwickelt und um die Governanceethik von Wieland (u.a. 1996, 2001b) ergänzt. Damit gelingt es, den Widerspruch im neuen St. Galler Management-Modell zu beseitigen, das Modell im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns theoretisch besser zu fundieren und die daraus resultierenden Managementaufgaben zu benennen.35 Das Ergebnis der Arbeit ist somit ein weiterentwickeltes und im Hinblick auf die Ausgangsfragestellung widerspruchsfreies neues St. Galler Management-Modell. In dieses Modell wurden die ihrerseits in der Arbeit weiterentwickelten und miteinander kombinierten Ansätze der Ökonomischen Ethik und der Governanceethik eingearbeitet. Der dabei entstandene theoretische Bezugsrahmen benennt die – modelltheoretischen – Wechselwirkungen moralischen und ökonomischen Handelns von Unternehmen bzw. die Möglichkeiten und Grenzen unternehmerischen moralischen Handelns. Wie bereits angedeutet, bietet die Arbeit damit eine rein modelltheoretische Antwort und erhebt nicht den Anspruch, für die Unternehmenspraxis Lösungen für Situationen anzubieten, in denen sich wirtschaftliche und moralische Ziele widersprechen. Nichtsdestotrotz vermag der Bezugsrahmen ein gewisses Verständnis für komplexe Zusammenhänge zu liefern, das für die Lösung praktischer Konfliktsituationen nützlich sein kann. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in vier Teile: Der erste Teil widmet sich der Darstellung der Metatheorien, die dem neuen St. Galler Management-Modell, der Ökonomischen Ethik 33 34 35
Vgl. Kapitel 7. Vgl. Abschnitt 7.2. Vgl. Kapitel 8.
1.3 Gang der Forschung
9
und der Governanceethik zugrunde liegen: die Neue Institutionenökonomik und die neuere Systemtheorie. An ihnen orientieren sich weitgehend die Weiterentwicklungen des Management-Modells und der Ökonomischen Ethik. Im zweiten Teil wird das neue St. Galler Management-Modell kritisch gewürdigt. Zunächst wird in Kürze seine Geschichte skizziert. Damit wird nicht nur dargelegt, in welcher Forschungstradition es sich befindet. Es wird vor allem deutlich werden, dass das aktuelle Modell weit reichende Neuerungen enthält, die es rechtfertigen, sich in der vorliegenden Arbeit auf die dritte Modell-Generation von Rüegg-Stürm (2002, 2001) zu beziehen. Diese dritte Generation enthält als wesentlichen Bestandteil das neue St. Galler ManagementModell von Rüegg-Stürm (2002). Eine für die vorliegende Arbeit wichtige Ergänzung enthält darüber hinaus Rüegg-Stürms (2001) Werk „Organisation und organisationaler Wandel“, welches den gleichen Sachverhalt aus einer anderen Perspektive beleuchtet. Nachdem beide Arbeiten kurz beschrieben sind, wird der inkonsistente moralische Anspruch des neuen St. Galler Management-Modells unter Spiegelung an den wissenschaftstheoretischen Anforderungen offengelegt. Mit Bezugnahme auf die Metatheorien des ersten Teils wird abschließend die Entscheidung gefällt, den unternehmensethischen Ansatz von P. Ulrich (1998) im Management-Modell zu ersetzen. Der dritte Teil widmet sich den unternehmensethischen Ansätzen der Ökonomischen Ethik von Homann (u.a. 1995b) und der Governanceethik von Wieland (u.a. 1996, 2001b). Diese werden in ihren Grundzügen dargestellt, ebenfalls mit Bezug auf die Metatheorien und die beabsichtigte Integration in das neue St. Galler Management-Modell diskutiert und gezielt weiterentwickelt. Die konkrete Weiterentwicklung des neuen St. Galler Management-Modells und erste Anwendungen des Bezugsrahmens erfolgen abschließend im vierten Teil der Arbeit. Hier wird der theoretische Bezugsrahmen des Management-Modells zunächst weiter ausgearbeitet, indem der Ansatz der integrativen Wirtschaftsethik durch einen unternehmensethischen Ansatz auf Basis der jeweils weiterentwickelten Ökonomischen Ethik und der Governanceethik ersetzt wird. Dabei wird die Moral nicht nur in die normative Ausrichtung des Modells, sondern auch konkret in die Umweltanforderungen an Unternehmen sowie in die Strategien, Strukturen und Kultur eingearbeitet. Die neuen Erkenntnisse, welche das weiterentwickelte neue St. Galler Management-Modell enthält, werden daraufhin an zwei Praxisfragen des moralischen Handelns von Unternehmen gespiegelt: den Möglichkeiten und Grenzen von Unternehmen, angesichts gegebener Wettbewerbsbedingungen die ökologische Umwelt zu schonen bzw. auf Korruption zu verzichten. Diese Themen werden anhand zweier Fallbeispiele – des Versandhandelsunternehmens Otto GmbH & Co. KG bzw. der Siemens AG – diskutiert. Das neue St. Galler Management-Modell erhebt den Anspruch, ein Verstehensmodell und in dieser Hinsicht nützlich zu sein. Insofern wird es sich hier erweisen, ob der weiterentwickelte Bezugsrahmen in der Lage ist, die genannten Praxisbeispiele plausibel darzustellen und zu interpretieren.
Teil I
Metatheorien
2.1 Grundlagen
2
13
Neue Institutionenökonomik
Der zweite Teil gibt einen Überblick über die Neue Institutionenökonomik und die neuere Systemtheorie. Beide Theoriegebäude bilden die zentralen metatheoretischen Grundlagen der drei Ansätze, denen sich diese Arbeit schwerpunktmäßig widmet: dem neuen St. Galler Management-Modell, der Ökonomischen Ethik und der Governanceethik. Es ist insofern wichtig, die Metatheorien hier darzustellen, da sie als Messlatte für die kritischen Analysen und Weiterentwicklungen des neuen St. Galler Management-Modells und der Ökonomischen Ethik herangezogen werden. Des Weiteren lässt sich durch die folgenden Schilderungen zeigen, an welchen Stellen Wieland (1996) in seiner Ökonomik der Transaktionsatmosphäre wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung der Neuen Institutionenökonomik und z.T. auch der neueren Systemtheorie leistet, indem er die Stellung der Moral für Unternehmen und in der Gesellschaft genauer ausarbeitet (siehe Abschnitt 7.1). In Kapitel zwei werden zunächst die Grundlagen der Neuen Institutionenökonomik beleuchtet: der Gegenstand der Institutionenökonomik, der Homo Oeconomicus als wesentliche Modellannahme des Akteurverhaltens, der Ökonomische Imperialismus, welcher das Modell des Homo Oeconomicus auch auf andere wissenschaftliche Disziplinen überträgt, und die Ökonomische Vertragstheorie, deren Aussagen von der Neuen Institutionenökonomik aufgegriffen worden sind. Anschließend werden einzelne Ansätze der Neuen Institutionenökonomik erläutert, soweit sie für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind. Auch die Darstellung der Ansätze selbst zielt nicht darauf ab, möglichst umfassend zu sein, sondern den Erfordernissen dieser Arbeit zu genügen. Sie ist daher jeweils möglichst knapp gehalten und setzt die entsprechenden Schwerpunkte. Die Neue Institutionenökonomik widmet sich in ihrem Zweig der Transaktionskostentheorie den marktlichen Institutionen (Markt und Unternehmen). Hier werden die Ursprünge der Transaktionskostentheorie, die vor allem auf Coase (1937) zurückgehen, der Messkostenansatz und der Governancekostenansatz dargestellt. Darüber hinaus befasst sich die Neue Institutionenökonomik auch mit nicht-marktlichen Institutionen, wie z.B. in den im Folgenden geschilderten Ansätzen der Konstitutionellen Politischen Ökonomik und der Property-Rights-Theorie.
2.1
Grundlagen
2.1.1
Gegenstand der Institutionenökonomik
Die Institutionenökonomik ist diejenige Teildisziplin der Ökonomik, welche sich mit der Analyse von Institutionen beschäftigt. Institutionen sind Regeln oder Regelsysteme, Verträge oder Vertragssysteme (inklusive ihrer jeweiligen Durchsetzungsmechanismen) und umfassen neben formellen Regeln, z.B. des Rechts, auch informelle Regeln, wie z.B. Konventionen.36 Sie setzen bestimmte Anreize, kanalisieren damit das Verhalten von Individuen in bestimmte Richtungen und bilden so die Rahmenbedingungen individuellen Handelns.37 Änderungen der
36 37
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 1 und 23ff. Vgl. Schotter (1986), S. 117.
14
2 Neue Institutionenökonomik
Institutionen bewirken folglich individuelle Verhaltensänderungen, welche mit dem geläufigen ökonomischen Instrumentarium analysiert werden können.38 Es gibt nach Erlei (1998, S. 148) und Erlei/Leschke/Sauerland (1999, S. 24ff.) die folgenden Arten von Institutionen: x
Naturgesetze und das erschöpfbare Ressourcenpotenzial.
x
Kultur und informelle Regeln (informelle Verhaltensregeln, Sprachen, Religionen, gemeinsame Geschichte etc.) einer Gesellschaft.
x
Formelle Regeln, d.h. grundlegende und nur durch breiten Konsens beeinflussbare gesetzliche Rahmenbedingungen einer Gesellschaft wie etwa ihre Verfassung. Diese verfassungsrechtlichen Institutionen bilden die Rahmenbedingungen des eigentlichen politischen Prozesses in der Demokratie, in denen Politiker, Bürokraten und Interessenverbände agieren.
x
Die variable Faktorausstattung einer Gesellschaft beinhaltet das Grundlagenwissen einer Gesellschaft, ihre technologische und organisatorische Infrastruktur sowie das Bildungssystem. Diese gesellschaftlichen Kapitalgüter werden maßgeblich durch politische Entscheidungen „hergestellt“, insbesondere im Rahmen parlamentarischer Gesetzgebungsprozesse und öffentlicher Investitionen in Sach- und Humankapital.
x
Im Rahmen der Wirtschafts- und Sozialpolitik legen die politischen Akteure die marktlichen Regeln fest und stellen die Infrastruktur und andere öffentliche Güter bereit.
x
Das Marktsystem schließlich umfasst alle Märkte einer Gesellschaft (inklusive der Partialmärkte), Marktinstitutionen (z.B. Verbände und Kooperationen) und Unternehmen (inklusive deren interne Institutionen wie beispielsweise Aufbau- und Ablauforganisationen).
Die Analyse von Institutionen hat eine lange Tradition. Schon im 18. Jahrhundert untersuchte Adam Smith (1904/1776 und 1790/1759) im Zuge seiner Herleitung der „unsichtbaren Hand“ die Moral, Sitten und Traditionen als informelle Institutionen bzw. Handlungsrestriktionen wirtschaftlichen Handelns. Auch David Hume (1992/1739) hatte bereits zuvor die Funktionsweise von Eigentumsrechten erforscht. Institutionen traten jedoch in den Hintergrund, als die komparativ-statische Analyse von David Ricardo eingeführt wurde und der Übergang von der Klassik zur Neoklassik stattfand.39 Im 19. Jahrhundert griffen einzelne Theorieschulen40 die Thematik der Institutionen wieder auf. Mit ihren Ansätzen der sog. „alten“ Institutionenökonomik waren sie jedoch nicht in der Lage, eine geschlossene Konzeption zu entwickeln, die als Gegenpol zu traditionellen Denkrichtungen hätten fungieren können. So wurden Institutionen mit Beginn der „Keynesianischen Revolution“ wiederum in den Hintergrund gedrängt.41
38 39 40 41
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 25. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 28. Für einen Überblick siehe Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 29-49. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 28 und 41.
2.1 Grundlagen
15
Im Jahr 1937 veröffentlichte Coase seinen für die Institutionenökonomik bahnbrechenden Artikel „The Nature of the Firm“, der jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts u.a. von Arrow (1969) aufgegriffen wurde und einer systematischen Analyse marktlicher Institutionen den Weg bereitete.42 Auf diese Weise entstand schließlich die Neue Institutionenökonomik, welche die Nachfolge der „alten“ Institutionenökonomik antrat und neben marktlichen auch nicht-marktliche Institutionen, wie z.B. politische oder rechtliche Institutionen, untersucht.43 Sie grenzt sich insbesondere von so wichtigen ökonomischen Konzeptionen wie der Neoklassik (inklusive des Monetarismus) und des Keynesianimus ab, welche die explizite Analyse von Institutionen vernachlässigt hatten.44 Die Neue Institutionenökonomik analysiert systematisch die Wirkungen handlungsleitender Institutionen (positiv) und spricht Empfehlungen für das Design derselben aus (normativ).45 Zu diesem Zweck beruht sie, wie zuvor auch die Neoklassik, auf dem Homo Oeconomicus, als heuristischem Menschenbild ihrer Modelle, und dem methodologischen Individualismus. Des Weiteren unterscheidet sie ebenfalls zwischen den Restriktionen des Akteursverhaltens und den Präferenzen der Akteure.46 Im Gegensatz zur Neoklassik ist sie jedoch vertragstheoretisch fundiert und modelliert Unternehmen als Netzwerke von Verträgen und nicht, wie die Neoklassik, als Funktionssets.47 2.1.2
Homo Oeconomicus
Die Neue Institutionenökonomik ist ein Teilbereich der Ökonomik. Diese setzt sich mit der Ökonomie, d.h. der Wirtschaft der Menschen, wissenschaftlich auseinander. Im Allgemeinen wird die Ökonomik als diejenige Disziplin der Sozialwissenschaft bezeichnet, welche die Knappheitsprobleme menschlichen Verhaltens analysiert. Ihre zentrale Fragestellung ist daher, wie Verschwendung vermieden und so die menschliche Bedürfnisbefriedigung maximiert werden kann.48 Die Ökonomik basiert auf dem Homo Oeconomicus als Modell individuellen Handelns. Das Modell geht davon aus, dass die Präferenzen der Individuen gegeben und konstant sind und diese angesichts bestimmter Handlungsalternativen und -restriktionen versuchen, ihren Nutzen zu maximieren. Der Homo Oeconomicus beruht auf verschiedenen Prinzipien, von denen vor allem die folgenden für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind:49 Das Individuum handelt egoistisch, d.h. es orientiert sein Verhalten an seinen eigenen Präferenzen. Es herrscht universelle Knappheit, und sowohl Markt- als auch Kollektivgüter sind
42 43
44 45
46 47 48 49
Siehe Abschnitt 2.2. Zur Analyse nicht-marktlicher Institutionen im Rahmen der Neuen Institutionenökonomik siehe Abschnitt 2.3. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 27f. und 42. Die normative Neue Institutionenökonomik basiert auf dem Ansatz der Konstitutionellen Politischen Ökonomik, siehe hierzu Abschnitt 2.3.1. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 42 und 51. Vgl. Wieland (1997), S. 35. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 1f. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 1f.
16
2 Neue Institutionenökonomik
geeignet, Nutzen zu stiften.50 Des Weiteren analysiert die Ökonomik verschiedene Kostenkategorien, die aus den Handlungsrestriktionen heraus entstehen. Dabei untersucht sie, wie sich individuelle Handlungen verändern, wenn die Restriktionen geändert werden. Dabei geht die Ökonomik davon aus, dass Präferenzen konstant, konsistent und Bedürfnisse unersättlich sind.51 Das Rationalprinzip52 nimmt nun an, dass Individuen ihre Handlungsalternativen auf Basis eines Nutzen-Kosten-Kalküls bewerten und sich für diejenige Altnative entscheiden, die ihnen relativ gesehen den höchsten Nettonutzen verschafft. Nur aufgrund dieser Annahme kann letztlich von Veränderungen der Restriktionen auf individuelle Verhaltensänderungen geschlossen werden, und nur dann wird ein rationaler Akteur auf eine Änderung seiner relativen Kosten auf vorhersehbare Art und Weise reagieren. Denn Reaktionen eines irrational handelnden Akteurs wären schlichtweg unkalkulierbar.53 Ein weiteres zentrales Prinzip ist, dass die Ökonomik nicht das Verhalten einzelner Individuen betrachtet. Sie trifft folglich auch keine Aussagen über „den Menschen“ und seinen Eigenschaften, sie ist keine Handlungstheorie oder Mikro-Theorie des Individuums. Stattdessen geht die Ökonomik davon aus, dass sich die meisten Akteure als Homines Oeconomici verhalten und analysiert damit immer eine Vielzahl individueller Handlungen, d.h. repräsentatives, dominantes Verhalten. Sie analysiert soziale Bedingungen und ihre Folgen, es geht ihr darum, Interaktionen zu erklären und zu gestalten.54 Gemäß der Interpretation von Homann/Suchanek (2000, S. 421) geht es der Ökonomik um Dilemmastrukturen, d.h. die situativen Anreize menschlicher Interaktionen. Anreizstrukturen zwingen Akteure früher oder später dazu, sich als Homines Oeconomici zu verhalten. Die Ökonomik ist somit eine Situationstheorie oder allgemeine Theorie der Anreizstrukturen und blendet die Prozesse der Präferenzbildung und der Informationsverarbeitung von Individuen aus. Die einzige Aussage, die sie über den Menschen trifft, ist, dass diese nicht systematisch und dauerhaft entgegen ihrer Anreize handeln werden. Dies trifft so auch auf Unternehmen zu: Diese werden im Wettbewerb letztlich zu einem gewinnmaximierenden Verhalten gezwungen.55 Schließlich beruht der Homo Oeconomicus auf einem weiteren Prinzip, dem methodologischen Individualismus56. Dieser besagt, dass sich die Eigenschaften sozialer Systeme auf die Eigenschaften und Anreizsysteme der Individuen zurückführen lassen und damit kompatibel sind. Damit grenzt sich die Ökonomik von holistischen Konzepten der neueren Systemtheorie
50 51 52
53 54 55 56
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 3 und 53. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 4, mit Bezug auf Kirsch (1997), S. 30ff. Das Rationalprinzip der Ökonomik wird häufig auch als „Prinzip der Nutzenmaximierung“, als „ökonomisches Prinzip“ oder „Wirtschaftlichkeitsprinzip“ bezeichnet. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 4f. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 4f. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 5f. Vgl. Homann/Suchanek (2000), S. 421f. Nach Vanberg (1975), S. 86, FN 4, geht der Begriff des methodologischen Individualismus auf Schumpeter (1970), S. 88ff., zurück.
2.1 Grundlagen
17
ab, die komplexen sozialen Systemen emergente Eigenschaften zuschreiben, die nicht auf das Verhalten der Mitglieder zurückzuführen sind (vgl. Abschnitt 3.1.3).57 An dem Modell des Homo Oeconomicus wird häufig Kritik geübt, wie beispielsweise von Herbert Simon (1957, 1959, 1978a und 1981), der konstatiert, dass die Ökonomik „falsche Modelle“ aufstelle. Er setzt dem Homo Oeconomicus sein verhaltenstheoretisches SatisficingModell entgegen und legt diesem realistischere Verhaltensannahmen zugrunde. Er zeigt, dass der Homo Oeconomicus nicht das reale menschliche Verhalten beschreibt, denn Menschen können in Entscheidungssituationen meist nicht alle Handlungsalternativen wahrnehmen, die jeweiligen Konsequenzen erkennen und vollständig und konsistent bewerten. Menschen verfügen daher lediglich über eine begrenzte Rationalität („bounded rationality“), aufgrund derer sie in den meisten Situationen nicht in der Lage sind zu optimieren.58 Um trotzdem angesichts komplexer Situationen handlungsfähig zu bleiben, handeln Menschen nach Routinen bzw. Regeln, mit denen sie nicht optimale, sondern zufrieden stellende Ergebnisse zu erzielen versuchen. Das entsprechende Verhaltensmodell des „Saticficing Man“ orientiert sich an einem bestimmten Anspruchsniveau und versucht, zufrieden stellende Lösungen zu finden.59 Obwohl diese Vorwürfe an sich richtig sind, kann der Homo Oeconomicus dennoch für die Analyse der Wirkungsweise von Institutionen verwendet werden. Er fungiert in dem Fall als Heuristik, mit der situative Knappheitsrestriktionen relativ einfach untersucht werden können. Um das Modell möglichst einfach und handhabbar zu halten, sollten psychologische Erkenntnisse über menschliches Verhalten wie die begrenzte Rationalität nur dann in das Modell aufgenommen werden, wenn es ansonsten Anomalien zeigen würde. Diese Erkenntnisse werden dann als Restriktionen in das Modell eingeführt und lassen ansonsten die oben genannten Modellprinzipien unangetastet.60 So können nach Homann und Suchanek (2000, S. 415) z.B. die Kosten für die Suche nach Handlungsalternativen und ihren Randbedingungen ebenso wie die begrenzte Informationskapazität der Individuen als Restriktionen modelliert werden, angesichts derer Individuen dennoch versuchen, ihren erwarteten Nutzen zu maximieren. Eine begrenzte Rationalität kann auch eine Voraussetzung für Knappheitsprobleme sein, ist aber in dem Fall nicht Gegenstand der ökonomischen Analyse. Stattdessen sucht die Ökonomik nach Möglichkeiten, wie Akteure rational mit fehlendem und unsicherem Wissen umgehen können, z.B. durch adäquate Risikostreuung oder eine kollektive Bindung an Regeln bzw. Institutionen.61 Homann und Suchanek (2000, S. 417f.) widersprechen ebenfalls dem Argument, dass empirische Forschung die Irrationalität menschlichen Verhaltens beweisen könnte. Wenn der Zusammenhang zwischen sozialen Handlungsbedingungen und -folgen in bestimmten Situationen analysiert wird, ist es wichtig anzunehmen, dass Akteure sich (angesichts bestimmter
57 58 59 60 61
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 6. Vgl. Simon (1957). Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 9f. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 15f. Vgl. Homann/Suchanek (2000), S. 416f.
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2 Neue Institutionenökonomik
Restriktionen) rational verhalten haben. Denn nur dann können Handlungen als Reaktionen auf Anreize „verständlich“ erklärt werden:62 „Ein fruchtbares ökonomisches Forschungsprogramm schreibt Verhaltensänderungen grundsätzlich auf Änderungen der Restriktionen zu.“63
Mit Hilfe eines solchen „erweiterten Restriktionensets“ gelingt es der Ökonomik, die Resultate anderer Wissenschaften mit einzubeziehen. Diese als Präferenzen in das Modell aufzunehmen, würde nur wenig oder nichts erklären. Nur als Restriktionen, welche der Akteur nicht beeinflussen kann, die aber dennoch das situative nutzenmaximierende Handeln mit bestimmen, können nützliche Aussagen gewonnen werden. So können z.B. der Wandel der Werte in den letzten Jahrzehnten von Pflicht und Akzeptanz hin zur Selbstentfaltung, den die Sozialpsychologie dokumentiert hat, oder die Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft in Funktionssysteme, wie sie die soziologische Systemtheorie beschreibt, entsprechende Handlungsrestriktionen darstellen und als solche modelliert werden.64 Selbst die Theorie der Präferenzänderung, mit der sich G.S. Becker beschäftigt, geht letztlich analog vor: Er erklärt Präferenzen als das Ergebnis konstanter „tiefer liegender“ Präferenzen und Restriktionsänderungen. Als zentrale Restriktion wird dabei das „Identitätskapital“ bzw. individuelle Humankapital eingeführt, das eine Art individuelles Kapital bzw. Vermögen darstellt. Dieses Kapital wächst in der Regel im Laufe des Lebens und ermöglicht z.B. mit zunehmenden Musikkenntnissen einen nutzenmaximierenden Konsum von Musik. Damit interpretiert Becker die Entwicklung einer Vorliebe für Musik als eine rationale Handlung angesichts von Restriktionen, und nicht als die Bildung einer Präferenz. Wenn z.B. das Selbstverständnis oder Selbstbildnis eines Menschen aufgrund von Ereignissen zusammenbricht und damit das Identitätskapital „entwertet“ wird, steigt beispielsweise die Gefahr, dass die Person kriminell wird, gemäß dem Sprichwort:65 „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert“.66
Damit ist nach Homann und Suchanek (2000, S. 437) der Homo Oeconomicus auf der Handlungsebene das geeignete Analyseinstrument. Mit Hilfe dieses Modells analysiert die Neue Institutionenökonomik, wie Institutionen das Verhalten beeinflussen, wie Institutionen sich verändern und ob ggf. Fehlentwicklungen vorliegen. Dass Individuen in aller Regel nur unvollkommenes Wissen haben, ist dabei eine Modellrestriktion.67 2.1.3
Ökonomischer Imperialismus
Der ökonomische Imperialismus weitet das ökonomische Instrumentarium auf nicht-marktliche Institutionen aus. Dabei werden auch hier wie bei den Ansätzen der marktlichen Institutionen die Wirkungen von Transaktionskosten berücksichtigt.68 Die Gegenstände des 62 63 64 65 66 67 68
Vgl. Homann/Suchanek (2000), S. 418. Homann/Suchanek (2000), S. 432. Vgl. Homann/Suchanek (2000), S. 448f. Vgl. Homann/Suchanek (2000), S. 433. Dieses Sprichwort wird u.a. Wilhelm Busch oder Berthold Brecht zugeschrieben. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 53f. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 42 und 267.
2.1 Grundlagen
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ökonomischen Imperialismus sind beispielsweise Eheschließungen, Scheidungen, generatives Verhalten, Kriminalität und Drogenkonsum, Politikerverhalten, Rechtsetzung und sogar die Moral. Dabei ist die Fragestellung selbst hochselektiv: Es geht darum, die Bedingungen und Folgen sozialer Interaktionen in bestimmten Situationen zu erklären und zu gestalten, in denen die Akteure angesichts knapper Ressourcen ihre Vorteile maximieren. Dabei können die jeweiligen Vor- und Nachteile völlig unterschiedliche soziale Bereiche betreffen – insoweit ist die Ökonomik „imperialistisch“ geworden.69 Die Vorteils-/Nachteilskalkulationen (im Sinne des Homo Oeconomicus) werden sozialen Interaktionen in verschiedenen Kontexten als Handlungsprinzip zugrunde gelegt. Denn die knappen Ressourcen initiieren auch in nicht-wirtschaftlichen Situationen einen Wettbewerb, welcher die Akteure quasi dazu zwingt, ihren eigenen Vorteil zu suchen. Dabei werden wiederum alle nicht disponiblen Faktoren als situative Bedingungen interpretiert und beispielsweise „Werte“, „Kultur“, „Vertrauen“ o.ä. als Anreize oder Restriktionen übersetzt. Die Ökonomik erklärt nun Veränderungen in den Interaktionsmustern mit Änderungen der situativen Bedingungen. Daraus leitet sie Gestaltungsempfehlungen für Institutionen ab, die in der Lage sind, Interaktionen zu stabilisieren oder bestimmte gewünschte Verhaltensmuster zu etablieren. Mit anderen Worten: Sie untersucht, wie bestimmte „soziale Ordnungen“ – Kooperationen und Wettbewerb – erhalten oder erreicht werden können.70 Die imperialistische Ökonomik erhebt mitnichten den Anspruch, „eine genuine Theorie menschlichen Handelns“71 zu sein. Es gibt eine prinzipiell unbegrenzte Anzahl anderer legitimer Problemstellungen sozialer Systeme, welche die Ökonomik nicht erklären kann. So haben beispielsweise die Philosophie und Rechtsdogmatik, die Literatur, Kunst und Musik, ebenso wie die Mathematik und Sprachen ihre eigenen spezifischen und z.T. hoch elaborierten Binnenlogiken. Die Psychologie z.B. analysiert emotionale und kognitive Prozesse von Individuen und versucht, das situativ unabhängige individuelle menschliche Empfinden, Denken und Handeln besser zu verstehen. Unterschiedliche Verhaltensweisen von Menschen werden auf unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale zurückgeführt, z.B. kognitive und emotionale Verarbeitungskapazitäten oder Fehleinschätzungen von Situationen. Die soziologische Systemtheorie, u.a. von Luhmann (1984a, 1997),72 beschreibt die grundlegenden Strukturen der modernen Gesellschaft als in funktionale Subsysteme ausdifferenziert. Sie vermag damit u.a. zu erklären, warum die Politik nicht solche Rahmenbedingungen setzt, wie sie für die Wirtschaft vernünftig wären: Politiker streben danach, ihre Macht zu erhöhen oder zumindest zu erhalten. Die Erkenntnisse anderer Wissenschaften können nun, wie oben bereits beschrieben, als Restriktionen in das ökonomische Modell mit aufgenommen werden.73 Der ökonomische Imperialismus untersuchte zunächst politische Institutionen, z.B. im Rahmen der Neuen Politischen Ökonomik. Hier untersuchten bspw. Downs (1957) die Funktionsweise von Demokratien, Niskanen (1968) das Verhalten von Bürokraten, Olson (1965) und Becker (1983) den Einfluss von Interessengruppen auf politische Entscheidungen sowie u.a.
69 70 71 72 73
Vgl. Homann/Suchanek (2000), S. 437ff. Vgl. Homann/Suchanek (2000), S. 439ff., und Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 43. Homann/Suchanek (2000), S. 438. Siehe Kapitel 3. Vgl. Homann/Suchanek (2000), S. 438ff.
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2 Neue Institutionenökonomik
von Hayek (1960, 1973) und Buchanan (1975/1984) im Rahmen der Verfassungsökonomik bzw. Konstitutionellen Politischen Ökonomik die Gestaltung von Rahmenbedingungen politischen Handelns (vgl. Abschnitt 2.3.1).74 2.1.4
Ökonomische Vertragstheorie
Die Ansätze der Neuen Institutionenökonomik haben eine vertragstheoretische Fundierung. In Abgrenzung zum Modell des Unternehmens in der Neoklassik interpretieren sie Unternehmen nicht als Funktionssets bzw. Produktionsfunktionen, sondern als Netzwerke von Verträgen.75 Ein Vertrag regelt die Verfügungsrechte an einem Vertragsobjekt.76 Vertragsgegenstand ist die Übertragung von Kontrollrechten an einem bestimmten Eigentum für eine Gegenleistung.77 Bei ökonomischen Verträgen ist der Gegenstand ein Handelsgeschäft.78 Wichtige Bestandteile eines Vertrages sind die Willenserklärungen, welche die Vertragspartner abgeben und mit denen sie sich zu einer zukünftigen Handlung verpflichten.79 Verträge sind in der Regel von Unsicherheit geprägt in Bezug auf die vertragsrelevanten Umfeldbedingungen. Insofern sind sie ex ante nicht vollkommen spezifizierbar und ex post nicht ohne weiteres durchsetzbar. Das Verhalten der Vertragspartner ist unsicher: Es besteht grundsätzlich die Gefahr opportunistischen Handelns, d.h. dass Akteure arglistig handeln, um ihr Eigeninteresse zu verfolgen, oder dass sie vertragliche Vereinbarungen unbeabsichtigt unterschiedlich auslegen. Die möglichst glaubhafte Androhung, Vertragsbrüche zu sanktionieren, wird so ebenfalls Bestandteil des Vertrages. Eine besondere Herausforderung ist es daher, in Verträgen bestehende Informationsasymmetrien und die dadurch entstehenden Anreizprobleme zu berücksichtigen.80 Verträge sind aufgrund der Restriktionen bzw. Regeln, die sie enthalten, in der Lage, Handlungskomplexität zu reduzieren und unsichere Erwartungen zu stabilisieren – sie begründen sanktionierbare Erwartungen. In diesem Sinne spezifizieren sie die Auszahlungsmatrizen der Vertragspartner für verschiedene Umweltzustände und die mit den verschiedenen möglichen Ereignissen verbundenen (exogenen und endogenen) Risiken. Verträge unterscheiden sich bezüglich ihrer Anreizwirkungen und können so anhand der folgenden Kriterien in verschiedene Vertragstypen eingeteilt werden: anhand des Grades der Vollständigkeit und der Rationalität in vollständige und unvollständige Verträge und anhand der Art der Durchsetzung in explizite und implizite Verträge.81
74 75 76 77 78
79 80 81
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 43f. Vgl. Wieland (1997), S. 35. Vgl. Hart/Holmström (1987), S. 72. Vgl. Grossmann/Hart (1987), S. 2. Vgl. Tegtmeyer, J.C. (2005). Ein Handelsgeschäft stellt die Betriebstätigkeit eines Kaufmanns mit anderen Kaufmännern oder Individualpersonen dar, vgl. § 343 Abs. 1 HGB und § 344 HGB. Vgl. Llewellyn (1931/1932), S. 708. Vgl. Güllner (2000), S. 31, und Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 178f. Vgl. Güllner (2000), S. 31ff., mit Bezug auf Ripperger (1998), S. 28f., und Richter/Furubotn (1999), S. 157ff.
2.1 Grundlagen
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Nach dem Grad der Rationalität, der unterstellt wird, werden vollständige und unvollständige Verträge unterschieden. Vollständige Verträge sind explizit vereinbarte Verträge, die aus formalen (schriftlich festgehaltenen) oder informellen (mündlichen) Vereinbarungen bestehen.82 Sie sind in der Lage, ex ante alle Kontingenzen83 zu spezifizieren. Sie definieren die Auszahlungen für alle möglichen Umweltzustände und antizipieren jegliches Risiko, so dass sie sich problemlos durchsetzen lassen. Hierzu sind jedoch die idealtypischen Voraussetzungen einer vollkommenen Voraussicht und Rationalität der Akteure sowie symmetrischer Informationen nötig. Die Realität ist jedoch in der Regel komplex und das menschliche Verhalten unsicher. Daher ist es nicht oder nur zu prohibitiv hohen Kosten möglich, alle Kontingenzen zu erfassen und vollkommen zu regeln. In der Realität sind explizite Verträge grundsätzlich unvollständig.84 Unvollständige Verträge unterstellen eine beschränkte Rationalität der Akteure, Informationsmängel und asymmetrische private Informationen zwischen den Vertragsparteien. Infolgedessen ist es nicht möglich, vor allem wenn Transaktionen langfristig sind oder Leistung und Gegenleistung zeitlich auseinander fallen, alle Kontingenzen zu spezifizieren. Dies dennoch zu versuchen, wäre technisch kaum möglich und würde rasch den Vertragsnutzen übersteigen. Darüber hinaus ist es aufgrund unvollkommener Verifizierbarkeit schwierig, den Vertrag durch Dritte rechtlich durchzusetzen und für den Fall des Vertragsbruchs eine Entschädigung festzulegen. Daher werden Akteure versuchen, unvollständige Verträge gegen die Möglichkeiten abzusichern, dass die Vertragspartner die entstehenden Handlungsspielräume ausnutzen und opportunistisch handeln. In dem Fall erfolgt eine Streitschlichtung außergerichtlich durch so genannte „private orderings“, z.B. durch „Geiseln“, einer Tit-for-Tat-Strategie oder durch Reputation. Letztlich ist bei unvollständigen Verträgen die Identität der Vertragspartner, d.h. eine Reputation für das Einhalten vertraglicher Versprechungen, entscheidend.85 Nach der Art der Durchsetzung können implizite und explizite Verträge unterschieden werden. Explizite Verträge sind schriftlich oder mündlich spezifiziert, und ihre Vereinbarungen sind grundsätzlich auf Basis des Vertragsrechts gerichtlich durchsetzbar. Bei einer Nichterfüllung der Verträge können Entschädigungen gerichtlich durchgesetzt werden.86 Demgegenüber sind implizite Verträge zwar verbindlich und begründen gegenseitige Erwartungen der Vertragspartner, ihre Nichteinhaltung ist jedoch gerichtlich nicht sanktionierbar. Die Situation der Vertragspartner gleicht einem Gefangenendilemma: Der kooperative Akteur, der sich an das vertragliche Versprechen hält, trägt u.U. alleine die Konsequenzen des unkooperativen Verhaltens seines Vertragspartners. Als einzige Sanktionsmöglichkeit verbleibt, die vertragliche Beziehung abzubrechen. Ein impliziter Vertrag ist dementsprechend „selbstdurchsetzend“, wenn die Androhung des Vertragsabbruchs ausreicht, eine stabile
82 83
84 85 86
Vgl. Richter/Furubotn (1999), S. 160. „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist, sein kann, aber auch anders möglich ist.“ Vgl. Luhmann (1984a), S. 152. Vereinfacht gesprochen weist der Begriff der Kontingenz darauf hin, dass in komplexen Systemen unerfassbar viele Entwicklungen möglich sind, da Einflussfaktoren und Wechselwirkungen komplex sind. Jede erfolgte Handlung wäre grundsätzlich immer auch anders möglich gewesen. Siehe hierzu Abschnitt 3.1.2. Vgl. Güllner (2000), S. 32. Vgl. Güllner (2000), S. 32f. Vgl. Güllner (2000), S. 33.
22
2 Neue Institutionenökonomik
Beziehung zwischen den Vertragspartnern zu gewährleisten. Daher sind implizite Verträge nur dann wirksam, wenn ihre Einhaltung im kurz- oder langfristigen Interesse sämtlicher Vertragspartner liegt.87 Eine weitere Unterscheidung von Vertragsformen, die ebenfalls den folgenden Ansätzen der Neuen Institutionenökonomik zugrunde liegt, stammt von Macneil (1974, 1978). Er unterscheidet zwischen klassischen, neoklassischen und relationalen Verträgen (vgl. Darstellung 2.1):88 Vertragsform/-recht klassisch
neoklassisch
relational
Eigenschaften x Zeitpunktorientierung x vollständige Verträge x Identität der Vertragspartner spielt keine Rolle x Zeitraumorientierung (von vornherein begrenzte Vertragsdauer) x Verträge teilweise unvollständig x Identität der Vertragspartner bedeutsam x Zeitraumorientierung (auf Dauer angelegte Beziehungen) x unvollständige Verträge x Identität der Vertragspartner von großer Bedeutung
Regelung von Streitfällen x durch Gerichte anhand formalisierter Kriterien
Beispiel x einfache, spontane Kaufverträge, Spotmarkt
x durch Drittpartei (Schlichter)
x Franchising x Bauverträge x Rahmenverträge
x durch Vertragspartner selbst
x unbefristete Arbeitsverträge x Beziehungen zwischen den Sparten eines Unternehmens x Entwicklungskooperationen
Darst. 2.1: Unterschiedliche Vertragsformen nach Macneil Quelle: In Anlehnung an Macneil (1974), S. 738, und (1978), S. 902-905.
Die Neoklassik setzt den sog. klassischen (Standard-)Vertrag voraus. Dieser ist die Grundlage für einen einmaligen Kauf, ist vollständig formuliert und umfasst alle Kontingenzen der Transaktionen. Im Fall der Nichteinhaltung können Gerichte rasch und kostenlos eingreifen. Die Identität der Vertragspartner ist hier nicht wichtig, denn bei simultanem Tausch besteht keine Notwendigkeit für glaubwürdige (Selbst-)Verpflichtungen. Im wirklichen Leben sind Verträge, wie bereits erwähnt, jedoch unvollständig. Der so genannte neoklassische Vertrag regelt demgegenüber längerfristige Transaktionsbeziehungen. Da sich mit der Zeit Rahmenbedingungen ändern oder transaktionsspezifische Ab-
87 88
Vgl. Güllner (2000), S. 33. Zur folgenden Darlegung klassischer, neoklassischer und relationaler Verträge vgl. Williamson (1985), S. 68ff., und Richter/Furubotn (1999), S. 156ff. und 174f., mit Bezug auf Macneil (1974) und (1978).
2.1 Grundlagen
23
hängigkeiten ergeben können, tritt bei Streitigkeiten zwischen den Vertragspartnern eine unabhängige dritte Partei als Schlichter auf und interpretiert den Vertragstext im Hinblick auf die veränderten Rahmenbedingungen. Relationale Verträge gehen von der begrenzten Rationalität der Akteure und hohen Transaktionskosten aus. Sie sind meist von vornherein unvollständig formuliert, da es bei Vertragsabschluss nicht möglich ist, angemessene Entscheidungen für die Zukunft zu fällen, wenn die vertraglich relevanten Konstellationen unvorhersehbar sind. Auf diese Weise gibt es bei relationalen Verträgen die Möglichkeiten und auch das Interesse der Vertragspartner, opportunistisch zu handeln, d.h. den Vertrag zu brechen. Zusätzlich ist es unmöglich, die Durchsetzung relationaler Verträge zu garantierten, da Gerichte und auch sonstige Außenstehende nicht über die hierzu relevanten Informationen verfügen. Oft handelt es sich um langfristige Verträge, wie z.B. Arbeitsverträge. Viele vertragliche Regelungen sind hier informell und implizit und beruhen auf Konventionen, auf die beide Vertragspartner Bezug nehmen. Im Gegensatz zu neoklassischen Verträgen kann sich der Geist relationaler Verträge im Laufe der Zeit ändern. In dem Fall wird der Vertrag flexibel gehalten, indem die relevanten Fragen laufend neu verhandelt werden. Bei Streitigkeiten werden daher oft nicht nur der ursprüngliche Vertragstext herangezogen, sondern auch sämtliche formellen und informellen Regeln, welche der vertraglichen Beziehung mit zugrunde liegen. Die Vertragspartner ziehen ungerne vor Gericht, weil damit die vertrauensvolle Beziehung zerstört würde – die Rechtsverbindlichkeit ist ohnehin relativ schwach und unscharf. Umso wichtiger ist es hier, dass Konventionen, außerrechtliche Sanktionen oder „private Regelungen“ aufgebaut werden, damit der Vertrag selbstdurchsetzend wird. Die Identität der Partner ist folglich entscheidend. Mögliche private Regelungen können geschaffen werden, indem in Markennamen oder so genannte „Geisel“ zum Schutz der Vertragspartner vor Opportunismus investiert wird. Dabei ist es wichtig, dass Selbstverpflichtungen glaubwürdig sind und wechselseitig Vertrauen aufgebaut wird. Die Vertragstheorie beschäftigt sich mit dem Design effizienter Verträge, d.h. damit, wie sich Vereinbarungen formalisieren lassen, welche Anreizwirkungen aus unterschiedlichen Vertragsstrukturen resultieren und was die Grenzen einer möglichen Formalisierung sind.89 Diese Fragestellungen werden interpretiert als Optimierungsprobleme unter Nebenbedingungen in einer Welt, in der Friktionen wie Transaktionskosten und unvollkommene Informationen vorherrschen und Akteure dennoch versuchen, rational zu handeln. Die Effizienz eines Vertrages kann im Wesentlichen durch organisatorische Verbesserungen, die Senkung von Transaktionskosten, die Verbesserung vertraglicher Anreize und Maßnahmen zur Risikosenkung und Vertrauensstärkung erhöht werden.90 Die verschiedenen ökonomischen Vertragstheorien behandeln unterschiedliche Aspekte der oben angerissenen Problematik.91 Die Property-Rights-Theorie, die sich eng an die ökonomische Vertragstheorie anlehnt, analysiert Probleme in den Rahmenbedingungen von Unterneh-
89
90 91
Vgl. Richter/Furubotn (1999), S. 155, und Tegtmeyer (2005), S. 11, mit Bezug auf Williamson (1993a), S. 3, Hart/Holmström (1987), S. 57. Vgl. Richter/Furubotn (1999), S. 161. Vgl. Güllner (2000), S. 34. Für eine ausführliche bibliographische Übersicht über die ökonomischen Vertragstheorien siehe Furubotn/Richter (1999), S. 195ff.
24
2 Neue Institutionenökonomik
men und geht dabei von vollständigen Verträgen aus.92 Die Prinzipal-Agenten-Theorie untersucht asymmetrische Informationen zwischen den Vertragsparteien und sucht nach optimalen Organisationsformen („institutional arrangements“), welche dieses Problem beheben oder zumindest eingrenzen können. Sie nimmt dabei an, dass Verträge zwischen dem Prinzipal und einem Agenten rechtlich durchsetzbar sind.93 Die Theorien relationaler bzw. unvollständiger Verträge beschäftigen sich ebenfalls mit den Auswirkungen von Informationsasymmetrien, allerdings zwischen den Vertragsparteien auf der einen und Dritten (z.B. Gerichten) auf der anderen Seite. Sie konzentrieren sich auf opportunistisches Handeln nach Vertragsabschluss, das aus Abhängigkeiten aufgrund transaktionsspezifischer Investitionen und aus Durchsetzungsproblemen durch Gerichte oder andere dritte Parteien resultiert. Hier werden u.a. glaubwürdige Selbstverpflichtungen wichtig. Relationale Verträge werden im Rahmen der Theorie unvollständiger Verträge mittels formaler Optimierungsmodelle mikroökonomisch und im Rahmen der Theorie relationaler Verträge nichtmathematisch deskriptiv analysiert.94 Die Theorien selbstdurchsetzender oder impliziter Verträge befassen sich demgegenüber mit den Schwierigkeiten von Organisationen, die daraus erwachsen, dass die Vertragsvereinbarungen gerichtlich nicht oder zumindest nicht vollständig durchsetzbar sind.95 So können die Rechtsordnung selber unvollkommen oder wichtige Informationen durch die Gerichte nicht überprüfbar sein. Die einzige Möglichkeit, sich gegen die Vertragsverletzungen durch den Vertragspartner zu wehren, ist der Abbruch der Beziehungen. Ein Vertrag ist dann selbstdurchsetzend, wenn die Vorteile der Nichterfüllung des Vertrages geringer sind als die langfristigen Vorteile bei Vertragstreue, denn Menschen sind annahmegemäß strenge Nutzenmaximierer.96 Die Theorien selbstdurchsetzender oder impliziter Verträge weisen Überschneidungen zu den Theorien relationaler bzw. unvollständiger Verträge auf.97 Die Transaktionskostenökonomik von Williamson (1985) ist eng an die ökonomische Vertragstheorie angelehnt, vor allem an die Theorien relationaler bzw. unvollständiger Verträge.98 Sie untersucht die Frage, welche der drei Vertragstypen des klassischen, neoklassischen und relationalen Vertrages am besten zu bestimmten Eigenschaften von Transaktionen wie Häufigkeit, Unsicherheit und Spezifität der mit dem Vertrag verbundenen Investitionen passt.99 Die Art und Weise, wie Verträge verfasst und inwieweit sie erfüllt werden, hängt ab von den Transaktionskosten und den die Kosten beeinflussenden Vertragscharakteristika wie asymmetrische Informationen zwischen den Vertragsparteien und Dritten (z.B. Gerichte) und
92
93
94 95 96 97 98 99
Vgl. Wieland (1997), S. 36, mit Bezug auf Williamson (1990a), S. 66ff., und Richter/Furubotn (1999), S. 35f. Vgl. Richter/Furubotn (1999), S. 161 und 163, Güllner (2000), S. 34, und Wieland (1997), S. 36, mit Bezug auf Davies/North (1971), S. 6f. Vgl. Richter/Furubotn (1999), S. 36, 161 und 174, sowie Güllner (2000), S. 34. Vgl. Richter/Furubotn (1999), S. 161, und Wieland (1997), S. 36, mit Bezug auf Davies/North (1971), S. 6f. Vgl. Richter/Furubotn (1999), S. 171f., mit Bezug auf Telser (1980), S. 29, und Klein/Leffler (1981), S. 615. Vgl. Richter/Furubotn (1999), S. 161 und 174. Zur Transaktionskostentheorie siehe Abschnitt 2.2. Vgl. Abschnitt 2.2.3.
2.2 Marktliche Institutionen: Transaktionskostentheorie
25
die Höhe transaktionsspezifischer Investitionen. Mit den Transaktionskosten sind letztlich Informations- und Durchsetzungsprobleme verbunden.100 In den folgenden Abschnitten werden nun einzelne Ansätze der Neuen Institutionenökonomik dargestellt, soweit sie für die vorliegende Arbeit wichtig sind, d.h. sich mit den Fragen der Moral auf Unternehmensebene befassen. Diese analysieren sowohl marktliche als auch nichtmarktliche Institutionen des politischen Sektors (im Sinne des ökonomischen Imperialismus, vgl. Abschnitt 2.3).
2.2
Marktliche Institutionen: Transaktionskostentheorie
Die Analyse marktlicher Institutionen umfasst im Wesentlichen die Prinzipal-Agenten-Theorie und die Transaktionskostentheorie.101 Die Prinzipal-Agenten-Theorie betrachtet vertragliche Beziehungen in Ein-Perioden-Modellen und lässt damit langfristige Tauschbeziehungen außer Acht.102 Sie setzt voraus, dass rechtliche Regelungen zu nicht prohibitiven Kosten erzwungen werden können. Zudem definiert sie Markt und Unternehmen gleichermaßen als Organisationen (Netzwerke von Verträgen), die beide als Relationen zwischen Dingen interpretiert werden, sich also in dieser Hinsicht qualitativ nicht voneinander unterscheiden.103 Damit ist die Prinzipal-Agenten-Theorie jedoch nicht geeignet, die Frage nach der Moral auf Unternehmensebene zu behandeln. Es wird im Laufe der Darstellung des Messkosten- und Governancekostenansatzes deutlich werden, dass die Moral für Unternehmen dann relevant wird, wenn diese langfristige Beziehungen eingehen, in denen implizite, d.h. rechtlich nicht erzwingbare Verträge abgeschlossen werden. Und sie wird erst dann adäquat behandelbar, wenn Organisationssysteme und Marktsysteme voneinander abgegrenzt werden. Damit ist die Prinzipal-Agenten-Theorie für die vorliegende Arbeit nicht relevant, so dass sich die folgende Darstellung auf die Transaktionskostentheorie beschränkt. 2.2.1
Ursprünge und Grundlagen der Transaktionskostentheorie
Die moderne Transaktionskostenökonomik geht auf Ronald Coase (1937) und insbesondere seinen Aufsatz „The Nature of the Firm“ zurück. Der Begriff der „Transaktionskosten“ wurde jedoch erst später von Kenneth J. Arrow (1969, S. 48) als „cost of running the economic system“ geprägt. Coase (1937) beschäftigte sich mit der Frage, warum Unternehmen überhaupt existieren und wirtschaftliche Transaktionen nicht ausschließlich dezentral über Märkte koordiniert werden, sondern oft in Unternehmen zentral durch das Management oder einen Unternehmer. Die Antwort, die Coase (1937) darauf gibt, ist die Existenz von Marktbenutzungskosten.104
100 101 102 103
104
Vgl. Richter/Furubotn (1999), S. 161 und 174. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 42f. Vgl. Fama (1980), S. 304. Vgl. Wieland (1996), S. 135f., mit Bezug auf Alchian/Demsetz (1972), S. 777, Williamson (1993f), S. 128, und Jensen/Meckling (1976), S. 311. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 42.
26
2 Neue Institutionenökonomik
Coase (1937, S. 388) unterscheidet zwei Alternativen der Koordination von Produktion bzw. wirtschaftlichen Aktivitäten: den Markt, der über den Preismechanismus koordiniert wird, und das Unternehmen, in dem ein Unternehmer per Anweisungen bzw. Hierarchie koordiniert. Der wesentliche Grund, warum Unternehmen existieren, sind die Marktbenutzungskosten, wie z.B. Informationskosten zur Ermittlung von Produkt- oder Faktorpreisen oder die Kosten für die Verhandlung und den Abschluss von Verträgen für Markttransaktionen.105 In Unternehmen werden in der Regel weniger Verträge abgeschlossen als auf dem Markt. So ersetzt z.B. ein Arbeitsvertrag mit einem Mitarbeiter eine ganze Serie von Verträgen. Unternehmen haben dann, wenn langfristige Verträge wünschenswert sind, Vorteile gegenüber dem Preismechanismus, da Kosten und Risiken ständiger Neuverhandlungen der Verträge vermieden werden können. Denn je längerfristiger die Verträge sind, desto schwieriger und auch weniger wünschenswert ist es, alle Vertragsmodalitäten von Anfang an genau festzulegen. Die zentrale These lautet, dass die Marktbenutzung Kosten verursacht, die durch Gründung einer Organisation, in welcher per Autorität koordiniert wird, eingespart werden können.106 Aber warum werden dann nicht alle Transaktionen über Organisationen abgewickelt? Der Grund dafür sind Organisationskosten, die bei der Abwicklung von Transaktionen in Unternehmen entstehen.107 Marktbenutzungs- und Organisationskosten sind gleichermaßen Transaktionskosten. Sie umfassen Informations- und Kontrollkosten, die entstehen, wenn wechselseitige Leistungsbeziehungen angebahnt, vereinbart, abgewickelt, kontrolliert und angepasst werden.108 Die Unternehmensgröße bestimmt sich über die Anzahl der Transaktionen, die über dieses abgewickelt werden.109 Dabei nimmt Coase (1937, S. 394f.) an, dass mit zunehmender Unternehmensgröße die Organisationskosten überproportional ansteigen. In einer statischen Betrachtung ist die Unternehmensgröße dann optimal, wenn die zusätzlichen Organisationskosten der Koordination einer weiteren Transaktion durch das Unternehmen genauso hoch sind wie die Kosten der Abwicklung dieser Transaktion über den Markt oder ein anderes Unternehmen. Dynamisch betrachtet sinkt die Unternehmensgröße mit zunehmenden Organisationskosten und steigt mit abnehmenden Organisationskosten.110 Damit wird das grundlegende Prinzip der Transaktionskostentheorie deutlich: Die alternativen Institutionen Markt und Organisation existieren darum, weil sie angesichts unterschiedlicher Arten von Transaktionen ihre spezifischen Stärken und Schwächen haben und infolgedessen effizienter bzw. ineffizienter wirtschaftliche Trankaktionen koordinieren. Dabei geht die Transaktionskostenökonomik von unterschiedlichen Prämissen aus als die Neoklassik: Im Gegensatz zur Neoklassik, welche die vollständige Konkurrenz als wünschenswerten Zustand hinstellt, zeigt die Transaktionskostenökonomik, dass Unternehmen und Unternehmenswachstum gesamtwirtschaftlich positive Wohlfahrtseffekte haben können. Des Weiteren
105 106 107 108 109 110
Vgl. Coase (1937), S. 390f., mit Bezug auf Kaldor (1934). Vgl. Coase (1937), S. 391f. Vgl. Coase (1937), S. 394. Vgl. Walter-Busch (1996), S. 288. Vgl. Coase (1937), S. 393. Vgl. Coase (1937), S. 395 und 404f.
2.2 Marktliche Institutionen: Transaktionskostentheorie
27
geht die Neoklassik von vollständig homogenen Gütern und Produktionsfaktoren aus, in Folge derer keine langfristigen Vertragsbeziehungen nötig sind, sondern einzelne, kurzfristige Verträge auf Spotmärkten geschlossen werden. Damit analysiert sie auch keine Phänomene wie Reputation oder Vertrauen, die erst bei langfristigen Verträgen bedeutsam werden. Da überdies keine räumlichen Präferenzen existieren, entstehen auch keine Transportkosten. Demgegenüber analysiert die Transaktionskostenökonomik schwerpunktmäßig langfristige Verträge und berücksichtigt dabei u.a. Transportkosten.111 Die Neoklassik behandelt Unternehmen und Haushalte als monolithische Akteure, ohne sich für das Innere von Unternehmen, d.h. deren Strukturen, zu interessieren. Hiervon grenzt sich insbesondere der Governancekostenansatz (vgl. Abschnitt 2.2.3) ab, der sich u.a. mit innerbetrieblichen Entscheidungsfindungsprozessen auseinandersetzt.112 Ebenso nimmt die Neoklassik an, dass alle Vertragspartner kostenlos über vollständige Informationen verfügen und sie diese unmittelbar und vollständig verarbeiten können, d.h. dass sie unter Sicherheit entscheiden. Verträge sind vollständig, so dass Sicherheit bezüglich der Verhaltensweisen der Vertragspartner besteht. Im Gegensatz hierzu geht die Transaktionskostenökonomik von der Existenz von Transaktionskosten aus und fokussiert die Kosten, die bei der Anpassung und Neuverhandlung von Verträgen entstehen. Da in der Neoklassik die Rechts- und Eigentumsverhältnisse an Gütern und Produktionsfaktoren eindeutig definiert sind, gibt es keine Möglichkeit für opportunistisches Handeln. Die Fragen nach einer Absicherung gegen Täuschungsversuche durch rechtliche Rahmenbedingungen oder durch organisationsinterne Mechanismen und nach den Problemen des Verlusts an Glaubwürdigkeit in Folge von Opportunismus stellen sich somit nicht. In der Transaktionskostenökonomik stehen hingegen genau diese Themen im Mittelpunkt.113 Im Folgenden werden zwei wesentliche Ansätze der Transaktionskostentheorie dargestellt, die beide, ebenso wie Coase (1937), davon ausgehen, dass das Unternehmen und der Markt alternative Institutionen sind, in ihren Analysen jedoch unterschiedlich vorgehen: Der Messkostenansatz von Alchian/Demsetz (1972) setzt sich mit den Problemen der Messung des Wertgrenzprodukts einzelner Teamleistungen und mit der Möglichkeit auseinander, einen Überwacher zu benennen, um die Kosten aus Drückebergerei zu senken. Der Governancekostenansatz, der auf Williamson (1967) zurückgeht, stellt die Frage, welche Arten von Transaktionen effizienter durch Unternehmen oder durch den Markt koordiniert werden können.114 2.2.2
Messkostenansatz
Das Verdienst von Coase (1937) war es, auf die Koordinationskosten des Marktes und der Organisation aufmerksam gemacht zu haben. Der Messkostenansatz untersucht in erster Linie die Kosten, die durch die Messung des Inputs und Outputs ökonomischer Transaktionen entstehen. Dabei sind die Ansätze, die unter den Messkostenansatz subsumiert werden, relativ vielfältig, können aber als komplementär betrachtet werden. Sie befassen sich mit Mess-
111 112 113 114
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 48. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 50. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 48ff. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 43.
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2 Neue Institutionenökonomik
kosten, die entstehen, wenn in Teams produziert wird, wenn ein Agent die Interessen des Prinzipals vertritt oder wenn Messaktivitäten kumulativ durchgeführt werden.115 Damit kann die Prinzipal-Agenten-Theorie auch zu den Messkostenansätzen gerechnet werden. Sie wird hier jedoch, wie oben begründet (vgl. Abschnitt 2.2), nicht weiter betrachtet. Die folgende Darstellung befasst sich mit Teamprozessen, da sie für die Frage der Moral von Unternehmen zentral sind. Ein wegweisender Beitrag zur Messkostentheorie stammt von Alchian/Demsetz (1972). Sie erklären Unternehmen als Netzwerke von Verträgen. Anstatt, wie die Standardökonomik dies tut, von der Gewinnmaximierung als Unternehmensziel auszugehen, gehen sie von einer inhaltlich offenen Nutzenfunktion aus.116 Damit ermöglichen es Alchian/Demsetz (1972), die Bezugseinheit von Unternehmen von Sachbeziehungen zu Personenbeziehungen zu verändern, einen methodologischen Individualismus zugrunde zu legen und das Unternehmen als Team zu interpretieren. Faktorbesitzer schließen sich dann per Vertrag zu Teams zusammen, wenn sie mittels Kooperation und Kombination ihrer Produktionsvorteile eine höhere Faktorentlohnung erreichen können. Dies kann grundsätzlich über Unternehmen oder Märkte erreicht werden.117 Teamproduktion bedeutet, dass erstens in der Produktion verschiedene Produktionsfaktoren eingesetzt werden und zweitens die spezifischen Outputs der jeweiligen Faktoren nicht getrennt voneinander gemessen werden können, da die Grenzproduktivitäten der Faktoren von der Menge der anderen eingesetzten Faktoren abhängig sind. Drittens geht sie davon aus, dass die Faktoren im Besitz unterschiedlicher Akteure sind.118 Um die Teammitglieder adäquat zu entlohnen, entsteht nun die Notwendigkeit, den Input und Output der Teammitglieder zu messen und zu kontrollieren. Dies verursacht Messkosten, so dass eine vollkommene Kontrolle nicht oder nur zu prohibitiv hohen Kosten möglich ist. Daraus entsteht ein „Drückebergerproblem“: Die Akteure haben einen Anreiz, den eigenen Einsatz auf Kosten der Anderen zu drosseln („shirking“) bzw. sich vor der Arbeit zu drücken. Dies ist so weit individuell rational, bis die Grenzkosten der Entdeckung der Drückebergerei dem Grenznutzen des angenehmeren Arbeitens entsprechen. Daraus resultiert eine Gefangenendilemma-Situation: Es entstehen negative externe Kosten im Sinne eines Produktivitätsverlusts, den das ganze Team gemeinsam trägt. Da dies für alle Akteure individuell rational ist, kommt ein Prozess kollektiver Selbstschädigung in Gang, obwohl es für das gesamte Team insgesamt (sozial) rational wäre, auf Drückebergerei zu verzichten.119 Teams werden nun versuchen, die Messkosten wirtschaftlicher Aktivitäten zu ökonomisieren und damit die Produktivität der Teamproduktion zu verbessern. Dabei erscheint es sinnvoll, dass sich ein wirtschaftlicher Akteur auf die Überwachung des Inputs und Outputs der anderen Teammitglieder spezialisiert. Der Überwacher erfüllt vielfältige Funktionen: Er sanktioniert die Müßiggänger, indem er sie entlässt oder Einkommenseinbußen verhängt. Er ist auch in der Lage, die Verträge einzelner Teammitglieder zu verändern. Er kann das Team verlas115 116 117 118 119
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 69. Vgl. Alchian (1969), S. 244. Vgl. Wieland (1997), S. 38, mit Bezug auf Alchian/Demsetz (1972), S. 777. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 70. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 70ff.
2.2 Marktliche Institutionen: Transaktionskostentheorie
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sen, ohne es automatisch aufzulösen, und er verfügt über die Übertragungsrechte an seiner eigenen Position und kann sie so auch an andere Wirtschaftssubjekte verkaufen. Unter diesen Voraussetzungen wird für die Teammitglieder aus individueller Sicht ein hoher Faktoreinsatz optimal. Wenn die Kosten des Überwachers geringer sind als der dadurch erreichte Effizienzgewinn, erhöht sich die gesamte Produktivität des Teams. Das Problem, wer dann den Arbeitseinsatz des Überwachers überwacht, kann dadurch gelöst werden, dass dieser das so genannte Residualeinkommen erhält. Auf diese Weise hat er keinen Anreiz, seinen Faktoreinsatz ineffizient zu reduzieren, da damit auch sein eigenes Einkommen direkt sinken würde. Ebenso kann er seine eigene Glaubwürdigkeit, engagiert zu arbeiten, dadurch gegenüber dem Team demonstrieren, dass er beispielsweise einen ausreichend hohen Betrag seines Vermögens an das Unternehmen bindet. Letztlich fungiert der Überwacher damit als Unternehmer.120 Hieraus wird eine zentrale Erkenntnis des Messkostenansatzes deutlich: Unternehmen existieren dann, wenn durch Teamproduktion die Produktivität der einzelnen Faktoreinsätze gesteigert wird, und es gleichzeitig gelingt, Opportunismus effizient zu kontrollieren. Denn Unternehmen können mit Informations- und Drückebergerproblemen besser umgehen als der Markt.121 Damit deutet sich nach Meinung Wielands (1997, S. 38f.) bereits an, dass Moral ein Problem ist, das Unternehmen, welche Kooperationen hierarchisch koordinieren, inhärent ist. Denn die vollständige Messung und Kontrolle der Beiträge der Teammitglieder sind technisch nicht machbar. Ökonomisch würde der Versuch einer vollständigen Kontrolle prohibitiv hohe Kosten verursachen. Damit kann Moral aus Unternehmenssicht als funktionales Äquivalent für Technik und Wirtschaft interpretiert werden. Denn in einer Organisation, die vollständig moralisch integriert ist, halten alle Mitarbeiter ihre Versprechen, es gibt es keine Drückebergerei und Mess- und Kontrollkosten fallen nicht an. Könnte eine solche Unternehmenskultur kostenlos gebildet werden, würden alle Kooperationsrenten ungekürzt anfallen und die Faktorentlohnung würde maximiert. In einer Organisation, die demgegenüber moralisch völlig desintegriert ist, steigen die Mess- und Kontrollkosten ins Unermessliche, so dass Kooperationen unmöglich werden.122 Deshalb empfehlen Alchian/Demsetz (1972) zwei Strategien: den Aufbau einer Reputation und eines „moral code of conduct“. Denn Teammitglieder präferieren aufgrund höherer Kooperationsrenten ein Team, in dem es keinen Opportunismus gibt. Sind Verträge unvollständig, wird eine Reputation für Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit, Fairness etc. zu einem wirtschaftlichen Gut. Vertrauenswürdigkeit kann ökonomisch übersetzt werden als der auf die Gegenwart abdiskontierte Wert des zukünftigen Einkommens durch eine Reputation. Es ist somit ökonomisch wichtig, zuverlässige Informationen über die moralische Integrität eines Kooperationspartners zu haben. Ein „moral code of conduct“ hat ökonomisch die Funktion, Teamgeist und Loyalität im Unternehmen zu stärken. Dabei haben nach Alchian/ Demsetz (1972, S. 791) gesellschaftliche Werte, wie z.B. die Zehn Gebote der Bibel, dieselbe Wirkung wie unternehmerische moralische Standards.123
120 121 122 123
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 70ff. Vgl. Wieland (1997), S. 39, mit Bezug auf Alchian/Demsetz (1972), S. 783. Vgl. Wieland (1997), S. 38ff. Vgl. Wieland (1997), S. 40f.
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2 Neue Institutionenökonomik
Allerdings sehen Alchian und Demsetz (1972), so die Meinung Wielands (1997, S. 41f.), Moral als einen wirtschafts- und unternehmensexternen Faktor, als einen Gegenbegriff zur Ökonomie. Moral vermag zwar wirtschaftliche Transaktionen zu sichern, kann aber durch das Unternehmen, das rein wirtschaftlich agiert, nicht beeinflusst werden.124 In späteren Veröffentlichungen untersuchten Alchian/Woodward (1987, 1988) verschiedene Unternehmensformen in Hinblick auf die folgenden Fragestellungen: wie erstens Ressourcen für definierte Aufgaben alloziert werden können, wie zweitens der effiziente Ressourceneinsatz überwacht werden kann und drittens die Teammitglieder kontrolliert werden können.125 Dabei diagnostiziert Wieland (1997, S. 46) ein gesteigertes Interesse der Autoren an Fragen der Moral für Unternehmen, wenngleich seiner Meinung nach diese Problematik auch in diesem Ansatz noch weitgehend unerforscht bleibt.126 Schließen Akteure langfristige Verträge ab, die mit spezifischen Investitionen einhergehen, dann schränken sie ihre zukünftigen Handlungsmöglichkeiten ein und machen sich von ihren Vertragspartnern abhängig. Gleichzeitig sind sie nicht vor kontingenten Entwicklungen, insbesondere vor Opportunismus, geschützt. Dabei kann Opportunismus beabsichtigt in Form von „adverse selection“127 vor Vertragsabschluss sowie „moral hazard“128, „holdup“129 und Ausbeutung von „Quasirenten“130 nach Vertragsabschluss auftreten. Ebenso kann Opportunismus unbeabsichtigt aus unterschiedlichen Wahrnehmungen aufgrund situativer Komplexität und Unsicherheit resultieren.131 Moral kommt nun auf folgende Art und Weise mit ins Spiel: Wirtschaftliche Kooperationen sind potenziell komplex, und es bestehen Unsicherheiten. Dadurch wird es möglich, dass sich
124 125 126 127
128
129
130
131
Vgl. Alchian/Demsetz (1972). Vgl. Alchian/Woodward (1987), S. 112 und 135. Vgl. auch Alchian/Woodward (1987), S. 129, und Alchian/Woodward (1988), S. 77. „Adverse selection“ bedeutet eine negative Auslese und bezeichnet den folgenden Vorgang: Vor Vertragsabschluss besteht Informationsasymmetrie über die Qualität einer vertraglich vereinbarten Leistung oder den Willen des Vertragspartners, den Vertrag zu erfüllen. Ein klassisches Beispiel dafür ist der Arbeitsvertrag. Ein Arbeitgeber wird aufgrund dieser Informationsasymmetrie einen „Risikoabschlag“ einkalkulieren und ein niedrigeres Gehalt vertraglich vereinbaren, als er zu zahlen bereit wäre, wenn er Sicherheit über den zukünftigen Arbeitsansatz und die Kompetenzen seines potenziellen Arbeitnehmers hätte. Ehrliche Arbeitnehmer fühlen sich jedoch in dem Fall unterbezahlt und sind u.U. nicht mehr bereit, den Vertrag abzuschließen. Der Arbeitgeber müsste nun seinen Risikoabschlag erhöhen, was die „Qualität“ seiner Arbeitnehmer noch weiter verschlechtern wird. „Moral hazard“ tritt dann auf, wenn nach Vertragsabschluss unvollständige Informationen über das Verhalten eines Vertragspartners bestehen und dieser das zu seinen Gunsten ausnutzt. So kann beispielsweise ein Arbeitnehmer, wenn er durch den Arbeitgeber nicht vollständig überwacht werden kann, während seiner Arbeitszeit nicht vollen Arbeitseinsatz bringen, da der Arbeitgeber nicht beurteilen kann, wie aufwändig die Erfüllung der Aufgaben des Arbeitnehmers tatsächlich sind. „Holdup“ bezeichnet einen Ausbeutungsversuch, der dann möglich wird, wenn sich ein Akteur durch spezifische Investitionen vom seinem Vertragspartner abhängig macht. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 180. Quasirenten beschreiben die Differenz eines Faktoreinsatzwertes zwischen seiner erstbesten Verwendung und einer zweitbesten Verwendungsmöglichkeit. Spezifische Faktoren verfügen über hohe Quasirenten. Vgl. Erlei /Leschke/Sauerland (1999), S. 180. Vgl. Wieland (1997), S. 46, mit Bezug auf Alchian/Woodward (1988), S. 67.
2.2 Marktliche Institutionen: Transaktionskostentheorie
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Akteure opportunistisch verhalten. Dies zu verhindern, ist weder technisch machbar, noch rechtlich durchsetzbar, noch ökonomisch bezahlbar. Moral wird darum umso wichtiger, x
je spezifischer die Investitionen sind und Kooperation darum leichter ausgebeutet werden können,
x
je ökonomisch und technisch ineffizienter Teamarbeit überwacht und kontrolliert werden kann,
x
je plastischer132 Ressourcen und Investitionen sind und
x
je ausgeprägter die moralischen Präferenzen der Vertragspartner sind.133
Letztlich haben, so Wieland (1997, S. 47), Alchian/Woodward (1987, 1988) zwar die ökonomische Bedeutung der Moral erkannt, können sie jedoch nicht adäquat verarbeiten.134 2.2.3
Governancekostenansatz
Eine besondere Bedeutung für die vorliegende Arbeit, insbesondere für die Governanceethik135, hat der Governancekostenansatz. Dieser wird von Williamson (z.B. 1990b, 1991b, 1993e) als Forschungsprogramm einer Neuen Organisationsökonomik bezeichnet. Er geht ebenfalls davon aus, dass Unternehmen Netzwerke von Verträgen zwischen Akteuren sind und definiert Transaktionen als Basiseinheit seiner Analysen. Eine Transaktion umfasst die i.d.R. vertraglich vereinbarte Aneignung und Übertragung von Verfügungsrechten zwischen wirtschaftlichen Akteuren.136 Die Koordination durch Hierarchie und die Beziehung zwischen Prinzipalen und Agenten schaffen Probleme, weil die Beschaffung und Verarbeitung von Informationen Kosten verursacht. Infolgedessen sind Akteure nur begrenzt rational, d.h. sie verfügen über begrenzte kognitive Kapazitäten. Trotzdem verhalten sie sich nicht irrational, sondern versuchen zumindest ihren Intentionen nach, sich im Sinne einer „prozessualen Rationalität“ rational zu verhalten. Verträge sind nun aus Kostengründen grundsätzlich unvollständig und damit auch nicht rechtlich erzwingbar. Dies führt dazu, dass Akteure Vertragslücken ausnutzen und sich aufgrund ihrer menschlichen Natur137 opportunistisch verhalten, was für die Beteiligten Kosten verursacht. Dies kann zumindest teilweise durch institutionelle Vorkehrungen verhindert werden, und auch „weiche Faktoren“ wie Würde, Vertrauen, Fairness, Moral etc. können diese Kosten eindämmen.138
132
133 134 135 136 137
138
Plastizität umfasst den Spielraum, innerhalb dessen eine Entscheidung noch als legitim definiert werden kann. Eine hohe Plastizität setzt Anreize für Opportunismus, bei einer starren ist er ausgeschlossen. Vgl. Wieland (1997), S. 47, FN 38, mit Bezug auf Alchian/Woodward (1987), S. 126. Vgl. Wieland (1997), S. 46f. Siehe hierzu ausführlicher Abschnitt 7.1. Vgl. Kapitel 7. Vgl. Wieland (1997), S. 35 und 47, sowie Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 175. Williamson (1986), S. 168, definiert Opportunismus als „basic condition of human nature“. Vgl. Wieland (1997), S. 52, FN58. Vgl. Wieland (1997), S. 36 und 48, mit Bezug auf Moe (1984), S. 739; Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 178, und Walter-Busch (1996), S. 288f.
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2 Neue Institutionenökonomik
Die Kosten, welche durch potenzielles opportunistisches Handeln entstehen, sind durch Drückebergertum verursachte Messkosten (Messkostenansatz). Aus diesen Messkosten entstehen wiederum Agenturkosten (Prinzipal-Agenten-Theorie). Der Governancekostenansatz führt nun eine weitere Kategorie an Transaktionskosten hinzu: die Governancekosten. Diese entstehen, wenn Akteure die Abhängigkeiten ihrer Vertragspartner aufgrund spezifischer Investitionen und unvollständiger Informationen opportunistisch ausnutzen.139 Williamson (1981a) unterscheidet nun wirtschaftliche Transaktionen anhand drei wesentlicher Dimensionen: x
ihre Unsicherheit (Ungewissheit und Komplexität),
x
ihre Häufigkeit und
x
die für die Transaktion erforderlichen spezifischen Investitionen in Human- und Sachkapital.140
Die Unsicherheit bezeichnet die Tatsache, dass zukünftige Verhaltensweisen und Ereignisse in aller Regel unsicher sind. Investitionen in Produktionsfaktoren sind dann spezifisch, wenn die Faktoren nicht flexibel verwendet werden können, sondern ihr Einsatz in einer zweitbesten Verwendungsmöglichkeit Gewinneinbußen („Quasirenten“) verursacht. Dadurch machen sich Investoren von den Faktorbesitzern abhängig und ermöglichen Ausbeutungsversuche („holdup“), was die Rendite solcher Investitionen stark vermindert.141 Das Ziel des Governancekostenansatzes ist es nun zu erklären, mit welchen organisatorischen Arrangements und Vertragsklauseln Investitionen, durch die sich Akteure aneinander binden, kosteneffizient abgesichert werden können. Als alternative Koordinationsformen vergleicht er die Institutionen Markt, Organisation und Hybride, die zwischen diesen beiden eine Zwischenstellung einnehmen.142 Williamson (1993c) modelliert das Unternehmen als Governancestruktur, d.h. als von (spezifischen) Investitionen begleitete vertragliche Netzwerke, die über Hierarchie koordiniert werden. Während auf dem Markt Leistungen ex post auf Nachfrage zugerechnet werden, beruhen Organisationen und damit auch Unternehmen auf Regeln, welche die Leistungserstellung koordinieren, denen ex ante zugestimmt wird und deren Einhaltung ex post problematisch ist.143 Die Transaktionskosten, welche im Governancekostenansatz minimiert werden, sind die Kosten der Markt- und der Organisationsbenutzung. Die Kosten der Marktbenutzung entstehen insbesondere dadurch, dass zu wenig in spezifische Faktoren investiert wird oder dass Akteure während der Nach- und Neuverhandlung unvollständiger Verträge versuchen, den abhängigen Vertragspartner auszubeuten („holdup“).144
139 140
141 142
143 144
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 176. Vgl. Walter-Busch (1996), S. 288f. Verschiedene Formen von Faktorspezifität sind die Standortspezifität, Sachkapitalspezifität, Humankapitalspezifität, Widmungsspezifität, Markennamenkapital oder temporäre Spezifität. Vgl. hierzu Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 180f. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 180. Vgl. Walter-Busch (1996), S. 289, mit Bezug auf Williamson (1981a) und Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 175. Vgl. Wieland (1997), S. 48f. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 182f.
2.2 Marktliche Institutionen: Transaktionskostentheorie
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Das Ausbeutungsproblem kann nun durch eine vertikale Integration, d.h. durch eine Abwicklung der betreffenden Transaktion innerhalb eines Unternehmens, vermieden werden. Allerdings entstehen in Unternehmen Kosten der Organisationsbenutzung. Diese gehen auf Verhaltensänderungen zurück, die Akteure nach einer vertikalen Integration an den Tag legen. Dies hat eine Vielzahl von Gründen: Die Wartung und Pflege des unternehmerischen Sachkapitals ist nur schwer messbar, aber gleichzeitig für den Unternehmensgewinn wichtig. Dies führt dazu, dass tendenziell zu wenig in Wartung investiert wird. Es ist zudem schwierig, Kosten und Leistungen eines Unternehmens zu ermitteln, woraus wiederum Bewertungsspielräume resultieren, die missbraucht werden können. Auch die Zurechnung innovativer Leistungen ist nur schwer möglich, und das Management neigt dazu, zu häufig in das Unternehmensgeschehen einzugreifen. Schließlich können Kooperationen zwischen Abteilungen dazu führen, dass Gefälligkeiten ausgetauscht werden und bei schlechter Leistung zuviel Nachsicht geübt wird. Diese Kostenarten führen dazu, dass Leistungsanreize im Unternehmen abgeschwächt, Entscheidungsspielräume strategisch missbraucht und die Entscheidungsfindungsprozesse politisiert werden.145 Die Wahl der geeigneten Organisationsform bzw. Governancestruktur, über die wirtschaftliche Transaktionen abgewickelt werden sollen, bestimmt sich nach deren Effizienz, d.h. dem Kriterium der Gewinnmaximierung bzw. Kostenminimierung.146 Hier weist Williamson (1981a und 1991a, S. 281) nach: Je geringer die Spezifität, Unsicherheit und Komplexität einer Transaktion sind, desto effizienter wird die Abwicklung von Transaktionen über den Markt. Je höher auf der anderen Seite die Spezifität, Unsicherheit und Komplexität einer Transaktion sind, desto effizienter wird die Abwicklung über Hierarchien. Hybride bilden dabei die Mittelstellung.147 Diesen drei Governancestrukturen (Markt, Hybride und Organisationen) ordnet Williamson (1991a, S. 271f.) die drei unterschiedliche Vertragsformen des klassischen, neoklassischen und relationalen Vertragsrechts zu.148 Das klassische Vertragsrecht gilt auf dem Markt. Es umfasst die Fälle, in denen rechtliche Ansprüche exakt spezifizierbar und vollständig durchsetzbar sind, die Identität der Akteure infolgedessen keine Rolle spielt, sondern ihre Autonomie wichtig ist. Im Fall der Hybride ist das neoklassische Vertragsrecht einschlägig. Hier sind die Vertragspartner nicht autonom, sondern wechselseitig voneinander abhängig. Es zählt ihre Identität, da die Vertragserfüllung durch Dritte nicht vollständig sichergestellt werden kann und daher unsicher ist. Für Organisationen trifft schließlich das relationale Vertragsrecht zu. Auch hier gibt es Abhängigkeiten zwischen den Akteuren. Streitigkeiten zwischen den Vertragspartnern können jedoch nicht durch Dritte, sondern nur intern durch die Organisation selbst gelöst werden. Hier ist die Identität der Vertragspartner sehr wichtig.149 Bei Hybriden und Organisationen ist die Wirksamkeit rechtlicher Rahmenbedingungen für die Durchsetzung neoklassischer und relationaler Verträge unmöglich oder ineffizient, so dass hier von „Rechtsversagen“ gesprochen werden kann. Daher brauchen diese Institutionen funk-
145 146 147 148 149
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 184ff. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 188, und Wieland (1997), S. 48. Vgl. Walter-Busch (1996), S. 289, Wieland (1997), S. 52f., und Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 190. Zu diesen Vertragstypen siehe Abschnitt 2.1.4. Vgl. Wieland (1997), S. 53, mit Bezug auf Williamson (1991a), S. 274.
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tionale Alternativen für das unzureichende Rechtssystem, mit denen sie sich vor Opportunismus schützen können. Organisationen und Hybride können mit diesem Problem umgehen, nicht jedoch das Preissystem des Marktes. Daher spricht Williamson (1985, S. 32) an Organisationen und Hybride eine Empfehlung in Form des „organisatorischen Imperativs“ aus:150 „Organize transactions so as to economize on bounded rationality while simultaneously safeguarding them against the hazards of opportunism.“ 151
Unternehmen können ihre Gewinne dadurch erhöhen, dass sie Schutzmaßnahmen ergreifen, mit denen sie sich gegen opportunistisches Handeln, d.h. das Brechen vertraglicher Versprechen seitens ihrer Vertragspartner, abzusichern versuchen. So könnten beispielsweise Vertragsstrafen vereinbart werden und/oder die Bereitschaft signalisiert werden, Konflikte außergerichtlich und gütlich lösen und die Vertragsbeziehung langfristig aufrechterhalten zu wollen. Eine solche Bereitschaft bzw. Präferenz kann ökonomisch übersetzt werden als „Unternehmensidentität“.152 Das Problem einer benötigten Identität im Fall von Organisationen (und Hybriden) macht deutlich, dass die Faktoren Moral, Reputation, Vertrauen, personale Integrität und Würde bei Williamson (1984, S. 177f., und 1985, S. 62) eine große Rolle spielen.153 Einerseits wird bei Williamson (1985, S. 62) deutlich, dass Moral für Unternehmen eine wichtige ökonomische Rolle spielt. Andererseits schließt er durch die Verhaltensannahme, dass Akteure grundsätzlich opportunistisch handeln, die Möglichkeit moralischen Handelns in Unternehmen kategorisch aus. Daher fokussiert der oben genannte organisatorische Imperativ die Kosten für wirksame Schutzmaßnahmen gegen Opportunismus und sieht nicht die Möglichkeit, wie Wieland (1997, S. 56f.) sie identifiziert, die Moral in Unternehmen als einen produktiven Faktor gezielt zu fördern.154 Unternehmen können Moral lediglich als externen (modellexogenen) Faktor nutzen, welcher die unternehmerische Effizienz verbessert. Moralische Werte befinden sind nach Meinung Williamsons (1993b, S. 476 und 483f.) auf der Ebene des Gesellschaftsvertrages bzw. der politischen Rahmenordnung („institutional trust“), auf welcher die moralischen Werte der Gesellschaft festgeschrieben sind, oder auf der persönlichen Ebene in Form der Tugendethik („personal trust“).155 Gründe dafür, dass die Moral im Governancekostenansatz unternehmensexogen verortet ist, sind u.a. die im Folgenden dargestellten Begriffsfassungen von Vertrauen und Würde. In wirtschaftlichen Beziehungen, egal in welcher Form (Unternehmen oder Markt), wird streng kalkulatorisch-rational gehandelt. Moralische Qualitäten wie Vertrauen sind grundsätzlich nicht kalkuliert und nur schwierig operationalisierbar. Kalkulierendes Vertrauen könnte definiert werden als der erwartete Ertrag aus dem Risiko, dass ein Akteur seinem Kooperationspartner moralische Präferenzen zutraut und sich darum von diesem abhängig macht. Dies sieht Williamson (1993b, S. 463) jedoch als Kategorienfehler, der dadurch entsteht, dass
150 151 152 153 154 155
Vgl. Wieland (1997), S. 54f. Wieland (1997), S. 55. Vgl. Wieland (1997), S. 54f., mit Bezug auf Williamson (1985), S. 33f. und 62. Vgl. Wieland (1997), S. 50 und 55. Zur Reformulierung des Governancekostenansatzes durch Wieland siehe Abschnitt 7.1. Vgl. Wieland (1997), S. 55f., mit Bezug auf Williamson (1985), S. 32 und 391, Williamson (1993f), S. 112, und (1989), S. 178.
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Moral in Risikobegriffe und dann in Ökonomie übersetzt wird. Seiner Meinung nach sind Moral und Ökonomie strikte Gegensätze:156 „[C]alculative trust is a contradiction in terms.“157
Als einzige valide Orte für Vertrauen sieht Williamson (1993b, S. 476 und 483f.), wie bereits erwähnt, die politischen Rahmenbedingungen („institutional trust“) und die Tugendethik der Akteure („personal trust“). In der Neuen Organisationsökonomik haben neben dem Vertrauen auch die moralischen Kategorien der Würde und Fairness als Produkte persönlicher Beziehungen eine gewisse Relevanz. Würde hat nach Williamson zwei Aspekte innerhalb von Teambeziehungen. Der erste betrifft Mechanismen, mit denen Fehlverhalten des Managements gegenüber den Mitgliedern des Teams aufgedeckt werden kann. Der zweite Aspekt basiert auf dem Kategorischen Imperativ von Kant, der besagt, dass kein Mensch als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck an sich zu behandeln sei.158 Damit Kooperationen in Teams möglich werden, ist nach Williamson (1985, S. 271) der Kantische Imperativ lokal anzuwenden. Dabei befindet sich Würde auf einer höheren Ebene als die rationale Kalkulation der wirtschaftlichen Ebene. Sie erfordert eine „Bildung des Herzens“ der Individuen und ermöglicht so eine höhere Form des sozialen Umgangs. Auch hier wird deutlich, dass die wirtschaftliche Entscheidungslogik auf einer niederen Ebene nicht zur moralischen Entscheidungslogik auf einer oberen Ebene in Bezug gebracht werden kann, ohne dass eine Ebene der anderen übergeordnet würde.159 Moral, als unternehmensexterner Faktor auf individueller Ebene oder verankert in der politischen Rahmenordnung, wird von Unternehmen zwar privat genutzt, aber ausschließlich sozial generiert.160 Dies ist die zentrale Idee in Williamsons „Ökonomik der Atmosphäre“.161 Diese versucht, „weiche Phänomene“ wie Vertrauen, Würde, Identität, Integrität etc. zu fassen. Moral wird für Unternehmen aufgrund von Organisationsversagen ökonomisch relevant und beeinflusst die Tiefe der Arbeitsteilung und die Möglichkeiten, Faktoreinsätze zu überwachen und ihre Beiträge zum Teamoutput zu messen.162 Denn der Versuch, die Arbeit der Teammitglieder vollständig zu überwachen, würde dysfunktionale Effekte erzielen. In Unternehmen als Netzwerken persönlicher Beziehungen sind persönliche Werte untrennbar mit der Erbringung der Teamleistung verbunden. So kann z.B. Arbeitseifer nicht separat gekauft und nur schwerlich gemessen werden. Teammitglieder wollen nicht einfach „benutzt“ werden, sondern ihre Würde auch innerhalb des Unternehmens geachtet wissen. Wenn ein Prinzipal nun in Überwachungsmechanismen investiert, werden 156 157 158
159 160
161
162
Vgl. Wieland (1997), S. 57f., mit Bezug auf Williamson (1986), S. 98, (1985), S. 406, und (1993b), S. 483f. Williamson (1993b), S. 463. Vgl. Wieland (1997), S. 58, mit Bezug auf Williamson (1985), S. 44 und 271, sowie (1984), S. 177f und 187ff. Vgl. Wieland (1997), S. 59. Vgl. Wieland (1997), S. 60, mit Bezug auf Williamson (1984), S. 178, (1993d), S. 98, (1985), S. 23, und (1991a), S. 275. Vgl. Wieland (1997), S. 60, mit Bezug auf Williamson (1993b), S. 480. Für eine erste Übersicht siehe Spangenberg (1989). Vgl. Wieland (1997), S. 60f., mit Bezug auf Williamson (1975), S. 58, 79 und 257, sowie (1993c), S. 105.
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2 Neue Institutionenökonomik
die Agenten ihrerseits in Verschleierungsmechanismen investieren, sobald deren „zone of indifference“ oder „zone of acceptance“163 überschritten wird. Die Folge ist, dass das Team ineffizienter wird. Daher ist es aus Kostengründen wichtig, dass in Unternehmen eine „less calculative exchange atmosphere“164 herrscht, die von Seiten der Teammitglieder moralisch bewertet wird. Erst atmosphärische Parameter ermöglichen „weiche“ Verträge, die eine Identität der Vertragspartner erfordern.165 Auch wenn die Ökonomik der Atmosphäre die Bedeutung der Moral für Unternehmen erkennt, bleibt sie nach Meinung Wielands (1997, S. 60f.) jedoch recht vage und vermag nicht, die Funktion der Moral für die Transaktionskostenökonomik vollständig zu klären. Der Governancekostenansatz hat durch Klein/Leffler (1981), Shapiro (1983) und Kreps (1990) eine Erweiterung erfahren. Diese versucht, die Existenz von Unternehmenskulturen durch das Phänomen der Reputation zu erklären. Im Zentrum steht auch hier die Möglichkeit opportunistischen Handelns angesichts unvollständiger Verträge. Da eine geschickte Vertragsgestaltung an dieser Stelle an ihre Grenzen stößt, sehen die Autoren als weiteren Mechanismus den Aufbau einer Reputation in den Fällen, in denen Transaktionen regelmäßig durchgeführt werden.166 Reputation wird definiert als „Vertrauensvorschuss“, den Vertragspartner in einer Transaktion einander entgegen bringen. Dieser basiert nicht etwa auf Gutgläubigkeit, sondern entspringt einem rein rationalen Kalkül. Denn solch ein Vertrauensvorschuss birgt ökonomische Vorteile in Form von Kooperationsrenten. Handelt ein Vertragspartner opportunistisch, büßt er an Reputation ein. Mit anderen Worten: Sein Reputationskapital, das den abdiskontierten Gegenwert aus zukünftigen Kooperationsgewinnen umfasst, wird abgewertet. Erscheint einem Akteur nun der Wert seines Reputationskapitals höher zu sein als die Gewinne aus Opportunismus, wird er sich als vertrauenswürdig erweisen. Gilt dies für alle an einer Transaktion beteiligten Akteure, wird der abgeschlossene Vertrag selbstdurchsetzend167, und es ist für alle Akteure rational, einen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Dies gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass ein unendlicher Zeithorizont vorliegt.168 Kreps (1990) wendet diesen Ansatz auf das Phänomen der Unternehmenskultur an. Er erklärt unternehmerische Verhaltensweisen, in denen ein Unternehmen dauerhaft Vereinbarungen einhält, obwohl diese nicht formalisiert sind, mit Hilfe des Reputationsmechanismus.169 Allerdings ist fragwürdig, ob Reputation in der Unternehmensrealität tatsächlich wirksam sein kann. Zudem zeigen Reputationsmodelle z.T. multiple Gleichgewichte und sind insofern auch theoretisch bedenklich. Sie beruhen auf relativ starken Modellannahmen wie einem unendlichen Zeithorizont, d.h. dass die letzte Periode einer Vertragsbeziehung unbekannt sein muss.
163 164 165 166
167 168
169
Vgl. Barnard (1938), S. 167ff., sowie Simon (1957). Williamson (1975), S. 257f. Vgl. Wieland (1997), S. 61, mit Bezug auf Holmström (1979), (1982) und Williamson (1993b), S. 489. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 229f., mit Bezug auf Klein/Leffler (1981), Shapiro (1983) und Kreps (1990). Vgl. Abschnitt 2.1.4. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 230 und 233, mit Bezug auf Klein/Leffler (1981) und Shapiro (1983). Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 233.
2.3 Nicht-marktliche Institutionen
37
Andernfalls setzt sich eine Rückwärtsinduktion in Gang, die dazu führt, dass in der gegenwärtigen Periode der Vertrag gebrochen wird. Werden weitere Annahmen wie die Unsicherheit zukünftiger Gewinne eingeführt, ergibt das Modell wieder ein Gleichgewicht. Des Weiteren nimmt das Modell an, dass alle Konsumenten über Verfehlungen von Unternehmen informiert werden, was jedoch unrealistisch ist.170 Es wurde deutlich, dass von den Ansätzen der Transaktionskostentheorie vor allem der Governancekostenansatz die Moral als einen wesentlichen ökonomischen Faktor für Unternehmen identifiziert. Allerdings ist auch dieser Ansatz nicht in der Lage, Investitionen in eine Reputation oder einen „moral code of conduct“ ausreichend zu begründen. Dies vermag jedoch die Governanceethik von Wieland (1996) zu leisten, welche die dargestellten Ansätze, insbesondere den Governancekostenansatz, aufgreift und gezielt weiterentwickelt (vgl. Abschnitt 7.1).
2.3
Nicht-marktliche Institutionen
Die Neue Institutionenökonomik befasst sich im Sinne des ökonomischen Imperialismus auch mit der Analyse nicht-marktlicher Institutionen. Im Folgenden wird die Konstitutionelle Politische Ökonomik, deren Kernelement die Konzeption der Gerechtigkeit von Regeln von Brennan/Buchanan (1993) ist, dargestellt. Diese bildet eine zentrale Grundlage für die Ökonomische Ethik von Homann (vgl. Abschnitt 6.1). Anschließend wird die Property-Rights-Theorie kurz dargelegt, um im Rahmen der kritischen Würdigung des Homann’schen Ansatzes auf sie zurückgreifen zu können (vgl. Abschnitt 6.2). Weitere nicht-marktliche Ansätze, wie beispielsweise die Neue Politische Ökonomik, sind für die vorliegende Arbeit hingegen nicht relevant. 2.3.1
Konstitutionelle Politische Ökonomik
Die Konstitutionelle Politische Ökonomik, auch Verfassungsökonomik genannt, geht im Wesentlichen auf Buchanan (u.a. 1975/1984, 1987, 1988) zurück. Sie befasst sich mit den Fragen der Entstehung, dem Einfluss, aber auch der Bewertung von Regeln der politischen Rahmenordnung. Gerade der letzte Punkt, die Bewertung von Regeln, macht deutlich, dass die Konstitutionelle Politische Ökonomik ein normativer Ansatz171 ist, während alle bisher dargestellten Ansätze der positiven Ökonomik172 zuzuordnen sind. Die Konzeption der „Gerechtigkeit von Regeln“ bildet das Kernstück der normativen Konstitutionellen Politischen Ökonomik.
170 171
172
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 233f. Die normative Ökonomik vergleicht Maßnahmen und ihre jeweiligen Auswirkungen miteinander und spricht daraufhin Handlungsempfehlungen aus. Sie übernimmt die Ergebnisse aus der Wirkungsanalyse der positiven Theorie und bewertet die verschiedenen Maßnahmen und deren Folgen. Vgl. Erlei/Leschke/ Sauerland (1999), S. 16f. Die positive Ökonomik untersucht real existierende Phänomene und leitet daraus u.a. Gesetzmäßigen im Verhalten der Akteure ab. Zu diesem Zweck erstellt sie ein Modell der Realität und deduziert daraus per „Ceteris-paribus-Annahme“ die entsprechenden Zusammenhänge. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 16f.
38
2 Neue Institutionenökonomik
Das im Folgenden beschriebene „Konsenskriterium“ dieser Konzeption, als spezielle Variante des Pareto-Prinzips, liegt der normativen Neuen Institutionenökonomik als ein allgemeines Kriterium für die normative Beurteilung von Regeln zugrunde.173 Auch in der Ökonomischen Ethik von Homann nimmt es einen wesentlichen Stellenwert ein.174 Wie ist dieses Konsenskriterium nun begründet? Die normative Ökonomik legt in der Regel das „Pareto-Kriterium“ als ein allgemeines und möglichst objektives Bewertungskriterium zugrunde. Danach ist eine Maßnahme oder ein bestimmtes Ergebnis dann „pareto-optimal“, wenn es nicht mehr möglich ist, einen Akteur besser zu stellen, ohne mindestens einen anderen schlechter zu stellen. Allerdings gibt es in der Realität kaum Maßnahmen, durch die alle betroffenen Akteure ausschließlich besser gestellt werden. Insofern stößt das Pareto-Kriterium als Beurteilungskriterium häufig an seine Grenzen und ist nur in wenigen Fällen funktional.175 Eine Alternative bietet hier das Kaldor-Hicks-Kriterium. Nach diesem Kriterium von Kaldor (1939) und Hicks (1939) ist eine Maßnahme dann gegenüber einer anderen besser, wenn sie mindestens einen Akteur so viel besser stellt, dass dieser die Verluste aller anderen betroffenen Individuen kompensieren könnte und dabei immer noch insgesamt besser dastünde als ohne diese Maßnahme. An diesem Kriterium ist jedoch problematisch, dass die Verluste in der Realität nicht wirklich kompensiert werden. Denn potenzielle Verlierer stimmen nur dann einer Maßnahme zu, wenn die Kompensation auch tatsächlich durchgeführt wird. Für eine solche Kompensation wären entsprechende Institutionen zu errichten, für die dann letztlich doch wieder das Pareto-Kriterium zutreffen würde.176 Hier weist James Buchanan (1987, 1988) einen Ausweg. Er unterscheidet zwischen Maßnahmen, die im Einklang mit bestimmten Regeln ausgeführt werden, und dem Regelsystem selbst. Eine Maßnahme soll dann durchgeführt werden, wenn sie mit solchen Regeln im Einklang steht, denen sämtliche betroffenen Individuen zugestimmt haben. Analog dazu werden auch solche Regeln befürwortet, die mit den Regeln der nächsten höheren Ebene, bis hin zu den grundlegenden Regeln der Verfassung, übereinstimmen.177 Das Beurteilungskriterium ist also die erteilte Zustimmung von Individuen zu Regeln, nicht zu einzelnen Maßnahmen und deren Ergebnissen („Konsenskriterium“). Regeln haben im Gegensatz zu Maßnahmen eher eine mittel- bis langfristige Reichweite und besitzen unsichere Wirkungen, da sie verschiedene Situationen beeinflussen – es liegt ein „Schleier des Nichtwissens und der Unsicherheit“178 vor. Konflikte, wie sie bei einzelnen Maßnahmen (Entscheidungen innerhalb von Regeln) auftreten, fallen daher bei Entscheidungen über Regeln weniger an. Dadurch wird es leichter, Entscheidungen im Konsens zu fällen. Dabei gilt: Je langfristiger und allgemeiner Regeln sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass Übereinkünfte zustande kommen. D.h. Individuen werden tendenziell solchen Regeln zustimmen, die sie
173 174 175 176 177 178
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 20 und 53. Vgl. Abschnitt 6.1. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 17f. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 18ff. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 20. Brennan/Buchanan (1993), S. 37.
2.3 Nicht-marktliche Institutionen
39
allgemein für „fair“ bzw. grundsätzlich für akzeptabel erachten. Auch hier wird das ParetoKriterium angewandt, allerdings auf die Beurteilung von Regeln bzw. Institutionen.179 Die „Konzeption gerechter Regeln“ beruht auf einer kontrakttheoretischen Perspektive und in diesem Zusammenhang grundlegend auf der Theorie des Gesellschaftsvertrages von Hobbes (1970). Diese geht von einem normativen methodologischen Individualismus aus, gemäß dem „das Individuum, die einzelne Person, die Quelle aller Werte ist“180. Die Gesellschaft kann die individuellen Wertvorstellungen zwar beeinflussen, ihnen jedoch von außen keine Werte auferlegen. Individuen sind zudem moralisch gleichwertig und damit gleichermaßen in der Lage, Optionen moralisch zu bewerten.181 Diese Voraussetzung ist zwingend, um kollektive Ordnungen kontrakttheoretisch erklären zu können: Diese setzen mitnichten voraus, dass Individuen gemeinsame Präferenzen, Interessen oder Werte haben. Stattdessen erzielen sie einen Konsens darüber, dass sie ihren eigenen, individuellen Nutzen am besten dadurch erreichen können, dass sie per Gesellschaftsvertrag einen Staat bzw. eine politische Gemeinschaft gründen.182 Dieser schützt die Individuen, nimmt bestimmte Aufgaben eines Minimalstaates wahr, indem er konsensfähige Regeln schafft und überwacht, und stellt öffentliche Güter bereit.183 Denn ohne eine solche Rahmenordnung, so Hobbes (1970, S. 114ff.), „wäre das Leben der Menschen nebeneinander natürlich nicht bloß freudlos, sondern vielmehr auch höchst beschwerlich.“184 Es würde „ein Krieg aller gegen alle“185 herrschen – das Resultat wäre „ein tausendfaches Elend; Furcht, gemordet zu werden, stündliche Gefahr, ein einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben.“186 Nur durch Gründung eines Staates können Individuen produktiv interagieren und effiziente wirtschaftliche Transaktionen durchführen. Denn mit Hilfe des Gesellschaftsvertrags können unerwünschte Dilemmasituationen überwunden werden, wie z.B. Trittbrettfahrerprobleme bei öffentlichen Gütern und Gefangenendilemmata bei der Errichtung effektiver rechtlicher Rahmenbedingungen. Ebenso kann eine solche Ordnung sozial erwünschte Dilemmastrukturen etablieren, wie z.B. die Wettbewerbsprozesse in der Marktwirtschaft.187 Dieser Gesellschaftsvertrag basiert auf einer Vielzahl von Entscheidungen der Individuen. Nur dann, wenn diese im Konsens getroffen werden, kann sichergestellt werden, dass keines der Individuen diskriminiert wird.188 Und nur so, wie an späterer Stelle erläutert werden wird,
179 180 181 182 183
184 185 186 187 188
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 20, und Brennan/Buchanan (1993), S. 23, 26 und 38ff. Brennan/Buchanan (1993), S. 28. Vgl. Brennan/Buchanan (1993), S. 28. Vgl. Brennan/Buchanan (1993), S. 29, mit Bezug auf Buchanan (1975/1984). Vgl. Brennan/Buchanan (1993), S. 29, mit Bezug auf Buchanan (1975/1984); und Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 457. Hobbes (1970), S. 114. Hobbes (1970), S. 115. Hobbes (1970), S. 115f. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 457. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 457.
40
2 Neue Institutionenökonomik
besteht für die Individuen die moralische Verpflichtung, sich an den Gesellschaftsvertrag zu halten.189 Infolgedessen sind ein Staat bzw. die Regeln politischer Ordnung, ebenso wie gesellschaftliche Institutionen bzw. Regeln im Allgemeinen, nur dann legitim, wenn sie als im Konsens etablierte (Gesellschafts-)Verträge interpretiert werden können. Politik kann dann als Ergebnis eines komplexen Tauschprozesses zwischen Individuen verstanden werden, welche auf bestimmte Freiheiten verzichten, z.B. den eigenen Vorteil mittels der Ausbeutung des Eigentums Anderer zu erhöhen. Ein legitimes Staatswesen braucht letztlich weniger Ressourcen für die Verteidigung der eigenen Existenz nach innen aufzuwenden.190 Das Handlungsmodell, mit dem Brennan/Buchanan (1993, S. 20f.) Konfliktsituationen und deren Lösungsmöglichkeiten darstellen, ist der Homo Oeconomicus, der sich verschiedenen Gefangenendilemmata gegenüber sieht. Individuen versuchen, angesichts bestimmter Regeln bzw. Institutionen ihre eigenen Ziele zu verwirklichen. Die Resultate bestimmter Situationen können dadurch geändert werden, dass die Regeln umgestaltet werden.191 Das Modell des Homo Oeconomicus ist nach Brennan/Buchanan (1993, S. 65) aus verschiedenen guten Gründen hier am besten geeignet. Um nur die wichtigsten davon zu nennen: Es macht für die Analyse vertraglicher Vereinbarungen Sinn, von den divergierenden Interessen der Vertragspartner auszugehen. Denn nur dann ist für Akteure ein Vertrag, der einen gewissen Schutz bieten soll, überhaupt von Nutzen. Es wurde zwar nachgewiesen, dass Regeln, die von diesem eher pessimistischen Handlungsmodell ausgehen, auch wünschenswerte Handlungen unterbinden und auf diese Weise Kosten verursachen können. Aber die Kosten, welche durch ein zu optimistisches Handlungsmodell verursacht würden, wären nach Meinung Brennans/Buchanans (1993, S. 75) größer. Der wichtigste Grund, der jedoch für den Homo Oeconomicus spricht, ist das so genannte „Gresham’sche Gesetz der Politik“. Dieses besagt, dass das egoistische Handeln einer Untergruppe in einer bestimmten Situation dazu führt, dass Akteure, die ansonsten altruistisch handeln würden, dazu gezwungen werden, ebenfalls egoistisch zu handeln. Denn diese hätten das Gefühl, dauerhaft unfair behandelt zu werden, d.h. nicht das zu bekommen, was ihnen zusteht.192 Mit anderen Worten: „Schlechtes Verhalten verdrängt das gute und jede Person wird durch das Vorhandensein auch nur weniger Egoisten dazu gedrängt, selbst ein eigeninteressiertes Verhalten an den Tag zu legen.“193
Eine bestehende gesellschaftliche Ordnung sollte daher ein gemeinwohlorientiertes Verhalten schätzen, aber nicht systematisch darauf bauen, um damit die Erosion des Altruismus zu verhindern.194 Im Zentrum des Ansatzes steht nun die Konzeption der Gerechtigkeit. Dabei setzen Regeln die Bedingungen für Gerechtigkeit, denn gerechtes Handeln eines Akteurs ist definiert als ein Handeln, das diejenigen Regeln nicht verletzt, denen dieser Akteur selber zugestimmt hat.
189 190 191 192 193 194
Vgl. Brennan/Buchanan (1993), S. 134. Vgl. Brennan/Buchanan (1993), S. 29 und 33ff. Vgl. Brennan/Buchanan (1993), S. 20f. Vgl. Brennan/Buchanan (1993), S. 65-88. Brennan/Buchanan (1993), S. 81, mit Bezug auf Pennock (1979), S. 521-524. Vgl. Brennan/Buchanan (1993), S. 85.
2.3 Nicht-marktliche Institutionen
41
Gerechtes Verhalten bedeutet daher, abgeschlossene Verträge einzuhalten, ungerechtes Verhalten, Verträge zu brechen.195 Dahinter steht die Vorstellung, dass es gerecht ist, wenn ein Akteur das bekommt, was ihm zusteht, d.h. was er legitimerweise erwarten darf. Ein Akteur hat es „verdient“, dass seine auf legitimen Regeln basierenden Erwartungen nicht enttäuscht werden.196 Regeln haben nun in sozialen Interaktionen die Funktion, Informationen darüber zu liefern, wie Andere handeln werden. Wenn ein Akteur auf das kooperative Verhalten eines Anderen angewiesen ist, legt er sich selbst auf ein kooperatives Verhalten fest in der Annahme, dass auch der andere Akteur kooperiert. Damit macht sich der Akteur von seinem Gegenüber abhängig und wird geschädigt, falls dieser nicht kooperiert. Stimmen beide Akteure an dieser Stelle bestimmten Regeln freiwillig zu, können sie legitimerweise auch erwarten, dass diese eingehalten werden. Denn die erteilte Zustimmung gleicht einem Versprechen, das bei NichtKooperation gebrochen würde. Dieses zu brechen, wäre nach Hobbes (1970, S. 129) ungerecht. Mit einem abgegebenen Versprechen ist damit die moralische Verpflichtung verknüpft, es zu halten, und nicht nur im Fall des Brechens die entsprechenden Sanktionen in Kauf zu nehmen.197 Die Zustimmung zu einer Regel gilt dann als freiwillig, wenn sie nicht unter Zwang erfolgt. Allerdings kann dies nicht bedeuten, dass die Verhandlungsstärke betroffener Parteien immer genau gleich sein muss, sondern dass keine extremen Zwangslagen oder Gewaltanwendungen vorliegen. Nur bei Gewalt oder Betrug gilt also ein Versprechen als nicht moralisch bindend. Darüber hinaus kann auch nicht erwartet werden, dass alle Akteure innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung jeder einzelnen Regel ausdrücklich zugestimmt haben. Daher gilt, dass auch eine stillschweigende oder implizite Zustimmung als explizite Zustimmung gewertet wird. Wenn ein Akteur freiwillig in ein Spiel eintritt und sich damit dessen Regeln unterwirft, stimmt er diesen stillschweigend zu, vorausgesetzt er hatte die Wahl, d.h. auch die Möglichkeit, nicht an dem Spiel teilzunehmen. Wenn ein Individuum einer Gesellschaft angehört und es nicht die Möglichkeit hat, sich ihren Regeln zu entziehen, hat es diese Wahl nicht. Es stimmt diesen gesellschaftlichen Regeln dennoch stillschweigend zu, wenn es sie für längere Zeit befolgt. Gegen diese Regeln zu verstoßen, wäre illegitim, zu versuchen sie zu verändern jedoch nicht.198 Damit ist Gerechtigkeit zunächst einmal ein Kriterium für Handlungen innerhalb von Regeln. Wenn Gerechtigkeit auch als Kriterium für die Entscheidung zwischen Regeln zurate gezogen werden soll – wann kann dann eine Regel als gerecht gelten? Brennen/Buchanan (1993, S. 139) verweisen hier auf die jeweils vorgelagerte Regelebene, die „Metaregeln“. In diesem Sinne ist eine Regel dann gerecht, wenn sie nicht gegen allseits anerkannte, d.h. im Konsens etablierte, Metaregeln verstößt. Wenn sich politisches Handeln, wie z.B. die Gesetzgebung, an bestimmte (gerechte) Metaregeln hält, sind die erlassenen Gesetze selber gerecht. Dies gilt auch für Regeländerungen: Wenn diese im Einklang mit übergeordneten Regeln geschehen, sind die geänderten Regeln ebenfalls gerecht. Dabei gilt das zuvor Gesagte auch hier: Je höher
195 196 197 198
Vgl. Hobbes (1970), S. 129. Vgl. Brennan/Buchanan (1993), S. 128ff. Vgl. Brennan/Buchanan (1993), S. 131ff. Vgl. Brennan/Buchanan (1993), S. 134ff.
42
2 Neue Institutionenökonomik
die Regelebene, desto abstrakter sind die (Meta-)Regeln und desto eher werden die Individuen nicht mehr ihre eigenen Interessen verteidigen können und wollen, sondern denjenigen Regeln zustimmen, die sie als fair für die Allgemeinheit erachten. Ein allgemeiner Konsens wird auf diese Weise wahrscheinlicher.199 Auf der Basis des dargestellten Konsenskriteriums und der Konzeption gerechter Regeln beurteilt die Konstitutionelle Politische Ökonomik politische Prozesse und deren Regeln. Die Konstitutionelle Ökonomik untersucht, welche grundsätzlichen Regeln und Prinzipien (Institutionen) dazu beitragen, dass moderne und freiheitliche Demokratien funktionieren können. Daraus leitet sie schließlich Vorschläge für institutionelle Reformen des Staatswesens ab.200 Das Kriterium ist dabei immer die Maximierung der persönlichen Präferenzen bzw. Werte der Individuen, denn nur dann sind Institutionen konsensfähig. Dieses Kriterium wird dann erfüllt, wenn die Kosten demokratischer Abstimmungen (die sog. Interdependenzkosten201) minimiert werden. Diese umfassen die Diskriminierungskosten, d.h. die (erwarteten) Kosten, wenn Individuen überstimmt werden, und die Entscheidungsfindungskosten, die aufgewendet werden, um Individuen von einer bestimmten Meinung zu überzeugen. So sind beispielsweise die Diskriminierungskosten bei der Einstimmigkeitsregel, d.h. bei Konsens, gleich Null, die Entscheidungsfindungskosten jedoch sehr hoch.202 Daher ist es aus Kostengründen sinnvoll, Mehrheitsregeln einzuführen, bei denen allerdings die Diskriminierungskosten stark ansteigen. Um diese zu senken, empfiehlt es sich, geeignete Verfassungsregeln zu verankern. Diese umfassen zum einen Ordnungsrechte bzw. Grundrechte der Gesellschaftsmitglieder, die dem Schutz individueller Freiheiten dienen, und Gemeinwohlprinzipien staatlicher Handlungen, d.h. Regeln, welche die Politik bei der Erstellung öffentlicher Güter zu beachten hat.203 Die optimalen grundlegenden Verfassungsregeln, bei denen die Interdependenzkosten miniert werden, sind nun die folgenden:204
199 200 201 202 203 204 205
x
Grundrechte: insbesondere individuelle Freiheitsrechte,
x
Prinzipien der Trennung der Staatsgewalt, d.h. vertikale Gewaltenteilung (Föderalismusprinzip) und horizontale Gewaltenteilung, sowie
x
Gemeinwohlprinzipien politischen Handelns, wie -
das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz,205
-
das Subsidiaritätsprinzip,206
Vgl. Brennan/Buchanan (1993), S. 139ff. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 20 und 419. Nach Buchanan/Tullock (1962). Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 419ff., mit Bezug auf Buchanan/Tullock (1962). Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 268 und 457. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 424. Das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz besagt, dass die folgenden drei Interessen zur Deckung gebracht werden sollen: die durch eine öffentliche Leistung Begünstigten, die zur Finanzierung der Leistung herangezogenen Bürger und die den Umfang und die Qualität der Leistung festlegenden Individuen. Vgl. Olson (1969).
2.3 Nicht-marktliche Institutionen -
der Gleichheitsgrundsatz,
-
das Wirtschaftlichkeitsprinzip und
-
das Prinzip der sozialverfassten Marktwirtschaft207.
43
Eine zentrale Erkenntnis der normativen Konstitutionellen Politischen Ökonomik ist, dass Demokratie nicht als „Partizipationskonzept“ verstanden werden sollte, das durch Mehrheitsabstimmungen automatisch legitimiert ist. Vielmehr ist die Demokratie das grundlegende Legitimationskonzept, das möglichst effizient durch ein bestimmtes politisches Regelwerk zu verankern ist. Hierbei erweisen sich Mehrheitsabstimmungen als sehr effizient.208 2.3.2
Property-Rights-Theorie
Als letzter Ansatz der Neuen Institutionenökonomik wird im Folgenden die Property-RightsTheorie, auch Theorie der Verfügungsrechte genannt, vorgestellt. Sie geht, im Gegensatz zu den Ansätzen der Transaktionskostenökonomik, davon aus, dass Verträge vollständig sind, und lässt daher die Frage des Vertragsbruchs, also des opportunistischen Handelns, außen vor.209 Die Gegenstände der Analyse sind Verfügungs- und Eigentumsrechte (Property Rights) als Institutionen des Rechts. Sie gewähren marktlichen Akteuren Handlungsspielräume bezüglich der Ressourcennutzung – eine wesentliche Voraussetzung für wirtschaftliche Aktivitäten. Die Untersuchung der Art und Weise ihrer Zuteilung eröffnet diverse Fragestellungen, wie z.B. das Problem externer Effekte und ihre Internalisierung210, das „Coase-Theorem“211 und Fragen des Haftungs- und Wettbewerbsrechts.212 Verfügungsrechte sind definiert als rechtliche Institutionen, welche die Nutzung, die Veränderung und Veräußerung eines Gutes sowie das Recht, sich die Erträge aus der Güternutzung anzueignen, regeln. Welcher Wert einem solchen Gut zugemessen wird, hängt maßgeblich davon ab, wie die Verfügungsrechte gestaltet sind. Verfügungsrechte grenzen ein, welche Handlungen in einer Gesellschaft erlaubt und welche nicht erlaubt sind. Ihre rechtliche Durchsetzung bedeutet, dass unerlaubte Handlungen sanktioniert werden. Auf diese Weise
206
207
208 209 210 211 212
Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass Entscheidungen immer auf einer niedrigstmöglichen Ebene entschieden werden soll, wo die dazu notwendige Kompetenz noch vorhanden ist. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 427. Hierunter fallen Prinzipien der Gewährung von Privateigentum und Vertragsfreiheit, der Offenhaltung von Märkten, der Vermeidung von Haftungsbeschränkungen, der Konstanz der Wirtschaftspolitik, der Preisniveaustabilität, der Eindämmung von Marktmacht, der Internalisierung externer Effekte, der „Konjunkturpolitik für den Markt“, der „Sozialpolitik für den Markt“ und der „Industriepolitik für den Markt“. Vgl. Erlei/Leschke /Sauerland (1999), S. 433ff. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 458. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 50. Vgl. Demsetz (1967). Siehe Coase (1960). Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 267.
44
2 Neue Institutionenökonomik
verursacht das Brechen dieser Regeln Transaktionskosten, welche „implizite Preise“ für diese Handlungen darstellen.213 Dieser Sachverhalt kann allgemein interpretiert werden als eine Situation, in der zwei Rechtsstrukturen miteinander verglichen werden. Die herrschende Rechtsstruktur gewährt weitgehende Freiheitsrechte, in der sich die Akteure jedoch kollektiv selbst schädigen, weil sie sich in einer Gefangenendilemma-Situation befinden. Auf der anderen Seite existiert eine alternative Rechtsstruktur, die bestimmte Handlungsmöglichkeiten von Akteuren gezielt einschränkt. Durch diese Einschränkung werden jedoch bestimmte Anreize gesetzt, die gesamtgesellschaftlich erwünschte Handlungen wirtschaftlich rentabel machen.214 Das Abschließen eines Gesellschaftsvertrages, wie Hobbes (1970) es beschreibt und Buchanan (1975/1984) es in seiner Konstitutionellen Politischen Ökonomik aufgreift, kann auf die folgende Weise interpretiert werden: Akteure unterwerfen sich freiwillig Institutionen, welche die gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse regeln. Sie ziehen diese Regelungen einer Situation vor, in der maximale Freiheit (Anarchie) und die ständige Gefahr herrscht, dass ein Akteur seiner wirtschaftlichen Erträge beraubt wird. Dies bedeutet, dass hohe Aufwendungen nötig sind, um die eigenen Güter gegen Andere zu verteidigen, und dass langfristige Investitionen ein zu hohes Risiko bergen und sich darum kaum lohnen. Eine Rechtsordnung, die Verfügungsrechte definiert und Regelverstöße wirksam sanktioniert, erhöht daher folglich die Wohlfahrt der Gesellschaft und ermöglicht eine fortschreitende Arbeitsteilung.215 Die Vergabe von Verfügungsrechten, z.B. an ökologischen Ressourcen, erlaubt zudem die Internalisierung unerwünschter externer Effekte. Diese sind definiert als Auswirkungen, welche die Handlungen eines Akteurs auf die Handlungsergebnisse Anderer haben, die jener aber nicht in sein Nutzen-Kosten-Kalkül einbezieht, da sie nicht (vollständig) über den Preismechanismus koordiniert sind.216 Die Ursache dafür, dass diese Externalitäten entstehen, sind einerseits die unerwünschten Auswirkungen, andererseits aber auch die (u.U. neu entstandene) Knappheit von Gütern, die nicht vom Preismechanismus erfasst sind. Mit anderen Worten: Die negativen Auswirkungen sind letztlich Nutzungsrivalitäten um knappe Güter.217 Falls die Tranksaktionskosten sehr gering sind, kann es möglich sein, dass externe Effekte auch ohne die Vergabe von Verfügungsrechten, d.h. ohne staatliche Eingriffe, internalisiert werden. Dies begründet das Coase-Theorem damit, dass in diesen Fällen die involvierten Akteure miteinander verhandeln und sich dezentral einigen. Je höher jedoch die Transaktionskosten sind, desto wichtiger werden staatliche Institutionen, die Verfügungsrechte vergeben, Haftungsregelungen erlassen oder gar in gravierenden Fällen direkt in das Marktgeschehen eingreifen.218 Aber auch ohne solche Verhandlungen können externe Effekte ohne staatliche Maßnahmen internalisiert werden, z.B. durch Image oder Reputation, sofern diese für Akteure ein wichti-
213 214 215 216 217 218
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 272, mit Bezug auf Furubotn/Pejovich (1972). Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 273. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 273f., mit Bezug auf Smith (1904/1776). Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 272, mit Bezug auf Demsetz (1967). Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 282. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 284ff., mit Bezug auf Coase (1960).
2.3 Nicht-marktliche Institutionen
45
ges Kapitalgut darstellen. So könnte z.B. ein Unternehmen vor der Entscheidung stehen, kurzfristige Gewinne zu erzielen, indem es seine Emissionen und damit negativen externen Effekte auf Kosten vieler Bürger erhöht. Wird ein solches Verhalten durch eine kritische Öffentlichkeit und durch die Presse publik gemacht, werden die Bürger u.U. reagieren und die Güter und Leistungen des Unternehmens (falls relativ kostengünstig möglich) durch andere substituieren und das Unternehmen boykottieren. Für das Unternehmen entstehen dadurch ein Imageverlust und mittelfristig finanzielle Schäden, in erster Linie durch die Nachfrageeinbußen, aber u.U. auch dadurch, dass die Rekrutierung von Mitarbeitern schwieriger wird, die Kapitalgeber sich zurückziehen etc. Unternehmen haben daher u.U. einen Anreiz, sich an gesellschaftlich gewünschte Verhaltensstandards zu binden und ihre Absicht, diese einzuhalten, glaubhaft zu signalisieren.219 Das Wettbewerbsrecht als letztes Beispiel umfasst Regelungen, die wirtschaftliches Handeln in Dilemmastrukturen zwingen, die einen Wettbewerb um höhere Qualität und niedrigere Preise in Gang setzten und aufrechterhalten sowie technischen Fortschritt induzieren. Dies führt letztlich zu hohen Wohlfahrtsgewinnen in der Gesellschaft und ist daher gesellschaftlich erwünscht. Das Wettbewerbsrecht erlässt beispielsweise ein Kartellverbot und kontrolliert Fusionen. Marktteilnehmer unterwerfen sich freiwillig diesen Institutionen, obwohl sie dadurch einem Konkurrenzdruck ausgesetzt werden, u.a. weil sie dadurch als Unternehmen oder Haushalte selbst in den Genuss qualitativ hochwertiger und preisgünstiger Produkte und Dienstleistungen gelangen und weil gewährleistet ist, dass Konkurrenten oder Kunden keine Marktmacht aufbauen können.220
219
220
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 286, mit Bezug auf Homann/Blome-Drees (1992), Aufderheide (1995) und Leschke (1995). Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 295ff., mit Bezug auf Homann/Pies (1991).
3.1 Eine Theorie komplexer Systeme
3
47
Neuere Systemtheorie
3.1
Eine Theorie komplexer Systeme
3.1.1
Grundlagen der neueren Systemtheorie
Die Systemtheorie versteht sich als allgemeine Theorie sozialer Systeme.221 Ein System ist definiert als ein Netz zusammengehöriger Operationen, die von Operationen abgrenzbar sind, die nicht dazu gehören.222 Dabei stehen nicht primär die einzelnen Teile eines Systems und deren Bestand im Mittelpunkt, sondern die Operationen der Handhabung von Differenzen, wie im Folgenden noch deutlich werden wird (vgl. insbesondere Abschnitt 3.2). Denn die Systemelemente sind letztlich „präsenzlose“ Ereignisse im Fluss der Zeit, d.h. sie finden zu einem bestimmten Zeitpunkt statt und verschwinden danach sofort wieder. Aus diesem Grund sind Ereignisse nicht bestandsfähig; sie finden zu einem bestimmten Zeitpunkt statt, verschwinden sofort wieder und markieren insofern Diskontinuitäten bzw. Differenzen zwischen Vorher und Nachher. Ereignisse sind z.B. Kommunikationen, Entscheidungen oder Handlungen bzw. Aktivitäten.223 Im Mittelpunkt der neueren Systemtheorie stehen soziale Systeme, die sich über Kommunikationen als ihre Elemente definieren.224 Soziale Systeme sind beispielsweise das Rechts-, Wirtschafts- und Politiksystem, Familien sowie Organisationen wie z.B. Unternehmen, Vereine und Parteien.225 Die Gesellschaft ist die Menge sämtlicher sozialer Systeme und damit das „umfassendste System sinnhafter Kommunikation“226. Die Mitglieder sozialer Systeme, die als Personen im umgangssprachlichen Sinne kommunizieren, gehören aus systemtheoretischer Perspektive zur Systemumwelt.227 Sie sind nicht „mit Haut und Haaren“ Elemente sozialer Systeme. Stattdessen nehmen sie dort – in Familien, Unternehmen, Vereinen etc. – spezifische Rollen wahr, sind Mitglieder aufgrund bestimmter Motive und Interessen und wenden den verschiedenen sozialen Systemen daher jeweils eine ganz bestimmte Aufmerksamkeit zu. Obwohl sie zur Umwelt gehören, haben Mitglieder für soziale Systeme eine zentrale Bedeutung. Daher werden die Relationen sozialer Systeme mit ihren Mitgliedern als spezielle Systemumwelt, die „Innenwelt“, bezeichnet, im Gegensatz zur sonstigen Umwelt, der „Außenwelt“.228 Die Mitglieder weisen unterschiedliche Umweltbezüge zu verschiedenen (sozialen) Systemen auf mit u.U. divergierenden Rollenverpflichtungen und Orientierungen. Daher erwächst z.B. Organisationen oder Familien die Aufgabe, die Mitglieder im Hinblick auf eine adäquate
221 222 223 224 225 226 227 228
Vgl. Willke (2000), S. 1. Vgl. Luhmann (1971c). Vgl. Luhmann (1984a), S. 28, und (1982), S. 369 und 376. Vgl. Willke (1999), S. 56. Vgl. Luhmann (1984a). Luhmann (1988b), S. 62. Vgl. Luhmann (1984a), Kapitel 7. Vgl. Willke (2000), S. 53ff.
48
3 Neuere Systemtheorie
Rollenerfüllung für das fokale System untereinander und mit dem System selbst abzustimmen bzw. zu koordinieren.229 Die Außenwelt sozialer Systeme beinhaltet die Relationen (Input- und Output-Beziehungen) des Systems mit seiner Umwelt, sofern es sich dabei nicht um Mitglieder handelt. Dabei können drei Dimensionen unterschieden werden:230 x
horizontale Außenrelationen, d.h. Beziehungen zu anderen (Teil-)Systemen auf der gleichen Systemebene eines übergreifenden Gesamtsystems, z.B. ein Unternehmen zu einem anderen Unternehmen in der Branche,
x
vertikale Außenrelationen, d.h. Beziehung zum übergreifenden Gesamtsystem, z.B. eine Abteilung in einem Unternehmen zum gesamten Unternehmen, sowie
x
laterale Außenrelationen, d.h. Beziehungen zu anderen Systemen, mit denen ein System in einem sekundären Kontext in Beziehung steht, wie z.B. eine Familie mit einem Ortsverein oder einer Partei.
Systeme existieren auf verschiedenen Ebenen: Menschen als biologische Systeme und als psychische Systeme (Individuen), Gruppen, Organisationen, gesellschaftliche Funktionssysteme wie die Wirtschaft, Politik oder die Wissenschaft als soziale Systeme, die Gesellschaft insgesamt bis hin zur gesamten Weltgesellschaft. Jedes dieser Systeme unterliegt auf den spezifischen Ebenen unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten und Dynamiken der Selbstorganisation.231 Die Systemtheorie befasst sich, wie bereits erwähnt, mit sozialen Systemen. Dabei behauptet sie, für alle Ebenen und Bereiche sozialer Beziehungen einen einheitlichen Forschungsansatz liefern zu können. Zu diesem Zweck identifiziert sie grundlegende Systemeigenschaften und -probleme, die allen sozialen Systemen gemeinsam sind, räumt aber gleichzeitig die Möglichkeit unterschiedlicher Interpretationen und Wahrheitsvorstellungen ein. Damit ist die Allgemeine Systemtheorie eine interdisziplinäre Wissenschaft. Sie zeigt, dass Systemprobleme in den verschiedensten Wissenschaften einander stark ähneln, und schafft so die Möglichkeit, dass verschiedene Wissenschaften aneinander anknüpfen können. Dies gilt für die Naturwissenschaften ebenso wie für die Psychologie, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften etc.232 Im Zentrum der Systemtheorie steht die Feststellung, dass soziale Beziehungen in modernen Gesellschaften komplex sind. Sie grenzt sich damit wissenschaftstheoretisch von den klaren und eindeutigen Naturwissenschaften ab, indem sie es ablehnt, die gesellschaftlichen Zusammenhänge auf einfache Kategorien und Gesetzmäßigkeiten zu reduzieren.233 Aber auch die Naturwissenschaften haben inzwischen die Grenzen klassischer Experimente erkannt: Die daraus gewonnenen Erkenntnisse werden mit zunehmender Komplexität der realen Situation, für die sie Erklärungen und Prognosen liefern sollen, immer ungenauer. Denn die Prozesse, die in Experimenten künstlich isoliert werden, werden in der Realität zunehmend unscharf,
229 230 231 232 233
Vgl. Willke (2000), S. 54, mit Bezug auf Dunphy (1972), S. 13. Vgl. Willke (2000), S. 55. Vgl. Willke (2000), S. 2f. Vgl. Willke (2000), S. 11f. So auch das neue St. Galler Management-Modell, siehe Kapitel 5, insbesondere Abschnitt 5.3.1.
3.1 Eine Theorie komplexer Systeme
49
relativ und unterliegen Wechselwirkungen. Damit ist die Komplexität auch für die Naturwissenschaften zu einer Herausforderung geworden, der sie sich zu stellen hat.234 Die Systemtheorie reduziert Komplexität auf andere Art und Weise als die traditionellen Naturwissenschaften, die ihre Untersuchungen auf gut messbare Variablen fokussieren. Sie sucht nach „kritischen“ Variablen, Komponenten und Funktionen, die für das System charakteristisch oder besonders relevant sind, und fragt nach dem Sinn von Systemen. Auf diese Weise zielt sie darauf ab, Aussagen zu generieren, die Aussagen über das System insgesamt und nicht nur über einen isolierten Teilaspekt desselben sind.235 Denn einfache Theorien, die komplexe Fragestellungen analysieren, sind zwangsläufig falsch.236 Das Ergebnis systemtheoretischer Untersuchungen sind nunmehr keine detaillierten Vorhersagen, denn dies ist aufgrund der Annahme komplexer Situationen weder möglich noch sinnvoll. Die Systemtheorie kann lediglich Verhaltensmuster und Entwicklungslinien sowie grundlegende Funktionszusammenhänge und Problembeschreibungen erkennen. Damit vermag sie die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass bestimmte Ereignisse oder Ergebnisse erreicht oder verhindert werden können.237 Der Nutzen systemtheoretischer Aussagen wird von Willke (1999, S. 12) anschaulich beschrieben: Sie vermitteln die Fähigkeit, relevante Zusammenhänge und Unterschiede zu erkennen. Dies ist vergleichbar mit den Erfahrungen und der Professionalisierung eines Meisters, dessen Blick im Gegensatz zu einem Anfänger geschult ist und der aufgrund dessen Wichtiges von Unwichtigem leichter und schneller unterscheiden kann.238 Dies ist für die Handhabung komplexer Fragestellungen, z.B. bzgl. der Möglichkeiten und Grenzen unternehmerischen Umweltschutzes oder moralischen Handelns von Unternehmen, wie sie in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen, von großer Bedeutung. Nach Willke (1999, S. 68) ist die Komplexität bei Problemstellungen psychischer und sozialer Systeme heutzutage sogar der Normalfall, so dass die neuere Systemtheorie für unternehmerisches Handeln wertvolle Beiträge liefern kann. 3.1.2
Grundproblem der Komplexität und Kontingenz
Für den Begriff der Komplexität gibt es keine einheitliche Definition. Als passend erscheint diejenige von Willke (2000, S. 22), der Komplexität definiert als „den Grad der Vielschichtigkeit, Vernetzung und Folgelastigkeit eines Entscheidungsfeldes.“
Die Vielschichtigkeit bezeichnet, wie weitgehend funktional differenziert (d.h. arbeitsteilig organisiert) ein Sozialsystem ist und wie viele analytisch und empirisch wichtige Referenzebenen239 zu betrachten sind. Die Vernetzung beschreibt die Abhängigkeiten zwischen Systemteilen untereinander und mit dem Gesamtsystem, und die Folgelastigkeit umfasst die
234 235 236 237 238 239
Vgl. Willke (2000), S. 4f., mit Bezug auf Waldrop (1994). Vgl. Willke (2000), S. 169, mit Bezug auf Simon (1978b), S. 120f. Vgl. Hayek von (1972), S. 16. Vgl. Willke (2000), S. 198. Vgl. Willke (1999), S. 12. Referenzebenen sind Ebenen, die in einem bestimmten Kontext analytisch und empirisch beachtet werden müssen. Denn kontextspezifische Aussagen können nicht unbedingt auf jeden anderen Kontext übertragen werden. Vgl. Willke (2000), S. 22.
50
3 Neuere Systemtheorie
Anzahl und Reichweite der Auswirkungen von Entscheidungen. Das Entscheidungsfeld schließlich weist darauf hin, dass sich Komplexität immer auf eine bestimmte Problemstellung eines spezifischen Systems in einer konkreten Situation bezieht.240 Aus dem Begriff der Komplexität folgt ein weiterer für die neuere Systemtheorie zentraler Begriff: die Kontingenz. Diese „bezeichnet die Möglichkeit, dass etwas ist oder auch nicht ist.“241 Oder in den Worten Luhmanns (1984a, S. 152): „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist, sein kann, aber auch anders möglich ist.“
Vereinfacht gesprochen weist der Begriff der Kontingenz darauf hin, dass in komplexen Systemen unerfassbar viele Entwicklungen möglich sind, da Einflussfaktoren und Wechselwirkungen komplex sind. Eine bestimmte Handlung wäre damit grundsätzlich immer auch anders möglich gewesen. Einen Determinismus, dass z.B. aus einer Handlung A unter bestimmten wohl definierten Bedingungen eine Handlung B zwangsläufig resultiert, gibt es in komplexen Situationen nicht. Komplexe Situationen eröffnen potenziell Konflikte, da sehr viele mögliche Umweltzustände auf sie einwirken können und auch das System selbst Rückwirkungen auslösen kann. Mit anderen Worten: Die System- und Umweltzustände komplexer Systeme sind kontingent. Damit Systeme trotzdem handlungsfähig sein können, sind Entscheider gefordert, die Komplexität zu reduzieren, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden und Entscheidungen im Hinblick darauf zu treffen, welche Handlungsalternative vielversprechender scheint.242 Damit deutet sich bereits an, was im Folgenden genauer erläutert wird: Komplexe Systeme reduzieren Umweltkomplexität, indem sie in einem ersten Schritt interne Komplexität produzieren, mit der sie sich erst in die Lage versetzen, die Umweltkomplexität zu handhaben. In einem zweiten Schritt reduzieren sie ihre interne Komplexität wieder, ebenfalls um die Handlungsfähigkeit zu erhalten: Sie beschränken ihre internen Handlungsmöglichkeiten, indem sie ihre internen Prozesse miteinander abstimmen und sie auf einen systemspezifischen Sinn ausrichten.243 Diesen Prozess schildert Willke (2000, S. 68ff.) relativ ausführlich, indem er die Evolution eines „Quasi-Systems“ zu einem (komplexen) System beschreibt. Dabei werden die verschiedenen Arten der Komplexität herausgefiltert, mit denen ein System konfrontiert ist. Im Zuge dessen werden die zentralen Aspekte verdeutlicht, mit denen sich ein soziales System auseinanderzusetzen hat, um handlungsfähig bleiben zu können. Diese Aspekte werden hier nach und nach herausgearbeitet und in den anschließenden Abschnitten genauer erläutert. Ein (Quasi-)System definiert sich, wie eingangs beschrieben, nicht durch den Bestand seiner Teile, sondern durch die Definition einer Systemgrenze, d.h. einer Differenz zwischen System und Umwelt.244 Das System sichert seinen Bestand dadurch, dass es eine bestimmte Grenze
240 241 242 243 244
Vgl. Willke (2000), S. 22. Willke (2000), S. 26, unter Hinweis auf Luhmann (1984a), S. 184ff. Vgl. Willke (2000), S. 32. Vgl. Willke (2000), S. 37f. Vgl. Willke (2000), S. 41.
3.1 Eine Theorie komplexer Systeme
51
bzw. Innen-/Außendifferenz aufrechterhält.245 So definiert sich beispielsweise ein Unternehmen als Organisationssystem über die Bereitstellung bestimmter Güter und Dienstleistungen, d.h. abstrakt gesprochen über die Koordination bestimmter wirtschaftlicher Tranksaktionen (vgl. Abschnitt 3.4.4). Die erste Art der Komplexität, der ein „Quasi-System“ ausgesetzt ist, ist sachliche Komplexität. So stellt sich für ein Unternehmen beispielsweise zunächst das Problem, welche Ereignisse in der Unternehmensumwelt für es relevant sind und wie es darauf reagieren kann. Diese sachliche Komplexität kann das System bewältigen, indem es seine Ressourcengewinnung aus der Umwelt und die Ressourcenverteilung intern regelt, d.h. im Fall eines Unternehmens z.B. Aufgaben definiert und diese einzelnen Mitgliedern zuordnet.246 Als Folge davon taucht im System soziale Komplexität auf: Die vielfältigen Aufgaben, die aus der sachlichen Komplexität resultieren, werden intern per Arbeitsteilung auf die Mitglieder verteilt. Es findet eine interne funktionale Differenzierung statt, im Rahmen derer Mitgliedern spezifische Rollen zugewiesen werden. Im Zuge dessen bilden sich interne Grenzen zwischen Teilsystemen (z.B. Arbeitsgruppen und Abteilungen), die Schwellen darstellen und die dafür sorgen, dass nur bestimmte funktionale Effekte von einem Teilsystem an ein anderes weitergeleitet werden. Diese Arbeitsteilung ermöglicht einen überlebenskritischen Zeitgewinn, indem systeminterne Prozesse erheblich beschleunigt werden können.247 So bearbeitet die Verkaufsabteilung beispielsweise die Produktbestellungen, beantwortet Kundenanfragen und verwaltet die Kundendaten. An die Produktion gibt es die nachgefragten Absatzmengen und Produktanforderungen weiter und an die Logistik die Adressen, Produktmengen und Termine für die Auslieferung der Produkte an die Kunden. Zeitliche Komplexität entsteht nun aus verschiedenen Gründen: Erstens sind die verschiedenen Rollen der Mitglieder intern aufeinander abzustimmen, d.h. nicht nur sachlich, sondern auch zeitlich zu koordinieren.248 Zweitens spielen für die Aufgaben in Unternehmen verschiedene Zeithorizonte eine zentrale Rolle, wenn beispielsweise die Aufgabenerfüllung in unterschiedlichem Maße von potenziellen zukünftigen Umwelt- und Systementwicklungen abhängig ist.249 Das System ist hier gefordert, diese Entwicklungen auf ihre Konsequenzen für das System und die verschiedenen Handlungsoptionen, die das System bereits in der Gegenwart auswählen und umsetzen muss, hin auszuloten. Drittens können die unternehmerischen Handlungen Rückkopplungen auslösen, die nach einer gewissen zeitlichen Verzögerung wieder auf das System zurückwirken. Das System befasst sich letztlich mit virtuellen systeminternen und -externen Ereignissen mit unterschiedlichen Zeithorizonten, von denen die verschiedenen Teilsysteme unterschiedlich betroffen sind – es bewältigt zeitliche Komplexität. Daraus resultieren Anschluss- und Synchronisierungsprobleme, die ein Quasi-System, in dem Prozesse nur geringfügig strukturiert sind, nicht mehr verarbeiten und steuern kann.250
245 246 247 248 249 250
Vgl. Luhmann (1973a), S. 175. Vgl. Willke (2000), S. 83. Vgl. Luhmann (1971c), S. 123, (1964), S 75ff., (1973a), S. 72, sowie Willke (2000), S. 84f. Vgl. Willke (2000), S. 85f. Vgl. Luhmann (1984a), S. 377ff., (1973a), S. 8-17, und (1976), S. 130ff. Vgl. Willke (2000), S. 88f., mit Bezug auf Maruyama (1967), S. 183.
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3 Neuere Systemtheorie
In diesem Sinne hat ein Unternehmen die Aufgabe, die Aktivitäten der verschiedenen Abteilungen untereinander und mit den Umweltanforderungen zeitlich zu koordinieren. Die Verkaufsabteilung leitet beispielsweise eine Kundenbestellung an die Produktion und Logistik mit der Vorgabe weiter, dass das Produkt binnen 48 Stunden an den Kunden auszuliefern ist. Die Produktion muss dann in der Regel bei Eingang der Bestellung bereits erfolgt sein. Die Produktionsabteilung ist somit darauf angewiesen, die Kundenbedarfe vorab zu antizipieren und die benötigten Produkte u.U. auf Lager zu produzieren. Sie wendet dabei Produktionsabläufe und -technologien an, welche die Forschungs- und Entwicklungsabteilung schon vorab bereits bis zur Produktreife entwickelt hat. Den zeitlichen Vorlauf, den die Forschungsund Entwicklungsabteilung benötigt, um die Produkte zur Befriedigung von (zukünftigen) Kundenbedürfnissen zu entwickeln, ist noch ungleich höher. Die Prognosen der Absatzmengen für die Produktionsabteilung und der Marktentwicklungen für die Forschungs- und Entwicklungsabteilung erstellt die Marketingabteilung z.B. auf der Basis von Kundenbefragungen und von Konjunkturprognosen. Diese Probleme zeitlicher Komplexität kann ein System lösen, indem es intern Strukturen und Prozesse als emergente Mechanismen ausdifferenziert. Strukturen bestimmen die sachliche Verknüpfung der Systemelemente, so dass im System nur bestimmte Selektionsmuster realisiert werden und andere für das System irrelevant sind. Prozesse legen demgegenüber die zeitliche Abfolge dieser Verknüpfungen fest, so dass das Nacheinander von Ereignissen nach einem bestimmten Muster selektiv gesteuert wird und daraus letztlich eine systemspezifische Zeit entsteht im Sinne einer temporalen Ordnungsform.251 Strukturen und Prozesse unterscheiden sich durch ihren Zeitbezug: Prozesse sind als Ereignisse immer einmalig und somit irreversibel. Strukturen sind demgegenüber relativ zeitlos und sorgen dafür, dass Prozesse in Systemen wiederholt werden und ähnliche Grundmuster aufweisen. Die Form, in der Prozesse erfolgen, kann wiederholt werden und ist reversibel.252 Diese Ausdifferenzierung in Prozesse und Strukturen gibt Systemen die Möglichkeit, sich von den Zwecken, welche die Umwelt dem System vorgibt, ein Stück weit zu lösen und sich selbst eigene Ziele zu setzen. Damit sieht sich das System einer neuen Art von Komplexität gegenüber: der operativen Komplexität, was letztlich nichts anderes ist als die eigene Sinnfrage. Je mehr Zwecke und Ziele denkbar sind, d.h. je freier das System bzgl. der eigenen Sinngebung ist, desto wichtiger ist es, dass es sich mit Hilfe eines kollektiven Bewusstseins mit der Sinnfrage auseinandersetzt und sich weitgehend widerspruchsfreie Ziele setzt, sich selbst also einen spezifischen Sinn verschafft. Um diese Aufgabe, welche die operative Komplexität Systemen stellt, bewältigen zu können, benötigen Systeme die Fähigkeit zur Reflexion, d.h. sich selbst thematisieren und die eigene Identität reflektieren zu können. Dies schließt insbesondere die Fähigkeit mit ein, sich selbst in Relation bzw. als Differenz zu anderen Identitäten zu sehen.253 Das System verfügt über Selbstbestimmung, wenn es sich selbst bewusst für bestimmte Ziele bzw. Präferenzen und ggf. die Veränderung derselben entscheidet und sich damit von seiner Umwelt ein Stück weit abgrenzt, d.h. relative Autonomie erlangt. Mit der Fähigkeit zur
251 252 253
Vgl. Willke (2000), S. 89 und 141, mit Bezug auf Luhmann (1984a). Vgl. Luhmann (1984a), S. 73 und 472. Vgl. Willke (2000), S. 75f. und 89f.
3.1 Eine Theorie komplexer Systeme
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Selbstbestimmung erlangt ein System schließlich Subjektheit und Identität, es wird von einem Quasi-System zu einem handlungsfähigen und selbst-organisierenden System.254 Um sich selbst reflektieren zu können, benötigt das System lernfähige und lernbereite kognitive Strukturen. Mit diesen „simuliert“ es bestimmte wirkliche oder potenzielle Umweltereignisse und prüft verschiedene systemeigene Strukturen und Prozesse im Hinblick auf ihre Effektivität, d.h. die eigene Zielerreichung. Auf diese Weise kontrolliert und steuert es bewusst die eigenen Handlungen und hinterfragt und verändert darüber hinaus die eigene Zielausrichtung und die eigene Identität.255 Das System reduziert seine eigene Komplexität, indem es sich auf bestimmte Ziele und einen Sinn festlegt, erlangt darüber hinaus jedoch weit reichende Fähigkeiten, so genannte emergente Eigenschaften komplexer Systeme (vgl. Abschnitt 3.1.3).256 In diesem Fall erwirbt das System die Fähigkeit zur Reflexion. Das Konzept der Reflexion von Luhmann (1973a, S. 172ff.) bedeutet nun, dass ein (Teil-) System prüft, inwieweit es selbst eine geeignete Umwelt für andere (Teil-)Systeme darstellt. Es bestimmt dabei das eigene Verhältnis zu sich selbst, zu seiner Umwelt und bezieht beide Beziehungen aufeinander.257 Reflexion thematisiert damit das Gesamtsystem und zieht in Erwägung, sich selbst zunächst zu beschränken, um für das Gesamtsystem eine kontinuierliche und langfristige Erweiterung der Möglichkeiten zu erreichen, von denen das System selbst wieder langfristig profitiert. Dass Reflexion für ein System rational wird, setzt jedoch voraus, dass auch zumindest die meisten anderen Systeme ebenfalls zur Reflexion bereit sind.258 Für ein Unternehmen bedeutet die Sinngebung, sich selbst im Rahmen eines Strategieprozesses Ziele zu setzen, z.B. sich auf die Bedienung eines bestimmten Marktsegments zu spezialisieren und unternehmensspezifische Kernkompetenzen aufzubauen. Es handelt dann gemäß dem Konzept der Reflexion, wenn es auf die kurzfristige Gewinnmaximierung z.B. durch die Entlassung eines großen Teils der Belegschaft verzichtet zugunsten eines kontinuierlichen Gewinns, der u.U. dann möglich ist, wenn das Vertrauen im Unternehmen nicht durch Entlassungen zerstört, sondern die Tatkraft und das Engagement der Mitarbeiter erhalten wird.259 Auf diese Weise wird das Konzept der Integration und Steuerung deutlich. Integration bedeutet, dass Teile sich in einer Weise aufeinander beziehen, dass für das gemeinsame Ganze emergente Eigenschaften entstehen können. Integration ist eine zwingende Voraussetzung für die Steuerbarkeit des Gesamtsystems, desintegrierte Systeme können nicht gesteuert werden. Dabei gibt es z.B. in der modernen Gesellschaft kein Ganzes, das die Integration leisten kann (z.B. eine Zentrale), sondern diese kann bei differenzierten Teilen nur von den Teilen selbst im Blick auf das Gesamtsystem erbracht werden. Integration beschreibt damit eine bestimmte Qualität eines Systemzustandes, einen modus vivendi der Teile in Bezug auf das Gesamt-
254 255 256 257 258
259
Vgl. Willke (2000), S. 78 und 91ff. Vgl. Seiler (1973), S. 13. Vgl. Willke (2000), S. 97, 99 und 114f., mit Bezug auf Parsons/Platt (1973), S. 33ff., und Stichweh (1994). Vgl. Luhmann (1975b), S. 73, 86 und 199, sowie (1973a), S. 172ff. Vgl. Luhmann (1973a), S. 109ff., Weber (1973), S. 337-339, Luhmann (1997), S. 866ff., Willke (2000), S. 98f., und Axelrod (1984). In Anlehnung an Weber (1972), S. 817-826.
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system: Die Teile sind so strukturiert, dass die Verteilung der kombinatorischen Gewinne, die durch die Interaktion der Teile erzielt werden, pareto-optimal ist.260 Steuerung bedeutet nun, dass relativ autonome Akteure so organisiert sind, dass sie in Bezug auf eine bestimmte Umwelt zielorientiert handlungsfähig gemacht werden. Sie bezeichnet in Abgrenzung zur Integration einen modus procedendi des Systems gegenüber der Umwelt und beschreibt die Qualität einer bestimmten Systementwicklung. Diese Systemsteuerung gelingt dann, wenn das System längerfristig konkurrenzfähig bleibt, dessen Überleben ermöglicht und verbessert und dadurch Systemevolution erlaubt.261 Daraus wird deutlich: Wenn sich Systeme Ziele setzen bzw. einen Sinn geben und damit eine Identität erlangen, reduzieren sie ihre Komplexität drastisch. D.h. sie schließen bestimmte Verhaltensmöglichkeiten ihrer Teile für sich aus. Daraus resultiert nun paradoxerweise für das System erst die Möglichkeit, seine Anschlussfähigkeit zu erhalten und Evolutionsstrategien zu verfolgen, d.h. die Systemevolution gezielt zu steuern.262 In den letzten Jahren haben auch Unternehmen dieses Problem für sich erkannt: Das langfristige Überleben in einem komplexen und dynamischen Wettbewerb verlangt von Unternehmen ein kontinuierliches organisationales Lernen. Dazu ist eine „Wandelfähigkeit“ vonnöten, die weit reichende diskursive Fähigkeiten verlangt, wie sie z.B. Rüegg-Stürm (2001, S. 312f.) als „Ordnungsmomente zweiter Ordnung“ – systemische Irritationstoleranz und Organisationsbewusstheit – beschreibt (vgl. Abschnitt 5.2.2). Systemische Irritationstoleranz bedeutet, dass Unternehmensmitglieder in der Lage sind, Chancen und Probleme frühzeitig wahrzunehmen und zu kommunizieren.263 Organisationsbewusstheit bezeichnet die Fähigkeit, die wirklichen Ursachen von Störungen und Widersprüchen, wie z.B. Konflikte im Unternehmen, erkennen und analysieren zu können.264 Insgesamt betont Rüegg-Stürm (2001, S. 324f. und 334ff.), dass für erfolgreichen unternehmerischen Wandel eine kollektive Selbstreflexion in Form eines konstruktiven Diskurses zentral ist. Komplexe Systeme erlangen, wie bereits beschrieben, im Umgang mit operativer Komplexität hoch entwickelte kognitive Fähigkeiten der Reflexion, d.h. der Selbst-Thematisierung und Selbst-Beschränkung. Die Fähigkeit zur Reflexion bedeutet z.B. für soziale Systeme, dass sie ihre Probleme diskursiv zu lösen versuchen, während dies bei psychischen Systemen ein gedanklicher Vorgang ist. Auf diese Art evolviert eine weitere Art von Komplexität: kognitive Komplexität, über deren Bedingungen, Funktionen und Folgen bislang allerdings noch wenig bekannt ist.265 Für Individuen bedeutet kognitive Komplexität die Fähigkeit, differenziert und relativ autonom wahrnehmen und beurteilen zu können.266 Auf der Ebene sozialer Systeme diskutiert 260 261 262 263 264 265
266
Vgl. Willke (2000), S. 106f. Vgl. Willke (2000), S. 107. Vgl. Luhmann (1975b), S. 206, und Willke (2000), S. 127f. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 317f. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 324, mit Bezug auf Heintel/Krainz (1994), S. 12ff. Vgl. Willke (2000), S. 111 und 113, mit Bezug auf Pringle (1974), Luhmann/Schorr (1986), Fisher/Ury (1991) und Senge et al. (1999). Vgl. Willke (2000), S. 113, mit Bezug auf Bieri (1966), Schroder/Suedfeld (1971), Norman (1976) und Minsky (1988).
3.1 Eine Theorie komplexer Systeme
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Etzioni (1971, Kapitel 6-9) in diesem Zusammenhang Wissen als wirksamen kybernetischen Steuerungsfaktor. Wissen gibt sozialen Systemen die Möglichkeit, aus systeminternen und -externen Informationen zielgerichtete Handlungsstrategien zu entwickeln. Damit das Wissen in diesem Sinne funktional sein kann, muss es selber eine gewisse Komplexität erlangen, adäquat gesteuert und schließlich befähigt werden, sich selbst reflexiv zu steuern.267 Je komplexer soziale Systeme werden und je stärker sie sich weiter entwickeln, desto größer wird das Problem ihrer kognitiven Komplexität und desto dringlicher wird es, dass sie komplexes Wissen aufbauen und adäquat handhaben. So sind z.B. die Wirkungen und Probleme, die neue Technologien in differenzierten Gesellschaften verursachen können, kaum mehr überschaubar.268 In diesem Sinne können das Ausbildungsniveau und der Entwicklungsstand des Wissenschaftssystems einer Gesellschaft als Ausdruck dessen interpretiert werden, wie diese mit kognitiver Komplexität umgeht. In der modernen Gesellschaft hatte dies zur Folge, dass aus ihren Funktionssystemen Reflexionssysteme emergierten und sich dadurch die Wissenschaft ausdifferenziert hat.269 Auch Unternehmen haben diese Entwicklung teilweise mit vollzogen. Die Managementliteratur betont seit vielen Jahren, dass Unternehmen ein adäquates Wissensmanagement als eine wichtige Voraussetzung für organisationales Lernen benötigen. Ein systematisches Wissensmanagement sammelt und speichert das Wissen der Mitarbeiter in unternehmerischen Wissenssystemen, bereitet es dort auf und vermittelt es wieder an die Mitarbeiter. Dieses unternehmerische Wissen umfasst z.B. Kenntnisse über Kunden, Märkte und deren Entwicklungen oder andere System- oder Umweltfaktoren, ebenso wie bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in den unternehmerischen Kernkompetenzen zum Ausdruck kommen. Ein Wissensmanagement erfordert wiederum den Einsatz von vernetzten Kommunikations- und Informationsstrukturen mit der Hilfe neuer Technologien aus den Bereichen der Informationstechnik, Telekommunikation und Medientechnik.270 Neben den Faktoren Wissen und Wissenschaft bilden offene und reproduktive Systeme im Laufe ihrer Evolution teilweise eine weitere Funktion heraus: die Funktion der Genese – eine emergente Eigenschaft hochkomplexer Systeme. Damit schließt sich der Kreis wieder zur oben beschriebenen ersten Funktion von Systemen: die Grenzziehung als erste Stufe der Systementwicklung. Genese bezeichnet die Fähigkeit, dass ein System sich über sich selbst hinaus entwickeln kann, also in der Lage ist, neue Systeme zu generieren bzw. aus sich selbst hervorzubringen. Hochkomplexe Systeme können so die Generativität als eine einzigartige Errungenschaft vorweisen. Auch von dieser Fähigkeit der Genese hängt mithin die Lebensfähigkeit sozialer Systeme ab. So verdankt beispielsweise die Gesellschaft ihre Ausdifferenzierung in Funktionssysteme generativen Mechanismen, d.h. der eigenen Fähigkeit zur Genese (vgl. Abschnitt 3.3).271 Auch die Ausdifferenzierungen von spezifischen Organisationssys-
267
268 269 270 271
Vgl. Etzioni (1971), Kapitel 6-9; Willke (1993), Abschnitt 4.2, und Willke (2000), S. 113f., mit Bezug auf Deutsch (1969), insbesondere Kapitel 10. Vgl. Willke (2000), S. 114ff., mit Bezug auf Deutsch (1969). Vgl. Willke (2000), S. 114f., mit Bezug auf Parsons/Platt (1973), S. 33ff., und Stichweh (1994). Vgl. Bullinger et al. (1996), S. 19 und 27f. Vgl. Willke (2000), S. 9f. und 121f.
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3 Neuere Systemtheorie
temen aus den Funktionssystemen heraus zeigen, dass die Funktionssysteme selbst ebenfalls teilweise generative Fähigkeiten entwickeln konnten (vgl. Abschnitt 3.4.3 und 3.4.4). Darstellung 3.1 zeigt noch einmal im Überblick die in diesem Abschnitt dargestellte Systementwicklung auf: von der Entstehung eines Quasi-Systems über dessen Weiterentwicklung zum komplexen bis hin zum hochkomplexen System. Dabei werden noch einmal zentrale Aspekte und Themen der neueren Systemtheorie und ihre Zusammenhänge verdeutlicht. Die folgenden Abschnitte werden einzelne dieser Aspekte genauer beleuchten. Komplexitätsprobleme --
Sachliche Komplexität
Soziale Komplexität
Zeitliche Komplexität
Operative Komplexität
Kognitive Komplexität
Bewältigungsstrategien x Grenzziehung zur Definition von System-/ Umweltdifferenz x Rollendefinition zur Bewältigung von Knappheit x Interne funktionale Differenzierung und Festlegung von Prozessregeln zur Schaffung von (sachlicher) Ordnung x Ausdifferenzierung von Strukturen und Prozessen zur zeitlichen Abstimmung x Sinngebung, Identitätsbildung x Integration und SelbstSteuerung x Aufbau und Steuerung von Wissen x Generative Differenzierung zur zielgerichteten Evolution
Systemzustand x Entstehung eines QuasiSystems x Quasi-System
x Quasi-System
Emergente Eigenschaften --
--
--
x Übergang zum komplexen System
x Strukturen und Prozesse
x Komplexes System
x Kognitive Strukturen (Fähigkeit zur Reflexion)
x (Hoch-)Komplexes System
x Wissenschaft x Generativität (Fähigkeit der Genese)
Darst. 3.1: Übersicht über die Systemevolution Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Willke (2000), S. 68ff., insbesondere S. 121.
3.1.3
Das Ganze und seine Teile: emergente Eigenschaften
Die obige Beschreibung der Entstehung eines „Quasi-Systems“ und dessen Entwicklung hin zu komplexen und schließlich hochkomplexen Systemen hat gezeigt, welche Komplexitätsprobleme Systeme im Laufe ihrer Evolution zu bewältigen haben. Es wurde deutlich, dass Systeme zu deren Bewältigung jeweils verschiedene Fähigkeiten entwickeln, die dann in aller Regel wieder neue Probleme heraufbeschwören. Um diese zu bewältigen, werden wiederum weitere Fähigkeiten entwickelt, die das System auf eine neue Entwicklungsstufe heben, usw.
3.1 Eine Theorie komplexer Systeme
57
Diese Fähigkeiten sind so genannte „emergente Eigenschaften“. Sie sind definiert als Eigenschaften, die komplexe Systeme im Laufe ihrer Entwicklung hervorbringen und nicht auf die Eigenschaften der Systemelemente reduziert bzw. aus den Eigenschaften der Systemelemente heraus erklärt werden können.272 Emergente Eigenschaften entstehen neu und sind nicht charakteristisch für die Systemelemente, sondern für die Evolutionsebene des komplexen Systems.273 Die Existenz emergenter Eigenschaften widerspricht damit dem methodologischen Individualismus und ist kennzeichnend für so genannte ganzheitliche Systemansätze.274 Die neuere Systemtheorie behauptet, „dass das Ganze etwas anderes ist als die Summe seiner Teile“275 – wobei dieses „Andere“ eben diese emergenten Eigenschaften sind.276 Sie spielen im Laufe der Entwicklung eines Systems eine wichtige Rolle. Dies wird deutlich, wenn man die vorab geschilderte Systementwicklung noch einmal Revue passieren lässt: Wie oben dargestellt, wird im Laufe der Systementwicklung Komplexität aufgebaut, um mit den Problemen sachlicher und sozialer Komplexität fertig zu werden: Es werden Aufgaben definiert und die Aufgabenerfüllung wird – funktional differenziert – bestimmten Rollen zugeordnet.277 Die zeitliche Komplexität, die nun entsteht, wird durch eine systeminterne Differenzierung in Strukturen und Prozesse bewältigt, als erste emergente Eigenschaften, die im Laufe der Systementwicklung entstehen.278 Diese sachlichen und zeitlichen Verknüpfungen der systeminternen Ereignisse durch Strukturen und Prozesse stellen bereits eine erste Reduktion von Komplexität dar. Sie erlauben es dem System, sich von den Zwecken, welche die Umwelt ihm vorgibt, teilweise zu lösen und eigene Zielausrichtungen auszuwählen. Damit ist hier der Übergang von einem Quasi-System zu einem (komplexen) System markiert.279 Die Frage nach der eigenen Zielsetzung wirft schließlich das Problem der operativen Komplexität auf. Dieses löst das System, indem es Komplexität radikal reduziert: Es gibt sich einen Sinn bzw. eine Identität. Hierfür benötigt das System weitere emergente Eigenschaften: Es bilden sich kognitive Strukturen, mit denen das System die Fähigkeit zur Reflexion erlangt. Das System ist sich nun seiner selbst bewusst und thematisiert sich selbst, seine Beziehung zur Umwelt und setzt beides miteinander in Beziehung. Das Ziel, um den eigenen langfristigen Bestand zu sichern, ist die Integration der Systemelemente und die Selbst-Steuerung (vgl. Abschnitt 3.2.2).280
272 273 274
275 276 277 278 279 280
Vgl. von Foerster (1985b) und Watzlawick (1981). Vgl. Krohn/Küppers (1992) und hinsichtlich des organisationalen Lernens Kofman/Senge (1994). Vgl. Willke (1999), S. 54f. Ganzheitliche Systemansätze werden auch als systemische oder „ökologische“ Systemansätze bezeichnet (vgl. Willke (1999), S. 54f.), wobei „ökologisch“ hier nicht wie in der vorliegenden Arbeit der Fall, als die natürliche (ökologische) Umwelt betreffend definiert ist. Willke (2000), S. 131, Hervorhebungen im Original. Vgl. Willke (2000), S. 131. Vgl. Willke (2000), S. 82ff., mit Bezug auf Luhmann (1971c), S. 123, und Mayntz et al. (1988). Vgl. Willke (2000), S. 88f., mit Bezug auf Luhmann (1984a), S. 377ff., und (1997), S. 997ff. Vgl. Willke (2000), S. 90ff. und 140f. Vgl. Willke (2000), S. 75f. und 89ff.
58
3 Neuere Systemtheorie
Für Funktionssysteme geschieht diese Sinngebung beispielsweise mittels so genannter symbolisch codierter Steuerungsmechanismen, die eine Ordnungsleistung für das System erbringen, indem sie die Systemelemente integrieren.281 Diese Steuerungsmechanismen zwingen die systeminterne Kommunikation der ausdifferenzierten funktionalen Teilsysteme auf eine binäre Kommunikation (vgl. hierzu Abschnitt 3.3.2 und 3.3.3). Im Fall der Wirtschaft übernimmt diese Funktion das Geld, das wirtschaftliche Kommunikation in den Code „Zahlung – Nicht-Zahlung“ zwingt (vgl. Abschnitt 3.4.1). Das System versucht nun, mit Hilfe seiner kognitiven Strukturen seine systeminternen und -externen Wirkungen zu reflektieren bzw. zu „simulieren“ und daraus zielgerichtete Handlungsstrategien zu eruieren, mit dem Ziel der Selbst-Steuerung. Dadurch sieht sich das System einem weiteren Problem gegenüber: der kognitiven Komplexität. Auf diese Weise wird die Bildung und Steuerung des (komplexen) Systemwissens ein zentraler Steuerungsfaktor für das System, um mit kognitiver Komplexität umgehen zu können. Die Fähigkeit, die sich im System herausbildet, ist die der Selbst-Steuerung des Wissens, mit anderen Worten: das Wissenschaftssystem.282 Darüber hinaus sind komplexe Systeme auch teilweise in der Lage, im Laufe ihrer Evolution eine weitere Fähigkeit (emergente Eigenschaft) auszubilden: die Genese. Dies gilt z.B. für die moderne Gesellschaft, die mit Hilfe generativer Mechanismen Funktionssysteme ausdifferenziert hat, und für die Funktionssysteme selbst, die z.T. spezifische Organisationssysteme ausbilden konnten.283 Diese Systemevolution zeigt, dass auf den Entwicklungsstufen von Systemen in der Regel zunächst Komplexität reduziert wird, d.h. die Möglichkeiten der einzelnen Systemelemente eingeschränkt werden. Das Ganze ist damit zunächst weniger als die Summe seiner Teile.284 Allerdings ermöglicht paradoxerweise gerade diese Reduktion der Möglichkeiten, dass das System bestimmte emergente Eigenschaften entwickeln kann und es letztlich auch mehr (oder zumindest etwas anderes) ist als die Summe seiner Teile.285 Mit der obigen Darstellung der Entwicklungsstufen von Systemen wurden die wesentlichen Teilbereiche und wichtigen Aspekte der neueren Systemtheorie aufgefächert und in Bezug zueinander gesetzt. In den folgenden Abschnitten wird nun auf einzelne, für die vorliegende Arbeit zentrale Aspekte genauer eingegangen: den Sinn und die Grenzziehung komplexer Systeme, die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft, die damit einhergehenden Probleme sowie schließlich spezielle gesellschaftliche Teilsysteme, die für die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns von Unternehmen relevant sind: Wirtschaft, Moral, Organisationen und Unternehmen.
281 282 283 284 285
Vgl. Willke (2000), S. 139f. Vgl. Willke (2000), S. 97ff und 111ff. Vgl. Willke (2000), S. 9f. und 121f. Vgl. Willke (2000), S. 138. Vgl. Willke (2000), S. 131, mit Bezug auf Krohn/Küppers (1992).
3.2 Sinn und Grenzziehung komplexer Systeme 3.2
59
Sinn und Grenzziehung komplexer Systeme
Welchen Sinn haben Systemgrenzen? Systeme definieren sich über ihre Grenzen zur Umwelt, d.h. über ihre System-/Umwelt-Differenz.286 Die obige Darstellung einer Systementwicklung hat verdeutlicht, dass sich im Laufe der Evolution komplexer Systeme für das System die Frage nach dem eigenen Sinn stellt. Welche Bedeutung dies für das System hat, wird in Abschnitt 3.2.1 erläutert. Im Laufe der Entwicklung nimmt die Autonomie von Systemen gegenüber ihrer Umwelt zu. Dies führt gemäß dem Autopoiese-Konzept dazu, dass komplexe Systeme gleichzeitig offen und geschlossen sind (Abschnitt 3.2.2). Die Autopoiesis komplexer Systeme hat weit reichende Auswirkungen darauf, wie Systeme sich gegenseitig und sich selbst beobachten können (Abschnitt 3.2.3), wie durch Beobachtung Systemidentität entsteht (Abschnitt 3.2.4) und wie autopoietische Systeme miteinander strukturell gekoppelt sind (Abschnitt 3.2.5). 3.2.1
Sinn und Grenzen von Systemen
Komplexe Systeme geben sich über motivationale und kognitive Prozesse einen Sinn und grenzen sich damit von ihrer Umwelt ab. Viele Anzeichen sprechen dafür, dass dieser Sinn an die Stelle der Überlebensfrage tritt. Ausgehend von biologischen Modellen wurde und wird oft davon ausgegangen, soziale Systeme würden letztlich immer ihr eigenes Gleichgewicht oder Überleben zu sichern suchen. Dagegen sprechen jedoch verschiedene soziale Phänomene, die biologisch nicht mehr zu erklären sind. So setzen beispielsweise Märtyrer ihr eigenes Leben für die Realisierung einer Idee aufs Spiel, oder Gruppen oder ganze Völker versuchen, bestimmte religiöse, politische oder moralische Postulate zu bewahren oder durchzusetzen – auch auf die Gefahr hin, dass sie ihre Existenz dabei verlieren. Darum wird auch in der vorliegenden Arbeit die These vertreten, dass das oberste Ziel eines komplexen sozialen Systems nicht darin besteht, langfristig die eigene Existenz zu sichern, sondern den eigenen Sinn zu erfüllen. Dieser Sinn ist das Steuerungskriterium des Systems und bildet die Basis für dessen Organisation.287 Dabei sind es letztlich symbolische Sinnsysteme oder „Sinnwelten“, die diese Ordnung schaffen.288 Hierfür spielt die Systemgrenze eine wesentliche Rolle. Sie bildet einen Zusammenhang selektiver Mechanismen, die auf der ersten Entwicklungsstufe eines Systems die Kriterien definieren, die zwischen dem System und seiner Umwelt, zwischen Interaktionen, die zum System dazugehören oder nicht dazugehören, differenzieren. Damit ermöglichen Grenzen, die Aufmerksamkeit, Zeit und Energie des Systems auf das für das System Wesentliche (Sinnvolle) hin zu lenken und damit gezielt Umweltkomplexität zu reduzieren. Die neuere Systemtheorie ist letztlich eine Theorie, die Systeme im Hinblick auf ihre Beziehungen zur Umwelt, d.h. auf die Differenz zwischen dem System und dessen Umwelt hin, erfasst.289 Die Erhaltung eines Systems bedeutet infolgedessen nicht, dass bestimmte Systemelemente und
286 287 288 289
Vgl. Willke (2000), S. 41. Vgl. Willke (2000), S. 38 und 40. Vgl. Berger/Luckmann (1980), S. 104-106. Vgl. Willke (2000), S. 41, 50f., und Luhmann (1988b), S. 33.
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3 Neuere Systemtheorie
-strukturen unveränderlich erhalten bleiben, sondern dass eine bestimmte System-/Umweltdifferenz, d.h. eine bestimmte Systemgrenze, aufrechterhalten und stabilisiert wird.290 Grenzen definieren mithin nicht nur, was zum System gehört und was ausgeschlossen ist, sondern auch die Bedingungen, mit denen systeminterne Operationen auf sich selbst verweisen. Grenzen ermöglichen damit die Selbstverweisung bzw. Selbstreferenz von Systemen. Wird diese Selbstreferenz so weit gesteigert, dass die Konstitution von Systemoperationen grundsätzlich auf sich selbst verweist, d.h. auf Selbstreferenz beruht, dann erreicht das System eine operative Geschlossenheit. Diese operative Geschlossenheit systemintern produzierter und prozessierter Regeln macht im Wesentlichen die Identität des Systems aus, die letztlich durch die Grenze ermöglicht und erhalten werden kann.291 Dieser Zusammenhang wird in den nächsten Abschnitten noch genauer erläutert werden. Ein System konstituiert sich durch Sinn, wenn die beiden folgenden Bedingungen vorliegen: Das System ist sich erstens seiner Fähigkeit zur Selbstthematisierung bewusst. Zweitens begreift es die interne Komplexitätsreduktion, z.B. durch Strukturen und Prozesse, als vorläufige Einschränkung, die eine notwendige Vorbedingung für die Entwicklung emergenter Eigenschaften darstellt. Sinnhafte Systeme können nun, weil sie sich dieser Einschränkung und auch der Vorläufigkeit derselben bewusst sind, ihre Strukturen und Prozesse selbstbewusst verändern, indem sie Möglichkeiten, die sie im Laufe der Komplexitätsreduktion ausgeschlossen hatten, reaktivieren und schließlich realisieren.292 Systemhandeln ist nun definiert als die bewusste Auswahl zwischen Möglichkeiten. Ein solches Handeln wird durch sinnhafte Systeme erst ermöglicht, aber auch erzwungen. Denn im Laufe der Systemevolution sind automatische Selektionssteuerungen wie Instinkte, Reflexe oder Affekte in der komplexen Umwelt in der Regel unangemessen. In sozialen Systemen besteht infolgedessen ein ständiger Begründungszwang für jede Form der Aktivität. Durch „vernünftige“, d.h. sinnhafte Begründungen und Motive können so kontingente Selektionen geordnet und chaotische Wirkungen vermieden werden. Diese Begründungen und Motive ermöglichen, dass in sozialen Systemen Erwartungen gebildet werden können und solche Verknüpfungsmöglichkeiten entstehen, die Anschlussselektionen und damit den Fortbestand des Systems ermöglichen.293 Wird eine Selektion dem selektierenden System zugerechnet, bezeichnet Luhmann dies als Handeln, und wenn eine Selektion auf die Umwelt zugerechnet (Fremdzurechnung) wird, als Erleben.294 Soziale Systeme, die aus Kommunikationen bestehen, benötigen in Anlehnung an Max Weber eine gemeinsame sinnhafte Orientierung als Grundbedingung dafür, dass ein systemischer Zusammenhang von Interaktionen entsteht, die wechselseitig verstanden werden können. Ein systemspezifischer, intersubjektiv geteilter Sinn grenzt damit ab, was als sinnvoll und sinnlos gilt. Diese Sinnzusammenhänge entstehen durch kognitive Strukturen, gemeinsame Werte, Normen, Ideologien oder Weltbilder oder durch symbolische Codes wie Sprache, Recht,
290 291 292 293 294
Vgl. Luhmann (1973a), S. 175, und (1971c), S. 39. Vgl. Willke (2000), S. 57. Vgl. Willke (2000), S. 142f. Vgl. Willke (2000), S. 143 und 149f. Vgl. Willke (2000), S. 150, mit Bezug auf Luhmann (1995).
3.2 Sinn und Grenzziehung komplexer Systeme
61
Moral, Wahrheit oder Geld.295 Dabei werden regulative Mechanismen, die Kommunikationen auf den Sinn eines sozialen Systems hin ausrichten, als Präferenzordnung des sozialen Systems bezeichnet.296 Soziale und psychische Systeme haben einen Grad an Komplexität und Differenzierung gegenüber ihrer Umwelt erreicht, der es ihnen ermöglicht, interne Außenweltmodelle zu bilden, in Abgrenzung dazu im Rahmen reflexiver Prozesse ein Selbstbewusstsein zu erlangen und sich eine eigene Identität zu geben (vgl. das Thema Beobachtung in Abschnitt 3.2.3).297 Dabei hängt es von den perzeptiven und kognitiven Präferenzen des sozialen Systems und den damit einhergehenden Symbolsystemen ab, welche Umweltinformationen es aufnimmt und wie es diese Informationen verarbeitet und auswertet (vgl. das Thema strukturelle Kopplung und Resonanz in Abschnitt 3.2.5).298 Symbole bezeichnen systemspezifische generalisierte Interpretations- und Zurechnungsregeln. Diese steuern verbindlich, welche Interaktionen sinnhaft sind oder nicht, d.h. zu einem System dazugehören oder nicht. Auf diese Weise findet eine erste Vorselektion von Umweltdaten statt. Symbolsysteme sind beispielsweise Sprachen und symbolische Steuerungssprachen wie Geld, Macht, Vertrauen, Glaube und Wissen.299 Der Zusammenhang zwischen dem System und seinem Sinn ist ein wechselseitiger: Systeme erzeugen kontinuierlich ihren eigenen Sinn und erlangen umgekehrt durch diese Sinngebung erst ihre Existenz. Dieses wechselseitige Verhältnis bezeichnet Luhmann als Konstitution.300 3.2.2
Autopoiese-Konzept
Im vorherigen Abschnitt wurde die Grundidee des Autopoiese-Konzepts bereits kurz angesprochen: Systemgrenzen definieren einerseits die Differenz zwischen einem System und dessen Umwelt. Andererseits klären sie auch die Bedingungen, mit denen systeminterne Operationen auf sich selbst verweisen, und ermöglichen damit die Selbstreferenz eines Systems. Wenn diese Selbstreferenz dergestalt ist, dass Systemoperationen zwingend auf sich selbst verweisen und sich selbst reproduzieren, ist das System operativ geschlossen.301 Das Autopoiese-Konzept von Maturana (1982) und Varela (1979, 1990), auch Konzept der operativen Geschlossenheit selbstreferentieller Systeme genannt, besagt nun, dass alle komplexen Systeme autopoietische Systeme sind. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich selbst kontinuierlich reproduzieren. Dabei reproduzieren sie die Elemente, aus denen sie bestehen, mit Hilfe der Elemente, aus denen sie bestehen. Bezüglich dieser Tiefenstruktur der Selbststeuerung („basalen Zirkularität“) sind komplexe Systeme operativ geschlossen und damit (ausschließlich) in dieser Hinsicht von der Umwelt völlig unabhängig und unbeeinflussbar. Dies gilt so auch für lebende Systeme, wie z.B. den menschlichen Körper in Gestalt der Homöostase, die für ein Gleichgewicht physiologischer Körperfunktionen sorgt. Wird 295 296 297 298 299 300 301
Vgl. Willke (2000), S. 41f., mit Bezug auf Luhmann (1984a), S. 92ff. Vgl. Willke (2000), S. 41f. Vgl. Luhmann (1984a), S. 593ff., (1995), S. 9ff., und Willke (1993), S. 120ff. Vgl. von Foerster (1985a), Willke (1993), Willke (2000), S. 46ff., und Luhmann (1995), S. 151ff. Vgl. Willke (2000), S. 47f. Vgl. Willke (2000), S. 48f., mit Bezug auf Luhmann (1971a), S. 30. Vgl. Willke (2000), S. 57.
62
3 Neuere Systemtheorie
diese operative Geschlossenheit lebender Systeme zerstört, bricht ihre Autopoiese zusammen und sie hören auf, als lebende Systeme zu existieren.302 Die Eigendynamik komplexer autopoietischer Systeme ist damit darauf ausgerichtet, sich selbst zu reproduzieren und damit die eigene Autopoiesis fortzusetzen.303 Dies setzt die Anschlussfähigkeit des Systems voraus, d.h. die Fähigkeit, solche Ereignisse zu selektieren, die dem System die Möglichkeiten erhalten, weitere Ereignisse selektieren zu können.304 Dabei definiert die jeweilige systemische Eigenlogik die Anschlusszwänge, Kompatibilitäten und andere Restriktionen, und ermöglicht so ausschließlich solche Anschlusshandlungen, die zum System passen. Auch hier wird wieder deutlich, dass das Ganze, das gesamte System, weniger ist als die Summe seiner Teile: Das Gesamtsystem zwingt die Möglichkeiten der einzelnen Teile auf die dem System innewohnende Eigenlogik.305 Auch soziale Systeme sind autopoietische Systeme. Sie bilden generative Mechanismen aus, mit denen sie sich, ähnlich einem genetischen Code, reproduzieren. Dabei bleibt ein begrenzter Bereich erhalten, innerhalb dessen Variationen und Unbestimmtheiten möglich sind, so dass sich komplexe Systeme auch evolutionär verändern können. Die funktionale Differenzierung ist beispielsweise ein solcher generativer Mechanismus, ebenso wie symbolisch generalisierte Steuerungsmedien und integrative Instanzen (vgl. Abschnitt 3.3).306 Dass autopoietische Systeme bezüglich ihrer Selbststeuerungsstruktur geschlossen sind bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht in anderer Hinsicht offene Systeme sind. Komplexe Systeme benötigen Energie und Informationen aus ihrer Umwelt und sind in dieser Hinsicht gegenüber ihrer Umwelt notwendigerweise offen und verarbeiten für sie bedeutsame Differenzen. Dabei gilt, dass erst die partielle Geschlossenheit des Systems dieses in die Lage versetzt, offen zu sein. Mit anderen Worten: Erst wenn Systeme ihre eigene selbstreferenzielle Kontinuierung gesichert haben, können sie mit der Umwelt in Verbindung treten. Dabei hängt die Art und Weise dieser Umweltbeziehungen davon ab, wie das autopoietische System „Umweltirritationen“ intern verarbeiten kann, d.h. wie es sich intern selbst steuert (vgl. das Thema strukturelle Kopplung in Abschnitt 3.2.5).307 Unternehmen laufen beispielsweise Gefahr, ihre Existenz zu verlieren, wenn sie aufhören, in Erfolgspotenziale wie z.B. technologische Innovationen zu investieren, oder wenn ihre Innovationen so neuartig sind, dass sie von den Kunden nicht akzeptiert werden und Anschlusskäufe ausbleiben.308 Ein Problem der autopoietischen Funktionsweise von Systemen sieht auch Luhmann (1988b, S. 38): Systeme können theoretisch so auf ihre Umwelt einwirken, dass sie in dieser in Zukunft selber nicht mehr existieren können, mithin ihre eigene Existenzgrundlage zerstören. Diese Gefahr besteht z.B. bezüglich der ökologischen Auswirkungen gesellschaftlichen Han-
302 303 304 305 306 307 308
Vgl. Willke (2000), S. 8f. und 58f., mit Bezug auf Maturana (1982), S. 35 und 58. Vgl. Luhmann (1988b), S. 37. Vgl. Luhmann (1975b), S. 206, und Willke (2000), S. 127f. Vgl. Willke (1999), S. 56. Vgl. Willke (2000), S. 9f. Vgl. Willke (2000), S. 59f. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 84.
3.2 Sinn und Grenzziehung komplexer Systeme
63
delns. Systeme sind zuerst darauf aus, ihre autopoietische Funktionsweise zu erhalten, ohne dabei die eigenen Auswirkungen auf die Umwelt zu berücksichtigen. Der nächste Schritt, das Überleben heute und morgen, ist dem System typischerweise wichtiger als die mittel- bis langfristige Existenz, die es im Fall einer Rücksichtnahme auf die Umwelt u.U. gar nicht erreichen würde.309 Auch Individuen bzw. Personen sind autopoietische psychische Systeme, denn das menschliche Nervensystem erzeugt ein Bewusstsein, indem es Vorstellungen und Gedanken prozessiert. Die Konstitution des menschlichen Bewusstseins, nicht jedoch dessen Inhalt, folgt ausschließlich der Organisationsweise neuronaler Systemstrukturen. Umweltereignisse können zwar neuronale Relationen anstoßen, sie können jedoch nicht determinieren, wie das neuronale System mit diesen Reizen umgehen wird.310 Denn für die grundlegende Organisationsweise, wie das psychische System Gedanken prozessiert, gibt es weder Input noch Output, sie ist zirkulär geschlossen. Damit macht Luhmann (1985, S. 404) deutlich: Zwischen Bewusstseinssystemen ist ein unmittelbarer Kontakt nicht möglich. Bewusstseinssysteme können sich allenfalls wechselseitig beobachten und miteinander kommunizieren.311 Auch wenn psychische und soziale Systeme füreinander Umwelt darstellen, sind sie doch gänzlich aufeinander angewiesen und „interpenetrieren“ einander. Trotzdem sind sie jeweils operativ geschlossen. Dies gilt so natürlich auch für das psychische und das biologische System eines Menschen.312 Das Bewusstsein (das psychische System) ist vollständig auf den Organismus (das biologische System) angewiesen. Trotzdem funktionieren beide Systeme sehr unterschiedlich.313 Soziale Systeme sind darum nicht mit psychischen Systemen gleichzusetzen, weil sie jeweils ihren eigenen Gesetzlichkeiten unterliegen. Auch wenn sich soziale und psychische Systeme gleichermaßen über Sinn konstituieren, unterscheiden sie sich hinsichtlich der Prozessierungsform von Sinn: Psychische Systeme verarbeiten Sinn in Form von Vorstellungen und Gedanken, soziale Systeme in Form sprachlich-symbolisch vermittelter Kommunikation.314 Das Autopoiese-Konzept betont nun, dass Menschen nicht nur durch ihr Verhalten, sondern insbesondere durch ihre Beobachtungen, bestehend aus Wahrnehmungen und Interpretationen, an der Bildung einer sozialen Wirklichkeit teilhaben. Die Beobachtungen gehen mit dem Verhalten einher, konstituieren mit diesem die laufenden Systemhandlungen und konstruieren auf diese Weise die soziale Wirklichkeit.315 In diesem Sinne unterscheiden Maturana/Varela (1987) und Luhmann (1988a, S. 332) bei der Wirklichkeitskonstruktion sozialer Systeme zwei Ebenen: jene der Verhaltensweisen des Systems und jene der Beobachtungen und semantischen Beschreibungen. Diese Zweiteilung kommt auch im neuen St. Galler Management-Modell von Rüegg-Stürm (2002 und 2001) zum Tragen (vgl. Kapitel 5). Da die Prozesse der Be-
309 310 311 312
313 314 315
Vgl. Luhmann (1988b), S. 38. Vgl. Willke (2000), S. 60, mit Bezug auf von Foerster (1985b), S. 51. Vgl. Willke (2000), S. 60f., mit Bezug auf Luhmann (1985), S. 404. Wie bereits eingangs des Kapitels beschrieben, sind Menschen psychische und biologische Systeme und für die Gesellschaft Umwelt. Vgl. Luhmann (1997), S. 9f. Vgl. Luhmann (1997), S. 103. Vgl. Luhmann (1986), S. 19, und (1984a), S. 192ff. Vgl. Baecker (1993), S. 176.
64
3 Neuere Systemtheorie
obachtung einen ganz wesentlichen Einfluss auf die Prozesse des Verhaltens ausüben, widmet sich der nächste Abschnitt eingehender dem Phänomen der Beobachtung von Systemen. 3.2.3
Beobachtung
Die Autopoiesie komplexer Systeme bedeutet wie oben erwähnt, dass es keinen unmittelbaren Kontakt zwischen diesen Systemen geben kann. Sie können einander nur zu eigenen Operationen anstoßen („irritieren“). Dies gilt auch für die Beobachtung von Systemen, wie im Folgenden deutlich werden wird. Als Beobachtung wird eine Position bezeichnet, die eine andere Operation auf Basis einer Differenz als „dies und nicht das“ bezeichnet.316 Beobachtung ist damit schlicht die Feststellung eines Unterschieds.317 Um eine Beobachtung überhaupt machen zu können, legt ein System zunächst eigene Unterscheidungen bzw. Differenzen fest, die es ihm ermöglichen, Zustände und Ereignisse zu unterscheiden, die dann für das beobachtende System Informationen darstellen. Informationen sind immer nur Informationen für das spezifische System, d.h. eine rein systeminterne Qualität.318 Sie sind folglich definiert als Unterschiede, die für das betreffende System einen Unterschied ausmachen, also für den Beobachter bedeutsam sind.319 Damit wird deutlich, dass Informationen nicht aus der Umwelt in das System gelangen können, sondern im System selbst erzeugt werden. Die Umwelt enthält allenfalls Daten, die u.U. eine interne Beobachtung anregen.320 Dabei kann ein System immer nur das beobachten, was im System in Form einer Differenz vorliegt oder in eine solche Form gebracht werden kann, was also für das beobachtende System Sinn macht.321 Ein systemeigenes Differenzschema legt fest, was und was nicht für das System einen Unterschied macht. Es kann erst gebildet werden, wenn eine Systemgrenze gezogen ist, denn diese systemeigene Differenz zur Umwelt definiert, welche Daten, welche Ereignisse für das System von Bedeutung sind, und – noch einen Schritt weiter – welche Ereignisse es erwartet. Denn es sind letztlich erfüllte oder nicht erfüllte Erwartungen des Systems, die auf die Bildung und Weiterentwicklung eines Differenzschemas einwirken. Damit wird auch hier wieder deutlich: Erst die Geschlossenheit eines Systems ermöglicht dessen Offenheit; die Bildung des selbstreferenziellen Differenzschemas anhand systeminterner Erwartungen ermöglicht erst die Beobachtung von Umweltereignissen. Die Erfassung von Informationen ist ein rein interner Prozess und befähigt das System gleichzeitig, auf das zu reagieren, was für es die (relevante) Umwelt ist. Die Gesellschaft beobachtet sich nun laufend selbst, parallel zum systemeigenen Verhalten. Mit anderen Worten: Die Gesellschaft handelt, indem sie sich laufend verhält und beobachtet. Diese Selbstbeachtung erzeugt nun ebenfalls Effekte im System, die oft konträr zu denen sind, welche die Operationen des Verhaltens selbst intendieren.322
316 317 318 319 320 321 322
Vgl. Luhmann (1988b), S. 229. Vgl. von Foerster (1985b). Vgl. Luhmann (1988b), S. 44f. Vgl. Bateson, (1972), S. 453. Vgl. Luhmann (1988b), S. 45. Vgl. Willke (1999), S. 17. Vgl. Luhmann (1988b), S. 45f. und 49.
3.2 Sinn und Grenzziehung komplexer Systeme
65
Prozesse der Beobachtungen unterliegen damit deutlich einer konstruktivistischen Perspektive, wie Luhmann (1998b, S. 47) verdeutlicht: „Man muß daher fragen, in welchem Differenzschema Tatsachen erfaßt werden, welche Wunschzustände die Zustände ins Relief setzen und wie Erwartungen an das herangeführt werden, was in bezug auf sie dann als Realität erscheint.“
Konstruktivismus geht davon aus, dass Beobachten nicht „objektiv“ sein kann, da der Beobachter zwingend nur die eigenen Mittel des Beobachtens und Verstehens zur Verfügung hat. Die Logik der Beobachtung ist grundsätzlich die Logik der kognitiven Struktur des beobachtenden Systems. Der beobachtete Gegenstand wird durch den Beobachter konstruiert, indem dieser ihn bezeichnet und beschreibt. Bezeichnen heißt, dass der Beobachter den Gegenstand in Differenz zu allen anderen Gegenständen und auch zu sich selbst setzt. Beschreiben wiederum bedeutet, „die tatsächlichen oder möglichen Interaktionen und Relationen des Gegenstandes aufzuzählen“323 mit dem Ziel, die innere Funktionslogik des Gegenstandes zu erfassen. Folglich bedeutet Selbstbeobachtung nichts anderes als die Erschließung der eigenen Funktionslogik.324 Daraus wird deutlich: Die Referenz der Beobachtung ist nicht, wie es im Alltag vielleicht den Anschein hat, der Gegenstand der Beobachtung, sondern der Beobachter, also eine Selbstreferenz. In einfachen Worten ausgedrückt: Die Aussage eines Beobachters A über eine beobachtete Person B sagt mindestens soviel über A aus wie über B. Denn Wahrnehmung ist immer abhängig von den Erfahrungen, Erwartungen und Einstellungen des Beobachters. Sie ist selektiv und strukturbestimmt. Eine direkte unmittelbare Beobachtung fremder Systeme ist aus zwei Gründen unmöglich: Erstens kann das beobachtete System nur dann durch einen Beobachter als Einheit erkannt werden, wenn es eine unterscheidbare Funktionslogik aufweist, d.h. wenn die Systemoperationen des beobachteten Systems zwingend auf das System selbst verweisen. Zweitens ist der Beobachter als Person selbst ein autopoietisches System und daher aus den genannten Gründen nicht in der Lage, fremde Systeme unmittelbar zu beobachten.325 Beschrieben werden kann schließlich nur das, was beobachtbar ist und in die Form einer semantischen Figur gebracht werden kann. Damit ist Beschreiben noch weit zwingender als Beobachten auf die Ebene sozialer Systeme festgelegt, weil es auf Kommunikation angewiesen ist. Denn auch für die Kommunikation, d.h. für das Anfertigen semantischer Beschreibungen, gilt, was für das Erfassen von Informationen zutrifft: Sie ist auf Differenz ausgerichtet. Sie produziert Negationen bzw. Dissens, denn die Beschreibung eines Gegenstandes erfolgt immer über dessen Abgrenzung zu anderen Gegenständen oder Phänomenen. Beschreiben ist folglich noch stärker als Beobachten ein reflexiver Prozess und beruht auf Selbstreferenz, ist mithin eine soziale Konstruktion, in die der Beschreibende zwangsläufig integriert ist und damit in allererster Linie seine eigene Welt reproduziert. Beim Versuch, divergierende Systembeschreibungen kommunikativ abzustimmen, wird zudem eine weitere Differenz, die zwischen der Inhaltsebene und der Beziehungsebene, genutzt. So können auf der Inhaltsebene
323 324 325
Maturana (1982), S. 34. Vgl. Willke (2000), S. 157f., mit Bezug auf Maturana (1982), S. 16 und 34. Vgl. Willke (2000), S. 158, mit Bezug auf Luhmann (1984a), S. 654.
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3 Neuere Systemtheorie
Verweisungszusammenhänge durchbrochen und diese gleichzeitig auf der Beziehungsebene erhalten werden, damit die inhaltliche Diskrepanz erträglicher wird.326 Wie kann nun schließlich ein System ein Anderes, das Teil seiner Umwelt ist, beobachten? Ein System erfasst seine Umwelt im Rahmen fremdreferenzieller Informationsverarbeitung. Dabei ist Umwelt, wie bereits beschrieben, eine rein systeminterne Prämisse, die ein System nur dann erfassen kann, wenn es in seinem Differenzschema die Unterscheidungen zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz, d.h. zwischen „innen“ und „außen“, verwendet.327 Wenn ein System ein anderes beobachtet, nennt Luhmann (1988b, S. 53) dies „Beobachtung zweiter Ordnung“. Auf diese Weise ist es einem System möglich, die Beschränkungen des beobachteten Systems aufgrund dessen spezifischer Verhaltensweise zu beobachten. Ebenso kann das beobachtende System die Beschränkungen der Umwelt des beobachteten Systems, d.h. nicht dessen Systemgrenzen, sondern dessen Horizont, beobachten. Auf diese Weise kann es selber im Sinne einer „Kybernetik zweiter Ordnung“328 erkennen, welche Wirkung das System-/Umweltverhältnis des beobachteten Systems hat.329 Dieses Verständnis der Beobachtung zweiter Ordnung wird letztlich wichtig werden, wenn Luhmann (1988b) sich mit der Stellung der Moral in der Gesellschaft und dabei insbesondere mit der Diskursethik von Habermas (1991, 1983) auseinandersetzt (vgl. Abschnitt 3.4.2). 3.2.4
Prozesse der Strukturierung: Bildung von Identität
Das Handeln sozialer Systeme umfasst, wie bereits beschrieben, das Systemverhalten und Beobachtungshandlungen. Beobachtungen haben darum für das Verhalten eine große Bedeutung, da aus Sicht der Akteure und Akteursgruppen das Alltagsgeschehen sozialer Wirklichkeit vieldeutig und schlecht durchschaubar ist. Da Akteure nun permanent gefordert sind, das Alltagsgeschehen durch eigenes Verhalten möglichst angemessen zu ergänzen, d.h. möglichst kompatible Anschlussereignisse beizutragen, sind sie darauf angewiesen, das Geschehen laufend zu beobachten und zu interpretieren.330 Diese Angemessenheit der Ereignisse orientiert sich an Erwartungen, die das System an die Akteure stellt. Der Akteur wird versuchen, diese Erwartungen zu beobachten, d.h. in den Worten Luhmanns (1984a, S. 413), die eigenen Erwartungserwartungen – die Erwartungen, die der Beobachter anderen handelnden Beobachtern unterstellen kann bzw. von diesen erwarten kann – zu ergründen. Erwartungserwartungen selektieren das Anschlusshandeln (das Verhalten und Beobachten) der Akteure. Werden diese Erwartungserwartungen wechselseitig stabilisiert, d.h. von anderen Akteuren geteilt und bestätigt, entstehen im systemischen Handlungsstrom bestimmte Strukturen, eine Ordnung, aufgrund derer bestimmten Handlungen eine Wiederholbarkeit unterstellt wird. Strukturen schaffen so eine gewisse Erwartungssicherheit, ohne jedoch deterministisch zu wirken, d.h. sichere Vorhersagen des Systemverhaltens zu ermöglichen. Handlungen bleiben nach wie vor kontingent, sind aber nicht mehr beliebig. Der
326 327 328 329 330
Vgl. Willke (2000), S. 161f. und 165. Vgl. Luhmann (1988b), S. 51. Siehe hierzu von Foerster (1981) und (1985b). Vgl. Luhmann (1988b), S. 52f. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 84f.
3.2 Sinn und Grenzziehung komplexer Systeme
67
systemische Ereignisstrom erfährt eine gewisse Stabilisierung und Routinisierung. Da Ereignisse immer kontingent sind, sind Akteure ständig gefordert, sich der Angemessenheit ihrer Erwartungen zu vergewissern. Dabei können sie nie Sicherheit erlangen, sondern können dies letztlich immer nur austesten.331 Akteure beziehen sich nun einerseits mit ihren Handlungen auf bestehende Strukturen (Erwartungserwartungen), um möglichst angemessene Anschlusshandlungen zu vollziehen. Andererseits bestätigen sie durch ihr Handeln wiederum diese Strukturen, erbringen damit selber rekursive Strukturierungsleistungen, indem sie es ermöglichen, dass auf diese Weise im System Strukturen aufgebaut, reproduziert oder weiterentwickelt werden. Diese Strukturierungsleistungen beziehen sich stets auf vergangene Strukturen, nehmen also immer Systemgeschichte in Anspruch.332 Dieser Vorgang beruht damit, ebenso wie das bei Beobachtungen der Fall ist, auf Selbstreferenz: Die Systemstrukturen entstehen aus den Systemstrukturen heraus, indem sie sich auf sie beziehen.333 Wie kann nun aus diesen Prozessen der Strukturierung Systemidentität entstehen? Die Identität einer Person ist ein Phänomen, das nur für einen Beobachter existiert, der die Identität als eine solche beobachtet. Die Bildung einer personalen Identität beruht damit darauf, dass an diese Person konstante Erwartungen gerichtet werden. Dies geht so weit, dass sich ein Individuum erst durch eine bestimmte Form oder Konfigurierung gebündelter Erwartungen als Person konstituiert. Diese gebündelten Erwartungen machen das Spezifische, das Einmalige, mit anderen Worten: die Identität der Person aus.334 Es können sowohl individuelle als auch kollektive Akteure eine Identität herausbilden. Kollektive Akteure entstehen bzw. erlangen eine Identität dadurch, dass einem solchen Akteur bestimmte kollektive Handlungen intern und extern systemisch zugerechnet werden. Kollektives Handeln ist definiert als ein systemisch koordiniertes Handeln, das darauf abzielt, das System gegenüber seiner Umwelt in spezifischer Weise zur Geltung zu bringen. Es erlangt eine spezifische Unabhängigkeit von individuellen Handlungen und Handlungspräferenzen und lässt sich letztlich nicht mehr auf individuelle Handlungen zurückführen. Dies führt dazu, dass bestimmte beobachtete Handlungen nicht mehr den Mitgliedern z.B. eines Unternehmens oder eines Vereins, sondern dem kollektiven Akteur, der „juristischen Person“, dem Unternehmen oder dem Verein, zugerechnet werden.335 Systemische Kommunikationen werden nicht mehr den individuellen Personen zugeschrieben, die an sich kommunizieren, sondern dem kollektiven Akteur. Die Personen werden dabei als Repräsentanten des Systems verstanden.336 Im Zuge dessen können sich soziale Systeme auch selbst beobachten, sie können ein Selbstbewusstsein herausbilden und die eigene Identität selbst beschreiben, reflektieren und sich ihrer vergewissern.337 Während die Selbstbeschreibung einer individuellen Person ein 331 332 333 334 335 336 337
Vgl. Luhmann (1984a), S. 184f. und 413. Vgl. Luhmann (1984a), S. 184f. Vgl. Willke (2000), S. 57, und Maturana (1982). Vgl. Willke (2000), S. 172f. Vgl. Willke (2000), S. 168ff. Vgl. Etzioni (1971), S. 102f. Vgl. Willke (2000), S. 173f.
68
3 Neuere Systemtheorie
mentales Konstrukt ist, ist die Selbstbeschreibung eines Sozialsystems ein semantisches Konstrukt, welches vereinfacht die eigene Spezifität ausdrückt. Mit dieser Selbstbeschreibung, die den Kern der Identität ausmacht, versucht ein System, die eigene operative Grundstruktur möglichst adäquat zu modellieren.338 Dabei muss diese Identität auch von außen deutlich sein, das System auch von außen als kollektiver Akteur wahrgenommen und als solcher adressiert werden. Dabei gilt auch hier, dass die Aufrechterhaltung der eigenen Identität letztlich wichtiger ist als der Selbsterhaltungstrieb des Akteurs.339 3.2.5
Strukturelle Kopplung und Resonanz
Das Konzept der Autopoiese – der operativen Geschlossenheit von Systemen – hat verdeutlicht, dass Systeme sich gegenseitig nicht direkt beobachten können (vgl. Abschnitt 3.2.3). Analog dazu gilt, dass autopoietische Systeme zwar Umweltbeziehungen haben, aber eine direkte Interaktion ebenfalls ausgeschlossen ist. Denn Systeme sind strukturdeterminiert und selbststeuernd und können aufgrund dessen durch Umweltereignisse nicht determiniert, sondern immer nur zu eigenen Operationen angestoßen („irritiert“) werden. Eine vollständige externe Determination wäre (per definitionem) das Ende der Autopoiesie des Systems. Diese Art und Weise der Umweltbeziehungen nennt Maturana (1982, S. 144 und 150ff.) „strukturelle Kopplung“.340 Trotzdem sind autopoietische Systeme nicht autark, sondern von ihrer Umwelt abhängig und damit auch notwendigerweise offen. Dabei gilt jedoch, wie in Abschnitt 3.2.2 bereits dargelegt wurde, dass erst die operative Geschlossenheit autopoietischer Systeme ihre Offenheit ermöglicht. Nur durch die Differenzierung zwischen Selbst- und Fremdreferenz erlangt ein System die Informationen, die es ihm ermöglicht, sich selbst zu reproduzieren, d.h. die eigene Autopoiesis fortzusetzen.341 Dabei schließt sich das System durch seine internen zirkulären Strukturen nach außen ab, so dass Ereignisse in der Umwelt das System nur ausnahmsweise irritieren bzw. in Schwingung versetzen können. Das System-/Umweltverhältnis kann als das einer Resonanz beschrieben werden. Um mit einem Bild aus der Physik zu sprechen: Ein autopoietisches System kann nur im Rahmen seiner Eigenfrequenzen zur Resonanz gebracht werden; eine Stimmgabel kann beispielsweise immer nur den eigenen Ton hervorbringen. So kann sich die Umwelt gegenüber dem System letztlich nur dadurch bemerkbar machen, dass sie die Kommunikation des sozialen Systems oder das Prozessieren von Gedanken des psychischen Systems stört oder irritiert. Die Umwelt der Gesellschaft kann nicht mit der Gesellschaft kommunizieren.342 Für die Gesellschaft bedeutet dies, dass nur all diese Dinge kommuniziert werden können, die mit Hilfe der Sprachstruktur – bestehend aus Wortschatz, Grammatik, ihrer Art, Negationen einzusetzen, etc. – formuliert werden können. Diese Sprachstruktur selektiert damit das Kommunizierbare. Gesellschaftssysteme, aber auch psychische Systeme, können immer nur solche 338 339 340 341 342
Vgl. Luhmann (1984a), S. 357. Vgl. Willke (2000), S. 176f. Vgl. Willke (2000), S. 62, und Willke (1999), S. 60. Vgl. Willke (2000), S. 62, mit Bezug auf Luhmann (1984a), S. 607. Vgl. Luhmann (1988b), S. 40f. und 63.
3.3 Funktionale Differenzierung und deren Probleme
69
Informationen verarbeiten, die für es Sinn machen. Mit anderen Worten: Die systemeigene Resonanzfähigkeit basiert auf dem systemeigenen Sinn und ist damit sehr begrenzt. Das System kann nur so lange existieren, wie es in der Lage ist, die systemspezifische sinnhafte Informationsverarbeitung fortzusetzen. Dabei basiert die Informationsverarbeitung immer auf der im System vorhandenen Differenztechnik.343
3.3
Funktionale Differenzierung und deren Probleme
Die moderne Gesellschaft war aufgrund ihrer Fähigkeit zur Genese in der Lage, funktionale Teilsysteme auszudifferenzieren.344 Dies hat weit reichende positive und auch negative Folgen für die Gesellschaft, wie die Theorie funktionaler Systemdifferenzierung, die im Folgenden dargestellt wird, sehr gut beschreibt.345 Diese Theorie wird mit ihren verschiedenen Gesichtspunkten und Perspektiven im vorliegenden Abschnitt dargestellt, bevor im darauf folgenden Abschnitt 3.4 konkrete, für die vorliegende Arbeit relevante spezielle Teilsysteme beschrieben werden. 3.3.1
Funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft
Die Differenzierung der Einheit eines Gesamtsystems in Teilsysteme zerlegt dieses in spezifische Differenzen von System und Umwelt – von Teilsystemen und der gesamtsysteminternen Umwelt. Entlang dieser Grenzlinien ist jedes Teilsystem in der Lage, das Gesamtsystem zu reflektieren, wenngleich auch nur auf systemspezifische Art und Weise, welche die Möglichkeiten für die Bildung anderer Teilsysteme und anderer Systemreflexionen offen lässt.346 Es gibt verschiedene Arten der gesellschaftlichen Differenzierung:347 x
eine segmentäre Differenzierung in gleichartige Teile, z.B. Unternehmen,
x
eine geschichtete Differenzierung, z.B. in Unternehmen in unterschiedlichen Branchen, und
x
eine funktionale Differenzierung in ungleiche Teilsysteme, die sich jeweils auf spezifische Funktionen spezialisieren, z.B. verschiedene Rollen in Unternehmen.
Zu Beginn der Neuzeit kam in Mitteleuropa eine Entwicklung in Gang hin zu einer weit reichenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Das Ergebnis dieses Prozesses ist eine primär funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft,348 u.a. in die Teilsysteme Politik, Wirtschaft bzw. Ökonomie, Wissenschaft, Erziehung, Kunst und Religion.349 Diese Entwick-
343 344 345 346 347 348 349
Vgl. Luhmann (1988b), S. 42ff. Vgl. Willke (2000), S. 9f. Vgl. Luhmann (1988b), S. 74. Vgl. Luhmann (1988b), S. 204, und (1984a), S. 37ff. Vgl. Willke (1978). Vgl. Willke (1999), S. 85, (2000), S. 18, und Luhmann (1988b), S. 74. Vgl. Willke (2000), S. 189.
70
3 Neuere Systemtheorie
lung wurde angetrieben durch eine Tendenz hin zu zunehmender Kraftersparnis.350 Die gesellschaftlichen Funktionssysteme sind jeweils autopoietische Systeme, d.h. einerseits hinsichtlich ihrer Tiefenstrukturen, ihrer spezifischen Funktionserfüllung, geschlossen. Andererseits sind sie jedoch offen für die Bedingungen und Veränderungen aus der Umwelt, denn die Funktionserfüllung findet grundsätzlich in der Gesamtgesellschaft statt. Diese ist immer auf sämtliche Funktionen angewiesen und kann sich daher nicht auf eine einzelne spezialisieren.351 Aufgrund dieser weit reichenden Spezialisierung ist es der Gesellschaft gelungen, die bereichsspezifische Leistungsfähigkeit der Funktionssysteme enorm zu verstärken.352 Insofern ist diese Form der Differenzierung rational im Sinne der teilspezifischen Zweckrationalität.353 Gleichzeitig sind die einzelnen Funktionssysteme, wie bereits angedeutet, nichtsubstituierbar und damit voneinander abhängig. Darum besteht eine starke Interdependenz zwischen den Teilsystemen, sie begünstigen und belasten sich ständig wechselseitig. Letztlich ist das Funktionieren jedes Teilsystems vom Funktionieren der anderen abhängig.354 Durch die starke Spezialisierung ist auch die Komplexität der Gesellschaft stark gestiegen. So ist letztlich das Integrationsproblem entstanden, die Teilsysteme mit ihrer systemspezifischen geringen Resonanzfähigkeit untereinander und mit dem Gesamtsystem abzustimmen und zu koordinieren.355 Denn die Verfolgung teilspezifischer Zweckrationalitäten kann Nebenfolgen haben: Sie führt nicht notwendigerweise zu einem „sozialen Optimum“, d.h. zu einer Systemrationalität.356 Welche Möglichkeit verbleibt der modernen Gesellschaft nun, Systemrationalität zu realisieren? Indem die Gesellschaft auf die Substituierbarkeit zwischen den Teilsystemen verzichtet, verzichtet sie auch auf Redundanz und damit auf Mehrfachabsicherung.357 Damit stehen der Gesellschaft weniger Möglichkeiten zur Verfügung, auf Störungen aus der Umwelt zu reagieren und zu lernen. Daraus könnte gefolgert werden, die moderne Gesellschaft löse zwar starke Umweltveränderungen aus, könne jedoch gleichzeitig weniger gut auf Veränderungen in der Umwelt reagieren als einfacher strukturierte Systeme. Diese Sichtweise vernachlässigt jedoch die enormen Möglichkeiten der funktionalen Differenzierung, die zumindest teilsystemspezifisch jeweils ein sehr hohes Maß an Sensibilität und Lernfähigkeit ermöglicht hat. Diese Leistungssteigerungen muss die Gesellschaft jedoch mit der Rücksichtslosigkeit im Hinblick auf andere Funktionen bezahlen.358 Würde nun eine Integration der Gesellschaft mit dem Zweck der Systemrationalität dadurch realisiert, dass die moderne Gesellschaft strukturell (teilweise) entdifferenziert würde, müsste die Gesellschaft auch auf die enormen Vorteile der funktionalen Differenzierung verzichten.359 Bleibt demgegenüber die bestehende Differenzierung unangetastet, ist eine zentrale
350 351 352 353 354 355 356 357 358 359
Vgl. Willke (2000), S. 19, mit Bezug auf Simmel (1890). Vgl. Luhmann (1988b), S. 204f. Vgl. Willke (1999), S. 85, und (2000), 18. Vgl. Willke (1999), S. 44, mit Bezug auf Weber (1972), S. 4. Vgl. Willke (1999), S. 85, (2000), S. 20, und Luhmann (1988b), S. 204f. und 208. Vgl. Willke (1999), S. 85, und Luhmann (1988b), S. 74 m.w.N. Vgl. Luhmann (1973b), S. 108ff. Vgl. Béjin (1974), S. 114. Vgl. Luhmann (1988b), S. 210. Vgl. Luhmann (1988b), S. 207.
3.3 Funktionale Differenzierung und deren Probleme
71
Steuerung dieser hoch komplexen Funktionssysteme nicht mehr möglich. Wenn die Selbststeuerung der Teilsysteme aber nun die Überlebens- und Entwicklungsfähigkeit der Gesamtgesellschaft gefährdet, bleibt wohl nur noch die Möglichkeit einer Selbstbegrenzung oder Selbstbindung der Teilsysteme.360 Auf diese Probleme der Integration und Steuerung komplexer Systeme wird in Abschnitt 3.3.4 noch genauer eingegangen. 3.3.2
Codes und Programme
Soziale Systeme sind dann operativ geschlossen, wenn sie semantische Strukturen ausdifferenziert haben, die die systeminternen Kommunikationen auf selbstreferenzielle, rekursive Bahnen zwingen. Dies trifft per definitionem auf die Gesellschaft zu. Auch die gesellschaftlichen Funktionssysteme, ebenso wie andere soziale Systeme, haben im Laufe ihrer Evolution ihre eigenen Spezialsemantiken ausgebildet. Eine solche Spezialsemantik ist z.B. das Geld für das Funktionssystem der Wirtschaft. Spezialsemantiken erlauben es, Kommunikationen trennscharf zu differenzieren in allgemein gesellschaftliche und teilsystemspezifische Kommunikationen. Die trennscharfe Zuordnung von Kommunikation in spezifische Teilsysteme geschieht durch differenzielle semantische Codes.361 Die gesellschaftliche Ausdifferenzierung geht mit einer semantischen Differenzierung Hand in Hand. Es entstehen mit spezifischen Codierungen Sondersprachen bzw. eigenständige „Sprachspiele“. Diese erzeugen spezifische Kommunikationen, die wiederum durch dieselben spezifischen Kommunikationen reproduziert werden. Dadurch kann sich eine selbstreferenziell geschlossene Operationsweise autopoietischer sozialer Systeme herausbilden.362 Die relevantesten gesellschaftlichen Funktionssysteme haben einen binären Code herausgebildet, mit dem sie ihre systemspezifische Kommunikation strukturieren. So ist beispielsweise der Code des Rechtssystems „Recht – Unrecht“ sowie der Code der Wirtschaft „Haben – Nichthaben“ (bezogen auf das Medium Eigentum) und, als Zweitcodierung, „Zahlung – Nicht-Zahlung“ (bezogen auf das Medium Geld). Die wirtschaftlichen Codes ermöglichen damit, Sacheigentum oder Geld zu transferieren und diese Transfers langfristig zu organisieren und zu kalkulieren.363 Binäre Codes beanspruchen universelle Geltung, sind eine Totalkonstruktionen, die jede dritte Möglichkeit systemspezifischer Kommunikation grundsätzlich ausschließen.364 Sie begründen eine Leitdifferenz, die Informationen überhaupt erst erscheinen lassen und einem Funktionssystem zuordnen. Jede weitere systemspezifische Informationsverarbeitung wandelt Differenzen in Differenzen um.365 Gleichzeitig sind Codes auch Sofern-Abstraktionen, d.h. sie gelten nur für ihr jeweiliges Teilsystem, ihren spezifischen Anwendungsbereich. Damit ist die Wahl eines Codes gesamtgesellschaftlich kontingent, denn es könnte grundsätzlich immer auch ein anderer für die Bewertung einer Kommunikation gewählt werden, allerdings nur als Kommu360 361 362 363 364 365
Vgl. Willke (1999), S. 50f., mit Bezug auf Willke (1992). Vgl. Willke (2000), S. 62f. Vgl. Willke (2000), S. 64. Vgl. Luhmann (1988b), S. 75f. Vgl. Luhmann (1988b), S. 75f und 78f. Vgl. Luhmann (1988b), S. 85, mit Bezug auf Bateson (1981), insbesondere S. 515ff.
72
3 Neuere Systemtheorie
nikation innerhalb eines anderen Funktionssystems, d.h. aus einer anderen funktionalen Perspektive heraus.366 Die binären Codes haben die Funktion, die Teilsysteme von Tautologien und Paradoxien zu erlösen. Denn die Tautologien, z.B. „Recht ist Recht“, oder die Paradoxie, „man habe nicht das Recht, sein Recht zu behaupten“, kann erst durch die Differenz zwischen Recht und Unrecht ersetzt werden. Erst mit Hilfe dieser Differenz kann das System seine Operationen ausrichten und, wie später erläutert wird, Programme entwickeln. Binäre Codes sind die Grundlage für Funktionssysteme, Informationen zu erfassen und sie anhand des Codes zu bewerten. Dabei sorgt der zweiwertige Code dafür, dass jede Bewertung kontingent ist, d.h. bei jeder Bewertung fiktiv der Gegenwert, die gegenteilige Bewertung, mit angedacht, das Gegenteil mit vorhanden und mit reflektiert wird. So wirft z.B. die Aussage, dass Töten unrecht ist, die Frage auf, ob Töten unter bestimmten Umständen nicht auch rechtens sein könnte. Damit haben die Codes in ihren Differenzschemata den Übergang von der einen zur anderen Seite quasi vorprogrammiert und machen ihn leicht – meist reicht eine Negation aus.367 Da sich Wert und Gegenwert einer Kommunikation mittels Codes operativ so nahe sind, führen diese fast zwangsläufig dazu, dass sich entsprechende Funktionssysteme ausbilden. Codes sind damit technisch gesehen die wirksamste und auch folgenreichste Form der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, aber dennoch nicht die einzige. So hat das Erziehungssystem beispielsweise keinen eigenen Code herausgebildet. Die Ausdifferenzierungen von Funktionssystemen durch Differenzen (Codes) ermöglicht eine Steigerung der wechselseitigen Abhängigkeiten, Interdependenzen und damit auch der Integration zwischen den Funktionssystemen. Denn jedes Funktionssystem muss für die eigene Existenzsicherung voraussetzen können, dass die anderen Funktionssysteme ihre Funktionen erfüllen. Allerdings sind die Codes selbst schlecht untereinander integriert: Wird ein Sachverhalt anhand eines Codes positiv (z.B. als rechtens) bewertet, wird er durch einen anderen Code nicht zwangsläufig ebenfalls positiv (z.B. als wirtschaftlich sinnvoll) bewertet.368 Wenn Funktionssysteme gesellschaftlich unter Rechtfertigungsdruck geraten oder aus anderen Gründen, z.B. weil ihre Funktionalität in Frage gestellt ist, ihre Autonomie verteidigen müssen, bilden sich sekundär funktionsspezifische Reflexionssysteme aus. Diese befassen sich mit den Fragen, was z.B. der (strukturell bereits vorausgesetzte) Sinn der Einheit des Funktionssystems ist und wie er zutreffend formuliert werden kann.369 Wichtig ist es nun, darauf hinzuweisen, dass die Bewertung eines Ereignisses durch den Leitwert eines Codes nicht gleichzeitig das Kriterium dafür ist, ein bestimmtes Ereignis zu selektieren. Codes codieren keine Präferenzen. Denn es kann in manchen Situationen durchaus moralisch sinnvoll sein, die Unwahrheit zu sagen, und auch Besitz kann u.U. zur Last werden, wenn er wenig Nutzen und hohe Kosten verursacht. Vielmehr sind es Programme, welche die Bedingungen darüber definieren, ob eine Operation richtig oder falsch und damit gewählt oder nicht gewählt werden sollte. Sie sind in der Lage, die Anforderungen, die an ein Funktionssystem gestellt werden, zu konkretisieren bzw. zu operationalisieren. Codierungen 366 367 368 369
Vgl. Luhmann (1988b), S. 79f. Vgl. Luhmann (1988b), S. 76-81. Vgl. Luhmann (1988b), S. 81, 85-88. Vgl. Luhmann (1988b), S. 86.
3.3 Funktionale Differenzierung und deren Probleme
73
sind für ein Funktionssystem fixiert, die Funktionssysteme sind bezüglich ihrer Anwendung geschlossen, andere Codes und Differenzierungen können grundsätzlich nicht im System angewendet werden. Auf der anderen Seite sind Funktionssysteme hinsichtlich ihrer Programmierungen offen und können externe Anforderungen und Gegebenheiten berücksichtigen. Sie können Bedingungen festlegen, unter denen der ein oder andere Wert des Codes gesetzt wird, und auch dritte Werte, welche die Codes ausgeschlossen haben, wieder in das System einführen. Programme können und müssen sich mit der Zeit ändern, damit das System seine Identität nicht verliert. Auf der Ebene der Programme kann (und muss) ein Funktionssystem darum lernfähig sein.370 So können Programme der Wirtschaft beispielsweise definieren, dass Umweltverbrauch u.U. finanzielle Risiken birgt, dass die Höhe der Risiken jedoch von der rechtlichen Durchsetzbarkeit von Umweltschutzgesetzen abhängt. Ebenso könnte die Zahlung eines Geldbetrages an spezifische politische Akteure ausreichen, um das finanzielle Risiko nahezu auf Null zu reduzieren. Die Einführung eines Zertifikatehandels für den Ausstoß treibhausrelevanter Gase sorgt beispielsweise dafür, dass die Kosten für diesen Umweltverbrauch in der Wirtschaft als Programme kalkulierbar und berücksichtigt werden. 3.3.3
Symbolisch generalisierte Steuerungsmedien
Die Differenzierung der modernen Gesellschaft in Funktionssysteme ist einhergegangen mit einer semantischen Differenzierung in der Form, dass sich, wie oben geschildert, Spezialsemantiken in der Form differenzieller semantischer Codes ausgebildet haben.371 Die „Theorie symbolisch generalisierter Steuerungsmedien“, auch „Medientheorie“ genannt, wurde insbesondere von Luhmann372 entwickelt. Ihr liegt die Grundidee zugrunde, dass sich mit der funktionalen Differenzierung von Teilsystemen und ihren Codes ebenfalls funktionsspezifische symbolische Steuerungsmedien entwickelt haben. Solche Symbolsysteme sind z.B. Macht als das Medium der Politik, Besitz und Geld als die Medien der Wirtschaft, Wahrheit als das Medium der Wissenschaft, Glaube als Medium der Religion etc.373 Denn die menschliche Sprache als grundlegendes Medium der Kommunikation (des gesellschaftlichen Gesamtsystems) reicht als Symbolsystem bereits auf einer frühen Entwicklungsstufe der Gesellschaft nicht mehr aus, um die Komplexität der Interaktionen adäquat steuern zu können. Die Steuerungsmedien haben daher die Funktion, die Kommunikation in den Teilsystemen zu erleichtern. In ihnen spiegelt sich die eigene Zweckrationalität und Realität der jeweiligen Funktionssysteme wider. Neben dieser Frage der Entwicklung und Funktion von Steuerungsmedien beschäftigt sich die Medientheorie jedoch auch mit den Folgeproblemen der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Steuerungssysteme: der Konversion bzw. Übersetzung zwischen den Medien und der Integration zwischen den Funktionssystemen.374
370 371 372
373 374
Vgl. Luhmann (1988b), S. 82ff. und 89ff. Siehe auch Luhmann (1983), S. 80ff., und (1984a), S. 434. Vgl. Willke (2000), S. 62f. Zur folgenden Darstellung der Medientheorie vgl. Luhmann (1971c), S. 125ff., (1971b), S. 344ff., (1972), S. 196ff., (1975b), S. 170ff., (1975a), (1976), S. 507ff., und (1984a), S. 220ff. Vgl. Willke (2000), S. 199 und 207. Vgl. Willke (2000), S. 199f., und (1999), S. 58.
74
3 Neuere Systemtheorie
Ausgangspunkt der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft war also zunächst die menschliche Sprache als grundlegendes Steuerungsmedium der Gesellschaft. Sie ist eine einzigartige Erfindung, denn sie ist in der Lage, hohe Komplexität zu verarbeiten.375 Sie bildet das Grundmodell aller weiter generalisierten Steuerungsmedien, denn sie weist bereits die zentralen Funktionsprinzipien auf, die allen Steuerungsmedien zugrunde liegen:376 x
eine Symbolisierung der objektiven Realität, indem sie abstrakte, symbolische Begriffe anstatt reale Dinge verwendet;
x
eine Mehrstufigkeit in der Symbolisierung, wie sie z.B. durch die Schrift oder MetaSprachen zum Ausdruck kommt;
x
eine Differenzierung von Struktur und Prozess, wie sie in der Verbindung zwischen Codes und Wortverknüpfungen bzw. Syntax und Semantik zum Ausdruck kommt,
x
eine Entlastung der Systemhandlungen, welche die Sprache dadurch ermöglicht, dass sie Sinn bzw. einen spezifischen Kontext voraussetzt bzw. impliziert, der nicht immer wieder mit dargelegt werden muss; relevant ist damit nur die Art und Weise, wie die Elemente in einem gegebenen Kontext verknüpft sind;
x
eine Komplexitätsreduktion der Objektebene, welche die Sprache ermöglicht, indem sie Symbole zur Verfügung stellt, mit denen sie Objekte anhand bestimmter relevanter Merkmale generalisiert und so Klassen bildet, z.B. Baum oder Mensch als Klassen für völlig verschiedenartige Bäume und Menschen;
x
eine Schaffung neuer Freiheitsgrade, durch welche die Sprache Komplexität schafft und es so ermöglicht, die Code-Elemente miteinander zu verknüpfen und sich damit auch von der realen Objektebene zu lösen.
Sprache differenziert zwischen der Objekt- und Symbolebene. Diese Ebenen sind zwar nach wie vor aufeinander bezogen, können aber unabhängig voneinander variiert werden. So kann Zeitlichkeit ausgedrückt werden, indem Diskontinuitäten und Nichtlinearitäten zwischen den Ebenen zugelassen sind, mit denen vergangene, gegenwärtige und zukünftige Zustände symbolisch gefasst werden können. Ebenso kann Sprache Teleologie produzieren, indem sie es ermöglicht, auf der Symbolebene zwischen Ist- und Sollzuständen der Objektebene zu unterscheiden, die dabei jedoch eine Sinngebung, an der sich das Sollen orientiert, voraussetzt. Dies zeigt, dass symbolisch generalisierte Medien im Allgemeinen und die Sprache im Besonderen Steuerungsmedien sind:377 „Sprache steuert das Denken, und das Denken steuert (meistens) das Handeln.“378
Sprache ist also in der Lage, die Kommunikationskapazität psychischer und sozialer Systeme gewaltig zu steigern. Trotzdem reicht sie, wie bereits erwähnt, bei einer beginnenden funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft relativ frühzeitig nicht mehr aus: Die Komplexität der Teilsysteme steigt rasch an, und die notwendig gewordene Komplexitätsverarbeitung übersteigt die Sprache und das Denken. Dies ist der Grund, warum sich mit den 375 376 377 378
Vgl. Miller (1956), S. 95. Vgl. Willke (2000), S. 201f. Vgl. Willke (2000), S. 202, mit Bezug auf Whorf (1969). Willke (2000), S. 202.
3.3 Funktionale Differenzierung und deren Probleme
75
Funktionssystemen spezialisierte Steuerungssprachen in der Form symbolisch generalisierter Medien herausgebildet haben, wie z.B. Geld, Macht oder Wahrheit. Diese Medien lösen das Handeln der Funktionssysteme von der realen Objektebene und setzen eine funktionsspezifische Eigendynamik in Gang. Diese Eigendynamik steuert das menschliche Handeln in diesem Teilsystem und verändert damit auch die Qualität menschlicher Beziehungen.379 Die Bedeutung bzw. Funktion von Steuerungsmedien besteht letztlich immer darin, die Interaktion zwischen Systemen zu erleichtern, denn jede dieser Interaktionen ist durch doppelte Kontingenz gekennzeichnet: Da die interagierenden Systeme voneinander abhängig sind, sind beide Systeme gefordert, die Selektion der eigenen Zustände auf das kontingente Handeln des jeweils anderen Systems einzustellen. Kommunikationsmedien ermöglichen es hier, die Komplexität dieser Interaktionen zu reduzieren und Anschlussselektivität in hochkontingenten Situationen zu ermöglichen, indem sie auf Basis der oben darstellten Funktionen Informationen sehr stark komprimieren und damit Zeit, Entscheidungen und Kosten sparen. Jedes Medium ist hoch spezialisiert und hoch funktional, aber auch hoch selektiv.380 Wenn hoch spezialisierte Medien zusätzlich zur Sprache verwendet werden, hat dies zwei wesentliche Vorteile: Erstens kann auf diese Weise auf bereits erfolgte, festgeschriebene Selektionen zurückgegriffen werden, ohne diese jedes Mal erneut diskutieren zu müssen. So ermöglicht beispielsweise das Medium Wissen, dass Menschen auf das Wissen Anderer zurückgreifen können, ohne jede Frage selbst zu überprüfen. Zweitens ermöglichen spezialisierte Medien die weitere Evolution hin zu zunehmender Spezialisierung, indem sie durch spezialisierte Kommunikation die funktionsspezifische Effizienz erhöhen. Infolgedessen differenzieren sich mittels Medien die Funktionssysteme heraus und entwickeln sich unabhängig voneinander weiter.381 Diese Möglichkeit unabhängiger Entwicklungen und funktionsspezifischer Eigendynamiken wirft jedoch wieder das bereits angesprochene Integrationsproblem zwischen hoch spezialisierten gesellschaftlichen Teilsystemen im Hinblick auf eine Systemrationalität auf. Je komplexer die jeweiligen Teilsysteme werden, desto schwieriger und folgenschwerer wird die Entscheidung zwischen kontingenten Optionen einer Kommunikation. Mit der Frage nach der Integration der Teilsysteme stellt sich in erster Linie diejenige nach der Konversion der Medien, d.h. der Übersetzung von der Spezialsprache eines Mediums in diejenige eines anderen Mediums.382 Wie kann es ermöglicht werden, dass unrechte Handlungen sich wirtschaftlich nicht lohnen? Wie dann Umweltverschmutzung als unrecht und unrentabel in der Gesellschaft kommunizierbar werden? Es treten hier offensichtlich Verständigungsprobleme auf. Abstimmungsprozesse zwischen den Medien sind aber darum so wichtig für die Gesellschaft, weil die Funktionssysteme jeweils von den Leistungen und Ressourcen der anderen Teilsysteme abhängig sind und aufeinander aufbauen.383
379 380 381 382 383
Vgl. Willke (2000), S. 200ff. Vgl. Willke (2000), S. 208. Vgl. Willke (2000), S. 208f. Vgl. Willke (2000), S. 209f. Vgl. Willke (2000), S. 213, mit Bezug auf Gould (1976). „Aufeinander aufbauen“ wird dabei nach Willke (2000), S. 213, im Sinne von „mutual contingency“, d.h. sich gegenseitig eröffnenden Möglichkeiten und Beschränkungen, verstanden.
76
3 Neuere Systemtheorie
So hat beispielsweise die Ausdifferenzierung der Wirtschaft eine immense Komplexitätsverarbeitung der Erstellung und Akkumulation von Gütern und Leistungen ermöglicht. Dieser Prozess erfordert jedoch bestimmte politische Korrektive, d.h. die Übersetzung von Geld in Macht und umgekehrt, z.B. im Rahmen von Arbeitsschutzgesetzen.384 Zusätzlich sind die Funktionssysteme jedoch auch von der gesellschaftlichen Umwelt, z.B. der ökologischen Umwelt, abhängig. Dabei gilt jedoch: Ökologische Probleme werden nur dann systemspezifisch relevant, wenn sie sowohl durch die systemspezifische Codierung als auch die Programmierung erfasst werden. D.h. auch hier besteht ein gravierendes Folgeproblem funktionaler Differenzierung: die Gesellschaft wird für innergesellschaftliche Probleme eine höhere Resonanz zeigen als für Probleme der gesellschaftlichen Umwelt. Die Funktionssysteme der Gesellschaft können letztlich nur hoch selektiv auf ökologische Probleme reagieren, es dauert mithin sehr lange, bis ökologische Probleme überhaupt in das Bewusstsein der Menschen gelangen und in der Gesellschaft insgesamt kommuniziert werden.385 3.3.4
Integrations- und Steuerungsprobleme
In den vorgehenden Abschnitten wurde die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft in weitgehend autonome Funktionssysteme mit ihren teilspezifischen, hoch spezialisierten Codes und symbolischen Steuerungsmedien beschrieben. Im Zuge dieser Spezialisierung wachsen einerseits die Interdependenzen bzw. Abhängigkeiten zwischen den Funktionssystemen, andererseits bilden diese ihre eigenen Teilrationalitäten (im Sinne von Zweckrationalitäten) aus, verfolgen unterschiedliche und z.T. widersprüchliche Subsystemziele und entwickeln wechselseitige Indifferenzen. So reagiert die Wirtschaft nur auf solche „Irritationen“ aus der Umwelt, die sich wirtschaftlich rechnen, und die Politik nur auf solche, die den Machtaufbau bzw. -erhalt tangieren, etc. Daraus ergeben sich, wie bereits mehrfach angedeutet, gesellschaftliche Folgeprobleme, denn die Summe der funktionsspezifischen Zweckrationalitäten entspricht in vielen Fällen nicht der gesamtgesellschaftlichen Systemrationalität:386 „Die hochgezüchteten Technologien, Fertigkeiten, Spezialisierungen und Wissensbestände der Teilsysteme summieren sich zu einer beispiellosen kollektiven Ignoranz (…); die ungesteuerten Rationalitäten der Teile zementieren die Irrationalität des Ganzen.“387
Diese Probleme spiegeln sich auch auf der Ebene von Individuen wider. Diese sind als Mitglieder in unterschiedliche soziale Systeme mit deren spezifischen und oft divergierenden Zielsetzungen eingebunden. Hier erfüllen sie verschiedene und oft widersprüchliche Rollen. Auf diese Weise führt die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, zugespitzt formuliert, zu einer „Zersplitterung des Menschen in disparate Rollenbezüge“388. Rollenkonflikte, Rollenstress und Rollenüberlastungen sind die Folge, denn Menschen werden nicht mehr als Ganzes erfasst, sondern lediglich hinsichtlich ihrer spezifischen Rollen. Der Mensch als psychisches und biologisches System ist eine Umwelt sozialer Systeme. Hier sieht sich nun jedes psychische System der schwierigen Herausforderung gegenüber, eine individuelle Identität für sich 384 385 386 387 388
Vgl. Luhmann (1972), S. 199. Vgl. Luhmann (1988b), S. 65f. und 220ff. Vgl. Willke (2000), S. 189. Willke (2000), S. 216. Willke (2000), S. 229.
3.3 Funktionale Differenzierung und deren Probleme
77
selbst zu finden, sich einen eigenen Sinn zu geben und diese gegen die verschiedenen Rollen aufrechtzuerhalten oder gegebenenfalls anzupassen.389 Für das Thema der vorliegenden Arbeit ist jedoch die Frage interessanter: Wie können die Integrations- und Steuerungsprobleme sozialer Systeme gelöst werden? Auf diese schwierige Frage gibt es bislang keine erschöpfende Antwort. Im Folgenden werden das „OptionenSequenz-Modell“ von Etzioni, das Konzept der „Reflexion“ von Luhmann und dessen Weiterentwicklung durch Willke dargestellt. Etzioni (1971 und 1991, S. 553ff.) schildert in seinem „Optionen-Sequenz-Modell“ den aktuellen Zustand der Gesellschaft als ausdifferenziert in funktional hoch spezialisierte Teilbereiche, die jeweils mit weit gehenden Fertigkeiten ausgestattet sind. Gleichzeitig ist die Fähigkeit des Gesamtsystems, die Fertigkeiten zu einer sinnvollen Synthese zusammenzuführen bzw. zu integrieren, unterentwickelt.390 Etzioni (1971 und 1991) untersucht angesichts dessen die Frage, inwieweit es möglich ist, ein globales Steuerungssystem zu entwickeln. Dabei schlägt er drei Entwicklungsstadien einer Gesellschaft vor: Im ersten Stadium ist die Gesellschaft undifferenziert, die Lebensverhältnisse sind einheitlich und ungesteuert, Wandel vollzieht sich reaktiv und es existiert keine Schriftsprache. Im zweiten Stadium hat sich die Gesellschaft ausdifferenziert. Es haben sich Teilsysteme gebildet, die sich auf wichtige Funktionen spezialisiert und dabei jeweils eigene Strukturen, Machtzentren, Organisationen und normative, legitimierende Prinzipien herausgebildet haben.391 Bereits frühkapitalistische Gesellschaften des 19. Jahrhunderts, aber auch zuvor schon die griechische Polis oder das römische Imperium, hatten z.B. die Medien Glaube, Geld und Macht ausdifferenziert und waren in dieser Hinsicht hoch spezialisiert. In einer dritten Phase wird diese differenzierte Gesellschaft wieder reintegriert, ohne dabei jedoch ihre Strukturen zu entdifferenzieren.392 Die Mittel einer solchen Reintegration sind nach Etzioni (1971, S. 582) „eine große Zahl und Vielfalt potenter Mechanismen zwischen den Einheiten sowie zwischen Einheiten und Supraeinheit (…), die größtenteils expressiven oder politischen Charakter haben und die differenzierten Einheiten in ein komplexes, aber integriertes Ganzes binden.“
Als mögliche konkrete Mechanismen für eine gesellschaftliche Reintegration erachtet er manche Formen einer integrierten Rahmenplanung, die Veränderungen des Eigentumsbegriffs in der Hinsicht, dass öffentliches Eigentum und eine vorausschauende gesellschaftliche Steuerung möglich werden, sowie die Entwicklung normativer Kriterien, mit denen der Zwiespalt zwischen Konsens und Kontrolle, Wissen und Macht sowie Freiheit und Gleichheit überbrückt werden kann. Allerdings ist dieses dritte Stadium nur eine Option und stellt sich keinesfalls zwangsläufig ein.393 Andere mögliche, letztlich jedoch problematische gesellschaftliche Entwicklungen wären die Reintegration der Gesellschaft durch eine Entdifferenzierung ihrer Strukturen, wie dies bei 389
390 391 392 393
Vgl. Willke (2000), S. 229f., mit Bezug auf Simmel (1890), S. 45ff., (1958b), S. 403ff., und (1958a), S. 297ff. Vgl. Willke (2000), S. 216f. Vgl. Etzioni (1971), S. 581. Vgl. Willke (2000), S. 217f. Vgl. Willke (2000), S. 217f., mit Bezug auf Etzioni (1991), S. 557ff.
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3 Neuere Systemtheorie
sozialistischen Gesellschaften erfolgt. Denn dies hat enorme Effizienzverluste zur Folge. Demgegenüber differenzieren sich kapitalistische Gesellschaften weiter aus und nehmen dabei die Folgekosten einer mangelnden gesellschaftlichen Integration in Kauf. Eine Reintegration, welche die hohe Komplexität und Differenzierung der Gesellschaft zu erhalten vermag, ist bislang noch nicht gelungen.394 Luhmann (1971c, S. 124) teilt mit Etzioni (1971, 1991) die Einsicht in die Notwendigkeit, die Differenzierung der Gesellschaft nicht zurückzunehmen. Und auch er sieht das Problem einer mangelnden Integration der Funktionssysteme: Diese haben seiner Meinung nach mehr Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, als andere Teilsysteme und das gesellschaftliche Gesamtsystem verkraften könnten, ohne ihre Eigenständigkeit zu verlieren. Er wirft daher die Frage auf, ob eine Gesellschaft für eine gelingende Integration den Verzicht auf Redundanz nicht besser nutzen könnte, als dies bisher der Fall ist.395 Zusätzlich fragt er nach Möglichkeiten, wie sich die differenzierten Teile wechselseitig besser abstimmen könnten. Nach Meinung Luhmanns kann es eine Koexistenz, Kompatibilität und Koordination der Teilsysteme letztlich nur geben, wenn diese sich aus Rücksicht auf andere Teilsysteme und auf das Ganze selbst einschränken.396 Das Konzept, das Luhmann hierzu vorschlägt und in Abschnitt 3.1.2 bereits kurz dargestellt wurde, ist das der Reflexion. Reflexion bedeutet, dass Systeme in Bezug auf ihre eigenen Möglichkeiten Selbstbeschränkung üben, um für andere Systeme eine mögliche bzw. adäquate Umwelt sein zu können. Dabei behalten z.B. Funktionssysteme ihre eigene Identität bei und versuchen gleichzeitig, die Restriktionen und Abstimmungszwänge aus der Umwelt für sich mit zu berücksichtigen.397 Da die Funktionssysteme ja wechselseitig aufeinander angewiesen sind, ist eine solche Strategie durchaus im (langfristigen) Interesse der Funktionssysteme selbst. Daher fordert Luhmann als Handlungsmaxime des Gesamtsystems, dass sich die Teilsysteme kurzfristig selbst beschränken, auf diese Weise die Effizienz des Ganzen verbessern und letztlich langfristig und kontinuierlich die Möglichkeiten der Teilsysteme selbst steigern. Wenn nun alle oder wenigstens die meisten Teilsysteme eines Ganzen dieses Prinzip verwirklichen, wird es zu einer überlegenen Handlungsrationalität für die Teile selbst.398 Integration könnte so die Fähigkeit eines Systems verbessern, seine Identität und Handlungsfähigkeit in einer komplexen und risikoreichen Umwelt zu wahren. Hierzu erhöht das System zunächst seine Eigenkomplexität, indem die Wirkungen und Rückwirkungen der Teilsysteme untereinander berücksichtigt werden. Diese höhere Eigenkomplexität muss schließlich durch effizientere Kontrollmechanismen gesteuert werden, indem gezielt Optionen im Hinblick auf die bestehenden Steuerungsgesichtpunkte wieder reduziert werden. Hierzu wird das System letztlich gezwungen, weil es in evolutionärer Konkurrenz zu anderen Systemen steht. Es ist daher gefordert, sich veränderten und schwierigen Umweltbedingungen besser anzupassen und besser auf sie zu reagieren. Die Kosten, die entstehen, wenn ein System zugunsten der 394 395 396 397 398
Vgl. Willke (2000), S. 218. Vgl. Luhmann (1988b), S. 219. Vgl. Willke (2000), S. 218ff., mit Bezug auf Luhmann (1975b). Vgl. Willke (2000), S. 222, mit Bezug auf Luhmann (1977), S. 74. Vgl. Willke (2000), S. 97f., mit Bezug auf Luhmann (1975b), (1984a), S. 593ff., und Axelrod (1984).
3.3 Funktionale Differenzierung und deren Probleme
79
Integration seine Möglichkeiten und Optionen einschränkt, rechtfertigen sich dadurch, dass das Gesamtsystem die evolutionären Chancen seiner Umwelt verbessert.399 Ein soziales System steht im Einzelnen den folgenden Integrationsproblemen gegenüber: sich mit seiner inneren Umwelt, d.h. den Interessen, Aktivitäten und Loyalitäten der Mitglieder, und mit seiner Außenwelt, die vor allem andere soziale Systeme enthält, abzustimmen. Erst wenn diese Abstimmungen reflexiv und wechselseitig erfolgen, kann das soziale System eine Identität herstellen.400 Wenn ein System dabei gegenüber seiner relevanten Umwelt manche Beziehungen betont und dabei andere vernachlässigt, weicht es von seiner optimalen Integration ab und ist pathologisch.401 Die Frage, mit der sich Willke (2000, S. 234ff.) nun befasst, ist: Welche Koordinations- und Steuerungsmechanismen könnten eine Reflexion, d.h. die Rücksichtnahme der Teilsysteme zugunsten des Ganzen, steuern? Letztlich ist eine solche Steuerung aus verschiedenen Gründen ein schwieriges Problem: Die operative Geschlossenheit und Eigenkomplexität der Funktionssysteme und ihre gleichzeitig starke Interdependenz machen es unmöglich, die gesellschaftlichen Prozesse umfassend zu planen, u.a. schon allein deshalb, weil kein Teilsystem der Gesellschaft in der Lage ist, die relevanten Variablen und Faktoren für eine solche Steuerung gezielt zu beeinflussen. Nationalstaatliche Grenzen werden tendenziell unwichtiger, nationale politische Systeme verlieren an Einfluss und die Welt wird zunehmend komplexer. Zudem nimmt die zeitliche Reichweite von Prozessfolgen zu, so dass sich der Zeithorizont weiter in die Zukunft verlagert. Dies hat zur Folge, dass Steuerungsfehler immer risikoreicher sind und weiter reichende Folgen nach sich ziehen, die u.U. auch zukünftige Generationen betreffen.402 Diese Probleme führen dazu, dass der Einfluss nationalstaatlicher Organisationen zurückgegangen ist. Trotzdem gibt es bislang nach Meinung Willkes (2000, S. 229) keine andere praktische Alternative als den Staat, diese gesellschaftliche Führungsrolle zu übernehmen, wenngleich sie auch vielfach angefochten wird. Aber auch die Ökonomie könnte seiner Meinung nach eine solche Rolle nicht übernehmen, da sie keine legitimen und für die Gesellschaft verbindlichen Entscheidungen fällen kann. Zudem würden die liberalen und subsidiären Prinzipien der Ökonomie die zentrifugale Tendenz der funktionalen Differenzierung verschlimmern und die Gesellschaft noch weiter desintegrieren. Eine zentrale Steuerung im Sinne des Sozialismus lehnt Willke (2000, S. 239) jedoch ebenfalls ab, da diese nicht in der Lage ist, die hohe Komplexität zu verarbeiten. Hier bestünde die Gefahr, dass die Gesellschaft überintegriert und entdifferenziert würde.403 Was sind nun, zumindest theoretisch gesehen, adäquate Steuerungs- und Koordinationsmechanismen für eine Integration der Gesellschaft? Adäquate Mechanismen müssen nach Willke (2000, S. 242f.) die folgenden drei Anforderungen erfüllen:
399 400 401 402 403
Vgl. Willke (2000), S. 222f. Vgl. Willke (2000), S. 231. Vgl. Willke (1999), S. 87. Vgl. Willke (2000), S. 234ff. Vgl. Willke (2000), S. 229 und 238f.
80
3 Neuere Systemtheorie x
die operative Geschlossenheit und Autonomie der Teilsysteme wechselseitig zu respektieren,
x
die operativen Restriktionen der Teilsysteme, die aus den gegenseitigen Abhängigkeiten resultieren, berücksichtigen, sowie
x
die operativen Kontexte, d.h. den Entwurf einer gewünschten Evolution der Gesamtgesellschaft, zu berücksichtigen, ohne die Autonomie der Teilsysteme zu beschränken.
Die Kontrolle zur Verwirklichung dieser Vorkehrungen können nach Meinung Willkes (2000, S. 243, und 1983) im Einklang mit Luhmann nur die Teilsysteme selbst leisten, ohne dass dabei jedoch ein Teilsystem und dessen Medium ein anderes dominieren darf. Er schlägt darum vor, Verhandlungssysteme einzurichten, die für das Gesamtsystem die relevanten Kontextbedingungen definieren. Die Gesellschaft könnte so durch die Interaktion aller betroffenen Akteure gesteuert werden, die dadurch Kontrollkompetenz erlangen, dass sie zum gesamten Interaktionszusammenhang dazugehören. Diese Verhandlungssysteme entstünden letztlich als emergente Eigenschaften in der Gesellschaft.404 Dieser Position Willkes (2000, S. 243ff.), vor allem der Forderung, es sollten Verhandlungssysteme in die Gesellschaft eingeführt werden, die eine Steuerung der Teilsysteme hin zu einer Systemrationalität des Gesamten übernehmen könnten, würde Luhmann vermutlich widersprechen. Diese Vermutung legen seine Ausführungen zur Stellung der Moral in der Gesellschaft, insbesondere seine Kritik an der Diskusethik, nahe (vgl. Abschnitt 3.4.2). 3.3.5
Intervention
Die vorherigen Abschnitte zeigten die Probleme der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft und wiesen auf die Notwendigkeit einer Integration und adäquaten Steuerung der Teilsysteme hin. In diesem Zusammenhang stellt sich noch eine letzte Frage, die es nun in diesem Abschnitt zu klären gilt: Wie kann in ein operativ geschlossenes Systemgeschehen überhaupt gezielt interveniert werden? Intervention ist definiert als das Bewirken eines bedeutsamen Unterschieds.405 Eine Intervention in ein System, z.B. im Rahmen einer Therapie oder der Organisationsentwicklung, zielt darauf ab, die Spielregeln des Systems, d.h. dessen Beobachtungs- und Verhaltenskriterien, gezielt zu verändern. Damit wird erreicht, dass sich die Identität des Systems und mit der Identität wiederum die Handlungskriterien nach und nach ändern.406 Eine solche gezielte Einflussnahme setzt voraus, dass der intervenierende Beobachter das System zunächst ergründet, d.h. ein ausreichend komplexes und elaboriertes Verständnis des Systems erlangt. Dabei versucht er, durch eine Beobachtung zweiter Ordnung (vgl. Abschnitt 3.2.3) den konstituierenden Systemregeln auf die Spur zu kommen. Dabei wird es nie möglich sein, das System vollständig zu durchschauen oder zu entschlüsseln, denn eine Beobachtung zweiter Ordnung kann immer nur subjektiv Arbeitsmodelle des beobachteten Systems rekonstruieren, die im Hinblick auf den Interventionszweck möglichst brauchbar sein sollten. 404 405 406
Vgl. Willke (2000), S. 243f. Vgl. Willke (1999), S. 12. Vgl. Willke (2000), S. 160, und ausführlicher Willke (1987).
3.3 Funktionale Differenzierung und deren Probleme
81
Adäquate Modelle sind sehr wichtig, da die Trivialisierung komplexer Systeme und eine darauf aufbauende Intervention großen Schaden anrichten können.407 Dabei gilt, dass allein die Beobachtung von Handlungen nicht viel nützen würde. Diese sind reine Oberflächenphänomene, die kaum etwas darüber aussagen, wie ein System tatsächlich funktioniert. Stattdessen ist es notwendig, die Tiefenstruktur des Systems zu entdecken. Zu diesem Zweck versucht der Beobachter herauszufinden, wie die Beobachtungsweise des betreffenden Systems eingeschränkt ist, welche Restriktionen und Grenzen es sich selbst setzt und welche Bereiche der Welt es als relevant oder irrelevant erachtet. Ebenso untersucht der Beobachter, welche internen Regeln die Systemteile steuern. In einem Unternehmen könnten dies z.B. explizite Regeln wie ein Unternehmens- oder Gesellschaftsvertrag, Arbeitsverträge, „standard operating procedures“ etc. oder implizite Regeln wie Werte, Standards, Kompetenzen, Gewohnheiten, Rücksichtnahmen, Empfindlichkeiten etc. sein. Vor allem implizite Regeln sind oft unbewusst und können deswegen nicht direkt erfragt werden, sondern sind vom Beobachter erst zu erschließen.408 In diesem Sinne zielen Interventionen in soziale Systeme darauf ab, Kommunikationen bzw. in Organisationen Entscheidungen (vgl. Abschnitt 3.4.3) zu verändern. Dazu gilt es, die Kommunikationsregeln sozialer Systeme, d.h. die Erwartungsmuster und Differenzschemata, zu analysieren und anschließend zu modifizieren.409 Interventionen in unternehmerisches Handeln sind also nicht darauf ausgerichtet, Personen, sondern Kommunikationsstrukturen zu verändern.410 Dabei ist es ebenso wichtig zu erkennen, dass es unterschiedliche Systemebenen gibt: von Individuen über Gruppen, Organisationen, Funktionssysteme und die Gesellschaft bis hin zur Weltgesellschaft. Darüber hinaus verfügen soziale Systeme neben den Regeln der Kommunikation auch über systemeigene Metaregeln. Auf jeder dieser System- und Regelebenen sind andere Gesetzmäßigkeiten und Dynamiken der Selbstorganisation wirksam. Setzt eine Intervention nun auf einer zu niedrigen Systemebene ab und verändert dort Regeln, werden diese wieder in ihren vorigen Zustand zurückversetzt, sobald die übergeordneten und nicht veränderten Metaregeln, z.B. bestimmte Erwartungen, Wirksamkeit zeigen. Solange die Metaregeln nicht verändert werden, werden sie immer wieder die gleichen nachgeordneten Regeln reproduzieren.411 Daher ist es für eine erfolgreiche Steuerung komplexer Systeme wichtig zu erkennen, auf welcher System- und Regelebene bzw. auf welchem Emergenzniveau angesetzt werden sollte. Denn dieses verfügt über Eigenschaften und Wirkungen, die über die Summe der Eigenschaften der untergeordneten Systemebenen hinausgehen und charakteristisch nicht für die Systemteile, sondern die Systemebene sind.412 Damit wird zugleich deutlich, dass Veränderungen meist dann erfolgreich sind, wenn auf der übergeordneten Metaebene Regeln
407 408 409 410 411 412
Vgl. Willke (1999), S. 18f. und 64. Vgl. Willke (1999), S. 18f. Vgl. Willke (1999), S. 35ff., mit Bezug auf Luhmann (1984b). Vgl. Willke (1999), S. 52 und 84f. Vgl. Willke (1999), S. 52 und 73ff. Vgl. Willke (2000), S. 131, 154f., und Krohn/Küppers (1992).
82
3 Neuere Systemtheorie
der Veränderung bereits etabliert sind. Ohne solche Regeln ist eine Veränderung schwierig und oft sogar unmöglich.413 Schließlich ist noch eine letzte Einsicht wichtig: Nicht der intervenierende Akteur verändert das zu modifizierende autopoietische System, sondern er kann dieses nur auf eine solche Art und Weise irritieren, dass dieses sich selbst verändert. Dies zeigt, wie schwierig eine Intervention in ein komplexes System tatsächlich ist. Es ist dazu ein komplexes Denken und äußerst umsichtiges Handeln erforderlich.414
3.4
Spezielle gesellschaftliche Teilsysteme
Im vorliegenden Abschnitt werden nun verschiedene gesellschaftliche Teilsysteme dargestellt, soweit sie für die vorliegende Arbeit erforderlich sind. Die zentrale Fragestellung der Arbeit nach den Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns von Unternehmen zeigt, welche Teilsysteme hier wichtig sind: die Wirtschaft, Moral, Organisationen und Unternehmen als Organisationen der Wirtschaft. 3.4.1
Wirtschaft
Als Wirtschaft definiert Luhmann (1988b, S. 101) die Gesamtheit aller Operationen, die über Geldzahlungen abgewickelt werden. Die Wirtschaft ist ein autopoietisches Funktionssystem der Gesellschaft und hat durch ihre monetäre Integration eine enorm hohe Eigenkomplexität entwickelt. Dadurch verbessert sie ihre Leistungserbringung für die Gesellschaft: die Befriedigung von Bedürfnissen mittels Gütern und Dienstleistungen.415 Die Wirtschaft wurde ursprünglich nur über das Medium Eigentum gesteuert und operierte mit dem Code „Haben – Nicht-Haben“. Dieser Code bezeichnet jedes Mitglied entweder als Eigentümer oder Nichteigentümer. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass Eigentum getauscht werden kann. So ist es z.B. im Sinne des Umweltschutzes oft sinnvoll zu versuchen, Eigentumsrechte an ökologischen Ressourcen zu vergeben, um Anreize für einen schonenden bzw. effizienten Umgang mit diesen zu setzen. Denn auf diese Weise wird der Ressourcenbesitzer in die Lage versetzt, den Schaden an seinen Ressourcen abzuwehren und gegebenenfalls Schadensersatzleistungen zu verlangen.416 Das Wirtschaftssystem differenzierte sich jedoch erst voll aus, als es das Medium Geld und damit die Zweitcodierung „Zahlen – Nicht-Zahlen“ einführte.417 Auf diese Weise entstand die Wirtschaft als voll ausdifferenziertes autopoietisches, zirkulär und selbstreferenziell konstituiertes System. Die Wirtschaft operiert über Zahlungen, die Zahlungsfähigkeit voraussetzen und Zahlungsunfähigkeit schaffen. Die Zahlungen werden mit Geld getätigt, und erst durch 413 414 415 416 417
Vgl. Willke (1999), S. 81f. Vgl. Willke (1999), S. 30, mit Bezug auf von Foerster (1984), S. 10. Vgl. Luhmann (1988b), S. 102. Vgl. Luhmann (1988b), S. 102f. Siehe auch die Property-Rights-Theorie in Abschnitt 2.3.2. Anderer Meinung bzgl. dessen, wie die Erst- und Zweitcodierungen der Wirtschaft lauten, ist Wieland (1996, S. 53f.). Er bezeichnet den primären Code als „Angebot – Nachfrage“ und den sekundären als „Zahlungsangebot – Zahlungsnachfrage“. Siehe hierzu Abschnitt 1.1.1.
3.4 Spezielle gesellschaftliche Teilsysteme
83
dieses können Zahlungsereignisse überhaupt stattfinden. Der Zahlende ist nun darauf angewiesen, wiederum seine Zahlungsfähigkeit herzustellen.418 Die Operationen der Wirtschaft bestehen grundsätzlich aus Entscheidungen, denn der Code operiert mittels Negationen. So steht ein Mitglied immer vor der Entscheidung, eine Zahlung zu tätigen oder zu unterlassen. Ein wesentliches Entscheidungskriterium ist es dabei, höchstund baldmöglichst die eigene Zahlungsfähigkeit wieder herzustellen. So ist z.B. bei Investitionsentscheidungen die Rentabilität bzw. Wirtschaftlichkeit einer Investition ein entscheidendes Kriterium. Bis zur Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit vergeht indessen Zeit, die ein Investor nur mit ausreichend Kapital überbrücken kann. Dieser Mechanismus, der auf die Herstellung von Zahlungsunfähigkeit und wiederum Zahlungsfähigkeit gerichtet ist, führt das Wirtschaftlichkeitsprinzip, die „kapitalistische Selbstkontrolle“, in das System ein. Auf diese Weise ist die Wirtschaft schließlich in der Lage, ihre Funktion – die Bewältigung von Knappheit – zu erfüllen.419 Ein interner Wirtschaftskreislauf entsteht nun dadurch, dass jede Herstellung von Zahlungsunfähigkeit beim Zahlenden immer gleichzeitig mit der Herstellung der Zahlungsfähigkeit beim Empfänger einhergeht. Ersterer wird nun versuchen, seine Zahlungsfähigkeit wieder herzustellen, und wird dadurch wiederum an anderer Stelle im System Zahlungsunfähigkeit verursachen. Damit bekommt das Wirtschaftssystem eine Dynamik, der Kreislauf kommt in Gang und erlangt Eigendynamik.420 Die Gründe für den Wirtschaftskreislauf liegen in der Leistung, welche die Wirtschaft für die Gesellschaft erbringt: die Befriedigung von Bedürfnissen nach Gütern und Dienstleistungen. Um nun die eigene Zahlungsfähigkeit wieder herzustellen oder die Voraussetzungen zu schaffen, dies in der Zukunft tun zu können, muss sich das System an seiner Umwelt orientieren: Haushalte, die ihr Einkommen sichern wollen, an den Anforderungen des Arbeitgebers, und Unternehmen, die Gewinne erwirtschaften wollen, an den Anforderungen der Kunden. Hier ist das Wirtschaftssystem offen und reagiert auf Umweltveränderungen, erweist sich mithin als lernfähig. Diese externen Anforderungen äußern sich in den Programmen der Wirtschaft, die die Kriterien für richtiges wirtschaftliches Verhalten kommunizieren (vgl. Abschnitt 3.3.2).421 Die externen Anforderungen an die Wirtschaft können jedoch nicht direkt in Programme übersetzt werden. Sie sind externe Ereignisse, die nur dann wirtschaftliche Operationen in Gang setzen, wenn sie in den Code „Zahlung – Nichtzahlung“ übersetzt werden können. Mit anderen Worten: Die Wirtschaft zeigt nur dann eine Resonanz, wenn sich Umweltereignisse in Preisen oder Preisänderungen niederschlagen. Wirtschaftliche Programme können immer nur Programmierungen von Zahlungen sein. Diese Funktionalität hat den Nachteil, dass Ereignisse, die nicht preisrelevant sind, in der Wirtschaft nicht berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite hat sie jedoch den Vorteil, dass Probleme, die in die Sprache der Preise übersetzt werden, auch garantiert von der Wirtschaft bearbeitet werden. Die Reduktion der
418 419 420 421
Vgl. Luhmann (1988b), S. 103 und 109f. Vgl. Luhmann (1988b), S. 103 und 109f. Vgl. Luhmann (1988b), S. 110f. Vgl. Luhmann (1988b), S. 104.
84
3 Neuere Systemtheorie
Möglichkeiten der Wirtschaft durch die Codierung korrespondiert gleichzeitig mit einer Steigerung ihrer Möglichkeiten.422 Auch ökologische Belange werden in der Wirtschaft nur berücksichtigt, wenn sie sich auf Preise auswirken, z.B. wenn der Verbrauch ökologischer Ressourcen Kosten verursacht. Die oft geäußerte Forderung, die Wirtschaft solle auch ökologische Ziele mit berücksichtigen, macht jedoch keinen Sinn, denn die Wirtschaft selbst verfolgt keine Ziele. Sie operiert autopoietisch, d.h. operativ geschlossen, und orientiert sich dabei an Zahlungen und nicht in erster Linie an dem zu generierenden Output. Demgegenüber können sich jedoch Unternehmen als Organisationen der Wirtschaft ökologische Nebenziele setzen, wie in Abschnitt 3.4.4 und Kapitel 9 deutlich werden wird. So können beispielsweise Eigentümer bereit sein, auf kurzfristige Gewinne zu verzichten, Manager können das Unternehmen führen und dabei zugunsten des Umweltschutzes die Belange der Eigentümer (im Sinne einer PrinzipalAgenten-Beziehung) nicht unmittelbar berücksichtigen oder Konsumenten können für ökologische Produkteigenschaften eine höhere Zahlungsbereitschaft zeigen.423 3.4.2
Moral
Welche Stellung hat die Moral in der modernen Gesellschaft? Welche Stellung sollte sie haben? In diesem Abschnitt wird die Meinung Luhmanns (u.a. 1993, 1990b, 1989a und 1988b) zu diesen Fragen dargestellt. Er konstatiert, wie im Folgenden gezeigt wird, dass es der Moral nicht gelungen sei, ein eigenes Funktionssystem in der Gesellschaft auszudifferenzieren, dass sie für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung eher dysfunktional denn funktional sei und der Ethik damit, so sie denn überhaupt eine Existenzberechtigung hat, die Aufgabe zukäme, vor der Moral zu warnen. An späterer Stelle werden in dieser Arbeit die Ansätze der Ökonomischen Ethik von Homann (vgl. Kapitel 6) und der Governanceethik von Wieland (vgl. Kapitel 7) dargestellt. Beide basieren weitgehend auf der neueren Systemtheorie, distanzieren sich jedoch von dieser äußerst kritischen Haltung Luhmanns gegenüber der Moral. Es wird dabei gezeigt werden, dass seine wesentlichen Kritikpunkte, wie sie im Folgenden geschildert werden, auf diese Ansätze auch nicht zutreffen. Um dies bereits hier zu verdeutlichen, wird zum Ende des vorliegenden Abschnittes kurz auf die hierfür wesentlichen Aspekte eingegangen, die dies aufzeigen werden. Eine genauere Auseinandersetzung findet sich jedoch in den betreffenden Abschnitten selbst, in denen die Ansätze von Homann und Wieland dargestellt und diskutiert werden. Luhmann (1988b, S. 259f.) definiert Moral als die Codierung der Kommunikation durch den Code „gut – schlecht“ bzw. „gut – böse“, wenn die Kommunikation in einem subjektiven Kontext stattfindet. Moralische Kommunikation weist auf diese Weise einem Verhalten Achtung oder Missachtung zu.424 Ethik ist die Reflexionstheorie der Moral, d.h. die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Begründung moralischer Urteile auseinan-
422 423 424
Vgl. Luhmann (1988b), S. 104ff. und 122f. Vgl. Luhmann (1988b), S. 114f. und 119f. Vgl. Luhmann (1988b), S. 259f., und dazu ausführlicher Luhmann (1978).
3.4 Spezielle gesellschaftliche Teilsysteme
85
dersetzt. Darüber hinaus setzt sie sich praktisch dafür ein, dass ein moralisch begründetes Verhalten realisiert wird.425 Die Moral hat nach Meinung Luhmanns (1988b, S. 260f.) ihren Ursprung in der Polemik und in Auseinandersetzungen bzw. Konflikten. Sie führt seiner Meinung nach immer zu Konflikten, denn ein moralisch engagiertes Subjekt kann, wenn seine Selbstachtung auf dem Spiel steht, gegenüber anderen Standpunkten nicht nachgeben. Moral führt zwangläufig dazu, das Gute zu lieben, aber ebenso auch das Schlechte zu hassen.426 Die Moral hat in der Gesellschaft kein eigenes Funktionssystem herausgebildet. Dies führt dazu, dass sie mit der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft zunehmend an Funktion und Einfluss verloren hat und durch andere Funktionen wie die des Rechts und der Politik ersetzt worden ist. Moral kann dadurch einzig auf Individuen bezogen bleiben, die einander mit Achtung oder Missachtung begegnen. Sie ist damit nunmehr in den Nischen verortet, welche die Funktionssysteme in der Gesellschaft lassen. Moral kann nur insoweit auf die Funktionssysteme einwirken, wie sie in der Lage ist, dort Resonanz zu erzeugen, d.h. z.B. im Fall der Wirtschaft die Preisbildung zu beeinflussen.427 Insofern kann die Moral nach Luhmann (1984a, S. 320) nur dann eine soziale Ordnung herstellen, wenn sie in ihren Bedingungen für gegenseitige Achtung auch die Erfordernisse, die das soziale Zusammenleben stellt, mit einzubeziehen in der Lage ist. Auch die Ethik stößt in der modernen Gesellschaft auf verschiedene Schwierigkeiten. So kann z.B. der Kategorische Imperativ keine konkreten Handlungsanweisungen erteilen. Eine materiale Werteethik kann zwar konsensfähige Werte bzw. Einschätzungen der Gesellschaft veranschaulichen, zeigt jedoch für den Umgang mit Wertekonflikten keine Lösungswege auf. Denn gesellschaftliches Handeln findet in aller Regel innerhalb von Funktionssystemen sowie deren Organisationen statt und ist den dortigen Regelstrukturen unterworfen. Die Realisierung bestimmter Werte steht dabei oft in Konflikt mit den Handlungsregeln der Systeme und gegebenenfalls mit der Realisierung anderer Werte. Der Utilitarismus schließlich steht vor dem Problem, individuelle Präferenzen zu aggregieren.428 Die Einsicht der Ethik, dass gut gemeintes Handeln nicht immer gute Folgen und schlecht gemeintes nicht immer schlechte Folgen nach sich zieht, begründete die Abkehr von einer Gesinnungsethik hin zu einer Verantwortungsethik, welche die moralische Qualität von Handlungen an die Wirkungen derselben knüpft. Dabei taucht jedoch das zentrale Problem auf, dass die Handlungsfolgen in aller Regel unsicher und langfristiger Natur sind. Darum kam eine Risikoethik ins Gespräch, die jedoch keine Regeln entwickeln konnte, wie eine moralisch richtige Risikobereitschaft auszusehen hätte. Grund ist die Diskrepanz zwischen den Perspektiven des Entscheiders und der Betroffenen, welche die Risikoethik nicht aufzulösen vermag.429 Den Versuch, dieses Problem durch Partizipation, d.h. gemeinsame Beratungen zwischen den Parteien zu lösen, sieht Luhmann (1993, S. 136, und 1991b) als gescheitert an.
425 426 427
428 429
Vgl. Luhmann (1993), S. 135, und (1998b), S. 262. Vgl. Luhmann (1988b), S. 261. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 45, und Homann (1993), S. 40f., mit Bezug auf Luhmann (1991a) und (1989a). Vgl. Luhmann (1993), S. 135f., mit Bezug auf Arrow (1951). Vgl. Luhmann (1993), S. 136.
86
3 Neuere Systemtheorie
Luhmann (1993, S. 137) folgert nun, dass Ethik – egal ob sie darauf abzielt, eine perfekte menschliche Lebensführung zu entwerfen oder Normen gut zu begründen – sich nicht mehr ausschließlich am Guten orientieren darf. Stattdessen wirft er die Frage auf, ob und in welchen Situationen es überhaupt Sinn macht, moralisch zu kommunizieren, d.h. sich an der Differenz „gut – schlecht/böse“ zu orientieren. Wenn die Folgen moralischer Beobachtung und Beurteilung gravierend sind, müsste die Ethik sogar vor Moral warnen. Insofern stellt sich auch die Frage, ob die Ethik für eine Beurteilung der Schwierigkeiten der modernen Gesellschaft, wie z.B. die ökologischen Folgen des Wirtschaftens, überhaupt angemessen ist, oder ob ihre Anwendung nicht schlimme Folgen nach sich zieht.430 Ebenso bezweifelt Luhmann (1993, S. 145), dass die Ethik hier Lösungen aufzeigen kann, da sich die Ethiker in eine „Welt des Sollens“, bezogen auf individuelles Verhalten, flüchten. Seine Kritik an dieser Position macht sich an den folgenden, anschließend detaillierter erläuterten Punkten fest: x
den individuellen Handlungen als inadäquate Adressaten moralischer Appelle,
x
dem Anspruch, universalistische Appelle aussprechen zu können,
x
den externen Positionen, die Moralisten oft implizit einnehmen, wenn sie moralische Appelle an die Gesellschaft richten, und
x
der Behauptung der Diskursethik, die Gesellschaft könne in einem diskursiven Prozess vernunftbasierte, verbindliche Normen ermitteln.
Das Problem der modernen Gesellschaft liegt nicht in den individuellen Handlungen, sondern den Systemstrukturen begründet. Wird bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme bei individuellen Handlungen angesetzt, werden die Problem in aller Regel nicht gelöst, sondern verschlimmert. Bereits in Organisationen wird deutlich, dass in einem solchen systemischen Zusammenhang kaum mehr von individuellen Entscheidungen der Unternehmer oder Manager gesprochen werden kann. Stattdessen markiert eine Entscheidung das Ergebnis von Kommunikationsprozessen im Organisationssystem. Eine Teilentscheidung ist nicht als Entscheidung oder als Beitrag einer Person definiert, sondern als das, was diesen Entscheidungsprozess in einzelne Episoden teilt und voranbringt. Diese Unternehmensprozesse lassen sich nicht mehr alleine auf individuelle Handlungen zurückführen. Darüber hinaus ist das, was als Entscheidung wahrgenommen wird, immer das Ergebnis einer Beobachtung zweiter Ordnung. Daher haben moralische Appelle an individuelles Verhalten hier keinen Sinn mehr. Noch möglich wären die Spiegelung sozialer Prozesse an moralischen Werten oder zumindest ihre Bewertung als unmoralisch.431 Allerdings bezweifelt Luhmann (1993, S. 145), dass es ethische Ansätze gibt, die diese modernen gesellschaftlichen Gegebenheiten in Betracht ziehen können. Der zweite Kritikpunkt Luhmanns wendet sich gegen den Anspruch, den moralische Appelle oftmals erheben, universal für das gesamtgesellschaftliche Handeln zu gelten. Dieser Anspruch sei in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft nicht mehr glaubwürdig. Denn in der modernen Gesellschaft könne es keine natürlichen Primate, gegenüber dem Gesamtsystem keine privilegierten Positionen mehr geben. Die Gesellschaft könne sich zwar selbst beobachten, aber jegliche Beobachtung würde zwangsläufig das eigene Sinn- bzw. Differenzschema verwenden, und dieses sei in der modernen Gesellschaft funktional ausdifferenziert. 430 431
Vgl. Luhmann (1993), S. 137 und 142. Vgl. Luhmann (1993), S. 145.
3.4 Spezielle gesellschaftliche Teilsysteme
87
Eine gesellschaftliche Selbstbeachtung könne sich nicht von ihrem Beobachtungsgegenstand, d.h. sich selbst, distanzieren, sondern meine sich zwangsläufig immer selbst mit. Dadurch gebe es in der modernen Gesellschaft keine Position, von der aus sie ihre Einheit gegenüber der Umwelt geltend machen könnte. Es sei nicht möglich, die Gesamtgesellschaft als Einheit zu beobachten und aus dieser Beobachtung heraus universalistische Appelle abzuleiten.432 In einem weiteren Kritikpunkt Luhmanns an der Ethik setzt er sich mit Protestbewegungen, die von so genannten „Moralisten“ angeführt werden, auseinander.433 Diese würden oftmals fordern, die Gesellschaft solle moralische (z.B. ökologische oder soziale) Belange gegen die gesellschaftlichen Codierungen der Funktionssysteme berücksichtigen. Dabei würden sie implizit den Anspruch erheben, selber eine Position außerhalb dieser Codierungen innezuhaben und von dort aus ihre Gesellschaftskritik und moralischen Forderungen an die Gesellschaft formulieren zu können:434 „Man möchte, alles in allem, gegenüber jeder Codierung die Position des ausgeschlossenen Dritten einnehmen und dann, wie unvermeidlich, als eingeschlossener ausgeschlossener Dritter in der Gesellschaft leben: als Parasit.“435
Man könnte diese Position auch als die des Protests gegen die funktional ausdifferenzierte moderne Gesellschaft und ihre Folgen interpretieren. Allerdings fehlt dieser Protestbewegung Theorie: eine adäquate Selbstbeschreibung, d.h. eine Beschreibung dessen, wogegen sie protestiert, und Resultate, die sie aus einer solchen Analyse abgeleiten könnte. Daher kann die Protestbewegung die Unterscheidungen, die sie ihren Beobachtungen zugrunde legt, nicht kontrollieren, sie verfügt nicht über ausreichende „semantische und strukturelle Stabilität“436, oder mit einfachen Worten: über angemessene und stichhaltige, theorie-basierte Argumente. Die Beiträge, die sie zur Lösung gesellschaftlicher Beitrage bislang zu leisten versucht, sind entsprechend mager:437 „Vorherrschend findet man daher eine recht schlichte und konkrete Fixierung von Zielen und Postulaten, eine entsprechende Unterscheidung von Anhängern und Gegnern und eine entsprechende moralische Bewertung. Was sich herauszuschälen scheint, ist die Vorstellung: man müsse so leben können, wie man will, wenn auch in kleineren Verhältnissen und unter Verzicht auf Luxuskonsum (wobei diese Verzichte in hohem Maße konsensfähig sind, weil sie ohnehin mit der Lebenswelt von fast jedermann übereinstimmen).“438
Dadurch liefert die Protestbewegung, so Luhmann (1988b, S. 234f.), lediglich unzureichend fundierte Ziele und Postulate. Da die Werte der Bewegung, vor allem ihre Umsetzung in der Gesellschaft, in aller Regel abgelehnt werden, bleibt der Bewegung einzig der Widerstand, der schließlich in eine „blasierte moralische Gerechtigkeit“439 und in „ein resigniertes Kom-
432 433
434 435 436 437 438 439
Vgl. Luhmann (1988b), S. 229ff. Luhmann (1988b), S. 227ff., bezieht sich bei der folgenden Beschreibung von „Moralisten“ u.a. auf die Grünenbewegung. Als aktuelleres Beispiel passen jedoch auch die Argumente und Proteste der Anti-Globalisierungsbewegung sehr gut auf die folgenden Schilderungen. Vgl. Luhmann (1988b), S. 234. Luhmann (1988b), S. 234, im Sinne von Serres (1980). Luhmann (1988b), S. 235. Vgl. Luhmann (1988b), S. 234f. Luhmann (1988b), S. 234. Luhmann (1988b), S. 235.
88
3 Neuere Systemtheorie
mentieren des Untergangs“440 mündet. Eine Kritik an der funktionalen Differenzierung oder dem „Kapitalismus“ kommt nicht umhin, diese erst einmal als solche anzuerkennen, um anschließend eine Gegenposition zu dieser Gesellschaftsstruktur zu zeichnen. Was die Bewegung hingegen tut, ist, sich als Differenz zur Gesellschaft zu verstehen und von dieser Position aus die Gesellschaft verändern zu wollen. Dies ist paradox und sorgt dafür, dass diese Beobachterposition äußerst instabil ist. Die Gesellschaft kann sich zwar, wie bereits beschrieben, selbst beobachten, ist aber aufgrund ihrer funktionalen Differenzierung strukturell bedingt nicht mehr in der Lage, sich selbst in sich selbst zu repräsentieren, geschweige denn sich selbst aus einer Position außerhalb von sich selbst zu beobachten.441 Weil diese Zusammenhänge nicht gesehen oder zumindest nicht anerkannt werden, wird oft versucht, die Instabilität der Position der Protestbewegung durch Angstthemen weniger angreifbar zu machen. Damit befindet sich die moralische Diskussion nicht mehr auf der Ebene von Normen, sondern auf der von Gefühlen (der Angst), die von niemandem mehr bestritten werden können. Das Ziel ist es, die Angst zu verringern.442 Da es nicht möglich ist, Angst zu bestreiten, erlangt sie moralische Qualität:443 „Wer Angst hat, ist moralisch im Recht, besonders wenn er für andere Angst hat und seine Angst einem anerkannten, nicht pathologischen Typus zugerechnet werden kann.“444
Kommunikation, die sich auf Angst gründet, verfügt über ihr eigenes Resonanzprinzip, das manche Dinge ignoriert und andere wiederum vergrößert. Das Hantieren mit der Angst kann wirkungsvoll sein und gesellschaftliche Veränderungen hervorrufen, deren Rückwirkungen jedoch unabsehbar und daher selber Angst einflößend sind.445 Auch die Art und Weise, wie Habermas (1991, 1983) im Rahmen seiner Diskursethik versucht, gesellschaftliche Normen zu ermitteln, stößt bei Luhmann (1988b, S. 249ff.) letztlich auf die gleiche Kritik wie die moralischen Appelle der Protestbewegung. In den Worten der Systemtheorie formuliert vertritt Habermas (u.a. 1991) die Meinung, die Gesellschaft könne in einem (herrschaftsfreien) kommunikativen Diskurs ihre eigene kollektive Identität bestimmen. Die beteiligten Akteure würden sich innerlich an diese Identität, nicht nur an die Richtigkeit von guten Gründen oder guten Handlungen in bestimmten Situationen, gebunden fühlen und sich dafür engagieren. Die Einsicht und Überzeugung der Teilnehmer gründe sich darauf, dass diese Identität mehr als nur eine bloße Selbstbeschreibung, sondern vernünftig und damit letztlich verbindlich sei.446 Dieser Sichtweise entgegnet Luhmann (1988b, S. 250f.), dass sie angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Systemstrukturen unpassend und nicht realisierbar sei. Zwar könne man auch die Argumentation herumdrehen, die Forderung der Diskursethik als ideal erachten und angesichts dessen die moderne Gesellschaft als gescheitert verurteilen. So oder so betrachtet 440 441 442
443 444 445 446
Luhmann (1988b), S. 236. Vgl. Luhmann (1988b), S. 235ff. Vgl. Luhmann (1988b), S. 237f. Angst wird hier als Besorgtheit interpretiert und klammert die emotionale Aufgeregtheit aus. Vgl. Luhmann (1988b), S. 237. Vgl. Luhmann (1988b), S. 245. Luhmann (1988b), S. 244. Vgl. Luhmann (1988b), S. 243 und 246. Vgl. Luhmann (1988b), S. 249f.
3.4 Spezielle gesellschaftliche Teilsysteme
89
könne man aber der Gesellschaft nicht den Vorwurf machen, sie habe nicht ausreichend über Gründe und Geltungsanspruche diskutiert, und diese mangelnde Diskussion sei der Grund für die (z.B. ökologischen) Probleme der Gesellschaft. 447 Sofern man die Einschätzung teilt, dass die moderne Gesellschaft in funktionale Teilsysteme ausdifferenziert ist, kann es keine gesamtgesellschaftliche Rationalität mehr geben, sondern nur noch Teilrationalitäten. Wenn sich vernünftig argumentierende Individuen nun zu einem Diskurs zusammenfinden, können diese nie den Anspruch erheben, die Gesamtgesellschaft zu sein oder ihre Identität zu repräsentieren. Auch Eifer oder Verantwortungsbewusstsein berechtigen nicht dazu. Denn solche konkurrenzfreien, privilegierten Positionen gibt es in der arbeitsteiligen Gesellschaft nicht mehr. Es gibt keine hierarchische Spitze oder ein Zentrum, das diese Position noch innehätte.448 Die Einheit des Systems kann nur von der Einheit des Systems aus gesehen werden. Und die Einheit der Gesellschaft ist nun mal eine differenzierte Einheit, und nur als eine solche kann sie auf ihre, beispielsweise ökologischen, Probleme reagieren. Die Operationsweise der Funktionssysteme basiert auf binären Codes, d.h. auf Differenzen. Die Einheit der Funktionssysteme ist damit eine Differenz und macht es den Systemen unmöglich, teleologische Rationalitäten herauszubilden und damit zu behaupten, sie würden nach Wahrheit, Recht, Macht, Reichtum, Bildung etc. streben. Mit anderen Worten: Funktionssysteme können ihren Code nicht auf sich selbst als Systeme anwenden, um sich selbst quasi zu verorten. Ebenso wenig kann von den funktionsspezifischen Differenzschemata direkt auf gesellschaftliche Rationalität geschlossen werden.449 Daher ist die Vorstellung der Diskursethik unangemessen und realitätsfern. Denn wenn eine Gruppe von Individuen meint, diskursiv Geltungsansprüche und gute Gründe für die Gesellschaft aufstellen zu können, ist Zweifel angebracht: Wieso sollte gerade diese Gruppe in der Lage und dazu berechtigt sein, die Geltungsansprüche zu definieren? Andere Individuen werden andere Gründe haben, an diesem Verfahren eines herrschaftsfreien Diskurses nicht teilzunehmen und den dort ermittelten Konsens nicht anzuerkennen.450 Anstatt nun für die Lösung gesellschaftlicher Strukturprobleme die Moral und Ethik zurate zu ziehen oder nach Orten zu suchen, von denen aus eine gesamtgesellschaftliche Identität und eine Gesellschaftskritik kommuniziert werden könnten, schlägt Luhmann (1988b, S. 253ff.) vor, den Begriff der Systemrationalität in den Mittelpunkt zu stellen. Er kann damit zwar keine konkreten Lösungsmöglichkeiten für gesellschaftliche Probleme aufzeigen, aber immerhin das Problem adäquat beschreiben. Die Rationalität grenzt Luhmann (1988b, S. 253f.), im Gegensatz zu Habermas (z.B. 1985), ab von einer Selbstreferenz der Vernunft oder dessen, was in einem Diskurs als vernünftig ermittelt wird. Seiner Meinung nach verhält sich ein System insoweit rational, als es die System-/Umweltdifferenz in das System wieder einführt und sich an dieser Differenz und nicht an der eigenen Identität orientiert. Eine ökologische Rationalität würde dann bedeuten, dass
447 448 449 450
Vgl. Luhmann (1988b), S. 250. Vgl. Luhmann (1988b), S. 251f. Vgl. Luhmann (1988b), S. 252f. Vgl. Luhmann (1988b), S. 251f.
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3 Neuere Systemtheorie
die Gesellschaft die Wirkungen ihres eigenen Handelns auf die ökologische Umwelt insoweit mit berücksichtigt, als daraus für sie wieder Rückwirkungen erwachsen. Diese Systemrationalität könnte so für jedes Funktionssystem formuliert werden. Allerdings ist aus strukturellen Gründen keine Aggregation hin zu einer gesamtgesellschaftlichen Systemrationalität möglich.451 Eine gesellschaftliche Rationalität hat in einer differenzierten Gesellschaft keinen festen Standort oder keine zuständige Organisation und wird in den verschiedenen Funktionssystemen unterschiedlich realisiert.452 Gesellschaftliche Probleme werden somit von den Teilsystemen unterschiedlich behandelt, wobei diese Möglichkeiten untereinander funktional äquivalent sind. So könnte die Politik beispielsweise ökologische Ziele in ihr Programme mit aufnehmen, wenn sie davon ausginge, dass ökologische Belange in der öffentlichen Meinung in Zukunft große Bedeutung erlangen und so für den Machterhalt wichtig würden. Die Wirtschaft könnte eine langfristige Übernutzung ökologischer Ressourcen als Kosten mit berücksichtigen, wenn die Verknappung oder gar das Versiegen der Ressourcen in der Zukunft wirtschaftliche gravierende Konsequenzen nach sich ziehen würden.453 Luhmann (1993, S. 142) empfiehlt daher den Funktionssystemen, sich zur Lösung ihrer Orientierungskrisen einzig an sich selbst anstatt an Moral oder Ethik zu orientieren. Moral bietet seiner Meinung nach keine Lösung für gesellschaftliche, strukturbedingte Probleme, und die Ethik, ebenso wie ihre Teilsdisziplinen wie z.B. die Umweltethik, müssten vor dem Umgang mit Moral warnen.454 Auch aus individueller Sicht kann die Moral nach Einschätzung Luhmanns (1993, S. 145f.) die Frage nach dem richtigen individuellen Handeln, das doch letztlich immer in spezifischen Kontexten stattfindet, nur unzureichend beantworten. Sein äußerst pointierter Kommentar dazu lautet: „[E]s spricht viel dafür, daß die Moral vom Teufel ist.“455
Er verweist demgegenüber auf die Religion, die hier evtl. eine stärkere Bedeutung einnehmen könne. Seinem Verständnis nach könne Religion die Richtung weisen hin zu individuellen, persönlichen Überzeugungen, entgegen den illusorischen Versuchen der Moral, universelle und intersubjektive „gute Gründe“ aufzuzeigen. Dazu müsse sich die Religion jedoch von der Moral abgrenzen:456 „Die Ehe von Theologie und Moral ist zwar kirchlich getraut worden, aber sie ist unglücklich verlaufen und unfruchtbar geblieben. Jedenfalls ist sie zutiefst unreligiös. Religion gibt die Kraft, das, was man tut, für gut zu halten; und sie gibt zugleich eine Möglichkeit, dies zu kommunizieren. Es mag sich um Hexenverfolgungen oder um terroristische Aktivitäten, um das Managen eines Hotels oder um politische Einsätze für Benachteiligte handeln, um das Entdecken immer neuer Sterne, obwohl ihre Zahl bereits riesig ist, oder um die Einrichtung verkehrsberuhigter Straßen, wo die Autos nachts gegen unbeleuchtete Betonkästen fahren. Die Ethik scheint von der Illusion zu leben, daß es dafür gute, letztlich überzeugende, intersubjektiv stichhaltige Gründe geben könne. Diese
451 452 453 454 455 456
Vgl. Luhmann (1988b), S. 246f., und (1984a), S. 638ff. Vgl. Luhmann (1988b), S. 256. Vgl. Luhmann (1988b), S. 255f. und 265. Vgl. Luhmanns (1988b), S. 265. Vgl. Luhmann (1993), S. 146. Vgl. Luhmann (1993), S. 146f.
3.4 Spezielle gesellschaftliche Teilsysteme
91
Annahme ist aber heute kaum mehr zu halten. Und vielleicht ist hier ein radikaler Verzicht nötig, um zurückzufinden zu dem, was Religion bedeuten kann.“457
Sein Urteil zu dem, was Moral und Ethik zu einer Lösung der Probleme in der modernen Gesellschaft beizutragen vermögen, ist vernichtend: „So verfehlt die Ethik ihrer Funktion gemäß die Aufgabe, vor Moral zu warnen.“458
Welchen Sinn hat es nun, angesichts dieser vernichtenden Einschätzung Luhmanns, den Gedanken einer (nützlichen) Unternehmensethik in dieser Arbeit trotzdem weiter zu verfolgen? Wie können die Ansätze der Ökonomischen Ethik von Homann und der Governanceethik von Wieland dieser harschen Kritik von Luhmann standhalten? Nach Einschätzung der Autorin stehen diese Anätze nicht im Widerspruch zur Luhmannschen Systemtheorie. Gleichzeitig begründen sie, dass die Ethik im Allgemeinen und die Wirtschafts- und Unternehmensethik im Besonderen für die Gesellschaft eine große Bedeutung innehaben. Außerdem warnt auch Homann vor „zu viel“ Moral, d.h. ethischen Ansätzen, welche die bestehenden Gesellschaftsstrukturen nicht angemessen berücksichtigen. Dadurch schaffen diese Ansätze einander unversöhnlich gegenüberstehende Fronten und können keine konstruktiven Lösungen aufzeigen. Eine derart konzipierte Moral ist für die Gesellschaft eher dysfunktional, dieser Meinung ist Homann gleichermaßen wie Luhmann.459 Entgegen den genannten Vorwürfen, die Luhmann gegen die Moral und Ethik erhebt, werden die Darstellungen der beiden ethischen Ansätze von Homann und Wieland in den Kapiteln 6 und 7 folgendes zeigen:
457 458 459 460
x
Die Diagnose, Moral könne einzig auf individueller Ebene und in den Nischen der Funktionssysteme noch eine Bedeutung einnehmen, gilt nur für solche ethischen Ansätze, die nicht die Gegebenheiten der modernen Gesellschaft mit berücksichtigen.
x
Die Ansätze von Homann und Wieland nehmen durch ihre (weitgehend)460 konsequente Fundierung auf der neueren Systemtheorie die modernen gesellschaftlichen Strukturen als funktional differenziert an und wollen diese Differenzierung auch nicht wieder zurücknehmen.
x
Die Ansätze sind dennoch in der Lage aufzuzeigen, dass die Moral eine wichtige Funktion und Leistung für die moderne Gesellschaft erbringt, ohne deren funktionale Differenzierung in Frage zu stellen.
x
Die Moral lässt sich damit als eigenständiges Funktionssystem in die Strukturen der Gesamtgesellschaft einordnen und erhebt daher nicht den Anspruch, eine privilegierte Position gegenüber den Funktionssystemen und in der Gesamtgesellschaft einzunehmen.
x
Die Moral kann durch die Unterscheidung zwischen den Fragen der Begründung und der Anwendung von Normen als Funktionssystem Eigenständigkeit erlangen. Denn
Luhmann (1993), S. 146f. Luhmann (1988b), S. 263. Siehe hierzu beispielsweise auch Luhmann (1990b), S. 41. Vgl. hierzu Kapitel 6 und 7. Eine Ausnahme bildet der Homann’sche Ansatz, bei dem unklar ist, wo die Moral in der modernen Gesellschaft tatsächlich verortet ist. Für eine Diskussion dieser Unklarheit seines Ansatzes und den Versuch, diese Schwäche zu beseitigen, vgl. Abschnitt 6.2.3.
92
3 Neuere Systemtheorie diese Differenzierung moralischer Fragestellungen weist darauf hin, dass die Moral hinsichtlich der Begründung von Normen autonom, hinsichtlich der Anwendbarkeit von Normen jedoch offen und von den jeweiligen Kontextbedingungen abhängig ist. Die Programme der Funktionssysteme sind es, welche die Moral in die Sprache der jeweiligen Funktionssysteme übersetzen und erst die Kriterien für „gutes“ und „schlechtes“ Handeln in spezifischen Kontexten liefern. Analog dazu ist die Ethik in ihren Anwendungsdiskursen auf die Reflexionstheorien der jeweiligen Funktionssysteme angewiesen. x
Weder Homann noch Wieland setzen die Existenz universalistischer, nicht einmal interpersonal geteilter moralischer Werte voraus. Stattdessen nimmt Homann an, dass im Sinne eines normativen methodologischen Individualismus, „das Individuum, die einzelne Person, die Quelle aller Werte ist“461. Wieland setzt demgegenüber die Existenz moralischer Normen empirisch voraus, ohne über deren Quellen Aussagen zu treffen.
x
Das Ziel der Moral nach Homann ist die Solidarität Aller. Dies, so wird deutlich werden, weist in eine ähnliche Richtung wie der Ansatz der Systemrationalität bzw. der Reflexion von Luhmann. Homann schreibt, dass die Funktionssysteme und deren Reflexionssysteme sich gegenseitig erstens Restriktionsanalyse und zweitens Heuristik sind und in Zukunft verstärkt sein sollten.462 Dies entspricht letztlich der Forderung Luhmanns, dass sich die Funktionssysteme nicht nur an ihrer Einheit, sondern auch an den eigenen System-/Umweltdifferenzen u.a. zu anderen Funktionssystemen orientieren sollten.
3.4.3
Organisationen
Als weitere für die vorliegende Arbeit wichtige Teilsysteme werden in diesem Abschnitt Organisationen beschrieben. Um die Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns von Unternehmen, das zentrale Thema dieser Arbeit, diskutieren zu können, spielt die Funktionsweise von Organisationen eine zentrale Rolle. Denn Unternehmen sind einerseits Ausdifferenzierungen der Wirtschaft und andererseits Organisationen und somit auch den organisationsbezogenen Spezifika und Funktionsweisen unterworfen. Organisationen sind soziale Systeme, die aus Entscheidungen bestehen. Als soziale Systeme sind sie selbstreferenzielle, autopoietische Systeme. Ihre Autopoiesis gründet sich auf rekursiven Entscheidungszusammenhängen, d.h. sie treffen die Entscheidungen, aus denen sie bestehen, basierend auf den vorhergehenden Entscheidungen, aus denen sie bestehen. Entscheidungen bezeichnen keine psychischen, sondern kommunikative, d.h. soziale Vorgänge.463 Sie sind definiert als Handlungen, die auf an sie gestellte Erwartungen reagieren. Erwartungen, wie an späterer Stelle genauer beschrieben wird, begründen die Systemstruktur von Organisationen und spiegeln sich in den Entscheidungen wider.464 461 462 463 464
Brennan/Buchanan (1993), S. 28. Vgl. Abschnitt 6.1.2. Vgl. Luhmann (1988c), S. 166 und 171, mit Bezug auf Luhmann (1984a). Vgl. Willke (1999), S. 151f., und Luhmann (1988c), S. 166.
3.4 Spezielle gesellschaftliche Teilsysteme
93
Entscheidungen selbst sind Ereignisse und als solche nicht bestandsfähig. Sie finden zu einem bestimmten Zeitpunkt statt, verschwinden sofort wieder und markieren insofern Diskontinuitäten bzw. Differenzen zwischen Vorher und Nachher. Das zentrale Problem von Organisationen ist daher nicht, Entscheidungen zu erhalten, denn dies wäre unmöglich. Entscheidungen können auch nicht geändert werden. Sie können nur einen Anstoß dafür geben, neue Entscheidungen zu erzeugen. Insofern geht es in Organisationen darum, adäquate Entscheidungen zu reproduzieren und damit die eigene Anschlussfähigkeit zu sichern.465 In selbstreferenziellen Systemen definieren Entscheidungen füreinander Kontingenzspielräume, d.h. einen begrenzten Raum offener Möglichkeiten, so dass sich die Entscheidungen des Systems grundsätzlich aus vorgehenden Entscheidungen ergeben bzw. sich auf sie beziehen.466 Organisationen sind als autopoietische Systeme operativ geschlossen. Sie sind im Hinblick darauf, was sie als Entscheidungen ansehen und was dazu beitragen kann, weitere Entscheidungen herzustellen, autonom. Mit diesem Verfahren der Eigenzurechnung von Entscheidungen grenzen sie sich von ihrer Umwelt ab und können so von außen als Systeme mit selbstreferenziellen Grenzen beobachtet und behandelt werden. Die Differenz zwischen System und Umwelt konstituiert dessen Identität. Diese stabilisiert und fokussiert wiederum den selbstreferenziellen Verweisungszusammenhang der Organisation. Nur auf diese Weise kann die Komplexität des Systems in eine Form gebracht werden, die es reproduzierbar macht. Erst als autonome, rekursiv-geschlossene Systeme können Organisationen emergente Eigenschaften entwickeln.467 Doch auch wenn Organisationen hinsichtlich dieser operativen Funktionsweise geschlossen sind – in Bezug auf die Inhalte ihrer Entscheidungen sind sie offen und stellen sich auf ihre Umwelt ein. Organisationen sind von der Umwelt abhängig und wirken ihrerseits auf sie ein. Ereignisse in der Umwelt irritieren bzw. stören das System und werden von diesem als Rauschen wahrgenommen. Dieses macht für das System erst dann Sinn, wenn es sich auf die eigenen Entscheidungszusammenhänge beziehen lässt. Mit anderen Worten: Erst wenn das Rauschen für die Entscheidungstätigkeit einen Unterschied macht, ist es für das System eine Information und als solche ein (rein) internes Ereignis. Externe Referenzen sind somit immer interne Operationen. Es können einer Organisation auch von außen keine Kriterien oder Zwecke vorgegeben werden. Kriterien sind systeminterne Kommunikation, die das System mehr oder weniger erfolgreich einsetzt.468 In den Worten Luhmanns (1988c, S. 168): „Eine Entscheidung ist also alles, was die Organisation als Entscheidung ansieht.“
Dies zeigt, dass es weitgehend vergeblich ist, externe Erwartungen oder Appelle an Organisationen zu richten, auch wenn externe Beobachter vielleicht anderer Meinung sind. Das System wird immer nur in Bezug auf seine eigene Operationsweise (re-)agieren.469 Es hat seine Komplexität organisiert, hält an den selbst gesetzten Spielräumen, Möglichkeiten und Alternativen
465 466 467 468 469
Vgl. Luhmann (1988c), S. 168f., mit Bezug auf Luhmann (1984a), S. 387ff., und (1985). Vgl. Luhmann (1988c), S. 170f. Vgl. Luhmann (1988c), S. 166, 171 und 182, sowie Willke (1999), S. 143, 149. Vgl. Luhmann (1988c), S. 166 und 173, mit Bezug auf Bateson (1981). Vgl. Luhmann (1988c), S. 168.
94
3 Neuere Systemtheorie
fest und trifft ausschließlich solche Entscheidungen, die mit seiner Selbstsicht in Einklang stehen.470 Organisationen sind, das wird hier deutlich, nicht nur von ihrer Umwelt, sondern auch weitgehend von sich selbst – der eigenen Vergangenheit (den zuvor getroffenen Entscheidungen) und der eigenen Zukunft (bestimmten Erwartungen) – abhängig.471 Da Entscheidungen rekursiv voneinander abhängen, können Entscheidungen übergeordneter Hierarchieebenen das Resultat untergeordneter sein und umgekehrt. Mit jedem Ziel, das erreicht wird, gewinnt die Organisation Ressourcen und Erfahrungen und benötigt zu deren Nutzung weitere Entscheidungen.472 Die autopoietische Funktionsweise von Organisationen verlangt letztlich nur, dass entschieden wird. Systeminterne Probleme, die nur teilweise von Umweltanforderungen abhängen, da Organisationen über gewisse Spielräume verfügen, bestimmen dabei, wie entschieden wird. Zusammen mit der Rekursivität werden so bestimmte Verhaltensmuster, bestimmte Strukturen, von Organisationen sichtbar. Diese erlauben zwar keine präzisen Voraussagen, sorgen aber dennoch dafür, dass bestimmte Entscheidungen und Entwicklungspfade von Organisationen wahrscheinlicher sind als andere. Strukturen überbrücken letztlich die Distanz von einer Entscheidung zur anderen und drücken aus, inwieweit eine Entscheidung als Prämisse für eine andere dient.473 Strukturen sind die Reaktionen auf innersystemische Erwartungen, die an Entscheidungen, an organisatorisches Verhalten, gestellt werden. Jede Entscheidung ist immer eine Antwort auf eine Erwartung.474 Wenn im Laufe der Zeit Erwartungsmuster entstehen, verdichten diese sich in Organisationen zu Selbstverständnissen, Konventionen, Routinen, sog. „standard operating procedures“ etc. Diese bilden zusammen ein Regelsystem, an das die Mitglieder weitestgehend gebunden sind.475 Regeln sind definiert als Verdichtungen (Beschreibungen, Formulierungen, Festsetzungen) von Erwartungswerten. Erwartungen sind Korridore, die Entscheidungen ausrichten, aber, wie oben beschrieben, nicht determinieren. Sie sorgen dafür, dass bestimmte Bereiche und Entwicklungspfade wahrscheinlicher werden als andere und dass auf diese Weise bestimmte Muster bzw. Regelmäßigkeiten im Organisationsalltag entstehen.476 Solche Regeln in Organisationen finden ihren Ausdruck beispielsweise in Entscheidungsprogrammen, die definieren, welche Entscheidungen als richtig gelten. Dies können Zweckprogramme sein, die den Output der Organisation bestimmen, oder Konditionalprogramme, die den Input begrenzen. Ebenso können bestimmte Kommunikationswege festgelegt werden, auf denen Informationen zirkulieren, wie z.B. in Gestalt der formalen und informalen Arbeitsorganisation.477 470 471 472 473 474 475 476 477
Vgl. Willke (1999), S. 148. Vgl. Willke (1999), S. 149. Vgl. Luhmann (1988c), S. 172, mit Bezug auf Mayntz/Scharpf (1975). Vgl. Luhmann (1988c), S. 167, 172, und Willke (1999), S. 184f. Vgl. Willke (1999), S. 152 und 164. Vgl. Willke (1999), S. 158, mit Bezug auf Steger (1992), S. 141. Vgl. Willke (1999), S. 185. Vgl. Luhmann (1988c), S. 176f.
3.4 Spezielle gesellschaftliche Teilsysteme
95
Eine Organisation existiert nun so lange, wie sie in der Lage ist, ihre eigene Autopoiesis fortzusetzen, d.h. kontinuierlich aus Entscheidungen Entscheidungen zu reproduzieren. Die Stabilität von Systemen bedeutet, dass ihre Autopoiesis fortgesetzt werden kann. Dabei dienen die bisherigen Regeln bzw. Strukturen und die Umwelt als Entscheidungsprämissen. Wichtige Umweltfaktoren sind dabei vor allem die Mitglieder von Organisationen, die ihren Körper, Geist, ihre Reputation, persönlichen Kontakte etc. der Organisation zu Verfügung stellen. Dadurch üben sie einen relativ großen Einfluss darauf aus, was entschieden werden kann.478 Wenn sich Organisationen nun verändern oder gar lernen, verändern sich nicht ihre Entscheidungen, sondern ihre Strukturen (bzw. Erwartungen). Dabei bilden die Systemprogramme den Ausgangspunkt für Lernprozesse, denn sie spiegeln die für die Organisation sinnvollen veränderten Umweltanforderungen wider (vgl. Abschnitt 3.3.2). Systemveränderungen setzen jedoch immer voraus, dass die Anschlussrationalität des Systems weiterhin sichergestellt ist. Für diese ist entscheidend, dass das System in der Lage ist, zwischen Redundanz, d.h. der strukturellen Einschränkung von Entscheidungen, und Varietät, d.h. der Verschiedenartigkeit bzw. Bandbreite von Entscheidungen, zu wechseln.479 Die Veränderung von Strukturen, die Entwicklung und das Lernen von Organisationen bedürfen selber wiederum Strukturen auf einer höheren Ebene, so genannte Regeln der Veränderung. Solche Routinen ermöglichen es einer Organisation, laufende Veränderungen vorzunehmen. Ohne ihre stabilisierende Wirkung im Laufe der Organisationsentwicklung wären Veränderungen von Organisationen sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich.480 Es wurde bereits erwähnt, dass Mitglieder von Organisationen eine wesentliche (innere) Umwelt derselben darstellen. Dies wird auch deutlich, wenn man sich mit der Bildung von Organisationen näher befasst. Diese setzt voraus, dass eine Erkennungsregel definiert wird, auf Basis derer das System feststellen kann, welche Handlungen als Systementscheidungen gelten und welche nicht. In erster Linie ist die Erkennungsregel eine Mitgliedschaftsregel. Sie besagt, wer die Systemmitglieder sind und im Rahmen welcher Rollen sie zum System gehören. Denn weder der Mensch noch dessen gesamtes Verhalten sind Bestandteil des Systems, sondern nur dessen kommunikatives Handeln in Bezug auf eine bestimmte Rolle. Die Größe von Organisationen und damit indirekt auch ihre Komplexität bestimmen sich durch die Anzahl ihrer Mitglieder bzw. Stellen.481 Rollen umfassen ein konkretes Bündel aufeinander bezogener Erwartungen, d.h. Erwartungserwartungen, und bilden so ein Regelsystem. Sie bestimmen die Aufgaben der Mitglieder, die diese Rollen ausfüllen sollen.482 Durch die Festlegung von Rollen und die Selektion von Personal differenziert sich eine Organisation aus. Ist die Festlegung der Mitgliedschaftsregel selbst bereits eine Entscheidung des Systems, hat sich die Organisation zu einem autopoieti-
478 479 480
481 482
Vgl. Luhmann (1988c), S. 167f. und 175ff. Vgl. Luhmann (1988c), S. 174 und 181f. Vgl. Willke (1999), S. 81f., und Luhmann (1988c), S. 173. Rüegg-Stürm (2001) beispielsweise nennt die Strukturen von Unternehmen Ordnungsmomente, und die genannten Strukturen auf der übergeordneten Ebene (sog. „Superstrukturen“) Ordnungsmomente zweiter Ordnung. Siehe hierzu Abschnitt 5.2.2. Vgl. Luhmann (1988c), S. 171, 178, und (1994), S. 189f., sowie dazu ausführlicher Luhmann (1964). Vgl. Willke (1999), S. 151.
96
3 Neuere Systemtheorie
schen System hin entwickelt.483 Allerdings sind, dies soll hier noch einmal betont werden, nach wie vor die Entscheidungen und nicht die Rollen die Systemelemente von Organisationen. An den Entscheidungen sind Mitglieder beteiligt, und zwar im Hinblick auf die Rollen, welche die Systemerwartungen widerspiegeln.484 Menschen sind Teile der Umwelt der Organisationen und tragen bestimmte Umweltanforderungen an das System heran. Diese Sichtweise betont, dass Menschen als Personen gegenüber Organisationen eigenständig und autonom sind. Dies gilt natürlich auch umgekehrt für Organisationen: Die Mitgliedschaftsrollen sind ihrerseits gegenüber den Personen, die sie ausfüllen, in gewisser Hinsicht unabhängig:485 „When placed in the same system, people, however different, tend to produce similar results.“486
Diese Abgrenzung zwischen Menschen und Organisationen geht so weit, dass Organisationen als einzige soziale Systeme als „kollektive Akteure“ agieren und „im eigenen Namen“ kommunizieren.487 Dies bedeutet, dass Systemhandlungen nicht mehr den sichtbar handelnden Mitgliedern, sondern dem System zugeordnet488 und die Mitglieder mithin als Repräsentanten des Systems interpretiert werden.489 Trotzdem ist es natürlich möglich, dass es einen Unterschied macht, welche Person eine bestimmte Rolle bekleidet. Mitglieder können u.U. Regeln, Erwartungen und Organisationswirklichkeit verändern und neu generieren. Ihr Veränderungspotenzial steigt, je unterschiedlicher die verschiedenen Rollenaspekte sind, die sie als Menschen bündeln, und je besser sie Rollendivergenzen und -ambiguitäten ertragen können.490 Organisationsentwicklung bedeutet jedoch wie gesagt nicht, dass Personen, sondern dass die Regelsysteme der Organisation verändert werden. Dabei sind natürlich trotzdem Personen relevant, denn sie sind es, die Entscheidungen treffen und verstehen, allerdings nach Regeln, die personenunabhängig Teil der Systemstruktur sind.491 3.4.4
Unternehmen
Unternehmen sind ökonomische Organisationen und als solche Ausdifferenzierungen des Wirtschaftssystems.492 Im Folgenden wird zunächst beschrieben, welche Funktionen Organisationen i.Allg. für ihre jeweiligen Funktionssysteme und damit für die Gesellschaft als Ganzes erfüllen, bevor schließlich auf die besondere Funktionsweise von Unternehmen eingegangen wird.
483 484 485 486 487 488 489 490 491 492
Vgl. Luhmann (1988c), S. 171, und (1994), S. 189f. Vgl. Willke (1999), S. 152. Vgl. Willke (1999), S. 152f. und 157. Senge (1990), S. 42. Vgl. Luhmann (1994), S. 191. Vgl. Willke (2000), S. 169. Vgl. Etzioni (1971), S. 102f. Vgl. Willke (1999), S. 153. Vgl. Willke (1999), S. 154f. Vgl. Willke (1999), S. 60.
3.4 Spezielle gesellschaftliche Teilsysteme
97
Sämtliche Funktionssysteme der Gesellschaft haben im Laufe ihrer Evolution spezifische Organisationen ausgebildet, die ihnen zugeordnet sind und gewissermaßen die Systemzentren bilden. Organisationen haben eine besondere Bedeutung für die Funktionssysteme und die gesamte moderne Gesellschaft – sind für diese sogar unabdingbar.493 Sie erfüllen zentrale Funktionen für ihre spezifischen Funktionssysteme, auf die neben Willke (1999, S. 146) vor allem Luhmann (1994) hingewiesen hat und die im Folgenden genauer erläutert werden: x
die Fähigkeit, gegenüber dem Funktionssystem Transaktionskosten zu verringern,
x
die Möglichkeit der Exklusion von Mitgliedern im Hinblick auf die spezifischen Systemfunktionen, -codes und -programme,
x
die Erhöhung der Stabilität der Funktionssysteme mit Hilfe von Organisationen,
x
die Verdichtung struktureller Kopplung zwischen Funktionssystemen sowie
x
die Kompensation von Autoritätsverlusten und den damit verbundenen Unsicherheiten.
Organisationen sind charakterisiert durch spezifisch geformte Programmstrukturen. Sie grenzen die alltäglichen Kommunikationen stark ein und regeln hochgradig ihre Zusammenhänge. Dies erreichen sie, indem sie Relevanzen, d.h. das, was für sie selbst eine Information darstellt, die internen Kommunikationswege und die Generierung von Bedeutung auf überschaubare Kontexte beziehen. Dadurch können Organisationen Kommunikation verdichten und sind aufgrund dessen im Fall zielgerichteter Kommunikation in der Lage, die Effizienz von Kommunikation zu erhöhen, d.h. Transaktionskosten zu verringern.494 Funktionssysteme sind grundsätzlich für alle Personen offen. Jede Person kann prinzipiell wirtschaftlich, politisch, religiös etc. handeln.495 Organisationen hingegen sind mit Hilfe ihrer Mitgliedschaftsregeln in der Lage, Personen in das System einzustellen und wieder aus dem System auszuschließen bzw. zu entlassen. Sie sind darauf angewiesen, dass Mitglieder daran interessiert sind, innerhalb der Organisation bestimmte Tätigkeiten auszuüben.496 Organisationen selbst können sich im Gegensatz zur Gesellschaft, die immer schon da ist, innerhalb der Gesellschaft bilden und wieder auflösen.497 Auf diese Weise können Funktionssysteme mit Hilfe ihrer spezifischen Organisationen ihre prinzipielle Inklusion aller Personen korrigieren und sich so dem gesellschaftlichen Inklusionsdruck widersetzen. Das Funktionssystem erlangt die Fähigkeit, zu diskriminieren, indem es solche Mitglieder aus Organisationen ausschließt, die für eine bestimmte Tätigkeit nicht in Betracht kommen. Dies bedeutet, dass gesellschaftliche Grundsätze der Freiheit und Gleichheit in der Gesellschaft letztlich scheitern. So ist beispielsweise jeder Mensch rechtsfähig, aber nicht jeder bekommt vor Gericht Recht. Jeder Mensch kann zwar wirtschaften, aber wenn er seinen Arbeitsplatz in einem Unternehmen verliert, verliert er sein Einkommen und
493 494 495 496
497
Vgl. Luhmann (1994), S. 190. Vgl. Willke (1999), S. 146. Vgl. Luhmann (1994), S. 192. Vgl. Luhmann (1994), S. 193, mit Bezug auf die Koalitionstheorie von Chester Barnard, siehe hierzu bspw. Simon (1955), S. 71ff., oder Hirschman (1970). Vgl. Luhmann (1994), S. 190.
98
3 Neuere Systemtheorie
damit u.U. seine Zahlungsfähigkeit. Das Funktionssystem diskriminiert mit Hilfe von Organisationen im Hinblick auf die eigene Funktion, den eigenen Code und die eigenen Programme. Damit verbessert es seine Zukunftsoffenheit, d.h. die Möglichkeit, zukünftige Optionen immer offen zu halten.498 Eine weitere Funktion von Organisationen, auf die Luhmann (1994, S. 194) verweist, ist die Erhöhung der Stabilität von Funktionssystemen. Diese verfügen über generalisierende Medien, die weitgehend dafür sorgen, dass in Funktionssystemen alles mit allem zusammenhängt, dass z.B. in der Wirtschaft prinzipiell jeder Preis jeden anderen Preis beeinflussen kann.499 Auf diese Weise wird eine Reaktion des Funktionssystems auf externe Irritationen, die z.B. im Wirtschaftssystem Preise beeinflussen, unvorhersehbar, instabil und chaotisch. Hier könnten prinzipiell Gewohnheiten bzw. Traditionen oder Beobachtungen zweiter Ordnung stabilisierende Wirkungen entfalten. Während in Familien beispielsweise Gewohnheiten starke stabilisierende Wirkungen entfalten, ist das für die Wirtschaft aufgrund des Mediums des Geldes nicht oder kaum der Fall. In modernen dynamischen Gesellschaften i.Allg. und in der Wirtschaft im Besonderen haben Traditionen und Gewohnheiten insgesamt eine abnehmende Bedeutung. Hier sind Organisationen in der Lage, die Funktion, die ansonsten die Geschichte und Traditionen innehätten, durch Entscheidungen zu erfüllen. Organisationen übernehmen wichtige Steuerungsfunktionen für die Wirtschaft und verbessern so deren Stabilität. So können z.B. Zentralbanken Zinssätze beeinflussen, was ohne sie nicht gezielt möglich wäre. Diese Steuerung wird dadurch ermöglicht, dass Organisationen Interdependenzen unterbrechen und auf diese Weise Ultrastabilität erlangen. Ansonsten wären Irritationen des Funktionssystems unkontrollierbar, nicht lokalisierbar und sie würden ständig durch strukturelle Kopplung auf das Funktionssystem einwirken.500 Eine weitere stabilisierende Wirkung auf Funktionssysteme haben Operationskopplungen, die auf der Ebene der Beobachtungen zweiter Ordnung stattfinden (vgl. Abschnitt 3.2.3). Auf dieser Ebene beobachtet sich ein System laufend selbst und testet sich an verschiedenen Sachverhalten.501 Auch für diese Beobachtungsleistungen sind Organisationen wichtig. So kann beispielsweise anhand von Unternehmensbilanzen entschieden werden, ob Investitionen wirtschaftlich sinnvoll waren.502 Eine vierte wesentliche Funktion von Organisationen für die Gesellschaft ist die Verdichtung struktureller Kopplungen, die sie zwischen den Funktionssystemen leisten können. Funktionssysteme sind semantisch geschlossen, ihre Autopoiesen können sich nicht überschneiden. Interdependenzen zwischen den Systemen laufen über strukturellere Kopplungen, die fast alle möglichen Interdependenzen ausschließen, dafür aber wenige stark intensivieren.503
498 499 500 501
502 503
Vgl. Luhmann (1994), S. 193. Vgl. Luhmann (1994), S. 194. Vgl. Luhmann (1994), S. 194f. Vgl. Luhmann (1994), S. 194; für die Wirtschaft siehe z.B. Baecker (1988), für die Politik Luhmann (1990a), für die Kommunikation in Familien Luhmann (1990c). Vgl. Luhmann (1994), S. 195. Vgl. Luhmann (1994), S. 195f.
3.4 Spezielle gesellschaftliche Teilsysteme
99
Auch Organisationen verfügen über ihre eigenen Autopoiesen, sind aber nicht identisch mit Funktionssystemen. Sie sind in der Lage, sich aufgrund dessen durch mehrere Funktionssysteme irritieren zu lassen. Sie sind „mehrsprachig“, d.h. sie können in den „Sprachen“ bzw. Codes unterschiedlicher Funktionssysteme sprechen. So leiden beispielsweise auch Forschungsorganisationen unter Geldmangel, und Kirchen erheben Steuern.504 Trotz ihrer Mehrsprachigkeit sind Organisationen an die Leitdifferenz desjenigen Codes gebunden, der dem Funktionssystem, aus dem sich sie sich herausdifferenziert haben, zugrunde liegt. Andere Codes sind nicht irrelevant, aber dennoch klar nachgeordnet.505 Allerdings bezweifelt Luhmann (1994, S. 196), dass Organisationen aufgrund dessen die Steuerungsprobleme der Gesellschaft zu lösen vermögen. Einerseits ist es seiner Meinung nach nicht möglich, die Interdependenzen zwischen Funktionssystemen zentralen organisatorischen Kontrollen zu unterwerfen, zum anderen sind Organisationen viel zu langsam, um hier überhaupt effektiv steuern zu können.506 Organisationen haben schließlich eine weitere Funktion übernommen: die Kompensation der Autoritätsverluste in der modernen Gesellschaft. Dabei geht es nicht um Amtsautorität, sondern darum, ob einer „Autoritätsperson“ unterstellt wird, sie könne bei einer Nachfrage ihre Äußerungen erläutern, begründen und mit zusätzlichen Informationen unterfüttern.507 Wird Autorität unterstellt, unterbleiben diese Nachfragen in der Regel, womit letztlich Zeit für Rückfragen eingespart werden kann. Die vorherrschenden Autoritäten in der traditionellen Gesellschaft waren in der Lage, eine gewisse Ordnung zu schaffen, z.B. zwischen Eltern und Kindern, zwischen Herren und Knechten sowie zwischen älteren (Respekt-)Personen und jüngeren Menschen. Diese Strukturen gesellschaftlicher Autorität sind in der Neuzeit weitgehend aufgelöst worden. Trotzdem besteht das Problem, das Autorität vormals gelöst hatte, nach wie vor:508 das Problem der Unsicherheitsabsorption.509 In Organisationen übernehmen verschiedene Stellen die Aufgabe, Informationen zu verdichten und gezielt an einzelne Stellen weiterzureichen, die diese Informationsbearbeitung der vorherigen Stellen nicht weiter nachprüfen. Die daraus erzielte Unsicherheitsabsorption mittels vorgelagerter Stellen geht einher mit der Übernahme von Verantwortung für den Verwendungssinn für Kommunikation. Organisationen sind dabei zwar nach wie vor von ihrer Umwelt abhängig, können sich jedoch über innere Strukturierungsleistungen weitgehend von externen Vorgaben lösen, selbst auf ihre Weise Unsicherheit absorbieren und sich selbst steuern. Zu diesem Zweck erzeugen Organisationen wiederum intern Autorität, die sich z.B. aus unterschiedlichen Aufgabendefinitionen oder unterschiedlichen Fähigkeiten und Einflussnahmen der Mitglieder ergibt. Letztlich vermag diese organisationsinterne Autorität, Unsicherheit zu absorbieren, wobei die Art der Autoritätsbildung sich von Organisation zu Orga-
504 505 506 507 508 509
Vgl. Luhmann (1994), S. 195f., mit Bezug auf Mayntz (1987), S. 102, Teubner (1978) und Hutter (1989). Vgl. Willke (1999), S. 59 und 146. Vgl. Luhmann (1994), S. 196. Vgl. Luhmann (1994), S. 196f., mit Bezug auf Friedrich (1958). Vgl. Luhmann (1994), S. 197. Vgl. March/Simon (1958), S. 165f.
100
3 Neuere Systemtheorie
nisation unterscheidet und gesamtgesellschaftliche Vorgaben der Autoritätsvergabe stark abgenommen haben.510 Insgesamt lässt sich sagen, dass Organisationen aufgrund der oben geschilderten Funktionen den Prozess der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft wesentlich mitgetragen haben.511 Die Funktionssysteme waren im Laufe ihrer Evolution gezwungen, ihre eigenen spezifischen Organisationen auszubilden, um ihre Funktion und Leistung für die Gesellschaft nach wie vor erfüllen zu können. Diese Organisationen können einerseits über ihre funktionsspezifischen Medien verfügen, sind andererseits jedoch nicht mit dem Funktionssystem identisch.512 Dies gilt so auch für Unternehmen, die als ökonomische Organisationen Ausdifferenzierungen des Wirtschaftssystems sind. Sie haben auf der einen Seite durch ihren „Mutter-Kontext“, ihrem Funktionsbezug zur Wirtschaft, den ökonomischen Code als ihre Leitcodierung.513 Sie müssen für die ökonomische Spezialsemantik besondere Empfindlichkeiten ausbilden, denn Zahlungen und Preise kommunizieren, was für Unternehmen letztlich relevant ist.514 Mit anderen Worten: Es sind diejenigen Ereignisse für Unternehmen (ökonomisch) bedeutsam, die sich in ein preisgesteuertes Nutzen-Kosten-Kalkül übersetzen lassen. Denn Unternehmen stehen im Wettbewerb und scheiden aus dem Markt aus, wenn sie nicht die Logik preisorientierter Zahlungen, die Ökonomie als Ökonomie, reproduzieren.515 Auf der anderen Seite sind Unternehmen jedoch Organisationen und müssen daher neben der Marktabhängigkeit nach außen auch einer Transaktionskosten-Optimierung nach innen gerecht werden.516 Des Weiteren sind Unternehmen als Organisationen auch in andere gesellschaftliche Kontexte eingebunden und stehen mit anderen Funktionssystemen und deren Organisationen in Verbindung. Die Abstimmung von Markt und Organisation stellt Unternehmen oft vor sehr schwierige Probleme: die Bewältigung hoch komplexer Anforderungen. Die Abstimmungsleistungen, die nötig sind, um einseitige Ausrichtungen und Abhängigkeiten zu vermeiden, sind oft sehr schwierig. Ein Unternehmen ist dann „integriert“, wenn es ihm gelingt, die Relationen zur Außenwelt, z.B. anderen Funktionssystemen und anderen Organisationen, sowie zur eigenen Innenwelt, d.h. seinen Mitgliedern als psychische Systeme, optimal aufeinander abzustimmen.517 Aber was bedeutet für ein Unternehmen eine „optimale“ Integration? Wann ist ein Unternehmen erfolgreich? Dazu zählt nahezu unbestritten die Fähigkeit eines Unternehmens, zu überleben und sich weiterzuentwickeln. Diese minimalen Kriterien werden auch unter den Begriff der „viablen Organisation“ subsumiert. Unternehmensberatungen zielen mit ihren Interven-
510 511 512 513 514 515 516
517
Vgl. Luhmann (1994), S. 197f. Vgl. Willke (1999), S. 145f. Vgl. Luhmann (1994), S. 195. Vgl. Willke (1999), S. 59ff. Vgl. Baecker (1988) und Luhmann (1988a). Vgl. Willke (1999), S. 59ff. und 165. Zu den spezifischen Problemen, denen Unternehmen als Organisationen nach innen ausgesetzt sind, siehe die Darstellung der Transaktionskostenökonomik in Abschnitt 2.2. Auf diese weist auch Willke (1999), S. 165, hin. Vgl. Willke (1999), S. 61f. und 86.
3.4 Spezielle gesellschaftliche Teilsysteme
101
tionen in Unternehmen in aller Regel darauf ab, die Viabilität der Organisation in einem dynamischen Unternehmensumfeld herzustellen, zu erhalten oder zu verbessern.518 Dies bedeutet in allererster Linie, dass Unternehmen ausreichend wirtschaftlichen Erfolg erzielen, d.h. Gewinne machen müssen. Trotzdem gilt auch für Unternehmen, was für alle komplexen, sinnhaften Systeme zutrifft: dass über der Überlebensfrage der unternehmensspezifische Sinn, die Identität des Unternehmens, steht.519 So könnte es in Einzelfällen für Unternehmen durchaus sinnvoll sein, die eigene Existenz zu beenden, wenn der eigene Sinn hinfällig geworden und an veränderte Umstände nicht mehr angepasst werden kann.
518 519
Vgl. Willke (1999), S. 171. Vgl. Luhmann (1988c), S. 181.
Teil II
Kritische Würdigung des neuen St. Galler Management-Modells
4.1 Modelle der ersten Generation von Ulrich und Krieg
4
105
Geschichte des St. Galler Management-Modells
Die St. Galler Managementlehre ist vielfältig. Sie umfasst zunächst grundlegende, ganzheitliche, integrative und gleichzeitig sehr abstrakte Management-Modelle, die „Leerstellengerüst(e) für Sinnvolles“520 verkörpern. Das Ziel dieser Modelle ist die Aufstellung von für die Forschung, Lehre und Weiterbildung nützlichen Bezugsrahmen,521 um Managementprobleme, -theorien und -methoden in einen Gesamtzusammenhang einordnen zu können.522 Des Weiteren wurden im Rahmen der St. Galler Managementlehre verschiedene Teilsysteme des Managements im Einzelnen dargelegt und Methodologien ausgearbeitet. Das Gros dieser Arbeiten wurde im Laufe der Jahre und Jahrzehnte kontinuierlich weiterentwickelt. Die Untersuchung der Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns von Unternehmen verlangte eine intensive Auseinandersetzung mit den ganzheitlichen Management-Modellen und denjenigen Arbeiten, die das Management-Subsystem des normativen Managements bzw. die ethische Legitimation unternehmerischen Handelns präzisieren. Der Sinn des folgenden Überblicks über die verschiedenen Modelle der St. Galler Managementlehre ist daher, die grundlegenden Ansätze zu beschreiben und in diesem Zusammenhang besonders die Fragen des adäquaten moralischen Handelns von Unternehmen zu beleuchten. Im Zuge dessen werden einzelne Schwächen der Modelle der ersten und zweiten Generation kurz angeschnitten, um damit die Wahl der Modelle der dritten Generation als Ausgangspunkt für die weitergehende Untersuchung in dieser Arbeit zu begründen. Der Schwerpunkt des darauf folgenden Kapitels liegt dabei auf der Identifikation von Inkonsistenzen, die das aktuelle Modell, das „neue St. Galler Management-Modell“ von Rüegg-Stürm (2002), in Bezug auf den normativen Anspruch an unternehmerisches Handeln aufweist.
4.1
Modelle der ersten Generation von Ulrich und Krieg
Mitte der 1960er Jahre wurde am Institut für Betriebswirtschaft der Universität St. Gallen eine Arbeitsgruppe mit dem Ziel gegründet, ein allgemeines, ganzheitliches und interdisziplinäres Modell für das Management komplexer Systeme für die Lehre aufzustellen. Auf Basis früher Arbeiten der Systemtheorie, der sog. „Kybernetik I“,523 wurde 1968 mit dem Buch von H. Ulrich (2001/1970) „Die Unternehmung als produktives soziales System“ die Basis für eine systemorientierte Lehre einer allgemeinen Unternehmensführung gelegt.524 Darauf aufbauend wurde 1972 „Das St. Galler Management-Modell“ von H. Ulrich und Krieg (2001/1974) veröffentlicht. Diesem Ordnungsrahmen liegt ein systemisches Denken zugrunde, das sowohl ganzheitlich, prozessorientiert, interdisziplinär, analytisch und zugleich syn-
520 521 522 523
524
Spickers (2006), S. 3. Vgl. Spickers (2006), S. 1. Vgl. Ulrich, H./Krieg (2001/1974), S. 35. Wichtige Vertreter der Kybernetik I sind nach Staehle (1999), S. 42, vor allem W. Ashby, St. Beer, H.-J. Flechtner, C. Shannon, W. Weaver und N. Wiener. Vgl. Schwaninger (2001b), S. 1211.
106
4 Geschichte des St. Galler Management-Modells
thetisch als auch pragmatisch525 ist.526 Das Modell beinhaltet drei höchst abstrakte und allgemeine Schemata: ein Unternehmensmodell, ein Führungs- und ein Organisationsmodell.527 Die formale und begriffliche Grundlage des St. Galler Ansatzes bilden vor allem das Unternehmens- und Führungsmodell. Führungskräfte sollten mit Hilfe dieser Modelle ein Ordnungsgerüst erhalten, das sie in die Lage versetzt, die Aufgaben und Tätigkeiten ihrer jeweiligen Leitungsbereiche in ihren verschiedenen Dimensionen erfassen, analysieren und in die größeren Zusammenhänge des gesamten Unternehmens einordnen zu können. Die Intention war nicht, ihnen eine inhaltliche Darstellung der Führungsprozesse zu liefern.528 Das Unternehmensmodell betrachtet das Unternehmensumfeld aus einer Stakeholder-Perspektive. Die Anspruchsgruppen werden darüber hinaus auf einer höheren Abstraktionsebene anhand verschiedener Sachverhalte bzw. Dimensionen analysiert: einer technologischen, ökonomischen und sozialen Sphäre, die allesamt in die ökologische Umwelt einbezogen sind.529 Die ökologische Umwelt als ein Management-Problem zu betrachten, war zu dieser Zeit nicht nur innovativ, sondern revolutionär.530 Die Unternehmensführung selbst umfasst Gestaltungs-, Lenkungs- und Entwicklungsprozesse, welche das Unternehmensgeschehen steuern.531 Das Management wird hier aus einer kybernetischen Betrachtung heraus als ein vernetztes und informationsverarbeitendes System interpretiert, welches das unternehmerische Handeln auf die Erhaltung eines Fließgleichgewichts mit den komplexen und dynamischen Wechselwirkungen bzw. Ansprüchen aus dem Unternehmensumfeld ausrichtet.532 Wie bereits erwähnt, legte H. Ulrich (2001/1970) seinem Bezugsrahmen „Die Unternehmung als produktives soziales System“ noch eine systemtheoretische Sichtweise im Sinne der Kybernetik I zugrunde, die jedoch aufgrund ihres mechanistischen Blickwinkels auf heftige Kritik stieß.533 Dies nicht zuletzt deshalb, weil die zugrunde liegende mechanistische Regelungs- und Kontrolltheorie nur schwerlich auf komplexe soziale Systeme übertragen werden kann. Aus diesem Grund vollzog H. Ulrich (2001/1984) Jahre später einen Wechsel hin zu einer systemisch-biokybernetischen Perspektive im Sinne der Kybernetik II und ließ die mechanistische Sicht des Unternehmens hinter sich.534 Allerdings stoßen nach Dachler (1984, insbesondere S. 220) auch die biologischen und organischen Analogien der Kybernetik II an ihre Grenzen. Die Ursache dafür liegt darin, dass sie 525
526 527 528 529 530 531
532 533 534
D.h. das Modell verfolgt das Ziel, trotz unvollkommener Informationen konkrete Situationen bewältigen zu können. Vgl. Ulrich, H./Krieg (2001/1974), S. 17. Vgl. Ulrich, H./Krieg (2001/1974), S. 16f. Vgl. Schwaninger (2001b), S. 1211. Vgl. Ulrich, H./Krieg (2001/1987), S. 44 und 464f. Vgl. Ulrich, H./Krieg (2001/1974), S. 22f. Vgl. Schwaninger (2001b), S. 1211. Vgl. Ulrich, H./Krieg (2001/1987), S. 464. Die Führung nicht nur in Gestaltungs- und Lenkungsprozesse, sondern auch Entwicklungsprozesse einzuteilen, stellt bereits eine Erweiterung des ursprünglichen Modells von Ulrich, H./Krieg (2001/1974), S. 18, dar. Vgl. Ulrich, H. (2001/1970), S. 222f., und Ulrich, H./Krieg (2001/1987), S. 466. Siehe z.B. Gaitanides et al. (1975). Vgl. Staehle (1999), S. 42f.
4.2 Modelle der zweiten Generation von Bleicher
107
die Eigenschaften von sozialen Systemen nicht vollständig beschreiben und nur begrenzt konkrete Handlungsanweisungen für die Praxis zu geben vermögen. Daher sollten solche Modelle seiner Meinung nach durch sozialwissenschaftliche Erkenntnisse über soziale Systeme – P. Ulrich (1984, 1986) nennt dies das Kulturspezifische von Unternehmen – erweitert werden.535 Unternehmensethische Fragestellungen spielen in diesem ursprünglichen Modell von H. Ulrich und Krieg (2001/1974) und der ihm zugrunde liegenden Arbeit von H. Ulrich (2001/ 1970) kaum eine Rolle, da es sich hier um einen rein deskriptiven Bezugsrahmen handelt. Der Zweck ist folglich, die Realität der Managementprobleme und -aufgaben so zu beschreiben, wie sie sich tatsächlich darstellt, und nicht, normative Aussagen darüber zu treffen, wie das Management-Handeln aussehen sollte. In diesem Sinne illustriert H. Ulrich (2001/1970, S. 228ff.) lediglich die Berührung des Managements mit den Normen und Wertvorstellungen der Gesellschaft, denen es sich aufgrund gegebener rechtlicher und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen des Unternehmens nicht entziehen kann. Die St. Galler Management-Modelle der ersten Generation wurden an der Hochschule St. Gallen auf verschiedene Kontexte (z.B. Tourismus und die öffentliche Hand) angewandt und um diverse methodologische Aspekte (z.B. Entscheidungsfindung und Planung) ergänzt.536
4.2
Modelle der zweiten Generation von Bleicher
In den 1970er und 1980er Jahren hielten neue Themen im Management Einzug, z.B. Strategie und Kultur537 sowie in zunehmendem Maße integrative Ansätze des Managements.538 Weitere wichtige Aspekte wurden von H. Ulrich selbst vorangebracht, wie die Management-Philosophie539 und die Unterscheidung der drei Problemebenen des normativen, strategischen und operativen Managements. Mit der Identifikation des normativen Managements hat H. Ulrich (1981) die Betriebswirtschaftslehre für die Aufnahme einer obersten, wertmäßigen Führungslehre und damit für ethische Führungsfragen geöffnet.540 Das ursprüngliche Modell von H. Ulrich und Krieg (2001/1974) widersprach diesen Entwicklungen zwar nicht, erwähnte einige von ihnen jedoch nicht explizit. Dies führte 1998 zu einer neuen Forschungsinitiative unter der Leitung von Bleicher mit dem Ziel, den St. Galler Management-Ansatz weiterzuentwickeln.541 1991 veröffentlichte Bleicher „Das Konzept integriertes Management“. Dieses enthält vor allem mehr zeitspezifische und wertende Elemente. Bleicher ist es mit seinem Konzept in beachtlichem Umfang gelungen, neue Erkenntnisse der Führungsforschung in sein Modell einzubinden und die unterschiedlichen Teilprobleme miteinander zu vernetzen.542
535 536 537 538 539 540 541 542
Vgl. Staehle (1999), S. 45. Vgl. Schwaninger (2001b), S. 1212. Vgl. Schwaninger (2001b), S. 1212. Vgl. Bleicher (1999), S. 16. Vgl. Schwaninger (2001b), S. 1212. Siehe hierzu Ulrich, H. (1981), (2001a) und (2001b). Vgl. Ulrich, P. (2004b), S. 25. Vgl. Schwaninger (2001b), S. 1212. Vgl. Rühli (1995), Sp. 767.
108
4 Geschichte des St. Galler Management-Modells
Das Management-Konzept von Bleicher (1999) stellt die Probleme des Managements in einem dreidimensionalen Bezugsrahmen dar (vgl. Darstellung 4.1): Die erste, vertikale Dimension umfasst die Managementaspekte der Aktivitäten, Strukturen und des Verhaltens, die zweite die verschiedenen Managementebenen des normativen, strategischen und operativen Managements, welche die Managementprobleme anhand ihrer unterschiedlichen Reichweite und sachlichen Komplexität strukturieren. Die dritte Dimension bildet schließlich die Zeit mit unterschiedlichen Arten der Unternehmensentwicklung: eine innere und eine äußere Unternehmensentwicklung sowie eine solche, die sowohl nach innen als auch nach außen wirksam ist. Über diese drei Dimensionen hinweg wirkt die Managementphilosophie „meta-integrierend“.
Darst. 4.1: Das Konzept integriertes Management Quelle: Bleicher (1999), S. 77 und 82.
4.2 Modelle der zweiten Generation von Bleicher
109
Anhand der verschiedenen Dimensionen stellt das Modell wichtige Wechselwirkungen zwischen den Managementaufgaben, den Anforderungen aus dem Unternehmensumfeld (den Stakeholdern) und dem Zeitablauf dar. Aus diesen komplexen Wechselwirkungen resultieren unterschiedliche Positionierungen des Managements, d.h. diverse Ausprägungen der Erfüllung der Managementaufgaben.543 Bleiher (1999, S. 588ff.) zufolge ist der Unternehmenserfolg hinsichtlich eines langfristigen Überlebens abhängig davon, inwieweit eine Harmonisierung in der Art und Weise der Erfüllung von Managementaufgaben (d.h. deren spezifischen Positionierungen) gelingt. Erfolgreiches unternehmerisches Handeln setzt demzufolge zunächst voraus, dass die Erfüllung der verschiedenen Managementaufgaben untereinander stimmig ist. Dies ist dann der Fall, wenn die verschiedenen Aufgaben („Basis-Fit“), die Managementaspekte („vertikaler Fit“) sowie die Managementebenen („horizontaler Fit“) jeweils in sich integriert sind. Schließlich erfordert eine Harmonisation nach außen („externer Fit“), dass die Aufgabenerfüllung mit den situativen Bedingungen des unternehmerischen Handelns, den Ansprüchen an das Unternehmen, integriert ist. Dieses Streben nach vollständiger Integration bzw. innerer und äußerer Harmonisation („ganzheitlicher Fit“) bestimmt letztlich die Art und Weise der weiteren Unternehmensentwicklung. Das Konzept integriertes Management ist folglich nicht länger deskriptiv, sondern präskriptiv, d.h. normativ ausgerichtet. Denn sein Schwerpunkt liegt auf der Frage, wie das Management seine Aufgaben richtig erfüllt („integriert“), damit das Unternehmen langfristig überleben kann. Auch unternehmensethische Aspekte haben in das Konzept integriertes Management Eingang gefunden. So unterscheidet Bleicher (1999, S. 91) auf den Ebenen der Unternehmensphilosophie und des normativen Managements beispielsweise zwischen den Extrem-Positionierungen einer opportunistischen vs. verpflichtenden Ausrichtung. Die verpflichtende Managementphilosophie zeichnet sich gegenüber der opportunistischen dadurch aus, dass das Management die unternehmerische Verantwortung gegenüber all seinen verschiedenen Anspruchsgruppen – nicht nur den Eigentümern – wahrnimmt. Bleicher (1999, S. 91 und 97) spricht sich für eine verpflichtende Management-Philosophie aus: In Zeiten des raschen (Werte-)Wandels und der daraus resultierenden Risikopotenziale hat ein Unternehmen nur dann langfristige Überlebenschancen, wenn es sich ethisch verhält. Damit räumt Bleicher der Verantwortung (bzw. moralischen Werten und Normen) des Unternehmens bzw. Managements einen relativ hohen Stellenwert ein. Die UnternehmensPhilosophie muss sich jedoch immer auch im Einklang mit den Wertvorstellungen des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems befinden, um schwerwiegende Konflikte zu vermeiden. Wenn das Umfeld nun auf eine kurzfristige Gewinnmaximierung drängt, muss das Management versuchen, den Eigentümern und den anderen Anspruchsgruppen gleichzeitig gerecht zu werden – eine schwierige und risikoreiche Aufgabe.544 Damit spricht sich Bleicher für ein verantwortungsvolles Verhalten aus, solange die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens dabei erhalten bleibt: Das Management hat die Aufgabe, immer
543 544
Vgl. Bleicher (1999). Vgl. Bleicher (1999), S. 668ff.
110
4 Geschichte des St. Galler Management-Modells „den Nachteil eventuell sinkender Ergebnisausweise oder Ertragsausschüttungen an die Eigentümer durch eine Bedienung mehrerer anderer Interessentengruppen durch einen gesteigerten Nutzen, der zu zusätzlichen Ergebnissen führt, [zu] kompensieren.“545
Basierend auf dem Konzept von Bleicher (1999) und der vorherigen St. Galler Modelle wurden verschiedene Methodologien entwickelt.546 Darüber hinaus ist eine Serie von Arbeiten entstanden, die verschiedene Teilsysteme des St. Galler Management-Konzepts von Bleicher (1999) detaillieren.547 Allerdings sind in dem Modell einige Unklarheiten vorhanden, u.a. bei den Definitionen und Abgrenzungen seiner Komponenten. So sind beispielsweise die Komponenten, die das unternehmerische Handeln ausrichten (wie die Organisationsstrukturen, Unternehmenspolitik, Strategien und die Kultur), und die Prozesse, in denen sich das unternehmerische Handeln unmittelbar vollzieht, nicht klar voneinander getrennt. Des Weiteren beeinflusst die Kultur mit ihren impliziten Werthaltungen und Normen das Verhalten auf allen drei Ebenen des normativen, strategischen und operativen Managements und nicht nur das strategische und operative Handeln, wie Bleicher (1999, insbesondere S. 83) es beschreibt. Darüber hinaus sind die unternehmensethischen Ansprüche, denen eine verpflichtende Unternehmensphilosophie gerecht werden soll, nur unzureichend spezifiziert. Bleicher (1999, S. 91ff.) nennt einzelne Regeln und Rezepte für sittliches Handeln, ohne sich auf ein bestimmtes unternehmensethisches Grundkonzept festzulegen und damit zu konkretisieren, welche Handlungen und Ansprüche er für ethisch legitim erachtet bzw. wie die ethische Legitimität von Ansprüchen festgestellt wird. Ein wesentlicher Kritikpunkt an dem Konzept von Bleicher (1999) ist jedoch dessen „situativer Ansatz“548. Bleicher (1999) erhebt den Anspruch, mit seinem Konzept ein Gestaltungsmodell entwickelt zu haben und damit Gestaltungsempfehlungen für bestimmte Situationen geben zu können. Als Gestaltungsmodelle bezeichnet H. Ulrich (1984, S. 184) „Darstellungen komplexer Systeme, welche die für das Verhalten des Systems relevanten Komponenten und Aspekte wiedergeben und aufzeigen, wie das System auf mögliche Eingriffe voraussichtlich reagieren wird.“
Aufgrund der Komplexität sozialer Systeme sind zwar keine kausalen Erklärungen oder konkreten Voraussagen möglich, zumindest aber „Erklärungen des Prinzips“ und „Muster-Vo-
545 546
547
548
Bleicher (1999), S. 671. Hervorhebungen nicht im Original. So enthält z.B. das „Konzept integriertes Management“ selber eine Methode zur Bestimmung der Soll- und Ist-Positionierung eines Unternehmen(-sbereiches) – die „Fünf Schritte zur Integration“ – zusammen mit Hinweisen auf ein erfolgreiches Change Management zur Überbrückung dieser Lücke (vgl. Bleicher (1999), S. 576ff.). Weitere Methodologien geben Hilfestellung für das Management komplexer Probleme, so z.B. die „Methode des vernetzten Denkens“ (siehe u.a. Ulrich, H./Probst (1990)) und die „integrative systems methodology“ (siehe Schwaninger (2001a) und (1997)). Das „VIP-Konzept“ von Gomez ist ein methodisches Gerüst zur wertorientierten Strategieplanung bzw. strategischen Positionierung von Unternehmen (siehe Gomez (2001a, b, c) und (1998)). Siehe Bleicher (1994): Normatives Management; Pümpin/Prange (1992): Management und Unternehmensentwicklung; Gomez/Zimmermann (1992): Unternehmensorganisation; Schwaninger (1994): Managementsysteme; Müller-Stewens/Lechner (2001): Strategisches Management; Seghezzi/Bleicher (1995): Qualitätsmanagement; Dyllick/Hummel (1996): „Integriertes Umweltmanagement“, basierend auf Dyllick (1990), S. 1-229, und Dyllick/Belz/Schneidewind (1997); etc. Zu Entstehung und Inhalt situativer Organisationstheorien siehe z.B. Kieser/Kubicek (1978), S. 105ff.
4.2 Modelle der zweiten Generation von Bleicher
111
raussagen“.549 Zu diesem Zweck benennt Bleicher (1999) konkrete Inhalte der verschiedenen Elemente des Managements (Positionierungen der Managementaufgaben) und wie sie miteinander zu integrieren sind. Allerdings ist diese Spezifizierung konkreter Inhalte der Variablen, ebenso wie bei vielen situativen Ansätzen, oft nicht nachvollziehbar und begründbar.550 Fehlende konstruktivistische Einsichten sind eine weitere Schwachstelle in Bleichers (1999) Konzept: Die für die verschiedenen Positionierungen des Managements gelieferten Beschreibungen sollen Managern oder ggf. externen Unternehmensberatern helfen, Schwächen des Managements zu identifizieren und gezielt zu verbessern, d.h. das Management zu harmonisieren. Allerdings ist die Einordnung eines Unternehmens anhand der Beschreibungen immer ein Konstruktionsprozess, d.h. ein Vorgang der subjektiven Beobachtung und Interpretation551 der Unternehmenssituation und des Unternehmensumfelds, der sich in sozialen Kommunikationsprozessen552 vollzieht. Damit wird deutlich, dass das relevante Umfeld des Unternehmens nicht nur die sachlichen Ansprüche der Stakeholder inklusive der jeweiligen Gestalter umfasst, sondern, wie Ebers (1985, S. 96) dies postuliert, ebenfalls deren Bewusstseinsprozesse und Deutungsmuster. Angesichts der grundlegenden Prämisse der St. Galler Management-Modelle, dass soziale Systeme komplex sind und das Erfassen und Verstehen von (unternehmerischer) Realität ein Konstruktionsprozess ist (die unternehmerische „Wirklichkeit“ damit nie unabhängig von den Menschen existiert, die sie konstruieren553), können fundierte inhaltliche Gestaltungsempfehlungen, wie Bleicher (1999) dies in seinem situativen Ansatz versucht, naturgemäß nicht gegeben werden.
549 550 551 552 553
Vgl. H. Ulrich (1984), S. 186, m.w.N. Vgl. Staehle (1999), S. 50. In Anlehnung an Giddens (1997), insbesondere S. 53f. und 94. Siehe Brown/Duguid (1991), Wenger (1998). Vgl. Staehle (1999), S. 67.
5.1 Das neue St. Galler Management-Modell
5
113
Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm
5.1
Das neue St. Galler Management-Modell
5.1.1
Überblick über das Modell
Im Rahmen der Neukonzeption der Lehre für das erste Studienjahr an der Universität St. Gallen begann im Jahre 1998 eine Gruppe von Dozierenden der Universität, sich mit der Weiterentwicklung des Management-Modells zu beschäftigen und darauf aufbauend ein Lehrbuch für die integrierte Management-Lehre auszuarbeiten. Im Jahr 2002 veröffentlichte RüeggStürm „Das neue St. Galler Management-Modell“. Das Lehrbuch „Einführung in die Managementlehre“ in 5 Bänden wurde 2004 von Dubs, Euler und Rüegg-Stürm herausgegeben. Es enthält als übergreifendes, grundlegendes Modell jenes von Rüegg-Stürm (2002). Darüber hinaus werden in dem Lehrbuch die einzelnen Teilsysteme des Managements von verschiedenen Autoren vertieft behandelt, so u.a. dessen ethischer Anspruch554 und das Umweltmanagement555. Zusätzlich sind im Anhang allgemeine Methoden und ein Werkzeugkasten für betriebswirtschaftliche Fragestellungen angefügt. Das neue St. Galler Management-Modell ist in erster Linie eine Weiterentwicklung des Unternehmensmodells von H. Ulrich und Krieg (2001/1974). Es benennt die wesentlichen generischen Entscheidungsfelder des Managements. Dabei stellt es die Vielschichtigkeit der Unternehmensrealität dar, der sich das Management gegenüber sieht, indem es die Aufgaben des Managements strukturiert und dabei wesentliche unternehmensinterne und -externe gesellschaftliche Einflussfaktoren unterscheidet. Einen Überblick über das Modell gibt Darstellung 5.1. Rüegg-Stürm (2002, S. 21ff.) unterscheidet insgesamt sechs zentrale Begriffskategorien bzw. Dimensionen des Managements: Umweltsphären und Anspruchsgruppen bilden zusammen das relevante Umfeld des unternehmerischen Handelns. Interaktionsthemen sind die Themen, über die das Unternehmen mit seinen Anspruchsgruppen kommuniziert. Das unternehmerische Handeln vollzieht sich in Prozessen, die in gewissen geregelten Bahnen, den Ordnungsmomenten, ablaufen und sich mit der Zeit anhand verschiedener Entwicklungsmodi verändern. Die Anspruchsgruppen des Unternehmens – im Wesentlichen die Kapitalgeber, Kunden, Mitarbeiter, Konkurrenten, Lieferanten, der Staat sowie die Öffentlichkeit und Nichtregierungsorganisationen – sind diejenigen Gruppen, Organisationen und Institutionen, die von der unternehmerischen Wertschöpfung oder Schadschöpfung betroffen sind. Manche dieser Anspruchsgruppen (oder „Stakeholder“) stellen dem Unternehmen notwendige Ressourcen zur Verfügung, wie z.B. die Mitarbeiter und Kapitalgeber die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital.556
554 555 556
Siehe Ulrich, P. (2004a) und (2004b). Siehe Dyllick (2004). Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 21 und 29.
114
5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm
´
Darst. 5.1: Das neue St. Galler Management-Modell im Überblick Quelle: Rüegg-Stürm (2002), S. 22.
Die Umweltsphären Wirtschaft, Technologie, Natur und Gesellschaft konstituieren die zentralen Kontexte des unternehmerischen Handelns und lenken als analytische Strukturierungshilfen die Aufmerksamkeit auf erfolgskritische Trends im unternehmerischen Umfeld. Dabei bildet – im Gegensatz zu H. Ulrich und Krieg (2001/1974) – die Gesellschaft die umfassendste Umweltsphäre, denn die Relevanz bestimmter Themen aus den Bereichen der Natur, Technologie und der Wirtschaft wird in gesellschaftlichen Diskursen konstruiert bzw. verfestigt. Mit anderen Worten: Es sind die gesellschaftlichen Diskurse, welche die Wahrnehmung der ande-
5.1 Das neue St. Galler Management-Modell
115
ren Sphären prägen. Von besonderer Bedeutung für Unternehmen als Wirtschaftsorganisationen ist das Wirtschaftssystem. Zu diesem, d.h. den Beschaffungs-, Absatz-, Arbeits- und Finanzmärkten, stehen sie in direkter Abhängigkeit und müssen im Wettbewerb mit anderen Unternehmen kurzfristig ihre Liquidität und mittel- bis langfristig ihren Erfolg sichern.557 Das Unternehmen trifft angesichts der verschiedenen an sich gerichteten Ansprüche und Interessen die Wahl, welche es davon in welchem Maße erfüllt. Dabei kann es sich im Sinne des strategischen Anspruchsgruppenkonzepts von Freeman (1984) an der Wirkungskraft der Anspruchgruppen orientieren mit dem Ziel der eigenen Zukunftssicherung. Dafür strebt das Unternehmen danach, die Kooperationsbereitschaft der Beteiligten und die Akzeptanz einflussreicher Betroffener aufrechtzuerhalten.558 Richtet sich das Unternehmen hingegen am normativ-kritischen (ethischen) Anspruchsgruppenkonzept von P. Ulrich (1998, S. 442f.) aus, wie er es in seinem Konzept einer „integrativen Wirtschaftsethik“ beschreibt, dann erfüllt es diejenigen Ansprüche, deren Legitimität ethisch begründbar ist. Wettbewerbliche Interessen und Ziele werden dabei der Moral untergeordnet, denn alle Menschen sind, unabhängig von Macht und Stellung, kraft ihres Menschseins und ihrer Menschenwürde relevante Anspruchsgruppen.559 Rüegg-Stürm (2002, S. 31f.) selbst schließt sich in seinem Modell diesem relativ hohen moralischen Anspruch P. Ulrichs (1998) an, aus dem auf diese Weise ein für das Unternehmen verbindlicher normativer Orientierungsrahmen resultiert. Das Unternehmen steht als offenes System ständig im Austausch mit seinem Umfeld. Dabei bezeichnen die Interaktionsthemen die „Gegenstände“, über die das Unternehmen mit seinen Anspruchsgruppen kommuniziert. Das sind zum einen personen- und kulturgebundene Themen wie Anliegen und Interessen, die Anspruchsgruppen gegenüber dem Unternehmen geltend machen. Zum anderen ringt das normative Management im Rahmen von Legitimierungsprozessen des unternehmerischen Handelns kommunikativ über Normen und Werte, aus denen der normative Orientierungsrahmen für die gesamten Geschäftsaktivitäten erwächst. 560 Mit diesen Interaktionsthemen „soll mehr Aufmerksamkeit auf die Erkenntnis gelenkt werden, dass Management in erheblichem Masse bedeutet, Sachlagen zu interpretieren und mit Sinn auszukleiden sowie die Abstimmung von Erwartungen und Leistungen zu bewerkstelligen.“561
Damit ist bereits eine weitere wesentliche Änderung des Modells gegenüber den vorherigen St. Galler Management-Modellen angedeutet: eine konstruktivistische Sichtweise, die als „interpretative Wende“562 in den Sozialwissenschaften bezeichnet wird. Für die ManagementLehre hat dies nach Rüegg-Stürm (2002, S. 7) die folgende Konsequenz: „In den Sozialwissenschaften gibt es heute eine wachsende Strömung, die von der Annahme einer sinnhaften Konstitution von Welt und Wirklichkeit ausgeht. Dabei wird die Sozialität menschlicher Welt, und damit auch der Management-Praxis, in sozialen Konstruktions- und Interpretationsleis557 558 559 560 561 562
Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 21 und 24ff. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 29. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 29f. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 23 und 33f. Spickers (2006), S. 2. Vgl. hierzu Reckwitz (1997).
116
5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm tungen begründet gesehen und durch eine sorgfältige, kontextbezogene Analyse komplexer Beziehungs- und Kommunikationsprozesse zu erklären versucht. In der Managementlehre kommt diese interpretative Wende in Themen wie Unternehmenskultur oder symbolisches Management zum Ausdruck“.
Interaktionsthemen umfassen neben diesen personen- und kulturgebundenen Themen auch objektgebundene Elemente, d.h. Ressourcen. Dazu gehören handelbare, materielle Mittel, z.B. Gebäude, Maschinen und Informationstechnologien, ebenso wie immaterielle Mittel, d.h. vor allem das Know-how (wie z.B. handelbare Patente, Lizenzen, Markenrechte und das nicht handelbare Wissen der Mitarbeiter). Insgesamt umfassen Interaktionsthemen somit auf der einen Seite ideelle Themen, über die sich das Unternehmen mit seinem Umfeld auseinandersetzt, sowie auf der anderen Seite objektgebundene, handelbare Güter und Rechte.563 Das Modell von Rüegg-Stürm (2002) hat eine weitere Leistung erbracht: Es trennt die das unternehmerische Handeln kanalisierenden Ordnungsmomente (Strukturen, Strategien und Kultur) von den Unternehmensprozessen, in denen sich die Handlungen vollziehen.564 Das unternehmerische Handeln von Menschen, unterstützt durch technische Hilfsmittel, vollzieht sich in Prozessen. Ein Prozess ist ein System von Aufgaben, die auf mehr oder weniger standardisierte und vorgegebene Art und Weise zu erledigen sind und bei deren Erfüllung auf Informationssysteme zurückgegriffen werden kann. Unternehmerische Prozesse umfassen alle wertschöpfenden Aktivitäten, die Geschäfts- und Unterstützungsprozesse, sowie die hierzu notwendige Führungsarbeit, d.h. die Managementprozesse der Gestaltung, Lenkung und Entwicklung unternehmerischen Handelns.565 Geschäftsprozesse wickeln die praktischen, marktbezogenen Kernaktivitäten im Unternehmen ab: die Kundenprozesse der Kundenakquisition, Kundenbindung und Markenführung, die Leistungserstellung, z.B. die Beschaffung, Logistik und Produktion, sowie die Leistungsinnovation (Forschung und Entwicklung). Die Unterstützungsprozesse stellen die hierfür notwendige Infrastruktur bereit und erbringen interne Dienstleistungen wie z.B. Personal- und Bildungsarbeit, Infrastrukturbewirtschaftung, Informationsbewältigung und Kommunikation (im Sinne von Public Relations).566 P. Ulrich und Fluri (1995, S. 19) unterscheiden die Managementprozesse anhand verschiedener zentraler Dimensionen und Entscheidungsfelder in ein operatives, strategisches und normatives Management. Die operativen Managementprozesse sind darauf gerichtet, das Alltagsgeschäft unmittelbar zu bewältigen und die vorhandenen knappen Ressourcen effizient zu nutzen. Strategisches Management hat die langfristige Zukunftssicherung des Unternehmens im Blickfeld und beobachtet zu diesem Zweck Marktsignale und wettbewerbsrelevante Trends in den Umweltsphären. Normative Managementprozesse bezeichnen die Legitimationsprozesse des unternehmerischen Handelns, in denen sich das Unternehmen schwerpunktmäßig mit den gesellschaftlichen Normen und Werten auseinandersetzt.567
563 564 565 566 567
Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 23, 33 und 45. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 78. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 23 und 66ff. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 74ff. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 71.
5.1 Das neue St. Galler Management-Modell
117
Die verschiedenen Unternehmensprozesse laufen im Großen und Ganzen nach bestimmten Regeln bzw. in geordneten Bahnen ab. Daher können Unternehmen anhand ihrer spezifischen Kommunikations- und Handlungsmuster, den Ordnungsmomenten der Strategien, Strukturen und Kultur(en), charakterisiert werden. Die Ordnungsmomente strukturieren und ordnen die Prozesse und sind damit in der Lage, das unternehmerische Alltagsgeschehen auf bestimmte Wirkungen und Ergebnisse hin auszurichten.568 Strategien bezeichnen das strategische Orientierungswissen eines Unternehmens und beinhalten, was dieses zu tun beabsichtigt, um „die richtigen Dinge zu tun“. Sie haben damit eine zentrale Ausrichtungsfunktion für das unternehmerische Handeln.569 Strukturen haben die Funktion, das unternehmerische Handeln zu koordinieren. Sie beantworten die Frage, wie das Unternehmen seine Strategien realisiert, um „die Dinge richtig zu tun“. Strukturen definieren die Arbeitsteilung im Unternehmen mit dem Ziel, möglichst hohe Effizienz- und Produktivitätsgewinne zu erzielen, und integrieren die einzelnen Teilleistungen wieder zu einem Ganzen, um damit die Effektivität der Prozesse zu gewährleisten.570 Einen gemeinsamen Sinnhorizont, der die Fragen nach dem warum und wozu unternehmerischen Handelns beantwortet, vermittelt schließlich die Kultur. Sie äußert sich bspw. in einer Vision und einer gemeinsamen Identität. Es bedarf dieser Vergewisserungsfunktion einer Unternehmenskultur, weil Strategien und Strukturen unternehmerisches Handeln nicht im Detail regeln können und dürfen. Sie ist daher für ein gutes Zusammenleben, eine gelingende Kooperation und den ökonomischen Erfolg eines Unternehmens sehr wichtig. Eine Unternehmenskultur äußert sich z.T. in materiellen Objekten (z.B. Kunstwerken oder Artefakten mit symbolischer Wirkung), umfasst aber größtenteils immaterielle Elemente wie z.B. Normen und Werte, Einstellungen und Haltungen, Geschichten und Mythen, Denk-, Argumentationsund Interpretationsmuster, Sprachregelungen sowie kollektive Erwartungen und Hintergrundüberzeugungen.571 Das relevante Umfeld des Unternehmens unterliegt einer hohen Umweltdynamik, so dass sich das Unternehmen zur eigenen Existenzsicherung ständig verändern muss. Darum ist organisationaler Wandel nach Ashby (1970) eine zwingende Voraussetzung für ein stabiles Unternehmen. Wandel ist dann erfolgreich, wenn sich Phasen der Veränderung bzw. Verunsicherung, in der neue Wege beschritten werden, mit Phasen der Stabilität, in der eine erneute Vergewisserung stattfindet und Traditionen geprägt werden, abwechseln. Wandel tangiert in der Regel einerseits die Sachebene des unternehmerischen Handelns, d.h. die Unternehmensprozesse, die direkt und indirekt auf die Erbringung der Wertschöpfung ausgerichtet sind. Andererseits ist auch die Beziehungsebene betroffen, d.h. die Zugehörigkeit, Identität, Grundhaltungen (Haltungen und Einstellungen), Beziehungsformen, Beziehungsqualität, Interaktionspartner und Interaktionsmuster, welche die Art der Zusammenarbeit prägen. Je nach Umfang (Breite), Tragweite (Tiefe) und Intensität (Geschwindigkeit) des Wandels kann zwischen den Entwick-
568
569 570 571
Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 23 und 37f. Dabei lehnt er sich an die Strukturmomente aus Giddens Strukturationstheorie an, siehe hierzu Giddens (1997), S. 240ff. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 37. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 37 und 48f. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 37f. und 54ff.
118
5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm
lungsmodi der Optimierung (evolutionärer, inkrementaler Wandel) und der Erneuerung (revolutionärer, radikaler Wandel) unterschieden werden.572 5.1.2
Wechselspiel zwischen Ordnungsmomenten und Prozessen
Unternehmerischer Wandel vollzieht sich letztlich im Wechselspiel zwischen Ordnungsmomenten und Prozessen (vgl. Darstellung 5.2).
Darst. 5.2: Zirkulärer Zusammenhang zwischen Ordnungsmomenten und Handlungen Quelle: In Anlehnung an Rüegg-Stürm (2002), S. 79.
Die Ordnungsmomente in Form der Strategien, Strukturen und Kulturen sind quasi „eingefrorene Entscheidungen“. Sie bezeichnen das Handeln, das mehr oder weniger konstant bleibt und worauf sich die mit dem Unternehmen in Kontakt stehenden Menschen – die Manager, Mitarbeiter und alle weiteren Anspruchsgruppen des Unternehmens – im Wesentlichen verlassen können. Es sind, wie bereits beschrieben, diese spezifischen, relativ konstanten Ausprägungen der Ordnungsmomente, welche ein Unternehmen letztlich charakterisieren. Sie formen und ordnen das unternehmerische Handeln und richten es damit auf die Erreichung bestimmter Ziele hin aus.573 Wenn sich Menschen nun bei der Erledigung immer wiederkehrender, ähnlicher Aufgaben auf Ordnungsmomente beziehen, bilden sich typische Kommunikationsmuster, d.h. u.a.
572 573
Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 23, 80ff. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 61 und 78.
5.1 Das neue St. Galler Management-Modell
119
bestimmte Gewohnheiten in der Wahrnehmung und Interpretation alltäglicher Handlungen574, und Verhaltensmuster heraus. Diesen Zusammenhang bezeichnet Rüegg-Stürm (2002, S. 61ff.) als die Routinisierung des organisationalen Handlungsstroms. In Anlehnung an die Dualität von Struktur (Ordnungselemente) und Handlungen (organisationale Routinen) nach Giddens (1997) hängen die Entwicklung der Ordnungsmomente und die Routinisierung des organisationalen Handlungsstroms direkt miteinander zusammen. Eine solche Routinisierung birgt Effizienzvorteile, da bestimmte Handlungen nicht jedes Mal neu erdacht und ausgehandelt werden müssen. Allerdings geht damit auch ein Nachteil einher: Es entstehen blinde Flecken in der Wahrnehmung, da routinisierte Handlungen quasi automatisch erfolgen, ohne weiter reflektiert zu werden.575 Aber auch umgekehrt gilt, dass erst die Prozesse selbst zur Herausbildung der Ordnungsmomente führen. Neue Strategien werden in Prozessen der Strategieentwicklung erarbeitet und selber wieder zu Ordnungsmomenten, welche das zukünftige Handeln ausrichten.576 Die Entstehung und Veränderung von Strukturen gehen durch Prozesse der Strukturierung vonstatten, wobei diese Prozesse und damit die Entwicklungsrichtung der Strukturierung selber durch die bereits bestehende Struktur abgesteckt sind. In diesem Sinne werden Unternehmen, so z.B. von Probst (1987) und Baitsch (1993), als selbstorganisierende (oder selbstreferentielle) Systeme interpretiert.577 Alltagsgeschehen wird, in Anlehnung an Giddens (1997, insbesondere S. 53f. und 94) laufend beobachtet, d.h. wahrgenommen und interpretiert. Diese Beobachtung vollzieht sich tagtäglich in Beziehungs- und Kommunikationsprozessen in den verschiedenen „communities-ofpractice“578, in denen die Menschen jeweils arbeiten. Das Ergebnis sind gemeinsam geteilte sinnhafte Beschreibungen bzw. Interpretationen des Unternehmensalltags, deren Angemessenheit ständig von neuem in Diskussionsprozessen hinterfragt und diskursiv ausgehandelt wird.579 Die Realität, wie sie die Systemmitglieder wahrnehmen, d.h. ihr Wissen darüber, was sie als soziale Wirklichkeit erachten, wird gemeinsam in einem Konstruktions- und Vergewisserungsprozess konstruiert.580 Manchen dieser Interpretationen wird allmählich Gültigkeit und Richtigkeit unterstellt, sie verfestigen sich und werden schließlich nicht weiter hinterfragt. In diesem Fall hat die Ausdifferenzierung einer Kultur stattgefunden, die auch die Ausprägung der Strukturen mit beeinflusst. Aufgrund dessen, dass Menschen in Unternehmen in unterschiedlichen Umgebungen arbeiten, mit unterschiedlichen Anspruchsgruppen zu tun haben und unterschiedliche Aufgaben erfüllen, differenzieren sich in Unternehmen verschiedene Kulturen heraus, die mit verschiedenen Weltsichten bzw. „lokalen Theorien“581 einher gehen.582 574 575
576 577 578 579 580 581 582
Vgl. Giddens (1997), insbesondere S. 36f. und 56f. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 61ff. Zu den Vor- und Nachteilen einer Routinisierung siehe Bateson (1985) und Frost (1998). Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 78f. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 52f., in Anlehnung an Giddens (1997). Siehe Brown/Duguid (1991), Wenger (1998). Vgl. Sandner/Meyer (1994). Vgl. Berger/Luckmann (1980). Vgl. hierzu Elden (1983), Baitsch (1993) und Martin (1992), S. 130ff. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 56ff.
120
5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm
Damit wird deutlich, dass ein zirkulärer Zusammenhang zwischen Ordnungsmomenten und Unternehmensprozessen besteht: Ordnungsmomente strukturieren bzw. formen und ordnen das Alltagsgeschehen bzw. die Prozesse. Gleichzeitig führen jedoch die Prozesse erst zur Herausbildung der Ordnungsmomente. Diese sind damit ihrerseits wieder das Ergebnis der Prozesse.583 Dieser Zusammenhang ist nicht ausschließlich sachlogisch und rational am unternehmerischen Gesamtinteresse ausgerichtet. Menschen versuchen, ihre Machtpositionen auszunutzen und so ihr eigenes Interesse, die Realisierung persönlicher Lebensprojekte, mit durchzusetzen.584 Daraus resultieren mikropolitische Aushandlungsprozesse585, in denen sich nach Kieser (1998) z.T. dominante Koalitionen herausbilden, über die Personen ihren Einfluss noch verstärken können.586 Das in diesem Abschnitt dargestellte neue St. Galler Management-Modell ist wiederum ein „Leerstellengerüst für Sinnvolles“587. Im Gegensatz zu Bleicher (1999) verzichtet es auf konkrete inhaltliche Beschreibungen der verschiedenen Managementaufgaben und spricht keine konkreten Gestaltungsempfehlungen aus. Stattdessen verfolgt es den Anspruch, im Sinne eines „Verstehensmodells“588 ein Verständnis für zentrale Zusammenhänge im Unternehmen zu schaffen: Es dient im Sinne einer „Orientierungskarte für Managementfragestellungen“589 dem Zweck, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, logische Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen diesen Elementen aufzuzeigen, organisationale Kommunikation zu strukturieren und die Aufmerksamkeit auf Wesentliches zu lenken, um damit die kollektive Handlungsfähigkeit von Unternehmen zu verbessern.590
5.2
Organisation und organisationaler Wandel
5.2.1
Wirklichkeitskonstruktion und soziale Strukturen
Das neue St. Galler Management-Modell basiert auf dem Werk von Rüegg-Stürm (2001) „Organisation und organisationaler Wandel“. Rüegg-Stürm (2001) betrachtet hier die in seinem Management-Modell geschilderten Zusammenhänge aus einem anderen Blickwinkel. Während das Management-Modell den Fokus auf die Inhalte der Prozesse und Ordnungsmomente legt und damit danach fragt, welche Aufgaben das Management erfüllt, beleuchtet er hier die Funktionsweise, wie das Management die Aufgaben meistern kann und vor allem welche bewusstseinstheoretischen und sozialen Zusammenhänge hierbei von Bedeutung sind. Dabei werden insbesondere die konstruktivistischen, aber auch die systemtheoretischen Grundlagen genauer herausgearbeitet. Einen Überblick über diesen Ansatz von Rüegg-Stürm (2001) gibt 583 584 585
586 587 588 589 590
Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 78f. Vgl. Watson (1994). Vgl. hierzu Burns (1961), Crozier/Friedberg (1979), Küpper/Ortmann (1986), (1988), Neuberger (1995), Sandner (1992). Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 38f. Spickers (2006), S. 3. H. Ulrich (1984), S. 193. Rüegg-Stürm (2002), S. 13. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 13-15.
5.2 Organisation und organisationaler Wandel
121
Darstellung 5.3. Diese Grundlagen sind letztlich wichtig, um die Schwächen und Weiterentwicklungen des neuen St. Galler Management-Modells in den folgenden Kapiteln erarbeiten und besser verstehen zu können.
Darst. 5.3: Zusammenhang zwischen Wirklichkeitskonstruktion und Strukturen (i.w.S.) Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Rüegg-Stürm (2001).
An dieser Stelle wird deutlich, dass in der neueren Systemtheorie der Begriff der Struktur, wie er in Abschnitt 3.1 beschrieben wurde, eine andere Bedeutung innehat als die Struktur, die neben der Strategie und der Kultur ein Ordnungsmoment im neuen St. Galler ManagementModell (vgl. Abschnitt 5.1) bezeichnet: Der Strukturbegriff der neueren Systemtheorie ist weiter gefasst und umfasst sämtliche Ordnungsmuster unternehmerischer Handlungen, d.h. die Strategien, (Organisations-)Strukturen (i.e.S.) und die Kultur des Unternehmens. Um die Unterscheidung im Folgenden deutlich zu machen, wird der erweiterte Strukturbegriff der Systemtheorie explizit gekennzeichnet werden und der Strukturbegriff ansonsten im (engeren) Sinne der Management-Theorie verwendet. Der Fokus liegt nun auf den Fragen, wie sich organisationaler Wandel vollzieht, was die Voraussetzungen dafür sind und in Ansätzen auch, wie diese Voraussetzungen geschaffen bzw. verbessert werden können. Die folgenden Abschnitte geben zunächst einen Überblick über die grundlegende Funktionsweise der Wechselwirkungen zwischen den Prozessen der Wirklichkeitskonstruktion und den sozialen Strukturen (i.w.S.) bzw. Ordnungsmomenten im Unternehmen. Darauf aufbauend werden anschließend der unternehmerische Wandel und quasi das Gegenstück dazu, die Routinisierung des Handelns, thematisiert. Die Handlungen im Unternehmen stellen das Alltagsgeschehen dar, an dem Unternehmer, Manager und Mitarbeiter, die so genannten Mitglieder des Unternehmenssystems, teilnehmen. Sie sind tagtäglich dazu aufgefordert, den Ereignisstrom um eigene Handlungen zu ergänzen, indem sie das Geschehen beobachten und sich auf bestimmte Art und Weise verhalten. Das
122
5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm
Individuum ist herausgefordert, ein angemessenes Anschlussverhalten zu wählen, das von seinem Umfeld als sinnhaft anerkannt und akzeptiert wird, mit dem es also die an sich gestellten Erwartungen erfüllt. Da Unternehmen komplexe Systeme sind, ist diese Frage, insbesondere für neu in das Unternehmen eintretende Mitarbeiter, keine einfache. Diese müssen das Alltagsgeschehen genau beobachten und versuchen, die den unternehmerischen Handlungen zugrunde liegenden Strukturen (i.w.S.) zu verstehen.591 Mitglieder beobachten das Alltagsgeschehen, indem sie dieses zunächst wahrnehmen und anschließend interpretieren. Wahrnehmen bedeutet, dass Mitglieder aus dem Erlebensstrom um sie herum einzelne Ereignisse (d.h. Unterschiede, die für sie persönlich einen Unterschied machen592) herausgreifen. Dazu benötigen sie ein sog. „Differenzschema“, d.h. Unterscheidungskriterien, anhand derer sie überhaupt Unterschiede feststellen können. Dadurch dass Mitglieder auf das Differenzschema Bezug nehmen, wird dieses wiederum rekursiv verfertigt und dabei gefestigt, vielleicht auch teilweise verändert.593 Damit wird deutlich, dass die Wahrnehmung von Ereignissen bereits ein subjektiver Konstruktionsprozess der sog. „Welt erster Ordnung“594 ist.595 Wenn das Mitglied aufgrund von Erfahrungen quasi automatisch weiß, welches Anschlussverhalten es angesichts der wahrgenommenen Ereignisse an den Tag legen wird, greift es auf praktisches Bewusstsein596 zurück. Dieses bildet sich im Laufe der Zeit, wenn bestimmte Ereignisse und Anschlusshandlungen immer wiederkehren, so dass sich das Mitglied keine weiteren Gedanken mehr darüber zu machen braucht.597 Ist der Anschlusswert bei eher neuartigen Ereignissen jedoch unbestimmt, so dass das Mitglied nicht weiß, welches Verhalten angemessen ist, muss es diese Ereignisse interpretieren, d.h. ihnen eine Bedeutung und einen Sinn beimessen. Hier reflektiert das Mitglied bewusst über mehrere Möglichkeiten eines Anschlussverhaltens und trifft eine Wahl.598 Dabei greift das Mitglied auf seine Alltagstheorien, Sinnstrukturen und Ursachenkarten zurück, die sich im Laufe seiner bisherigen Erfahrungen gebildet haben und die aus komplex verschachtelten Differenzschemen bestehen. Auf diese Weise konstruiert das Mitglied sich seine Erfahrungswelt, die umgangssprachlich auch als „die Wirklichkeit“599 und hier als „Welt zweiter Ordnung“600 bezeichnet wird. Werden im Rahmen der Wahrnehmung und Interpretation Differenzschemen regelmäßig benutzt und auf diese Weise rekursiv verfertigt, spricht man von so genannten „Deutungsmustern“.601
591 592 593 594 595 596 597 598 599
600 601
Vgl. Rüegg-Stürm (2001), insbesondere S. 161. Vgl. Bateson (1985), S. 585, und Bateson (1982), S. 123, siehe dazu auch Abschnitt 3.2.3. Vgl. Bateson (1982), S. 120ff., und (1985), S. 580ff. In Anlehnung an Watzlawick (1976), S. 142ff. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 163-170. In Anlehnung an den Bewusstseinsbegriff von Giddens (1997). Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 167f. Vgl. von Glaserfeld (1987), S. 286. Vgl. das sog. Thomas-Theorem: „If men define situations as real, they are real in their consequences“. Thomas/Thomas (1928), S. 584. In Anlehnung an Watzlawick (1976), S. 142ff. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 168-171.
5.2 Organisation und organisationaler Wandel
123
Die Prozesse der Beobachtung sind keine Prozesse, die sich allein im Bewusstsein eines Individuums vollziehen, sondern sie finden in alltäglichen Beziehungs- und Kommunikationsprozessen in sozialen Systemen gemeinsam statt.602 Ob Beschreibungen, d.h. die Ergebnisse der Beobachtungsprozesse, angemessen sind, wird zwischen den Systemmitgliedern diskursiv ausgehandelt, d.h. in sozialen Prozessen konstruiert. Beobachten ist damit im Wesentlichen Kommunikation.603 Die Beobachtungen des Alltagsgeschehens mit Hilfe von Deutungsmustern bestimmen nun die Wahl des Anschlussverhaltens der Mitglieder, mit dem diese ihren Beitrag zum Alltagsgeschehen leisten. Dieses Verhalten ist wiederum interpretationsbedürftig, wird also ebenfalls wieder auf der Basis bestehender Deutungsmuster beobachtet, so dass hier ein Kreislauf zwischen Wirklichkeitskonstruktion und der Wirklichkeitsordnung entsteht.604 Mit ihrem Verhalten ergänzen Mitglieder jedoch nicht nur das unternehmerische Handeln – sie ergänzen auch ihre eigene Lebensgeschichte. D.h. bei der Wahl des Anschlussverhaltens greifen die Mitglieder nicht nur auf die unternehmerische Wirklichkeitsordnung, sondern auch auf ihre personale Wirklichkeitsordnung, d.h. ihr Selbst-Verständnis, zurück, welches ebenfalls dadurch rekursiv verfertigt und reproduziert wird.605 Damit wird deutlich, dass Mitglieder ihr Verhalten in Unternehmen nicht nur danach auswählen, was sie für das Unternehmen für angemessen halten, sondern auch im Hinblick auf die Realisierung ihrer persönlichen Lebensprojekte für sinnvoll erachten. Bislang wurde der Zusammenhang zwischen Prozessen der Wirklichkeitskonstruktion und sozialen Strukturen (i.w.S.) aus einer bewusstseinstheoretischen Perspektive, d.h. aus Sicht eines einzelnen Akteurs, interpretiert. Im Folgenden wird die systemische Perspektive geschildert, die einerseits das Unternehmen als soziales System und andererseits die Vielzahl der Akteure, die dort agieren, im Blickfeld hat.606 Die Konstitution sozialer Systeme basiert nach Luhmann (1984a) auf Erwartungen, die sich bis auf weiteres bewährt haben und die wechselseitig unterstellt und aufeinander abgestimmt werden. Damit wird es möglich, Verhalten auch über größere räumliche und zeitliche Distanzen hinweg zu koordinieren und auf ein gewünschtes Ergebnis hin auszurichten. 607 Erwartungen schränken die Spielräume für das Eintreten bestimmter Ereignisse ein. Sie bezeichnen das Verhalten, das von einem bestimmten Akteur erwünscht ist und das sich dieser von anderen Akteuren wünscht. Eine soziale Struktur (i.w.S.) bildet sich dann, wenn ein Akteur zu Recht bestimmte Erwartungen an diejenigen Erwartungen haben kann, die Andere an ihn selbst stellen, und wenn umgekehrt diese Personen auch die Erwartungen an sie selbst erwarten können. Diese Emergenz von solchen „Erwartungserwartungen“608 ist es, mit denen Ereignisse koordiniert und Verhaltensweisen strukturell gekoppelt werden. Strukturen (i.w.S.)
602 603 604 605 606 607 608
Vgl. Kieser (1998), (1999). Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 41f. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 199. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 224. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 208. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 202. Luhmann (1984a), S. 413.
124
5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm
schränken zwar einerseits die Möglichkeiten für Anschlussverhalten ein, ermöglichen aber auf der anderen Seite einen Tempogewinn und die Erzielung von Ergebnissen, die ohne diese Struktur (i.w.S.) bzw. Koordination nicht zu erreichen gewesen wären. 609 So ist es beispielsweise für einen Mitarbeiter im Hinblick auf eine reibungslose Aufgabenerfüllung wichtig einschätzen (erwarten) zu können, was sein Vorgesetzter von ihm erwartet: Ob dieser eigenständiges und eigenverantwortliches Verhalten oder regelmäßige Rücksprachen vor Entscheidungen erwartet. Ob erwartet wird, dass regelmäßig Überstunden gemacht werden, oder ob dies unerwünscht ist und der Vorgesetzte deswegen Schwierigkeiten mit dem Betriebsrat bekommt. Werden Verhaltenserwartungen regelmäßig angewandt und rekursiv verfestigt, wird von Regeln gesprochen. Diese können als implizite vertragliche Vereinbarungen interpretiert werden, die vorschreiben, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln.610 Regeln sind ein Teil der Wirklichkeitsordnung des Unternehmens und werden ebenfalls wie die oben beschriebenen Deutungsmuster in kommunikativen Prozessen innerhalb des sozialen Systems verfestigt.611 Ordnungsmomente sind, wie bereits im vorherigen Kapitel beschrieben, die Strukturen (i.w.S.) eines Unternehmens, welche die Möglichkeiten der unternehmerischen Handlungen einschränken und damit auf bestimmte Ergebnisse hin ausrichten. Dazu gehören materielle, d.h. physisch greifbare Strukturen (i.w.S.), wie z.B. eine bestimmte Ausstattung mit Maschinen und Informationssystemen oder die Infrastruktur eines Unternehmens. Immaterielle Strukturen (i.w.S.) weisen demgegenüber keine physische Verkörperung auf und bilden die „Wirklichkeitsordnung“ eines Unternehmens. Sie umfassen, wie oben geschildert, zum einen die Deutungsmuster, d.h. die Differenzschemen (Unterscheidungskriterien), die Mitglieder bei ihren Beobachtungsprozessen regelmäßig anwenden und die dadurch rekursiv erzeugt werden. Zum anderen gehören Regeln, d.h. generalisierte Verhaltenserwartungen, dazu, die dadurch rekursiv verfertigt werden, dass regelmäßig bestimmte Erwartungen an ein Verhalten gestellt werden.612 5.2.2
Routinisierung und Wandel unternehmerischen Handelns
Ordnungsmomente koordinieren und formen das unternehmerische Handeln und sorgen damit für eine gewisse Routinisierung der Handlungen. Diese ist jedoch nicht zwangsläufig zielführend, sondern sie erfolgt deshalb, weil sie sich als störungsfrei erwiesen hat.613 Routinen umfassen typische Kommunikations- und Verhaltensmuster bzw. routinisierte Aufmerksamkeitssteuerung (Gewohnheiten der Wahrnehmung und Interpretation) und Gewohnheiten des Verhaltens. Sie haben den Vorteil, dass sie die Effizienz der Handlungen erhöhen und einen Zeitgewinn ermöglichen, da auf praktisches Bewusstsein zurückgegriffen werden kann.614
609 610 611 612 613 614
Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 202-204. Vgl. Cyert/March (1995), S. 226f. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 209. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 123 und 199ff. Vgl. hierzu Watzlawick (1981), S. 14f. In Anlehnung an den Bewusstseinsbegriff von Giddens (1997).
5.2 Organisation und organisationaler Wandel
125
Routinen sind daher geeignet, Akteure im Unternehmen psychologisch zu entlasten.615 Allerdings haben sie auch Nachteile: Sie bilden blinde Flecke, denn bestimmte Handlungsweisen, die u.U. nicht (mehr) zielführend sind, werden nicht länger reflektiert und in Frage gestellt.616 Im Rahmen unternehmerischen Wandels verkörpern sie ein Trägheitsmoment, das eine Erneuerung gefährden kann.617 Es werden nach Nelson und Winter (1982, S. 16ff.) drei Klassen von Routinen unterschieden: x
Routinen des Kurzfristverhaltens, d.h. der operating characteristics,
x
Routinen des Investitionsverhaltens sowie
x
Routinen bei der Modifikation der operating characteristics.
Ein Wandel des Unternehmens wird dann erforderlich, wenn Störungen auftreten. Diese können zum einen zwischen den Momenten der Wirklichkeitsordnung auftreten, wenn also bestimmte Erwartungen (Regeln) nicht erfüllt werden oder wenn Deutungsmuster nicht miteinander kompatibel sind. Allerdings müssen Deutungsmuster lediglich zueinander passen, sie müssen grundsätzlich nicht identisch sein. Zum anderen kann es auch zwischen den Erwartungen an bestimmte Handlungen und den gesammelten Erfahrungen Divergenzen geben.618 Störungen manifestieren sich in nicht passendem Anschlussverhalten und durch auftretende „Irritationsereignisse“, welche die Wirklichkeitsordnung des Unternehmens in Frage stellen. Diese Störungen bzw. Widersprüche stellen die Fortsetzung des Alltagsgeschehens in Frage und verzögern damit die Handlungsfähigkeit des Unternehmens.619 Wenn sich ein Unternehmen mit Störungen konfrontiert sieht, ist es zur „Äquilibration“ gezwungen, d.h. wieder eine Kongruenz zwischen seiner Wirklichkeitsordnung und dem Alltagsgeschehen herzustellen. Auch die Äquilibration ist ein kollektiver Prozess der Wirklichkeitskonstruktion, der auf zwei Arten erfolgen kann: durch Assimilation und durch Akkomodation.620 Durch Assimilation wird eine Störung der eigenen Wirklichkeitsordnung einverleibt. Sie wird als „in Ordnung“ interpretiert und damit vernachlässigt bzw. verleugnet.621 Demgegenüber bedeutet Akkomodation, dass die Wirklichkeitsordnung des Unternehmens reflektiert und schließlich ihre Re-Konstruktion und Re-Vision erfolgt. Dies setzt voraus, dass die bereits bestehende Wirklichkeitsordnung „enttäuschungsbereit“ ist, d.h. einer Weiterentwicklung nicht bereits im Grundsatz entgegensteht.622 Eine solche „systemische Irritationstoleranz“623 ist die unabdingbare Voraussetzung für Wandel und die Fähigkeit, Störungen und Widersprüche
615 616 617 618 619 620
621 622 623
Vgl. hierzu Berger/Luckmann (1980), S. 56f. Siehe hierzu auch Starbuck (1983). Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 153 und 209ff. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 10 und 270f. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 254ff. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 261. Die Sprachregelung Äquilibration, Assimilation und Akkomodation beruht auf Piaget (1981). Vgl. hierzu von Glasersfeld (1987), S. 193. Vgl. hierzu Wimmer (2000), S. 284f. Vgl. hierzu Rüegg-Stürm (1998).
126
5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm
überhaupt als Informationen weiter zu verarbeiten. Für die einzelnen Unternehmensmitglieder bedeutet das, dass sie Störungen und Widersprüche nicht verdrängen, für die Organisation, dass diese thematisiert werden. Hierfür ist jedoch die Existenz einer Wandelarena nötig. Störungen und Widersprüche können nur unter der Voraussetzung bestimmter Beziehungsund Kommunikationsarchitekturen thematisiert werden.624 Was bedeutet nun der Wandel eines Unternehmens genau? Wandel ist nicht, wie man zunächst vermuten würde, in erster Linie ein Wandel von Handlungen oder von Mitgliedern, sondern ein Wandel der Struktur- bzw. Ordnungsmomente.625 Was sich somit verändert, sind materielle Strukturen (i.w.S.) und/oder die Gewohnheiten des Beobachtens und des Verhaltens. Es ist klar, dass Wandel nur durch Akkomodation, nicht durch Assimilation, stattfindet. Wandel kann dann aufhören, wenn die Erwartungserwartungen der Akteure wieder konvergieren und Deutungsmuster wieder miteinander kompatibel sind. Erst dann kann wieder eine Routine in das unternehmerische Handeln einkehren.626 Es wurde bereits angedeutet, dass Wandel eine irritationstolerante Wirklichkeitsordnung voraussetzt. Solche Ordnungsmomente, welche die Veränderung von Ordnungsmomenten fördern bzw. hemmen, werden Ordnungsmomente zweiter Ordnung genannt. Eine Wirklichkeitsordnung hat, da sie ja für eine Routinisierung der Handlungen sorgt, die Tendenz, wandelhemmenden Konservatismus zu fördern627, denn es ist ja ihre originäre Funktion, für Berechenbarkeit und Stabilität im Unternehmen zu sorgen. Dieses Dilemma lässt sich dadurch überwinden, dass eine Stabilität auf einem höheren Niveau hergestellt wird, nämlich in Bezug auf die Ordnungsformen, mit denen ein Unternehmen Wandelprozesse bewältigen kann. Damit muss eine Förderung der Wandelfähigkeit eines Unternehmens an den Ordnungsmomenten zweiter Ordnung ansetzen und dort die notwendigen Voraussetzungen für Wandel schaffen. Mit anderen Worten: Es ist ein Wandel zweiter Ordnung erforderlich mit dem Ziel, eine systemische Irritationstoleranz und Organisationsbewusstheit im Unternehmen herzustellen.628 Eine systemische Irritationstoleranz der Beziehungs- und Kommunikationsprozesse bedeutet, dass die Mitglieder eines Unternehmens die Erwartung und Haltung innehaben, dass es immer erwünscht und legitim ist, neue und ungewohnte Ideen oder unbequeme Beobachtungen und Widersprüche anzusprechen und Einspruch zu erheben. Dies setzt jedoch viel Vertrauen zwischen den Mitgliedern voraus, dass solche Äußerungen nicht bestraft werden.629 Organisationsbewusstheit bezeichnet nach Heintel und Krainz (1994, S. 12ff.) ein Bündel an Kompetenzen (auch Routinen), die ein Unternehmen in die Lage versetzen, sich mit den eigenen sozialen Prozessen und deren Hintergründen zu befassen und die Ursachen von Störungen und Widersprüchen erkennen zu können. Dazu gehören die Fähigkeit, die strukturellen, sozialen und emotionalen Bedingungen für bestimmte Handlungsanweisungen zu verstehen, ebenso wie die Fähigkeit, Schwierigkeiten und Konflikte aufzugreifen und 624 625 626 627 628 629
Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 261f. Vgl. hierzu Luhmann (1984a), S. 472. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 262f. und 267. Vgl. hierzu Heintel/Krainz (1994), S. 3 und 32. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 312f. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 317f.
5.3 Inkonsistenter moralischer Anspruch
127
deren Ursachen zu analysieren, d.h. über die „Sozialgesetze“ von Gruppen und Organisationen Bescheid zu wissen.630 Als grundsätzlich kontraproduktiv wird der sog. Personalismus631 gesehen, d.h. wenn Störungen einzelnen Akteuren oder Akteursgruppen angelastet werden, ohne den gesamten systemischen Zusammenhang, d.h. die Ordnungsmomente, die zu einem widersprüchlichen Handeln führen, zu berücksichtigen. Stattdessen kann nur eine kollektive Selbstreflexion der defizitären Wirklichkeitsordnung zu deren Re- und Neu-Konstruktion führen. D.h. es ist ein konstruktiver Diskurs zu führen, im Rahmen dessen gemeinsam routinisierte soziale Praktiken und Annahmen, Erwartungen, Erfahrungen und Rechtfertigungsgründe aufgedeckt, bewusst gemacht und beschrieben werden. 632
5.3
Inkonsistenter moralischer Anspruch
Im Anschluss an die Schilderungen des neuen St. Galler Management-Modells und des Ansatzes „Organisation und organisationaler Wandel“ unterzieht der vorliegende Abschnitt das Management-Modell einer kritischen Prüfung. Dafür werden zunächst die wissenschaftstheoretischen Anforderungen geklärt, die an das Modell gestellt werden können: Widerspruchsfreiheit bzw. Konsistenz. Es wird gezeigt, dass das Modell in Bezug auf den moralischen Anspruch an unternehmerisches Handeln inkonsistent ist: Der relativ weit gehende moralische Anspruch in Anlehnung an P. Ulrich (1998) ist nicht konsequent in das Modell integriert. Um das Modell in den folgenden Kapiteln verbessern zu können, stellt sich daher die Frage danach, was sinnvoller ist: das Modell an den hohen moralischen Anspruch oder den moralischen Anspruch an das Modell anzupassen. Dieser Frage widmet sich schließlich der letzte Abschnitt des Kapitels: Mit Bezug auf die verschiedenen Metatheorien, auf denen das neue St. Galler Management-Modell basiert,633 wird die Entscheidung gefällt, den Anspruch von P. Ulrich (1998) zu ersetzen. 5.3.1
Wissenschaftstheoretische Anforderungen
Welche wissenschaftstheoretischen Anforderungen können an das neue St. Galler Management-Modell gestellt werden? Die folgenden Abschnitte legen dar, dass das Modell nicht im Sinne eines Erklärungs- bzw. Prognosemodells empirisch überprüfbar ist. Es wird gezeigt, dass es sich um ein sog. „Verstehensmodell“ handelt, das die Anforderungen der internen Konsistenz bzw. Widerspruchsfreiheit und der Nützlichkeit zu erfüllen hat. Die St. Galler Management-Lehre beruft sich auf einen bestimmten Wissenschaftsbegriff: den einer „angewandten Wissenschaft“, in Abgrenzung zur sog. „Grundlagenforschung“.634 Nach H. Ulrich (1984, S. 169ff.) wird Wissenschaft in der wissenschaftstheoretischen Literatur in der Regel mit Grundlagenforschung gleichgesetzt. Sie dient dem Aufstellen von Hypothesen, 630 631 632 633 634
Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 324. Vgl. hierzu z.B. Baitsch/Knoepfel/Eberle (1996), S. 19f., und Heintel/Krainz (1994), S. 12, 160 und 167f. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 324f. und 334ff. Vgl. Kapitel 2 und 3. Siehe hierzu Ulrich, H. (1984), 4. Kapitel, S. 168ff.
128
5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm
d.h. empirisch gehaltvollen und überprüfbaren Wenn-dann-Aussagen. Von einem Modell wird gesprochen, wenn mehrere zusammenhängende Hypothesen zu einem System zusammengefasst werden. Der Zweck dieser Forschung ist es, Erklärungs- und Prognosemodelle aufzustellen, mit dem Ziel des Wissensfortschritts. Eine Anwendungsmöglichkeit kann dabei gegeben sein, ist aber nicht zwingend.635 Empirisch gehaltvolle Wenn-Dann-Aussagen über reale, hoch komplexe Systeme können jedoch nur getroffen werden, wenn diese wie einfache Systeme behandelt werden. Modelle der Grundlagenwissenschaften enthalten nur relativ wenige Elemente und Beziehungen, und zwar meist diejenigen, die sich gut messen lassen.636 Die in der realen Welt bestehenden Einflüsse aller restlichen Variablen werden per Ceteris-paribus-Klausel ausgeblendet. In Folge dessen können diese Modelle, so kritisiert H. Ulrich (1984, S. 177f.), genau genommen nicht mehr empirisch überprüft werden. Die Modellaussagen der Grundlagenforschung können jedoch statistisch getestet und weitgehende Korrelationen als ausreichende Bestätigung angesehen werden. Der Wissenschaftler kann infolgedessen keine Garantien dafür geben, dass in der Praxis unter bestimmten Umständen das vorhergesagte Ergebnis tatsächlich eintreten wird. Er kann lediglich behaupten, dass die Wahrscheinlichkeit dafür relativ groß ist, freilich unter der Voraussetzung, dass andere in den Modellen ausgeblendete Variablen keinen wesentlichen Einfluss ausüben. Damit wird jedoch deutlich, dass Modelle der Grundlagenforschung nur für relativ einfache Problemstellungen in der unternehmerischen Praxis geeignet sind, d.h. für Fragen, deren Antwort tatsächlich weitgehend von einigen wenigen zentralen Variablen abhängt. Handelt es sich um Entscheidungen, die nur wenige Dimensionen und einen engen Realitätsausschnitt umfassen, z.B. Investitionsentscheidungen mit hauptsächlich finanziellen, gut abschätzbaren Konsequenzen, dann sind Modelle aus den Grundlagenwissenschaften der Betriebswirtschaftslehre, z.B. Investitionsmodelle, durchaus für die praktische Anwendung geeignet und haben sich bewährt. Viele Problemstellungen in der Unternehmenspraxis sind jedoch komplex, d.h. sie betreffen Systeme, die sehr viele Elemente enthalten, die für sich eine hohe Varietät aufweisen und zwischen denen eine Vielzahl von Beziehungen besteht.637 Hoch komplexe Probleme haben dadurch oftmals interdisziplinären Charakter, können nicht vollständig beschrieben werden und machen es unmöglich, Voraussagen über einen konkreten zukünftigen Systemzustand zu treffen. Für diese Probleme können die Modelle der Grundlagenforschung nicht mehr zu Rate gezogen werden, da sie höchstwahrscheinlich falsche Ergebnisse liefern.638 Denn aus von einfachen Systemen ausgehenden Modellen lässt sich letztlich keine Empfehlung für ein
635 636 637 638
Vgl. Fülbier (2004), S. 267 und 270. Vgl. Willke (1987), S. 134. Vgl. Ashby (1970). Vgl. von Hayek (1972), S. 16. Zu den Grenzen des Wissen-Könnens am Beispiel der Nationalökonomie siehe von Hayek (1972).
5.3 Inkonsistenter moralischer Anspruch
129
vernünftiges Handeln in komplexen Systemen, mit denen sich die Praxis oftmals konfrontiert sieht, ableiten.639 Beispiele dafür sind die Fragen des Umweltmanagements und des moralischen Handelns von Unternehmen, wie sie in Abschnitt 1.1 diskutiert wurden. Die Vereinfachungen auf der Basis von Ceteris-paribus-Annahmen liefern hier keine nützlichen Aussagen mehr, da sie nicht mehr, auch nicht mit großer Wahrscheinlichkeit, auf die reale Situation übertragen werden können. Willke (1987, S. 2) ist der Meinung, dass sogar die Naturwissenschaften die Grenzen ihrer klassischen Experimente, in denen Zusammenhänge auf einfache Kategorien und Gesetzmäßigkeiten reduziert werden, erkannt haben. Denn die daraus gewonnenen Erkenntnisse werden mit zunehmender Komplexität der realen Situation, für die sie Erklärungen und Prognosen liefern sollen, immer ungenauer. Damit ist die Komplexität auch für die Naturwissenschaften zu einer Herausforderung geworden, der sie sich stellen müssen.640 Ein weiterer Schwachpunkt korrelationsstatistischer Ansätze der Grundlagenforschung ist, so Staehle (1999, S. 54), dass sie die theoretischen Bezugsrahmen oder die Abstraktionsmodelle der Wissenschaftler, die deren Untersuchungen zugrunde liegen, meist nicht aufdecken. Damit sind diese Ansätze seiner Meinung nach für die Erklärung sozialer Zusammenhänge nicht plausibler als alltagsweltliche Deutungen es sind. An diesem Punkt haben schließlich die Modelle der sog. „angewandten Forschung“ im Sinne H. Ulrichs (1984, S. 168ff.) ihre Existenzberechtigung. Sie betrachten einen eher weit reichenden Realitätsausschnitt und nehmen in der Regel eine mehrdimensionale, interdisziplinäre Perspektive ein. Damit ist auch die Art und Weise eine andere, wie von der Realität abstrahiert wird, d.h. wie vereinfacht wird und welche Annahmen hierfür getroffen werden: In systemtheoretischen, ganzheitlichen Modellen wie dem neuen St. Galler ManagementModell wird angenommen, dass sich die Systemelemente in Unternehmenssystemen i.Allg. (nicht mit Sicherheit!) an bestimmte Verhaltensregeln halten. Auf diese Weise sind bestimmte Verhaltensweisen wahrscheinlicher als andere, und das tatsächliche Verhalten wird gegenüber dem theoretisch möglichen stark eingeschränkt. Folglich wird nicht jedes Verhalten in einem bestimmten Zusammenhang als wichtig gewertet, so dass Vereinfachungen auch auf Basis der Unterscheidung von wichtigem und unwichtigem Verhalten getroffen werden.641 Diese Ansätze reduzieren Komplexität, indem sie nach den relevanten oder repräsentativen Faktoren, Komponenten, Funktionen und Sinngehalten komplexer Systeme fragen. Damit treffen die Erkenntnisse und Aussagen, die über diese kritischen Variablen getroffen werden können, auch für das System selbst zu.642 Systemtheoretische Ansätze treffen folglich keine detaillierten Voraussagen über zukünftiges Systemverhalten, sondern stattdessen Aussagen über Verhaltensmuster, Funktionszusammenhänge, Problemkonfigurationen und Entwicklungslinien. Die Kenntnis über diese Aussagen
639
640 641 642
Vgl. H. Ulrich (1984), S. 173ff. Die gleiche Meinung vertritt Staehle (1999), S. 67, der die Annahmen mikroökonomisch fundierter Theorien als zu eng sieht, so dass in der Realität unnötige Kosten entstehen und bestimmte Probleme wie Mikropolitik, Macht in Organisationen oder Strategieimplementation meist nicht betrachtet werden können. Vgl. Willke (1987), S. 2. Vgl. Ulrich, H. (1984), S. 181f. Vgl. Willke (1987), S. 134.
130
5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm
erhöht nun die Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Ereignisse und Ergebnisse erzielt oder vermieden werden können.643 Geht es in der Praxis nun darum, Entscheidungen zu fällen, die mehrdimensionalen Charakter haben und einen weiten Realitätsausschnitt umfassen, dann sind die angewandten Wissenschaften hier eher in der Lage, adäquates Wissen für solche Situationen bereitzustellen. Solche komplexen Fragestellungen werden vor allem auf den höheren Management-Ebenen auftauchen, da hier zumeist normative und strategische und damit komplexe Entscheidungen gefällt werden, die in aller Regel einen langfristigen und interdisziplinären Blick erfordern. Die Art von Wissen, die Modelle der angewandten Forschung bereitstellen, unterscheidet sich dabei wesentlich von denen der Grundlagenwissenschaften: Im Sinne von Verstehensmodellen können sie relevante „Tendenzen“ und Zusammenhänge aufzeigen, um Entscheidungsträgern zu helfen, bestimmte Situationen besser zu verstehen bzw. einzuordnen.644 Sie können weder erklären noch bestimmte zukünftige Ereignisse prognostizieren, sondern ein gewisses Verständnis für wichtige Zusammenhänge liefern. Dies impliziert bereits die Grundannahme, die diesen Modellen zugrunde liegt: dass die Unternehmensrealität komplex ist.645 Willke (1999, S. 12) vergleicht diese Form des Wissens mit dem Unterschied zwischen einem Meister und einem Anfänger: Ersterer hat aufgrund seiner langjährigen Ausbildung einen geschulten „Blick“ erworben, d.h. die Fähigkeit erlernt, Relevantes zu erkennen und zu verstehen, die ein Anfänger so noch nicht besitzt. Beide Arten von Wissenschaft – die Grundlagenwissenschaft und die angewandte Wissenschaft – liefern nützliches Wissen für unternehmerisches Handeln in der Praxis. Wann welche Modelle sinnvollerweise anzuwenden sind, hängt von der praktischen Fragestellung ab, für deren Lösung wissenschaftliches Wissen benötigt wird. Was sind nun geeignete wissenschaftstheoretische Anforderungen, die an Verstehensmodelle gestellt werden können? Eine empirische Überprüfung ihrer Aussagen ist nicht möglich, denn sie erheben nicht den Anspruch, wahre Aussagen zu treffen, sondern für die Praxis nützliche Entwürfe bereitzustellen. Damit sind die Kriterien, anhand derer diese Modelle bewertet werden, nicht ihre Allgemeingültigkeit, Erklärungskraft, ihr Bestätigungsgrad oder die Eleganz der Theorie, sondern Kriterien für ihre Nützlichkeit wie der Leistungsgrad, die Zuverlässigkeit, ihre universelle Anwendbarkeit etc.646 Verstehensmodelle können damit nicht belegt oder widerlegt werden, sie können nur mehr oder weniger nützlich sein: „Eng verwandt mit solchen [Verstehens-]Modellen sind Karten (maps). (…) Karten geben nicht vor, was wir zu tun haben. Sie vermitteln keine Rezepte. Die Routenwahl oder andere Festlegungen müssen wir selbst vornehmen. Eine der Problemstellung angemessene Karte unterstützt diesen Prozess. (…) Es gibt also nicht wahre oder falsche, sondern in Bezug auf einen bestimmten Aufgabenkontext eher angemessene oder eher unangemessene Karten.“647
643 644 645 646 647
Vgl. Willke (1987), S. 136. In Anlehnung an Ulrich, H. (1984), S. 193. Vgl. Ulrich, H. (1984), S. 176. Vgl. Ulrich, H. (1984), S. 203. Rüegg-Stürm (2002), S. 12f.
5.3 Inkonsistenter moralischer Anspruch
131
„In diesem Sinne verkörpert ein Modell nicht mehr und nicht weniger als eine nützliche, kontingente geistige Landkarte, die im Fortgang der Zeit bei der wiederholten Bewältigung mehr oder weniger ähnlicher Aufgaben stets neu zu hinterfragen und weiterzuentwickeln ist.“648
Die Nützlichkeit von Verstehensmodellen kann jedoch ebenfalls nicht empirisch überprüft werden. Das neue St. Galler Management-Modell liefert ein Verständnis für komplexe Situationen und deren Problemzusammenhänge; gibt aber, wie bereits beschrieben, keine eindeutigen Handlungsanweisungen: „Wenn eine bestimmte Situation A vorliegt, führt die Handlung B zum Ergebnis C.“ Damit kann ein bestimmtes Ergebnis, z.B. die Lösung eines Problems im Unternehmen, nicht eindeutig und ausschließlich auf die Anwendung dieses Modells zurückgeführt werden. Zudem ist es in realen, komplexen Situationen nicht möglich, ein Referenzszenario zu testen, um nachzuweisen, dass der Anwender ohne Kenntnis des Modells anders gehandelt hätte und das Ergebnis ein anderes (evtl. ein weniger wünschenswertes) gewesen wäre. Ob ein Verstehensmodell mehr oder weniger nützlich ist, kann infolgedessen nicht eindeutig bewiesen werden, sondern bleibt zu einem gewissen Grad immer abhängig von der subjektiven Einschätzung desjenigen, der das Modell anwendet. Damit verbleiben als Anforderungen an das neue St. Galler Management-Modell in erster Linie die eines korrekten deduktiven Schließens und der Logik, denn: „Selbstverständlich können Karten in dem Sinne irreführend sein, als – nach Massgabe der entsprechenden Signaturen und des Massstabs – beispielsweise Strassen oder Wege falsch oder gar nicht eingetragen sind.“649
Dies gilt nach Fülbier (2004, S. 269) grundsätzlich für konstruktivistische Modelle, die geisteswissenschaftlich geprägt sind. Sie stützen sich eher auf einen rationalistischen Begründungsanspruch und gewinnen Erkenntnisse dementsprechend durch Argumentationsleistungen. Anstelle von empirisch zu testenden Hypothesen werden durch argumentative Schlussfolgerungen (Tendenz-)Aussagen deduziert. Wobei menschliche Argumentationsleistungen durchaus fehlbar sein können – die Aussagen folglich nicht unumstößlich sind. Dieses Vorgehen orientiert sich an den Geisteswissenschaften, die sich dagegen sträuben, soziales Handeln Gesetzmäßigkeiten zu unterwerfen.650 Nach Chmielewicz (1979, S. 93) wird im Rahmen deduktiver Aussagensysteme an Axiome die unabdingbare Anforderung der Widerspruchsfreiheit bzw. Konsistenz gestellt,651 da ohne sie keine Wissenschaft bestehen kann.652 Sind dennoch Widersprüche vorhanden – nicht in der Praxis, die per se voller Widersprüche steckt, sondern zwischen Aussagen auf wissenschaftlicher Ebene – müssen sie beseitigt werden und regen zu neuer Forschung an.653 Eine solche Inkonsistenz im neuen St. Galler Management-Modell in Bezug auf den moralischen Anspruch an unternehmerisches Handeln, wie im folgenden Abschnitt aufgezeigt, ist darum nicht zuletzt der Ausgangspunkt für die vorliegende wissenschaftliche Arbeit. Im Laufe der Arbeit wird dieser Widerspruch beseitigt werden und in die Weiterentwicklung des 648 649 650 651 652 653
Rüegg-Stürm (2002), S. 16. Rüegg-Stürm (2002), S. 13. Vgl. u.a. Lorenzen (1974). Vgl. Popper (1966), S. 41 und 59, sowie Kraft (1960), S. 187. Vgl. Popper (1966), S. 59, und Bochenski (1965), S. 80f. Vgl. Lakatos (1974), S. 296, Spinner (1974), S. 46f., und Weingartner (1971), S. 89f.
132
5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm
Management-Modells zu einem in sich konsistenten Bezugsrahmen im Hinblick auf die Ausgangsfragestellung münden. Um zu demonstrieren, dass dieser zudem nützlich ist, wird er abschließend in Kapitel 9 an zwei Fragestellungen aus der Praxis gespiegelt werden: Den Möglichkeiten und Grenzen von Unternehmen, umweltschonend zu handeln bzw. auf Korruption zu verzichten. 5.3.2
Moralische Inkonsistenz
Wie bereits in Abschnitt 5.1.1 beschrieben, bekennt sich Rüegg-Stürm (2002, S. 29ff.) in seinem neuen St. Galler Management-Modell zum normativ-kritischen, ethischen Anspruchsgruppenkonzept von P. Ulrich (1998): „Entsprechend unserem Streben nach einer ganzheitlichen Unternehmensführung bedürfen die Anliegen und Interessen der verschiedenen Anspruchsgruppen im Sinne eines normativ-kritischen, ethischen Anspruchsgruppenkonzepts je von neuem einer sorgfältigen Abwägung und Würdigung.“654
Dieses Konzept wird anschließend von P. Ulrich (2004a, b), basierend auf P. Ulrich (1998), konkretisiert. Im Gegensatz zu den vorhergehenden St. Galler Management-Modellen wird dabei der Markt der Moral untergeordnet: P. Ulrich (1998, S. 442f.) verlangt von Unternehmen, die ethisch legitimen Ansprüche aller Menschen, unabhängig von deren Machtpotenzialen gegenüber dem Unternehmen, zu erfüllen. Die ethische Legitimität wird dabei im Rahmen einer „idealerweise fairen diskursiven Auseinandersetzung“655 im Sinne der Diskursethik656 bestimmt. Daraus folgt, dass sich das Unternehmen an Wertschöpfungszielen orientiert, die darauf gerichtet sind, „echte Beiträge zur gesellschaftlichen Lebensqualität“657 zu erbringen, d.h. sämtliche Werte und Schäden, die Anspruchsgruppen zugefügt werden, zu berücksichtigen.658 Des Weiteren orientiert sich das unternehmerische Handeln an Geschäftsprinzipien, die dafür sorgen, dass der Geschäftserfolg nur mit legitimen Mitteln und Methoden erreicht wird. Dies betrifft insbesondere das Interaktionsthema der Auswahl geeigneter Ressourcen.659 Wenn ein Unternehmen sich nun im Konflikt zwischen Markt und Moral befindet, erwartet P. Ulrich (1998, S. 162f.), dass es insoweit Gewinnverzicht übt, wie es dabei seine Existenz nicht gefährdet. Unabhängig davon, ob man diese Auffassung einer derart weit reichenden unternehmerischen Verantwortung teilt oder nicht, ist das neue St. Galler Management-Modell im Hinblick auf seine eigenen normativen Ansprüche inkonsistent; diese sind nicht konsequent in das gesamte Modell integriert. Rüegg-Stürm (2002, S. 34) beschränkt seine ethische Sicht auf die normative Managementebene, auf der die unternehmerischen Legitimierungsprozesse stattfinden,
654 655 656
657 658 659
Rüegg-Stürm (2002), S. 33, Hervorhebungen im Original. Rüegg-Stürm (2002), S. 34, Hervorhebungen im Original. Prominenteste Vertreter der Diskursethik sind Apel und Habermas. Siehe u.a. Apel (1988), Apel (1973), Habermas (1991) und Habermas (1983). Ulrich, P. (2004b), S. 27. Vgl. Ulrich, P. (2004b), S. 27. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 34.
5.3 Inkonsistenter moralischer Anspruch
133
welche die Entscheidungsprozesse des strategischen und operativen Managements durchformen sollen. Die Ordnungsmomente (Strategie, Strukturen und Kultur) sowie die strategischen und operativen Managementprozesse sind demgegenüber gemäß Rüegg-Stürm (2002, S. 35) rein strategisch-funktional ausgerichtet, da Unternehmen „im Kontext der Marktlogik“660 funktionieren. Hier liegt ein Widerspruch im Modell begründet, was die folgenden Ausführungen beispielhaft für die Strategien und Strukturen zeigen werden. Eine tatsächliche Verwirklichung des ethischen Anspruchs durch das unternehmerische Handeln ist aufgrund dessen äußerst unwahrscheinlich. Rüegg-Stürm (2002, S. 35, Hervorhebungen im Original) schreibt, dass die Strategien „primär an der ökonomischen Marktlogik, d.h. an Geschäftschancen“ ausgerichtet sind. Es geht dabei um den „Aufbau solcher Voraussetzungen, die es einer Unternehmung erlauben, langfristig ökonomisch erfolgreich zu sein. (…) Eine systematische Auseinandersetzung mit den Grundlagen für den langfristigen Erfolg einer Unternehmung ist Gegenstand des strategischen Managements.“661
Strategien verdeutlichen zum einen, welche Anspruchsgruppen für das Unternehmen relevant sind und welche Anliegen und Bedürfnisse befriedigt werden. Zum anderen schaffen sie im Unternehmen die entsprechenden Voraussetzungen für diese Bedürfnisbefriedigung, indem sie die Wertschöpfungstiefe festgelegen, über Kooperationen entscheiden und bestimmen, welche besonderen Fähigkeiten bzw. Kernkompetenzen aufgebaut werden.662 Relevant sind dabei nach Rüegg-Stürm (2002, S. 40) nicht etwa diejenigen Gruppen, die ethisch legitime Ansprüche stellen, sondern ausschließlich diejenigen, die von Absatz- und Beschaffungsseite sowie dem Arbeits- und Kapitalmarkt her strategisch-funktional relevant sind. Demgegenüber schreibt P. Ulrich (2004b, S. 28f., Hervorhebungen im Original): „Auf einer ersten Ebene geht es um die Geschäftsintegrität, d.h. um die durchgängige unternehmerische Selbstbindung allen markt-erfolgsorientierten Handelns an die oben erläuterten Unternehmensgrundsätze und Wertschöpfungskriterien. Insbesondere bei der Festlegung neuer Geschäftsstrategien kommt es darauf an, diese von Grund auf gesellschaftlich tragfähig und ‚wertschaffend’ auszurichten, soweit das unter den gegebenen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen einzelwirtschaftlich zumutbar ist.“
Er fordert daher, im Gegensatz zu Rüegg-Stürm (2002, S. 35 und 40), dass der zumutbare Gewinnverzicht zugunsten der Erfüllung ethisch legitimer Ansprüche sich auch in den Strategien entsprechend widerspiegelt. Unter dem Schaffen von Werten versteht P. Ulrich (2004b, S. 27), wie oben beschrieben, nicht rein ökonomische Werte, sondern sämtliche Werte einschließlich der Berücksichtigung von Schäden, die das Unternehmen verursacht. Unternehmen sind, wie bereits erwähnt, verpflichtet, „echte Beiträge zur gesellschaftlichen Lebensqualität“663 zu erbringen. Die ethisch anspruchsvollen Unternehmensziele, die das normative Management festlegt, werden jedoch nicht erreicht, wenn das strategische Management lediglich marktliche Erfolgspotenziale, d.h. im Unternehmen die Voraussetzungen allein für die Erreichung marktlicher, funktional-strategisch ausgerichteter Ziele, schafft.
660 661 662 663
Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 35. Rüegg-Stürm (2002), S. 40, Hervorhebungen im Original. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 40f. Ulrich, P. (2004b), S. 27.
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5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm
Diese Inkonsistenz spiegelt sich auch in den Strukturen wider. Das neue St. Galler Management-Modell hat bei den Organisationsstrukturen (der Aufbau- und Ablaufstruktur) nur die Wettbewerbsvorteile auf den Absatzmärkten im Blickfeld.664 Dies führt dazu, dass auch die ausführenden Prozesse nur auf die Kunden hin ausgerichtet sind: „Geschäftsprozesse verkörpern den praktischen Vollzug der marktbezogenen Kernaktivitäten einer Unternehmung, die unmittelbar auf die Stiftung von Kundennutzen ausgerichtet sind.“ 665
Die Geschäftsprozesse dienen damit (ausschließlich) der Stiftung des Kundennutzens und die Unterstützungsprozesse dazu, interne Dienstleistungen für die Geschäftsprozesse zu erbringen.666 Dies steht jedoch ebenfalls im direkten Widerspruch zu den folgenden Ausführungen von P. Ulrich (2004b, S. 30, Hervorhebungen im Original), die Teil des Gesamtwerks zum neuen St. Galler Management-Modell sind: „Einerseits geht es darum, Strukturen und Entscheidungsprozesse für ethische Reflexion und Argumentation zu öffnen, indem ‚Orte’ hierarchisch entschränkter, machtfreier, diskursiver Klärung von Verantwortbarkeits- und Zumutbarkeitsfragen in den Beziehungen zu allen Stakeholdern, insbesondere aber zwischen Führungskräften und Mitarbeitern aller Ebenen, institutionalisiert werden. Ein solcher Stakeholder-Dialog führt allerdings nur zu ethisch gehaltvollen Ergebnissen, wenn er sich am normativ-kritischen, nicht am strategischen Stakeholder-Konzept orientiert (...). Andererseits geht es aber auch darum, die komplex-arbeitsteilige Organisation gegen ethisch unverantwortbare oder unerwünschte Verhaltensweisen auf allen Ebenen ein Stück weit zu schließen, indem das gesamte unternehmerische Handeln an deklarierte, nachprüfbare normative Standards (...) gebunden wird und falsche, zum Opportunismus verführende Anreizstrukturen durch ein System ‚organisierter Verantwortlichkeit’ ersetzt werden. Die Einhaltung der definierten normativen Standards ist durch ein entsprechendes Monitoring- und Auditing-System sicherzustellen. Man spricht hierbei vom Compliance-System einer Organisation.“
Sollen die moralischen Anforderungen P. Ulrichs (2004 a und b, 1998) im unternehmerischen Handeln realisiert werden, ist es zwingend notwendig, diese auch in den Strukturen zu verankern. Denn wie sollen Entscheidungen zugunsten ethisch legitimer Ansprüche vorbereitet, gefällt und kontrolliert werden, wenn Instanzen fehlen, die dafür zuständig sind, und wenn diejenigen, die diese Ansprüche stellen, weder direkt in den Entscheidungsprozess integriert sind noch deren Interessen angemessen vertreten werden? Ein Stakeholder-Dialog muss in die Entscheidungsprozesse integriert und institutionalisiert sein und sich am normativ-kritischen, ethischen, nicht am strategischen Stakeholder-Konzept orientieren. Der moralische Anspruch wird sonst schlichtweg nicht realisiert, und die ethisch legitimen Ansprüche bleiben unerfüllt, sofern sie nicht für das Unternehmen funktional-strategisch relevant sind. Das Modell ist nur in den Fällen widerspruchsfrei, in denen die Erfüllung wettbewerblicher Interessen gleichzeitig auch die Erfüllung ethisch legitimer Ansprüche gewährleistet. Denn dann genügt es aus ethischer Sicht, wenn das strategische und operative Management dafür Sorge tragen, dass diese marktlichen Ziele realisiert werden. Dass es jedoch vielfach Zielkonflikte zwischen marktlichen und ethischen Zielen gibt, ist weitgehend unbestritten. So schreibt selbst Rüegg-Stürm (2002, S. 30f.) unter Hinweis auf P. Ulrich (1998 und 2004a), dass die
664 665 666
Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 47ff. und 66. Rüegg-Stürm (2002), S. 69, Hervorhebungen im Original. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 69.
5.3 Inkonsistenter moralischer Anspruch
135
langfristige Gewinnmaximierung im Sinne des Shareholder-Value-Konzepts nicht zu gleichen Ergebnissen führt wie eine „langfristig ausgewogene Berücksichtigung aller Anspruchsgruppen“667: „Dieser (normativen) Sichtweise ist entgegenzuhalten, dass es ethisch begründbare und moralisch gebotene Entscheidungen zugunsten bestimmter Anspruchgruppen geben kann, die sich auch langfristig nicht positiv auf den Shareholder-Value auswirken, also einen bewussten Verzicht der Kapitalgeber zugunsten einer anderen Anspruchsgruppe implizieren.“668
Damit ist der Widerspruch im neuen St. Galler Management-Modell deutlich: Zwischen den unternehmerischen Ordnungsmomenten und den Prozessen, in denen sich das unternehmerische Handeln vollzieht, bestehen, wie in den Abschnitten 5.1 und 5.2 beschrieben, Wechselwirkungen bzw. ein zirkulärer Zusammenhang.669 Daher ist es widersprüchlich zu fordern, dass Managementprozesse sich an ethisch legitimen Ansprüchen zu orientieren haben, während sich die Geschäfts- und Unterstützungsprozesse und insbesondere die Ordnungsmomente, die ja schließlich die Prozesse ordnen und formen, nach rein wettbewerblichen Gesichtspunkten ausrichten. Ordnungsmomente formen und ordnen das unternehmerische Handeln. Sind die Ordnungsmomente an einem funktional-strategischen Anspruchsgruppenkonzept ausgerichtet, werden regelmäßig auch nur die funktional-strategischen Interessen der mächtigsten Stakeholder durch die Unternehmensprozesse erfüllt. Gleichzeitig sind es die Prozesse, die diese Ordnungsmomente herausbilden und rekursiv bestätigen bzw. verändern – Ordnungsmomente sind selbst das Ergebnis der Prozesse.670 Wenn nun die normativen Legitimationsprozesse tatsächlich, wie Rüegg-Stürm (2002, S. 34) dies fordert, am normativkritischen, ethischen Anspruchsgruppenkonzept von P. Ulrich (1998) ausgerichtet wären, würden sie auch die Ordnungsmomente – die Strukturen, Strategien und die Kultur – in eben diesem normativen, ethischen Sinne formen. 5.3.3
Hinweise der metatheoretischen Grundlagen
Nachdem der Widerspruch im neuen St. Galler Management-Modell deutlich wurde, stellt sich nun die Frage, wie dieser beseitigt werden kann. Für eine Verbesserung des Modells, wie sie in den folgenden Kapiteln vorgenommen werden soll, gibt es folglich zwei Alternativen: Die erste Alternative wäre, das Modell konsequent an den moralischen Anspruch von P. Ulrich (1998) anzupassen, d.h. in die Strategien, Strukturen und Kultur zu integrieren und auch im Rahmen der Geschäfts- und Unterstützungsprozesse zu realisieren. Die zweite Alternative wäre, den Anspruch von P. Ulrich (1998, S. 428), die Moral vor den Markt (nicht in jeder Situation, aber doch prinzipiell) zu stellen, zurückzunehmen und durch ein anderes unternehmensethisches Konzept zu ersetzen, das der weitgehend funktional-strategischen Ausrichtung des Modells entspricht oder zumindest nicht entgegensteht. Um bei der Behebung des normativen Widerspruchs keine neuen Widersprüche zu schaffen, werden als Kriterien für die Entscheidung zwischen diesen Alternativen die verschiedenen Metatheorien herangezogen, auf die sich das Modell beruft. Dabei steht zunächst die folgende 667 668 669 670
Rüegg-Stürm (2002), S. 31, Hervorhebungen im Original. Rüegg-Stürm (2002), S. 31, Hervorhebungen im Original. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 78f., in Anlehnung an die Strukturationstheorie von Giddens (1997), S. 240ff. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 35ff. und 78f.
136
5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm
Frage im Vordergrund: Was sind, gemäß dem neuen St. Galler Management-Modell, die wettbewerblichen Rahmenbedingungen von Unternehmen? Ein weiteres wichtiges Kriterium wird sein: Wie funktioniert ein Unternehmen gemäß dem Modell? Mit anderen Worten: Wie ist das Unternehmen in das wirtschaftliche Umfeld eingebettet? Auf der Beantwortung dieser Fragen kann schließlich die weitere Argumentation aufbauen, die einen konsistenten Weg für eine Beseitigung des Widerspruchs aufzeigen wird. Was sind die wettbewerblichen Rahmenbedingungen des Unternehmens? Das neue St. Galler Management-Modell selbst geht nicht detailliert auf diese Frage ein, legt aber explizit die gesellschaftlichen Zusammenhänge zugrunde, wie sie die neuere Systemtheorie (vgl. Kapitel 3) beschreibt.671 Laut dieser haben sich in der modernen Gesellschaft verschiedene funktionale Teilsysteme ausdifferenziert, die jeweils eigene binäre Codes ausgebildet haben, nach denen sie ausschließlich kommunizieren. Durch diese funktionale Differenzierung ist es der Gesellschaft gelungen, die eigenen Kapazitäten zur Verarbeitung von Komplexität und damit auch die Produktivität der Gesellschaft wesentlich zu steigern.672 Das Teilsystem der Wirtschaft bzw. Ökonomie kommuniziert dabei ausschließlich anhand der Codes „Haben – Nichthaben“ bzw. „Zahlen – Nichtzahlen“. Das Wirtschaftssystem zeigt als autopoietisches System auf Ereignisse in seiner Umwelt nur dann eine Resonanz, wenn diese im Rahmen dieser Codes kommunizierbar sind, d.h. Preise beeinflussen. Denn nur dann machen diese Ereignisse für die Wirtschaft „Sinn“. Dies gilt auch für moralische Kommunikation, wie z.B. dass die Schädigung der ökologischen Umwelt „schlecht“ sei. Die Wirtschaft wird nur dann durch diese Kommunikation irritiert, wenn die Schädigung der ökologischen Umwelt sich in Preisen niederschlägt. Mit der Ausdifferenzierung der autopoietischen Funktionsweise der Wirtschaft und seiner spezifischen Codierungen ist schließlich eine enorme Effizienzsteigerung bei der Befriedigung der Gesellschaft mit Gütern und Dienstleistungen verbunden, gleichzeitig enthält sie jedoch blinde Flecken für alle Ereignisse außerhalb der Wirtschaft, die sich nicht direkt oder indirekt auf Preise auswirken.673 Zur Frage nach der Funktionsweise des Unternehmens, insbesondere der Beziehung zwischen einem Unternehmen und dessen wirtschaftlicher Umweltsphäre, gibt das neue St. Galler Management-Modell die folgende Auskunft: „Die Umweltsphäre Wirtschaft mit Beschaffungs-, Absatz-, Arbeits- und Finanzmärkten ist gewissermaßen der ureigentliche Nährboden einer Unternehmung, mit dem wann immer möglich eine tragfähige symbiotische Beziehung einzugehen ist.“674
Unternehmen sind wirtschaftliche Systeme, deren Gelderträge langfristig die Aufwendungen durch den Ressourcenverzehr abdecken müssen. Sie sind zudem soziotechnische Systeme, im Rahmen derer Menschen unter Nutzung technischer Hilfsmittel Bedürfnisse ihrer Anspruchsgruppen befriedigen.675 Da die benötigten Ressourcen knapp sind, entsteht ein Wettbewerb zu
671
672 673 674 675
Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 6 und insbesondere S. 16f., wo er explizit auf die Zugrundelegung der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann, insbesondere in Luhmann (1984a), und auf weitere systemtheoretische Grundvorstellungen, wie sie in Willke (2000) und (1999) dargestellt sind, hinweist. Vgl. Abschnitt 3.3. Vgl. Abschnitt 3.4.1. Rüegg-Stürm (2002), S. 26, Hervorhebungen im Original. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 20f., mit Bezug auf Ulrich/Fluri (1995), S. 31.
5.3 Inkonsistenter moralischer Anspruch
137
Konkurrenzunternehmen. Diesen kann ein Unternehmen nur dann erfolgreich bestehen, wenn es in der Lage ist, für seine Anspruchsgruppen einen überlegenen Nutzen (Effektivitätsvorteil) zu geringeren Kosten (Effizienzvorteil) zu stiften.676 Wie eng dieser Bezug von Unternehmen zum Wirtschaftssystem bzw. wie stark der Wettbewerbsdruck ist und welche Möglichkeiten ein Unternehmen hat, moralisch zu kommunizieren – dies können die Metatheorien des neuen St. Galler Management-Modells genauer beantworten. Auch hier kann zunächst die neuere Systemtheorie weiterhelfen. Wie Rüegg-Stürm (2002, S. 20 und 26) selbst schreibt, sind Unternehmen wirtschaftliche Systeme – mit anderen Worten: Organisationen der Wirtschaft – und unterliegen damit zwingend einem Marktbezug. Sie können zwar multi-lingual, d.h. z.B. auch moralisch, kommunizieren, sind dabei aber an den Leitcode der Wirtschaft gebunden, um im Wettbewerb die Anschlussfähigkeit ihrer Entscheidungen zu gewährleisten, mit anderen Worten: die eigene Existenz zu sichern.677 Das eigene Überleben ist ein wesentliches Ziel des Unternehmens, allerdings nicht, wie oft angenommen, das primäre, denn dies ist die Erfüllung von „Sinn“. Diesen gibt sich das Unternehmen in gewissem Rahmen selbst, denn als autopoietisches System kommuniziert es autonom bzw. als geschlossenes System. Dabei ist es nicht vollkommen unabhängig von seiner Umwelt: Sein Sinn ist es, bestimmte – als Unternehmen sind dies wirtschaftliche – Leistungen für die Gesellschaft zu erbringen. Die Art der wirtschaftlichen Leistung kann es aufgrund von Handlungsfreiheiten im Rahmen der bestehenden Selbstreferenz in gewissen Grenzen frei wählen. Dadurch gibt sich das Unternehmen einen konkreten ökonomischen Sinn, schafft sich eine bestimmte ökonomische Identität. Den eigenen Sinn zu erfüllen heißt für ein komplexes System jedoch in der Regel nichts anderes, als eine gewisse System-/ Umwelt-Differenz aufrecht zu erhalten, d.h. die eigene Existenz zu sichern. Trotzdem kann es für ein Unternehmen in manchen Fällen „sinnvoll“ sein, wenn es seine Existenz verliert: Wenn z.B. ein Bedürfnis, dessen Befriedigung den eigenen Sinn ausmacht, nicht mehr besteht, „macht es Sinn“, die eigene Existenz zu beenden und keine weiteren Anschlusshandlungen vorzunehmen.678 Dies ist es z.B. in der Baubranche durchaus üblich. Hier gründen Bauunternehmen für die gemeinsame Bewältigung zeitlich befristeter Großprojekte regelmäßig so genannte „Arbeitsgemeinschaften“ (ARGE), die rechtlich als eigenständige Gesellschaften bürgerlichen Rechts gelten. Nach Beendigung des Projekts haben diese Arbeitsgemeinschaften ihren Sinn erfüllt und werden wieder aufgelöst. In der Regel ist der Sinn von Unternehmen jedoch auf langfristige Zwecke, eine langfristige Bedürfnisbefriedigung, ausgerichtet. Für diese Unternehmen ist es eine zentrale Herausforderung, ihre langfristige Existenz gegen den Wettbewerb zu behaupten. Und selbst wenn der Sinn wie im Fall der Arbeitsgemeinschaften die Fertigstellung eines zeitlich begrenzten Bauprojekts sein sollte: Solange dieses nicht abgeschlossen ist, sind auch Arbeitsgemeinschaften gefordert, sich gegen ihre Konkurrenz zu behaupten und wirtschaftlich effizient und effektiv zu agieren. Auch sie müssen ihre eigene Existenz zumindest bis zur Beendigung des Bauprojekts sichern.679 Die Existenzsicherung, d.h. die Anschlussfähigkeit unternehmerischer 676 677 678 679
Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 21. Vgl. Abschnitt 3.4.4. Vgl. Abschnitt 3.4.4. Vgl. Abschnitt 3.4.4.
138
5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm
Handlungen, ist damit zu Recht ein zentrales Anliegen von Unternehmen680 – freilich nicht als „Selbstzweck“, sondern als Voraussetzung für die eigene Sinnerfüllung. Die grundlegende ökonomische Ausrichtung von Unternehmen aufgrund der bestehenden Leitcodierung findet sich auch in den Strukturen (i.w.S.), d.h. den Regeln, des Unternehmens wieder: Unternehmerische Entscheidungen reagieren auf ökonomische Erwartungsmuster, d.h. in dem Fall auf die Erwartung, Gewinne zu erwirtschaften. Dieser rekursive Zusammenhang zwischen Systemstrukturen (i.w.S.) und Systemhandlungen wird in der neueren Systemtheorie681 und detailliert von Giddens (1997) dargestellt und schließlich durch Rüegg-Stürm (2001 und 2002, insbesondere S. 78f.) aufgegriffen: Durch Handlungen werden die Strukturen (i.w.S.) – die Ordnungsmomente – gebildet, die wiederum die Handlungen durchformen. Damit wird deutlich: Entscheidungen, die ökonomisch Sinn machen, und ökonomische Erwartungsmuster bedingen sich gegenseitig: Ökonomische Erwartungen an ein Unternehmen werden nur erfüllt, wenn die Unternehmensentscheidungen ökonomisch Sinn machen. Gleichzeitig sind es diese Entscheidungen, die ökonomische Erwartungen wecken und auf Dauer ökonomische Erwartungsmuster bzw. Regeln entstehen lassen.682 Die Präzisierung des unternehmerischen Marktbezugs zeigt folglich, dass es der Sinn von Unternehmen ist, ökonomische Effektivität zu erbringen, d.h. ökonomische Bedürfnisse zu befriedigen, und hierfür im ständigen Wettbewerb die eigene Existenz zu sichern. Daraus kann gefolgert werden, dass ein Unternehmen zwar moralisch, rechtlich, politisch etc. entscheiden kann, aber eben nur insoweit, als dies dem eigenen ökonomischen Sinn entspricht. Damit kann das Unternehmen nur auf solche Ereignisse aus seiner Umwelt hin moralisch, rechtlich, politisch etc. kommunizieren, soweit diese bzgl. seiner ökonomischen Identität „Sinn machen“. Neben dem Marktbezug zeichnen sich Unternehmen auch durch einen Organisationsbezug aus: Sie ökonomisieren Transaktionskosten. Darauf weist auch die neuere Systemtheorie hin,683 wobei die Neue Institutionenökonomik hierzu genauere Erkenntnisse liefert. RüeggStürm (2002, S. 47) selbst verweist auf die Neue Institutionenökonomik, und hier insbesondere auf Coase (1937)684. Dieser beantwortet die Frage, warum Unternehmen überhaupt existieren, d.h. warum wirtschaftliche Transaktionen nicht ausschließlich über den Markt abgewickelt werden. Er argumentiert auf der Basis von Effizienzvorteilen: Unternehmen fungieren als alternative Institutionen für die Allokation knapper Güter gegenüber dem Markt. Dabei setzt sich im Wettbewerb diejenige institutionelle Alternative durch, welche die geringeren Transaktionskosten685 aufweist, d.h. effizienter wirtschaftet. Die Transaktionskosten, die im Unternehmen bei der Koordination wirtschaftlicher Transaktionen durch Hierarchie entstehen,
680
681 682 683 684 685
Nach Rüegg-Stürm (2001), S. 228, 236 und 364, ist unternehmerischer Wandel auf langfristige Zukunftssicherung ausgerichtet. Dementsprechend beziehen sich die strategischen Managementprozesse im neuen St. Galler Management-Modell nach Rüegg-Stürm (2002), S. 71, basierend auf P. Ulrich/Fluri (1995), S. 19, auf die wettbewerbsbezogene, langfristige Zukunftssicherung. Vgl. Kapitel 3. In Anlehnung an Kapitel 3. Vgl. Abschnitt 3.4.4. Ein Überblick hierzu findet sich auch in Walter-Busch (1996), S. 287ff., und Ebers/Gotsch (1999), S. 199ff. Transaktionskosten sind Informations- und Kontrollkosten, die bei der Anbahnung, Vereinbarung, Abwicklung, Kontrolle und Anpassung wechselseitiger Leistungsbeziehungen entstehen.
5.3 Inkonsistenter moralischer Anspruch
139
werden als Organisationskosten bezeichnet, diejenigen des Marktes, die durch die Koordination wirtschaftlicher Transaktionen durch den Preismechanismus verursacht werden, als Marktbenutzungskosten. Die Größe eines Unternehmens ist gemäß dem Prinzip der marginalen Substitution dann optimal, wenn die Organisationskosten der letzten Transaktion, die das Unternehmen koordiniert, gleich hoch sind wie die Kosten, die entstünden, wenn diese Transaktion über den Markt oder anderen Unternehmen abgewickelt würden.686 Auch dies deutet auf die Wettbewerbszwänge hin, denen ein Unternehmen unterliegt: Trifft ein Unternehmen moralische Entscheidungen auf Kosten wirtschaftlicher Entscheidungen, muss es damit rechnen, dass es bzgl. der betreffenden Transaktionen nicht mehr wettbewerbsfähig ist und diese Transaktionen über kurz oder lang von anderen Unternehmen oder dem Markt abgewickelt werden. Das Unternehmen sieht sich einem Wettbewerb um die effiziente Abwicklung wirtschaftlicher Transaktionen ausgesetzt. Alles in allem zeigen die Metatheorien des neuen St. Galler Management-Modells, dass Unternehmen ihre Existenz gefährden und damit (in aller Regel) ihrem ökonomischen Sinn nicht gerecht werden, wenn es ihnen nicht gelingt, effizienter und effektiver als andere Unternehmen und der Markt ökonomischen Wert zu schöpfen. Diese Schilderung der Funktionsweise von Unternehmen deckt sich schließlich mit dem strategischen Stakeholderansatz von Freeman (1984), nach dem das Unternehmen im Wettbewerb um die Gunst seiner relevanten bzw. wirkungsmächtigen Anspruchsgruppen steht, um die eigene Existenz (letztlich zur eigenen Sinnerfüllung) zu sichern. Es sind also deren Ansprüche, nach denen sich ein Unternehmen richten muss, um nicht durch den Markt oder andere Unternehmen ersetzt zu werden. Damit ist nun die Ausgangslage deutlich, von der aus nach einem konsistenten Weg zur Verbesserung des neuen St. Galler Management-Modells gesucht werden kann: Der normative Anspruch des Modells orientiert sich an dem weit reichenden moralischen Anspruch von P. Ulrich (1998)687, während das gesellschaftliche Funktionssystem der Wirtschaft, der „Nährboden“688 des Unternehmens als Organisation der Wirtschaft, ausschließlich wirtschaftlich kommunizieren und damit auf moralische Kommunikation keine direkte Resonanz zeigen kann, es sei denn, dass sich diese in Preisänderungen niederschlägt. Damit macht rein moralische Kommunikation im System der Wirtschaft keinen Sinn. Gleichzeitig verdeutlichen die Metatheorien des Modells, dass auch Unternehmen strategischfunktional funktionieren – was sogar Rüegg-Stürm (2002, S. 35) selbst explizit anerkennt: „die ‚Funktionsweise’ einer modernen Unternehmung im Kontext der Marktlogik“689 orientiert sich auch in seinem Modell an einer strategisch-funktionalen Betrachtungsweise, wie sie dem Anspruchsgruppenkonzept von Freeman (1984) entspricht, in expliziter Abgrenzung zum normativen-kritischen Ansatz.
686 687 688 689
Vgl. Abschnitt 2.2.1 Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 31ff. Rüegg-Stürm (2002), S. 26. Rüegg-Stürm (2002), S. 35, Hervorhebungen im Original.
140 5.3.4
5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm Wie kann die moralische Inkonsistenz beseitigt werden?
Damit werden für eine Verbesserung des Modells die folgenden Alternativen geprüft: Kann die Funktionslogik des Unternehmens an den normativen Anspruch von P. Ulrich (1998) angepasst werden? Es wird sich zeigen, dass diese Alternative neue Widersprüche mit sich bringt: Sie widerspricht sich letztlich mit den Wettbewerbsbedingungen, die das Funktionssystem der Wirtschaft setzt. Sollte am Anspruch von P. Ulrich (1998) festgehalten werden, müssten konsequenterweise auch diese Rahmenbedingungen dem normativ-kritischen Ansatz angepasst werden. Auch diese zweite Alternative wird verworfen werden, so dass schließlich die Entscheidung gefällt werden wird, in der weiteren Arbeit die dritte Alternative zu verfolgen: den normativ-kritischen Ansatz aus dem Modell herauszunehmen. Die erste Alternative wäre also, die Funktionslogik der Unternehmen an den Ansatz von P. Ulrich (1998) anzupassen. Dies würde bedeuten, dass Unternehmen im Konfliktfall zwischen ökonomischen und moralischen Zielen in ihren Entscheidungen systematisch ethisch legitime Ansprüche vor ökonomische stellen,690 sofern dadurch nicht die Existenz des Unternehmens auf dem Spiel steht.691 Damit werden Unternehmen angehalten, im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Transaktionen zugunsten moralischer Ansprüche wirtschaftliche Ineffizienzen und Ineffektivitäten in Kauf zu nehmen. Falls das Unternehmen nun über keine (nennenswerten) Wettbewerbsvorsprünge verfügt, werden jedoch die oben geschilderten Wettbewerbsbedingungen dafür sorgen, dass die betreffenden Transaktionen nicht mehr wettbewerbsfähig wären. Sie würden entweder durch andere Unternehmen erbracht, die ohne denselben moralischen Anspruch diese Transaktion kostengünstiger koordinieren könnten, oder durch den Markt, auf dem die Verwirklichung des moralischen Anspruchs als Preiserhöhung kommuniziert würde und damit im wahrsten Sinne des Wortes „indiskutabel“ wäre, also nicht umgesetzt werden könnte. Mit der Umsetzung des Anspruchs von P. Ulrich (1998) würde das moralisch engagierte Unternehmen in diesem Fall seine Existenz gefährden. Dies wäre jedoch kontraproduktiv im Sinne der Moral, denn gerade solche Unternehmen, die sich moralisch engagieren wollten, würden über die Zeit aus dem Wettbewerb ausscheiden. In diesem Fall sieht P. Ulrich (1998, S. 162) jedoch selber aufgrund der situativen Zwänge ein, dass bei fehlenden Wettbewerbsvorsprüngen Moral nicht vor den Markt gestellt werden kann. Der einzige verbleibende Fall, in dem die Forderungen von P. Ulrich (1998) überhaupt greifen könnten, ist, wenn Unternehmen über Wettbewerbsvorsprünge verfügen. Hier würde P. Ulrich (1998, S. 428) fordern, wirtschaftliche Belange zugunsten moralischer hintenan zu stellen: Eine Verringerung des Wettbewerbsvorsprungs wäre in seinem Sinne wohl zumutbar. Dem stehen jedoch die folgenden Bedenken gegenüber: Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht basiert P. Ulrichs (1998) Ansatz systematisch darauf, dass der Wettbewerb nicht vollständig funktioniert, d.h. dass Unternehmen einen Effizienzvorsprung haben, den andere Unternehmen bzw. Transaktionen über den Markt nicht erreichen können. Dies könnte z.B. aufgrund von Informationsasymmetrien, Marktmacht oder Marktzugangsschranken der Fall sein. D.h. hinter dieser moralischen Forderung verbirgt sich implizit 690
691
„Es geht ... darum, das unternehmerische Erfolgs- und Gewinnstreben kategorisch der normativen Bedingung der Legitimität unterzuordnen.“ Ulrich, P. (1998), S. 428, Hervorhebungen im Original. Vgl. Ulrich, P. (1998), S. 162.
5.3 Inkonsistenter moralischer Anspruch
141
eine Argumentation gegen die Marktwirtschaft und die funktionale Differenzierung – vielleicht nicht unbedingt die Forderung, diese grundsätzlich abzuschaffen, aber doch zumindest, sie zurückzunehmen. Aber die funktionale Differenzierung gemäß der neueren Systemtheorie ist eine Metatheorie des neuen St. Galler Management-Modells.692 Würde also die Funktionsweise von Unternehmen im Modell dem Anspruch von P. Ulrich (1998) angepasst, befände diese sich im Widerspruch zur gesellschaftstheoretischen Fundierung des Modells durch die neuere Systemtheorie. Aus einzelwirtschaftlicher Sicht gibt es weitere Bedenken. Unternehmen und deren Rahmenbedingungen unterliegen komplexen Wechselwirkungen und dynamischen Veränderungen, die sich nicht vollständig überblicken lassen. Daher muss ein Unternehmen immer damit rechnen, dass es den Wettbewerbsvorsprung, über den es heute verfügt, morgen dringend benötigt, um die Wettbewerbsposition zu verteidigen und letztlich die eigene Existenz zu sichern. Die Marktwirtschaft basiert systematisch darauf, dass Wettbewerbsvorsprünge temporär sind und streitig gemacht werden. Zugunsten von Moral auf Wettbewerbsvorsprünge zu verzichten, ist damit immer riskant und potenziell Existenz gefährdend. Eine Möglichkeit für Unternehmen, dieses Risiko durch Voraussicht abzubauen, kann es aufgrund der Annahme komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge693 nicht (vollständig) geben. Aus moralischer Sicht ist daher die Forderung von P. Ulrich (1998) auch in dem Fall, in dem ein Unternehmen über Wettbewerbsvorsprünge verfügt, (zumindest potenziell) kontraproduktiv. Diese Existenzgefährdung für moralisch aktive Unternehmen besteht nicht nur von außen nur aufgrund dessen, dass immer damit gerechnet werden muss, dass die Konkurrenten eines Unternehmens diese moralischen Ansprüche nicht erfüllen. Auch von innen heraus erwächst ein solche Gefährdung, wenn ein Unternehmen systematisch im Sinne P. Ulrichs (1998, S. 428) Moral vor Markt, Verständigungsorientierung vor Wettbewerbsorientierung setzt. Denn dies würde bedeuten, dass moralische Kommunikation im Unternehmen systematisch der ökonomischen vorgeordnet ist, mit anderen Worten: moralische Entscheidungen gegenüber wirtschaftlichen Entscheidungen systematisch Vorrang haben. Gleichzeitig müsste nach P. Ulrich (1998, S. 162) in den Fällen, in denen das Überleben des Unternehmens auf dem Spiel steht, die ökonomische Kommunikation wieder der moralischen vorgeordnet sein. Diese Situationen, in denen eine akute Existenzgefährdung vorliegt, sind jedoch nicht eindeutig beobachtbar. Infolgedessen ist zu befürchten, dass eine fehlende Eindeutigkeit in der unternehmerischen Zielsetzung bildhaft gesprochen zu einem „semantischen Sprachwirrwarr“ führen wird: Was hat nun wirklich Priorität bei Entscheidungen: moralische oder ökonomische Kriterien? Welches ist die wirkliche Leitcodierung? Es ist zu befürchten, dass im Unternehmen widersprüchliche Entscheidungen gefällt werden und/oder das Unternehmen in seiner Entscheidungsfindung gleichsam gelähmt wird. Eine weitere Befürchtung in Folge einer Änderung der Funktionsweise des Unternehmens ist die folgende: Im Fall einer moralischen Leitcodierung richten sich die Beobachtungs- und Kommunikationsprozesse im Unternehmen systematisch auf ethische Legitimierungsprozesse im Sinne von Verständigungsprozessen. Aufgrund der begrenzten Aufmerksamkeit, über die Akteure eben nur verfügen, werden Routinen und Gewohnheiten etabliert, in denen das Un-
692 693
Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 6 und 16f. Vgl. Abschnitt 3.1.
142
5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm
ternehmen in seinen Handlungen systematisch moralische vor wirtschaftliche Aspekte, moralische vor wirtschaftliche Kommunikation stellt. Aber jede Routinisierung impliziert im Sinne Rüegg-Stürms (2001) blinde Flecke: Das Bewusstsein der Akteure wird tendenziell weg vom marktlichen Geschehen auf Moral ausgerichtet. Damit läuft das Unternehmen Gefahr, das Bewusstsein für Wettbewerbssignale zu schwächen und dadurch eine drohende Existenzgefährdung nicht rechtzeitig genug wahrzunehmen, um noch reagieren und handlungsfähig bleiben zu können. Ein weiteres Argument gegen die Verständigungsorientierung im Sinne der Diskursethik, die dem Ansatz von P. Ulrich (1998) zugrunde liegt, formuliert Luhmann (1988b, S. 249ff.) aus systemtheoretischer Warte heraus. Nach der Interpretation Luhmanns (1988b, S. 249f.) fordert Habermas, dass die Gesellschaft in einem kommunikativen, herrschaftsfreien Diskurs ihre eigene kollektive Identität finden solle und könne. An diese Identität würden sich die beteiligten Subjekte innerlich gebunden fühlen, da sie die Gründe für die Geltung und damit Verbindlichkeit der Identität einsähen. Diese Einsicht beruhe auf der Gewissheit, dass die Identität vernunftbasiert sei. Diese Identität im Sinne von Habermas ist mehr als eine bloße Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems im Sinne des systemtheoretischen Identitätsbegriffs: Sie verleiht die Fähigkeit, den Zustand der modernen Gesellschaft zu kritisieren.694 Dem widerspricht Luhmann (1988b, S. 251f.) energisch. Vorausgesetzt, dass die Beschreibung der modernen Gesellschaft als azentrisch in funktionale Teilsysteme differenziert zutreffend ist, kann es aufgrund dieser strukturellen Gegebenheiten keine gesamtgesellschaftliche Rationalität mehr geben, sondern nur Teilsystemrationalitäten. Eine Gesellschaft, die sich im Sinne der Arbeitsteilung und Verringerung von Redundanzen funktional ausdifferenziert, hat dabei die Fähigkeit verloren, sich selbst als Einheit zu repräsentieren. Es gibt daher in der modernen Gesellschaft keine konkurrenzfreien Positionen mehr wie z.B. die Spitze einer Hierarchie oder das Zentrum im Verhältnis zur Peripherie. Jeder von einem Teil einer solchen Gesellschaft erhobene Anspruch, das Ganze zu sein oder dessen Identität zu repräsentieren, ist widersprüchlich.695 Dies gilt nach Luhmann (1988b, S. 251) auch dann, wenn sich vernünftig argumentierende Individuen argumentativ verständigen: „…denn wieso sollte man es denen überlassen, zu bestimmen, was gut sei, wenn man davon ausgehen muß, daß andere nichtanerkennenswerte Gründe haben, sich dem Verfahren und erst recht dem vorgeschlagenen Konsens nicht zu fügen?“
Diese Individuen können nicht für die gesamte Gesellschaft verbindliche Normen aufstellen und daraufhin an der Gesellschaft oder ihren Teilsystemen Kritik üben. Sie können schon gar nicht als Partner z.B. für die ökologische Umwelt oder zukünftige Generationen auftreten mit dem Anspruch, quasi deren Rechte vertreten zu können.696 Die vorgetragenen Argumente machen deutlich, dass die erste Alternative, die Änderung der Funktionslogik von Unternehmen, neue Widersprüche hervorruft. Erstens widerspricht ein moralischer Ansatz, der, wie in der gesamtwirtschaftlichen Sicht und in der Kritik an der
694 695 696
Vgl. Luhmann (1988b), S. 249f. Vgl. Luhmann (1988b), S. 251f. Vgl. Luhmann (1988b), S. 252.
5.3 Inkonsistenter moralischer Anspruch
143
Diskursethik dargestellt, systematisch auf der (zumindest teilweisen) Zurücknahme der funktionalen Differenzierung aufbaut, der eigenen Metatheorie in Gestalt der neueren Systemtheorie. Zweitens zeigen alle genannten Gründe, wie sie in der einzelwirtschaftlichen Sicht dargestellt wurden, dass die Wettbewerbsbedingungen des Unternehmens eine Änderung der Funktionslogik nicht zulassen. Moralische Unternehmen gefährden ihre Existenz, was aus moralischer Sicht kontraproduktiv ist und damit sogar einer Inkonsistenz bzgl. des eigenen moralischen Anspruchs gleichkommt: Es scheint, dass der Versuch, den Anspruch von P. Ulrich (1998) zu realisieren, systematisch dazu führt, dass er nicht realisiert wird, Unternehmen mithin damit scheitern. Die einzige Möglichkeit, diese neuen Widersprüche zu beheben, wäre, die Wettbewerbsbedingungen von Unternehmen ebenfalls zu ändern, d.h. die funktionale Differenzierung zumindest teilweise zurückzunehmen und dem Modell eine neue gesellschaftstheoretische Fundierung zu geben. Würde man also, als zweite Alternative, die Wettbewerbsbedingungen der Marktwirtschaft an den moralischen Anspruch von P. Ulrich (1998) anpassen, hieße das bildlich gesprochen: Nicht mehr das Geld solle die (ökonomische) Welt regieren, sondern ethisch legitime Bedürftigkeit. Die Folgen dessen wären jedoch unabsehbar. Die dezentrale Koordination wirtschaftlicher Transaktionen durch den Preismechanismus ermöglicht eine hocheffiziente Allokation knapper Güter, zumindest in den Fällen, in denen kein sog. Marktversagen vorliegt. Zudem geht mit diesem liberalen Konzept der Marktwirtschaft eine weitgehende Handlungsfreiheit von Wirtschaftssubjekten, der Eigentümer von Produktionsfaktoren, einher, die stark eingeschränkt würde: Müssten nicht alle Produktions- und Konsumentscheidungen mit allen Betroffenen in einem Verständigungsprozess diskutiert werden? Aus ökonomischer Sicht erscheint eine Zurücknahme der Marktwirtschaft daher als nicht sinnvoll und auch aus moralischer Sicht als äußerst fragwürdig: Wie lassen sich eine zunehmende Verschwendung von Ressourcen aufgrund vermehrter Ineffizienzen und eine Einschränkung individueller Freiheiten moralisch rechtfertigen? Ein weiteres fundamentales praktisches Problem stellt sich im Zusammenhang mit dieser zweiten Alternative: Eine tatsächliche Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, eine Abschaffung der Marktwirtschaft, scheint unrealistisch. Wer sollte diese Änderung verordnen, wer sollte sie wie umsetzen? Kann eine solche Forderung impliziter Inhalt eines anwendungsorientierten Management-Modells sein, das Managern in der marktwirtschaftlichen Realität Hilfestellung geben möchte? Die Beantwortung all dieser Fragen, die mit der Diskussion der zweiten Alternative aufgeworfen sind, lassen sich erst abschließend beantworten, wenn ein alternatives Gesellschaftskonzept vorliegt, mit dem die Marktwirtschaft ersetzt werden könnte. Denn der Feind des Guten ist bekanntlich das Bessere. Doch bislang fehlt m.E. eine solche theoretisch fundierte und praktikable Alternative. Daher wird für diese Arbeit die Entscheidung getroffen, beide bisherigen Alternativen zu verwerfen und im neuen St. Galler Management-Modell die Marktwirtschaft und die unternehmerische Funktionslogik nicht zu ersetzen. Das grundsätzliche Problem des Ansatzes von P. Ulrich (1998) scheint zu sein, dass er die Frage der Implementierbarkeit seiner Ethik nicht als Kriterium für oder wider sie gelten lässt: „Vernunftethik hat es auch in konkreten Handlungssituationen immer nur mit der vorbehaltlosen Begründung situationsgerechter Handlungsorientierungen vom Standpunkt der Moral aus zu tun, niemals aber mit pragmatischen Problemen der Anwendung oder gar ‚Implementierung’ vorweg
144
5 Modelle der dritten Generation von Rüegg-Stürm begründeter Handlungsorientierungen. Folglich kann es weder situative ‚Anwendungsbedingungen’ noch Verantwortungsprobleme geben, die ausserhalb diskursiv zu lösender Begründungsprobleme definierbar wären. Ethik bietet kritisch-normatives Orientierungswissen, nicht ‚anwendbares’ Verfügungswissen – sie ist keine Sozialtechnik für gute Zwecke.“697
Die unzureichende Berücksichtigung der Frage nach der Implementierbarkeit führt dazu, dass P. Ulrich (1998) zentrale Nebenfolgen und Rückwirkungen, welche die Realisierung seines Ansatzes mit sich bringen würden, ausblendet: Eine Änderung der Funktionslogik von Unternehmen würde dazu führen, dass moralische Unternehmen ihre Existenz gefährden würden. Dies wäre kontraproduktiv für die Erfüllung moralischer Ziele. Zudem ist es aus theoretischer Sicht widersinnig, die Realisierung bestimmter Normen zu fordern, die angesichts einer bestimmten Realität systematisch für ihre Nichterfüllung sorgen. Eine Änderung des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs durch eine Zurücknahme der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft hätte schwerwiegende Folgen: enorme Effizienzverluste und damit geringeren gesellschaftlichen Wohlstand sowie eine Einschränkung der Handlungsfreiheiten von Wirtschaftssubjekten. Hier müsste P. Ulrich konsequent begründen, warum dies aus seiner Sicht moralisch wäre, und er müsste dies komparativ von der Warte einer besseren gesellschaftstheoretischen Alternative zur Moderne aus aufzeigen. Schließlich und endlich passt ein ethischer Ansatz, welcher die Frage nach dessen Implementierbarkeit nur unzureichend klärt, nicht zu einem Modell wie dem von Rüegg-Stürm (2002), der sein Modell als einen Beitrag zu einer anwendungsorientierten Wissenschaft versteht: als ein Verstehensmodell für Management-Theoretiker und -Praktiker.698 Ein Verstehensmodell jedoch, das einerseits als Ziel unternehmerischen Handelns die Existenzsicherung vermittelt, gleichzeitig aber dazu auffordert, moralische Handlungen auszuführen und die eigene Existenz gefährdende Ordnungsmomente zu etablieren, fördert kein Verstehen und keine Orientierung, sondern Desorientierung. Damit bleibt als dritte und einzig gangbare Alternative, den Widerspruch im neuen St. Galler Management-Modell zu beheben, ohne neue Inkonsistenzen zu schaffen, den normativ-kritischen Ansatz von P. Ulrich (1998) aus dem Modell herauszunehmen, d.h. den Anspruch „Moral vor Markt“ für das Modell zu verwerfen. Gemäß der Metatheorien des Modells können moralische Entscheidungen nur dann von Unternehmen realisiert werden, wenn sie im Sinne des strategischen Anspruchsgruppenkonzepts von Freeman (1984) den marktlichen Wettbewerbsbedingungen und der Funktionslogik des Unternehmens entsprechen oder zumindest nicht widersprechen. Damit bietet sich der Rückgriff auf die Ökonomische Ethik von Homann et al. an, wie sie im folgenden Kapitel dargestellt wird.
697 698
P. Ulrich (1998), S. 101, Fußnoten wurden weggelassen. Vgl. Abschnitt 5.1.2.
Teil III
Unternehmensethische Ansätze
6.1 Darstellung der Ökonomischen Ethik
6
147
Die Ökonomische Ethik von Homann
Der Ansatz der Ökonomischen Ethik von Karl Homann u.A.699 ist ein normativer Ansatz der Wirtschafts- und Unternehmensethik, der einerseits einen normativen, moralphilosophisch fundierten Anspruch an Unternehmen stellt und diesen andererseits angesichts situativer, gesellschaftstheoretisch fundierter Begrenzungen detailliert. Die folgende Darstellung seines Ansatzes beginnt mit der Darlegung dieser metatheoretischen Grundlagen und leitet daraus die grundlegenden Thesen ab. Diese, auf den Bereich der Wirtschaft und die Situation von Unternehmen hin konkretisiert, ergeben Homanns Ansatz einer Wirtschafts- und Unternehmensethik. Im Anschluss an die Darstellung wird Homanns Ansatz noch einmal genauer durchleuchtet und kritisch gewürdigt. Seine Stärken in Bezug auf die Integration des Ansatzes in das neue St. Galler Management-Modell werden kurz dargelegt und verschiedene Schwächen, insbesondere bzgl. der institutionenökonomischen Fundierung, verdeutlicht. Des Weiteren erarbeitet Homann mit seinem Ansatz zwar moralische Anforderungen an unternehmerisches Handeln und leitet daraus entsprechende Strategien für Unternehmen ab, ohne jedoch die organisatorische, management-theoretische Seite ihrer Implementation zu beleuchten. Daher bedarf der Ansatz von Homann vor dessen Integration in das neue St. Galler Management-Modell einer entsprechenden Weiterentwicklung. Erste Ansatzpunkte dafür werden bereits in diesem Kapitel erarbeitet. Eine wesentliche Bereicherung birgt hier jedoch der im nächsten Kapitel dargestellte und diskutierte Ansatz einer Governanceethik von Josef Wieland. Denn beide Ansätze, wie Wieland und Homann betonen700 und wie im Folgenden noch deutlich werden wird, ergänzen sich hier in nahezu idealer Weise. Mit Hilfe der deskriptiven bzw. positiven Governanceethik wird es schließlich möglich sein, den Ansatz von Homann institutionenökonomisch und systemtheoretisch stärker zu fundieren, die Fragen nach der Implementation moralischer Kommunikation ins Management zu beantworten und so die Brücke zu einem erweiterten neuen St. Galler Management-Modell zu schlagen.
6.1
Darstellung der Ökonomischen Ethik
6.1.1
Normative Grundlagen
Der Ansatz einer Ökonomischen Ethik unterscheidet zwischen den Fragen der Begründung, Geltung und Implementierung von Normen.701 Den Schwerpunkt bildet die Frage nach deren Geltung, d.h. „welche moralischen Normen und Ideale unter den Bedingungen der modernen
699
700
701
Beiträge zu Homanns Ökonomischer Ethik haben u.a. Andreas Suchanek (z.B. Suchanek (2001) und (1997) sowie Homann/Suchanek (2000)), Franz Blome-Drees (z.B. Homann/Blome-Drees (1995) und (1992)) und Ingo Pies (z.B. Homann/Pies (1991), Pies (1997), (1993) und Pies/Blome-Drees (1993)) geleistet. So schreibt Homann (2001a), S. 41: „Weil die Fragestellungen kompatibel, jedoch nicht identisch sind, kann man ohne Widerspruch beide Forschungsprogramme nebeneinander verfolgen.“ Ebenso sieht Wieland (2001b), S. 25 den Ansatz von Homann „als eine zur Governanceethik komplementäre Forschungsrichtung.“ Vgl. z.B. Homann (2001b), S. 103f., wobei Homanns Ansatz hier begriffliche Ungenauigkeiten aufweist, die, wie in Abschnitt 6.2.3 deutlich werden wird, zu Missverständnissen bzgl. seiner Aussagen führen.
148
6 Die Ökonomische Ethik von Homann
Wirtschaft und Gesellschaft zur Geltung gebracht werden können.“702 Mit dieser Frage schafft Homann es, die Verbindung zwischen moralischen Anforderungen und den Gegebenheiten einer modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft herzustellen, ohne dass eine Seite die andere dominiert. Damit – dies wird in Abschnitt 6.2.1 noch genauer deutlich – qualifiziert sich sein Ansatz in nahezu idealer Weise für das neue St. Galler Management-Modell, das einerseits einen moralischen Anspruch an unternehmerisches Handeln stellt, gleichzeitig jedoch gesellschaftstheoretisch fundierte Rahmenbedingungen des Unternehmens anerkennt und Wert auf eine Anwendungsorientierung legt, um Management-Theoretikern und Praktikern ein Verständnis für die vielfältigen Zusammenhänge der Managementaufgaben zu vermitteln.703 Trotz dieser Fokussierung auf die Frage nach der Geltung von Normen ist der Ansatz von Homann moralphilosophisch fundiert. Bezüglich der Frage nach der Begründung von Normen lehnt sich Homann im Wesentlichen an Hobbes (1970) und Buchanan704 an. Hobbes (1970) interpretiert die Gesellschaft als aus einem Vertrag, dem Gesellschaftsvertrag, hervorgegangen.705 Diesem Vertrag ging ein „Naturzustand“ voraus, den er als „Kampf Aller gegen Alle“ beschreibt.706 Dort befanden sich die Menschen gemäß der Interpretation Buchanans (1975) in „Gefangenendilemma-Situationen“,707 in denen freiwilliges kooperatives Handeln durch Andere potenziell ausgebeutet wurde, denn ohne eine verbindliche Absprache ist es in solchen Situationen für jeden einzelnen Akteur individuell optimal, nicht zu kooperieren. Hobbes (1970, S. 117ff.) sieht die Menschen nun Kraft ihrer Vernunft grundsätzlich in der Lage, solche Situationen zu überwinden, indem sie erkennen, dass sie nur gemeinsam durch arbeitsteilige Kooperation ihre Interessen verwirklichen können. Daher sind sie bereit, sich freiwillig gesellschaftlichen Regeln zu unterwerfen, mit denen sie zwar ihre Handlungsoptionen einschränken, sich aber gleichzeitig bestimmte Freiheiten und Möglichkeiten schaffen, die sie sonst nicht verwirklichen könnten.708 Daraus leitet sich schließlich auch die moralische Forderung von Hobbes (1970, S. 129) ab, die den Kernsatz seiner Ethik bildet: „[V]ertragliche Abkommen müssen erfüllt werden“.
Die gesellschaftlichen Regeln entfalten in Dilemmastrukturen nur dann ihre produktive Wirkung, wenn sich alle Akteure daran halten. Daher braucht es die Zustimmung aller Mitglieder der Gesellschaft – den allgemeinen Konsens –, durch den diese (zumindest moralisch) an die Regeln gebunden sind. Hieraus begründet sich die Demokratie als universelles Prinzip menschlichen Zusammenlebens.709
702 703 704 705
706 707 708
709
Homann (1993), S. 33. Zur Darstellung des neuen St. Galler Management-Modells siehe Abschnitt 5.1. Insbesondere Brennan/Buchanan (1993) und Buchanan (1975). Nach Homann/Suchanek (2000), S. 186f. geht diese Interpretation auf eine alte, bereits in der Antike vorherrschende Vorstellung zurück und hat durch Buchanan (1975/1984) und Rawls (1971/1979) eine Renaissance erfahren. Vgl. Hobbes (1970). So schon früher Hoerster (1971/1977). Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 44 und 96f. sowie Homann/Suchanek (2000), S. 186ff. Siehe hierzu grundlegend Buchanan (1975/1984). Vgl. Homann/Suchanek (2000), S. 188 mit Bezug auf Brennan/Buchanan (1993), S. 34ff. und 133ff. Siehe hierzu ausführlicher auch Homann (1988).
6.1 Darstellung der Ökonomischen Ethik
149
Dabei geht es nicht etwa darum, mit Hilfe dieser Regeln gemeinsame Zwecke, Präferenzen, Interessen oder Werte zu verwirklichen. Der Antrieb für diese kollektive Selbstbindung ist vielmehr die Verwirklichung des individuellen Nutzens jedes Einzelnen.710 Denn in der Gesellschaft, so diagnostiziert Homann (1995b, S. 3f.) in Anlehnung an Rawls (1992, S. 294, und 1993), besteht kein allgemeiner Wertekonsens, sondern ein „Faktum des Pluralismus“. Da nach Brennan/Buchanan (1993, S. 28) nun alle Individuen moralisch gleichwertig und aufgrund dessen in der Lage sind, moralische Bewertungen vorzunehmen, kann im Sinne eines normativen methodologischen Individualismus nur das Individuum die einzige Quelle von Werten sein.711 Moderne Gesellschaften lassen sich folglich aus dem (legitimen) Wollen der Individuen herleiten.712 Daraus schließt Homann (1995b, S. 5), dass das Ziel bzw. Grundprinzip von Moral die Solidarität Aller ist.713 Normen haben den Zweck, die Kooperationsgewinne Aller zu maximieren; der Kern der Moral ist damit das unbändige Streben nach individueller Besserstellung.714 In der Maximierung individueller Nutzen durch gesellschaftliche Kooperation liegen letztlich moralische Normen begründet:715 Sie stellen moralische Regeln dar, die Menschen zur Lösung von Interaktionsproblemen erfunden haben.716 Damit verkörpern sie Instrumente, mit denen Menschen die von ihnen gewünschten Kooperationen zu stabilisieren und unerwünschtes Verhalten zu unterbinden suchen.717 Im Zentrum des ethischen Ansatzes von Homann steht nun die Beantwortung der Frage nach der Geltung von Normen, d.h. danach, ob wohl begründete Normen für das faktische Handeln tatsächlich verpflichtend sind. Nach Homann (1993, S. 37) sind Normen erst dann verpflichtend, wenn sie implementierbar sind, d.h. ihre Durchsetzung sichergestellt ist, denn: „Die Implementation schlägt auf die Geltung durch. Nur bzw. erst, wenn die allgemeine Befolgung erwünschter Normen (hinreichend) sichergestellt werden kann, durch entsprechende institutionelle Arrangements, werden diese Normen von den später der Norm Unterworfenen selbst in Geltung gesetzt.“718
Zur weiteren Klärung dieser Frage legt Homann insbesondere den Ansatz der „Begründung von Regeln“ aus der Konstitutionellen Politischen Ökonomik von Brennan/Buchanan (1993) zugrunde.719 Diese beschäftigt sich mit der Frage nach der Lösung von Kooperationsproblemen, die aufgrund von Gefangenendilemma-Strukturen in der Gesellschaft entstehen. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist eine Gefangenendilemma-Situation, in welcher die beteiligten Akteure aus individuell rationalen Gründen nicht miteinander kooperieren werden, da die Gefahr besteht, im Fall der individuellen Kooperation von den anderen defektierenden
710 711 712 713 714 715 716 717 718 719
Vgl. Brennan/Buchanan (1993), S. 29 mit Bezug auf Buchanan (1975/1984). Vgl. Buchanan (1987), S. 586. Vgl. Homann (1995b), S. 4. Siehe auch Homann/Blome-Drees (1992), S. 15 und Homann (1998), S. 30. Vgl. Homann (1998), S. 32. Vgl. Homann (2001b), S. 102f. Vgl. Homann (2001a), S. 40. Vgl. Homann (1993), S. 37. Homann (1998), S. 26f., Hervorhebungen im Original, Fußnote weggelassen. Für eine Zusammenfassung dieses Ansatzes siehe Abschnitt 2.3.1.
150
6 Die Ökonomische Ethik von Homann
Akteuren ausgebeutet zu werden. Dies führt zu einem für Alle suboptimalen Ergebnis: dem Verzicht auf die Kooperationsrente. Individuen sind jedoch aufgrund der situativen Bedingungen quasi dazu gezwungen, nicht zu kooperieren, da sie nicht systematisch und auf Dauer gegen ihr eigenes Interesse verstoßen können.720 Unter welchen Bedingungen hat Moral dann eine Chance auf Realisierung? In Kleingruppen ist eine Motivmoral einzelner Akteure möglich und wirksam, da sich Menschen von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen und gegenseitige, direkte soziale Kontrolle ausüben können. Moralische Motive werden in den Interaktionen in der kleinen Gruppe direkt anerkannt und belohnt.721 Angesichts der anonymen Strukturen moderner funktional differenzierter Gesellschaften ist eine solche soziale Kontrolle jedoch nicht mehr möglich.722 Die Strukturen bzw. Regeln des Handelns mit ihren spezifischen Anreizen und Sanktionen sind in modernen Gesellschaften – so die neuere Systemtheorie – durch weit reichende Arbeitsteilung innerhalb funktional ausdifferenzierter, autopoietischer Teilsysteme wie dem Rechts-, Politik-, Wirtschaftssystem etc. charakterisiert. Die einzelnen Teilsysteme sind insoweit autonom, als sie ihre eigenen, spezifischen „Kommunikationen“ bzw. Handlungen ausgebildet haben. Aufgrund dieser Spezialisierung kann die Gesellschaft ungleich höhere Komplexität prozessieren – hohe Produktivitätsbzw. Effizienzgewinne sind die Folge. Auch Unternehmen sind komplexe autopoietische gesellschaftliche Teilsysteme: Sie sind Organisationen und damit kollektive Akteure, die das Funktionssystem der Wirtschaft ausdifferenziert hat.723 Die Menschen sind in diese Teilsysteme nicht als „vollständige“ Individuen mit eingebunden, sondern im Rahmen spezifischer Rollen, die sie dort jeweils ausfüllen, z.B. als Arbeitnehmer in Unternehmen oder als Vereinsmitglieder in Nichtregierungsorganisationen. In den verschiedenen Teilsystemen sind sie jeweils an bestimmte Regeln bzw. Eigengesetzlichkeiten gebunden und funktionsspezifischen Anreizen und Sanktionen ausgesetzt. Ihre Situationen ähneln Gefangenendilemma-Situationen, in denen direkte Absprachen nicht mehr möglich sind.724 Das Handeln entsprechend einer Motivmoral, d.h. aus intrinsischer Motivation heraus, ist für Individuen systematisch und auf Dauer mit Nachteilen verbunden. Intrinsisch motiviertes Handeln ist damit nach Homann (1993, S. 33) nicht zumutbar, sie überfordert die Akteure und führt zu einer Erosion von Moral. Daher verliert eine Motivmoral angesichts moderner Gesellschaftsstrukturen an Bedeutung. An ihre Stelle tritt eine sog. „Anreizmoral“, d.h. die Verankerung moralischer Normen in geeigneten gesellschaftlichen Regeln.725 Welche Normen gelten nun in modernen Gesellschaften? Die Antwort, die Homann (1998, S. 31) gibt, lautet: die Normen, deren Einhaltung den Anreizen der strukturellen Gegebenheiten nicht systematisch entgegensteht oder durch geeignete sanktionsbewährte Regeln sichergestellt werden kann. Moralische Normen finden sich in der modernen Gesellschaft daher
720 721 722 723
724 725
Vgl. Homann (1995b), S. 7ff. und (1998), S. 28 mit Bezug auf Brennan/Buchanan (1993), S. 80f. Vgl. Homann (1995b), S. 6f. Vgl. Homann (1995b), S. 6f. Vgl. Homann (1995b), S. 6, (1993), S. 40ff., (1998), S. 22f. und Homann/Blome-Drees (1992), S. 108. Eine Zusammenfassung zentraler Aussagen der neueren Systemtheorie findet sich in Kapitel 3. Vgl. Homann (1995b), S. 6, (1993), S. 40ff., (1998), S. 25 und Homann/Blome-Drees (1992), S. 108. Vgl. Homann (1998), S. 28ff.
6.1 Darstellung der Ökonomischen Ethik
151
weniger in den Handlungen als vielmehr in den Regeln des Handelns wieder. Maßnahmen zur Bewältigung von Kooperationsproblemen können nur dann mit Aussicht auf Erfolg umgesetzt werden, wenn sie in die „Logik“ der Regeln der Funktionssysteme gebracht werden: Sollen sich die Handlungsergebnisse verändern, müssen die Regeln (die „Spielregeln“) der Handlungssituation geändert werden.726 Ein bestimmtes gewünschtes Ergebnis stellt sich dann „als nichtintendiertes Resultat intentionaler, d.h. eigeninteressierter, Handlungen“727 ein. Statt Gesinnungswandel fordert Homann (1995b, S. 10) daher einen Bedingungswandel und manifestiert dies in der zentralen These seines Ansatzes: Der systematische Ort der Moral sind die Rahmenbedingungen des Handelns.728 Sein ethischer Ansatz sieht sich in erster Linie als Ordnungsethik und weniger als Handlungsethik.729 Wie kann nun festgestellt werden, ob eine spezifische Norm implementierbar ist oder nicht? Die Implementierbarkeit hängt in Dilemmasituationen wie beschrieben davon ab, ob sie den Betroffenen keine systematischen Nachteile bringt, was diese im Rahmen ihrer individuellen Vorteils-/Nachteilskalkulation prüfen. Moralische Normen werden dabei in die jeweilige Kommunikationslogik der Funktionssysteme, in der die Betroffenen jeweils agieren, übersetzt. Diese Übersetzungsleistung erbringt die Methode des ökonomischen Imperialismus, auf die Homann (1993, S. 44f., und 1995b, S. 5 und 12) in seinem Ansatz verweist. Der ökonomische Imperialismus ist eine Methode der Vorteils-/Nachteils-Kalkulation. Dabei sind es die Akteure, die bestimmen, was die jeweiligen Vor- und Nachteile für sie selbst sind. Die ökonomische Methode ist dabei insoweit „imperialistisch“, als sie auf menschliche Interaktionen in völlig verschiedenen Bereichen angewandt werden kann: auf ökonomische Vorund Nachteile (z.B. im Hinblick auf die Erzielung eines maximalen Gewinns), auf politische (den politischen Machterhalt betreffend) etc. Damit kommuniziert der ökonomische Imperialismus nicht mehr nur in der Sprache der Ökonomie, sondern, je nach Gegenstand, z.B. auch in der Sprache der Politik oder des Rechts. Die hochselektive Fragestellung der Ökonomik ist die effiziente Allokation knapper Güter, die auf die unterschiedlichsten Gegenstände hin übertragen werden kann.730 Ebenso wie der Ansatz von Brennan/Buchanan (1993, S. 65ff.) basiert auch der ökonomische Imperialismus auf dem Handlungsmodell des Homo Oeconomicus. In Dilemma-Situationen kann bereits ein einzelner Defektierer die anderen Betroffenen dazu zwingen, ebenso Defektionsstrategien zu ergreifen731 und sich letztlich so zu verhalten, wie es dieses Handlungsmodell beschreibt:732 als rational handelnde Individuen, die sich egoistisch verhalten, d.h. angesichts bestimmter situativer Nebenbedingungen ihren individuellen Nutzen maximieren. Das
726 727 728 729 730 731 732
Vgl. Homann (1995b), S. 7. und (1998), S. 25f., basierend auf Brennan/Buchanan (1993), S. 20f. Homann (1998), S. 21, Hervorhebungen im Original. Vgl. Homann (1995b), S. 11, (1993), S. 34f., (1998), S. 35 sowie Homann/Blome-Drees (1992), S. 35. Vgl. Homann (1993), S. 34. Vgl. Homann (1993), S. 42ff. sowie (1995b), S. 5 und 12. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 42. Vgl. Homann (1995b), 13ff., sowie ausführlich Homann (1994b). Brennan/Buchanan (1993) S. 80f., weisen hier auf das „Gesham’sche Gesetz der Politik“ hin: In Dilemma-Situationen kann bereits eine Untergruppe, die ihr striktes Eigeninteresse verfolgt, die anderen grundsätzlich intrinsisch motivierten Akteure dazu zwingen, ebenso zu handeln, um sich selbst zu schützen. Auf diese Weise verdängt schlechtes Verhalten das gute.
152
6 Die Ökonomische Ethik von Homann
Modell erweist sich insoweit als sehr flexibel und interdisziplinär, als es diverse Ansätze als situative Bedingungen bzw. Handlungsrestriktionen integrieren kann („erwietertes Restriktionenset“). So braucht das Modell z.B., entgegen der Meinung vieler Kritiker, trotz der beschränkten kognitiven Fähigkeiten der Akteure in komplexen Situationen nicht verworfen zu werden: Die beschränkte Rationalität733 findet als Restriktion der Akteure Eingang in das Modell, angesichts derer sie trotzdem weiterhin danach streben, ihren Nutzen zu maximieren.734 Auch die modernen Gesellschaftsstrukturen, wie sie die Soziologie durch die neuere Systemtheorie beschreibt, können im ökonomischen Imperialismus als Handlungsrestriktionen eingeführt werden.735 In diesem Kontext fungiert der Homo Oeconomicus nicht als Menschenbild, sondern als Heuristik im Sinne eines Analyseinstruments für Dilemmastrukturen. Akteure können moralische Normen auf Dauer nur befolgen, wenn ihnen dies individuelle Vorteile oder zumindest keine Nachteile bringt. Daher – und nur aufgrund dieser Dilemmasituation – ist der Homo Oeconomicus geeignet, um zu prüfen, ob Institutionen wie z.B. moralische Normen resistent sind gegenüber eigennützigem Verhalten, und um die Entstehung von Institutionen aus einem solchen Verhalten heraus zu erklären. Er hilft, die Chancen abzuschätzen, ob Institutionen wie moralische Normen auch auf breiter Front befolgt werden können, d.h. ob sie sich als stabil erweisen. Der Forschungszweck des Homo Oeconomicus ist folglich die komparative Institutionenanalyse.736 Damit kann der ökonomische Imperialismus die Frage beantworten, inwieweit moralische Normen als Institutionen menschlichen Handelns angesichts funktionsspezifischer Systemstrukturen stabil sind – mit anderen Worten: ob bestimmte moralische Normen in die Funktionssysteme, z.B. des Rechts, der Politik oder der Wirtschaft, implementierbar sind. Nach Homann (1993, S. 44f.) ermöglicht diese Methode auf diese Weise die Übersetzung in „Paralleldiskursen“: Sie ist in der Lage, moralische Kommunikation in die spezifischen Codes der Funktionssysteme zu übersetzen, da in allen Teilsystemen der Gesellschaft eine funktionsspezifische Vorteils-/Nachteilskalkulation stattfindet.737 Damit ist der ökonomische Imperialismus allgemein in der Lage, die Frage nach der Implementierung von Sollen im Handeln zu beantworten.738 Da Homann, wie oben beschrieben, Normen auf der Basis individueller Vorteile begründet sieht, ist der ökonomische Imperialismus unter dieser spezifischen moralphilosophischen Voraussetzung auch als Methode zur Begründung von Normen geeignet und damit in der Lage, zusätzlich genuin moralisch zu kommunizieren.739 Die Frage, die schließlich angesichts der geschilderten Zusammenhänge verbleibt, ist die folgende: Welche moralischen Anforderungen können in Dilemmastrukturen noch an die Handlungen von Akteuren gestellt werden? Hierfür greift Homann wiederum auf die Konzeption 733 734 735 736 737 738 739
Bzw. „bounded rationality“ im Sinne von Herbert Simon (1957), (1959), (1978a) und (1981). Vgl. Abschnitt 2.1.2. Vgl. Homann (1998), S. 25f. Vgl. Homann (1993), S. 36, Homann/Blome-Drees (1992), S. 93ff. Vgl. Homann (1998), S. 25. Vgl. Homann (1993), S. 44f. Vgl. Homann (2001b), S. 102. Siehe hierzu ausführlicher die Diskussion in Abschnitt 6.2.3.
6.1 Darstellung der Ökonomischen Ethik
153
„gerechter Regeln“ von Brennen/Buchanan (1993) zurück. Diese basiert ebenfalls, wie im Folgenden deutlich werden wird, auf der Moralphilosophie von Hobbes (1970). Brennan/Buchanan (1993) betonen die zentrale Funktion von Regeln des gesellschaftlichen Handelns. Regeln haben den Zweck, dass Akteure Erwartungen bzgl. der grundsätzlich kontingenten Handlungen Anderer bilden können.740 Diese Erwartungen sind dann berechtigt, wenn alle Akteure diesen Regeln zugestimmt haben. Die freiwillige Zustimmung zu Regeln – der Konsens – kann als Abschluss eines Vertrages interpretiert werden, durch den die Akteure das Versprechen abgeben, sich an die Regeln zu halten. Wenn Akteure trotz ihrer Zustimmung dagegen verstoßen, handeln sie „ungerecht“, denn sie enttäuschen die berechtigten Erwartungen Anderer, was de facto einem Vertragsbruch gleichkommt. „Gerechtigkeit“ bedeutet dann die Erfüllung berechtigter Erwartungen, das Halten von Versprechen, die Einhaltung abgeschlossener Verträge.741 Eine Regel ist, wie gerade angedeutet wurde, dann im Sinne der Gerechtigkeit für das Handeln normativ verbindlich, wenn die betroffenen Akteure ihr explizit oder implizit freiwillig zugestimmt haben. In diesem Fall ist die Regel selber „gerecht“. Darüber hinaus sind Regeln auch dann gerecht, wenn sie in Einklang mit übergeordneten gerechten „Metaregeln“ stehen. Die umfassendste gesellschaftliche Regel ist dabei der Verfassungsvertrag. Dessen Regeln sind so allgemein und langfristig, dass alle Betroffenen ihnen zustimmen können.742 Homann wendet diese Überlegungen auf den Bereich der institutionenökonomischen Konzeption von Spielregeln an und leitet daraus, allgemein formuliert, die folgenden moralischen Forderungen an das Handeln von Akteuren ab:743 x
moralische (d.h. konsensfähige) Regeln zu befolgen, d.h. gerecht zu handeln, und
x
aktiv konsensfähige (pareto-superiore) Regeln zu etablieren, mit denen Akteure nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen betroffenen Akteure besser stellen.
Grundsätzlich fordert Homann (1998, S. 32f.) den Verzicht auf defektive Besserstellung, in der Akteure ihre eigenen Vorteile auf Kosten Anderer maximieren. Diese Regeln wären letztlich instabil, weil sie nicht zustimmungsfähig und damit ungerecht wären. Stattdessen fordert er, dass Akteure sich selbst in einer Weise besser stellen, in der auch Andere besser gestellt sind.744 Dazu gehört die moralische Pflicht von Unternehmen, sich an bestehende Gesetze zu halten, d.h. auf kriminelle Aktivitäten zu verzichten. In den Fällen, in denen die Legalität und die Legitimität unternehmerischen Handelns auseinander fallen, weil die Rahmenbedingungen unvollständig sind, betont Homann (1995b, S. 17) jedoch, dass die Erfüllung der obigen moralischer Forderungen nicht bedeutet, dass die Akteure gegen die situative Anreizlogik, d.h. entgegen dem eigenen Interesse, handeln sollen, selbst wenn dies z.T. auf den ersten 740
741
742 743
744
Hier wird eine interessante Parallele zur neueren Systemtheorie deutlich, laut der sich, wie in Abschnitt 3.2 dargestellt, in komplexen sozialen Systemen Strukturen bzw. Regeln durch Erwartungen bzw. Erwartungserwartungen an die Handlungen von Systemmitgliedern bilden. Vgl. Brennan/Buchanan (1993), S. 128ff. mit Bezug auf Hobbes (1970). Für eine Zusammenfassung dieses Ansatzes siehe Abschnitt 2.3.1. Vgl. Brennan/Buchanan (1993), S. 128ff. Diese Regeln gehen zurück auf Brennan/Buchanan (1993) und Hobbes (1970) und werden von Homann/ Blome-Drees (1992), S. 38f., 51 und 136ff. konkretisiert (siehe die Abschnitte 6.1.2 und 6.1.3). Vgl. Homann (1998), S. 32f.
154
6 Die Ökonomische Ethik von Homann
Blick so aussehen mag.745 Es geht ihm vielmehr darum, dass Akteure auf kurzfristige Vorteile zugunsten (größerer) langfristiger Vorteile verzichten bzw. solche Vorteile vermeiden sollen, mit denen sie die Interessen Anderer verletzen, wenn sie stattdessen auch die Möglichkeit haben, (größere) Vorteile bei gleichzeitiger Rücksichtnahme auf Andere zu erzielen.746 6.1.2
Wirtschaftsethik
Aus den normativen Grundlagen seines Ansatzes, wie sie im vorherigen Abschnitt dargelegt wurden, folgert Homann (1998, S. 35) für seinen Ansatz einer Wirtschaftsethik, dass auch der systematische Ort der Moral in der Marktwirtschaft die Rahmenordnung ist, denn nur so können unerwünschte Dilemmastrukturen in der Wirtschaft überwunden werden. Damit ist auch sein Ansatz der Wirtschaftsethik als Ordnungsethik konzipiert.747 Da die Regeln des Wirtschaftens durch die Politik festgelegt werden, sind dessen moralische Normen in den politischen Rahmenbedingungen verankert. Da jedoch gemäß der neueren Systemtheorie auch die Politiker einem politischen Wettbewerb ausgesetzt sind, ist die dortige Etablierung normativer Regeln darauf angewiesen, dass sie der politischen Anreizlogik, d.h. dem Machtstreben der Politiker, nicht entgegensteht. Ist dies der Fall, dann sind in Anlehnung an Brennan/Buchanan (1993, insbesondere S. 139ff.) die Metaregeln, d.h. die in der Verfassung verankerten Regeln des politischen Wettbewerbs, zu verändern. Die Gestaltung von Rahmenbedingungen folgt damit einer Regelhierarchie, an deren Ende die Vorteile der betroffenen Individuen stehen, von deren Zustimmung letztlich die Gerechtigkeit von Regeln abhängt.748 Die Handlungsethik749, welche auf individuelle Moral bzw. intrinsische Motivation der Akteure angewiesen ist, ist damit im Ansatz Homanns nachrangig, da in modernen Großgesellschaften moralische Vorleistungen Einzelner ausgebeutet werden können. Trotzdem ist sie nach wie vor unverzichtbar, und das aus verschiedenen Gründen: Erstens sind es Individuen, welche die Neu- und Weiterentwicklung moralischer Ideen betreiben, d.h. die Gesellschaft benötigt ihr Engagement als „moralische Innovatoren“.750 Zweitens sollen Individuen, wie in den oben beschriebenen moralischen Forderungen deutlich wurde, pareto-superiore Regeln zu etablieren versuchen und dabei auf Regeln verzichten, mit denen sie sich defektiv, d.h. auf Kosten Anderer, besser stellen. Drittens sollen sich Individuen an gerechte Gesetze halten, auch wenn deren Durchsetzung nicht vollständig gesichert ist. Um diese moralischen Forderungen zu erfüllen, brauchen die Individuen eine moralische Haltung und eine Vorstellung
745 746 747 748 749
750
Vgl. Homann (1995b), S. 17, und Homann/Blome-Drees (1992), S. 51 und 125. Vgl. Homann (1998), S. 32. Vgl. Homann (1993), S. 34. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 64ff., Homann (1995b), S. 38 und (1998), S. 21f. und 36ff. Homann spricht anstatt von Handlungsethik auch von Individual-, Tugend-, Motiv- oder Gesinnungsethik, die im Gegensatz zur Ordnungs-, Institutionen-, Bedingungs-, Anreiz-, System- oder Strukturethik steht. Siehe z.B. Homann (1998), S. 28f. Hier haben nach Homann/Blome-Drees (1992, S. 107) ethische Ansätze wie die Diskursethik oder solche, die sich an der Kantischen Ethik orientieren, u.U. ihre Berechtigung: Wenn sie die moralische Überzeugung engagierter Individuen, auf die die Gesellschaft nicht verzichten kann, stärken.
6.1 Darstellung der Ökonomischen Ethik
155
davon, was die Solidarität aller Menschen heißen kann. Damit ist die individuelle Moral in der Lage, die Evolution der Gesellschaft mit voranzutreiben.751 Insofern ist es nach Homann (1998, S. 22 und 33) legitim, in die moralische Erziehung von Individuen zu investieren. Denn diese sollen im Sinne des Solidaritätsprinzips „richtige“ Werteinstellungen herausbilden, so dass Verletzungen dieses Prinzips Gewissenbisse oder andere innere, informelle Sanktionen hervorrufen. Allerdings ist auch hier eine unabdingbare Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Handlungsethik, dass ihre Befolgung auf die Dauer nicht „zu teuer“ ist, weil sie den situativen Anreizen weitgehend widerspricht und zu häufig ein Verzicht nötig ist. Akteure wären in diesen Fällen überfordert, und ihre moralische Bereitschaft würde durch eine solche Enttäuschung erodieren. Trotz der Tatsache, dass die Handlungsethik als intrinsische Motivation der Individuen auch im Ansatz von Homann unverzichtbar ist, sind wirtschaftliche Handlungen selbst nach wie vor prinzipiell „moralfrei“, denn die moralische Forderung bezieht sich einzig auf die Regelgestaltung.752 Hieraus zeigt sich, dass in Homanns Ansatz der Wirtschaftsethik Moral und Ökonomie bzw. Ethik und Ökonomik grundsätzlich gleichrangig sind, d.h. dass weder der Ökonomie auf Kosten der Moral noch umgekehrt der Moral auf Kosten der Ökonomie prinzipieller Vorrang gebührt. Stattdessen können beide voneinander lernen, indem sich Ethik und Ökonomik gegenseitig Heuristik und Restriktionsanalyse sind:753 Die Ethik stellt als Heuristik andere Funktionssysteme kritisch in Frage und hat damit die Funktion, die Evolutions- bzw. Fortschrittsfähigkeit der Gesellschaft zu erhalten und zu entwickeln.754 So regt sie z.B. in der Ökonomik die Beschäftigung mit moralisch sensiblen Themen wie z.B. dem Umweltschutz an und fördert damit eine entsprechende Theorieentwicklung. Dies führt u.U. auch zu Veränderungen in der Wirtschaft selbst und ihren Rahmenbedingungen.755 Im Fall der Transaktionskostenökonomik führt die Moral sogar zu einer überlegenen Ökonomik, indem sie die Vorteils-/Nachteilskalkulation von Akteuren erweitert und damit in der Lage ist, ökonomische Vorteile zu generieren.756 Gleichzeitig dient die Ethik als Restriktionsanalyse anderer Funktionssysteme, indem sie über die ethische Legitimität von z.B. wirtschaftlichen Handlungen Auskunft gibt und damit auf negative Rückwirkungen wirtschaftlicher Handlungen auf sich selbst aufmerksam macht. So kann z.B. ein Unternehmen, das unter Einsatz von Kinderarbeit kostengünstig produziert, dadurch letztlich wirtschaftliche Einbußen erleiden, weil es die „öffentliche Meinung“, d.h. das moralische Empfinden der Gesellschaft, verletzt.757 Auch die Ökonomik hat ihrerseits die Funktion einer Heuristik für die Ethik, denn sie beantwortet die Fragen der effizienten Verwendung knapper Ressourcen. Damit spiegelt sie der 751 752 753 754 755 756 757
Vgl. Homann (1998), S. 22, 32f. und 40 sowie Homann/Blome-Drees (1992), S. 39ff., 51 und 125. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 40f. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 98ff. Vgl. auch Homann (1998), S. 47 mit Bezug auf Schramm (1997). Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 99 und Homann (1995b), S. 38f. Vgl. Homann (1995b), S. 31. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 100f.
156
6 Die Ökonomische Ethik von Homann
ethischen Diskussion die Problematik der Knappheitsfragen zurück. Eine Ethik, welche die Funktion der Moral für die Gesellschaft auf Dauer sichern möchte, muss bei der Weiterentwicklung ethischer Ansätze diesen ökonomischen Aspekten Rechnung tragen. Damit die Ethik auf diese Weise von anderen Funktionssystemen wie z.B. der Wirtschaft lernen kann, sind die konkreten moralischen Normen kontingent und verändern sich im Zeitablauf mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, für die sie entsprechende Normen zur Überwindung von Dilemmastrukturen liefern soll.758 Dies wird insbesondere in der Funktion der Ökonomik als Restriktionsanalyse für die Ethik deutlich: Denn die Ökonomik beantwortet die Frage, welche Normen in der Ökonomie implementierbar sind und damit nicht nur ethisch begründet, sondern auch etabliert werden können. Eine Ethik braucht damit andere funktionale Reflexionssysteme, um die Implementierungsfrage von Normen und damit die Leistung der Moral für die Gesellschaft nicht aus dem Auge zu verlieren.759 Homann betont auf diese Weise, wie beide funktionalen Teilsysteme, die Ökonomie und die Moral bzw. die Ökonomik und die Ethik, aufeinander angewiesen sind, voneinander lernen und dadurch mehr Komplexität verarbeiten können, d.h. ihre jeweilige Leistung für die Gesellschaft besser zu erfüllen in der Lage sind. Dafür bedarf es seiner Meinung nach einer systematischen Übersetzung moralischer in ökonomische Kommunikation und umgekehrt – mit Hilfe des ökonomischen Imperialismus als Übersetzungsmethode.760 Unter Nutzung der Ethik als Heuristik für die wirtschaftlichen Strukturen hat Adam Smith (1790/1759 und 1904/1776) die marktwirtschaftliche Rahmenordnung auf ihre ethische Legitimität geprüft. In Anlehnung an seine Ausführung folgert Homann761, dass ein marktwirtschaftlicher Wettbewerb, soweit er perfekt ist, d.h. kein „Marktversagen“ vorliegt, ethisch begründet ist,762 da er für die Gesellschaft langfristig allgemeinen Wohlstand schafft:763 „Markt und Wettbewerb sind das beste bisher bekannte Mittel zur Verwirklichung der Solidarität aller Menschen und haben daher im Prinzip eine ethische Rechtfertigung.“764
Die Dilemmastrukturen des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs sind im Prinzip gewünscht,765 so dass die Beteiligten, die Wirtschaftsakteure, diesen Rahmenbedingungen zustimmen können. Daher erfüllen die (perfekten bzw. funktionierenden) marktwirtschaftlichen Regeln
758 759 760 761
762 763
764 765
Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 100f. und in Anlehnung an Homann (1998), S. 28 und (1993), S. 48. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 99ff. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 98ff. So schreibt Homann (1995a, S. 183f.): „Das sog. Adam-Smith-Problem, der vermeintliche Gegensatz von ‚Theory of Moral Sentiments’ und ‚Wealth of Nations’ gilt heute als gelöst: ‚Wealth of Nations’ steht nicht im Gegensatz zur ‚Theory’, sondern gilt als deren Einlösung unter den neuen Bedingungen einer zur Volkswirtschaft zusammenwachsenden Wirtschaft.“ Vgl. Homann (1995a), S. 185 sowie ausführlich Homann (1994a). In Anlehnung an Pies (1993, S. 87) schreibt Homann (1995a, S. 184f.), dass Wettbewerb produktive Kreativität erzwingt, damit einen Prozess der kreativen bzw. schöpferischen Zerstörung im Sinne von Schumpeter (2002, S. 409 und 1942) hervorruft, der trotz mancher Härten zu allgemeinem Wohlstand in der Gesellschaft führt. Homann (1995b), S. 11. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 32ff. und Homann (1995b), S. 8ff.
6.1 Darstellung der Ökonomischen Ethik
157
die Kriterien „gerechter Regeln“ im Sinne von Brennan/Buchanan (1993),766 und Homann (1995a, S. 184) folgert: „Ökonomik ist Ethik mit anderen Mitteln“.
Wenn nun die marktwirtschaftliche Rahmenordnung tatsächlich perfekt wäre, wären Unternehmen prinzipiell moralfrei und es bräuchte keine Unternehmensethik. Die einzigen moralischen Ansprüche, die Homann und Blome-Drees (1992, S. 38f. und 51) in dem Fall an Wirtschaftsakteure, namentlich Unternehmen, stellen, sind die Folgenden: x
die gerechten Regeln der perfekten Marktwirtschaft einzuhalten bzw. sich systemkonform zu verhalten, d.h. auf „unlautere“ Praktiken und kriminelle Aktivitäten zu verzichten, und
x
innerhalb der Regeln die langfristigen Unternehmensgewinne zu maximieren.
Allerdings ist die marktwirtschaftliche Rahmenordnung aufgrund vielfältiger Fälle des Marktversagens nicht perfekt. Daher arbeitet Homann neben seinem Ansatz einer ökonomischen Wirtschaftsethik auch eine, im folgenden Abschnitt dargelegte, Unternehmensethik aus. 6.1.3
Unternehmensethik
Da die marktwirtschaftliche Rahmenordnung nicht perfekt ist, wird nach Homann auch ein Ansatz für eine Unternehmensethik benötigt. Er basiert diesen auf das Theoriegebäude der Neuen Institutionenökonomik, insbesondere der Neuen Organisationsökonomik, die Unternehmen als Netzwerke von Verträgen und zugleich als kollektive Akteure interpretiert.767 Die Verträge, die Unternehmen abschließen, sind grundsätzlich unvollständig.768 Aufgrund dessen besteht die Gefahr opportunistischen Handelns der Vertragspartner, d.h. dass diese u.U. aus Eigeninteresse heraus arglistig handeln.769 Die Ursache hierfür liegt in der Situation, also den Dilemmastrukturen der Handlungsbedingungen, begründet und nicht etwa in den Eigenschaften „listiger“ oder „tückischer“ Akteure.770 Moralisches Handeln wird nun für Unternehmen ökonomisch vorteilhaft, indem die Moral in der Lage ist, durch die Schaffung verlässlicher wechselseitiger Verhaltenserwartungen Transaktionskosten zu sparen. Damit ist moralisches Handeln für Unternehmen von zentraler Bedeutung.771 Daraus schließt Homann (1995b, S. 17) für seinen Ansatz, dass Unternehmen zwar nach wie vor prinzipiell moralfrei sind, allerdings mit Ausnahme des Vorliegens unvollständiger Verträge. Wären Verträge im Sinne der neoklassischen Theorie vollständig, d.h. dass vertragliche Leistungen und Gegenleistungen zweifelsfrei bestimmt und vor Gericht durchgesetzt werden könnten, gäbe es für moralisches Handeln von Unternehmen weder Raum noch Bedarf.
766
767 768 769 770 771
Zur ethischen Begründung des marktwirtschaftlichen Wettbewerb siehe auch Homann/Blome-Drees (1992), S. 47ff. Vgl. Homann (1995b), S. 33 unter Verweis auf Wolff (1994) und Vanberg (1982). Vgl. Homann (1995b), S. 17f. Zur Definition von Opportunismus vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 178f. Vgl. Homann/Suchanek (2000), S. 428f. Vgl. Homann (1998), S. 38.
158
6 Die Ökonomische Ethik von Homann
In den Fällen unvollständiger Verträge müssen sich Unternehmen jedoch gegen opportunistisches Verhalten schützen und etablieren die Moral wiederum in den Handlungsbedingungen, allerdings in diesem Fall auf einer nicht-staatlichen Ebene: „Wegen grundsätzlicher Ausbeutbarkeit werden – über den formellen, gerichtlich durchsetzbaren Teil hinaus – auch hier ökonomische Sicherungen eingebaut – wenn auch im moralischen Gewand: Pfänder werden hinterlegt, Reputation und Unternehmenskultur werden geschaffen, Unternehmensverfassungen werden in Kraft gesetzt, die Partner räumen sich wechselseitig Einflußrechte ein (Mitbestimmung), und individuelle sowie kollektive (öffentliche) Selbstverpflichtungen werden eingegangen. All diese Maßnahmen lassen sich als Schaffung neuer Handlungsbedingungen interpretieren, die das opportunistische Abweichen vom langfristig und sozial erwünschten Kurs (…) unattraktiv machen sollen. Wiederum kommt Normativität, kommt Moral über die Ebene der Bedingungen ins Spiel, jetzt freilich von Bedingungen, die aber nicht staatlich gesetzt, sondern kollektiv oder sogar individuell geschaffen werden.“772
Moralisches Handeln von Unternehmen ist daher nach Homann (1998, S. 37) nur darum erforderlich, weil Verträge unvollständig sind. Er führt daraufhin verschiedene Typen unvollständiger Verträge auf und weist auf die jeweilige Bedeutung der Moral hin. Die beiden wesentlichen Typen, für die moralisches Handeln von Unternehmen zentral ist, sind dabei Defizite in der Rahmenordnung und implizite Verträge:773 Defizite der Rahmenordnung sind nach Homann (1995b, S. 19ff.) noch nicht geregelte Probleme bzw. Kontrolldefizite, deren Behebung im Prinzip erwünscht ist. Da aufgrund dieser Defizite Unternehmen mit moralischen Forderungen konfrontiert werden, gleichzeitig aber im Wettbewerb bestehen müssen, fordert er von Unternehmen, die folgenden normativen Strategien zu verfolgen:774 x
Ordnungspolitische Strategie: Gestaltung geeigneter gesellschaftlicher Regeln, d.h. eine Mitgestaltung der Ordnungspolitik (Politik und Recht) und das Abschließen von Branchenabkommen.
x
Wettbewerbsstrategie: Erzielung von Gewinnen durch Moral bzw. trotz Moral.775 Dies kommt einer legitimen Anwendung des Gewinnprinzips gleich, indem z.B. Marktpotenziale und die gesellschaftliche Legitimität simultan gesichert werden.
Auch diese Strategien bedeuten indessen keine Durchbrechung der ökonomischen Anreizlogik, der Unternehmen ausgesetzt sind. Würde man von Unternehmen im Sinne der Moral verlangen, entgegen ihrer wirtschaftlichen Interessen zu handeln und systematisch Wettbewerbsnachteile in Kauf zu nehmen, würden moralische Unternehmen langfristig aus dem Markt ausscheiden.776 772 773 774 775
776
Homann (1998), S. 38, Hervorhebungen im Original, Fußnote weggelassen. Vgl. Homann (1995b), S. 19ff. Zu den Strategien siehe auch Homann/Blome-Drees (1992), S. 136ff. Homann/Blome-Drees (1992, S. 136) sprechen hier von einer „Harmonisierung moralischer und wirtschaftlicher Zielgrößen“. Vgl. Homann (1995b), S. 17. Homann (1998, S. 23) räumt zwar ein, dass ein Individuum, z.B. ein Manager, in der Realität durchaus zugunsten moralischer Forderungen ökonomische Nachteile in Kauf nehmen kann. Je nachdem in welcher Situation sich das Unternehmen befindet, kann es eine solche Entscheidung auch überleben. Allerdings gelingt das Überleben nur in Einzelfällen und ist auf kontingente Umstände zurückzuführen. Auf diese Umstände kann jedoch seiner Meinung nach das Paradigma der Theorie nicht systematisch aufbauen. In einer Gesellschaftstheorie kann die ökonomische Logik prinzipiell nicht durchbrochen werden.
6.1 Darstellung der Ökonomischen Ethik
159
Der zweite Typus unvollständiger Verträge, der für moralisches Handeln von Unternehmen zentral ist, ist der eines impliziten Vertrages777. Ein solcher liegt dann vor, wenn vertragliche Leistungen und Gegenleistungen vor Vertragsabschluss nicht hinreichend im Sinne von justiziabel festgelegt und vereinbart werden können, was z.B. bei Arbeitsverträgen der Fall ist. Unvollständige Verträge werden hier von impliziten Verträgen überlagert und beinhalten implizite, d.h. nicht schriftlich fixierte, Vereinbarungen wie „Fairness“ oder „Gerechtigkeit“.778 Trotzdem werden implizite Verträge erfüllt, weil sie selbstdurchsetzend sind, d.h. die Erfüllung im beidseitigen Interesse der Vertragspartner liegt. Die Einhaltung der impliziten Vereinbarungen unter Verzicht auf Opportunismus tritt als moralisches Handeln in Erscheinung und wird auch entsprechend wahrgenommen, macht aber trotzdem ökonomisch Sinn: Moral hat dabei die Funktion, unternehmerisches Handeln zu steuern, und erweist sich dabei als relativ flexibel und anpassungsfähig, was angesichts turbulenter Umwelten für Unternehmen überlebenswichtig ist. So bauen z.B. Unternehmen eine entsprechende Reputation779 als wichtigen Wettbewerbsfaktor auf, wenn diese von den Kunden gut beobachtbar ist, und Mitarbeiter engagieren sich im Sinne der Unternehmenszwecke, weil sie wissen, dass sie sich damit den Arbeitsplatz und Aufstiegschancen sichern können.780 Aber auch im Fall der moralischen Kommunikation angesichts impliziter Verträge gilt, dass sie sich insgesamt langfristig ökonomisch rechnen muss: „Die ökonomische Anreiz-Beitrags-Kalkulation des einzelnen bei seiner Arbeit im Unternehmen muss im Lot sein“781.
So verstehen sich Mitarbeiter im Unternehmen zwar einerseits als moralische Subjekte und sind bereit, sich moralisch zu verhalten. Dies allerdings nur so lange, wie dieses Verhalten anerkannt oder zumindest nicht bestraft wird. D.h. um die Produktivitätsvorteile der Moral als Steuerungsinstrument in einem Unternehmen nutzen zu können, muss sie sich grundsätzlich ökonomisch lohnen, sonst bricht sie zusammen. Nur wenn dies gelingt, kann moralische Steuerung die ökonomische bis zu einem gewissen Grad ersetzen. Ein Unternehmen ist nur dann in der Lage, durch Moral Transaktionskosten zu sparen, wenn die ökonomischen Voraussetzungen dafür erfüllt sind: Intrinsische Motivation bzw. Moral müssen sich im Wettbewerb als relativ ausbeutungsfest erweisen.782 Wird Moral im Sinne intrinsischer Motivation als Steuerungsgröße genutzt, wird im Unternehmen „Moralkapital“ aufgebaut. Dies hat jedoch die Eigenschaft, dass es einerseits langwierig aufgebaut wird, andererseits aber schnell verzehrt ist. Daher nimmt ein Unternehmen, wenn es sich z.B. eine entsprechende Reputation als ökologisches Vorzeigeunternehmen aufgebaut hat, aus langfristigem ökonomischem Kalkül bei einzelnen Entscheidungen ökonomische Nachteile in Kauf. Anstatt also bei jeder einzelnen Entscheidung gemäß der ökonomischen Vorteils-/Nachteilskalkulation zu handeln, wird global gerechnet.783 Intrinsische Moti777 778 779 780 781 782 783
Siehe Azariadis (1987) sowie die Ausführungen zur Ökonomischen Vertragstheorie in Abschnitt 2.3.1. Vgl. Homann (1995b), S. 22f. Siehe Kreps (1990). Vgl. Homann (1995b), S. 23ff. Homann (1995b), S. 25. Vgl. Homann (1995b), S. 24ff. Vgl. Homann (1995b), S. 24ff.
160
6 Die Ökonomische Ethik von Homann
vation bzw. „Tugenden“ werden bei impliziten Verträgen zu individuellem Humankapital, denn es zeigt, dass Menschen geneigt sind, auf opportunistisches Handeln zu verzichten.784 Unternehmen schaffen sich eine Reputation, Unternehmenskultur und Unternehmensverfassung, gewähren Einflussrechte wie z.B. Mitbestimmungsrechte und gehen Selbstverpflichtungen ein. Damit implementieren sie interne Handlungsbedingungen, die Anreize zu moralischem Handeln setzen.785 Vertrauen wird zu einem Kapitalgut, das in zwischenmenschlichen Beziehungen aufgebaut wird und dazu führt, dass Transaktionskosten gesenkt werden können.786 Das Handeln nach moralischen Normen wird als Maximierung einer langfristigen Nutzenfunktion interpretiert. Und obwohl es dafür keine Marktpreise gibt, werden Faktoren wie Vertrauen, Glaubwürdigkeit, soziale Anerkennung und Moral nun in die ökonomische Kalkulation mit einbezogen. Auch hier kann der ökonomische Imperialismus eine hilfreiche Methode sein, um mit diesen Größen kalkulieren zu können, allerdings ohne exakt rechnen zu können, weil dies zu teuer würde. Trotzdem muss sich Moral auch hier immer insgesamt und langfristig ökonomisch rechnen, weil sie ansonsten erodieren würde.787
6.2
Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik
6.2.1
Die Ökonomische Ethik als umfassender und zweckmäßiger Ansatz
Die wesentliche Stärke des Ansatzes der Ökonomischen Ethik hat Homann (1995b, S. 37, Hervorhebung im Original) selbst treffend ausgedrückt: „Es handelt sich um Fragen der Theoriebildung, und auf solche Fragen kann es naturgemäß nicht die Antwort ‚richtig/falsch’ geben, sondern nur die Antwort ‚zweckmäßig/unzweckmäßig’. Oberste Maxime ist es, eine Theorie zu entwickeln, die die Lösung der Probleme im Spannungsfeld von Ethik und Ökonomik nicht schon von vornherein, durch Anlage der Theorie, unmöglich macht.“
Homann sieht konsequent, wie in Abschnitt 6.1 deutlich wurde, die Ökonomik bzw. Ökonomie und die Ethik bzw. Moral als gleichrangig an und vermeidet es, den einen Bereich auf den anderen zu reduzieren und sie als Gegensätze zu modellieren. Denn eine solche dualistische Problemsicht verlangt nach seinen eigenen Worten von einem Entscheider eine „‚Entscheidung’ zwischen ‚Werten’, und er hat dann nur noch schlechte Optionen: Entscheidet er sich für die Moral und gegen die Wirtschaft, verfällt er der ‚Ohnmacht des Sollens’ (G. W. F. Hegel); dies ist ebenso unattraktiv wie eine kritiklose Anpassung an vermeintliche Sachgesetzlichkeiten, Faktizitäten im umgekehrten Fall einer Entscheidung für die Wirtschaft und gegen die Moral. Es gilt deutlich zu machen, dass diese ‚Entscheidung’ zwischen zwei ‚Werten’ nicht ‚in der Sache selbst’ begründet liegt, sondern einer unzweckmäßigen Problemstellung geschuldet ist“788.
Ein solcher Dualismus löst nach Meinung Homanns (1998, S. 45) die Probleme der Gesellschaft nicht, sondern verschärft sie sogar: Er spaltet die Gesellschaft in zwei Lager, die sich gegenseitig blockieren und damit Problemlösungen und produktive gesellschaftliche Ent784 785 786 787 788
Vgl. Homann (1998), S. 33 und (1995b), S. 25. Vgl. auch Homann (1998), S. 38. Vgl. Ripperger (1998). Vgl. Homann (1995b), S. 26ff. Homann (1998), S. 18f.
6.2 Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik
161
wicklungen verhindern. Demgegenüber hat Homann es geschafft, mit seinem Ansatz die Fragen der Geltung, Anwendung und Begründung von Normen des wirtschaftlichen Handelns nicht nur umfassend, sondern auch zweckmäßig zu beantworten: Sein Ansatz vermag konstruktive Lösungen gesellschaftlicher Probleme im wirtschaftlichen Umfeld aufzuzeigen. Bei der Frage nach der Geltung von Normen arbeitet Homann die Stellung der Moral in der modernen Gesellschaft und insbesondere in Bezug auf die Ökonomik klar heraus. Er modelliert die Ökonomik bzw. Ökonomie und die Ethik bzw. Moral als gegenseitige Heuristik und Restriktionsanalyse und vermag dadurch, die jeweils wesentlichen Funktionen dieser beiden Teilsysteme füreinander und für die Gesellschaft als Ganzes darzustellen. Damit wird es möglich, die Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns von Unternehmen realistisch und konstruktiv zu klären: Er hält erstens an dem normativen Anspruch der Gestaltbarkeit gesellschaftlicher und insbesondere wirtschaftlicher Strukturen fest und arbeitet so die Möglichkeiten moralischen Handelns in der Wirtschaft heraus. Er distanziert sich damit explizit von Luhmann (1988a, S. 340, 1989a, S. 407ff., und 1989b, S. 421ff.), welcher die Moral in der modernen Gesellschaft durch die funktionalen Teilsysteme als weitgehend ersetzt ansieht und ihr lediglich in direkten zwischenmenschlichen Beziehungen und in den Nischen der Teilsysteme eine gewisse (Rand-) Bedeutung zugesteht. Damit sieht es Luhmann (1990b, S. 41) als die wichtigste Aufgabe der Ethik an, vor der Moral zu warnen, denn moralisches Handeln über den sozialen Nahbereich hinaus bedeute ein Rückschritt in der Entwicklung der modernen Gesellschaft.789 Homann (1993, S. 45ff.) weist demgegenüber der Moral eine wichtige Funktion für die Gesellschaft zu: Sie stellt ein dauerhaftes kritisches Potenzial für eine gezielte, d.h. gesollte bzw. gewollte gesellschaftliche Entwicklung. Die moderne Gesellschaft braucht die Moral, um die eigene Fortschritts- oder Evolutionsfähigkeit zu erhalten.790 Dabei liegen moralische Normen auf einer anderen Ebene als die Strukturen der gesellschaftlichen Funktionssysteme,791 die allesamt „auf die Solidarität aller Menschen verpflichtet werden“792 müssten. Neben den Möglichkeiten moralischen Handelns betont Homann zugleich deren Grenzen angesichts moderner Gesellschaftsstrukturen, indem er die Frage nach der Implementierbarkeit von Normen ausarbeitet. Dabei basiert er seinen Ansatz weitestgehend auf Brennan/Buchanan (1993) und die neuere Systemtheorie als positive Gesellschaftstheorie. Er lässt damit das „neoklassische Handlungsmodell“793 intakt und vermeidet es auf diese Weise, moralische Forderungen aufzustellen, die an der Realität scheitern. Stattdessen öffnet er den Blick dafür, wie ökonomische und moralische Vorteile gleichermaßen erzielt werden können: „Moral als Heuristik öffnet verengte Vorteils-/Nachteilskalkulationen und verhilft zu einer besseren, überlegenen Ökonomik, statt eine Durchbrechung der ökonomischen Logik zu verlangen, was einen Unternehmer bzw. Manager in unlösbare Gewissenskonflikte stürzen muß. Unternehmens-
789
790 791 792 793
Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 45 und Homann (1993), S. 41. Zur Stellung der Moral im Ansatz von Luhmann siehe Abschnitt 3.4.2. Siehe auch Homann/Blome-Drees (1992), S. 108. Vgl. Homann (1993), S. 42. Homann/Blome-Drees (1992), S. 45. Homann (1995b), S. 30.
162
6 Die Ökonomische Ethik von Homann ethik zeigt ihm, wie er moralische Intentionen nicht gegen die ökonomische Logik, sondern mit der – ggf. verbesserten – ökonomischen Logik zur Geltung bringen kann.“794
Homann verweist damit die Tugendethik795 in ihre Grenzen: Dauerhaft gegen die situativen Handlungsanreize intrinsisch zu handeln, ist aus moralischer Sicht letztlich kontraproduktiv: Individuen werden überfordert und frustriert, so dass ihre Moral schließlich erodiert, und Unternehmen scheiden mittel- bis langfristig aus dem Wettbewerb aus. Damit tritt eine Inkonsistenz rein tugendethischer Ansätze zutage, denn der Versuch der Erfüllung ihrer moralischen Forderungen führt systematisch zu deren Nichterfüllung.796 Gleichzeitig vermeidet Homann einen Rückschritt der Errungenschaften (insbesondere die außerordentliche Produktivität bzw. Effizienz) der modernen Gesellschaft, wie es z.B. P. Ulrich (1998) letztlich fordert. Die gesellschaftliche Differenzierung zugunsten ethisch legitimer Forderungen zurückzunehmen, wäre nach Homann (1995b, S. 37f.) selbst wieder unmoralisch, da seiner Meinung nach die Marktwirtschaft – bei geeigneten Rahmenbedingungen – selbst ethisch legitimiert ist. Auf diese Weise gelingt es Homann (1995b, S. 37), die Erkenntnisse der positiven Wissenschaften und der klassischen Volkswirtschafts- und Betriebswirtschaftslehre für die Intentionen der Ethik zu nutzen und die Implementationschancen moralischer Normen zu verbessern. Insbesondere die Modellierung der Situationen der Akteure als Gefangenendilemmata erweist sich als hilfreich: Anstatt nach Schuldigen zu suchen, sie anzuprangern und die Gesellschaft zu spalten, verweist diese Problemdarstellung auf die Ursachen, identifiziert Möglichkeiten zu deren Überwindung und trägt damit zur Auflösung der Handlungsblockaden bei.797 Letztlich ist es genau diese pragmatische, auf die Implementierbarkeit von Normen fokussierte Herangehensweise, die den normativen Ansatz von Homann für das anwendungsorientierte neue St. Galler Management-Modell besonders qualifiziert: Sie ermöglicht es Homann, auch die Frage nach der Implementierung von Normen durch Unternehmen zu beantworten und konkrete Handlungsstrategien – namentlich die Wettbewerbsstrategie und die ordnungspolitische Strategie – abzuleiten. Neben den Fragen nach der Geltung und Implementierung von Normen hat Homann auch die Frage nach deren Begründung schlüssig beantwortet. Damit trifft der Vorwurf eines „Reflexionsstopps“, wie ihn P. Ulrich (1998, S. 98ff.) an ethische Ansätze wie z.B. den von Habermas (1991, S. 95f.) richtet, nicht zu: Manche Ansätze, die zwischen den ethischen Fragen der Begründung und Anwendung von Normen unterscheiden, liefern einerseits eine ethische Begründung von Normen, begrenzen deren Anwendung aber anhand des Zumutbarkeitsprinzips, ohne auf die Anwendungsfrage die gleichen Prinzipien wie für die Begründungsfrage anzuwenden. Ist die Befolgung von Normen angesichts situativer Rahmenbedingungen nicht zumutbar, verlieren die Normen damit ihre Gültigkeit. Die jeweiligen Rahmenbedingungen gelten dabei als unumstößlich. Diesem Vorgehen widerspricht P. Ulrich (1998, S. 101) zu Recht, indem er fordert, dass auch die situativen Bedingungen, welche die Implementier794 795
796 797
Homann (1995b), S. 31. Tugendethische Ansätze wie die der traditionellen Ethik und der Diskursethik konzipieren nach Homann/ Blome-Drees (1992, S. 46) moralische Normen als für das Handeln verpflichtend, unabhängig von den situativen Bedingungen, denen die Handelnden gegenüber stehen. So z.B. beim Ansatz der integrativen Wirtschaftsethik von P. Ulrich (1998), siehe hierzu Kapitel 5. Vgl. Homann (1995b), S. 40.
6.2 Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik
163
barkeit der Normen beeinflussen, (diskursiv) ethisch begründet werden müssen. Denn wenn die Rahmenbedingungen als unmoralisch bewertet werden, kann nicht mehr aus der Unzumutbarkeit von Normen zwingend auf ihre Ungültigkeit geschlossen werden. Vielmehr könnte es gefordert sein, die Rahmenbedingungen zu ändern. Auf Homann trifft dieser Vorwurf des „Reflexionsstopps“ indes nicht zu. Er begründet (in Anlehnung an Adam Smith), dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Marktwirtschaft von Grundsatz her – so sie denn geeignet sind – ethisch legitim sind. Damit ist die Anwendung seines Zumutbarkeitsprinzips innerhalb der Marktwirtschaft im moralischen Sinne konsistent: Indem Homann (1993, S. 33) Unternehmen oder Individuen nicht zumutet, zugunsten ethisch legitimer Ansprüche auf Gewinn zu verzichten, argumentiert er auch nicht implizit gegen die grundsätzlich ethisch legitimen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.798 Trotzdem kommt – und insofern ist sein Ansatz in dieser Hinsicht wirklich vollständig – die Tatsache, dass in der Realität die marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht perfekt sind, in seinem Ansatz voll zum Tragen.799 Schließlich sei noch auf eine weitere Stärke des Homann’schen Ansatzes hingewiesen: Im Gegensatz zur Diskursethik erweist sich seine moralphilosophische Fundierung auf Hobbes (1970) und Brennan/Buchanan (1993) als konsistent mit der gesellschaftstheoretischen Basis der neueren Systemtheorie, die auch dem neuen St. Galler Management-Modell zugrunde liegt. Luhmann (1988b, S. 227ff.) begründet, warum es in modernen Gesellschaften nicht mehr möglich ist, in einem diskursiven Prozess, wie die Diskursethik ihn fordert, allgemein verbindliche Normen zu ermitteln: „In der neuen Ordnung [der funktionalen Differenzierung] gibt es keine natürlichen Primate, keine vom Gesamtsystem aus privilegierten Positionen und daher auch keine Position im System, die die Einheit des Systems gegenüber seiner Umwelt zu Geltung bringen könnte.“800
Es gibt in der funktional differenzierten Gesellschaft keinen „privilegierten Ort“ mehr, von dem aus das Ganze – die Gesellschaft insgesamt – repräsentiert werden kann, d.h. von dem aus allgemein gültige und für das Handeln verbindliche Normen ermittelt werden und von dem aus die Gesellschaft und ihre Teilsysteme anhand dieser Normen kritisiert werden könnten. Dies wäre bei zentral organisierten Gesellschaften wie z.B. einer Monarchie u.U. anders.801 Sind indessen, wie im Ansatz von Homann (im Sinne des normativen methodologischen Individualismus von Buchanan (1987, S. 586)), die Individuen als einzige Quelle von Werten modelliert, gibt es auch keine übergreifenden, allgemeinverbindlichen Normen mehr. Stattdessen kann das Ziel der Moral im Sinne Homanns (1995b, S. 5) – die Solidarität Aller802 – durchaus im Einklang damit gesehen werden, was Luhmann (1984a, S. 638ff., bzw. 1977, S. 74) als Alternative zu moralischen Normen und zur Ethik als „Systemrationalität“ bzw. Fähigkeit zur „Reflexion“ bezeichnet:
798 799 800 801 802
Vgl. Homann (1995a), S. 185 sowie ausführlich Homann (1994a). Siehe Abschnitt 6.1.3. Luhmann (1988b), S. 229. Vgl. Luhmann (1988b), S. 227ff. Siehe auch Homann/Blome-Drees (1992), S. 15 und (1998), S. 30.
164
6 Die Ökonomische Ethik von Homann „Ein System erreicht dann Rationalität in dem Maße, als es die Differenz von System und Umwelt in das System wiedereinführt und sich daraufhin nicht an (eigener) Identität, sondern an Differenz orientiert. Gemessen an diesem Kriterium wäre ökologische Rationalität erreicht, wenn die Gesellschaft die Rückwirkungen ihrer Auswirkungen auf die Umwelt auf sich selbst in Rechnung stellen könnte.“803 „Reflexion meint, daß funktional ausdifferenzierte Teile einerseits ihre Identität in ihrer spezifischen Funktion finden und insoweit unabhängig variieren; daß sie andererseits sich selbst zugleich als adäquate Umwelt anderer Teilsysteme begreifen lernen und die daraus folgenden Restriktionen und Abstimmungszwänge in das eigene Entscheidungskalkül einbauen und dabei ‚das selektive Akkordieren ihrer Eigenselektivität unter Einbeziehung derjenigen des jeweils anderen Systems lernen.’ (Luhmann (1977), S. 74).“804
Damit spricht auch Luhmann (1977, S. 74) von einer freiwilligen Selbstbeschränkung der Kontingenz gesellschaftlicher Teilsysteme mit dem Ziel, die eigene Autopoiesis auf Dauer erhalten zu können – oder im Sinne Homanns, Buchanans und Hobbes: Das eigene Handeln an Regeln zu binden, um gemeinsam Kooperationsgewinne zu erzielen. Neben den geschilderten Stärken, welche die Eignung der Ökonomischen Ethik für das neue St. Galler Management-Modell aufzeigen, weist der Ansatz von Homann auch verschiedene Schwächen bzw. Unklarheiten auf, wie sie in den folgenden Abschnitten behandelt werden: Ist der systematische Ort der Moral wirklich die Rahmenordnung? Ist die Moral ein eigenständiges Funktionssystem der Gesellschaft? 6.2.2
Sind Unternehmen prinzipielle Orte der Moral?
Was sind die prinzipiellen Orte der Moral? Homann und Blome-Drees (1992) gingen bei der Beantwortung dieser Frage zunächst von einer rein neoklassischen Sicht des Unternehmens aus, die Erkenntnisse der Neuen Institutionenökonomik integrierte Homann (1995b) erst später. Diese Integration scheint jedoch nicht vollständig gelungen, denn die Erkenntnisse der Neuen Institutionenökonomik erfordern weiter reichende Erweiterungen bzw. Revisionen der Ökonomischen Ethik, als Homann selbst sie vollzogen hat. Denn diese neuen Theoriegrundlagen werfen die folgenden Fragen auf: x
Sind Unternehmen tatsächlich prinzipiell moralfrei?
x
Ist die Tugendethik wirklich nachrangig?
x
Ist moralisches Handeln von Unternehmen nur aufgrund unvollständiger Verträge nötig?
x
Wie funktioniert die moralische Kommunikation in Unternehmen?
Sind Unternehmen prinzipiell moralfrei? Homann (1995b, S. 17) hält nach wie vor an seiner grundlegenden These fest, dass Unternehmen im Prinzip (bei einer geeigneten Rahmenordnung) „moralfrei“ seien:
803 804
Luhmann (1988b), S. 246f. Willke (1987), S. 154, Hervorhebung im Original.
6.2 Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik
165
„Wirtschaftliche Austauschbeziehungen werden durch Verträge geregelt. Dabei wird in der neoklassischen Theorie unterstellt, diese Verträge seien vollständig (…). Die bisherige Argumentation in diesem Beitrag hat implizit diese Auffassung von Verträgen inklusive der Rechts- und Rahmenordnungsverträge benutzt und kam folgerichtig zu dem Resultat, daß für eigenständige moralische Anstrengungen von Unternehmen kein Raum und kein Bedarf bestehe.“805
Diese Aussagen machen in einem Beitrag von Homann (1995b), in dem er die Neue Institutionenökonomik in seinen Ansatz integriert hat, jedoch keinen Sinn mehr: Selbst, wenn die Rahmenordnung von Unternehmen perfekt sein sollte, kann nach Akzeptanz der Aussagen der Transaktionskostenökonomik die These der Moralfreiheit von Unternehmen nicht mehr aufrecht erhalten werden, denn bei vollständigen Verträgen gäbe es gar keine Unternehmen. Es werden nur darum wirtschaftliche Transaktionen nicht über den Markt, sondern über Unternehmen abgewickelt, weil Verträge unvollständig sind. Denn (nur) hier haben diese gegenüber dem Markt ihren komparativen Vorteil in Form geringerer Transaktionskosten.806 Und weil Verträge laut Homann (1998, S. 37) prinzipiell und im Sinne der Transaktionskostentheorie in Unternehmen logisch zwingend unvollständig sind, braucht es im Unternehmen aus wirtschaftlichen Gründen immer die Moral als Steuerungsinstrument. Daher stellt sich die Frage: Sind Unternehmen tatsächlich prinzipiell moralfrei? Sind sie nicht vielmehr grundsätzlich Orte der Moral? Ein ähnlicher Widerspruch tritt bereits vorher im Ansatz von Homann/Blome-Drees (1992) zutage, in den die Neue Institutionsökonomik noch nicht integriert war. Hier schreiben sie, dass Unternehmen bei einer geeigneten Rahmenordnung im Prinzip moralfrei handeln. Trotzdem aber – und dies ist ein Widerspruch – sollen sie die folgenden moralischen Anforderungen erfüllen: Erstens die Regeln der Rahmenordnung befolgen, d.h. auf „unlautere“ Praktiken und kriminelle Aktivitäten verzichten, und zweitens innerhalb der Regeln ihre langfristigen Gewinne maximieren.807 Wenn aber die Rahmenordnung, wie hier angenommen, tatsächlich geeignet ist, gibt es keinen Raum für opportunistisches (z.B. kriminelles) unternehmerisches Handeln, denn geeignete Rahmenbedingungen enthalten grundsätzlich auch wirksame Sanktionsmechanismen, mit denen regelwidriges Verhalten effektiv unterbunden werden kann. Dies führt dazu, dass Unternehmen ihren eigenen Vorteil maximieren, indem sie die Regeln befolgen. Dies gilt so im Prinzip auch für die zweite Forderung, dass Unternehmen innerhalb der Regeln ihre langfristigen Gewinne maximieren sollen. Bei geeigneten Rahmenbedingungen würden Unternehmen dies bereits aus Eigeninteresse heraus tun. Die moralischen Forderungen sind damit bei einer geeigneten Rahmenordnung überflüssig. Die Konzeption „gerechter Regeln“ von Brennan/ Buchanan (1993), auf der die genannten Forderungen Homanns basieren, geht selber systematisch von Dilemmastrukturen aus, d.h. von Situationen, in denen die Regeln unternehmerischen Handelns einer für alle Beteiligten vorteilhaften Kooperation entgegen stehen; Situationen, in denen die Rahmenbedingungen des Handelns systematisch nicht geeignet sind.
805 806 807
Homann (1995b), S. 17. Vgl. Abschnitt 2.2. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 38f. und 51.
166
6 Die Ökonomische Ethik von Homann
Moralisches Handeln von Unternehmen aufgrund unvollständiger Rahmenbedingungen Eine weitere Inkonsistenz im Ansatz der Ökonomischen Ethik von Homann zeigt sich beim Hinterfragen einer weiteren zentralen These: Handeln Unternehmen tatsächlich nur aufgrund unvollständiger Verträge moralisch? Homann (1998, S. 37) schreibt: „‚Unternehmensethik’ (…) kommt über den Gedanken der unvollständigen Verträge in meinen Ansatz hinein. Wenn die Interaktionen durch in jeder Hinsicht vollständige Verträge geregelt wären, brauchten wir eine Unternehmensethik ebenso wenig wie viele andere Arrangements zur Absicherung von Verträgen; sogar Ethik allgemein wäre überflüssig.“
Dementsprechend ordnet Homann (1995b, S. 19ff.) Defizite in der Rahmenordnung als einen Typus unvollständiger Verträge ein, bei dessen Vorliegen er von Unternehmen Wettbewerbsund ordnungspolitische Strategien fordert. Es gibt sicherlich Fälle, in denen die Unvollständigkeit von Verträgen mit einer defizitären Rahmenordnung zusammenhängt, z.B. wenn ein Gerichtswesen nicht effektiv funktioniert, so dass abgeschlossene Verträge nicht vollständig durchgesetzt werden können. Allerdings weist die Property-Rights-Theorie, die von vollständigen Verträgen ausgeht, auf weitere ungeeignete Rahmenbedingungen hin. So führen z.B. fehlende Eigentumsrechte an ökologischen Ressourcen zu externen Effekten – es kommt zu Ressourcenverschwendung und Wohlfahrtsverlusten.808 Hier macht es trotz vollständiger Verträge Sinn, von Unternehmen eine ordnungspolitische Strategie zu fordern, z.B. indem sie sich für die Einführung von Öko-Steuern oder eines Handelssystems von Nutzungsrechten an der Ressource einsetzen. Vielleicht könnte man in diesem Fall entgegen der Definitionen der Neuen Institutionenökonomik von einem unvollständigen Rahmenordnungsvertrag sprechen; Homann (1995b, S. 17) selbst schließt in seinen Vertragsbegriff Rechts- und Rahmenordnungsverträge in Anlehnung an Hobbes (1970) explizit mit ein. Dann wäre allerdings seine Definition von unvollständigen Verträgen wenige Sätze später, die sich auf wirtschaftliche Verträge im Sinne der Neuen Institutionenökonomik bezieht, nicht mehr zutreffend: „Es handelt sich [bei unvollständigen Verträgen] um Verträge, die komplex, kontingent und langfristig sind und – in Verbindung mit Informations- und Transaktionskosten – nicht alle während der vorgesehenen Vertragsdauer auftretenden Eventualitäten verzeichnen: In diesem Sinne sind sie systematisch unvollständig. Die Unvollständigkeit gilt besonders hinsichtlich des ‚state of the world’ sowie der Qualität von – multidimensionaler – Leistung und Gegenleistung. Sie sind unvollständig, weil ihre Vollständigkeit viel zu hohe Transaktionskosten erfordern würde. Sie sind daher auch kaum vor Gerichten justiziabel zu machen“809.
Dass z.B. negative externe Effekte nicht internalisiert sind, hat weder etwas mit Informationsund Transaktionskosten zu tun, noch ist hier der Rahmenordnungsvertrag systematisch unvollständig. Ihre Unvollständigkeit kommt z.B. dadurch zustande, dass ökologische Ressourcen knapp werden, was vorher nicht der Fall war oder von der Gesellschaft so nicht erkannt wurde, und dass diese Ressourcen nicht effizient genutzt werden, weil definierte und garantierte Eigentumsrechte fehlen. Diese können jedoch z.B. im klassischen Fall der AlmendeRessourcen, den mittelalterlichen Weideflächen, an Privatpersonen oder im Fall ökologischer Ressourcen z.B. durch einen Zertifikatehandel an den Staat vergeben werden. Die Vervoll-
808 809
Siehe Abschnitt 2.3.2. Homann (1995b), S. 17f., Fußnote weggelassen.
6.2 Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik
167
ständigung des gesellschaftlichen Rahmenvertrages ist zwar mit Transaktionskosten verbunden, aber dennoch grundsätzlich möglich und auch rechtlich (weitgehend) durchsetzbar. Folglich müsste Homann entweder eine eigene, von der Neuen Institutionenökonomik abweichende, Definition unvollständiger Verträge aufstellen und damit auch die Ansätze der Neuen Institutionenökonomik entsprechend uminterpretieren. Das hieße beispielsweise, die Aussagen der Property-Rights-Theorie als Fall unvollständiger Rahmenverträge zu fassen und die Aussagen des Governancekosten-Ansatzes auf einen Teilbereich unvollständiger Verträge zu beschränken. Die andere, vermutlich näher liegende Variante ist, Defizite in der Rahmenordnung und die Forderung nach Wettbewerbs- und ordnungspolitischen Strategien nicht mit dem Begriff des unvollständigen Vertrages in Verbindung zu bringen. Stattdessen erscheint es sinnvoller, unvollständige Verträge als Unterfall einer defizitären Rahmenordnung zu betrachten. Die Vertragstheorie, die in die Neue Institutionenökonomik eingegangen ist, führt die Unvollständigkeit von Verträgen auf Rechtsversagen zurück.810 Des Weiteren leitet Homann die verschiedenen Möglichkeiten moralischen Handelns (das Einhalten von Regeln, z.B. Gesetze oder implizite Verträge, oder das Schaffen gerechter Regeln), von dem Ansatz gerechter Regeln von Brennan/Buchanan (1993) ab. Dieser basiert systematisch auf Gefangenendilemma-Situationen, d.h. auf Situationen, in denen die Rahmenbedingungen suboptimale Handlungsergebnisse verursachen. Infolgedessen liegt es nahe zu argumentieren, dass Unternehmen nur und einzig im Fall unvollständiger Rahmenordnungen moralisch handeln. Unternehmensethik beruht also nicht, wie Homann (1998, S. 37) dies schreibt, grundsätzlich auf der Existenz unvollständiger Verträge, sondern vielmehr auf Defiziten in der Rahmenordnung.811 Hier sind Unternehmen gefordert, im Rahmen der ordnungspolitischen Strategien diese Defizite soweit als möglich zu beheben, z.B. durch Lobbying zugunsten umweltpolitischer Maßnahmen im Fall negativer externer Effekte. Ist dies nicht möglich, sollen Unternehmen versuchen, mit oder trotz Moral erfolgreich zu wirtschaften: in Form der Wettbewerbsstrategie oder, im Fall unvollständiger Verträge, indem sie eine Reputation dafür aufbauen, implizite Verträge einzuhalten. Im Fall unvollständiger Verträge ist es im Übrigen nicht nur unmöglich, sondern aus Effizienzgründen gar nicht erwünscht, das Rechtsversagen zu beheben.812 Hier wird deutlich, was sich auch in den weiteren kritischen Auseinandersetzungen mit der Ökonomischen Ethik immer wieder zeigt: Homann unterscheidet nicht explizit zwischen moralischem Handeln von Unternehmen aus moralischen Gründen in Form von Wettbewerbsund ordnungspolitischer Strategien und einem moralischen Handeln aus wirtschaftlichen Gründen, um mit Hilfe der Moral als Steuerungsinstrument bei unvollständigen Verträgen Transaktionskosten zu sparen. Eine solche Unterscheidung ist jedoch wichtig, um die theoretischen Erkenntnisse der Neuen Institutionenökonomik für die Ökonomische Ethik systematisch nutzen zu können.
810 811
812
Vgl. Abschnitt 2.1.4. Homann/Blome-Drees (1992, S. 114ff.) selber argumentieren so, allerdings noch vor der Einarbeitung der Neuen Institutionenökonomik in den Ansatz der Ökonomischen Ethik. Vgl. Wieland (1997), S. 46 und 54.
168
6 Die Ökonomische Ethik von Homann
Orte der Moral: interne und externe Regeln unternehmerischen Handelns Wenn Unternehmen nun prinzipiell nicht moralfrei sind, weil ihre Existenz systematisch auf der Unvollständigkeit von Verträgen beruht: Was sind dann die Orte der Moral? Nach Brennan/Buchanan (1993, S. 128ff.), auf die sich Homann beruft, sind die Orte der Gerechtigkeit die Regeln des Handelns, mit dem Ziel, dass Akteure berechtigte Erwartungen an das ansonsten kontingente Handeln Anderer stellen können. Daraus folgern diese mit Bezug auf Hobbes (1970), es sei die moralische Pflicht von Akteuren, sich an gerechte Regeln zu halten.813 Homann greift diese moralische Forderung auf und erweitert sie um die Forderung, die Rahmenbedingungen des Handelns aktiv im moralischen Sinne zu gestalten. Für das unternehmerische Handeln leitet er hieraus die Wettbewerbs- und ordnungspolitische Strategie ab. Damit grenzt er die Forderung nach einer Regelgestaltung auf die politischen, rechtlichen und branchenpolitischen Regeln des Unternehmens ein.814 Aber macht diese Eingrenzung Sinn? Nachdem Homann die Überlegungen von Brennan/ Buchanan (1993) auf die Neue Institutionenökonomik anwendet, liegt es nahe zu fragen: Was sind die Regeln bzw. Institutionen unternehmerischen Handelns gemäß der Neuen Institutionenökonomik? Homann und Blome-Drees (1992, S. 23) selbst fassen den Begriff der Rahmenordnung zunächst relativ weit und verstehen darunter „allgemeine, (relativ) dauerhafte Regeln für das Handeln. (…) Für die moderne Wirtschaft sind dies insbesondere: Verfassung, Gesetze, (…) Unternehmensverfassung, ferner die Haftungsregeln, schließlich bestimmte moralische und kulturelle Verhaltensstandards.“
Nach Erlei/Leschke/Sauerland (1999, S. 23) schließt auch die Neue Institutionenökonomik formelle und informelle Regeln in den Institutionenbegriff mit ein, wobei auch Organisationen Regeln bzw. Regelsysteme beinhalten. Im Einzelnen sind die verschiedenen Arten von Institutionen u.a. x
Naturgesetze und nicht erneuerbares, gegebenes Ressourcenpotenzial,
x
die Kultur bzw. informellen Regeln einer Gesellschaft (z.B. informelle Verhaltensregeln, Sprachen, Religionen, gemeinsame Geschichte),
x
formelle Regeln, d.h. die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Verfassung,
x
die variable Faktorausstattung einer Gesellschaft, welche das Grundlagenwissen einer Gesellschaft, ihre technologische und organisatorische Infrastruktur und auch das Bildungssystem umfasst,
x
die Regeln der Wirtschafts- und Sozialpolitik, welche die Regeln des Marktes festlegen und öffentliche Güter wie Infrastruktur bereitstellen, sowie
x
das Marktsystem als Menge aller Märkte in einer Gesellschaft inklusive der Unternehmen (z.B. deren Aufbauorganisation), Marktinstitutionen etc.815
Diese Aufzählung verschiedener Regeln unternehmerischen Handelns verdeutlicht, dass neben den ordnungspolitischen Rahmenbedingungen (Politik und Recht) auch materielle (wie
813 814 815
Vgl. Abschnitt 2.3.1. Vgl. Homann (1995b), S. 20f. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 25ff.
6.2 Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik
169
ein gegebenes Ressourcenpotenzial und die technologische Faktorausstattung der Gesellschaft), kulturelle Rahmenbedingungen, die Wirtschaft und andere Unternehmen (Wettbewerber) zu den Regeln unternehmerischen Handelns gehören, ebenso wie die Regeln in Unternehmen selbst. Diese unternehmensinternen Regeln sind nichts anderes als die Ordnungsmomente der Strategie, Struktur und Kultur im Sinne des neuen St. Galler ManagementModells.816 Ein Blick auf die weiteren metatheoretischen Grundlagen der neueren Systemtheorie weist darüber hinaus auf weitere wesentliche Rahmenbedingungen des Unternehmens hin: die Individuen im Sinne von Bewusstseinssystemen, die als Mitglieder im Unternehmen mitarbeiten. Sie bilden ein wesentliches Umfeld des Unternehmens.817 Erweiterte moralische Handlungsstrategien: Moralisches Handeln aus moralischen Gründen Es liegt insofern nahe, die Orte der Moral aus Unternehmenssicht zu erweitern und dabei alle unternehmensexternen Regeln bzw. Institutionen unternehmerischen Handelns – die gesellschaftlichen (insbesondere Politik, Recht und Wirtschaft), materiellen, kulturellen Rahmenbedingungen und die Mitglieder des Unternehmens – zu fassen, ebenso wie die unternehmensinternen Regeln – die Ordnungsmomente der Strategie, Struktur und Kultur. Werden nun diesem erweiterten Regelbegriff unternehmerischen Handelns die grundlegenden normativen Forderungen der Regelbefolgung und -gestaltung der Ökonomischen Ethik gegenüber gestellt, zeigt es sich, dass die ordnungspolitischen Strategien und die Wettbewerbsstrategien von Homann und Blome-Drees (1992, S. 136ff.) zu kurz greifen. Stattdessen macht es Sinn, eine umfassende Gestaltung unternehmensexterner und -interner Regeln im Sinne der Moral zu fordern. Die Verankerung der Moral in den ordnungspolitischen Rahmenbedingungen und den Regeln des Marktsystems im Sinne branchenpolitischer Absprachen (Kooperationen mit Wettbewerbern) ist in der ordnungspolitischen Strategie enthalten. Allerdings gibt es auch weitere mögliche Strategien zur Beeinflussung unternehmensexterner gesellschaftlicher Regeln, z.B. durch Aufklärung der Konsumenten oder Marketing für den Umweltschutz, durch umweltschutztechnische Innovationen und die Verringerung des eigenen Ressourcenverbrauchs. Daher sollte die ordnungspolitische Strategie umfassender als Strategie zur Beeinflussung sämtlicher gesellschaftlicher, insbesondere rechtlicher, politischer und marktlicher, sowie materieller Rahmenbedingungen verstanden werden. Eine direkte Gestaltung kultureller Rahmenbedingungen, die für das Unternehmen ebenfalls zentral sind, ist in der Realität nur schwer möglich. Es sind wohl eher die anderen Regeln wie die gesellschaftlichen oder materiellen Gegebenheiten und vor allem die Einstellungen und Kenntnisse der Individuen, die eine gesellschaftliche Kultur indirekt beeinflussen.818 Daher
816 817 818
Siehe Rüegg-Stürm (2002). Vgl. Kapitel 3, insbesondere 3.1.3. So kann bereits eine Unternehmenskultur, die im Gegensatz zur Kultur des gesellschaftlichen Umfeldes immerhin im direkten Einflussbereich des Unternehmens liegt, nur sehr langsam und kaum gezielt verändert werden. Es wird davon ausgegangen, dass eine Beeinflussung der Unternehmenskultur wenn überhaupt dann nur indirekt im Wesentlichen über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie die Strukturen und Strategien des Unternehmens möglich ist. Vgl. Schenk (1997), S. 114. Siehe auch Abschnitt 8.5.5.
170
6 Die Ökonomische Ethik von Homann
wird in dieser Arbeit Abstand von einer Forderung an Unternehmen genommen, in den kulturellen Rahmenbedingungen direkt moralische Normen zu verankern. Eine weitere moralische Strategie, die Homann so nicht erkannt hat, ist die „moralische Bildungsstrategie“. Sie ist darauf gerichtet, die moralische, tugendethische Gesinnung der Unternehmensmitglieder (der Manager, Mitarbeiter und Eigentümer) zu stärken. Es handelt sich dabei gewissermaßen erneut um Regeln, und zwar in den Köpfen der Individuen, z.B. in Form von Gewissensbissen. Das Ziel dabei ist einerseits, die moralische Sensibilität und Handlungsbereitschaft – die moralischen Präferenzen – der Akteure zu stärken, andererseits aber auch die moralische Urteilskraft zu verbessern. Es gilt dabei, ein „Zuviel“ an Moral aufgrund unrealistischer Vorstellungen zu verhindern, mit welcher die Akteure sich selbst schädigen würden. Denn wenn Individuen sich durch ihr moralisches Engagement dauerhaft schädigen, ist damit zu rechnen, dass, mit zunehmender Enttäuschung und Frustration, die moralische Bereitschaft völlig erodieren wird. Mit einer solchen moralischen Bildungsstrategie trägt das Unternehmen dazu bei, die moralische Identität der Akteure zu unterstützen, was dann nicht nur deren moralisches Verhalten im Unternehmen, sondern u.U. auch das in anderen sozialen Systemen, beispielsweise Familien und Vereinen, verbessert. Ein wichtiger Grund für eine entsprechende Erweiterung der moralischen Forderung nach der Gestaltung von Rahmenbedingungen ist die begrenzte Reichweite bzw. recht geringe Effektivität der ordnungspolitischen Strategie. Diese steht im ordnungsethischen Ansatz von Homann im Mittelpunkt, was ihm den Vorwurf eingebracht hat, er würde die Gestaltbarkeit von Rahmenbedingungen zu optimistisch einschätzen.819 So kritisiert z.B. Herms (2002, S. 154f.), dass Homann die Gestaltungsmöglichkeiten durch die Ordnungspolitik überschätzt, seine normativen Forderungen an Unternehmen zu stark eingrenzt und dabei andere wichtige Rahmenbedingungen des Unternehmens übersieht: „[E]rstens erschöpfen sich diese Restriktionen [unternehmerischen Handelns] nicht in den gegebenen sozialen Bedingungen, sondern umfassen stets gleichzeitig auch physische Restriktionen und vor allem psychische; und zweitens ist – gerade nach einer richtigen Grundeinsicht Hayeks – dieses Ganze der sozialen Lage und aller in ihr enthaltenen Handlungsrestriktionen von niemandem ‚geschaffen’, sondern ein für jeden und für alle Einzelnen unverfügbares Produkt der Geschichte oder ‚sozialen Evolution’ (das nicht einmal dann verfügbar wird, wenn man das Gesetz der sozialen Evolution kennt, weil dieses eben besagt, dass die soziale Evolution von Bedingungen abhängt, die sich dem steuernden menschlichen Zugriff entziehen). (…) Nun sind die Möglichkeiten einer governementalen Beeinflussung des Ganzen der soziophysischen Bedingungen des Zusammenlebens prinzipiell äußerst gering. (…) [Es] gilt doch gerade hier Hayeks Einsicht, dass der tatsächliche Gesamteffekt der Planung entzogen bleibt und niemals dem Zugriff einer Zentrale offensteht. Folglich wird jede Politik, die auch nur den Schimmer einer Ahnung von dieser Lage hat, davon Abstand nehmen, hier ‚schöpferische’ Politik zu versuchen. Viel eher wird sie geneigt sein, den Versuch, etwas Neues zu ‚schaffen’, auf dem anderen Gebiet zu unternehmen, nämlich auf dem Gebiet der inneren Fundamente des Vorteilsstrebens. Sie wird versuchen, Einfluss zu nehmen auf die Gütergewissheit und die dadurch festgelegten Strebensgegenstände der Normadressaten.“
Die moralische Bildung von Individuen ist jedoch ebenfalls alles andere als trivial und insofern mit entsprechenden Einschränkungen der Machbarkeit verbunden: Individuen sind autopoietische Systeme, die Bewusstsein prozessieren und damit nur schwer und vor allem
819
So z.B. von Steinmann/Löhr (1995), S. 156f. und Herms (2002), S. 154ff.
6.2 Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik
171
kaum gezielt beeinflussbar sind.820 Trotzdem ist mit der Erweiterung der normativen Unternehmensstrategien auf den Bereich der Bildung und auf weitere Rahmenbedingungen zumindest ein größerer Handlungsradius abgesteckt. Grundsätzlich implementiert das Unternehmen damit die moralische Forderung nach der Befolgung und Gestaltung unternehmensexterner Regeln – der gesellschaftlichen und materiellen Rahmenbedingungen ebenso wie die moralische Bildung der Unternehmensmitglieder – in seinen internen Regeln, den Strategien, Strukturen und der Kultur. Neben der Gestaltung unternehmensexterner Regeln kann von Unternehmen auch moralisch gefordert werden, die internen Regeln der Strategie, Struktur und Kultur „gerecht“ zu gestalten. Dies bedeutet, dass Unternehmen die Moral weitgehend im Unternehmen verankern und dabei gleichzeitig wettbewerbsfähig bleiben, was nichts anderes ist als die Wettbewerbsstrategie, wie Homann (1995b, S. 20f.) sie fordert: die Nutzung von Wettbewerbsvorteilen durch Moral und trotz Moral.821 Die moralische Forderung, gerechte Regeln einzuhalten und z.B. nicht kriminell zu agieren,822 ist in der Wettbewerbsstrategie implizit enthalten. Es soll hier noch einmal der Grundsatz der Ökonomischen Ethik, der auch diesen erweiterten normativen Strategien zugrunde liegt, betont werden: Sämtliche dieser genannten Strategien zur Verankerung der Moral in unternehmensinternen und -externen Regeln kann das Unternehmen nicht gegen die Wettbewerbszwänge durchsetzen. D.h. sie sind allesamt als Investitionen zu interpretieren, die sich für das Unternehmen zumindest langfristig lohnen, oder als die eigene Besserstellung, ohne dass Andere dabei schlechter gestellt werden.823 Darum sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Unternehmens – insbesondere die rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Regeln – nach wie vor die systematischen Orte der Moral. Denn hier können, und dies ist der Grundgedanke der Ordnungsethik von Homann, Anreize für moralisches Handeln wettbewerbsneutral verankert werden.824 Die Gestaltung dieser externen Regeln hat damit Priorität vor der Gestaltung anderer externer und interner Regeln. Dennoch sind Unternehmen ebenfalls unverzichtbare und damit prinzipielle Orte der Moral. Moralisches Handeln aus wirtschaftlichen Gründen Die oben genannten Strategien fordern von Unternehmen ein moralisches Handeln aus rein moralischen Gründen. Die Transaktionskostentheorie weist jedoch darauf hin, dass intrinsische Motivation von Unternehmensmitgliedern bei unvollständigen Verträgen wichtige Steuerungsfunktionen erfüllt, mit denen das Unternehmen Transaktionskosten spart. Die Moral wird dadurch für Unternehmen zu einem bedeutsamen Wettbewerbsparameter.825 Folglich gibt es neben moralischen Gründen, warum Unternehmen moralisch handeln sollen, wirtschaftliche Gründe, warum Unternehmen moralisch handeln müssen.
820 821
822 823 824 825
Vgl. Abschnitt 3.2.2. Homann/Blome-Drees (1992), S. 136, sprechen hier von einer „Harmonisierung moralischer und wirtschaftlicher Zielgrößen“. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 38f. und 51. Vgl. Homann (1998), S. 32. Vgl. Homann (1995b), S. 11, (1993), S. 34f., (1998), S. 35 sowie Homann/Blome-Drees (1992), S. 35. Vgl. Homann (1995b), S. 29ff
172
6 Die Ökonomische Ethik von Homann
Moralische Handlungen im Unternehmen werden grundsätzlich von dessen Mitgliedern ausgeführt. Dies setzt voraus, dass diese Mitglieder moralisch sensibilisiert sind. D.h. auch aus wirtschaftlichen Gründen ist eine moralische Bildung von Mitgliedern – die Stärkung bzw. Schaffung ihrer tugendethischen Gesinnung – im Unternehmen nötig: zur Einsparung von Transaktionskosten aufgrund unvollständiger Verträge, denn die Mitglieder sollen letztlich ihre Versprechen halten, implizite Verträge einzuhalten. Homann (1995b, S. 29) weist zwar im Folgenden auf die Bedeutung der intrinsischen Motivation der Unternehmensmitglieder hin, ohne daraus jedoch Konsequenzen für entsprechende normative Unternehmensstrategien zu ziehen: „Moral im Sinne eines Handelns aus innerer normativer Einstellung bzw. entsprechender, intrinsischer Motivation erfüllt Transaktionskosten sparend wichtige Steuerungsfunktionen in dem weiten Feld der unvollständigen Verträge und/oder spezifischen Investitionen.“
Die intrinsische Motivation der Akteure alleine kann diese Steuerungsfunktion jedoch nicht erfüllen. In Unternehmen kann nur dann moralisch gehandelt werden, wenn die Moral auch in die unternehmensinternen Regeln des Handelns – die Kultur, Strategien und Strukturen – integriert ist. Denn auch für die Mitglieder gilt der Grundsatz: Stehen die Handlungsanreize – hier die unternehmensinternen Regeln – einem Handeln entsprechend einer intrinsischen Motivation entgegen, kann dies von den Handelnden nicht erwartet werden. Sie wären auf Dauer enttäuscht und frustriert, ihre moralische Einstellung würde erodieren und in opportunistisches Handeln umgekehrt werden, was dem Unternehmen u.U. großen wirtschaftlichen Schaden zufügen würde (z.B. durch innere Kündigung und Dienst nach Vorschrift). D.h. es sind im Wesentlichen diese internen Regeln, welche die Anreiz-Beitrags-Kalkulation der Individuen und deren Bereitschaft, moralisch zu handeln, bestimmen. Dieser Aspekt bleibt bei Homann völlig unbenannt. Allgemein gilt: Um mit Hilfe von Moral Transaktionskosten zu sparen, müssen Unternehmen selber ihre Moralbereitschaft, d.h. die eigene Verlässlichkeit bzgl. der Einhaltung vertraglicher Versprechen in unvollständigen Verträgen gegenüber den Vertragspartnern signalisieren. Vertragsadressaten sind dabei nicht nur die Mitglieder, sondern auch andere Anspruchsgruppen wie z.B. Kunden oder Lieferanten. Die Signalisierung der unternehmerischen Moralbereitschaft ist ebenfalls in den unternehmensinternen Regeln der Strategie, Struktur und Kultur – fest zu verankern. Die Implementierung der Moral in die unternehmensinternen Regeln aus wirtschaftlichen Gründen kommt bei Homann (1998, S. 38) im Folgenden zwar implizit zum Ausdruck, wird aber in seinem Ansatz nicht systematisch weiter verfolgt: „Moralische, normative Festlegungen schaffen die Verläßlichkeit wechselseitiger Verhaltenserwartungen, die für gedeihliche Interaktionen benötigt wird. (…) Wegen grundsätzlicher Ausbeutbarkeit werden – über den formellen, gerichtlich durchsetzbaren Teil hinaus – auch hier ökonomische Sicherungen eingebaut – wenn auch im moralischen Gewand (…) All diese Maßnahmen lassen sich als Schaffung neuer Handlungsbedingungen interpretieren, die das opportunistische Abweichen vom langfristig und sozial erwünschten Kurs (…) unattraktiv machen sollen. Wiederum kommt Normativität, kommt Moral über die Ebene der Bedingungen ins Spiel, jetzt freilich von Bedingungen, die aber nicht staatlich gesetzt, sondern kollektiv oder sogar individuell geschaffen werden.“826
826
Homann (1998), S. 38, Hervorhebungen im Original, Fußnote weggelassen.
6.2 Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik
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Folglich sind die Strategie, Struktur und Kultur des Unternehmens ebenso wie die Unternehmensmitglieder aus wirtschaftlichen Gründen Orte der Moral. Hier muss das Unternehmen die Moral verankern, um im Wettbewerb bestehen zu können. Dabei gibt es hier, im Gegensatz zu den oben genannten moralischen Unternehmensstrategien aus moralischen Gründen, keine prioritären (und damit systematischen) Orte der Moral. Denn ein moralisches Handeln von Mitgliedern im Unternehmen bedarf neben einer ethischen Gesinnung der Mitarbeiter immer gleichzeitig einer Verankerung der Moral in den internen Regeln des Unternehmens, wie die Governanceethik von Wieland827 verdeutlichen wird. Was sind die Gesetzmäßigkeiten moralischer Kommunikation in Unternehmen? Ein weiterer Aspekt, der bei Homann zwar angedeutet, aber nicht systematisch ausgearbeitet wird, ist die Frage, nach welchen Gesetzmäßigkeiten die moralische Kommunikation in Unternehmen funktioniert. Zwar zeigt er zu Recht auf, dass diese zur Einsparung von Transaktionskosten einer festen ökonomischen Basis bedarf, sich also grundsätzlich langfristig und überschlägig wirtschaftlich lohnen muss.828 Ebenso erwähnt er zentrale Begriffe wie Vertrauen, Reputation, Normen etc., ohne sie jedoch zu definieren und eindeutig in Zusammenhang zueinander zu bringen, wie z.B. im vorherigen direkten Zitat und in den folgenden Äußerungen: „Betrachtet man die Phänomene vom Unternehmen her, so ist es die Reputation, die durch entsprechendes Verhalten aufgebaut und gepflegt wird. Wenn entsprechendes Verhalten gut beobachtbar ist, stellt Aufbau von Reputation eine wichtige Dimension für den Wettbewerb des Unternehmens auf Arbeits- und Produktmärkten dar.“829
Wie ökonomische und moralische Kommunikation zueinander stehen und wie die Verankerung von Moral in den internen Regeln vonstatten geht, bleibt unscharf. Homann stellt zwar wichtige Aspekte der moralischen Kommunikation von Unternehmen und deren Übersetzung in ökonomische Kommunikation heraus, trotzdem fehlt jedoch eine theoretische Fundierung im Sinne einer Kommunikationstheorie von Unternehmen. Die Abgrenzung der Begriffe Moral, Vertrauen, Reputation etc. bleibt unklar, ebenso wie die Frage, wo die erwähnten Normen als Restriktionen verortet werden. Wäre eine solche kommunikationstheoretische Basis gelegt, könnten die Methode der Ökonomik und insbesondere das Konzept der Dilemmastruktur durchaus die von Homann erwähnte überschlägige, langfristige Kalkulation (Übersetzung von Moral in Ökonomie) darstellen. Vertrauen, Moral, Reputation wären in dem Fall endogene Variablen, beschränkte Rationalität z.B. eine exogene Restriktion im Handlungsmodell. Damit könnte das Konzept der Dilemmastruktur den Mechanismus der Übersetzung von Moral in Ökonomie darstellen.
827 828 829
Vgl. Kapitel 7. Vgl. Homann (1995b), S. 26f. Homann (1995b), S. 23f., Hervorhebung im Original, Fußnote weggelassen.
174
6 Die Ökonomische Ethik von Homann
Zusammenfassung Insgesamt wurde in diesem Abschnitt deutlich, dass Homann die Orte der Moral zu stark eingrenzt. Stattdessen gilt, dass sämtliche unternehmensexternen und -internen Regeln bzw. Institutionen unternehmerischen Handelns Orte der Moral sind. Diese sind im Einzelnen: x
die gesellschaftlichen (insbesondere die politischen, rechtlichen und marktlichen) und materiellen Rahmenbedingungen (natürliche Ressourcen und die technologische Infrastruktur). In diesen Regeln soll das Unternehmen die Moral aus moralischen Gründen verankern.
x
die Unternehmensmitglieder. Diese soll und muss das Unternehmen aus moralischen und wirtschaftlichen Gründen moralisch bilden. Die Moral tritt hier als intrinsische Motivation, als Tugendethik, zutage.
x
die internen Regeln, d.h. die Struktur, Kultur und Strategie des Unternehmens. Hier soll und muss das Unternehmen aus moralischen Gründen (in Gestalt der Wettbewerbsstrategie) und aus wirtschaftlichen Gründen (um Transaktionskosten zu sparen) die Moral weitgehend verankern. Auch die Strategien zur Gestaltung unternehmensexterner Rahmenbedingungen einschließlich der Bildungsstrategie sind in den internen Regeln zu verankern.
Das theoretische Konzept der Dilemmastruktur als Beobachtungsschema bzw. Heuristik, welches dem ökonomischen Imperialismus zugrunde liegt, ist dabei eine geeignete Methode, mit der die moralische Kommunikation in ökonomische Kommunikation übersetzt, d.h. die Moral in die Anreiz-Beitrags-Kalkulation der individuellen und korporativen Akteure integriert werden kann. Die Methode dient dabei der Prüfung einer geeigneten Verankerung der Moral (im Sinne einer ausreichenden ökonomischen Fundierung) in den unternehmensinternen und -externen Regeln. Allerdings bleibt nach wie vor die Frage offen, wie die Übersetzung von moralischer in wirtschaftliche Kommunikation und umgekehrt erfolgt und welche Rolle Begriffe wie Reputation und Vertrauen dabei spielen. 6.2.3
Ist die Moral ein Funktionssystem der Gesellschaft?
Wo ist Moral bzw. moralische Kommunikation in der positiven gesellschaftstheoretischen Basis der Ökonomischen Ethik verortet? Ist Moral ein autopoietisches Funktionssystem der Gesellschaft? Welche Stellung hat die Wirtschaft bzw. Ökonomik gegenüber der Moral bzw. Ethik? Hier herrscht eine gewisse Unklarheit in Homanns Ansatz, woraus schließlich Missverständnisse resultieren. Ordnet Homann die Ethik der Ökonomik unter? Es wird Homann, mutmaßlich zu Unrecht, der Vorwurf gemacht, er wolle in seinem Ansatz die Ethik der Ökonomik einverleiben und damit die funktionale Differenzierung der Gesellschaft wieder zurücknehmen.
6.2 Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik
175
So kritisiert z.B. Große Kracht (2002, S. 78) die „Omnipotenz“, welche Homann seiner Meinung nach der Ökonomik einräumt. Den Anspruch Homanns, eine umfassende „ökonomische Theorie der modernen Gesellschaft“830 mit Hilfe des ökonomischen Imperialismus vorzulegen, der im Sinne Beckers (1976, S. 182) den Anspruch erhebt, alle sozialen Beziehungen anhand der Kalküle Knappheit und Nutzen angemessen zu rekonstruieren, kritisiert Große Kracht (2002, S. 78) als ökonomistischen Anspruch. Denn nach Becker (1993/1996 und 1996) findet auch in den Bereichen des Heiratens, des generativen Verhaltens, der Politik, der Bürokratie etc. eine individuelle Vorteils-/Nachteilskalkulation statt.831 Homann, so Große Kracht (2002, S. 78), behaupte, „die philosophische Ethik könne und müsse durch Ökonomik ersetzt werden“ und eine „‚Moralökonomik’ auf der Grundlage von langfristigen eigennutzorientierten Vorteilskalkulationen sei in der Lage, an die Stelle der überlieferten und in der späten Moderne strittig gewordenen Ethiken zu treten.“832 Große Kracht (2002, S. 80f.) gesteht der Ökonomik durchaus eine wichtige Funktion für die Klärung der Implementierbarkeit von Normen zu, während sie bei der Begründung von Normen außen vor bleibt, da die Ethik hierfür eigene Methoden entwickelt hat: „Auf den Wegen zur politischen Moderne haben sich Ethik und Ökonomik in diesem Sinne funktional ausdifferenziert und zu ihrem gegenseitigen Schutz klare Stoppschilder gegeneinander aufgestellt“.833
Diese Stoppschilder der funktionalen Differenzierung zwischen autopoietischen Systemen habe Homann mit seinem Ansatz jedoch nicht respektiert, denn Homann versuche, mit ökonomischen Methoden der Wirtschaftswissenschaften ethische Fragen der Normbegründung zu beantworten: „Es gehört zur unabdingbaren Dignität der ‚Ethik’ als einer ausdifferenzierten wissenschaftlichen Forschungs- und Reflexionsdisziplin, das Monopol in Sachen kognitiv-rationaler Normbegründung zu behaupten (…). So hätte der Diskurs der Ethik den Diskursen der Ökonomik (…) zu sagen, dass die Rationalitätsstandards und Methodiken ‚der’ Wirtschaftswissenschaften keinerlei Kompetenz haben, über ethische Normen zu urteilen, also zu entscheiden, was (…) als gut und böse, als seinsollend und nicht seinsollend gelten darf.“ 834
Auch Wieland (2001b, S. 27f.) erhebt ähnliche Vorwürfe gegen Homann. Nach seiner Interpretation behaupte Homann, „die Anreizkompatibilität moralischer Normen ist selbst Bedingung ihrer moralischen Begründbarkeit (Gültigkeit) (…). Dieser Durchgriff des Implementierungsprozesses auf die Begründungsleistung konstituiert und sichert daher in der philosophischen ‚Wirtschaftsethik mit ökonomischer Methode’ die Einheit von Begründungs- und Implementierungsdiskursen.“
Hiervon grenzt sich Wieland (2001b, S. 28) mit seiner Governanceethik explizit ab: „Die Governanceethik teilt mit diesen Überlegungen das Abstellen auf Vorteils-/Nachteilskalküle und die Hervorhebung der Relevanz institutioneller und organisierter moralsensitiver Anreizstrukturen. Sie siedelt diesen Vorgang jedoch nicht auf der Ebene normativer Begründungen, sondern im Prozess der Anwendung an. (…) Aus der Sicht der Governanceethik liegt im ‚Übersetzungsge-
830 831 832 833 834
Homann/Suchanek (2000), S. 461. Vgl. Homann/Suchanek (2000), S. 5. Große Kracht (2002), S. 79. Große Kracht (2002), S. 81. Große Kracht (2002), S. 82.
176
6 Die Ökonomische Ethik von Homann bot’ der Homannschen Wirtschaftsethik die Tendenz einer Rücknahme gesellschaftlicher Differenzierung mit ihren wechselseitigen Autonomieansprüchen der Funktionssysteme. Träfe diese Annahme zu, dann würde sich daraus eine Inkonsistenz des Homannschen Ansatzes ergeben, der gerade auf der Akzeptanz funktionaler Differenzierung und ihrer Folgen beruht. Zwar wird funktionale Differenzierung im Begriff des Paralleldiskurses akzeptiert, aber durch das Übersetzungsgebot in terms of economics als konstitutiver Begründungsleistung einer philosophischen Ethik wieder zurückgenommen.“
Nach Ansicht Wielands (2001b, S. 27f.) ist daher die Anreizkompatibilität von Normen kein Kriterium für deren Begründung, sondern nur für deren Implementierbarkeit. Die (imperialistische) Ökonomik könne keine Fragen hinsichtlich der Begründung von Moral beantworten. Das Gegenteil zu behaupten, nähme die funktionale Differenzierung der Gesellschaft, die ja selbst als Gesellschaftstheorie der Ökonomischen Ethik zugrunde liegt, teilweise zurück. Auch Herms (2002, S. 141ff.) äußert sich kritisch und hält die Aussagen von Homann, insbesondere dessen zentrale These, die „Ökonomik sei die Fortsetzung der Ethik mit anderen Mitteln“835, zumindest für missverständlich bzw. „uneindeutig“: „Einerseits kann sie gelesen werden als Verortung der Ökonomik in dem älteren und umfassenderen Aufgabenfeld der Ethik, innerhalb dessen der ‚Ökonomik’ zwei besondere (also auch begrenzte) Problemlösungsfunktionen zugesprochen werden. Diese Leseart wird durch all die Passagen nahegelegt, in denen die Ökonomik als Instrument für die Lösung eines besonderen Problems der Ethik aufgefasst wird, nämlich des Problems der Befolgung von Normen, das neben dem Problem der Bestimmung ihres Inhalts seine Selbständigkeit behält und nicht auf das Inhaltsproblem reduziert werden kann. Andererseits aber kann man die These auch als Versuch einer umgekehrten Verortung – nämlich einer Verortung der Ethik im umfassenderen Gesamtrahmen der Ökonomik – auffassen. Dafür sprechen alle Passagen, die der Ethik eine Hilfsfunktion für die Ökonomik zuweisen, nämlich die Hilfsfunktion der Heuristik.“836
Herms (2002, S. 144) interpretiert Homann in der Weise, dass dieser die Verschiedenartigkeit der Probleme der Ethik – die Bestimmung des Inhalts sittlicher Normen sowie ihre Befolgung und Etablierung – implizit als eigenständige Fragen, die nicht aufeinander reduziert werden können, in seinem Ansatz anerkennt. Allerdings bezweifelt Herms (2002, S. 144), dass tatsächlich die imperialistische Ökonomik im Sinne einer Moraltheorie diese drei Probleme ausreichend lösen kann. Ein weiterer Kritiker Homanns, Schramm (2002, S. 172), schließt sich dieser Kritik ebenfalls an. Er hält „Herms‘ Unbehagen an der Tatsache, dass Homann die Ethik schlicht der Ökonomik einverleiben will, [für] durchaus nicht unangebracht. Homanns methodische Fokussierung auf den ökonomischen Implementationsdiskurs wirkt sich faktisch so aus, dass das heuristische Potenzial ethischer Begründungsargumentationen bei ihm kaum über lediglich diffuse Wunschvorstellungen einer besseren, gerechteren Welt hinauskommt. Dies wiederum unterschätzt m.E. die empirische Relevanz der ethischen Begründungsdiskurse.“
Schramm (2002, S. 172f.) hält demgegenüber eine funktionale Arbeitsteilung für angebracht, in der sich Ethiker mit den Fragen der Begründung und Ökonomen mit Fragen der Implementation bzw. Anwendung von Normen beschäftigen.
835 836
Vgl. Homann (2001b). Herms (2002), S. 141f., Fußnoten weggelassen.
6.2 Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik
177
Homann (2001a, S. 46) weist jedoch die Vorwürfe, er würde mit seinem Ansatz die funktionale Differenzierung der Gesellschaft zurücknehmen wollen, zurück. Die imperialistische Ökonomik sei eine Methode, welche die Frage der Implementation von Normen in das Handeln von Funktionssystemen beantworte und dabei in den jeweiligen Leitcodierungen kommunizieren könne. Wo ist die Moral in der Gesellschaft verortet? Es liegt somit nahe, die obigen Kritiken als Missverständnisse zu interpretieren und auf eine unklare Stellung der Moral in Homanns Ansatz und diffuse Begriffsverwendungen zurückzuführen. Bei der Frage nach der Stellung der Moral in der Gesellschaft geht Homann (1993, S. 40f.) davon aus, dass in der Gesellschaft eine moralische Kommunikation existiert, die auf dem Code „gut – böse/schlecht“, „Achtung – Missachtung“ basiert. Trotzdem habe die Moral kein eigenes Teilsystem ausgebildet und sei traditionell an die „Person“ gebunden. Denn es seien Personen, denen Andere mit „Achtung“ oder „Missachtung“ begegneten.837 Soweit folgt Homann den Beschreibungen Luhmanns (1989a), distanziert sich jedoch deutlich davon, dass Moral aufgrund dessen nur noch in zwischenmenschlichen Beziehungen und den Nischen der gesellschaftlichen Teilsysteme eine gewisse Berechtigung habe. Die Moral erfüllt in seinem Ansatz hingegen eine wichtige Funktion: die gesellschaftliche Entwicklung gezielt zu steuern und damit die Fortschritts- oder Evolutionsfähigkeit der Gesellschaft zu erhalten.838 Dabei lokalisiert Homann (1993, S. 42) moralische Normen auf einer anderen Ebene als die der funktionalen Strukturen – aber auf welcher? Einen – wenngleich unklaren – Hinweis hierauf geben seine folgenden Äußerungen: „Ich gehe davon aus, dass die Begriffe ‚Sollen’, ‚Werte’, ‚Pflicht’ in der Ökonomik keinen Platz haben. Einen Platz aber können sie in einem anderen Diskurs haben, auf einer anderen Ebene, auf einer Metaebene, mag man sie als Ebene der Prinzipien (Kant) oder als ‚Beobachtung zweiter Ordnung’ (N. Luhmann) bezeichnen.“839 „Die theoretischen Instrumente, die dieser Problemlage in meinem Konzept Rechnung tragen sollen, sind (1) die ‚Metaebene’, also die relative Zweistufigkeit, und (2) der Gedanke der Normativität als ‚Heuristik’ der positiven Wissenschaft. Daraus folgt keineswegs ein Bedeutungsverlust von Normativität – ein solcher findet nur innerhalb der operativen bzw. der positiv-wissenschaftlichen, also der systemischen Ebene statt –, sondern eher ein Bedeutungszuwachs, auf der jewieligen Metaebene sc., auf der Ebene der Bedingungen, der Verfassungen, und auf der Ebene der Paradigmen positiver Forschung, kantisch gesagt: auf der Ebene der ‚Prinzipien’. ‚Verfassungen’, Sozial- und Denk-Verfassungen, nicht Handlungen, gilt es zu gestalten, und es müssen die geeigneten Paradigmen positiver Forschung entwickelt werden“.840
Es hat also den Anschein, als möchte Homann die Moral auf einer Art Metaebene verorten, die den funktionalen Teilsystemen übergeordnet ist und von der aus eine Beobachtung zweiter Ordnung, d.h. eine Beobachtung der Beobachtungen der Gesellschaft im Sinne einer konstruktiven Kritik derselben, erfolgen soll. Aber wo kann eine solche Metaebene in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ihren Platz haben? Hier sieht sich Homann der gleichen 837 838 839 840
Vgl. Homann (1993), S. 40f., mit Bezug auf Luhmann (1991a), (1998b), (1988b), (1984a), (1980-1989). Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 108 und Homann (1993), S. 45ff. Homann (1998), S. 39f. Homann (1998), S. 44f.
178
6 Die Ökonomische Ethik von Homann
Kritik ausgesetzt, wie sie Luhmann (1988b, S. 249ff.) an der Diskurstheorie übt:841 Einen solchen übergeordneten Ort, aus dem heraus die Gesellschaft von einem moralischen Standpunkt aus kritisiert werden kann, gibt es in der dezentralen modernen Gesellschaft nicht mehr. Und müsste dann nicht, wenn moralische Kommunikation tatsächlich auf einer Metaebene stattfände, die Moral den funktionalen Teilsystemen übergeordnet sein, anstatt gleichrangig neben ihnen zu stehen, wie Homann selbst es gemeinsam mit Blome-Drees (1992, S. 101) an anderer Stelle betont? Unklare Begriffsverwendungen bzgl. der Fragen der Moral Weitere Unklarheiten in Homanns Ansatz bestehen bzgl. seiner Begriffsverwendungen der unterschiedlichen Fragen der Begründung, Geltung und Implementierung der Moral. Homann (2001b, S. 89 und 100) erkennt die Eigenständigkeit der verschiedenen Fragestellungen der Ethik an, verwendet aber die Begrifflichkeiten der Geltung, Gültigkeit, Begründung und des In-Geltung-Setzens von Normen nicht einheitlich, was aus den folgenden Zitaten deutlich wird: „Diesen Gedanken hatte bereits Thomas Hobbes im Sinn, wenn er bei moralischen Normen (…) zwischen zwei Modi von Geltung unterschied: ‚(…) Verpflichtung des Einzelnen zur ernsthaften Suche nach Möglichkeiten der Implementierung der ‚Lawes of Nature’, der als vorteilhaft für alle erkannten moralischen Regeln (..) – sie sind ‚gültig’ (…), ohne schon zum Handeln nach diesen Regeln auch unter eigener systematischer Schlechterstellung zu verpflichten. (…) für das Handeln gelten Regeln erst, wenn die Befolgung durch die anderen (hinreichend) sichergestellt ist.“842 „Gültige Regeln sind verbindlich, aber das In-Geltung-Setzen normativer Regeln ist kontingent“843. „Die Implementation [von Normen] schlägt auf die Geltung durch.“844
In diesen Zitaten fasst Homann unter den Begriff der „Geltung“ von Normen sowohl die Frage nach ihrer Begründbarkeit als auch die nach ihrer Implementierbarkeit. Demgegenüber sind gültige Normen zwar begründet, müssen aber noch nicht notwendigerweise für das Handeln verpflichtend (bzw. implementierbar) sein, d.h. „gelten“. Mit anderen Worten: Auch wenn Normen gültig sind, bleibt das In-Geltung-Setzen kontingent. Diese Unterscheidung scheint jedoch unzweckmäßig, weil sich die Begriffe „gelten“ und „gültig“ stark ähneln. Dies mag der Grund dafür sein, dass Homann selbst diese Begrifflichkeit nicht konsequent durchhält: „Auf diese Weise hängt die normative Gültigkeit von der anreizkompatiblen Implementierbarkeit ab.“845
Im Gegensatz zu den vorherigen Zitaten, in denen Normen als gültig bezeichnet werden, sobald sie das Kriterium der Begründbarkeit erfüllen, benennt Homann hier als weiteres Kriterium für die Gültigkeit die Implementierbarkeit. Normen, welche diese beiden Kriterien erfüllen, hatte er jedoch zuvor als „geltend“ bezeichnet. Mit dieser unklaren Begriffsverwen841 842 843 844 845
Siehe Abschnitt 3.4.2. Homann (2001b), S. 103f., Hervorhebungen nicht im Original, Fußnoten weggelassen. Homann (2001b), S. 45, Hervorhebungen nicht im Original. Homann (1998), S. 26, andere Hervorhebungen im Original. Homann (2001b), S. 40, Hervorhebungen nicht im Original.
6.2 Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik
179
dung hat Homann u.U. die obigen Missverständnisse mit ausgelöst. Um diese zu beseitigen, werden im Folgenden die Begriffe der Geltung und Gültigkeit von Normen als synonym gefasst. Damit wird die Frage nach der Begründung von Normen von der Frage nach ihrer Geltung bzw. Gültigkeit unterschieden, welche von deren Implementierbarkeit in bestimmten Kontexten abhängt. Im Folgenden werden nun die nachstehenden Begrifflichkeiten für die verschiedenen Fragen der Ethik Anwendung finden: x
die Begründung von Normen;
x die Geltung bzw. Gültigkeit von Normen, auch „Problem der Befolgung von Normen“ genannt, die Homann von deren Implementierbarkeit abhängig macht, wobei die Implementierbarkeit dann gegeben ist, wenn eine Etablierung (ein In-Geltung-Setzen) der Normen möglich ist; x die Implementierung von Normen umfasst wiederum die Etablierung (das Setzen von Regeln, welche die Einhaltung der Normen garantieren) und die Befolgung von Normen (das Handeln innerhalb der Regeln). Moral als Funktionssystem der Gesellschaft Nach Beseitigung der begrifflichen Unklarheiten stellt sich nun die Frage, welche Stellung die Moral gemäß dem Ansatz der Ökonomischen Ethik innehat. In dieser Arbeit wird die These vertreten, dass Homanns Beschreibungen bzgl. der Stellung der Moral zur Wirtschaft es nahe legen, die Moral als autopoietisches Funktionssystem der Gesellschaft zu interpretieren. Wie bereits erwähnt, geht Homann (1993, S. 40f.) in Anlehnung an Luhmann (1988b, S. 259f.) davon aus, dass die Moral in einem eigenständigen Code („gut – böse/schlecht“, „Achtung – Missachtung“) kommuniziert und – in Abgrenzung zu Luhmann (u.a. 1993) – eine eigenständige und zentrale Funktion für die Gesellschaft erfüllt: die zielgerichtete Gestaltung der Gesellschaft (mit dem Ziel der Verwirklichung der Solidarität Aller), die unverzichtbar für die Kritik- und Entwicklungsfähigkeit systemischer Strukturen sei.846 Insbesondere für Unternehmen und die Wirtschaft als Ganzes erfüllt die Moral eine zentrale Funktion, indem sie deren Leistungsfähigkeit verbessert: „Moral als Heuristik öffnet verengte Vorteils-/Nachteilskalkulationen und verhilft zu einer besseren, überlegenen Ökonomik, statt eine Durchbrechung der ökonomischen Logik zu verlangen, was einen Unternehmer bzw. Manager in unlösbare Gewissenskonflikte stürzen muß. Unternehmensethik zeigt ihm, wie er moralische Intentionen nicht gegen die ökonomische Logik, sondern mit der – ggf. verbesserten – ökonomischen Logik zur Geltung bringen kann.“847
Gleichzeitig wird die Stellung der Moral gegenüber anderen Funktionssystemen als gleichrangig und eigenständig charakterisiert, während die Teilsysteme als wechselseitige Heuristik und Restriktionsanalysen gleichzeitig aufeinander angewiesen sind:848 „Ethik und Ökonomik sind so aufeinander angewiesen. Sie verarbeiten genau dann mehr Komplexität, wenn sie nicht in der einen oder anderen Richtung aufeinander reduziert werden (…) Das grundlegende Modell im Verhältnis von Ethik und Ökonomik läßt sich kennzeichnen als Überset-
846 847 848
Vgl. Homann (1998), S. 47, und (1993), S. 45ff. Homann (1995b), S. 31. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 98ff.
180
6 Die Ökonomische Ethik von Homann zung unter Aufrechterhaltung, ja Nutzung der Differenz beider Redeweisen. Dies bedeutet, daß es weder eine Dominanz der Ethik über Ökonomik geben kann noch eine Reduktion ethischer Überlegungen auf ökonomische Kalküle.“849
Es empfiehlt sich daher, die Moral als ein autopoietisches funktionales Teilsystem der Gesellschaft zu begreifen. Damit ist moralische Kommunikation nicht mehr auf einer Metaebene verortet, sondern im Moralsystem der Gesellschaft, das anderen funktionalen Teilsystemen weder übergeordnet noch untergeordnet ist und für diese Systeme eine wesentliche Funktion ausübt. Allerdings bleibt die genaue Funktion und Leistung dieses Teilsystems für die Gesellschaft noch unklar. Homanns (1998, S. 47) Beschreibung der Funktion als Sicherung der Fortschritts- und Entwicklungsfähigkeit ist nicht spezifisch genug. Denn letzten Endes erfüllen auch die anderen Funktionssysteme – z.B. die Wirtschaft, indem sie eine effizientere Nutzung knapper Ressourcen fördert, und das Rechtssystem, indem es zwischen Recht und Unrecht entscheidet – dieselbe Funktion. Allein dadurch, dass die verschiedenen Funktionen der gesellschaftlichen Teilsysteme für die Gesellschaft als Ganzes zentral sind und aufgrund der strikten Arbeitsteilung nicht durch andere Funktionssysteme ersetzt werden können, sind die Teilsysteme jeweils für den Fortschritt bzw. die Entwicklung der Gesellschaft nötig. Was sind also die spezifische Funktion und Leistung der Moral für die Gesellschaft? Diese Frage bleibt hier vorerst unbeantwortet und wird erst in Abschnitt 7.1 vollständig geklärt werden können. Für das Konzept der Ökonomischen Ethik kann zunächst festgehalten werden, dass die Interpretation der Moral als autopoietisches gesellschaftliches Funktionssystem zusammen mit eindeutigen Begriffsverwendungen bezüglich der unterschiedlichen Fragen der Moral dabei helfen, die Gedanken Homanns klarer zu fassen. Die Stellung der Ökonomik und der Methode der Ökonomik gegenüber der Ethik Damit kann schließlich auch die Stellung der Ökonomik sowie der Methode der Ökonomik gegenüber anderen Funktionssystemen und ihren Reflexionssystemen – insbesondere der Moral und der Ethik – verdeutlicht werden. Auf diese Weise werden Homanns Ansatz präzisiert und die oben dargestellten Missverständnisse geklärt. Zunächst hat es den Anschein, als bestünde in Homanns Ausführungen tatsächlich eine Inkonsistenz: Einerseits schreibt er gemeinsam mit Blome-Drees (1992, S. 98ff.), dass sich Ethik und Ökonomik nicht aufeinander reduzieren lassen, sondern füreinander eigenständige Funktionen erfüllen, mithin füreinander Heuristiken und Restriktionsanalysen darstellen. Andererseits spricht Homann (2001a, S. 46) davon, dass die Ökonomik auch in den Leitcodes anderer Funktionssysteme als dem der Wirtschaft, z.B. in dem der Moral, kommunizieren kann: „Die moderne Ökonomik verlässt ihren Status als ‚Wirtschaftswissenschaft’ und wird zu einer allgemeinen Theorie menschlichen Verhaltens. (…) Dafür werden die ökonomischen Kategorien aus ihrer Fixierung auf i.e.S. ‚wirtschaftliche’ Größen befreit.“850
Damit wird die Ökonomik zumindest potenziell auch als Methode für andere Wissenschaftssysteme, z.B. die Ethik, nutzbar. Aber wie kann die Ökonomik, wenn sie zugleich eine ethi-
849 850
Homann/Blome-Drees (1992), S. 101, Hervorhebungen im Original. Homann (1993), S. 44.
6.2 Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik
181
sche Methode ist, (zumindest teilweise) für sich selbst eine Heuristik bzw. Restriktionsanalyse sein? Um diese vermeintliche Inkonsistenz als Missverständnis zu entlarven, bedarf es zunächst einer klaren begrifflichen Abgrenzung der Methode der Ökonomik (im Sinne des ökonomischen Imperialismus) von den Reflexionssystemen der Ethik und der Ökonomik. Wenn Homann/Blome-Drees (1992, S. 98ff.) von der Ökonomik und Ethik als gegenseitige Heuristiken und Restriktionsanalysen schreiben, verstehen sie unter dem Begriff der Ökonomik das Reflexionssystem der Ökonomie bzw. Wirtschaft. Damit ist die Ökonomik synonym zur Wirtschaftswissenschaft. Gleichzeitig setzt Homann (z.B. 2001a, S. 46) jedoch den Begriff der Ökonomik oft mit der Methode des ökonomischen Imperialismus gleich, die in den Leitcodes der verschiedenen Funktionssysteme zu kommunizieren in der Lage ist. Um hier eine Klarheit zu schaffen, werden in der vorliegenden Arbeit nun die folgenden Begrifflichkeiten verwendet: die Wirtschaftswissenschaften und die Ökonomik im Sinne des Reflexionssystems der Wirtschaft und die Methode der Ökonomik im Sinne des ökonomischen Imperialismus als eine Methode der Vorteils-Nachteils-Kalkulation. Welche Stellung haben nun die Ökonomik und die Methode der (imperialistischen) Ökonomik gegenüber der Ethik? In der modernen Gesellschaft üben die verschiedenen Teilsysteme, z.B. die Moral und die Wirtschaft, füreinander und für die Gesellschaft als Ganzes ihre jeweiligen Funktionen aus. Dabei besteht in Bezug auf die einzelnen Funktionalitäten eine strikte Arbeitsteilung – die Funktionssysteme sind aufeinander angewiesen und können sich gegenseitig nicht ersetzen. Analog dazu sind auch die Reflexionssysteme, z.B. die Ethik und die Ökonomik bzw. Wirtschaftswissenschaften, einerseits durch ihre Codierungen eigenständig und trennscharf voneinander zu unterscheiden und andererseits gegenseitig funktional: als Heuristiken und Restriktionsanalysen.851 Die Methode der Ökonomik hingegen kann sowohl in der Sprache der Wirtschaft als auch in den Sprachen anderer gesellschaftlicher Funktionssysteme, wie z.B. der Moral, des Rechts etc., kommunizieren. Sie ist für verschiedene Reflexionssysteme funktional, in denen eine Vorteils-/Nachteilskalkulation stattfindet, z.B. für die Wirtschafts-, Rechts- und Politikwissenschaften. Dabei beantwortet sie z.B. folgende Fragen: Bringt eine konkrete Handlung in einer bestimmten Situation, d.h. angesichts bestimmter Restriktionen, (z.B. wirtschaftliche oder politische) Vor- oder Nachteile? Oder: Bringt die gleiche Handlung, wenn die Handlungsbedingungen (Restriktionen) auf bestimmte Art und Weise verändert werden, nach wie vor (wirtschaftliche, politische etc.) Vor- bzw. Nachteile? Von besonderem Interesse ist hier die Problemstellung, welche Fragen der Ethik die Methode der Ökonomik beantworten kann. Unstrittig ist, dass sie in der Lage ist, die Frage nach der Geltung (der Implementierbarkeit) und der Implementierung von Normen zu beantworten. Grundlegend hierfür ist die These von Homann, basierend auf Brennan/Buchanan (1993), dass von Niemandem verlangt werden kann, auf Dauer gegen die eigenen Interessen zu verstoßen: „Dafür kann an die Tradition von T. Hobbes und B. Spinoza angeknüpft werden, aber auch an den alten Grundsatz: Ultra posse nemo obligatur“852.
851 852
In Anlehnung an die Abschnitte 3.4 und 6.1.2. Homann (2001a), S. 46.
182
6 Die Ökonomische Ethik von Homann „Moral wird von der Dogmatik auf die Heuristik zurückgenommen, um (…) offensiv die Intentionen der abendländisch-christlichen Moral (…) in der gewaltigen Komplexitätssteigerung ausdifferenzierter und sich weiter differenzierender Gesellschaften produktiv zu machen. Dies kann nur in den verschiedenen Logiken und Kontexten geschehen, nicht jedoch gegen sie.“853
Wie oben beschrieben, gehört zur Implementierung von Normen deren Etablierung, d.h. dass geeignete Regeln gesetzt werden, die über spezifische Anreize und Sanktionen die Einhaltung der Normen garantieren. Implementierbar sind Normen nur dann, wenn ihre Etablierung möglich ist. Die Frage nach der Befolgung von Normen kann die Methode der Ökonomik insofern beantworten, als sie zeigen kann, ob das Handeln nach einer bestimmten Norm in einem gegebenen Kontext, z.B. der Wirtschaft, Vor- oder Nachteile bringt: „Eine Wirtschaftsethik, die bei der Implementationsfrage ansetzt (…) entwickelt das Paradigma der Ethik von der Frage her, welche Normenbefolgungen denn unter Bedingungen der modernen Wirtschaft vernünftigerweise erwartet werden können. Aus diesem Grund (…) verwendet [sie] die Ökonomik bzw. die ökonomische Methode der Vorteils-/Nachteils-Kalkulation. Sie geht von dem Problem aus, dass eigentlich keine Ethik von den Akteuren erwarten kann, dass sie dauerhaft und systematisch gegen ihre eigenen Interessen verstoßen, und fragt dann, unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmaß Akteure in der modernen Wirtschaft und Gesellschaft moralische Normen befolgen ‚können’.“854
Die Methode der Ökonomik ist somit in der Lage zu beantworten, ob z.B. ein Unternehmen durch das Einsparen ökologischer Ressourcen Gewinne oder Verluste macht. Wenn Unternehmen dadurch Gewinne erzielen, kann damit gerechnet werden, dass sie tatsächlich ökologisch handeln und Ressourcen einsparen werden. Erzielen sie aufgrund dessen Verluste, kann die Norm, umweltschonend zu handeln, nur dann befolgt werden, wenn andere Unternehmen diese bspw. aufgrund gesetzlicher Vorschriften ebenfalls erfüllen müssen. Ein freiwilliges Einsparen ökologischer Ressourcen hingegen, das die Wettbewerbsstellung des ökologischen Unternehmens gegenüber seinen Wettbewerbern verschlechtert, kann nicht verlangt und die Norm, umweltschonend zu handeln, in diesem Fall nicht befolgt werden. Die Frage nach der Etablierung von Normen beantwortet die Methode der Ökonomik, indem sie im Sinne einer Institutionenanalyse prüft, welche Regeln geeignet sind, die Befolgung bestimmter Normen, z.B. durch Unternehmen, zu garantieren. Hier könnte beispielsweise geprüft werden, welche ökonomischen Handlungsanreize z.B. ein Öko-Steuersystem gegenüber Umweltauflagen setzt und welches dieser verschiedenen Regelsysteme (besser) in der Lage ist, geeignete wirtschaftliche Anreize und Sanktionen für ein umweltorientiertes Handeln von Unternehmen zu setzen. In beiden Fällen – sowohl bei der Befolgung als auch bei der Etablierung von Normen – würde die Methode der Ökonomik moralische Kommunikation in wirtschaftliche Kommunikation übersetzen und wäre auf diese Weise eine Methode sowohl der Wirtschaftswissenschaften als auch der Ethik. Neben der Frage der Implementierung beantwortet die Methode der Ökonomik auch die Frage nach der Geltung, d.h. der Implementierbarkeit, von Normen. Dies hängt nach Homann (2001b, S. 102) davon ab, ob es möglich ist, geeignete Regeln z.B. für wirtschaftliches Handeln zu etablieren. Dabei muss bereits das Setzen der Regeln anreizkompatibel sein, denn 853 854
Homann (2001a), S. 47, Hervorhebungen im Original. Homann (1999), S. 324f.
6.2 Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik
183
Akteure werden sich selbst nur dann kollektiv an Regeln binden, wenn sie sich Vorteile davon versprechen: „Im Regeletablierungsmodell, das analog auch bei allen Regeländerungen zugrunde gelegt werden muss, ist methodisch von einem Zustand ohne jede Normativität auszugehen (‚Naturzustand’), als einziger ‚guter Grund’ für die Etablierung von Normen kommt deren Problemlösungskapazität infrage, was nur bei ‚Vorteilen’ für jeden Einzelnen (Paretosuperiorität) der Fall ist (…). Normativität geht im Regeletablierungsmodell auf kollektive Selbstbindung aufgrund von Vorteilserwartungen zurück.“855
D.h. hier würde die Methode der Ökonomik beispielsweise prüfen, ob es möglich ist, angesichts gegebener rechtlicher und politischer Rahmenbedingungen Regeln zu etablieren, die das Einhalten von Normen in der Wirtschaft garantieren. So würde die Methode der Ökonomik z.B. prüfen, ob ein ökologisch effizientes und effektives Öko-Steuersystem angesichts einer bestimmten politischen Landschaft (wie beispielsweise einer indirekten, föderalen Demokratie mit einem Parteiensystem, politischen Einflussnahmen von Interessengruppen etc.), aus der bestimmte Handlungsanreize für nach Macht strebende Politiker bzw. Parteien resultieren, etabliert werden kann oder ob Umweltauflagen politisch leichter durchsetzbar sind. Dass die Methode der Ökonomik für die Fragen der Implementierung und Geltung von Normen angewandt werden kann, ist weitestgehend unstrittig. Dabei kommuniziert die Methode der Ökonomik je nach Fragestellung in verschiedenen Codes und übersetzt zwischen ihnen. Sie fungiert damit als Methode innerhalb verschiedener Wissenschaften wie z.B. der Wirtschafts- und Politikwissenschaften sowie der Ethik. In diesen Implementierungs- und Geltungsdiskursen von Normen in der Wirtschaft ist die Ethik gegenüber den Wirtschaftswissenschaften nicht eigenständig. Umstritten und damit spannender sind hingegen die folgenden Fragen: Kann die Methode der Ökonomik auch als Methode der Begründung von Moral fungieren? Wenn ja: Verleibt sich die Methode der Ökonomik die Ethik in der Folge völlig ein, so dass die weitere (philosophische) Ethik überflüssig ist? Die Frage der Begründung von Moral sieht Homann (2001a, S. 39) explizit als Teil seines Ansatzes an, was ihm erlaubt, verschiedene Moralsysteme zu bewerten, zu vergleichen und entsprechende Empfehlungen für „bessere Moralsysteme“ auszusprechen. Damit verortet Homann (2001a, S. 39) seinen Ansatz innerhalb der philosophischen Ethik, d.h. der Begründung von Moral. Als moralphilosophische Basis seines Ansatzes wählt er die Ansätze von Hobbes (1970) und Brennan/Buchanan (1993). Daraus folgert er, dass sich moralische Normen aus (nicht-normativen) Vorteilen der Akteure begründen lassen.856 Altruistisches bzw. moralisches Handeln wird damit auf egoistisches Verhalten zurückgeführt: „‚Moral’ wird methodisch als Explanandum (ein-)geführt, und ‚Erklärung’ bedeutet dann: Ableitung der Moral aus nicht-moralischen Antecedensbedingungen (…). Dies war die Logik der klassischen Theorien des Gesellschaftsvertrages, wo Recht und Moral, Normativität also, aus einem ‚Naturzustand’ abgeleitet wurde, der selbst keinerlei Normativität enthielt – so jedenfalls bei T. Hobbes, B. Spinoza und J.-J. Rousseau“.857
855 856 857
Homann (2001a), S. 45, Fußnote weggelassen. Vgl. Abschnitt 2.3.1. Homann (2001a), S. 39.
184
6 Die Ökonomische Ethik von Homann
Hieraus folgen seine Thesen: Das Ziel von Moral sind Kooperationsgewinne im Sinne der Solidarität Aller, und der Kern der Moral ist das unbändige Streben nach individueller Besserstellung.858 Damit ist die Methode der Ökonomik auch geeignet für die Begründung von Normen und so in der Lage, in dem Code von „gut – böse/schlecht“ zu kommunizieren, da auch die Ethik sich aus Vorteilen begründet: „Die Ethik muß auf Vorteilen begründet werden, wobei der offene Vorteilsbegriff der ‚imperialistischen’ Ökonomik eine wesentliche Säule der Zukunftsfähigkeit darstellt. (…) Auch der Begründungsdiskurs, auf den sich die Philosophie seit Kant konzentriert hat, kommt heute ohne die Ökonomik nicht mehr aus. Und wenn die philosophische Ethik statt ‚Vorteilen’ programmatisch ‚gute Gründe’ verlangt, damit Normen Gültigkeit erlangen, so ist zu entgegnen, daß die Philosophie dann darlegen muß, daß Vorteile im Sinne von Paretosuperiorität, als im Sinne von Vorteilen für jeden Einzelnen, kein ‚guter Grund’ sind.“859
Wird die Ethik nun dadurch, dass die Methode der Ökonomik in der Lage ist, nicht nur die Fragen der Implementierung und Geltung, sondern auch die der Begründung von Moral zu beantworten, von der Ökonomik einverleibt, wie in den oben dargestellten Vorwürfen behauptet? Wird dadurch die Eigenständigkeit von Moral und des ethischen Diskurses in Frage gestellt? Wird die Differenzierungsleistung der Gesellschaft zurückgenommen? Dies ist mitnichten der Fall. Denn die Methode der Ökonomik kommuniziert, wenn sie die Fragen der Begründung von Normen beantwortet, genuin moralisch und fungiert damit als Methode der Ethik und nicht der Ökonomik (bzw. Wirtschaftswissenschaften). Ungeachtet dessen, dass die Methode der Ökonomik zunächst, bevor sie „imperialistisch“ wurde, als rein wirtschaftswissenschaftliche Methode entwickelt wurde. Damit wird weder die Ethik von der Ökonomik einverleibt, noch die Differenzierung der Gesellschaft zurückgenommen. Ebenso wenig ist die Methode der Ökonomik in der Lage, andere ethische Methoden vollständig zu ersetzen, und dies aus mehreren Gründen: Erstens setzt sie nach Herms (2002, S. 157ff.) die Existenz bestimmter Vorteile – mithin die Begründung dessen, was als Vorteile erachtet wird, die durch die Normen maximiert werden – als exogen gegeben voraus: „Und so gesehen gilt nun, dass die individuelle Vorteilsmaximierung der Beteiligten zwar eine notwendige Bedingung für die inhaltliche Bestimmtheit einer etablierten, anerkannten und befolgten Norm ist, aber keineswegs die einzige. Vielmehr muss dafür, dass eine Vorteilsmaximierung der Beteiligten überhaupt möglich ist, zuvor eine andere Bedingung erfüllt sein: Für alle Beteiligten muss überhaupt der Bereich dessen bestimmt sein, was für sie vorteilhaft ist. Erst wenn das überhaupt Vorteilhafte bestimmt ist, kann innerhalb dieses Bereiches nach dem am meisten Vorteilhaften gesucht werden. Individuelle Maximierung des Vorteils hat zur unverzichtbaren Voraussetzung das Bestimmtsein des überhaupt Vorteilhaften für alle beteiligten Einzelnen. Das aber bedeutet, dass für die Lösung dieser Aufgabe – für die Bestimmung des Bereichs des überhaupt Vorteilhaften – Verfahren der Maximierung des Vorteilhaften nicht in Betracht kommen können, weil Maximierung des Vorteilhaften ja nur innerhalb des Bereichs des überhaupt Vorteilhaften und damit auch erst nach der Fixierung dieses Bereichs möglich ist.“860
D.h. die Methode der Ökonomik, die hier als genuin ethische Methode eingesetzt wird, kann die Frage nach der Begründung von Normen nicht vollständig bzw. hinreichend beantworten. Sie ist auf einen ethischen Ansatz angewiesen, der eine entsprechende Begründungsleistung für diese Vorteile liefert. Ein solcher Ansatz, auf den Homann seine Ökonomische Ethik 858 859 860
Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 15 und Homann (1998), S. 30ff. Homann (2001b), S. 102. Herms (2002), S. 157, Hervorhebungen im Original.
6.2 Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik
185
basiert, ist der von Hobbes (1970). Dieser begründet Normen aus Vorteilen nicht-normativen Ursprungs, die folglich nicht im Rahmen der Ethik, sondern anderer Wissenschaften, evtl. der Psychologie oder Biologie, wie z.B. von Maslow (1981) in seiner sog. „Bedürfnispyramide“, bestimmt sind. Die Ethik ist hier zwar mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen eng verzahnt (im Sinne gegenseitiger Heuristiken und Restriktionsanalysen), aber dennoch gegenüber diesen eigenständig. Dies gilt sowohl bzgl. des ethischen Ansatzes von Hobbes (1970), der die Vorteilsbegründung begründet, als auch bzgl. der dazugehörenden ökonomischen Methode als in diesem Fall genuin ethische Methode. Zweitens ist die Methode der Ökonomik nur darum als ethische Methode zur (teilweisen) Begründung von Moral funktional, weil Homann einen bestimmten ethischen Ansatz, nämlich den von Hobbes (1970), zugrunde legt: Es ist Hobbes (1970), welcher die ethische Begründung für die Vorteilsbegründung von Normen liefert. Und nur aufgrund dessen ist die Methode der Ökonomik im Rahmen des Begründungsdiskurses überhaupt nützlich, indem sie konkrete Normen auf ihre nicht-normative Vorteilhaftigkeit überprüft. Aber auch in diesem Fall ist „die Frage nach Knappheit, nach Beschränkungen und dem rationalen Umgang mit Beschränkungen nicht die einzig sinnvolle Frage der Gesellschaftstheorie“861. Es gibt auch hier Fragen, bei denen das Pareto-Kriterium der Methode der Ökonomik an seine Grenzen stößt, wie z.B. bei Fragen einer „gerechten“ Umverteilung. Nach Homann, in Anlehnung an Brennan/Buchanan (1993), werden gesellschaftliche Regeln nur verändert, wenn diese paretosuperior sind, d.h. keinem Akteur Nachteile bringen. Damit jedoch, so die Befürchtung von Große Kracht (2002, S. 91, Hervorhebung im Original) „zementiert es [das Pareto-Kriterium] den jeweiligen Status quo einer ungerechten Reichtumsverteilung“. Drittens bleibt darauf hinzuweisen, dass der ethische Diskurs sehr vielfältig ist. Es gibt eine Vielzahl anderer ethischer Ansätze, welche die Moral nicht auf eigennützige Vorteile der Individuen begründen und für welche die Methode der Ökonomik daher eine ungeeignete Methode zur Normenbegründung ist. So übt z.B. nach der Theorie von Hume (1992/1739 und 1975) die Vernunft nur mittelbaren Einfluss auf das Handeln aus.862 Unmittelbare Auswirkungen haben indessen die Wünsche, Triebe und Affekte der Menschen: „Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them.“863
In dem Bild einer Organisation gesprochen, bestimmen die Affekte die Planungsziele und führen sie aus, während die Vernunft dabei lediglich beratende Funktion ausübt. Dabei bestimmen sich nach Schlick (1984, S. 80) die Ziele nach dem sog. „Motivationsgesetz“ des Handelns: „[V]on den als Motive wirkenden Vorstellungen setzt sich die schließlich am meisten lustbetonte oder die am wenigsten unlustbetonte durch und verdrängt die übrigen, und damit ist die Handlung eindeutig bestimmt.“
Da die Gründe für Handlungen grundsätzlich beim Handelnden selbst liegen, vertritt Hume (1975) einen „moralischen Subjektivismus“. Was als gut und richtig erachtet wird, resultiert aus einem moralischen Gefühl der Billigung heraus: 861 862 863
Homann (1993), S. 45. Zur folgenden Darstellung der Humesschen Theorie vgl. Zoglauer (2003), S. 146ff. Hume (1992/1739), S. 415.
186
6 Die Ökonomische Ethik von Homann „[M]orality is determined by sentiment. It defines virtue to be whatever mental action or quality gives to a spectator the pleasing sentiment of approbation; and vice the contrary.“864
Obgleich Menschen danach streben, ihre egoistischen Interessen zu befriedigen, basiert dieses moralische Gefühl weitgehend auf Altruismus. Menschen sind nach Hume zu altruistischem Verhalten, zu Mitgefühl fähig. Wenn ein Mensch etwas als lustvoll oder angenehm empfindet, erfreuen sich auch Andere daran, ebenso wie diese auch von den Schmerzen eines Anderen berührt sind. Aufgrund des Mitgefühls nimmt jeder Mensch an dem Wohl Anderer und der Gesellschaft Anteil. Hier wird der Unterschied zu Hobbes (1970) deutlich: Altruistisches Handeln, Moralität und soziale Solidarität resultieren nicht aus den Individualinteressen der Menschen, sondern aus deren Mitgefühl. Dieses lässt sich nicht auf die Maximierung des eigenen Nutzens reduzieren, auch nicht auf die soziale Anerkennung, die einem altruistisch handelnden Menschen in der Regel zuteil wird.865 Eine auf Vernunft basierende Vorteils-/Nachteilskalkulation kann bei einem moralischen Subjektivismus im Sinne Humes (1992/1739 und 1975) keine Normen mehr begründen.866 Zieht man also die Breite und Vielfältigkeit des ethischen Diskurses in Betracht, ist die Funktionalität der Methode der Ökonomik als ethische Methode zur Begründung von Moral stark eingeschränkt. Auch wenn Homann sich in seinem normativen Ansatz auf Hobbes (1970) festlegt, ist deren Existenzberechtigung und Nützlichkeit im Rahmen des moralphilosophischen Diskurses der Ethik nicht zu leugnen, insbesondere wenn von einem eigenen Funktionssystem der Moral ausgegangen wird.867 Zusammenfassung und offene Fragen Damit sollte deutlich geworden sein, dass Homann die Differenzierung der modernen Gesellschaft nicht zurücknimmt. Auch in seinem Ansatz, der hier allerdings unklar und damit missverständlich ist, erfüllt die Moral eine zentrale und eigenständige Funktion für die Gesellschaft und ihre Teilsysteme und ist daher ihnen gegenüber gleichrangig. Aus diesem Grund wurde in der vorliegenden Arbeit für die weiteren Ausarbeitungen die Entscheidung gefällt, die Moral als funktionales Teilsystem zu betrachten und das Sprachspiel moralischer und ökonomischer Kommunikation entsprechend zu erweitern. Dies hat Homann, wie oben dargelegt, zumindest ansatzweise bereits getan, ohne jedoch genau die Leistung und die Funktion der Ethik für die Gesellschaft zu benennen. Insgesamt verbleiben nun nach der kritischen Diskussion und teilweisen Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik verschiedene Fragen weiterhin offen: Neben der gesellschaftstheoretischen Basis, insbesondere der Klärung der gesellschaftlichen Leistung und Funktion der Moral, ist auch die institutionenökonomische Basis noch nicht vollständig ausgearbeitet. Es fehlt insbesondere eine „Kommunikationstheorie“, welche die Übersetzung von moralischer
864 865 866 867
Hume (1975), S. 289. Vgl. Zoglauer, Thomas (2003), S. 150f. Vgl. Zoglauer, Thomas (2003), S. 145ff. Homann/Blome-Drees (1992, S. 107) räumen solchen Theorien immerhin auf der Individualebene – der Tugendethik – eine eigene Existenzberechtigung ein.
6.2 Diskussion und Weiterentwicklung der Ökonomischen Ethik
187
in wirtschaftliche Kommunikation innerhalb des unternehmerischen Handelns klärt und dabei zentrale Begriffe wie Reputation und Vertrauen definiert und einarbeitet. Eine weitere Lücke, die geschlossen werden muss, um den normativen Anspruch von Homann für das neue St. Galler Management-Modell nutzbar machen zu können, ist dessen organisations- bzw. management-theoretische Fundierung: Wie kann moralische Kommunikation in den unternehmensinternen Regeln der Strategie, Struktur und Kultur sowie den Prozessen konkret verankert werden? Was sind die Kriterien für die „optimale“ Verankerung der Moral im Management? Im folgenden Kapitel 7 wird gezeigt werden, dass die positive Theorie einer Governanceethik von Josef Wieland die fehlenden theoretischen Grundlagen bereitzustellen vermag, indem Wieland die systemtheoretischen und vor allem die institutionenökonomischen Grundlagen detailliert und stringent ausarbeitet. Auf diesen umfassenden deskriptiven theoretischen Grundlagen aufbauend ist die Governanceethik zudem in der Lage, in einer normativen Erweiterung die management-theoretischen Fragen der Implementierung der Moral in den unternehmensinternen Regeln zu beantworten. Auf dieser Basis kann anschließend der erweiterte normative Anspruch von Homann eingearbeitet und schließlich in das neue St. Galler Management-Modell integriert werden (siehe Kapitel 8).
7.1 Die Ökonomik der Transaktionsatmosphäre
7
189
Die Governanceethik von Wieland
Josef Wieland leistet mit seinem Ansatz einer Governanceethik einen wertvollen Beitrag zur theoretischen Integration moralischer Werte in die Neue Institutionenökonomik. Es wird deutlich werden, dass dieser Ansatz für die vorliegende Arbeit eine nahezu ideale Ergänzung darstellt: Zunächst fundiert Wieland seinen Ansatz organisationstheoretisch, indem er bestehende institutionenökonomische Ansätze zu einer deskriptiven, anwendungsbezogenen und mikroanalytischen „Ökonomik der Transaktionsatmosphäre“ erweitert (Abschnitt 7.1).868 Dabei gelingt es ihm, die systemtheoretischen und institutionenökonomischen Metatheorien seines Ansatzes stringent zusammenzuführen und auf diese Weise die Bezogenheit von Unternehmen auf das Wirtschaftssystem zu begründen. Wieland arbeitet zudem die Funktion und Leistung des Moralsystems für die Gesellschaft heraus. Dabei zeigt er, dass dieses eine unabdingbare und genuine Leistung insbesondere für Organisationen im Allgemeinen und Unternehmen im Besonderen erbringt. Schließlich stellt er dar, wie Unternehmen von Moral in Ökonomie übersetzen, um kooperatives unternehmerisches Handeln überhaupt zu ermöglichen, und welche Rolle Parameter wie tugendethische Werte, Reputation, Vertrauen etc. dabei spielen. Welche Aufgaben erwachsen dem Management daraus? Dieser Frage widmet sich der normative Kern der Governanceethik Wielands (Abschnitt 7.2). Er weist auf die zentralen Faktoren hin, die für eine effektive und effiziente Verankerung der Moral in Unternehmen wichtig sind. Darüber hinaus legt er dar, durch welche einzelnen Schritte ein solches „Wertemanagementsystem“ in die Regeln des Unternehmens – die Strategien, Strukturen und Kulturen – implementiert werden kann. Was sind die Stärken und Schwächen der Governanceethik? Diese Frage wird in Abschnitt 7.3 diskutiert. Dabei wird sich zeigen, dass die wesentlichen Stärken des Ansatzes darin bestehen, einerseits mit der Ökonomischen Ethik kompatibel zu sein und andererseits diesen Ansatz optimal zu ergänzen. Die Schwächen des Ansatzes, welche anschließend erläutert werden, münden schließlich in dessen gezielte Weiterentwicklung. Auf diese Weise können in Kapitel 8 die modifizierten Ansätze der Governanceethik und der Ökonomischen Ethik in das neue St. Galler Management-Modell eingearbeitet werden.
7.1
Die Ökonomik der Transaktionsatmosphäre
7.1.1
Systemtheoretische Grundlagen
Bei der Beschreibung der modernen gesellschaftlichen Strukturen, in denen unternehmerisches Handeln stattfindet, lehnt sich Wieland (1996, S. 88ff.) – ebenso wie Rüegg-Stürm (2002) und Homann (1993)869 – weitgehend an die soziologische neuere Systemtheorie870 an. Derzufolge sind die grundlegenden Einheiten der Gesellschaft Kommunikationen. Die indivi-
868 869 870
Vgl. Wieland (2001b), S. 18 und 24, sowie Wieland (2004a), S. 4 und 11. Siehe die Abschnitte 6.2.1 und 6.2.2. Siehe Kapitel 3.
190
7 Die Governanceethik von Wieland
duellen Akteure stellen als Menschen – als psychische und biologische Systeme – eine (unabdingbare) Umwelt der Gesellschaft dar.871 Die moderne Gesellschaft hat sich in verschiedene gleichrangige und autonome funktionale Teilsysteme ausdifferenziert. Diese Gesellschaftsevolution sieht Wieland (2004b, S. 7) als irreversibel und höchst produktiv an. Die Funktionssysteme haben im Zuge der Differenzierung spezifische binäre Leitcodes herausgebildet, im Fall der Wirtschaft ist dies der Code „Angebot – Nachfrage“. Die Wirtschaft verfügt über einen symbolisch generalisierten Kommunikationsmechanismus in Form des Mediums Geld, dessen Einführung eine monetäre Zweitcodierung „Zahlungsangebot – Zahlungsnachfrage“ mit sich gebracht hat.872 Die Zweitcodierung führt zur Preisbildung für Güter und Dienstleistungen. Dieser hoch effiziente Preismechanismus koordiniert Transaktionen von Verfügungsrechten über den Markt und alloziert knappe Ressourcen. Die Funktion der Wirtschaft für die Gesellschaft ist die Bewältigung von Knappheit – in dieser Hinsicht ist die Wirtschaft ein autonomes, autopoietisches Teilsystem. Offen ist sie bezüglich ihrer Leistungserbringung: der Befriedigung von Bedürfnissen nach Gütern und Dienstleistungen. Um diese Leistung erbringen zu können und dadurch die eigene Stabilität zu gewährleisten, lernt die Wirtschaft permanent von den Leistungsanforderungen anderer Teilsysteme und übersetzt diese für sich in Preissignale.873 Die Wirtschaft ist definiert als ein System rein ökonomischer Kommunikation, Individuen sind aus der Wirtschaft ausgeschlossen. Moral kann somit nicht als persönliche Präferenz wieder in das System eingeführt werden.874 Moralische Kommunikation und ethische Wertungen sind systemexterne Kommunikation und nur dann für die Wirtschaft relevant, wenn sie sich auf die Leitcodierung des ökonomischen Systems, d.h. auf die Bepreisung, auswirken. Die Wirtschaft selbst kann moralische Fragen weder stellen noch beantworten:875 „Reine Ökonomik ist amoralisch.“876
Die Moral besteht aus moralischer Kommunikation in dem Code „gut – böse/schlecht“. Sie dient dazu, Achtung bzw. Missachtung zuzuweisen.877 Obwohl sie viele Eigenschaften eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums aufweist, ist sie nach Meinung Luhmanns (1988a, S. 340) kein autopoietisches, funktionales Teilsystem der Gesellschaft. Im Gegenteil: Die Moral stört die grundsätzlich hoch produktiven Funktionssysteme und kann
871 872
873 874
875 876 877
Vgl. Luhmann (1997), S. 9f. Vgl. Wieland (1996), S. 53f., in Anlehnung an Adam Smith. Luhmann (1988b), S. 103, spricht demgegenüber von den binären Codes „Haben – Nichthaben“ bzw. „Zahlung – Nichtzahlung“, wobei die Bezeichnungen von Wieland (1996), S. 53f., sinnvoller scheinen. Denn die Kommunikation von „Nicht-Haben“ bzw. „Nicht-Zahlung“ lassen nach dem normalen Sprachverständnis eher auf nichtwirtschaftliche Kommunikation schließen. Vgl. Wieland (1996), S. 53ff. Vgl. Wieland (1996), S. 63. Indem Wieland (1996), S. 63, moralische Kommunikation in ein Problem der Allokation „moralischer Güter“ transformiert, schafft er die Übersetzung von moralischer in ökonomische Kommunikation. Übersetzt wird allerdings nicht auf der Ebene der Funktionssysteme, sondern der Unternehmen als polylinguale Organisationen, wie in den Abschnitten 7.1.3 und 7.1.4 gezeigt wird. Vgl. Wieland (1996), S. 55, 58f. und 112. Wieland (1996), S. 34. Vgl. Luhmann (1997), S. 396ff.
7.1 Die Ökonomik der Transaktionsatmosphäre
191
daher allenfalls noch im personalen Nahbereich oder in Nischen der Teilsysteme wirksam sein.878 Der Ethik verbleibt damit die primäre Aufgabe, vor zu viel Moral zu warnen.879 Hier ist Wieland (1996, S. 89) – ebenso wie Homann880 – anderer Meinung. Er definiert Moral als ein eigenes Teilsystem der Gesellschaft und sieht ihre Funktion darin, sozialem Handeln und Verhalten Wertschätzung in Form von Achtung bzw. Missachtung zuzuweisen. Die Bezugseinheit moralischer Kommunikation ist damit die Transaktion von Wertschätzung. Hierin – also in der Begründung von Wertschätzung – ist die Moral gemeinsam mit ihrem Reflexionssystem, der Ethik, autonom gegenüber anderen Funktionssystemen. Die Leistung der Moral für die Gesellschaft ist die Vorgabe von normativen Bewertungskriterien. Durch diese steuert die Gesellschaft den Zugang von Akteuren zu den Leistungen von Funktionssystemen und Organisationen. In dieser Anwendung von Normen ist die Moral nicht autonom: Sie findet in den jeweiligen Kontexten – den Funktionssystemen und Organisationen – statt. Analog dazu ist auch die Ethik in der Frage nach der Implementier- bzw. Anwendbarkeit von Normen nicht autonom, sondern auf die Reflexionssysteme des jeweiligen Anwendungskontextes angewiesen.881 Hinsichtlich der Differenzierung ethischer Diskurse in Begründungs- und Anwendungsdiskurse882, schlägt Wieland (2001b, S. 25) ein dreistufiges Verfahren vor: Die erste Stufe beinhaltet den gesellschaftlichen Begründungsdiskurs von Normen.883 Dabei trifft Wieland (2001b, S. 25f.) die folgenden Annahmen: x
In jeder Gesellschaft gibt es ein Set moralischer Überzeugungen, das als begründet gilt. Die Begründungsleistung wird autonom von der Ethik im Rahmen gesellschaftlicher Diskurse, insbesondere durch die Philosophie und u.U. durch die theologische Sozialethik, erbracht.
x
Gesellschaftliche Akteure finden in jeder Situation bestimmte verbindliche Normen vor. Dabei präferieren sie es, in solchen Gesellschaften zu agieren, die moralisch „wohlgeordnet“ sind.
Die Begründung von Normen lässt jedoch noch keinen Schluss darauf zu, ob diese in einem sozialen Kontext implementierbar sind oder nicht. Erst auf einer zweiten Stufe wird im Rahmen eines Anwendungsdiskurses über die Anwendbarkeit von Normen entschieden. So gelten z.B. Normen, durch deren Befolgung den Akteuren prohibitive Kosten entstehen, als nicht anwendbar. Folglich bestimmt die Logik des jeweiligen Anwendungskontextes, z.B. die Wirtschaftswissenschaften im Kontext des wirtschaftlichen Wettbewerbs, den Anwendungsdiskurs wesentlich mit. In der Frage der Anwendung ist die Ethik daher nicht autonom, sondern auf das Urteil anderer Reflexionssysteme angewiesen.884
878 879 880 881 882
883 884
Vgl. Luhmann (1989a), S. 407ff., und (1989b), S. 421ff. Vgl. Luhmann (1993), S. 137. Siehe Kapitel 6. Vgl. Wieland (1996), S. 89f. Diese Differenzierung ethischer Diskurse in die Begründung und Anwendung von Normen ist inzwischen auch in der philosophischen Diskussion weitgehend akzeptiert. Vgl. Wieland (1993), S. 26, m.w.N. Vgl. Wieland (2001b), S. 25. Vgl. Wieland (2004b), S. 7f., und (2001b), S. 26.
192
7 Die Governanceethik von Wieland
Eine wichtige Bedeutung hat schließlich die dritte Stufe ethischer Diskurse. Hier gilt es, die Anwendungsdiskurse wieder auf die Begründungsdiskurse rückzukoppeln. Der Begründungsdiskurs lernt auf diese Weise von den Erfahrungen, die bei der Anwendung in der gesellschaftlichen Praxis gesammelt werden. Damit wird die Entwicklung begründeter Normen hin zu einer verbesserten Anwendbarkeit mit dem Ziel vorangetrieben, die Leistungserbringung der Moral für die Gesellschaft insgesamt zu verbessern. Anwendungskontexte werden so zum Gegenstand des moralischen Begründungsdiskurses, in welchem auch insbesondere größere, multinationale Unternehmen Einfluss nehmen und zu Agenten eines moralischen Wandels werden können.885 Hinter der Feststellung, die Moral habe ein eigenes Funktionssystem herausgebildet, steckt implizit die Behauptung, sie übe eine genuine, nicht substituierbare Funktion für die Gesellschaft aus. Andernfalls könnte moralische Kommunikation restlos durch z.B. ökonomische oder rechtliche Kommunikation ersetzt werden. Diese Behauptung vermag Wieland (1996), und das ist eine der zentralen Leistungen seines Ansatzes, detailliert zu belegen: Mittels Weiterentwicklung der institutionenökonomischen Theorie leitet er her, dass die Moral tatsächlich eine zentrale Funktion für die Gesellschaft erfüllt (s. Abschnitt 7.1.4): Nur eine moralische Kommunikation, die sich nicht vollständig in ökonomische Kommunikation (im Sinne „strategischer“ Moral) auflösen lässt, ermöglicht überhaupt gesellschaftliche Kooperationen. Damit ist eine genuin moralische Kommunikation für Organisationen wie z.B. Unternehmen eine unabdingbare Voraussetzung, die Moral erfüllt hier eine zentrale und nicht substituierbare Leistung für die Gesellschaft.886 Auf diese Weise wird ein wesentliches Argument von Luhmann (1989b, S. 421ff.), die Moral sei u.a. darum kein Funktionssystem, weil sie nicht in der Lage gewesen sei, ein eigenes Organisationssystem herauszubilden, gegenstandslos. Denn Moral ist ein „konstitutives Element von Kooperation und der Form Organisation“887, und „Transaktion (Tausch und Vertrag) und Organisation (Vertrag und Hierarchie) sind ohne ihre moralische Dimension nicht vollständig analysierbar.“888 Moral ist damit sehr wohl in der Lage, einen organisationellen Kontext herauszubilden, auch wenn es keine speziellen Organisationen gibt, deren Leitdifferenz „gut – böse/schlecht“ lautet.889 Individuen, dies klang bereits im Vorfeld an, sind aus den gesellschaftlichen Teilsystemen und damit auch aus Wirtschaft und Moral ausgeschlossen. Das Individuum ist ein autonomes und selbstbezogenes Handlungssubjekt und verfügt als solches über bestimmte anthropologische Eigenschaften, welche die „Natur des Menschen“ ausmachen. Als solches ist das Individuum über vertragliche Beziehungen in verschiedene soziale Systeme eingebunden, erfüllt dort diverse sozial generierte Rollen bzw. Funktionen und wird jeweils zur Person. Damit werden Akteure zu „multiple selves“ und sehen sich so vor das Problem gestellt, in den
885 886 887 888 889
Vgl. Wieland (2001b), S. 26f. Vgl. Wieland (2004b), S. 12. Wieland (1996), S. 91. Wieland (1996), S. 92. Vgl. Wieland (1996), S. 90f. Die Verbindung zwischen Familie oder Kirche und Moral, so Wieland (1996), S. 90, gründet auf rein hierarchische Strukturierung und nicht auf funktionale Differenzierung.
7.1 Die Ökonomik der Transaktionsatmosphäre
193
diversen Kontexten jeweils eine personale Identität herauszubilden, was jedoch immer nur temporär und situativ gelingt.890 Individuen als psychische und soziale Systeme sind sich zwar gegenseitig Umwelt, aber dennoch vollständig aufeinander angewiesen. Psychische Systeme leisten eine zentrale strukturelle Kopplung der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme untereinander und der Gesellschaft mit ihrer physischen Umwelt.891 Individuen sind „polylingual“. Sie kommunizieren zwar im Sinne Luhmanns (1997) nicht selbst, aber sie verstehen und selektieren Informationen und Mitteilungen. Sie entscheiden beispielsweise, ob sie auf die ökonomische Kommunikation einer Preissteigerung moralisch, politisch oder ökonomisch reagieren sollen. Sie sind damit privilegierte Orte, an denen zwischen Moral und Ökonomie übersetzt wird.892 Individuen sind, wenn sie als Personen in verschiedenen sozialen Systemen agieren, den dortigen Systemzwängen unterworfen. Eine personale Tugend kann nicht ungeachtet dieser Gegebenheiten gelebt werden, da das Individuum sonst systematisch Nachteile in Kauf nehmen müsste. Es würde auf Dauer resignieren und zynisch werden, seine moralische Tugend würde mit der Zeit erodieren. Individuen müssen für sich die verschiedenen Logiken, in denen sie als Personen tätig und die für sie prinzipiell gleichrangig sind, ausbalancieren. Tugendethik ist jedoch mitnichten überflüssig geworden, was in den weiteren Erläuterungen Wielands noch deutlich werden wird (siehe Abschnitt 7.1.5). Aber ihr sind Grenzen gesetzt: Normen können zwar auf das Individuum bezogen weiterhin unbedingt und begründet sein, sind jedoch auf der Personenebene nicht automatisch anwendbar.893 7.1.2
Institutionenökonomische Grundlagen
Hinsichtlich der Fragen, worin sich die Existenz von Unternehmen begründet und welchen Gesetzmäßigkeiten unternehmerisches Handeln unterliegt, basiert der Ansatz von Wieland (1996), wie auch von Homann (1995b) und Rüegg-Stürm (2002), auf der Transaktionskostenökonomik. Die Allokation knapper Ressourcen bzw. die Überwachung und Koordination von Faktorleistungen kann prinzipiell über Markt oder Hierarchie (d.h. in Organisationen) abgewickelt werden. Der Markt koordiniert per Wettbewerb, Organisationen über Kooperationen zwischen ihren Mitgliedern.894 Unternehmen sind darum eine Alternative gegenüber dem Markt, weil sie, so Coase (1937), z.T. Transaktionskosten sparender produzieren können. Sie sind einerseits in der Lage, Marktbenutzungskosten zu sparen, verursachen dabei andererseits jedoch Organisationskosten. Transaktionen werden so lange über Unternehmen abgewickelt, wie die zusätzlichen Organisationskosten unter den Marktbenutzungskosten liegen. Damit sind Unternehmen in der Lage, die Effizienz der Nutzung knapper Ressourcen in wirtschaftlichen Transaktionen zu verbessern.895 Unternehmen haben ihren komparativen Vorteil gegenüber dem Markt im Umgang 890 891 892 893 894 895
Vgl. Wieland (1996), S. 55ff., in Anlehnung an Hobbes (1970). Vgl. Luhmann (1997), S. 103 und 108. Vgl. Panther (2004), S. 11f. Vgl. Wieland (1996), S. 58 und 90f. Vgl. Wieland (1996), S. 73 und 77. Vgl. Wieland (1996), S. 10 und 79f., siehe auch Abschnitt 2.2.
194
7 Die Governanceethik von Wieland
mit Kontingenzen, die insbesondere aufgrund unvollständiger Informationen, spezifischer Investitionen und unvollständiger Verträge auftreten.896 Der amerikanische Institutionalismus stellt fest, dass an die Stelle des marktvermittelten Tausches von Waren in Unternehmen Transaktionen schlechthin treten.897 Auch die Institutionenökonomik definiert Transaktionen als grundlegende Einheiten ihrer Analysen.898 Eine Transaktion ist der Transfer von Verfügungsrechten zwischen Personen auf Leistungen, die in der Zukunft erbracht werden. Die Übertragung der Verfügungsrechte geht der Produktion und dem eigentlichen Gütertausch voraus.899 Das zentrale Thema einer Ökonomik der Organisation ist demzufolge die Anpassungsfähigkeit von Organisationen, d.h. die möglichst friktionslose Abwicklung von Transaktionen.900 Unternehmen konstituieren sich über ihre Mitglieder. Diese sind gezwungen, im Unternehmen, welches als Kreislauf von Transaktionen interpretiert werden kann, ständig Entscheidungen zu fällen. Wieland (1996, S. 30) nimmt im Sinne des methodologischen Individualismus an, dass sich Individuen dabei an ihrem Eigeninteresse orientieren. Gleichzeitig haben sie sich aber per Vertrag verpflichtet, nicht nur nach ihren eigenen Präferenzen zu handeln, sondern bestimmte Leistungen zu erbringen, die im Sinne des Unternehmens sind. Organisationsverträge sind jedoch unvollständig und in der Regel langfristig, d.h. die Elemente des Transferaktes fallen zeitlich auseinander. Dadurch wird es für die Mitglieder von Unternehmen möglich, opportunistisch zu handeln.901 Das Unternehmen ist letztlich ein Netzwerk von Verträgen zwischen eigeninteressierten Individuen, die u.U. ihre vertraglichen Verpflichtungen verletzen, sofern dies für sie kostengünstig möglich ist.902 Die Herausforderung der Kooperation in Unternehmen besteht nach Schmoller (1901, S. 434f.) darin, die Eigensinnigkeit der Individuen, die Rollen der Personen und die technischen Erfordernisse der Produktion möglichst reibungslos miteinander zu koordinieren. Mit anderen Worten: Die Transaktionen müssen so organisiert werden, dass zwischen den Mitgliedern Teamarbeit möglich wird. Dabei muss nach Hobbes (1970) immer damit gerechnet werden, dass Mitglieder potenziell opportunistisch handeln. Aufgrund dessen ist es eine zentrale Aufgabe von Unternehmen, Opportunismus einzudämmen, um so die eigenen Kooperationen stabilisieren und ausweiten zu können. Sofern das Organisations- und Rechtssystem versagen, was bei unvollständigen Verträgen der Fall ist, kommt an dieser Stelle die Moral als wichtiger Faktor für die Koordination unternehmerischen Handelns mit ins Spiel. Unternehmerische Transaktionen finden immer zwischen Menschen statt, so dass auf diese Weise die Moral wieder zu einem Element in der Ökonomie wird. In Unternehmen ist damit neben ökono-
896 897 898 899 900 901 902
Vgl. Wieland (1996), S. 11. Vgl. Wieland (1996), S. 71f., mit Bezug auf Commons (1934/1990), S. 58. Vgl. Wieland (1996), S. 80. Vgl. Wieland (1996), S. 71f., mit Bezug auf Commons (1934/1990), S. 58. Vgl. Wieland (1996), S. 10. Vgl. Wieland (1996), S. 19f., 73ff. und 84. Vgl. Wieland (1996), S. 47, mit Bezug auf Williamson (1981b), S. 1539, und in Anlehnung an Hobbes (1970).
7.1 Die Ökonomik der Transaktionsatmosphäre
195
mischer auch rechtliche und moralische Kommunikation wichtig. Sie sind, so Commons (1934/1990, S. 70f.), Sets distinkter Sprachspiele.903 Die Bedeutung der Moral in der Wirtschaft kommt in verschiedenen Ansätzen der Neuen Institutionenökonomik, insbesondere im Messkostenansatz und im Governancekosten-Ansatz, zum Ausdruck.904 So erkennt z.B. der Messkostenansatz, dass Moral für Unternehmen, deren Produktion grundsätzlich in Teamprozessen erfolgt, eine zentrale Rolle spielt.905 Es ist weder technisch möglich noch ökonomisch sinnvoll, den Beitrag einzelner Teammitglieder vollständig zu messen und zu kontrollieren. Moral kann hier als ein funktionales Äquivalent für Technik und Wirtschaft fungieren. Religiöse und gesellschaftliche Normstandards wie z.B. die Zehn Gebote übernehmen die Funktion ökonomischer Anreiz- und Kontrollsysteme. Sie sind in der Lage, wirtschaftliche Transaktionen zu sichern, indem sie die Teammitglieder dazu bringen, ihre vertraglichen Versprechen einzuhalten. Aufgrund dessen erwägen Alchian und Demsetz (1972) zwei Unternehmensstrategien: den Aufbau von Reputation und eines „moral code of conduct“ als Verhaltenskodex, da Vertrauenswürdigkeit und Reputation bei unvollständigen Verträgen zu wirtschaftlichen Gütern werden.906 Allerdings sind Alchian und Demsetz (1972) in ihrem Ansatz nicht in der Lage, die Moral angemessen einzubetten. Sie erkennen zwar, in welchem Maß religiöse und gesellschaftliche Normstandards für die Sicherung wirtschaftlicher Transaktionen in Unternehmen ökonomisch bedeutsam sind, sehen sie aber als ausschließlich wirtschafts- und organisationsexterne Faktoren.907 Damit empfehlen Alchian und Demsetz (1972) nach der Interpretation Wielands (1997, S. 42) in den Fällen, in denen die Moral für die Wirtschaft wichtig wird, die Ökonomik zu verlassen. Mit anderen Worten: Moral ist aus Sicht der Wirtschaft und ihrer Organisationen ein rein externer Faktor. Diese theoretische Konzeption von Moral in der Wirtschaft kritisiert Wieland (1997, S. 41f.) als „moralische Perspektivlosigkeit der ökonomischen Diskussion [, die] letztlich dazu zwingt, den Übergang zur Metaphysik zu empfehlen. (…) Hätte die moderne, funktional differenzierte Ökonomie keine anderen Mittel darauf zu reagieren als die alteuropäische Hoffnung auf die Macht religiöser Abschreckung oder gesellschaftlich homogene und sichergestellte Normstandards, dann wäre es um ihre Zukunft nicht gut bestellt. Beide Faktoren haben viel von ihrer Wirksamkeit verloren, und es ist nicht zu sehen, daß dies in einer modernen, weil liberalen und pluralistischen Gesellschaft anders sein könnte.“908
Auch in den späteren Ausarbeitungen der Teamtheorie von Alchian/Woodward (1987, 1988) werden keine weiteren Perspektiven für moralisches Handeln in Unternehmen offen gelegt, auch wenn dort die Moral einen noch wichtigeren Stellenwert einnimmt. Vertrags- und sittenwidriges Verhalten in Unternehmen ist aufgrund der dort vorherrschenden langfristigen und von Investitionen begleiteten Verträge immer möglich. Denn es ist technisch, rechtlich, organisatorisch und ökonomisch nicht möglich, opportunistisches Verhalten vollständig zu
903 904 905 906 907 908
Vgl. Wieland (1996), S. 8, 73, 78 und 85. Zu diesen beiden Ansätzen siehe die Abschnitte 2.2.2 und 2.2.3. Zur Konzeption von Unternehmen als Teams vgl. Alchian/Demsetz (1972). Vgl. Wieland (1997), S. 38ff. Vgl. Wieland (1997), S. 40ff. Wieland (1997), S. 42.
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7 Die Governanceethik von Wieland
verhindern. Moralische Präferenzen der Mitglieder sind darum ökonomisch wichtig – aber sie sind eben auch nur unternehmensexterne, mithin auch modellexogene Faktoren.909 Weiterführend in der Frage, welche Rolle die Moral für Unternehmen spielt, ist demgegenüber der Governancekostenansatz von Williamson (z.B. 1990b, 1991b, 1993e), der sich als Ansatz eines Forschungsprogramms der „New Economics of Organizations“ bzw. Neuen Organisationsökonomik910 versteht. Die grundlegende Bezugseinheit von Unternehmen sind auch hier einzelne Transaktionen. Diese finden innerhalb eines Sets formaler und informaler Regeln statt: der Governancestruktur des Unternehmens. Unternehmen werden damit als Governancestrukturen und nicht wie in der Neoklassik als Produktionsfunktionen modelliert.911 Der Governancekostenansatz untersucht die Anpassungseffizienz verschiedener organisationeller Arrangements: von Markt, Hybriden und Hierarchie (Organisationen), die funktional äquivalent sind. In den Fällen, in denen ökonomische Transaktionen Investitionen erfordern, die regelmäßig, hochspezifisch und sehr unsicher sind, sind Unternehmen effizienter als der Markt. Ihr komparativer Vorteil liegt darin, dass sie multilingual, d.h. in verschiedenen Codes, kommunizieren können. Die Governancestruktur stellt dabei eine institutionelle, formale und informale Rahmenordnung dar, mit der die verschiedenen Codes eines Unternehmens gesteuert werden. Sie ist vergleichbar mit einer Matrix, innerhalb derer die Transaktionen stattfinden.912 Unternehmen sind als Organisationen Formen personaler Kooperation zwischen ihren Mitgliedern. Diese versuchen rational zu handeln, was jedoch aufgrund limitierter Fähigkeiten angesichts unsicherer Transaktionen und transaktionsspezifischer Investitionen nicht vollständig möglich ist. Der ökonomische Akteur wird daher nicht mehr als Homo Oeconomicus modelliert, sondern als „organizational man“913, der über beschränkte Rationalität verfügt und opportunistisch handelt. Mit anderen Worten: Er verhält sich in Kooperationsbeziehungen kalkulierend hinterhältig.914 Dabei definiert Williamson (1986, S. 168) die Verhaltensannahme des Opportunismus als grundlegende Natur des Menschen. Während am Markt Leistungen ex post auf ihre Nachfrage zugerechnet werden, basiert die Erbringung von Leistungen in Unternehmen auf Regeln, denen die Mitglieder ex ante zugestimmt haben, deren Einhaltung durch opportunistisch eingestellte Vertragspartner jedoch ex post problematisch ist: Die Verträge, welche die Mitglieder miteinander vernetzen, sind unvollständig, denn ihre Einhaltung ist rechtlich nicht vollständig erzwingbar. Es liegt ein Rechtsversagen vor, da es in langfristigen Beziehungen nicht nur unrealistisch, sondern auch ineffizient wäre, alle möglichen Fälle für die Zukunft rechtlich zu regeln.915
909 910
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Vgl. Wieland (1997), S. 45ff. Wieland (1999), S. 119, sieht die „New Economics of Organization“ als ein Gemeinschaftsprojekt der Institutionenökonomik und der Organisationstheorie. Vgl. Wieland (1997), S. 36 und 47ff. Vgl. Wieland (1997), S. 10, 48 und 51f., mit Bezug auf Williamson (1981c), S. 235, 239, und (1991a), S. 281. Williamson (1984). Vgl. Wieland (1997), S. 37, 48 und 52. Vgl. Wieland (1997), S. 48f. und 54.
7.1 Die Ökonomik der Transaktionsatmosphäre
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Williamson (1986, S. 168) schließt mit der Annahme, dass Opportunismus in der Natur des Menschen liegt, den Fall aus, dass Moral ein produktiver Faktor in der unternehmerischen Governancestruktur sein könnte.916 Folgerichtig sieht er auch nicht die Möglichkeit, in die Produktivität von Moral, sondern nur in die Eindämmung von Opportunismus zu investieren.917 In diesem Sinne lautet sein „organisatorischer Imperativ“, d.h. seine Handlungsempfehlung für Unternehmen: „Organize transactions so as to economize on bounded rationality while simultaneously safeguarding them against the hazards of opportunism.“ 918
Die Neue Organisationsökonomik sieht im Fall unvollständiger Verträge durchaus die ökonomische Relevanz „weicher Faktoren“ wie Würde, Vertrauen, Fairness und Moral.919 Denn der Versuch der vollständigen Überwachung von Arbeitsleistungen verletzt die Würde der Teammitglieder und führt zu dysfunktionalen Effekten: Die Mitglieder verstärken ihre Verschleierungsmechanismen, die Effizienz des Teams sinkt.920 Aus diesem Grund sind Organisationen darauf angewiesen, dass eine „less calculative exchange atmosphere“921 herrscht. Erst wenn atmosphärische Parameter wirksam sind, können „weiche“ Verträge effektiv sein.922 Wesentliche Elemente seiner Ökonomik der Atmosphäre, wie sie Williamson (1985, S. 23, und 1991a, S. 275) darstellt, sind infolgedessen zum einen personale Integrität,923 zum anderen „Firmenidentität“, die er als Präferenzen für gütliche Lösungen und Kontinuität ökonomisch übersetzt.924 Identität ist damit eine unabdingbare personelle Voraussetzung für eine gelingende Kooperation.925 Durch Vertrauen geprägte kooperative Beziehungen zwischen Akteuren erweisen sich als sehr robust und anpassungsfähig.926 Normative Standards in der gesellschaftlichen Umwelt der Wirtschaft (wie die Kultur einer Gesellschaft oder eines Unternehmens, die politische Rahmenordnung und Netzwerke) können die Investitionen von Unternehmen in transaktionsspezifische Schutzvorkehrungen gegen Opportunismus mindern und damit die Effizienz von Transaktionen erhöhen.927 Die Governancestruktur des Unternehmens muss darauf abgestellt sein, diese sozial stabilisierte Normativität für eine produktive und kostengünstige Vertragserfüllung zu nutzen.928 Williamson erkennt durchaus die Wirksamkeit von Moral bei unvollständigen Verträgen; normative Bewertungen, durch die Akteure ihren Vertragspartnern Würde zuweisen, sind hier sehr wichtig. Aber er externalisiert sie außerhalb der Ökonomik in die exogene institutionelle 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928
Vgl. Wieland (1997), S. 55. Vgl. Williamson (1985), S. 391. Williamson (1985), S. 32. Vgl. Wieland (1997), S. 36. Vgl. Vgl. Wieland (1997), S. 61, mit Bezug auf Holmström (1979, 1982), und Williamson (1993b), S. 489. Williamson (1975), S. 257f. Vgl. Williamson (1975), S. 38 und 256f. Vgl. Wieland (1997), S. 60. Vgl. Williamson (1985), S. 62. Vgl. Barnard (1938), S. 13. Vgl. Wieland (1996), 132. Vgl. Wieland (1997), S. 57f., mit Bezug auf Williamson (1993b), S. 476. Vgl. Wieland (1997), S. 61.
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7 Die Governanceethik von Wieland
Umwelt („institutional trust“: moralische Werte im konstitutionellen Vertrag der Gesellschaft)929 und bei den Individuen („personal trust“: Moral als ökonomieexterne Tugendethik).930 Atmosphärische Faktoren sind für ihn soziale Funktionen, Ereignisse, die sich in der Umwelt von Unternehmen abspielen.931 So wird z.B. personale Integrität zwar privat genutzt, aber sozial generiert.932 Auch auf Spotmärkten wird Normativität u.U. als ein öffentliches Gut genutzt, das in der gesellschaftlichen Rahmenordnung verankert ist.933 Der Grund für die Externalisierung atmosphärischer Parameter ist u.a., dass nach Williamson (1993b und 1993f) wirtschaftliche Beziehungen ausschließlich auf kalkulatorischer Rationalität basieren, während moralische Qualitäten nicht kalkulierbar und daher vor allem auf persönlicher Ebene zu finden sind. Dies wird in der Art und Weise deutlich, wie er die atmosphärischen Parameter wie z.B. Vertrauen und Würde versteht: Kalkulierendes Vertrauen sieht er als Widerspruch in sich, als Kategorienfehler der ökonomischen Theorie.934 Vertrauen ist ein Gegenbegriff zur Ökonomie. Damit bleiben nur die Möglichkeiten von „institutional trust“935 und „personal trust“936. Bei seiner Begriffsfassung von Würde betont Williamson (1985, S. 271) zwei Aspekte, u.a. den Kant’schen moralischen Imperativ, niemanden nur als Mittel, sondern jedermann zugleich als Zweck in sich selbst zu behandeln. Kalkulation sei eine niedrige und Moral als „Bildung des Herzens“ eine höhere Form sozialer Interaktion. Weder Vertrauen noch Würde können damit in die Form wirtschaftlicher Kalkulation gebracht werden. Folglich stehen sich in seinem Ansatz die wirtschaftliche und moralische Entscheidungslogik diametral gegenüber und können nur dadurch in Zusammenhang gebracht werden, dass eine Seite die andere dominiert.937 Der Messkostenansatz und der Governancekosten-Ansatz können zwar erfassen, dass Moral für Unternehmen ein wichtiger ökonomischer Faktor ist, können sie jedoch nicht adäquat verarbeiten.938 Die Mängel in der Theoriebildung, die nach Wieland hierfür verantwortlich sind, behebt er in der folgenden Weiterentwicklung des Governancekosten-Ansatzes und der „Ökonomik der Atmosphäre“ von Williamson hin zu einer „Ökonomik der Transaktionsatmosphäre“. Diese zeichnet sich vor allem durch eine größere Nähe zur neueren Systemtheorie aus. Damit legt Wieland die theoretischen Grundlagen seiner Governanceethik und leistet zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Integration atmosphärischer Parameter in die Neue Organisationsökonomik.
929 930 931 932 933 934 935 936 937 938
Vgl. Wieland (1997), S. 56f., mit Bezug auf Williamson (1993f), S. 112. Vgl. Wieland (1997), S. 58, mit Bezug auf Williamson (1993b), S. 483f. Vgl. Wieland (1997), S. 60, mit Bezug auf Williamson (1984), S. 178, und (1993a), S. 98. Vgl. Wieland (1997), S. 60, mit Bezug auf Williamson (1985), S. 23, und (1991a), S. 275. Vgl. Wieland (1997), S. 60. Vgl. Williamson (1993b), S. 463. Vgl. Wieland (1997), S. 57f., mit Bezug auf Williamson (1993f), S. 112. Vgl. Wieland (1997), S. 57f., mit Bezug auf Williamson (1993b), S. 483f. Vgl. Wieland (1997), S. 58f. Vgl. Wieland (1997), S. 47.
7.1 Die Ökonomik der Transaktionsatmosphäre 7.1.3
199
Moralische Verhaltensstandards von Unternehmen
Zunächst verändert Wieland (1996, S. 172) die Annahmen bezüglich der Motivationen von Individuen. Seiner Meinung nach verfügen diese nicht über eine bestimmte Identität oder über einen konsistenten Nutzenmaximierungsplan. Sie sind vielmehr „multiple selves“ und als solche gezwungen, sich in den verschiedenen sozialen Kontexten, in denen sie als Personen agieren, immer wieder eine personale Identität aufzubauen. Damit wird es seiner Meinung nach möglich anzunehmen, dass Individuen in ihrer menschlichen Natur gleichzeitig Präferenzen für Opportunismus und für Moral besitzen. Opportunismus ist keine anthropologische Konstante mehr, sondern ein Element sozialer Interaktionen, d.h. es sind die Situationen, die Menschen dazu bringen, mal opportunistisch, mal moralisch zu handeln. Akteure haben damit in den verschiedenen Kontexten ein intrapersonales Entscheidungsproblem, welcher Präferenz sie jeweils folgen sollen. Diese sind charakterisiert durch bestimmte situative Anreize und Kontrollmöglichkeiten, spieltheoretisch darstellbar in Form von Gefangenendilemmata.939 Können Individuen ihre moralischen Präferenzen auch im unternehmerischen Kontext kommunizieren? Schließen sich moralische und streng kalkulatorische unternehmerische Kommunikation nicht grundsätzlich aus, so wie Williamson (1993b, S. 463) dies behauptet? Wieland (1996, S. 135 und 166) führt Williamsons (1993f, S. 128) These auf einen inadäquaten Organisationsbegriff zurück, der nicht nur Organisationssysteme, sondern auch Marktsysteme als Organisationsformen940 bzw. Netzwerke von Verträgen interpretiert. Demgegenüber gelingt es Wieland (1997, S. 62ff.), mit der im Folgenden dargestellten begrifflichen Unterscheidung zwischen Institutionen, Systemen und Organisationen die neuere Systemtheorie stärker in die Neue Organisationsökonomik zu integrieren. Denn die neuere Systemtheorie modelliert Unternehmen als Organisationssysteme, die im Gegensatz zum Funktionssystem der Wirtschaft polylingual941 und damit sowohl ökonomisch als auch moralisch kommunizieren können. Als Institutionen definiert Wieland (1996, S. 75) ein Set von Ereignisrelationen, die in der Gesellschaft eine normative Macht im Sinne von Handlungsbeschränkungen bzw. Regeln ausüben. Systeme bezeichnen demgegenüber eine bestimmte Relationierung von Komponenten. Sowohl die Wirtschaft (der Markt) als auch ihre Organisationen (die Unternehmen) sind Systeme und gleichzeitig – quasi als zweite Seite derselben Medaille – alternative Institutionen für die Koordination wirtschaftlicher Transaktionen.942 Das Funktionssystem Wirtschaft prozessiert durch seine ökonomische Codierung bestimmte Handlungsanreize und -beschränkungen in die Gesellschaft und stellt insoweit Regeln für gesellschaftliches (wirtschaftliches) Handeln dar: Sie ist eine gesellschaftliche Institution für die Bewältigung von Knappheiten. Als System ist die Wirtschaft ein Kreislauf preisförmiger Kommunikationen, der hinsichtlich der Bewältigung von Knappheit geschlossen, hinsichtlich der Leistungserbringung, nämlich der Befriedigung von Bedürfnissen nach Gütern und Dienstleistungen, offen ist. Als Funktionssystem codiert die Wirtschaft spezifisch und verfügt über keine Mitglieder.943 939 940 941 942 943
Vgl. Wieland (1996), S. 30, 172f., und (1997), S. 52. Vgl. zudem Alchian/Demsetz (1972), S. 777, Williamson (1994), S. 2. Vgl. Luhmann (1994), S. 195. Vgl. Wieland (1996), S. 75. Vgl. Wieland (1996), S. 65f. und 75.
200
7 Die Governanceethik von Wieland
Unternehmen sind ebenfalls gesellschaftliche Systeme und Institutionen. Bereits der frühe ökonomische Institutionalismus944 versteht Unternehmen als duale Bezugssysteme, die einerseits durch ihren Systembezug auf die Wirtschaft, andererseits durch ihre spezifische Form der Organisation charakterisiert sind.945 Unternehmen sind demzufolge Organisationssysteme, die sich per Vertrag (in Form der Unternehmensverfassung) vom Funktionssystem der Wirtschaft abheben.946 Sie folgen damit einerseits den Preissignalen des Marktes, sind aber andererseits an die technischen und persönlichen Erfordernisse einer Organisation gebunden. Sie definieren sich dabei sowohl über individuelle als auch über kollektive Unternehmensziele.947 Unternehmen koordinieren Kooperationen zwischen Individuen per Hierarchie.948 Dabei sind Individuen nicht Teil der Organisation, sondern nur als Personen hinsichtlich spezifischer Rollen Mitglieder von Unternehmen. Damit koppeln sich Unternehmen von Individuen ab und können prinzipiell ewig existieren.949 Die Mitglieder sind über Verträge miteinander vernetzt und bilden Teams. Das Unternehmen prozessiert insofern für seine Mitglieder formale und informale vertraglich vereinbarte Regeln.950 Unternehmen spezialisieren sich auf die Erbringung wirtschaftlicher Leistungen und sind so primär auf das Funktionssystem Wirtschaft bezogen. Ebenso wie die Wirtschaft sind sie Institutionen zur Bewältigung von Knappheit und konzentrieren sich daher auf Kostensenkung und Gewinnerzielung. Dabei heben sich Unternehmen insofern von Märkten ab, als sie, wie die neuere Systemtheorie schreibt, nicht Funktionssysteme, sondern Organisationssysteme sind und dadurch besser mit Kontingenzen umgehen können.951 Diese Fähigkeit verdanken sie ihrem evolutionären Vorteil gegenüber Märkten952, als Organisationssysteme direkt mit ihrer Umwelt kommunizieren zu können: Sie fällen Entscheidungen in den Codes verschiedener Funktionssysteme – sie verstehen und prozessieren ökonomische, technische, juristische, moralische etc. Kommunikation.953 Unternehmen entscheiden als „multiple selves“ multireferenzial954, kommunizieren polylingual955 und sind so, in gleichem Maße wie Individuen, privilegierte Orte der strukturellen Kopplung zwischen Moral- und Wirtschaftssystem.956 Unternehmen sind Ausdifferenzierungen des Funktionssystems Wirtschaft und darum auf die ökonomische Codierung als verbindliche Leitdifferenz festgelegt. Dies folgt aus der gesellschaftstheoretischen Annahme der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft. Die Preissignale des Marktes sind anderen Informationen übergeordnet, Unternehmen treffen
944 945 946 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956
Vgl. z.B. Schmoller (1901), S. 414, 438f. und 453. Vgl. Wieland (1996), S. 70, mit Bezug auf Schmoller (1901), S. 413. So der frühe Institutionalismus, vgl. etwa Schmoller (1901), S. 414, 438. und 453. Vgl. Wieland (1996), S. 71 und 75. Vgl. Wieland (1996), S. 73. Vgl. Wieland (1996), S. 70, mit Bezug auf Sombart (1902/1927/1987), S. 101. Vgl. Wieland (1996), S. 75. Vgl. Wieland (1996), S. 11 und 71. Vgl. Wieland (1997), S. 59. Vgl. Luhmann (1997), S. 834. Vgl. Wieland (1996), S. 81f., unter Verweis auf Wiesenthal (1990). Vgl. Wieland (2004b), S. 8. Vgl. Panther (2004), S. 7.
7.1 Die Ökonomik der Transaktionsatmosphäre
201
als ökonomische Organisationen ökonomische Entscheidungen. Mit anderen Worten: Die ökonomische Codierung strukturiert die für das Unternehmen relevante Umwelt – das Funktionssystem Wirtschaft und andere Konkurrenzunternehmen – welche relevante Entscheidungsbeschränkungen darstellen und die Wahrnehmung des Unternehmens selektieren. Das Unternehmen selbst codiert entlang der Leitdifferenz „Aufwand – Ertrag“ bzw. „Gewinn – Verlust“. Auch wenn eine preisförmige Bewertung von Unternehmensoperationen nicht immer einfach ist, muss doch jede Handlung, jede Kommunikation letztlich in diesen Code übersetzt werden.957 Unternehmen sind ökonomisch erfolgreich bzw. wirtschaften effektiv, wenn die Differenz zwischen Ertrag und Aufwand positiv ist. Sie agieren stabil bzw. handeln effizient, wenn sie in der Lage sind, die distinkten Sprachspiele auszubalancieren und zu selektieren, d.h. die Friktionen zwischen den diversen formalen und informalen Beschränkungen zu minimieren.958 Wieland (2004b, S. 8) sieht Unternehmen also in der Lage, moralische Kommunikation zu verstehen und selber zu prozessieren, ohne dass dies im Widerspruch zu der Tatsache stünde, dass moralische Kommunikation letztlich immer in die ökonomische Codierung übersetzt und damit kalkuliert werden muss. Damit wendet sich Wieland (1997, S. 57f.) gegen die Argumentation von Williamson (1993b, S. 463), Vertrauen als Gegensatz zur ökonomischen Kommunikation zu sehen. Wieland (1997, S. 58) versteht Vertrauen nicht als moralische Kommunikation, sondern als deren Ergebnis (vgl. Abschnitt 7.1.4). Insofern sind Kalkulationen und Vertrauen keine Gegensätze, sondern im Gegenteil: Vertrauen entsteht aufgrund kooperativen Verhaltens eines Gegenübers in der Vergangenheit und ist insofern grundsätzlich kalkuliert: Vertrauen will „verdient“ sein. Dennoch hat Vertrauen, wie später noch deutlich werden wird, zusätzlich eine personale, nichtkalkulierende Dimension.959 Auch den Begriff der Würde, wie Williamson (1985, S. 271) sie fasst, sieht Wieland (1997, S. 58f.) als unzweckmäßig an. Der Kant’sche Kategorische Imperativ hat eine wichtige Funktion im Begründungsdiskurs von Moral, indem er zwischen Moral und berechnender Klugheit unterscheidet. Allerdings kann er im moralischen Anwendungsdiskurs nicht verwendet werden. Er ist in funktional differenzierten Gesellschaften nicht mehr angemessen, denn es ist für Unternehmen normal und notwendig, Teammitglieder als Mittel zum Teamzweck zu sehen. Unternehmen müssen kalkulieren – allerdings zwischen verschieden codierten Entscheidungslogiken (Moral, Wirtschaft, Technik, Recht etc.), also multidimensional. Die Balancierung zwischen den „trade-offs“ unterschiedlicher Logiken ist der Normalfall und ein evolutionärer Vorteil von Organisationen gegenüber Märkten.960 Aufgrund dieser theoretischen Annahmen ist Moral nun nicht mehr ein rein organisationsexterner Parameter. Akteure können in Unternehmen in ihrer Funktion als Mitglieder direkt moralisch kommunizieren, nachdem auch das polylinguale Unternehmen selbst moralisch kommunizieren kann. Damit wird moralisches Handeln zu einem wichtigen produktiven Faktor in Unternehmen. Es lassen sich so durch Moral Transaktionskosten sparen, die ansonsten durch opportunistisches Handeln entstehen würden oder zu dessen Eindämmung aufgewendet
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Vgl. Wieland (1996), S. 10, 68, 76 und 81ff. Vgl. Wieland (1996), S. 82, mit Bezug auf North (1990), S. 87. Vgl. Wieland (1996), S. 149, 167, und Wieland (1997), S. 58. Vgl. Wieland (1997), S. 58f.
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7 Die Governanceethik von Wieland
werden müssten. Die Kosteneinsparungen durch Moral sind umso höher, je höher die Faktorspezifität und je langfristiger die Unternehmensverträge sind.961 Allerdings ist die folgende Frage noch ungeklärt: Wo, d.h. in welchen Regeln, bei welchen Akteuren, ist die Moral verankert? Die bisherigen Ansätze der Neuen Institutionenökonomik sehen aufgrund der Annahme des methodologischen Individualismus nur die Möglichkeit, die Moral als Tugendethik innerhalb exogen gegebener Präferenzen der Individuen zu modellieren. Moral kann damit nur auf der Ebene des Individuums angesiedelt sein und hat demzufolge nur geringe Chancen, durch personales Handeln innerhalb verschiedener soziostruktureller Kontexte realisiert zu werden. Aufgrund dessen fordern tugendethische Ansätze, die Motivationsstruktur der Teammitglieder zu homogenisieren.962 Hier allerdings auf die Wirksamkeit religiöser Grundsätze oder gesellschaftlicher normativer Verhaltensstandards zu hoffen, hält Wieland (1997, S. 42) für trügerisch, denn diese haben in modernen, liberalen und pluralistischen Gesellschaften stark an Einfluss verloren. Nachdem moralische Kommunikation jedoch eine hohe ökonomische Relevanz in Unternehmen hat, stellt sich die Frage: Können normative Verhaltensstandards auch auf Unternehmensebene, d.h. in dessen Governancestrukturen z.B. im Sinne eines „code of ethics“ verankert werden? Mit anderen Worten: Können Unternehmen Orte von Moral sein? Dies wäre denkbar, wenn Unternehmen als kollektive Akteure verstanden werden könnten.963 Dagegen scheinen zumindest auf den ersten Blick verschiedene Annahmen der Neuen Institutionenökonomik zu sprechen: Der methodologische Individualismus impliziert, dass Individuen ihren individuellen Nutzen maximieren und unterschiedliche, konfligierende Präferenzen verfolgen. Unternehmen sind „Koalitionen“ von Mitgliedern, die ihre eigenen unterschiedlichen Ziele durch die Organisation zu erreichen suchen.964 Demgegenüber versteht die neuere Systemtheorie Unternehmen als kollektive Akteure.965 Sie argumentiert, dass Organisationen ein Zurechnungsprodukt der Gesellschaft sind. Denn die Gesellschaft versucht, Unternehmen normativ zu verpflichten. Sie rechnet ihnen Verantwortung zu, richtet Erwartungen an sie und räumt ihnen damit die Fähigkeit ein, moralischen Ansprüchen gerecht zu werden.966 Dies ist aus Sicht der neueren Systemtheorie durchaus berechtigt: Unternehmen sind mehr als die Summe ihrer Teile. Sie verfügen über emergente Eigenschaften, die sie zu eigenständigen, autopoietischen Akteuren machen.967 Wie können diese Thesen nun mit der Neuen Institutionenökonomik in Verbindung gebracht werden? Eine Antwort darauf gibt die ökonomische Vertragstheorie. Unternehmen werden durch einen konstitutionellen Akt gegründet: durch den Abschluss langfristiger intra- und interorganisationaler Verträge. Teamarbeit wird folglich erst dadurch möglich, dass die vertraglichen Regelungen die Handlungsmöglichkeiten der Vertragspartner einschränken. Auf diese Weise ent961 962 963 964
965 966 967
Vgl. Wieland (1997), S. 57. Vgl. Wieland (1996), S. 137ff. Vgl. Wieland (1996), S. 140. Vgl. Wieland (1996), S. 138f., mit Bezug auf March (1976), Cyert/March (1963/1992) und im Überblick Wiesenthal (1990). Vgl. die Abschnitte 3.4.3 und 3.4.4. Vgl. Wieland (1996), S. 141. Vgl. Willke (1987), S. 100.
7.1 Die Ökonomik der Transaktionsatmosphäre
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steht ein kollektiver Akteur: durch die Einschränkung individueller Handlungsmöglichkeiten, nicht durch deren Aggregation.968 Dieser Einschränkung der eigenen Handlungsfreiheit – insbesondere durch die Verfolgung des wirtschaftlichen Unternehmensziels als oberste Handlungsbeschränkung – stimmen die Mitglieder darum zu, weil sie nur so kooperieren und ihre eigenen Interessen effizient verfolgen, d.h. ihre Kooperationsrente maximieren können.969 Die Kooperationsrente ist definiert als eine relative Verbesserung der jeweiligen, individuellen Ressourcenerträge der kooperierenden Akteure gegenüber einer Situation der Nichtkooperation.970 Unternehmen als kollektive Akteure haben folglich die Möglichkeit und auch die Pflicht, eine eigene personale Identität zu bilden, sich also als moralische Akteure zu positionieren. Denn es werden Unternehmen von ihren Anspruchsgruppen Entscheidungen, Entscheidungskonsequenzen und auch Erwartungen zugerechnet. Sie müssen sich als valide Kooperationspartner „qualifizieren“. Auf diese Weise sind die Annahmen des methodologischen Individualismus und der Unternehmen als eigenständige Akteure miteinander vereinbar: Es kann gleichzeitig von der Existenz individueller und kollektiver Akteure ausgegangen werden.971 Damit ist es möglich (und notwendig), dass Unternehmen als moralische Akteure Anreize für moralisches Handeln in den Governancestrukturen verankern. Dies ist für Unternehmen aus ökonomischen Gründen zentral, um kooperieren und Transaktionskosten einsparen zu können.972 „Moralische Güter“ wie Fairness und Integrität werden zu Elementen der Governancestruktur,973 z.B. in Form unternehmerischer Verhaltensstandards wie der eines „Code of Ethics“.974 Dennoch sind gesellschaftliche Normen nach wie vor alles andere als überflüssig. Wenn es gelänge, moralisches Handeln, also das Einhalten von Vertragsvereinbarungen, z.B. durch die institutionelle Umwelt von Unternehmen zu garantieren, wären moralische Fragen für Unternehmen nicht mehr relevant. Moralische Verhaltensstandards der Gesellschaft sind zwar nicht auf konkrete Situationen von Transaktionen zugeschnitten und wirken darum nicht unbedingt so gezielt wie spezifische unternehmerische Standards. Trotzdem können sie genauso effektiv sein.975 7.1.4
Reputation als ökonomischer Faktor
Welche ökonomischen Wirkungen hat eine Verankerung der Moral in den Governancestrukturen des Unternehmens, mithin der Aufbau von Reputation? Der Zusammenhang hierfür ist der folgende: Die formalen Verträge, welche ein Unternehmen konstituieren, sind unvollständig. Daher werden neben formalen Verträgen auch implizite Verträge abgeschlossen, die „by
968 969 970 971 972 973 974 975
Vgl. Wieland (1996), S. 141, mit Bezug auf Vanberg (1986), (1992) und Gifford (1991). Vgl. Wieland (1996), S. 142. Vgl. Wieland (2001b), S. 22. Vgl. Wieland (1996), S. 141f. Vgl. Wieland (1997), S. 57. Vgl. Wieland (1996), S. 131. Vgl. Wieland (2001b), S. 15. Vgl. Wieland (1996), S. 131f.
204
7 Die Governanceethik von Wieland
invisible handshake“976 verbindlich sind, ohne explizit Vertragsbestandteil zu sein.977 Implizite Verträge enthalten Versprechen und damit verbunden die Erwartung, dass die Vertragspartner diese Vereinbarungen erfüllen werden. Allerdings ist ihre Einhaltung rechtlich nicht, nur schwer oder zu prohibitiv hohen Kosten erzwingbar. Das Problem ist nun der Opportunismusvorbehalt, denn es ist grundsätzlich immer möglich, dass die Akteure ihr Versprechen brechen werden.978 Moralische Güter, zu denen tugendethische Werte und Menschenrechte wie z.B. Fairness, Integrität, Aufrichtigkeit, Loyalität, Dignität, Vertrauenswürdigkeit, Wahrheitsliebe, Würde der Person etc. zählen, sind letztlich der Gegenstand impliziter Verträge. Ihre Allokation kommt z.B. durch vollen Arbeitseinsatz, Engagement, humane Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzsicherheit etc. zum Ausdruck. Implizite Verträge dienen grundsätzlich der Ergänzung formaler Verträge, weil diese unvollständig sind. Damit wird deutlich, dass moralische Güter immer gemeinsam mit wirtschaftlichen Gütern alloziert werden: Das wirtschaftliche Gut, welches Gegenstand formaler unternehmerischer Verträge ist, besitzt bestimmte informale Eigenschaften, welche wiederum Gegenstand des impliziten Vertrages sind. Werden moralische Güter alloziert, heißt das nichts anderes, als dass das wirtschaftliche Gut über die versprochenen Eigenschaften verfügt. Beispiele hierfür sind, wenn ein Mitarbeiter die volle Teamleistung erbringt oder ein Manager seinem Mitarbeiter die versprochene Gehaltserhöhung gewährt. Moralische Güter sind von wirtschaftlichen Gütern nicht separierbar, implizite Verträge sind nicht marktfähig. Darum existiert kein eigener Markt für moralische Güter.979 Dennoch sind sie für den Markt relevant: Sie beeinflussen den Güterpreis der wirtschaftlichen Güter, mit denen sie zusammen alloziert werden. So kann z.B. der vertraglich vereinbarte Güterpreis geringer ausfallen, wenn es möglich ist, in den Vertrag kosteneffiziente Sicherungen gegen Opportunismus einzubauen.980 Wirtschaftliche und moralische Güter bilden so teilweise füreinander Substitute, was allerdings nicht über Spotmärkte vermittelt werden kann.981 Der Grund, warum Moral im Theorierahmen von Wieland (1996) Güterstatus erlangt, wird damit deutlich: Moralische Güter sind für Unternehmen ökonomisch relevant. Es lohnt sich, in ihre Aktivierung zu investieren, da sie den Wert und den Erfolg bzw. die Kooperationsrente eines Teams beeinflussen. Da sie jedoch nicht über den Markt erworben werden können, muss das Unternehmen sie selber durch entsprechende Vorkehrungen in den Governancestrukturen „produzieren“. Dabei ist zu beachten, dass sowohl Opportunismus als auch Moralität jeweils Kosten und Erlöse generieren.982 Ebenso wie moralische Güter werden auch Statusgüter untrennbar mit wirtschaftlichen Gütern zwischen Akteuren zugewiesen. Dabei sind es die Ergebnisse der Zuweisung moralischer Güter, die den Status des Vertragspartners, d.h. den Grad der Achtung oder Missachtung, bestimmen. Dies verdeutlicht die folgende Situation: Ein Akteur hat die Möglichkeit, durch
976 977 978 979 980 981 982
Okun (1980), S. 6. Vgl. Schein (1965). Vgl. Wieland (1996), S. 158 und 161. Vgl. Wieland (1996), S. 20, 30 und 160ff. Vgl. Wieland (1996), S. 162, mit Bezug auf Williamson (1993c), S. 105. Vgl. Wieland (1996), S. 163. Vgl. Wieland (1996), S. 143, 159 und 164.
7.1 Die Ökonomik der Transaktionsatmosphäre
205
Kombinierung der eigenen Ressourcen mit denen eines anderen Akteurs seine Kooperationsrente zu erhöhen. Wenn er nun mit diesem kooperiert, begibt er sich in eine Abhängigkeit: Der Wert seiner eigenen Ressourcen hängt vom Verhalten des anderen Akteurs ab. Darüber hinaus wird angenommen, dass anonyme Marktbedingungen herrschen und es keine staatliche Macht gibt, welche die Einhaltung von Verträgen erzwingen könnte. In diesem Fall kommt nur dann eine Kooperation zustande, wenn sich die Akteure gegenseitig vertrauen.983 Ist nur eine einmalige Kooperation beabsichtigt, können zwar beide Akteure vorab eine Präferenz für Moral signalisieren, allerdings ohne voneinander zu wissen, ob diese ehrlich gemeint oder ein Täuschungsversuch ist. Denn jede Handlung in einer Kooperation steht grundsätzlich unter Opportunismusvorbehalt. Eine Kooperation wird hier nur dann gelingen, wenn ausreichende Vorkehrungen existieren, welche die Transaktion absichern; wenn also die anonyme Marktbeziehung in eine Hierarchiebeziehung umgewandelt wird, in der beide Akteure über Identität verfügen.984 Eine Identität bildet sich, indem Akteure Statusgüter zugewiesen bekommen. Statusgüter sind soziale Werte wie Achtung, Teamgeist, Vertrauen und Reputation. In den Aufbau von Statusgütern muss investiert werden, und ihre Erstellung beansprucht Zeit. Eine Reputation, die aus der Menge aller Statusgüter (Vertrauen, Würde etc.) besteht, wächst langsam, kann aber auch schnell erodieren. Die Allokation von Statusgütern und moralischen Gütern bedingt sich wechselseitig: Ein Akteur alloziert das moralische Gut Ehrlichkeit und erhält dafür ein Statusgut, nämlich eine Reputation dafür, vertrauenswürdig zu sein. Vertrauen ist folglich das Ergebnis einer vorherigen gelungenen Kooperation.985 Reputation ist ein Ansehen bzw. Status, den ein Akteur im Hinblick auf etwas besitzt und von einem anderen Akteur zugewiesen bekommt. Genauer gesagt: Eine Reputation kann nur eine (individuelle oder kollektive) Person besitzen, sie bezieht sich auf einen lokalen, spezifischen sozialen Kontext und wird von einer anderen Person zugewiesen. Reputation beeinflusst die Kosten der Durchführung einer Transaktion.986 Sie ermöglicht neue oder kontinuierliche Kooperationsbeziehungen für den Preis, dass die eigenen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Es handelt sich folglich um einen Tauschvorgang.987 Unternehmen haben aufgrund dessen die Aufgabe, mit der Zuweisung moralischer Güter die soziale Anerkennung – den Status – ihrer Teammitglieder und weiteren Transaktionspartner lokal festzulegen. Die Art und die Menge der Zuweisung von Status wirken sich letztlich ökonomisch aus: Reputation ist das Kapital eines Akteurs, dessen Erträge aus Produktivitätsgewinnen aufgrund tieferer Arbeitsteilung, aus der Zunahme lukrativer Kooperationschancen und aus geringeren Investitionen in Signalisierungskosten bestehen. Sie wirkt auf die Leistung und den Wert eines Teams sowie auf die Höhe der Transaktionskosten. Dabei gilt: Je höher die spezifischen Investitionen oder die Unsicherheit von Verträgen und Informationen sind,
983 984 985 986 987
Vgl. Wieland (1996), S. 2, 13, 30 und 146f. Vgl. Wieland (1996), S. 15 und 148. Vgl. Wieland (1996), S. 15, 20 und 149f. Vgl. Williamson (1991a), S. 287 und 290f. Vgl. Wieland (1996), S. 146.
206
7 Die Governanceethik von Wieland
desto wichtiger wird eine entsprechende Gestaltung der Transaktionsatmosphäre, weil sie sich stärker ökonomisch auswirkt.988 Dabei wird deutlich, dass es moralische Güter sind, die Achtung oder Missachtung symbolisierende Statusgüter über Wirtschaftsgüter zuweisen. Der Allokationsmechanismus ist der folgende: Ein Akteur A, z.B. ein Teammitglied, alloziert das moralische Gut „Ehrlichkeit“ an Vertragspartner B, indem er eine Vertragsbestimmung, die Erbringung der vollen Teamleistung, einhält, obwohl er die Vereinbarungen kostenlos brechen könnte. Der Akteur B, z.B. der Arbeitgeber, hat dadurch einen wirtschaftlichen Ertrag: Er vermeidet die Verluste aus Opportunismus und senkt dadurch seine Transaktionskosten. Bei Akteur A fallen durch seine Ehrlichkeit Opportunitätskosten an: die entgangenen Gewinne aus Opportunismus. Gleichzeitig können diese Kosten als Investition in das Statusgut „Vertrauenswürdigkeit“ für Teamgeist interpretiert werden, das zusammen mit anderen Statusgütern sein Reputationskapital ausmacht. Die Erträge dieses Kapitals, z.B. bessere Aufstiegschancen oder faire Arbeitsbedingungen, basieren auf der Zuweisung von Achtung durch Akteur B, d.h. den Arbeitgeber. Dieser Allokationsmechanismus zeigt: Statusgüter sind mit moralischen und wirtschaftlichen Gütern unseparierbar verbunden. Damit gibt es auch für sie keinen eigenen Markt, das Unternehmen muss sie selber durch entsprechende Vorkehrungen in der Governancestruktur erstellen.989 Bei einer ersten Kooperation (einem „Eröffnungsspiel“) können die Faktoren Vertrauen, Reputation und Moral noch nicht greifen, sie können daher das Gefangenendilemma aufgrund des Opportunismusvorbehalts beider Akteure nicht überwinden. Wenn nun beide Akteure Interesse an einer längerfristigen Kooperation haben, weil sie sich eine entsprechend hohe Kooperationsrente erhoffen, werden sie versuchen, ihre intendierte Ehrlichkeit gegenseitig glaubwürdig zu signalisieren. Hierfür bedarf es geeigneter struktureller Sicherungen: Die Akteure müssen sich auf Spielregeln einigen, an die sie durch Verhaltensstandards gebunden werden und deren Einhaltung durch Dritte erzwungen werden kann oder durch glaubwürdige Versicherungen garantiert ist. Glaubwürdigkeit entsteht folglich, wenn signifikante rechtliche oder wirtschaftliche „Geiseln“990 angeboten werden. Erst dann sind Akteure bereit, moralische Güter zu allozieren, mit anderen Worten: sich auf die Kooperation einzulassen und ehrlich zu handeln. Moralische Tugenden werden so zu einem Element der Governancestruktur, nehmen die Form eines Gutes an und werden zum Gegenstand von Ökonomisierungsanstrengungen.991 Ist nun mit Hilfe einer Investition in die Governancestruktur eine erste Kooperation gelungen, werden Vertrauen und eine Reputation für Ehrlichkeit – das Kapital Achtung – entstehen und mit jeder weiteren gelungenen Kooperation langsam wachsen. Im Falle opportunistischen Verhaltens kann dieses Kapital allerdings schnell schrumpfen. Mit zunehmendem Vertrauen können die Bindungs- und Kontrollmechanismen in der Governancestruktur abgebaut und Investitionen in diese Instrumente gesenkt werden. Opportunistisches Verhalten muss nicht unbedingt zu einem vollständigen Abbruch der Kooperation führen, sondern wird das Ach-
988 989 990 991
Vgl. Wieland (1996), S. 2, 11, 14 und 21. Vgl. Wieland (1996), S. 16, 21 und 170. Vgl. Williamson (1983). Vgl. Wieland (1996), S. 150ff.
7.1 Die Ökonomik der Transaktionsatmosphäre
207
tungskapital u.U. nur partiell aufzehren. Schließlich kann ein Unternehmen sogar aus dem opportunistischen Handeln seiner Mitglieder einen Reputationsgewinn erzielen, wenn das Unternehmen dieses Verhalten selbst aufdeckt und für die Zukunft nachvollziehbar zu vermeiden versucht.992 Die Implementierung moralischer Kommunikation in der Organisation eines Unternehmens kann ökonomisch interpretiert werden als eine Funktion des Verhältnisses von Erlösen aus Reputation (vermiedene Kosten aus aufgedecktem opportunistischem Verhalten und Gewinne aus zusätzlichen Kooperationschancen) zu den Opportunitätskosten ehrlichen Verhaltens (den entgangenen Gewinnen aus Opportunismus).993 Ein wirtschaftlicher Akteur investiert so lange in das Statusgut „Vertrauenswürdigkeit“, wie dessen Grenzerträge positiv sind. Eine beliebige Vermehrung der Kooperationsmöglichkeiten ist ineffizient.994 Damit stellt sich noch eine weitere Frage: Grundsätzlich steht jede Handlung im Rahmen einer Kooperation unter Opportunismusvorbehalt. Könnte dann nicht eine Investition in das Statusgut „Vertrauenswürdigkeit“, mit dem ein Unternehmen seine Präferenz für Moral signalisiert, ein Täuschungsversuch sein? Dies kann grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, und die Akteure müssen sich dagegen zu schützen wissen. Allerdings zeigt es sich bei genauer Betrachtung, dass es letztlich effizienter ist, in eine ehrlich gemeinte Reputation zu investieren:995 Grundsätzlich kann ein Opportunist in der letzten Kooperationsrunde defektiveren. Wenn der Vertragspartner dies ahnt, kommt eine Rückwärtsinduktion in Gang und die Kooperation wird nicht zustande kommen. Diese Rückwärtsinduktion wird umso unwahrscheinlicher, je mehr der Opportunist in den Versuch investiert, glaubwürdig seine Kooperationsbereitschaft bis einschließlich zur letzten Spielrunde zu signalisieren. D.h. auch ein Täuschungsversuch, eine „moralische Maske“, kostet Geld. Der Opportunist tätigt faktorspezifische Investitionen, aufgrund derer er selbst ausbeutbar wird. Mit anderen Worten: Die Erträge aus Opportunismus sind unsicher, denn er weiß nicht, ob sein Vertragspartner ebenfalls einen Täuschungsversuch plant. Der Opportunist kann lediglich sein eigenes Handeln plausibilisieren und seine Absichten signalisieren, ohne die Beobachtungen seiner Vertragspartner determinieren zu können. Damit wird deutlich, dass es in langfristigen Kooperationsbeziehungen kostengünstiger ist, eine Reputation für Moral aufzubauen und tatsächlich moralisch zu handeln, d.h. auf Opportunismus zu verzichten. Genuin moralisches Handeln ist letztlich effizienter als strategisches bzw. vorgetäuschtes „moralisches“ Handeln.996 In diesem Sinne schreibt Gambetta (1988a, S. 234): „[S]ustained distrust can only lead to further distrust. Trust, even always misplaced, can never do worse than that, and the expectation that it might do at least marginal better is therefore plausible.“
Dieser Zusammenhang verhindert schließlich, dass Reputationen für „Vertrauenswürdigkeit“ regelmäßig als Täuschungsversuche entlarvt werden, die Gesellschaft das Vertrauen in Signa-
992 993 994 995 996
Vgl. Wieland (1996), S. 153. Vgl. Wieland (1996), S. 154, mit Bezug auf Milgrom/Roberts (1988) und Kreps (1990). Vgl. Gambetta (1988b), S. 214. Vgl. Wieland (1996), S. 144 und 180f. Vgl. Wieland (1996), S. 180f.
208
7 Die Governanceethik von Wieland
lisierungsmaßnahmen für Kooperationsbereitschaft nachhaltig verliert und damit die Moral als Steuerungsinstrument ihre Wirksamkeit verliert. Trotzdem bleiben die Effizienzeigenschaften moralischer Güter immer kontingent.997 Den Einfluss ökonomischer Leitcodierung und moralischer Codierung auf die Höhe der Transaktionskosten und Kooperationsrente zeigt die folgende Darstellung 7.1. Kooperationsrente
Transaktionskosten
Kooperationschancen
Kooperationsbereitschaft Kooperationsfähigkeit
Moralisches Reputationskapital
Ökonomische Leitcodierung
Transaktion
Moralische Codierung
Darst. 7.1: Einfluss moralischer Codierung auf die Kooperationsrente Quelle: Wieland (2001b), S. 20.
Die ökonomische Leitcodierung beeinflusst direkt die Transaktionskosten eines Unternehmens, während die moralische Codierung indirekt wirkt: Sie baut zunächst Reputationskapital auf, um die Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit, dadurch die Kooperationschancen und schließlich die Kooperationsrente zu erhöhen.998 Der Einfluss auf die Transaktionskosten ist jedoch ungewiss. Für den Aufbau eines moralischen Reputationskapitals werden Investitionen getätigt, die die Transaktionskosten zunächst erhöhen. So verpflichtet sich ein Unternehmen beispielsweise dazu, auf Kinderarbeit zu verzichten, und führt hierfür den Standard SA 8000 im Unternehmen ein.999 Diese moralische Kommunikation kann mit der Zeit die Koopera-
997 998 999
Vgl. Wieland (1996), S. 91. Vgl. Wieland (2001b), S. 21. Vgl. Lohrie/Merck (2000).
7.1 Die Ökonomik der Transaktionsatmosphäre
209
tionschancen des Unternehmens verbessern und die Transaktionskosten wieder senken. Nur wenn das Unternehmen erwarten kann, dass die positiven Effekte aus der moralischen Codierung letztlich die negativen Effekte, die steigenden Kosten, überwiegen, wird es diese Investitionen z.B. in ein entsprechendes Lieferantensystem tätigen. Dies wird jedoch immer unsicher bleiben.1000 Letztlich beeinflusst neben den Transaktionskosten auch das moralische Reputationskapital, sofern es glaubwürdig gegenüber den Anspruchsgruppen kommuniziert wird, die Kooperationschancen eines Unternehmens und damit letztlich dessen Kooperationsrente (die nicht gleichbedeutend mit „Gewinn“ oder „Profit“ ist). Beide Codierungen – die moralische und die ökonomische – sind rekursiv miteinander vernetzt und stellen füreinander eine Ermöglichungs- und gleichzeitig Restriktionsfunktion dar. Es wird im Unternehmen immer Zielkonflikte und Friktionen zwischen beiden geben. Diese Prozesse zu managen, z.B. mit Hilfe eines Wertemanagementsystems (vgl. Abschnitt 7.2.3), ist letztlich eine zentrale Gestaltungsaufgabe des Unternehmens.1001 7.1.5
Tugendethische Moral als Unternehmensressource
Die Verankerung moralischer Standards in Unternehmen macht bis zu einem gewissen Grad ökonomisch Sinn und erhöht die Effizienz des Unternehmens. Aber braucht es dafür eine genuin moralische Kommunikation, oder reicht es, wenn ein moralischer Standard aus rein strategischen Gründen etabliert wird? Wenn dem so wäre, würde die moralische Kommunikation vollständig in ökonomische übersetzt werden können, die Moral würde ohne Rest in Ökonomie aufgehen. Dies würde wiederum bedeuten, dass das Moralsystem für Unternehmen keine zentrale Leistung erbringt – es wäre für unternehmerische und evtl. für gesellschaftliche Kooperationen insgesamt nicht nötig. Damit müsste u.U. Luhmann (1988a, S. 340) zugestimmt werden, welcher der Moral eine eigenständige, nichtsubstituierbare Funktion für die Gesellschaft ohnehin nicht zugesteht.1002 Unternehmen investieren in bestimmte Vorkehrungen in der Governancestruktur wie z.B. einen moralischen Verhaltensstandard, weil sie, wie bereits geschildert, eine Identität im Sinne einer Reputation für Vertrauenswürdigkeit benötigen, um als Kooperationspartner in der Wirtschaft in Frage zu kommen. Würde aus rein strategischen Gründen in eine solche Reputation investiert, würde sich folgendes Szenario ergeben: Ein Akteur könnte seine Bereitschaft anbieten, in eine Reputation zu investieren und mithin zu kooperieren, verbunden mit der Drohung, bei opportunistischem Verhalten des Vertragspartners die Kooperation abzubrechen und den Vertragsbruch am Markt zu kommunizieren. Ebenso könnte ein Akteur einem Vertragspartner für den Fall, dass dieser regelmäßig kooperiert, eine Zukunftsprämie zahlen. Solange für den Vertragspartner diese Prämie höher ist als der potenzielle Gewinn aus opportunistischem Verhalten, wird er sich an den Vertrag halten. Mit anderen Worten: Die Prämie wäre der Versuch, dem Vertragspartner dessen Präferenz für Opportunismus abzukaufen und einen selbstdurchsetzenden Vertrag abzuschließen. Der Ak1000 1001 1002
Vgl. Wieland (2001b), S. 21f. Vgl. Wieland (2001b), S. 22f. Vgl. auch Luhmann (1989a), S. 407ff., und (1989b), S. 421ff.
210
7 Die Governanceethik von Wieland
teur selbst ist so lange bereit, die Versicherungsprämie zu bezahlen, wie die Summe dieser Prämie zuzüglich der Opportunitätskosten durch den eigenen Verzicht aus Opportunismus nicht höher ist als seine Kooperationsrente. In beiden Fällen würden Verträge nicht aus moralischen, sondern aus rein ökonomischen Gründen eingehalten: Reputation lohnt sich ökonomisch.1003 Dieses Modell für den Aufbau einer unternehmerischen Reputation aus rein strategischen Gründen hat jedoch seine Schwächen. Erstens ist Reputation ein Statusbegriff, der inhaltlich offen, also per se kein moralischer Begriff ist. Damit erklärt das Modell nicht nur Investitionen in eine Reputation für Vertrauenswürdigkeit, sondern auch in eine Reputation für opportunistisches Handeln. Denn in letzterem Fall würde ein Akteur so lange in eine Reputation für Opportunismus investieren, wie seine Erträge daraus höher sind als die entgangenen Kooperationsgewinne abzüglich der Kosten für den Aufbau der Reputation für Vertrauenswürdigkeit. Damit ist dieses Modell jedoch nicht in der Lage, Investitionen in eine spezifische, die moralische, Reputation zu erklären.1004 Ein zweites Problem des Modells ist, dass eine Drohung mit Vertragsabbruch, falls ein Vertragspartner seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht nachkommt, nicht unbedingt glaubwürdig und machbar ist. Dies wäre sie nur dann, wenn der Akteur im Zuge der Kooperation keine spezifischen Investitionen tätigen würde, was jedoch bei langfristigen unternehmerischen Kooperationen kaum realistisch ist.1005 Drittens müsste ein Akteur, um eine optimale Versicherungsprämie berechnen zu können, weit reichende Informationen über den Verlauf der Kooperation besitzen: Er müsste bereits vorab wissen, wann und wie oft ein Vertrag gebrochen wird. Diese Annahme entspricht jedoch nicht der Unternehmensrealität, da diese grundsätzlich durch Informationsasymmetrie charakterisiert und die Möglichkeit für opportunistisches Handeln immer gegeben ist.1006 Darum kann eine Reputation für Moral nicht aus rein strategischen Gründen heraus, d.h. rein ökonomisch, erklärt werden. Kooperationen in und von gesellschaftlichen Organisationen im Allgemeinen und Unternehmen im Besonderen kommen nur dann zustande, wenn die Akteure genuin moralisch kommunizieren. Der im vorherigen Abschnitt beschriebene Kreislauf der Allokation moralischer, wirtschaftlicher und Statusgüter kommt nicht oder nur mit Zusatzbedingungen in Gang, wenn das moralische Gut „Ehrlichkeit“ und das Statusgut „Achtung“ allein aus einem ökonomischen Kalkül heraus erklärt wird.1007 Damit wird deutlich: Rigide Übersetzungsprogramme der Moral in die Sprache der Ökonomie sind für Unternehmen dysfunktional – Unternehmen müssen sie aus guten ökonomischen Gründen ablehnen. Mit anderen Worten: Ökonomische Ziele werden in Unternehmen nur dann erreicht, wenn nichtökonomische Ziele in genuiner Form zugelassen werden. So ist z.B. bei Teamarbeit der Versuch einer rigiden Überwachung und Beherrschung des Teamoutputs ineffizient, allerdings wäre es ebenso ineffizient, alle Elemente der Governancestruktur auf 1003
1004 1005 1006 1007
Vgl. Wieland (1996), S. 154f., mit Bezug auf Klein/Crawford/Alchian (1978), S. 303ff., Klein (1985), S. 595f., und Milgrom/North/Weingast (1990), S. 16. Vgl. Wieland (1996), S. 155. Vgl. Wieland (1996), S. 155. Vgl. Wieland (1996), S. 155. Vgl. Wieland (1996), S. 155 und 171.
7.1 Die Ökonomik der Transaktionsatmosphäre
211
Vertrauen zu reduzieren. Moral kann nur dann positive ökonomische Resultate liefern, wenn sie keine strategischen Ziele, sondern ein genuines Anliegen verfolgt. Allerdings muss dabei immer die grundlegende Notwendigkeit einer Ökonomisierung knapper Ressourcen anerkannt werden. In Unternehmen laufen somit wirtschaftliche und personale Verbindungen immer gleichzeitig: Es gibt personales Vertrauen als zentralen Statusbegriff, das in lokalen, spezifischen Transaktionen ökonomisch zählt.1008 Diese Schlussfolgerung, dass nur eine genuine Moral funktional sein kann, ist konsistent mit dem bisherigen Modellrahmen, der explizit von einer (u.a.) moralischen Präferenz von Individuen ausgeht. Dies bedeutet nichts anderes, als dass Menschen ein fundamentales Bedürfnis nach Wertschätzung haben. Sie benötigen Wertschätzung durch Andere, ebenso wie Selbstwertschätzung, denn ohne Selbstwertschätzung können soziale Akteure keine Identität herausbilden und folglich nicht kooperieren. Moralische Anreize in Form von Wertschätzung, d.h. der Allokation von Achtung und Anerkennung, werden damit für Akteure wirksam. Eine Identität zu besitzen bedeutet, dass Akteure gegenüber sich selbst und gegenüber Anderen Achtung und Anerkennung empfinden. Erst wenn dies der Fall ist, können sie kooperieren und damit positive Wohlfahrtseffekte aufgrund vermehrter Tauschbeziehungen und vertiefter Arbeitsteilung erlangen. Daher wird es für Unternehmen ökonomisch wichtig, moralische Wertschätzung zu aktivieren und zu allozieren.1009 Es wurde deutlich, dass erst genuin moralische Kommunikation, d.h. die Allokation von Achtung bzw. Missachtung auf das Handeln von Akteuren, Kooperationen und damit insbesondere auch unternehmerisches Handeln ermöglicht. Moral ist nicht rein ökonomisch erklärbar, sondern die Übersetzungskette lautet: Wenn ein Akteur ehrlich handelt, d.h. moralische Güter (wie Ehrlichkeit, Offenheit, Verantwortungsgefühl, Solidarität etc.) zuteilt, erhält er von seinem Vertragspartner das Statusgut Reputation für den Besitz und die Zuteilung moralischer Güter. Die Zuteilung von Statusgütern ist es, die ökonomische Relevanz hat, weil damit Transaktionskosten gesenkt und Kooperationsrenten erzielt werden können. Mit anderen Worten: Wirtschaftliche Güter, die Achtung und Missachtung symbolisieren, d.h. zusammen mit moralischen Gütern alloziert werden, werden in Statuswerte übersetzt. Der kalkulatorische Prozess setzt erst jetzt ein: Es ist die Menge der durch Statusgüter aktivierten moralischen Güter, die einem ökonomischen Kalkül unterworfen ist. Moral kann nicht direkt in Ökonomie übersetzt werden. Die Übersetzung erfolgt von der Existenz moralischer Werte über Statuswerte hin zu ökonomischen Werten. Ein Unternehmen wird nun so lange in Reputation investieren, wie der Grenzertrag daraus positiv ist.1010 Wieland (1996, S. 170) bringt das Verhältnis von Unternehmen zu Moral auf den Punkt: „Nicht die ökonomische Erklärung, warum Menschen moralisch handeln, ist ihr Problem, sondern die ökonomischen Konsequenzen von Moral.“
Damit wird schließlich deutlich, dass das Moralsystem eine zentrale Leistung für die Gesellschaft erbringt, die von Unternehmen genutzt wird: die Begründung von Normen, die Reputationseffekte für Moral erst ermöglichen. Ein Unternehmen selbst investiert in die Gültigkeit, nicht die Begründbarkeit von Moral. Dies bedeutet nicht, dass die moralische Kommunikation
1008 1009 1010
Vgl. Wieland (1996), S. 27f. und 167ff. Vgl. Wieland (2004b), S. 20f. Vgl. Wieland (1996), S. 156f. und 178.
212
7 Die Governanceethik von Wieland
etwa rein strategischer Natur sein könnte. Mit der Implementierung der Moral in die Governancestruktur investiert ein Unternehmen in die Stärkung moralischer Kommunikation, d.h. die Zuteilung von Wertschätzung. Wäre diese Wertschätzung keine wirkliche Wertschätzung, sondern reine Gewinnmaximierung, würden Unternehmen nicht mehr polylingual, sondern rein ökonomisch kommunizieren – womit der Unterschied zwischen Unternehmen und Markt hinfällig wäre.1011 Aus der Sicht der Unternehmen sind tugendethische Haltungen von Akteuren damit ökonomisch relevant – sie sind Ressourcen, neben wirtschaftlichen Ressourcen. Das wirtschaftliche Kapital, zusammen mit dem moralischen Kapital – die Summe aller aktivierbaren moralischen Güter der Teammitglieder abzüglich Opportunismus – bilden zusammen das unternehmerische Kapital. Der Ertrag moralischer Ressourcen eines Unternehmens ist Achtung, die dadurch zum Ausdruck kommt, dass implizite Verträge eingehalten werden.1012 Träger moralischer (und wirtschaftlicher) Ressourcen sind Individuen. Damit moralische Güter aktiviert werden – d.h. tugendethisch eingestellte Mitglieder implizite Vertragsversprechen einhalten –, müssen entsprechende Regeln in der Governancestruktur des Unternehmens verankert werden. Denn, wie bereits begründet, können moralische Güter nicht über den Markt erworben werden, da sie nicht von wirtschaftlichen Gütern separierbar sind. Damit sind in der Governancestruktur entsprechende Anreize zu etablieren, welche die Statuserträge aus den moralischen Gütern, also Wertschätzung (Achtung), die ebenfalls nichtseparierbar mit wirtschaftlichen Gütern verbunden ist, gerecht allozieren. Denn nur dann sind die Mitglieder bereit, ihre moralischen Ressourcen in Form moralischer Güter in den Produktionsprozess einzubringen, wenn sie z.B. fair entlohnt werden oder faire Arbeitsbedingungen vorfinden. Mit anderen Worten: Akteure, die moralische Güter allozieren, tätigen teamspezifische Investitionen, die vom Team ausgebeutet werden können. Wenn es nicht gelingt, diese Ausbeutung durch entsprechende Vorkehrungen in der Governancestruktur einzudämmen, wird das Angebot moralischer Güter gegen Null gehen.1013 Moralische Güter haben somit einen personalen Aspekt: Sie setzen voraus, dass individuelle oder kollektive Akteure über moralische Präferenzen und Fertigkeiten (Tugendethik) verfügen, die durch entsprechende Vorkehrungen in der Governancestruktur aktiviert werden. Gleichzeitig, und dies ist der Güteraspekt moralischer Güter, sind diese in Organisationen immer untrennbar mit wirtschaftlichen Gütern verbunden. Es gibt keinen separaten Markt für sie, und ein solcher kann auch nicht geschaffen werden. Daraus erwächst die unternehmerische Aufgabe, die Statuserträge aus moralischen Ressourcen gerecht individuell zuzuschreiben bzw. zu allozieren.1014 Auf diese Weise wird das Problem tugendethischer Werte zu einem Problem der Verteilungsgerechtigkeit in Kooperationen: innerhalb des Unternehmens zwischen Teammitgliedern oder zwischen dem Unternehmen und seinen Anspruchsgruppen.1015 Daraus resultiert die zentrale Idee der Governanceethik: Es ist die Gestaltungsaufgabe von Unternehmen, ein umfassendes 1011 1012 1013 1014 1015
Vgl. Wieland (1996), S. 157. Vgl. Wieland (1996), S. 13, 20, 30 und 144. Vgl. Wieland (1996), S. 20ff., 143ff., 157ff. und 177ff. Vgl. Wieland (1996), S. 143, 157 und 177f. Vgl. Wieland (1996), S. 177f.
7.2 Das Management von Moral
213
Anreizmanagement zu betreiben, das wirtschaftliche und moralische Anreize setzt.1016 Die Allokation moralischer Güter wird zu einem Element der unternehmerischen Governancestruktur, welche diese generieren und fördern muss. Da sie Kosten und Erlöse generiert, muss die Gestaltung der Governancestruktur Ökonomisierungsanstrengungen unterworfen werden und an ihrer komparativen und adaptiven Effizienz gemessen werden.1017 Moral fungiert für Unternehmen als Handlungsoption und Handlungsbeschränkung.1018 Daraus resultiert der organisatorische Imperativ von Wieland (1996, S. 176): „Handele so, daß Du die Aktivierung moralischer Güter förderst und gleichzeitig nicht schutzlos wirst gegen Opportunismus.“
Dabei werden, wie bereits erwähnt, die vollen Erträge und eine Ausweitung der Arbeitsteilung und Kooperationen nur dann realisiert, wenn die Allokation moralischer Güter als gerecht empfunden wird. Denn nur damit kann ein kollektiver Akteur seine Moralpräferenz glaubwürdig signalisieren und erhält auf diese Weise einen Schutzmechanismus gegen die Ausbeutung moralischer Investitionen in Kooperationen. Dieser Zusammenhang betrifft nicht nur Vertragsbeziehungen bei Teamproduktion, sondern ebenso teamexterne Tauschbeziehungen zwischen dem Unternehmen und seinen Kunden, Lieferanten, Partnern oder der Gesellschaft.1019
7.2
Das Management von Moral
Wieland hat mit seiner Ökonomik der Transaktionsatmosphäre die ökonomischen und gesellschaftstheoretischen Grundlagen für die Zusammenhänge zwischen moralischem und ökonomischem Handeln von Unternehmen gelegt. Unternehmen haben aufgrund dessen die Aufgabe, die Allokation moralischer Güter effektiv und effizient zu aktivieren. Hierfür bedarf es entsprechender Vorkehrungen in der Governancestruktur, d.h. den Regeln unternehmerischen Handelns. Die folgende Schilderung der Governanceethik von Wieland ist der zentrale Kern seines unternehmensethischen Ansatzes. Sie zeigt auf, welche Regelungskomponenten für die Aktivierung moralischer Güter wichtig und welche Kriterien relevant sind, damit jene effizient und effektiv zusammenwirken (siehe Abschnitt 7.2.1). Hier wird der bislang positive Ansatz von Wieland normativ. Ein wesentliches Kriterium ist dabei, die Glaubwürdigkeit der eigenen Moralpräferenz wirksam zu signalisieren, die durch verschiedene Mechanismen gestärkt werden kann (siehe Abschnitt 7.2.2). Schließlich empfiehlt Wieland, aus Gründen der effektiven und effizienten Implementierung geeigneter Governancestrukturen, ein Wertemanagementsystem im Unternehmen zu verankern (siehe Abschnitt 7.2.3).
1016 1017 1018 1019
Vgl. Wieland (2004b), S. 25. Vgl. Wieland (1996), S. 10 und 184. Vgl. Wieland (1996), S. 170. Vgl. Wieland (1996), S 13, 177 und 181.
214 7.2.1
7 Die Governanceethik von Wieland Governanceethik
Die Governanceethik interpretiert Organisationen als Netzwerke formaler und informaler Regeln (Governancestrukturen) zur Führung, Steuerung und Kontrolle von Transaktionen. Diese fungieren als individuelle, personale, organisationelle und systemische Beschränkungen,1020 die einen Einfluss auf die Aktivierung der Moral als individuelle und kollektive Ressource haben.1021 Die grundlegende Idee der Governanceethik besteht nun darin, alle Probleme und Aspekte der Governanceethik mikroanalytisch als moralische Dimension distinkter wirtschaftlicher Transaktionen (Tm) darzustellen. Die moralische Dimension von Transaktionen umfasst die moralischen Dispositionen und Ansprüche an diese Transaktionen, die sich aus der Selbstverpflichtung der jeweiligen Akteure sowie den gesellschaftlich akzeptierten Überzeugungen legitimieren. Die Effizienz und Effektivität der Aktivierung moralischer Güter, d.h. die moralische Dimension wirtschaftlicher Transaktionen, wird verschiedenen Governancestrukturen zugeordnet, welche die Transaktionen steuern und kontrollieren.1022 Diesen Zusammenhang drückt die Governanceethik in Form einer Funktion aus, die den moralischen Gehalt wirtschaftlicher Transaktionen als Funktion verschiedener Governancestrukturen, d.h. Regeln unternehmerischen Handelns innerhalb und außerhalb des Unternehmens, darstellt:1023 Tmi = f (aISi, bFIij, cIFij, dOKKi) (a...d = -1, 0, 1; i = spezifische Transaktion; j = spezifischer Ort) Wieland (2004a, S. 3) definiert die moralische Dimension einer wirtschaftlichen Transaktion (Tm) in der Praxis als eine Funktion der individuellen Selbstbindungsstrategien (IS), der formalen Institutionen (FI) und informalen Institutionen (IF) einer gegebenen Gesellschaft sowie der Koordinations- und Kooperationsmechanismen einer Organisation (OKK). Dabei stellt diese Funktion ein Wahl- und Entscheidungsproblem bei der Umsetzung moralischer Sätze in die organisatorische Praxis dar.1024 Wieland (2001b, S. 10) weist nun den Koeffizienten der verschiedenen Governancestrukturen a, b, c und d die Werte -1, 0 oder 1 zu, die im Fall von 1 eine positive Wirksamkeit der spezifischen Struktur, im Fall von 0 keine Wirkung und im Fall von -1 eine negative Wirkung des Strukturelements kennzeichnen. Die individuellen Selbstbindungsstrategien individueller und kollektiver Akteure (IS) können auf tugendethische Prinzipien, rationale Vorteile oder sonstige Mechanismen zurückgeführt werden. Damit versucht Wieland (2004a, S. 4) in seiner Funktion zu verdeutlichen, dass die Tugendethik notwendiger Bestandteil der unternehmerischen Governancestruktur ist. Die individuelle Selbstbindung umfasst die Bereitschaft (Motivation) und die Fähigkeit (d.h. das Vorhandensein moralischer Ressourcen) eines (individuellen oder kollektiven) Akteurs,
1020 1021 1022 1023 1024
Vgl. Wieland (1996), S. 80f., und (2001b), S. 15. Vgl. Wieland (2004a), S. 4. Vgl. Wieland (2001b), S. 9, und (2004b), S. 11. Vgl. Wieland (2004a), S. 3. Vgl. Wieland (2004a), S. 3.
7.2 Das Management von Moral
215
moralische Werte in seinen Handlungen zu verwirklichen. Gleichzeitig weist die Funktion darauf hin, dass für die Aktivierung moralischer Ressourcen ein institutioneller Rahmen, dargestellt in den weiteren Termen der Funktion, nötig ist.1025 Die formalen Institutionen einer gegebenen Gesellschaft (FI) kodifizieren wettbewerbsneutral die moralischen Ansprüche an wirtschaftliche Transaktionen, z.B. durch eine entsprechende Gesetzgebung. Im Zuge der Globalisierung haben die formalen Institutionen indessen an Einfluss verloren. Damit werden die informalen Institutionen einer gegebenen Gesellschaft (IF) wichtiger, die funktionale Äquivalente ihrer formalen Institutionen sind.1026 Zu den informalen Institutionen zählt Wieland (2001b, S. 9 und 14) insbesondere religiöse und moralische Überzeugungen einer gesellschaftlichen oder auch organisationalen Kultur. Diese bestimmen die Effizienz und Effektivität wirtschaftlicher Transaktionen wesentlich mit.1027 Die Koordinations- und Kooperationsmechanismen einer Organisation (OKK) sind die organisationsinternen Regeln, mit denen diese ihre Transaktionen führt, steuert und kontrolliert. Dazu gehören z.B. Leitlinien und Verfahren gesellschaftlicher Prozesse, ebenso wie „policies and procedures“. Moralische Anreize sind nur dann erfolgreich und auf Dauer wirksam, wenn ein Unternehmen konsequent Koordinations- und Kooperationsmechanismen implementiert hat. Nur dann kann es vorhandene tugendethische Werte der Akteure nutzen.1028 Erst eine genuine und glaubwürdig kommunizierte moralische Selbstbindung eines Unternehmens befähigt ein Unternehmen, als Kooperationspartner für bestimmte Transaktionen in Frage zu kommen. Diese Selbstbindung wird durch Investitionen in geeignete organisationale Routinen bzw. Regeln erzeugt. Die Governanceethik ist im Wesentlichen eine Organisationsethik1029, das Argument OKK bildet gewissermaßen ihr Kernstück.1030 Koordinations- und Kooperationsmechanismen von Organisationen umfassen globale und lokale Governancestrukturen. Globale Governancestrukturen sind unternehmensspezifische Ressourcen wie etwa ein „Code of Ethics“. Lokale Governancestrukturen stellen demgegenüber transaktionsspezifische Ressourcen dar, wie z.B. interorganisationale Verhaltensstandards oder „policies and procedures“ von Unternehmen, soweit sie auf die Bearbeitung moralischer Fragestellungen abzielen. Die Governancestrukturen sind teilweise formal, wie z.B. im Fall von Wertemanagement- und Werteauditsystemen1031, und teilweise informal, wie z.B. im Fall unternehmerischer Moralkultur.1032 Die beschriebene Funktion steht im Mittelpunkt der Governanceethik. Sie ist nach Meinung Wielands (2004a, S. 3, und 2004b, S. 11) vollständig, weil sie sämtliche Governancestrukturen auflistet, die es in sozialen Beziehungen gibt, um moralische Ressourcen zu aktivieren. Gleichzeitig ist sie notwendig, weil in jeder Transaktion immer alle vier strukturellen Komponenten simultan wirken. Schließlich ist die Funktion auch spezifisch, da sie komparative Aus1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032
Vgl. Wieland (2004a), S. 4f., und (2001b), S. 9. Vgl. Wieland (2001b), S. 9 und 13f. Vgl. Wieland (2001b), S. 14, mit Bezug auf North (1990), insbesondere Abschnitt 5 Teil 1. Vgl. Wieland (2001b), S. 10 und 19. Vgl. Panther (2004), S. 9. Vgl. Wieland (2001b), S. 17. Siehe Wieland/Grüninger (2000). Vgl. Wieland (2001b), S. 15.
216
7 Die Governanceethik von Wieland
sagen über die Wirksamkeit verschiedener Moralregimes generiert.1033 Damit vermag die Funktion der Governanceethik nach Ansicht Wielands (2001b, S. 16f.) als Analyseinstrument für die Wahl effizienter und effektiver Governancestrukturen zur Steuerung und Kontrolle der moralischen Dimension spezifischer Transaktionen bzw. zur Diagnose von Steuerungsdefiziten zu dienen. Aus dieser Funktion heraus bildet Wieland (2001b, S. 16f.) verschiedene Extremata bzw. Reinformen der Governancestruktur: x
Eine reine Tugendethik liegt dann vor, wenn nur individuelle Selbstbindungsstrategien in der Governancestruktur wirksam sind,
x
eine reine Ordnungsethik, wenn moralische Werte ausschließlich in den formalen Institutionen einer Gesellschaft institutionalisiert sind,
x
eine reine globale Ethik, wenn Normen ausschließlich in informalen Institutionen zu finden sind, und
x
eine reine Unternehmensethik, wenn moralische Werte einzig in den unternehmensinternen Routinen verankert sind.
Letztlich wirken nach Meinung Wielands (2001b, S. 18) alle vier Parameter der Governancefunktion als funktionale Äquivalente, d.h. sie sind hinsichtlich ihrer Wirkungen auf die moralische Dimension wirtschaftlicher Transaktionen vergleichbar. Wesentliches Kriterium der Governanceethik zur Bewertung alternativer Governancestrukturen ist die ökonomische und moralische Anreizsensitivität, welche die Effizienz und Effektivität der Transaktionen bestimmt. Daraus leitet die normative Governanceethik Gestaltungsempfehlungen für angemessene Führungs-, Steuerungs- und Kontrollregime ab, deren Wirkungsgrad hinsichtlich der erwähnten Anreizsensitivität bestimmt wird. Dabei zielt die Governanceethik nicht auf die Bewertung und Verbesserung einzelner Handlungen ab, sondern auf die Entwicklung von Routinen, welche geeignet sind, moralisch bessere Handlungen hervorzubringen. Zu diesem Zweck setzen diese Routinen Anreize, die im Sinne des erwähnten organisatorischen Imperativs moralisches Handeln fördern und unmoralisches Handeln vermeiden sollen. Hier kommt es auf eine wirksame Kombination der verschiedenen Parameter der Governancefunktion an, denn die oben dargestellten Reinformen sind nur in Ausnahmefällen wirksam, d.h. in der Lage, „moralisch bessere“ Handlungsergebnisse zu erzielen. Wobei „moralisch besser“ sich definiert im Hinblick auf die Regeln und Werte bzw. moralischen Hintergrundannahmen von Organisationen und der jeweiligen Gesellschaft.1034 7.2.2
Signalisierung von Glaubwürdigkeit
Ein zentrales Kriterium für die Bewertung eines effizienten und effektiven Moralregimes ist die Glaubwürdigkeit, mit der ein Akteur seine langfristige Kooperationsbereitschaft gegen-
1033
1034
Vgl. Wieland (2004a), S. 3, und Wieland (2004b), S. 11. Für ausführlichere Erläuterungen siehe Wieland (2001a), S, 8ff. Vgl. Wieland (2001b), S. 17ff., und (1996), S. 176, mit Bezug auf Rawls (1971/1979).
7.2 Das Management von Moral
217
über seinen Kooperationspartnern, d.h. seinen Anspruchsgruppen, zu signalisieren vermag.1035 Glaubwürdigkeit kann nach Wieland (2004a, S. 7) als ein Statusgut verstanden werden, das als Ergebnis gelungener Kooperationen in der Vergangenheit zugewiesen wird. Sie spiegelt die Erwartung eines Akteurs wider, dass sein Kooperationspartner aufgrund vergangener erfolgreicher Kooperationen auch in Zukunft wahrhaftige Aussagen treffen und sich an gegebene Versprechen halten wird. Glaubwürdigkeit ist folglich in Bezug auf die Einhaltung impliziter Verträge in anonymen Kooperationsbeziehungen relevant, d.h. in Situationen, in denen Erwartungsunsicherheit und Informationsasymmetrie herrschen, die nicht aufgehoben werden können. Dabei ist sie nicht zwingend ein tugendethischer Begriff, denn erstens wäre sie unter vollständig moralischen Akteuren gar nicht nötig und zweitens kann ein Akteur Glaubwürdigkeit auch hinsichtlich seiner Androhung krimineller Straftaten besitzen.1036 Die Glaubwürdigkeit erhält darum nach Wieland (2004a, S. 7) erst dann eine moralische Dimension, wenn sie sich auf Tugenden bezieht. Zum Status der Glaubwürdigkeit gehört notwendigerweise auch der Status der „Professionalität“, der sich auf die Genauigkeit und Zuverlässigkeit eines Akteurs bezieht. Das Versprechen eines Akteurs wird nur dann für glaubwürdig gehalten, wenn man ihn für ausreichend professionell erachtet, dieses einhalten zu können.1037 Akteuren stehen für eine glaubwürdige Zusicherung und Versicherung hinsichtlich der eigenen Präferenzen und verschiedenen Verhaltensabsichten Selbstbindungs- und Fremdbindungsmechanismen zur Verfügung, wie sie in der folgenden Darstellung 7.2 aufgelistet sind. Selbstbindungsmechanismen individueller Akteure sind Tugend, Religiosität und moralische Überzeugungen, auf kollektiver Akteursebene moralische Verhaltensstandards und ein Integritätsmanagement. Als Fremdbindungsmechanismen sind formelle Gesetze und Verfahren sowie informelle Kulturstandards und sozialer Druck in der Lage, die Glaubwürdigkeit unternehmerischer Versprechungen zu erhöhen.1038 Akteure individuelle
Institutionen kollektive
formelle
Selbstbindung IS Tugend Religiosität Überzeugungen
OKK Verhaltensstandards Integritätsmanagement
informelle Fremdbindung
FI Gesetze Verfahren
IF Kulturstandards sozialer Druck
Darst. 7.2: Glaubwürdigkeit durch Selbst- und Fremdbindungsmechanismen Quelle: Wieland (2004a), S. 11.
Wie effizient und effektiv moralische Governancestrukturen tatsächlich sind, hängt von der Art und Weise ab, wie diese Selbstbindungs- und Fremdbindungsmechanismen miteinander
1035 1036 1037 1038
Vgl. Wieland (1996), S. 150ff. Vgl. Wieland (2004a), S. 5, 7 und 11. Vgl. Wieland (2004a), S. 10. Vgl. Wieland (2004a), S. 11.
218
7 Die Governanceethik von Wieland
kombiniert werden. Dabei wird die Glaubwürdigkeit von zwei weiteren Faktoren bestimmt: von der Art des Akteurs, der diese Mechanismen nutzt, und von der Effizienz und Effektivität der Institutionen, in die diese Mechanismen integriert werden. Spezifische Verpflichtungen von Akteuren sind umso glaubwürdiger, je stärker sie in Einklang stehen mit x
den Präferenzen (dem subjektiven Wollen),
x
den Fähigkeiten (dem subjektiven Können) und
x
den Möglichkeiten (dem objektiven Können) des jeweiligen Akteurs.1039
Die Glaubwürdigkeit ist darüber hinaus eine Funktion der Art und Kombination der Selbstund Fremdbindungsmechanismen in der Governancestruktur. Hier unterscheidet Wieland (2004a, S. 14f.) drei Faktorgattungen, die es wirksam miteinander zu kombinieren gilt: x
Sicherheiten, wie z.B. Gesetze, Verordnungen, Garantien oder ein Ehrenwort. Diese sind zu ergänzen durch
x
Drohpotenziale, d.h. staatliche oder private Erzwingungsmechanismen oder das Androhen des Verlusts von Reputation, wenn die Sicherheiten nicht eingehalten werden sollten.
x
Neben diesen „negativen Anreizen“ ist es notwendig, zusätzliche positive ökonomische und moralische Anreize1040 zu setzen, die moralisches Handeln belohnen.
Schließlich und endlich hängt die Glaubwürdigkeit unternehmerischer Zusicherungen vom Öffentlichkeitsgrad ihrer Erzwingungsmechanismen ab, die in Fremdbindungs- und Selbstbindungsmechanismen unterschieden werden können. Dabei zeigt sich, dass z.B. die Glaubwürdigkeit eines Nachhaltigkeitsberichts davon abhängt, ob er von unabhängigen Organisationen, von einem staatlich verordneten Auditsystem oder durch das Unternehmen selbst evaluiert wurde. Es können hier drei wesentliche Einflussfaktoren unterschieden werden:1041
1039 1040
1041 1042
x
Öffentliche Ordnungen als Fremdbindungsmechanismen, d.h. Gesetze und Verordnungen. Diese sind insofern glaubwürdig, als auf sie ein durchsetzbarer Rechtsanspruch besteht und sie durch einen neutralen kollektiven Akteur, den Staat, vollzogen werden.
x
Private Ordnungen, d.h. die Selbstbindungsmechanismen in Form von Verträgen und Verfahren. Sie verbessern die Glaubwürdigkeit, sofern ihre Einhaltung für das Unternehmen mit Gewinnen bzw. ihre Verletzung mit Verlusten an Reputation1042 verbunden sind.
x
Netzwerkordnungen, wie beispielsweise Corporate Governance-Kodizes oder Public Private Partnerships, kombinieren Fremd- und Selbstbindungsmechanismen. Ihr Glaubwürdigkeitspotenzial erwächst aus dem Zusammenspiel effizienter und effektiver privater Ordnungen und der Erzwingungsmacht privater und öffentlicher Ordnungen.
Vgl. Wieland (2004a), S. 12ff. Für eine Übersicht und Erläuterung wirtschaftlicher und moralischer Anreize siehe Wieland (2004b), S. 15ff. Letztere sind dadurch wirksam, weil Menschen, wie bereits beschrieben, ein Bedürfnis nach Wertschätzung haben, vgl. hierzu Wieland (2004b), S. 20ff. Vgl. Wieland (2004a), S. 15. Vgl. auch Barzel (1998).
7.2 Das Management von Moral
219
Die folgende Darstellung 7.3 zeigt die verschiedenen Einflussfaktoren auf die Glaubwürdigkeit von Versprechungen im Überblick. Sie umfassen Eigenschaften der Akteure und des unternehmerischen Handlungsumfelds. Dabei kann die Ambiguität, Unvollständigkeit von Informationen und die Unsicherheit der Signalisierung von Glaubwürdigkeit nie vollständig aufgehoben werden. Es gibt immer nur mehr oder weniger, nie vollständige Glaubwürdigkeit.1043 Um diese zu optimieren, empfiehlt Wieland (2004a, S. 17) Unternehmen, ein Wertemanagementsystem einzuführen (vgl. Abschnitt 7.2.3).
Akteure
Institutionen
Bindung
Faktoren x Präferenzen x Fähigkeiten x Möglichkeiten x Sicherheiten x Drohpotenziale x Anreize x öffentliche Ordnungen x private Ordnungen x Netzwerkordnungen
Darst. 7.3: Überblick über die Einflussfaktoren auf die Glaubwürdigkeit Quelle: Wieland (2004a), S. 16.
Unternehmen benötigen Glaubwürdigkeit nicht nur in sämtlichen ihrer Kooperationsprojekte, sondern auch gegenüber ihren Kunden. Beide Bereiche ergeben zusammen die moralische Dimension einer wirtschaftlichen Transaktion.1044 Der Bedarf für Glaubwürdigkeitsmechanismen steigt mit zunehmender Erwartungsunsicherheit und Unvollständigkeit von Informationen in Bezug auf die Beschaffenheit der Güter und Dienstleistungen, die ein Unternehmen erstellt. Dabei können die folgenden Güterarten unterschieden werden:1045
1043 1044 1045
x
Suchgüter, deren Qualität und Preis relativ einfach durch Inspektion ermittelt werden kann.
x
Erfahrungsgüter, deren Eigenschaften während der Nutzung, also erst nach dem Kauf, deutlich werden. Käufer haben hier ein erhöhtes Opportunismusrisiko, das der Hersteller durch eine gelungene Markenbildung teilweise kompensieren kann.
x
Vertrauensgüter, bei denen der Konsument aufgrund fehlender Kompetenz und Informationen selbst während des Konsums nach dem Güterkauf die Qualität nicht überprüfen kann. Das Opportunismusrisiko aufgrund von Informations- und Erwartungsunsicherheit ist hier höher als bei Erfahrungsgütern, so dass Anbieter in eine Reputation für Integrität investieren müssen.
Vgl. Wieland (2004a), S. 16f. Vgl. Wieland (2004b), S. 25. Vgl. Wieland (2004b), S. 22f.
220 x
7 Die Governanceethik von Wieland Moralgüter, wie sie Wieland (2004b, S. 22f.) eigens einführt, sind beispielsweise Alkohol, Kernkraftwerke, gentechnisch veränderte Lebensmittel oder Dienstleistungen im Gesundheitssektor. Bei dieser Güterart ist der Bedarf an Glaubwürdigkeit von Seiten des Unternehmens am größten. Zusätzlich zu einer bestehenden Informations- und Erwartungsunsicherheit kommt als weiteres Problem hinzu, die gesellschaftliche Akzeptanz bzw. Legitimität der Produkte im Rahmen diskursiver gesellschaftlicher Bewertungen zu erzeugen oder zu erneuern.
Der Bedarf an Glaubwürdigkeit seitens der Unternehmen, der bereits bei Erfahrungsgütern besteht, bei Vertrauensgütern größer und bei Moralgütern schließlich am größten ist, geht einher mit einem Bedarf an moralischer Achtung (Wertschätzung). Unternehmen benötigen diese von ihren Mitgliedern zu deren Motivation sowie von ihren Konsumenten und weiteren politischen und gesellschaftlichen Akteuren, wie z.B. Nichtregierungsorganisationen. Je nach Güterart, die das Unternehmen herstellt, empfiehlt es sich, moralsensitive Governancestrukturen zu etablieren, welche die in Darstellung 7.4 dargestellten unterschiedlichen Prüfverfahren und -kriterien der jeweiligen Güterarten berücksichtigen.1046 Güter/Dienstleistungsart Suchgüter
Prüfverfahren Inspektion
Prüfkriterium Qualität (Preis)
Erfahrungsgüter
Nutzung
Qualität (Preis)
Vertrauensgüter
Reputation
Integrität
Moralgüter
Legitimität
Akzeptanz
Beispiel Kleidung Schrauben Lebensmittel Autos Arzt Gelddienstleistungen Humankapital Kernkraftwerke
Darst. 7.4: Prüfverfahren und -kriterien unterschiedlicher Güterarten Quelle: Wieland (2004b), S. 23.
Für die Einordnung der unternehmerischen Güter und Dienstleistungen in die verschiedenen Kategorien ist jedoch zu beachten: Gesellschaftliche Wahrnehmungen und Diskurse verändern sich, und dies z.T. relativ rasch. Alle Güter können früher oder später zu Moralgütern werden. Um dies zu verhindern, kann ein Unternehmen versuchen, die moralischen Qualitäten seiner Güter hervorzuheben und für deren gesellschaftliche Akzeptanz zu werben. Grundsätzlich sind Wertemanagement- und Werteauditsysteme auch hier geeignete Mechanismen, die Wertschätzung des Unternehmens für seine Anspruchsgruppen mittels seiner wirtschaftlichen Güter zu allozieren und daraus bis auf Weiteres Legitimität, eine „license to operate“, d.h. Wertschätzung von Seiten der Konsumenten und Bürger zu erwerben.1047
1046 1047
Vgl. Wieland (2004b), S. 23. Vgl. Wieland (2004b), S. 23f.
7.2 Das Management von Moral 7.2.3
221
Wertemanagementsystem
Wie können ethische Präferenzen konkret in wirtschaftlichen Transaktionen implementiert werden? Mit anderen Worten: Wie kann ein Unternehmen effiziente und effektive Governancestrukturen verankern, welche glaubwürdig die eigene Kooperationsbereitschaft und die wirtschaftliche und moralische Qualität seiner Güter signalisieren und auf diese Weise die Wertschätzung seitens der unternehmerischen Anspruchsgruppen aktivieren? Diese Frage ist bislang in der wirtschafts- und unternehmensethischen Diskussion nur unzureichend geklärt.1048 Für eine konkrete moralische Selbstbindung und die adäquate Gestaltung der Koordinationsund Kooperationsmechanismen empfiehlt Wieland (2001b, S. 15) die Implementierung eines Wertemanagementsystems inklusive eines Werteauditsystems.1049 Ein Wertemanagementsystem ist ein Managementinstrument, das die moralischen Werte eines Unternehmens definiert, kodifiziert und operationalisiert, so dass diese Werte im Unternehmensalltag operativ wirksam werden können.1050 Das Wertemanagementsystem ist durch seine Selbstbeschreibungs- und Selbstbindungswirkung geeignet, kollektiven Akteuren eine moralische Identität zu geben, um so eine gewisse Verhaltens- und Erwartungssicherheit in Kooperationsbeziehungen zu generieren. Diese gewisse Sicherheit ist für die Kooperationspartner des Unternehmens ebenso wie für das Unternehmen selbst zur Beurteilung der eigenen (potenziellen) Kooperationspartner von großem Nutzen. Sie ermöglicht in wirtschaftlichen Transaktionen die Allokation moralischer Wertschätzung auf sich selbst und Andere. Damit geht die Identität einher mit einem umfassenden Anreizmanagement, das in der Lage ist, eine genuine Moral zu fördern.1051 Das von Wieland empfohlene Wertemanagementsystem ist in der folgenden Darstellung 7.5 dargestellt. Es besteht aus einem Prozess, welcher die vier Stufen der Kodifizierung, Kommunikation, Implementierung und Organisation moralischer Werte umfasst.1052 Diese Stufen enthalten die Zielbildung sowie Mechanismen der Umsetzung, Kontrolle und Organisation moralischer Versprechen.1053 Die erste Stufe für den Aufbau eines Wertemanagementsystems sieht die Kodifizierung der Grundwerte eines Unternehmens vor. Diese schreibt die geschäftspolitischen Grundsätze fest und steuert die Entscheidungen und Handlungen in spezifischen Transaktionen. Hier entscheidet das Unternehmen, welche Identität es sich geben und welche Art von Geschäften es
1048 1049
1050 1051 1052 1053
Vgl. Wieland/Fürst (2002), S. 33. Vgl. Wieland (2004b), S. 25f., unter Hinweis auf Wieland/Grüninger (2000). An dieser anwendungsbezogenen Konzeption von Ethik kritisieren P. Ulrich (1998) und beispielsweise Thielemann (2000), dass diese lediglich auf einer Instrumentalisierung und Funktionalisierung von Ethik basiere, anstatt sich der Begründung des moralisch besseren Arguments zuzuwenden und bei der Durchsetzung auf moralische Intentionen zu setzen. Dem entgegnen Wieland/Fürst (2002), S. 40, dass genau diese Vorgehensweise im Funktionssystem der Wirtschaft letztlich irrelevant und konsequenzlos sei. Vgl. Wieland/Fürst (2002), S. 35. Vgl. Wieland (2004b), S. 25f., und Wieland/Fürst (2002), S. 35. Vgl. Wieland (1999), S. 92. Vgl. Wieland (2004a), S. 18.
222
7 Die Governanceethik von Wieland
betreiben möchte.1054 Die Unternehmenswerte werden in einem „code of ethics“ oder „code of conduct“ festgeschrieben, der damit in gewisser Hinsicht die Visitenkarte des Unternehmens darstellt. Insgesamt beinhalten und beschreiben diese Kodizes nicht nur die moralischen Werte eines Unternehmens, sondern ebenso dessen Leistungs-, Kommunikations- und Kooperationswerte, wie sie beispielhaft in Darstellung 7.6 in Form eines Werte-Vierecks gegenübergestellt sind. Wichtig ist hier, eine ausgewogene, unternehmensspezifische und -charakteristische Mischung von Werten aus allen vier Bereichen miteinander zu verknüpfen.1055 Organisation des Wertemanagements Ethik/ Compliance Office
Funktionale Integration (z.B. Revision, QM)
Chefsache
Stufe 4: Organisieren
Instrumente des Wertemanagements Complianceprogramm
Werteprogramm
Werteauditsystem
Stufe 3: Implementieren
Unternehmenskommunikation Intra Team
Inter Team
Extra Team
Stufe 2: Kommunizieren
Unternehmenswerte Leistung
Interaktion Kommunikation
Moral
Kooperation
Stufe 1: Kodifizieren Darst. 7.5: Prozessstufen des Wertemanagementsystems Quelle: Wieland (1999), S. 93.
Der Grundgedanke besteht darin, ein faires und integres Kooperationsmanagement mit den Anspruchsgruppen festzuschreiben. Dabei ist der Wertekodex weder eine Sammlung grundsätzlich wünschenswerter Werte, noch ein Versprechen an sich, dass ein Unternehmen jeder-
1054 1055
Vgl. Wieland (2002), S. 6, und Wieland/Fürst (2002), S. 36. Vgl. Wieland (1999), S. 92f., und Wieland/Fürst (2002), S. 36.
7.2 Das Management von Moral
223
zeit in allen seinen Transaktionen diese Werte einhalten wird. Ebenso wenig beschreibt er einen bereits erreichten Standard. Vielmehr ist er eine Willenserklärung seitens des Unternehmens, welche dessen Verhaltenspräferenzen und Handlungsabsichten signalisiert und als Richtlinie für moralisch sensible Entscheidungen im Unternehmen dient.1056 Der Wertekodex wirkt als Abgabe eines moralischen Versprechens,1057 das allerdings nur dann wirklich glaubwürdig ist, wenn die Grundwerte klar formuliert und lebbar sind.1058
Leistungswerte x Nutzen x Kompetenz x Leistungsbereitschaft x Flexibilität x Kreativität x Innovationsorientierung x Qualität
Kommunikationswerte x Achtung x Zugehörigkeit x Offenheit x Transparenz x Verständigung x Risikobereitschaft
Kooperationswerte
Moralische Werte
x Loyalität x Teamgeist x Konfliktfähigkeit x Offenheit x Kommunikationsorientierung
x Integrität x Fairness x Ehrlichkeit x Vertragstreue x Verantwortung
Darst. 7.6: Werte-Viereck: Management of Values Quelle: Wieland (1999), S. 94.
Auf der zweiten Stufe des Wertemanagementsystems werden nach Wieland (2002, S. 6) und Wieland/Fürst (2002, S. 37) die Unternehmenswerte intern und extern kommuniziert. Diese Stufe ist von zentraler Bedeutung, schließlich geht es darum, die Werte mit Leben zu füllen, d.h. die praktische Umsetzung z.B. durch entsprechende Arbeitsanweisungen, Arbeitsprozesse, Leitlinien und Weiterbildungsmaßnahmen zu institutionalisieren. Wichtige Bereiche sind dabei beispielsweise Karriereplanungen, die Entgeltpolitik, Lieferantenbewertungen, der Umgang mit Geschenken, Anforderungen an die Werthaltungen von Mitarbeitern etc.1059 Auf dieser Stufe zeigt es sich, wie ernst das Unternehmen seine Werte nimmt und welche Erwar-
1056 1057 1058 1059
Vgl. Wieland (1999), S. 93, und Wieland/Fürst (2002), S. 37. Vgl. Wieland (2004a), S. 18. Vgl. Wieland (2002), S. 6. Vgl. Wieland (2002), S. 6, und Wieland/Fürst (2002), S. 37.
224
7 Die Governanceethik von Wieland
tungssicherheit und Selbstbindungswirkung tatsächlich resultieren. Insgesamt sind auf dieser Stufe drei Kooperationssphären zu unterscheiden:1060 x
„intra team“, d.h. die Kommunikation im Unternehmen selbst, z.B. durch moralische Werte in den Verhaltenskriterien für die Bewerberauswahl, den Zielvereinbarungen und den Mitarbeiter- und Managerbeurteilungen,
x
„inter team“, d.h. die Kommunikation zwischen Unternehmen, wie z.B. durch ein Lieferantenmanagement, das moralische Kriterien der Lieferantenbewertungen enthält,
x
„extra team“, d.h. die Kommunikation mit der Gesellschaft bzw. ihren Gruppierungen, z.B. mit Hilfe operationalisierter Verhaltensstandards zu Fragen der Menschenrechte oder des Umweltschutzes, wobei sich das Unternehmen hier hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Verantwortung – der „Corporate Social Responsibility“ und „Corporate Citizenship“ – positioniert.
Die konkreten Instrumente des Wertemanagements – die Complianceprogramme, Werteprogramme und Werteauditsysteme – platziert Wieland (2002, S. 6) auf der dritten Stufe des Wertemanagementsystems.1061 Diese Instrumente gilt es so aufeinander abzustimmen und miteinander zu verknüpfen, dass das Managementsystem die verschiedenen Werte möglichst konfliktfrei umsetzen kann.1062 Complianceprogramme haben zum Ziel, im Rahmen der Fremdsteuerung des Unternehmens für die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen zu sorgen.1063 Hier werden z.B. Mitarbeiter über die aktuelle Rechtslage aufgeklärt und es wird klar kommuniziert, dass die Rechtsbestimmungen von allen Managern und Mitarbeitern einzuhalten sind.1064 Demgegenüber zielen Werteprogramme auf eine Selbststeuerung des Unternehmens im Sinne der eingegangenen Selbstverpflichtung ab. Sie enthalten Instrumente zur Implementierung moralischer Kommunikation in der lokalen Governancestruktur des Unternehmens. Hierzu gehören beispielsweise Verhaltensstandards und entsprechende Kommunikationsmedien, Schulungs- und Trainingsmaßnahmen, Rekrutierungsverfahren, Lieferantenbewertungssysteme, ein Risikoscreening etc.1065 Dabei hat es sich in angelsächsischen Ländern gezeigt, dass Complianceprogramme nur im Kontext eines solchen Werteprogramms tatsächlich wirksam sind.1066 Hinsichtlich des Auditverfahrens, dem letzten wesentlichen Instrument des Wertemanagements, können nach Wieland und Fürst (2002, S. 34) zwei Ansätze unterschieden werden: der „Third Party-Ansatz“ und der „Self-Governance-Ansatz“. Der „Third-Party-Ansatz“ basiert
1060 1061
1062 1063 1064 1065 1066
Vgl. Wieland (1999), S. 94f., und Wieland/Fürst (2002), S. 37f. Die Darstellung der Schwächen der Governanceethik in Abschnitt 7.3 wird zeigen, dass die Stufen des Wertemanagementsystems, vor allem die zweite und dritte Stufe, inhaltlich nicht klar voreinander getrennt sind. Daher werden diese beiden Stufen im Rahmen der Weitentwicklung der Governanceethik in Abschnitt 7.3.5 zusammengefasst werden. Vgl. Wieland (2002), S. 6. Vgl. Appel/Haueisen (2000). Vgl. Wieland (1999), S. 97, und Wieland/Fürst (2002), S. 38. Eine umfangreiche Aufzählung findet sich in Kaptein (1998), Kapitel 7. Vgl. Wieland (1999), S. 97, und Wieland/Fürst (2002), S. 38f.
7.2 Das Management von Moral
225
auf dem Anspruchsgruppenkonzept von Freeman (1984). Danach ist unternehmerisches Handeln dann legitim, wenn die Interessen der Anspruchsgruppen beachtet werden. Diese Interessen ermittelt das Unternehmen in einem diskursiven Prozess, dem Stakeholder-Dialog.1067 Externe Organisationen überprüfen schließlich, ob und wie weit diese Interessen in den Unternehmensprozessen berücksichtigt sind, und auditieren das Unternehmen im Idealfall als „moral accountable“.1068 Problematisch an diesem Ansatz ist jedoch, dass damit die Eigentumsrechte1069 am Unternehmen eingeschränkt werden und eine Auditierung praktisch sehr schwierig ist: Aufgrund unvollkommener Informationen und beschränkter Rationalität angesichts einer komplexen Unternehmenssituation treten hohe Messunsicherheiten und Interpretationstoleranzen auf.1070 Aufgrund dieser Messprobleme überprüft der „Self-Governance-Ansatz“ nicht die Moralität unternehmerischen Handelns, sondern validiert die Existenz und Implementierungsanstrengungen von Organisations- bzw. Managementsystemen, die moralisches Handeln im Unternehmen fördern sollen.1071 Das Audit des Wertemanagementsystems wird ebenfalls von einem externen Auditor durchgeführt. Allerdings kann, und dies ist die wesentliche Kritik an diesem Ansatz, die Existenz bestimmter Managementsysteme und -instrumente allein nicht garantieren, dass sie tatsächlich die gewünschten Wirkungen in der Unternehmenspraxis zeigen,1072 d.h. dass im Unternehmen tatsächlich moralisch(er) gehandelt wird.1073 Wieland und Fürst (2002, S. 40f.) basieren das von ihnen konzipierte Werteauditsystem auf den „Self-Governance-Ansatz“. Es sieht einen Prozess in zwei Schritten vor, anhand derer geprüft wird, inwieweit Unternehmen ihre Werteprogramme tatsächlich praktizieren. In einem ersten dokumentarischen Schritt wird zunächst per Fragebogen und vor Ort im Unternehmen anhand einer Dokumentenprüfung die Existenz eines Werteprogramms überprüft. Anschließend versuchen die Auditoren in einem zweiten Schritt, sich einen Überblick und einen Eindruck über die Umsetzung des Programms im Unternehmensalltag zu verschaffen.1074 Die vierte und letzte Stufe des Wertemanagementsystems beinhaltet schließlich die Organisation des Systems. Dabei ist die Art und Weise der organisatorischen Verankerung kulturell und von Unternehmen zu Unternehmen verschieden. So werden in nordamerikanischen und angelsächsischen Unternehmen häufig „Ethics Offices“ eingerichtet und „Ethics Officer“ ernannt, welche die Verantwortung für die Umsetzung der Werteprogramme tragen. In Deutschland sind die Programme häufig funktional organisiert oder als Stabstelle auf höchster Ebene angesiedelt. Die Wirksamkeit dieser Einrichtungen hängt immer wesentlich davon ab, ob sie durch einen offensiven, tatkräftigen und glaubwürdigen Einsatz von Seiten der Unternehmensleitung unterstützt werden, mit anderen Worten: ob das Werteprogramm „Chefsache“
1067 1068
1069 1070 1071 1072 1073 1074
Vgl. Freeman (1984). Ein solches Auditierungsverfahren ist beispielsweise im Standard AA1000 des Instituts „Accountability – Institute of Social and Ethical Accountability“ dargestellt, siehe dazu Zadek (1995). Für eine Übersicht über den „Property-Rights-Ansatz“ siehe Richter/Furubotn (1999). Vgl. Wieland/Fürst (2002), S. 34. Siehe Wieland (1996), (2000). Vgl. Badaracco/Webb (1995). Vgl. Wieland/Fürst (2002), S. 34f. Vgl. Wieland/Fürst (2002), S. 40f.
226
7 Die Governanceethik von Wieland
ist, d.h. die Werte seitens der Geschäftsleitung in ihrer Vorbildfunktion permanent kommuniziert und umgesetzt werden. Denn dadurch erzielt das Programm mehr Aufmerksamkeit und erfährt eine stärkere Akzeptanz. Wichtig ist ebenso, dass ethische Konfliktsituationen transparent und begründet entschieden werden. Denn dadurch werden Möglichkeiten reduziert, moralische Grauzonen auf Kosten des Unternehmens auszunutzen.1075 Hinsichtlich der Glaubwürdigkeit haben Wertemanagementsysteme die Funktion eines „credible commitments“. Sie sind ein Aushängeschild für die moralische Selbstbindung des Unternehmens und signalisieren und kommunizieren intern und extern Anti-Opportunismus. Sie zeigen im Rahmen des „Code of Ethics“ sowohl die Bereitschaft des Unternehmens zu moralischem Handeln als auch die Fähigkeit (Professionalität) dazu, indem sie ein als funktionsfähig auditiertes Managementsystem unterhalten.1076 Die Einführung des Wertemanagementsystems ist schlussendlich ein Lernprozess des Unternehmens und seiner Mitglieder. In dessen Verlauf erwerben Akteure die erforderlichen Kompetenzen, um die moralischen Aspekte wirtschaftlicher Transaktionen zu erkennen und so zu bewältigen, dass damit dem Unternehmen in gesellschaftlicher, rechtlicher und ökonomischer Hinsicht gedient ist.1077
7.3
Diskussion und Weiterentwicklung der Governanceethik
In diesem Abschnitt werden die Stärken und Schwächen der Governanceethik diskutiert und der Ansatz entsprechend weiterentwickelt. Die Stärken der Governanceethik liegen zum einen in deren Kompatibilität mit der Ökonomischen Ethik, die vor allem auf der gemeinsamen metatheoretischen Fundierung beider Ansätze beruht (Abschnitt 7.3.1). Zum anderen verdeutlichen die Unterschiede zur Ökonomischen Ethik, dass sich beide Ansätze nahezu ideal ergänzen und die Governanceethik die Schwächen der Ökonomischen Ethik weitgehend auszumerzen vermag (Abschnitt 7.3.2). Homann und Wieland selbst betonen, dass ihre Ansätze kompatibel und komplementär sind.1078 Die darauf folgenden Abschnitte stellen die Schwächen der Governanceethik dar und entwickeln den Ansatz gezielt weiter. Dabei wird zunächst dargelegt, dass der Homo Oeconomicus als Akteursmodell geeigneter ist als die Verhaltensannahmen, welche die Governanceethik trifft (Abschnitt 7.3.3). Die anschließende Diskussion darüber, welche Governancestrukturen auf welche Art und Weise die moralische Dimension einer Transaktion steuern und kontrollieren, wird zeigen, dass die Darstellung der Governanceethik als Formel ungeeignet ist (Abschnitt 7.3.4). Als letzter Schwachpunkt werden die Stufen des Wertemanagementsystems identifiziert. Diese werden hinterfragt und entsprechend umstrukturiert (Abschnitt 7.3.5).
1075 1076 1077 1078
Vgl. Wieland (1999), S. 97f., Wieland (2002), S. 8, und Wieland/Fürst (2002), S. 39f. Vgl. Wieland (2004a), S. 18f. Vgl. Wieland (2002), S. 8. So schreibt Homann (2001a), S. 37: „[S]chließlich habe ich das Verhältnis beider Ansätze genau wie Wieland immer als komplementär eingeschätzt.“ und in Homann (2001a), S. 41: „Weil die Fragestellungen kompatibel, jedoch nicht identisch sind, kann man ohne Widerspruch beide Forschungsprogramme nebeneinander verfolgen.“ Ebenso sieht Wieland (2001b), S. 25, den Ansatz von Homann „als eine zur Governanceethik komplementäre Forschungsrichtung.“
7.3 Diskussion und Weiterentwicklung der Governanceethik
227
Dadurch können schließlich in Kapitel 8 die modifizierten Ansätze der Governanceethik und der Ökonomischen Ethik in das neue St. Galler Management-Modell Eingang finden und wertvolle Beiträge zur Fundierung und Konkretisierung eines adäquaten ethischen Anspruchs im Management-Modell leisten. 7.3.1
Die Governanceethik und die Ökonomische Ethik als kompatible Ansätze
Wie bereits erwähnt, ist eine zentrale Stärke der Governanceethik deren Kompatibilität mit der Ökonomischen Ethik. Der wesentliche Grund hierfür ist die gemeinsame metatheoretische Fundierung beider Ansätze auf der neueren Systemtheorie und der Neuen Institutionenökonomik. Systemtheoretische Fundierung Die Ökonomische Ethik und die Governanceethik basieren in ihrer Darstellung moderner gesellschaftlicher Strukturen weitgehend auf der neueren Systemtheorie, wie u.a. Luhmann sie beschrieben hat.1079 Dementsprechend nehmen sie es als Tatsache hin, dass das Wirtschaftssystem gänzlich amoralisch kommuniziert. Unternehmen als Organisationen des Wirtschaftssystems codieren zwar polylingual, sind aber zwingend an die ökonomische Leitcodierung gebunden.1080 Dieser Meinung schließen sich Homann und Wieland gleichermaßen an und grenzen sich damit deutlich von P. Ulrich (1998) ab, der von verantwortlich handelnden Unternehmen fordert, systematisch moralische vor wirtschaftliche Kommunikation zu stellen.1081 Moralische Kommunikation von Unternehmen muss aber immer, zumindest langfristig und überschlägig, ökonomisch Sinn machen,1082 d.h. in den Code Aufwand – Ertrag, Kosten – Erlöse, Gewinne – Verluste übersetzt werden.1083 Wieland (1997, S. 62ff.) liefert hierfür eine organisationstheoretische Begründung, indem er über die begriffliche Unterscheidung von Systemen, Institutionen, Funktionssystemen und Organisationen die neuere Systemtheorie und die Neue Institutionenökonomik stärker miteinander verknüpft. Damit können und müssen Unternehmen moralisch kommunizieren, weil sie durch unvollständige Verträge charakterisiert sind und durch moralische Kommunikation Transaktionskosten sparen können. Gleichzeitig sind Unternehmen aber Ausdifferenzierungen des Funktionssystems der Wirtschaft und damit an ökonomische Leistungsziele als übergeordnetes Ziel gebunden.1084 Homann und Wieland grenzen sich beide von der Einschätzung Luhmanns (1988a, S. 340) ab, die Bedeutung der Moral in der modernen Gesellschaft ginge immer weiter zurück und wäre auf Randbereiche beschränkt.1085 Beide sehen sie Moral und Wirtschaft, Ethik und Ökonomik
1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085
Siehe Kapitel 3. Vgl. zur systemtheoretischen Fundierung von Homann Abschnitt 6.1 und von Wieland Abschnitt 7.1.1. Vgl. Abschnitt 5.1. Vgl. Homann (1995b), S. 26f. Vgl. Wieland (1996), S. 81. Vgl. Wieland (1996), S. 76 und 81. Vgl. Luhmann (1989a), S. 407ff., und (1989b), S. 421ff., siehe hier zu auch Abschnitt 3.4.2.
228
7 Die Governanceethik von Wieland
als grundsätzlich gleichrangig an. Während Homann gemeinsam mit Blome-Drees (1992, S. 100ff.) von der gegenseitigen Heuristik und Restriktionsanalyse beider Reflexionssysteme spricht, beschreibt Wieland (1996, S. 89f.) die Moral und Wirtschaft als gleichberechtigte Funktionssysteme. Folgerichtig betonen beide die Differenz zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskursen der Moral, denn in einer funktional differenzierten Gesellschaft können begründete Normen in spezifischen funktionalen Kontexten, die jeweils radikal Komplexität reduziert haben und darum ausschließlich spezifisch kodieren, nicht immer anwendungsfähig sein.1086 Auch hinsichtlich der Beschreibungen der Stabilität und Evolution von Normen, die letztlich aus den Wechselwirkungen zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskursen hervorgehen, sind beide Ansätze miteinander kompatibel.1087 In Homanns Ansatz resultieren diese Wechselwirkungen aus den gegenseitigen Heuristiken und Restriktionsanalysen beider Reflexionssysteme mit dem Ziel, die Leistungen der zugehörigen Funktionssysteme für die Gesellschaft zu verbessern.1088 Die Moral enthält erstens einen festen Kern, nämlich die Realisierung der Solidarität Aller,1089 aus welchem sich moralische Normen letztlich (im Sinne von Hobbes (1970)) begründen. Zweitens verfügt die Moral über kontingente Konkretisierungen, die sich lernend an anderen Funktionssystemen orientieren.1090 Wieland (2001b, S. 25) beschreibt die Wechselwirkungen, indem er den ethischen Diskussionsprozess als dreistufiges Verfahren zeichnet: Auf der ersten Stufe findet der Begründungsdiskurs statt, welcher Homanns (1998, S. 32) „festem Kern“ entspricht. Die Anwendungsdiskurse auf der zweiten Stufe beantworten die Frage nach der Implementierbarkeit von Normen, von welcher die Geltung begründeter Normen abhängt. In den Worten von Homann und Blome-Drees (1992, S. 99ff.) fungieren hier die Wissenschaften anderer Funktionssysteme als Restriktionsanalysen für die Moral. Auf der dritten Stufe werden Anwendungsdiskurse auf die Begründungsdiskurse zurückgekoppelt, so dass das Moralsystem von anderen Funktionssystemen lernt1091. Deren Wissenschaftssysteme stellen hier im Sinne Homanns (1998, S. 28, und 1993, S. 48) Heuristiken für die Evolution der Moral dar. Implementierbarkeit von Moral Sowohl die Ökonomische Ethik als auch die Governanceethik betonen das Problem der Anwendungsfähigkeit bzw. Implementierbarkeit von Normen.1092 Sie tun dies letztlich, um die Bedeutung der Moral zu stärken und sie so vor gesellschaftlicher Erosion wegen systematischer Nichtanwendungsfähigkeit zu bewahren.1093 Wieland (2001b, S. 11 und 18) begründet seinen Fokus mit der Zielsetzung seines Ansatzes, einen strikten, mikroanalytischen Anwen1086 1087 1088 1089 1090 1091 1092 1093
Vgl. Wieland, (1999), S. 118, und Homann (2001b), S. 89 und 100. Vgl. Wieland (2001b), S. 27. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 100ff. Vgl. Homann (1998), S. 32. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 100f., und in Anlehnung an Homann (1998), S. 28, und (1993), S. 48. Vgl. Wieland (2001b), S. 25ff. Vgl. Homann (2001a), S. 39. Vgl. Wieland (2001b), S. 27.
7.3 Diskussion und Weiterentwicklung der Governanceethik
229
dungsbezug zu verfolgen. Homann (1993, S. 33) hingegen legt seinen Schwerpunkt auf die Frage nach der Geltung von Normen, d.h. darauf, „welche moralischen Normen und Ideale unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft zur Geltung gebracht werden können.“1094 Er konstatiert, dass Normen erst dann verpflichtend sind, wenn sie implementierbar sind, d.h. ihre Durchsetzung sichergestellt ist,1095 denn: „Die Implementation schlägt auf die Geltung durch. Nur bzw. erst, wenn die allgemeine Befolgung erwünschter Normen (hinreichend) sichergestellt werden kann, durch entsprechende institutionelle Arrangements, werden diese Normen von den später der Norm Unterworfenen selbst in Geltung gesetzt.“1096
Damit sind sich Homann (1993, S. 33) und Wieland (1996, S. 58 und 90f.) ebenfalls einig, dass die Bedeutung eines rein tugendethischen Handelns in der modernen Gesellschaft zurückgeht, denn dieses stößt angesichts gegebener Handlungskontexte und spezifischer Anreizstrukturen an seine Grenzen. Die Rahmenbedingungen der Handlungen von Akteuren legen aus Sicht beider Autoren ein Handlungsmodell nahe, das in den Worten Homanns (2001a, S. 41) auf Vorteils-/Nachteilskalküle oder in den Worten Wielands (2001b, S. 28) auf Anreizkompatibilität im Sinne moralischer und wirtschaftlicher Vorteile für Akteure abzielt. Beide betonen infolgedessen die Relevanz der Implementierung institutioneller moralsensitiver Anreizstrukturen: Homann (1998, S. 28ff.) fordert die Implementierung von Moral entlang von Anreizen, während Wieland (1999, S. 118) analog dazu feststellt, dass entscheidende Steuerungspotenziale von Handlungen in die Kontexte abgewandert sind. Bedeutung der Moral für Unternehmen Wie kann nun angesichts differenzierter systemischer Strukturen die Bedeutung der Moral für Unternehmen eruiert werden? Hier gehen Wieland und Homann letztlich ähnlich vor: Beide führen die Moral nicht als Einheit in die Wirtschaft ein (wie z.B. P. Ulrich (1998) bzw. die Diskursethik es versuchen), da dieses Vorgehen aufgrund strikter gesellschaftlicher Arbeitsteilung nicht mehr möglich ist, sondern als Differenz von Wirtschaft und Moral. Dies verbirgt sich bei Homann/Blome-Drees (1992, S. 100ff.) hinter der moralphilosophischen Ausarbeitung von Ethik und Ökonomik als gegenseitige Heuristiken und Restriktionsanalysen und den Übersetzungsleistungen mit Hilfe der ökonomischen Methode. Wieland (1996, S. 63) führt auf organisationstheoretischer Ebene die Differenz von Moral und Wirtschaft in die Wirtschaft dadurch ein, dass er die Moral als Problem der Allokation moralischer Güter modelliert und sie auf diese Weise auf der Unternehmensebene in Wirtschaft übersetzt. Damit stehen letztlich beide Autoren in Einklang mit Luhmann (1984a, S. 638ff., bzw. 1977, S. 74), der dieses Vorgehen als Stärkung der „Systemrationalität“ bzw. Fähigkeit zur „Reflexion“ bezeichnet und als Alternative zu Moral und Ethik in der modernen Gesellschaft darstellt: „Ein System erreicht dann Rationalität in dem Maße, als es die Differenz von System und Umwelt in das System wiedereinführt und sich daraufhin nicht an (eigener) Identität, sondern an Differenz orientiert. Gemessen an diesem Kriterium wäre ökologische Rationalität erreicht, wenn die Gesell-
1094 1095 1096
Homann (1993), S. 33. Vgl. Homann (1993), S. 37. Homann (1998), S. 26f., Hervorhebungen im Original, Fußnote weggelassen.
230
7 Die Governanceethik von Wieland schaft die Rückwirkungen ihrer Auswirkungen auf die Umwelt auf sich selbst in Rechnung stellen könnte.“1097
Institutionenökonomische Fundierung Eine weitere wesentliche Gemeinsamkeit der Ansätze von Homann und Wieland ist deren Fundierung auf die Neue Institutionenökonomik und Vertragstheorie, wobei Homanns Ansatz in diesem Punkt verschiedene Schwächen aufweist (vgl. Abschnitt 6.2.2). Beide Ansätze interpretieren Unternehmen als Netzwerke von Verträgen zwischen eigeninteressierten Individuen. Da Verträge von Unternehmen systematisch unvollständig sind, werden die Vertragspartner ihre Verpflichtungen dann nicht erfüllen, wenn dies relativ kostengünstig für sie möglich ist.1098 Damit stehen Unternehmen vor dem grundlegenden Problem, in funktional differenzierten Gesellschaften erfolgreich zu kooperieren. Dies ist in beiden Ansätzen letztlich der Grund dafür, warum Moral für Unternehmen ökonomisch relevant wird: Sie erhöht die Effizienz des Wirtschaftens, indem sie zur Einsparung von Transaktionskosten führt.1099 Gleichzeitig stößt tugendethische Moral angesichts systemischer Strukturen an ihre Grenzen.1100 Moralisches Handeln in Unternehmen – d.h. die Einhaltung impliziter Verträge – muss sich langfristig und überschlägig wirtschaftlich lohnen.1101 Daraus ziehen beide Ansätze die Schlussfolgerung, dass Moral in den Regeln unternehmerischen Handelns – bei Homann (1998, S. 35) in der Rahmenordnung, bei Wieland (1997, S. 61, und 2004a, S. 3) in der Governancestruktur – zu verankern ist. 7.3.2
Die Governanceethik als Ergänzung der Ökonomischen Ethik
Diese weit reichenden Gemeinsamkeiten zwischen den Ansätzen der Ökonomischen Ethik und der Governanceethik zeigen letztlich ihre Kompatibilität. Neben den Gemeinsamkeiten gibt es jedoch auch einige Unterschiede. Diese begründen einerseits den Nutzen beider Ansätze für das neue St. Galler Management-Modell und zeigen, dass sie sich in dieser Hinsicht sehr gut ergänzen. Andererseits dienen die Unterschiede in anderen Fällen als gegenseitige Prüfsteine zum Auffinden von Schwachstellen und Verbesserungsmöglichkeiten. Die Ansätze als Ergänzungen Die Ansätze von Homann und Wieland ergänzen sich, weil Homann (2001a, S. 39) auf der einen Seite einen normativen, moralphilosophisch fundierten Ansatz einer Wirtschafts- und Unternehmensethik aufstellt, während Wieland (2001b, S. 24f., und 2004a, S. 4) auf der anderen Seite einen deskriptiven, organisationstheoretisch und mikroanalytisch fundierten Ansatz mit striktem Anwendungsbezug verfolgt. 1097 1098 1099 1100 1101
Luhmann (1988b), S. 246f. Vgl. Wieland (1996), S. 47, und Homann/Suchanek (2000), S. 428f. Vgl. Wieland (2001b), S. 24, und Homann (1995b), S. 31. Vgl. Wieland (1996), S. 58 und 90f., und Homann (1993), S. 33. Vgl. Homann (1995b), S. 24ff.
7.3 Diskussion und Weiterentwicklung der Governanceethik
231
Homann (2001a, S. 39) stellt die Frage nach der Begründung von Moral (Moral als Explanandum) und leitet daraus in Anlehnung an Hobbes (1970) und Brennan/Buchanan (1993) den moralischen Anspruch an Unternehmen ab, gerechte Regeln zu etablieren und zu befolgen.1102 Im Zentrum seines Ansatzes steht daher Frage, „welche moralischen Normen und Ideale unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft zur Geltung gebracht werden können.“1103 Er beschäftigt sich mit den allgemeinen Voraussetzungen für die Implementierbarkeit der Moral, ohne sich jedoch, im Gegensatz zu Wieland, mit der konkreten Umsetzung in unternehmerische Managementprozesse zu beschäftigten.1104 Das Ergebnis seines unternehmensethischen Ansatzes sind konkrete moralische Handlungsstrategien, die den situativen Begrenzungen moderner Gesellschaftsstrukturen gerecht werden. 1105 Der deskriptive Ansatz von Wieland (1996, S. 170), welcher erklärt, warum Unternehmen aus ökonomischen Gründen moralisch handeln bzw. was die ökonomischen Konsequenzen der Moral in Unternehmen sind (Moral als Explanans)1106, wäre für die vorliegende Arbeit nicht ausreichend. Aus diesem Grund ist der normative Ansatz der Ökonomischen Ethik für das neue St. Galler Management-Modell wichtig, da es selbst durch P. Ulrich (1998) eine moralphilosophische Fundierung enthält und moralische Ansprüche an Unternehmen formuliert. Aber auch die Governanceethik ist für die Ausarbeitung eines neuen ethischen Ansatzes für das neue St. Galler Management-Modell unverzichtbar. Wieland (2004a, S. 4, 11 und 18) konzentriert sich auf die Anwendbarkeit und Praxisnähe seines Ansatzes. Er beschreibt in seiner „Ökonomik der Transaktionsatmosphäre“1107 – institutionenökonomisch, organisationsund systemtheoretisch wohl fundiert – die Wechselwirkungen zwischen moralischer und ökonomischer Kommunikation in Organisationen im Allgemeinen und in Unternehmen im Besonderen. Dabei lässt er die Frage der Moralbegründung offen. Dieser zunächst deskriptive Teil wird schließlich durch konkrete Empfehlungen für eine managementtheoretische Implementierung moralischen Handelns in Unternehmen sowie durch zentrale Kriterien für eine effektive und effiziente Umsetzung ergänzt. Die hierzu notwendige Verankerung von Werten in den Governancestrukturen von Unternehmen kann seines Erachtens effektiv und effizient in Form eines Wertemanagementsystems erfolgen.1108 Auf diese Weise ist der Ansatz von Wieland in der Lage, die organisationstheoretischen Schwachstellen von Homann auszugleichen. Darüber hinaus liefert er konkrete anwendungsbezogene und praxisnahe Vorschläge für die Integration moralischen Handelns im Management in Gestalt des Wertemanagementsystems. Da er auch für dessen konkrete Ausgestaltung die Fundierung auf die Metatheorien seines Ansatzes konsequent beibehält, vermag sein Ansatz die Brücke zur Integration des neuen ethischen Ansatzes auf Basis von Homann und
1102 1103 1104 1105
1106 1107 1108
Vgl. Abschnitt 6.1.1 in Anlehnung an Homann/Blome-Drees (1992), S. 38f., 51 und 136ff. Homann (1993), S. 33. Vgl. Homann (2001a), S. 39. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 38f., 51 und 136ff. Diese Handlungsstrategien Homanns erweisen sich jedoch, aufgrund der unzureichenden metatheoretischen Fundierung seines Ansatzes, als unvollständig. Siehe hierzu Abschnitt 6.2.2. Vgl. Homann (2001a), S. 37f. Vgl. Abschnitt 7.1. Vgl. Abschnitt 7.2.3.
232
7 Die Governanceethik von Wieland
Wieland in das ebenfalls anwendungsorientierte neue St. Galler Management-Modell zu schlagen. Dies wird beispielsweise durch die Entscheidung Wielands (2002, S. 40f.) deutlich, seine Empfehlungen zur Durchführung des Werteaudits auf den Self-Governance-Ansatz anstatt den Third-Party-Ansatz zu basieren.1109 Der Self-Governance-Ansatz validiert nicht die Moralität unternehmerischen Handelns, sondern die Existenz und Implementierungsanstrengungen von Organisations- bzw. Managementsystemen, die moralisches Handeln in Unternehmen fördern sollen.1110 Angesichts der Annahme einer funktional differenzierten Gesellschaft mit hoch komplexen und dynamischen gesellschaftlichen Strukturen ist dies die einzig sinnvolle Alternative und steht damit auch im Einklang mit den Modellannahmen des neuen St. Galler Management-Modells von Rüegg-Stürm (2002). Dieser erachtet konkrete Handlungen des Unternehmens angesichts einer komplexen Unternehmensrealität immer als kontingent und damit nicht determinierbar. Eine gewisse Ordnung erhalten Unternehmensprozesse indessen durch deren Regeln bzw. Routinen: den Ordnungsmomenten der Strategie, Struktur und Kultur. Auf diese Weise können Unternehmen einzig anhand ihrer Ordnungsmomente charakterisiert werden, und die Veränderung von Unternehmen bedeutet immer eine Veränderung der Ordnungsmomente.1111 Folglich kann eine gelungene Verankerung der Moral in Unternehmen auch nur anhand der Ordnungsmomente (in den Worten Rüegg-Stürms (2002)) bzw. der Koordinations- und Kooperationsmechanismen einer Organisation (in den Worten Wielands (z.B. 2001b)) geprüft werden. Unklare Verortung der Moral: Moral als gesellschaftliches Funktionssystem Weitere Unterschiede zwischen den Ansätzen der Governanceethik und der Ökonomischen Ethik geben Anlass, diese kritisch zu reflektieren. So ist bei Homann unklar, wo die Moral innerhalb funktional differenzierter Gesellschaftsstrukturen verortet sein könnte. Ebenso unklar ist seine Abgrenzung der ethischen Diskurse der Begründung, Geltung und Implementierung (Anwendung) von Moral untereinander sowie von Ethik und Ökonomik. Da seine Erläuterungen es nahe legen, Moral als ein eigenes Funktionssystem der Gesellschaft zu interpretieren, wurden sein Ansatz in Abschnitt 6.2.3 entsprechend erweitert und die erwähnten Begriffe klar voneinander abgegrenzt. Gleichwohl geben Homanns Erläuterungen keinen Aufschluss darüber, welche eigenständige Funktion und wesentliche genuine Leistung die Moral für die Gesellschaft erfüllt.1112 Diese Lücke vermag indessen der Ansatz von Wieland (1996, S. 89f.) zu schließen, welcher Moral als eigenständiges Funktionssystem interpretiert, dessen gesellschaftliche Funktion in der Zuweisung von Achtung bzw. Missachtung und damit in der Allokation von Wertschätzung auf soziales Handeln und Verhalten besteht. Die Leistung der Moral für die Gesellschaft ist die Vorgabe von normativen Bewertungskriterien, mit denen die Gesellschaft steuert,
1109 1110 1111 1112
Vgl. Abschnitt 7.2.3. Siehe Wieland (1996), (2000). Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 23 und 37f., in Anlehnung an Giddens (1997), S. 240ff. Vgl. Abschnitt 6.2.3.
7.3 Diskussion und Weiterentwicklung der Governanceethik
233
inwieweit Akteure Zugang zu den Leistungen von Funktionssystemen und Organisationen erlangen können.1113 In diesem Zusammenhang weisen Wielands (2001b, S. 26f.) Erläuterungen auf einen weiteren für Homann wesentlichen Punkt hin: In der Rückkopplung der Anwendungsdiskurse auf die Begründungsdiskurse, durch welche die Moral von anderen Funktionssystemen lernen kann, können insbesondere große, multinationale Unternehmen als Agenten moralischen Wandels fungieren. Damit eröffnet sich für Homann ein weiterer Ansatzpunkt für seine moralische Forderung nach Etablierung gerechter externer Rahmenbedingungen: In Form der Beteiligung von Unternehmen am ethischen Begründungsdiskurs als weitere moralische Handlungsstrategie. Homann, der zwar von der Funktion der Ökonomik1114 als Heuristik für die Ethik spricht, konnte diesen Punkt nicht erkennen.1115 Mangelnde institutionenökonomische Fundierung von Homann Weitere Schwächen Homanns sind eine Folge von dessen unzureichender Fundierung auf der Neuen Institutionenökonomik. Auch hier leistet Wieland (1996) wertvolle Beiträge zur Schließung der Lücken in Homanns Ansatz, indem er die Integration der Moral in die Neue Institutionenökonomik wesentlich vorangetrieben und darüber hinaus auch für die neuere Systemtheorie die Existenz der Moral als eigenes Funktionssystem begründet hat. Aufgrund dessen kann die Governanceethik „mit einem gewissen Recht als der theoretisch komplexeste der Entwürfe der jüngeren deutschen Debatte in der Wirtschafts- und Unternehmensethik gelten.“1116 Während Homann (1995b) nach wie vor an der These festhält, Unternehmen seien prinzipiell moralfrei (mit Ausnahme unvollständiger Verträge),1117 belegt Wieland (1996, S. 91), dass moralische Kommunikation für Organisationen konstitutiv und überlebenskritisch ist. Des Weiteren bleibt bei Homann die Frage offen, wie die Übersetzung von moralischer in wirtschaftliche Kommunikation und umgekehrt erfolgt und welche Rolle die individuelle Tugend und Begriffe wie Reputation und Vertrauen dabei spielen.1118 Hier gibt Wieland (1996) ausführlich und wohl fundiert Auskunft: Er stellt dar, wie die Übersetzung von moralischen Werten in Statuswerte und von dort in ökonomische Werte erfolgt. Er erklärt schlüssig die Funktion von Tugend, welche neben finanziellen Ressourcen eine weitere wesentliche Unternehmensressource ist, wie Tugend in Unternehmen Güterstatus erlangt und ihre Aktivierung den Aufbau der Statuswerte Reputation und Vertrauen verlangt. Diese Statuswerte verschaffen Akteuren eine Identität für Vertrauenswürdigkeit, die in Kooperationen unabdingbar ist und ökonomische Wirkungen hat. Damit dieser Prozess tatsächlich in Gang kommen kann, 1113 1114
1115 1116 1117 1118
Vgl. Wieland (1996), S. 89f. Die Feststellung von Homann und Blome-Drees (1992), S. 100f., die Ökonomik fungiere als Heuristik für Ethik, weist auf eine begriffliche Ungenauigkeit hin: die fehlende Unterscheidung von Ökonomik und Wirtschaftswissenschaften. Korrekt wäre es hingegen, von den Wirtschaftswissenschaften als Heuristik für die Ethik auszugehen. Vgl. hierzu Abschnitt 6.2.3. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 100f., und in Anlehnung an Homann (1998), S. 28, und (1993), S. 48. Panther (2004), S. 4. Vgl. Homann (1995b), S. 17, bzw. Abschnitt 6.2.2. Vgl. Abschnitt 6.2.3.
234
7 Die Governanceethik von Wieland
müssen Unternehmen Moral in den Governancestrukturen so verankern, dass sie damit Kooperationsbereitschaft glaubwürdig signalisieren.1119 Im Zuge dieser Argumentationen leitet Wieland (1996, S. 28, 155 und 168) eine weitere wichtige Erkenntnis ab: Unternehmen sind auf genuin moralische Kommunikation angewiesen und können nicht direkt von moralischer in ökonomische Kommunikation übersetzen. Dadurch wird schlussendlich deutlich, dass die Tugendethik eine wesentliche Ressource für Unternehmen darstellt, während bei Homann (1998, S. 22, 32f. und 40) die Tugendethik zwar für die Gesellschaft unverzichtbar, aber im Unternehmenskontext dennoch nachrangig ist.1120 Damit belegt Wieland (1996, S. 157), dass das Moralsystem eine zentrale Leistung für die Gesellschaft erbringt, die von Unternehmen genutzt wird: die Begründung von Normen, die Reputationseffekte für Moral erst ermöglichen. Welche Regeln sind die Orte der Moral? Die Ansätze von Wieland und Homann kommen beide zu dem Schluss, dass die Regeln unternehmerischen Handelns – die Rahmenbedingungen bzw. Governancestrukturen – Orte der Moral sind. Allerdings fokussiert Homann (1998, S. 25f.) in seiner Ordnungsethik dabei ausschließlich auf die Regeln der Funktionssysteme. Damit übersieht er weitere wesentliche Regeln, die Unternehmen aus moralischen Gründen mit gestalten sollten: die materiellen und die unternehmensinternen Regeln sowie die Unternehmensmitglieder, die ebenfalls wesentliche Rahmenbedingungen des Unternehmens sind.1121 Im Gegensatz dazu sind die Mitglieder nach Wieland (1996, S. 143 und 159) Träger nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch zentraler moralischer Ressourcen in Form der Tugendethik. Er begründet außerdem, dass Unternehmen moralisch handeln und die Moral in den Regeln auf Unternehmensebene – den Governancestrukturen – integrieren können und müssen: Sie sind kollektive Akteure, die multilingual kommunizieren und eine Identität benötigen, um als Kooperationspartner in Frage zu kommen.1122 Im normativen Teil seines Ansatzes stellt Wieland (z.B. 2004a, S. 3) sämtliche Regeln bzw. Governancestrukturen zusammen, die einen Einfluss auf das moralische Handeln von Unternehmen ausüben.1123 In diesem Zusammenhang bilden die Kooperations- und Koordinationsmechanismen einer wirtschaftlichen Organisation das Kernstück seiner Governanceethik.1124 Homann (2001a, S. 36) selbst betont: „Zunächst stimme ich zu, dass (…) die ‚Kooperations- und Koordinationsmechanismen einer wirtschaftlichen Organisation’ (…) eine weittragende Neuerung in der Diskussion um Wirtschafts-
1119 1120 1121 1122 1123
1124
Vgl. Abschnitt 7.1. Vgl. auch Homann/Blome-Drees (1992), S. 39ff. Vgl. Abschnitt 6.2.2. Vgl. Abschnitt 7.1. Anstatt von Institutionen oder Rahmenbedingungen zu schreiben, bezeichnet Wieland (1999), S. 50, die Regeln unternehmerischen Handelns als Governancestrukturen, um deren Integration und Adaptivität zu betonen und sich von dem Fokus der Institutionenökonomik auf die Nutzenmaximierung abzugrenzen. Vgl. Wieland (2001b), S. 17.
7.3 Diskussion und Weiterentwicklung der Governanceethik
235
und Unternehmensethik darstellt. Ähnliches hat auf dem entsprechenden Niveau kein anderer Ansatz zu bieten“.1125
In einem Unternehmen sind nach Wieland (2001b, S. 19) moralische Anreize nur dann auf Dauer wirksam und erfolgreich, wenn die Koordinations- und Kooperationsmechanismen konsequent implementiert sind. D.h. erst dann kann ein Unternehmen vorhandene tugendethische Werte der Akteure – die Unternehmensressource der individuellen moralischen Selbstbindung – nutzen.1126 Die verschiedenen Governancestrukturen sind letztlich adäquat zu integrieren und im Hinblick auf die Ausbalancierung der unterschiedlichen Sprachspiele im Unternehmen adaptiv auszurichten.1127 Die Kooperations- und Koordinationsmechanismen sind schließlich auch diejenigen Governancestrukturen, die ein Unternehmen direkt gestalten kann. Damit wird deutlich, dass die Umsetzung der moralischen Handlungsstrategien im Sinne Homanns (1995b, S. 19ff.) in diesen internen Regeln verankert werden muss, um damit indirekt die externen Governancestrukturen wie z.B. die Gesetzgebung oder moralische Bildung der Mitarbeiter beeinflussen zu können.1128 Wie bislang in diesem Kapitel dargelegt, vermag die Governanceethik wertvolle Beiträge für die vorliegende Arbeit zu leisten. Daneben birgt jedoch auch dieser Ansatz verschiedene Schwächen, wie sie im Folgenden dargelegt werden. 7.3.3
Ist der Homo Oeconomicus ein geeignetes Akteursmodell?
Im vorherigen Abschnitt deuteten die Unterschiede zwischen den Ansätzen Homanns und Wielands auf Schwächen und Verbesserungsmöglichkeiten im Ansatz der Ökonomischen Ethik hin. Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Ansätzen, wie er hier erläutert werden wird, zeigt indessen eine Schwachstelle der Governanceethik auf: Homann modelliert Akteure als Homines Oeconomici.1129 Wieland (1996, S. 107f.) hingegen sträubt sich gegen diese Verhaltensannahme, da sie seiner Meinung nach nahe lege, Moralfragen tugendethisch zu verstehen, welche sich, ökonomisch übersetzt, als exogene Präferenzen in der Nutzenfunktion der Akteure wiederfänden. Aufgrund der Unsicherheit und Häufigkeit unternehmerischer Transaktionen trifft er indessen die Verhaltensannahmen einer beschränkten Rationalität und, als Folge davon, des opportunistischen Handelns der Akteure. Effizienz definiert er dabei im Kontext einer komparativen und adaptiven Institutionenanalyse.1130 Personale Akteure verfügen nun seiner Meinung nach simultan über sich gegenseitig ausschließende Präferenzen für Moral und Opportunismus. Dies hat einerseits zur Folge, dass Moral als endogene Variable modelliert werden kann. Andererseits wird damit jedoch die Annahme aufgegeben, Personen hätten eine bestimmte Identität oder würden einen konsistenten 1125
1126 1127 1128 1129 1130
Ebenso bezeichnet auch Panther (2004), S. 8f., die „Kooperations- und Koordinationsmechanismen einer wirtschaftlichen Organisation“ als theoretische Innovation der Governanceethik. Vgl. Panther (2004), S. 8f. Vgl. Wieland (1999), S. 50. Vgl. die Abschnitte 6.1 und 6.2.2. Siehe Abschnitt 6.1.1. Vgl. Wieland (1996), S. 114 und 119.
236
7 Die Governanceethik von Wieland
Nutzenplan verfolgen. Akteure sind indessen permanent gefordert, sich in den verschiedenen Kontexten eine personale Identität zu verschaffen. Als Individuen balancieren sie ihre verschiedenen personalen Rollen innerhalb multipler und grundsätzlich gleichrangiger Logiken ständig neu aus.1131 Welchen der beiden Präferenzen die Akteure jeweils folgen werden, ist abhängig von den Situationen, in denen sie agieren. Die situativen Anreize und Kontrollmöglichkeiten veranlassen, dass Menschen mal moralisch, mal opportunistisch handeln. Das Entscheidungsproblem für eine der beiden Präferenzen angesichts spezifischer Rahmenbedingungen ist spieltheoretisch in Form von Gefangenendilemmata darstellbar.1132 Mit diesen Verhaltensannahmen gerät Wieland jedoch in Widerspruch zur Neuen Institutionenökonomik1133 und zur Ökonomischen Ethik1134, die konsequent an der Akteurskonzeption des Homo Oeconomicus festhalten und Annahmen wie beschränkte Rationalität oder systemtheoretische Gesellschaftsstrukturen in ein erweitertes Restriktionenset integrieren. Dieses modelltheoretische Vorgehen wäre grundsätzlich auch für Wielands Ansatz möglich und sinnvoll, um den Widerspruch zur Neuen Institutionenökonomik und zur Ökonomischen Ethik aufzuheben und seine Aussagen, insbesondere die Erläuterungen anhand von Gefangenendilemmata, klarer zu fassen. Aus diesem Grund wird die folgende Umgestaltung von Wielands Ansatz vorgenommen: Die beschränkte Rationalität wird als exogene Restriktion definiert. Moral und Opportunismus sind nicht mehr zwei daraus resultierende Präferenzen, sondern repräsentieren die Verhaltensoptionen der Kooperation (Moral) und der Nicht-Kooperation (Opportunismus) in Situationen unvollständiger Informationen. Das Entscheidungskriterium eines Akteurs zwischen diesen beiden Verhaltensoptionen ist im Sinne Homanns (1998, S. 32) die Maximierung der eigenen langfristigen Vorteile bzw. Präferenzen, die jedoch gemäß Wieland (2004b, S. 20f.) nicht nur ökonomische Werte, sondern z.B. auch das Bedürfnis nach Wertschätzung enthalten. Opportunistisches Handeln ist dann in einer bestimmten Situation durchaus rational und nicht, wie Wieland (1996, S. 163) schreibt, ein „Phänomen kalkulierender Hinterlist, die weit über das egoistische Wahrnehmen eigener Interessen hinausgeht.“ Wenn eine opportunistische Handlung tatsächlich über das eigene Interesse hinausginge, hieße das nicht, dass ein Akteur sich damit selbst schaden würde? Es macht wohl eher Sinn, auch hier ein Eigeninteresse zu unterstellen, und sei es im Extremfall die pure Freude an List und Tücke. Damit sind Moral und Opportunismus – mit anderen Worten: das Halten und Brechen vertraglicher Absprachen – sinnvoller als Mittel zum Zweck der eigenen Vorteilsmaximierung zu interpretieren. Wäre dem nicht so, wäre auch die Darstellung von Handlungssituationen in Form von Gefangenendilemmata nicht länger hilfreich: Ein Akteur würde nicht mehr automatisch die Handlungsoption wählen, die seine Auszahlung maximiert, sondern sich evtl. über das Eigeninteresse hinausgehend für Nicht-Kooperation entscheiden. Damit würde jedoch die Auszahlungsmatrix nicht mehr eindeutig auf eine bestimmte rationale Verhaltensweise hinweisen und so
1131 1132 1133 1134
Vgl. Wieland (1996), S. 30, 90 und 172. Vgl. Wieland (1997), S. 52 und 172f. Siehe Kapitel 2. Siehe Homann/Suchanek (2000), S. 448.
7.3 Diskussion und Weiterentwicklung der Governanceethik
237
ihre Nützlichkeit als Heuristik verlieren: Verhaltensänderungen könnten nicht mehr auf Änderungen der Handlungsbedingungen zurückgeführt werden.1135 Der Homo Oeconomicus als Handlungsmodell im Ansatz von Wieland hat den entscheidenden Vorteil, dass die verschiedenen Situationen der Akteure mit Hilfe von Dilemmastrukturen dargestellt werden können. Infolgedessen kann die Methode des ökonomischen Imperialismus als Übersetzungsmethodik genutzt werden. Denn mit Hilfe dieser Methode können nach Homann (1995b, S. 28) die Phänomene Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Reputation, soziale Anerkennung, Moral etc. in eine langfristige und vermutlich nicht exakte ökonomische Kalkulation mit einbezogen werden. Wieland (1996, S. 147 und 173) selbst nutzt die Darstellungsweise von Handlungssituationen als Gefangenendilemmata und geht dabei in seiner Argumentation implizit auch von derselben Akteurskonzeption wie Homann aus. Die Methode der Ökonomik kann somit für den an Homann und Wieland angelehnten ethischen Ansatz, der dem neuen St. Galler Management-Modell im folgenden Kapitel 8 zugrunde gelegt werden wird, eine hilfreiche Übersetzungsmethode von Statuswerten in ökonomische, moralische oder andere Werte sein. Damit ermöglicht die Methode der Ökonomik die komparative Analyse alternativer moralischer Institutionen bzw. Governancestrukturen. Hierbei stellen z.B. Vertrauen und Reputation endogene Variablen und die beschränkte Rationalität eine exogene Restriktion im Handlungsmodell dar.1136 7.3.4
Wie steuern Governancestrukturen die moralische Dimension einer Transaktion?
Wie steuern und kontrollieren die Governancestrukturen eines Unternehmens die moralische Dimension einer Transaktion? Wieland beschreibt den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Governancestrukturen – den individuellen Selbstbindungsstrategien (IS) eines individuellen oder kollektiven Akteurs, den formalen Institutionen (FI) und informalen Institutionen (IF) einer gegebenen Gesellschaft sowie den Koordinations- und Kooperationsmechanismen einer Organisation (OKK) – und der moralischen Dimension einer unternehmerischen Transaktion (Tm) als Formel.1137 Diese Darstellung birgt jedoch verschiedene Schwächen, wie im Folgenden dargelegt wird. Zunächst sind die Governancestrukturen, wie Wieland (2004a, S. 3) sie in der Formel aufzählt, unvollständig. Da an einer Transaktion mindestens zwei Akteure beteiligt sind, müsste die Formel nicht nur zwischen spezifischen Transaktionen und spezifischen Orten, sondern auch zwischen spezifischen Akteuren unterscheiden. So ist beispielsweise bei einer Transaktion zwischen einem Unternehmen und einem Arbeitnehmer die individuelle Selbstbindung des Unternehmens ebenso eine relevante Governancestruktur wie die davon zu unterscheidende individuelle Selbstbindung des Arbeitnehmers. Sind an einer Transaktion zwei Unternehmen beteiligt, gelten nicht nur deren jeweilige individuelle Selbstbindungsstrategien, sondern auch deren spezifische Koordinations- und Kooperationsmechanismen als relevante Governancestrukturen, welche die moralische Dimension der Transaktion steuern und kontrollieren.
1135
1136 1137
Ähnlich argumentieren Homann/Suchanek (2000), S. 430ff.: Sie begründen die Wahl des Homo Oeconomicus mit der Zweckmäßigkeit als Heuristik im Rahmen der komparativen Institutionanalyse. Siehe Abschnitt 8.5.2. Siehe Abschnitt 7.2.1.
238
7 Die Governanceethik von Wieland
Des Weiteren hat Wieland die verschiedenen Governancestrukturen nicht trennscharf definiert. Einerseits fasst er unter die informalen Institutionen die religiösen und moralischen Überzeugungen nicht nur der gesellschaftlichen, sondern auch der organisationalen Kultur.1138 Andererseits sind gemäß seiner Definition auch in den Koordinations- und Kooperationsmechanismen einer Organisation nicht nur formale, sondern auch informale Strukturen wie die unternehmerische Moralkultur enthalten.1139 Da der Ansatz der Governanceethik in Kapitel 8 in das neue St. Galler Management-Modell integriert wird, empfiehlt es sich, die Moralkultur des Unternehmens als Teil der Koordinations- und Kooperationsmechanismen zu fassen und die informalen Institutionen als die gesellschaftliche Moralkultur der Unternehmensumwelt zu definieren. Auf diese Weise umfassen die Koordinations- und Kooperationsmechanismen sämtliche Ordnungsmomente im Sinne des neuen St. Galler ManagementModells, d.h. neben den Strategien und Strukturen auch die Kultur. Wie wirken nun diese verschiedenen Governancestrukturen auf die moralische Dimension einer unternehmerischen Transaktion? Sind ihre Wirkungen tatsächlich funktional äquivalent, wie Wieland (2001b, S. 18) dies beschreibt? Macht es Sinn, die moralische Dimension einer Transaktion als mathematische Funktion der verschiedenen Governancestrukturen darzustellen? Die Governancestrukturen sind tatsächlich insoweit funktional äquivalent, als sie alle – direkt oder indirekt – die moralische Dimension einer Transaktion beeinflussen. Allerdings sind die Einflüsse völlig unterschiedlicher Art, was in der Formel indessen nicht zum Ausdruck kommt. Damit suggeriert die Formel einerseits, dass alle Governancestrukturen ähnliche Wirkungen haben, was jedoch so nicht richtig ist, wie im Folgenden noch gezeigt werden wird. Andererseits erweckt die Formel den Eindruck, als gäbe es einen formalisierbaren, mathematisch eindeutig definierbaren Zusammenhang zwischen den Governancestrukturen und ihrer abhängigen Variable, der moralischen Dimension der Transaktion. Dazu müssten allerdings erstens die Variablen der Formel – die einzelnen Governancestrukturen und die moralische Dimension einer Transaktion – bestimmten messbaren Wertebereichen zugeordnet und jeweils sinnvolle Einheiten definiert werden. Dies hat Wieland jedoch unterlassen. Zweitens müsste es möglich sein, eindeutige Wirkungen und Wechselwirkungen zwischen den Governancestrukturen zu bestimmen. Dies steht jedoch im Widerspruch zur Grundannahme der neueren Systemtheorie, dass Zusammenhänge komplex sind und nicht in einfache Formeln und Zusammenhänge gepresst werden können.1140 Daher bietet es sich an, den Zusammenhang zwischen den Governancestrukturen und der moralischen Dimension einer Transaktion anstatt durch eine Formel durch die graphische Darstellung 7.7 auszudrücken. Auf diese Weise können die verschiedenen Zusammenhänge und unterschiedlichen Wirkungen der Governancestrukturen sichtbar gemacht, um einzelne fehlende Aspekte erweitert und damit die Aussagekraft erhöht werden. Andererseits wird die in der Formel suggerierte, tatsächlich so aber nie vorhandene, Scheingenauigkeit vermieden.
1138
Vgl. Wieland (2001b), S. 9 und 14. Vgl. Wieland (2001b), S. 15. 1140 Vgl. Abschnitt 3.1.1. 1139
7.3 Diskussion und Weiterentwicklung der Governanceethik
239
Darst. 7.7: Steuerung und Kontrolle der moralischen Dimension einer Transaktion Quelle: Eigene Darstellung.
Die Zusammenhänge, welche zwischen den Governancestrukturen und der moralischen Dimension einer Transaktion unterstellt werden, sind die folgenden:1141 Die moralische Dimension einer spezifischen Tranksaktion (Tmijk) beschreibt, inwieweit diese bestimmten moralischen Ansprüchen (einer Gesellschaft k und/oder der Kooperationspartner i und j) genügt. Sie wird gesteuert und kontrolliert durch die individuelle Selbstbindung ISi und ISj der an der Transaktion beteiligten Akteure i und j – d.h. durch deren Bereitschaft und Fähigkeit zu moralischem Handeln. Dabei kann diese Bereitschaft auf tugendethische Prinzipien der Akteure, rationale Vorteile oder sonstige Mechanismen zurückzuführen sein. Die individuelle Selbstbindung (ISi) eines Unternehmens (d.h. eines kollektiven Akteurs) i wird erst durch dessen Koordinations- und Kooperationsmechanismen (OKKi) erzeugt. Bei einzelnen Personen (d.h. individuellen Akteuren) sind solche Strukturen hingegen nicht nötig, denn diese dienen der Koordination und Ausrichtung von Handlungen verschiedener Organisationsmitglieder. Die jeweilige individuelle Selbstbindung der Akteure in einer Transaktion wird wesentlich aktiviert durch die formalen Institutionen (FIk) einer Gesellschaft k, innerhalb derer die Transaktion stattfindet, d.h. durch die dort geltenden Gesetze und sonstigen formalen Rahmenbedingungen. Ebenso aktivieren auch die informalen Institutionen (IFk) einer Gesellschaft k,
1141
Die folgende Darstellung der Zusammenhänge lehnt sich an den Ausführungen Wielands an, wie sie in Abschnitt 7.2.1. erläutert sind.
240
7 Die Governanceethik von Wieland
d.h. die dort vorherrschenden religiösen und moralischen Überzeugungen, die individuelle Selbstbindung der Akteure. Grundlegenden Einfluss auf die individuelle Selbstbindung eines Akteurs in einer spezifischen Transaktion hat nicht zuletzt auch die Frage, wie weitgehend die individuelle Selbstbindung seines Gegenübers ist und ob er diese für glaubwürdig hält. Dieser Einfluss ist wechselseitig und wesentlich davon abhängig, inwieweit bereits in der Vergangenheit Transaktionen zwischen den Kooperationspartnern stattgefunden haben und ob diese erfolgreich verlaufen sind. Damit vermag die obige Darstellung 7.7, welche die Formel der Governanceethik ersetzt, die unterschiedlichen Wirkungsweisen der verschiedenen Governancestrukturen auf die moralische Dimension einer spezifischen Transaktion (Tmijk) besser zu differenzieren. Gleichzeitig vermeidet sie die Suggestion eindeutig mathematisch definierbarer Zusammenhänge. 7.3.5
Was sind die Stufen eines Wertemanagementsystems?
Das von Wieland vorgeschlagene Wertemanagementsystem zeigt nun, wie ein Unternehmen seine individuelle Selbstbindung glaubwürdig durch geeignete Koordinations- und Kooperationsmechanismen erzeugen kann. Das Wertemanagementsystem gliedert sich in vier Stufen (Kodifizieren, Kommunizieren, Implementieren und Organisieren), die allerdings nicht stringent voneinander getrennt sind.1142 Auf der zweiten Stufe werden nach Wieland (2002, S. 6) und Wieland/Fürst (2002, S. 37) die Unternehmenswerte intern und extern kommuniziert und bspw. durch entsprechende Arbeitsanweisungen, Arbeitsprozesse, Leitlinien und Weiterbildungsmaßnahmen institutionalisiert. Diese betreffen u.a. die Bereiche der Karriereplanung, Bewerberauswahl, Entgeltpolitik, Lieferantenbewertung, Zielvereinbarungen mit Managern und Mitarbeitern sowie der Positionierung des Unternehmens hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Verantwortung, bspw. zu Fragen des Umweltschutzes oder der Menschenrechte.1143 Damit zeigen sich jedoch Überschneidungen mit den Stufen eins (Kodifizieren) und drei (Implementieren). Die Frage, inwieweit das Unternehmen seine gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen bereit ist, wird bereits auf der ersten Stufe des Wertemanagements geklärt. Denn dort legt das Unternehmen seine gesellschaftspolitischen Grundwerte fest und kodifiziert sie, um auf diese Weise die Verhaltensabsichten des Unternehmens nach innen und außen zu signalisieren und Richtlinien für unternehmerische Entscheidungen bereitzustellen.1144 Insofern dient bereits die erste Stufe der Festlegung moralischer Grundwerte und damit der Positionierung der unternehmerischen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Ebenso dient die dortige Festschreibung der Werte bereits der Kommunikation derselben nach innen und außen. Weitere Überschneidungen der zweiten Stufe gibt es mit der dritten Stufe, die nach Wieland (2002, S. 6) die Instrumente des Wertemanagementsystems – die Complianceprogramme,
1142 1143 1144
Siehe Darstellung 7.5 in Abschnitt 7.2.3. Vgl. Wieland (1999), S. 94f., (2002), S. 6, und Wieland/Fürst (2002), S. 37f. Vgl. Wieland (1999), S. 93, und Wieland/Fürst (2002), S. 37.
7.3 Diskussion und Weiterentwicklung der Governanceethik
241
Werteprogramme und Werteauditsysteme – umfasst, mithilfe derer die Unternehmenswerte im Unternehmen implementiert werden. Denn im Rahmen der Complianceprogramme werden Mitarbeiter über die Rechtsbestimmungen aufgeklärt, und es wird kommuniziert, dass Rechtsbestimmungen von Managern und Mitarbeitern einzuhalten sind. Die Werteprogramme implementieren die moralische Kommunikation im Unternehmen und enthalten bspw. Verhaltensstandards und entsprechende Kommunikationsmedien, Schulungs- und Trainingsmaßnahmen, Rekrutierungsverfahren, Lieferantenbewertungssysteme etc. 1145 Damit wird deutlich, dass auch auf der dritten Stufe die Arbeitsanweisungen, Arbeitsprozesse, Leitlinien und Weiterbildungsmaßnahmen institutionalisiert sind, die Wieland eigentlich für die zweite Stufe vorgesehen hatte. Organisation des Wertemanagements Ethik/Compliance Office
Funktionale Integration (z.B. Revision, QM)
Chefsache
Stufe 3: Organisieren
Instrumente des Wertemanagements Complianceprogramm
Werteprogramm
Intra Team
Inter Team
Werteauditsystem
Kommunikation Extra Team
Stufe 2: Implementieren Unternehmenswerte Leistungswerte
Interaktionswerte Kommunikationswerte
Moral
Kooperationswerte
Stufe 1: Kodifizieren Darst. 7.8: Prozessstufen des modifizierten Wertemanagementsystems Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Wieland (1999), S. 93.
Um im Folgenden die Stufen des Wertemanagementsystems klarer zu strukturieren, wird die grundsätzliche Positionierung des Unternehmens zu Fragen der gesellschaftlichen Verantwortung der ersten Stufe der Kodifizierung unternehmenspolitischer Grundwerte zugeordnet. Die Konkretisierung dieser Werte hinsichtlich der verschiedenen Anspruchsgruppen nach außen
1145
Vgl. Wieland (1999), S. 97, und Wieland/Fürst (2002), S. 38f.
242
7 Die Governanceethik von Wieland
und verschiedener Geschäftsprozesse nach innen, die Wieland den Stufen zwei und drei zugeordnet hatte, werden zu einer zweiten Stufe der Implementierung zusammengefasst. Damit enthalten das Compliance- und Werteprogramm sämtliche Arbeitsanweisungen, Arbeitsprozesse, Leitlinien und Weiterbildungsmaßnahmen, welche die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen sowie die Umsetzung der Werte implementieren, indem sie diese konkretisieren und nach innen („intra team“) sowie nach außen an die Geschäftspartner („inter team“) und an die Gesellschaft („extra team“) kommunizieren. Das Werteauditsystem implementiert schließlich die Kontrolle einer erfolgreichen Verankerung der Werte und der Legal Compliance im Unternehmen. Zugleich nimmt auch das Auditsystem eine Kommunikationsfunktion wahr, indem es die Glaubwürdigkeit des Wertemanagementsystems nach innen und außen erhöht. Die obige Darstellung 7.8 zeigt nun die Prozessstufen des entsprechend modifizierten Wertemanagementsystems im Überblick. Nachdem in Kapitel 6 und dem vorliegenden Kapitel 7 die Ansätze der Ökonomischen Ethik und der Governanceethik dargestellt, diskutiert und weiterentwickelt wurden, ist nun die Basis für die Erweiterung des neuen St. Galler Management-Modells im folgenden Kapitel 8 geschaffen. Die modifizierten Ansätze der Ökonomischen Ethik und der Governanceethik können miteinander integriert werden und so schließlich im Management-Modell den Ansatz der integrativen Wirtschaftsethik von P. Ulrich (1998) ersetzen.
Teil IV
Weiterentwicklung und Anwendung des neuen St. Galler Management-Modells
8.1 Umgestaltungen des neuen St. Galler Management-Modells
8 8.1
245
Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens Umgestaltungen des neuen St. Galler Management-Modells
Im vorliegenden Kapitel wird das neue St. Galler Management-Modell gezielt umgestaltet. In Abschnitt 5.3 wurde dargelegt, dass der Ansatz einer integrativen Wirtschaftsethik von P. Ulrich (1998) nicht konsequent in das Management-Modell eingearbeitet ist und letztlich nicht zu den metatheoretischen Grundlagen des Modells, der neueren Systemtheorie und der Neuen Institutionenökonomik, passt. Diese Inkonsistenz ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass das Modell die Bedeutung der wirtschaftlichen und moralischen Rahmenbedingungen, in die Unternehmen eingebettet sind, und die daraus resultierende Funktionsweise unternehmerischen Handelns nur unzureichend beleuchtet. Damit bleibt im Modell unklar, welche Möglichkeiten und Grenzen für moralisches Handeln von Unternehmen bestehen.1146 Aus diesem Grund werden im vorliegenden Kapitel die folgenden Änderungen im neuen St. Galler Management-Modell vorgenommen: Der moralische Anspruch von P. Ulrich (1998) wird aus dem Modell entfernt und ein ethischer Ansatz auf Basis von Homann und Wieland, wie er in den Kapiteln 6 und 7 ausgearbeitet wurde, in das Modell integriert. Die grundlegenden Aussagen dieses Ansatzes werden im folgenden Abschnitt 8.2 noch einmal kurz zusammengefasst. Da die Moral nicht nur aus moralischen, sondern auch aus ökonomischen Gründen für Unternehmen eine wesentliche, nichtsubstituierbare Leistung erbringt, wird sie als eigene Umweltsphäre des Unternehmens definiert. Im Zuge dessen wird die Moral auch für die Stakeholder des Unternehmens eine wichtigere Rolle spielen und werden Normen und Werte entsprechend bedeutsamere Interaktionsthemen sein, über die Unternehmen mit ihren Stakeholdern zu diskutieren haben. Diese Erweiterungen der Rahmenbedingungen des neuen St. Galler Management-Modells werden in Abschnitt 8.3 erläutert. Als weiterer Schwachpunkt im neuen St. Galler Management-Modell wurde in Abschnitt 5.3 die Beschreibung der „Innenseite“ von Unternehmen, d.h. deren Funktionsweise im Kontext der Marktlogik,1147 identifiziert. Darum wird diese hier grundlegend überarbeitet. Sie richtet sich nicht mehr, wie bei Rüegg-Stürm (2002) der Fall, ausschließlich nach der ökonomischen Logik, sondern auch nach der moralischen. Denn Unternehmen kommunizieren aus moralischen, aber auch aus ökonomischen Gründen genuin moralisch, ohne dabei allerdings den ökonomischen Leitcode außer Acht zu lassen. Die Kriterien, welche infolgedessen für eine effektive und effiziente Implementierung des ethischen Ansatzes in Unternehmen und damit für ein adäquates moralisches Handeln von Unternehmen von Bedeutung sind, werden in Abschnitt 8.4 dargestellt. Damit Unternehmen den hier vorgestellten ethischen Ansatz tatsächlich realisieren, ist dieser in den Strategien, Strukturen und der Kultur konsequent zu verankern. Welche moralischen Grundwerte und konkreten moralischen Handlungsstrategien daraus für Unternehmen resultieren, wie diese konsequent in die Strukturen mit ihren ablauf- und aufbauorganisatorischen Regelungen und schließlich in die Kultur des Unternehmens implementiert werden, wird in 1146 1147
Vgl. die Abschnitte 5.3.2 und 5.3.3. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 35.
246
8 Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens
Abschnitt 8.5 in Gestalt eines erweiterten Wertemanagementsystems gezeigt. Dieses lehnt sich weitgehend an das in Abschnitt 7.3.5 modifizierte Wertemanagementsystem von Wieland (u.a. 1999 und 2004a) an, welches jedoch einzig auf die Implementierung von Moral aus ökonomischen Gründen – zur Einsparung von Transaktionskosten – ausgerichtet ist. Darum wird in das erweiterte Wertemanagementsystem im vorliegenden Kapitel zusätzlich die Implementierung der auf Homann1148 zurückgehenden moralischen Forderungen an unternehmerisches Handeln eingearbeitet. Die Moral wird letztlich in dem auf diese Weise erweiterten neuen St. Galler ManagementModell eine wichtigere Rolle einnehmen, als dies bei Rüegg-Stürm (2002) aktuell der Fall ist. Sie wird nicht mehr nur ein hehrer Anspruch sein, der in normativen Managementprozessen eine Rolle spielt, aber ansonsten keine weitere Anwendung findet und damit auch nicht realisiert werden kann.1149 Vielmehr wird sich die Moral in der folgenden Umgestaltung des Management-Modells in (nahezu) allen Bereichen des Unternehmens und Aufgaben des Managements wieder finden.
8.2
Ethischer Ansatz auf Basis von Homann und Wieland
Im Rahmen der kritischen Diskussion des neuen St. Galler Management-Modells1150 wurde unter Verweis auf dessen Metatheorien gezeigt, dass Unternehmen nicht systematisch moralische Ansprüche zulasten ihrer Wettbewerbsstellung erfüllen können. In den Worten Luhmanns (1988b, S. 252ff.): Moral kann in einer funktional differenzierten Gesellschaft nicht als Einheit in die Wirtschaft und insbesondere Unternehmen integriert werden, ohne die prinzipiell hoch produktive gesellschaftliche Arbeitsteilung (zumindest teilweise) wieder zurückzunehmen. Daher wurde die Entscheidung gefällt, den ethischen Ansatz von P. Ulrich (1998) aus dem Modell herauszunehmen, da sein moralischer Anspruch an unternehmerisches Handeln als zu weitgehend erachtet wird.1151 Der ethische Ansatz, welcher der Weiterentwicklung des neuen St. Galler ManagementModells stattdessen zugrunde gelegt wird, basiert auf der Ökonomischen Ethik und der Governanceethik sowie deren Weiterentwicklungen (Kapitel 6 und 7). Beide ethischen Ansätze führen die Moral als Differenz zwischen Wirtschaft und Moral in unternehmerisches Handeln ein – der einzig gangbare Weg, die Konsequenzen der Moral für Unternehmen angemessen zu bearbeiten.1152 Mit anderen Worten: Nur wenn Moral in Wirtschaft übersetzt werden kann, d.h. moralisches Handeln (zumindest langfristig und überschlägig) ökonomisch Sinn macht, kann es durch Unternehmen realisiert werden. Um beide Ansätze in das neue St. Galler Management-Modell einarbeiten zu können, wurden sie in Abschnitt 7.3 konzeptionell zusammengeführt. Dabei wurde zum einen dargelegt, dass sie miteinander kompatibel sind und sich mit ihren unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen im Hinblick auf die Einarbeitung in das Management-Modell nahezu ideal ergänzen. Zum 1148 1149 1150 1151 1152
Für eine Zusammenfassung desselben siehe Abschnitt 8.2, für dessen Herleitung Abschnitt 6.2. Vgl. Kapitel 5. Siehe die Abschnitte 5.3.3 und 5.3.4. Vgl. Abschnitt 5.3.4. In Anlehnung an Luhmann (1988b), S. 256.
8.2 Ethischer Ansatz auf Basis von Homann und Wieland
247
anderen wurde gezeigt, dass weitere Unterschiede zwischen den Ansätzen dazu genutzt werden können, dieselben weiterzuentwickeln.1153 Im folgenden Abschnitt 8.2.1 werden nun die wesentlichen Aussagen des hier zugrunde gelegten ethischen Ansatzes kurz zusammengefasst und dabei insbesondere die Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns von Unternehmen beleuchtet. Anschließend wird in Abschnitt 8.2.2 gezeigt, wie Moral in das unternehmerische Handeln Eingang finden kann: indem es in die Regeln des Handelns – als die Orte der Moral – implementiert wird. 8.2.1
Moralisches Handeln von Unternehmen: Möglichkeiten und Grenzen
Was sind nun die Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns von Unternehmen? Bevor diese Frage beantwortet werden kann, stellt sich zunächst eine weitere, wie eingangs dargestellt,1154 durchaus umstrittene Frage: Können und sollen Unternehmen überhaupt moralisch handeln? In den Weiterentwicklungen des Homann’schen Ansatzes in Abschnitt 6.2.2 wurde gezeigt, dass moralisches Handeln von Unternehmen nur nötig und sinnvoll ist, weil und soweit Rahmenbedingungen unvollständig sind. Die Transaktionskostentheorie weist darauf hin, dass Unternehmen nur darum als Alternative zur Institution Markt existieren, weil sie mit unvollständigen Verträgen, einem Teilbereich unvollständiger Rahmenbedingungen, besser umgehen können. Somit sind unternehmerische Rahmenbedingungen grundsätzlich unvollständig. Wäre dem nicht so, würden wirtschaftliche Transaktionen effizienter über den Markt abgewickelt.1155 Da nun Unternehmen systematisch innerhalb unvollständiger Rahmenbedingungen mittels unvollständiger Verträge agieren, ist Moral für sie von zentraler ökonomischer Bedeutung.1156 Darüber hinaus eröffnen unvollständige Rahmenbedingungen, insbesondere ein nicht perfektes marktwirtschaftliches System, im Sinne der Ökonomischen Ethik moralische Verpflichtungen für Unternehmen.1157 Unternehmen sind darum prinzipiell nicht moralfrei.1158 Moralisches Handeln von Unternehmen erfolgt somit generell aus zwei Gründen: aus moralischen und aus wirtschaftlichen Gründen. Insofern kann obige Frage bejaht werden: Unternehmen können nicht nur moralisch handeln – sie müssen dies sogar aus wirtschaftlichen Gründen tun, wie die Governanceethik von Wieland zeigt. Zusätzlich sollen Unternehmen aus moralischen Gründen moralisch handeln – dies begründet die Ökonomische Ethik von Homann. Dies sind die zentralen Thesen des hier vertretenen ethischen Ansatzes. Sie werden im Folgenden genauer erläutert, zusammen mit den Möglichkeiten und Grenzen, die einem solchen moralischen Handeln gesetzt sind. 1153 1154 1155 1156
1157 1158
Siehe die Abschnitte 6.2.2, 6.2.3, 7.3.2 und 7.3.3. Siehe Abschnitt 1.1. In Anlehnung an die Transaktionskostenökonomik, vgl. hierzu Abschnitt 2.2. Dies zeigen für den Fall unvollständiger Verträge vor allem der Messkosten- und der Governancekostenansatz (vgl. die Abschnitte 2.2.2 und 2.2.3) sowie deren Erweiterung durch Wieland (vgl. Abschnitt 7.1). Aber auch darüber hinaus sollen Unternehmen moralisch handeln, wie in Abschnitt 6.2.2 in Anlehnung an Homann dargelegt wurde. Vgl. Abschnitt 6.1. Vgl. Abschnitt 6.2.2.
248
8 Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens
Unternehmen sollen nun erstens aus moralischen Gründen moralisch handeln. Diese Forderung basiert auf den moralphilosophischen Grundlagen von Homann, wie sie in den Abschnitten 6.1.1 und 6.1.2 dargelegt wurden. Er begründet Normen in Anlehnung an Hobbes (1970) auf den Vorteilen von Individuen und schließt sich dem normativen methodologischen Individualismus von Brennan/Buchanan (1993) an, der besagt, dass Individuen die einzige Quelle von Werten sind. Bei der Frage nach der Geltung von Normen betont Homann (1993, S. 37), dass nur solche Normen gelten können, welche den jeweiligen situativen Anreizen nicht entgegenstehen oder durch geeignete Regeln sichergestellt werden können. Daraus leitet er seine grundlegende These ab: Der systematische Ort der Moral sind die Rahmenbedingungen des Handelns.1159 Im Folgenden wird jedoch der Begriff der Regeln als Orte der Moral bevorzugt, da Rahmenbedingungen suggerieren, die Orte der Moral lägen ausschließlich außerhalb des Unternehmens, was jedoch, wie in Abschnitt 8.2.2 gezeigt wird, nicht der Fall ist. Welche moralischen Anforderungen können nun an Unternehmen gestellt werden? Um diese Frage zu beantworten, wurde der Ansatz von Homann teilweise weiterentwickelt, weil dessen metatheoretische Grundlagen, die neuere Systemtheorie und insbesondere die Neue Institutionenökonomik, nur unzureichend in die Ökonomische Ethik eingearbeitet sind (vgl. Abschnitt 6.2.2). Die grundlegende Norm, die Homann (1998, S. 32f.) zunächst an unternehmerisches Handeln stellt, ist die Folgende: Unternehmen sollen auf defektive Besserstellung verzichten, d.h. die eigene Vorteilsmaximierung nicht auf Kosten Anderer betreiben, sondern nach einer pareto-superioren Vorteilsmaximierung streben, durch die auch Andere besser gestellt sind.1160 Da nun der Ort der Moral die Regeln unternehmerischen Handelns sind, folgt daraus:1161
1159 1160 1161
1162 1163 1164
x
Unternehmen sollen moralische, d.h. letztlich konsensfähige Regeln einhalten. Mit anderen Worten: Sie sollen gerecht handeln und infolgedessen gerechte Gesetze einhalten.1162 Dabei wird hier die Ansicht Homanns (1995a, S. 185, und 1994a) geteilt, dass die marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, zumindest prinzipiell, ethisch gerechtfertigt (weil konsensfähig) sind.1163
x
Sofern Regeln unvollständig sind, sollen Unternehmen interne und/oder externe moralische Regeln etablieren. Dabei sind moralische Regeln solche, die pareto-superior und damit konsensfähig sind, d.h. mit denen Akteure nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen betroffenen Akteure besser (oder zumindest nicht schlechter) stellen. In diesem Sinne sollen Unternehmen die Moral in den externen Regeln unternehmerischen Handelns verankern (z.B. im Sinne der ordnungspolitischen Strategie von Homann) und/oder moralische interne Regeln (im Sinne der Wettbewerbsstrategie von Homann1164) etablieren.
Vgl. Abschnitt 6.1.1. Vgl. Abschnitt 6.1.1. Diese Normen gehen zurück auf Brennan/Buchanan (1993) und Hobbes (1970), siehe auch Abschnitt 6.1.1. Von Homann werden sie konkretisiert, allerdings in einer Art, welcher sich der vorliegende Ansatz nicht anschließt (siehe Abschnitt 6.1.2 und 6.1.3). Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), S. 51 und 125. Zur ethischen Begründung der Marktwirtschaft siehe Abschnitt 6.1.2. Zu den moralischen Strategien von Homann siehe auch Homann/Blome-Drees (1992), S. 136ff.
8.2 Ethischer Ansatz auf Basis von Homann und Wieland
249
In den Fällen, in denen legitimes und legales Handeln jedoch auseinander fallen, können diesen moralischen Aktivitäten indessen Grenzen gesetzt sein durch die wettbewerblichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer Unternehmen agieren. Denn auch auf die genannten Normen trifft der Grundsatz zu, dass sie nur dann gelten, wenn Unternehmen damit nicht entgegen ihrer situativen Anreize handeln, d.h. ihre Effektivität und Effizienz verschlechtern und so systematisch Wettbewerbsnachteile in Kauf nehmen. Die Wirtschaft fungiert hier als Restriktion der Moral.1165 Verbirgt sich hinter dieser Einschränkung ein Freibrief für alle ökonomisch sinnvollen Handlungen in dem Sinne, dass alles erlaubt ist, was nicht direkt verboten ist und sich rechnet? Homann (1998, S. 32f.) verweist hier auf eine Leitlinie für Entscheidungsdilemmata zwischen Moral und Wirtschaft, die als Übersetzungshilfe von Moral in Wirtschaft dient: Unternehmen sollen auf kurzfristige Vorteile zugunsten (größerer) langfristiger Vorteile verzichten bzw. solche Vorteile vermeiden, mit denen sie die Interessen Anderer verletzen, wenn sie stattdessen auch die Möglichkeit haben, (größere) Vorteile bei gleichzeitiger Rücksichtnahme auf Andere zu erzielen. Die Moral dient hier als Heuristik wirtschaftlichen Handelns.1166 Diese Leitlinie erweist sich jedoch oftmals als schmale Gratwanderung. Korrupte Behörden in Entwicklungsländern, die den Bau einer Anlage ohne Bestechungsgelder nicht genehmigen würden, können ein dort ansässiges Unternehmen, wenn es keine wirtschaftlich gleichwertige Alternative hat und die Rahmenbedingungen nicht im Sinne einer erweiterten ordnungspolitischen Strategie beeinflussen kann, zur Korruption „zwingen“.1167 Die moralischen Forderungen können darum letztlich nicht mehr sein als eine Suchanweisung nach sog. „Win-WinSituationen“, mit denen Unternehmen wirtschaftliche Belange mit moralischen in Einklang bringen können, und/oder nach Möglichkeiten, mittels entsprechendem Einfluss auf die Rahmenbedingungen solche Win-Win-Situationen zu schaffen. Unternehmen sollen nun nicht nur aus moralischen Gründen moralisch handeln, sondern müssen dies zweitens auch aus wirtschaftlichen Gründen tun, um bei unvollständigen Verträgen durch Moral besser (im Sinne von effizienter) wirtschaften zu können. Moral fungiert hier als Restriktion wirtschaftlichen Handelns. Die folgenden Ausführungen, die diesen Sachverhalt kurz erläutern, orientieren sich nun nicht mehr an der Ökonomischen Ethik von Homann, da dessen Ansatz, wie bereits erwähnt, an dieser Stelle Schwächen aufweist.1168 Stattdessen basiert das Folgende auf der Governanceethik von Wieland, der diese Fragestellung detailliert und vor allem institutionenökonomisch und systemtheoretisch wohl fundiert beantwortet (vgl. Kapitel 7). Unternehmen bestehen aus Kooperationen in Teams und kooperieren als kollektive Akteure mit anderen Anspruchsgruppen. Sie benötigen Wertschätzung, weil sie mit ihren Anspruchsgruppen unvollständige Verträge abgeschlossen haben und infolgedessen darauf angewiesen sind, dass ihre Kooperationspartner und Teammitglieder implizite Verträge, welche die formalen Verträge ergänzen, einhalten. Dies können Unternehmen nur dann erwarten, wenn
1165 1166 1167
1168
Vgl. die Abschnitte 6.1.1 bis 6.1.3. Vgl. die Abschnitte 6.1.1 und 6.1.2. In Anlehnung an Homann/Blome-Drees (1992), S. 163ff. Für eine ausführliche Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen von Unternehmen, auf Korruption zu verzichten, siehe die Abschnitte 9.3 und 9.4. Vgl. die Abschnitte 6.1.2 und 6.2.2.
250
8 Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens
sie selbst kooperieren und ihrerseits implizite Verträge einhalten – oder in den Worten Wielands (1996, S. 21 und 170): wenn sie selbst zusammen mit ihren wirtschaftlichen Gütern moralische Güter in Form von Wertschätzung allozieren. Zudem kommen sie ihrerseits nur dann als Kooperationspartner in Frage, wenn sie eine Identität im Sinne eines Status für Vertrauenswürdigkeit besitzen. Eine solche Reputation, Wertschätzung an die eigenen Vertragspartner zu allozieren, müssen sich Unternehmen erst erarbeiten.1169 Unternehmen als kollektive Akteure sind folglich aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, sich eine eigene personale Identität zu bilden, sich also als moralische Akteure zu positionieren. Sie müssen sich glaubwürdig als zuverlässige, ehrliche Kooperationspartner „qualifizieren“. Moral ist darum ein wichtiger produktiver Faktor von Unternehmen, die tugendethischen Einstellungen der Mitglieder zentrale Unternehmensressourcen, die nur mittels Anreizen für moralisches Handeln in den Governancestrukturen aktiviert werden können. Dies ist für Unternehmen aus ökonomischen Gründen zentral, um überhaupt kooperieren und Transaktionskosten einsparen zu können.1170 Auf diese Weise wird deutlich, dass das Moralsystem eine wesentliche, nichtsubstituierbare Funktion und Leistung für Unternehmen erfüllt. Auf die Funktion der Moral, Wertschätzung („Achtung – Missachtung“) auf soziales Handeln und Verhalten zuzuweisen, sind Unternehmen angewiesen, um, wie beschrieben, überhaupt kooperieren und wirtschaften zu können. Denn, so vermag Wieland (1996, S. 155ff.) zu zeigen: Nur eine genuin moralische Kommunikation ist für gesellschaftliche Kooperationen funktional. Die Leistung der Moral sind normative Bewertungskriterien, mit denen die Gesellschaft den Zugang von Akteuren zu den Leistungen von Funktionssystemen und Organisationen steuert. Erst durch die Vorgabe solcher Bewertungskriterien ermöglicht es die Moral, dass es überhaupt Reputationseffekte geben kann.1171 8.2.2
Orte der Moral: Regeln unternehmerischen Handelns
Wie können die Prinzipien bzw. Normen und die wirtschaftlichen Notwendigkeiten der Moral nun in das neue St. Galler Management-Modell Eingang finden? Hier hilft der Grundsatz weiter, der aus den Ansätzen von Homann und Wieland abgeleitet wurde: Die Orte der Moral sind die unternehmensexternen und -internen Regeln bzw. Institutionen unternehmerischen Handelns.1172 Nach Wieland (2001b, S. 8ff.) ist die moralische Dimension einer Transaktion eine Funktion der verankerten Moral in den (internen und externen) Governancestrukturen des Unternehmens. Dabei erweist sich jedoch der dort abgesteckte Bereich der Governancestrukturen für die vorliegende Arbeit als zu eng. Denn es geht hier nicht mehr nur darum, welche Regeln es bedingen, dass Unternehmen aus ökonomischen Gründen moralisch kommunizieren müssen, sondern auch darum, dass sie in Anlehnung an die Ökonomische Ethik aus moralischen
1169 1170 1171 1172
Vgl. Abschnitt 7.1.4. Vgl. die Abschnitte 7.1.3 und 7.1.5. Vgl. Abschnitt 7.1.5. Siehe die Abschnitte 6.2.2 und 7.3.2.
8.2 Ethischer Ansatz auf Basis von Homann und Wieland
251
Gründen moralisch kommunizieren sollen. Auch die Regeln, auf die Homann verweist, sind zu eng abgesteckt, wie in Abschnitt 6.2.2 gezeigt wurde. Werden nun der Stakeholderansatz von Freeman (1984) und der erweiterte Institutionenbegriff der Neuen Institutionenökonomik zu den von Wieland (z.B. 2001b) beschriebenen Governancestrukturen hinzugenommen, ergibt sich die folgende Aufgliederung moralisch relevanter Regeln:1173 Die externen Regeln unternehmerischen Handelns sind x
die individuellen Selbstbindungsstrategien der Anspruchsgruppen des Unternehmens,
x
die formalen und informalen Institutionen einer gegebenen Gesellschaft sowie
x
die materielle Umwelt in Gestalt der natürlichen Ressourcenbasis und der technologischen Gegebenheiten.
Diese externen Regeln entsprechen den Umweltsphären und den Stakeholdern des neuen St. Galler Management-Modells.1174 Die internen Governancestrukturen umfassen x
die kollektive Selbstbindungsstrategie und
x
die Koordinations- und Kooperationsmechanismen des Unternehmens, die neben formalen auch informale Mechanismen (die unternehmerische Moralkultur) enthalten.
Diese internen Regeln entsprechen den Ordnungsmomenten der Strategie, Struktur und Kultur des Management-Modells.1175 Letztlich können Unternehmen nur ihre internen Regeln direkt selbst gestalten. Dabei wird die moralische Selbstbindungsstrategie des Unternehmens durch die organisationalen Regeln, die Koordinations- und Kooperationsmechanismen, erst erzeugt.1176 Die unternehmensexternen Regeln können Unternehmen nur indirekt beeinflussen – ebenfalls mittels der eigenen Koordinations- und Kooperationsmechanismen. Damit zielt eine Verankerung von Moral in Unternehmen immer auf eine adäquate Gestaltung der Koordinations- und Kooperationsmechanismen, d.h. auf eine Verankerung der Moral in den Strategien, Strukturen und der Kultur in Gestalt eines (erweiterten) Wertemanagementsystems ab.1177 Damit wird deutlich, warum nach Wieland (2001b, S. 17) die Koordinations- und Kooperationsmechanismen das Kernstück seiner Governanceethik bilden. Diese Feststellung steht im Einklang mit der Strukturationstheorie von Giddens (1997), die dem neuen St. Galler Management-Modell zugrunde liegt: Eine Ausrichtung unternehmerischen Handelns erfolgt immer mittels einer gezielten Gestaltung der Ordnungsmomente des Unternehmens.1178
1173 1174
1175 1176 1177 1178
Siehe die Abschnitte 6.2.2 und 7.3.2. Zu den Umweltsphären siehe Rüegg-Stürm (2002), S. 24ff., zu den Stakeholdern siehe Rüegg-Stürm (2002), S. 36ff. Zu den Ordnungsmomenten siehe Rüegg-Stürm (2002), S. 36ff. In Anlehnung an Wieland (1996), S. 152. Vgl. Abschnitt 8.5. Vgl. Rüegg-Stürm (2001) und (2002), insbesondere S. 78f. Siehe auch die Abschnitte 5.1 und 5.2.
252
8 Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens
Im Folgenden wird zunächst die Bedeutung der Moral in den Rahmenbedingungen des Unternehmens geklärt. Anschließend werden Kriterien und konkrete Ansatzpunkte für eine adäquate Verankerung der Moral in den Ordnungsmomenten beschrieben. Dabei stellen die folgenden Erläuterungen eine Ergänzung des neuen St. Galler Management-Modells dar, wie es in Abschnitt 5.1 geschildert wurde.
8.3
Rahmenbedingungen des Unternehmens
Das neue St. Galler Management-Modell von Rüegg-Stürm (2002) ist in seinen Aussagen über das Verhältnis von Unternehmen zum Wirtschafts- und Moralsystem ungenau und letztlich widersprüchlich.1179 Daher wird im Folgenden – Bezug nehmend auf den dargestellten ethischen Ansatz – genauer durchleuchtet, welche Rolle die Moral in den Rahmenbedingungen des Unternehmens spielt: Sie bekommt den Stellenwert einer eigenen Umweltsphäre zugewiesen und erhält so für die Anspruchsgruppen und als Interaktionsthema mit denselben eine größere Bedeutung. Diese gestiegene Relevanz der Moral in der Unternehmensumwelt spiegelt sich auch im Unternehmen selbst wider. Dies wird durch die Erläuterungen der Kriterien moralischen Handelns (Abschnitt 8.4) und des Wertemanagementsystems (Abschnitt 8.5) deutlich werden. 8.3.1
Umweltsphären
Umweltsphären umfassen die für das Unternehmen bedeutsamen gesellschaftlichen Funktionssysteme und materiellen Rahmenbedingungen, d.h. die natürlichen Ressourcen (Umweltsphäre „Natur“) und die technologischen Gegebenheiten der Gesellschaft (Umweltsphäre „Technologie“).1180 Unternehmen sind Organisationen und kommunizieren polylingual,1181 d.h. in den Codes der gesellschaftlichen Umweltsphären, in die sie eingebettet sind. In diese Umweltsphären sollen Unternehmen nun, wie später in Abschnitt 8.5 genauer ausgeführt wird, aus moralischen Gründen moralische Standards verankern, indem sie beispielsweise den technologischen Fortschritt in Richtung umweltfreundlicherer Produktionsmethoden vorantreiben.1182 Dabei gilt jedoch, was später unter dem Kriterium der Wirtschaftlichkeit (Abschnitt 8.4.3) genauer erläutert wird: Unternehmen sind Ausdifferenzierungen des Funktionssystems der Wirtschaft – dieses ist für sie das primäre, zentrale Funktionssystem. Folglich sind Unternehmen an ökonomische Leistungsziele als übergeordnete Ziele gebunden. Mit anderen Worten: Der ökonomische Code ist der Leitcode von Unternehmen, in den sie jegliche Kommunikation zumindest langfristig und überschlägig übersetzen müssen. Jede unternehmerische Handlung schlägt sich in Unternehmen letztlich als Aufwand oder Ertrag, Gewinn oder Verlust
1179 1180 1181 1182
Vgl. Abschnitt 5.3.2. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 24ff. Vgl. Luhmann (1994), S. 195, und Abschnitt 3.4.4. Im Fall der Umweltsphären braucht von Unternehmen nicht gefordert zu werden, Regeln einzuhalten. Denn im Kontext der Funktionssysteme gibt es keine unvollständigen Verträge, die eingehalten werden könnten, sondern nur im Rahmen vertraglicher Beziehungen zu anderen Akteuren, d.h. den Anspruchsgruppen.
8.3 Rahmenbedingungen des Unternehmens
253
nieder.1183 Unternehmen sind ökonomisch erfolgreich bzw. wirtschaften effektiv, wenn die Differenz zwischen Ertrag und Aufwand bzw. der Gewinn positiv ist. Sie agieren stabil bzw. handeln effizient, wenn sie in der Lage sind, die distinkten Sprachspiele auszubalancieren und zu selektieren, d.h. die Friktionen zwischen den diversen formalen und informalen Beschränkungen zu minimieren.1184 Daraus folgt, dass Unternehmen (grundsätzlich und systematisch) auch aus moralischen Gründen nichts tun können, was ihren Effektivitätsvorteil (überlegene Nutzenstiftung für relevante Anspruchsgruppen) und Effizienzvorteil (geringere Transaktionskosten unternehmerischen Handelns) vermindert. Sie laufen ansonsten Gefahr, ihre Existenz zu verlieren.1185 Trotzdem bzw. gerade aus diesen Gründen ist Moral für Unternehmen bedeutsam: Unternehmen sollen nicht nur trotz wirtschaftlicher Zwänge moralisch handeln, sondern müssen dies gerade aufgrund derselben tun. Dies zeigt, dass das Moralsystem nicht nur für die Gesellschaft im Allgemeinen eine nichtsubstituierbare Funktion und Leistung erfüllt (und darum von Wieland als eigenes Funktionssystem modelliert wird, vgl. Abschnitt 7.1). Auch für Unternehmen im Besonderen ist die Moral von zentraler Bedeutung: Ohne sie könnten Unternehmen überhaupt nicht kooperieren bzw. wirtschaften, wie im vorherigen Abschnitt 8.2.1 bereits erläutert wurde. Darum erfährt das neue St. Galler Management-Modell hier eine zentrale Erweiterung: Die Moral wird als eine wichtige Umweltsphäre des Unternehmens hinzugefügt. Das Funktionssystem der Moral kommuniziert u.a., welche Normen und Werte im wirtschaftlichen Kontext anwendbar und damit für Unternehmen moralisch verbindlich sind. Auf diese Weise wird kommuniziert, welche unternehmerischen Verhaltensweisen als gut, welche als schlecht gelten.1186 Unternehmen beteiligen sich an diesem Anwendungsdiskurs von Normen, indem sie die spezifischen Anwendungskontexte liefern. Darüber hinaus können (und sollen) sie jedoch auch einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Begründungsdiskurses von Normen leisten, indem sie ihre Erfahrungen aus der Anwendung von Normen an den Begründungsdiskurs rückkoppeln. Auf diese Weise werden Unternehmen zu Agenten moralischen Wandels,1187 und die Wirtschaft vermag so als Heuristik für die Moral zu fungieren.1188 Dieses Engagement von Unternehmen kann aus moralischen Gründen gefordert werden – soweit sie dadurch langfristig keine finanziellen Verluste erleiden. Allerdings könnten sie dies auch als Chance wahrnehmen, ihre eigene Reputation zu stärken und insofern u.U. einen (langfristigen) ökonomischen Nutzen daraus ziehen. Schließlich wird das neue St. Galler Management-Modell noch um weitere Umweltsphären, d.h. weitere für das Unternehmen zentrale Funktionssysteme, erweitert, um das Modell zu vervollständigen. Es handelt sich dabei um das Rechts-, Politik- und Erziehungssystem der Gesellschaft. Denn auch hier sollen Unternehmen im Sinne der ordnungspolitischen Strategie 1183 1184 1185 1186 1187 1188
Vgl. Wieland (1996), S. 76 und 81. Vgl. Wieland (1996), S. 82, mit Bezug auf North (1990), S. 87. Vgl. die Abschnitte 5.3.3 und 5.3.4. In Anlehnung an Wieland (2001b), S. 26. Vgl. Abschnitt 7.1.1. Vgl. Abschnitt 6.1.2.
254
8 Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens
und der Bildungsstrategie Moral verankern, z.B. durch Lobbyismus und durch die Sensibilisierung der Mitarbeiter oder der Öffentlichkeit für moralische Themen. Darstellung 8.1 gibt einen Überblick über das entsprechend erweiterte neue St. Galler Management-Modell.
Darst. 8.1: Das erweiterte neue St. Galler Management-Modell im Überblick Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Rüegg-Stürm (2002), S. 22.
8.3 Rahmenbedingungen des Unternehmens 8.3.2
255
Stakeholder
Gegenüber den Stakeholdern sollen (aus moralischen Gründen) und müssen (aus wirtschaftlichen Gründen) sich Unternehmen moralisch verhalten. Aus ökonomischen Gründen haben Unternehmen im Sinne des organisatorischen Imperativs von Wieland (1996, S. 176) die Aufgabe, moralische Güter von Seiten ihrer Anspruchsgruppen (im Sinne von Wertschätzung, die z.B. in Form von Engagement und Ehrlichkeit zutage tritt) zu aktivieren und sich gleichzeitig vor opportunistischem Handeln zu schützen.1189 Hierzu verankern Unternehmen moralische Anreize in den Governancestrukturen, mit denen sie durch genuin moralische Kommunikation systematisch Wertschätzung an ihre Kooperationspartner allozieren.1190 In diesem Sinne können beispielsweise Qualitätsmanagementsysteme etabliert werden, die dafür Sorge tragen, dass Erfahrungs- und Vertrauensgüter über die den Kunden zugesicherten Eigenschaften verfügen. Personalentwicklungssysteme können Mitarbeitern einen organisatorischen Rahmen geben, innerhalb dessen sie darauf vertrauen können, dass ihr Engagement durch entsprechende Weiterentwicklungsmöglichkeiten im Unternehmen gewürdigt und belohnt wird. Weitere konkrete Handlungsstrategien, Instrumente und Möglichkeiten einer organisatorischen Verankerung werden in den Abschnitten 8.5.1 bis 8.5.3 genauer dargelegt. Dabei verfolgen solche Governancestrukturen immer das Ziel, die Kooperationspartner ihrerseits dazu zu bringen, mit dem Unternehmen zu kooperieren und implizite Verträge zu erfüllen, d.h. moralisch zu handeln.1191 Stakeholder sind darüber hinaus, in ihrer Eigenschaft als mehrsprachige Akteure, in der Lage, von moralischen in wirtschaftliche Codes zu übersetzen, indem sie moralische und gleichzeitig wirtschaftlich relevante Anforderungen an Unternehmen stellen. Dies ist z.B. bei Umweltschutzgesetzen, der Nachfrage von Kunden nach umweltfreundlichen Produkten, bei ökologischen und sozialen Kriterien für Kapitalanlagen seitens der Kapitalgeber, bei Streiks der Mitarbeiter für besseren Arbeitsschutz etc. der Fall. Das Unternehmen erfüllt hier mit Moral wirtschaftlich relevante Anforderungen. Damit ist diese Art moralischer Handlungen seitens der Unternehmen jedoch nicht genuin moralisches, sondern genuin wirtschaftliches, d.h. „strategisches“ moralisches Handeln. Für die Erfüllung dieser wirtschaftlich relevanten Anforderungen sind indessen keine weiteren Vorkehrungen nötig, die nicht bereits im neuen St. Galler Management-Modell vorgesehen sind. Aus moralischen Gründen sollen Unternehmen des Weiteren die folgenden Strategien verfolgen:1192
1189 1190 1191 1192 1193
x
die Einhaltung bestehender gerechter Gesetze, d.h. ein legales Handeln;
x
die Erfüllung ethisch legitimer Ansprüche ihrer Stakeholder, solange Unternehmen dadurch ihre wirtschaftlichen Effizienz- und Effektivitätsvorteile nicht gefährden (im Sinne der Wettbewerbsstrategie1193); hier übersetzen Unternehmen intern von Moral in Wirtschaft;
Vgl. Wieland (1996), S. 176. Vgl. Wieland (1996), S. 131, (1997), S. 57, und Wieland (2004b), S. 20f. Vgl. Wieland (1996), S. 160f. Vgl. Abschnitt 6.2.2. In Anlehnung an Homann/Blome-Drees (1992), S. 136.
256
8 Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens
x
die Verankerung moralischer Standards bei den Anspruchsgruppen im Sinne einer erweiterten ordnungspolitischen Strategie. Hier übersetzen Unternehmen intern von Moral in die Leitcodes der jeweiligen Anspruchsgruppen, z.B. durch wirtschaftlichen Druck auf die Lieferanten, Werte- und Umweltmanagementsysteme zu implementieren.
x
die moralische Bildung bzw. Überzeugung der Anspruchsgruppen im Sinne einer moralischen Bildungsstrategie. Dabei kommunizieren Unternehmen mit ihren Anspruchsgruppen direkt moralisch.
8.3.3
Interaktionsthemen
Die Interaktionsthemen, über die Unternehmen mit ihren Anspruchsgruppen kommunizieren, betreffen nach Rüegg-Stürm (2002, S. 32ff.) die Normen und Werte der Gesellschaft, die Anliegen und Interessen der Anspruchsgruppen sowie die Bereitstellung von Ressourcen durch die Anspruchsgruppen. Dabei können die Interaktionsthemen grundsätzlich sämtliche Umweltsphären des Unternehmens betreffen, d.h. in den Codes sämtlicher Umweltsphären kommuniziert werden, denn Unternehmen sind Sets distinkter Sprachspiele.1194 Intern übersetzen Unternehmen für sich jedoch die verschiedenen Interaktionsthemen wieder (zumindest langfristig und überschlägig) in den ökonomischen Leitcode.1195 Ein Unternehmen bemüht sich um die Ressourcen, welche es für die eigene unternehmerische Tätigkeit benötigt, die aber im Besitz der Anspruchsgruppen sind.1196 Während Rüegg-Stürm (2002, S. 34) hierunter die Produktionsfaktoren Finanz-, Humankapital und ökologische Ressourcen fasst, hat Wieland (1996, S. 13) gezeigt, dass die tugendethische Einstellung der Unternehmensmitglieder eine weitere zentrale Ressource für das Unternehmen darstellt. Darüber hinaus kann auch die Legitimität der Gesellschaft als moralische Unternehmensressource interpretiert werden, die im Falle der Herstellung von Moralgütern, d.h. moralisch sensibler Produkte, für ein Unternehmen sogar überlebenswichtig sein kann.1197 Wie eine angemessene unternehmerische Kommunikation konkret aussehen kann, mit der diese moralischen Ressourcen gefördert werden, wird in Abschnitt 8.5 genauer ausgeführt. Weitere Themen, über die Unternehmen mit ihren Stakeholdern kommunizieren, sind deren Anliegen und Interessen.1198 Neben wirtschaftlichen werden hier auch moralische Anliegen und Interessen kommuniziert. Letztere erfüllen Unternehmen teilweise aus ökonomischen Gründen, wenn diese für sie ökonomisch relevant sind. In diesem Sinne aktivieren sie bspw. moralische Anreize zur Einhaltung impliziter Verträge seitens der Anspruchsgruppen, bzw. für eine kooperative Zusammenarbeit derselben mit dem Unternehmen. Aus moralischen Gründen sollen Unternehmen moralische Interessen und Anliegen erfüllen, solange sie dadurch ihre Wettbewerbsstellung nicht gefährden. Zudem sollen Unternehmen moralische Ansprüche und Interessen von Anspruchsgruppen wecken bzw. stärken, indem sie wirtschaft1194 1195 1196 1197 1198
Vgl. Wieland (1996), S. 73, mit Bezug auf Commons (1934/1990), S. 70f. Vgl. Wieland (1996), S. 81. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 34. In Anlehnung an Wieland (2004b), S. 23. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 33f.
8.4 Kriterien für eine effiziente und effektive Implementierung
257
lichen, politischen o.ä. Druck auf die Anspruchsgruppen ausüben, oder indem sie diese moralisch bilden bzw. überzeugen.1199 Schließlich diskutieren Unternehmen mit ihren Anspruchsgruppen über die Normen und Werte, die für das unternehmerische Handeln verbindlich sind oder von denen die Anspruchsgruppen überzeugt werden sollen.1200 Eine solche genuin moralische Kommunikation ist mithin geeignet, eine Reputation für Vertrauenswürdigkeit aufzubauen.1201
8.4
Kriterien für eine effiziente und effektive Implementierung
Die oben dargestellten Ansatzpunkte für ein moralisches Handeln von Unternehmen sind in die Ordnungsmomente des Unternehmens zu integrieren. Dabei gibt es verschiedene Kriterien, die für eine effiziente und effektive Implementierung der Moral zu beachten sind: das Kriterium der Gerechtigkeit, der Glaubwürdigkeit und der Wirtschaftlichkeit. 8.4.1
Kriterium der Gerechtigkeit: umfassendes Anreizmanagement
Ordnungsmomente steuern das unternehmerische Handeln und damit auch die Allokation moralischer Güter. Ein wesentliches Kriterium zur Beurteilung ihrer Steuerungswirkung ist dabei die Gerechtigkeit. Denn aus moralischen Gründen wird hier in Anlehnung an Homann und Blome-Drees (1992, S. 38f. und 51) gefordert, dass die Ordnungsmomente Anreize und Sanktionen setzen, die auf eine Einhaltung von Regeln hinwirken, d.h. auf gerechtes Handeln. Auch für die zweite Forderung, moralische Regeln zu etablieren, gilt das Kriterium der Gerechtigkeit: diese sind möglichst in Einklang zu bringen mit übergeordneten Metaregeln, d.h. auch die etablierten moralischen Regeln sollten gerecht sein. Aber auch aus wirtschaftlichen Gründen ist die Gerechtigkeit ein wichtiges Kriterium. Unternehmen sind darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder und anderen Kooperationspartner implizite Verträge einhalten bzw. kooperieren, also zusammen mit wirtschaftlichen auch moralische Güter (Wertschätzung) zuweisen. Um diese zu aktivieren, muss das Unternehmen im Sinne des organisatorischen Imperativs sich einerseits vor Opportunismus schützen und andererseits selber Wertschätzung allozieren, indem es die Erträge moralischer Güter gerecht alloziert. Dies bedeutet, dass z.B. das Engagement von Mitarbeitern durch eine angemessene Entlohnung, Aufstiegschancen oder faire Arbeitsbedingungen gewürdigt wird.1202 Unternehmen müssen letztlich ein umfassendes Anreizmanagement betreiben, das gerechte wirtschaftliche und moralische Anreize setzt.1203 Denn die vollen Erträge aus Arbeitsteilung und Kooperationen sowie deren Ausweitung werden nur dann realisiert, wenn die Allokation moralischer Güter als gerecht empfunden wird.1204
1199 1200 1201 1202 1203 1204
Siehe ausführlich in Abschnitt 8.3.2. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 34. Vgl. Wieland (1996), S. 155. Vgl. Wieland (1996), S. 20ff., 143, 157 und 176ff. Vgl. Wieland (2004b), S. 25. Vgl. Wieland (1996), S 177.
258 8.4.2
8 Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens Kriterium der Glaubwürdigkeit: genuine Moral
Ein weiteres Kriterium für die Verankerung der Moral in den Ordnungsmomenten ist die Glaubwürdigkeit dafür, dass das Unternehmen tatsächlich genuin und nicht rein strategisch moralisch kommuniziert. Dies ist vor allem aus wirtschaftlichen Gründen wichtig, wenn Unternehmen auf stabile Kooperationen angewiesen sind oder Moral-, Vertrauens- und Erfahrungsgüter herstellen. So tätigen z.B. Mitarbeiter eines Unternehmens spezifische Investitionen, wenn sie moralische Güter allozieren, d.h. den vollen Teameinsatz erbringen. Diese Investitionen können vom Team ausgebeutet werden. Wenn es nun nicht gelingt, diese Ausbeutung durch entsprechende Vorkehrungen in der Governancestruktur glaubwürdig einzudämmen, wird das Angebot moralischer Güter gegen Null gehen.1205 Auch wenn Unternehmen aus moralischen Gründen moralisch handeln und sich z.B. hohe ökologische Standards setzen, ist die eigene Glaubwürdigkeit von Bedeutung. Denn auch an diesen freiwilligen moralischen Standards werden sie seitens ihrer Anspruchsgruppen gemessen und bewertet. Im Fall ihrer Nichteinhaltung wird das Unternehmen weitgehende Reputationsverluste erleiden, mit negativen ökonomischen Folgen für die Kooperationsbereitschaft der Vertragspartner, die Kaufbereitschaft der Kunden im Fall von Moral-, Vertrauens- und Erfahrungsgütern und für die gesellschaftliche Legitimität als Ganzes. Unternehmen müssen daher in entsprechende strukturelle Vorkehrungen in der Governancestruktur investieren, um damit die eigene Vertrauenswürdigkeit glaubwürdig zu signalisieren. Dazu setzt sich das Unternehmen entsprechende Spielregeln, bindet sich durch Verhaltensstandards daran und garantiert deren Einhaltung durch Dritte oder weitere glaubwürdige Versicherungen. Glaubwürdigkeit entsteht dabei erst dann, wenn signifikante wirtschaftliche oder rechtliche „Geiseln“ angeboten werden.1206 Mechanismen für die glaubwürdige Zusicherung und Versicherung hinsichtlich der eigenen moralischen Selbstbindung des Unternehmens sind verschiedene Selbstbindungs- und Fremdbindungsmechanismen, wie sie bereits in Abschnitt 7.2.2 dargestellt wurden. Dabei hängt deren Effizienz und Effektivität davon ab, welche dieser Mechanismen auf welche Art und Weise miteinander kombiniert werden und ob die spezifische Verpflichtung in Einklang steht mit den Präferenzen, Fähigkeiten und den Möglichkeiten des jeweiligen Akteurs.1207 Glaubwürdigkeit signalisieren Unternehmen letztlich, indem sie die Moral in Gestalt eines Wertemanagementsystems in den Strategien, Strukturen und der Kultur implementieren. Denn dieses enthält die geeigneten Mechanismen für ein Unternehmen, sich eine Identität für Vertrauenswürdigkeit und damit bis auf Weiteres die gesellschaftliche Legitimität zu sichern.1208 8.4.3
Kriterium der Wirtschaftlichkeit: Moral in Wirtschaft übersetzen
Das dritte Kriterium für die effektive und effiziente Implementierung des Wertemanagementsystems ist schließlich die Wirtschaftlichkeit. Für Unternehmen ist es ökonomisch wichtig,
1205 1206 1207 1208
Vgl. Wieland (1996), S. 145 und 150ff., sowie (2004a), S. 7, 11 und 23. Vgl. Wieland (1996), S. 150ff. Vgl. Wieland (2004a), S. 11ff. Vgl. Wieland (2004b), S. 23f., und Wieland (2004a), S. 17.
8.5 Integration eines Wertemanagements in die Ordnungsmomente
259
moralische Wertschätzung zu aktivieren und zu allozieren1209 und dafür in genuine moralische Kommunikation zu investieren. Denn nur nichtökonomische moralische Ziele in ihrer genuinen Form sind ökonomisch wirksam.1210 Die moralische Kommunikation muss daher als ein Element der unternehmerischen Governancestruktur generiert und gefördert werden. Dabei entstehen einem Unternehmen sowohl Kosten als auch Erlöse: Auf der einen Seite erzielt es Erlöse aus Reputation, d.h. vermiedene Kosten aus aufgedecktem opportunistischem Verhalten und Erlöse aus zusätzlichen Kooperationschancen. Aber auf der anderen Seite entstehen ihm Kosten für die Errichtung der Governancestrukturen und Opportunitätskosten aufgrund des ehrlichen Verhaltens, d.h. entgangene Erlöse aus Opportunismus. Die Gestaltung der Governancestruktur muss folglich Ökonomisierungsanstrengungen unterworfen werden und hinsichtlich ihrer komparativen und adaptiven Effizienz hin gemessen werden.1211 Ein wirtschaftlicher Akteur wird letztlich so lange in das Statusgut „Vertrauenswürdigkeit“ investieren, wie er erwarten kann, dass dessen Grenzerträge positiv sind. Eine beliebige Vermehrung der Kooperationsmöglichkeiten ist ineffizient.1212 Dabei ist jedoch zu beachten, dass Investitionen in moralische Vorkehrungen grundsätzlich immer unsicher sind.1213 Auch wenn aus moralischen Gründen in moralische Governancestrukturen investiert wird, müssen Unternehmen moralische Kommunikationen langfristig und überschlägig in ökonomische Codierung, d.h. in die Leitdifferenz „Aufwand – Ertrag“ bzw. „Gewinn – Verlust“, übersetzen.1214 Daher sollten sich Unternehmen hier an den Forderungen Homanns (1998, S. 32f.) orientieren, nach pareto-superioren Möglichkeiten zu suchen, mit denen sie sich selbst in einer Weise besser stellen, in der auch andere besser gestellt sind.1215
8.5
Integration eines Wertemanagements in die Ordnungsmomente
Die Moral wird in Unternehmen letztlich in dessen Strategien, Strukturen und der Kultur verankert. Dabei fungieren aus Effizienz- und Effektivitätsgründen die oben beschriebenen Kriterien der Gerechtigkeit, Glaubwürdigkeit und Wirtschaftlichkeit als Leitlinien, welche dem Unternehmen die Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns aufzeigen. Hier weist vor allem das Gebot der Wirtschaftlichkeit darauf hin, dass Unternehmen die Zielkonflikte und Friktionen zwischen moralischer und ökonomischer Kommunikation – die unternehmensinterne Übersetzung von Moral in Ökonomie und umgekehrt – adäquat zu managen haben.1216 Das im Folgenden geschilderte Wertemanagementsystem zeigt nun, wie moralisches Handeln, das den genannten Kriterien genügt, in die Ordnungsmomente implementiert werden kann. 1209 1210 1211
1212 1213 1214 1215 1216
Vgl. Wieland (2004b), S. 20f. Vgl. Wieland (1996), S. 169. Vgl. Wieland (1996), S. 10 und 184; sowie (1996), S. 154, mit Bezug auf Milgrom/Roberts (1988) und Kreps (1990). Vgl. Wieland (1996), S. 171, mit Bezug auf Gambetta (1988b), S. 214. Vgl. Wieland (2001b), S. 22. In Anlehnung an Wieland (1996), S. 81. Vgl. Homann (1998), S. 32. Vgl. Wieland (2001b), S. 23.
260
8 Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens
Das Wertemanagementsystem lehnt sich weitgehend an das in Abschnitt 7.3.5 modifizierte Wertemanagementsystem von Wieland (2001b, S. 23) an, das jedoch, wie bereits angedeutet, nur solche Ordnungsmomente vorsieht, mit denen moralisches Handeln aus rein wirtschaftlichen Gründen umgesetzt werden kann.1217 Darum wird das Wertemanagementsystem hier um die Implementierung moralischer Forderungen an unternehmerisches Handeln erweitert. Die wesentlichen Komponenten des Wertemanagementsystems sind zunächst die moralischen Grundwerte, zu denen sich ein Unternehmen verpflichtet, und die moralischen Handlungsstrategien, welche diese Grundwerte für das jeweilige Unternehmen und dessen Situation konkretisieren. Beide sind sie letztlich Bestandteile der Moralstrategien (Abschnitt 8.5.1). Die Moralstrukturen (Abschnitt 8.5.2) zeigen, wie die Moralstrategien in den Instrumenten des Wertemanagementsystems (den Ablaufstrukturen) und in dessen Organisation (den Aufbaustrukturen) verankert werden. Schließlich gilt es noch darauf hinzuwirken, dass die Werte auch tatsächlich im Unternehmen gelebt werden und in das alltägliche Denken und Handeln eingehen – dass sie in die Unternehmenskultur integriert sind. Welche Einflussfaktoren für die Bildung einer Moralkultur eine Rolle spielen (können), wird abschließend in Abschnitt 8.5.3 diskutiert. 8.5.1
Moralstrategien
Moralische Grundwerte Um ein Wertemanagementsystem aufzubauen, werden zunächst die moralischen Grundwerte des Unternehmens in Form eines „code of ethics“ bzw. „code of conduct“ kodifiziert.1218 Diese sind im neuen St. Galler Management-Modell Teil der Strategie. Mit dieser legt ein Unternehmen fest, was es tun1219 bzw. welche Identität es sich geben und welche Art von Geschäften es betreiben möchte.1220 Die moralischen Grundwerte werden in das allgemeine System der obersten Unternehmensziele1221 integriert und schließlich in der Mission bzw. dem Leitbild festgeschrieben. Das Unternehmen gibt dadurch das Versprechen ab, bestimmte Verhaltenspräferenzen und Handlungsabsichten zu haben. Die Grundwerte beschreiben so einen zu erreichenden Standard und dienen als obere Entscheidungsgrundsätze. Das Unternehmen wird letztlich an diesen Zielen gemessen. Daher ist es wichtig, dass die Leitlinien klar formuliert und lebbar sind, denn sonst sind sie unwirksam und können sogar kontraproduktiv wirken.1222 Die konkreten moralischen Werte bringen zum Ausdruck, dass das Unternehmen interne und externe Regeln bzw. Verträge einhält und darüber hinaus auch moralisch gestaltet. Diesen Grundsätzen verpflichtet sich das Unternehmen, um aus ökonomischen Gründen Transaktionskosten zu sparen, aber auch um seiner freiwilligen Verantwortung in der Gesellschaft Ausdruck zu verleihen.
1217 1218 1219 1220 1221 1222
Vgl. Abschnitt 7.2.3. Vgl. Wieland (1999), S. 92. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 37. Vgl. Wieland (2002), S. 6, und Wieland/Fürst (2002), S. 36. Wie z.B. im Werte-Viereck von Wieland (1999), S. 93f., festgehalten. Vgl. Wieland (1999), S. 93, (2002), S. 6, und (2004a), S. 18.
8.5 Integration eines Wertemanagements in die Ordnungsmomente
261
Das Werte-Viereck, wie es Wieland (1999, S. 93f.) beschreibt, unterscheidet zwischen Leistungs-, Kommunikations-, Kooperations- und moralischen Werten. Diese decken die Einhaltung und moralische Gestaltung von Regeln weitgehend ab. Sich an die gesellschaftlichen Regeln bzw. abgeschlossenen Verträge (d.h. an gegebene Versprechen) zu halten, bringt das Unternehmen insbesondere durch Werte wie Fairness, Ehrlichkeit, Integrität, Loyalität, Achtung, Vertragstreue, aber auch Offenheit, Transparenz und Qualität zum Ausdruck.1223 Zu diesen Werten kommt hier eine weit gefasste Verantwortungsethik hinzu, welche einerseits die Auswirkungen der eigenen Handlungen betrifft und andererseits versucht, aktiv Anspruchsgruppen zu eigenverantwortlichem Handeln zu bewegen. Vor allem Letzteres hat Wieland in seinem Werte-Viereck nicht mit abgedeckt, da sein Ansatz eine solche moralisch motivierte Einflussnahme nicht vorsieht. Darum wurden in der folgenden Darstellung 8.2 die Kommunikationswerte der Sensibilisierung, Positionierung und Offensivität, die Kooperationswerte der Vorbildfunktion, der Standard- und Maßstabsetzung sowie die moralischen Werte der Gesetzestreue, des Engagements, der Werteführerschaft und der Moral-Bildung mit aufgenommen. Allein diese moralischen Grundwerte in den unternehmerischen Zielkatalog mit aufzunehmen, reicht jedoch nicht aus. Um wirklich handlungsleitende Wirkung entfalten zu können, sind die moralischen mit den wirtschaftlichen Werten zu integrieren, d.h. es ist deutlich zu machen, in welchem Zusammenhang sie zueinander stehen und wie im Konfliktfall zwischen den Zielausrichtungen grundsätzlich vorzugehen ist. Es ist deutlich zu machen, dass moralische Ziele nicht gegen wirtschaftliche Leistungsziele verfolgt werden können. Dies heißt jedoch nicht, dass in jeder Entscheidung moralische Ziele wirtschaftlichen untergeordnet werden. Im Gegenteil: Moralische Werte müssen sogar aus ökonomischen Gründen genuin moralisch sein, d.h. sie können kurzfristig und im Einzelfall durchaus zulasten ökonomischer Werte verfolgt werden. Allerdings muss sich, so Homann (1995b, S. 26f.), zumindest langfristig und überschlägig jegliches moralische Handeln rechnen. Als grundsätzliche handlungsleitende Regel im Fall von Zielkonflikten können Manager sich an der Forderung Homanns (1998, S. 32f.) orientieren, dass Unternehmen auf defektive Besserstellung verzichten und stattdessen nach pareto-superioren Möglichkeiten suchen sollen. Konkret bedeutet dies, auf kurzfristige Vorteile zugunsten (größerer) langfristiger Vorteile zu verzichten, bzw. solche Vorteile zu vermeiden, mit denen die Interessen Anderer verletzt werden, wenn es stattdessen auch die Möglichkeit gibt, (größere) Vorteile bei gleichzeitiger Rücksichtnahme auf Andere zu erzielen.1224 Diese Regel kommt in den moralischen Werten des Anstands sowie der Rück- und Weitsicht zum Ausdruck, die ebenfalls in das WerteViereck mit aufgenommen wurden (vgl. Darstellung 8.2). Welche dieser moralischen Grundwerte tatsächlich zu einem Unternehmen passt, ist situationsspezifisch zu entscheiden. Wichtig ist letztlich, dass der konkrete Wertekatalog ausgewogen und in sich stimmig ist.
1223 1224
Vgl. Wieland (1999), S. 94. Vgl. Homann (1998), S. 32f.
262
Leistungswerte x Nutzen Kompetenz x Leistungsbereitschaft x Flexibilität x Kreativität x Innovationsorientierung x Qualität
Kooperationswerte x Loyalität x Teamgeist x Konfliktfähigkeit x Offenheit x Kommunikationsorientierung x Vorbildfunktion x Standardsetzung x Maßstabsetzung
8 Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens
Kommunikationswerte x Achtung x Zugehörigkeit x Offenheit x Transparenz x Verständigung x Risikobereitschaft x Aufrichtigkeit x Sensibilisierung x Positionierung x Offensivität
Moralische Werte x Gesetzestreue x Integrität x Fairness x Ehrlichkeit x Vertragstreue x Verantwortung x Anstand x Engagement x Werteführerschaft x Moral-Bildung x Rücksicht x Weitsicht
Darst. 8.2: Moralische Grundwerte eines Wertemanagements Quelle: In Erweiterung von Wieland (1999), S. 94.
Moralische Handlungsstrategien Die letztlich recht abstrakten moralischen Grundwerte gilt es nun, durch moralische Handlungsstrategien zu konkretisieren und mit Leben zu füllen.1225 Zu diesem Zweck werden aus den oben genannten obersten moralischen Unternehmenszielen bzw. -werten konkrete Strategien ableitet. Die moralischen Handlungsstrategien zusammen mit den moralischen Grundwerten verankern schließlich die Moral in den Unternehmensstrategien. Wie oben beschrieben, zielen die moralischen Handlungsstrategien grundsätzlich darauf ab, Regeln einzuhalten und die Moral in den externen und internen Regeln unternehmerischen Handelns zu verankern. Allgemein läuft dies auf die folgenden Strategiebereiche hinaus:
1225
Vgl. Wieland (2002), S. 6, und Wieland/Fürst (2002), S. 37.
8.5 Integration eines Wertemanagements in die Ordnungsmomente
263
x
Erstens fördert das Unternehmen im Sinne des organisatorischen Imperativs1226 die Aktivierung moralischer Güter seitens der Anspruchsgruppen und schützt sich gleichzeitig vor Opportunismus. Zu diesem Zweck verankert es moralische Anreize in den Governancestrukturen, mit denen es systematisch Wertschätzung an seine Kooperationspartner alloziert.1227
x
Zweitens hält das Unternehmen gerechte Gesetze ein.
x
Drittens erfüllt es im Sinne der Wettbewerbsstrategie ethisch legitime Ansprüche seitens seiner Anspruchsgruppen, solange es dadurch die eigenen wirtschaftlichen Effizienz- und Effektivitätsvorteile nicht gefährdet.
x
Viertens verankert das Unternehmen im Sinne einer erweiterten ordnungspolitischen Strategie1228 moralische Standards bei den Anspruchsgruppen und in den Umweltsphären.
x
Fünftens versucht es, im Sinne einer moralischen Bildungsstrategie seine Anspruchsgruppen moralisch zu überzeugen bzw. zu bilden.
Aus diesen allgemeinen Strategiebereichen können, abhängig von der jeweiligen Unternehmenssituation und den realen Einflussmöglichkeiten, völlig unterschiedliche konkrete moralische Strategien abgeleitet werden. Hier zeigt es sich, ob das Unternehmen die oben genannten Werte tatsächlich glaubwürdig in die Tat umzusetzen bereit ist. Die folgende Aufzählung enthält hierzu verschiedene Vorschläge, deren Anwendung jedoch, wie gesagt, von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich sinnvoll und realisierbar sein wird: Das Unternehmen verankert soziale und ökologische Standards im Politik- und Rechtssystem, indem es gezielten Lobbyismus betreibt. Es hält gesetzliche Vorschriften ein und arbeitet kooperativ mit den Behörden zusammen. Dadurch erwirbt es das Vertrauen der Behörden und kann so u.U. eine Verringerung von Kontrollen oder Auflagen erwirken. Das Unternehmen investiert in eine Reputation für Vertrauenswürdigkeit und verbessert dadurch seine Kooperationschancen und -renten. Es informiert die Öffentlichkeit ehrlich, offen und zügig, soweit dies im öffentlichen Interesse liegt. Es fördert Nichtregierungsorganisationen und geht mit diesen Kooperationen ein. Zudem beteiligt es sich am Anwendungsdiskurs von Moral in der Gesellschaft, indem es sich zu konkreten moralischen Themen wie beispielsweise Umweltschutz, Menschenrechten und der eigenen gesellschaftlichen Verantwortung positioniert. Es versucht auf diesem Wege, die Legitimität der eigenen Handlungen zu sichern (oder wieder herzustellen), z.B. indem es die moralische Qualität der eigenen Produkte herausstellt. Zusätzlich versucht das Unternehmen, Werte in der öffentlichen Meinung zu verankern. Außerdem bringt es seine Erfahrungen bezüglich der Anwendbarkeit von Normen in den Begründungsdiskurs von Moral mit ein. Dadurch agiert es als Akteur moralischen Wandels und trägt dazu bei, die Funktion und Leistung der Moral für die Gesellschaft zu verbessern.
1226 1227 1228
Vgl. Wieland (1996), S. 176. Vgl. Wieland (1996), S. 131, (1997), S. 57, und Wieland (2004b), S. 20f. Vgl. Abschnitt 6.2.2 in Anlehnung an Homann/Blome-Drees (1992), S. 136ff.
264
8 Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens
Das Unternehmen übt einen „fairen“ Wettbewerb aus, indem es z.B. auf Preisabsprachen, sog. feindliche Übernahmen oder ruinösen Wettbewerb verzichtet. Es trifft Branchenabsprachen, in denen sich die Branchenmitglieder wettbewerbsneutral auf die Einhaltung moralischer Standards einigen, z.B. im Bereich Produktsicherheit. Darüber hinaus versucht es, im Alleingang oder im Rahmen von Kooperationen moralische Standards im Wettbewerb zu etablieren. Es geht freiwillige Selbstverpflichtungen zur Einhaltung sozialer und ökologischer Standards ein. Das Unternehmen versucht, seinen Umweltverbrauch zu verringern. Zu diesem Zweck senkt es seine Ressourcenverbräuche, Emissionen und Abfälle und verbessert die „Konsistenz“ seiner Umweltauswirkungen, indem es besonders schädliche Umweltauswirkungen substituiert und dabei beispielsweise erneuerbare anstatt erschöpfbare Ressourcen verwendet und seine Emissionen toxischer Stoffe minimiert. Es investiert in technologischen Fortschritt, um damit z.B. die Umweltauswirkungen oder den Arbeitsschutz in der Produktion zu verbessern. Das Unternehmen implementiert Anreizsysteme im Unternehmen, mit denen das Engagement der Manager und Mitarbeiter belohnt wird, z.B. durch eine entsprechende Entgeltpolitik, Leistungsprämien, Zielvereinbarungen oder Aufstiegsmöglichkeiten. Es etabliert klare Verantwortlichkeiten, Abläufe, Arbeitsanweisungen und Leitlinien, deren Einhaltung regelmäßig Gegenstand von Mitarbeiter- und Managerbeurteilungen ist. Es schafft weitestgehende Transparenz, um opportunistisches Handeln soweit als möglich einzudämmen, z.B. durch klare Leitlinien zum Umgang mit Geschenken. Es schafft faire Arbeitsbedingungen, indem beispielsweise Entscheidungsfreiräume eingeräumt oder faire Überstundenregelungen getroffen werden. Es hält sich an Zusagen und erweist sich als verlässlicher und verantwortungsvoller Arbeitgeber. Darüber hinaus werden die Unternehmensmitglieder überzeugt und gezielt geschult, um deren moralische Einstellung und Urteilskraft zu stärken. Zu diesem Zweck kann das Unternehmen geeignete Personalprogramme auflegen, die z.B. soziales Engagement fördern oder entsprechende Weiterbildungsmaßnahmen vorsehen. Bei der Einstellung neuer Mitarbeiter werden konkrete Anforderungen an deren Werthaltungen gestellt. Das Unternehmen versucht, nachhaltig langfristige Rendite zu erwirtschaften. Es kommuniziert offen und ehrlich gegenüber seinen Kapitalgebern und versucht, sie davon zu überzeugen, geduldig zu sein und langfristige, stetige Renditeerwartungen zu hegen. Es klärt über die Wirkungen von Geldanlagen auf und über die Verantwortung, die Kapitalgeber mit ihren Geldanlagen tragen. Dabei legt es dar, dass die Anlagen in das eigene Unternehmen neben stetigen Renditen auch positive gesellschaftliche Effekte haben. Gegenüber seinen Lieferanten geht das Unternehmen stabile und faire Lieferantenverträge ein. Es nimmt Einfluss auf seine gesamte Lieferantenkette und versucht, auf moralische Standards der Produkte und Produktionsprozesse hinzuwirken. Dementsprechend enthalten Lieferantenbewertungen u.a. moralische Kriterien. Das Unternehmen sucht nach Möglichkeiten, trotz Moral wettbewerbsfähig zu sein, indem es z.B. seine Gewinne mit umweltfreundlichen Produkten erzielt. Des Weiteren versucht es, durch ein Marketing für ein Wertebewusstsein seine Kunden davon zu überzeugen, dass bspw. ökologische Lebensmittel oder Kleidung aus ökologischer Baumwolle gesünder sind und weniger Umweltbelastungen verursachen. Das Unternehmen betreibt ein effektives Markenmanagement, indem es sich als verlässlicher Produzent erweist und die Such- und
8.5 Integration eines Wertemanagements in die Ordnungsmomente
265
Erfahrungsgüter, die es herstellt, über die zugesagten Eigenschaften bzw. Qualitätsstandards verfügen und die Moralgüter legitim sind. Diese Aufzählung moralischer Unternehmensstrategien zeigt beispielhaft, wie vielfältig die moralischen Handlungsmöglichkeiten von Unternehmen sein können. Die moralischen Strategien sind mit den wirtschaftlichen Leistungsstrategien zu integrieren und in Einklang zu bringen, denn letztlich müssen sich alle moralischen Strategien wirtschaftlich lohnen oder dürfen alles in allem zumindest keine Verluste bringen. 8.5.2
Moralstrukturen
Die im vorherigen Abschnitt genannten Moralstrategien (die moralischen Grundwerte und Handlungsstrategien) beschreiben, was ein Unternehmen zu tun beabsichtigt. Die Moralstrukturen legen demgegenüber fest, wie diese Strategien im Unternehmen realisiert werden. Sie koordinieren das Handeln der Manager und Mitarbeiter, richten es mit Hilfe geeigneter dauerhafter Regeln auf die Unternehmensziele hin aus und lösen eventuelle Zielkonflikte auf.1229 Damit dienen die Strukturen der Verwirklichung der Strategien – und bedingen selbst wiederum, welche Strategien festgelegt und ob bzw. wie diese erreicht werden.1230 Eine inadäquate strukturelle Implementation moralischer Ziele und Strategien kann daher auch eine Ursache dafür sein, dass das Unternehmen diese nicht realisiert.1231 Strukturen haben die Funktion, sowohl effizientes als auch effektives unternehmerischen Handeln sicherzustellen. In diesem Sinne differenzieren sie zunächst die für die Strategieerreichung notwendigen Teilleistungen und weisen sie verschiedenen Aufgabenträgern zu, um so mit Hilfe einer geeigneten Arbeitsteilung und Spezialisierung Effizienz- und Produktivitätsvorteile zu realisieren. Anschließend koordinieren die Strukturen diese Teilleistungen wieder und integrieren sie zu einem Ganzen, um letztlich die Erreichung der Unternehmensziele, d.h. die Effektivität unternehmerischen Handelns, sicherzustellen.1232 Diese Funktion erfüllen Strukturen mittels geeigneter Aufbau- und Ablaufstrukturen. Aufbaustrukturen definieren die grundlegenden sachlichen Kriterien, nach denen die Aufgaben und Teilleistungen gebündelt und geführt werden. Unternehmen können so beispielsweise nach funktionalen Kriterien (funktionale Organisation), nach marktbezogenen Kriterien (divisionale Organisation), nach produktbezogenen Kriterien (Spartenorganisation) oder nach geographischen Kriterien (Länder- bzw. regionale Organisation) strukturiert sein. Darüber hinaus legen Ablaufstrukturen die zeitliche Abfolge fest, in der die Aufgaben zu erfüllen sind, und leisten auf diese Weise die zeitliche Koordination bzw. Synchronisation der Teilleistungen.1233 In diesem Sinne regeln die im Folgenden dargestellten Instrumente des Wertema-
1229 1230
1231 1232 1233
Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 37. Zu den Wechselwirkungen zwischen Ordnungsmomenten und Prozessen im neuen St. Galler ManagementModell siehe Abschnitt 5.1.2. Zur Bedeutung der Beziehung zwischen Strategien und Strukturen siehe Miles/ Snow (1978). In Anlehnung an Atkinson/Schaefer/Viney (2000), S. 108. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 47ff. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 49f.
266
8 Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens
nagements die moralischen Ablaufstrukturen, während die anschließend erläuterte Organisation des Wertemanagements dessen Aufbaustrukturen definieren. Instrumente des Wertemanagements Die Instrumente des Wertemanagements umfassen das Complianceprogramm, Werteprogramm und das Werteauditsystem des Unternehmens. Sie enthalten die Arbeitsanweisungen, Arbeitsprozesse, Leitlinien und Weiterbildungsmaßnahmen, welche die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen sowie die Umsetzung der Werte implementieren und kontrollieren. Damit dienen die Instrumente der glaubwürdigen Kommunikation der Legal Compliance und der moralischen Grundwerte des Unternehmens nach innen und nach außen.1234 Complianceprogramme zielen darauf ab, dass die gesetzlichen Bestimmungen im Unternehmen eingehalten werden,1235 indem z.B. Mitarbeiter über die aktuelle Rechtslage aufgeklärt werden und deutlich kommuniziert wird, dass die Rechtsbestimmungen von allen Managern und Mitarbeitern einzuhalten sind.1236 Werteprogramme sind demgegenüber Instrumente zur Implementierung moralischer Kommunikation im Unternehmen, die über die Einhaltung von Gesetzen hinausgeht und damit die Übernahme freiwilliger Verantwortung regelt. Hierzu gehören beispielsweise Verhaltensstandards und entsprechende Kommunikationsmedien, Schulungs- und Trainingsmaßnahmen, Rekrutierungsverfahren, Lieferantenbewertungssysteme, ein Risikoscreening etc.1237 Auf der Ebene der Compliance- und Werteprogramme werden die oben genannten Moralstrategien in Unternehmensprozesse bzw. Verfahren übersetzt, wie beispielsweise in der folgenden Art und Weise: Es werden Vorgaben an das Public Relations und Marketing erlassen, beispielsweise für die Legitimität des Unternehmens und die Qualität und Legitimität der Produkte zu werben, die Kunden und die Gesellschaft aufzuklären, sich an der Wertediskussion zu beteiligen, die Öffentlichkeit bei Vorfällen frühzeitig und umfassend zu informieren, Anfragen und Sorgen der Nachbarn, Nichtregierungsorganisationen etc. ernst zu nehmen und offen zu handhaben sowie Umwelt- und Sozialberichte zu veröffentlichen. Das Unternehmen etabliert Qualitätsprüfungsverfahren und erlässt Vorgaben bzgl. des Umweltverbrauchs und Arbeitsschutzes in der Produktion. Ebenso richtet es Vorgaben an die eigene Forschung und Entwicklung, z.B. bezüglich ökologischer Ziele, Produktsicherheit, Qualität und Kosten. Dem Management werden bestimmte Ziele vorgegeben, deren Erreichung u.U. an die Entlohnung gekoppelt ist. Zu diesen Zielvorgaben können beispielsweise lobbyistische Aktivitäten für soziale und ökologische Rahmenbedingungen, das Eingehen von Branchenabkommen, Kriterien für einen fairen Wettbewerb, die Legal Compliance, die Teilnahme an freiwilligen 1234 1235 1236 1237
Vgl. Abschnitt 7.3.5, insbesondere Darstellung 7.8. Vgl. Appel/Haueisen (2000). Vgl. Wieland (1999), S. 97, und Wieland/Fürst (2002), S. 38. Vgl. Wieland (1999), S. 97, und Wieland/Fürst (2002), S. 38f. Eine umfangreiche Aufzählung geeigneter Instrumente findet sich in Kaptein (1998), Kapitel 7.
8.5 Integration eines Wertemanagements in die Ordnungsmomente
267
Selbstverpflichtungen und ein offener Umgang mit den Behörden gehören. Wichtig ist zudem, dass das Management angewiesen und geschult wird, die Unternehmenswerte zu kommunizieren, vorbildlich zu leben, kritikfähig zu sein und eine offene interne Informationspolitik zu betreiben, z.B. durch regelmäßige Mitarbeitergespräche und sog. „offene Büros“. Im Personalmanagement können bestimmte Rekrutierungsverfahren eingeführt werden, in denen auf die moralischen Werte und Einstellungen der Mitarbeiter geachtet wird. Für die bestehenden Mitarbeiter können Vorgaben für eine faire Entlohnung, Aufstiegschancen, Mitspracherechte, Entscheidungsspielräume, Weiterbildungen und Schulungen, Anreizsysteme für ein gesellschaftliches Engagement, Personalgespräche, Vorgesetztenbeurteilungen o.Ä. vorgesehen werden. Dem Einkauf können Lieferantenbewertungssysteme an die Hand gegeben werden, die neben wirtschaftlichen auch ökologische und soziale Kriterien enthalten. Ebenso können bestimmte moralische Kriterien für die Ausgestaltung fairer Lieferantenverträge vorgeschrieben werden. Das Controlling erfüllt für das Wertemanagementsystem eine relativ wichtige Funktion, denn es übersetzt von moralischer, rechtlicher, politischer etc. Kommunikation in ökonomische Kommunikation, indem es beispielsweise die Kosten und Erlöse für moralische Maßnahmen abschätzt, Zielerreichungsgrade z.B. mit Hilfe ökologischer, sozialer oder wirtschaftlicher Kennzahlen erfasst, für das Management moralische Entscheidungen vor- und nachbereitet und diesem beratend zur Seite steht. Ein hilfreiches Instrument für das Controlling ist u.a. die Methode der (imperialistischen) Ökonomik im Sinne einer Vorteils-/Nachteilskalkulation. Diese vermag nicht nur rein ökonomisch zu codieren, sondern ist prinzipiell in der Lage, von Statuswerten in ökonomische, moralische oder andere Codes zu übersetzen. Sie dient als Methode der komparativen Analyse alternativer moralischer Institutionen bzw. Regeln, indem sie deren Anreizwirkungen für Akteure untersucht. Sie ist damit potenziell für die folgenden vier Fragestellungen hilfreich: Erstens kann die Methode der Ökonomik als Übersetzungsmethode von Statuswerten in ökonomische Werte im Sinne von Investitionsrechnungen die Frage beantworten, ob sich Investitionen in moralische Regeln bzw. Governancestrukturen finanziell lohnen. Damit könnten beispielsweise Maßnahmen des Personalmanagements wie Aus- und Weiterbildungen und deren Auswirkungen auf die Motivation und das Engagement der Mitarbeiter oder die Kosten für die Herstellung umweltfreundlicher Produkte und deren Auswirkungen auf das Unternehmensimage monetär bewertet (bzw. abgeschätzt) werden. Zweitens kann die ökonomische Methode auch von Statuswerten in moralische Werte persönlicher Wertschätzung übersetzen. Sie prüft hier die Sensitivität moralischer Anreizstrukturen, d.h. ob bestimmte Governancestrukturen (besser) geeignet sind, moralisches Handeln der Akteure zu fördern. Hierzu wird geprüft, ob der Allokationsmechanismus der Erträge aus wirtschaftlichen und moralischen Ressourcen in der Governancestruktur als gerecht erachtet wird, d.h. das Bedürfnis der Akteure – der Unternehmensmitglieder, aber auch weiterer Anspruchsgruppen, mit denen das Unternehmen kooperiert – nach Wertschätzung befriedigt wird. Denn erst dann kann das Unternehmen hoffen, dass seine Vertragspartner ihrerseits moralisch handeln werden.1238
1238
Vgl. Wieland (1996), S. 143, 157 und 177f.
268
8 Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens
In diesem Sinne regt die Methode der Ökonomik an danach zu fragen, welche Wertschätzungsbedürfnisse die zentralen Anspruchsgruppen des Unternehmens haben und inwieweit diese durch bestimmte Regelungen adäquat befriedigt werden. Relevante Themenstellungen könnten hier sein: Werden die Qualitätsansprüche der Kunden befriedigt? Fühlen sich Anwohner bei Anfragen oder Beschwerden ernst genommen? Haben Mitarbeiter den Eindruck, dass ihr Engagement für das Unternehmen gewürdigt wird oder fühlen sie sich ausgebremst oder unfair behandelt? Sieht sich die (kritische) Öffentlichkeit des Unternehmens ausreichend und ehrlich informiert? Zweitens kann die Methode der Ökonomik dabei helfen zu prüfen, ob die Schutzvorkehrungen gegen Opportunismus in der Governancestruktur in der Lage sind, opportunistisches Handeln effizient und effektiv zu verhindern.1239 Hier könnten beispielsweise folgende Fragen beantwortet werden: Welche Anreizwirkungen gehen von bestimmten Entlohnungssystemen von Managern aus, d.h. inwieweit wirken sie darauf hin, dass Manager Entscheidungen im Sinne der Eigentümer fällen? Welche Regeln können Mitarbeiter daran hindern, ineffektiv zu arbeiten oder gar Eigentum des Unternehmens zu veruntreuen? Wie kann Mobbing oder Korruption wirksam verhindert werden? Die Errichtung geeigneter, opportunistisches Handeln unterbindender Regeln ist jedoch schwierig. Entsprechende Kontrollstrukturen sind zwar nötig, eine vollständige Kontrolle ist jedoch weder technisch möglich noch wirtschaftlich sinnvoll. Zudem führen zu starre Kontrollmechanismen und das dadurch zum Ausdruck gebrachte Misstrauen gegenüber den Betroffenen zu entsprechender Gegenwehr und können so sogar kontraproduktiv wirken: Anstatt Opportunismus einzudämmen, so konstatiert z.B. der Governancekostenansatz für den Fall der Teamproduktion, führen zu enge Überwachungsmechanismen zu einer Verstärkung von Mechanismen, mit denen Teammitglieder ihren eigenen (mangelnden) Arbeitseinsatz zu verschleiern versuchen.1240 Drittens ist die Methode der Ökonomik auch zur Überprüfung einer weiteren Frage in der Lage: der Eignung von Governancestrukturen, Moral in den internen und externen Rahmenbedingungen unternehmerischen Handelns zu verankern. So kann beispielsweise untersucht werden, ob bestimmte Fortbildungsmaßnahmen oder Personalprogramme geeignet sind, die moralische Urteilskraft von Mitarbeitern zu stärken, ob Marketingmaßnahmen tatsächlich in der Lage sind, Kunden von verantwortlichem Handeln zu überzeugen, ob ein bestehendes Umweltmanagementsystem den Verbrauch ökologischer Ressourcen in der Produktion effektiv senkt, ob Lobbymaßnahmen oder Branchenvereinbarungen wirksam sind etc. Letztlich wird deutlich, dass die Methode der Ökonomik eine Grundlage für die Übersetzung von unterschiedlichen Codierungen liefert und verschiedene in diesem Zusammenhang wichtige Fragestellungen aufzuzeigen vermag. Dabei reicht die ökonomische Methode alleine jedoch nicht aus: Die oben genannten Fragestellungen müssen in eine (zumindest ordinal) messbare Form gebracht werden, es sind Methoden (z.B. der Markt- und Meinungsforschung) nötig, mit denen die benötigten Informationen erfasst und bewertet werden, sowie Erkenntnisse aus weiteren Wissenschaften, z.B. der (Arbeits-)Psychologie, Rechtswissenschaften, Päda-
1239 1240
Im Sinne des organisatorischen Imperativs, vgl. Wieland (1996), S. 176. Vgl. Abschnitt 2.2.3 und 7.1.2.
8.5 Integration eines Wertemanagements in die Ordnungsmomente
269
gogik etc. Hier erweist es sich als Stärke, dass die Übersetzungsmethode der Ökonomik diese als Restriktionen mit aufnehmen kann. Das dritte und letzte Instrument des Wertemanagementsystems, neben den genannten Compliance- und Werteprogrammen, ist das Werteauditsystem. Dieses prüft abschließend, inwieweit Unternehmen ihre Werte- und Complianceprogramme tatsächlich praktizieren. Dabei überprüfen (in der Regel externe) Auditoren in einem ersten dokumentarischen Schritt per Fragebogen und anhand einer Dokumentenprüfung vor Ort im Unternehmen die Existenz eines Werte- und Complianceprogramms. Anschließend versuchen sie in einem zweiten Schritt, einen Überblick und einen Eindruck über die Umsetzung der Programme im Unternehmensalltag zu bekommen.1241 Organisation des Wertemanagements Neben den genannten Ablaufstrukturen bedingt ein Wertemanagementsystem ebenfalls die Errichtung einer Aufbauorganisation.1242 Gemeinsam integrieren die Instrumente des Wertemanagements und die Werteorganisation die Moralstrategien vollständig in die Unternehmensstrukturen. Die effektive und effiziente Organisation des Wertemanagementsystems ist von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich und abhängig von der bereits bestehenden Unternehmensstruktur und -kultur. Allgemein gilt es hier, die Verantwortung für moralische und wirtschaftliche Ziele und Strategien zu definieren und zu delegieren, aber auch Zielkonflikte zu managen, d.h. die Übersetzung von Moral in Status- und wirtschaftliche Werte und umgekehrt zu organisieren. Hier ist es vor allem wichtig, ethische Konfliktsituationen transparent und begründet zu entscheiden, um moralische Grauzonen zu reduzieren, die auf Kosten des Unternehmens ausgenutzt werden könnten.1243 Ein interessantes Beispiel dafür, wie eine solche Übersetzung organisiert werden kann, zeigt das Praxisbeispiel des Versandhandelskonzerns Otto in Abschnitt 9.2. In nordamerikanischen und angelsächsischen Unternehmen werden häufig „Ethics Offices“ eingerichtet und „Ethics Officers“ ernannt, welche die Verantwortung für die Umsetzung der Werteprogramme tragen. In Deutschland sind die Programme häufig funktional in Gestalt von Abteilungen organisiert oder auf höchster Ebene als Stabstellen angesiedelt. Ob diese Strukturen wirksam sind, hängt wesentlich davon ab, ob die Unternehmensleitung sie offensiv, tatkräftig und glaubwürdig unterstützt, das Werteprogramm also „Chefsache“ ist und die Werte seitens der Geschäftsleitung permanent kommuniziert und gelebt werden. Dies verschafft dem Programm mehr Aufmerksamkeit und stärkt seine Akzeptanz.1244 Neben der Zuweisung moralischer Verantwortung an Spezialisten sind auch andere Stellen und Abteilungen, deren Handlungen moralisch relevant sind, in die Organisation des Wertemanagementsystems mit einzubeziehen. Ihnen sind, wie im vorherigen Abschnitt beschrieben, entsprechende moralische Vorgaben zu machen und Instrumente an die Hand zu geben, die 1241 1242 1243 1244
Vgl. Wieland/Fürst (2002), S. 40f. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 49f. Vgl. Wieland (1999), S. 97f., Wieland (2002), S. 8, und Wieland/Fürst (2002), S. 39f. Vgl. Wieland (1999), S. 97f., Wieland (2002), S. 8, und Wieland/Fürst (2002), S. 39f.
270
8 Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens
verdeutlichen, welche moralischen Kriterien in die jeweiligen Verantwortungsbereichen einfließen und wie Zielkonflikte zu handhaben sind. Darüber hinaus empfiehlt es sich, einen fachlichen Austausch dieser Personen in Gremien wie beispielsweise abteilungsübergreifenden Arbeitsgruppen zu verschiedenen relevanten Themen, sei es der Umweltschutz, die Qualitätssicherung o.Ä., zu organisieren. 8.5.3
Moralkultur
Damit ein Wertemanagementsystem seine volle Wirksamkeit entfalten kann, sind die moralischen Werte auch in die Unternehmenskultur – das alltägliche Denken und Handeln – zu integrieren. Ob eine (gezielte) Einflussnahme auf eine Unternehmenskultur überhaupt möglich ist, ist umstritten.1245 Allerdings scheint zumindest ein indirekter Einfluss auf die Kultur von den folgenden Faktoren auszugehen: dem (vorbildlichen) Verhalten der Unternehmensführung, dem Personalmanagement, der Strategie (insbesondere dem Zielbildungsprozess und den Unternehmensgrundsätzen/-philosophien/-leitbildern) sowie der Unternehmensstruktur. Welche Wirkungen diese Faktoren auf die Unternehmenskultur entfalten, wird im Folgenden geschildert. Die Frage, welche Rolle dort das Wertemanagement jeweils spielt, wurde indessen in den obigen Abschnitten bereits behandelt. Ein wesentlicher Einfluss auf die Unternehmenskultur geht von der Unternehmensführung durch die Art und Weise der Führung aus. Die Unternehmensleitung und alle sonstigen Führungskräfte haben hier, wie bereits beschrieben, eine Vorbildfunktion. Sie vermitteln die anzustrebenden Werte und Ziele durch ihr alltägliches Handeln und ihr Verhalten den Mitarbeitern gegenüber. Diese Vorbildwirkung ist umso größer, je stärker der Eindruck der Erfolgswirkung bei den einzelnen Mitarbeitern ist. Erfolgswirkung beinhaltet dabei nicht nur den Eigennutz, sondern auch den Nutzen für die Allgemeinheit im Unternehmen. Schein (1995, S. 172) weist dabei auf die besondere Rolle der Unternehmensgründer hin. Ihre Überzeugungen und Werte sind der Ausgangspunkt für die Entwicklung der Unternehmenskultur und grenzen den Spielraum der späteren Führungskräfte zunächst ein. Mit der weiteren Entwicklung des Unternehmens gewinnen die Führungskräfte nach und nach an Einfluss auf die Unternehmenskultur.1246 Allerdings kann die Unternehmensführung die Ausprägungen einer Kultur nicht „verfügen“1247, bspw. durch Leitsätze in Hochglanz-Prospekten. Vielmehr ist das tatsächliche Verhalten der Führungskräfte und damit eine aktive Kulturveränderung ausschlaggebend. Laut Schein (1995) sind dabei jeweils die Dinge von Bedeutung, die die Führungskräfte regelmäßig beachten, beurteilen und kontrollieren. Um eine Veränderung der Unternehmenskultur herbeizuführen, muss die Unternehmensleitung neue Wertvorstellungen und Normen aktiv 1245
1246 1247
Kelter/Braun (2005), S. 60f., unterscheiden in der Frage nach der Gestaltbarkeit von Unternehmenskulturen verschiedene Ansätze: den „Autonomie-Ansatz“, welcher die Gestaltbarkeit der Unternehmenskultur völlig ablehnt; den „Krisen-Ansatz“, welcher davon ausgeht, dass Kulturen nur in Krisen in Frage gestellt und „revolutioniert“ werden; den „Gärtner-Ansatz“, welcher die Kultur als grundsätzlich beeinflussbar betrachtet, allerdings ohne dass das Ergebnis determinierbar wäre; sowie den „Macher-Ansatz“, gemäß dem die Kultur beliebig und gezielt veränderbar ist. Realistisch erscheinen der Krisen- und Gärtner-Ansatz zu sein, welche die Kulturveränderung als möglich erachten, aber die Schwierigkeiten dabei verdeutlichen. Vgl. Dubs (2004), S. 475f., sowie Schein (1995), S. 172 und 181f. Dubs (2004), S. 477.
8.5 Integration eines Wertemanagements in die Ordnungsmomente
271
praktizieren und unterstützen, also die Aufmerksamkeit auf andere Details konzentrieren. Beispielhaft kann an dieser Stelle das Zuteilen von Ressourcen bzw. Budgets genannt werden, welches laut einer Studie von Donaldson und Lorsch (1983) wesentlich von den Auffassungen des Managements in den oberen Hierarchieebenen geprägt ist.1248 Eine Kulturveränderung, die von einem reinen bottom-up Ansatz ausgeht, bei der also die „Basis“ des Unternehmens versucht, die Kultur in Teams zu entwickeln, wird laut Dubs (2004) zumeist scheitern. Die Hauptgründe dafür liegen einerseits in der zu geringen Berücksichtigung der verschiedenen Zielkonflikte der Unternehmensführung und andererseits in einer geringeren Identifikation des Top-Managements mit einer „von unten ‚entworfenen’ Kultur“1249. Dies zeigt wie wichtig es ist, dass ein Wertemanagementsystem „Chefsache“ ist, und zwar nicht nur in Worten, sondern im täglichen Handeln. Eine weitere wirksame Möglichkeit, die Unternehmenskultur zu beeinflussen, ist das Personalmanagement, z.B. durch die gezielte Selektion von Mitarbeitern. Dabei stellt das Unternehmen gezielt solche Mitarbeiter ein, deren kulturelle Wertvorstellungen sich mit denen des Unternehmens decken bzw. einem gewünschten Profil entsprechen. Das Einstellen von Mitarbeitern, deren kulturelles Verständnis mit dem des Unternehmens deckungsgleich ist, birgt die Gefahr, dass die Unternehmenskultur sich wegen fehlender Reflexion nicht weiter entwickelt. Eine konträre Einstellungspolitik mit dem Ziel, eine Kulturveränderung zu forcieren, kann erfolgreich sein. Allerdings ist es für neue Mitarbeiter grundsätzlich schwierig, sich in einer neuen kulturellen Umgebung zurecht zu finden. Ob es diesen Mitarbeitern gelingt (bewusst oder unbewusst) die vorherrschende Unternehmenskultur zu beeinflussen, kann im Vornherein nur vermutet werden. Es kann auch dazu kommen, dass ein neuer Mitarbeiter innerlich kündigt, sich der vorherrschenden Unternehmenskultur anpasst oder das Unternehmen wieder verlässt.1250 Neuenberger/Kompa (1987, S. 237 und 241f.) sehen zudem in der Aus-, Fort-, und Weiterbildung bestimmter Personengruppen im Sinne einer gezielten Personalentwicklung sowie in der systematischen Personalverteilung weitere Möglichkeiten seitens des Personalmanagements, auf die Unternehmenskultur einzuwirken. Denn hiervon gehen ebenfalls wichtige Signalwirkungen auf das Unternehmen aus. Wenn beispielsweise Führungspositionen grundsätzlich nicht an bestimmte Personengruppen trotz ausreichender Qualifikation vergeben werden (z.B. aufgrund der Hautfarbe oder im Fall von Behinderungen), sagt dies sehr viel über eine herrschende Unternehmenskultur aus.1251 Eine dritte wesentliche Einflussmöglichkeit auf die Unternehmenskultur ist die Unternehmensstrategie, die nach Dubs (2004, S. 476) dem Handeln der Unternehmensmitglieder einen Sinn verleiht. Dabei sind einerseits in den Strategien allen wesentlichen Anspruchsgruppen genügend Aufmerksamkeit zu schenken. Andererseits ist es wichtig, dass die Strategien ebenso wie die Entscheidungen und Prozesse verständlich und nachvollziehbar sind und ggf. erklärt werden, d.h. den Mitarbeitern die Frage nach dem „Warum?“ – zufrieden stellend beantwortet wird. Die Wirkung der Strategie auf die Kultur ist nur dann wirklich effektiv, wenn 1248 1249 1250 1251
Vgl. Dubs (2004), S. 477, sowie Schein (1995), S. 186f. und 191. Dubs (2004), S. 477. Vgl. Dubs (2004), S. 475f. Vgl. Neuenberger/Kompa (1987), S. 237f.
272
8 Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens
die Strategien, Strukturen und Prozesse in sich stimmig sind und auch das Verhalten der Vorgesetzten auf die Herausforderungen, die sich aus der Strategie ergeben, ausgerichtet ist.1252 Der Zielbildungsprozess selbst als Teil des Strategieprozesses stellt einen weiteren Ansatzpunkt für die Veränderung der Unternehmenskultur dar. Die Art und Weise, wie Ziele bestimmt werden, ist gemäß Heinen (1976) einerseits von den Rahmenbedingungen der Gesellschaftskultur und andererseits von der individuellen Unternehmenskultur abhängig. Diese Unternehmenskultur bedarf allerdings einer Fixierung im Unternehmen, bspw. durch festgeschriebene Unternehmensgrundsätze, -philosophien und -leitbilder, die den Angehörigen des Unternehmens als Orientierungspunkte für ihr Handeln dienen.1253 Werden diese Orientierungspunkte bewusst verändert und wird diese Veränderung von der Spitze des Unternehmens auch vorgelebt, so ist eine Veränderung des Zielbildungsprozesses und damit u.U. auch der Unternehmenskultur möglich. Zwischen der Unternehmenskultur und der Unternehmensstruktur bestehen wechselseitige Wirkungen. Laut Schein (1995, S. 196) ist die Struktur eines Unternehmens ein Ausdruck der Kultur innerhalb der Führungsetage, da die reale Unternehmensstruktur häufig rationalen Überlegungen widerspricht. Sie drückt die Wertschätzung des Managements für die jeweiligen Bereiche aus und äußert sich besonders in den zugeteilten Kompetenzen und der Weisungsgebundenheit. Die Struktur kann durch Umstrukturierung geändert werden, wobei das Ergebnis stets auf die zugrunde liegenden Prämissen der Führungskräfte schließen lässt.1254 Die Routineabläufe eines Unternehmens sind ebenso Ausdruck der Unternehmenskultur. Sie sind die Stabilisatoren eines jeden Unternehmens und helfen dem Management und den Mitarbeitern, sich im Unternehmen zu orientieren. Obwohl beispielsweise bürokratische Abläufe in Unternehmen von den Angestellten häufig als negativ empfunden werden, vermitteln sie eine gewisse „Ordnung im Chaos“ und können so Ungewissheit und Angst vermeiden helfen. Zur Befriedigung des Sicherheitsbedürfnisses der Mitarbeiter sind Routineabläufe unabdingbare Instrumente, die außerdem verstärkt die Wertschätzung der Unternehmensführung für bestimmte Bereiche oder Prozesse zeigen.1255 Ebenso wie die Unternehmensstruktur Ausdruck der Unternehmenskultur ist, hat auch die Unternehmensstruktur Einfluss auf die Unternehmenskultur. Diese Wechselwirkungen werden z.B. von Gomez (2004) dargestellt. Eine Unternehmensorganisation umfasst aus einer instrumentalen Perspektive betrachtet ein bestimmtes Regelwerk. Die verschiedenen Regeln sind charakterisiert durch unterschiedliche Grade der Zentralisation bzw. Dezentralisation, Delegation, Partizipation, Standardisierung, Funktionalisierung und Koordination.1256 Sie schaffen einen Rahmen für unternehmerisches Handeln und bedingen so, dass sich die Unternehmenskultur in bestimmte Richtungen entwickelt. So hat der einzelne Manager beispielsweise in einer zentral organisierten Organisation weniger Entscheidungsmöglichkeiten als in einer dezentralen Organisation. Dies führt u.U. zu unterschiedlicher Motivation und Einsatzbereitschaft der Manager, bedingt durch die Struktur (und natürlich durch deren Persön1252 1253 1254 1255 1256
Vgl. Dubs (2004), S. 476. Vgl. Dill/Hügler (1987), S. 163f. Vgl. Schein (1995), S. 196f. Vgl. Schein (1995), S. 198. Vgl. Gomez (2004), S. 430.
8.5 Integration eines Wertemanagements in die Ordnungsmomente
273
lichkeit sowie weiteren Faktoren).1257 Auf die Unternehmenskultur der Mitarbeiter wiederum haben beispielsweise die Installation kontinuierlicher Verbesserungsprozesse oder neuer Arbeits- und Organisationsformen wie z.B. Teamarbeit statt Einzelkämpfertum starken Einfluss.1258 Dieser Zusammenhang – der Einfluss der Strukturen auf die Kulturen – wird dann besonders offensichtlich, wenn sich in Unternehmensbereichen, die unterschiedlich strukturiert sind und die unterschiedliche Aufgaben zu bewältigen haben, verschiedene Unternehmenskulturen ausdifferenziert haben.1259 Diese Schilderungen haben verdeutlicht, dass – wie in den vorherigen Abschnitten dargestellt – die Kodifizierung moralischer Grundwerte und deren Integration in das unternehmerische Zielsystem, die Ableitung moralischer Strategien und deren Umsetzung in konkrete ablaufund aufbauorganisatorische Strukturen ebenso wie die Vorbildfunktion der Geschäftsführung und gezielte Maßnahmen des Personalmanagements (vermutlich) darauf hinwirken können, die Moral auch in der Unternehmenskultur zu verankern. Die Ausführungen in diesem Kapitel über die Implementierung eines Wertemanagementsystems in Unternehmen haben gezeigt, dass in dem hier vertretenen ethischen Ansatz die Moral in Unternehmen einen relativ hohen Stellenwert zugewiesen bekommt, indem sie in (nahezu) alle Bereiche des Unternehmens und Aufgaben des Managements eingebunden wird. Dies verdeutlicht nicht zuletzt die folgende Darstellung 8.3, die einen Überblick über die Integration des Wertemanagements in die Ordnungsmomente des neuen St. Galler ManagementModells gibt. Die Moral wird durch die Einsicht in bestehende Wettbewerbszwänge und den Verzicht auf (unrealistische und kontraproduktive) moralische Appelle, Unternehmen sollten auf Gewinne verzichten und Opfer bringen, nicht etwa bedeutungslos. Dennoch stellt sich angesichts der theoretischen Schilderungen nach wie vor die Frage: Welchen Stellenwert kann Moral tatsächlich in der Unternehmensrealität einnehmen? Welche Möglichkeiten für moralisches Handeln erwachsen aus den genannten moralischen und wirtschaftlichen Gründen in der Unternehmenspraxis, und welche Grenzen setzt der Wettbewerb? Welche Praxisrelevanz hat der hier entwickelte theoretische Bezugsrahmen? Diesen Fragen wird sich das folgende Kapitel 9 widmen. Um die Nützlichkeit des Bezugsrahmens zu demonstrieren, werden Möglichkeiten und Grenzen diskutiert, denen sich Unternehmen gegenüber sehen, wenn sie Umweltschutz betreiben bzw. Korruptionsverzicht üben wollen. Dies wird zunächst aus einer theoretischen Warte und anschließend anhand der Praxisbeispiele Otto und Siemens erläutert. Dabei werden u.a. die folgenden Fragen aufgeworfen: Wie gelingt es, dass der Versandhandelskonzern Otto einerseits ökonomisch erfolgreich agiert und andererseits, trotz höherer Produktionskosten, T-Shirts aus ökologischer Baumwolle zu gleichen Preisen anbietet wie konventionelle T-Shirts? Welche wirtschaftlichen Schäden erwachsen dem Konzern Siemens aufgrund der weitreichenden Korruptionsvorfälle, welche in den Jahren 2006 und 2007 aufgedeckt wurden? Wie schwer wiegt der Reputationsverlust des Unternehmens angesichts der hervorragenden Wettbewerbsstellung und finanziellen Ergebnisse des Unternehmens?
1257 1258 1259
Siehe auch Gomez (2004), S. 444f. Vgl. Haas/Hahn/Schurr (2006), S. 48ff. Siehe auch Gomez (2004), S. 444f.
274
8 Erweiterung des theoretischen Bezugsrahmens
Strategie moralische Grundwerte Leistungswerte
Kommunikationswerte
organisatorischer Imperativ
Wettbewerbsstrategie
Kooperationswerte
moralische Werte
moralische Handlungsstrategien erweiterte ordnungspolitische Strategie
moralische Bildungsstrategie
Struktur Instrumente des Wertemanagements Complianceprogramm
Werteprogramm
Werteauditsystem
Organisation des Wertemanagements Ethik/Compliance Office
Chefsache
Funktionale Integration
Kultur Moralkultur beeinflusst durch Strategie und Struktur des Wertemanagements
Darst. 8.3: Das Wertemanagement im neuen St. Galler Management-Modell Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Wieland (1999), S. 93.
9.1 Möglichkeiten und Grenzen des Umweltschutzes
9
275
Praxisfragen unternehmerischer Moral
Welchen Stellenwert hat die Moral nun tatsächlich in der Unternehmensrealität, angesichts der genannten wirtschaftlichen und moralischen Gründe für moralisches Handeln einerseits und angesichts wettbewerblicher Beschränkungen andererseits? Mit anderen Worten: Welche Praxisrelevanz hat der hier entwickelte unternehmensethische Bezugsrahmen? Und was vorab noch zu klären ist: Wie kann die Praxisrelevanz überhaupt gezeigt werden? Die Praxisrelevanz des Bezugsrahmens kann nicht anhand der empirischen Überprüfung des Wahrheitsgehaltes seiner Aussagen demonstriert werden. Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen moralischen Handelns von Unternehmen ist hoch komplex, so dass, wie in Abschnitt 5.3.1 bereits diskutiert, zu ihrer Klärung keine Erklärungs- bzw. Prognosemodelle aufgestellt werden können. Der theoretische Bezugsrahmen fungiert darum als Verstehensmodell. Als ein solches liefert er einen Denk- bzw. Sprachrahmen für Wissenschaftler und Führungskräfte und schafft so ein Verständnis für komplexe Sachverhalte der Unternehmensrealität und deren vielfältige Zusammenhänge. Die Beurteilungskriterien, denen der Bezugsrahmen zu genügen hat, sind letztlich die der Widerspruchsfreiheit sowie der Nützlichkeit.1260 Die Widersprüche und Schwächen in den Ansätzen des neuen St. Galler Management-Modells, der Ökonomischen Ethik und der Governanceethik, die dem vorliegenden Bezugsrahmen zugrunde liegen, wurden in den vorherigen Kapiteln in Bezug auf die hier behandelte Fragestellung des moralischen Handelns von Unternehmen dargelegt und beseitigt. Im Folgenden wird nun zu zeigen sein, dass der Bezugsrahmen hinsichtlich dieser Fragen nützlich ist. Darum ist das vorliegende Kapitel der Frage gewidmet: Inwieweit ist der Bezugsrahmen in der Lage, ein (nützliches) Verständnis für unternehmerisches Handeln in der Praxis zu schaffen, das in der Gesellschaft als moralisch oder unmoralisch bewertet wird? Dies wird in den folgenden Abschnitten beispielhaft an verschiedenen Praxisfragen demonstriert. Zunächst wird in Abschnitt 9.1 die Frage wieder aufgegriffen, welche eingangs in Abschnitt 1.1 aufgeworfen wurde und der Anlass dafür war, sich überhaupt mit den Fragen moralischen Handelns von Unternehmen zu beschäftigen: Was sind die Möglichkeiten und Grenzen des Umweltmanagements? Dabei wird gezeigt, dass der Bezugsrahmen in der Lage ist, auf zentrale Zusammenhänge hinzuweisen und so den Blick für die verschiedenen Möglichkeiten und Grenzen von Unternehmen, umweltschonend und wirtschaftlich erfolgreich zu agieren, zu weiten. Diese grundlegenden Zusammenhänge bilden schließlich die Basis, um in Abschnitt 9.2 das Nachhaltigkeitsmanagement des Versandhandelsunternehmens Otto zu analysieren. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Frage, inwieweit die Strukturen und Kulturen des Unternehmens in der Lage sind, die Nachhaltigkeitsstrategien Ottos zu realisieren. Der theoretische Bezugsrahmen wird dabei die Grundlage für die Beurteilung der Strukturen und Kulturen sowie für die Erarbeitung von Optimierungspotenzialen liefern können. Anschließend widmet sich Abschnitt 9.3 dem Thema Korruption. Den Kernpunkt bildet dabei die Frage: Welche Möglichkeiten und Grenzen haben Unternehmen überhaupt, auf Korrup-
1260
Vgl. Abschnitt 5.3.1.
276
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
tion zu verzichten? Um dies zu beantworten, werden zunächst mit Hilfe des Bezugsrahmens die verschiedenen Wechselwirkungen zwischen korruptem Handeln und wirtschaftlichem Unternehmenserfolg diskutiert. Darauf aufbauend wird eruiert, inwieweit es Unternehmen angesichts des bestehenden Wettbewerbs zugemutet werden kann, auf Korruption zu verzichten. Hier wird der Bezugsrahmen zeigen, welche verschiedenen moralischen Handlungsstrategien Unternehmen in solchen Dilemmasituationen zur Verfügung stehen und was deren Grenzen sind. In Abschnitt 9.4. werden diese Zusammenhänge abschließend auf das Fallbeispiel Siemens angewandt. Zu diesem Zweck werden die vielfältigen Korruptionsfälle, welche ab Ende 2006 bis Mitte 2007 verstärkt bei der Siemens AG aufgedeckt wurden, herangezogen, um die verschiedenen Zusammenhänge zu illustrieren und zu untermauern. Dabei spiegeln die Darstellungen der Siemens-Korruptionsaffären den Stand der wichtigsten Schlagzeilen bis 14. Juli 2007 wider. Im Zentrum werden die Fragen stehen, ob Korruption letztlich als wirtschaftlicher Erfolgsfaktor gelten kann und ob Siemens aus moralischen Gründen auf Korruption hätte verzichten können.
9.1
Möglichkeiten und Grenzen des Umweltschutzes
Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Umweltmanagements von Unternehmen, d.h. nach deren Möglichkeiten und Grenzen, umweltschonend zu handeln, ist von zentraler Bedeutung: Die Möglichkeiten zu erkennen ist die Voraussetzung dafür, sie überhaupt nutzen zu können. Die Grenzen zu erfassen ist ebenso wichtig, um die eigenen knappen Ressourcen effektiv einsetzen zu können und keine überhöhten Erwartungen zu wecken, deren Enttäuschung womöglich in der Zukunft den Blick auf sich bietende Chancen verstellt. Die Klärung dieser Möglichkeiten und Grenzen war in Abschnitt 1.1 der Ausgangspunkt für die Suche nach einem theoretischen Bezugsrahmen, mit dem die verschiedenen und kontroversen Thesen diskutiert und die vielfältigen damit zusammenhängenden Wechselwirkungen verstanden werden können. Der vorliegende Abschnitt wird diese Ausgangsfragestellung wieder aufgreifen und erörtern, welchen Beitrag Unternehmen für eine nachhaltige Nutzung der ökologischen Umwelt leisten können und müssen. Unternehmen müssen – und dies war eingangs bereits unstrittig – z.T. aus wirtschaftlichen Gründen Umweltschutz betreiben, wenn sie ansonsten Wettbewerbsnachteile erlangen würden. Dies ist dann der Fall, wenn durch Umweltschutz Kosten eingespart oder relevante Anspruchsgruppen befriedigt, d.h. z.B. ökologische Produktanforderungen der Kunden, ökologische Kriterien der Kapitalgeber an ihre Kapitalanlagen oder Umweltschutzgesetze erfüllt werden. In diesen Fällen ist es letztlich der Wettbewerb, der Umweltschutz seitens der Unternehmen quasi erzwingt. Strittig ist demgegenüber die Frage, ob Unternehmen ökologische Ansprüche erfüllen können bzw. sollen, die nicht durch den Markt oder andere Rahmenbedingungen direkt forciert
9.1 Möglichkeiten und Grenzen des Umweltschutzes
277
werden. Unternehmen stehen in diesen Fällen vor einem unternehmensethischen Dilemma1261: Kann von ihnen verlangt werden, zugunsten des Umweltschutzes Wettbewerbsnachteile in Kauf zu nehmen? Welche Verantwortung tragen sie für den Erhalt ökologischer Ressourcen? Hier weist der Bezugsrahmen darauf hin, dass Unternehmen auch aus moralischen Gründen Umweltschutz betreiben sollen. Denn die Nutzung der ökologischen Umwelt ist letztlich ein Problem unvollständiger Rahmenbedingungen, was zu Marktversagen, z.B. aufgrund externer Effekte oder unvollkommener Informationen, führt. Hier sollen Unternehmen die folgenden Handlungsstrategien verfolgen:1262 x
Wettbewerbsstrategien, mit denen sie Gewinne durch bzw. trotz Umweltschutz erzielen, z.B. indem sie den Umweltverbrauch in der Produktion senken oder die ökologischen Eigenschaften von Produkten verbessern;
x
erweiterte ordnungspolitische Strategien, mit denen sie z.B. Umweltschutzgesetze forcieren bzw. unterstützen, Branchenabsprachen zugunsten des Umweltschutzes treffen, Umweltstandards von Zulieferern verlangen, umwelttechnologischen Fortschritt vorantreiben oder im Wettbewerb ökologische Standards etablieren und so die Wettbewerber in Zugzwang bringen; sowie
x
Bildungsstrategien, mit denen Unternehmen in der Öffentlichkeit, bei Kunden, Kapitalgebern etc. Überzeugungs- bzw. Aufklärungsarbeit für ein umweltbewusstes Handeln leisten oder ihre Mitarbeiter und Manager entsprechend schulen bzw. weiterbilden.
Diese geschilderten Strategien, mit denen Unternehmen Umweltschutz aus moralischen Gründen betreiben sollen, dürfen jedoch nicht (systematisch) deren Wettbewerbsfähigkeit schmälern. Dass es durchaus möglich ist, trotz oder gar durch Umweltschutz wettbewerbsfähig zu sein, zeigt z.B. die Erfolgsgeschichte der ökologischen Landwirtschaft in Deutschland: Der Markt für landwirtschaftliche Produkte aus kontrolliert biologischem Anbau hat in den letzten Jahren rasante Umsatzwachstumsraten verzeichnet, so dass aktuell sogar von Versorgungsengpässen die Rede ist.1263 Dies ermöglicht den Anbietern, z.T. sehr hohe Preise zu verlangen, die bis zu einem Mehrfachen der Preise für konventionelle Produkte betragen, da viele Kunden diesen Preis für eine höhere Qualität zu zahlen bereit sind. Zu diesem Trend haben nicht zuletzt gezielte Aufklärungskampagnen und die Berichterstattung der Medien über Risiken und unmoralische Praktiken der konventionellen Landwirtschaft beigetragen. So haben bspw. Berichte über Seuchen und tierquälerische Praktiken in der Massentierhaltung, die hohe Schadstoffbelastung konventioneller Lebensmittel und mögliche gesundheitliche Schäden sowie über die ökologischen Folgen für Böden und Gewässer zu einer Verhaltensänderung vieler Verbraucher geführt. In vielen Bereichen in der Wirtschaft gibt es solche sog. „WinWin-Situationen“, in denen Wettbewerbsstrategien realisiert werden können, da Umweltschutz und Gewinnerzielung Hand in Hand gehen.
1261
1262 1263
Es wird hier implizit davon ausgegangen, dass ökologische Ansprüche ethisch legitim sind. Damit werden Fragen der Umweltethik, die sich mit dem normativ richtigen und moralisch verantwortbaren Umgang mit der ökologischen Umwelt befasst, aus dieser Arbeit ausgeklammert. Siehe hierzu bspw. Hösle (1991), Krebs (1997), Ott/Gorke (2000), Theobald (2004) und von der Pfordten (1996). In Anlehnung an Abschnitt 8.5.1. Vgl. Rippin (2007a), S. 20f., und (2007b), S. 25.
278
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
Dennoch sind den genannten moralischen Umweltschutzstrategien Grenzen gesetzt. Insbesondere stellt sich die Frage: Können Unternehmen Umweltschutz betreiben, der auf der einen Seite die Kosten erhöht, ohne dass es auf der anderen Seite relevante Anspruchsgruppen gibt, die dies explizit fordern oder honorieren? Der Bezugsrahmen weist hier auf das Phänomen der Reputation hin, die aufgrund unvollständiger Verträge ein wesentlicher, erfolgskritischer Faktor für Unternehmen ist. Macht sich eine Reputation für ein ökologisches Engagement womöglich mittel- bis langfristig bezahlt? Mit anderen Worten: Gelingt es, dieses moralische Handeln in Ökonomik zu übersetzen? Wenn explizite Verträge durch implizite ergänzt sind, in welchen Unternehmen ökologisches Engagement quasi versprechen, kann sich dieses, wie Wieland1264 darlegte, (weitgehend, aber nicht unbegrenzt) für sie langfristig wirtschaftlich lohnen. Unternehmen investieren auf diese Weise in eine Reputation für Vertrauenswürdigkeit und können dadurch effizientere vertragliche Kooperationen eingehen. Darüber hinaus gibt es zwei weitere Effekte, die beide darauf hindeuten, dass ein ökologisches Engagement über die Phänomene der Reputation und des Vertrauens mittel- bis langfristig positive wirtschaftliche Auswirkungen haben kann: wenn Unternehmen dadurch in ihre gesellschaftliche Legitimität, die sog. „licence to operate“, investieren und/oder über einen „spill-over-Effekt“ ihre Reputation für Vertrauenswürdigkeit stärken. Oftmals hegen die Öffentlichkeit und Nichtregierungsorganisationen – die sog. „kritische Öffentlichkeit“ – vor allem gegenüber großen und international agierenden Unternehmen die (meist implizite) Erwartung, „fair“ zu handeln, d.h. sich „freiwillig“ ökologisch und sozial zu engagieren. So können es sich vor allem große Konzerne bspw. heutzutage kaum mehr leisten, über kein zertifiziertes Umweltmanagementsystem zu verfügen. Sind Unternehmen in Schwellen- und Entwicklungsländern tätig, wird erwartet, dass sie sich vor Ort an bestimmte ökologische und soziale Mindeststandards halten, die über das gesetzlich Geforderte hinausgehen. Werden Unternehmen diesen Erwartungen nicht gerecht, indem z.B. Vorprodukte in Entwicklungsländern durch Kinderhand gefertigt werden, gerät das Unternehmen unter Druck. Es kommt schlimmstenfalls zu einem öffentlichen Skandal – hohe Reputationsverluste und Einkommenseinbußen sind die Folge. Der öffentliche Druck, dem Unternehmen hier ausgesetzt sind, beruft sich auf moralische Werte. Auch wenn Kinderarbeit in diesen Ländern u.U. legal ist, ist sie in den Augen der kritischen Öffentlichkeit der Industrieländer nicht legitim. Offensichtlich besteht hier zwischen Unternehmen und der kritischen Öffentlichkeit eine Art impliziter Vertrag, der Unternehmen dazu zwingt, ethisch legitim zu handeln, um als Gegenleistung die eigene „licence to operate“ zu erhalten. Allerdings ist die Frage dessen, was die kritische Öffentlichkeit als ethisch legitimes unternehmerisches Verhalten ansieht, oft stark von Modethemen, Medienwirksamkeit und emotionalen Stimmungen abhängig. Darum schießt das moralische Gewissen der Gesellschaft gelegentlich über das (moralische) Ziel hinaus, wie z.B. die Greenpeace-Kampagne im Jahr 1995 im Fall der von Shell geplanten Versenkung der Ölplattform Brent Spar verdeutlicht.1265 Trotz dieser „Auswüchse“ verfügt die kritische Öffentlichkeit über ein moralisches Gewicht in der Gesellschaft. Dieses versetzt 1264 1265
Siehe Abschnitt 7.1. Vgl. Luyken (1996).
9.1 Möglichkeiten und Grenzen des Umweltschutzes
279
sie in die Lage, auf Unternehmen Druck auszuüben, moralisch zu kommunizieren, d.h. sich als verantwortungsvolle gesellschaftliche Akteure – als „Corporate Citizens“1266 – zu positionieren. Die gesellschaftliche Verantwortung, die ein Unternehmen zu tragen hat, umfasst dabei die ökologischen und sozialen Wirkungen der Wertschöpfungsprozesse nicht nur des Unternehmens selbst, sondern erstreckt sich über den gesamten Produktlebenszyklus der gefertigten Produkte. So sind z.B. Produkte, welche die ökologische Umwelt relativ stark belasten, immer (zumindest potenzielle) Moralgüter1267. Damit ist ein ökologisches Engagement, das die öffentliche Meinung und Befindlichkeit zu Moralthemen berücksichtigt, in den Worten des Bezugsrahmens eine Investition in die wertvolle Unternehmensressource der eigenen gesellschaftlichen Legitimität.1268 Darüber hinaus gibt es noch einen weiteren Effekt, der dazu führt, dass sich ökologisches Engagement bezahlt machen kann: eine Art „spill-over-Effekt“. Ein Unternehmen, das sich ökologisch engagiert, wird oftmals als insgesamt verantwortungsbewusst und wahrhaftig handelnd wahrgenommen.1269 Auf diese Weise stärkt ein ökologisches Engagement auch die Glaubwürdigkeit anderer vertraglicher Versprechen, die mit Umweltschutz nichts direkt zu tun haben. In diesem Sinne könnte beispielsweise der Angestellte eines Unternehmens davon ausgehen, dass sein Arbeitgeber, der sich ökologisch engagiert, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ihn als Mitarbeiter fair behandeln wird. Auch umgekehrt kann ein unfaires Verhalten gegenüber ökologischen Ansprüchen dazu führen, dass das Vertrauen der Mitarbeiter oder wieterer Vertragspartner in die Vertrauenswürdigkeit anderer unternehmerischer Vertragsversprechen erodiert. Damit verbirgt sich hinter diesem spill-over-Effekt eine Art Rückschluss: Das (un)faire Verhalten eines Unternehmens gegenüber bestimmten Anspruchsgruppen einen bestimmten Sachverhalt betreffend erhöht die Erwartung dieser oder anderer Anspruchsgruppen, dass sich das Unternehmen auch in Bezug auf andere Sachverhalte (un)fair verhalten wird. Dieser Rückschluss ist zwar nicht zwingend, aber durchaus schlüssig: Wenn sich ein Unternehmen als kollektiver Akteur ökologisch engagiert, bedeutet dies, dass es intern über ein moralisches „Bewusstsein“ verfügt und seine internen Regeln – seine Strategien, Strukturen und Kulturen – entsprechend auf ökologisches Engagement hin ausgerichtet hat. Diese Ausrichtung der Ordnungsmomente – der materiellen Strukturen, der Aufmerksamkeit und Gewohnheiten – auf einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur geht mit einer hohen Sensibilität und einem weitreichenden Engagement der Unternehmensmitglieder selber für den Umweltschutz einher. Dies befähigt das Unternehmen letztlich erst, ökologische Verantwortung zu tragen, u.U. auch zulasten einer kurzfristigen Gewinnmaximierung.
1266
1267 1268 1269
Der Begriff der „Corporate Citizenship“ befasst sich mit der sozialen Rolle von Unternehmen in der Gesellschaft. Er wurde in den 1980er Jahren in US-amerikanischen Unternehmen verwendet (vgl. Altman/ Vidaver-Cohen (2000)) und hat seither in die Sprache der Unternehmen weltweit Eingang gefunden. Einen Meilenstein in dieser Entwicklung markierte die gemeinsame Erklärung „Global Corporate Citizenship – The leadership Challenge for CEOs and Boards“, welche auf dem Weltwirtschaftsforum in New York im Januar 2002 von den CEOs der 34 weltweit größten multinationalen Unternehmen unterschrieben wurde (vgl. World Economic Forum (2002)). Siehe hierzu Abschnitt 7.2.2. Vgl. Abschnitt 8.3.3. Diese Schlussfolgerung legen die Ausführungen über die Wahrnehmungsprozesse von Akteuren in Abschnitt 5.2 nahe.
280
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
Auf diese Weise tätigt das Unternehmen Investitionen in die tugendethischen Ressourcen seiner Mitglieder, denn diese befassen sich mit umweltethischen Themen und der Übernahme ökologischer Verantwortung und setzen dies in ihrem Handeln um. Auch wenn sie dies zunächst lediglich im Hinblick auf den Umweltschutz tun – es liegt nahe, dass auf diese Weise ein moralisches Bewusstsein und eine entsprechende Sensibilität und Bereitschaft für verantwortliches Handeln grundsätzlich entsteht, welche die Mitarbeiter und Manager auch auf andere ethisch relevante Sachverhalte übertragen. Daher kann davon ausgegangen werden, dass ein ökologisches Engagement von Unternehmen auch die moralischen Ressourcen – die tugendethischen Einstellungen der Mitglieder – in Bezug auf das Einhalten anderer impliziter Vertragsversprechen mit aktiviert. Diese moralischen Ressourcen akkumuliert und aktiviert zu haben, ist für ein Unternehmen wiederum ökonomisch höchst relevant: Sie verschafft ihm die Glaubwürdigkeit, welche überhaupt erst die Voraussetzung dafür bildet, dass Kooperationen langfristig gelingen können.1270 Dieser Zusammenhang ist mutmaßlich der Grund, warum einige Unternehmen das freiwillige ökologische und soziale Engagement ihrer Manager und Mitarbeiter gezielt fördern und schulen. So fördern bspw. die Dresdner Bank, BASF und Siemens Aktiengesellschaften sowie das Versandhandelshaus Otto ein solches Engagement, indem sie ihre Manager und Mitarbeiter für einen kurzen Zeitraum in gemeinnützigen Einrichtungen mitarbeiten lassen, politisch und ökologisch bilden oder bürgergesellschaftliches Engagement belohnen.1271 Diese Maßnahmen machen nur dann wirklich Sinn, wenn sie sich für das Unternehmen letztlich bezahlt machen. Unternehmensmitglieder werden sich i.d.R. mit ihrem Unternehmen stärker identifizieren und sich für dessen Ziele vermehrt engagieren, wenn sie den Eindruck haben, dass ihr Arbeitgeber sich für eine gute Sache wie den Umweltschutz engagiert und die eigene Teamleistung hierzu letztlich einen Beitrag zu leisten vermag. Schließlich gibt es noch einen weiteren Grund für einen positiven Zusammenhang zwischen einem ökologischen Engagement von Unternehmen und der Wahrscheinlichkeit, dass diese im Hinblick auf das Einhalten impliziter Verträge als insgesamt fair und wahrhaftig handelnd angesehen werden: Die Wahrnehmung des Unternehmens seitens der Anspruchsgruppen. Die Ausrichtung der Ordnungsmomente auf ein ökologisches Engagement verschafft einem Unternehmen eine bestimmte Identität, die sich in einer gewissen Reputation äußert. Dabei unterscheidet die Wahrnehmung dieses kollektiven Akteurs durch seine Anspruchsgruppen nur bedingt zwischen dem Unternehmen in seiner Rolle als Verbraucher ökologischer Ressourcen oder als fairer Arbeitgeber, verlässlicher Kunde, Lieferant, Anbieter etc. Der Grund dafür ist die in Abschnitt 5.2.1 bereits geschilderte Funktionalität kognitiver Beobachtungsprozesse, die Wahrnehmung als einen Konstruktionsprozess versteht. Ein Subjekt nimmt nur diejenigen Ereignisse wahr, die für es „Sinn“ machen, d.h. durch dessen subjektives Differenzschema erfasst werden. Anschließend wird das wahrgenommene Ereignis, ebenfalls wieder unter Rückgriff auf dieses Differenzschema, interpretiert. Auf diese Weise wird ein Unternehmen beispielsweise als „ökologisch“ oder „nicht ökologisch“ und damit gleichzeitig als „verantwortungsbewusst“ oder „nicht verantwortungsbewusst“, als
1270 1271
Vgl. die Abschnitte 8.3.3 und 8.4.2. Für einen Überblick und eine Analyse der ökologischen und sozialen Maßnahmen dieser Unternehmen siehe Zeller (2003).
9.1 Möglichkeiten und Grenzen des Umweltschutzes
281
„gut“ oder „böse“ wahrgenommen und interpretiert. Auf diese Weise wird die Einschätzung des Unternehmens in Bezug auf den Umweltschutz automatisch auch die Wahrnehmung des Unternehmens, wenn es um andere, bspw. soziale Auswirkungen geht, quasi im Sinne eines Vorurteils mit prägen. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird für dieses kognitive Phänomen passenderweise das Bild „in eine Schublade stecken“ verwendet, vor allem dann, wenn es um die Einschätzung der Charaktereigenschaften von Akteuren geht. Insofern stärkt ein Engagement in Sachen Umweltschutz, das entsprechend nach innen und außen kommuniziert wird, die Reputation eines Unternehmens als (grundsätzlich) verantwortungsvoll handelnd. Dadurch erhöhen sich letztlich die Erwartungen der Anspruchsgruppen (z.B. der Mitarbeiter oder der Geschäftspartner), fair behandelt zu werden. Dieser Zusammenhang greift auch im umgekehrten Fall: Wenn ein Unternehmen z.B. aufgrund von Umweltverschmutzung, Kinder- oder Sklavenarbeit einen Ruf als „rücksichtslos“, „skrupellos“ oder „gewissenlos“ erlangt, wird ein Mitarbeiter oder Vertragspartner eines solchen Unternehmens u.U. die Befürchtung hegen, dass diese Skrupellosigkeit oder Rücksichtslosigkeit auch in anderen Bereichen und Geschäftsbeziehungen zutage tritt und ihn selbst früher oder später treffen wird. Das Gefühl und damit verbunden die Erwartung, in einem Unternehmen insgesamt „gut aufgehoben“ zu sein bzw. einen verlässlichen Vertragspartner gefunden haben, steigt mit dem ökologischen Engagement eines Unternehmens und sinkt, wenn dieses illegitim oder gar illegal bspw. in Bezug auf ökologische Themen handelt. Die ökonomischen Auswirkungen dieses spill-over-Effekts werden dann besonders deutlich, wenn Organisationen, die sich ökologisch engagieren und hier eine hohe moralische Reputation genießen, es sich leisten können, ihren Mitarbeitern geringere Löhne und eine weitgehende Überwälzung des unternehmerischen Risikos zuzumuten, wie das z.B. bei manchen Nichtregierungsorganisationen oder gemeinnützigen Instituten der Fall ist. Das weitreichende gesellschaftliche Engagement der Organisationen führt dazu, dass sich die Mitarbeiter stark mit ihrem Arbeitgeber identifizieren und einen geringeren Lohn billigend in Kauf nehmen. Dieser Effekt, der einen Zusammenhang zwischen einem ökologischen Engagement und einem verantwortlichen Handeln von Unternehmen insgesamt nahelegt, führt außerdem dazu, dass noch ein weiterer Effekt entsteht: Wenn ökologisches Engagement die Erwartungen der Anspruchsgruppen erhöht, dass Unternehmen grundsätzlich verantwortungsvoll handeln, wird dadurch ein Druck auf das Unternehmen aufgebaut, tatsächlich so zu handeln und diesen Erwartungen zu entsprechen. Zum einen stehen ökologisch verantwortungsvolle Unternehmen stärker unter öffentlicher Beobachtung, da sie sich selbst aktiv mit einem moralischen Thema – dem Umweltschutz – im Lichte der Öffentlichkeit positionieren. Zum anderen ist die moralische Entrüstung bzw. Enttäuschung über ein unfaires oder gar illegales Verhalten ökologisch verantwortungsvoller Unternehmen, z.B. im Fall von illegitimen Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern oder Korruption, größer, mit der Folge, dass auch der Reputationsverlust und der damit verbundene finanzielle Verlust höher ist. Anders bei Unternehmen, die in Sachen Umweltschutz und sozialem Engagement lediglich die gesetzlich geforderten Mindeststandards erfüllen, ohne auf die Legitimität ihres Handelns besonderen Wert zu legen: Hier könnte die Reaktion der Anspruchsgruppen u.U. lauten, es sei ja ohnehin nichts anderes zu erwarten gewesen. Auf diese Weise sind Unternehmen, die sich ökologisch engagieren, auch stärker als andere Unternehmen dazu gezwungen, sich mit weitergehenden moralischen
282
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
Fragen zu beschäftigen und diese in ihrem Handeln zu berücksichtigen. Dass sie dies tun, wird von den Anspruchsgruppen erwartet und letztlich automatisch unterstellt.1272 Damit zeigt sich auch hier die hohe Bedeutung der Kriterien der Gerechtigkeit1273 und der Glaubwürdigkeit1274 für ein erfolgreiches Wertemanagement im Allgemeinen und für ein Umweltmanagement im Besonderen. Nur wenn es gelingt, beide zu realisieren, ist ein Unternehmen in der Lage, die ökologischen Ansprüche seiner Stakeholder zu erfüllen und positive Wirkungen durch eine verbesserte Reputation zu erzielen. Auf diese Weise gehen die Kriterien der Gerechtigkeit und Glaubwürdigkeit mit dem der Wirtschaftlichkeit1275 Hand in Hand: Ein Umweltmanagement, das seine ökologischen Ziele nicht glaubwürdig zu kommunizieren vermag, ist ineffektiv und ineffizient und verschwendet so die ökonomischen Ressourcen, die für die Etablierung und Aufrechterhaltung des Umweltmanagementsystems aufgewendet werden. Es kann darüber hinaus sogar kontraproduktiv sein: Erstens erweist sich das Unternehmen als (zumindest teilweise) unfähig, die eigene Zielerreichung „ordentlich“ zu managen, was ein schlechtes Licht auf die allgemeine Management-Fähigkeit des Unternehmens wirft. Zweitens wird in moralischer Hinsicht ein Versprechen, das das Umweltmanagementsystem enthält, nicht eingehalten. In beiden Fällen erleidet das Unternehmen Reputationsverluste, die sich ebenso ökonomisch nachteilig auswirken. Alles in allem zeigen die geschilderten Zusammenhänge, dass ein ökologisches Engagement, das kurzfristig die Wettbewerbsstellung des Unternehmens verschlechtert, mittel- bis langfristig dennoch wirtschaftlich lohnenswert sein kann: Erstens kann der Aufbau einer Reputation für ökologisches Engagement Bestandteil impliziter Verträge sein, die explizite Verträge ergänzen. Wenn ein Unternehmen diese impliziten Verträge bricht, riskiert es den Verlust der eigenen Vertrauenswürdigkeit. Ein ökologisches Engagement kann zweitens auch Bestandteil eines impliziten Vertrages mit der kritischen Öffentlichkeit sein, dessen Einhaltung dem Erwerb der „licence to operate“ seitens der Gesellschaft dient. Drittens vermag ein solches Engagement zudem im Sinne eines spill-over-Effekts die Glaubwürdigkeit des Unternehmens, auch andere implizite Verträge einzuhalten, zu stärken. Dass es einen solchen Zusammenhang zwischen ökologischem und sozialem Engagement gibt, legt die Beobachtung nahe, dass ökologisch als Vorreiter agierende Unternehmen oftmals dieselben sind, die soziale Themen proaktiv vorantreiben. Dies bestätigt sich auch im Fallbeispiel Otto (vgl. Abschnitt 9.2). Damit verursacht ökologisches Engagement nicht nur Kosten, sondern auch Erlöse über den Aufbau von Reputationskapital. Es lohnt sich dann wirtschaftlich, wenn die Erlöse daraus höher sind als die Kosten. Die Erlöse bestehen aus vermiedenen Kosten aus aufgedecktem illegitimem umweltschädigendem Verhalten und aus Gewinnen aus zusätzlichen Kooperationschancen aufgrund der verbesserten Reputation. Die Kosten für ein ökologisches Engagement umfassen die Kosten für ökologische Investitionen und die entgangenen Gewinne aufgrund des Verzichts auf Umweltverschmutzung. Ein wirtschaftlicher Akteur tätigt so lange Investitionen in ökologisches Engagement, wie deren Grenzerlöse positiv sind. Ein zu weitgehendes Engagement ist ineffizient und kann von einem Unternehmen, das als oberstes Kriterium der
1272 1273 1274 1275
In Anlehnung an Abschnitt 5.2.1. Vgl. Abschnitt 8.4.1. Vgl. Abschnitt 8.4.2. Vgl. Abschnitt 8.4.3.
9.1 Möglichkeiten und Grenzen des Umweltschutzes
283
Wirtschaftlichkeit verpflichtet ist,1276 nicht verlangt werden. Ökologisches Engagement kann damit interpretiert werden als Bestandteil einer (bis zu einem gewissen Grad) wirtschaftlich vernünftigen Investition in die Unternehmensressourcen Moral und Legitimität. Die Argumentation des vorliegenden Abschnitts zeigt, dass der in dieser Arbeit aufgestellte theoretische Bezugsrahmen in der Lage ist, ein relativ breites Feld für umweltschonendes Handeln von Unternehmen aufzufächern und so den Blick für vielfältige Handlungsmöglichkeiten zu weiten. Dennoch weist er auch auf die Grenzen des Umweltmanagements hin: Unternehmen können nur so weit umweltschonend handeln, wie es sich für sie wirtschaftlich lohnt. Es kann nicht verlangt werden, dass Unternehmen durch ökologisches Engagement systematisch Wettbewerbsnachteile in Kauf nehmen und sie damit entgegen ihrer situativen wettbewerblichen Anreize handeln. Die Wirtschaft fungiert hier als Restriktion der Moral.1277 Auch auf die Frage, wie Unternehmen ihren Beitrag zum Umweltschutz konkret in ihre Ordnungsmomente – die Strategien, Strukturen und Kulturen – implementieren und erfolgreich umsetzen können, kann der Bezugsrahmen zumindest grundlegend Antwort gegeben: Es können letztlich die in Abschnitt 8.5 für den Fall des Wertemanagementsystems genannten institutionellen Vorkehrungen analog angewendet werden. Aus diesem Grund wird diese Fragestellung hier nicht weiter vertieft. Der Bezugsrahmen vermag auf die grundlegenden Zusammenhänge hinzuweisen, die für die Frage der Möglichkeiten und Grenzen des Umweltmanagements wichtig sind. Er kann jedoch nicht ohne weiteres in einer konkreten Situation einem Manager Antwort darauf geben, ob und wie weit eine bestimmte Entscheidung zugunsten des Umweltschutzes kurz- oder langfristig wirtschaftlich lohnenswert ist. Auch die Frage, welche konkreten Möglichkeiten und Grenzen ein Unternehmen für moralisches Handeln für sich erkennt, hängt von der jeweiligen Unternehmenssituation und deren Wahrnehmung und Interpretation ab. Der Bezugsrahmen bleibt, wie auch das neue St. Galler Management-Modell selbst, ein „Leerstellengerüst“, das keine fertigen Antworten liefern kann. Indessen vermag er, den Blick für bestimmte wichtige Zusammenhänge zu schärfen und Perspektiven zu erweitern, was für die Unternehmenspraxis und die Einschätzung einer konkreten Situation sehr nützlich sein kann. Denn das Erkennen und Nutzen von Möglichkeiten, wie Unternehmen durch und trotz Umweltschutz ihre Wettbewerbsstellung erhalten und verbessern können, hängt genau von diesen Perspektiven, von der Breite der Wahrnehmung der Entscheider und deren Vermögen, komplexe Zusammenhänge zu verstehen, ab. Dies haben nicht zuletzt die Erfahrungen aus verschiedenen eigenen Forschungs- und Beratungsprojekten in der Vergangenheit gezeigt:1278 Unternehmen haben, wenn es um die Möglichkeiten für Kosteneinsparungen geht, in aller Regel Personalkosten im Fokus. Dass die Senkung des Material- und Energieverbrauchs nicht nur ökologische, sondern auch wesentliche Kosteneinspareffekte haben kann, wird dabei oftmals nicht erkannt. Dies mag zum einen mit der öffentlichen gesellschaftlichen Wahrnehmung zu tun haben. So nahmen bspw. in Deutschland in den letzten Jahren die hohe Arbeitslosigkeit, die Konkurrenz aus Billiglohnländern und die Verlagerung von Produktionsstätten in diese Länder einen weit höheren 1276 1277 1278
Vgl. Abschnitt 8.4.3. Vgl. die Abschnitte 6.1.1 bis 6.1.3. Vgl. Schwegler/Schmidt/Keil (2007).
284
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
Stellenwert in der öffentlichen Diskussion ein als die Erhöhung der Energie- und Ressourceneffizienz. Es bleibt zu hoffen, dass die allmähliche Verbesserung der Arbeitsmarktlage und die aktuelle Debatte um den Klimaschutz hier das öffentliche Bewusstsein nachhaltig verändern werden.1279 Zum anderen tragen auch Managementkonzepte wie das Lean Management1280, das in der Praxis weite Verbreitung gefunden hat, dazu bei, dass Unternehmen vor allem Personalkosten einsparen. Denn das Ziel von Lean Management, Unternehmensprozesse effizienter zu gestalten, wird vor allem dadurch erreicht, dass Durchflusszeiten optimiert werden.1281 Dies führt jedoch in aller Regel zur Freisetzung von Personal, während Materialund Energieineffizienzen meist nicht erkannt werden. Umso wichtiger ist es, nicht nur aus ökologischen, sondern letztlich auch aus sozialen und ökonomischen Gründen, dass Unternehmen die verschiedenen Möglichkeiten erkennen, wie sie ökologisch und ökonomisch erfolgreich agieren können. Die weitgehend theoretische Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen des Umweltmanagements des vorliegenden Abschnitts wird nun im folgenden Abschnitt die Grundlage bilden für die Analyse des Fallbeispiels Otto.
9.2
Otto: Kontinuierliche Verbesserung des Nachhaltigkeitsmanagements
9.2.1
Die Geschäftstätigkeit der Otto-Handelsgruppe
Ein Unternehmen, das für sein freiwilliges ökologisches und soziales Engagement einen guten Ruf genießt und gleichzeitig im Wettbewerb erfolgreich agiert, ist das Versandhandelsunternehmen Otto. Die Otto GmbH & Co KG, Hamburg, wurde 1949 gegründet. Die gesamte Otto-Handelsgruppe ist seit 1987 Weltmarktführer für Versandhandel und als globaler Handels- und Dienstleistungskonzern mit rund 123 Gesellschaften in 19 Ländern der drei großen Wirtschaftsräume Europa, Asien und Nordamerika tätig. Sie hat im Geschäftsjahr 2005/2006 mit ihren weltweit mehr als 55.000 Mitarbeitern einen Umsatz von 14,6 Mrd. Euro erwirtschaftet.1282 Neben dem Versandhandel, der ungefähr zwei Drittel des Umsatzes ausmacht, ist Otto vor allem in den Bereichen Stationär- und Großhandel tätig. Seit Mitte der 1990er Jahre ist mit dem Internet ein weiterer Vertriebskanal hinzugekommen. Hier war Otto eines der ersten 1279
1280
1281 1282
Laut der Untersuchung „Challenges of Europe“ 2007 ist Arbeitslosigkeit seit 2001 das dringendste Problem der Bürger Europas. Demgegenüber war die Bedeutung des Umweltschutzes zunächst gesunken und befindet sich erst seit 2007 wieder unter den obersten zehn der wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben. Als Auslöser hierfür gilt die Veröffentlichung des Weltklimaberichts. Vgl. Gesellschaft für Konsumforschung (2007). Zum Konzept und der Philosophie des Lean Management siehe insbesondere Bösenberg/Metzen (1993), Hinterhuber/Aichner/Lobenwein (1994), Pfeiffer/Weiß (1993), Schultheiß (1995), Womack/Jones/Roos (1990), Womack/Jones (2003) und Jones/Womack (2002). Vgl. Füser (1999), S. 106. Die Schilderungen der Fallstudie Otto im vorliegenden Abschnitt 9.2 basieren weitgehend auf empirischem Material, welches bereits in Schwegler/König (2003), S. 285ff., Dyckhoff/Ahn/Schwegler (2003), S. 255ff., und Schwegler (2003), S. 47ff., veröffentlicht wurde. Das Material wurde aktualisiert auf Basis von Otto (2006), (2007a), (2007b) und (2007c) sowie von Interviews mit Herrn Dr. Michael Arretz, durchgeführt am 5.7.2007, und mit Herrn Torben Kehne, durchgeführt am 10.5.2007. Die empirischen Befunde wurden in der vorliegenden Arbeit auf Basis des hiesigen Bezugsrahmens weitgehend neu ausgewertet und interpretiert.
9.2 Otto: Kontinuierliche Verbesserung des Nachhaltigkeitsmanagements
285
Unternehmen, das sich stark engagiert hat. Der Umsatz in diesem Segment liegt bei 3 Mrd. Euro, womit Otto hinter Amazon der zweitgrößte Internethändler der Welt ist. Die angebotene Warenpalette umfasst Mode, Möbel, Haushaltsgeräte, Kosmetik, Lebensmittel, Wohnaccessoires, B-to-B-Waren und technische Geräte. Nicht nur auf dem Gebiet der modernen Technologien versteht sich Otto als Pionier, sondern auch im Bereich der Nachhaltigkeit: Das Unternehmen hat die drei Ziele – Wirtschaftlichkeit, ökologisches und soziales Engagement – gleichberechtigt in seinem obersten Zielsystem verankert und realisiert diese weitgehend anhand verschiedener Strategien in den diversen Tätigkeitsbereichen des Unternehmens. Die vorliegende Fallstudie schildert die Entwicklung bei Otto über die letzten fünf Jahre. Sie wird damit zeigen, dass die vollständige Verankerung der Nachhaltigkeit in den Strategien, Strukturen und Kulturen ein langfristiger Verbesserungsprozess ist, der bei Otto konsequent verfolgt wird. Der folgende Abschnitt 9.2.2 wird zunächst zeigen, wie Otto die Nachhaltigkeit in seinen Strategien verwirklicht hat. Um die Weiterentwicklungen der Nachhaltigkeitsstrategien, -strukturen und -kulturen nachvollziehen zu können, wird anschließend geschildert, wie die Nachhaltigkeitsstrategien im Jahr 2002 in den Strukturen und Kulturen verankert waren. Dabei wird deutlich, dass bei der Integration der Nachhaltigkeit zunächst ein Schwerpunkt auf ökologische Ziele gelegt worden war und diese nach und nach um soziale Aspekte ergänzt wurden. Dabei schien bereits zum damaligen Zeitpunkt die strukturelle und kulturelle Verankerung des Umweltschutzes zumindest auf den ersten Blick als weitgehend gelungen, so dass das damalige Umweltmanagement als gute Grundlage für die Integration mit dem sozialen Engagement Ottos anmutete. Dass die Verankerung des Umweltschutzes dennoch nicht vollständig gelungen war, zeigen die darauf folgenden Abschnitte. Dort werden unter Zuhilfenahme des Bezugsrahmens zwei konkrete Entscheidungen von Otto – für den Anbau kontrolliert biologischer Baumwolle und gegen die Verlagerung eines Warentransportes auf Binnenschiffe – darauf hin untersucht, inwieweit sie der Erreichung der Unternehmensstrategien dienten oder nicht (Abschnitt 9.2.3). Dabei werden einzelne Defizite sichtbar werden, die auf Verbesserungspotenziale in den damaligen Strukturen und Kulturen Ottos hinwiesen. Um diese zu identifizieren, wird, ebenfalls basierend auf den Zusammenhängen des Bezugsrahmens, geschildert, welche Strukturen und Kulturen die Nachhaltigkeit bei Otto benötigt (Abschnitt 9.2.4). Diese SollSituation wird anschließend mit der Ist-Situation in 2002 verglichen, und es werden konkrete Maßnahmen für eine gezielte Weiterentwicklung der Strukturen und Kulturen bei Otto abgeleitet (Abschnitt 9.2.5). Der letzte Abschnitt 9.2.6 in diesem Fallbeispiel wird schließlich zeigen, welche dieser Verbesserungspotenziale bei Otto bis dato auf welche Art und Weise umgesetzt worden sind. Auf diese Weise wird deutlich, dass strukturelle und kulturelle Veränderungen, z.B. für Integration ökologischer und sozialer Ziele in Unternehmen, langfristige Prozesse sind, kontinuierlich voranzutreiben sind. Gleichzeitig verdeutlicht das Fallbeispiel, dass Bezugsrahmen eine gute Grundlage darstellt, um Unternehmenssituationen zu erfassen, ihre Effektivität und Effizienz hin zu beurteilen und Verbesserungspotenziale abzuleiten.
die die der auf
286 9.2.2
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral Das Nachhaltigkeitsmanagement bei Otto
Nachhaltigkeitsstrategien „Es ist meine Überzeugung, dass sich wirtschaftliches Handeln zukünftig nicht mehr nur an dem ökonomischen Nutzen orientiert, sondern gleichermaßen ökologischen Schaden abwehren und sozialen Gewinn anstreben muss.“1283
Diesem Motto von Dr. Michael Otto, dem Vorstandsvorsitzenden des Versandhandelsunternehmens Otto, sieht sich das Unternehmen verpflichtet. Schon 1986 wurde der Umweltschutz vom Vorstand als ausdrückliches Unternehmensziel formuliert, und 1996 war Otto das erste Handelshaus, das sein Umweltmanagementsystem nach ISO 14.001 zertifizieren ließ. Seither hat das Unternehmen eine Vorreiterrolle in Sachen Nachhaltigkeit inne. Die drei Säulen der Nachhaltigkeit – Ökonomie, Ökologie und Soziales – stehen gleichberechtigt nebeneinander und sind weitestgehend in die Unternehmensentscheidungen integriert. Seiner Verantwortung versucht Otto gerecht zu werden, indem nachhaltige Aspekte über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg betrachtet werden: wenn möglich also von der Rohstoffgewinnung über die Produktion der Waren, den Transport und der Lagerung bis hin zum Kunden und der Verwertung der Produkte. Die größten ökologischen und sozialen Auswirkungen fallen im Zusammenhang mit den Produkten an. Hier stehen Textilien im Mittelpunkt, da sie einen Großteil des Sortiments ausmachen. Thema ist die ökologische Verträglichkeit der Produkte selbst, ebenso wie die umweltrelevanten Auswirkungen entlang der Supply Chain. Unter sozialen Aspekten spielen die Arbeitsbedingungen bei den Lieferanten eine große Rolle. Mit zum Kernprozess bei Otto gehört der Transport der Waren, so dass der transportbedingte Schadstoffausstoß eine wichtige direkte ökologische Auswirkung ist. Bezüglich der Betriebsökologie bilden die Bereiche Abfallmanagement, Energie- und Wassereinsparungen die wichtigsten ökologischen Handlungsfelder. Einige wenige Beispiele sollen das Engagement von Otto im Bereich der Nachhaltigkeit verdeutlichen. Einen Schwerpunkt der Nachhaltigkeitsstrategie von Otto bilden die Textilien. Im Otto-Katalog genügen nahezu 100 Prozent des gesamten Textilsortiments dem Qualitätssiegel „hautfreundlich, weil schadstoffgeprüft“. Dieses Siegel entspricht dem Standard „Öko-Tex 100“ und gewährleistet, dass im Endprodukt keine allergieauslösenden oder gesundheitsschädlichen Substanzen mehr enthalten sind. Damit erfüllen die Textilien Anforderungen, die weit über die gesetzlichen Grenzwerte hinausgehen. Darüber hinaus gehört Otto zu den weltweit größten Anbietern von Produkten aus kontrolliert biologisch angebauter Baumwolle. Hier wird z.B. auf den Einsatz von Pestiziden oder künstlichen Düngern ganz verzichtet und so z.B. das Grundwasser kaum durch Schadstoffe belastet. Aber nicht nur beim Anbau der Baumwolle wird auf Umweltverträglichkeit geachtet, sondern entlang der ganzen Wertschöpfungskette, also z.B. beim Färben, bei der weiteren Verarbeitung bis hin zum Transport.1284 Auch in anderen Bereichen bietet Otto nachhaltige Produkte an, so z.B. seit 1999 Holzmöbel mit dem FSC-Siegel (Forest Stewardship Council) für nachhaltige Forstwirtschaft. Das FSC-
1283 1284
Dr. Michael Otto, Vorstandsvorsitzender von Otto. Alle Produkte aus kontrolliert biologischem Anbau bietet Otto unter der Marke „PURE WEAR die reinste Faser“ an.
9.2 Otto: Kontinuierliche Verbesserung des Nachhaltigkeitsmanagements
287
Siegel erhalten nur Holzprodukte, die nicht aus Raubbau stammen und bei deren Herstellung bestimmte Umwelt- und Sozialstandards eingehalten werden. Dem Otto-Kunden wird eines der größten FSC-zertifizierten Sortimente im Versandhandel angeboten. Auch im Sortiment der „Weißen Ware“ (Waschmaschinen, Gefrier- und Kühlgeräte, Geschirrspüler, E-Herde) wurde der Anteil ökologisch optimierter Geräte der Energieeffizienzklassen A, A + und A ++ auf nahezu 100 Prozent gesteigert. Das Thema Klimaschutz und Reduzierung von CO2-Emissionen wird in der Öffentlichkeit stark diskutiert. Staaten und Unternehmen haben sich hier zu Reduktionszielen verpflichtet. Otto hat seine durch Transporte bedingten CO2-Emissionen im Jahr 2006 um 51 Prozent (bezogen auf das Jahr 1993) gesenkt. Möglich wurde dies durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen, wie z.B. die Verlagerung der Transporte vom Flugzeug auf das Schiff, die Optimierung logistischer Prozesse oder die Nutzung alternativer Antriebsmittel. Neben dem Umweltschutz engagiert sich Otto auch in der Wahrnehmung von Sozialverantwortung entlang der Wertschöpfungskette. Als erstes deutsches Versandhandelsunternehmen tragen bei Otto seit 1996 alle aus Indien und Nepal importierten Teppiche das RugmarkSiegel. Es stellt sicher, dass diese nicht von Kinderhand geknüpft wurden. Im Sozialprogramm bei Otto geht es um die Einhaltung von umfassenden Menschen- und Arbeitsrechten bei den Lieferanten. Diese werden seit 1997 in einem Code of Conduct vertraglich verpflichtet, die einschlägigen internationalen Vorschriften einzuhalten.1285 Sie umfassen z.B. das Verbot von Kinderarbeit, das Verbot der Diskriminierung von Mitarbeitern aufgrund ihres Geschlechts, ihrer politischen Überzeugung und ethnischen Herkunft. Auch verpflichten sich die Lieferanten, einen Mindestlohn zu zahlen und die gesetzlichen Vorschriften zur Arbeitszeit zu befolgen. Allerdings reicht eine vertragliche Verpflichtung nicht aus, damit die grundlegenden Menschen- und Arbeitsrechte auch eingehalten werden. Otto schult daher seine Lieferanten, unterstützt sie in der Einhaltung der sozialen Standards und kontrolliert diese. In einem Nachhaltigkeitsbericht informiert Otto seine externen Anspruchsgruppen über seine nachhaltigkeitsorientierten Aktivitäten. Jährlich wird hier der Daten- und Faktenteil mit Kennzahlen aktualisiert, so dass allen Stakeholdern ein detaillierter Überblick gegeben wird. Der Nachhaltigkeitsbericht ist aus dem Umweltbericht durch Ergänzung des sozialen Themas entstanden und wurde im Jahr 2003 um weitere gesellschaftliche Themen und ökonomische Informationen ergänzt. Diese Weiterentwicklung der Berichterstattung spiegelt die inhaltliche Erweiterung des Themas Nachhaltigkeit bei Otto wider: Ging es zunächst nur um den Umweltschutz, so kam 1997 die Sozialverantwortung hinzu und wird inzwischen mit dem weiteren gesellschaftlichen Engagement unter dem Begriff „Corporate Citizenship“ zusammengefasst. Wie die Nachhaltigkeitsziele und -strategien bis 2002 in den Strukturen und Kulturen verankert waren, wird nun im Folgenden gezeigt. Nachhaltigkeitsstrukturen Das Nachhaltigkeitsengagement von Otto geht auf die persönliche Initiative von Dr. Michael Otto, dem Vorstandsvorsitzenden und Eigentümer, zurück. Seine Funktion ist nicht zu unter-
1285
Dabei handelt es sich z.B. um die Konventionen der International Labour Organisation (ILO) und die Menschenrechtskonventionen.
288
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
schätzen: Er hat das Prinzip des nachhaltigen Wirtschaftens als eigenständige Zielsetzung festgeschrieben und macht sich in diesem Rahmen persönlich für den Umweltschutz stark. Als langjähriger Vorstandsvorsitzender, Initiator und Treiber des Themas verkörpert er glaubhaft den Nachhaltigkeitsgedanken bei Otto. Damit geht von seiner Person eine starke integrative Wirkung aus. Bereits 1988 formierte sich ein Umweltteam in der Kommunikationsabteilung, welches sich ausschließlich mit dem Thema beschäftigte. Aus diesem Team wurde später eine eigenständige Stabsabteilung gegründet. Diese Abteilung, die im Jahr 2002 noch Direktionsbereich für Umwelt- und Gesellschaftspolitik1286 hieß, berichtet direkt an den Vorstandsvorsitzenden. Das Verständnis der Arbeit der Stabsabteilung entwickelte sich mit der Zeit weiter. Während am Anfang alle Projekte im Direktionsbereich initiiert und durchgeführt wurden, ist die operative Durchführung mittlerweile in die Fachabteilungen verlagert. Die Stabsabteilung hat die Funktion einer steuernden und koordinierenden Abteilung. Sie stellt vor allem strategisches Knowhow, Methoden und Instrumente für ein Nachhaltigkeitsmanagement zur Verfügung und leistet Hilfe bei der Maßnahmenumsetzung. Darüber hinaus führt der Bereich jährlich ein internes Audit durch und erstellt für Vorstand und Entscheidungsträger einen internen Umwelt- und Sozialbericht, der die Grundlage für die Entwicklung neuer Ziele und für Zielkorrekturen bildet. Aus der Stabsabteilung für Umwelt- und Gesellschaftspolitik ging im Jahr 2000 das Tochterunternehmen Systain, eine Beratungsgesellschaft für die Implementierung von Corporate Responsibility in Supply Chains, hervor. Sie berät den Otto-Konzern und trägt darüber hinaus das Wissen über nachhaltiges Wirtschaften nach außen, indem sie Unternehmen, Verbände und öffentliche Institutionen dabei unterstützt, ihre Produkte, Prozesse und Strategien insbesondere entlang weltweiter Zuliefererketten nachhaltig auszurichten. Neben diesen eigens auf Nachhaltigkeitsfragen spezialisierten Stellen war das Thema bei Otto bereits im Jahr 2002 auch in die unterschiedlichen Unternehmensebenen integriert. Strategische ökonomische, ökologische und soziale Entscheidungen werden bei Otto in jährlich stattfindenden Strategiekonferenzen gefällt, bei denen neben dem Vorstand auch die zweite Führungsebene der Direktoren teilnimmt. Unterjährig werden diese Entscheidungen vom Vorstand getroffen. Die nachgeordneten Nachhaltigkeitsprogramme werden von fachbezogenen Arbeitsgruppen – im Jahr 2002 noch von den „Umweltarbeitsgruppen“1287 – erarbeitet und umgesetzt. Je nach Thema arbeitet in den Arbeitsgruppen der zuständige Fachreferent aus der Stabsabteilung mit Vertretern aus den jeweiligen Fachabteilungen zusammen. Der Fachreferent ist hauptsächlich steuernd tätig und gibt sein Spezialwissen weiter, während die operative Umsetzung von der Fachabteilung durchgeführt wird. Die Planung der Aktivitäten erfolgt gemeinsam. So ist auf dieser Ebene eine Verzahnung von Stabstelle und Fachabteilungen gewährleistet.
1286
1287
Inzwischen nennt sich die Stabsabteilung „Direktionsbereich für Corporate Responsibility“. Vgl. hierzu Abschnitt 9.2.6. Diese Umweltarbeitsgruppen sind inzwischen als „Best Practice Clubs“ organisiert. Vgl. hierzu Abschnitt 9.2.6.
9.2 Otto: Kontinuierliche Verbesserung des Nachhaltigkeitsmanagements
289
Damit die einzelnen Abteilungen regelmäßig über das gesamte Nachhaltigkeitsengagement von Otto informiert werden, wurde ein Netzwerk, das damalige „Umweltnetzwerk“1288, gegründet. Es besteht aus den Beauftragten für Nachhaltigkeit der einzelnen Fachabteilungen und sorgt für den notwendigen Informationsfluss in das gesamte Unternehmen. Auf vier Mal im Jahr stattfindenden Treffen wird über Nachhaltigkeitsthemen bei Otto berichtet und diskutiert. Als zuständiger Vorstand nimmt auch Dr. Otto jährlich an den Sitzungen des Netzwerks teil. Die Berührungspunkte der Organisationsstrukturen des Umweltmanagements mit den wirtschaftlichen Strukturen sind vielfältig. Hier sind es die Controllingstellen, welche die Nachhaltigkeitsstrategien und -maßnahmen von Otto ökonomisch zu bewerten versuchen. Bei Otto berichtet das Zentral-Controlling direkt an den Vorstand und ist für die Steuerung der kurzfristigen Gewinne konzernweit zuständig. Daneben gibt es in den einzelnen Fachabteilungen dezentrale Controllingstellen, die den wirtschaftlichen Erfolg, gemessen in Deckungsbeiträgen, berechnen und der jeweiligen Abteilungsleitung, die für den finanziellen Erfolg verantwortlich ist, beratend zu Seite stehen. Hier zeigt sich jedoch eine Schwierigkeit der Integration ökologischer und sozialer Ziele mit wirtschaftlichen Zielen: Während die Kosten nachhaltiger Aktivitäten gut dokumentiert und relativ leicht zu beschaffen sind, können die positiven langfristigen ökonomischen Effekte wie Imagegewinn, höhere Kundenbindung oder erhöhte Produktivität wenn überhaupt nur sehr schwer und mit hohem Aufwand erfasst werden. Wenn ein Manager jedoch die negativen ökonomischen Effekte von nachhaltigen Maßnahmen genau kennt, bei den positiven aber auf Schätzungen angewiesen ist, ist die Nachhaltigkeit hier tendenziell in der Defensive. Nachhaltigkeitskultur Neben den genannten strukturellen Maßnahmen der Verankerung der Nachhaltigkeit in den Strategien und Strukturen bei Otto schien, auch als dessen Ergebnis, die kulturelle Verankerung eines offensiven Nachhaltigkeitsmanagements bereits im Jahr 2002 als gelungen. Laut einer Mitarbeiterumfrage am Hauptsitz in Hamburg bewerteten 89 Prozent der Mitarbeiter das Umweltengagement von Otto im Vergleich zu anderen Unternehmen als überdurchschnittlich. Für eine Verinnerlichung des Nachhaltigkeitsgedankens spricht, dass trotzdem 30 Prozent ein stärkeres Engagement im Umweltschutz wünschten. Otto scheint auch extern als ein Vorbild in Sachen Nachhaltigkeit zu gelten, da für 33 Prozent der Mitarbeiter das Nachhaltigkeitsengagement ein wesentlicher Grund für die Wahl des Arbeitgebers war. Für die kulturelle Verankerung des Themas spricht auch, dass neben den „offiziellen“ Strukturen auch „inoffizielle“ entstehen, welche die Nachhaltigkeit vorantreiben. So hat z.B. der zuständige Vorstand für Transport & Verkehr eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich speziell mit den Nachhaltigkeitsaspekten dieses Bereichs beschäftigt und regelmäßig an ihn berichtet. Dadurch steigt die Bedeutung des Themas nachhaltiger Transport und Verkehr, und der Vorstand kann steuernd eingreifen.
1288
Das Umweltnetzwerk heißt inzwischen „Zukunftsnetzwerk“. Vgl. hierzu Abschnitt 9.2.6.
290 9.2.3
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral Wurden ökonomische und ökologische Zielkonflikte optimal gelöst?
Die obigen Schilderungen des Nachhaltigkeitsmanagements bei Otto zeigen, dass das Unternehmen die Ziele der Nachhaltigkeit gleichberechtigt in seinen Unternehmenszielen und -strategien verankert hat. Zudem erwecken die Nachhaltigkeitsstrukturen und die -kultur auf den ersten Blick den Eindruck, als habe das Unternehmen die Ziele der Nachhaltigkeit im Sinne eines langfristigen Überlebens des Unternehmens auch dort optimal integriert. Aber ist dies auch bei einem genaueren Hinsehen der Fall? Dieser Frage wird im Folgenden genauer nachgegangen. Zu diesem Zweck werden im vorliegenden Abschnitt die Entscheidungsprozesse hinsichtlich zweier Umweltschutzmaßnahmen – des Anbaus kontrolliert-biologischer Baumwolle und der Verlagerung von Transporten auf Binnenschiffe – aus Sicht des Bezugsrahmens analysiert.1289 Dabei werden die dort aufgetretenen Konflikte zwischen ökologischen und wirtschaftlichen Zielen sowie zwischen umweltschutz- und wirtschaftlichkeitsfokussierten Akteuren verdeutlicht. Diese Fallbeispiele zeigen im Übrigen sehr anschaulich, dass Unternehmen als wirtschaftliche Organisationen, wie es der Bezugsrahmen nahe legt, ökologische Kommunikation immer in wirtschaftliche übersetzen müssen, und wie ein solcher Übersetzungsprozess in der Unternehmensorganisation und den Entscheidungsprozessen vonstatten gehen kann. Der Bezugsrahmen im vorherigen Abschnitt 9.1, der sich mit den Möglichkeiten und Grenzen des Umweltmanagements auseinandersetzte, wird herangezogen, um die beiden Fallbeispiele darauf hin zu überprüfen, inwieweit die Konflikte zwischen ökonomischen und ökologischen Zielen optimal gelöst wurden. Die Optimalität bezieht sich dabei einerseits auf die Erreichung der obersten ökonomischen, ökologischen und sozialen Unternehmensziele sowie andererseits auf die Sicherung des langfristigen Überlebens des Unternehmens. Auf Basis dieser Analyse wird daraufhin erörtert, welche Strukturen und welche Kultur benötigt wird, damit die Nachhaltigkeitsstrategien erreicht werden (Abschnitt 9.2.4), und welche Verbesserungspotenziale im Jahr 2002 konkret in den Strukturen und Kulturen Ottos bestanden (Abschnitt 9.2.5). Abschließend wird gezeigt, welche dieser Verbesserungspotenziale bis 2007 umgesetzt worden sind (Abschnitt 9.2.6). Anbau kontrolliert-biologischer Baumwolle Der Anbau von Baumwolle geht in der Regel mit einer hohen Umweltbelastung einher. So werden zur Produktion eines T-Shirts aus Baumwolle ca. 10 m3 Wasser sowie große Mengen an Dünger und Pestiziden benötigt. Um die Öko-Bilanz der Baumwolltextilien zu verbessern, initiierte die Abteilung Umwelt- und Gesellschaftspolitik 1996 ein Projekt zur Herstellung von Textilien aus kontrolliert-biologischer Baumwolle. Zunächst wurde in persönlichen Gesprächen mit Experten aus der betreffenden Fachabteilung, dem „Einkauf Textilien“, die Durchführbarkeit der Projektidee diskutiert. Dabei wurden verschiedene Möglichkeiten eruiert und ein erstes Pilotprojekt in der Westtürkei durchgeführt, wo man auf bereits bestehende Partner zurückgreifen konnte.1290 1289
1290
Die folgenden Schilderungen der beiden Entscheidungsprozesse basieren auf Interviews mit den folgenden damaligen Mitarbeiter der Otto GmbH & Co KG: mit den Herren Betz und Seipold, durchgeführt am 16.09.2002, sowie mit den Herren Dr. Arretz, Jacob, Friedrichs und Dr. König, durchgeführt am 11.09.2002. Vgl. Arretz (2002), S. 64.
9.2 Otto: Kontinuierliche Verbesserung des Nachhaltigkeitsmanagements
291
Das Projekt wurde anschließend gemeinsam mit der Fachabteilung „Einkauf Textilien“ konkretisiert und Herrn Dr. Otto vorgestellt. Auf Grund der höheren Produktionskosten der ÖkoBaumwolle erhob das dezentrale Controlling des Einkaufbereichs jedoch Einspruch gegen das Projekt, da sich das finanzielle Ergebnis der Fachabteilung mit dessen Durchführung verschlechtern würde. Daraufhin wurde ein Vertreter des Zentral-Controllings zum Projektteam hinzugezogen. Dieser hatte den Auftrag, sich des Problems anzunehmen und die unterschiedlichen Interessen auszugleichen. Es wurde schließlich eine Lösung für das Problem gefunden: die Quersubventionierung der Fachabteilung „Einkauf Textilien“ aus einem zentralen Unternehmensbudget. Mit dieser Maßgabe beschloss der Vorstand das Projekt. Im Jahr 2004 wurden für Otto insgesamt 290 Tonnen Öko-Baumwolle umweltschonend angebaut und über 300 auf diese Weise produzierte Textilartikel angeboten. Im Sinne des Fair Trade werden den Bauern höhere Abnahmepreise gezahlt und Zusagen über die Abnahmemengen gemacht. Die Anbaugebiete wurden inzwischen auch auf Israel und Indien ausgeweitet. Dieses Beispiel zeigt, dass auch das Unternehmen Otto, wie die Transaktionskostentheorie dies besagt, immer im Wettbewerb mit anderen Unternehmen und dem Markt um die effiziente Abwicklung von Transaktionen und die effektive Leistungserbringung steht. Daher muss sich auch bei einem an der Nachhaltigkeit ausgerichteten Unternehmen ökologische (und soziale) Kommunikation letztlich immer ökonomisch rechnen, d.h. in ökonomische Kommunikation übersetzt werden. Dementsprechend wurde im Jahr 2002 der Erfolg der Fachabteilungen bei Otto einzig an ökonomischen Zielen, in erster Linie dem Deckungsbeitrag, gemessen. Die dezentralen Controller hatten die Aufgabe, die Maßnahmen dieser Abteilungen bereits im Planungsprozess auf ihre ökonomische Vorteilhaftigkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls Einspruch zu erheben, falls sich eine Maßnahme finanziell nicht lohnen würde. Die Entscheidung, T-Shirts aus kontrolliert biologisch angebauter anstatt aus konventioneller Baumwolle herzustellen, verursachte höhere Produktionskosten, wofür die Kunden jedoch nicht bereit waren, einen höheren Preis zu bezahlen. Daher hätte die Kleidersparte durch dieses Projekt zumindest kurzfristig, evtl. auch langfristig, Wettbewerbsnachteile erlitten und ihre Existenz gefährdet. Dementsprechend wäre die Entscheidung über den Anbau ökologischer Baumwolle, wenn sie einzig von der Fachabteilung getroffen worden wäre, gekippt worden: Der Widerstand gegen das Projekt ging vom dezentralen Controller aus, der die kurzfristigen ökonomischen Verluste ermittelt hatte. Infolgedessen hätte der Bereichsleiter vermutlich die Durchführung des Projekts abgelehnt – es wäre aus seiner Sicht eine Fehlentscheidung gewesen. Dennoch kam die Entscheidung für den Anbau ökologischer Baumwolle zustande. Die Geschäftsleitung schaltete sich ein und traf gemeinsam mit dem damaligen Direktor Einkauf für Hartwaren/Heimtextilien die letzte Entscheidung, welche die Grundlage für das zentrale Controlling bildete, den finanziellen Nachteil der Fachabteilung durch eine unternehmensinterne Quersubventionierung auszugleichen. War diese Entscheidung für das Unternehmen insgesamt optimal? Zweifelsohne war sie im Sinne der Nachhaltigkeitsstrategie von Otto. Aber war sie auch im Sinne des langfristigen Überlebens des Unternehmens? Hier sieht sich Otto, ebenso wie jedes andere Unternehmen, das freiwillig ökologische und soziale Ansprüche erfüllt, der zentralen Frage des vorliegenden Bezugsrahmens gegenüber: Macht es letzt-
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9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
lich ökonomisch Sinn, zugunsten der Nachhaltigkeit auf kurzfristige Gewinne zu verzichten? Lohnt sich ökologisches und soziales Handeln langfristig? Diese Frage wurde bereits in Abschnitt 9.1 diskutiert. Ökologisches Handeln lohnt sich dann wirtschaftlich, wenn relevante Anspruchsgruppen dies direkt verlangen. Im Fall von Otto gab es jedoch – mit Ausnahme des Vorstandsvorsitzenden und Eigentümers – keine relevanten Anspruchsgruppen, die direkt den Anbau kontrolliert-biologischer Baumwolle forderten. Insofern kann die damalige Entscheidung für den Anbau ökologischer Baumwolle nicht als Wettbewerbsstrategie interpretiert werden. Aber bestanden evtl. implizite Forderungen seitens der kritischen Öffentlichkeit nach einem Anbau ökologischer Baumwolle im Speziellen oder nach einem ökologischen Engagement im Allgemeinen, so dass Otto mit dieser Entscheidung in seine „licence to operate“ investiert hat? Textilunternehmen geraten aufgrund ihrer Produktionsmethoden immer wieder in die Schlagzeilen. Skandale, wie z.B. um das Unternehmen Tchibo, zeigen, dass faire Produktionsmethoden in den Zuliefererketten sensible Themen in der Öffentlichkeit sind: Ausgelöst durch den Einsturz eines Fabrikgebäudes in der Nacht des 11. April 2005 in Savar in der Nähe von Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, in der es 64 Tote und viele Verletzte gab, gerieten die Arbeitsbedingungen in den Zuliefererketten von Textilunternehmen wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. In dieser Fabrik ließen neben Tchibo auch die deutschen Unternehmen Karstadt/Quelle, Kirsten Mode, Steilmann und Nienhaus produzieren. Verschiedene Nichtregierungsorganisationen, wie bspw. die „Kampagne für Saubere Kleidung“ oder „Terre des Femmes“, traten in Aktion und riefen Kampagnen ins Leben, durch die Druck auf Tchibo ausgeübt wurde, seine soziale Verantwortung wahrzunehmen und in den Zuliefererketten einen international gültigen Verhaltenskodex einzuführen.1291 Dieses Beispiel zeigt, dass ein illegitimes, weil als unfair wahrgenommenes Verhalten seitens der Textilindustrie zu Reputationsverlust und dem Risiko empfindlicher ökonomischer Einbußen führen kann. Insofern kann die Entscheidung von Otto für den Anbau von Ökobaumwolle als Risikostrategie zur Sicherung der eigenen „licence to operate“ interpretiert werden: Otto beugt auf diese Weise einem Verlust an Reputation und Wettbewerbsstellung vor, für den Fall, dass neben den sozialen auch die ökologischen Folgen der Produktionsmethoden früher oder später in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion rücken werden. Zudem interpretierte Otto die eigene Entscheidung für die Produktion von Öko-Baumwolle als zukünftige Wettbewerbsstrategie, obwohl die Kunden zu der Zeit, als die Entscheidung fiel, nicht bereit waren, für ökologische Kleidung mehr zu zahlen. Dennoch versprach sich das Unternehmen langfristig einen Bewusstseinswandel und infolgedessen Differenzierungschancen auf den Absatzmärkten, z.B. durch längere Haltbarkeit und einen verbesserten Tragekomfort ökologischer Textilien.1292 Schließlich konnte Otto zurecht damit rechnen, dass das eigene ökologisch verantwortungsvolle Verhalten einen spill-over-Effekt auslösen und die Anspruchsgruppen ihre Erwartungen erhöhen würden, dass sich das Unternehmen auch in Bezug auf andere Fragestellungen fair verhält. Dieser Effekt macht sich ökonomisch bezahlt, denn aus einer Reputation zur Einhal-
1291 1292
Vgl. Kampagne für Saubere Kleidung (2005) und Tchibo (2006). Vgl. Arretz (2002), S. 65.
9.2 Otto: Kontinuierliche Verbesserung des Nachhaltigkeitsmanagements
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tung impliziter Verträge resultieren nach Wieland (1996, S. 2ff.)1293 Produktivitätsgewinne aufgrund tieferer Arbeitsteilung, eine Zunahme lukrativer Kooperationschancen sowie geringere Signalisierungskosten und Investitionen in Bindungs- und Kontrollmechanismen. Ebenso erhöhen sich die Leistung und der Wert eines Teams.1294 So konnte Otto bspw. damit rechnen, dass seine Mitarbeiter sich stärker engagieren würden und Otto für neue Fachkräfte an Attraktivität gewinnen würde. Ebenso konnte das Unternehmen davon ausgehen, dass sich mit der Reputation für ein weit reichendes ökologisches Engagement auch die Kundenbindung verbessern würde und Investitionen in Kundenbindungsinstrumente mittelfristig gesenkt werden könnten. Damit zeigt sich, dass eine Stärkung des verpflichtenden Unternehmensimages von Otto, wie es in dem Slogan „Otto, find’ ich gut!“ zum Ausdruck kommt, sich mit hoher Wahrscheinlichkeit mittel- bis langfristig ökonomisch wieder auszahlt. Selbst wenn sich diese Hoffnung nicht (voll) erfüllen sollte, was letztlich quantitativ nur schwerlich nachprüfbar sein wird, macht die Entscheidung für den Anbau ökologischer Baumwolle dennoch ökonomisch Sinn: Dr. Otto vertritt die Eigentumsinteressen seiner Familie, die Eigentümerin des Unternehmens ist. Wenn Dr. Otto nun durch eine solche Vorstandsentscheidung das Risiko eines Gewinnverlusts und damit einer Verminderung des Eigenkapitals in Kauf nimmt, zahlt er dies letztlich „aus eigener Tasche“. Als Eigentümer kann er sich eine solche langfristige Entscheidung „leisten“. Der Zielkonflikt zwischen ökologischen und (kurzfristigen) ökonomischen Zielen wurde damit in diesem Fall optimal gelöst – optimal im Sinne der Nachhaltigkeitsziele und im Sinne des langfristigen Überlebens des Unternehmens. Folglich kann die Übersetzung von Ökologie in Ökonomie durch das Unternehmen hier als voll gelungen angesehen werden. Darüber hinaus zeigt dieses Fallbeispiel eindrücklich, dass das, was für moralische Kommunikation im Sinne des Einhaltens impliziter Verträge gilt, erst recht für ökologisches Engagement zutrifft: Sie kann nicht aus einem rein strategischen Kalkül heraus erklärt werden. Hätte in diesem Fallbeispiel die Unternehmensleitung ebenso wie die Fachabteilungen rein ökonomisch kalkuliert, wäre das Projekt aller Voraussicht nach nicht zustande gekommen. Es bedurfte eines relevanten Stakeholders in Gestalt des Eigentümers und Vorstandsvorsitzenden Dr. Otto, der aus persönlichem Interesse und Engagement einen kurzfristigen Gewinnverzicht und das Risiko, dass sich die Reputation auch mittel- bis langfristig nicht bezahlt machen würde, zu tragen bereit war. Ein ökologisches (ebenso wie soziales) Engagement kommt nur dann zustande, wenn relevante Stakeholder genuin moralisch kommunizieren. Mit anderen Worten: Erfolgspotenziale, wie sie solche Engagements bergen, sind nur dann nutzbar, wenn rigide Übersetzungsprogramme von ökologischer in ökonomische Kommunikation abgelehnt werden – d.h. Entscheidungen zugunsten ökologischer (oder sozialer) Ziele werden auch dann getroffen, wenn sie sich zunächst nicht ökonomisch lohnen. Dies bedeutet außerdem, dass ein Engagement nur dann gegenüber den Anspruchsgruppen glaubhaft ist, wenn ein genuin nachhaltigkeitsorientiertes Anliegen verfolgt wird.1295 Letztlich zeigt sich, dass moralische Kommunikation einerseits immer in ökonomische übersetzt werden muss und damit ein systematischer Gewinnverzicht zugunsten moralischer
1293 1294 1295
Vgl. auch Abschnitt 7.1.4. Vgl. Abschnitt 7.1.4. In Anlehnung an Abschnitt 7.1.5.
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9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
Anliegen von einem Unternehmen, das sich im Wettbewerb behaupten muss, nicht ausgeübt werden kann. Andererseits muss der Moral dennoch als genuines Anliegen ein hoher Stellenwert in einem Unternehmen eingeräumt werden, damit langfristige ökonomische Gewinne durch moralisches Handeln erzielt werden können. Dies werden sich jedoch Unternehmen wie Otto, die sich in Familienbesitz befinden, eher leisten können als andere Unternehmen, bei denen dies nicht der Fall ist. Familienzugehörigkeit ist prinzipiell unkündbar, so dass die Unternehmensinteressen in bestimmten Entscheidungen sogar (kurz- bis mittelfristigen) Eigentümerinteressen übergeordnet werden können und das Shareholder Value-Prinzip ggf. auch umgekehrt werden kann.1296 Langfristige Erfolgspotenziale durch Moral, die zunächst einen Verzicht auf kurzfristige Gewinne bedeuten, haben daher bei börsennotierten Aktiengesellschaften, die eher auf kurzfristige Gewinne ausgerichtet sind, geringere Realisierungschancen. Dies ist sicherlich ein wesentlicher Grund dafür, dass Familienunternehmen, wie Anderson/Reeb (2003) gezeigt haben, langfristig größere ökonomische Erfolge vorweisen können als andere Unternehmen, und dies umso mehr, wenn der Eigentümer auch den Vorstandsvorsitz innehat: Familienunternehmen haben einen längeren Planungshorizont und können darum die besseren Investitionsentscheidungen treffen. Zudem sind sie stärker auf Qualität und stabile Beziehungen zu den Anspruchsgruppen fixiert, weil sie sich mit dem Unternehmen und seinen Produkten stärker identifizieren.1297 Auch eine Studie der Credit Suisse (2007) bescheinigt Unternehmen, in denen der Gründer über einen Anteil von mehr als 10 Prozent des Aktienkapitals verfügt, seit 1996 eine um durchschnittlich 8 Prozent bessere jährliche Performance, und das über alle Branchen hinweg. Die Analysten bezeichneten als Ursachen neben den genannten Gründen auch eine bessere Abstimmung der Management- und Aktionärsinteressen sowie eine stärkere Konzentration auf die Kernkompetenzen.1298 Diese Ergebnisse bestätigen die Vermutung, dass Familienunternehmen günstigere Voraussetzungen haben, genuin moralisch zu kommunizieren. Dass sie dies jedoch tatsächlich tun, ist keineswegs zwangsläufig und hängt von den Interessen und Kompetenzen der jeweiligen Familie ab; diese nutzt ihre Machtfülle nicht automatisch zum Wohle des Unternehmens. Während Aktionäre und vor allem institutionelle Anleger an der Börse von Unternehmen weitgehende Transparenz und ggf. die Einflussnahme auf Geschäftsentscheidungen einfordern können, besteht in Familienunternehmen die Gefahr, dass die Interessen von Minderheitsaktionären unberücksichtigt bleiben. Dies mag wiederum der Grund sein, warum Familienunternehmen neben ihrer besseren Performance ein höheres Risiko bergen.1299 Verlagerung von Transporten auf Binnenschiffe Eine zweite Entscheidung, die im Hinblick auf ihre Optimalität bezüglich der nachhaltigkeitsorientierten Unternehmensziele und des langfristigen Überlebens von Otto untersucht wird, betrifft die Verlagerung von Transporten auf Binnenschiffe.
1296 1297 1298 1299
Vgl. Wimmer/Groth/Simon (2004). Vgl. Kwak (2003). Vgl. Credit Suisse (2007). Vgl. Neue Zürcher Zeitung (2007d).
9.2 Otto: Kontinuierliche Verbesserung des Nachhaltigkeitsmanagements
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Transporte sind für ca. 26 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich.1300 Vor diesem Hintergrund ist Otto bemüht, seine transportbedingten CO2-Emissionen zu reduzieren. und verfolgt dabei verschiedene Strategien, u.a. logistische Optimierungen z.B. durch Transportvermeidung und eine bessere Fahrzeugauslastung, die Nutzung alternativer Antriebsformen sowie die Verlagerung von Transporten z.B. auf Schiffe oder die Bahn.1301 Otto hat das Ziel, seine CO2-Emissionen von 1993 bis 2005 um 45 Prozent zu senken, übererfüllt und im Jahre 2006 eine Reduktion von 51 Prozent erreicht. Trotz dieses Erfolges zeigt jedoch das folgende Fallbeispiel, dass die Einbindung der Tochterunternehmen des OttoKonzerns in den Umweltschutz vor einigen Jahren noch am Anfang stand. Die Logistikaktivitäten von Otto werden zur Erzielung größtmöglicher Synergieeffekte von einem Zentralbereich für Einkaufssteuerung/Import koordiniert. Dort setzt sich der Frachtleiter Import persönlich dafür ein, dass bei der Wahl des Transportmittels nach Möglichkeit nicht nur das Kriterium der Wirtschaftlichkeit, sondern auch das der Umweltschonung Berücksichtigung findet. Das Beispiel betrifft ein Tochterunternehmen von Otto – einen Versender mit betont preisgünstigen Angeboten, vornehmlich im Textilbereich. Die Abteilung für Frachtabwicklung von Otto koordinierte für dieses Tochterunternehmen den Weitertransport der Waren vom Hamburger Hafen in das Warenverteilzentrum in Haldesleben bei Magdeburg. Nun ergab sich in einem konkreten Fall, dass Textilien früher als erwartet im Hamburger Hafen eintrafen. Daraus resultierte die Möglichkeit, an Stelle des Lkws das Binnenschiff als die in der gegebenen Situation zwar langsamere, aber ökologisch günstigere und gleich teure Transportalternative zu wählen. Somit war unerwartet ein Zeitfenster entstanden, das zugunsten des Umweltschutzes hätte genutzt werden können. Als das Tochterunternehmen davon erfuhr, wurde die Ware trotz höherer Emissionen mit dem Lkw angefordert. Der Beweggrund war, die Textilien auf diese Weise früher fakturieren und anbieten zu können, verbunden mit der Chance, sie auch früher zu verkaufen. Es gelang nicht, den verantwortlichen Manager davon zu überzeugen, dass die Zeitersparnis von einem halben bis einem ganzen Tag, mit der ja eigentlich nicht zu rechnen gewesen war, nicht die höheren Emissionen rechtfertigen würde. Seine Wahrnehmung der Rolle eines rein wirtschaftlichkeitsfokussierten Akteurs führte schließlich dazu, dass die Textilien über die Straße ins Lager nach Haldesleben gebracht wurden. War diese Entscheidung im Sinne der Unternehmensziele und des langfristigen Überlebens des Unternehmens? Der Zeitvorteil durch den Lkw-Transport verschaffte dem Tochterunternehmen nur einen sehr geringen, kaum spürbaren ökonomischen Vorteil. Gleichzeitig war und ist die Reduktion von Treibhausgasen für Otto ein durchaus wichtiges Unternehmensziel, denn der Klimaschutz, und damit einhergehend die Vermeidung von Treibhausgasemissionen, ist ein gesellschaftlich höchst relevantes und aktuell stark öffentlichkeitswirksames Thema. Auch wenn Otto sein selbst gestecktes Reduktionsziel übererfüllt hat, verzeichnete das Unternehmen dennoch in den letzten Jahren einen CO2-Anstieg. Dies zeigt, dass das Klimaziel weiter verfolgt werden sollte. Daher wäre nach Meinung der beteiligten Akteure der Mutter-
1300 1301
Vgl. International Energy Agency (2000). Vgl. Otto (2003), S. 37 oder auch Otto (2007e).
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9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
gesellschaft – des Frachtleiters und des Fachreferenten aus dem Bereich Umwelt- und Gesellschaftspolitik – die spätere Ankunft der Ware zugunsten verringerter CO2-Emissionen zumutbar gewesen, denn mit der Zeitersparnis war ohnehin nicht zu rechnen gewesen. Mit der Ablehnung des Schifftransportes wurde folglich die Möglichkeit, ohne (nennenswerte) ökonomische Verluste ein ökologisches Ziel zu erreichen, nicht genutzt. Dies war erstens nicht im Sinne der Nachhaltigkeit, aufgrund derer ökologische und ökonomische Ziele prinzipiell gleichrangig sind. Zweitens war dies auch nicht im Sinne des langfristigen Überlebens des Unternehmens, denn Otto hat sich bewusst für eine verantwortungsbewusste Strategie entschieden, mit der das Unternehmen systematisch über Reputationseffekte mittel- bis langfristig ökonomischen Erfolg erzielt. Um diese Erfolgspotenziale zu minimalen ökonomischen Kosten aufzubauen und zu erhalten, muss Otto konsequent Entscheidungen, die ökologische oder soziale Vorteile und gleichzeitig keine (nennenswerten) ökonomischen Nachteile bringen, zugunsten der Nachhaltigkeit treffen. Wenn dies nicht gelingt, werden entweder Mittel verschwendet, indem teurere ökologische Maßnahmen durchgeführt werden, oder die Reputation des Unternehmens wird nicht durch ein entsprechendes ökologisches und soziales Handeln getragen. Ist Letzteres der Fall, können ebenfalls ökonomische Verluste entstehen: Ein offensives und öffentlichkeitswirksames Auftreten im Hinblick auf das eigene ökologische und soziale Engagement erhöht die Aufmerksamkeit und die Erwartungen von Seiten der Anspruchsgruppen und der kritischen Öffentlichkeit. Werden diese Erwartungen enttäuscht, hat dies Reputations- und ökonomische Verluste zur Folge. Mit anderen Worten: Dadurch dass Otto ein nachhaltigkeitsorientiertes Image offensiv vertritt, kann es sich weniger als andere Unternehmen leisten, in Bezug auf den Klimaschutz untätig zu sein.1302 Durch die Entscheidung gegen eine Verlagerung des genannten Transportes auf Binnenschiffe wurde folglich die Chance vertan, zu sehr geringen Kosten ökologisch zu handeln und damit die eigene Reputation zu stärken. Damit war diese Entscheidung weder im Sinne der Nachhaltigkeit noch im Sinne des langfristigen Überlebens. Die Übersetzung von Ökologie in Ökonomie funktionierte nicht optimal. Was waren die Ursachen hierfür? Diese Frage wird in den folgenden beiden Abschnitten untersucht werden. 9.2.4
Welche Strukturen und Kulturen braucht die Nachhaltigkeit?
Der obige Abschnitt 9.2.3 diskutierte zwei Fallbeispiele für Konflikte zwischen ökologischen und ökonomischen Zielen im Hinblick darauf, ob diese im Sinne der Unternehmensziele gefällt wurden oder nicht. Im Fall des Anbaus ökologischer Baumwolle wurde eine im Sinne der Unternehmensstrategien optimale Entscheidung gefällt, im Fall der gescheiterten Verlagerung eines Transportes auf Binnenschiffe jedoch nicht. Der erarbeitete theoretische Bezugsrahmen kann nun nicht nur für die Suche nach Defiziten, sondern ebenso für die Suche nach den Ursachen herangezogen werden. Dabei legt der Bezugsrahmen eine ganzheitliche Betrachtung unternehmerischen Handelns nahe – eine isolierte Problembehandlung würde der Komplexität der Situation nicht gerecht werden. Er weitet den Blick auf die verschiedenen
1302
In Anlehnung an Abschnitt 9.1.
9.2 Otto: Kontinuierliche Verbesserung des Nachhaltigkeitsmanagements
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Ordnungsmomente (Strategien, Strukturen und Kultur) des Managements und die jeweiligen Wechselwirkungen zwischen ihnen und den unternehmerischen Handlungen: Nachhaltigkeitsorientierte Unternehmensstrukturen und -kulturen dienen dazu, das Handeln der Manager und Mitarbeiter mit Hilfe geeigneter dauerhafter Regeln auf die ökonomischen, ökologischen und sozialen Ziele hin auszurichten und eventuelle Zielkonflikte aufzulösen.1303 Strukturen koordinieren das unternehmerische Handeln und dienen damit der Verwirklichung der Strategien – und bedingen selbst wiederum, welche Strategien festgelegt und ob bzw. wie diese erreicht werden.1304 Eine inadäquate strukturelle Implementation kann daher eine Ursache dafür sein, dass ein Unternehmen seine Unternehmensziele nicht erreicht.1305 Auch Unternehmenskulturen, die mit ihrer Vergewisserungs- und Motivationsfunktion den im Unternehmen Handelnden einen gemeinsamen Sinnhorizont vermitteln, steuern das unternehmerische Handeln und spielen so eine zentrale Rolle für die Erreichung der Unternehmensziele. Insofern können auch bestimmte Ausprägungen von Unternehmenskulturen, in denen die Unternehmensziele nicht adäquat verankert sind, einer Zielereichung im Wege stehen.1306 Dementsprechend werden die Ursachen für die Fehlentscheidung bzgl. der Warentransporte im Hinblick auf die Realisierung der Nachhaltigkeitsstrategien von Otto in den Unternehmensstrukturen und der Kultur gesucht.1307 Bevor die Frage eruiert wird, welche strukturellen und kulturellen Defizite konkret bei Otto vorherrschen, wird sich dieser vorliegende Abschnitt mit der Frage auseinandersetzen, welche Strukturen und Kulturen notwendig sind, damit ein Unternehmen Nachhaltigkeitsstrategien, wie sie Otto zu verwirklichen sucht, erreicht und sein langfristiges Überleben im Wettbewerb sichert. Anschließend wird dieser Soll-Zustand in Abschnitt 9.2.5 mit dem Ist-Zustand bei Otto, wie er im Jahr 2002 bestand, verglichen, und es werden daraus konkrete Verbesserungsvorschläge abgeleitet. Otto hat sich die Nachhaltigkeit als Ziel gesetzt. Entsprechend versucht das Unternehmen, auch in seinen Strategien alle wichtigen ökologischen und inzwischen auch sozialen Aspekte entsprechend zu berücksichtigen. Damit dies dauerhaft realisiert wird, müssen die Strukturen und Kulturen bei Otto ebenfalls adäquat ausgerichtet sein. Dies ist, wie zuvor in Abschnitt 9.1 bereits begründet, aus Gründen der Glaubwürdigkeit und der Wirtschaftlichkeit sehr wichtig.
1303
1304 1305 1306 1307
In Anlehnung an Rüegg-Stürm (2002), S. 78f., und Steinmann/Schreyögg (2000), S. 403. Zur Bedeutung adäquater Organisationsstrukturen für das Umweltmanagement siehe u.a. Hunt/Auster (1990), Greeno (1991), Newman/Breeden (1992), Welford (1992), Winsemius/Guntram (1992), Shrivastava (1994), Stead/Stead (1994), Shrivastava/Hart (1995) und Maxwell et al. (1997). Zur Bedeutung der Beziehung zwischen Strategien und Strukturen siehe Miles/Snow (1978). In Anlehnung an Atkinson/Schaefer/Viney (2000), S. 108. In Anlehnung an Rüegg-Stürm (2002), S. 37f. Für eine empirische Untersuchung, welche strukturellen und kulturellen Hemmnisse es für eine Zielerreichung geben kann, siehe auch Schwegler/Schmidt/Keil (2007). Dort wird ebenfalls auf Basis des neuen St. Galler Management-Modells eruiert, warum kleine und mittelständische Unternehmen oft nicht in der Lage sind, Kosteneinsparpotenziale zu nutzen.
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9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
Ökologisches und soziales Engagement als Querschnittsthemen Zentrale Fragestellungen einer adäquaten strukturellen Implementierung der Nachhaltigkeit sind die Aufgabenverteilung und -vereinigung. Zunächst werden die komplexen Aktivitäten im Sinne der Nachhaltigkeitsziele in einzelne Aufgaben aufgeteilt. Dabei ist zu klären, welche Aufgabenträger ökonomische, soziale und ökologische Aufgaben übernehmen, d.h. in welche Managementebenen diese Aufgaben zu integrieren sind. Hier gilt es zu beachten, dass auch ein Unternehmen, das sich wie Otto der Nachhaltigkeit verpflichtet sieht, keine Entscheidungen treffen kann, die das langfristige Überleben des Unternehmens gefährden. Für die Bestandssicherung eines Unternehmens sind die kurzfristige Liquidität, der mittelfristige Erfolg und der Aufbau langfristiger Erfolgspotenziale zentral: Der mittelfristige Unternehmenserfolg stellt die kurzfristige Liquidität sicher, welche es ermöglicht, in langfristige Erfolgspotenziale zu investieren. Erfolgspotenziale sind wiederum die Voraussetzungen dafür, dass ein Unternehmen in der Zukunft erfolgreich wirtschaften kann, z.B. indem es ein positives Unternehmensimage aufbaut. Es ist letztlich immer ein ausgewogenes Zusammenspiel – ein geschlossener Regelkreis dieser kurz-, mittel- und langfristigen Ziele – nötig, um das Überleben eines Unternehmens zu sichern.1308 Die Priorität des kurzfristigen Gewinnziels gegenüber langfristigen Zielen und deren Zusammenwirken spiegeln sich dabei in der Stellung der zuständigen Instanzen in der Aufbauorganisation und den zugeteilten Befugnissen in der Ablauforganisation wider. Dabei werden normative Entscheidungen eher von den oberen Führungskräften, strategische Entscheidungen eher von mittleren Führungskräften und operative Entscheidungen eher von den unteren Führungskräften getroffen.1309 Ein Unternehmen kann – so der Bezugsrahmen – nur dann ein ökologisches und soziales Engagement realisieren, wenn dieses die Existenz des Unternehmens nicht gefährdet, d.h. wenn es in den Regelkreis aus den oben genannten kurz-, mittel- und langfristigen Zielen der Bestandssicherung übersetzt werden kann. Dabei zeigt sich, dass Umweltschutz und soziales Engagement alle Entscheidungsebenen betreffen. So vermag Umweltschutz beispielsweise oftmals kurzfristig Kosten einzusparen, mittelfristig Marktchancen zu eröffnen und langfristig über Reputationseffekte Erfolgspotenziale aufzubauen. Der Aufbau langfristiger Erfolgspotenziale durch Umweltschutz, z.B. durch Reputationseffekte aufgrund des Anbaus ökologischer Baumwolle, erhöht jedoch zunächst die kurzfristigen Kosten eines Unternehmens und macht sich erst mittel- bis langfristig z.B. durch eine bessere Kundenbindung und einen höheren Absatz bezahlt. Daher sind Entscheidungen, in Erfolgspotenziale durch Umweltschutz zu investieren, gegenüber kurzfristigen systematisch in der Defensive. Erstens ist es unsicher, ob die erhofften langfristigen ökonomischen Effekte überhaupt eintreten werden, zweitens können diese „weichen“ Reputationseffekte häufig nicht ökonomisch quantifiziert werden und drittens generieren solche Maßnahmen einen positiven externen Effekt: Während die Abteilung, die diese ökologischen oder sozialen Maßnahmen durchführt, die Kosten oder sonstigen ökonomischen Nachteile alleine trägt, profitiert das gesamte Unternehmen von der Imageverbesserung.
1308 1309
In Anlehnung an Gälweiler (1987), S. 28ff. Vgl. H. Ulrich/Probst (1990), S. 271f.
9.2 Otto: Kontinuierliche Verbesserung des Nachhaltigkeitsmanagements
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Aus all diesen Gründen ist ein Engagement für ökologische und soziale Ziele immer zunächst eine normative Entscheidung, die von der Unternehmensleitung bzw. den Eigentümern ausgehen und getragen werden muss. Denn schließlich sind sie es, welche die ökonomischen Risiken für den Aufbau ökologischer und sozialer Erfolgspotenziale in letzter Konsequenz tragen. Zudem können solche Entscheidungen, die in der Regel einen positiven externen Effekt für das Gesamtunternehmen erzeugen, nur abteilungsübergreifend getroffen werden und sollten in der Regel auch vom gesamten Unternehmen mit finanziert werden. Dennoch ist die obere Führungsebene nicht die einzige, die ökologische und soziale Entscheidungen zu treffen hat. Um beispielsweise Marktchancen durch Umweltschutz nutzen zu können, werden entsprechende Investitionen in Produktentwicklungen und Marketingaktivitäten benötigt, eine Entscheidung, die tendenziell das mittlere Management fällt. Kurzfristige Kosteneinsparungen durch Umweltschutz hingegen werden eher durch die untere Führungsebene identifiziert und entschieden, da diese einen besseren Einblick in bestehende Produktionsprozesse hat. Daher sind die Aufgaben der Nachhaltigkeit in allen Führungsebenen strukturell zu implementieren. Dies gilt für Manager, die die entsprechenden Entscheidungen treffen, ebenso wie für Controller, die als professionelle „Übersetzungsinstanzen“ zwischen ökologischer bzw. sozialer und ökonomischer Kommunikation vermitteln. Umweltschutz und soziales Engagement betreffen in der Regel nicht nur sämtliche Führungsebenen, sondern bedürfen durch die vielfältigen dadurch aufgeworfenen Fragestellungen einer Vielzahl unterschiedlicher Disziplinen. So erfordert beispielsweise der adäquate Umgang mit Gefahrenstoffen oder das Energie- und Stoffstrommanagement naturwissenschaftliches und technologisches Know-how, die Sensibilisierung sowie die Aus- und Weiterbildung von Mitarbeitern in Bezug auf die Nachhaltigkeit pädagogische und psychologische Kenntnisse und die Klärung der Frage, welche sozialen Standards in Entwicklungsländern angemessen sind, ggf. sogar ethnologische und ethische Kenntnisse. Umweltschutz ist darüber hinausgehend auch ein funktionsübergreifendes Thema: Es kann nur dann effektiv und effizient verfolgt werden, wenn die einzelnen Aufgaben entlang des gesamten Produktlebenszyklusses und bzgl. der verschiedenen Umweltmedien sinnvoll vereinigt und dabei Synergieeffekte genutzt und Wechselwirkungen beachtet werden. In diesem Sinne sollten Fragen des Umwelt- und Verbraucherschutzes bereits bei der Produktentwicklung eine Rolle spielen, bestehende Produktionsprozesse kontinuierlich ökologisch und arbeitsschutztechnisch verbessert, die ökologischen und sozialen Wirkungen von Produkten intern und extern kommuniziert und vermarktet, die Logistik ökologisch effizient organisiert werden etc. Nicht zuletzt kommt auch dem Einkauf in vielen Unternehmen eine besondere Bedeutung zu: Die Verantwortung für die unternehmerischen Umweltwirkungen beschränkt sich nicht auf das, was innerhalb der eigenen Werktore stattfindet. In Zeiten geringerer Wertschöpfungstiefen und einer vermehrten Verlagerung umweltintensiver Produktionsprozesse in Entwicklungs- und Schwellenländer ist es wichtig, über einsprechende Lieferanten- und Produktkriterien Einfluss auf die Supply Chain zu nehmen. Damit zeigt sich, dass die Nachhaltigkeit alles in allem ein interdisziplinäres Querschnittsthema ist, das in der Regel sämtliche Managementebenen und sämtliche Funktionen betrifft. Ihre strukturelle Implementierung erfordert daher nicht nur eine adäquate Verteilung der vielfältigen Aufgaben der Nachhaltigkeit an verschiedene Managementebenen und Instanzen,
300
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
sondern ebenso deren zeitliche und sachliche vertikale und horizontale Vereinigung unter Rückgriff auf verschiedene aufbau- oder ablauforganisatorische Instrumente.1310 Diese Instrumente haben die Funktion, auftretende Zielkonflikte effizient und effektiv aufzulösen1311 und bedürfen dabei ebenfalls der Unterstützung durch vor allem integrierende Informationsinstrumente. Ökologisches und soziales Engagement in der Unternehmenskultur Da die Nachhaltigkeit Aufgaben für alle Managementebenen und Funktionen birgt, ist sie im gesamten Unternehmen nicht nur strukturell, sondern auch kulturell zu verankern, da Strukturen alleine das unternehmerische Handeln von Menschen nie vollständig regeln können und dürfen. Dies legt der Bezugsrahmen nahe1312 und wird letztlich durch das vorliegende Fallbeispiel bestätigt, wie anhand der Schilderungen der Verbesserungspotenziale noch herausgearbeitet wird (vgl. Abschnitt 9.2.5). In diesem Sinne vermag nur eine ganzheitliche Lösung, die auch den unternehmenskulturellen Aspekt mit berücksichtigt, das unternehmerische Handeln auszurichten und Konflikte zwischen ökologischen, sozialen und ökonomischen Zielen im Unternehmen im Sinne der Nachhaltigkeit und des langfristigen Überlebens tatsächlich zu lösen. Eine „optimale“ kulturelle Verankerung der Nachhaltigkeit bedeutet nun, dass die Unternehmenskultur ebenso wie die Strukturen einerseits auf eine genuine Moral und andererseits auf den wirtschaftlichen Unternehmenserfolg im Sinne des genannten Regelkreises1313 gerichtet ist. Dies bedeutet, dass Manager und Mitarbeiter ökologische und soziale Werte und Normen verinnerlicht haben und sich gleichzeitig mit dem ökonomischen Unternehmenserfolg identifizieren. Für diese Ziele engagieren sie sich und setzen dabei einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess in Gang. So haben beispielsweise Umwelt- und Sozialmanager neben ihren ökologischen und sozialen auch ökonomische Ziele verinnerlicht, nutzen eigene Handlungsspielräume für Kostensenkungen und Erlössteigerungen und akzeptieren, dass im Unternehmen letztlich das Ziel der Bestandssicherung Vorrang hat. Ebenso haben wirtschaftlichkeitsfokussierte Akteure, wie z.B. Abteilungsleiter und Controller, auch Umweltschutz- und Sozialziele verinnerlicht, nutzen ökonomische Handlungsspielräume zugunsten des Umweltschutzes und des sozialen Engagements und akzeptieren es, wenn Umweltschutz- und Sozialprogramme in Einzelfällen zulasten der (kurzfristigen) Unternehmensgewinne durchgeführt werden. Auf diese Weise kooperieren auch solche Akteure miteinander, deren Aufgaben auf andere, u.U. konfligierende Ziele ausgerichtet sind. Der tägliche Umgang der Menschen untereinander ist dabei im Sinne einer verpflichtenden Kultur durch Verständnis, Vertrauen, eine weitreichende Kooperationsbereitschaft untereinander und ein hohes Verantwortungsbewusstsein gegenüber den unternehmerischen Anspruchs-
1310
1311 1312 1313
Steinmann/Schreyögg (2000), S. 417ff., schlagen verschiedene organisatorische Alternativen für eine Aufgabenvereinigung vor, die je nach hierarchischer Ebene und fachlicher Fragestellung mehr oder weniger gut geeignet sind und auf Grund ihrer unterschiedlichen Stärken und Schwächen auch miteinander kombiniert werden sollten: Hierarchie, Programme, laterale Kommunikation und Prozessorganisation. In Anlehnung an Steinmann/Schreyögg (2000), S. 402. Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 38. In Anlehnung an Gälweiler (1987), S. 28ff.
9.2 Otto: Kontinuierliche Verbesserung des Nachhaltigkeitsmanagements
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gruppen geprägt. Dennoch besteht gleichzeitig eine innovative Leistungskultur, in der ein hohes Maß an Innovativität z.B. durch die Anerkennung und Förderung von Leistungsbeiträgen der Manager und Mitarbeiter, durch die weitreichende Delegation von Verantwortung sowie durch das Einräumen entsprechender Handlungsspielräume gefördert wird. Dies setzt indessen voraus, dass Konflikte nicht aus einem falschen Harmoniebedürfnis heraus vermieden und verschwiegen werden. Stattdessen ermöglicht eine offene und faire Diskussionskultur, dass Zielkonkurrenzen wahrgenommen, unterschiedliche Meinungen geäußert und fruchtbare Kritik geübt wird. Dabei stehen diese verpflichtende und innovationsorientierte Ausrichtung nicht im Widerspruch zueinander – im Gegenteil: Erst eine Vertrauensorganisation gibt Managern und Mitarbeitern die nötige Sicherheit, für ihr Engagement und ihre Offenheit in Bezug auf Verbesserungspotenziale nicht bestraft, sondern belohnt und gefördert zu werden. Erst daraus entstehen eine hohe Solidarität und Loyalität gegenüber dem Unternehmen sowie die Motivation, sich für die Unternehmensziele einzusetzen.1314 9.2.5
Welche Verbesserungspotenziale bargen die Strukturen und Kulturen bei Otto?
Der vorliegende Abschnitt wird nun die beschriebene Ist-Situation der Unternehmensstruktur und -kultur, wie sie im Jahr 2002 bei Otto vorherrschte, mit der Soll-Situation des vorherigen Abschnitts vergleichen. Dadurch werden verschiedene Schwachstellen in den Nachhaltigkeitsstrukturen und -kulturen bei Otto identifiziert und konkrete Maßnahmen zu ihrer Beseitigung vorgeschlagen. Der darauf folgende Abschnitt 9.2.6 wird anschließend zeigen, dass Otto bis dato einige dieser Verbesserungsvorschläge aufgegriffen und umgesetzt hat. Damit wird deutlich, dass Otto den kontinuierlichen Prozess hin zur Verankerung der Nachhaltigkeit im eigenen Unternehmen ernst nimmt und aktiv vorantreibt. Strukturelle Integration der Nachhaltigkeit in den Hauptabteilungen und Tochterunternehmen In den Strukturen bei Otto ist die Nachhaltigkeit auf der obersten Managementebene in der Person des Vorstandsvorsitzenden Dr. Otto und einer Stabsabteilung verankert. Es werden Strategiekonferenzen abgehalten, die für eine Aufgabenvereinigung sowohl horizontal zwischen den Vorständen und der Stabsabteilung als auch vertikal mit den Direktoren sorgen. Damit war die Verankerung der Nachhaltigkeit an der Unternehmensspitze bereits 2002 voll erfolgt. Normative und strategische Entscheidungen zugunsten der Nachhaltigkeit, wie z.B. die Entscheidung, Öko-Baumwolle anzubauen, waren somit unter Einschaltung des Vorstandsvorsitzenden möglich. Eine Schwachstelle in Bezug auf die Integration in den Strukturen bestand vor allem auf der Ebene der Hauptabteilungen und der Tochterunternehmen. Dort erfolgte die Integration der Nachhaltigkeitsziele im Wesentlichen durch die Stabsabteilung Umwelt- und Gesellschaftspolitik und die Strategiemeetings. Der Erfolg der Hauptabteilungen und der Tochterunternehmen wurde ausschließlich anhand ökonomischer Kriterien gemessen. Die Grenzen dieser
1314
Schwegler/Schmidt/Keil (2007) beschreiben diese Art der Unternehmenskultur in einer Studie, die ebenfalls auf dem Bezugsrahmen des St. Galler Management-Modells basiert, als gleichzeitig verpflichtend und veränderungsbereit. Beide Eigenschaften sind zentrale Voraussetzungen dafür, dass ein Unternehmen langfristig erfolgreich im Wettbewerb agieren kann.
302
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
Organisationsform, wie die Entscheidung gegen die Verlagerung eines Warentransportes auf Binnenschiffe in Abschnitt 9.2.3 zeigte, werden vor allem bei Zielkonflikten deutlich. In diesen Fällen werden ökologische und soziale Ziele aus verschiedenen Gründen nur unzureichend verfolgt: Bei ökologischen und sozialen Entscheidungen, die eher taktischen und operativen Charakter haben, kann der Vorstandsvorsitzende nicht eingeschaltet werden. Auch die Stabsabteilung kann nicht jede ökologisch oder sozial relevante Entscheidung, die in den Hauptabteilungen oder Tochterunternehmen gefällt wird, rechtzeitig identifizieren. Und selbst wenn die Stabsabteilung von einer solchen konkreten Entscheidung Kenntnis erlangt, fehlen ihr die Entscheidungsbefugnisse, von wirtschaftlichkeitsfokussierten Managern die Berücksichtigung ökologischer und sozialer Belange zu verlangen. Im Fall strategischer Entscheidungen kann der Vorstand zwar hinzugezogen werden, so dass strategische Entscheidungen zugunsten der Nachhaltigkeit möglich sind. Dies ist jedoch relativ aufwändig, wie der geschilderte Entscheidungsprozess für den Anbau von Öko-Baumwolle zeigte (vgl. Abschnitt 9.2.3). Diese Schwachstellen in der strukturellen Verankerung der Nachhaltigkeit können durch verschiedene Maßnahmen beseitigt werden. Es empfiehlt sich, den Verantwortlichen der Haupt-, und Fachabteilungen sowie der Tochterunternehmen konkrete ökologische und soziale Zielvorgaben im Rahmen eines Management-by-Objectives zu machen, bei dem sich die Entlohnung der Abteilungsleiter auch an der Erreichung ökologischer und sozialer Ziele bemisst. Zusammen mit der Einführung dieses Anreizsystems kann es je nach Aufgabenstellung der jeweiligen Abteilung sinnvoll sein, zusätzlich Nachhaltigkeitsbeauftragte zu integrieren. Diese könnten die Arbeit in den Hauptabteilungen bzw. Tochterunternehmen im Hinblick auf die Erfüllung der sozialen und ökologischen Ziele koordinieren. Für strategische Nachhaltigkeitsthemen erfolgte eine abteilungs- und unternehmensübergreifende horizontale Aufgabenvereinigung bzw. Zusammenarbeit in den jährlich stattfindenden Strategiekonferenzen. Doch diese Einrichtung allein ist für den Einbezug der Verantwortlichen und der Mitarbeiter der Hauptabteilungen und der Tochterunternehmen in die Nachhaltigkeitsarbeit nicht ausreichend: Zum einen sind die zeitlichen Abstände dieser Konferenz zu lang, zum anderen sind das operative Management und die Mitarbeiter der Tochterunternehmen auf diese Weise nicht mit einbezogen. Daher wurden strategische und operative Aufgaben bei Otto gemeinsam in Umweltarbeitsgruppen und dem Umweltnetzwerk ausgeführt. Allerdings waren hier vor allem die Verantwortlichen und Mitarbeiter der Hauptabteilungen mit einbezogen, die der Tochterunternehmen jedoch nicht. Daher galt es, die bestehenden Aktivitäten der nachhaltigkeitsorientierten Arbeitsgruppen und des Netzwerks stärker auch auf die Bedarfe der Tochterunternehmen auszudehnen und die dortigen Manager und Mitarbeiter in diese Aktivitäten besser einzubinden. Ggf. könnte es sinnvoll sein, wenn die räumliche Entfernung zu groß ist oder wenn bei den Tochterunternehmen eigenständige Problematiken auftauchen, vor Ort eigene Arbeitsgruppen zu errichten und diese durch die Experten der Stabsabteilung entsprechend zu unterstützen. Manager und Mitarbeiter der Tochterunternehmen sehen sich tagtäglich dem Spannungsfeld zwischen den unterschiedlichen Aspekten der Nachhaltigkeit ausgesetzt. Dieses können sie nur entsprechend der Unternehmensziele auflösen, wenn sie strukturell in entsprechende Nachhaltigkeitsaktivitäten eingebunden sind. Ein letzter Schwachpunkt betrifft schließlich die Informationsinstrumente des Nachhaltigkeitsmanagements, vor allem in Bezug auf die Bewertung langfristiger ökonomischer Auswir-
9.2 Otto: Kontinuierliche Verbesserung des Nachhaltigkeitsmanagements
303
kungen von Investitionen in ökologische und soziale Erfolgspotenziale. Die kurzfristigen Kosten einer solchen Investition, z.B. in ein verantwortungsvolles Unternehmensimage durch den Anbau von Öko-Baumwolle, können relativ einfach erfasst werden. Aber was sind die langfristigen ökonomischen Auswirkungen? Die Unsicherheit darüber, ob sich eine konkrete Investition in ökologische Erfolgspotenziale bezahlt machen wird oder nicht, hat oft zur Folge, dass ökologische und soziale Ziele tendenziell zu wenig berücksichtigt werden. Quantitativ messbare Zielbeiträge werden in der Regel stärker gewertet als diejenigen, die nicht messbar und schwierig abzuschätzen sind. Dies hat mehrere Gründe: Entscheider sehen sich zumeist komplexen Zusammenhängen gegenüber. Sie konzentrieren sich daher bei dem Versuch, die Komplexität zu handhaben, auf die wichtigsten Zusammenhänge. Dabei werden Entscheider in ihrem Streben nach größtmöglicher Sicherheit versucht sein, diejenigen Zusammenhänge zu selektieren, die sie am besten erfassen und bewerten können. Zudem müssen sich Manager für ihre Entscheidungen und deren Folgen rechtfertigen. Dies fällt umso leichter, je mehr sich eine Entscheidung auf „harte Fakten“ stützt und somit besser begründbar und intersubjektiv nachvollziehbar ist. Ökologische und vor allem soziale Auswirkungen sowie die langfristigen ökonomischen Auswirkungen sozialer und ökologischer Aktivitäten können oft nur abgeschätzt werden. Es ist daher verständlich, dass sie in der Entscheidungsfindung oft nachrangig berücksichtigt werden. Diesem Problem sehen sich letztlich alle Unternehmen gegenüber, und es ist sicherlich auch Aufgabe der Forschung, diese Informations- und Instrumentendefizite zu beheben. Unternehmen können entweder selbst entsprechende Forschungsanstrengungen unternehmen oder durch die Wahl geeigneter struktureller Instrumente das Informationsdefizit zumindest teilwiese zu kompensieren versuchen. So können z.B. in Strategiekonferenzen Entscheidungsunsicherheiten offen diskutiert und auch bewusst eine ökonomisch unsichere Entscheidung zugunsten des Umweltschutzes gefällt werden – vorausgesetzt, die Vorstände sind bereit, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Im Fall von Otto löst sich dieses Problem, indem Dr. Michael Otto als Vorstandsvorsitzender und Eigentümer das Risiko quasi persönlich zu tragen bereit ist und per Hierarchie unsichere nachhaltigkeitsorientierte Entscheidungen treffen kann. Auf strategischer Managementebene der Verantwortlichen der Tochterunternehmen und der Hauptabteilungen treten die Informationsdefizite bei der Konkretisierung des vorgeschlagenen Management-by-Objectives zutage. Dort ist es unerlässlich, die Ziele, an denen die Leistung der Verantwortlichen gemessen wird, genau zu definieren und zu operationalisieren. Hier gilt es, Definitionsprobleme ebenso wie Zielkonflikte frühzeitig, d.h. bereits während der Zielbestimmung, zur Sprache zu bringen und soweit möglich in einem Abstimmungsprozess vorab zu lösen.1315 Kulturelle Integration der Nachhaltigkeit in den Hauptabteilungen und Tochterunternehmen Die oben geschilderten Fallbeispiele (vgl. Abschnitt 9.2.3) weisen nicht nur auf strukturelle Defizite bei Otto hin – sie zeigen auch, dass die Auswirkungen des strukturellen Defizits wesentlich von der Unternehmenskultur in den betreffenden Hauptabteilungen und Tochter-
1315
In Anlehnung an Müller-Christ (2001), S. 161f.
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9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
unternehmen abhängig sind. Die ökonomischen, ökologischen und sozialen Ziele waren (und sind) in der Kultur der Otto GmbH & Co KG fest verankert: Die Umweltverantwortlichen sind sich bewusst, dass ein Unternehmen nur eingeschränkt auf Gewinne verzichten kann, und handeln auch entsprechend. Gleichzeitig halten die wirtschaftlichkeitsfokussierten Manager und Controller der Hauptabteilungen den Umweltschutz und das soziale Engagement für wichtige Ziele und sind stolz darauf, dass Maßnahmen wie das Öko-Baumwollprojekt zulasten kurzfristiger Gewinne in einem privatwirtschaftlichen Unternehmen überhaupt möglich sind. Dadurch wurden die Konflikte zwischen ökologischen und ökonomischen Zielen im Fallbeispiel der Öko-Baumwolle optimal gelöst. Zudem sind die Gestaltungsmöglichkeiten einer Stabsabteilung, welche keine Weisungsbefugnisse besitzt, bei einer nachhaltigkeitsorientierten Kultur größer. So ist es vergleichsweise einfach möglich, die Verantwortlichen in den Haupt- und Fachabteilungen zumindest von der Durchführung solcher ökologischen und sozialen Maßnahmen zu überzeugen, welche keine oder keine nennenswerten ökonomischen Nachteile mit sich bringen. Nicht zuletzt ist aufgrund dieser Kultur bei den Hauptabteilungen zu erwarten, dass die strukturelle Integration der Nachhaltigkeit in die Zielkataloge der Verantwortlichen keine Widerstände hervorrufen, sondern auf fruchtbaren Boden fallen wird. Bei den Tochterunternehmen hingegen war die Integration der Nachhaltigkeit in die Unternehmenskultur nur unzureichend erfolgt. Dies zeigt die Tatsache, dass der verantwortliche Manager im Fall des Warentransportes nicht davon überzeugt werden konnte, trotz minimaler ökonomischer Nachteile zugunsten des Umweltschutzes zu entscheiden. Die Verankerung der Nachhaltigkeit in die Kultur ist sehr wichtig, da nur dann ökologische und soziale Maßnahmen, die zu ökonomischen Zielen beitragen können oder zumindest keine (nennenswerten) ökonomischen Verluste bringen, überhaupt erkannt und realisiert werden. Zudem ist es erst dann möglich, dass umwelt- und sozialorientierte Stäbe die Entscheidungsfindung der Verantwortlichen beeinflussen können. Darüber hinaus setzt auch eine weitergehende strukturelle Verankerung von ökologischen und sozialen Zielen bei den Tochterunternehmen voraus, dass dort ein entsprechendes Bewusstsein vorhanden oder zumindest im Aufbau begriffen ist. Ansonsten ist mit aktivem oder passivem Widerstand gegen diese strukturellen Veränderungen zu rechnen. Letztlich zeigen diese Zusammenhänge, dass eine kulturelle Verantwortung nicht nur für die Realisierung der Nachhaltigkeit, sondern auch für die langfristige Bestandssicherung des Unternehmens zentral ist. Daher wurde im Jahr 2002 deutlich, dass die Nachhaltigkeit verstärkt auch in die Unternehmenskultur der Tochterunternehmen der Otto-Gruppe zu integrieren sein würde, wo sie zum damaligen Zeitpunkt nur unzureichend verankert war. Eine Veränderung der Unternehmenskultur kann jedoch nur in einem mittel- bis langfristigen Prozess und kaum gezielt herbeigeführt werden. Dennoch wird i.Allg. davon ausgegangen, dass es verschiedene Einflussmöglichkeiten gibt:1316 Eine große Wirkung wird dem vorbildlichen Verhalten der Unternehmensführung zugeschrieben, das entsprechend an die Tochterunternehmen zu kommunizieren ist. Insofern kann bei entsprechender interner Kommunikation der Nachhaltigkeitsstrategien gegenüber den Tochterunternehmen Ottos davon ausgegangen werden, dass das proaktive Engagement von Dr. Otto seine Wirkung auch auf die dortige Unternehmenskultur entfaltet.
1316
Zu den im Folgenden aufgeführten Einflussmöglichkeiten auf Unternehmenskulturen vgl. Abschnitt 8.5.3.
9.2 Otto: Kontinuierliche Verbesserung des Nachhaltigkeitsmanagements
305
Ebenso werden die bestehenden Nachhaltigkeitsziele und -strategien des Konzerns und deren Kommunikation in Form von Unternehmensgrundsätzen, -philosophien und -leitbildern die Unternehmenskultur prägen. Dieser Effekt wird allerdings erst dann wirklich wirksam, wenn die Manager und Mitarbeiter der Tochterunternehmen stärker in die Nachhaltigkeitsaktivitäten bei Otto eingebunden werden. Dies könnten die oben genannten strukturellen Verbesserungsvorschläge leisten, durch welche die Verantwortlichen der Tochterunternehmen ebenso wie die unteren Manager und die Mitarbeiter in die Nachhaltigkeitsarbeit direkt mit einbezogen würden. Die damit einhergehende Möglichkeit der Tochterunternehmen, in die Nachhaltigkeitsaktivitäten und -entscheidungen der Otto GmbH & Co KG frühzeitig involviert zu sein, selbst Einfluss nehmen zu können und entsprechend Verantwortung übertragen zu bekommen, hätte vor diesem Hintergrund sicherlich weitreichende positive Rückwirkungen auf die Bereitschaft der Tochterunternehmen, die vorhandenen Nachhaltigkeitsstrategien selbst mitzutragen und umzusetzen. Darüber hinaus können verschiedene Maßnahmen des Personalmanagements ebenfalls auf die Unternehmenskultur der Tochterunternehmen einwirken, z.B. mittels der bereits erwähnten Aus-, Fort-, und Weiterbildungen, Mitarbeitergesprächen,1317 Gruppendiskussionen1318 und einer gezielten Selektierung von Mitarbeitern. 9.2.6
Otto auf dem Weg einer kontinuierlichen Verbesserung
Otto hat diese Herausforderung, die Integration der Nachhaltigkeit in die Hauptabteilungen und Tochterunternehmen voranzutreiben, erkannt und bereits teilweise vorangetrieben. So sind die ökologischen und sozialen Leitlinien des Unternehmens inzwischen konsequent von der Vorstands- über die Direktions- bis auf die Hauptabteilungsebene in konkrete Zielvorgaben heruntergebrochen. Verantwortlich für die Erreichung dieser Ziele sind die jeweiligen Abteilungsleiter. Darüber hinaus befindet sich eine weitergehende Verankerung der Nachhaltigkeit in die strategischen und operativen Bereiche mittels eines monetären Anreizsystems in der Probephase: Bei einer ausgewählten Gesellschaft von Otto wird seit März 2007 die Entlohnung der Manager über ein Prämiensystem an die Erreichung ökologischer und sozialer Ziele gekoppelt. Auch das Problem der unzureichenden strukturellen Verankerung der Nachhaltigkeit bei den Konzerntöchtern ist bei Otto inzwischen erkannt und wird aktiv angegangen: Dort werden seit 2005 die Verantwortlichkeiten für konkrete Nachhaltigkeitsziele den Tochterunternehmen
1317
1318
In Mitarbeitergesprächen können Führungskräfte die Normen und Wertvorstellungen der Nachhaltigkeit gut vermitteln. Die Gespräche können auf drei Ebenen stattfinden: auf persönlicher Ebene zwischen Mitarbeiter und Führungskraft, auf Gruppenebene sowie auf Betriebsebene in Form von Betriebsversammlungen und regelmäßigen Gesprächen zwischen Vorstand und der betrieblichen Interessensvertretung. Vgl. Bertelsmann Stiftung (1996), S. 16. Gruppendiskussionen können durch eine gesteuerte Gruppendynamik jedem Einzelnen die Bedeutung unternehmensinterner Normen- und Wertvorgaben bewusst machen. Wichtiger Faktor für die Wirksamkeit ist dabei die aktive Teilnahme der Anwesenden an der Diskussion und möglichst auch deren Einbezug in konkrete Entscheidungen. Dadurch werden die Veränderungsbereitschaft und -akzeptanz gestärkt und ein Verpflichtungsgefühl jedes Einzelnen gegenüber der Gruppe und den gemeinsam erarbeiteten Zielen und Maßnahmen geschaffen. Darüber hinaus erscheinen Wandelprozesse in Gruppen weniger beängstigend und werden darum in der Regel schneller vollzogen. Vgl. Schreyögg (1998), S. 493f., und Lewin (1958).
306
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
übertragen und verbindlich festgeschrieben. Seit 2006 sind die dortigen Mitarbeiter und Manager zudem in die Aktivitäten des Netzwerks und der Arbeitsgruppen aktiv eingebunden. In Bezug auf die Beseitigung bestehender Informationsdefizite ist Otto schon seit vielen Jahren aktiv. Das Unternehmen arbeitet regelmäßig in Forschungsprojekten mit, in denen neue Informationsinstrumente weiterentwickelt und getestet werden.1319 Zudem hat es inzwischen die damals unter Unsicherheit gefällte Entscheidung zugunsten des Anbaus von ÖkoBaumwolle empirisch abgestützt: Eine Studie1320, die Otto Ende 2006 beim Hamburger Trendbüro in Auftrag gegeben hatte, bestätigt die Vermutung von Dr. Michael Otto, dass es einen Bewusstseinswandel geben und dass Kunden die ökologischen Eigenschaften der Kleidung in Zukunft stärker wertschätzen würden. Die Trendstudie prognostiziert, dass sich der Öko-Boom, wie er heute bereits im Lebensmittel- und Kosmetiksektor auszumachen ist, auf den Textiliensektor ausweiten wird.1321 Das Trendbüro resümiert: „Nach dem Erfolg von Bio-Lebensmitteln und Bio-Kosmetik ist der nächste große Öko-Boom in der Mode zu erwarten. Dabei wird Fair-Play eine ebenso große Rolle spielen wie das gute und gesunde Tragegefühl.“1322
Erste Anzeichen für diesen prognostizierten Öko-Boom sind bereits spürbar: Neben dem Preis, der nach wie vor das wichtigste Kaufkriterium bei Bekleidung ist, werden auch nach Meinung des Forum for the Future (2007, S. 3) die Herstellungsmethoden für Kunden zunehmend wichtiger. So stieg bspw. der Umsatz des Unternehmens „People Tree“, eines Anbieters fair gehandelter und ökologisch angebauter Bekleidung, von 2006 bis 2007 um insgesamt 40 Prozent, während die Märkte für fair gehandelte Produkte und für ökologisch angebaute Baumwolle insgesamt ebenfalls um 40 Prozent wuchsen.1323 Mit seinem frühzeitigen ökologischen Engagement hat sich Otto in diesem Trend letztlich einen großen Wettbewerbsvorsprung gesichert. Schließlich hat Otto mittlerweile auch die Einbindung sozialer Aspekte in die vormals primär ökologisch ausgerichteten Strukturen und damit den Ausbau des Umweltmanagements zu einem Nachhaltigkeitsmanagement weiter vorangetrieben. So nennt sich die vormals für umwelt- und einzelne gesellschaftspolitische Fragen verantwortliche Stabsabteilung inzwischen „Direktionsbereich für Corporate Responsibility“ und sieht sich damit insgesamt für die vielfältigen Fragen der Corporate Responsibility zuständig. Die fachbezogenen Arbeitsgruppen werden nicht mehr als „Umweltarbeitsgruppen“ bezeichnet, sondern als „Best Practice Clubs“, in denen jedoch nicht nur ökologische und soziale, sondern auch allgemeine Aufgaben wie z.B. aus dem Marketing oder Vertrieb bearbeitet werden. Dies spiegelt die Ausweitung der dort behandelten nachhaltigkeitsbezogenen Fragestellungen wider, ebenso wie die Integration dieser Aufgaben in das „allgemeine“ Unternehmenshandeln. Auch das
1319
1320 1321 1322 1323
So bspw. in dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt „EINBLIK – Kumulative Emissionsintensitäten zur Bewertung der Klimaschutz-Performance längs Lieferketten“, das von 2006 bis 2008 unter Federführung des Instituts für Angewandte Forschung der Hochschule Pforzheim durchgeführt wird. Vgl. Otto (2007d) und Otto/Trendbüro (2007). Vgl. Otto (2007d). Otto (2007d). Vgl. Forum for the Future (2007), S. 3.
9.3 Möglichkeiten und Grenzen des Korruptionsverzichts
307
ehemalige „Umweltnetzwerk“ wurde inzwischen zu einem „Zukunftsnetzwerk“ ausgebaut und die Nachhaltigkeitsberichterstattung noch stärker durch weitere soziale Themen ergänzt. Mit dieser Ausweitung der Umweltmanagementstrukturen auf weiter gefasste Nachhaltigkeitsfragen erweist sich Otto nicht nur als Vorreiterunternehmen in Sachen Umweltschutz, sondern auch in Sachen sozialen Engagements, vor allem in dem bei Textilunternehmen hoch sensiblen Bereich der sozialen Standards in der Zuliefererkette. Damit zeigt sich bei Otto ein Zusammenhang, der vorab in Abschnitt 9.1 unter Zugrundelegung des Bezugsrahmens erläutert wurde: dass ein verantwortliches Handeln in Bezug auf die ökologische Umwelt oftmals einhergeht mit einer hohen gesellschaftlichen Verantwortung auch in Bezug auf andere Themen. Die obigen Schilderungen der Situation bei Otto, die genannten Interpretationen, Analysen und Vorschläge basierten auf dem in dieser Arbeit entwickelten Bezugsrahmen. Dieser legt auf einer allgemeinen Ebene dar, welche Zusammenhänge für unternehmerisches Handeln bedeutsam sind, und lieferte so die Anhaltspunkte dafür, welche Komponenten und Wechselwirkungen es hier genauer zu beschreiben und zu analysieren galt. Zudem diente der normative Ansatz als Rahmen dafür, die Entscheidungsprozesse auf ihre Optimalität und die Strukturen und Kulturen auf ihre Zweckmäßigkeit hin zu beurteilen. Damit wurde einerseits der Versuch geführt, die Nützlichkeit des Bezugsrahmens zu demonstrieren,1324 und andererseits aber auch dessen Grenze deutlich: Der Bezugsrahmen konnte weder als fertige Schablone für den Soll-/ Ist-Vergleich herangezogen werden, noch enthält er eindeutige Verbesserungsvorschläge. Vielmehr war es notwendig, den Bezugsrahmen im Sinne eines Leerstellengerüsts um konkrete Ansätze z.B. aus der Organisationstheorie oder der Kulturforschung zu ergänzen. Dennoch zeigt das Fallbeispiel Otto, dass der Bezugsrahmen als Basis für eine Untersuchung komplexer unternehmerischer Zusammenhänge wertvolle Dienste zu leisten vermag.
9.3
Möglichkeiten und Grenzen des Korruptionsverzichts
Der vorliegende Abschnitt wird nun den theoretischen Bezugsrahmen auf eine Frage unmoralischen Handelns von Unternehmen anwenden: namentlich auf Korruption, die in wirtschaftlichen Kreisen weit verbreitet zu sein scheint und regelmäßig für Negativschlagzeilen in den Medien sorgt. Zunächst wird Abschnitt 9.3.1 darlegen, welche Schäden der Gesellschaft durch Korruption entstehen, woraus Unternehmen aufgrund unvollständiger Rahmenbedingungen die moralische Verpflichtung zu Korruptionsverzicht erwächst. Aber kann es sich ein im Wettbewerb stehendes Unternehmen überhaupt leisten, auf Korruption zu verzichten? Zur Beantwortung dieser Frage werden in Abschnitt 9.3.2 zunächst die vielfältigen Zusammenhänge zwischen korruptem Handeln und wirtschaftlichem Unternehmenserfolg mit Hilfe des Bezugsrahmens beleuchtet. Basierend auf diesen Vorarbeiten und dem Bezugsrahmen werden in Abschnitt 9.3.3 schließlich die Möglichkeiten und Grenzen für verschiedene moralische Handlungsstrategien für einen Korruptionsverzicht abgeleitet.
1324
Wie in Abschnitt 5.3.1. begründet wurde, kann ein stichfester Beweis des Kriteriums der Nützlichkeit von Verstehensmodellen letztlich nicht geführt werden.
308 9.3.1
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral Korruption – eine gesellschaftliche Bedrohung
Das Globale Programm der Vereinten Nationen beschreibt den Begriff der Korruption wie folgt: „’Corruption’ (…) includes bribery or any other behaviour in relation to persons entrusted with responsibilities in the public and private sectors which violates their duties as public officials, private employees, independent agents or other relationships of that kind and aimed at obtaining undue advantage of any kind for themselves or others.“1325
Von zentraler Bedeutung ist dabei der Tatbestand, dass ein Akteur seine Stellung – sei es in einer öffentlichen oder privaten Organisation – für die private Vorteilsnahme missbraucht. Dahinter verbirgt sich letztlich ein Prinzipal-Agenten-Problem: Ein Agent hat gegenüber seinem Prinzipal einen Informationsvorsprung. Dieser verschafft dem Agenten den nötigen Spielraum, die ihm obliegenden Pflichten verletzen zu können, um so einen eigenen Vorteil zu erlangen. Im Fall der Korruption ist dabei noch ein dritter Akteur involviert, der den Agenten zu dieser Pflichtverletzung anstiftet, und ihm als Gegenleistung eine Vergünstigung zukommen lässt.1326 Korruption hat somit immer zwei Seiten: eine aktiv Korruption betreibende Partei, die Bestechungsgelder zahlt, und eine passiv Korruption betreibende Partei, die Bestechungsgelder empfängt und diese teilweise sogar erpresst. Der Begriff der Korruption war lange Zeit auf die Bestechung von Personen in öffentlichen Ämtern beschränkt. Inzwischen hat jedoch auch der Tatbestand der Korruption zwischen privaten Akteuren sowohl in die Diskussion als auch in die Gesetzgebung vieler Länder Eingang gefunden. Dies war insofern dringend geboten, als letztlich beide Tatbestände substanzielle gesellschaftliche Schäden verursachen: Durch korruptes Handeln wird der Zugang zu staatlichen Leistungen verzerrt, und die illegale Bereicherung Einzelner führt zu sozialen Spannungen. Korruption untergräbt letztlich den Rechtsstaat und begünstigt organisiertes Verbrechen. Die Bevölkerung verliert aufgrund dessen ihr Vertrauen in staatliche Institutionen, was schließlich gravierende politische Folgen hat: eine Gefährdung der Grundlagen der Demokratie.1327 Aus wirtschaftlicher Sicht werden durch Korruption Mittel verschwendet, indem z.B. Infrastrukturprojekte durchgeführt oder geschäftliche Beziehungen eingegangen werden, die zwar Möglichkeiten für Korruption bieten, aber ansonsten vergleichsweise unwirtschaftlich sind. Damit wird der Wettbewerb verzerrt, was zur Folge hat, dass der Bürger nicht das günstigste öffentliche Gut und der Kunde nicht mehr das preiswerteste Produkt erhält. Politiker und Unternehmensmitglieder wenden außerdem wertvolle Ressourcen auf, um Nutzen stiftende Kontakte – sog. „Vetternwirtschaft“ – zu pflegen, anstatt diese Ressourcen für eine günstigere Produktion privater und öffentlicher Güter zu verwenden.1328
1325 1326 1327 1328
United Nations Office on Drugs and Crime (2005), Artikel 1, S. 260, Hervorhebung im Original. Vgl. Frank (2004), S. 184f. Vgl. Schweizerisches Staatssekretariat für Wirtschaft (2003), S. 9. Dass Korruption schädlich ist für die wirtschaftlichen Aktivitäten, ist laut Thum (2004, S. 4) in der ökonomischen Literatur mittlerweile Konsens. Siehe hierzu bspw. Rose-Ackerman (1975) und (1978).
9.3 Möglichkeiten und Grenzen des Korruptionsverzichts
309
Korruption wirkt zudem als Marktzugangsschranke: Zum einen sind es die Bestechungsgebühren selbst, die seine solche Barriere aufbauen,1329 zum anderen ziehen korrupte Agenten nur eine kleine Anzahl (korrupter) Geschäftspartner in Erwägung, die ihnen altvertraut sind, um auf diese Weise das Risiko einer Entdeckung zu verringern.1330 Auf diese Weise führt Korruption zu weiteren Wettbewerbsverzerrungen, zu Intransparenz und Ressourcenverschwendung. Denn diese Marktzugangsschranken verletzen die Chancengleichheit und verhindern den Eintritt effizienterer Unternehmen in den Markt. Korruption erschüttert letztlich das Vertrauen von Investoren, so dass langfristige Direktinvestitionen tendenziell woanders getätigt werden, was vor allem für Entwicklungs- und Schwellenländer gravierende, da das Wachstum bremsende Folgen hat.1331 Diese Wirkungen zeigen, dass Korruption einer Gesellschaft auch substanzielle wirtschaftliche Schäden zufügt.1332 Korruption nutzt zwar den an der Korruption beteiligten Parteien, zieht jedoch die geschilderten negativen externen wirtschaftlichen und politischen Effekte für die Gesellschaft nach sich. Damit ist Bestechung kein Verhalten, dem alle Akteure in einer Gesellschaft im Sinne Brennans/Buchanans (1993, S. 128ff.)1333 und Hobbes (1970) zustimmen würden, denn sie untergräbt letztlich Wettbewerb und Demokratie, welche beide als grundsätzlich zustimmungsfähige Institutionen gelten können.1334 Damit ist die Forderung nach Korruptionsverzicht eine begründete Norm. Offen ist hingegen die Frage, inwieweit diese Norm in konkreten Situationen Geltung besitzt. Denn nach Homann (1993, S. 37) gelten Normen nur dann, wenn sie den jeweiligen situativen Anreizen nicht entgegenstehen oder durch geeignete Regeln sichergestellt werden können.1335 Welche gesellschaftlichen Regeln bzw. Rahmenbedingungen suchen Korruption zu verhindern? Es gibt eine Vielzahl internationaler Initiativen, welche die Bekämpfung von Korruption wesentlich vorangetrieben haben. 1996 bspw. verabschiedeten die Vereinten Nationen die „Declaration Against Corruption and Bribery in International Commercial Transactions“1336. In dieser einigten sich die Mitglieder darauf, Korruption als Straftat einzustufen, die Möglichkeit
1329 1330 1331
1332
1333 1334
1335 1336
Vgl. Thum (2004), S. 8. Vgl. Murphy/Shleifer/Vishny (1993), S. 413. Gemäß Thum (2004, S. 2ff.) bestätigen empirische Studien, dass Korruption schädlich für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes ist. So zeigt Mauro (1995) bspw. in einer Querschnittsanalyse über 67 Länder, dass Korruption private Investitionen zurückdrängt und damit das Wachstum der betroffenen Länder verringert. Eine Studie von Wei (2000), die sich auf die Auswirkungen der Korruption auf ausländische Direktinvestitionen konzentriert, errechnet, dass eine Erhöhung der Korruption vom Niveau Singapurs (Platz 5 im CPI 2004, dem von Transparancy International ermittelten Corruption Perception Index) auf das Niveau Mexikos (Platz 64) für die Investoren wie eine Erhöhung des Steuersatzes um 20 Prozentpunkte wirkt. Zu den wirtschaftlichen Folgen der Korruption vgl. Staatssekretariat für Wirtschaft (2003), S. 9, und Homann/Blome-Drees (1992), S. 163. Für eine Zusammenfassung dieses Ansatzes siehe Abschnitt 2.3.1. Zur ethischen Begründung der Demokratie vgl. Abschnitt 6.1.1. bzw. Homann/Suchanek (2000), S. 188, mit Bezug auf Brennan/Buchanan (1993), S. 34ff. und 133ff., sowie ausführlicher Homann (1988). Zur ethischen Begründung des marktwirtschaftlichen Wettbewerb vgl. Abschnitt 6.1.2 bzw. Homann/Blome-Drees (1992), S. 47ff. Vgl. die Abschnitte 6.1.1. und 8.2.1. Siehe United Nations (1996).
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9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
des steuerlichen Abzugs von Bestechungsgeldern abzuschaffen und die Entwicklung von Business Codes of Conduct zu fördern. Am 14.12.2005 trat die „UN Convention against Corruption“1337 in Kraft, im Rahmen derer die unterzeichnenden Staaten erklärten, gemeinsam an der Durchsetzung rechtlicher Rahmenbedingungen und deren internationaler Harmonisierung zu arbeiten. Die Weltbank unterstützt eine Vielzahl von Anti-Korruptionsinitiativen und -programmen, schließt korrupte Unternehmen und Individuen temporär oder dauerhaft von Weltbankfinanzierungen aus und veröffentlicht eine Liste der ausgeschlossenen Unternehmen und Personen.1338 Die OECD verabschiedete 1997 die „OECD Convention on Combating Bribery of Foreign Officials in International Business Transactions“1339. Diese trat 1999 in Kraft und verpflichtete die unterzeichnenden Länder, nationale Gesetze gegen die Bestechung ausländischer Amtsträger zu verabschieden. Im Jahr 2000 verabschiedete die OECD „Leitsätze für multinationale Unternehmen“1340, in denen sie Forderungen gegen Korruption im privaten Sektor sowie geeignete Präventionsmaßnahmen formulierte.1341 Auch der Europäische Rat trat 1997 mit einem „Aktionsplan zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität“1342 für eine umfassende Politik zur Korruptionsbekämpfung im öffentlichen und privaten Sektor ein. In den ersten beiden Protokollen des Übereinkommens der EU über den Schutz finanzieller Interessen der Europäischen Gemeinschaften, welche 2002 in Kraft traten, wurden Strafen für die Bestechung auch auf EU-Ebene tätiger öffentlicher Amtsträger definiert und harmonisiert. 2003 wurde ein Rahmenbeschluss1343 verabschiedet, durch welchen sich die Mitgliedsstaaten verpflichteten, auch Korruption im privaten Sektor unter Strafe zu stellen und dabei sowohl private als auch juristische Personen zu belangen. Mit diesen internationalen Initiativen entwickelte sich auch die Rechtsprechung in den OECD-Ländern entsprechend weiter. Vor einigen Jahren beschränkte sich die Bekämpfung der Korruption in Industrieländern auf die Bestechung politischer Amtsträger im eigenen Land, während Bestechungszahlungen an ausländische Amtsträger oftmals – wie auch in Deutschland bis in die 1990er Jahre hinein – sogar steuerlich absetzbar waren.1344 Seit 1998 ist nun gemäß der §§ 334ff. des Strafgesetzbuches (StGB) neben der Bestechung inländischer auch die Bestechung ausländischer Amtsträger unter Strafe gestellt. Nach § 334 Absatz I StGB kann als Höchststrafe eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren verhängt werden. Inzwischen ist Bestechung ausländischer Amtsträger in allen OECD-Staaten strafbar. Seit 2002 besteht in Deutschland nach § 299 StGB ebenfalls eine gesetzliche Handhabe gegen die Bestechung von Verantwortlichen des privaten Sektors, sowohl im Aus- als auch im 1337 1338 1339 1340 1341 1342 1343
1344
Siehe United Nations Office on Drugs and Crime (2003). Vgl. World Bank (2007). Siehe Organisation for Economic Co-operation and Development (1997). Siehe Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2000). Vgl. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2000), S. 27f. Siehe Europäischer Rat (1997). „Rahmenbeschluss 2003/568/JI des Rates vom 22. Juli 2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor“, siehe Europäische Union (2003). Vgl. Littmann/Bitz/Meincke (1992), § 5, Abs. 2065, 2067 und 2068.
9.3 Möglichkeiten und Grenzen des Korruptionsverzichts
311
Inland. Als Höchststrafe ist hier gemäß § 299 Absatz I StGB eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe vorgesehen. Dennoch beklagt die Europäische Kommission, dass der Rahmenbeschluss 2003 des Europäischen Rates von den meisten EU-Staaten bislang nur unzureichend in die eigene Gesetzgebung integriert worden ist.1345 Unternehmen, deren Aktien an einer US-amerikanischen Börse gehandelt werden, unterliegen dem „Securities Exchange Act of 1934“. Dieser stellt die Bestechung öffentlicher Amtsträger explizit unter Strafe.1346 Im Falle eines Verstoßes können sowohl die US-amerikanische Staatsanwaltschaft als auch die Börsenaufsichtsbehörde, die U.S. SEC (Securities Exchange Commission), aktiv werden. Die Höchststrafen umfassen für juristische Personen 2 Mio. US$ und im Fall einer Zivilklage durch die U.S. SEC bis zu 10.000 US-$. Für Privatpersonen, die in ihrer Funktion als Unternehmensangestellte, Aktienbesitzer oder Unternehmensbeauftragte Korruption betreiben, können Strafen bis zu 100.000 US-$ und/oder 5 Jahren Gefängnis verhängt werden. Im Fall einer zivilrechtlichen Anklage durch die U.S. SEC drohen Privatpersonen bis zu 10.000 US-$ Strafe.1347 Auch die US-amerikanischen Handelsplätze, wie bspw. die New York Stock Exchange (NYSE), sehen sich an den Securities Exchange Act of 1934 gebunden.1348 Unternehmen, die gegen diese Vorschrift verstoßen, können aus der New Yorker Börse ausgeschlossen werden.1349 Finanzplätze haben letztlich ein fundamentales Eigeninteresse daran, dass die gehandelten Aktien „sauber“ sind. Denn ihre Kunden, die Anleger (in ihrer Eigenschaft als Prinzipale), werden nur in solche Unternehmen investieren, bei denen sie darauf vertrauen können, dass die dortigen Mitglieder (als ihre Agenten) „saubere“ und transparente Geschäfte betreiben. Neben der rechtlichen Strafverfolgung und einem Börsenausschluss droht korrupten Unternehmen in Industriestaaten in der Regel auch der Ausschluss aus der Vergabe öffentlicher Aufträge, so z.B. seitens des deutschen Staates1350 und der EU.1351 Insgesamt ist die Sensibilität der Öffentlichkeit und der Strafverfolgungsbehörden für das Thema Korruption stark gestiegen, und es wird von Unternehmen zunehmend erwartet, entsprechende unternehmensinterne Vorkehrungen gegen Korruption zu treffen und mit aufgedeckten Straftaten offen und konsequent umzugehen.1352 Dies gilt vor allem für Unternehmen,
1345 1346 1347 1348 1349
1350
1351
1352
Vgl. European Commission (2007). Vgl. Section 30A „Prohibited Foreign Trade Practices by Issuers“ des Securities Exchange Act of 1934. Vgl. Section 32 des Securities Exchange Act of 1934. Siehe bspw. Regel 476 (a) (1) der NYSE. Vgl. die Disziplinarregeln der NYSE, insbesondere Rule 475 „Prohibition or Limitation with Respect to Access to Services Offered by the Exchange or a Member or Member Organization— Summary Proceedings”. Artikel 97, Absatz 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) nennt als Voraussetzung für den Zuschlag eines öffentlichen Auftrages die Geeignetheit des Bieters, worunter u.a. die Zuverlässigkeit, und damit auch die Rechtstreue subsumiert ist. Die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen, Teil A (§ 8a Nr. 1, Abs. I e) und f) VOB/A), die Verdingungsordnung für Leistungen – ausgenommen Bauleistungen, Teil A (§7a Nr. 2 Abs. 1 e) und f) VOL/A) sowie die Verdingungsordnung für freiberufliche Leistungen (§11 Abs 1 e) und f) VOF) nennen Bestechung explizit als Ausschlusskriterium bei der Vergabe EU-weiter öffentlicher Aufträge. Vgl. Rasonyi (2006k).
312
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
deren Aktien an US-amerikanischen Börsen gehandelt werden. Denn die USA, die als Vorreiter in der Korruptionsbekämpfung gelten, schreiben Unternehmen durch den „SarbanesOxley Act of 2002“ hier weitgehende Maßnahmen vor. Trotz dieser verschiedenen Rahmenbedingungen, die Korruption von Unternehmensseite zu verhindern suchen und von denen hier nur die wichtigsten genannt werden konnten, werden immer wieder Gesetzesverstöße bekannt. Die Nichtregierungsorganisation „Transparency International“, welche sich auf Korruptionsbekämpfung spezialisiert hat, schätzt die Dunkelziffer als sehr hoch ein: Lediglich ca. 5 Prozent der Korruptionsfälle, so die Organisation, werden überhaupt aufgedeckt.1353 Dies verdeutlicht, dass die Rahmenbedingungen äußerst lückenhaft sind. Sie sind offensichtlich kaum in der Lage, ausreichend Anreize dafür zu setzen, dass wirtschaftliche und politische Akteure im Rahmen ihres eigeninteressierten Verhaltens auf Korruption verzichten. Im Fall unvollständiger Rahmenbedingungen ist indessen von Unternehmen moralisches Handeln gefordert – und dies, wie der Bezugsrahmen nahelegt, aus wirtschaftlichen und aus moralischen Gründen: x
Unternehmen sind angesichts unvollständiger Verträge auf den Aufbau einer Reputation für Vertrauenswürdigkeit angewiesen, da sie ansonsten als Kooperationspartner nicht in Frage kommen und damit ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage beraubt werden. Aus diesem Grund ist moralisches Handeln, die Allokation von Wertschätzung, für Unternehmen von wirtschaftlich existenzieller Bedeutung. Dies deutet letztlich darauf hin, dass Korruption auch durch den Verlust an Glaubwürdigkeit für Unternehmen wirtschaftliche Verluste zur Folge hat.1354
x
Da der Verzicht auf Korruption zudem eine begründete Norm ist, die jedoch aufgrund unvollständiger Rahmenbedingungen nicht ausreichend forciert wird, erwächst Unternehmen im Sinne der Ökonomischen Ethik auch eine moralische Verpflichtung zu Korruptionsverzicht. Diese Forderung stößt allerdings dort an ihre Grenzen, wo Unternehmen durch ihre Befolgung systematisch Wettbewerbsnachteile in Kauf nehmen müssten.1355
Welche konkreten Möglichkeiten (oder gar Notwendigkeiten) und welche Grenzen gibt es nun für Unternehmen, angesichts wirtschaftlicher und moralischer Gründe, auf Korruption zu verzichten? Inwieweit hat die begründete moralische Norm für sie Geltung? Um dies genauer zu untersuchen, werden in Abschnitt 9.3.2 zunächst die wirtschaftlichen Auswirkungen der Korruption für Unternehmen analysiert. Denn moralische Kommunikation muss immer in ökonomische übersetzt werden, damit Unternehmen sie realisieren können – Unternehmen können nur moralisch handeln, wenn es für sie (im Idealfall kurzfristig, aber zumindest langfristig und überschlägig) wirtschaftlich Sinn macht.1356 Anschließend kann dann in Abschnitt 9.3.3 der Frage nachgegangen werden, welche moralischen Handlungsstrategien Unternehmen zur Verfügung stehen, um im Wettbewerb auf Korruption zu verzichten.
1353 1354 1355 1356
Vgl. Rasonyi (2006). Vgl. Abschnitt 8.2.1. Vgl. die Abschnitte 6.1 und 8.2.1. Vgl. Abschnitt 8.2.
9.3 Möglichkeiten und Grenzen des Korruptionsverzichts 9.3.2
313
Lohnt sich Korruption wirtschaftlich?
Direkte und indirekte finanzielle Effekte korrupten Handelns Wie in Abschnitt 9.3.1 dargelegt, war Korruption im Ausland vor wenigen Jahren noch weitgehend ein Kavaliersdelikt. Diese Tatsache kam am deutlichsten dadurch zum Ausdruck, dass Bestechungszahlungen im Ausland lange Zeit sogar als Betriebsausgaben steuerlich absetzbar waren. Insofern waren korrupte Praktiken an der Tagesordnung. Erst in den letzten Jahren entstanden durch die verschärften Rahmenbedingungen ein größeres Unrechtsbewusstsein und damit einhergehend ein stärkerer Druck auf Unternehmen, korruptes Handeln zu unterlassen. Auf diese Weise ist Korruptionsverzicht vermehrt Bestandteil expliziter und impliziter Verträge zwischen dem Unternehmen und seinen Anspruchsgruppen geworden. Korruption verschafft einem Unternehmen substanzielle kurzfristige Gewinne, die ihm entgehen würden, wenn es moralisch handelte. Gleichzeitig bricht das Unternehmen durch korruptes Handeln jedoch verschiedene explizite und implizite Verträge (i.w.S.). Wenn die Vertragspartner hiervon Kenntnis erlangen, zieht dies für das Unternehmen direkte und indirekte, mehr oder minder weitgehende negative Konsequenzen nach sich: Direkte Konsequenzen sind Vertragsstrafen, die das Unternehmen auferlegt bekommt, wenn es explizite Verträge gebrochen hat. Der Vertragsbegriff wird hier im Sinne der ökonomischen Vertragstheorie1357 weit gefasst und schließt so auch rechtliche Rahmenbedingungen im Sinne eines „Staatsvertrages“ oder Vorschriften wie bspw. seitens der New Yorker Börse mit ein. Vertragsstrafen sind damit im Wesentlichen finanzielle Strafen, Haftstrafen oder Ausschlüsse aus der Vergabe öffentlicher Aufträge oder aus der New Yorker Börse.1358 Wenn ein Unternehmen implizite Verträge bricht, im Rahmen derer es Korruptionsverzicht versprochen hat, erleidet es indirekte negative wirtschaftliche Konsequenzen: Es verliert seine Reputation für Vertrauenswürdigkeit, so dass ihm Reputationskapital, eine wertvolle Unternehmensressource, verlustig geht. Diese Reputation ist jedoch unabdingbar für das Unternehmen, um als Kooperationspartner für seine Anspruchsgruppen überhaupt in Frage zu kommen. Infolgedessen erleidet es Produktivitätsverluste aufgrund x
geringerer Arbeitsteilung,
x
einer Abnahme lukrativer Kooperationschancen,
x
höherer Investitionen in die Signalisierung einer langfristigen Kooperationsbereitschaft sowie
x
höherer Investitionen in Bindungs- und Kontrollmechanismen.1359
Dieser Produktivitätsverlust ist umso größer, je höher die spezifischen Investitionen oder die Unsicherheit von Verträgen und von Informationen in Bezug auf die relevanten unternehmerischen Anspruchsgruppen sind.1360 Wie kommt dieser Reputationsverlust in diesem konkreten Fall zustande, und wie weitreichend ist er?
1357 1358 1359 1360
Siehe Abschnitt 2.1.4. Vgl. hierzu Abschnitt 9.3.1. Vgl. Abschnitt 7.1.4. Vgl. Abschnitt 7.1.4.
314
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
Ein korruptes Unternehmen untergräbt den Wettbewerb, indem es Marktzutrittsschranken aufbaut, den Marktpreis umgeht und stattdessen in „Vetternwirtschaft“ investiert und Bestechungszahlungen tätigt. Damit fügt es verschiedenen Anspruchsgruppen potenziellen Schaden zu. Infolgedessen könnten bspw. die Kunden des Unternehmens bzgl. des als wettbewerbsfähig angenommenen Preis-/Leistungsverhältnisses der Produkte misstrauisch werden. Insofern muss ein Unternehmen, dessen korrupte Praktiken ans Tageslicht kommen, damit rechnen, dass seine Kunden die vertragliche Beziehung aufkündigen und z.B. der Handel die eigenen Waren auslistet,1361 oder dass die Kunden die bisherigen Preise zu drücken versuchen werden. Dieser Verteuerungseffekt durch Korruption könnte jedoch abgemildert werden, wenn das korrupte Unternehmen aufgrund der betriebenen aktiven Bestechung höhere Stückzahlen absetzen, dadurch verstärkt economies-of-scale nutzen und damit wiederum seine Stückkosten senken kann. Dennoch liegt Korruption nicht im Interesse der Kunden – diese profitieren grundsätzlich von einem funktionierenden Wettbewerb, der jedoch von korrupten Unternehmen unterwandert wird. Aus Sicht der kritischen Öffentlichkeit steht, sofern die Korruptionsfälle publik werden, die Legitimität des Unternehmens auf dem Spiel.1362 Die Öffentlichkeit erwartet von Unternehmen, dass sie durch ihr Verhalten nicht die Fundamente der Gesellschaft – Demokratie und soziale Marktwirtschaft – untergraben und sich zumindest an die Gesetze halten. Werden diese Erwartungen enttäuscht, erwächst daraus schlimmstenfalls ein Skandal und das Unternehmen gerät unter starken öffentlichen Druck. Die kritische Öffentlichkeit kann dem Unternehmen zwar keinen direkten finanziellen Schaden zufügen, aber einige Nichtregierungsorganisationen verfügen in der Gesellschaft über substanzielles moralisches Gewicht. Wenn diese den Skandal gezielt (und medienwirksam) ausschlachten und konkrete Forderungen formulieren, können sie starken Einfluss auf die Wahrnehmungen und Ansprüche relevanter Stakeholder ausüben. Denn letztlich sind es diese Stakeholder, welche die Anforderungen dann gegenüber dem Unternehmen vertreten oder ihre Kooperationsbereitschaft zurücknehmen. Der dadurch erzeugte öffentliche Druck kann sich sogar auf die Kooperationspartner ausweiten: Diese haben selbst einen guten Ruf zu verlieren und müssen befürchten, dass auch auf sie ein „schlechtes Licht“ fällt. Sie könnten unter Verdacht geraten, mit dem korrupten Unternehmen „unter einer Decke zu stecken“ und ebenfalls mit in den Skandal verwickelt zu sein. Hierdurch gerät der Kooperationspartner in den Rechtfertigungsdruck, die eigene Unschuld zu beweisen oder diese zumindest glaubwürdig zu beteuern. Des Weiteren könnte der Kooperationspartner auch für die Vergehen des korrupten Unternehmens mit verantwortlich gemacht werden, denn die Öffentlichkeit weist Unternehmen zunehmend eine unternehmensübergreifende Verantwortung auch für Handlungen außerhalb der eigenen Werktore zu. Auf diese Weise gerät der Korruptionspartner unter den Druck, auf eine Beseitigung der Missstände in dem korrupten Unternehmens hinzuwirken oder sich vom diesem zu distanzieren – und das je nach Schwere der Tat nicht nur in Worten, sondern auch in Taten. Darüber hinaus ist auch im Fall der Korruption mit einem spill-over-Effekt zu rechnen:1363 Der Vertrauensbruch des Unternehmens im Hinblick auf das Versprechen, nicht zu bestechen,
1361 1362 1363
Vgl. Neue Zürcher Zeitung, (2006b). Vgl. Abschnitt 8.3.3. Für eine ausführlichere Begründung dieses spill-over-Effekts siehe Abschnitt 9.1.
9.3 Möglichkeiten und Grenzen des Korruptionsverzichts
315
wird dessen Glaubwürdigkeit auch im Hinblick auf andere Versprechungen schmälern, wenn nicht gar zerstören. Auch hier sind wiederum zwei Wirkungsmechanismen denkbar, die diesen Zusammenhang herstellen: die Wahrnehmung des Unternehmens von Seiten seiner Anspruchsgruppen und die Einstellung der Mitglieder, die sich hinter einem unmoralischen Unternehmenshandeln verbirgt. Eine Bestechungsaffäre wird die wahrgenommene Identität des korrupten Unternehmens als „unfair“, „illegal“, „skrupellos“ etc. prägen. Dabei ist es wahrscheinlich, dass der Beobachter diese Wahrnehmung nicht nur auf die Möglichkeit, dass das Unternehmen auch in anderen Transaktionen korrupt handeln wird, beschränkt. Er wird diese Beobachtung höchstwahrscheinlich generalisieren und auf andere Sachverhalte übertragen und das Unternehmen auf diese Weise vorverurteilen. Ein weiterer Wirkungsmechanismus, der diesen spill-over-Effekt verursacht, findet sich bei den Unternehmensmitgliedern. Korruptes Handeln eines Unternehmens ist immer auch ein Handeln von Personen, die in ihrer Funktion als Mitarbeiter oder Manager das Gesetz brechen. Dabei kann vermutet werden, dass die tugendethische Einstellung dieser Mitglieder vielleicht insgesamt, vielleicht auch nur im Rahmen des sozialen Systems Unternehmen, relativ schwach ausgeprägt ist. In den Worten des Bezugsrahmens1364 verfügen diese Mitglieder über ein relativ geringes Moralkapital. Daher ist es wahrscheinlich, dass diese korrupten Mitglieder auch bei anderer Gelegenheit eher bereit sind, illegitim oder gar illegal zu handeln. Eine langfristige Kooperation kann jedoch nur unter der Voraussetzung genuin moralisch handelnder Kooperationspartner gelingen. Ein Korruptionsfall ist indessen ein stichhaltiges Indiz dafür, dass das Unternehmen eben nicht genuin, sondern lediglich strategisch moralisch (und bei Gelegenheit auch strategisch unmoralisch) handelt.1365 Die Glaubwürdigkeit für die eigene Kooperationsbereitschaft, für das Einhalten von Vertragsversprechen, ist damit (weitgehend) verspielt, und ein Misstrauen wird bestehende und zukünftige Kooperationen erschweren oder gar scheitern lassen. Auf diese Weise zeigt sich auch hier wieder deutlich, dass Glaubwürdigkeit, Gerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit, wie es der Bezugsrahmen nahe legt1366, Hand in Hand gehen: Nur nichtökonomische moralische Ziele in ihrer genuinen Form sind glaubwürdig und damit im Hinblick auf die genannten vielfältigen Reputationseffekte ökonomisch wirksam.1367 Die wirtschaftliche Konsequenz dieses spill-over-Effekts ist ein weitgehender Reputationsverlust des Unternehmens, der zu den genannten Produktivitätsverlusten führt. Langfristige und auf Vertrauen angewiesene Kooperationsbeziehungen bspw. zu Kunden, Lieferanten oder zu anderen Unternehmen, mit denen das Unternehmen Kooperationen z.B. im Rahmen eines Joint Ventures eingegangen ist, geraten in Gefahr. Neue Kooperationen auf den Weg zu bringen, wird ungleich schwieriger, bereits getätigte Investitionen in die Signalisierung von Vertrauenswürdigkeit verpuffen weitestgehend.
1364 1365 1366 1367
Vgl. die Abschnitte 8.3.3 und 7.1.5. Siehe hierzu die Abschnitte 8.4.2 und 7.1.1. Vgl. Abschnitt 8.4. In Anlehnung an Abschnitt 8.4.3.
316
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
Insbesondere die Manager und Mitarbeiter werden sich weniger mit dem Unternehmen und dessen Zielen identifizieren und ggf. um ihren Arbeitsplatz fürchten. Ihre Motivation wird sinken, sie werden kündigen oder ihre Teambeiträge reduzieren und u.U. selbst illegal handeln und das Unternehmen grob schädigen. So schreibt auch das Staatssekretariat für Wirtschaft (2003, S. 10): „Wer im Auftrag eines Unternehmens Amtsträger besticht, gerät in Versuchung, selber Geld zu veruntreuen oder sich bestechen zu lassen.“
Zudem wird das korrupte Unternehmen von den Anspruchsgruppen, die von den Bestechungen Kenntnis erlangen, erpressbar.1368 Auch die Akquise guter und zuverlässiger Manager und Mitarbeiter wird für das Unternehmen schwieriger, denn diese werden sich schwerer tun, mit dem Unternehmen eine vertrauensvolle Kooperation einzugehen. Stattdessen wird das Unternehmen eher solche Menschen anlocken, die ihrerseits nicht vertrauenswürdig sind und im Unternehmen die geeignete Spielwiese für ihre Machenschaften vermuten. Letztlich muss also ein unfair und illegal handelndes Unternehmen damit rechnen, dass auch seine Anspruchsgruppen ihm gegenüber unfair und illegal handeln und ihm damit substanzielle Schäden zufügen werden. Die Tatsache, dass Gewerkschaften inzwischen weltweit gegen Korruption aktiv vorgehen, untermauert den Verdacht, dass sich Mitarbeiter tatsächlich durch Korruption im Sinne des spill-over-Effekts zunehmend geschädigt sehen. So gründeten das „Trade Union Advisory Committee to the OECD“, die Organisation „Public Services International“ und die „International Confederation of Free Trade Unions“1369 im Jahr 2001 ein „Global Unions Anti-corruption Network“ mit dem Namen „UNICORN“. Dieses engagiert sich auf vielfältige Weise: Es unterhält u.a. eine Internetseite, auf der Informationen über Korruptionsfälle in multinationalen Unternehmen der OECD zusammengetragen und verbreitet werden, und führt politisch ausgerichtete Forschungsaktivitäten zu verschiedenen Themen rund um Korruption durch.1370 Wesentlicher Grund dafür, dass Gewerkschaften gegen Korruption aktiv werden, ist „the link between corruption and the violation of workers’ and trade union rights“.1371
Nicht nur für die Mitglieder des Unternehmens – auch für die Kunden kann ein Vertrauensbruch weitreichende Folgen haben, und dies nicht nur aufgrund der Befürchtung überteuerter Preise. Wenn ein Unternehmen Erfahrungs-, Vertrauens- oder gar Moralgüter produziert, ist die eigene Reputation für Glaubwürdigkeit ein zentraler Wettbewerbsfaktor. Ein Vertrauensverlust infolge von Korruption kann Kundenbindungen erschweren und zerstören. Infolgedessen bedarf es ungleich höherer Investitionen in Kundenbindungsmechanismen. Für das korrupte Unternehmen wird es zunehmend diffiziler, vertrauensvolle und letztlich gewinnbringende Kooperationen einzugehen und aufrechtzuerhalten, besonders wenn es darum geht, Akteure an sich zu binden, die an sich selbst hohe moralische Anforderungen stellen und darum besonders begehrte, zuverlässige Kooperationspartner wären.
1368 1369
1370 1371
Vgl. Staatssekretariat für Wirtschaft (2003), S. 10. Die „International Confederation of Free Trade Unions“ (ICFTU) bezeichnet sich inzwischen als „International Trade Union Confederation“. Vgl. UNICORN (2007). UNICORN (2007).
9.3 Möglichkeiten und Grenzen des Korruptionsverzichts
317
Einflussfaktoren auf die Höhe und Erfassbarkeit wirtschaftlicher Schäden Welches Ausmaß die geschilderten wirtschaftlichen Schäden durch Korruption haben, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Bereits in den vorherigen Schilderungen wurde implizit deutlich, dass die Art der Verträge, die ein Unternehmen abgeschlossen hat, ein wesentlicher Einflussfaktor ist. Hat ein Unternehmen eher hohe spezifische Investitionen getätigt, sind die eingegangenen Verträge und die zur Verfügung stehenden Informationen weitgehend unsicher und produziert es vorwiegend Vertrauens- und Moralgüter, dann wiegt ein Vertrauensverlust weit schwerer, als wenn das Unternehmen weitgehend vollständige Verträge eingegangen ist.1372 Auch die Erfassbarkeit der wirtschaftlichen Verluste durch Korruption ist abhängig von der Art der gebrochenen Verträge. Im Fall eines expliziten Vertragsbruchs sind die Vertragsstrafen in der Regel ebenfalls explizit festgelegt und die Folgen größtenteils abzuschätzen. Beim Bruch eines impliziten Vertrages sind die Reaktionen der Anspruchsgruppen hingegen oft nur schwer zu prognostizieren, die Wirkungen vielfach mehrdeutig und indirekt und die wirtschaftlichen Auswirkungen somit kaum zu beziffern: Kunden, die gar nicht erst beim Unternehmen kaufen, Arbeitnehmer, die sich beim Unternehmen gar nicht erst bewerben, Wettbewerber, die ein Joint Venture lieber mit einem anderen Unternehmen eingehen, eine sinkende Motivation der Mitarbeiter usw. sind letztlich kaum zu erfassen. Eine ebenso wesentliche Frage für das Ausmaß der wirtschaftlichen Schäden durch Korruption ist folgende: Handeln einzelne Personen illegal, oder handelt es sich um eine systematische Unternehmenspraxis? Mit anderen Worten: Haben einzelne Mitglieder die Lücken der Ordnungsmomente für opportunistisches Handeln genutzt, oder ist das illegale Handeln in die Strategien, Strukturen und Kulturen integriert? Hier sind die Grenzen meist fließend. Starke Indizien bilden die Antworten auf diese Fragen: Wieviele Unternehmensmitglieder sind in die Korruptionsfälle verwickelt? Welche Stellungen haben sie im Unternehmen? Und vor allem: Wer sind die Nutznießer der Korruption? Je mehr hochrangige Personen im Unternehmen in die Korruptionsfälle verwickelt sind und je mehr das Unternehmen selber durch höhere Gewinne von der Korruption profitiert, desto eher kann davon ausgegangen werden, dass Bestechung im Unternehmen eine gängige Praxis ist. Von dieser Einschätzung hängt letztlich ab, ob die illegale Praxis einem einzelnen Akteur oder dem Unternehmen insgesamt angelastet wird. An diesem zentralen Punkt werden schließlich die Höhe und die Adressaten der Vertragsstrafen fest gemacht. Die Aufdeckung von Korruption – ein geringes Risiko Während die wirtschaftlichen Vorteile durch Korruption weitgehend sicher sind, sind die geschilderten negativen Konsequenzen unsicher – nicht nur im Hinblick auf die Höhe der Schäden, sondern auch im Hinblick auf die Schadenswahrscheinlichkeit: Die Schäden treten erst ein, wenn die entsprechenden Anspruchgruppen von der Korruption Kenntnis erlangen. Dass Korruption aufgedeckt wird, ist jedoch höchst unwahrscheinlich, da, wie bereits erwähnt,
1372
In Anlehnung an die Abschnitte 7.1.4 und 7.2.2.
318
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
nach Angaben von Transparency International nur etwa 5 Prozent der Fälle überhaupt bekannt werden.1373 Wird ein Korruptionsfall allerdings aufgedeckt und gelangt er an die Öffentlichkeit, dann treten die direkten und indirekten negativen Konsequenzen in vollem Umfang ein. Erfahren hingegen nur einzelne Anspruchsgruppen, z.B. einzelne Manager, Mitarbeiter oder Geschäftspartner, davon, hängen die Konsequenzen von den jeweiligen Interessenslagen dieser Gruppen ab. Wenn diese nicht selbst von der korrupten Praxis profitieren, werden sie ihr Vertrauen in das Unternehmen verlieren. Dies zieht, je nach Vertragsart und Wirkungsmacht dieser Anspruchspersonen, mehr oder weniger starke negative Konsequenzen nach sich. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass die Wahrscheinlichkeit der Aufdeckung gerade in den letzten Jahren stark gestiegen ist und dieser Trend weiter anhalten wird. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Lücken in den gesetzlichen Rahmenbedingungen werden zunehmend geschlossen, und die Behörden und die Öffentlichkeit sind stärker für das Thema Korruption sensibilisiert und verbessern nach und nach ihre Strategien und Methoden zur Aufdeckung von Korruptionsfällen. Vor allem von großen Unternehmen werden oft weitreichende interne Anti-Korruptionsstrategien und -strukturen verlangt, so dass korruptes Handeln auch im Unternehmen zunehmend schwerer verheimlicht werden kann. Korruption richtet jedoch auch dann Schäden an, wenn sie nicht aufgedeckt wird. In die illegalen Praktiken involvierte Akteure werden, wie bereits beschrieben, tendenziell opportunistisch eingestellt und weitgehend auf ihren eigenen Vorteil bedacht sein. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie ihre opportunistische Einstellung schließlich gegen das Unternehmen selbst richten werden. Schadensbegrenzendes Verhalten Was können Unternehmen bei Aufdeckung eines Korruptionsfalls tun? Wenn Bestechungsskandale ans Licht kommen, hat das Verhalten der Unternehmensführung ebenfalls einen wesentlichen Einfluss auf die damit einhergehenden wirtschaftlichen Konsequenzen. Hier weist der Bezugsrahmen auf die wesentlichen Kernpunkte für ein adäquates schadensbegrenzendes Verhalten hin: Das Unternehmen steht vor der Herausforderung, glaubwürdig die eigene Präferenz zu signalisieren, in der Zukunft auf Korruption zu verzichten, und hierzu im Unternehmen die entsprechenden Fähigkeiten und Möglichkeiten zu schaffen.1374 Zur Signalisierung dieser Präferenz muss das Unternehmen zunächst zeitnah die Geschehnisse scharf verurteilen sowie möglichst umfassende Transparenz in Bezug auf die vergangenen Geschehnisse und deren Ursachen schaffen. Es steht in der Pflicht, die für eine genaue Untersuchung notwendigen Informationen preiszugeben und sich selbst an den Untersuchungen tatkräftig zu beteiligen. Nur so kann es sich von den Geschehnissen glaubwürdig distanzieren und die eigene Bestürzung und Reue kundtun. Neben diesen kurzfristigen Maßnahmen müssen vom Unternehmen jedoch schnellstmöglich auch mittel- bis langfristige Maßnahmen zur Behebung der Missstände in den eigenen Ord-
1373 1374
Vgl. Rasonyi (2006k). Vgl. Abschnitt 8.4.2.
9.3 Möglichkeiten und Grenzen des Korruptionsverzichts
319
nungsmomenten ergriffen werden, um auf diese Weise die notwendigen Fähigkeiten und Möglichkeiten für eine zukünftige Verhinderung von Bestechungen zu schaffen. So sind bspw. die Compliance-Programme und -Audits zu verbessern und die Anreize in den Entlohnungssystemen der Manager, welche bei erfolgreichen Vertragsabschlüssen hohe Erfolgsbeteiligungen vorsehen, umzugestalten, damit korruptes Handeln nicht mehr gefördert wird. Maßgeblich bei all diesen Aktivitäten sind die umfassende Kommunikation und Information der Öffentlichkeit. Dabei gewinnen die Schaden begrenzenden Maßnahmen substanziell an Glaubwürdigkeit, wenn das Unternehmen für deren Planung und Umsetzung Dritte hinzuzieht, welche die relevanten unternehmerischen Anspruchsgruppen als kompetent, vertrauenswürdig und unabhängig anerkennen. Letztlich kann das Unternehmen seine Glaubwürdigkeit nur dadurch wieder herstellen, dass es auf der einen Seite die genannten Präferenzen signalisiert und die entsprechenden Fähigkeiten und Möglichkeiten schafft sowie auf der anderen Seite dafür sorgt, dass diese Anstrengungen von der Öffentlichkeit auch entsprechend wahrgenommen, anerkannt und gewürdigt werden. Oft kann durch dieses Procedere ein großer Teil vor allem der indirekten, aber teilweise auch der direkten wirtschaftlichen Schäden verhindert bzw. reduziert werden. 9.3.3
Kann von Unternehmen Korruptionsverzicht gefordert werden?
Nachdem im vorherigen Abschnitt die wirtschaftlichen Konsequenzen von Korruption dargelegt wurden, geht es im vorliegenden Abschnitt um die Frage: Kann von Unternehmen gefordert werden, auf Korruption zu verzichten? Der Bezugsrahmen beruht in dieser Frage weitgehend auf Homann (1998, S. 32f.), welcher die grundlegende Norm für unternehmerisches Handeln aufstellt, auf defektive Besserstellung zu verzichten. Mit anderen Worten: Unternehmen sollen die eigene Vorteilsmaximierung nicht auf Kosten Anderer betreiben, sondern nach einer pareto-superioren Vorteilsmaximierung streben, durch die auch Andere besser gestellt sind. Da letztlich die Regeln die Orte unternehmerischer Moral sind, lassen sich die folgenden grundsätzlichen Normen ableiten:1375 Unternehmen sollen moralische, d.h. letztlich konsensfähige Regeln einhalten und legal handeln. Zudem sollen sie, sofern Regeln unvollständig sind, interne und/oder externe moralische, d.h. pareto-superiore bzw. konsensfähige, Regeln etablieren. Aus moralischer Sicht kann daher von Unternehmen gefordert werden, die bestehenden Gesetze gegen Korruption einzuhalten. Da diese in Industrieländern die verschiedenen Korruptionstatbestände inzwischen weitgehend berücksichtigen, trifft diese Forderung bspw. in Deutschland auf Bestechung sowohl im politischen als auch im privaten Sektor zu.1376 Auch wenn die Durchsetzung dieser gesetzlichen Rahmenbedingungen lückenhaft ist, kann Korruptionsverzicht dennoch moralisch gefordert werden, selbst wenn Unternehmen dadurch u.U. auf kurzfristige Gewinne verzichten müssen. Allerdings kann in einer solchen Situation die Einhaltung dieser Forderung, wie anhand der vielen Negativschlagzeilen immer wieder deutlich wird,1377 aus wirtschaftlicher Sicht nicht unbedingt erwartet werden. Befinden sich
1375 1376 1377
Vgl. Abschnitt 8.2.1. Zu den Rahmenbedingungen gegen Korruption siehe Abschnitt 9.3.1. Siehe hierzu das Fallbeispiel Siemens in Abschnitt 9.4.1.
320
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
Unternehmen infolgedessen in einer Dilemmasituation, die sie dazu zwingt, unmoralisch zu handeln? Besteht nicht die Gefahr, dass moralisch handelnde Unternehmen mittelfristig aus dem Markt verdrängt werden? Um diese Fragen zu beantworten und dabei die moralische Forderung nach Legalität zu untermauern, ist es an dieser Stelle hilfreich, einen Blick auf die Rahmenbedingungen, denen ein Unternehmen in dieser Situation ausgesetzt ist, zu werfen und dabei im Sinne Brennans/ Buchanans (1993)1378 zwischen unterschiedlichen Regelebenen zu unterscheiden. Wenn ein Unternehmen vor einer Entscheidung zwischen verschiedenen Rahmenbedingungen steht, z.B. bei der Errichtung eines Unternehmensstandorts, sieht sich bspw. der Standort Deutschland mit anderen Standorten dieser Welt im Wettbewerb. Dabei zeichnet sich Deutschland auf der einen Seite durch ein hohes Maß an Rechtssicherheit, ein weitgehend funktionierendes Bankenwesen, einen relativ hohen Bildungsstandard, eine weit ausgebaute Infrastruktur und geringe politische Risiken aus. Auf der anderen Seite sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen vergleichsweise strikt und die Löhne sowie die ökologischen, arbeitsrechtlichen und sozialen Anforderungen an die Unternehmenstätigkeit vergleichsweise hoch. Auf dieser Entscheidungsebene besteht für ein Unternehmen insofern eine Dilemmasituation, als es sich bei der Standortwahl primär nach ökonomischen Kriterien richten muss, u.U. zulasten ökologischer und sozialer Standards oder vergleichsweise vollständiger Rahmenbedingungen. Wenn sich ein Unternehmen dennoch für den Standort Deutschland entscheidet, dann vermutlich deshalb, weil dort trotz der relativ hohen gesetzlichen Anforderungen die rechtlichen, infrastrukturellen etc. Rahmenbedingungen viele Vorteile bieten. In dem Fall unterwirft sich das Unternehmen freiwillig den in Deutschland herrschenden Rahmenbedingungen und stimmt ihnen durch die Standortwahl implizit zu. Auch als implizite Zustimmung ist zu werten, wenn sich die Unternehmensstandorte aus historischen Gründen in Deutschland befinden, denn das Unternehmen hätte grundsätzlich die Wahl einer Standortverlagerung ins Ausland.1379 Mit dieser Zustimmung geht das Unternehmen die moralische Verpflichtung ein, sich an die deutschen Regelungen zu halten, und handelt ungerecht, wenn es diese bricht.1380 Dies gilt auch für die Anti-Korruptionsgesetze in Deutschland. Mit anderen Worten: Wenn sich das Unternehmen für den Standort Deutschland mit all seinen aus Unternehmenssicht vorteilhaften Rahmenbedingungen entscheidet, verpflichtet es sich, auch die nachteiligen Rahmenbedingungen zu akzeptieren. Da sich zudem auch die Wettbewerber in Deutschland an diese Rahmenbedingungen halten müssen, kann von einer Dilemmasituation, welche das Unternehmen zum Unterlaufen der Korruptionsgesetze zwingen würde, keine Rede sein. Im Gegenteil: Wenn der Gesetzesbruch durch das Unternehmen Schule machen würde und viele andere Unternehmen ebenfalls die gesetzlichen Vorschriften unterwandern würden, würde eine Dilemmasituation erst geschaffen werden und der Wettbewerb und die Demokratie als wesentliche gesellschaftliche Errungenschaften unterwandert werden. In diesem Fall würde das Unternehmen Einfluss auf die Rahmenordnung nehmen – hier allerdings mit negativen gesellschaftlichen Folgen.
1378 1379 1380
Siehe Abschnitt 2.3.1. Vgl. Abschnitt 2.3.1 sowie Brennan/Buchanan (1993), S. 128ff. Vgl. Abschnitt 2.3.1 sowie Brennan/Buchanan (1993), S. 128ff., mit Bezug auf Hobbes (1970), S. 129.
9.3 Möglichkeiten und Grenzen des Korruptionsverzichts
321
Dennoch kann ein Korruptionsverzicht kurzfristige Gewinneinbußen zur Folge haben. Hier können moralisch handelnde Unternehmen versuchen, unter Rückgriff auf die folgenden moralischen Strategien1381 ihren eventuellen ökonomischen Nachteil auszugleichen: Im Sinne einer erweiterten ordnungspolitischen Strategie können sie versuchen, die Regeln der Dilemmasituation aufzulösen, so dass Korruption nicht mehr die dominante Handlungsstrategie der Akteure darstellt. Hier können Unternehmen direkt versuchen, die bestehenden Lücken in der Rahmenordnung, bspw. auf Ebene der Gesetzgebung, der internationalen Initiativen oder auf Branchen- oder Unternehmensebene, zu schließen. Dabei empfiehlt sich die folgende von Homann/Blome-Drees (1992, S. 163ff.) beschriebene Vorgehensweise: Korruption lässt sich immer auf ein Prinzipal-Agenten-Problem zurückführen.1382 Derjenige, der in erster Linie durch Bestechungen geschädigt wird, ist der Prinzipal. Damit hat ein moralisches Unternehmen in dem Prinzipal einen Verbündeten, denn dieser hat ein großes Interesse daran, dass das korrupte Verhalten des Agenten unterbunden wird. So kann das Unternehmen bspw. in dem Fall, dass ein Beamter im Rahmen eines Vergabeprozesses öffentlicher Aufträge Bestechungsgelder verlangt, sich an dessen Dienstaufsicht wenden, die i.d.R. um den guten Ruf der Behörde besorgt sein und die entsprechenden personellen Konsequenzen ziehen wird. Sollte jedoch die gesamte Behörde diese korrupte Praxis billigen, hat das Unternehmen die Möglichkeit, die Öffentlichkeit und die Strafverfolgungsbehörden in Kenntnis zu setzen. Denn letztlich sind es die Steuerzahler, die durch korrupte Behörden geschädigt werden. Falls es indessen nicht möglich sein sollte, die Rahmenbedingungen zu beeinflussen oder sich an den Prinzipal zu wenden, bspw. wenn ein gesamtes Staatswesen korrupt ist und über kein ordentliches Gerichtswesen verfügt, bleibt dem Unternehmen als weitere Möglichkeit die Wettbewerbsstrategie. Wie im vorherigen Abschnitt deutlich wurde, birgt Korruption nicht nur wirtschaftliche Vorteile, sondern ist auch mit teilweise recht hohen wirtschaftlichen Risiken verbunden. Wie hoch das Risiko jeweils ist, hängt dabei von vielen Faktoren ab. Insofern kann der Verzicht auf Korruption durchaus Teil eines langfristig lohnenswerten Risikomanagements sein. Das Unternehmen verzichtet dabei zwar kurzfristig auf Gewinne, vermeidet aber das Risiko diverser kurz- bis langfristiger wirtschaftlicher Schäden und kann damit u.U. einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung der eigenen langfristigen Existenz leisten. Damit wird an dieser Stelle deutlich, dass die Möglichkeiten einer Wettbewerbsstrategie umso größer sind, je höher das finanzielle Risiko der Korruption für das Unternehmen ist, d.h. bspw. je höher die gesetzlich auferlegten Strafen oder die Reputationsverluste sind. Dies zeigt, wie wichtig letztlich die Rahmenbedingungen für die Unterbindung von Korruption sind. Zudem hat das Unternehmen auch die Möglichkeit, Rahmenbedingungen im Sinne der Bildungsstrategie zu beeinflussen, d.h. die Missstände offen zu legen und die Öffentlichkeit für die Zusammenhänge der Korruption und deren desaströse Wirkungen für eine Gesellschaft zu sensibilisieren. Bislang wurde davon ausgegangen, dass Korruption illegal und damit – weil es sich bei den Anti-Korruptionsgesetzen um gerechte Regeln1383 handelt – unmoralisch ist. Wenn Korruption jedoch insgesamt oder in bestimmten Formen nicht illegal ist, wie z.B. in den Jahren, 1381 1382 1383
Siehe Abschnitt 8.5.2. Vgl. Abschnitt 9.3.1. Zur Begründung hierfür siehe Abschnitt 9.3.1.
322
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
bevor die gesetzlichen Lücken in Industrieländern weitgehend geschlossen wurden, fallen das legitime und legale Handeln auseinander. Kann von Unternehmen auch in diesem Fall verlangt werden, auf Korruption zu verzichten? Sofern sich Unternehmen in keiner direkten Wettbewerbssituation und damit in keiner Dilemmasituation befinden, kann von ihnen gefordert werden, auf Korruption zu verzichten. Dies betrifft den Fall der passiven Korruption, in der Unternehmen bzw. deren Mitglieder Bestechungsgelder erhalten, und zwar unabhängig davon, ob sie die Gelder direkt einfordern (u.U. sogar erpressen) oder freiwillig angeboten bekommen. Dies gilt allerdings nur für die Akteure, welche die passive Korruption aus freien Stücken betreiben oder die Anweisungen hierzu erteilen. Ein Mitarbeiter, welcher die Bestechungszahlungen im Auftrag seines Vorgesetzten fordert, befindet sich hingegen in einer Abhängigkeits- und damit in einer Dilemmasituation. Er könnte u.U. auf die erläuterten moralischen Strategien zurückgreifen. Doch auch im Fall der aktiven Korruption gibt es durchaus Situationen, in denen verlangt werden kann, Bestechungen zu unterlassen: Wenn das Unternehmen bzw. der korrupte Akteur in einer konkreten Situation keiner direkten Dilemmastruktur1384 in der Weise ausgesetzt ist, dass ein Korruptionsverzicht direkte Gewinneinbußen oder sonstige systematische Wettbewerbsnachteile zur Folge hätte. Während kollektive Akteure jedoch oftmals aufgrund des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs in Dilemmasituationen befinden, wird dies bei individuellen Akteuren vermutlich seltener der Fall sein. So können Konsumenten bspw. in aller Regel für den Kauf von Produkten zwischen verschiedenen Herstellern auswählen oder Kapitalanleger zwischen verschiedenen Aktien oder sonstigen Kapitalanlagen auswählen. Allerdings sind auch hier vielfältige Dilemmasituationen denkbar, wenn ein Konsument sich bspw. einem Angebotsmonopolisten gegenüber sieht und auf dessen Produkte dringend angewiesen ist. Und auch ein Kapitalanleger kann spezifische Investitionen getätigt und dadurch von dieser abhängig sein. Des Weiteren haben Individuen in ihrer Rolle als Arbeitnehmer auch nicht immer volle Entscheidungsfreiheiten, wenn z.B. die Arbeitsmarktlage schlecht und er aus familiären Gründen nicht räumlichen flexibel ist. In den Fällen, in denen sich Akteure nun in Dilemmasituationen befinden, kann gefordert werden, dass sie durch die beschriebenen erweiterten ordnungspolitischen Strategien oder Wettbewerbsstrategien die Dilemmasituation aufzulösen versuchen. Wenn Unternehmen diese Strategien wirklich ernst nähmen, wäre vermutlich ein weitreichender Verzicht auf Korruption auch dann möglich, wenn Korruption nicht illegal ist. Dennoch mag es Situationen geben, in denen sich ein Unternehmen in einer direkten Wettbewerbssituation befindet, die Rahmenbedingungen nicht beeinflussen kann und die Korruption relativ zum finanziellen Risiko sehr lohnenswert ist. Hier kann eine Befolgung der Forderung nach Korruptionsverzicht dort an Implementierbarkeitsgrenzen stoßen, wo Unternehmen durch ihre Einhaltung systematisch Wettbewerbsnachteile in Kauf nehmen würden.1385 In einer solchen Situation kann es angezeigt sein, ein Unternehmen aus der moralischen Forderung nach Korruptionsverzicht zu entlassen.
1384 1385
Zu den Schilderungen der Auswirkungen von Dilemmasituationen siehe Abschnitt 6.1.1. Vgl. Abschnitt 8.2.1.
9.4 Siemens: Erfolgreich dank Korruptionsstrategie?
323
Trotzdem sollte das Unternehmen auch in diesen Fällen zumindest ein Bemühen erkennen lassen, die Rahmenbedingungen im Sinne der Bildungsstrategie zu beeinflussen und die Missstände offen zu legen. Auch wenn das Unternehmen dadurch die „Spielregeln“ der Situation nicht sofort ändert, kann es dennoch dazu beitragen, erste Voraussetzungen hierfür zu schaffen, indem es versucht, die Öffentlichkeit für die Zusammenhänge der Korruption und deren desaströse Wirkungen für eine Gesellschaft zu sensibilisieren. Die weitgehend theoretischen Zusammenhänge, wie sie im vorliegenden Abschnitt 9.3 auf Basis des theoretischen Bezugsrahmens entwickelt wurden, werden nun im folgenden Abschnitt anhand der von Ende 2006 bis Mitte 2007 bei Siemens aufgedeckten Korruptionsvorfälle illustriert.
9.4
Siemens: Erfolgreich dank Korruptionsstrategie?
9.4.1
Korruptionsfälle bei Siemens
Die 1847 gegründete Siemens AG mit Sitz in München und Berlin hielt die Öffentlichkeit seit November 2006 monatelang durch verschiedene im Laufe der Untersuchungen immer weitere Kreise ziehende Korruptionsvorfälle in Atem. Für die vorliegende Arbeit sind diese Skandale aus mehrfachen Gründen höchst interessant: Zum einen decken sie ein breites Spektrum unterschiedlicher Arten, Tragweiten und Interessenslagen für Korruption ab. Zum anderen zeigt sich bei Siemens augenscheinlich ein Widerspruch: Das Unternehmen sah sich mutmaßlich durch einen gravierenden Vertrauensverlust zutiefst in seinen Grundfesten erschüttert, agierte aber dennoch wirtschaftlich höchst erfolgreich. Die Wechselwirkungen zwischen unmoralischem Handeln und wirtschaftlichem Erfolg sind in diesem Fallbeispiel somit äußerst vielschichtig. Die Schilderungen der mannigfaltigen Korruptionsvorfälle im gesamten Abschnitt 9.4 stellen dabei nur einen Zwischenstand – den Stand der wichtigsten Schlagzeilen bis 14. Juli 2007 – dar. Sie geben lediglich Pressemeinungen wieder und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Da zum Zeitpunkt des Abschlusses der vorliegenden Arbeit weder die laufenden Untersuchungen der meisten Vorfälle noch ihre rechtliche Bearbeitung abgeschlossen waren, können die genauen Tathergänge nicht genau rekonstruiert werden. Die meisten der folgenden Darstellungen gründen sich somit auf noch ungeklärte Verdachtsmomente. Siemens produziert schwerpunktmäßig industrielle Erzeugnisse aus den Bereichen Elektrotechnik und Elektronik, des Maschinenbaus und der Feinmechanik und bietet auf diesen Gebieten branchen- und systemspezifische Lösungen an.1386 Dabei kann das Unternehmen weltweit beeindruckende Erfolgszahlen vorweisen: Der Umsatz betrug im Jahr 2006 96 Mrd. EUR, was verglichen mit dem Vorjahr einer Steigerung von 16 Prozent entspricht. Die Gewinnsteigerung betrug gegenüber dem Vorjahr sogar 35 Prozent und erreichte im Jahr 2006 über 3,0 Mrd. EUR.1387 Dieser Erfolgskurs setzte sich auch im Jahr 2007 fort: Im ersten Quartal kletterte der Gewinn nach Steuern um 36 Prozent auf 1,3 Mrd. EUR, während der
1386 1387
Vgl. Siemens (2006). Vgl. Siemens (2007b), S. 2.
324
9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
Umsatz um 10 Prozent auf 20,6 Mrd. EUR anstieg.1388 Weltweit beschäftigte Siemens im Jahr 2006 474.900 Mitarbeiter und war mit knapp 190 Ländern in fast allen Ländern dieser Welt tätig.1389 Gleichzeitig sah sich der Konzern in weitreichende Korruptionsvorfälle verwickelt, durch die er vor allem seit Ende 2006 monatelang regelmäßig in die Schlagzeilen der Medien geraten war. Diese stellten die Insolvenz der vormaligen Siemens-Handysparte1390 sowie den Fall um die schweizerische Siemens-Pensionskasse1391, die dem Unternehmen ebenfalls in diesem Zeitraum Imageschäden zufügten, bei weitem in den Schatten. Die Korruptionsvorwürfe nahmen bei der Siemens-Telekommunikationssparte Com ihren Anfang und zogen weite Kreise bis in die Compliance-Abteilung und das Top Management des Siemens-Konzerns. Im November 2006 wurden zunächst Verdachtsmomente auf Geldwäscherei laut, die mutmaßlich über Konten, u.a. in der Schweiz, Liechtenstein und Österreich, abgewickelt worden war, vermutlich mit dem Zweck, im Ausland über Schmiergeldzahlungen an Aufträge zu gelangen.1392 Medienberichten zufolge hätte es handfeste Hinweise gegeben, dass die Mobilfunksparte (ICM) von Siemens maßgeblich in die Geldwäschetransaktionen involviert gewesen war. Es wären laut einem streng vertraulichen Bericht der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG vom 9. November 2006 zwischen 2005 und 2006 rund 1,7 Mio. EUR aus ICMKassen an die Schweizer Siemens-Tochter Intercom Telecommunications Systems (Intercom) geflossen. Es hätte der Verdacht bestanden, dass Intercom in diesem Zeitraum systematisch Schmiergeldzahlungen gewaschen hatte. So wären möglicherweise u.a. über sog. „Business Consultant Agreements“ insgesamt mehrere Millionen EUR von Intercom an diverse Unternehmen bspw. in China gegangen. Für die Zahlungen wären weder die Empfänger noch die Leistungen klar identifizierbar gewesen.1393 Insgesamt wurde der Verdacht laut, dass Gelder in Höhe von mindestens 200 Mio. EUR abgezweigt wurden, um über Bestechungen in mehr als zehn Ländern Europas, Afrikas, Asiens und Lateinamerikas an wertvolle Informationen und lukrative Aufträge heranzukommen.1394 Untersuchungen im Auftrag von Siemens selbst veranschlagten die fragwürdigen Zahlungen in der Telekommunikationssparte sogar auf eine Höhe von 420 Mio. EUR.1395
1388
Vgl. Siemens (2007a), S. 1. Vgl. Siemens (2007b), S. 34. 1390 Siemens sah sich hier den Vorwürfen ausgesetzt, die ehemaligen Mitarbeiter seiner Handysparte arglistig getäuscht zu haben und seine Handysparte im Juni 2005 bereits mit dem Ziel an die taiwanesischen Elektronikkonzern BenQ verschenkt zu haben, die Beschäftigten der unprofitablen Sparte zu geringen Kosten loszuwerden. Die Vorwürfe wurden nicht zuletzt dadurch angeheizt, dass sich das Siemens-Management zu einer Zeit, als vorab tausende Mitarbeiter der Sparte entlassen worden waren, eine 30-prozentige Gehaltserhöhung genehmigt hatte. Vgl. Rasonyi (2006b), (2006c) und (2006g). 1391 In diesem Fall ging es um den Verdacht auf Entgegennahme von Schmiergeldern und auf Verletzungen der arbeitvertraglichen Treuepflicht durch den damaligen Anlagechef der Pensionskasse. Vgl. Hug (2007) und (2006) sowie Enz (2006). 1392 Vgl. Rasonyi (2006d). 1393 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung (2007) m.w.N. 1394 Vgl. Rasonyi (2006e). 1395 Vgl. Ziegert (2007). 1389
9.4 Siemens: Erfolgreich dank Korruptionsstrategie?
325
Im Einzelnen wurde Siemens bspw. vorgeworfen, Mitte der 1990er Jahre bei einem Geschäft im Rahmen der Privatisierung der italienischen Telekommunikation einen Spitzenbeamten mit 5 Mio. EUR bestochen zu haben. Zum damaligen Zeitpunkt konnte diese Schmiergeldzahlung in Deutschland legal als Aufwendung verbucht und steuerlich abgesetzt werden. Zudem, so wurde gemutmaßt, sollte Siemens im Vorfeld der Olympischen Spiele 2004 in Athen an Mitarbeiter des griechischen Innenministeriums Bestechungsgelder gezahlt haben, um sich Aufträge zu sichern.1396 Im März 2007 gestand ein ehemaliger Manager und Berater von Siemens, dass Mitarbeiter des italienischen Energiekonzerns Enel zwischen 1999 und 2002 mit knapp 6 Mio. EUR bestochen worden wären, um zwei Kraftwerksaufträge in Höhe von 450 Mio. EUR zu bekommen. Er betonte, die Zahlungen seien seitens der Enel-Mitarbeiter eingefordert worden, verbunden mit der Drohung, die Vertragsverhandlungen ohne eine solche Zahlung abzubrechen. In diesem Geständnis wurde zum ersten Mal explizit die Aussage gemacht, Schmiergeldzahlungen wären eine jahrelange gängige Praxis bei Siemens gewesen, von der Konzernverantwortliche Kenntnis gehabt hätten. Diese Praxis sei nicht auf Italien beschränkt gewesen, sondern wäre auch in anderen Regionen der Welt angewandt worden. Sie sei aber auch bei der Konkurrenz in Italien üblich gewesen.1397 Bereits im November 2006 gestand laut Medienberichten ein verdächtiger ehemaliger Mitarbeiter von Siemens, auch führende Mitarbeiter der Compliance-Abteilung von Siemens wären in die Korruptionsvorfälle verwickelt gewesen. Eine Führungskraft aus dieser Abteilung hätte ihn im Jahr 2002 dazu gedrängt, Schwarzgelder über österreichische auf schweizerische Konten zu transferieren, weil zum damaligen Zeitpunkt die Gefahr bestanden hätte, die Gelder könnten enttarnt werden. Mitte 2006 hätte ihn eine Führungskraft der Compliance-Abteilung dazu angeregt, für den Fall eines Ermittlungsverfahrens in Deutschland Informationen zurückzuhalten. Es wäre in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeit zusätzlicher Pensionszahlungen angedeutet worden.1398 Mitte Dezember 2006 wurde schließlich auch das Topmanagement von Siemens von der Affäre erfasst: Ein früherer Zentralvorstand von Siemens und Leiter der Telekommunikationssparte Com wurde verhaftet. Nach Aussagen von inhaftierten Siemens-Mitarbeitern hätte dieser bereits früh von den Veruntreuungen gewusst.1399 Medienberichten zufolge sollte der Beschuldigte dies wenige Tage später selbst eingeräumt haben, jedoch nicht ohne dabei zu betonen, das Ausmaß von bis zu 420 Mio. EUR nicht gekannt zu haben. Der angebliche Vorwurf subalterner Manager, die gesamte Konzernleitung müsste von den Korruptionsfällen gewusst haben, wurde von Heinrich von Pierer, der in dem besagten Zeitraum Konzernchef gewesen war und 2005 in den Aufsichtrat gewechselt hatte, jedoch bestritten.1400 Im Januar 2007 wurde schließlich ein weiterer Spitzenmanager vernommen: Ein ehemaliger Finanzvorstand der Siemens-Kraftwerksparte und gleichzeitig enger Vertrauter von Heinrich von Pierer. Belastenden Aussagen Beschuldigter zufolge sei auch dieser schon früh über die 1396 1397 1398 1399 1400
Vgl. Neue Zürcher Zeitung (2006e). Vgl. Neue Zürcher Zeitung (2007a). Vgl. Rasonyi (2006k) m.w.N. Vgl. Rasonyi (2006i). Vgl. Rasonyi (2006l).
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9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
schwarzen Kassen informiert gewesen und habe dubiose Zahlungen gedeckt.1401 Anfang Mai 2007 mussten sich dieser damalige Finanzchef sowie ein früherer Siemensberater schließlich wegen der Bestechung zweier Geschäftsführer des italienischen Stromkonzerns Enel vor dem Landgericht Darmstadt verantworten.1402 Die Staatsanwaltschaft forderte für den Finanzchef dreieinhalb Jahre Haft, für den mitangeklagten Berater eine Bewährungsstrafe von eineinhalb Jahren. Von dem Unternehmen Siemens wurde gefordert, 97,7 Mio. EUR aus dem EnelGeschäft an die Staatskasse abzuführen. Die Verteidigung des Finanzvorstands plädierte indessen auf Freispruch. Es wäre diesem zwischen 1999 und 2000 nicht bewusst gewesen, dass die Bestechung von Geschäftsleuten im Ausland strafbar gewesen wäre.1403 Der frühere Finanzvorstand wurde schließlich Medienberichten zufolge noch im Mai wegen des Tatbestands der Bestechung im geschäftlichen Verkehr und Untreue zu einer Haftstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt und musste 400.000 EUR an gemeinnützige Organisationen entrichten. Der ehemalige Berater wurde wegen Beihilfe zu neun Monaten auf Bewährung verurteilt. Die Angeklagten hatten zuvor eingeräumt, an den Schmiergeldzahlungen an Manager von Enel beteiligt gewesen zu sein. Siemens selbst sollte 30 Mio. EUR zur Gewinnabschöpfung an den Staat zahlen. Das Unternehmen kündigte an, gegen das Urteil in Revision zu gehen.1404 Noch während die Korruptionsaffäre um die Telekommunikationssparte Com in vollem Gange war, drang Mitte Februar 2007 ein weiterer Bestechungsfall an die Öffentlichkeit.1405 Gemäß Medienberichten wurde seitens der Staatsanwaltschaft der Verdacht laut, ein weiterer Siemens-Zentralvorstand hätte zwischen 2001 und 2005 Siemens-Gelder in Höhe von 14 bis 34 Mio. EUR veruntreut. Er hätte damit möglicherweise Beraterhonorare an einen Unternehmensberater und gleichzeitig damaligen Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Betriebsangehöriger (AUB) veranlasst, denen keine angemessenen Gegenleistungen gegenüber gestanden hatten. Stattdessen sollten die Gelder zur Finanzierung der Aktivitäten der AUB aufgewendet worden sein, um damit ein Gegengewicht zur IG Metall aufzubauen. Die kleine, 34.000 Mitglieder umfassende Arbeitnehmervereinigung AUB grenzt sich scharf gegenüber dem Deutschen Gewerkschaftsbund ab, dem sie die Vernichtung von Arbeitplätzen vorwirft.1406 Die AUB war bei Betriebsratswahlen in Konkurrenz zur IG Metall angetreten und in verschiedenen Siemens-Betriebsräten und mit einem Arbeitnehmervertreter auch im Aufsichtsrat vertreten.1407 Sie stellt in den großen deutschen Unternehmen 10 Prozent der Betriebsräte.1408 Anfang April 2007 reichte die IG Metall Strafanzeige gegen Siemens wegen möglicher Begünstigung von Betriebsräten ein, was einem Verstoß gegen das Betriebsverfassungsgesetz
1401 1402 1403 1404 1405 1406 1407 1408
Vgl. Rasonyi (2007c). Gemäß dem Stand des Abschlusses der vorliegenden Arbeit, d.h. dem 14.07.2007. Vgl. Neue Zürcher Zeitung (2007b). Vgl. Heise (2007). Vgl. Neue Zürcher Zeitung (2007h). Vgl. Neue Zürcher Zeitung (2007f) und Rasonyi (2007d). Vgl. Rasonyi (2007k). Vgl. Rasonyi (2007d).
9.4 Siemens: Erfolgreich dank Korruptionsstrategie?
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gleich käme.1409 Die AUB betonte indessen, weder Geld von Siemens erhalten noch Einfluss auf die eigenen Betriebsräte genommen zu haben. Sie sei zwar von dem oben genannten Unternehmensberater personell und finanziell unterstützt worden, habe jedoch von Zahlungen seitens Siemens keine Kenntnis gehabt.1410 Der im Rahmen der AUB-Affäre verdächtigte Siemens-Zentralvorstand wurde als bis dahin ranghöchster Siemens-Manager im März 2007 inhaftiert und auf eigenes Ersuchen hin bis auf Weiteres von seinen Aufgaben entbunden. Gegen ihn bestand ein dringender Tatverdacht der Veruntreuung. Der Unternehmensberater und AUB-Vorsitzende, der seit Mitte Februar 2007 in Untersuchungshaft saß, legte sein Amt als Vorsitzender nieder.1411 Medienberichten zufolge wurde Ende März 2007 in derselben Sache gegen weitere vier Siemens-Manager ermittelt, unter ihnen auch der frühere Aufsichtschef.1412 Ende Mai 2007 erklärte der ehemalige AUB-Vorsitzende schließlich durch seinen Anwalt gegenüber der Öffentlichkeit, Zahlungen in Höhe von 35 Mio. EUR von Siemens erhalten zu haben. Mit diesem Geld sollte die AUB als weniger streikfreundliche Organisation gegenüber der IG Metall gestärkt werden. Die Mittel wären zu diesem Zweck verwendet worden. Der Vorsitzende hätte sich weder persönlich bereichert noch wären AUB-Betriebsräte beeinflusst worden.1413 9.4.2
Wirtschaftliche Auswirkungen der Affären
Wie bereits erwähnt, geben die Schilderungen der mannigfaltigen Korruptionsvorfälle im vorherigen Abschnitt letztlich nur einen Zwischenstand1414 wider, die rechtlichen Untersuchungen waren im Zeitpunkt des Abschlusses der vorliegenden Arbeit noch nicht abgeschlossen. Die obigen Schilderungen beruhen somit weitgehend auf Mutmaßungen, und auch die folgenden Überlegungen zu den wirtschaftlichen Folgen der Vorfälle stellen letztlich zu weiten Teilen reine Vermutungen dar. Siemens hat in der Vergangenheit möglicherweise hohe Gewinne mittels Korruption erzielt. Was aber waren (und sind u.U. nach wie vor) die negativen wirtschaftlichen Folgen, die diesen Gewinnen gegenüberstehen? Von Staatsseite her drohten Siemens diverse gerichtliche finanzielle Strafen. Im Fall der Bestechung zweier Geschäftsführer des italienischen Stromkonzerns Enel im Rahmen der Com-Affäre bspw. forderte die Staatsanwaltschaft vor dem Landgericht Darmstadt eine Strafe für Siemens in Höhe von 97,7 Mio. EUR.1415 Damit bestand mutmaßlich der Verdacht, dass die Bestechungen hier nicht nur einzelnen SiemensMitgliedern anzulasten waren, sondern auch dem Unternehmen selbst. Im Zusammenhang mit den Affären waren noch weitere Ermittlungen seitens verschiedener Staatsanwaltschaften gegen Siemens aufgenommen worden. Ende April 2007 eröffneten zudem die amerikanische Börsenaufsichtsbehörde U.S. SEC und das US-Justizministerium ein formelles Ermittlungs-
1409 1410 1411 1412 1413 1414 1415
Vgl. Rasonyi (2007k). Vgl. Rasonyi (2007d). Vgl. Neue Zürcher Zeitung (2007f) und Rasonyi (2007d). Vgl. Neue Zürcher Zeitung (2007f). Vgl. Rasonyi (2007a). Die Darstellungen der Siemens-Korruptionsaffären geben den Stand bis zum 14. Juli 2007 wider. Vgl. Neue Zürcher Zeitung (2007b).
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9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
verfahren gegen Siemens.1416 Damit drohten Siemens auch aus den USA Geldstrafen, die das Unternehmen womöglich empfindlich treffen würden.1417 Es ist zudem sehr wahrscheinlich, dass die Verhaftungen einer Vielzahl von SiemensMitarbeitern und mehrerer Topmanager weitere direkte wirtschaftliche Folgen für das Unternehmen hatten. Hier sah sich Siemens mutmaßlich gezwungen, die betroffenen Manager und Mitarbeiter zumindest zeitweise zu suspendieren und in vielen Fällen sogar zu entlassen. Solche personellen Lücken, vor allem wenn ranghohe Mitarbeiter betroffen sind, verursachen in Unternehmen in aller Regel einige Schwierigkeiten. U.U. bleiben wichtige Aufgaben erst einmal liegen oder es werden ungünstige Entscheidungen getroffen, und die Lücken zu schließen ist oft zeitaufwändig und kostenintensiv. Weitere wirtschaftliche Folgen, die Siemens empfindlich treffen könnten, wären Ausschlüsse aus der Vergabe öffentlicher Aufträge, wie sie dem Unternehmen aufgrund der Korruptionsvorfälle z.B. in den USA drohten.1418 Auch ein Ausschluss aus der New Yorker Börse lag im Bereich des Möglichen. Da Aktien jedoch grundsätzlich auch über andere Handelsplätze verkauft und erworben werden können, erscheint diese Sanktion zumindest auf den ersten Blick als nicht allzu gravierend. Vermutlich würden hier jedoch die indirekten Folgen eines Reputationsverlusts – die Signalwirkungen des Ausschlusses – schwerer wiegen als dessen praktische Konsequenzen. Bereits im Dezember 2006 sprach die Presse von ersten finanziellen Auswirkungen der Korruptionsaffäre in der Siemens-Sparte Com in Form drohender Steuernachzahlungen. Die gemäß Siemens-interner Recherchen ermittelten Zahlungen in Höhe von 420 Mio. EUR, die für Beraterverträge möglicherweise ohne klare Gegenleistungen getätigt worden waren, waren u.U. ungerechtfertigterweise von den Steuern abgezogen worden. Das Unternehmen musste daher seine vorläufigen Zahlen des Geschäftsjahres 2005/06 nach unten korrigieren. Siemens rechnete mit zusätzlichen Steuerbelastungen von 168 Mio. EUR, wodurch sich der Konzerngewinn 2006 um 2,4 Prozent von 3.106 Mio. auf 3.033 Mio. EUR verminderte.1419 In der Öffentlichkeit haben die Affären Siemens womöglich weitreichende indirekte wirtschaftliche Folgen in Gestalt von Imageschäden zugefügt. Korruptionsskandale dieses Ausmaßes beschädigen die Glaubwürdigkeit eines Unternehmens, ein zuverlässiger, wahrhaftiger und gesetzestreuer Akteur zu sein. Wenn Skandale derart weite Kreise bis in die Konzernspitze hinein ziehen, erfasst der Reputationsverlust in aller Regel das gesamte Unternehmen. Die kritische Öffentlichkeit – allen voran die Presse, kritische Aktionärsschützer1420 und Transparency International, welche Siemens die bereits seit 2004 ruhende Mitgliedschaft gänzlich aufgekündigt hatte,1421 – befasste sich weitgehend und engagiert über viele Monate mit dem „Fall Siemens“. Die Höhe der wirtschaftlichen Folgen dieses mutmaßlichen Legiti-
1416 1417 1418 1419 1420 1421
Vgl. Ziegert (2007). Vgl. Rasonyi (2007a) und Neue Zürcher Zeitung (2007e). Vgl. Neue Zürcher Zeitung (2007e). Vgl. Rasonyi (2006i). Vgl. Rasonyi (2006h). Vgl. Neue Zürcher Zeitung (2006e). Die Mitgliedschaft ruhte seit 2004, weil in diesem Jahr Schmiergeldzahlungen von Siemens-Mitarbeitern der Kraftwerkssparte an Angestellte eines italienischen Energiekonzerns ruchbar geworden waren, vgl. Neue Zürcher Zeitung (2006e).
9.4 Siemens: Erfolgreich dank Korruptionsstrategie?
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mationsverlusts einzuschätzen, ist jedoch kaum möglich. Die Zusammenhänge sind hier indirekt und teilweise mittel- bis langfristig, so dass bestimmte Folgen weder eindeutig beziffert noch konkreten Affären zugeordnet werden können. Nichtsdestotrotz können diese indirekten Folgen z.T. gravierend sein, wie auch die folgenden Schilderungen nahe legen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass weit reichende Korruptionsaffären in einem Unternehmen dessen Manager und Mitarbeiter nicht unberührt lassen. Gerade Arbeitsverhältnisse beruhen weitgehend auf impliziten Verträgen, so dass die Fragen des Vertrauens, der Identifikation mit dem Arbeitgeber, der Wahrhaftigkeit und des Engagements der Mitglieder ganz wesentliche, z.T. sogar überlebenswichtige Erfolgsfaktoren für ein Unternehmen sind. Die Mitglieder selbst erwarten wiederum von ihrem Arbeitgeber ein faires Verhalten, das jedoch durch Korruptionsvorfälle mehr oder weniger stark erschüttert werden kann. Wie sehr einzelne Manager und Mitarbeiter auf die Vorfälle reagieren, hängt von vielen Faktoren ab, wie bspw. von der Persönlichkeit und der Stellung des Mitarbeiters. Insbesondere in den Fällen, in denen die Mitarbeiter Außenkontakte pflegen und das Unternehmen nach außen hin repräsentieren, dürfte eine persönliche Betroffenheit durch solche Affären besonders groß sein. In diesem Sinne könnte der Status, ein „Siemensianer“ zu sein, durch die Vorfälle weitgehend an Glanz eingebüßt haben. Als Folge eines Vertrauensverlusts gegenüber dem Arbeitgeber reduzieren Mitglieder u.U. ihren Teambeitrag oder verlassen ein Unternehmen sogar. Es wird mit hoher Wahrscheinlichkeit schwieriger, gute und zuverlässige Mitglieder zu rekrutieren. In den obigen Ausführungen des Abschnitts 9.3 wurde auf einen weiteren indirekten Effekt hingewiesen: Dass der Reputationsverlust eines Unternehmens aufgrund illegaler Praktiken u.U. auch die Kooperationspartner des Unternehmens negativ treffen könnte. Dieser Effekt scheint im Siemensfall die Konzernspitze getroffen zu haben: Obwohl weder gegen Heinrich von Pierer noch gegen Klaus Kleinfeld konkrete Verdachtsmomente bestanden hatten, traten beide zurück. Gegen Heinrich von Pierer waren im Laufe der Enthüllungen erst nur vereinzelt Rücktrittsforderungen laut geworden, die jedoch mit der Affäre um die Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Betriebsangehöriger (AUB) massiver wurden. Sogar Hansjörg Elshorst, Deutschland-Chef von Transparency International, setzte sich laut Medienberichten für Heinrich von Pierer ein. Er wies auf dessen große Verdienste im Zusammenhang mit der Verschärfung der Instrumente gegen Korruption Ende der 1990er Jahre hin und betonte, dass er es für sehr unwahrscheinlich halte, dass von Pierer von den Bestechungsgeldern gewusst habe.1422 Tatsächlich hatte von Pierer einen herausragenden und unbescholtenen Ruf besessen. Dennoch holte ihn die Affäre in Gestalt des Generalverdachts ein, er sei nicht in der Lage gewesen, die Geschäftspraktiken im Unternehmen ausreichend zu kontrollieren und saubere Geschäftspraktiken durchzusetzen. Zudem wurde die Vermutung seitens Corporate-Governance-Spezialisten laut, er garantiere als früherer Konzernchef womöglich nicht für eine unabhängige Untersuchung. Ein Rücktritt würde indessen die Unabhängigkeit des Aufsichtsrates im Hinblick auf die weiteren Untersuchungen stärken.1423 Schließlich trat von Pierer zurück und stellte sein Amt als Aufsichtratsvorsitzender Ende April 2007 zur Verfügung. Sein Ziel war nach eigenen Aussagen die Ermöglichung eines 1422 1423
Vgl. Neue Zürcher Zeitung am Sonntag (2006). Vgl. Rasonyi (2007d) und (2006h).
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9 Praxisfragen unternehmerischer Moral
personellen Neuanfangs bei Siemens.1424 Nach wie vor wies er jegliche persönliche Verantwortung von sich, er wolle ausschließlich einen Beitrag dazu leisten, Siemens aus den Schlagzeilen in ruhigeres Fahrwasser zu bringen.1425 Auch Klaus Kleinfeld sah sich letztlich von den Korruptionsaffären eingeholt. In seinem Fall gab es ebenfalls keine Hinweise auf eine Beteiligung an den Bestechungsfällen. Zudem hatte er sich um die hervorragende wirtschaftliche Stellung des Konzerns hoch verdient gemacht und herausragende wirtschaftliche Leistungsnachweise (der Aktienkurs war seit Kleinfelds Amtsantritt Anfang 2005 um über 50 Prozent gestiegen) vorzuweisen. Zunächst wurden seitens des Aufsichtsrats Zweifel über eine Vertragsverlängerung für Kleinfeld geäußert, dann wurde gemäß aufsichtsratsinternen Kreisen aktiv die Suche nach einem Nachfolger betrieben. Als Folge dieses Vorgehens – in der Presse gar als Demontage durch den Aufsichtsrat bezeichnet – sah sich Kleinfeld Ende April 2007 zum Rücktritt gezwungen. Als Grund für das Vorgehen des Aufsichtsrats wurde das Risiko genannt, dass u.U. doch in der Zukunft eine Verwicklung Kleinfelds zutage treten und sich die Vertragsverlängerung als falsch erweisen könnte.1426 Wie ist dieser Rücktritt zu bewerten? Womöglich wog das Risiko für Siemens, einen weiteren Reputationsverlust durch eine sich doch bewahrheitende Verwicklung Kleinfelds zu erleiden, tatsächlich höher als die Kompetenzen, die Kleinfeld durch die wirtschaftlichen Unternehmenserfolge unter Beweis gestellt hatte. Der Generalverdacht, der letztlich als Grund genannt wurde, trifft jedoch per se auf jeden Manager zu. Daher besteht die Möglichkeit, dass Kleinfeld letztlich auch das „Opfer“ unternehmensinterner Machtkämpfe geworden sein könnte. Laut Presseberichten hatte es aufgrund seines als forsch, ruppig und selbstbewusst geltenden Führungsstils mutmaßlich Schwierigkeiten im persönlichen Umgang mit ihm gegeben.1427 Selbst wenn das zweite Szenario mit eine Rolle gespielt haben sollte, waren vermutlich auch hier die Korruptionsvorfälle durch eine Schwächung seiner Machtstellung mit Ursache für Kleinfelds Rücktritt. Beide Rücktrittsfälle legen nahe, dass die kritische Öffentlichkeit auf Unternehmen große Macht ausüben kann und dass spill-over-Effekte eines Legitimationsverlusts auf dessen Kooperationspartner – im Fall Siemens auf die Top Manager –weitreichende wirtschaftliche Folgen für Unternehmen haben können. Sind die Kooperationspartner geschädigt, fällt dies letztlich auch wieder auf das Unternehmen zurück. Siemens sah sich für einige Zeit ohne Führungsspitze1428 und hatte mit von Pierer und Kleinfeld äußerst wertvolle „Humanressourcen“ verloren. Die Skandale haben es dem Unternehmen u.U. erschwert, gute und verlässliche Nachfolger zu akquirieren. Zudem ist es möglich, dass auch die weiteren Siemens-Topmanager, über die in der Presse nicht berichtet wurde, die Skandale zu spüren bekommen haben. Denn evtl. mussten sie befürchten,