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German Pages 335 Year 2009
Oliver Nachtwey Marktsozialdemokratie
Göttinger Studien zur Parteienforschung Herausgegeben von Peter Lösche Franz Walter
Oliver Nachtwey
Marktsozialdemokratie Die Transformation von SPD und Labour Party
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
. 1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16805-0
Inhalt
1. Einleitung 2. Institutionalistische Parteiensoziologie 2.1 Parteien als gesellschaftlich eingebettete Akteure 2.2 Parteien als Organisationen 2.3 Politische Paradigmen und die soziale Gerechtigkeit 3. Vorkeynesianische Sozialdemokratie 3.1 Die Genese von SPD und Labour Party 3.2 Die wirtschaftlichen Grenzen des Reformismus 3.3 Spielarten des Wohlfahrtskapitalismus: Deutschland und Großbritannien 3.4 Das politische Paradigma der vorkeynesianischen Sozialdemokratie 4. Wohlfahrtsstaat und keynesianische Sozialdemokratie 4.1 4.2 4.3 4.4
Kapitalismus, Arbeitsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat Gleichheit und Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat Das Zeitalter des Keynesianismus Das politische Paradigma der keynesianischen Sozialdemokratie 4.5 Zur Logik sozialdemokratischer Volksparteien
5. Das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie 5.1 Sozialliberaler Kollektivismus: Die Labour Party 5.2 Keynesianischer Korporatismus: Die SPD
9 22 27 32 38 45 45 57 60 67 88 88 92 94 97 104 109 109 129
6. Das böse Erwachen aus dem kurzen Traum 6.1 Vom Aufbruch zur Ernüchterung – die SPD bis 1982 6.2 Thatcher ante portas: Labours Selbstdemontage 6.3 Die „organische Krise“ der keynesianischen Sozialdemokratie 7. Die Transformation zur Marktsozialdemokratie 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5
Der Aufstieg des Neoliberalismus Zersetzung, Erneuerung und Dritte Wege Von Old Labour zu New Labour New Labour an der Regierung Erst langsam, dann stürmisch: die Transformation der SPD 7.6 Nachholender Revisionismus der SPD 7.7 Das politische Paradigma der Marktsozialdemokratie 7.8 Varianten der Marktsozialdemokratie
8. Legitimationsprobleme der Marktsozialdemokratie 8.1 8.2 8.3 8.4
Die Entwicklung der Ungleichheit Legitimierungsdiskurse und „Sachzwänge“ Populismus, Depolitisierung und Postdemokratie Hat die Marktsozialdemokratie eine Zukunft?
Literaturverzeichnis
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154 156 163 171 173 174 177 184 200 208 221 235 249 265 267 269 274 276 280
Abbildungen und Tabellen
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3:
Gerechtigkeitsprinzipien Das politische Paradigma der vorkeynesianischen Sozialdemokratie Varianten der keynesianischen Sozialdemokratie Die Entwicklung der Staatsquote Keynesianische Sozialdemokratie und Marktsozialdemokratie im Vergleich New Labour und SPD im Vergleich BIP-Wachstum und Arbeitslosenquote in Großbritannien und Deutschland Nominales Wachstum der Staatsausgaben
Durchschnittliche Wachstumsraten Durchschnittliche Arbeitslosigkeit Durchschnittliche Inflationsraten
42 80 151 170 244 255 256 258 155 155 156
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1. Einleitung „Diese Sozialdemokratie ist ja – auf beiden Seiten – längst keine mehr; sie ist in Wahrheit, nach innen und nach außen, eine brave, arbeiterfreundliche Bürgerpartei, und oft nicht einmal mehr das. Es ist lächerlich, die neue Erde mit den alten Vokabeln bewältigen zu wollen.“ Kurt Tucholsky „It's not my burning ambition to make sure that David Beckham earns less money.“ Tony Blair
Es ist eine Epochenwende für die Sozialdemokratie. Die einst stolzen Massenparteien auf Klassenbasis, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu immer noch imposanten linken Volksparteien runderneuert hatten, nehmen eine neue Gestalt an. Die soziale Basis wurde in einem lang anhaltenden Prozess auf zweifache Weise unterspült und ausgehöhlt: Im modernen Wohlfahrtsstaat enthomogenisierte und enttraditionalisierte sich das historische Subjekt der Sozialdemokratie, die Arbeiterschaft. Zudem: Immer weniger Bewohner der alten und neuen Arbeiterquartiere finden den Weg in die Sozialdemokratie, der Zustrom von modernen Arbeitnehmern, geschweige denn den Trägern der neuen sozialen Frage(n), den „Prekariern“, „Exkludierten“ und „Überflüssigen“, ist zu dürftig, um die alte Organisationsstärke zu erhalten. Die deutsche SPD und die britische Labour Party haben in den letzen 30 Jahren rund die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. All dies kennzeichnet gewiss einen „historisch säkularen Einschnitt“ (Walter 2004: 9). Um die SPD und die Labour Party, die sich zwischenzeitlich „New Labour“ auf die Mitgliedskarten hatte drucken lassen, soll es in dieser Arbeit gehen. Die „ungleichen Schwestern“ (Berger 1997) und bedeutendsten sozialdemokratischen Parteien in Europa haben sowohl in der älteren wie auch in der jüngeren Vergangenheit die Kontrastfälle für sozialdemokratische Modernisierungsversuche geliefert. Während Helmut Schmidt in den 1970er Jahren das „Modell Deutschland“ feierte, sprach man auf der Insel von der „britischen Krankheit“. In den letzten zehn Jahren wurden die Rollen getauscht, die Labour Party erschien 9
modern und erfolgreich, während Deutschland den „kranken Mann Europas“ abgab und die SPD den Part der traditionalistischen Beharrung. Historisch betrachtet stehen die sozialdemokratischen Parteien für das Erbe und die Tradition der nichtkommunistischen Arbeiterbewegung, für die Emanzipation der unteren Schichten, für das demokratische Streben nach der Gesellschaft der Gleichen und Freien, für Aufklärung, für den demokratischen Sozialismus und vor allem: für soziale Gerechtigkeit. Aber welche Bedeutung hat dieses Erbe heute überhaupt noch? Ist es mehr als ein programmatisch verkümmertes Residuum? Hierum soll es in dieser Arbeit gehen: nicht um den mitunter dramatischen Wandel der sozialen Basis, sondern um die politischökonomischen und programmatischen Veränderungen. Diese stehen im Mittelpunkt der in dieser Arbeit diagnostizierten Transformation zur Marktsozialdemokratie. Mit dem Aufkommen der Philosophie des Dritten Weges, die die Labour Party und zeitweilig auch die SPD zutiefst prägte, begann in den 1990er Jahren eine dem großen Revisionismusstreit des frühen 20. Jahrhunderts in nichts nachstehende Debatte über die Reformulierung und programmatische Neubestimmung sozialdemokratischer Politik (Merkel 2000a). Was steckt hinter diesem Konzept? Der Dritte Weg begreift sich als Alternative sowohl zum konservativen Neoliberalismus als auch zur „alten“ etatistisch-keynesianischen Sozialdemokratie. Die Sozialdemokratie müsse sich drastisch ändern, so die Protagonisten des Dritten Weges, weil sich auch die Welt drastisch geändert hat. Globalisierung, Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft würden das bestehende politische Modell der Sozialdemokratie in Frage stellen. Nötig sei deshalb die Neubegründung sozialdemokratischen Handelns. Die Philosophie des Dritten Weges enthält weitreichende programmatische Erneuerungsvorschläge. Die traditionelle politische Ökonomie und Sozialphilosophie der Sozialdemokratie soll auf den Prüfstand gestellt, „modernisiert“ und „reformiert“ werden. Im Schröder-BlairPapier (1999), dem wichtigsten Dokument des Dritten Weges neben Anthony Giddens gleichnamiger Schrift, sollen die „zeitlosen“ Werte „Fairness, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Chancengleichheit, Solidarität und Verantwortung“ den Kern sozialdemokratischer Politik definieren und die zukünftige Programmatik ausmachen. Genau hier liegt die Crux. Denn diese Werte sind alles andere als zeitlos und stabil, sondern gerade in der jüngeren Modernisierungsperiode der Sozialdemokratie ist der soziale Inhalt dieser Begriffe – sowohl programmatisch als auch auf die materielle Politik bezogen – einem starken Wandel unterzogen. Im Zentrum dieser Wertediskussion steht der Begriff „soziale Gerechtigkeit“, der 10
„Identitätskern“ der Sozialdemokratie. Kurz gesagt, wird die „alte“ Verteilungsgerechtigkeit von den programmatischen Erneuerern als nicht mehr passend zu den Anforderungen an eine moderne, erneuerte Sozialdemokratie gesehen. Was verstehen nun die modernen Sozialdemokraten unter sozialer Gerechtigkeit? Welchen neuen Inhalt erzeugt die „Umwertung der Werte“ (Lessenich 2003d), die in ihrer sprachlichen Hülle gleich bleiben und an deren überlieferten Bedeutung die politischen Akteure anknüpfen? Welche Semantik transportieren sie? Das ist die Leitfrage dieser Arbeit, die im Gesamtkontext des Wandels der SPD und der Labour Party – der Transformation zur Marktsozialdemokratie – geklärt werden soll. Denn es ist unerlässlich, auch zu fragen: Wie hängt die Umwertung der Werte mit dem Wandel der politischen Ökonomie, also wie die Sozialdemokratie über das Verhältnis von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft analytisch und normativ reflektiert, der Diagnose der Globalisierung, neueren Sozialphilosophien, eben all dem, was unter dem Label Dritter Weg firmiert, zusammen? Dies kann nur in historischer Vergleichsperspektive verstanden werden. Denn das Neuartige erschließt sich aus der Kenntnis der Vergangenheit. Nur im Kontrast zu den Erfahrungen, den Traditionsmustern von SPD und Labour Party lässt sich ihr Wandel verstehen. Deshalb sind nicht unwesentliche Teile dieser Arbeit der Rekonstruktion der Vergangenheit gewidmet, um eine Vergleichsfolie herzustellen. Der Vergleich findet also nicht nur zwischen den beiden Parteien, sondern auch als Untersuchung des Wandels einer Partei in historischer Perspektive statt. Dafür werden sowohl die geschichtlichen Wurzeln von SPD und Labour Party als auch die Grundzüge der Sozialdemokratie in der Nachkriegsära – mit Blick auf die institutionellen Eigenlogiken der jeweiligen Sozialmodelle – rekonstruiert. Um die jüngste Periode der Sozialdemokratie zu kennzeichnen, wird in dieser Arbeit nicht auf den Begriff Dritter Weg zurückgegriffen, sondern sie wird als Transformation zur Marktsozialdemokratie bezeichnet. Es gibt mehrere Einwände gegen den Begriff Dritter Weg. Historisch ist es eine häufig herangezogene Metapher – und dadurch ein uneindeutiges Konzept. So wurde diese begriffliche Hülle nicht nur von der sozialdemokratischen Erneuerung in der Post-1989Ära in Anspruch genommen, sondern ebenso von liberalen innersozialistischen und innerkommunistischen politischen Strömungen, von Teilen der DDROpposition ebenso wie von den ordoliberalen Vordenkern der sozialen Marktwirtschaft (Gallus/Jesse 2001). Im Grunde hat sich die Sozialdemokratie der Nachkriegszeit selbst immer als Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus betrachtet.
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Der neue Dritte Weg der Sozialdemokratie ist eine normative, programmatische und strategische Agenda (vgl. Weßels 2001). Ende der 1990er Jahre markierte er politische Handlungsoptionen und ein normatives Leitbild von einigen, gleichfalls wichtigen intentionalen Akteuren. Viele Ideen des Dritten Weges konnten in der letzten Dekade in Programmatik der Parteien diffundieren, intellektuelle wie praktische Bewährungsproben aushalten und sich teilweise in Regierungspolitik übersetzen. Die Agenda des Dritten Weges stand sicherlich für viele Elemente der erneuerten Sozialdemokratie Pate, indes bei Weitem nicht für alle. Labour Party und SPD haben sich modernisiert, aber ihre Eigengesetzlichkeit beibehalten. Mittlerweile ist der Dritte Weg auch als intellektuelle Agenda, die einen positiven Bezugspunkt für sozialdemokratische Akteure hergibt, fast verschwunden, weil mit ihm viele, vor allem für Aktivisten und Aktivistinnen an der Parteibasis, als schmerzhaft empfundene Erneuerungen verbunden waren. Nicht zuletzt gab es in der Gemeinschaft der Wissenschaftler gerade beim Begriff des Dritten Weges eine starke Tendenz des „confusing politics with political science“ (Kersbergen 2003: 258), wodurch viele Arbeiten politische Stellungnahmen und weniger wissenschaftliche Analysen wurden. Aus diesen Gründen und auch um deutlich zu machen, dass es sich nicht nur um eine programmatisch-strategische Agenda handelt, sondern um ein neues Modell der Sozialdemokratie, das sich in den letzten 15 Jahren herausgebildet hat, wird in dieser Arbeit die erneuerte Sozialdemokratie mit dem Begriff Marktsozialdemokratie erfasst. Obwohl sozialdemokratische Parteien der wichtigste politische Ausdruck der Arbeiterbewegung sind und ganze Bibliotheken an Literatur über sie existieren, gab es bis Mitte der 1980er Jahre keine adäquate theoretische Bestimmung ihres Charakters und Wandels (vgl. Esping-Andersen 1985: 3). Wenngleich dieses Problem immer noch besteht (und auch aus epistemologischen Gründen nicht behoben werden kann), folgt diese Arbeit zwei theoretischen Prämissen. Erstens, dass sozialdemokratische Parteien auf der historischen Spaltungslinie zwischen Kapital und Arbeit beruhen (Lipset/Rokkan 1967), und dass für den Klassenkompromiss, der Demokratie und Kapitalismus koexistieren lässt, der Wohlfahrtsstaat eine zentrale Rolle gespielt hat – und bis heute spielt. Zweitens, dass, anders als Esping-Andersen es nahe gelegt hat, die Politik der Nachkriegssozialdemokratie nicht nur „politics against the markets“ (1985) war. In dieser Sichtweise waren sich sowohl die Protagonisten des Dritten Weges als auch ihre schärfsten Kritiker implizit immer einig. Allerdings von gänzlich verschiedenen Standpunkten: Während „moderne Sozialdemokraten“ eine Politik gegen die Märkte für ein – obendrein falsches – Politikmodell der Vergangenheit halten, 12
erblicken ihre Kritiker genau in der Abkehr von dieser Politik den Sündenfall der Sozialdemokratie. Demgegenüber soll hier die Perspektive eingenommen werden, dass die Nachkriegssozialdemokratie in ihrem Kern die widersprüchliche und simultane Kombination der Politik abgefederter Märkte betrieben hat. Sie war zu jeder Zeit ein produktiver Erneuerer und Bewahrer der Marktwirtschaft, hat aber gleichzeitig immer versucht, die Wucht des Marktes und seine Risiken für das Individuum erträglich zu gestalten. Nimmt man diese Perspektive ein, dann erscheint sowohl die Nachkriegssozialdemokratie in einem anderen Licht als auch ihre jüngste Transformation. Dann ist die Marktsozialdemokratie nicht der Bruch mit den Prinzipien der Nachkriegssozialdemokratie, sondern ihre Fortsetzung in erneuerter Form. Möglich ist diese Kontinuität durch den immanenten Produktivismus der sozialdemokratischen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Produktivistische Politik, der politökonomische Kern der Nachkriegssozialdemokratie, heißt, ökonomische Effizienz und redistributive Politik miteinander in Einklang zu bringen. Der Übergang von der keynesianischen zur Marktsozialdemokratie zeichnet sich dabei durch einen neuen Produktivismus, eine kompetitive Neukomposition aus Ökonomie und Gerechtigkeit aus. Der keynesianische Produktivismus erkennt in der materiellen Redistribution einen produktiven Nebeneffekt, weil sowohl höhere Löhne, Sozialleistungen oder der Ausbau der sozialen Daseinsvorsorge einen Beitrag zum Wachstum darstellen. Die Marktsozialdemokratie bleibt im Kern produktivistisch, gleichwohl anders konfiguriert: Produktive Investitionen in das Soziale sollen hier einen redistributiven Nebeneffekt haben. Daher unterscheidet sich die Marktsozialdemokratie – anders als viele ihrer Kritiker glauben – auch qualitativ vom Neoliberalismus, der prinzipiell antiredistributiv ist. In der Marktsozialdemokratie ist der Kern des sozialdemokratischen Modells der Nachkriegszeit gewandelt, aber erhalten geblieben. Es geht weiterhin um die Vereinbarkeit von Markt und sozialer Gerechtigkeit. Aber die Ziele und die Instrumente haben sich grundlegend verändert. Die keynesianische Sozialdemokratie wollte die Macht der Märkte begrenzen, sie aber gleichzeitig erhalten. In der Marktsozialdemokratie des 21. Jahrhunderts hat sich das Verhältnis doppelt verkehrt: Der Markt soll mit den Mitteln des Sozialen und des Staats gefördert und das Soziale zwar erhalten, aber nach den Prinzipien des Marktes gesteuert werden. Die Marktsozialdemokratie hat heute kaum noch etwas mit der Politik abgefederter Märkte zu tun, mit den entschleunigten Ruhezonen, den Haltelinien und Puffern des fordistischen Sozialstaats. Selbst in die Schutzzonen des Wohlfahrtsstaates ist die Unsicherheit eingezogen. Die Marktsozialdemokratie ist rational-ökonomischer und moralischer zugleich. Dies zeigt 13
sich deutlich am Leitbild des „aktivierenden Sozialstaats“. Die öffentliche und kollektive Risikobegrenzung wird darin nicht abgeschafft, aber zunehmend durch private und individuelle Eigen- und Selbstvorsorge substituiert. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen. Die Marktsozialdemokratie ist nicht staatsavers, im Gegenteil:Sie setzt aktiv den Staat ein, um der Marktlogik Geltung zu verschaffen. In der Dialektik aus Wandel und Kontinuität steht am Ende eine Sozialdemokratie, die zwar in ihrem produktiven Kern erhalten geblieben ist, sich aber gleichsam ihrer elementaren Prinzipien und Ziele entkleidet hat. Die Legitimationsprobleme, die SPD und Labour Party erfahren, sind ein Ergebnis dieser Entwicklung. Sowohl die konkrete Politik als auch ihre sozialphilosophischen Begründungsmuster und Wertegrundlagen stehen oftmals im Widerspruch zur klassisch sozialdemokratischen Identität. Einerseits geht es bei den Legitimationsproblemen um den programmatischen Suchprozess, um die Schwierigkeiten, die neue Politik mit einer Wertbegründung zu versehen. Andererseits treffen sowohl die neue Politik als auch die veränderten Werte bei der Bevölkerung ebenso wie bei den Anhängern auf große Skepsis. Eine neue große Erzählung, die integriert, Sinn stiftet und Loyalitäten erzeugt, ist nicht in Sicht. *** In dieser Arbeit wird nach dem Zusammenhang zwischen erneuerter sozialdemokratischer Gegenwartsdiagnose, politischer Ökonomie, Regierungshandeln, Sozialphilosophie und dem Leitbegriff soziale Gerechtigkeit gefragt. Letzterer ist der Schlüsselbegriff sozialdemokratischen Handelns, eigenes Leitbild und Maßstab, aber in seiner Deutung umkämpft. Denn wie Reinhard Koselleck (1972) argumentiert, sind Begriffe nicht nur Indikatoren, sondern auch Faktoren des Sozialen, sie geben Einblick in die Vergangenheit, gleichwohl ebnen sie auch die Wegmarken der Zukunft. Um dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit der Marktsozialdemokratie auf die Spur zu kommen, reicht es nicht, seine neue(n) Bedeutung(en) zu entschlüsseln. Man kann ihn nur als Teil der historischen Tradition sozialdemokratischer Parteien, ihrer spezifischen Denkweisen und Einbettung in gesellschaftliche Strukturen verstehen. Deshalb werden in dieser Arbeit zum einen die konkreten Policies des Regierungshandelns analysiert und auf ihren Gerechtigkeitsgehalt überprüft, zum anderen werden die grundlegenden programmatischen Dokumente und die Semantik von sozialer Gerechtigkeit dazu in Beziehung gesetzt. Es geht also um das wechselseitige Verhältnis von Programmatik und Politik. Die Reflexionsweise sozialdemokratischer Parteien über Strukturen, ihre Verbindung mit normativen Grundwerten sowie die Formulie14
rung von Policyalternativen wird als politisches Paradigma bezeichnet (vgl. Kapitel 2), das aus einer Zeitdiagnose und einer politischen Ökonomie besteht. Nur in diesem Ensemble des kollektiven Wissens (zu dem auch die Überzeugungen gehören) lässt sich ein Grundwert wie soziale Gerechtigkeit verstehen. Wie ein früher Theoretiker der Sozialdemokratie wusste: „Über soziale Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit wird durch eine einzige Wissenschaft entschieden – durch die Wissenschaft, die sich mit den materiellen Tatsachen von Produktion und Austausch befasst, die Wissenschaft von der politischen Ökonomie“ (Engels 1881: 247).
Durch den Vergleich von zwei Parteien, der Labour Party in Großbritannien und der SPD in Deutschland, sind Erkenntnisse über die Spielarten der Marktsozialdemokratie und ihr politisches Paradigma möglich, ihrer Varianz wohlfahrtsstaatlicher Politik und ihrem Verständnis von sozialer Gerechtigkeit. Durch eine historische Narration, welche die geschichtliche Konfiguration beider Parteien zu Vergleichszwecken herausarbeitet, können sowohl die Veränderungen der jeweiligen Parteien verglichen als auch die Veränderungsprozesse selbst untersucht werden. Diese Arbeit folgt dem Urteil von Heinrich August Winkler, der in einer „Erzählung keinen Gegensatz zur Erklärung, sondern deren angemessene Form“ (Winkler 2000b: 3) sieht.1 Die zugrunde liegende These ist folgende: Der Wandel der Sozialdemokratie in Deutschland und Großbritannien in den letzen 15 Jahren hat dieselbe Vektorrichtung – die Transformation zur Marktsozialdemokratie –, aber die Konfiguration dieses politischen Modells, der Wandel des politischen Paradigmas sowie des Begriffes sozialer Gerechtigkeit erfolgt „pfadabhängig“. Denn sozialdemokratische Akteure entwickeln ihre Strategien, so die Annahme, innerhalb ihrer jeweiligen nationalen und europäischen Opportunitätsstrukturen – ihrer Sozialmodelle, ideellen und kulturellen Traditionen (dazu ausführlicher Kapitel 2). Methodisch ist diese qualitative Arbeit fallorientiert vergleichend, genauer: paarvergleichend, angelegt. Der qualitativ vergleichende Forschungsansatz (vgl. Ragin 1987) zeichnet sich durch seine holistische Herangehensweise aus, in der es darum geht, „die untersuchten Fälle als Ganze zu verstehen, zu interpretieren
1 „Ein literarischer Stil ist für die Genauigkeit sozialwissenschaftlicher Beschreibungen nicht nebensächlich […] Der Sozialwissenschaftler ist ein Kommunikator, indem er Bedeutungssysteme aus anderen Kontexten übermittelt. Auf diese Weise greifen die Sozialwissenschaften auf dieselben Quellen der Beschreibung (gemeinsames Wissen) zurück wie Romanschriftsteller oder andere, die fiktive Darstellungen des sozialen Lebens schreiben“ (Giddens 1995: 339).
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und zu erklären“ (Borchert 1995: 85). Denn, wie Donald Sassoon in seiner glänzenden Geschichte des europäischen Sozialismus geschrieben hat: „[T]he history of a party is inseparable from the history of the economic and social structures which shape it and against which it strives“ (1996: XXV).
Eine historisch-interpretierende Vorgehensweise zwingt den Forscher, sich mit den geschichtlichen, den strukturellen und institutionellen Prozessen intensiv auseinanderzusetzen und in einen Dialog mit den Fällen zu treten. In einem „theoretically guided historical account“ (Gourevitch 1986: 34) werden die gemeinsamen Fluchtpunkte des Wandels erarbeitet, jedoch die institutionellen Unterschiede integriert, so dass Kontrast und Kongruenz einander nicht ausschließen müssen. Nur zwei Fälle miteinander zu vergleichen, setzt einer komparatistischen Vorgehensweise bestimmte Grenzen. Man hat eine „geringe Fallzahl“, Rahmenbedingungen können nicht vollständig kontrolliert werden, indem z. B. völlig andere, kontrastierende Fälle, miteinbezogen werden. John Stewart Mill hatte in „A System of Logic“ (1843) die Methode der Übereinstimmung sowie die Methode der Differenz als Vergleichsmethoden vorgeschlagen, an denen sich die vergleichende Politikwissenschaft bis heute orientiert (Berg-Schlosser/MüllerRommel 2003). Der erste Ansatz sucht nach den entscheidenden Ähnlichkeiten sonst gänzlich unterschiedlicher Fälle (most divergent cases), der zweite in gleichartigen Umgebungen (most similar cases) nach den entscheidenden Unterschieden (vgl. Przeworski/Teune 1970). Diese Methoden des Vergleichs sind für zwei Fälle nur schwerlich zugänglich. Eine historisch-interpretative Betrachtungsweise lässt dessen ungeachtet beträchtliche Erkenntnisgewinne zu. Wir haben es sowohl bei der Labour Party als auch bei der SPD mit zwei sozialdemokratischen Parteien zu tun, die bis in die 1970er Jahre klassische keynesianische und wohlfahrtsstaatsorientierte Parteien waren. Beide haben in den letzten 15 Jahren die Transformation zur Marktsozialdemokratie vollzogen. Man hat also im Längsschnitt im jeweils einzelnen Fall zwei verschiedene Zustände – keynesianische und Marktsozialdemokratie –, man kann also nun fragen: Was sind die gemeinsamen Größen und Faktoren, die in beiden Ländern die Transformation zur Marktsozialdemokratie ausgemacht haben? Dies entspricht einem Zugriff, den Theda Skocpol und Margaret Somers (1980) als „parallel demonstration“ einer Theorie oder einer Hypothese bezeichnet haben. Wie in dieser Arbeit gezeigt wird, findet der Wandel zur Marktsozialdemokratie in Deutschland und Großbritannien nicht in der reinen Negation der keynesianischen Sozialdemokratie statt, sondern in der Form, dass der Kerngedanke des sozialde16
mokratischen Nachkriegsmodells – der Einklang von Wirtschaftswachstum und sozialer Gerechtigkeit – in transformierter Form erhalten geblieben ist. Das politische Paradigma, vor allem die darin enthaltene politische Ökonomie, hat sich gewandelt, doch Marktsozialdemokratie bedeutet nicht den Abschied von der sozialen Gerechtigkeit, sondern ihre Zurichtung auf die Marktfähigkeit. Der jeweils zureichende Faktor in beiden Parteien war der Aufstieg einer innerparteilich dominanten Koalition, die ein neues politisches Paradigma durchgesetzt hat. Nun hat sich diese dominante Koalition in Deutschland und Großbritannien nicht simultan durchgesetzt, auch hat die Marktsozialdemokratie in beiden Ländern nicht dieselbe Gestalt angenommen. Soziale Gerechtigkeit wird anders dekliniert, programmatische Präferenzen verlaufen entlang nationaler Strukturmerkmale oder kollektiver Erfahrungen. Die jeweils spezifische Ausprägung der sozialdemokratischen Transformation und ihrer Normen kann durch die Methode des „contrast of context“ ausgearbeitet werden. Diese Perspektive bietet sich gerade für den Vergleich von Labour Party und SPD an, stehen Deutschland und Großbritannien beide doch in der vergleichenden Kapitalismus- und Wohlfahrtsstaatsforschung für idealtypisch entgegengesetzte Pole: Großbritannien als liberaler Kapitalismus mit einem liberal-residualen Wohlfahrtsstaat und Deutschland als koordinierter Kapitalismus mit einem konservativen Wohlfahrtsstaat (EspingAndersen 1998; Hall/Soskice 2001). Die zentralistische Mehrheitsdemokratie Großbritanniens (Westminstermodell) ermöglicht umfangreichere, direktere und schnellere Gestaltungsmöglichkeiten als die föderative Konsensdemokratie Deutschlands (Schmidt 2000a). Der „contrast of context“ geht, wie Skocpol/Somers (1980) dargestellt haben, den entgegengesetzten Weg der „parallel demonstration“: Man versucht das Einzigartige der Fälle, ihre Unterschiede, ihre komplexe innere Struktur herauszuarbeiten, indem man sie gegenüberstellt.2 Dabei schließen sich diese beiden Forschungslogiken nicht aus, sondern lassen sich gewinnbringend verbinden, indem durch die Kontrastierung der Kontexte die parallele Demonstration einer Hypothese aufgeschlüsselt, differenziert und nicht zuletzt auch die Grenzen der Erklärung aufgezeigt werden können. Eine ähnliche Forschungslogik zum Vergleich der SPD und der Labour Party bis in die 1930er Jahre wendet Stefan Berger (1997) an, der mit dem Rückgriff auf die Klassifizierung von Charles Tilly (1984) eine Hybridform wählt aus einem universalen Vergleich, der unterschiedliche Fälle auf Gemeinsamkeiten ordnet, und einem Variationsvergleich, der die Fälle als Variationen ein und desselben Grundfalls untersucht. 2
Das führt bisweilen zu dem Problem, dass „[i]ndependent and dependent variables are never explicitly distinguished“ (Skocpol/Somers 1980: 193).
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*** Eine historisch-interpretative Herangehensweise unterscheidet sich erheblich von einer Geschichte der SPD und Labour Party. Um die Verdichtungen und Verflüssigungen des politischen Paradigmas und des Gerechtigkeitsverständnisses zu ergründen, werden historische Perioden herangezogen, die eine Grundkonstellation oder einen Abschnitt des Wandels charakterisieren. Die geschichtlichen Phasen nehmen einen wichtigen Platz in dieser Arbeit ein, weil sie die Grundierung liefern, auf der der gegenwärtige Wandel stattfindet. Die Arbeit ist angelegt nach dem Prinzip einer „invertierten Pyramide“ (Sassoon 1996: XXIV). Je weiter man sich der Gegenwart nähert, desto detaillierter wird die Darstellung. Es wird eine Analyse der Marktsozialdemokratie im Lichte der Geschichte unternommen, aber keine Geschichte der Sozialdemokratie erzählt. Christine Buci-Glucksmann und Göran Therborn (1982: 32-34) unterscheiden zwischen Konstitutionskonjunkturen, Wendepunktkonjunkturen und Krisenkonjunkturen in der Geschichte der Sozialdemokratie. Erstere beziehen sich auf Perioden der Etablierung eines sozialdemokratischen politischen Modells, Zweitere auf große Krisen in einer historischen Phase des Kapitalismus, in denen die Sozialdemokratie ihre gesamte Programmatik überdenkt und/oder ihre Regierungspolitik grundlegend verändert. In der dritten Kategorie prallen Altes und Neues aufeinander, ohne dass eine Wendung schon vollzogen wäre. Dieser Unterscheidung folgend beginnt die Arbeit – nach einem Kapitel mit Überlegungen zu einer institutionalistischen Parteiensoziologie (Kapitel 2) – mit einer Konstitutionskonjunktur, in der die Grundlinien der Genese von Labour Party und SPD aufgezeigt und ihre politischen und programmatischen Basiselemente offengelegt werden (Kapitel 3). Anschließend werden in diesem Kapitel die historischen Einbettungen der beiden Parteien dargestellt und die Krisenkonjunktur der „vorkeynesianischen Sozialdemokratie“ erläutert – das Scheitern sozialdemokratischer Regierungen Ende der 1920er Jahre. Im folgenden dritten Kapitel werden die politische Gesamtkonfiguration der keynesianische Sozialdemokratie, die Rolle des Sozialstaates, die Einbettung in die kapitalistische Arbeitsgesellschaft und die Reformperspektiven der Sozialdemokratie diskutiert. In Kapitel 5 wird die Nachkriegssozialdemokratie behandelt, in der die erfolgreiche Etablierung und Praktizierung – als eine Konstitutionskonjunktur – der keynesianischen Sozialdemokratie vollzogen wird. Die Phase des optimistischen Keynesianismus währte jedoch nicht lange, es folgte sogleich eine Krisenkonjunktur, die 1973 begann und 1979 in Großbritannien und 1982 in Deutschland endete (Kapitel 6). Es folgte eine lange Phase in der Opposition, die bisweilen von Richtungskämp18
fen in den Parteien geprägt war, aber wirklich Neues geschah vor allem in den 1980er Jahren nicht. Erst Ende der 1980er Jahre, beschleunigt durch den Zusammenbruch des Ostblocks und den globalen Siegeszug der Marktwirtschaft, gerieten auch SPD und Labour wieder in Bewegung. Kapitel 7 behandelt die eigentliche Transformation zur Marktsozialdemokratie. Die Periode der 1990er Jahre bis 2005 war eine Wendepunktkonjunktur, in der die Marktsozialdemokratie programmatische Gestalt annahm. Anfang der 1990er Jahre begann die Wende in der Labour Party, die bereits 1994 mit einer neuen Party Constitution einen ersten Höhepunkt fand. In der SPD blieb der große Graben, der 1999 durch den Rücktritt des damaligen Finanzministers und Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine offengelegt wurde, zunächst noch unter der Oberfläche. Erst nach seinem Abschied brach die Dynamik der Erneuerung voll durch. SPD und Labour Party kamen wieder in die Position, sich der Bewährungsprobe der Regierungstätigkeit zu stellen. Die Regierungspolitik wird insbesondere in den Politikfeldern Finanz-, Arbeitsmarkt und Sozialpolitik untersucht, da diese die materiell umkämpften Terrains sozialer Gerechtigkeit sind. Die Transformation zur Marktsozialdemokratie brachte mehr Wandel als in den 30 Jahren zuvor, in der materiellen und semantischen Umdeutung der sozialen Gerechtigkeit. Am Ende stand ein neues politisches Paradigma. Zuletzt (Kapitel 8) wird ein Blick auf die aktuellen Legitimationsprobleme der Marktsozialdemokratie, ihre Rolle in der Demokratie und ihre Zukunftsfähigkeit geworfen. *** Diese Arbeit versteht sich als ein Beitrag zur Politischen Soziologie der Sozialdemokratie. Eine Politische Soziologie muss aus verschiedenen Disziplinen schöpfen, sie ist notwendigerweise eine interdisziplinäre Hybride (Sartori 1969). Peter Gourevitch hat in seiner Arbeit über wirtschaftspolitische Reaktionen auf Krisen, „Politics in Hard Times“, eine für diese Arbeit inspirierende „Politische Soziologie der politischen Ökonomie“ (Gourevitch 1986) entwickelt, die gesellschaftliche Akteure mit ökonomischen Strukturen und Ideologietraditionen in Beziehung setzt. Auch Herbert Kitschelt sieht gerade für sozialdemokratische Parteien die Notwendigkeit einer Brücke „across the familiar divide between students of comparative political economy and parties and elections“ (1999: 318). In dieser Arbeit wird in Anlehnung an dieses Herangehen eine institutionalistische Parteiensoziologie verfolgt. Die Grundlinien solch einer Herangehens19
weise hat Colin Hay in seinem Aufsatz „How to study the Labour Party“ (2003) dargestellt. Er stellt das Wechselverhältnis von „political conduct, political discourse and political context – in short, the thorny perennials of structure and agency, the discursive and the material“ in den Mittelpunkt (ebd.: 190f). Das ist ambitioniert, aber diese Vorgehensweise erscheint dem Verfasser richtig und sinnvoll. Während in Kapitel 2 die Grundzüge einer institutionalistischen Parteiensoziologie darlegt werden und deshalb in dieser Einleitung nicht weiter darauf eingegangen wird, müssen noch ein paar Worte zur Analyse des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit verloren werden, stellt er doch den zentralen Gegenstand der programmatischen Untersuchungen dar. In allen Perioden werden wichtige programmatische Dokumente der Parteien untersucht. Dies sind in erster Linie die Grundsatzdokumente, in einigen Fällen werden zusätzlich Wahlprogramme, Policy-Dokumente sowie charakteristische programmatische Interventionen miteinbezogen. Diese wurden nach der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse untersucht (vgl. Mayring 2000). Die Kategorien zur inhaltsanalytischen Erfassung von sozialer Gerechtigkeit werden in Abbildung 1 in Kapitel 2 dargestellt, damit der Leser und die Leserin einen Überblick über die verwendete Differenzierung bekommen. Die eigenen Forschungsprämissen sind in ihrem Zugriff zwangsläufig immer subjektiv: „Forschung ist in gewisser Weise ein Blicken durch die Linse einer Kamera [..] Vieles hängt also von den individuellen Präferenzen und praktischen Überlegungen des Forschers ab“ (Koselleck 2006: 87).
Es wird nicht nur auf verschiedene Disziplinen zurückgegriffen, sondern auch auf verschiedene Theorietraditionen – insbesondere auf institutionalistische, konstruktivistische und neomarxistische Ansätze. Bei diesem problemgeleiteten „aufgeklärten Eklektizismus“ (Borchert 1995: 26; vgl. Offe 1984: 253f; Giddens 1995: 35; Jessop 1990: 10ff) sind es gerade die differenten Zugriffe auf Problemstellungen, die Erkenntnisse befördern können und nicht behindern. Denn hat man nur einen Hammer, findet man auch immer nur Nägel. Zur unbedingten Redlichkeit des Forschers gehört auch die Offenlegung der eigenen Präferenzen. Denn so etwas wie eine neutrale Wissenschaft gibt es nicht, gerade die „theoretically innocent“ (Bevir/Rhodes 2006: 96) Aufzählungen von Fakten oder der Anspruch, „objektive“ Erkenntnisse zu präsentieren, ist normativ unterlegt. Auch in der Wissenschaft zählt die eigene Haltung, meine ist die der Emanzipation und der damit verbundenen kritischen Wissenschaft.
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*** Eine Dissertation zu schreiben ist ein intensiver, aufwendiger Prozess, den man ohne die intellektuelle, organisatorische, persönliche und familiäre Unterstützung einer ganzen Reihe von Personen und Institutionen nicht bewältigen kann. Ich war in der glücklichen Lage, von zwei außerordentlichen „Doktorvätern“ begleitet worden zu sein – Stephan Lessenich und Franz Walter. Die Kombination aus soziologischer (durch Ersteren) und politikwissenschaftlicher (durch Zweiteren) Perspektive habe ich als ideale intellektuelle Interdisziplinarität und Inspiration erfahren. Ihr Scharfsinn, ihre Bereitschaft, meine Thesen immer wieder zu diskutieren, und ihre wissenschaftliche Offenheit haben mich nachhaltig geprägt. Ermöglicht hat diese Arbeit die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das Graduiertenkolleg „Die Zukunft des europäischen Sozialmodells“ an der Universität Göttingen. Dort konnte ich mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen meine Überlegungen diskutieren. Das Kolloquium der AG Parteienforschung an der Universität Göttingen war eine unentbehrliche Quelle für mich. Ohne die dort geführten Diskussionen, die wir mitunter bis in die späte Nacht im „Berliner Hof“ fortgesetzt haben, und die Exkursionen hätte ich „das Sozialdemokratische“ nie wirklich verstanden. An der University of Birmingham konnte ich als Gastwissenschaftler das britische Sozialmodell studieren und das „Labour Party Archive“ in Manchester hat mich mit wertvollem Material versorgt. Wertvolle Kritik, Anregungen und Hilfe bekam ich von Claire Annesley, Antonio Brettschneider, Tobias ten Brink, Alex Callinicos, Colin Hay, Martin Höpner, Anne Karrass, Wolfgang Krumbein, Ralf D. Lange, Kathrin Mohr, Thorsten Niechoj, Rosemarie Nünning, Ingo Schmidt, Tim Spier, Oliver Trede und Thomas Walter. Ohne die Unterstützung meiner Eltern und ohne Susanne wäre es gar nicht gegangen. Ihnen gebührt mein tiefer Dank, diese Arbeit ist ihnen gewidmet. Abgeschlossen wurde diese Arbeit im Frühjahr 2008, der Untersuchungszeitraum reicht bis in das Jahr 2007. Seitdem hat sich jedoch der Zustand der Welt dramatisch verändert. Die globale ökonomische Krise stellt die Politik vor bislang nicht erprobte Herausforderungen. Ein neues Zeitalter der Unsicherheit und des Umbruchs, ein neues Zeitalter der Staatlichkeit nimmt Form an. Auch die Marktsozialdemokratie wird von dieser Wucht erfasst – und sich möglicherweise weiter transformieren. Richtung und Erfolg dieses erneuten Wandels sind gleichwohl – genau wie unser Zeitalter – ungewiss. In diesem Buch werden Vergangenheit und die noch nicht vollendete Gegenwart der Sozialdemokratie in den Blick genommen – vielleicht kann es dazu beitragen, Lehren für die Zukunft zu ziehen. 21
2. Institutionalistische Parteiensoziologie „Die Geschichte einer Partei zu schreiben, bedeutet nichts anderes, als die allgemeine Geschichte eines Landes unter einem monografischen Gesichtspunkt zu schreiben […] So geht daher aus der Weise, die Geschichte einer Partei zu schreiben, hervor, welchen Begriff man davon hat, was eine Partei ist oder sein soll.“ Antonio Gramsci „Die neuen Behauptungen müssen die alten enthalten, ohne Bezug auf die alten sind sie nicht der Erfahrung einverleibbar.“ Bertold Brecht
In den entwickelten westlichen Demokratien üben Parteien eine Reihe von gesellschaftlichen und staatlichen Funktionen aus. Wie kaum ein anderer Akteur prägen sie die politische Willensbildung, fungieren als Sinnproduzenten, bündeln und vermitteln gesellschaftliche Interessen. Sie entscheiden über Gesetze, Maßnahmen und Interventionen. Parteien ermöglichen Partizipation, legitimieren Herrschaft, kanalisieren Opposition und tragen zur politischen Integration bei. Zu ihrer Geschichte und zu ihren Funktionen gehören ebenso Spaltung, Selektion und Polarisierung. Parteien sind auch heute noch, was Max Weber (1980: 167) klassisch als „Organisationen für die Werbung von Wahlstimmen“ bezeichnete. In der Parteienforschung betrachtet man Parteien deshalb zumeist aus der Perspektive des Parteienwettbewerbs. Dabei wird untersucht, inwieweit Parteien in der Lage sind, sich an veränderte Rahmenbedingungen erfolgreich anzupassen3 bzw. den Policy-Output zu prägen.4 3
Diese Fähigkeit ist für Parteien zweifellos überlebenswichtig, allerdings ist dort immer wieder ein latent normativer Bias vorhanden: Es wird angenommen, dass für sie geänderte Umweltbedingungen eine bestimmte Anpassungsrichtung voraussetzen, um Erfolg zu haben, der dann gleichzeitig auch zum Maßstab wird. Parteien, die erfolgreich sind, haben sich – so die tautologische Deutung – erfolgreich angepasst. Damit transportiert die Analyse des Parteienwandels eine implizite präskriptive Normensetzung und einen teleologisch-tautologischen Strukturalismus, der kontingente Anpassungsprozesse nicht erfassen und erklären kann. Aus der Ökonomischen Theorie der Demokratie von Anthony Downs (1957), die Parteien in Anlehnung an die Axiome der neoklassischen Ökonomie als nutzenmaximierende Akteure betrachtet, die
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Um die politische und programmatische Transformation sozialdemokratischer Parteien, konkret: der SPD und der Labour Party, zu untersuchen, soll jedoch eine andere Perspektive gewählt werden. Zwar werden Faktoren des Parteienwettbewerbs mit einbezogen, doch die zentrale Perspektive soll eine institutionalistische Analyse von Parteien sein.5 Um Parteien unter diesem Blickwinkel zu betrachten, wird sowohl auf die Entwicklungen der Parteienforschung, der vergleichenden politischen Ökonomie wie auch der Organisationssoziologie zurückgegriffen. Parteien sollen in ihrer Organisationswirklichkeit als „reflexive Akteure“ betrachtet werden. Die Bestimmungsgründe ihres Handelns bzw. Organisationswandels werden nicht nur aus ihrer Binnendynamik oder dem Parteienwettbewerb gedeutet, sondern sie werden als in gesamtgesellschaftliche Strukturen und Institutionen „eingebettete“ Akteure verstanden.6 Dabei handelt es sich vor allem um die Einbettung von Parteien in die Varianten ihrer jeweiligen Kapitalismen bzw. Sozialmodelle7, also ihrer gesellschaftlichen Umweltbezüge außerhalb der Sphäre des Parteienwettbewerbs. Die institutionellen Konfigurationen nationaler Sozialmodelle sind nicht nur – wie es die Debatte um „do parties matter?“ unterstellt – das Objekt von Parteipolitik, von Policies, von Maßnahmen und Reformen, sie bestimmen auch die Muster der Politics, die Erarbeitung von Problemdefinitionen, die Entwicklung von Alternativen, die Möglichkeiten und Grenzen der Implementierung von Reformen. Und sie bestimmen, wie Parteien das Ziel der Stimmenmaximierung ihren politischen Grundlagen instrumentell unterordnen, haben sich verschiedene Ansätze herausgebildet. Angelo Panebianco (vgl. 1988: 6f) bescheinigt diesem Modell, unter einem „teleologischen Vorurteil“ zu leiden, da es ein zu simples Verhältnis von Organisationszielen, ihrer Herausbildung sowie dem Organisationshandeln unterstellen würde – das Organisationsverhalten leite sich nur von den Organisationszielen ab. 4 Thomas M. Greven hat diese Forschungsrichtung dahingehend kritisiert, dass sie methodologisch nach dem Beitrag von Parteien zur Funktionsweise des politischen Systems „eher für es als in ihm“ frage (1993: 285), indem sie Parteien als dem System äußerliche, unabhängige „Black Boxes“ begreife. 5 Die Untersuchung von Parteien als Organisationen, ein geradezu klassischer Gegenstand der Parteienforschung, erfreute sich in den letzten Dekaden nur geringem Zuspruch (vgl. Mair 1997: 70; Wiesendahl 1998; Wolinetz 1988: 4). Dabei ist die Erforschung der Organisationswirklichkeit von Parteien ein geradezu klassisches Feld der Parteienforschung gewesen, von den frühen Studien zur Soziologie von Parteien (Michels 1911; Ostrogorski 1902) bis hin zu den Untersuchungen der 1950er und 1960er Jahre (Duverger 1959; Eldersveld 1964). 6 Vgl. dazu auch Rudolf Walther: „Die Theoriebildung in der Sozialdemokratie kann nicht begriffen werden, wenn man einen festen, gleichbleibenden Bestand an Theorien […] voraussetzt. Vielmehr bewegte sich der Prozess der Theoriebildung ständig mit dem realgeschichtlichen Prozess, und die verschiedenen Ansätze und Antworten auf neue Situationen müssen in diesem Kontext gesehen und untersucht werden“ (1981: 28). 7 Verstanden als die „modellierte Konfiguration sozialer Beziehungsstrukturen in einer Marktökonomie“ (Lessenich 2003b: 31f).
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als institutionalisierte und gleichermaßen institutionalistische Akteure Entscheidungen finden, Kompromisse schließen, Leitbilder entwickeln und programmatische Lösungen erarbeiten. Während das Verhältnis von Parteien zu ihrer Klientel, ihren Wählern und Anhängern relativ gut erforscht bzw. umfassend diskutiert worden ist (für einen Überblick vgl. Falter/Schoen 2005), ebenso wie entlang der Parteiendifferenzthese (z. B. Schmidt 2002; Keman 2002), welche Rolle Parteien beim Aus- oder Abbau von Wohlfahrtsstaaten spielen, so wird die umgekehrte Frage kaum gestellt: Welchen Einfluss üben die nationalen Kapitalismen und Wohlfahrtsstaaten, d. h. die Variante kapitalistischer Interaktions- und Regulierungsbeziehungen sowie die sozialstaatlichen Solidaritäts-, Schichtungs-, und Reziprozitätsmuster, auf den Wandel der Policyalternativen, der Wissensprozesse und Entscheidungsabläufe der Parteien aus? Welchen Einfluss nehmen sie auf die politischen Begriffe, die Semantik und Grammatik, mit der Reformen und Forderungen gedacht und artikuliert werden? In der neueren vergleichenden Soziologie und politischen Ökonomie hat man zwar den Wandel der Sozialmodelle und der dazugehörigen Institutionenordnungen elaboriert untersucht, die Akteurskonzeptionen selbst sind jedoch bisher relativ unausgereift geblieben, meist sind sie einfach eine Black Box bzw. utilitaristisch-rationale Akteure, da man stärker auf die Akteursbeziehungen und nicht auf die Akteure selbst fokussiert(e). Und dort, wo man sich tatsächlich der Untersuchung von Akteuren gewidmet hat, stehen vor allem Unternehmen, Verbände und Gewerkschaften im Vordergrund der Analyse.8 Deshalb die Frage: Gibt es so etwas wie Wahlverwandtschaften von Parteien zu „ihren“ Sozialmodellen?9 Wenn ja: Welche Rolle spielt die Tradierung von kollektiven Erfahrungen, Werten und Leitbildern bei spezifischen Typen? Um den politisch-programmatischen Wandel der SPD und der Labour Party, vor allem in Hinblick auf den Wandel sozialer Gerechtigkeit, zu untersuchen, wird zuvorderst eine Heuristik für eine neoinstitutionalistische Parteienforschung mit Blick auf Parteien als Organisationen erstellt. Das Ziel: Eine kritische Rekonstruktion des Wandels der beiden sozialdemokratischen Parteien, in der gleichermaßen die gemeinsame Transformation nachgezeichnet und die Vielfalt in der Einheit, die Kontraste, die Abweichungen in der gleichgerichteten historischen Bewegung aufgezeigt werden. 8 Z. B. fordern Bernhard Ebbinghaus und Philip Manow: „The role of political parties in the formation and reproduction of national models of capitalism needs to be studied more systematically” (2001a: 305). 9 Unter dem Begriff „institutioneller Isomorphismus“ haben DiMaggio/Powell (2000) die These vorgebracht, dass die Strukturierung organisatorischer Felder zu einer relativen Angleichung der im Feld befindlichen Organisationen führt.
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Wandel, so die Annahme, wird nicht allein durch die Umweltbedingungen determiniert, sondern innerparteilich, unfreiwillig oder freiwillig, von der Partei und ihren Mitgliedern herbeigeführt. Parteien sind weder völlig umwelt-, noch sind sie gänzlich selbstbestimmt – sie sind „semisouverän“ (Wiesendahl 1998: 184). Formen des Organisationswandels sind deshalb zumeist „the effect of an external stimulus (environmental and/or technological) which joins forces with internal factors […] The external stimulus acts as a catalyser accelerating power structure transformation (e.g. of resource distribution among different groups) where the internal preconditions of this transformation already existed“ (Panebianco 1988: 242).
Auch wenn die hier gewählte Perspektive vornehmlich auf der Mesoebene angelegt ist – sie fragt nach dem politisch-programmatischen Wandel sozialdemokratischer Parteien unter Beachtung ihrer institutionellen Einbettung –, erfordert der Ansatz, dass die Black-Box-Partei zur hinreichenden Deutung geöffnet werden muss. Parteien als intermediäre Organisationen haben Mitglieder und sind gleichzeitig Mitglieder des nationalstaatlichen Institutionensystems. Sie müssen mit zwei Umwelten gleichzeitig interagieren, „nach ‚unten‘ mit einer mehr oder weniger ‚freiwilligen‘ Mitgliedschaft […] und nach ‚oben‘ mit einer institutionellen Umgebung, in der sie (mehr oder weniger organisierte) Organisationen unter anderen sind“ (Streeck 1987: 472). Frank Adloff bringt dies zusammen mit dem Ansatz kollektiver/korporatistischer Akteure: „Die Handlungen kollektiver Akteure sind also aus dem Zusammenspiel von institutionellen Regeln, organisatorischen Eigeninteressen und anderen Handlungsorientierungen zu erklären“ (2004: 319).
Kurzum: Die Untersuchungsperspektive erfordert die Zusammenschau von Makro-, Meso- und Mikroebene.10 Eine Mikroanalyse von Parteien, ihres Innenlebens, ihrer Strukturen, der Machtverhältnisse, der Strömungen, Traditionen und programmatischen Positionen verknüpft den Wandel von Umweltbedingungen mit dem von Parteien, um das Agens des Veränderungsprozesses zu destillieren. 10
Um aber zu einer „Theorie kollektiver Akteure“ zu kommen, braucht es noch mehr; sinnvoll wäre vor allem eine Integration von Theorien der sozialen Bewegungsforschung und der Organisationsforschung. Solch eine Theorie „müsste in der Lage sein, eine Verbindung zwischen der Mikroebene der Individuen und einer gesellschaftlichen Makroebene herzustellen. Makrosoziologische Effekte wären über das Handeln von kollektiven Akteuren – die auf dem Handeln von Individuen beruhen, sich aber auch ihnen gegenüber emergent verhalten – erklärbar und müssten nicht akteurslos verfahrenden Differenzierungstheorien überantwortet werden“ (Adloff 2004: 316).
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Durch Integration von Institutionalismus und Handlungstheorie droht allerdings die Überkomplexität der Untersuchung. Man muss (zu) viele Ebenen berücksichtigen, um valide Schlussfolgerungen ziehen zu können. Zur Vereinfachung kann die Forschungsperspektive der „abnehmenden Abstraktion“ (Lindenberg 1991) angewandt werden. Hierauf Bezug nehmend plädieren Renate Mayntz und Fritz Scharpf für eine „Mehrebenenperspektive, in welcher der institutionelle Rahmen das Handeln von Organisationen prägt, während diese ihrerseits für das Handeln ihrer Mitglieder den institutionellen Rahmen bilden“ (Mayntz/Scharpf 1995: 44). Allerdings prägt der institutionelle Rahmen das Handeln nur, er determiniert es nicht (vgl. Adloff 2004: 319). Um diesen Umstand für die Forschungspraxis handhabbar zu gestalten, schlagen Mayntz/ Scharpf (vgl. 1995: 66) vor, folgendermaßen vorzugehen: Da der institutionelle Kontext auch die Handlungsstrukturen mitbestimmt, weiß man bereits viel über die Akteure, wenn man den Kontext kennt. Die Mikroperspektive muss dann miteinbezogen werden, wenn „institutionelle Faktoren und der situative Kontext das beobachtbare Tun und Lassen eines korporativen Akteurs nicht zureichend erklären können“ (ebd.: 50). Man muss also nicht mikroakteursbezogen erklären, was man auch institutionell und von der Handlungsorientierung der Gesamtorganisation herleiten kann. Man kann bei akteursbezogenen Untersuchungen zunächst mit vereinfachenden Unterstellungen arbeiten und diese erst empirisch überprüfen, wenn man einen Sachverhalt nicht anders erklären kann. Beispielsweise kann man den inkrementellen politisch-programmatischen Wandel von sozialdemokratischen Parteien oft hinreichend auf der Ebene kollektiver Akteure erklären. Für bestimmte Ereignisse, sich kumulierende, radikale Transformationen, muss man jedoch die Prozesse innerhalb der Partei untersuchen. Mit anderen Worten: Inkrementeller Wandel ist in der Regel durch den Blick von oben auf die Partei – durch die Annahme von kollektiver Willensbildung, Responsivität und Adaption – zu begreifen. In diesen Fällen ist die Partei „identisch“ mit der Führung der Partei (bzw. diese das Pars pro Toto für die Partei). Aber für „abweichendes“ Verhalten, Brüche und Paradigmenwechsel ist selektiv die Black Box zu öffnen und nach der Neuzusammensetzung der Partei, den Machtverhältnissen der politischen Koalitionen innerhalb der Partei und deren Veränderungen zu fragen. Im ersten Teil dieses Kapitels werden zunächst die Grundlagen einer institutionalistischen Parteiensoziologie diskutiert, die später auf die Analyse sozialdemokratischer Parteien angewendet werden soll. Diese ist relativ allgemein verfasst, aber auf einen bestimmten Gegenstand gerichtet. Zu dieser institutionalistischen Parteiensoziologie gehören das Konzept der reflexiven Handlungs26
steuerung, das Verhältnis von Struktur, Wissen und Handlung sowie die Arenen, in denen Parteien eingebettet sind. Im zweiten Teil dieses Kapitels werden Parteien als Organisationen und als Handelnde diskutiert. Dafür wird auf das Konzept von korporativen Akteuren zurückgegriffen, sowie die Rolle von politischer Führung und Programmatik diskutiert. Mit dem Begriff des politischen Paradigmas wird abschließend ein Konzept vorgestellt, das den Zusammenhang von Programmatik und Politikalternativen von Parteien auf der Basis von Wissen verstehbar macht. 2.1 Parteien als gesellschaftlich eingebettete Akteure Die im Folgenden entwickelte institutionalistische Heuristik betrachtet Parteien als Organisationen, die responsiv nicht nur mit den anderen Parteien und den Wählern, sondern ebenso mit den Makrostrukturen und -institutionen ihrer jeweiligen Gesellschaften – Kapitalismus, Wohlfahrtsstaat und Demokratie – verflochten sind. Eine neoinstitutionalistische Parteienforschung muss unbestreitbar die Konstitution der parlamentarischen Sphäre berücksichtigen, gleichermaßen aber auch die anderen makrosozialen Strukturen und Institutionen der Gesellschaft in die Erforschung von Parteien als Organisationen miteinbeziehen – „Parteientheorie ist Gesellschaftstheorie“ (Stöss 1983: 23; vgl. auch Ebbighausen 1981; Lenk/Neumann 1974). Der hier vorgestellte Ansatz soll Parteien als korporative Akteure begreifen, die zur reflexiven Steuerung ihres Handelns fähig sind. Einerseits sind Parteien in die Werte-, Normen-, Ordnungs- und Handlungssysteme ihrer Sozialmodelle (sowie ihrer internationalen Verflechtungen) eingebettet. Andererseits werden sie verstanden als organisierte Gruppen, freiwillige Vereinigungen von Menschen, die gesellschaftliche Wandlungsprozesse kognitiv und analytisch verarbeiten, rahmen und diskutieren und dadurch gleichzeitig (mehr oder weniger intentional) Akteure eben jenes Wandels der Gesellschaft sind. 2.1.1 Reflexive Handlungssteuerung Parteien haben einen relationalen Charakter und sind gleichermaßen Objekt und Subjekt des Parteiensystems und der Sozialstruktur. Dieser selbstverständlich anmutenden Prämisse wurde jedoch oftmals nicht gefolgt, so dass sie immer wieder kritisch eingefordert wurde (vgl. Mair 1997; Wolinetz 1988; Panebianco 1988; Sartori 1969). Zudem haben Parteien ein „genetisches Modell“, einen historischen Kern, von dem ausgehend sie sich entwickeln, sich verdichten, 27
schließlich „institutionalisieren“ (Panebianco 1988: 49f). Dieser Kern ist verkoppelt mit der gesellschaftlichen Konfliktlinie, die die Parteien ursprünglich politisiert haben – bei sozialdemokratischen Parteien dem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit (Lipset/Rokkan 1967). Parteien als reflexiv handelnde Akteure lassen sich ertragreich mit Anthony Giddens Theorie der Strukturierung (1995) begreifen: „In ihrem Alltagshandeln beziehen sich die Akteure immer und notwendig auf die strukturellen Momente übergreifender sozialer Systeme, welche strukturellen Momente sie so zugleich reproduzieren“ (ebd.: 77ff).
Diese „Dualität von Struktur“ (ebd.: 77-81) nimmt einen zentralen Platz in Giddens Theorie ein. Er versteht Strukturen – analog zum Neoinstitutionalismus – als „Regeln und Ressourcen“ (ebd.: 45), zugleich als Medium und Resultat des Verhaltens. Strukturen sind nicht gleich einem äußerlichen Zwang, sie schränken Handeln nicht nur ein, sondern sie ermöglichen es ebenso, sind Wegweiser hin zu gangbaren Pfaden. Gleichwohl entziehen sich die Strukturmomente und Strukturprinzipien, für Giddens die institutionalisierten Aspekte und Arrangements sozialer Systeme, der Kontrolle individueller Akteure, sind also partiell unabhängig von ihnen. Handeln ist für Giddens nicht die bloße Exekution individueller Präferenzen (wie bei den Rational-Choice-Theorien), sondern geleitet von selbstreflexiver Kontrolle. Akteure beleuchten und deuten nicht nur fortwährend ihr eigenes Handeln, sondern auch das der anderen Akteure. Sie sind keine Adepten der gesellschaftlichen Zwänge, sondern nehmen steuernden, formenden und reformierenden Einfluss auf die Gesellschaft. Parteien sind gleichermaßen politischer Entrepreneur wie auch Erbe ihrer Geschichte; sie sind von ihrem Wesen her „reflexiv“. Reflexivität heißt „prozessurale Selbstreferenz“ (Luhmann 1984: 610ff): die rückbezügliche Beobachtung des eigenen Handelns, die Thematisierung des Selbst und seine Eigenreferenzialität sowie Selbstbeschreibung (vgl. Willke 1989: 121, 125). Erst der reflexive Charakter von Akteuren ermöglicht ihnen, sich strategisch auf ihre Umwelt zu beziehen (vgl. Hay 2002b: 210f).11
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Zur Strategiefähigkeit (deutscher) Parteien vgl. Nullmeier/Saretzki (2002).
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2.1.2 Struktur, Wissen und Handlung Im Folgenden wird ein Ansatz zur Untersuchung von Strukturen, Wissen und Parteihandeln skizziert. Für diese Überlegungen werden Handlungsmodelle berücksichtigt, die die Dialektik von Struktur, Deutung und Handlung einbeziehen (Hay 2002b; Wiesendahl 1998): „Handeln [in und von Parteien] resultiert aus der aktiven Auseinandersetzung des Akteurs mit seiner Umwelt, in dem er die Situation, in der er sich befindet, sinnhaft interpretiert und ihr die Bedeutung für das Handeln abgewinnt“ (Wiesendahl 98, 124).12
Frank Nullmeier schlägt einen Wissensbegriff vor, der sowohl normatives wie deskriptives, implizites wie explizites Wissen erfasst, also mehr als ein rein kognitives System ist (vgl. 1993: 182). Wissen ist ein vielschichtiger Begriff, der sowohl auf ausgearbeitete gesellschaftliche Ideensysteme oder Weltanschauungen als auch auf naturwissenschaftlich verifizierte Sachlagen, Erfahrungen oder implizite Alltagsroutinen angewendet werden kann (Keller 2005: 18). Wissen ist aber immer auch, so Karl Mannheims Diktum, von der „Seinsverbundenheit“ (1929) der Akteure geprägt. Elmar Wiesendahl folgt den Prämissen von Berger/Luckmann (1969) und nimmt an, dass die dem Akteur äußerliche physische Welt ihm nicht unmittelbar – quasi „objektiv“ – entgegentritt, sondern erst in aktiver Darstellung, Deutung, Interpretation – einem Prozess des gemeinschaftlich schöpferischen Erkennens – hergestellt wird: „Für Parteien ist deshalb immer nur das real, was ihre Mitglieder sozial als real definieren und für real halten“ (1998: 124). Parteien handeln jedoch nicht nur aufgrund von Wissen, sondern auch auf der Basis von Strukturen, die die (gedeuteten) Handlungsoptionen der Parteien restringieren (vgl. Callinicos 2006: Kapitel 6; Hay 2002b: Kapitel 6). Strukturen werden von den Akteuren diskursiv gedeutet, privilegieren aber die Erfolgschancen bestimmter Diskurse. Parteien handeln also aufgrund ihrer eigenen Interpretation der Wirklichkeit, die aber „strategisch-selektiv“ für unterschiedliche Akteure ist (Jessop 2002, 1990; vgl. auch Offe 2006).
12 Ähnlich argumentieren auch Colin Hay und Ben Rosamond: „For it is the ideas that actors hold about the context in which they find themselves rather than the context itself which informs the way in which actors behave“ (2002: 148).
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2.1.3 Arenen der Einbettung Angelo Panebianco (vgl. 1988: 204, 207) betont die wechselseitige Verbundenheit von Parteien mit ihrer Umwelt, die er als Arenen bezeichnet. Die Einbettung von Parteien in verschiedene gesellschaftliche Arenen soll entlang eines neoinstitutionalistischen Ansatzes vorgenommen werden, wobei in diesem neoinstitutionalistischen Ansatz (Makro-)Strukturen wie auch Institutionen – „verfestigte Sozialformen mit regulierender und orientierender Wirkung“ (Lessenich 2003b: 43) – als Arenen begriffen werden. Akteure bzw. Parteien werden, wie in dieser Arbeit, gleichermaßen als Objekt und Subjekt betrachtet (vgl. Thelen/Steinmo 1992: 10).13 Institutionen beeinflussen und strukturieren die Interaktionen, Deutungsleistungen und Strategien der Akteure, sie relationieren sie „auf doppelte Weise: mit den Wertvorstellungen einer sozialen Ordnung und mit den Handlungsdispositionen anderer sozialer Akteure“ (Lessenich 2003b: 51; vgl. auch Gourevitch 1986: 28). Sie begrenzen und ermöglichen das Akteurshandeln und sind selbst das Ergebnis politischen Handelns. Oder, wie Bo Rothstein es in einer Marx-Paraphrasierung ausgedrückt hat: „[W]hile people make history under circumstances not of their own choosing, the circumstances might will be of their own making” (1992: 90).
Parteien werden von verschieden Arenen – vermittelt über Wissensprozesse – geprägt: der Sozialstruktur, den sozialen und politischen Institutionenordnungen (z. B. Arbeitsmarkt, Sozialpolitik), die in der Regel mit bestimmten Makroregimen (Kapitalismusvariante, Wohlfahrtsstaatstyp)14 verbunden sind, sowie dem
13 Die sogenannten Machtressourcen-Ansätze, die die sozialdemokratische Regierungspolitik in den 1970er und 1980er Jahren untersuchten, haben erste wichtige Anstrengungen unternommen, Parteihandeln mit Makrostrukturen und Institutionen zu verknüpfen (z. B. Esping-Andersen 1985; Merkel 1993a; Castles 1978). Allerdings haben sie sich im Wesentlichen mit der Erklärung von sozialdemokratischer Regierungspolitik und den Möglichkeiten von Regierungsmacht und Regierungshandeln beschäftigt – und nicht mit dem Wandel der Parteien. 14 Die Ergebnisse der vergleichenden Kapitalismusanalyse (vgl. Hall/David 2001; Esping-Andersen 1998; Crouch 2005) sind als Forschungsheuristik für diese Untersuchung sinnvoll, wenngleich sie bestimmte Fragen – wie die Stellung in der Weltwirtschaft und die Rolle der Zentralbanken – ausblenden (vgl. Panitch/Gindin 2005). Dazu zeigt sich in historischer Perspektive, dass die Forschungsperspektive auf die „strategische Interaktion“ zwischen den Wirtschaftssubjekten zur Untersuchung von sozialdemokratischen Parteien nur wenig beiträgt. Während diese Literatur hauptsächlich auf die Korporationsbeziehungen der Unternehmen zueinander (capital-capital) fokussiert, ist für eine Analyse sozialdemokratischer Parteien die Untersuchung von industriellen und korporatistischen Beziehungen (capital-labour) von größerer Bedeutung (Coates 2005, 2001b).
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politischen System (Konsensdemokratie, Westminstermodell), zu dem auch das Parteiensystem gehört. Nicht alle Arenen haben denselben Stellenwert. Für Parteien sind das politische System und der damit verbundene Parteienwettbewerb der zentrale Raum der politischen Wahrnehmung und des Handelns. Deshalb wird das Parteiensystem für gewöhnlich auch als „dominante“ Arena betrachtet, durch die alle anderen Arenen in ihrer Bedeutung gefiltert werden. Dennoch hat diese Arbeit einen anderen Fokus. Hier werden im Wesentlichen die institutionellen Arenen und ihre Verbindung zu den Parteien betrachtet und die Sozialstruktur, das politische System und der Parteienwettbewerb nur dort herangezogen, wo es problemrelevant erscheint und zur Erklärung des Parteihandelns beiträgt. Zu den Umweltbedingungen des Parteihandelns zählen auch ideelle Faktoren. Im weiten Sinne umfasst es die politisch-kulturelle Dimension (vgl. Borchert 1995; Gransow/Offe 1981). In der Gegenwart betrifft sie die gesellschaftlichen Zustimmungsmuster, einen sowohl in der Gesellschaft als auch innerhalb der Eliten geteilten Basiskonsens – gesellschaftliche Hegemonie (vgl. Jessop 1990: 161). Dieser politische Basiskonsens bereitet und beschränkt den Handlungsraum der Akteure (Heffernan 2002). Aber jeder gesellschaftliche Konsens verläuft entlang historischer Dimensionen, entlang nationaler Traditionen, Tradierungen und Erfahrungen. So bilden beispielsweise die national spezifischen „political economy traditions“ (Bonoli 2001; Bonoli/Powell 2002; Schmidt 2000) bzw. „economic ideology traditions“ (Gourevitch 1986) oder auch die „politische Kultur“ (Lepsius 1990), die die Akzeptanz wirtschaftspolitischer Doktrin und die dazugehörigen Normen, Werte, Traditionen bezeichnen, einen wichtigen Referenzpunkt für die Reflexion der kollektiven Akteure. Der Rolle von Ideen, Diskursen – also kognitiven und normativen Faktoren – wird im Neoinstitutionalismus mittlerweile eine größere Rolle in der Erklärung des institutionellen Wandels wie auch des Akteurshandelns eingeräumt (Schmidt 2006b). Überdies: Parteien sind zwar „Gesinnungsgemeinschaften“ (Duverger 1959), die bestimmten Weltanschauungen anhängen. Aber sie beruhen – in der Begrifflichkeit von Lepsius – auf „sozialmoralischen Milieus“, als deren „politische Aktionsausschüsse“ sie fungieren (1973). Sozialmoralische Milieus haben in der Regel vorparteiliche Vergesellschaftungen und/oder Interessenorganisationen – Verbände, Gewerkschaften oder Kirchen –, die ihre Interessen über Parteien in das politische System tragen und ihnen dafür Unterstützung anbieten (im Fall sozialdemokratischer Parteien natürlich vor allem Gewerkschaften). Parteien sind somit durch historisch gewachsene Verkopplungen mit bestimmten Verbänden mit der Gesellschaft verkoppelt, sie bilden „Organizational Net31
works“ (Sartori 2005: 8f), die als gesellschaftliche Machtressourcen sowohl Ressource als auch Restriktion sind. 2.2 Parteien als Organisationen Bisher wurden zentrale Fragen zum Handeln kollektiver Akteure ausgeklammert: Können Parteien überhaupt handeln? Wer handelt und was macht eine Partei eigentlich aus? Wie verändern sie sich? In Kurzform: Parteien sind „kollektive Akteure, die nach eigenem Ermessen Entscheidungen treffen“ (Anderson 1994: 8). Untersucht man Parteien aus einer Akteurs- und Handlungsperspektive, sind sie – wie die meisten politischen Organisationen – keine einheitlichen Entitäten (unitary actors), sondern in erster Linie Freiwilligenverbände, deren kollektives Handeln immer ein Ergebnis der ineinandergreifenden Interaktionen, Konfliktaustragungen, Deutungsprozesse und Handlungsbestimmungen der Mitglieder ist (vgl. Wiesendahl 1998: 95ff). Parteien sind also keine intern homogenen Akteure, aber es lassen sich im politischen Prozess Entscheidungen, Prozeduren oder programmatische Aussagen ausmachen, die der Partei als Ganzes zugerechnet werden können. Gleichwohl sind solche öffentlich wahrnehmbaren Positionen und Entscheidungen das Produkt von parteiinternen Beratungen, Diskussionen und Machtkämpfen (vgl. Wiesendahl 1998: 95, 110). Das bedeutet nicht, dass die Handlungen kollektiver Akteure demnach die Meinungen und Präferenzen aller beteiligten Individuen abbilden, sondern lediglich, dass sich aufgrund von Macht und/oder (demokratischen) Verfahren eine Handlung als öffentlich hegemonial und zuordenbar herausgestellt hat. Können also Parteien handeln, sind sie selbst ein Akteur? Das Konzept des korporativen Akteurs kann herangezogen werden, um die vorangegangene Frage positiv zu beantworten. 2.2.1 Der korporative Charakter von Parteien Grundsätzlich gilt, dass Organisationen (also auch Parteien) durch Handlungen konstituiert sind, sie sind ein „Feld verdichteter Interaktion“ (Geser 1990: 403). Adloff spricht mit Rückgriff auf Amitai Etzioni (1975) von „makroskopischen Handlungen“, die nicht auf die Lebenswelt der Individuen zurückgeführt werden, da kollektive Akteure eigenständig und autonom handeln können, also mehr sind als die Summe der individuellen Akteure (vgl. Adloff 2004: 316ff). Mit anderen Worten: Eine Organisation bzw. eine Partei kann „als Ganzes“ der soziologischen und politikwissenschaftlichen Analyse unterzogen werden, ohne dass jede 32
ihrer Handlungen auf die individuellen Handlungen der Mitglieder zurückgeführt werden muss. Im Vergleich zu Individuen zeichnen sie sich sogar durch eine höhere Binnentransparenz und Zielspezifität aus. Durch mannigfaltige Selektionsschlüsse sind Parteien keine reine Übersetzung der individuellen Willensartikulationen, sondern es existiert ein Eigengewicht der Organisation (vgl. Geser 1990: 404). Organisationen können selbst Akteure sein, wenn erkennbar „Prozesse autonomer Selektivität, sinnhafter Intentionalität und zielgerichteter Rationalität zugrunde liegen“ (Geser 1990: 403). In einer anderen Begrifflichkeit: Sie sind korporative Akteure..15 Korporative Akteure sind nach der Definition von Mayntz/Scharpf: „[H]andlungsfähige, formal organisierte Personen-Mehrheiten, die über zentralisierte, also nicht mehr den Mitgliedern individuell zustehende Handlungsressourcen verfügen, über deren Einsatz hierarchisch (zum Beispiel in Unternehmen oder Behörden) oder majoritär (zum Beispiel in Parteien oder Verbänden) 16 entschieden werden kann“ (1995: 49f).
Ein zentrales Merkmal korporativer Akteure ist die überindividuelle Zurechenbarkeit des Handelns. Nach Mayntz/Scharpf gibt es drei Voraussetzungen, die korporative Akteure erfüllen müssen, um eben solche zu sein: (1) die Fähigkeit zur kollektiven Willensbildung, (2) die effektive Steuerung des Handelns (der eigenen Mitglieder) und (3) die Stellvertretung durch (demokratische) Überlassung der Mitgliedsrechte.17 Als Freiwilligenorganisationen mit demokratisch legitimierter Repräsentanz (oder: Führung) und kollektiv-symbolischer Programmatik erfüllen Parteien alle drei Kriterien. Dennoch sind Prozesse kollektiver Willensbildung, Handlungssteuerung sowie die Frage der Repräsentation selbst komplexe Prozesse, die weitere Erläuterung benötigen. Zunächst muss man feststellen, dass Parteien
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Obgleich oftmals kollektiver und korporativer Akteur synonym verwendet bzw. nicht hinreichend unterschieden werden (vgl. Adloff 2004: 303). 16 In der Rational-Choice-Schule kommt der Begriff des korporativen Akteurs von James Coleman (1992). Allerdings betrachtet er korporative Akteure vor allem unter dem Gesichtspunkt einer (rechtlichen) Kontrollstruktur, die sich auf eine Identität der Präferenzen/des Handelns von Personen und der Organisation bezieht. Dadurch hat eine Organisation denselben Status wie ein Individuum. Colemans Ansatz geht von zwei – durchaus fruchtbaren – Überlegungen aus: Korporative Akteure entstehen durch Ressourcenzusammenlegung von Individuen und dem (demokratischen) Abtritt der Handlungsrechte. Für meine Fragestellung hinsichtlich Parteien handelt es sich um demokratische, „von unten organisierte“ Interessenorganisationen (vgl. Schimank 2004). 17 Helena Flam (1990) sieht ebenso korporative Akteure im Sinne eines Transfers von Entscheidungs- und Kontrollfunktionen innerhalb von Mitgliedsorganisationen.
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„lose verkoppelte Anarchien“ (Wiesendahl 1998: 242ff) sind.18 Die Partei in der Regierung, die Parteiorganisation (im engeren Sinne als Apparat) und die Partei an der Basis und die einzelnen Strömungen, Interessengruppen, agieren zwar in einem gemeinsamen Verbund, sind aber relativ autonom. Parteien haben „multiple Identitäten“ – sie müssen nicht notwendig kohärent sein, sondern sind intern von Gruppen oder Koalitionen mit disparaten Orientierungen geprägt (Wiesenthal 1995, 1990).19 Doch trotz der internen Differenzierung verfügen Parteien durch ein gewisses Set an Werten, Interessen und Organisationskulturen über eine integrierende Identität, ein neuronales Netz, das die einzelnen Sektionen – meist hinter ihrem Rücken – zusammenhält; sie sind über Sinn vergemeinschaftet (vgl. Wiesendahl 1998: 125). 2.2.2 Politische Führung: Hegemonie und Konsens Durch den Bottom-up-Transfer der Mitgliedsrechte an eine demokratisch legitimierte Repräsentation wird die Führung zum Pars pro Toto der Gesamtorganisation: „Über repräsentale Interaktion handeln und kommunizieren organisierte Großgruppen […] als kollektive Akteure. Der Repräsentant einer Gruppe bringt gleichsam diese Gruppe zum Handeln.“ (Adloff 2004: 317; vgl. Adloff 1999: 154). Indem die Führung handelt, so kann man als vorläufige Forschungsheuristik festhalten, handelt auch die Organisation. Dahinter steckt jedoch ein komplexer und oftmals widersprüchlicher Prozess. Den Repräsentanten werden in nach Effizienz strebenden Organisationen weitgehende Kontrollressourcen zugesprochen, mit denen sie die Organisationsinteressen gegenüber der Umwelt artikulieren, zugleich aber die Organisation nach innen führen können. Politische Führung ist dabei keineswegs ein mechanischer Prozess der Interessenverdichtung und Machtausübung; persönliche Führungsstile, Responsivität und Charisma spielen für die Ausübung und den Erfolg politischer Führung eine eminente Rolle (vgl. Walter 1997; Helms 2000).20 Die Delegierung der Repräsentation führt zu einer innerparteilich strukturellen Asymmetrie von Mitgliedern und der Führung über die materielle und kommunikative Ressourcenkontrolle der Organisation, verleiht der Führung also Diskursmacht und gibt ihr einen hohen Grad an Autonomie gegenüber „der Ba18
Peter Lösche und Franz Walter (1992a) haben diese These anhand der SPD verfolgt. Helmut Wiesenthal (1990: 54ff) geht sogar so weit zu behaupten, dass Multiple Selfs keine „eigene“ Identität hätten, sondern diese lediglich durch externe Zuschreibung besäßen. 20 Klassisch zur Frage des Charismas in der politischen Führung sind – wie so häufig – die Ausführungen von Weber (1980). Panebianco (1988) hat die Quellen des Charismas in „situationale“ und „personale“ unterschieden. 19
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sis“. Dennoch bleibt jede Führung rückgebunden an die Mitglieder, vor denen sie sich rechtfertigen und in regelmäßigen Abständen legitimieren lassen muss. In jeder Partei gibt es mehrere soziale und politische Gruppen, Milieus, Strömungen, die um die innerparteiliche Hegemonie, das Zusammenspiel aus diskursiver Deutungshoheit und der Kontrolle der „Zonen organisatorischer Unsicherheit“ (vgl. Panebianco 1988: 22ff, 38ff), ringen. Jene Gruppierungen, die innerparteilich hegemonial sind, die die Mehrheit der Führung stellen, werden in der organisationssoziologisch orientierten Parteienforschung auch „dominante Koalition“ genannt.21 Die soziale und politische Zusammensetzung der Parteiführung soll daher als ein Ausdruck der jeweiligen dominanten Koalition verstanden werden. Eine dominante Koalition steht zwar „an der Spitze“ einer Organisation, aber sie ist durchaus nicht frei von Restriktionen – sie muss schlichtweg Kompromisse eingehen und beständig um den Erhalt ihrer hegemonialen Position kämpfen (vgl. ebd.: 13). Denn die dominante Koalition muss den Zusammenhalt, die Zukunfts-, Strategie- und Kampagnenfähigkeit der Partei erhalten und dafür die verschiedenen anderen Gruppierungen innerhalb einer Partei immer wieder integrieren. Legitimität erreicht und erhält die Führung nur, wenn sie den Parteimitgliedern ihre Strategie plausibel als Erfolg versprechend vermitteln kann. Gleichzeitig muss sie aktive Parteimitglieder materiell und mit Status versorgen, um sich auf diese Weise ihrer Loyalität zu versichern (vgl. ebd.: 40ff). Zentral für die Hegemonie der politischen Führung ist die Zustimmung der Mitglieder, ihr Konsens. Etzioni hat dafür den Begriff „Konsensmobilisierung“ verwendet (vgl. Adloff 2004, 1999). Über Konsens kann auch die Brücke zwischen Repräsentation und kollektiver Willensbildung geschlossen werden. „Nach oben“ ist der Konsens wie ein umgedrehter Trichter: Zur Spitze nimmt die Varianz ab, „nach unten“ kommunizieren die Repräsentanten mit den spezifischeren Perspektiven der Repräsentierten: „Wenn Organisationen auf einer vermuteten [bzw. demokratisch legitimierten; d. Verf.] gemeinsamen Präferenz ihrer Mitglieder beruhen […], können innerorganisatorische Konsensbildungsprozesse zu einer Herausarbeitung gemeinsamer Organisationsziele und Handlungsstrategien führen. Gelingt die gemeinsame Willensbildung, kann man von einem repräsentativen kollektiven Akteur sprechen“ (Adloff 2004: 322; vgl. auch Wiesenthal 1993: 5).
Durch Konsensmobilisierung kann die Führung nicht nur ihre Hegemonie stabilisieren oder gar ausbauen, es ist insbesondere ein höheres Niveau an Selbst21
Hier werden hegemoniale und dominante Koalition synonym verwendet.
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steuerung und strategischer Zielverfolgung möglich. Mehr noch: Durch die Rückgebundenheit der Führung und die multiplen Identitäten einer Organisation werden Lernen und reflexive Handlungsfähigkeit erst ermöglicht (vgl. Adloff 2004; Wiesenthal 1995). 2.2.3 Parteiprogramme Die Integration der Partei findet – neben der Organisationskultur im weiten Sinne – über die Programmatik statt. Die Handlungen der Partei werden, wie im Folgenden argumentiert wird, jedoch nur sehr lose durch die Programmatik strukturiert. Parteien sind Organisationen, die zweck- und wertrationalen Zielen nachgehen. Sie haben und verfolgen eine Programmatik. Obgleich es immer wieder Parteien gibt, die einfach nur als Instrumente zur Erlangung von Macht erscheinen, sind die meisten Parteien mit einer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Agenda ausgestattet, auf deren Grundlage sie handeln. Trotz zahlreicher Debatten über die Funktion von Programmen sind ihre Deutungen widersprüchlich. Das liegt vor allem an dem oftmals offenkundigen Widerspruch zwischen den Organisationszielen, die in den Grundsatzprogrammen festgeschrieben sind, den Zielen in den Wahlprogrammen und der konkret verfolgten Politik. Nur selten besteht ein Einklang zwischen ihnen. Denn Programme repräsentieren nicht „das faktische Wissen des Akteurs, sondern Deutungsfiktionen, die unbeschränkt Raum lassen für den Umgang mit logischen Widersprüchen und unvorhergesehenen Umweltänderungen“ (Wiesenthal 1990: 77). Aber dennoch kommt keine Partei ohne Programm aus. Um die Bedeutung von Parteiprogrammen zu verstehen, muss man die funktional nach innen und nach außen gerichteten Aspekte unterscheiden. Diese Unterscheidung korreliert in der Regel mit der Programmform: Auf einem Kontinuum zwischen innen und außen sind Grundsatzprogramme am stärksten nach innen gerichtet, während Wahl- und vor allem Aktionsprogramme sich nach außen wenden. Und: Je stärker Programme nach innen gerichtet sind, desto größer ist der symbolische Charakter. Je weiter sie sich in Richtung Aktionsprogramm bewegen, desto größer ist ihr sachlicher Charakter. Im Folgenden wird zuerst die Innen- und im Anschluss die Außenwirkung sowie die Policywirksamkeit von Parteiprogrammen beleuchtet. Stammen (vgl. 1979: 25-33) macht fünf interne Funktionen von Programmen aus: Integrations-, Identifikations-, Stimulations-, Herrschafts- und Legitimationsfunktion. Sie konstituieren durch Wertvorstellungen, Weltanschauungen und Normen die symbolische Ordnung, die Identität einer Partei und ermögli36
chen die Zusammenfassung der vielen Einzelwillen zu einem Gesamtwillen. Vor allem für die Aktivisten einer Partei bedeuten sie Selbstverständigung, Motivation, moralische Ressource. Gerade bei Grundsatzprogrammen ist der sinnbildliche Gehalt hoch; sie dienen vornehmlich zur „Orientierung und Richtungssymbolisierung“ sowie als Rahmen „über die Tagespolitik hinaus“ (Meyer 2004b: 5). Demgegenüber bieten sie nur in einem sehr weiten Sinne Handlungsorientierung. Der innerparteiliche Prozess der Erstellung ist für die Parteiintegration oftmals wichtiger als der Programmtext selbst.22 Grundsatzprogramme haben eine große Bedeutung im Prozess des Parteienwandels: Sie sind gleichermaßen Instrument und Objekt des Wandels, dienen der Ermöglichung und Begrenzung von innerparteilicher Macht. Für dominante oder rivalisierende Koalitionen bieten Programme, insbesondere im Prozess ihrer Erstellung, die Möglichkeit, um die innerparteiliche Legitimität und damit verbundene Hegemonie zu streiten. Programmdiskussionen sind ein Element politischer Führung wie auch ein Diskussionsprozess innerhalb der Führung; sie finden gesteuert, inszeniert und choreografiert statt. Wandel ist in die Geschichte der Partei, in ihre kollektiven Erfahrungen, Mythen, überlieferten Werte und Normen eingebettet. Oder, um mit M. Rainer Lepsius zu sprechen: „[D]ie Brechung der Tradition gelingt immer am besten im Namen traditionell akzeptierter Wertvorstellungen, auch wenn die Neuerung die tradierte Wertvorstellung auflöst“ (1990: 26).
Überlieferte Wertvorstellungen haben also ein großes Gewicht in einer Partei, obwohl gemeinhin davon ausgegangen wird, dass die Parteiführer aus egoistischen Motiven (office-seeking) immer wieder versuchen, die Grundpositionen der Partei in Frage zu stellen. Panebianco betont dagegen, dass die Legitimität der Führung an die programmatischen Grundsätze einer Partei gebunden ist. Auch wenn die Parteiführung angepasste Ziele, den Wahlerfolg oder die Regierungsteilhabe – im Gegensatz zur Prinzipienlogik vieler Basismitglieder – verfolgt, kann sie den Rahmen der Programmatik nicht völlig verlassen, wenn sie auch weiterhin als legitime Führung agieren will. Das Verhältnis zwischen Parteizielen und realem Verhalten zerbricht nicht, es dünnt aus (vgl. 1988: 16f). Nach außen signalisieren Parteiprogramme die weltanschauliche Ausrichtung und im begrenzten Maßstab Policypräferenzen. Stammen (vgl. 1979: 25-33) 22 Andrea Nahles, seit Oktober 2007 stellvertretende Parteivorsitzende der SPD und maßgeblich an der Erstellung des Berliner Programms beteiligt, hat dies in einem Gespräch im Rahmen der AG Parteienforschung der Universität Göttingen folgendermaßen ausgedrückt: „Das Produkt ist egal.“
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schreibt Parteiprogrammen in der Außenwirkung vier Funktionen zu: Werbe-, Profil-, Agitations- und Operationsbasisfunktion. Die ersten drei Bestimmungen sind Signale an die Wähler und mögliche Anhänger, nur die Vokabel der Operationsbasisfunktion weist auf die konkreten Sachforderungen von Programmen hin. Gerade in Wahlkämpfen leiten sie die Aktivisten argumentativ an, werben in der Bevölkerung um Sympathie und neue Mitglieder, verdeutlichen die Policypräferenzen der Parteien. Zwar sind Wahlprogramme ebenfalls symbolbehaftet, aber insgesamt realistischere und politiknähere Dokumente. Sie vermitteln die Grundwerte, formulieren aber vor allem aktuelle Sachforderungen und Policyalternativen. Sie können deshalb als praxisleitend verstanden werden (vgl. Klingemann/Volkens 2002: 513). 2.3 Politische Paradigmen und die soziale Gerechtigkeit Wahlprogramme werden, falls man in Regierungsverantwortung kommt, auch teilweise umgesetzt. In der Schule der räumlich-ökonomischen Theorien der Politik werden Programme als Akte kollektiver Willensbildung verstanden, die die Richtung der Regierungspolitik signifikant beeinflussen (Klingemann et al. 1994). Entgegen geläufigen Deutungen über die Unterschiedslosigkeit von Parteien kann man auch weiterhin davon ausgehen, dass sich ideologische Unterschiede in ihrem Regierungshandeln widerspiegeln (Schmidt 2002; Caul/Gray 2000). Die mit der Parteiendifferenzthese kompatiblen Studien messen allerdings nicht, welche Wahlversprechen umgesetzt und welche nicht umgesetzt wurden, sondern können nur etwas über die relativen Unterschiede zwischen den Parteien auf einer Links-Rechts-Skala aussagen. Zudem ist die binäre Codierung (z. B. für/gegen Ausbau des Wohlfahrtsstaates) nicht geeignet, Aussagen qualitativer Art über den substanziellen Inhalt der Programme zu treffen, sondern nur über ihre relative Positionierung im Parteienwettbewerb. Die grundsätzliche Programmatik von Parteien steht häufig nur in einem losen, oftmals bloß symbolischen Verhältnis zu den realen Policies. Schon Marx wies darauf hin: „Und wie man im Privatleben unterscheidet zwischen dem, was ein Mensch von sich meint und sagt, und dem, was er wirklich ist und tut, so muß man noch mehr […] die Phrasen und Einbildungen der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden“ (Marx 1852: 139).
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Es ist mitnichten so, dass Programmatik nur Fassade wäre, aber es braucht eine „Realanalyse“ (Stammen 1979: 30f), um (grundsätzliche) Programmatik und Politik in Beziehung zueinander zu setzen. Für dieses Vorhaben wird im Folgenden eine Heuristik entworfen. Nullmeier betont den diskursiven Zwischenraum, der für Akteurshandeln besteht: „Zwischen die ökonomische Situation, Sozialstruktur, Gruppenzugehörigkeit, Institutionen einerseits und das individuelle oder kollektive Handeln schiebt sich ein zunehmend breiterer Raum für Deutungsprozesse“ (1993: 187).
Dieser Zwischenraum zwischen Strukturen, normativen Grundwerten, Interpretationsleistungen und der Formulierung von Policyalternativen soll hier als politisches Paradigma bezeichnet werden. Peter Hall bezeichnet als politisches Paradigma (vgl. 1993, 1992b) einen Komplex von Ideen und Begriffen, der die Deutung der sozialen und ökonomischen Realität strukturiert, Ziele bestimmt und die Policies gestaltet. Durch diesen Begriff kann sich der Nahtstelle zwischen Programmatik und Policies mittels einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik genähert werden. Ein politisches Paradigma drückt sich mannigfaltig aus, es kann gleichwohl exemplarisch an einem Deutungsmuster verdeutlicht werden.23 Ein für die Sozialdemokratie relevantes Deutungsmuster ist die soziale Gerechtigkeit. Sie war und ist in der politischen Ideengeschichte der Sozialdemokratie zu jederzeit implizit oder explizit diskutiert worden; sie ist Deutungsmuster und in jüngster Zeit auch zunehmend der zentrale Leitbegriff. Eine der Aporien der gegenwärtigen Debatte um soziale Gerechtigkeit ist das Auseinanderfallen des Stellenwerts des Begriffs und seiner Begriffsgeschichte. (Soziale) Gerechtigkeit ist der wahrscheinlich bedeutendste und gleichermaßen umkämpfteste „Schlüsselbegriff in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung der Gegenwart“ (Lepenies 1994). Die Anzahl der Publikationen seit dem Erscheinen von John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ im Jahr 1971, dem wohl meistdiskutierten Werk der egalitären Gerechtigkeitsdebatte der letzten 30 Jahre, ist unüberschaubar geworden (vgl. zum Überblick Höffe 2001; Callinicos 2000; Ladwig 2004; kritisch Kersting 2003; Krebs 2000a). Ebenso vielzählig sind die einzelnen Bedeutungen des Begriffs soziale Gerechtigkeit (Wegener 2002). Doch seine historischen Wurzeln sind kaum erschlossen. Schon seit Aristoteles kennt die Philosophie mehrere Gerechtigkeiten, aber der Begriff der sozialen Gerechtigkeit 23 Vgl. hierzu den Ansatz der „Deutungsmusteranalyse“ (Lüders/Meuser 1997). Keller sieht auch den Ansatz des Framings, wie er von Erving Goffman entwickelt und in der Bewegungsforschung gebraucht wird, als mögliches funktionales Äquivalent (1992). Zum Konzept des Framings vergleiche z. B. Rein (2007) und Snow/Benford (1992).
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erscheint in der Debatte erst „sehr spät, überdies so beiläufig, dass sein erstes Auftreten kaum dingfest zu machen ist“ (Höffe 2001: 84; vgl. Fleischacker 2004: 4). Ein weiteres Indiz für diesen Befund ist, dass das von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck herausgegebene mehrbändige Werk „Geschichtliche Grundbegriffe“ (1972–2004), das wichtigste Referenzwerk im deutschen Sprachraum zur politischen Sprache, keinen Beitrag zum Begriff soziale Gerechtigkeit aufweist, ja nicht mal einen Unterabschnitt. Eine Genealogie des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit in der sozialistischen Bewegung und ihren Parteien ist dem Verfasser unbekannt. Grob gesagt, geht es bei der sozialen Gerechtigkeit um die Frage der Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen, Güter und Chancen (vgl. Ladwig 2004: 120; Jackson 2005: 358). Wenn in dieser Arbeit sich mit der begrifflichen Konzeption von sozialer Gerechtigkeit in der SPD und der Labour Party beschäftigt wird, werden folgende, teilweise pragmatische und vereinfachende Prämissen zugrunde gelegt (für eine Darstellung siehe Abbildung 1).24 Es wird unterschieden zwischen den einzelnen Begründungen für soziale Gerechtigkeit und Gerechtigkeitsprinzipien. Die drei klassischen Begründungen für soziale Gerechtigkeit sind Bedarf, Leistung und soziale Rechte (Miller 1976a). Allerdings finden sich empirisch auch andere Begründungen wie das normative Ziel der sozialen Gleichheit oder das Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe.25 Die drei zentralen Gerechtigkeitsprinzipien sind Verteilungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit26 und Leistungsgerechtigkeit, die mitunter unterschiedlich miteinander verknüpft sind und auf verschiedene Felder bzw. Personen/Gruppen bezogen werden.27 Verteilungsgerechtigkeit wird in zwei Kategorien gegliedert. Erstens das Minimumprinzip: Hierbei wird ein bedarfsorientiertes, existenzsicherndes, Teilhabe und Würde ermöglichendes Minimum angestrebt. Zweitens, die egalitäre Verteilungsgerechtigkeit: Ziel ist die gesamtgesell24
Jeder sozialphilosophische Ansatz bevorzugt eine andere Ordnung der Gerechtigkeitsbegriffe, hier wird ein pragmatisches, für die Analyse sozialdemokratischer Parteien geeignetes Raster gebraucht. 25 In der gegenwärtigen Diskussion wird der Begriff Teilhabe oft synonym zum Begriff der Inklusion verwendet. Hier steht Teilhabe für die Forderung sowohl nach kultureller, politischer und ökonomischer Aufwertung, für Partizipations- und Mitbestimmungsmöglichkeiten. 26 Chancengerechtigkeit ist hier nicht identisch mit dem teilweise in der Diskussion zum Dritten Weg gebrauchten Begriff, der gerechte Chancen in einem extrem liberalen Sinne gebraucht (vgl. Draheim/Reitz 2004). 27 Die in meiner Arbeit entwickelten Kategorien wurden durch ein doppeltes Verfahren gewonnen: Zunächst wurden aus den bekannten Gerechtigkeitstheorien deduktiv Kategorien gebildet und diese anhand der Dokumente überprüft. Da sich mit diesen Kategorien das oftmals komplexe Gerechtigkeitsverständnis der SPD und der Labour Party nicht hinreichend analysieren ließ, wurden die deduktiv gewonnen Kategorien nochmals induktiv erweitert und modifiziert. Zur Methode vgl. Mayring (2000).
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schaftliche Verringerung der Ungleichheit zwischen den Individuen und sozialen Gruppen.28 Auch die Chancengerechtigkeit wird in zwei Unterkategorien unterteilt. Die erste ist die formale Verfahrensgerechtigkeit: Hierbei geht es um die Nichtdiskriminierung im Prozess, kurz: um faire Partizipationschancen. Die zweite Bedeutung ist die Chancengleichheit mit der Betonung auf dem zweiten Teil des Wortes: Die Unterschiede der Startchancen, die man vor allem durch das Glück oder Unglück der Geburt in eine bestimmte soziale Lage mitbekommen hat, sollen verringert werden. Ebenfalls nach zwei Untergruppen differenziert ist die Leistungsgerechtigkeit. Sie ist verwandt mit der Verteilungsgerechtigkeit. Sie folgt zwar einem Ethos der Leistung, fordert aber gleichzeitig, dass diese Leistung in der gesellschaftlichen Verteilung entsprechend honoriert wird. Die proportionale Leistungsgerechtigkeit bezieht sich auf eine Äquivalenz von Aufwendungen und Gegenleistung. Das kann sich auf individuelle Faktoren wie die Lohnhöhe, aber auch gesellschaftliche Größen beziehen, z. B. auf die Verteilung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands zwischen der Produzentengemeinschaft „Arbeit“ und der Gemeinschaft der Besitzer von „Kapital“.29 Die solidarische Leistungsgerechtigkeit ist eine nichtäquivalente Belastungsgerechtigkeit, die auf Reziprozität in der Solidargemeinschaft beruht. Sie funktioniert nach dem Leitspruch, dass starke Schultern mehr tragen können.30
28 Das Differenzprinzip in der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls (1979) vereint sowohl egalitäre Elemente als auch das Minimumprinzip. Es besagt, dass begrenzte Ungleichheiten legitim sind, solange sie „den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen“ (ebd. 336). 29 Empirisch wird sich dieser Leistungsgerechtigkeit gewöhnlich durch die Lohnquote, den Anteil der Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen, genähert. Die Aussagekraft der Lohnquote ist jedoch nicht unumstritten (vgl. Weiß 2004; Schäfer 2004). 30 Beispielsweise werden in der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung die Beiträge nach der Leistungsfähigkeit erhoben, wogegen sich die Leistungen nach dem Bedarf richten.
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Abbildung 1: Gerechtigkeitsprinzipien Verteilungsgerechtigkeit
Chancengerechtigkeit
Leistungsgerechtigkeit
Variation Minimum
Leitgedanke Existenzminimum
Begründung Bedarf, Teilhabe
egalitär
Reduzierung der Ungleichheit
soziale Gleichheit, Zusammenhalt
Verfahrensgerechtigkeit
Nichtdiskriminierung im Prozess
Staatsbürgergleichheit, Teilhabe
Chancengleichheit
Egalisierung der Ausgangschancen
Staatsbürgergleichheit, Leistung, Teilhabe
proportional
Aufwand und Gegenleistung
Leistung, Äquivalenz, Teilhabe
solidarisch
Belastung nach der Leistungsfähigkeit, Leistungen nach dem Bedarf
Leistung, Reziprozität, Solidargemeinschaft
Quelle: Eigene Darstellung Wie Reinhard Koselleck (1972) deutlich gemacht hat, ist ein politischer Grundbegriff wie soziale Gerechtigkeit zugleich Indikator als auch Faktor des Sozialen. Denn Begriffe sind in ihrer Semantik „halboffen“: Zum einen verweisen sie auf die geschichtliche Entwicklung ihres sozialen Kontextes und sich selbst, zum anderen sind sie Objekt von Sprachpolitik, von einem interessengeleiteten, seinsverbundenen „semantischen Kampf“ (Koselleck 2000: 113f). Auch wenn Sprache und Handlung nicht in Übereinstimmung treten, so restringiert die Sprache, indem sie Handlungsalternativen formuliert: „Semantik […] indiziert oder favorisiert einen bestimmten Weg, Erfahrungen und Gedanken zu organisieren und zu steuern“ (ders. 2006: 93).
Philosophische „Fluchtlinien imprägnieren das ganze Vokabular“ (ders. 1972: XVII). In Begriffen ist Geschichte gespeichert, gleichsam greifen sie aus in die Zukunft. So kann man anhand des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit das 42
Dreieck aus Programmen, Policies und politischen Paradigmen verbinden wie auch verdeutlichen. Das politische Paradigma dient einesteils zur verstehenden Rekonstruktion von Policies, indem die Deutungen, Leitbilder und politischen Zielvorstellungen der Akteure aus den Policies „herausgelesen“ werden (so werden in Kapitel 7 dieser Arbeit die wohlfahrtsstaatlichen Reformen der SPD und von New Labour mit dem Ziel untersucht, das der Reformpolitik zugrunde liegende politische Paradigma zu extrahieren).31 Andernteils ist im politischen Paradigma die beständige Selbstreflexion der Akteure über ihre Zeitdiagnose, ihre Basisphilosophie und die damit verbundenen Leitbilder enthalten. Kurzum: Der Begriff des politischen Paradigmas soll hier in zweifacher Weise verstanden werden. Zum einen als reflexive Steuerung des eigenen Handelns, als Scharnier zwischen Struktur, Wissen und Handlung. Zum anderen als Deutungs- und Interpretationsrahmen, der gleichermaßen die Maßstäbe für das eigene Handeln liefert. Das politische Paradigma ist also „rationales Motivationsverstehen“ bzw. „Sinnzusammenhang“ (Weber 1984 [1921]: 24). Zu einem politischen Paradigma werden in dieser Arbeit zwei Elemente gezählt: (1) eine Zeitdiagnose und (2) eine politische Ökonomie. Die Zeitdiagnose (wie „die Globalisierung“) gibt Auskunft über den dominanten Befund in der Partei über die gesellschaftliche Grundkonstellation. Eine Zeitdiagnose stellt den kognitiven Filter, die Selektions- und Strukturierungshilfe, die meist latente Strukturierung der Wirklichkeitswahrnehmung dar und vermittelt bereits kollektive Sinngehalte. Eine Zeitdiagnose ermöglicht es individuellen und kollektiven Akteuren, die Realität in typisierter Weise wahrzunehmen, sie zu interpretieren und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Meist implizieren sie bereits Vorstellungen, wie angemessen zu handeln sei (vgl. Keller 2005: 235). Die Zeitdiagnose ist also selbst schon politisch präformiert, weil sie Information selektiert und ordnet. Die Zeitdiagnose ist der vorgelagerte, eher vortheoretische Teil der politischen Ökonomie. Diese ist weniger kognitiv, sondern diskursiv. Ein politische Ökonomie gibt auch Auskunft über die Ordnung der „fundamentalen Präferenzen“, die vorstrategisch und im Zeitverlauf von kollektiven Akteuren im Zusammenspielt von Interessen, Ideen und Institutionen gebildet werden (vgl. Hall 2005). Eine politische Ökonomie ist nicht universell. Sie ist – wie es in Bezug auf institutionelle Leitbilder ausgedrückt wurde – selbst Gegenstand und Resultat 31 Aldo Legnaro hat in einem ähnlichen Unterfangen, das sich jedoch stärker auf die Arbeit von Foucault stützt, davon gesprochen, Reformen anhand der Grundlagendokumente und Gesetzestexte auf ihre Ratio hin zu „rezensieren“ (2006: 514f).
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eines „national je spezifischen“ institutionellen und diskursiven Prozesses (2003b: 45; vgl. auch Hall 2005: 142-151). Dabei handelt es sich einesteils um eine enge ökonomische Doktrin (wie die Neoklassik oder der Keynesianismus) und die sozialpolitische Basisphilosophie, andernteils um damit verknüpfte gesellschaftliche Grundannahmen über die Ordnung des Marktes, die Rolle des Staates, die institutionalisierte Konfliktaustragung oder die Verteilung der gesellschaftlichen Macht (vgl. Esping-Andersen 1998: 19-24; Przeworski 1985: 206). Zudem enthält die politische Ökonomie neben den wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen auch moralische Prinzipien32: „Eine Theorie der politischen Ökonomie muss eine Bestimmung des öffentlichen Wohls auf der Grundlage einer Gerechtigkeitsvorstellung enthalten“ (Rawls 1979: 292).
Kurz: In einer politischen Ökonomie wird immer auch sozialphilosophisch bestimmt, was (sozial) gerecht ist oder sein soll. Das politische Paradigma als Diagnose- und Handlungsrahmen der Partei sowie der Begriff der sozialen Gerechtigkeit sind Teil innerparteilicher Hegemonie. Sie sind eingebettet in die Umwelt der Partei, leiten Policies an, sind aber Gegenstand von (Um-)Deutungspraktiken. Soziale Gerechtigkeit als „halboffener“ Begriff steht im Zentrum des innerparteilichen Kampfes um Hegemonie und Konsensmobilisierung. Die Deutungsmacht um seine Semantik legitimiert die dominante Koalition in der Partei. Soziale Gerechtigkeit, wird schließlich zu einem Transformationsbegriff im Wandel von SPD und Labour Party, da er semantisch die Transformation zur Marktsozialdemokratie artikuliert.
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Schon die beiden bekanntesten politischen Ökonomen des 19. Jahrhunderts, Adam Smith und Karl Marx, waren sowohl Wirtschaftswissenschaftler als auch Sozialphilosophen.
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3. Vorkeynesianische Sozialdemokratie „Socialism is what a Labour government does.” Herbert Morrison „Wir kennen den Weg, wir kennen das Ziel.“ Rudolf Hilferding
Die Geschichte der Sozialdemokratie ist die Geschichte ihrer Umbrüche. Als parteiförmige Artikulation der Arbeiterbewegung hat sie sich seit ihrer Gründung mehrmals gehäutet, erneuert und gewandelt. In diesem Kapitel werden die Konstitutionsmerkmale der Labour Party und der SPD vor dem Zweiten Weltkrieg vergleichend dargestellt. Ziel ist hierbei keine Geschichte der beiden Parteien, sondern eine synoptische, problembezogene Darstellung ihrer historischen Institutionalisierung (d. h. ihres „genetischen Modells“) sowie ihrer politischen Paradigmen, da diese bis zum heutigen Tag die Wandlungsprozesse der Parteien strukturieren. Dazu werden auch die ersten Protoformen der Sozialmodelle Deutschlands und Großbritanniens dargestellt, da in ihrem Schoß sich Labour Party und SPD fortan entwickeln sollten. In der abschließenden Betrachtung des Regierungshandelns werden die Grenzen des vorkeynesianischen politischen Paradigmas aufgezeigt und wird sein Scheitern analysiert. 3.1 Die Genese von SPD und Labour Party Sozialdemokratische Parteien haben ihre historischen Wurzeln in der politisierten Spaltungslinie (Cleavage) zwischen Arbeit und Kapital (Lipset/Rokkan 1967).33 Sie bilden zusammen mit den sozialistischen Parteien eine „Parteifamilie sui generis“ (von Beyme 1984), die sich zu Zeiten der Industrialisierung als politischer Arm der Arbeiterbewegung entwickelte. Bürgerliche Parteien sind aus der Aktivität parlamentarischer Fraktionen und dem Wechselverhältnis mit ihren Wählerorganisationen entstanden, „Arbeiterparteien, wie etwa die deutsche Sozialdemokratie, sind nicht aus Parlamentsgruppen und ihrer Aktivität hervorgegangen, sondern aus der politischen Organisation der Arbeiter außerhalb der Parlamente“ (Lenk/Neumann 1974: XVIf). In den Gründungsjahren zielte die 33
Die anderen historischen Spaltungslinien, die zu den bis in die 1960er Jahre „eingefrorenen“ Parteiensystemen führten, waren die zwischen Stadt/Land sowie Kirche/Staat.
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Mehrheit der Arbeiterparteien – die Labour Party war hier einzige relevante Ausnahme – noch auf den Sturz des Kapitalismus und den Aufbau einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaft ab, anschließend sahen sie partielle Reformen als Instrument zum allmählichen Hinüberwachsen in den Sozialismus an. Die historische Verbindung von Arbeiterbewegung und Sozialismus – als Weltbild oder politische Partei – war keine natürliche Wahlverwandtschaft, sondern das Ergebnis eines Prozesses gegenseitiger Annäherung und Durchdringung. Der Sozialismus konnte seine Bedeutung für die Arbeiterbewegung erlangen, die zumindest als Referenz und Residuum bis heute noch fortwirkt, weil er ein zwar oftmals widersprüchliches, im Kern gleichwohl kohärentes Gesellschafts- und Geschichtsbild liefern konnte, das die kurzfristigen Forderungen des politischen Tageskampfes mit längerfristigen Ordnungsvorstellungen verband. Und vor allem benannte der Sozialismus ein handelndes Subjekt – die Arbeiter –, das Projektionsfläche und Träger dieses Weltbildes war (vgl. Sassoon 1996: 5ff). Die Sozialdemokratie war von Beginn an geografisch und kulturell spezifisch ausgeprägt. Nationale Traditionen, politische Systeme, Gegner und Bündnispartner prägten ihr genetisches Modell. Vor allem SPD und Labour Party wurden immer gern als disparate Schwesterparteien betrachtet, die mehr unterschied, als sie gemeinsam hatten. Dabei wurde gerade die Labour Party auf Grund des Fehlens einer marxistischen Tradition und ihres historischen Staatsreformismus als Sonderweg angeführt (z. B. Nairn 1964a, b; Anderson 1964b, 1987; Weisbrod 1990). Tatsächlich sind die beiden Parteien von unterschiedlicher Herkunft, organisatorischer, weltanschaulicher und kultureller Konstitution, doch sind die Differenzen in der Vergangenheit oftmals zu stark betont worden (Berger 1997; vgl. Eisenberg 1989). In Großbritannien war der Kapitalismus im 19. Jahrhundert entwickelter und reifer als in Deutschland. Die Arbeiterbewegungen und ihre gewerkschaftsförmige Organisierung waren geschichtlich Frühgeborene, die noch keine „eigene“ Partei zur Verfügung hatten. In Deutschland entwickelten sich Partei und Gewerkschaften später, dafür parallel. Die Eisenacher Sozialdemokraten trugen seit 1860 aktiv zur Gründung von Gewerkschaften bei, die in der Partei als „Vorschulen des Sozialismus gesehen wurden“ (Berger 1997: 140). Im Binnenverhältnis von Partei und Gewerkschaften war die SPD klar die hegemoniale Instanz, aber schon bald drängten die Gewerkschaften auf mehr Autonomie. SPD und Gewerkschaften blieben eng verwoben, die Partei blieb der dominante Partner, wenngleich bis zur Machtergreifung Hitlers die Gewerkschaften stetig an politischem Einfluss innerhalb der SPD hinzugewannen.
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In Großbritannien verhielt es sich umgekehrt, dort wurde die Labour Party politisch von den Gewerkschaften gegründet, finanziert und kontrolliert. Die organisierten Sozialisten – vor allem aus der International Labour Party (ILP) und der Social Democratic Federation (SDF) – hatten es bis Ende des 19. Jahrhunderts nicht geschafft, eine unabhängige Arbeiterpartei zu etablieren. Die Gewerkschaften waren zu diesem Zeitpunkt noch mit der Liberal Party verbunden, die einige gewerkschaftliche Kandidaten in ihren Reihen hatte. Als schließlich der Druck der Arbeitgeber wie auch von staatlicher Seite anstieg und die Interessenartikulation innerhalb der Liberal Party schwieriger wurde, suchten die Gewerkschaften einen unabhängigen Kanal für die Repräsentation ihrer Interessen. Erst 1900 entstand das Labour Representation Committee (LRC), das die gewerkschaftliche Vertretung im Parlament sichern sollte. Das LRC, das erst 1906 in Labour Party umbenannt wurde, war eine Assoziation kleinerer sozialistischer Parteien und Vereine wie ILP, SDF und der Fabian Society sowie den Gewerkschaften. Als „Dachorganisation bestehender Strukturen“ (Pollard 1991: 160) bot es die Möglichkeit der Kollektivmitgliedschaft der Gewerkschaften, die diesen Blockstimmrechte auf den Parteitagen sicherte und dadurch über Jahrzehnte eine zentrale und meist dominante Position im Machtgefüge der Labour Party ermöglichte.34 Insgesamt fand im Verhältnis von Partei und Gewerkschaften eine Annäherung aus verschieden Ausgangssituationen statt. Die Labour Party gewann bis zum Zweiten Weltkrieg Autonomie gegenüber den Gewerkschaften hinzu, die SPD vergewerkschaftete sich ein Stück weit (vgl. Berger 1997: 140-150). Dies waren nicht die einzigen historischen Differenzen. Die SPD war die stärkste und bedeutendste unter den europäischen sozialistischen Parteien. So ging sie in ihren organisatorischen wie elektoralen Erfolgen den anderen europäischen Parteien voraus, die sich mehrheitlich zwischen 1890 und 1900 gründeten. Aber die „hegemoniale Rolle“ (Sassoon 1996: 9) der SPD im europäischen Sozialismus gründete sich nicht nur auf ihre Organisationsstärke und ihre Wahlerfolge.35 Es war die besondere Kombination von Umständen: Dazu zählte nicht nur die gewachsene ökonomische Bedeutung Deutschlands, sondern auch der enorme wissenschaftliche, kulturelle und philosophische Stellenwert des Reiches nach 1871. Zudem war die SPD der theoretische und programmatische Referenzpunkt schlechthin in jener Zeit. Karl Kautsky war vor der Oktoberrevolution der wohl bekannteste Marxist in Europa, seine Schrift Der Klassenkampf wurde 34
Erst seit 1918 gab es individuelle Mitgliedschaften. Im Jahr 1890 erreichte sie 19,7 Prozent, 1912 sogar 34,8 Prozent der Stimmen, mehr als doppelt so viel wie die nächstgrößere Partei. 35
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in mehrere Sprachen übersetzt und in der sozialistischen Bewegung besser als die Schriften von Marx und Engels rezipiert (vgl. Hobsbawm 1982: 331); Rudolf Hilferding erreichte mit seinem Buch „Das Finanzkapital“ einen ähnlich kanonischen Status. Das Erfurter Programm von 1891 wurde gleich von mehreren europäischen Parteien regelrecht „kopiert“ (Sassoon 1996: 11f). War die SPD also das Role Model sozialistischer Parteien, war der führende Kandidat für die ungewöhnlichste Partei die Labour Party (vgl. Sassoon 1996: 15f). Was sie so einzigartig machte, war weniger der Umstand, dass sie ihr Movens im Reformismus hatte: „[W]hile its continental counterparts had revolutionary goals co-existing with a reformist practice, the Labour Party was born with reformist goals.“ (ebd.: 16). Der Sozialismus als Idee konnte sich hier nur in einem langen und beschwerlichen Prozess durchsetzen, dem Marxismus gelang dies zu keiner Zeit, er blieb immer peripher, ohne jedoch zu verschwinden.36 Die Antwort auf die Frage „Why was there no Marxism in Britain?“ (McKibbin 1984; vgl. auch Willis 1977) hat mehrere Komponenten. Das ist zum einen die strukturelle Formierung der Arbeiter in Großbritannien: Betrieblich waren die Arbeiter kleinteiliger und fragmentierter (erst im Verlauf des Kapitalismus wurden die Betriebseinheiten immer größer) verortet. Unternehmerschaft und Staat waren der Arbeiterbewegung natürlicherweise nicht unbedingt freundschaftlich gesinnt, aber die Arbeitsbeziehungen waren im Vergleich zu Deutschland weniger konfrontativ und ausgrenzend, sondern beinahe einbeziehend. Insgesamt war die Arbeiterklasse über verbriefte Rechte in die bürgerliche Gesellschaft integriert. Die Monarchie übte auf die Arbeiterschaft einen starken Einfluss aus, gleichzeitig war die politische Kultur Großbritanniens vom Wert der „Fairness“, dem „Playing by the Rules“ bestimmt (vgl. McKibbin 1984: 314-20). Auch in den einzelnen Mitgliedsorganisationen der Labour Party war kaum Raum für Marxismus. In der SDF herrschte ein roher, bisweilen fremdenfeindlicher Marxismus/Sozialismus, und in der weitaus wichtigeren ILP schuldete die sozialistische Programmatik, wie es der spätere Premierminister Attlee ausdrückte, der „Bibel mehr als Karl Marx“ (zit. nach Pollard 1991: 161; vgl. Foote 1985: Kapitel 2). Mit anderen Worten, es war ein religiöser Sozialismus. Sowohl Ausdruck als auch Faktor dieses relativen Liberalismus der britischen Arbeiterbewegung war ihre politische Relationierung zum Parteiensystem im Allgemeinen und der Liberalen Partei im Besonderen. Bereits früh gab es die sogenannten LibLab36 Zu Beginn verzichteten Vertreter der sozialistischen Gruppierungen in der Labour Party – wie die ILP – auf ihr sozialistisches Profil und sozialistische Rhetorik, weil sie fürchteten, damit in der Arbeiterbewegung keine Akzeptanz zu finden. E. P. Thompson (vgl. 1965: 337f) hat demgegenüber darauf hingewiesen, dass es auch in den Konstitutionsjahren wichtige marxistische Minderheiten in der Labour Party gab.
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Koalitionen, die Gewerkschaftsvertretern über die Liberale Partei parlamentarische Partizipation ermöglichten. Eine besondere Rolle spielte hier in der Tat das Parteiensystem, genauer: das britische Zweiparteiensystem. Es machte – vor allem über das Mehrheitswahlrecht – die Etablierung einer dritten Partei zur Vertretung der Interessen der Arbeiterschaft ungleich schwieriger als in Deutschland, so dass es für die Arbeiterschaft durchaus rational war, sich als Pressure Group gegenüber den Liberalen zu verhalten (vgl. Eisenberg 1989: 416f). Somit wurden lange die Artikulations- und Repräsentationsbestrebungen der Arbeiterbewegung durch die Liberale Partei absorbiert und gleichzeitig liberale Ideen in den Gewerkschaften verankert und festgeschrieben. Kein Wunder, dass zahlreiche Gewerkschaftsführer, die die Labour Partei mit gründeten, in ihrem Herzen noch Liberale waren. Später erreichte die Labour Party ihre ersten parlamentarischen Erfolge im System des britischen Mehrheitswahlrechts durch Absprachen mit den Liberalen (vgl. Fielding 2003: 39–45).37 Dies alles, ermöglicht durch die vergleichsweise geringe staatliche Repression der Arbeiterbewegung in Großbritannien, brachte die Arbeiterschaft nicht in die antagonistische Position zum Staat bzw. zum kapitalistischen System, wie dies in Deutschland der Fall war. Die bereits etablierte, stabile parlamentarische Demokratie während der Konstitutionsphase der Labour Party schuf überdies eine vornehmlich positive strategische Bezugnahme auf das parlamentarische System – in der pointiert kritischen Formulierung von Ralph Miliband (1961) zum „Parliamentary Socialism“. Staat und Parlament wurden als klassenindifferente politische Instrumente gesehen, die es zu nutzen galt (Miliband 1969). Zudem hatte sich in der Geschichte der Arbeiterbewegung in Großbritannien eine eigensinnige Assoziationskultur aus Freizeit- und Sportvereinen herausgebildet, die sich gegenüber einer sozialistischen Durchdringung relativ immun zeigte. Eine Folge war, dass es keine weit verbreitete sozialistische Kultur gab – und auch keine charismatischen sozialistischen Führer, die Partei und Arbeiterbewegung hätten prägen können. Die Labour Party war – im Unterschied zur SPD und den meisten anderen sozialdemokratischen Parteien – eine Partei „of interest rather than ideas“ (Shaw 1996a: 3). Sie war eher pragmatisch, untheoretisch38, nur rudimentär analytisch39 37
Die Liberalen bereiteten ironischerweise damit ihrer eigenen Marginalisierung den Weg, da die Labour Party Stück für Stück ihre Stellung im Parteiensystem einnahm. 38 Wie Beer im theoretischen Organ der SPD Neue Zeit 1900/01 beispielsweise über den Führer der ILP schrieb: „Keir Hardie […] hat keine Theorien.“ (zit. nach Berger 1997: 198). 39 „It never developed a tradition of rooting policy in an analysis of social and economic trends or promulgating an overarching programme geared to achieving an elaborated vision of the good society.” (Shaw 1996a: 3).
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und hatte obendrein ein „highly eclectic belief system“ (ebd.). Die einzige „theoretische“ Grundlage war die utilitaristisch-liberale Tradition des Fabianismus.40 Diese bildete den Kern der sozialpolitischen Basisphilosophie, ja der gesamten – so weit man es so nennen kann – politischen Ökonomie. Der Fabianismus ist wie jeder sozialistische Ansatz marktkritisch, aber er war – und das macht seine Ambivalenz aus – durchsetzt mit liberalen Ansichten. Der Fabianismus ist beeinflusst von den ökonomischen Theorien Ricardos, teilweise auch von frühen Varianten der neoklassischen Theorie (vgl. Thompson 1996a: 15–24). Wie die meisten sozialistischen Theorien der damaligen Zeit sah auch der Fabianismus im Kapitalismus ein grundsätzlich anarchisches System, das gleichzeitig einen Drang zur Monopolisierung habe. Die Fabier hatten im Gegensatz zur Ausbeutungstheorie des Marxismus eine Rententheorie, die sie mit der Grenznutzenlehre des britischen Nationalökonomen William Stanley Jevons verbanden. Die fabianische Synthese aus Ricardo und Jevons sah den Wert einer Ware oder auch die Lohnhöhe bestimmt durch die jeweils am wenigsten produktiven Teile. Die produktiveren Kapitale oder Arbeiter würden eine Rente erzeugen, die aber hauptsächlich von den privilegierten Schichten, die die Monopole kontrollierten, absorbiert würden. Diese „leisure classes“ sind selbst aber unproduktiv, sie erhalten dadurch ein „unverdientes Einkommen“. Dieser Unterschied in der politischen Ökonomie von Marxismus und Fabianismus setzte sich in der Politik fort: „[T]he Fabians believed they had discovered the real nature of the class war. It lay not between workers and employers, but between the idle rich and the industrious masses […] Where Marx attacked the capitalists as a class of employers, the Fabians attacked them as a class of parasites” (Foote 1985: 27).
Zudem geht der Fabianismus nicht von einer gespaltenen Gesellschaft, von der historischen Dynamik des Klassenkonfliktes aus, so wie es der Marxismus tut, sondern betrachtet die soziale Ordnung als sich konstant entwickelnden Organismus. Wandel resultiert nicht aus dem Konflikt, sondern findet evolutorisch statt, er ist das Ergebnis gradueller Reformen. Diese kommen zwar im Wesentlichen den Arbeitern zu Gute, aber im Kern geht es um die Gesellschaft als Ganze. Der Gradualismus ist nur ein zentrales Element des Fabianismus (vgl. den geläufigen Ausdruck des bekannten Fabianers Sidney Webb: „The inevitably of gradualness“), der das politische Denken und Handeln der Labour Party im 20. Jahrhundert bestimmen sollte. Vor allem der Kollektivismus spielt eine bedeu40 Vgl. auch Croslands (1963: 44; vgl. auch 58f) – überzogenes – Urteil: Die Labour Party „was not founded on any body of doctrine at all, and has always preserved a marked anti-doctrinal and antitheoretical bias”.
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tende Rolle. Kollektivismus ist – trotz gewisser Ähnlichkeiten – nicht zu verwechseln mit dem marxistischen Sozialisierungsgedanken. Letzterer sieht die demokratische Vergesellschaftung als Zwischenstufe, bevor man den Absprung zum Sozialismus nimmt. Im Kollektivismus spielt das Ziel des Sozialismus, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. Es geht vielmehr um eine vernünftige, vor allem effiziente, sinnvolle und den Funktionsbedürfnissen des modernen Kapitalismus angepasste Regierungsweise. Staatlicher Besitz von Industrie und Infrastruktur, öffentliche Daseinsvorsorge, Kontrolle und Regulation der Wirtschaft und Besteuerung (insbesondere des „unverdienten Vermögens“) sollen nicht nur für die Arbeiter ein besseres Leben garantieren, sondern auch einen besseren Kapitalismus ermöglichen. Der Staat ist deshalb auch kein Gegner (wie es viele Sozialisten immer noch sahen), sondern der institutionelle und legitime Ort des öffentlichen Interesses. Dieses soll von einer kompetenten und aufgeklärten politischen Elite exekutiert werden. Obwohl die Fabians erst spät in führende Parteirollen kamen, dienten diese Elemente ihres politischen Denkens der Führung der Labour Party als wichtige Begründung für ihre instinktiven Einstellungen (vgl. Howell 1980: 27).41 Der Fabianismus war die dominierende Strömung, aber die Labour Party war plural in ihrer weltanschaulichen Zusammensetzung. Neben dem Fabianismus existierten ein recht roher Marxismus der SDF und der ethisch-religiöse Sozialismus der ILP. Gemeinhin wird die spezielle Konturierung der Ideologie der Labour Party als Konglomerat aus Alltagspragmatismus, ethischen und religiösen, im Kern reformistischen Ideen als „Labourismus“ bezeichnet (z. B. Nairn 1964b, a). Schon im frühen 19. Jahrhundert war die zentrale politische Forderung der englischen Arbeiterbewegung die nach Gerechtigkeit. Der zentrale Slogan Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagewerk war nicht revolutionär, sondern vom Gedanken der Fairness sowie (implizit) der Anerkennung der Leistung der Arbeiter gekennzeichnet. Für Berger bestanden die Gerechtigkeitsvorstellungen der Labour Party aus drei Komponenten: „[E]rstens ein Streben danach, den Reichtum der Nationen gerechter zu verteilen, zweitens den Glauben daran, dass der Kapitalist den von den Arbeiter/Innen produzierten Mehrwert ungerechterweise selbst einsteckt, und drittens die Überzeugung, dass solche Ungerechtigkeiten nur durch eine starke, unab-
41 Von diesem Urteil abweichend stellt Pelling (1965) die Labour Party in ihren Ursprüngen als sozialistisch dar. Cole (vgl. 1948: 3) sieht zwar eine mögliche sozialistische Majorität unter den Mitgliedern und auch den Führern der Labour Party. Dennoch sei sie – paradoxerweise – vor 1914 in keiner Weise eine sozialistische Partei gewesen.
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hängige Arbeiterbewegung langsam aus der Welt geschafft werden konnten“ (1997: 198).
Die SPD begann als Zusammenschluss des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), den sogenannten Eisenachern, in Gotha 1875.42 In der Partei gab es zwei unterschiedliche Traditionslinien, sowohl Staatssozialisten in der Tradition des ursprünglichen Führers des ADAV, Ferdinand Lassalle, wie auch erklärte Marxisten vom Schlage Wilhelm Liebknechts und August Bebels.43 Schon die Gründung in Gotha geschah unter „dem Druck der Verhältnisse“ (Alemann 2003: 30) des deutschen Staates. Es war die kurz darauf folgende Unterdrückung der SPD durch die Sozialistengesetze (1878–1890), die dem marxistischen, revolutionären und antipreußischen Flügel in der SPD zur Dominanz verhelfen sollte (vgl. Ritter 1976: 15f, 28–31).44 Die Forderung nach einem „gerechten Lohn“ war auch in der deutschen Arbeiterschaft das ursprüngliche Leitmotiv. Als „biblisch abgeleitete Kategorie“ (Kittner 2005: 40) handelte es sich anfänglich um die Forderung nach einem angemessenen Existenzminimum.45 Mit der Entstehung der gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterbewegung und dem steigenden Einfluss des Marxismus verschwand diese Leitmotiv jedoch im Laufe der Jahre. Der Marxismus spielte eine bedeutende Rolle für die Formierung der SPD, in einer Mischung aus „Religionsersatz und Wissenschaftsanspruch“ (Walter 2002: 92) gab er Zukunftsgewissheit, Zuversicht und eine einheitliche politische Sprache. Nur war der Marxismus nicht ungefiltert in die SPD eingedrungen. Marx hat ja bekanntlich von sich selbst behauptet, kein Marxist zu sein, weil er mit seinen Interpreten über Kreuz lag. Man kann sein Denken schwerlich in wenigen Zeilen zusammenfassen (einführend: Callinicos 2005; Heinrich 2004); dessen ungeachtet verband er im Wesentlichen eine dialektische Geschichtstheorie, den Historischen Materia42
Zu Beginn lautete die Bezeichnung noch Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP). Erst nach dem Ende der Sozialistengesetze 1890 nahm die Organisation den Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) an. 43 Das Gothaer Programm (1875) war ein Kompromiss zwischen Lassalleanern und Marxisten. Es gab zwar die Schnittmengen an politischen Forderungen wieder, aber es mangelte ihm an theoretischer Konsistenz (Münkel 2007a: 11f). Marx und Engels waren skeptisch, Marx sogar reichlich kritisch. Seine beißende Kritik, die „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ (1875), wurde deshalb vom Vorstand der Partei auch erst 1890 in der Parteiöffentlichkeit publiziert. 44 Für Ritter (1980) war trotz des antipreußischen und marxistischen Flügels in der deutschen Arbeiterbewegung eine Tendenz zu einem positiven, reformorientierten Staatsverständnis in der Arbeiterbewegung zu erkennen. 45 Zu den christlichen Grundlagen des „gerechten Lohnes“ vgl. die Diskussion bei Kittner (2005: 33– 41).
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lismus, die Geschichte als Abfolge von Klassenkämpfen konzipierte, mit einer Analyse und Kritik der kapitalistischen Produktionsweise. Während die Fabier sich eklektizistisch aus der klassischen politischen Ökonomie von Ricardo und Jevons bedienten, entwickelte Marx eine kohärente Theorie der kapitalistischen Entwicklung und Ausbeutung. Die Ausbeutung erklärte er durch das Leitmotiv seiner politischen Ökonomie: der Mehrwerttheorie (vgl. Blaug 1996: 274). Marx ging dabei von der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft aus, in der Arbeiter auf doppelte Weise frei sind. Zum einen freies Rechtssubjekt, zum anderen aber auch frei vom Besitz an den Produktionsmitteln. Die Ausbeutung findet in der Sphäre der Produktion statt: Der Arbeiter muss seine Arbeitskraft verkaufen, erhält aber als Lohn nur genau so viel, wie er zur Reproduktion seiner Arbeitskraft braucht. Dies ist weniger als er an Wert durch seine Arbeit produziert. Diese Differenz, den Mehrwert, kann der Kapitalist einstreichen. Die „Ungerechtigkeit“ des Kapitalismus ist für Marx also in der Organisation der Produktion – und nicht der Distribution – verortet.46 Marx’ Theorem zum Fall der Profitrate fand allerdings keinen Eingang in die Marxismusrezeption der Jahrhundertwende, und, was noch schwerer wog, in der SPD setzte sich aufgrund der Erwartungen der politischen Führer eine „Zusammenbruchstheorie“ durch (Walther 1981). Diese begünstigte eine passive Politik und war mit Kautskys Auslegung der geschichtlichen Grundtendenzen der Entwicklung des Kapitalismus die Grundlage des „vereinfachten marxistischen Denkens“ in der SPD (Abendroth 1965: 51). In der SPD war der Marxismus ein Parteimarxismus, der Marx glatt hobelte und dem politischen Tagesgeschäft anpasste – ein Prozess, der weder dem Marxismus noch der SPD gut tun sollte. 46
Dies war auch der wesentliche Grund, warum Marx und Engels sich gegen die Forderung nach „Gerechtigkeit“ in der sozialistischen Bewegung wandten. Marx forderte 1865 für die Arbeiterbewegung: „Statt des konservativen Mottos: ‚Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagewerk!‘ sollte sie auf ihre Banner die revolutionäre Lösung schreiben: ‚Nieder mit dem Lohnsystem‘“ (Marx 1865: 152). Im Jahr 1881 kritisierte Engels den Gebrauch des Slogans in Großbritannien. Auf Basis der politischen Ökonomie des Kapitalismus erhalte der Arbeiter tatsächlich einen „gerechten“ Lohn – den Wert seiner Ware Arbeitskraft, den er braucht, um eben diese tagtäglich wieder herzustellen (vgl. Engels 1881: 249). Engels befand sich dabei im Einklang mit Marx, der schon im ersten Band von „Das Kapital“ festgestellt hat, dass dem Arbeiter auf der Basis der Gesetze des Warentauschs von Werten „durchaus kein Unrecht“ geschehe (Marx 1867: 208; vgl. auch Heinrich 2004: 90–94). Marx wandte sich 1865 auch scharf gegen die Forderungen nach Gerechtigkeit im Gothaer Programmentwurf der SPD, der – vor der Dominanz des Marxismus in der SPD – noch zahlreichere Elemente des Lassalleschen Staatssozialismus und Forderungen nach Gerechtigkeit beinhaltete. Für Marx war die „Verteilung der Konsumtionsmittel […] nur Folge der Verteilung der Produktionsbedingungen selbst; letztere Verteilung aber ist ein Charakter der Produktionsweise selbst“ (1875: 22). Deshalb forderte Engels auch, die staatlichen Verteilungsmittel nicht politisch steuern zu wollen, sondern sie stattdessen abzuschaffen (vgl. Engels 1895: 455).
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Das Erfurter Programm von 1891, das für den Durchbruch des Marxismus in der SPD stand, trägt alle Ambivalenzen der Gründungsperiode in sich. Es hat starke marxistische Züge in Inhalt und Sprache, war aber zugleich ein praktisches Reformprogramm. Die Teile spiegeln gleichzeitig auch die Präferenzen ihrer wesentlichen Verfasser wider. Der erste, theoretische Teil wurde von Kautsky geschrieben und war im Prinzip eine Paraphrase des 7. Abschnitts des 24. Kapitels von Marx’ Kapital. Engels war zufrieden, dass die marxsche Kritik am Gothaer Vereinigungsprogramm „komplett durchgeschlagen hat“ (zit. nach Dowe/Klotzbach 2004: 23). Unverkennbar war jedoch, dass sich in diesem Teil bereits der deterministische, darwinistische Zug von Kautskys Marx-Adaption zeigte, der den Sozialismus zu einer Naturnotwendigkeit machte (vgl. Dowe/Klotzbach 2004: 24). Dieser Parteimarxismus wurde zum „programmatischen Quasimuster bis 1914 und darüber hinaus“ (Grebing 2007: 37). Der zweite, auf die konkrete politische Praxis zielende Teil des Programms wurde von Eduard Bernstein, dem späteren Vater des Revisionismus, verfasst. Dieser Teil enthielt die wesentlichen sozialdemokratischen Reformforderungen (u. a. allgemeines Wahlrecht, Gleichstellung der Frau, wirksamer Arbeitsschutz, Achtstundentag), zu denen auch die revolutionären Sozialisten keinen Dissens hatten. Sassoon erkennt in diesem Teil, in dem klassenübergreifende, demokratische Reformen des Staates und Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse eingefordert werden, sogar „the core demands which in one form or other would constitute the central co-ordinates of virtually all programmes of West European social democracy in the twentieth century“ (Sassoon 1996: 24). Während das Programm einen Kompromiss zwischen sozialistischen Zielen und reformistischer Pragmatik darstellte, lag seine Schwäche vor allem darin, dass zwischen beiden Teilen weder eine analytische noch eine handlungsleitende Beziehung bestand. Die SPD war zu keiner Zeit eine homogene revolutionäre Partei, sondern bestand immer aus verschiedenen Identitäten, deren Widersprüche sich gegenseitig ergänzten. So konnte ein evolutorischer Marxismus mit einem reformorientierten Pragmatismus sowie Zusammenbruchsvorstellungen koexistieren.47 Kautskys Bonmot, dass die SPD eine revolutionäre, aber keine Revolution machende Partei sei, gibt die politische Quintessenz der über Jahrzehnte dominanten Fraktion – das von Bebel und Kautsky angeführte marxistische Zentrum – 47 Aus diesem Grund greift eine Diagnose vom Widerspruch zwischen revolutionärer Rhetorik und reformistischer Praxis zu kurz, da die Partei sich als legitime Erbin einer kapitalistischen Entwicklung in Richtung Sozialismus sah. Deshalb brauchte nicht revolutionär gehandelt zu werden, dies wurde geradezu als voluntaristisch angesehen. Dem Lauf der Geschichte vorauszugreifen, war verpönt (vgl. Könke 1987: 34; Grebing 2007: 37).
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innerhalb der SPD gut wieder. Man gab sich marxistisch, verhielt sich dessen ungeachtet abwartend und reformorientiert. Die Linke kritisierte die Zentristen für ihre Halbheiten, während die Revisionisten die marxistische Programmatik als überkommene revolutionäre Phraseologie betrachteten (vgl. Euchner 2005: 146–180). Der revolutionäre Attentismus war jedoch kein Phänomen eines kruden Marxismus in der SPD, sondern war in der Hülle des Fabianismus auch in der Labour Party vorhanden: „Thus the Fabians, like the Marxists, were able to claim the swam with the tide of history; though it was of course, history according to Darwin, not Hegel“ (Thompson 1996a: 21).
Der entscheidende Anstoß zum Wandel kam durch die Partizipation. Zwar sollte anfänglich die bürgerliche Ordnung mitsamt der bürgerlichen Demokratie umgestürzt werden, doch entschied sich die Partei recht bald, an den Institutionen der parlamentarischen Demokratie teilzunehmen und sie zu nutzen. Es war kein Geringerer als Friedrich Engels, der große Hoffnungen in das allgemeine Wahlrecht und die daraus erwachsenden Chancen für sozialdemokratische Parteien setzte (vgl. Engels 1895).48 Die Entscheidung zur Partizipation war zuerst noch mit einem reinen Oppositionsgedanken verkoppelt. Einerseits wollte man die Tribüne, andererseits wollte man reale Verbesserungen für die Arbeiter erreichen. Dies wurde auch nicht als Abweichung von den Endzielen wahrgenommen, weder von den späteren Revisionisten, noch von den späteren Revolutionären. Beide konnten damit gut leben. Das hing auch damit zusammen, dass die Theoretiker, vertrauend auf die Vorhersage des Kommunistischen Manifestes einer allgemeinen Proletarisierung, davon ausgingen, dass die Arbeiter über kurz oder lang die Mehrheit der Gesellschaft stellen würden. So gab es zu Beginn kein Dilemma zwischen Wahlorientierung und Sozialismus, weil dieser durch das Gewinnen von Wahlen erreicht werden sollte (Przeworski/Sprague 1986). Die marxistische Programmatik war vor allem Weltbild, sie entbehrte einer klaren, zielgerichteten Übersetzung in die Praxis. Es ging in erster Linie um den Aufbau einer Massenorganisation, die sich für die sozialistische Macht wappnen sollte. Gleichzeitig ging die Partei schon früh auf Länderebene (und teilweise auch in den Gewerkschaften) einer kompromissbereiten, reformorientierten Praxis nach (vgl. Ritter 1996: 190–199; Potthoff/Miller 2002: 57-67). Dieses programmatische und politische Nebeneinander wich einer „politisch-sozialen Differenzierung“ (Lehnert 1983: 87) innerhalb der sozialistischen Bewegung. Diese 48
Allerdings wollte Engels die Staatseinrichtungen nutzen, um eben diese zu bekämpfen.
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in ganz Europa stattfindende Entwicklung fand ihren bekanntesten Ausdruck in der Debatte zwischen Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein – dem sogenannten Revisionismusstreit. Dieser Streit entzündete sich an der Kritik Bernsteins an den in der Partei vorherrschenden „Zusammenbruchstheorien“. Die Hauptdebatte wurde aber vornehmlich zwischen den beiden am weitesten voneinander entfernten Polen geführt. Während für Luxemburg (1899) der Markt ein anarchisches Krisensystem mit immanenter Tendenz zu kapitalistischer Landnahme und späterem Zusammenbruch war, sah Bernstein (1899) einen sich vergrößernden Spielraum für Reformen innerhalb des Kapitalismus, dem er eine zunehmende – aus historischer Perspektive kann man sagen: zu optimistische – Krisenfestigkeit attestierte. Er wollte Empirie, Theorie und Taktik der Sozialdemokratie wieder in Einklang bringen, indem der Dualismus aus revolutionärer Rhetorik und reformistischer Praxis überwunden werden sollte (vgl. Ritter 1973, 1976: 37–41). Inspiration für sein revisionistisches Programm – ein wirklicher Ideentransfer – erhielt Bernstein von der englischen Arbeiterbewegung. Lange hielt er sich im Exil in London auf, kam dort in Verbindung mit dem Fabianismus und pflegte Kontakt zu den Webbs (vgl. Gustafsson 1972; Walther 1981: 117ff). Die Traditionslinie Luxemburgs, die hier nicht weiter verfolgt wird, stand für die Fortentwicklung eines revolutionären Marxismus und setzte sich später in den revolutionär-sozialistischen bzw. kommunistischen Parteien fort. Für Luxemburg bedeute Sozialismus die strategische Ausrichtung auf eine postkapitalistische Gesellschaftsform, die nur mit revolutionären Mitteln erreicht werden könne. Luxemburg konnte sich nicht durchsetzen, doch Bernstein – zunächst – auch nicht. Er erlitt mit seinen Vorschlägen wiederholte Niederlagen, ja sogar scharfe Verurteilungen auf den Parteitagen. Das marxistische Zentrum behielt formal die Oberhand, aber mit der Zeit setzte sich auch dort, wie in der gesamten Parteiführung, ein „heimlicher Revisionismus“ durch (Lehnert 1983: 96). Was mit dem Beginn der parlamentarischen Partizipation nicht in Betracht gezogen worden war: Selbst zur Hochzeit des Industriekapitalismus sollten die Arbeiter zu keiner Zeit die absolute Mehrheit der Gesellschaft oder auch nur der Wählerschaft stellen. Sozialdemokratische Parteien haben bis heute die gläserne Decke von 50 Prozent der Stimmen nie durchbrochen. Damit wurde ein Prozess der eigentümlichen Dialektik aus Partizipation, Machterwerb und Deradikalisierung eingeleitet. Die systemische Logik der parlamentarischen Demokratie strukturierte die künftigen Entscheidungen der sozialdemokratischen Parteiführer: Sie wollten nicht nur opponieren, sie wollten auch verändern, Reformen durchsetzen, Lebensbedingungen verbessern. Aber dazu musste man regieren (wollen), man brauchte Macht. Das Erlangen der Macht war aber nur durch Deradikalisie56
rung zu erreichen, denn für die SPD gab es zwei wesentliche, sich ergänzende Beschränkungen innerhalb der parlamentarischen Demokratie: die Notwendigkeit, Wähler außerhalb der Arbeitermilieus anzusprechen, und die Koalitionsfähigkeit gegenüber möglichen Partnern in der Regierung. Beides war nur durch eine ideologische Mäßigung zu erreichen, die sich vom revolutionären Umsturz distanzierte (Przeworski/Sprague 1986). Die SPD von 1918/19, die während der Novemberrevolution zum ersten Mal in die Regierung ging, hatte die Spannung aus „negativer Integration und revolutionärem Attentismus“ (Groh 1973) in ihre eigene Transformation aufgelöst: Sie war jetzt nicht nur eine parlamentarische, sondern auch eine (potenzielle) Regierungspartei, die das revolutionäre Ziel nicht mehr anstrebte, sondern den Sozialismus auf der Basis der parlamentarischen Demokratie erreichen wollte. Schon zu Kriegsbeginn hatte sich die SPD in das Spannungsfeld von Klassenpolitik und Übernahme „nationaler Verantwortung“ begeben. Dies trug dazu bei, dass gerade in jenem historischen Moment der Revolution 1918/19, als die SPD einen großen Spielraum für strukturelle und demokratische Reformen der Wirtschaftsordnung (z. B. Sozialisierungen) besaß, sie das „‚nationale Interesse‘ vor dem Klasseninteresse“ verfolgte (Berger 1997: 39). 3.2 Die wirtschaftlichen Grenzen des Reformismus Die legalistische und reformorientierte Ausrichtung der Sozialdemokratie bezog – neben der vor allem in Deutschland vorherrschenden Rhetorik der „nationalen Verantwortung“ – aus mehreren Quellen ihre Anziehungskraft: aus systemischen, individuellen und strategisch-politischen. Auch bei einer rein propagandistischen Teilnahme an Wahlen im demokratischen System entsteht im Falle einer relativen Mehrheit ein großer systemischer und legitimatorischer Druck, schließlich auch eine Regierung zu bilden. Eine Regierung verfügt über Ressourcen, kann bestimmte Reformen umsetzen und Interessen beschränken, kurz: man hat Macht und übt Macht aus. Natürlich, der individuelle Antrieb zur Erreichung von gesellschaftlichem Status und individueller Macht spielt – wie in der gesamten Politik – eine nicht unerhebliche Rolle. Die Perspektive der Macht war ein Narkotikum, ein schleichendes Gift für den sozialistischen Radikalismus. „Vor 1914 war es möglich gewesen, am Sozialismus als an einer Utopie festzuhalten, ohne sich mit praktischen Übergangsproblemen auseinandersetzen zu müssen“ (Pollard 1991: 167). Aber durch das Streben nach Regierungsmacht änderte sich dies. Während die Labour Party von vornherein eine legalistische, reformorientierte Strategie verfolgte, war der Wan57
del für die SPD weitreichend; sie transformierte ihre strategischen Präferenzen, ihre Ziele, fast das gesamte politische Paradigma. Der Revisionismus entstand zu einer Zeit, als die Frage von Regierungsteilnahme noch nicht zur Debatte stand. Er war zu Beginn eine politische Strategie, die Interessen der Arbeiter im Kapitalismus zu verwirklichen – frei von der Verlegenheit, den Reformismus in die Praxis umsetzen zu müssen. Die SPD war sowohl von Seiten der staatlichen Eliten als auch in der eigenen Organisation in der Oppositionsrolle eingemauert. Die Stärke außerhalb der parlamentarischen Sphäre konnte die jeweiligen Regierungen zu Zugeständnissen zwingen, wollte man jedoch selbst verändern, brauchte man parlamentarische Mehrheiten.49 Mit dieser Transformation der SPD zur reformorientierten und sich vollständig zur parlamentarischen Demokratie bekennenden Partei „the nature of all subsequent choices was irreversibly altered.“ (Przeworski/Sprague 1986: 55). Damit rückte die Partei zwar nicht gleich vom Finalziel des Sozialismus ab, jedoch wurden die mittelbaren Ziele und Instrumente neu geordnet. Hatte die Labour Party ohnehin keine Berührungsängste mit dem Staat, waren für die SPD die Veränderungen gravierend. Denn: Reformpolitik war Politik mit dem Staat, war Politik im Staat, war staatliche Sozialpolitik. Der Staat wurde nicht mehr als Klassenstaat gesehen und sollte nicht – wie es die orthodoxe marxistische Theorie vorsah – mittels einer Revolution überwunden werden. Dafür war es notwendig, sich mit dem Staat zu arrangieren, ihn nicht nur als Voraussetzung des Gemeinwohls, sondern als dessen Hüter in letzter Instanz zu sehen. Der Staat war nicht länger Obrigkeitsstaat, sondern ein „demokratisch zugänglicher Staat“ (Könke 1987: 36). Schon zu Beginn der 1920er Jahre war die SPD die „eigentliche Staatspartei der Republik“ (Winkler 2000b: 434; Lösche/Walter 1992: 6; vgl. auch Potthoff/Miller 2002: 113, 122), auch wenn im Alltagsbewusstsein der Staat für viele Sozialdemokraten ein Instrument der Klassenherrschaft blieb. Die SPD entwickelte eine „positive Staatstheorie“, in der der Staat „zum Subjekt eines allmählichen und schmerzlosen Übergangs zum Sozialismus [wird], als er auch sein Instrument wird“ (Buci-Glucksmann/Therborn 1982: 97f, H.i.O.). Mit dieser Transformation ergab sich auch der zentrale strukturelle Funktionsimperativ für das politische Paradigma der Reformsozialdemokratie – sowohl für die SPD als auch für die Labour Party: Um Reformen im Interesse
49 Friedrich Stampfer, einer der zentralen Revisionisten und Chefredakteur der Parteipostille „Vorwärts“, artikulierte 1925 präzise diese Anschauung. Man müsse „die Kunst lernen, Mehrheiten zu gewinnen, sie zu erhalten und für unsere staats- und wirtschaftspolitischen Aufgaben einzuspannen“ (zit. nach Winkler 1988: 322).
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der Arbeiter (und anderer Gruppen)50 mittels staatlicher Politik zu vollziehen, die über die Stärkung von politischen Arbeiterrechten hinausgehen, sozialpolitische, umverteilende Reformen durchzuführen, brauchte der Staat ökonomische Ressourcen, die er fast ausschließlich durch Steuern generiert. Der Staat als Steuerstaat ist wiederum abhängig von der Akkumulationstätigkeit der Wirtschaft: „This is the structural barrier which cannot be broken: the limit of any policy is that investment and thus profits must be protected in the long run.” (Przeworski 1985: 42).
Die Staatsabhängigkeit von der Akkumulation bringt sozialdemokratische Parteien in ein Dilemma, denn sie sind zur gleichen Zeit gezwungen, „to strengthen the productive power of capital and to counteract its effects“ (ebd.: 87). Sassoon hat dieses Dilemma für die Sozialdemokratie historisch so ausgedrückt: „In the absence of a plan for the elimination for the capitalist economy, the financial requirements for social reforms had been provided by the capitalist economy itself. Socialist parties faced an unavoidable paradox: in order to pay for social welfare, it was imperative that the market be made as efficient as possible; to follow ‚socialist‘ policies, it was essential to be pro-capitalist” (Sassoon 1996: 150).51
Dieses sozialdemokratische Akkumulationsdilemma, wie es in der Arbeit genannt werden soll, ging einher mit der Transformation des Verständnisses von Sozialpolitik: Sozialstaatliche Politik wandelte sich von einem Mittel der unmittelbaren Linderung der Auswirkungen kapitalistischer Akkumulation zum eigentlichen Ziel und Zweck sozialdemokratischer Politik. „Die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie im ausgehenden 19. Jahrhundert gegenüber sozialpolitischen Maßnahmen ging davon aus, dass alle ‚Pallativmittelchen‘, die das Leben des Kapitalismus verlängern könnten, von 50 Mit dem Staatsverständnis und einer klassenübergreifenden Sozialpolitik verschob sich auch das Verhältnis von Interessenvertretung und Gemeinwohl. Rhetorisch oftmals noch der Sprache des Klassenkampfes verhaftet, sah man sich eben auch als Hüter des Gemeinwohls aller, des nationalen Gemeinwesens und nicht länger nur als Interessenagentur der Arbeiterschaft (vgl. Przeworski 1985: 28). 51 Dieses Dilemma war den Sozialdemokraten durchaus bewusst. So argumentierte Fritz Tarnow, ein führender Sozialdemokrat und Gewerkschafter, nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise: Die Sozialdemokratie sei „sowohl Arzt … der ernsthaft heilen“ wolle als auch Erbe, der „lieber heute als morgen die ganze Hinterlassenschaft des kapitalistischen Systems in Empfang nehmen“ wolle (zit. nach Könke 1987: 200).
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Übel seien. Sie wurden daher zu jener Zeit als ‚reformistisch‘ abgelehnt. Erst die revisionistischen Strömungen innerhalb der sozialistischen Parteien leiteten hierin eine Wendung ein, die mit einer nahezu völligen Umkehr der Positionen in unserer Gesellschaft endet, in der nämlich der sozialpolitische Elan nahezu völlig auf die Arbeiterparteien überzugehen scheint“ (Achinger 1958: 162f).52
Dadurch, dass SPD und Labour Party sich als Staats- und potenzielle Regierungsparteien verstanden, ja auch erstmals tatsächlich (mit)regierten, musste sich auch ihr politisches Paradigma, ihr Modus der Reflexion hinsichtlich der nationalen Arenen verändern. Regieren und das Nachdenken darüber hat das politische Paradigma komplexer werden lassen, im Grunde kommt es erst hier zur vollen Entfaltung, da es ja um die diesseitige Steuerung der Gesellschaft und weniger um ihre Überwindung und die Utopie einer jenseitigen Ordnung geht. Drei eng miteinander zusammenhängende strukturelle und institutionelle Entwicklungen waren für die Herausbildung eines Reformsozialismus von zentraler Bedeutung:53 die jeweils nationale Entwicklung des Kapitalismus, die Herausbildung eines Interventionsstaates sowie die ersten Ansätze eines Wohlfahrtsstaates. Dies wird im Folgenden dargestellt. 3.3 Spielarten des Wohlfahrtskapitalismus: Deutschland und Großbritannien Der Vergleich des deutschen und britischen Kapitalismus nach dem Ersten Weltkrieg ist in beiderlei Hinsicht – Gemeinsamkeiten und Unterschieden – äußerst instruktiv. Großbritannien war die Pionierökonomie der Industrialisierung, Deutschland ein Spätzünder – auf der Überholspur. Denn die späte Industrialisierung sollte sich für die „late-comers“ (Gerschenkron 1973: 124) nachgerade als Vorteil herausstellen, da man nur durch die Anwendung modernster und rationellster Methoden zu den Konkurrenten aufschließen konnte. Großbritannien war zu dieser Zeit eine offene und stark internationalisierte Volkswirtschaft, sowohl hinsichtlich ihrer Ex- und Importe als auch bei den Direktinvestitionen, die eine bedeutende Rolle im internationalen Finanzsystem spielten. Neben Hol52 Obgleich die sozialdemokratische Führung trotz formeller Ablehnung dem sozialen Inhalt der Gesetze einiges abgewinnen konnte (vgl. Euchner 2005: 195-203). Parteilinke wie Luise Zietz erkannten zudem den Einfluss von de-kommodifizierenden Sozialreformen auf die Kampffähigkeit der Arbeiterschaft (vgl. ebd. 2000a: 196). Zu den innerparteilichen Debatten in der SPD bis 1917 vgl. die Zusammenstellung in Friedemann (1977). 53 Natürlich könnte man bei der historischen Einbettung in den Kapitalismus noch weiter zurückgehen, bis in das frühe 19. Jahrhundert. Doch würde dies im Verhältnis zum Umfang der Arbeit nur wenig zum Verständnis beitragen.
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land war es die internationalisierteste Nationalökonomie jener Epoche (Hirst/Thompson 2000). London war die Welthauptstadt des Kapitalverkehrs, Großbritannien funktionierte als „Makler“ der Weltwirtschaft (Medick 1974: 65). Allerdings verlor Großbritannien partiell seine Weltmarktführerschaft – gerade aufgrund seiner früheren Industrialisierung, da das Kapital in Industrien und Maschinen längerfristig gebunden war und sich daher nur langsam erneuern konnte. Gerade in den neuen Wachstumsindustrien Stahl, Maschinenbau, Elektrotechnik und Chemie verdrängte Deutschland England als Weltmarktführer (vgl. Aldrich/Tipton 1897: 10ff, 62ff; Nachtwey 2005b: 27ff). Deutschland erfuhr nicht nur ein extensives Wachstum seiner Wirtschaft, sondern auch ein intensives: Seit den 1870er Jahren wuchs die Betriebsgröße der Industriebetriebe durch horizontale und vertikale Integration, es gab wechselseitig verbundene Besitz- und Leitungsstrukturen, bei der die Banken eine bedeutende Rolle spielten. Es stieg die Anzahl der Kartelle, Syndikate und Monopole; parallel dazu wurden die sektoralen, regionalen und nationalen Industrieverbände ausgebaut (vgl. Wehler 1974: 40ff). Diese Tendenz der Koordination und Kooperation in der wirtschaftlichen Entwicklung, zu der auch noch der gestiegene Mitbestimmungsanspruch der Arbeiterbewegung hinzu kam, wurde von Hilferding später als „organisierter Kapitalismus“ bezeichnet (Hilferding 1915, 1927; vgl. Winkler 1974b).54 Vor allem das Verhältnis von Bank- und Industriekapital unterschied Deutschland und Großbritannien. Auf der Insel hat es einen „organisierten Kapitalismus“ oder ein „Finanzkapital“ im Sinne Hilferdings55 so nicht gegeben: „Paradoxically, the capital of world finance never witnessed the world of finance capital“ (Anderson 1987: 44). Gestiegene Betriebsgrößen gab es zwar auch hier, aber bei weitem nicht in dem Ausmaß, wie es in Deutschland der Fall war. Britische Unternehmen brachten ihre Investitionen hauptsächlich durch Eigenfinanzierung auf, die inländischen Banken waren an der Entwicklung der heimischen Industrie nur indirekt und nicht strategisch beteiligt. Britische Banken vermittelten vor allem kurzfristige Kredite, eine deutsche Bank, „so hieß es, begleitete ein Industrieunternehmen von der Wiege bis zur Bahre“ (Gerschenkron 1973: 127). Der dynamische Kern der englischen Wirtschaft lag bereits zur Jahrhundertwende in der City of London, der geografischen Bezeichnung für das 54
Bei Hilferding war dieser Begriff auch normativ-strategisch belegt, in diesem Abschnitt soll er als sozialwissenschaftlicher Begriff für eine bestimmte Epoche der Industrialisierung gebraucht werden. Zu dieser Herangehensweise vgl. Winkler (1974a). 55 Im Gegensatz zum heutigen umgangssprachlichen Gebrauch des Begriffs für Kapital, das auf Finanzmärkten eingesetzt wird, gebrauchte es Hilferding als Begriff für Bankkapital, das in der Industrie fixiert ist und die dominante Form kapitalistischer Marktvergesellschaftung darstellt (vgl. 1910: 335).
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britische Finanzmarktkapital, mit den Schwerpunkten internationaler Handel und Direktinvestitionen, Finanzdienstleistungen und Kapitalexport (vgl. Busch 2006: 410ff; Medick 1974).56 Die Nationalökonomie verlor zwar global Marktanteile gegenüber der aufstrebenden Industrienation Deutschland, aber sie musste keine Wohlfahrtsverluste hinnehmen, da sie als Finanzzentrum der Welt genügend Einnahmen aus internationalen Finanzdienstleistungen und hinreichend große Renditen aus den riesigen britischen Auslandsinvestitionen erzielte (vgl. Hobsbawm 1995a: 72f). Um dieses globale Finanzzentrum zu bleiben, war Großbritannien allerdings auf ein stabiles Pfund Sterling angewiesen, das als globale Leitwährung fungierte. Es gab deshalb eine allgemeine Präferenz britischer Parteien für eine starke Währung, der man zahlreiche andere wirtschaftspolitische Überlegungen unterordnete. Die Labour Party war in ihrer Präferenz für ein starkes Pfund keine Ausnahme (vgl. Tomlinson 2000: 48). Das deutsche Äquivalent zur britischen Vorliebe für eine starke Währung ist der starke Hang zu einer Politik der Geldwertstabilität. Die deutsche Inflationsaversion ist nicht der historischen Verzahnung mit der Weltwirtschaft geschuldet, sondern der kollektiven Erfahrung der Hyperinflation in den 1920er Jahren. Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges wurde in Deutschland der Goldanker für die Reichsmark aufgehoben, was es der Regierung erlaubte, den Krieg durch Schuldenaufnahme und die Ausweitung der Geldmenge zu finanzieren. Aber anstatt die Schulden nach dem Krieg durch die Kriegsbeute zahlen zu können, mussten zusätzlich noch massive Reparationen an die Siegermächte gezahlt werden. Dies heizte die ohnehin starke Inflation noch zusätzlich an, die 1923 in der Periode der Hyperinflation gipfelte. Millionen von Deutschen sahen ihre Vermögen und Ersparnisse entwertet, ihre Löhne fallend. Die Hyperinflation war eine kollektive Erfahrung, die bis heute eine starke Sensibilität in der deutschen politischen Kultur für Geldwertstabilität hervorgebracht hat. 3.3.1 Liberaler und korporativer Interventionsstaat Trotz dieser Unterschiede in der kapitalistischen Entwicklung hatte sich in Großbritannien und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg eine wesentliche Gemeinsamkeit herausgebildet: der Prototyp eines Interventionsstaates. Wehler sieht den Interventionsstaat „parallel-komplementär“ zum organisierten Kapitalismus, also schon weit vor dem Ersten Weltkrieg, aufsteigen (1974: 36; dazu kritisch: Feldman 1974). Die Ökonomie des deutschen Reiches war eine ver56
Fragen der internationalen Wirtschaftsbeziehungen und des britischen Empires werden hier bewusst ausgelassen. Vgl. hierzu Hobsbawm (1995a; 1969).
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flochtene und korporative Marktwirtschaft, deren Staatsinterventionen auf die Ordnung des Wettbewerbs gerichtet waren – und deren Grundprinzipien nach 1945 wieder aufgenommen wurden (vgl. Lessenich 2003b: 123; Abelshauser 2004: 89ff). In der Weimarer Republik waren frühzeitig zahlreiche Protoformen des heutigen Sozialmodells – antagonistische Kooperation in den Arbeitsbeziehungen, tripartistischer Korporatismus57 und Wohlfahrtsstaat – verankert, die man im heutigen Institutionengefüge wiedererkennt (vgl. Lessenich 2003b: 13338, 148–51; Berger 2002: 125–31). Im Stinnes-Legien-Abkommen, das nach der Novemberrevolution 1918 zentrale Elemente der Weimarer Gesellschaftsordnung vorwegnahm, wurden die Gewerkschaften von Arbeitgeberseite erstmals anerkannt, das Koalitions- und Streikrecht etabliert sowie der Achtstundentag eingeführt. Die „Zentralarbeitsgemeinschaft“, in der Arbeitgeber und Gewerkschaften paritätisch vertreten waren, sollte eine Eigenregulierung des Wirtschaftslebens gewährleisten, Frühformen der Mitbestimmung einrichten und Schlichtungsmechanismen für Tarifauseinandersetzungen bereitstellen.58 Zum Gesamtbild gehörten jedoch ebenso die staatlichen Zwangsschlichtungen, die weder durch Verordnungen noch durch Gesetze verankert waren. Da diese nicht geregelt waren, waren sie auch nicht begrenzt und so auf prinzipiell jeden Fall von tariflicher Nichteinigung anwendbar (Winkler 1984: 402-07). Auch wenn die Gewerkschaften die Arbeitsgemeinschaft 1924 verließen, weil die Arbeitgeber zunehmend versuchten, verlorenes Terrain gut und bestimmte Errungenschaften – beispielsweise den Achtstundentag – rückgängig zu machen, gab es hier bereits Elemente eines „institutionalisierten Klassengegensatzes“ (Geiger 1949: 182–196). Im Betriebsrätegesetz von 1920 wurden betriebliche (Vertretungs-)Rechte der Arbeitnehmer festgeschrieben, allerdings ohne die antiinstitutionelle Spitze der Novemberrevolution: Die Arbeitnehmer wurden zu „Betriebsbürgern“ (vgl. Lessenich 2003b: 138), aber die Betriebsräte waren in erster Linie der Wahrung des Betriebsfriedens verpflichtet und von den Gewerkschaften institutionell separiert, da Letztere allein für die Tarifpolitik und Erstere für die betriebliche Interessenvertretung zuständig waren.
57 Hier wird Korporatismus, der als Gegenstand und Begriff eine kaum überschaubare Debatte in den vergangenen Dekaden erfahren hat, im Sinne Klaus von Beymes (1984) als Tripartismus, als institutionalisierte Verhandlungs- und Konfliktlösungsinstitutionalisierungen verstanden. Zur Vielschichtigkeit der Korporatismusdebatten vgl. Streeck/Kenworthy (2005). 58 Dies wurde in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 auch rechtlich kodifiziert. Koalitionsfreiheit (Art. 159) und Tarifautonomie (Art. 165) wurden hier erstmals festgeschrieben sowie ein „Reichswirtschaftsrat“ legitimiert, der die wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetzesentwürfe begutachten sollte.
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Im Vergleich zu Großbritannien war der institutionalisierte Klassengegensatz in Deutschland verbandlicher, konflikthafter und mit größerer staatlicher Intervention verbunden. In Großbritannien hatten die Arbeitgeber schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Gewerkschaften akzeptiert. In Deutschland waren die Unternehmerinteressen zentralisiert, bis 1914 gab es in Großbritannien kein wirkliches Äquivalent dazu. Es gab stattdessen eine Vielzahl kleinerer, schwächerer Arbeitgeberverbände, die dem Druck der Gewerkschaften eher nachgaben, nicht zuletzt, da die Tarifverhandlungen meist auf lokaler Ebene stattfanden. Die Schwäche der deutschen Gewerkschaften ließ diese schon vor 1914 auf den Staat als Vermittler setzten und nach 1918 für eine stärkere Rolle des Staates in den Arbeitsbeziehungen plädieren. Die dezentrale Institutionalisierung der Arbeitsbeziehungen in Großbritannien und die relativ zentralistische Organisation der Tarifpartner in Deutschland sollte bis in die Gegenwart ein konstitutives Merkmal bleiben. Der Erste Weltkrieg führte in die britische Wirtschaftsordnung und -politik zahlreiche planerische und etatistische Elemente ein, die trotz aller Bemühungen nach Kriegsende nicht vollständig zurückgebaut wurden (zum Folgenden vgl. Wendt 1974). Durch den Krieg wurde der Staat zum Motor der Modernisierung der britischen Wirtschaft; er lenkte Investitionen sowie Produktionskapazitäten und stimulierte Innovationsprozesse. Eine Folge dieser staatlichen Modernisierungspolitik waren Unternehmenskonzentrationen und die Vermachtung von Märkten. Es entstand eine „Planungs- und Interventionsmentalität“, in deren Geist „England aus dem liberalen, freihändlerischen 19. Jahrhundert über die Schwelle des ‚kollektivistischen‘ und ‚organisierten‘ 20. Jahrhunderts“ trat (ebd.: 140f). Von einem organisierten Kapitalismus deutscher Prägung konnte dennoch keine Rede sein (vgl. Medick 1974). Es gab zwar branchenweite tarifliche Vereinbarungen von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden, die bereits damals Elemente eines Mindeststandards oder eines Mindestlohns enthielten, mehr aber auch nicht. So blieb in England trotz gewisser im Krieg erprobter Elemente der Korporatismus – als institutionalisierte Konfliktregelung von Staat, Gewerkschaften und Arbeitgebern – noch in den Anfängen stecken und konnte sich nicht etablieren (vgl. Wendt 1986; Williams 2002).59 Das passt auch zu dem normalen Bild der industriellen Beziehungen in Großbritannien. In diesem herrscht als dominantes Muster das „kollektive Laisser-faire“ vor, in dem der Staat praktisch 59 „Social Democracy only really appears as an explanation for the emergence of corporatism in countries that had already developed organized forms of state-society relationship; corporatism, in other words, was unavailable to countries with liberal market forms of interest group intermediation, regardless of the presence of social democracy“ (Howell 2005: 25).
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keine Rolle spielt. Dennoch ist dies nicht mit der Abwesenheit des Staates gleichzusetzen. Der Staat intervenierte auf eher indirekte Weise, indem er sich bemühte, gesetzliche und institutionelle Rahmenbedingungen für das Colletive Bargaining zu schaffen. Teilweise schritt er in einzelne Arbeitskonflikte direkt ein (vgl. Howell 2005). 3.3.2 Wege zum Wohlfahrtsstaat: Armutsfrage und Arbeiterfrage Die Herausbildung des Interventionsstaates ging einher mit der Entstehung des Wohlfahrtsstaates. In Deutschland lagen die Ursprünge der Sozialgesetzgebung in der Arbeiterfrage, in Großbritannien in der Armutsfrage (vgl. zum Folgenden Ritter 1987, 1983; Mommsen 1982: Teil 1). Die Einführung der staatlichen Sozialversicherung – Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1884) und Rentenversicherung (1889) – in Deutschland durch Bismarck war als komplementäres Element zu den Sozialistengesetzen zur Eindämmung der Arbeiterbewegung gedacht. Nicht zuletzt deshalb wandte sich die SPD bei ihrer Einführung zunächst vehement dagegen.60 Bismarck wollte mit einer aktiven Sozialpolitik die Arbeiterschaft in Staat und Gesellschaft integrieren und ihnen damit die Gründe für den revolutionären Sozialismus nehmen.61 Aus diesen politischen Erwägungen wurden auch vornehmlich die von der SPD organisierten gewerblichen Arbeiter in die Sozialversicherung integriert und die Landarbeiter, Dienstboten etc. erst später einbezogen. Die finanzielle Ausgestaltung der Sozialversicherung durch die Beiträge der versicherten Arbeiter und der Arbeitgeber, in der der Staat zunächst keine Rolle spielte, war entgegen Bismarcks Absichten, aber er scheiterte an innenpolitischen Widerständen. Die ursprüngliche Sozialpolitik des früh industrialisierten Großbritanniens reagierte demgegenüber auf die Problematik der Massenarmut (insbesondere bei Kindern). Eine Sozialversicherung, einen Embryo des Wohlfahrtsstaats, gab es im 19. Jahrhundert auf der Insel nicht, dennoch waren sozialpolitische Staatsinterventionen keine unbekannte Größe (vgl. Fraser 1984: 99ff). Die britische Tradition der Sozialpolitik lag in der bedürftigkeitsgeprüften Sozialfürsorge und 60 Insgesamt waren die Motive und Gründe für die Entstehung jedoch komplexer als die Analyse als Sedativum für die Arbeiterbewegung hergibt. Auch Motive der Modernisierung und Stabilisierung der Volkswirtschaft, der Sorge um die Überlastung der Unfallversicherung sowie der Konsolidierung des deutschen Nationalstaates spielten eine Rolle (vgl. Lessenich 2003b: 144–50; Ritter 1987: 14043, 1983: 28–41). 61 Bismarcks „antiparlamentarische Nebenabsicht“ (Winkler 2000b: 210) war die Etablierung von berufsständischen Organisationen, die in einer Ständekammer eine Konkurrenz zum Reichstag bieten sollten.
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der Hilfe zur Selbsthilfe.62 Letzteres wurde unterstützt durch die Förderung der Friendly Societies, einer Art Versicherungsgenossenschaft, durch ausgedehnte Arbeiterschutzgesetzgebung, eine im Vergleich zu Deutschland umfassende Koalitionsfreiheit und eine starke rechtliche Stellung der Gewerkschaften. Erst mit der National Insurance Act von 1911 der liberalen Regierung63, die auf Versicherungsbasis Leistungen bei Krankheit und Arbeitslosigkeit gewährte und zudem für einige Bereiche Mindestlöhne einführte, hielten Elemente des Wohlfahrtsstaates Einzug in Großbritannien. Auch bei den britischen Sozialreformen spielte der Gedanke, der Labour Party das Wasser abzugraben, zweifelsohne ein Rolle (vgl. Fraser 1984: 163f), aber es war nicht wie in Deutschland das primäre Ziel, die Interessenorganisationen der Arbeiter zu schwächen. Obgleich in beiden Staaten noch wesentliche, teilweise gravierende Reformen folgen sollten, waren zentrale Funktions- und Inklusionslogiken schon geschaffen, die auch für das Wohlfahrtsstaatsregime nach dem Zweiten Weltkrieg relevant wurden. Das deutsche Modell war „erwerbsarbeitszentriert“, da es wechselseitige Beziehungen und Risikoausgleiche zwischen den Lohnabhängigen schuf, aber weder Arme alimentierte – dafür gab es kommunale Fürsorgeprogramme – noch Bürger schlicht versorgte (vgl. Lessenich 2003b: 149f; Kaufmann 2003: 272). Zudem reproduzierte es Differenzierungen nach Beschäftigungs- und Einkommensstatus. Das englische Modell beruhte zumindest in Teilen auf dem Prinzip einheitlicher Beiträge und Leistungen und war auf geringem Niveau egalisierend. Im Vergleich zu Deutschland war der Umverteilungsgrad der englischen Reformen erheblich größer, da die staatlichen Zuschüsse höher waren und zudem aus direkten Steuern finanziert wurden. Während die deutschen Reformen im Wesentlichen männliche (Fach-)Arbeiter einschlossen, bezogen die britischen Reformen – ein Überhang aus der Tradition der Armenpolitik – vergleichsweise viele Frauen, Alte und Schwache in die soziale Daseinsvorsorge mit ein. Die deutsche Sozialversicherung wurde von den Arbeitern und Unternehmern getragen, und da die Arbeitnehmer einen beträchtlichen Teil der Sozialversicherung selbst aufbrachten, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Selbstverwaltungselement der Sozialversicherung in der deutschen konstitutionellen Monarchie größer als in der britischen parlamentarischen Demokratie. Diese relative „Staatsferne“ der deutschen Sozialversicherung war ein Nebenprodukt der gerin62 Aufgrund dieser Tradition sprach sich die Labour Party auch noch 1918 in ihrem Dokument Labour and the new Social Order dafür aus, dass der Staat die gewerkschaftliche Arbeitslosenunterstützung subventionieren sollte, statt ein eigenes System der Arbeitslosenversicherung aufzubauen (vgl. Cole 1948: 66). 63 Dies war tatsächlich auch sehr stark von der deutschen Erfahrung inspiriert (vgl. Ritter 1987: 149).
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gen Legitimationsgrundlagen der neu geschaffenen, zentralistischen Reichsregierung, die auf Reichsebene dem Parlament nicht verantwortlich war. In Großbritannien begünstigten die hohe Wertschätzung des parlamentarischen Systems und das Fehlen eines staatlichen Apparats sowie außerstaatlicher Einrichtungen demgegenüber den Aufbau von zentralistischen Strukturen (vgl. Rieger 1992: 168ff). Insgesamt bewirkten die Sozialreformen in beiden Ländern – unbeabsichtigt – eine Stärkung der Arbeiterbewegung. Vor allem für Deutschland waren die Veränderungen in mehrfacher Hinsicht drastisch. Die Arbeiterorganisationen wurden aufgewertet, ihr Aktionsradius wurde ausgeweitet und – allerdings zum Preis einer korporativen Einbindung und dem Vordringen reformistischer Praxis in der Arbeiterbewegung – die soziale Integration und Emanzipation der Arbeiterschaft gefördert. Die Sozialdemokratie im Interventionsstaat wurde zur legalistischen Reformsozialdemokratie, die ihre politischen Strategien – wie im nächsten Abschnitt dargelegt wird – in die vorgefundenen nationalen Strukturen und Institutionen einbettete, da diese jetzt zunehmend selbst Objekt sozialdemokratischer Reformanstrengungen werden sollten. Allerdings fehlte in der Periode vor dem Zweiten Weltkrieg sowohl der SPD als auch der Labour Party ein angemessenes politisches Paradigma, vor allem eine politische Ökonomie, die ihr das Wissen und die Instrumente bereitgestellt hätten, ihre Ziele auch in Krisenzeiten zu erreichen. 3.4 Das politische Paradigma der vorkeynesianischen Sozialdemokratie SPD und Labour Party hatten sich, wie bereits dargestellt, von verschiedenen Ausgangspunkten in einer zentralen Hinsicht angenähert: dem positiven Staatsverständnis. Gleichermaßen konvergierten Labour Party und die SPD hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen. Die Labour Party hatte sich 1918 eine neue Party Constitution gegeben, in deren berühmter Clause IV die Sozialisierung der Wirtschaft gefordert wurde.64 Mit der Clause IV sprach sie sich dezidiert für Umverteilung, Gleichheit und den Besitz des Gemeinwesens an den Produktions-, Distributions- und Austauschmitteln aus.65 Damit war sie gleichzeitig „on a solid national basis unambiguously socialist, though appropriately vague“ (Sassoon 1996: 16; vgl. Tomlinson 2000: 53). Dieses späte Be64
Die Begriffe Sozialisierung und Verstaatlichung werden in dieser Arbeit synonym verwendet. Im Wortlaut: „To secure for the workers by hand or by brain the full fruits of their industry and the most equitable distribution thereof that may be possible upon the basis of the common ownership of the means of production, distribution and exchange, and the best obtainable system of popular administration and control of each industry or service.“
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kenntnis zum Sozialismus reflektierte zum einen die revolutionäre Welle, die ganz Europa am Ende des Ersten Weltkriegs erschütterte. Zum anderen war die neue Programmatik eine innerparteiliche Kompensation an die sozialistischen Teile der Partei, die zur selben Zeit an organisatorischem Einfluss verloren (vgl. Shaw 1996a: 6). Nach 1918 teilten also SPD und Labour Party das Ziel der Sozialisierung der Wirtschaft. Es wurde unterschiedlich hergeleitet, in dem einen Falle marxistisch, im anderen fabianisch-kollektivistisch, gleichwohl war es der gemeinsame Fluchtpunkt des Sozialismus. Aber die Sozialisierungsforderungen blieben eine leere Formel, selbst zu den Zeitpunkten, an denen es die Gelegenheit gegeben hätte, diese umzusetzen: „Weder die Freien Gewerkschaften noch die SPD oder die USPD besaßen im Herbst 1918 [also im Vorfeld der Novemberrevolution; d. Verf.] irgendwelche konkreten Vorstellungen wie die Parole ‚Sozialisierung‘ in die Tat umgesetzt werden konnte“ (Winkler 1984: 83; vgl. Euchner 2005: 279-296).66
Stattdessen entschied man sich für einen „konventionellen, von risikoreichen ‚Experimenten‘ freigehaltenen Wirtschaftskurs“ (Könke 1987: 45; vgl. auch Lehnert 1983: 124f). Auch in England gelang es der Labour Party vor dem Krieg nicht, auch nur annähernd ihre Sozialisierungsvorstellungen durchzusetzen, ihr mangelte es auch an historischer Gelegenheit. In der Weimarer Republik war die SPD nicht nur Staatspartei, sondern auch demokratische Regierungspartei.67 Sie stellte – mit Unterbrechung durch den Kapp-Putsch – bis 1920 den Reichskanzler, war in den Folgejahren an den Kabinetten von Joseph Wirth und Gustav Stresemann beteiligt und führte 1928 bis 1930 die große Koalition unter Hermann Müller an. Die Vorbedingung dafür war ironischerweise die Spaltung der SPD.68 Sie schwächte zwar die Partei organisatorisch, jedoch wanderten zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) vornehmlich orthodoxe Marxisten über, was die auf Regierungsbeteiligung orientierten Teile in der Mehrheitssozialdemokratischen Partei Deutschlands (MSPD) von oppositionellen Kritikern innerparteilich be66
Damit stand die SPD nicht alleine da. Bis auf die Ausnahme der Volksfront 1936 in Frankreich fanden bis in die 1940er Jahre keine Sozialisierungen durch sozialdemokratische Parteien statt. 67 Gleichzeitig verkörperte und lebte sie jedoch ein beträchtliches Maß an sozialistischer Gegenkultur (Lösche/Walter 1989). 68 An der USPD beteiligten sich anfangs auch Kautsky, Hilferding und Bernstein, da sie die Kriegstolerierung der Mehrheits-SPD nicht länger mittragen wollten. Sie schlossen sich 1922 jedoch wieder der SPD an.
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freite und damit einer Koalitionsmöglichkeit aus gemäßigtem Bürgertum und Arbeiterschaft den Weg bereitete (vgl. Winkler 2000b: 362).69 Mit dem Görlitzer Programm (1921) unternahm die SPD den ambitionierten Versuch, Revisionismus und Reformismus auch programmatisch nachzuvollziehen. Dieser wurde jedoch schnell Makulatur, nachdem sie durch die Wiedervereinigung mit der Rest-USPD wieder ein neues Programm brauchte. Im Heidelberger Programm (1925) wurde der Parteimarxismus programmatisch – nicht praktisch – wieder dominant. Nachdem sich der revolutionäre Marxismus nun in der KPD niedergelassen hatte, fanden die Revisionisten und die marxistischen Zentristen um Kautsky und Hilferding wieder zueinander. In den Jahren der Weimarer Republik hatte sich das gesamte politische Paradigma gewandelt. Durch die Novemberrevolution war ein zentrales Ziel der SPD erreicht worden: die demokratische Republik. Die strategischen und legitimatorischen Erfordernisse für das politische Paradigma der SPD differenzierten sich, denn sie musste gleichzeitig die „Option für die Errichtung der sozialistischen Wirtschaftsgesellschaft offenlassen und zum anderen die Reformarbeit […] als Handlungsrahmen sozialistischer Politik legitimieren [sowie] die politisch-praktischen Erfordernisse aktueller Problemstellungen mit den tradierten Zielen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Einklang […] bringen“ (Könke 1987: 46f).
Diese Erfordernisse erfüllten vor allem zwei Ansätze, die für die Weimarer Sozialdemokratie eine bedeutende Rolle spielen sollten: das Konzept der Wirtschaftsdemokratie und des organisierten Kapitalismus. Der organisierte Kapitalismus ist ein vielgestaltiges Konzept. Es wurde in dieser Arbeit bereits in Anschluss an die Debatte deutscher Historiker als analytische Heuristik zur wirtschaftlichen Entwicklung gebraucht. Im Folgenden wird es auf seinen Gebrauch in der SPD der Weimarer Republik untersucht. Das Konzept des Organisierten Kapitalismus war in der SPD die zeitliche Ausdeutung von Hilferdings Hauptwerk „Das Finanzkapital“ (1910). Darin untersucht der gebürtige Österreicher die Entwicklungstendenzen des Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Seine zentrale These ist die Außerkraftsetzung des Prinzips der freien Konkurrenz durch einen steigenden Grad der Konzentration, Kartellbildung und Monopolisierung. Dies geht einher mit einer Verschmelzung von Bank- und Industriekapital zum Finanzkapital, das sowohl Wirkung als auch 69 Winkler sieht in der Spaltung sogar die „Vorbedingung der parlamentarischen Demokratie“ (2000c: 362). Diese Aussage relativiert und beschönigt allerdings, wie sich in der MSPD im Verlauf der Revolution „autoritäre Tendenzen“ (Lehnert 1983: 125) im Vorgehen durchgesetzt und damit die Grundlage für eine grundlegende Demokratisierung verhindert haben.
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Ursache des ökonomischen Konzentrationsprozesses ist. Der Produktionsprozess wird nach Hilferdings Ansicht durch das Finanzkapital – im marxschen und nicht weberschen Sinne – vergesellschaftet. Die Verfügung über die Produktionsmittel würde in immer weniger Händen gehalten, die letzte Stufe dieses Prozesses sei das Generalkartell: die „bewusst geregelte Gesellschaft in antagonistischer Form“ (Hilferding 1910: 349). Diese vergesellschaftete Form des Kapitalismus erleichtere seine Überwindung ungemein. Es genüge, durch das „bewusste Vollzugsorgan“ der Gesellschaft, den „vom Proletariat eroberten Staat“, die Kontrolle zu erlangen (ebd.: 557). Allein die Besitzergreifung von „sechs Berliner Großbanken würde ja heute schon die Besitzergreifung der wichtigsten Sphären der Großindustrie bedeuten“ (ebd.).70 In den Jahren relativer ökonomischer Stabilität der Weimarer Republik (1924–28) entwickelt Hilferding nun seine Zeitdiagnose und politische Ökonomie des organisierten Kapitalismus. Dabei verschmilzt er Ansätze seines früheren Marxismus mit zentralen Gedanken des Revisionismus: dass die ökonomische Entwicklung, vor allem die Fähigkeit der Kartelle und Banken, die Investitionstätigkeit und Kreditvergabe zu koordinieren und gesamtwirtschaftlich zu steuern, die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus gemildert habe.71 Der organisierte Kapitalismus verbleibe jedoch in antagonistischer Form und deshalb müsse die hierarchisch organisierte Wirtschaft durch die demokratisch organisierte ersetzt werden: „So stellt der Kapitalismus, gerade wenn er zu seiner höchsten Stufe […] gelangt, das Problem der Wirtschaftsdemokratie“ (ebd.: 169).72
Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie wurde in seiner deutschen Ausformulierung stark von Hilferding geprägt und lässt sich auf die Rezeption der deutschen Revisionisten der britischen Debatte über Industrial Democracy zurückführen (Webb/Webb 1897). Im Konzept waren schrittweise Demokratisierung durch Mitbestimmung, Ausweitung öffentlicher Unternehmensformen und eine inter70 Hilferding führt in seiner Schrift von 1910 viele Gedanken von Marx weiter fort. Im Gegensatz zu seinen späteren Positionen sieht er erstens in der Konzentrationstendenz des Kapitalismus keine krisenmildernde Funktion und zweitens in seiner steigenden Organisierung nicht die Eindämmung, sondern die Offenlegung der Klassenwidersprüche. In der Periode nach seinem Erscheinen wird das „Finanzkapital“ zuerst zum klassischen Referenztext der marxistischen Imperialismustheorie (vgl. Nachtwey 2005b), erst später wird seine revisionistische Anschlussfähigkeit hervorgehoben. 71 Der organisierte Kapitalismus repräsentiert das Gegenteil von Hilferdings ursprünglicher Position im „Finanzkapital“, in der er keineswegs von einer krisenmildernden Funktion der Konzentrationstendenz ausgegangen war. 72 Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie wird vor allem mit dem Werk von Naphtalie (1929) verbunden, der sich wiederum stark an Hilferding orientiert hat.
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ventionistische Wirtschaftspolitik enthalten (vgl. Könke 1987: 97-104). Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie war somit die ideale Brücke zwischen alltäglicher, legislativer Reformpolitik und dem Endziel des Sozialismus. Diese Positionen führt Hilferding 1927 in seiner Rede auf dem Parteitag in Kiel weiter und spitzt sie auf die Rolle des Staates zu. Er betrachtet den organisierten Kapitalismus als den „prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion“ (Hilferding 1927: 218). Für die schlussendliche „Konvergenz von organisiertem Kapitalismus und Sozialismus“ (Winkler 1974a: 11) gibt es für Hilferding zwei relevante Faktoren: das Handeln der Arbeiterschaft, ihr Kampf für betriebliche und überbetriebliche Wirtschaftsdemokratie sowie der bewussten Einwirkung durch den Staat. Schon jetzt gebe es einen „politischen Lohn“ durch die Einwirkung des Staates. Mit diesem könnte die „Unterordnung der wirtschaftlichen Privatinteressen unter das gesellschaftliche Interesse“ gelingen (Hilferding 1927: 218).73 Hilferding war der unangefochtene theoretische Kopf der SPD in jener Zeit. Die „Hegemonie des Hilferding-Paradigmas“ (Höpner 2004: 207) war aber auch durch den Mangel an alternativen Deutungen innerhalb der SPD möglich. Es gab zwar zahlreiche theoretische Diskussionen in der SPD, indessen keine, die ebenso stark als Zeitdiagnose und politische Ökonomie wirkte. Hilferding verband zudem Positionen weiter Teile der Zentristen mit denen der Revisionisten. Die Linke verhielt sich demgegenüber passiv (vgl. Könke 1987: 110–112). Mit dem Konzept des organisierten Kapitalismus reflektierte die SPD ihre Einbettung als Partei in den deutschen Kapitalismus, Interventions- und Wohlfahrtsstaat. Die enge Verzahnung von Industrie und Bankkapital sowie die Herausbildung und Formierung von Arbeitsgesetzgebung und sozialen Institutionen waren die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Transformation zur Reformsozialdemokratie die endogene strategische Veränderung für das damalige politische Paradigma. Der organisierte Kapitalismus war als politische Ökonomie getragen von einem evolutorischen und gradualistischen Marxismus, der letztlich auf eine ordnungspolitische (und wie wir noch sehen werden: konjunkturpolitische) Passivität hinauslief. Der Marxismus stand auch nicht im Gegensatz zur Regierungspolitik, in die man zwischenzeitlich eingetreten war. Er existierte schlicht neben und nicht im Widerspruch zur konkreten Politik; es folgten 73 Eine ähnliche Position nahm auch der zum rechten Parteiflügel gehörende Heimann (1929) ein, der annahm, dass konservative Reformen zwar die Arbeiterbewegung niederhalten sollten, dennoch die Machtbalance zwischen den Klassen veränderten; der Soziallohn stelle eine potenzielle Machtressource zwischen Kapitalismus und Sozialismus dar, da er ein systemfremdes Element in den Kapitalismus einführe.
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keine politischen Handlungsanweisungen aus dem Marxismus, der Klassenkampf war ein Element der Geschichte sowie des Kapitalismus, der sich unabhängig entwickeln sollte (vgl. Könke 1987: 37–40). Kartellierung und Monopolisierung wurden als dem Kapitalismus eigene Entwicklungen zu seiner eigenen Reife und damit zum Sozialismus gesehen. Es war ein Stück „‚gesollter‘ Geschichte“ (Winkler 1974a: 14). Diese Passivität und Nichtintervention war widersprüchlich, denn schließlich ging Hilferding davon aus, sowohl die Wirtschaftsdemokratie als auch den Sozialismus durch sozialstaatliche Interventionen herbeiführen zu können. Allerdings muss man unterscheiden: Hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung war Hilferding von den neoklassischen Empfehlungen kaum zu unterscheiden, da er nicht in die „Entwicklung der Produktivkräfte“ eingreifen wollte. In den industriellen Beziehungen und der Regulierung des Sozialen positionierte er sich jedoch interventionistisch. Insgesamt lief aber auch das Konzept der Wirtschaftsdemokratie auf Passivität und Nichtintervention hinaus. Die gesellschaftliche Umgestaltung wurde nicht mehr durch einen politisch herbeigeführten Umbruch erwartet, sondern aus den Strukturwandlungen der Wirtschaft und der Summe aller Aktivitäten der Arbeiterorganisationen hergeleitet. Es wurde zur Beschreibung einer Entwicklung, verlor damit aber seinen Charakter als strategische Handlungsanleitung: Das mittelbare Ziel der Sozialisierung sowie die langfristige Perspektive des Sozialismus blieben erhalten, wurden jedoch bereits partiell umgewertet: „An die Stelle der ehemals vorrangigen Frage einer Umwandlung der Wirtschaftsordnung trat nunmehr das Primat der Demokratisierung, d. h. der Beteiligung an den Entscheidungsstrukturen des bestehenden Systems, gepaart mit der Forderung nach Teilhabe an den materiellen Früchten“ (Könke 1987: 222).
Die Handlungsperspektiven der SPD veränderten sich. Programmatisch und in der alltäglichen Rhetorik der Funktionäre lebte der Marxismus weiter fort, praktisch spielte er längst nur noch eine untergeordnete Rolle. Fragen der sozialen Gerechtigkeit gewannen in der Praxis – jedoch in der Regel ohne diesen Begriff zu verwenden – einen immer höheren Stellenwert, da die soziale Frage jetzt vornehmlich innerhalb des Kapitalismus gelöst werden sollte. Dadurch hatte die Frage der Gerechtigkeit an Bedeutung gewonnen, der Begriff der sozialen Gerechtigkeit in der SPD noch nicht. Warum spielte der Begriff der Gerechtigkeit in der SPD bis in die 1920er Jahre in der Programmatik eine so geringe Rolle? Denn auch das ursprüngliche Movens der deutschen Sozialdemokratie war die Frage der Ungleichheit, der sozialen Gerechtigkeit. Bebel gab den Zweck der Sozialdemokratie als „die 72
Herstellung der ökonomischen Gleichheit, also die Errichtung eines auf voller Freiheit und Gleichheit basierenden Staats und Gesellschaftswesens“ (zit. nach Miller 1976b: 11) an. Rosa Luxemburg widersprach dem nicht: „Der […] Anstoß zur sozialdemokratischen Bewegung wenigstens bei den Volksmassen ist freilich auch die ‚ungerechte‘ Verteilung“ (1899: 91).
Man sieht, in der politischen Sprache der SPD waren Gleichheit und Gerechtigkeit keine völlig Unbekannten, wurden aber in der Regel synonym und nicht eindeutig verwendet. Gleichheit hieß so viel wie Gleichstellung in einem umfassenden Sinne, ökonomische, rechtliche, soziale und politische Dimensionen umfassend. Susanne Miller argumentiert, dass es bereits im zweiten Teil des Erfurter Programms um Freiheit und Gerechtigkeit gehe (vgl. Miller 1976b: 12). Dies ist insofern richtig, als dort konkrete Reformforderungen für die Arbeiterschaft gestellt werden. Bei genauer Betrachtung geht es aber um politische Freiheitsrechte, spezifische Formen des Arbeiterschutzes, und nur bezüglich des Eintritts für eine direkte Besteuerung von Einkommen und Vermögen lässt sich so etwas wie egalitäre Verteilungsgerechtigkeit und solidarische Leistungsgerechtigkeit aus dem Programm herauslesen. Die Antwort auf die Frage nach dem Fehlen eines Gerechtigkeitsbegriffs liegt im spezifischen Marxismus. Denn dieselbe Luxemburg, die den Ursprung der Sozialdemokratie in der ungerechten Verteilung sah, war um eine scharfe Polemik gegen den Begriff der Gerechtigkeit – der „klapprigen Rosinante, auf der alle Don Quichottes der Geschichte zur großen Weltreform hinausritten“ (ebd.) – in ihrer Auseinandersetzung mit Bernsteins Frage nach der „gerechten Verteilung des Arbeitsprodukts“ nicht verlegen (1899: 60). Luxemburg formulierte prägnant den marxistischen Einwand gegen den Begriff der Gerechtigkeit in der Programmatik der vorkeynesianischen Sozialdemokratie: „[D]ie Sozialdemokratie will die sozialistische Verteilung durch die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise herbeiführen, während das Bernsteinsche Verfahren ein direkt umgekehrtes ist; er will die kapitalistische Verteilung bekämpfen und hofft auf diesem Wege allmählich die sozialistische Produktionsweise herbeizuführen“ (1899: 91)
Gerechtigkeit als politische Kategorie war nach marxistischem Verständnis eine Ablenkung von der Lösung der eigentlichen sozialen Frage, da der Marxismus nicht eine Umverteilung durch die Institutionen des Staates anstrebt, sondern die Abschaffung des Staates. Durch die demokratische Herrschaft der Arbeiterschaft 73
über die Produktionsmittel seien Fragen der Distribution obsolet. Die Interventionen von Marx, Engels (vgl. Fn. 45) und Luxemburg waren offenbar so wirksam, dass der Begriff „gerecht“ auch lange nach ihrem Tod in den Parteiprogrammen der SPD in der ersten Jahrhunderthälfte zur Gänze fehlte.74 Zweifellos ging es in den politischen Forderungen der Sozialdemokratie jener Zeit um Gerechtigkeit, aber der Mittel/Ziel-Mix ließ die Frage nur zu einer abstrakten Ableitung werden: Die Produktionsweise des Kapitalismus war auf Grund der kapitalistischen Ausbeutung ungerecht. Gerechtigkeit wurde durch nichts weniger als den Sozialismus hergestellt. Diese sozialistische Gerechtigkeit sollte vor allem durch die Abschaffung des Privateigentums, die Vergesellschaftung und demokratische Kontrolle der Produktionsmittel herbeigeführt werden. Sozialistische Gerechtigkeit bedeutete die politische und soziale Gleichstellung sowie die massive Reduktion der Ungleichheit. Sie bedeutete jedoch nicht, wie ihr Kritiker vorwerfen, das Ziel der Gleichheit im Ergebnis. Sozialistische Gleichheit war durchaus komplex und nicht regressiv. Erstens war man nicht gegen Freiheit und Freiheitsrechte an sich, sondern sah die bürgerliche Freiheit nur als „formal“ und damit unzureichend an. Freiheit war stets positive Freiheit, die jedoch erst durch die Freiheit von sozialer Not gegeben war. Marx betonte in seinen „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ (1875) und in „Die deutsche Ideologie“ (1845/46), dass es darum gehe, die Vielfalt der Menschen zu berücksichtigen und ihnen Wahlfreiheit in ihrem Handeln und Autonomie zu gewährleisten.75 Insgesamt wurden unmittelbare Reformforderungen und -ziele vor allem von den Revisionisten immer stärker in das Zentrum des politischen Denkens gestellt. Aber da das marxistische Zentrum immer noch die dominante Koalition blieb, setzte sich das revisionistische Denken nur insoweit durch, als viele seiner Elemente in den vorherrschenden Marxismus inkorporiert wurden. Der Begriff der Gerechtigkeit blieb weiterhin außen vor. Erst im Godesberger Programm (vgl. Kapitel 5) taucht die Gerechtigkeit auf und nimmt als Grundwert fortan die Schlüsselposition im Wertekanon der SPD ein. Die Grundkonfiguration des politischen Paradigmas der vorkeynesianischen Labour Party war durchaus mit der SPD vergleichbar. Die Rolle, die der Marxismus als „passive“ politische Ökonomie spielte, wurde hier vom Fabianismus ausgefüllt. Dieser war der dominante Strang des politökonomischen Denkens in 74 Im Eisenacher Programm (1869: 388) hieß es noch ex negativo, dass die „sozialen Zustände im höchsten Grade ungerecht“ seien. Im Gothaer Programm (1875: 379) wird noch von der „gerechten Verteilung“ Arbeitsertrag gesprochen. Seit dem Erfurter Programm (1891) fehlte Gerechtigkeit als politischer Begriff. 75 Selbstverantwortliches Handeln, sprich: Eigenverantwortung, war nur indirekt in der Programmatik, aber beispielsweise für Bernstein eine zentrale Forderung (vgl. 1899: 150f).
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der Labour Party in den 1920er Jahren. Die konkurrierende Deutung war der liberale Sozialismus, im Kern eine Unterkonsumtionstheorie76, die weniger kollektivistisch als der Fabianismus war und auf eine gemischte Wirtschaftsordnung zielte. Der liberale Sozialismus wurde vor allem von der ILP und namentlich dem Ökonomen J. A. Hobson sowie auch von John Strachey und Oswald Mosley vertreten. Quer zu diesen divergierenden Ansätzen war die gesamte politische Ökonomie der Labour Party immer moralisch durchzogen und aufgeladen. Im Gegensatz zur SPD war die Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit des Kapitalismus, wie es beispielsweise in den Schriften von R. H. Tawney – sein bekanntestes Buch hatte den Titel „Equality“ (1931) – ausgedrückt wurde, ein immer wiederkehrendes Motiv im ökonomischen und sozialphilosophischen Denken der Partei (vgl. Thompson 1996a: 35–54; Callinicos 2000: 26-35). In der Labour Party dauerte es bis 1918, dass sie auf nationaler Ebene mit einem sozialistischen Programm auftrat. Allerdings vertrat sie schon vor 1914 Vorstellungen eines „kollektiven Staatssozialismus“, einer wohlfahrtsstaatlichen Sicherung der Arbeiter (vgl. Berger 1997: 49). Aber nach Clause IV war Gemeineigentum nicht nur ein Mittel zur Erreichung des Sozialismus, es war „intrinsic to socialism“ (Tomlinson 2000: 53). Die Bedeutung der Clause IV, vom führenden Intellektuellen der Fabier, Sidney Webb, verfasst, ist unbestritten, doch zur selben Zeit schrieb er das erste wirkliche Programm der Partei, Labour and the New Social Order (1918). Dieses enthält die wesentlichen Elemente der Programmatik der Labour Party jener Periode. Im Programm stand nicht die Sozialisierung der Produktionsmittel an erster Stelle, sondern das zentrale fabianische Leitmotiv eines nationalen Minimums und einer Politik der Vollbeschäftigung. Das nationale Minimum umfasste die Vorstellung eines würdevollen Minimalstandards des Lebens, mit Pensionsansprüchen, Unterstützung bei Arbeitslosigkeit und im Krankheitsfall, der gesetzlichen Regulierung der Arbeitszeit, progressiver Besteuerung der öffentlichen Bereitstellung von Gesundheitsversorgung, Erziehung und Wohnraum (vgl. Shaw 1996a: 4f; Tomlinson 2000: 48f; Harris 2000: 17–19; Pollard 1991: 168).77 Die Sozialisierung war nicht nur ein Ziel, sie war überdies ein Mittel: Zur Sozialisierung gehörten neben der Verstaatlichung bestimmter Schlüsselindustrien wie Elektrizität, Kohle und Verkehr auch die Einschränkung der „Verfügungsrechte“ des Kapitals durch gesetzliche
76 Diese hatte durch ihre Betonung des Nachfragemangels viele Elemente mit dem späteren Keynesianismus gemein. 77 Es ist diese Traditionslinie des nationalen Minimums im politischen Denken des Fabianismus, die in den 1990er Jahren unter New Labour (wieder) auflebte und an Bedeutung gewann (vgl. hierzu Kapitel 7).
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Bestimmungen zu Arbeitszeit und Arbeitsschutz sowie der Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Entsprechend waren auch die Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit geprägt, obgleich es keine explizite Diskussion in dem Dokument darüber gibt. Im Zentrum des Programms steht das zur Verteilungsgerechtigkeit gehörende Minimumprinzip. Gleichwohl werden auch Gerechtigkeit nach der egalitären Verteilungsgerechtigkeit („healthy equality of material circumstances“) und eine umfassende Chancengleichheit („genuine equality of opportunity, overcoming all differences of material circumstances“) aufgeführt (Labour Party 1918: 4, 21). Verteilungsgerechtigkeit und Chancengleichheit waren also stark verkoppelt. Es ging nicht nur um unverdientes Einkommen, sondern um die ungleiche Verteilung von Chancen durch unverdientes Vermögen: „Größere Gleichheit der Einkommen blieb […] ein wichtiges Ziel der Labour Party. Für viele Mitglieder war dies der Hauptgrund ihres Beitritts, die Quelle ihrer moralischen Ansprüche gewesen. [M]an wandte sich hauptsächlich gegen ererbtes Vermögen, das für Ungleichheit sorgte und das durch Besteuerung verringert werden sollte“ (Pollard 1991: 170).
Doch ist dies tatsächlich nur als mehr Gleichheit und nicht als Gleichheit im Ergebnis zu verstehen. Man nahm an, dass im Falle einer Beseitigung der großen strukturellen Ungleichheiten eine „modest personal ‚rent of ability‘ would remain“ (Harris 2000: 31). New Labour Programmatik enthält einen differenten Gerechtigkeitsmix, der – zumindest für die Labour Party – in keinem Gegensatz zur Freiheit steht. Ein Minimum, generell soziale Rechte, wird geradezu als freiheitsermöglichend gesehen. Dort, wo egalisierende Gerechtigkeitsprinzipien angeführt werden, wird erstens stets betont, dass es sich nicht um Gleichmacherei handeln soll. Zweitens wird es vor dem Hintergrund des britischen Bildungssystems plausibler, in dem die soziale Herkunft nicht nur die frühkindlichen Bildungsstandards, sondern auch die materiellen Zugänge zur Bildung bestimmte. Dieser Überblick verdeutlicht, dass die herkömmlichen Ansichten über die Labour Party, dass ihr Verständnis von sozialer Gerechtigkeit entweder „liberal“ (Chancengerechtigkeit) oder „sozialistisch“ (Gleichheit im Ergebnis) sei, zu simpel ist. Sowohl in der Labour Party als auch in den Diskussionen in ihrem intellektuellen Umfeld – wenn auch nicht programmatisch kodifiziert – herrschte ein komplexes Verständnis von sozialer Gerechtigkeit vor. Die einzige, gleichwohl prominente und bedeutende Ausnahme war der Schriftsteller und Fabier Bernard Shaw, der in der Tat Einkommensgleichheit forderte (vgl. 1928: 56f). Die vielfältigen Diskus76
sionen leiteten die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit aus funktionalen Gesichtspunkten, aus Verdienst, Bedarf und Anreiz ab (Jackson 2003). Die Debatten und Resolutionen zu Labour and the New Social Order (vgl. Cole 1948: 44–71) legen noch weitere Komponenten des politischen Paradigmas der damaligen Labour Party frei. Zum einen war sie sich der Notwendigkeit von Produktionswachstum dezidiert bewusst, zum anderen hatten die Forderungen nach Sozialisierung und Planung einen dualistischen Charakter, da sie einesteils Mittel sozialistischer Politik waren, andernteils als ausdrücklich „effizienter“ als die kapitalistische Marktwirtschaft angesehen wurden (vgl. ebd.: 65). Diese positive Haltung zu Planung wurde jedoch in keiner Weise in praktische Pläne übersetzt. Die Labour Party hatte sich vor dem Ersten Weltkrieg wenig Gedanken über Planwirtschaft und Sozialisierungen gemacht, auch in den 1920er Jahren nicht. Das Interesse stieg erst mit dem relativen „Erfolg“ der sowjetischen Fünfjahrespläne (vgl. Pollard 1991: 169). Das politische Paradigma weist noch weitere Parallelen zur SPD auf. Ein zentrales fabianisches Grundverständnis war, die ökonomische Entwicklung im Wesentlichen evolutionär zu betrachten (vgl. zum Folgenden Thompson 1996a: 55–76). Eine wirkliche, in einem Begriff konzentrierte Zeitdiagnose wie der organisierte Kapitalismus existierte in der Labour Party zwar nicht – demgegenüber jedoch eine relativ konkrete und detaillierte Beschreibung der Problemlagen, zu denen man sogleich pragmatische Lösungen vorschlug. Die Probleme des britischen Staates zu jener Zeit – Währungsinstabilität, Haushaltsdefizit und vor allem die steigende Arbeitslosigkeit – wurden in den Kategorien der politischen Ökonomie des Fabianismus der dem Kapitalismus innewohnenden Ineffizienz aufgrund seiner Anarchie und ungeplanten Struktur zugeschrieben. Einer Zeitdiagnose am nächsten kamen noch „The Decay of Capitalist Civilisation“ von den Webbs (1923) und Tawneys „The Acquisitive Society“ (1921). Tawneys Zugriff auf die Gesellschaft war die Kritik der moralischen Aushöhlung der sozialen Verhältnisse durch den Markt, während die Webbs Kritik an der Ungleichheit des Kapitalismus mit einer Diagnose seiner langfristigen Ineffizienz verbanden. Bei den Webbs ohnehin, aber eingeschränkt auch für Tawney galt: Die Lösung für die gesellschaftlichen Missstände lag in der fabianischen politischen Ökonomie. Kurz, das Problem der Arbeitslosigkeit konnte folglich vor allem durch die Sozialisierung zentraler Industrien behoben werden. Diese sollte sich geplant, aber vor allem – dieses Begründungsmuster ist in allen Dokumen-
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ten des Fabianismus omnipräsent – rational und wissenschaftlich vollziehen.78 Die Begründung für Umverteilung, d. h. für eine progressive Besteuerung, lag in der neoricardianischen Rententheorie, wonach bestimmte Teile des Kapitals und Landbesitzer eine Extrarendite aufgrund ihrer privilegierten Position im Produktionsprozess einstrichen. Zusammenfassend lässt sich sagen, „dass die wichtigsten Aspekte der sozialistischen Zielsetzung, die innerhalb der Labour Party in den Zwischenkriegsjahren zur Debatte standen, somit in der Sozialisierung der Produktionsmittel, der Wirtschaftsplanung, der Nivellierung der Einkommen und der verbesserten sozialen Lage der Arbeiter zu suchen sind“ (Pollard 1991: 171).
Man kann Cole zustimmen, wenn er urteilt, dass bereits 1918, wenngleich in anderen politischen Begriffen, die Grundausrichtung der Labour Party der (sich erst später entwickelnden) keynesianischen Sozialdemokratie ähnelt (vgl. 1948: 57): Reformpolitik in der parlamentarische Demokratie, Steuerung des Kapitalismus, Umverteilung und Arbeiterschutz. Allerdings, so muss hinzugefügt werden: ohne Keynesianismus. Der Fabianismus „passte“ zum britischen Kapitalismus jener Zeit. Er war zwar marktkritisch, aber nicht gleich antikapitalistisch, und durchaus freihändlerisch eingestellt, bevorzugte ein starkes Pfund – teils aus Nationalstolz, teils aus einer Präferenz für die starken Londoner Finanzmärkte –, war für einen Wohlfahrtsstaat, der ein Minimum garantierte, und hielt sich einerseits aus der Regelung der tariflichen Beziehungen heraus, trat aber andererseits für eine Industrial Democracy durch den Ausbau von Arbeiterrechten ein. Vor allem korrespondierte der Kollektivismus im fabianischen Denken mit dem hohen Grad an staatlicher Intervention nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch wenn hier ein wenig Kohärenz durchscheint, insgesamt blieb das gesamte politische Paradigma eklektizistisch. Der Kollektivismus als Ordnungsvorstellung und die Präferenz für Umverteilung waren in vielen Teilen gepaart mit buchstäblich orthodoxen Präferenzen in der Wirtschaftspolitik. In Labour and the New Social Order gibt es immer wieder positive Verweise auf die Errungenschaften der Wirtschaftswissenschaften, die im Kern neoklassisch waren. Die Präferenzen für Freihandel und vor allem für einen ausgeglichenen Staatshaushalt zeugten von dem starken Einfluss der klassischen liberalen politischen Ökonomie in Großbritannien. Programmatisch schlug sich diese Widersprüch78 Der Szientismus des Fabianismus war vor allem auf die normale, nichtmarxistische Wissenschaft fokussiert. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn man bedenkt, dass einer der Lieblingswissenschaftler der Fabianer, W. S. Jevons, die Konjunkturzyklen durch Sonnenflecken erklären wollte.
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lichkeit auch in den verschiedenen Programmdokumenten, besser in den verschiedenen Typen von Programmdokumenten wieder. Im Jahr 1928 wurde Labour and the Nation verabschiedet, das dem deutschen Typus eines Grundsatzprogramms recht nahe kommt. In diesem wurde der sozialistische Charakter der Labour Party betont. Innerparteilich war es jedoch ein Mittel des Vorsitzenden Ramsey MacDonald, die linke ILP zurückzudrängen, die die Labour Party auf das Wahl- und Regierungsversprechen von Sozialisierung und Sozialismus festlegen wollte. Durch die Verabschiedung dieses programmatischen Dokuments hatte die Parteiführung freie Hand bei der Formulierung des eigentlichen Wahlprogramms – in dem vom Sozialismus schließlich keine Rede mehr sein sollte. Das Dokument selbst gebärdete sich radikal, war jedoch in sich widersprüchlich und vor allem in der Finanz- und Wirtschaftspolitik ohne Konzeption (vgl. Cole 1948: 196–213).79 Dieser Eklektizismus und seine Passivität bezüglich einer Umgestaltung der Wirtschaft waren in „normalen“ Zeiten bestenfalls eine kleine Bürde, entsprachen aber durchaus den Traditionen in der Labour Party. Die Passivität der politischen Ökonomie der SPD war ungleich größer. Auf die Weltwirtschaftskrise fanden beide als Regierungsparteien keine Antwort. Dies vor allem deshalb nicht, weil das gesamte politische Paradigma eine Hybride aus sozialistischen Forderungen und Reformpolitik in kapitalistischen Demokratien war. Sozialistische Forderungen wurden – sowohl in der SPD als auch in der Labour Party – jedoch zu keiner Zeit in konkrete, auch in einer Regierung durchführbare Forderungen oder gar Maßnahmen übersetzt. Das lag auch an der grundsätzlichen Passivität der politischen Ökonomie des Fabianismus in Großbritannien und des Hilferding-Marxismus in Deutschland. Es mangelte an Konzeption wie auch an Kohärenz, überhaupt an einer konkreten Idee, wie der demokratische Sozialismus verwirklicht werden sollte. Schon bei ihren ersten Regierungsbeteiligungen – wie der nächste Abschnitt zeigt – beugte sich die Führung den Zwängen des politischen Systems, den Koalitionspartnern und dem sozialdemokratischen Akkumulationsdilemma. Die Politik der Transformation schrumpfte jedes Mal in eine Politik der Erhaltung des Status quo, in der nicht der Kapitalismus, sondern die Lebensbedingungen ihrer eigenen Klientel auf der Strecke bleiben sollten. Dies ging so weit, dass zahlreiche, sich selbst als Sozialisten verstehende Politiker der Weltwirtschaftskrise fassungslos, deutungsarm und am Ende schlicht hilflos gegenüberstanden, weil ihre politische Ökonomie keine Alternativen zur orthodoxen Wirtschafts- und Finanzpolitik bereitstellte.
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Das sollte auch in den 1930ern so bleiben (vgl. Tomlinson 1993).
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Abbildung 2: Das politische Paradigma der vorkeynesianischen Sozialdemokratie Zeitdiagnose SPD
Organisierter
Politische Ökonomie Kapita-
Hilferding-Marxismus
lismus Labour Party
Moralische Entbettung
Fabianismus
Quelle: Eigene Darstellung
3.4.1 Regierungspolitik in der Krise Zweimal war die Labour Party in den 1920er Jahren – 1924 und 1929 – in der Regierung. Zweimal als Minderheitenkabinett, zweimal unter der Führung von Ramsay MacDonald. Das politische Denken des ersten Premierministers und Vorsitzenden der Labour Party80 oder des Finanzexperten und späteren Schatzkanzlers Phillip Snowden war in weiten Teilen exemplarisch für die Labour Party – sie traten für den Sozialismus ein. Aber die mangelnde Konkretisierung, die unzureichende Konzeptualisierung sozialistischer Politik wie auch der mangelnde Mut, auf jeden Fall aber der für Labour Politiker typische Konstitutionalismus ließen sie in den Bewährungsproben der Regierungsvorbereitung und der Regierungsausübung von radikalen Maßnahmen Abstand nehmen: „They [die damaligen Parteiführer; d. Verf.] spoke an often emotive language of a future world of human fellowship, declaimed passionately about the miseries of mass unemployment and poverty under capitalism which only socialism could remedy, whilst at the same time repudiating any policies that seriously threatened the existing order” (Shaw 1996a: 6).
Auch der Eklektizismus spielte hierbei eine wesentliche Rolle. Snowden trat zwar für Sozialisierungen ein, war aber in allen anderen Fragen orthodox: „Snowden, the ‚iron‘ Chancellor of the Exchequer, was unflinchingly committed to the canons of financial orthodoxy – a balanced budget, free trade and a strong pound“ (ebd.). 80
Der philosophische Mentor für MacDonald war übrigens ein Deutscher – Bernstein (vgl. Fielding 2003: 61f).
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Aber es waren schließlich nicht nur die Überzeugungen, sondern auch die Machtkonstellationen, die in die Handlungen der Labour Party mit eingeflossen sind. Man war sich als Minderheitenregierung immer klar darüber, jederzeit durch ein negatives Votum der Oppositionsparteien gestürzt werden zu können (vgl. Pollard 1991: 172). Zudem war die Regierung durch das Oberhaus, welches damals noch über ein suspensives Vetorecht verfügte, eingeschränkt. Aber es gab Alternativen in der Strategie. Die Partei konnte in die Regierung zu den Konditionen der Liberalen gehen und mit stark eingeschränktem Handlungsraum regieren, was schließlich auch geschah, aber sie hätte auch in die Regierung mit einem sozialistischen Programm gehen können. Zweifellos hätte sie recht bald die Regierungsmacht verloren, jedoch die Chance gehabt, glaubwürdig für ihre Ziele einzustehen und bei der folgenden Neuwahl eine robustere Mehrheit zu bekommen. Stattdessen akzeptierte sie „the entire institutional framework as an immovable constraint“ (Sassoon 1996: 56). Das ist in der Tat Spekulation, aber es verdeutlicht, dass es mehr als die gewählte Option gab (vgl. Cole 1948: 157– 159). Der Charakter der Labour Party, elektorale Dachorganisation und erst dann sozialistische Partei zu sein, spielte sicher eine Rolle bei der Regierungsentscheidung. Bevor die erste Labour-Regierung nach nur neun Monaten zusammenbrach, erreichte sie einige, geringfügige Verbesserungen in der Sozialpolitik und im Wohnungsbau, doch sie unternahm nicht die kleinsten Schritte Richtung Sozialisierung, und Snowdens Haushalt war „essentially a free trader’s budget“ (Cole 1948: 163). Die Tragödie für die Labour Party fand mit der Weltwirtschaftskrise statt. Schon die ganzen 1920er Jahre über hatte die Arbeitslosigkeit zugenommen, durch die Rückkehr zum Goldstandard81 1925 war ein erheblicher Druck auf das Lohnniveau ausgeübt worden. Es gab in und außerhalb (z. B. bei den Liberalen) der Labour Party schon in den 1920er Jahren, aber mit der Krise nach 1929 sich ausweitende, verschiedene unterkonsumtionistische bzw. protokeynesianische Ansätze, die staatliche Arbeitsbeschaffungsprogramme, Umverteilung und Investitionen vorsahen. Diese waren teilweise weniger „links“ als die Positionen der dominanten Fraktion in der Partei, da sie – wie Hobson – eine gemischte Wirtschaft und nur eingeschränkt Sozialisierungen vorsahen, aber sie setzten sich unmittelbarer für die Lebenssituation der Arbeiterschaft ein. Forderungen nach Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie eine expansive Geld- und Finanzpolitik kamen sowohl aus dem Lager der Liberalen, von Wissenschaftlern wie John Maynard Keynes, aber auch aus den Gewerkschaften. Diese Ansätze scheiterten 81
Snowden befürwortete die Rückkehr zum Goldstandard, was massive deflationäre Maßnahmen zur Folge hatte.
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teils an der Parteilinken, da sie für diese nicht sozialistisch genug waren, aber vor allem an der dominanten Koalition (MacDonald, Snowden), die weiterhin auf orthodoxe Finanzpolitik setzte (vgl. Pollard 1991: 175f; Shaw 1996a: 8; Thompson 1996a: 35–45). Nach 1929, Labour befand sich zum zweiten Mal in der Regierung, reagierte man auf die rapide steigende Arbeitslosigkeit und die Finanzprobleme auf „völlig orthodoxe Weise“ (Pollard 1991: 175). Sie hatten keine eigenen originellen Ansätze entwickelt und – überspitzt ausgedrückt – waren von den Konservativen wirtschaftspolitisch nicht mehr zu unterscheiden (vgl. Sassoon 1996: 57). Schließlich verloren MacDonald/Snowden ihre ohnehin schon brüchige Hegemonie in der Partei. In der Regierung erwog der Premierminister die Kürzung der Arbeitslosenunterstützung, um die Zahlungsbilanz während der Rezession auszugleichen und den Forderungen der Unternehmer nachzukommen (Fielding 2003: 63). Im Jahr 1931 versuchten sie gemeinsam ein bürgerliches Kabinett zu formen – ohne die Partei zu konsultieren. Dafür wurden sie ausgeschlossen. Die Wahlen von 1931 endeten für die Labour Party in einem Desaster und verbannte sie auf Jahre in die Opposition. In der Labour Party wurde der Sozialismus als „natürliche evolutionäre Weiterentwicklung des bisherigen Fortschritts gewertet […], als ein Produkt des wachsenden Wohlstands [und] der verbesserten technischen Möglichkeiten“ gesehen. Für tiefe Krisen jedoch „stand kein Programm bereit“ und so hatte auch eine „sozialistische Regierung auf traditionelle Weise mit ihren Problemen fertig zu werden“ (Pollard 1991: 181; vgl. Sassoon 1996: 58). Oder, wie es Robert Skidelsky ausgedrückt hat: „Socialism was impossible and capitalism was doomed: there was nothing to do but govern without conviction a system it did not believe in but saw no real prospect of changing“ (Skidelsky 1967: 395).
Es war vor allem, so Skidelsky, die fabianische Vorstellung, dass man die Arbeitslosigkeit nur durch Sozialisierung bzw. Sozialismus beheben könne, die die Labour Party vor einer eigenständigen Politik gegen die Arbeitslosigkeit abgehalten hat (vgl. 1967: 43; Thompson 1996a: 80-82; dazu kritisch McKibbin 1975). Gerade der britische Fall zeigt die wechselseitige Verbundenheit von Akteurswissen und Präferenzen sowie ihrer strukturellen und institutionellen Einbettung: „[T]he MacDonald government shared the view of its predecessor that Britain was inextricably entangled in the world economy, and that this entanglement
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imposed its own restrictions on British economic policies“ (McKibbin 1975: 103).
Die Rolle der ökonomischen Struktur Großbritanniens zu dieser Zeit korrespondierte aufs Engste mit den politischen Präferenzen. Der hohe Grad an Weltmarktintegration, die Bedeutung des Freihandels, die besondere Stellung der Londoner City (also der Finanzwelt) und demgegenüber eine schwache Stellung des Agrarsektors und von Teilen der verarbeitenden Industrie, waren Faktoren, die die politisch-ökonomischen Präferenzen von MacDonald und Snowden wesentlich prägten. Dies umso mehr, als die Niederlage beim Generalstreik 1926 (als Reaktion auf die Deflationspolitik) sie davon überzeugt hatte, die Interessen der City zu stützen. Die auf Außenhandel ausgerichtete britische Wirtschaft und die politischen Führer hatten wenig Verständnis für die „inward-looking ideas“ von Keynes (Gourevitch 1986: 136). Kurz, ein ausgeglichener Staatshaushalt und ein starkes Pfund waren innerhalb der allgemeinen „hegemony of economic orthodoxy“ (Gourevitch 1986: 140) bzw. dem „dead weight of conventional wisdom“ (McKibbin 1975: 68) die zentralen Referenzpunkte in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der beiden führenden Labour Politiker. Sozialismus als Ziel und ökonomische Orthodoxie in der Wirtschaftspolitik: das klingt widersprüchlich – und das war es auch. Aber nicht nur dort, das gesamte politische Paradigma nicht nur der Labour Party, sondern auch der Arbeiterbewegung war von diesen Widersprüchen geprägt. So widersprach einerseits die Präferenz für eine starke Währung den Interessen der Arbeiterbewegung, weil die Rückkehr zum Goldstandard eine Deflationspolitik nach sich zog. Andererseits koinzidierte die Präferenz mit den Interessen vieler Arbeiter, weil die Importpreise niedrig blieben. Die Einheit von Zielen (Sozialismus) und Mitteln war im politischen Paradigma der Labour Party nur abstrakt gegeben, in der Bewährungsprobe der Regierung konnte sie zu keiner Zeit erreicht werden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sollte dies für einige Zeit gelingen. Nicht viel besser sollte sich die SPD in ihren Regierungsbeteiligungen schlagen. Sie verstand sich als die Partei der parlamentarischen Demokratie. Im Bewusstsein der Fragilität der Weimarer Verhältnisse tendierte sie jedoch dazu, die Erhaltung der Koalition, und damit indirekt auch der Demokratie, über ihre sozialen Ziele zu stellen. Eine fatale Logik, da sie genau durch diese Politik das Vertrauen vieler Arbeiter in die Demokratie enttäuschte. Zu Beginn der Koalitionsgespräche forderte der spätere Kanzler Hermann Müller noch die „völlige Durchsetzung der Wirtschaftsdemokratie“ (zit. nach Könke 1987: 160). Davon blieb aber bis zur Regierungsbildung nur noch milde Rhetorik übrig, man kam in fast allen Punkten den Koalitionspartnern stark entgegen. 83
In der Koalition nach 1918 stellte die SPD zwar den Kanzler, war aber in ein Korsett von konservativen Parteien eingepresst. Zum Zeitpunkt der Regierungsbildung waren die wirtschaftlichen Aussichten besser als in den Jahren zuvor, dennoch hatte man äußerst beschränkte Handlungsspielräume staatlichen Handelns. Die Reparationszahlungen für den Ersten Weltkrieg rissen immer wieder tiefe Löcher in den Haushalt, auch die 1927 institutionalisierte Arbeitslosenversicherung stellte sich als nicht krisenfest heraus. Aber wie konnte sie auch? Als sie 1927 in konjunkturell günstiger Lage eingeführt wurde, zählte das Deutsche Reich gerade mal 630.000 Arbeitslose. Man setzte – retrospektiv fahrlässig – die Beiträge niedrig an, um die paritätisch an der Finanzierung beteiligten Unternehmer nicht zu stark gegen sich aufzubringen. Mit einem neuerlichen Anschwellen der Arbeitslosigkeit, vor allem mit den fast drei Millionen Arbeitslosen, die im Jahr 1929 verzeichnet wurden, rechnete niemand. Die Beiträge reichten nicht aus und der angelegte Notstock war schnell aufgebraucht, so dass der Staat – gesetzlich dazu verpflichtet – einspringen musste. Die SPD befand sich in zweierlei Hinsicht in einer vergleichbaren Lage mit der Labour Party: Man führte eine Regierung, in der der Handlungsspielraum durch politische Konkurrenten erheblich eingeschränkt war, und man hatte mit dem doppelten Problem Arbeitslosigkeit und Finanzkrise des Staates zu kämpfen. Für diese war man reichlich schlecht gewappnet, da man an den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der orthodoxen politischen Ökonomie festhielt: der Präferenz für ausgeglichene Haushalte und stabile Währungen. So gelang es nicht, ein konkurrierendes Paradigma zu entwickeln, das sowohl kohärent war als auch innerparteilich eine hegemoniale Rolle erreichen konnte (vgl. Könke 1987: 195-220). Das Dilemma „einer Politik, die in ihrem programmatischen Überbau wohl die Überwindung der bestehenden Wirtschaftsordnung postulierte, deren konkrete Reformziele jedoch nur auf dem Boden einer möglichst störungsfreien […] kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung zu realisieren waren“, blieb bestehen (Könke 1987: 200).
Die Politik verlief entsprechend dieser Rationalität. Zwar hatte Hilferding das Theorem des organisierten Kapitalismus entwickelt, aber in seiner Zeit als Finanzminister unternahm er nicht den kleinsten Schritt in Richtung Sozialisierungen, sondern entwickelte eine Steuerreform, die im Kern direkte Steuern sowie Realsteuern senken und indirekte Steuern erhöhen sollte. Die Reform war darauf ausgerichtet, „die Wirtschaft zu entlasten und die Eigenkapitalbildung zu för-
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dern“ (Winkler 1988: 600).82 Sie war also ganz im „Sinne wirtschaftsliberaler Vorstellungen“ (Könke 1987: 161). Zudem stimmte die SPD bestimmten Beschränkungen bei der Berechtigung des Arbeitslosengeldes zu, wehrte jedoch eine allgemeine Leistungskürzung der Bezüge ab und setzte eine (paritätisch aufzubringende) Beitragserhöhung durch (vgl. Winkler 1988: 600-03, 741–45).83 Der Konflikt um die Arbeitslosenversicherung war zwar nicht der Auslöser für das Ende der großen Koalition, jedoch galt der Bruch der Koalition als Folge der auseinanderstrebenden Krisenlösungsvorstellungen der beteiligten Parteien. In der SPD gab es eine gut wahrnehmbare innerparteiliche Kritik am Kurs der Führung, es formierten sich oppositionelle Strömungen, inklusive protokeynesianischer Ansätze, aber solange man selbst in der Regierung war, bestand kein Durchkommen für alternative Optionen (vgl. Winkler 1988: 629-39, 730–32). Im Jahr 1930 zerbrach die große Koalition und mit ihr endeten die wenigen Jahre von politischer Stabilität. Bei den folgenden Wahlen gehörte die SPD zu den Verlierern. Bis 1933 trat man in keine Regierung mehr ein. Die Politik der SPD in der zweiten großen Koalition war vom Ziel des Erhalts der Demokratie geprägt. Dennoch zeigte sich auch hier, dass das politische Paradigma der Sozialdemokratie nicht nur von der national spezifischen Einbettung abhing, sondern die Regierungspolitik zum Nichthandeln anleitete. Auf der Basis des Konzeptes des organisierten Kapitalismus wurde begründet, nicht in die Wirtschaft einzugreifen. Man hätte sich der „natürlichen“ Entwicklung der Produktivkräfte – und damit dem Reifungsprozess des Kapitalismus für den Sozialismus – entgegengestellt. Die paritätische Finanzierung in der Institutionalisierung der Arbeitslosenversicherung, der heftige Streit über ihre Ausgestaltung, prägt bis heute die Präferenzordnung der SPD. In Fragen der Wirtschaftsdemokratie hat sie außer Rhetorik nichts geboten. Die wesentlichen Elemente der Mitbestimmung und des Arbeiterschutzes wurden in den frühen 1920er Jahren gelegt und seitdem qualitativ nicht ausgebaut. Nachdem sie wieder in der Opposition weilte, wurde das Konzept des organisierten Kapitalismus innerparteilich immer stärker bezweifelt, weil sowohl seine Zeitdiagnose als auch seine wirtschaftspolitischen Folgerungen weder als 82
Wie sehr Hilferding in seiner Argumentation auf das angebotstheoretische Denkmuster der klassischen politischen Ökonomie als Antwort auf das sozialdemokratische Akkumulationsdilemma zurückgreift, zeigt folgendes Zitat: Es „liegt gerade die Senkung dieser Steuern [der direkten und Realsteuern; d. Verf.] nicht nur im Interesse dieser Steuerträger, der Besitzenden, sondern sie liegt im Interesse der Gesamtwirtschaft und damit in erster Linie der Arbeiterschaft, die an der Ausweitung der Produktion und der Kapitalanlage in Deutschland doch sehr interessiert ist“ (zit. nach Winkler 1988: 745). 83 Diese Umsetzung des Finanzierungsbedarfs entspricht der gesellschaftlichen Leistungsgerechtigkeit, die ja auch für die gerechte Aufteilung der Lasten gilt.
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zutreffend noch als stimmig empfunden wurden. Das Eigentümliche dieser Periode war somit, dass nicht nur die ökonomische Theorie des Laisser-faire durch die Ereignisse der Weltwirtschaftskrise diskreditiert wurde, sondern auch die marxistische Ausdeutung des damaligen Kapitalismus. Der organisierte Kapitalismus wurde nicht länger als krisenmildernd gesehen, als naturnotwendige Entwicklung der Produktivkräfte, sondern er wurde mitverantwortlich für die Krise gemacht. Zudem, und dies wurde durch die Erfahrung des Nationalsozialismus später noch verstärkt, wurde der organisierte Kapitalismus weniger als Vorstufe des Sozialismus betrachtet, sondern als Vorform seiner reaktionären Ausprägung. Dies bereitete den Weg in der SPD für grundlegende Präferenzwechsel in der Wettbewerbspolitik (Höpner 2004). Aber für den Keynesianismus war es immer noch zu früh. Im Jahr 1932 wurde von den führenden Gewerkschaftern (und SPD-Wirtschaftsexperten) Wladimir Woytinsky, Fritz Tarnow und Fritz Baade der sogenannte WTB-Plan entworfen. Dieser war, wie man heute sagen würde, ein vollblütiges keynesianisches Programm der Nachfragestimulierung.84 Zwar fand aktive Konjunkturpolitik in der SPD immer mehr Anhänger, jedoch konnte sich dieses interventionistische Programm nicht durchsetzen. Hilferding disqualifizierte es als „unmarxistisch“, was damals einem politischen Todesurteil nahe kam. Die Hysterese der marxistischen Klassenpartei aus der Kaiserzeit war immer noch spürbar, obwohl es mit der realen Regierungspolitik nichts gemeinsam hatte. 3.4.2 Zwischenfazit Die Ausarbeitung der Genese des politischen Paradigmas von Labour Party und SPD hat verschiedene Aspekte hervorgebracht. Beide Parteien sind hinsichtlich ihrer Entstehung, frühen ideologischen Prägung sowie ihrer strukturellen und institutionellen Einbettung höchst unterschiedlich. Die Einbettung in die Prototypen des Wohlfahrtskapitalismus prägte und festigte ihre politische Ökonomie und Zielvorstellungen. Das „nationale Minimum“ der Fabier sollte ebenso ein historisch verankertes Leitbild werden, wie die Wirtschaftsdemokratie-Konzeption und die paritätisch finanzierten und organisierten Sozialversicherungen die Präferenzen der SPD hinsichtlich Mitbestimmung und Wohlfahrtsstaat prägten. Zudem verdeutlicht der Vergleich des Fabianismus und des HilferdingMarxismus, dass beide eine „passive“ politische Ökonomie teilten, die auf Sozialisierungen zielte, jedoch eine innovative Krisenlösung verhinderte. 84
Woytinsky war wohl mit Keynes Ideen schon zu diesem Zeitpunkt bekannt und von ihnen inspiriert (vgl. Könke 1987: 211).
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„The fact is that until the 1930s social democrats did not have any kind of an economic policy of their own. The economic theory of the left was the theory that criticized capitalism, claimed the superiority of socialism, and led to a program of nationalization of the means of production. Once this program was suspended – it was not yet abandoned – no socialist economic policy was left […] Socialists behaved like all other parties: with some distributional bias towards their constituency but full of respect for the golden principles of the balanced budget, deflationary anti-crisis policies, gold standard, and so on“ (Przeworski 1985: 35).
Der Keynesianismus konnte innerparteilich nicht hegemonial werden, da er nicht auf Sozialisierung zielte, sondern die Akkommodation im Kapitalismus auch theoretisch nachvollzog. Die Führer der Parteien waren noch ihrer überlieferten politischen Ökonomie verschrieben: „Economic theories prevail […] only when they have mobilized political authority, that is, only if those who believe the theories get the resources that enable them to take authoritative action” (Gourevitch 1986: 54).
In beiden Fällen waren es die Gewerkschaften, aus deren Reihen eher pragmatische, proto-keynesianische Vorstellungen zur Lösung der Weltwirtschaftskrise kamen. Aber beide konnten trotz ihres teilweise immensen Einflusses keine neue Hegemonie etablieren; die dominanten Koalitionen saßen in der relevanten Phase, sowohl in der Labour Party als auch in der SPD, zu fest im Sattel.85
85 Nach der schweren Niederlage von 1931 und nachdem die Labour Party ihre alte Führung von MacDonald und Snowden verloren hatte, rückte sie scharf nach links. Die SPD konnte nicht nach links rücken, da sie nach 1933 nicht mehr als legale Partei mit innerparteilicher Meinungsbildung existierte.
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4. Wohlfahrtsstaat und keynesianische Sozialdemokratie “Der Wohlfahrtsstaat war eingestandenermaßen sozial, aber keineswegs sozialistisch. Insofern war der Wohlfahrtskapitalismus in der Form, wie er sich in Westeuropa entfaltete, wahrhaft postideologisch.” Tony Judt „Freedom is the by-product of economic surplus.“ Aneurin Bevin
Die Wege der beiden Parteien nach 1945 verliefen ungleichmäßig und ungleichzeitig. Sie teilten gleichwohl eine gemeinsame Entwicklung, eine neue Sattelzeit: die Herausbildung der modernen Nachkriegssozialdemokratie, die zunächst eine keynesianische war. Ihre strukturelle und politische Einbettung, ihre Zwänge, Zielkataloge und Möglichkeiten sind das Thema dieses Kapitels. Etwas mehr als ein Vierteljahrhundert, von 1945 bis etwa Mitte der 1970er Jahre, dauerte ihr Goldenes Zeitalter, das synchron zum Goldenen Zeitalter des Kapitalismus verlief. Danach begann die lange Erosion dieses politischen Modells. Im Folgenden werden zunächst die Einbettung in die wohlfahrtsstaatlich regulierte Arbeitsgesellschaft, die Bedeutung von Gleichheit und Gerechtigkeit sowie der Stellenwert der keynesianischen Epoche herausgearbeitet. Anschließend werden die Grundkonfiguration der Nachkriegssozialdemokratie, ihr erneuertes politisches Paradigma und der Wandel zur Volkspartei herausgearbeitet. Diese analytische Rekonstruktion erfährt in den nächsten Kapiteln dann Anwendung, Modifikation und Differenzierung in der Untersuchung der britischen und deutschen Spielart keynesianischer Sozialdemokratie. 4.1 Kapitalismus, Arbeitsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat Der Wohlfahrtsstaat war und ist kein speziell sozialdemokratisches Produkt, er hatte, wie bereits dargelegt wurde, seine Ursprünge bereits weit vor dem Zweiten Weltkrieg. Als institutionalisiertes, expandierendes, komplexes Arrangement, das die soziale Integration der Arbeiterschaft auf eine neue Stufe hob, verdichtete und entwickelte sich der Wohlfahrtsstaat in den Jahren nach 1945. Zugespitzt 88
ausgedrückt, sorgte er für die Vereinbarkeit der widerstreitenden Funktionslogiken der Teilsysteme Kapitalismus und Demokratie: Kapitalismus als ökonomische Ordnung, basierend auf der ungleichen Verteilung des Privateigentums an Produktionsmitteln, und Demokratie als politische Ordnung, basierend auf der Gleichheit von bürgerlichen und politischen Rechten (Offe 1984: Kapitel 7 u. 8; Przeworski 1985: Kapitel 6; Flora et al. 1977). Als Institution ist der Wohlfahrtsstaat eine Antwort auf die soziale Frage. Er hebt den Klassengegensatz jedoch nicht auf, im Gegenteil, er setzt ihn voraus und umgeht ihn zugleich (vgl. Castel 2000: 237). Er fungiert als „asymmetrischer Klassenkompromiss und Teilintegration der Arbeiterschaft“ (Oertzen 1984: 21). (Erwerbs-)Arbeit war und ist dabei die zentrale Größe der sozialen Integration. Mit der Arbeit wurden Sicherungsmechanismen verbunden, die eben jene Unsicherheiten bekämpften, die durch ihre Verausgabung hervorgerufen wurden. Arbeit ist in einer Arbeitsgesellschaft (bislang) der zentrale Modus sozialer Sicherung und gesellschaftlicher Integration. Das fordistische Lohnarbeitsverhältnis, so wie es Robert Castel im Anschluss an die Diagnosen der Regulationstheorie (z. B. Aglietta 1987; Boyer 1990; Jessop 1997) darstellt, ist – heute muss man schon sagen: war – zentral für die soziale Integration im entwickelten Wohlfahrtsstaat. Durch Lohnarbeit werden Rechte und Zugänge zu Leistungen erworben, ein erweiterter Konsum wird ermöglicht, ja insgesamt die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben befördert (vgl. Castel 2000: 283–97).86 Castel nennt den Komplex aus Anrechten auf soziale Sicherungsleistungen, wie Rentenansprüche, sowie öffentliche Güter und Dienstleistungen „Sozialeigentum“ (Castel 2000: 236–82).87 Der Ausschluss vom Privateigentum an den Produktionsmitteln, den Marx als charakteristisch für Lohnarbeiter gesehen hatte, wird durch eine „Produktion äquivalenter sozialer Sicherungsleistungen“ kompensiert, die nicht nach der Logik des Marktes, sondern durch die „Vergesellschaftung des Lohns“ organisiert werden (Castel 2005: 42). Durch soziale Sicherungen, Regulierungen und Teilhaberechte bedeutet der Wohlfahrtsstaat die Etablierung von „sozialen Staatsbürgerrechten“ (Marshall 1992). Gleiche soziale Staatsbürgerrechte heben die sozialen Klassen nicht auf, sie liegen sogar „im Krieg“ miteinander, aber „[i]n ihrer modernen Form implizieren soziale Rechte ein Eindringen des Status in den Vertrag, die Unterwerfung des Marktpreises unter die soziale Ge86
Auch wenn diese, wie wir später sehen werden, fraglicher geworden ist. Göran Therborn (1987) sieht den Wohlfahrtsstaat ähnlich als Anbieter eines kollektiven öffentlichen Gutes.
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rechtigkeit, die Ersetzung des freien Tauschs durch die Erklärung von Rechten“ (Marshall 1992: 81f).
Offe nähert sich dem sozialstaatlichen Arrangement mit dem Begriff der „DeKommodifizierung“ (Offe 1984: 197). Der Arbeitskraft wird ein Teil ihrer Marktabhängigkeit genommen, der Schatten des Marktes für Lohnarbeiter wird verringert. Doch ist die Deutung des Wohlfahrtsstaates bzw. der Sozialpolitik als reine De-Kommodifizierung, wie es vor allem in Anschluss an die bekannten Studien des dänischen Soziologen Gøsta Esping-Andersen (1998) geschehen ist, nur zum Teil richtig, ja sogar fast irreführend (vgl. Lessenich 1998). Der Kapitalismus ist eine Arbeitsgesellschaft – auch dann noch, wenn ihm die Arbeit zunehmend ausgehen sollte. Die Erwerbsarbeit wird über den Arbeitsmarkt und den Wohlfahrtsstaat vergesellschaftet, reguliert und gesteuert. Es geht bei der Sozialpolitik nicht nur um De-Kommodifizierung, sondern ebenso um ihr gegensätzliches Komplement, die Kommodifizierung. Dies wurde von Offe selbst herausgestellt. Zusammen mit Gero Lenhardt hat er den Prozess der Kommodifizierung die „staatliche Bearbeitung des Problems der dauerhaften Transformation von NichtLohnarbeitern in Lohnarbeiter“ genannt (Offe/Lenhardt 1977: 157, H.i.O.). Insbesondere durch die Sanktionierung der Einkommenserzielung aus Nichtlohnarbeit, aber auch die Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit. Drei Sphären der sozialpolitischen Intervention können unterschieden werden (vgl. Kaufmann 2005: 248-51; 2003: 47–49). In der Produktionssphäre geht es hauptsächlich um Arbeitnehmerschutz, Arbeitsmarktpolitik und Verfahrensregeln im Konflikt zwischen „Arbeit“ und „Kapital“. Um die „zweite Einkommensverteilung“ geht es in der Verteilungssphäre. Die primäre, auf dem Markt erwirtschaftete (oder nichterwirtschaftete) Einkommensverteilung wird durch den Staat korrigiert und soziale Risiken werden abgesichert. In der Reproduktionssphäre geht es vor allem um soziale Dienstleistungen und Infrastruktur, hauptsächlich im Bildungs-, Gesundheits- oder Sozialwesen. Sozialpolitik ist, wenn insbesondere die Produktions- und die Reproduktionssphäre betrachtet wird, nicht rein de-kommodifizierend; sie schafft beispielsweise durch Arbeitsund Gesundheitsschutz erst wesentliche Voraussetzungen – als dialektisches Apriori – dafür, dass ein hinreichendes Angebot an arbeitsfähigen Arbeitnehmern bereitsteht. Wohlfahrtsstaatliche Sozialpolitik ist also ein Prozess, der von einer dialektischen Doppeldeutigkeit geprägt ist. Der Wohlfahrtsstaat ist somit, wie jüngst in Anschluss an diesen Ansatz betont wurde, eine dualistische Institution, in der Kommodifizierung und De-Kommodifizierung politisch beständig rekombiniert werden (Borchert/Lessenich 2005: 94; vgl. Lessenich 1999b). So90
zialpolitik im kapitalistischen Wohlfahrtsstaat rüttelt nicht an der gesellschaftlichen Zentralität von Erwerbsarbeit, sondern ist ein wesentlicher Bestandteil des Paradigmas marktvermittelter Vergesellschaftung von Arbeitskraft: „Wohlfahrtsstaatliche Politik grenzt den Markt nicht einfach aus, sondern macht ihn zur Grundlage ihrer gesellschaftsgestaltenden Intervention“ (Lessenich 1998: 92).
Sie befördert, mitunter sogar erzwingt, neben den ohnehin bestehenden stummen Zwängen der Ökonomie, die Verallgemeinerung von Erwerbsarbeit. Zugleich federt sie jedoch selektiv ihre Risiken ab, ergänzt und kompensiert die negativen Effekte dieser Verallgemeinerung. Gleichwohl, die soziale Frage wurde durch die Gewährung sozialer Staatsbürgerrechte eingehegt, die Bedeutung von sozialen Klassen verringert. Zudem wurden Unterschiede innerhalb der Arbeiterschaft durch Sozialpolitik eingeebnet (vgl. Achinger 1958: 147f).88 Die Arbeiterbewegung, so argumentierten vor allem skandinavische Sozialwissenschaftler, konnte dabei ihres eigenen Glückes Schmied sein. Je stärker ihre Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit, desto umfassender der Sozialstaat (z. B. Korpi 1983; Castles 1978; Esping-Andersen 1985) – auch wenn diese Ansicht keine allgemeine Einsicht geworden ist (vgl. Esping-Andersen 1998; Lessenich 1999a). Doch kann umgekehrt davon ausgegangen werden, dass die Institutionalisierung des Wohlfahrtsstaats und vor allem des Arbeitsmarkts die politische Stärke der Arbeiterschaft zumindest beeinflussen (Rothstein 1992, 1998). Die spezifische Institutionalisierung des Wohlfahrtsstaats strukturiert auch die soziale Gerechtigkeit, da sie auf unterschiedliche Art und Weise Ressourcen umverteilt, Zugänge gewährt, ausschließt und soziale Schichtungen reproduziert. Wohlfahrtsstaaten sind in distinkte „Moralökonomien“ – kollektive Gerechtigkeitsvorstellungen – eingebettet und wirken zugleich als Institutionen formativ auf diese zurück (Mau 2003, 2004). In den liberal-residualen britischen und der konservativ-korporatistischen deutschen Welt des Wohlfahrtsstaats herrschen differente Systeme der sozialen Sicherheit und damit auch der sozialen Gerechtigkeit vor (zur Historie vgl. Kapitel 3 und 4). Bei allem historischen Wandel in der Wohlfahrtspolitik, der sich in dieser Arbeit noch zeigen wird, lassen sich bestimmte Grundmuster für beide erkennen (zum Folgenden ist trotz Kritik die Typologie von Esping-Andersen sinnvoll. Vgl. 1998). Der liberale Typus des 88
Im Fall des deutschen Wohlfahrtsstaates gibt es gleichwohl Mechanismen, die Statusunterschiede – vor allem zwischen Arbeitern und Angestellten – erhalten und fortgesetzt haben.
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britischen Sozialstaats kommt aus der Tradition der bedarfsgeprüften Sozialfürsorge, niedrigen, aber universellen Transferleistungen und bescheidenen Sozialversicherungsprogrammen. Er richtet sich eher an die unteren, schlecht bezahlten Arbeiterschichten; die Reichweite der Sozialreformen wird durch die traditionelle liberale Arbeitsethik begrenzt, und eine am sozialen Minimum ausgerichtete Politik beschränkt nicht, sondern fördert den Markt. Der Grad der DeKommodifizierung und die Reichweite der sozialen Rechte sind relativ gering, es herrscht eine relative Gleichheit in der Armut bei den Sozialfürsorgeempfängern. Der korporatistische Typ des Wohlfahrtsstaats in Deutschland richtet sich weniger auf die universelle Gewährleistung eines Minimums, sondern orientiert sich am Status sowie am vorherigen Einkommen. Zwar ist der deutsche Wohlfahrtsstaat historisch weniger marktlich orientiert als der britische, aber nicht unbedingt stärker de-kommodifizierend. Da der britische jedoch hauptsächlich steuerfinanziert ist und der deutsche beitragsfinanziert, ist der Grad der Umverteilung im britischen Modell höher.89 In entwickelten Wohlfahrtsstaaten ist Erwerbsarbeit nicht nur die Grundlage der Erzeugung gesellschaftlichen Reichtums und der sozialen Integration, sondern auch der staatlichen Einnahmen. Die Leistungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaats ist historisch mit dem Grad der Beschäftigung verzahnt. Und weil der Wohlfahrtsstaat finanziert werden muss, muss er auch ein Steuerstaat sein, der auf die eine oder andere Weise dafür sorgt, dass er genügend Ressourcen für seine Aufgaben aufbringt. Hohe Arbeitslosigkeit überfordert den Wohlfahrtsstaat auf doppelte Weise. Zum einen untergräbt die mit Arbeitslosigkeit verbundene Verarmung und gesellschaftliche Randständigkeit die soziale Integration, zum anderen gerät der Wohlfahrtsstaat in eine Finanzkrise, da die Einnahmen sinken, während gleichzeitig die Ausgaben steigen. Der Wohlfahrtsstaat ist angewiesen auf eine Politik der Vollbeschäftigung. Er kann es sich nicht leisten, auf mögliche Erwerbstätige zu verzichten. Mit dem Keynesianismus schien dieses komplexe Arrangement aus Vollbeschäftigung, ausgebauter sozialer Sicherung und wirtschaftlicher Prosperität für die ersten Dekaden nach 1945 möglich. 4.2 Gleichheit und Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat Als gesellschaftliche und politische Forderung war Gleichheit ein Kind der Revolutionen in Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten, als politi89 Dass der Grad an Ungleichheit in Deutschland im Vergleich zur EU noch relativ gering ist, ist nach Kaufmanns (2005: 295) Ansicht Produkt der relativ egalitären Lohnpolitik und der Steuerpolitik in Deutschland.
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sches Ideal entstand es im Kampf gegen die hierarchische Ordnung der europäischen Ancien Régimes (vgl. Callinicos 2000: 20ff). Die soziale Frage prägte zweifellos die sozialphilosophischen Debatten des 18. und 19. Jahrhunderts, aber soziale Gerechtigkeit in ihrem modernen Verständnis ist vor allem ein Produkt des 20. Jahrhunderts. Ausgangspunkt ist die Ungleichheit in einer Marktgesellschaft, die jedoch die Fähigkeit hat, in und mit einem sanktionsfähigen Staat Ungleichheiten zu begegnen (Fleischacker 2004; Jackson 2005). Marshall hat Gleichheit und soziale Gerechtigkeit in seiner Analyse der gleichen Staatsbürgerrechte zusammengebracht. Demnach entwickelte sich die Ausdehnung des Gleichheitsgedankens von den bürgerlichen Rechten über die politischen bis hin zu den sozialen Staatsbürgerrechten (Marshall 1992). Der Wohlfahrtsstaat beruht als institutionelles Arrangement auf staatsbürgerlicher Gleichheit in Verbindung mit sozialstruktureller Ungleichheit. Die staatsbürgerliche Gleichheit ist die Voraussetzung für die – moderne – Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Bei der Gleichheit der sozialen Staatsbürgerrechte geht es nicht um materielle Gleichheit, die „Gleichstellung geschieht weniger zwischen den sozialen Klassen als vielmehr zwischen den Individuen einer Bevölkerung, die jetzt für diesen Zweck so behandelt werden, als seien sie eine Klasse. Statusgleichheit ist wichtiger als Einkommensgleichheit“ (Marshall 1992: 73).90
Versteht man den Wohlfahrtsstaat in der Tradition von Marshall, dann ebnet er die strukturelle Ungleichheit der Gesellschaft nicht ein, aber er stellt sie auf eine neue Stufe, indem er „in der einen oder anderen Weise, in minimalistischen oder maximalistischeren Varianten […] gesellschaftliche Gleichheit zum politischen und normativen Fluchtpunkt seiner Intervention“ macht (Lessenich 1999a: 62). Gleiche soziale Staatsbürgerrechte begrenzen die Wirkung von sozialstrukturellen Ungleichheiten, dennoch bleibt De-Kommodifizierung immanent ein „Verteilungsproblem“ (Lessenich 1998), da sie selbst ungleich und selektiv institutionalisiert ist. Ohnehin, zwar treten Verteilungskonflikte im Wohlfahrtsstaat in Krisen verstärkt auf, aber sie sind dem Sozialstaat immanent, sie sind der „Normalfall sozialpolitischer Entscheidungen“ (Kaufmann 2005: 313, H.i.O.). Ungleichheiten werden nicht aufgehoben, aber sind legitimierungsbedürftig. Wie Jörg Reitzig mit Rückgriff auf Marshall feststellt: Soziale Staatsbürgerrech90
Marshall hatte seine Vorstellungen vor dem Hintergrund der britischen Erfahrung formuliert. Seine These von der Entwicklung zur Trias aus bürgerlichen, politischen und mit dem Wohlfahrtsstaat schließlich zu sozialen Staatsbürgerrechten lässt sich jedoch auf alle anderen Wohlfahrtsstaaten beziehen.
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te unterwerfen „soziale Ungleichheiten einem gesellschaftlichen Rechtfertigungszwang“ (Reitzig 2005: 29; vgl. auch Ladwig 2000). Auf diese Art und Weise sind Gleichheit (an sozialen Staatsbürgerrechten) und soziale Gerechtigkeit miteinander verkoppelt, bringen die sozialen Staatsbürgerrechte die Frage der sozialen Gerechtigkeit im entwickelten Kapitalismus neu hervor. Das ist der Kern der Debatte um soziale Gerechtigkeit: nach welchen institutionellen, sozialen und moralischen Kriterien soziale Staatsbürgerrechte, Teilhabe- und Mitbestimmungsrechte als auch materielle wie immaterielle Ressourcen im Kapitalismus zu organisieren sind. Soziale Gerechtigkeit – als Modifikation der sozialen Frage – ist eine Frage der Verteilung der Teilhabe. Dabei darf Teilhabe gleichwohl nicht auf ein binäres Drinnen oder Draußen reduziert werden (Nullmeier 2006). So unterscheidet Kaufmann (vgl. 2005: 86–104) zwischen verschiedenen Teilhabeformen, die nicht binär gelagert sind: rechtlichem Status, (ökonomischen) Ressourcen, Gelegenheiten (d. h. sozialer Infrastruktur) und Kompetenzen (vor allem Bildung).91 Kurz: Die Frage der sozialen Gerechtigkeit ist untrennbar mit der Auslegung der sozialen Staatsbürgerrechte verbunden. Wohlfahrtsstaatliche Politik – ob Aus-, Ab- oder Umbau – bedarf einer Rechtfertigung aus der sozialen Gerechtigkeit. 4.3 Das Zeitalter des Keynesianismus Die 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren ein Goldenes Zeitalter des Kapitalismus, denn er wuchs nicht nur kräftig, sondern er ermöglichte zwischenzeitlich nahezu Vollbeschäftigung (vgl. Brenner 1998; Wee 1984; Hobsbawm 1995b). Einige klassische Ziele der Sozialdemokratie waren durchgesetzt, z. B. der Achtstundentag. Was die genauen Gründe für diesen „kurzen Traum immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984) waren, ob Wiederaufbau, niedrige Löhne, technologische Entwicklung, die letzte große kapitalistische Landnahme oder das 91
In der jüngeren Vergangenheit werden Verteilungskonflikte oftmals mittels neuer Gerechtigkeitsbegriffe geführt, wie es auch in der Wochenzeitung Die Zeit pointiert artikuliert wurde: „Je heftiger die Deutschen in vergangenen Jahren über Verteilung stritten, desto mehr neue Kategorien wurden erfunden“ (Brost/Niejahr 2007). Damit soll nicht gesagt werden, dass Fragen wie Anerkennung oder andere Gerechtigkeitsprinzipien nicht legitim sind, sondern die Fragestellung dieser Arbeit hat einen anderen Zugriff. Wie Callinicos mit Blick auf die egalitären Gerechtigkeitstheorien feststellt, stehen sie nicht notwendigerweise im Gegensatz zu den Fragen von Identität und Differenz: „[T]he aim of equalizing those circumstances over which individuals have no control is to leave them free to pursue their goals: given that these goals differ, the outcome of individuals exercising their capabilities will also be different. Equality is not uniformity“ (Callinicos 2000: 79). Zum Verhältnis von Umverteilung und Anerkennung verschiedener Identitäten vgl. auch die Debatte zwischen Nancy Fraser und Axel Honneth (2003).
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Wettrüsten, darüber streiten sich die Wirtschaftshistoriker bis heute trefflich (vgl. u. a. Wee 1984; Landes 1999). Sicher ist nur, der Keynesianismus war die Wirtschaftstheorie dieser Periode und die intellektuelle Grundlage für die Wirtschaftspolitik nicht nur sozialdemokratischer Regierungen in jener Zeit. 92 Der Keynesianismus geht zurück auf die politische Ökonomie des englischen Ökonomen John Maynard Keynes. Seine „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ (1936) bildete die einflussreichste Revision der klassischen Wirtschaftstheorie, obgleich in den 1930er Jahren die Weltwirtschaftskrise Ökonomen in vielen europäischen Ländern zu ähnlichen Erkenntnissen brachte. Keynes’ Theorie war eine wissenschaftliche Revolution, weil sie einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftswissenschaft im Sinne Thomas S. Kuhns (1999) bedeutete, der es erlaubte, die Probleme auf eine völlig neue Art zu betrachten. Als Schüler des berühmtesten Ökonomen der Jahrhundertwende, Alfred Marshall, war Keynes von Hause aus zwar ein Neoklassiker, aber seine späteren Arbeiten haben eine fundamentale Revision der neoklassischen Theorie nach sich gezogen. Was ihn wirtschaftspolitisch so bedeutend gemacht hat, ist seine scharfe Kritik der Politik des Laisser-faire, die keine Mittel gegen die hohe Arbeitslosigkeit gefunden hatte. Die keynessche Theorie bot gleichzeitig eine theoretische Begründung für Staatsinterventionen und eine praktische Handlungsanleitung (vgl. Hall 1989).93 Neben zahlreichen Neuerungen stellte Keynes insbesondere das zentrale Axiom der Neoklassik von der Selbstheilungskräfte des Marktes, das sogenannte Say’sche Theorem, auf den Kopf. Damit brach er mit der konventionellen Weisheit der Neoklassik, dass in der Krise die Löhne gesenkt werden müssten. Für Keynes ist es nicht das Angebot, das die Nachfrage bestimmt – so wie es das Say’sche Theorem annimmt –, sondern umgekehrt die effektive Nachfrage, die das Angebot bestimmt. Lohnsenkungen führten also nicht zu mehr Beschäftigung, sondern, im Gegenteil, verstärkten die Krise und führten zu einem Unterbeschäftigungsgleichgewicht. Keynes ging von einer immanenten Instabilität des Marktes aus, die insbesondere durch staatliche Interventionen behoben werden müsse. Neben einer Geldpolitik, die die Investitionen durch niedrige Zinsen anregen sollte, wurde vor allem sein Ansatz der antizyklischen, kreditfinanzierten Fiskalpolitik (deficit spending) als politisches Instrument zur Stabilisierung der Konjunktur adaptiert. Keynes’ Theorie beeinflusste nicht nur das ökonomische Denken seit den 1930er Jahren 92
Der empirische, nichtdogmatische Neomarxismus hat allerdings beträchtliche Zweifel an der tatsächlichen Wirksamkeit des Keynesianismus angemeldet (Brenner 1998, 2002; Kidron 1971; Altvater et al. 1979). 93 Für einen Überblick über Keynes’ Theorie vgl. die Arbeiten von Blaug (1996) und Scherf (1986b; 1989).
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und wurde die ideelle „Grundlage der Gesellschaftsordnung in der Nachkriegszeit“ (Wee 1984: 322). Der Keynesianismus erreichte seine Bedeutung in einem bis dahin nicht gekannten gesellschaftlichen und geistigen Umfeld. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Weltwirtschaftskrise, die hohe Arbeitslosigkeit, die grassierende soziale Ungleichheit, ja die gesamte Tragödie der Zwischenkriegszeit als Ausdruck eines unorganisierten Laisser-faire-Kapitalismus gedeutet. Und dies war keine speziell sozialdemokratische Diagnose, sondern Konsens innerhalb der politischen Eliten (vgl. Hobsbawm 1995b: 339–45). Der Krieg mitsamt der Kriegswirtschaft veränderte Erfahrungen und Einstellungen in der gesamten Bevölkerung. Schon in den 1930er Jahren wurden zahlreiche Muster der Nachkriegswirtschaft antizipiert (vgl. Gourevitch 1986: 129). In den westlichen Staaten spielte, unterschiedlich orchestriert aber in derselben Tonart, „überall dieselbe Melodie“ (Shonfield 1968: 260) und die hieß: Planung, genauer: staatliche Planung. Denn spiegelbildlich zur Marktskepsis der Nachkriegsperiode wurde allgemein, auch in den „maßgeblichen politischen und akademischen Kreisen“, der freie Markt als seltsam anmutendes Relikt einer vergangenen Epoche gesehen (Judt 2006: 400). Gleichwohl war Keynes’ Theorie darauf ausgerichtet, die Marktwirtschaft als Ordnung vor einer sozialistischen Ordnung – Keynes war schließlich ein Liberaler – zu retten (Pollard 1984). Der Markt sollte nicht beseitigt, aber Gesellschaft und Wirtschaft sollten staatlich gesteuert, gelenkt und geplant werden: „Der Staat war also eine gute Sache; und es gab eine Menge Staat“ (Judt 2006: 400). In Deutschland stiegen die Staatsausgaben zwischen 1950 und 1973 von 34,2 Prozent auf 42 Prozent, in Großbritannien von 34,2 Prozent auf 41,5 Prozent. Planung war die „politische Religion Nachkriegseuropas“ (ebd.: 87), dabei jedoch kein rhetorisches Opium, sondern real verfolgte Reformperspektive des Kapitalismus. Der „geplante Kapitalismus“ (Shonfield 1968) verlief freilich nicht gleichförmig, sondern in verschiedenen Ausprägungen. Er hatte kaum etwas gemein mit dem osteuropäischen Modell der Fünfjahrespläne, sondern zeichnete sich durch eine „gemischte Wirtschaft“ mit staatlich und privat kontrollierten Sektoren aus. Diese wurde gesteuert durch einen Methodenmix aus Ordnungspolitik, Ressourcenmanagement, direkter und indirekter Lenkung der Konjunktur sowie dem sukzessiven Aus- und Umbau des Wohlfahrtsstaats. Dies ging so weit, dass teilweise sogar die Frage aufgeworfen wurde, ob „Kapitalismus“ noch der richtige Begriff für die Nachkriegsepoche sei (vgl. Crosland 1956). Der Keynesianismus war eine fast universell geteilte Anschauung, die nur von einer kleinen Minderheit, Ökonomen wie Milton Friedman oder Friedrich August von Hayek, scharf kritisiert wurde. Erst in den 1970er Jahren sollten die 96
Ansätze von Friedman und Hayek zuerst an Relevanz gewinnen und anschließend sogar die Grundlage für einen neuen ökonomischen Konsens liefern (vgl. Kapitel 6 und 7). Trotz seiner breiten Akzeptanz wurde der Keynesianismus vor allem von sozialdemokratischen Parteien aufgenommen, da er sie von der passiven politischen Ökonomie befreite. 4.4 Das politische Paradigma der keynesianischen Sozialdemokratie Unmittelbar nach dem Krieg litten die sozialdemokratischen Parteien unter einem „evident shortage on how to abolish capitalism“ (Sassoon 1996: 150). Die Forderungen nach Verstaatlichungen/Sozialisierungen waren nirgends auf die gesamte Wirtschaft bezogen, sondern Verstaatlichungen/Sozialisierungen sollten strategische Aufgaben in den lädierten Volkswirtschaften erfüllen. Der Keynesianismus war hier das ideale Komplement, das Stück für Stück zum Substitut der Forderungen nach Sozialisierungen wurde. Dass der Keynesianismus überhaupt Eingang in die sozialdemokratische politische Ökonomie finden konnte, lag wohl auch an der Kommensurabilität einiger Annahmen und wirtschaftspolitischer Forderungen mit traditionellen sozialistischen Forderungen. Um nur zwei Beispiele aus seinem Hauptwerk, der „Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ (Keynes 1936), zu nennen: Keynes spricht dort von der „abnehmenden Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals“, was große metaphorische Ähnlichkeiten mit dem marxschen „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ hat – zwar nicht in der wirtschaftstheoretischen Herleitung, gleichwohl in den sich daraus ergebenden Problemen. Zudem gibt es Übereinstimmungen in einer „unterkonsumptionistischen“ Sichtweise auf die Ökonomie, die Wirtschaftskrisen in der mangelnden Kaufkraft der Arbeitnehmer sehen. Keynes strebte die – aus heutiger Sicht in seiner Wortwahl problematische – „Euthanasie des Rentiers“ (im Sinne der Abschaffung einer ökonomischen Funktion) an und zog auch die „Sozialisierung der Investitionen“ in Betracht, falls die marktgeleiteten einzelwirtschaftlichen Entscheidungen nicht die gewünschten Ergebnisse lieferten. Und: Der Keynesianismus entsprach weitgehend der etatistischen Staatsauffassung der Reformsozialdemokratie (vgl. Held 1982: 206f). Diese Forderungen waren die Brücke, über zahlreiche sich selbst als Marxisten verstehende Sozialdemokraten Keynes für sich entdecken konnten, weil sie in ihren Schlussfolgerungen weitgehend identisch mit sozialistischen Vorstellungen waren: „For most social democrats the ideology of socialization, economic planning and social citizenship, had not represented a frontal attack on capitalism. It had
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simply postulated a new relationship between the liberal state and the capitalist economy“ (Padgett/Paterson 1991: 21).
Wohlfahrtsstaat und Keynesianismus waren für die Sozialdemokratie der Ausweg aus ihrer Antinomie zwischen postkapitalistischer Perspektive und parlamentarischer Praxis. Nun war, „[u]m das Problem der sozialen Unsicherheit zu lösen […] weder eine Abschaffung noch eine Umverteilung des Privateigentums notwendig“ (Castel 2005: 44). Historisch beruhte dies auf einer veränderten Zeitdiagnose. Gesellschaftswissenschaftler und mit ihnen die sozialdemokratischen Theoretiker gingen nach dem Zweiten Weltkrieg davon aus, dass sich der Klassenantagonismus abschwächte, da Besitz und Verfügungsmacht über die Produktionsmittel nicht länger identisch waren und der Konsum sich demokratisierte (Crosland 1956; Burnham 1941; vgl. Padgett/Paterson 1991: 22f). So konnte über staatliches Handeln das Privateigentum an Produktionsmitteln mit einer demokratischen Steuerung der Wirtschaft Hand in Hand gehen (vgl. Przeworski 1985: 207). Das Ziel Sozialisierung der Wirtschaft verlor seinen Charakter als Conditio sine qua non für sozialistische Politik, weil man davon ausging, den Konsum vergesellschaften zu können. Denn für den Keynesianismus ist nicht das Eigentum an den Produktionsmitteln wichtig, sondern die Fähigkeit des Staats, das Investitionsvolumen durch indirekte Lenkung über Fiskal- und Geldpolitik zu bestimmen (vgl. Abelshauser 2004: 100f). Wohlfahrtsstaat und Keynesianismus bedeuten die Verschiebung des Zeithorizonts des Gleichheitsversprechens vom Jenseits des Sozialismus in das kapitalistische Diesseits, von der Politik der Transzendenz zur Politik der Immanenz (vgl. Vobruba 1991: 14–28). Die Antinomien der Sozialdemokratie waren nicht gelöst; sie wurden lediglich auf eine andere Stufe gehoben. Das sozialdemokratische Akkumulationsdilemma blieb in seinem Kern bestehen, es wurde jedoch durch zwei miteinander verkettete Mittel eingehegt: Wachstum und Vollbeschäftigung. Ihre Bedeutung für sozialdemokratische Politik ist so immens, dass sie ihren Status als Mittel verloren haben und eigenständige Politikziele geworden sind. Wachstum war und ist die zentrale Voraussetzung für Reformpolitik. Ralf Dahrendorf hat dies retrospektiv, als das „sozialdemokratische Jahrhundert“ seine Kräfte bereits erschöpft hatte, klar formuliert: „Ohne Wachstum gibt es keine sozialdemokratische Gesellschaft […] Das soziale Motiv […] war immer mit dem Wirtschaftswachstum verkoppelt“ (Dahrendorf 1983: 18f; vgl. Castel 2000: 325ff; Pierson 2001b: 146).
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Die Schlüsselgröße Wachstum zeigt auch die Grenzen einer Charakterisierung sozialdemokratischer Parteien durch das Leitbild Politics against the Markets (Esping-Andersen 1985).94 Auch hier hat Esping-Andersen ein Verständnis geprägt, das zu einseitig ist. Dadurch, dass er seine Analysen auf eine griffige Formulierung bringen möchte – ein durchaus vernünftiges Anliegen –, nimmt er auch hier eine Komplexitätsreduktion vor, die den wirklichen Charakter verschleiert. Denn die Förderung des wirtschaftlichen Wachstums hat für die Sozialdemokratie bedeutet, Märkte und ihre Reichweite zu fördern. Sie war zu jeder Zeit ein produktiver Erneuerer und Bewahrer der Marktwirtschaft, hat aber gleichzeitig immer versucht, die Wucht des Marktes und seine Risiken für das Individuum erträglich zu gestalten. In dieser Perspektive reformuliert, hat die Nachkriegssozialdemokratie in ihrem Kern die widersprüchliche und simultane Kombination der Politik abgefederter Märkte betrieben. Wenn man diesen Politikmodus nach Märkten differenziert, dann will die Sozialdemokratie einen fairen Wettbewerb auf den Märkten für Güter, Dienstleistungen und Kapital, versucht aber insbesondere auf dem Arbeitsmarkt95 die Wucht des Marktes durch ein spezifisches Arrangement von Kommodifizierung/De-Kommodifizierung sozialpolitisch einzuhegen. Für die Priorität der Vollbeschäftigung gibt es viele Gründe. Vollbeschäftigung ist, wie bereits dargestellt, die Quelle sozialer Integration, während umgekehrt Arbeitslosigkeit als Quelle der Ungleichheit betrachtet wird. Weiterhin erhöht Vollbeschäftigung die Einnahmen und verringert die Ausgaben. Vollbeschäftigung wird aber auch als Quelle gesellschaftlicher Emanzipation respektive Macht gesehen. Ein hoher Beschäftigungsgrad verbessert – ebenso wie eine ausgebaute soziale Sicherheit – sowohl die individuelle Position der Arbeitnehmer gegenüber den Unternehmern als auch die kollektive Strategiefähigkeit der Gewerkschaften. Fritz W. Scharpf hat dies pointiert ausgedrückt: „Vollbeschäftigung […] ist für die Arbeitnehmer nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts“ (Scharpf 1987: 34).
Die keynesianische politische Ökonomie löste das Problem der „passiven“ politischen Ökonomie, des Fabianismus in Großbritannien und des „marxistischen Neoliberalismus“ (Buci-Glucksmann/Therborn 1982: 121) Hilferdings. Mit dem 94 Vgl. auch Peter Glotz’ Antwort auf die Frage, was links sei: „[D]ie Begrenzung der Marktlogik, vorsichtiger ausgedrückt die Einbettung marktwirtschaftlicher Rationalität“ (1992: 96). 95 Dieser zeichnet sich im Gegensatz zu anderen Märkten durch eine Machtasymmetrie auf der Angebotsseite – bei den Anbietern der „fiktiven“ Ware Arbeitskraft – aus (vgl. Offe 1984: Kapitel 2; Polanyi 1995: Kapitel 6), weshalb diese einen besonderen Schutz brauchen.
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Keynesianismus und dem Wohlfahrtsstaat gab es jetzt eine aktive, interventionistische Form des Regierens. Das keynesianische Paradigma hatte drei zentrale Elemente. Erstens stellt der Staat jene öffentlichen Güter bereit, die für private Unternehmen unprofitabel sind. Zweitens reguliert der Staat den privaten Sektor, und drittens mildert der Staat über sekundäre Verteilung die primären Verteilungseffekte des Marktes. Mit ihm fanden die Sozialdemokraten einen (zeitweiligen) Ausweg aus dem sozialdemokratischen Akkumulationsdilemma. Sie konnten einerseits das Streben nach Regierungsbeteiligung begründen und andererseits mit einer Umverteilungspolitik zugunsten der Arbeiterschaft eine wirtschaftstheoretische Legitimation (Przeworski 1985: 36f) schaffen. In der neoklassischen politischen Ökonomie bedeuteten hohe Löhne geringere Profite, geringere Investitionen und daraus folgend ein geringeres Wachstum. Hohe Löhne konnten folglich die Ressourcen des Staates untergraben, in der Logik von Keynes bedeutete ein gestiegener Lohnfonds (am besten durch mehr Beschäftigung statt höherer Löhne) allerdings eine Stimulierung der wirtschaftlichen Tätigkeit. Die „frühere Antinomie zwischen den spezifischen Interessen der Arbeiter und denen der nationalen Wirtschaftsentwicklung“ bestand nicht länger (Buci-Glucksmann/Therborn 1982: 118). Denn mit „Keynes wurden die Umverteilungsmaßnahmen zugunsten der Arbeiterklasse zu einer Stimulanz der wirtschaftlichen Entwicklung“ (Buci-Glucksmann/Therborn 1982: 118; vgl. auch Vobruba 1983a: 133ff; Offe 1984: 194; Pierson 1991: 28; Kesselmann 1996: 137; Glyn 1995: 34).96 Es war eine „nation-class synthesis“ (Panitch 1976: 245) durch einen „virtuosen Kreislauf von Wachstum und sozialer Gerechtigkeit“ (Revelli 1999: 125ff).97 Die Politik zur Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen der Arbeiterschaft fiel zusammen mit den Interessen der Gesellschaft als Ganze, man 96 Im weiteren Verlauf dieser Arbeit zeigt sich, dass keynesianische Politik alles, nur nicht uniform war. Sie verlief entlang den Traditionen der nationalen politischen Ökonomie, der institutionellen Ausformung des Kapitalismus, der Rolle in der Weltwirtschaft, den Arbeitsbeziehungen sowie den korporatistischen Traditionen (vgl. Brenner 2002; Gourevitch 1986; Scharpf 1987). Vor allem die Krisenreaktionen des Keynesianismus, die Strategien zur Bekämpfung der Inflation, waren mit unterschiedlichen Mustern der gewerkschaftlichen Einbindung verbunden. Diese sollen hier im Wesentlichen unter dem Blickwinkel der sozialdemokratischen Politikform betrachtet werden, während die Debatten über Rolle und Wandel des Korporatismus bei der Politikformulierung nur geringe Beachtung finden sollen. 97 Eine scharfe, jedoch nicht ganz zutreffende, Kritik an vielen neomarxistischen und revisionistischen Theorien in den 1960er Jahren übten Wolfgang Müller und Christel Neusüss, die von einer „Sozialstaatsillusion“ sprachen, weil die von ihnen kritisierten Ansätze sämtlich die Annahme teilten, dass über autonome staatliche Interventionen der Konjunkturzyklus beherrscht und die Verteilungssphäre politisch gesteuert werden könnten, dass die Konflikte zwischen Kapital und Arbeit befriedet werden könnten (Müller/Neusüss 1971).
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konnte dadurch für sich reklamieren, Hüter des Gemeinwohls zu sein. Der Keynesianismus transformierte die Policykonzeption als auch die sozialdemokratischen „terms of ideological discourse“ (Przeworski 1985: 27). Sozialpolitischen Maßnahmen wurde eine neue gesellschaftliche Bedeutung zugeschrieben. Staatlicher Konsum war kein Kostenfaktor mehr, sondern wurde als „produktive Sozialpolitik“ begriffen. Joel Rogers und Wolfgang Streeck haben diese Verbindung von Umverteilung und ökonomischer Effizienz „Produktivismus“ genannt (1994: 128–33).98 Nicht der Keynesianismus als solcher, sondern produktivistische Politik ist der Nervus Rerum der politischen Ökonomie der Nachkriegssozialdemokratie, weil die Funktionen der sozialen Integration und der ökonomischen Systemintegration komplementär verknüpft sind, indem der „wirtschaftliche Wert der Sozialpolitik“ (Vobruba 1989; vgl. 1991: 58–68; Seeleib-Kaiser 2002) anerkannt wird. Produktivistisch soll in dieser Arbeit jene Politik genannt werden, die soziale Gerechtigkeit mit ökonomischer Effizienz bzw. der Förderung des Wirtschaftswachstums in Einklang bringt, da auf diese Weise Sozialpolitik durch ihren Nutzwert für die ökonomische Entwicklung legitimiert wird. Der keynesianische Produktivismus erkennt in der materiellen Redistribution einen produktiven Nebeneffekt, weil höhere Löhne, Sozialleistungen oder der Ausbau der sozialen Daseinsvorsorge einen Beitrag zum Wachstum darstellen. Mit dem Keynesianismus und dem Wohlfahrtsstaat änderte sich das gesamte Koordinatensystem, das politische Paradigma der Sozialdemokratie. Grosso modo kann dies als Wandel Dritter Ordnung werten, da sich auch die Zielhierarchie veränderte (Hall 1993).99 Ausgangspunkt war die veränderte Zeitdiagnose des Kapitalismus. Dieser wurde nun als Industriegesellschaft begriffen, die planund demokratisch kontrollierbar war. Es veränderten sich nicht nur der Einsatz der Instrumente oder gar die Instrumente selbst, um die Ziele zu erreichen; die Ziele als solche (und mit ihnen auch die Instrumente) wie auch die gesamte politische Ökonomie alternierten. Die vorkeynesianische Sozialdemokratie hatte eine „passive“ politische Ökonomie, die nur durch sozialistische Demokratie und Sozialisierung eingelöst werden konnte. Gegenüber dem marxistischen/fabianischen Erbe in der Programmatik verlor das Ziel der Vergesellschaftung der Produktionsmittel als ultimatives Ziel an Bedeutung, weil die Möglichkeit der Regulierung des Marktes und der staatlichen Steuerung des Konsums als funktionales Äquivalent zur Herbeiführung von sozialer Gerechtigkeit betrachtet 98
Produktivismus ist eine analytische Kategorie, die nicht mit der Selbstwahrnehmung der Akteure übereinstimmen muss (vgl. Rogers/Streeck 1994: Fn. 3). 99 Hier wird bewusst die Eingliederung in das Schema von Peter Hall sparsam verwendet. Methodologisch trennt Hall zwischen Mittel und Ziel und lässt so außer Acht, dass ein Wandel der Mittel auch einen Wandel der Ziele beinhaltet.
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wurde. In der keynesianischen Sozialdemokratie wurde das ursprüngliche Ziel der Abschaffung der kapitalistischen Lohnarbeit in sein Gegenteil verkehrt. Lohnarbeit sollte – unter würdigen Bedingungen – mit dem Ziel der Vollbeschäftigung verallgemeinert und universalisiert werden (vgl. Przeworski 1985: 217). Es kann nicht genug betont werden, welche ungeheure Bedeutung der Wandel zur keynesianischen Sozialdemokratie hatte, ungeachtet der Revisionismusdebatte in Deutschland und der reformistischen Praxis in Großbritannien. Es gab nun halbwegs kohärente Vorstellungen von gesellschaftlichen Reformen, eine Projektion einer besseren Gesellschaft, die Möglichkeits- und Realitätssinn gleichermaßen befriedigte. Keynesianismus und Wohlfahrtsstaat brachten beides zusammen und bescherten der Sozialdemokratie einen zumindest „prekären Frieden“ (Scharpf 1987: 43) mit den Kapitalismus. In der vorkeynesianischen Sozialdemokratie – trotz aller reformistischen Praxis – war die Überwindung des Kapitalismus, das Erreichen einer anderen, sozialistischen Gesellschaftsordnung gleichermaßen chiliastische Utopie, wissenschaftlich-evolutorische Ratio als auch spirituelle Alltagsvision. Demgegenüber war die keynesianische Sozialdemokratie der Abschied vom Sozialismus. Er blieb zwar noch in der Rhetorik, in der volkstümlichen Rede, auf den Parteitagen, Versammlungen und geselligen Aktivitäten präsent und zweifellos auch in der Identität vieler Parteifunktionäre wie auch Parteiaktivisten erhalten.100 Aber der „demokratische Sozialismus“ der Zweiten Internationale, zu der sowohl die SPD als auch die Labour Party gehörten und bis heute gehören, war „bewusst offengehalten“ (Schieder 1984: 990). Willy Brandt hat dies prägnant formuliert: „Demokratischer Sozialismus ist für uns kein Schema für die gesellschaftliche Ordnung, kein dogmatisch festgelegter Katalog von Maßnahmen. Demokratischer Sozialismus ist nicht mit [sic] Endziel, sondern ist als ständige Aufgabe zu verstehen“ (1973: 260)
Der „demokratische Sozialismus“ der keynesianischen Sozialdemokratie stand demzufolge mit beiden Beinen im Diesseits, als Chiffre für Reformpolitik innerhalb und mit den Mitteln der parlamentarischen Demokratie (vgl. Oertzen 1984: 9-40). Er wurde als politische Praxis, als Tagesaufgabe verstanden, die im Fernziel kumuliert. Der demokratische Sozialismus fusste auf der Vorstellung einer im Prinzip westlichen liberalen Demokratie, in der jedoch ökonomische Ent100 In der Historiografie über die SPD wird darauf verwiesen, dass in Bezug auf den Marxismus vor allem die Parteifunktionäre, weniger die einfachen Mitglieder, die „Träger“ der Weltanschauung waren (vgl. Walter 2002; Grebing 2007).
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scheidungen nach kollektiven, gemeinwohlorientierten Nutzenerwägungen101 demokratisch getroffen würden und nicht nach den Interessen der privaten Besitzer der Produktionsmittel. Gleichwohl blieb der demokratische Sozialismus, dessen Beiwort „demokratisch“ auch die Abgrenzung zum Kommunismus darstellen sollte, bis Ende der 1990er Jahre – und teilweise sogar noch darüber hinaus – das gemeinsame Ziel sozialdemokratischer Parteien. Als „hybride politische Tradition“ (Padgett/Paterson 1991: 1) variierte die Bedeutung des demokratischen Sozialismus in den einzelnen Parteien als kleinster gemeinsamer Nenner, der hinter einem zeitlichen und politischen Horizont die verschiedenen Zielkataloge zusammenband. Mit der Reduktion des finalen Ziels änderten sich auch die intermediären Ziele und die sozialphilosophische Basisphilosophie. Durch die Akkommodation im Kapitalismus und den gleichen Status der Arbeiterschaft als Bürger mit sozialen Rechten, hieß es immer wieder (neu) zu definieren, wie dieses Arrangement gedeutet und ausgestaltet werden sollte. Während soziale Gerechtigkeit im programmatischen Diskurs der vorkeynesianischen Sozialdemokratie eine untergeordnete Rolle spielte, wurde sie seit der keynesianischen Sozialdemokratie zur Schlüsselgröße der Gesellschaftspolitik.102 Im politischen Paradigma der keynesianischen Sozialdemokratie war die soziale Gerechtigkeit nicht nur Verteilungsgerechtigkeit, sondern eine Symbiose aus Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit sowie Chancengleichheit. Denn die Sozialdemokratie war zwar einesteils eine Bewegung für soziale Gleichheit, zum anderen trat sie auch für individuellen Aufstieg innerhalb des Kapitalismus auf der Basis von Leistung statt Standes-, Schicht- oder Klassenprivilegien ein. Das programmatische Dokument zur Neukonstituierung der Sozialistischen Internationale nach dem Zweiten Weltkrieg, der Prinzipienerklärung von 1951, ist ein fast idealtypisches Kondensat der keynesianischen Sozialdemokratie. Ein Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie, zum Wohlfahrtsstaat – und zum Kapitalismus. Das Ziel der Überwindung des Kapitalismus ist dem Ziel der Überwindung der „kapitalistischen Klassengesellschaft“ gewichen (Sozialistische Internationale 1951: 269, H.d.V., die folgenden Zitate sind sämtlich diesem Dokument entnommen). In der angestrebten „Gesellschaftsordnung der sozialen Gerechtigkeit“ soll soziale Sicherheit herrschen, das Profitprinzip zurückge101 Abendroth schreibt: „Sie [SPD und Labour Party; d. Verf.] fühlten sich […] als Repräsentanten eines abstrakten, angeblich demokratischen Staatswohls, das sie nicht im Sinne ihres jeweiligen Verfassungsrechts verstanden, sondern so, wie die bürgerliche Rechts- und Staatswissenschaft es interpretierte, ohne dass man es klassenpolitisch analysiert hätte“ (Abendroth 1965: 113). 102 Vorher spielte in der Labour Party Fairness eine wichtige Rolle und Verteilung auch, aber soziale Gerechtigkeit als normatives Kriterium gewann erst nach den Zweiten Weltkrieg an Bedeutung.
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drängt, der Wohlstand vergrößert und Einkommen und Vermögen sollen gerechter verteilt werden. Die „sozialistische Planung“ erfordere jedoch nicht die „Kollektivierung aller Produktionsmittel; sie [die Planung; d. Verf.] ist vereinbar mit der Existenz von Privateigentum auf wichtigen Gebieten“. In dem Dokument wendet sich die Sozialistische Internationale in erster Linie gegen einen „Monopolkapitalismus“, der seine Macht missbraucht. Nach den schlechten Erfahrungen mit dem Konzept des organisierten Kapitalismus tauchte es im neuen Gewand des Monopolkapitalismus abermals auf, nur dass Letzterer diesmal Gegner war und nicht wie ehedem historischer Verbündeter. Die fundamentalen Präferenzen der (vor allem deutschen) Sozialdemokratie hatten sich schon zu diesem Zeitpunkt historisch verändert zu einer im Kern liberalen Position der Unternehmenskontrolle (Höpner 2004). Der Begriff soziale Gerechtigkeit wird in dem Dokument – wie in bis dato in keinem anderen sozialdemokratischen programmatischen Schriftstück des 20. Jahrhunderts – häufig genannt, jedoch eher als Ordnungsbegriff. Dort ist er schlicht ein Synonym für den demokratischen Sozialismus, eine Gesellschaftsordnung, die soziale Sicherheit, Vollbeschäftigung, Wohlstand und eine gerechte Verteilung einschließt. Im Kontext dieses Ordnungsbegriffs wird hauptsächlich die egalitäre Verteilungsgerechtigkeit stark gemacht, allerdings auch an einer Stelle ein auf Bedarf gegründetes Minimumprinzip vertreten. Verkoppelt ist das Minimumprinzip mit proportionaler Leistungsgerechtigkeit, die Belohnung entsprechend der „vollbrachten Leistungen für selbstverständlich ansieht“. Wie sich die spezifische Konfiguration des politischen Paradigmas und der sozialen Gerechtigkeit in der SPD und in der Labour Party formiert hat, ist Gegenstand des nächsten Kapitels. Zuvor soll noch rekapituliert werden, wie sozialdemokratische Parteien ihr Parteimodell, ihre grundsätzliche strategische Stellung in der Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg verändert haben. Genauer: welcher Zusammenhang zwischen keynesianischer Sozialdemokratie, Wohlfahrtsstaat, dem Parteimodell der Volkspartei und dem Abschied von der Klassenpolitik besteht. 4.5 Zur Logik sozialdemokratischer Volksparteien Eine elementare Voraussetzung für die Entwicklung sozialdemokratischer Volksparteien war eine neue Konstellation aus sozialer Konfliktlage und staatlicher Entwicklung. Die keynesianische Sozialdemokratie hat, wie wir gesehen haben, ein staatsreformerisches politisches Paradigma entwickelt, sie begreift den Staat als Instrument eines demokratischen Klassenkompromisses. Nach 104
Habermas (vgl. 1973: 288) hat der Staat drei große sozioökonomische Interventionsbereiche: Konjunkturpolitik, Intervention in die Produktionsstruktur, die am kollektiven Bedarf orientiert ist, und Korrekturen am Muster sozialer Ungleichheit. Diese Aufgaben muss der Staat erfüllen, ohne die Funktionsbedingungen der kapitalistischen Wirtschaft zu verletzten. Der sozialstrukturelle Konflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital ist dadurch nicht verschwunden oder als Konfliktlage eliminiert. Der moderne Wohlfahrtsstaat ist ein Interventionsstaat, der die soziale Frage institutionalisiert und bearbeitet, aber nur zum Teil befriedet. Er verbindet verschiedene, oftmals widerstreitende Funktionslogiken und imperative miteinander: Kapitalismus und Demokratie, Akkumulation und Legitimation. Als Interventionsstaat beeinflusst er „in sehr unmittelbarer Weise die Kräfteverhältnisse“ zwischen den sozialen Gruppen und wird somit selbst zum Objekt von Konflikten (Vogel 2007: 36; vgl. auch Castel 2000: 325–35). Der Konflikt zwischen „Arbeit“ und „Kapital“ tritt zurück, und der „systemische Gegensatz zwischen kapitalistisch und nichtkapitalistisch organisierten Funktionsbereichen, zwischen ‚Markt‘ und ‚Staat‘, [wird] zum Gegenstand spätkapitalistischer Politisierung, und nicht ‚die Kapitalisten‘, sondern der Staat und staatliche Akteure [werden] zum Bezugspunkt des gesellschaftlichen Konfliktes“ (Borchert/Lessenich 2006: 16).
Mit anderen Worten: Der Wohlfahrtsstaat löst die soziale Frage nicht, indem er das Problem der sozialen Klassen aufhebt, sondern indem er das antagonistische Verhältnis der sozialen Klassen zur Beziehung Staat-Markt – und letztlich auch: Individuum – verschiebt. Denn für den individuellen Arbeiter wird die soziale Sicherheit nicht mehr aus den traditionellen Formen der Arbeitersolidarität – vor allem den selbstverwalteten Hilfskassen – erzeugt, sondern aus der anonymen, reziproken Beziehung aller in die sozialstaatliche Sicherung eingeschlossenen Individuen. Der Wohlfahrtsstaat hat dadurch eine eingebaute „Depolitisierungspolitik“ (Lemke 1997: 223), die die Bedeutung der sozialen Klassen auf andere Konfliktlinien verschiebt und ihnen systematisch den politischen Resonanzboden entzieht. Die wohlfahrtsstaatliche Depolitisierung koinzidierte mit einem weitreichenden soziologischen und strategischen Wandel der Partei. Es kam ein Prozess zum vorläufigen Abschluss, der mit der elektoralen Orientierung sozialdemokratischer Parteien eingeleitet wurde (vgl. Kapitel 2). Da die Arbeiter selbst zu den Hochzeiten der Industrialisierung keine hinreichend große Gruppe für die Erringung einer parlamentarischen Mehrheit darstellten, wurde die Unterstützung anderer gesellschaftlicher Gruppen gesucht, eine Öffnung wurde notwendig. Um 105
diese Schichten außerhalb der Arbeiterschaft anzusprechen, veränderten sich die politischen Instrumente wie auch die Ziele: Fortan galt es, nicht länger „nur“ die Kampffähigkeit der Arbeiter als Klasse im Kampf gegen andere Klassen zu stärken, sondern Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter zu treffen, die sie mit anderen Schichten, Berufsgruppen und Milieus als Individuen gemeinsam haben – eine klassenübergreifende Politik, die auch im Interesse der Arbeiterschaft war (vgl. Przeworski 1985: 27f, 1980).103 Diese präsentierte sich „to different groups as an instrument for the realization of their immediate economic interest […] Supra-class alliances must be based on a convergence of immediate economic interests of the working class and of other groups […] When social democrats extend their appeal, they must promise to struggle not for objectives specific to workers as a collectivity […] but only those which workers share as individuals with members of other classes“ (ebd.: 27).
Die Supraklassenallianz sozialdemokratischer Volksparteien bedeutet nicht, dass sie nicht mehr die Interessen der Arbeiter repräsentieren, sondern sie vertreten nicht länger die Arbeiterschaft als soziale Klasse. Sie befördern und vertreten jene Interessen, die die Arbeiter als Individuen mit anderen sozialen Gruppen gemein haben. Somit sind sozialdemokratische Volksparteien selbst Akteure im Prozess, die Frage sozialer Klassen aus dem politischen Wettbewerb zumindest partiell zu verdrängen, „since it reinstates a classless vision of politics. When social democratic parties become parties ,of the entire nation‘, they reinforce the vision of politics as a process of defining the collective welfare of ,all members of society.‘ Politics once again is defined on the dimension individual-nation, not in terms of class“ (ebd.: 28).
Für das Anforderungsprofil der politischen und sozialen Integration von Arbeiterschaft und Nichtarbeitern ist der Wohlfahrtsstaat wie geschaffen. War Sozialpolitik Ende des 19. Jahrhunderts noch ein Mittel zur Linderung kapitalistischer Desintegrationsprozesse, eine Antwort auf Landflucht, massenhafte Pauperisierung und die gesellschaftlichen Bedürfnisse einer wachsenden Arbeiterschaft, kurz: einer sozialen Klasse, war das Subjekt im entwickelten Wohlfahrtsstaat der 103 So urteilte Winkler über die sozialpolitischen Reformen im Anschluss an die Novemberrevolution: „Keine dieser Maßnahmen trug spezifisch sozialistischen Charakter; alle ließen sich mit den Vorstellungen bürgerlicher Sozialreformer vereinbaren“ (Winkler 1984: 90).
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Staatsbürger. Der Staatsbürger ist eine Kategorie, die nicht auf eine soziale Klasse zurückführt, sondern einen universellen Status markiert.104 Der Wohlfahrtsstaat schließt – je nach dem Grad der Universalität – auf der Basis des Bürgerstatus und nicht der Klassenposition ein. Mit dem Wohlfahrtsstaat können sozialdemokratische Parteien über die Klientel der Arbeiterschaft hinausgehen, indem sie die Interessen von Arbeiterschaft und Nichtarbeiterschaft als Staatsbürger zusammenbinden. Die strategische Ambivalenz des Wohlfahrtsstaats liegt nun darin, dass er die Artikulation von Klasseninteressen depolitisiert, aber auf der Basis von Staatsbürgerrechten eine Macht- und Mobilisierungsressource für sozialdemokratische Parteien darstellt (vgl. Esping-Andersen 1985), weil er den Schatten des Marktes für alle Staatsbürger verringert. Hatte man durch die parlamentarische Orientierung zuvor den revolutionären Umsturz aufgegeben und sich weitgehend auf eine Reformpolitik eingelassen, veränderte sich nach diesem politisch-programmatischen Wandel auch die soziale Basis der Partei. In den Massenintegrationsparteien auf Klassenbasis war der überwiegende Teil der Anhänger die (industrielle) Arbeiterschaft gewesen. Doch die Sozialstruktur der Gesellschaften Europas, damit auch die Handlungsarena für sozialdemokratische Parteien (vgl. Kapitel 2) hatte sich nach 1945 grundlegend verändert (Kaelble 2007). Der relative Bedeutungsverlust der Industriearbeiterschaft, die Enthomogenisierung und Enttraditionalisierung des Lebenswandels bei gleichzeitiger Entschärfung des sozialen Konflikts sowie eine Abschwächung der ideologischen Polarisierung, brachte alte, festgefügte Wählerbindungen ins Wanken – eröffnete aber auch neue Optionen. Mit der Volkspartei bildete sich ein neuer Typus von Partei heraus, der eine stark veränderte strategisch-positionale Stellung im Parteienwettbewerb einnahm und in einem „grundlegenden elektoralen Strategiewechsel“ (Wiesendahl 2006: 58) vornehmlich auf kurzfristige Stimmenmaximierung orientierte. Dafür gaben diese „Allerweltsparteien“ die ursprünglichen Ziele der Eingliederung und ideologischen Durchdringung „der Massen“ zugunsten breiterer und übergreifender Versprechen auf (Kirchheimer 1965). Wolfgang Abendroth sprach deshalb auch von „Plattformparteien“, die den gesellschaftlichen und ökonomischen Status einer Gesellschaft akzeptiert hätten, für die Parteiprogramme nicht länger Gesellschaftskonzeption, sondern lediglich elektorale Kommunikation seien (Abendroth 1956). Volksparteien haben, so formulieren es Peter Lösche und Franz Walter (1992b: 3), keinen „absoluten Herrschafts- und Deutungsanspruch“, sondern es gibt einen „nichtkontroversen Sektor mit einem allgemeinen Konsens“ mit anderen Parteien. In der Volkspartei vereint sich das Parteimodell einer Nicht104
Dieser universelle Status endet jedoch am Grenzzaun.
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mehr-Klassenpartei mit einer nicht mehr klassenorientierten Sozialpolitik. Die sozialdemokratische Volkspartei ist ohne den Wohlfahrtsstaat nicht denkbar, sie ist geradezu notwendig mit ihm verwoben. Die sozialpolitische Logik der Reformsozialdemokratie verfestigte sich in dem Parteitypus der Volkspartei, war gleichwohl in der Politik vor dem Zweiten Weltkrieg angelegt. Die klassenübergreifende Reformpolitik zugunsten eines effizienten, funktionierenden Gemeinwesens war ein zentrales Motiv der Revisionisten in Deutschland und der Fabier in Großbritannien. Es war nicht umsonst Bernstein, der den Begriff Volkspartei als Erster formulierte (Bernstein 1905). Dennoch, der Konflikt zwischen „Arbeit“ und „Kapital“, wenn auch vermittelt, verzerrt und gelenkt, bleibt das historisch überlieferte Movens sozialdemokratischer Parteien. Zwar hat er sich über Wahlen und Parteien neuartig artikuliert, und postmaterielle Wertestrukturen haben die Achsen des Konflikts innerhalb der Parteiensysteme im Echo des Goldenen Zeitalters des Kapitalismus verschoben (Kitschelt 1994); dennoch bleiben soziale Klassen oder weltanschauliche Dispositionen auch für das heutige Wettbewerbsgefüge der Parteiensysteme eine zentrale Determinante, der Links-rechts-Gegensatz ist nach wie vor die zentrale Linie des Konfliktes (Mair 1997). Der Wandel zur Volkspartei ist neben Keynesianismus und Wohlfahrtsstaat die dritte Quelle für die Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit: Sie dockt zwar an strukturellen Ungleichheiten in der Gesellschaft an, löst sie aber als individuelle Beziehung der Bürger untereinander auf.
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5. Das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie „Wir sind die Partei für die Neue Mitte!“ Willy Brandt „In all our plans for the future, we are re-defining and we are re-stating our Socialism in terms of the scientific revolution […] The Britain that is going to be forged in the white heat of this revolution will be no place for restrictive practices or for outdated methods on either side of industry.“ Harold Wilson
Wiederum war es ein Weltkrieg, der zur Wasserscheide für SPD und Labour Party wurde. Nach 1945 waren die Ausgangsbedingungen für beide Parteien äußerst ungleich. Im Dritten Reich wurde die SPD verboten, ihre ehedem stolze Organisation zerschlagen, ihre Mitglieder wurden verfolgt. Im Jahr 1945 musste sie sich im besetzten und geteilten Deutschland politisch erst wieder konsolidieren. Die Labour Party war hingegen seit der Regierung MacDonald während der 1930er Jahre in die Opposition verbannt. Aber bereits 1940 trat sie in das Kriegskabinett unter der Führung ihres alten konservativen Widersachers Winston Churchill ein und hatte sich 1945 als „respektable“ Partei etabliert. In diesem Kapitel werden SPD und Labour Party von ihrer Konstituierung als keynesianische Sozialdemokratie bis zum Ende des Goldenen Zeitalters des Kapitalismus 1973 dargestellt. Am Ende wird eine vergleichende Einschätzung der beiden Varianten der keynesianischen Sozialdemokratie und ihrer Gerechtigkeitskonzeption entwickelt. 5.1 Sozialliberaler Kollektivismus: Die Labour Party Unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft erreichte die Labour Party bis 1945 eine Regulierung von Preisen, Profiten und Löhnen, eine gerechtere Besteuerung sowie die grundlegende Bereitstellung von Wohnraum, sozialer und gesundheitlicher Daseinsvorsorge. Von ihrem Ziel der Nationalisierung konnte angesichts der konservativen Mehrheit jedoch keine Rede sein (vgl. Cole 1948: 382–97). Als „historical windfall“ (Anderson 1987: 54) kam die Labour Party 1945 an die 109
Macht, ihr Wahlsieg war historisch.105 Sie erreichte zwar nur 48 Prozent der Stimmen, aber durch das britische Wahlsystem 61 Prozent der Mandate. Zum ersten Mal konnte sie ohne Restriktionen und Rücksichtnahme auf die Liberalen regieren. Das egalitäre politische Klima, das sich in der Kriegswirtschaft herausgebildet hatte, begünstigte die Aussichten der Labour Party, die wie geschaffen für die kommenden Aufgaben schien. Der unmittelbare Zeitgeist in der britischen Nachkriegsgesellschaft war geprägt von der Sehnsucht nach mehr „Fairness“ – dafür sollte der Staat sorgen (vgl. Sassoon 1996: 123f). Getragen von dieser gesellschaftlichen Stimmung, war die Labour Party in einer „einzigartigen Lage“ (Judt 2006: 95), es war die möglicherweise „most favourable opportunity that ever confronted any socialist party“ (Nairn 1964b: 36). Sie hatte nicht nur eine Regierungsmehrheit, sondern auch den Zeitgeist auf ihrer Seite, was sich auch darin ausdrückte, dass die Konservativen unter Churchill – keine bedingungslosen Freunde eines Wohlfahrtsstaats – sich dem Ausbau der sozialen Sicherheit nicht verwehrten, ja sie im Ergebnis sogar unterstützen. Zudem erlaubt die institutionelle Ausformung des politischen Systems in Großbritannien, Reformen unmittelbarer und unverzerrter umzusetzen (vgl. Schmidt 2000a: Teil 3). 5.1.1 Liberaler Kollektivismus und der britische „Welfare State“ Was die Regierung von Clement Attlee schließlich umsetzte, war ein sozialliberaler Kollektivismus, der aus verschiedenen Quellen schöpfte. Das waren zum einen der ethische Sozialismus Tawneys und der reformistische Gradualismus der Fabier, die direkt aus der Tradition der Labour Party kamen. Zum anderen waren es die Konzepte zweier Liberaler – John Maynard Keynes und William Beveridge –, die große Bedeutung für die Politik der Labour Party erlangen sollten. Während die Ideen Tawneys und Keynes’ sowie der Gradualismus der Fabier Bestandteile des politischen Paradigmas der Labour Party waren, beeinflusste Beveridge unmittelbar und konkret die institutionelle Erweiterung des britischen Welfare State. Es lässt sich also sagen, dass die Labour Party zwar den Auf- und Ausbau des Sozialstaats praktisch umgesetzt hat, die dem zugrunde liegenden Ideen jedoch unabhängig von der Labour Party entstanden waren (vgl. Anderson 1987: 53; Sassoon 1996: 137). 105 Tragisch war ihre anschließende Niederlage. Die Labour Party erlangte 1951 in der Regierungsverantwortung einen größeren Anteil der Stimmen als 1945, verlor aber diesmal auf der Basis des britischen Wahlsystems die Mehrheit der Mandate. Trotz dieser Niederlage bleibt die Feststellung, dass die Labour Party mehr Stimmen bekam als bei der Regierungsübernahme: „Socialist politics or, at least, the politics of the Labour government did not result in unpopularity“ (Sassoon 1996: 122).
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William Beveridge hatte bereits 1942 seine Studie Report to the Parliament on Social Insurance and Allied Services – bekannt als Beveridge Report – vorgestellt und später sein Werk „Full Employment in a Free Society“ (1944). Diese bildeten die ideelle Grundlage, den „blueprint“ (Lowe 1993: 125; Sassoon 1996: 141) für die Konstruktion des britischen Wohlfahrtsstaats. Beveridges Plan setzte an einem Großbritannien an, das noch von Krieg geprägt war; er sollte die fünf gesellschaftlichen Hauptübel bekämpfen: Not, Krankheit, Unwissenheit, Schmutz und Müßiggang106 (vgl. Beveridge 1942). Vor allem den ersten beiden Übeln wollte Beveridge mit einer staatlich organisierten sozialen Sicherung, der Einführung eines universellen Gesundheitssystems, des National Health Service, und einer (keynesianisch inspirierten) Vollbeschäftigungspolitik beikommen.107 Zudem wollte er die von Armut betroffenen Bürger von den demütigenden Prozeduren der englischen Armengesetze befreien. Der nach den Plänen von Beveridge durchgeführte Aus- und Umbau „war sowohl Vollendung eines älteren Reformzyklus […] als auch radikaler Neubeginn“ (Judt 2006: 96; vgl. Jones 1994: 147f). Es war ein radikaler Neubeginn, da neue Institutionen geschaffen und der Wirkungskreis massiv ausgeweitet wurde, aber man setzte an der Sozialgesetzgebung der Vorkriegsära an. Bereits 1911 war eine rudimentäre Arbeitslosenversicherung geschaffen worden. Beveridges Pläne kombinierten nun steuerfinanzierte und versicherungsbeitragsfinanzierte Leistungen. Die Labour Party übernahm sein Konzept, obwohl sie vorher immer eine vornehmliche Steuerfinanzierung des Sozialstaats gefordert hatte (vgl. Lowe 1993: 126; Kaufmann 2003: 145). Die Pläne für den Wohlfahrtsstaat beruhten auf dem Prinzip der Universalität, sie schlossen die gesamte Bevölkerung ein und waren umfassend, indem sie die zentralen Lebensrisiken Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Alter und Mutterschaft einbezogen (zum Folgenden vgl. Lowe 1993: 122–62; Jones 1994: 120–48; Fraser 1984: 222–39; Kaufmann 2003: 144–47).108 Die sozialen Sicherungssystem wurden in drei Bereiche gegliedert: erstens die durch Arbeitnehmer und Arbeitgeberbeiträge finanzierten Sozialversicherungsleistungen bei der Rente, der Arbeitslosenunterstützung und dem Krankengeld – die National Insuran106
Dies ist ein schönes Beispiel dafür, dass der Wohlfahrtsstaat zu keinem Zeitpunkt ein Projekt zur Abschaffung, sondern zur sozial abgefederten Verallgemeinerung der Lohnarbeit war und bis heute ist. 107 Der NHS – eingeführt durch den National Health Service Act (1946) ist auf Grund seiner universalistischen Anlage und des kostenlosen Zugangs sicherlich eine der zentralen Institutionen des britischen Wohlfahrtsstaates, dennoch soll in dieser Arbeit eher auf die Fragen sozialer Sicherheit eingegangen werden. 108 Hier werden nur die Grundzüge des Beveridge-Systems dargestellt. Für eine detailliertere Analyse vgl. die genannten Quellen.
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ce –, zweitens die steuerfinanzierte Sozialhilfe (nur noch diese war bedarfsgeprüft) und drittens völlig vom ökonomischen Status unabhängige Leistungen wie das Kindergeld. Die Sozialversicherung – verabschiedet als National Insurance Act 1946109 – sah für alle Versicherten gleiche Beiträge und gleiche Leistungen unabhängig vom vorherigen Einkommen vor. Sie sollte ein „angemessenes“, so die Diktion auch in Beveridges Entwurf (1942), soziales Existenzminimum schaffen, das für alle gleich und für alle gleich niedrig sein sollte. Dieses Flatrate-Prinzip hatte seinen Ursprung bereits in der Arbeitslosenversicherung von 1911 und wurde nun auf alle anderen Risiken ausgedehnt (vgl. Mohr 2004: 4f).110 Das Flatrate-Prinzip orientierte sich – wie die bisherige Tradition der britischen Sozialpolitik, aber auch der Labour Party – am Prinzip des lebensnotwenigen Minimums. Hier koinzidierte die liberale Haltung Beveridges mit der Tradition der Labour Party, beide favorisierten ein soziales Minimum (vgl. Thane 2000: 99f). Während es bei der Labour Party die spezifische, noch von den Fabiern gestaltete Ausprägung des politischen Paradigmas war, leitete es Beveridge aus einem liberalen Gedanken ab: Erstens sollten die kommerziellen Versicherungsanbieter nicht verdrängt werden, und zweitens sollte das liberale Prinzip der freien Wahl – der weitergehenden privaten Absicherung – gewahrt bleiben (vgl. Jones 1994: 126). Weil das Leistungsniveau sehr niedrig war, kam es zu einer dualistischen Entwicklung: Viele Briten schlossen private Rentenversicherungen ab, aber gleichzeitig waren zahlreiche Bezieher der Sozialversicherungsleistungen zusätzlich auf die bedarfsgeprüfte Sozialhilfe (durch den National Assistance Act von 1948 eingeführt) angewiesen. So schlug der Geist des egalitären Universalismus wieder in die Sozialfürsorge um, da die Bessergestellten sich um zusätzliche Versorgung kümmern konnten, während die Schlechtergestellten wieder auf bedarfsgeprüfte Leistungen zurückgreifen mussten (vgl. Esping-Andersen 1998: 41). Insgesamt waren die Sozialreformen trotzdem umverteilend. Beispielsweise wurde die Rentenversicherung nicht kapitalgedeckt eingeführt, sondern mit Steuergeldern subventioniert. Überhaupt war das britische Steuersystem in jener Zeit extrem progressiv. Aus dem Krieg waren Grenzsteuersätze für die höchsten Einkommensklassen von über 90 Prozent [sic!] übernommen und weitergeführt worden. Die Kombination aus Gemeineigentum, sozialer Sicherheit und einer Reduzierung der sozialen Ungleichheit veränderte 109
Ein Family Allowance Act regelte schon 1945 die Leistungen für Mütter und Kinder. Zudem klassifizierte man die Versicherten nach abhängig Beschäftigten, Selbständigen, Nichterwerbstätigen und verheirateten Frauen. Beispielsweise erhielten nichterwerbstätige Ehefrauen zum ersten Mal eine Krankenversicherung. Gerade durch das Prinzip der Universalität unterschied sich der Beverdige-Wohlfahrtsstaat vom deutschen Bismarck-Modell. Der Staatsbürgerstatus und nicht der Erwerbsstatus war das Merkmal der Inklusion (vgl. Kapitel 4). 110
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das gesellschaftliche Bewusstsein über die Verteilung gesellschaftlicher Chancen – was dann auch in T. H. Marshalls Ansatz über die Gewinnung sozialer Staatsbürgerrechte bereits 1949 reflektiert wurde (Marshall 1992; vgl. Harris 2000: 32). Funktional als auch instrumentell verknüpft war Beveridges Wohlfahrtsstaatskonzept mit einer keynesianischen Vollbeschäftigungspolitik (vgl. Lowe 1993: 99–121). Ein hoher Beschäftigungsgrad sollte zum einen dazu führen, dass die Bürger selbst für ihr Leben aufkommen konnten, und zum anderen die Kosten des Wohlfahrtsstaats niedrig halten. Beveridge sah die Rolle der Sozialversicherung dabei durchaus produktivistisch. Gegenüber den Einwänden der Unternehmer, die in den Sozialbeiträgen eine „Steuer auf Beschäftigung“ sahen, erwiderte er, dass eine gesunde Arbeiterschaft eine ergiebigere sein würde (vgl. Lowe 1993: 127, 130). Die Attlee-Regierung setzte nicht nur den Wohlfahrtsstaat aufs Gleis, sie ging auch in der Ordnungspolitik neue Wege, jedoch zunächst unter den Beschränkungen der Nachkriegszeit, als es an Rohstoffen und Devisen mangelte und Schulden im Überfluss gab. Und Planung, nachdem man ausreichend Zeit hatte, darüber zu reflektieren und auch im Weltkrieg Regierungserfahrungen sammeln konnte, war 1945 „much more than an ideology“ (Tomlinson 1993: 10), aber konkrete, sorgfältig durchdachte Entwürfe für eine sozialistische Politik der Planung gab es dennoch nicht. Als Labour dann 1945 an die Regierung kam, wurden die Sozialisierungen vor allem nach pragmatischen Gesichtspunkten durchgeführt (vgl. Sassoon 1996: 150–56). Dazu gehörten die Nationalisierung der Kohleindustrie (1946), der Stromversorgung (1947), der Eisenbahnen (1948), der Gasversorgung (1949) und der Stahlindustrie (1951). Aufgrund zahlreicher Mängel, die teilweise durch das Erbe des Kriegs und die Aufgabe der Neuallokation der Ressourcen hervorgerufen wurden, waren die Verstaatlichungen zu einem guten Teil auch dazu da, diese Wirtschaftsbereiche grundlegend zu modernisieren – als „supply side socialism“ (Tomlinson 1993). Die Politik der Regierung Attlee war weder antikapitalistisch noch dirigistisch. Das zeigte sich auch darin, dass trotz der zur damaligen Zeit wahrgenommenen Komplementarität von Wohlfahrtsstaat und Wirtschaft für die Regierung immer klar war: „[T]he needs of industry came first“ (Thane 2000: 98). Die Sozialisierungen waren nicht unerheblich, etwa 20 Prozent des volkswirtschaftlichen Ertrages wurden in den 1950er Jahren von verstaatlichten Industrien erwirtschaftet (vgl. Ellison 1994: 35). Diese wurden jedoch nicht direkt durch die Regierung geführt, sondern mittels autonomer Managementstrukturen, 113
auf die der Staat nur strategischen Einfluss hatte. Trotz des Kollektivbesitzes war die staatliche Intervention relativ niedrig, es gab also gleichzeitig viel und wenig Staat in der Wirtschaft (vgl. Abromeit 1999: 358f). Zwar wurde mit den Verstaatlichungen das bereits in Clause IV formulierte Ziel des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln verwirklicht, dies war jedoch mit dem Kriterium der Effizienz durchsetzt. Mit Ausnahme der Stahlindustrie wurden in der Regel nur Unternehmen sozialisiert, die zwar volkswirtschaftlich von großer Bedeutung waren, aber unwirtschaftlich arbeiteten – sie mussten vom Staat erst saniert werden. Die Sozialisierungen waren also eine Sozialisierung der Verluste, eine staatliche Subvention, obgleich sich z. B. für die Beschäftigten in der konkreten Arbeitssituation einiges verbesserte. Viele der ursprünglichen Ziele, die traditionell in der Labour Party mit Verstaatlichungen verbunden waren – Umverteilung und starke Partizipation – wurden nur in geringem Maße verwirklicht. Die Regierung versäumte es ebenfalls, die öffentlichen Unternehmen als (Macht-)Instrument zur Steuerung der Privatwirtschaft einzusetzen (vgl. Shaw 1996a: 24–27). Planung fand in der Regel weder direktiv noch mandatorisch statt, sondern anzeigend, konsultativ und aushandelnd. Ein zentrales Element der Planung waren die – bis in die 1970er Jahre fortgeführten – Versuche, korporatistische Institutionen und Konsultationsprozesse zu etablieren. Das National Joint Advisory Council, das auf Löhne und Arbeitsbeziehungen ausgerichtet war, und das National Production Council for Industry, das sich auf die Abstimmung der Produktion richtete, waren von der Anlage tripartistische Körperschaften aus Arbeitgebern, Gewerkschaften und Regierung. Die Erfolge dieser Körperschaften waren äußerst beschränkt, da es sowohl von Seiten der Unternehmer als auch der Gewerkschaften großen Widerstand gab, sich in die Geschäfte oder die Lohnfindung hineinreden zu lassen. Trotz der praktizierten Verstaatlichungen hatte die Labour Party eine Ambivalenz, genauer: eine widersprüchliche Haltung gegenüber den Großunternehmen. Ein Teil der Partei wollte Monopole grundsätzlich zugunsten des Wettbewerbs auflösen – man führte 1948 auch den Monopolies Act (1948) ein und entwickelte ihn 1965 weiter –, ein anderer Teil sprach sich gleich für Verstaatlichungen der Großunternehmen aus. Man war zwar gegen eine Marktbeherrschung von Monopolen, aber forcierte die Bildung von Fusionen mit dem Ziel der Schaffung von Großunternehmen. Schließlich überwog letztere Tendenz: „Labour’s enthusiasm for planning in general und mergers and rationalisations in particular left little space for competition policy“ (Tomlinson 2004: 702). In Großunternehmen wurde – nach dem Motto big is beautiful – die Chance auf bessere Effizienz, Rationalität und Planbarkeit gesehen. Auf der anderen 114
Seite gab es Skepsis gegenüber dem wettbewerblichen Denken, und viele sprachen sich – wie auch später Crosland – für stärker kooperative Formen des Wirtschaftens aus (vgl. Tomlinson 1993: 5, 2004: 694). Der britische Interventionsstaat zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Kapitel 3) hatte – wiederum in Anschluss an einen Krieg – mit den Verstaatlichungen nun auch noch eine kollektivistische Komponente hinzugewonnen. Die Grenzen des Staates waren durch Verstaatlichungen und den Ausbau des Wohlfahrtsstaates verschoben worden, gleichwohl blieben 80 Prozent der Wirtschaft in privater Hand (vgl. Tomlinson 2000: 60). Insgesamt war der britische Staat weit davon entfernt, auf den französischen Pfad des Etatismus einzuschwenken. Selbst in dieser Periode, in der Planung auch in Großbritannien eine bedeutende Rolle einnahm, prägte die britische Kultur der liberalen Zurückhaltung die neue Staatlichkeit. So beurteilt Andrew Shonfield (vgl. 1968: 101–114; vgl. auch Thompson 1996a: 186–94; Nairn 1964b: 37f) die Planungsversuche der Labour Party als in ihrer Gesamtheit nicht weitreichend und kurzfristig in ihrer Ausrichtung. Sassoon (vgl. 1996: 154–57) kritisiert, dass die Labour Party planlos geplant und verstaatlicht hat. Sie hatte keine lang- oder mittelfristige Perspektive und nutzte die verstaatlichten Industrien auch nicht als Hebel, um die Privatwirtschaft energisch zu führen, die von der Labour Party weiterhin nach dem Prinzip des Laisser-faire gesteuert wurde.111 Die mikroökonomische Planung und die Planungsmethoden blieben beschränkt, sukzessive wurde sie durch makroökonomische Planung, d. h. keynesianische Nachfragesteuerung, ersetzt (vgl. Shaw 1996a: 27–32; Thompson 1996a: 137–47). Diese beiden strukturellen Institutionalisierungen, den Aufbau des Sozialstaats und die Entwicklung eines liberalen Kollektivismus in der wirtschaftlichen Ordnung, schuf die Labour Party, gleichwohl unter Zustimmung weiter Teile der Konservativen. Bis Anfang der 1950er Jahre schlug sich die britische Wirtschaft recht gut, es gab Vollbeschäftigung und Großbritannien war das wichtigste Industriezentrum Europas. Die Nachkriegsjahre verdeckten zunächst eine Entwicklung, die erst in den 1950er und 1960er Jahren größere Bedeutung erlangen und eine Herausforderung für alle Regierungen stellen sollte: den industriellen Niedergang Großbritanniens. Die ehemalige Pionierökonomie hatte bereits zur Jahrhundertwende Marktanteile gegenüber Deutschland verloren (vgl. Kapitel 3), jetzt setzte ein neuerlicher Schub des Verlustes an internationaler Wettbewerbsfähigkeit ein. Das verarbeitende Gewerbe in Großbritannien, z. B. die Automo111 Zudem wurde die Labour-Party in ihren vorsichtigen Planungsversuchen noch von den Staatsbediensteten gebremst, die von einem instinktiven Misstrauen gegen staatliche Vorgaben geprägt waren.
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bilindustrie, verlor kontinuierlich an die europäischen Mitkonkurrenten, besonders an die Deutschen. Die Gründe für diesen Niedergang – in Großbritannien wurde vom British decline gesprochen – waren vielfältig und werden hier nur in aller gebotenen Kürze wiedergegeben (ausführlicher u. a.. Coates 1994; Pollard 1983, 1999b). Zu den ohnehin riesigen Kriegsschulden kamen noch die enormen Ausgaben für Landesverteidigung und die Aufrechterhaltung des Empires – Aufwendungen, die beim Mitkonkurrenten Deutschland nicht anfielen und in die Modernisierung der Industrie gesteckt werden konnten. Das britische Pfund war ein Symbol nationaler Stärke, das alle Parteien trotz Abwertungsdruck stützten. Die Verbundenheit zum britischen Empire und die Präferenz für ein starkes Pfund waren kein Privileg der Konservativen, sondern gleichermaßen in der Labour Party tief verwurzelt. Das traf auf viele Bereiche zu: „To a greater extent than is generally understood, Labour’s mentality had been stamped from its inception by values and beliefs derived from established national culture“ (Shaw 1996a: 44).
Diese Einbindung stellte sich in der Nachkriegsära als Zwangsjacke heraus: Die britischen Exporte wurden geschwächt und es erhöhte sich die Importquote, was wiederum der heimischen Industrie die notwendige Kraft für Innovationen entzog. Großbritannien hing in der Produktivitätsentwicklung hinterher, ein schlechtes Management und fragmentierte Gewerkschaften standen gemeinsam auf der Bremse der Modernisierung der britischen Volkswirtschaft. In diesem Konglomerat entstand eine für europäische Verhältnisse starke Inflation. Die Verquickung aus niedriger Produktivität und starken Gewerkschaften führte bei den Unternehmern dazu, ihre Gewinnerwartungen über die Preise auf die Konsumenten abzuwälzen. Gleichzeitig schlossen die Politikziele der Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung und des Wohlfahrtsstaats eine deflationäre Politik aus. Eigentlich war Großbritannien von seinen institutionellen Rahmenbedingungen her für eine keynesianische Wirtschaftspolitik gut geeignet: ein zentralisierter Einheitsstaat, in dem die Steuersätze jedes Jahr aufs Neue parlamentarisch bestimmt wurden, konnte fiskalpolitisch signifikant eingreifen, insbesondere da durch die Nationalisierung der Bank of England (1946) auch die Geldpolitik in der Hand der Regierung lag. Doch führten die niedrige Produktivität, das hohe Importniveau, die Präferenz für ein starkes Pfund und die Interessen der City und das Ziel der Vollbeschäftigung zu einer Wirtschaftspolitik nach dem sogenannten Stop-and-go-Muster: Auf eine – meist vor Wahlen vorgenommene – staatliche Nachfragestimulierung wuchs zunächst die Wirtschaft, aber die 116
Importe wuchsen schneller als die Exporte. Dies wiederum brachte die Leistungsbilanz ins Defizit und setzte das Pfund unter Druck. Um den Wechselkurs zu stützen, musste die Regierung auf das entstandene Bilanzdefizit mit einer Vollbremsung reagieren; damit die Wirtschaft aber nicht vollends in die Rezession rutschte und man die Arbeitslosigkeit niedrig hielt, musste alsbald wieder die Nachfrage ausgeweitet werden – und so ging es weiter (vgl. Busch 2006: 415–17; Scharpf 1987: 97–100). Diese Politik war ein regelrechter Teufelskreis, in den „Stop-Phasen“ wurden insbesondere die staatlichen Investitionen zurückgefahren – den Wohlfahrtsstaat wollte man nicht antasten –, so dass genau die staatlichen Hilfen zur Steigerung der britischen Produktivität gemindert wurden, die sie dringend gebraucht hätte. 5.1.2 Das politische Paradigma der Labour Party Als die Labour Party 1945 an die Macht kam, war ihr politisches Paradigma noch geprägt von der Weltwirtschaftskrise und dem Weltkrieg. Diese Erfahrungen spiegeln sich unmittelbar im ersten Wahlmanifest wider: Let us Face the Future (1945). Es geht in der Zeitdiagnose einerseits von der ökonomischen und politischen Macht der Großkonzerne aus und sieht andererseits die akute Situation des Mangels an Ressourcen, Wohnraum, Heizmitteln und Nahrung für die britische Bevölkerung. Die politische Ökonomie sieht Sozialisierungen als Hebel sowohl für mehr Demokratie, für mehr Verteilungsgerechtigkeit („fair and generous distribution“) als auch für mehr Effizienz (vgl. Fielding 2003: 64–67). Sozialisierungen bzw. Staatseigentum waren trotz der Begründung mit dem Effizienzargument für die meisten Labour-Aktivisten die notwendige (und für manche sogar auch die hinreichende) Voraussetzung für den Sozialismus. Bei der Gerechtigkeit wird nicht weiter differenziert, auch taucht der Begriff soziale Gerechtigkeit – er wurde in den Labour-Programmen bis dato erst einmal im Programm von 1918 verwendet – selbst nicht auf. Gleichwohl ist eine der Forderungen die nach „faire shares“, was in etwa der britischen Ausprägung der proportionalen Leistungsgerechtigkeit in Kombination mit einem Anspruch auf Verteilungsgerechtigkeit entspricht. Die kurzen Aussagen zur Besteuerung folgen dem Prinzip der solidarischen Leistungsgerechtigkeit, da gefordert wird, dass die geringen Einkommen auch geringer besteuert werden. Das soziale Minimum wird nicht diskutiert, verwunderlich, da das ganze Programm im Wesentlichen fabianisches Gedankengut transportierte (vgl. Nairn 1964b: 36–39). Nur pragmatisch wird das soziale Minimum angesprochen, da jeder Essen, Arbeit und Wohnraum brauche. Weder zum Sozialstaat, der ja durch die Umsetzung des 117
Beveridge-Reports nur wenige Jahr später eingeführt werden sollte, noch zum National Health Servive werden konkrete gerechtigkeitsbezogene Aussagen gemacht, außer dass man von allem „mehr“ brauche. Das wichtigste Dokument, das Auskunft über das Gerechtigkeitsverständnis der Labour Party in jener Zeit liefert, ist Towards Equality – Labour’s Policy for Social Justice (Labour Party 1956). Obwohl es erst Mitte der 1950er Jahre erschien, wo, wie später noch gezeigt wird, der Revisionismus schon in vollem Gange war, trägt es als Dokument starke Züge des politischen Paradigmas der unmittelbaren Nachkriegsjahre. In keinem anderen Parteidokument nach dem Zweiten Weltkrieg wird sich so ausführlich mit der Frage der sozialen Gerechtigkeit beschäftigt. Zunächst enthält es Kritik am Status quo der britischen Gesellschaft, die ja seit 1951 wieder von den Konservativen regiert wird. Die Labour Party legt in diesem Dokument sehr konkret und sehr differenziert ihr Verständnis von sozialer Gerechtigkeit offen. Solange ein Minimum bzw. Mindestlohn gewährleistet ist, tritt sie für ein individuelles Leistungsprinzip nach Aufwand und Verdienst ein (vgl. Labour Party 1956: 14). Eng verkoppelt sind die Forderungen nach Gemeineigentum und sozialer Gerechtigkeit. Denn durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln würde der durch Produktion erwirtschaftete Wertzuwachs an die Shareholder gehen. Die Einkommen aus Mieten, Zinsen, Dividenden und Kapitalerträgen sind für die Labour Party „unverdiente“ Einkommen bzw. Vermögen. Diese Sichtweise stammt noch aus der politischen Ökonomie der Fabier und enthält ein starkes Element von Leistungsgerechtigkeit, da ja die Bezieher des unverdienten Vermögens eben keine Leistung für ihr Einkommen erbracht haben. Für die Labour Party ist klar: Um die unverdienten Einkommen und Vermögen zu minimieren, ist Gemeineigentum erforderlich. Die Labour Party verbindet eine egalitäre Verteilungsgerechtigkeit mit einer umfassenden Chancengleichheit: „The more equal division of wealth and income will […] bring with it substantial increases in material welfare. [This] is the achievement of a greater degree of social equality: the ending of those forms of privilege which, in education, opportunities, working conditions and many other fields, still disfigure our nations life“ (Labour Party 1956: 31).
Im Jahr 1951 verlor die Labour Party die Wahlen, genauso wie 1955 und 1959. Diese, nach dem geläufigen Ausdruck in der Labour Party, thirteen wasted years in der Opposition waren der Impuls für einen Prozess der Revision des politischen Paradigmas. Dabei entstand ein neuer Revisionismus, der seinen prominentesten Ausdruck in dem Buch „The Future of Socialism“ (1956) von Anthony 118
Crosland fand. In enger politischer Verbindung zum neuen Parteivorsitzenden Hugh Gaitskell errang der Revisionismus schnell die intellektuelle Hegemonie in der Partei (vgl. Shaw 1996a: 51; Sassoon 1996: 258). Insgesamt waren die 1950er Jahre jedoch eine Periode der Konfusion und der innerparteilichen Differenz; es wurde viel über den Umgang mit den verstaatlichten Industrien debattiert, konkrete Politikvorschläge kamen jedoch nur selten dabei heraus (vgl. Tomlinson 2000: 61). Croslands Schrift – gemeinhin als das Hauptwerk des britischen Revisionismus112 betrachtet (z. B. Harris 2000: 34; Shaw 1996a: 51) – ist selbst nicht unbedingt originell, weil er hauptsächlich auf andere Analysen jener Zeit zurückgreift, aber die komprimierte Darstellung und Zuspitzung machte sie so bedeutsam.113 Crosland stellte viele Elemente des politischen Paradigmas der Labour Party in Frage, er war äußerst optimistisch hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung (was er jedoch später revidierte), vertraute in eine gemischte, keynesianisch gesteuerte Wirtschaft und sah im Prinzip keine Notwendigkeit für eine weitere Verstaatlichung von Industrien. Dies beruhte auf einer veränderten Zeitdiagnose über den damaligen Kapitalismus. Die Kapitalistenklasse der Zeit vor dem Weltkrieg, so Crosland, habe einen Teil ihrer Macht an den Staat, die Gewerkschaften wie auch an eine neue Gruppe bezahlter Manager abgeben müssen. Der Besitz der Produktionsmittel sei nicht mehr das entscheidende Kriterium, so Crosland, sondern die Ausübung der Kontrollmacht. Während es zwar eine wachsende Gruppe von Anteilseignern gebe, die keine produktive Funktion ausübe und „unverdientes Vermögen“ einnähme, wüchse die Kontrollmacht der Manager, die zugleich sozialer als die klassischen Kapitalisten seien (vgl. Crosland 1956: 5–42). Dazu kam, dass für Crosland Klasse als Kategorie an Bedeutung abnahm, da die Klassenunterschiede durch den britischen Wohlfahrtsstaat wie auch die Gewohnheiten der Arbeiterklasse – Stichwort Konsumgesellschaft – sich stark verändert hätten: „[T]raditional egalitarianism has been knocked away by ist own success“ (Crosland 1956: 123). Das sollte nicht heißen, dass Armut, Ungleichheit und Klassenunterschiede verschwunden seien, aber sie resultierten aus Croslands Sicht nicht länger primär aus der Kontrolle der Produktionsmittel, sondern wurden durch den Bildungsgrad, die berufliche Stellung und die Lebensweise beeinflusst; dieses sei nicht durch stärkere soziale Sicherheit zu bekämpfen (vgl. 112 Zu den Schriften anderer Revisionisten und der sozialistischen Kritiker vgl. Thompson (1996b: 149–68) und Foote (1985: 189-234). 113 Ohne ihn zu zitieren, greift Crosland zentrale Ideen von James Burnham auf, der schon in den 1940er Jahren in The Managerial Revolution (1941) die These von der Trennung von Besitz und Kontrolle der Produktionsmittel aufgestellt hat.
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Crosland 1956: 106–11). Eine gerechte Politik – im Unterschied zu den im Labour-Party-Dokument Towards Equality vertreten Positionen – verband Crosland weniger mit Verteilungsgerechtigkeit, sondern er fokussierte auf die Chancengleichheit, in deren Zentrum für ihn die Abschaffung der Privilegien und der gleiche Zugang zu Bildung stand (vgl. Thompson 1996a: 168–72). Was Crosland – wie auch die anderen Revisionisten – entwickelte, war eine ethische Begründung des Sozialismus, die sich vor allem auf den Grundwert der sozialen Gleichheit bezog (vgl. Jones 1996: 34-37): „Socialism was about values, above all about equality and social justice“ (Shaw 1996a: 51). Gleichermaßen hieß das aber auch, dass der Sozialismus als Ziel einer anderen Gesellschaftsordnung nicht aufgegeben wurde. Er blieb das Endziel einer gradualistischen, wertorientierten Politik der sozialen Gerechtigkeit. Zudem: Mehr soziale Gleichheit würde auch mehr sozialen Zusammenhalt erzeugen. Der Markt wird bei Crosland zwar als interventionsbedürftig, aber nicht als prinzipiell ineffizient und zusammenbruchsgefährdet gesehen, sondern durch Kombination aus Gemeineigentum, Planung und Privatwirtschaft als sinnvoll steuerbar betrachtet (vgl. Harris 2000: 35). Es sei nicht der Kapitalismus, der ungerecht sei, sondern die ungleiche soziale Vererbung von Vermögen, Privilegien, Bildung und Macht. Ineffizient sei, wenn Menschen deshalb nicht ihre Talente einsetzen könnten. Deshalb, und das ist das Leitmotiv von „The Future of Socialism“, plädiert Crosland vehement für die Schaffung von mehr Chancengleichheit durch die Beseitigung von Privilegien, einen gleichen Zugang zu Bildung und auch die Reduzierung von Ungleichheit; er postuliert eine Gleichheit der Ausgangschancen, die durchaus ungleiche Einkommen auf Grund von Verdienst, Aufwand und Talent anerkennt (vgl. Crosland 1956: 137–49). Der Keynesianismus spielte für Crosland eine besondere Rolle in der ethischen Begründung der sozialen Gerechtigkeit (vgl. zum Folgenden Shaw 1996a: 52-58). Denn durch seine Fähigkeit, Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung zu schaffen, wurden die Ressourcen geschaffen, die notwendig für den Ausbau des Sozialstaats, des Gesundheitssystems und einer besseren Bildung waren. Man fand im Keynesianismus ein Mittel zur gleichzeitigen Erreichung der „egalitarian welfare aspirations of socialism and the capitalist mixed economy“ (Shaw 1996a: 55). Er blieb weiterhin skeptisch gegenüber den Fähigkeiten des Marktes, öffentliche Güter bereitzustellen, dafür brauchte man nach seiner Ansicht eine keynesianische Steuerung; für die Privatwirtschaft, die Bereitstellung von Konsum- und Industriegütern, so fand nicht nur Crosland, war der Preismechanismus die beste Zuteilungsregel. Wie weiter unten noch dargelegt wird, scheiterte der britische Revisionismus daran, programmatisch den Ab120
schied von der Forderung nach Verstaatlichungen durchzusetzen. Aber er passte ideal in das politische Paradigma der Labour Party, denn, so das Urteil von Eric Shaw, „[b]y coupling Keynesian economics to the pursuit of distributional justice, [it] offered the Party a clear set of objectives, policy instruments to attain them and a solid theoretical underpinning“ (Shaw 1996a: 58).
Im Policy-Dokument Industry and Society (1957) spiegelten sich wesentliche Merkmale des neuen Revisionismus wieder. Es wurde die Trennung von Eigentum und Kontrolle der Unternehmen durch die neuen Manager konstatiert (vgl. Labour Party 1957: 16–21), die Vorteile der Autonomie und des Wettbewerbs wurden ebenso gelobt wie die Manager der großen Unternehmen, die „as a whole serving the nation well“ (ebd. 47f). Diese Diagnose war perfekt anschlussfähig an die Tradition des Fabianismus, der sich ja gegen unverdientes Vermögen stellte, aber kein Problem mit ökonomischer Tätigkeit hatte. Labour ist vorsichtiger mit der Forderung nach Sozialisierungen geworden. Die Partei greift explizit auf keynesianische Motive (ebd., 30) zurück, vertraut auf die Fähigkeiten des Staats zur gesamtwirtschaftlichen Steuerung (ebd. 57)114, sieht keinen unbedingten Bedarf für eine groß angelegte Ausweitung des Gemeineigentums – außer der von den Konservativen mittlerweile reprivatisierten Bereiche wie die Stahlindustrie –, sondern versteht unter Sozialisierung im Prinzip eine kommunalistische, dezentrale Variante des Gemeineigentums (ebd. 56f). Die veränderte Haltung der Labour Party gegenüber dem Gemeineigentum lässt sich beispielsweise an der Position zur Bank of England nachvollziehen: Die Nationalisierung der Bank of England und der vier größten Geschäftsbanken in Großbritannien, den „big four“, war in der Geschichte der Labour Party mit Unterbrechungen immer eine zentrale Forderung. Was sich verändert hat, ist ihre Begründung. Zuerst ging es um Gerechtigkeit und ökonomische Macht, weil die Bank of England noch in privater Hand lag. Mit dem Übergang zu einer keynesianischen politischen Ökonomie verlagerte sich die Begründung auf die Annahme höherer Effizienz, der langfristigen Planung und der Beschäftigungspolitik (Pollard 1999a). In der Labour Party gab es kein marxistisches Erbe, das durch eine revisionistische Welle hätte in Frage gestellt werden können. Aber viele Mitglieder 114 Die stückweise Übernahme der keynesianischen politischen Ökonomie und ihrer Steuerungselemente wie Fiskal- und Geldpolitik wurde in den nachfolgenden Policy-Dokumenten Plan for Progress (Labour Party 1958) und Britain belongs to You (Labour Party 1959) weiter vertieft (vgl. Thompson 1996a: 180–83).
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waren dem spezifischen Labour-Sozialismus, wie er 1918 in Clause IV der Satzung der Partei festgeschrieben worden war, emotional tief verbunden. Die Abwesenheit einer eindeutigen Weltanschauung einerseits, die eines konkreten politischen Programms andererseits, konnte durch das identitäre Bekenntnis zum Gemeineigentum („common ownership“) überbrückt werden. Vor allem Clause IV hatte eine symbolische Bedeutung, sie stand für die sozialistische Tradition der Labour Party. Sie zur Debatte zu stellen, trieb alle Traditionalisten, die sich in anderen Fragen durchaus pragmatisch verhielten, in eine gemeinsame Frontstellung gegen den Wandel (vgl. Padgett/Paterson 1991: 30). Die Forderung nach Gemeineigentum wurde durch die ganzen 1950er Jahre in sämtlichen Policy Groups diskutiert, wobei die pragmatische, zur Mitte tendierende Parteiführung immer eine „calculated ambiguity“ (ebd.) zur Einbindung des linken Parteiflügels aufrechterhielt. Als die Labour Party 1959 ihre dritte Wahlniederlage in Folge kassierte, versuchte der neue Parteivorsitzende Hugh Gaitskell der Labour Party eine neue programmatische Grundierung zu geben, indem er die „sozialistischen Prinzipien“ der Partei in Frage stellte (vgl. Nairn 1964b: 45f). Er stützte dies u. a. auf die Annahme, dass die britische Arbeiterklasse sich so weit „verbürgerlicht“ hätte, dass eine Selbstdarstellung als Partei der Arbeiterschaft obsolet geworden sei (vgl. Anderson 1964a: 4f). Er wollte die Labour Party von einer Klassenpartei zur Volkspartei machen, ein Anliegen, das er mit vielen anderen sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien im Europa jener Zeit teilte. Er unterstützte in der Folge den Versuch des rechten Parteiflügels, die Clause IV durch einen Kommentar stark zu relativieren – was allgemein als Abschaffung wahrgenommen wurde. Zwar gelang es ihm, signifikante Teile der Partei hinter seine generellen Erneuerungsbestrebungen zu bringen, aber er unterschätzte die Bedeutung, die Clause IV nicht nur für die Partei, sondern für die gesamte britische Arbeiterbewegung besaß. Und: Die Labour Party hatte zwar einen starken revisionistischen Flügel, aber gleichzeitig eine für europäische Verhältnisse starke linke Strömung, die von Aneurin Bevan angeführt wurde. Gaitskell produzierte heftigen Widerstand weit über den linken Parteiflügel hinaus. Schließlich war man mit der vollzogenen Politik der Verstaatlichungen in der Vergangenheit durch die Attlee-Regierung nicht gänzlich unzufrieden (vgl. Cavanagh Hodge 1993: 15). Vier der sechs großen Gewerkschaften, die institutionell das größte Stimmenkontingent auf den Labour-Parteitagen besaßen, lehnten Gaitskells Vorschläge ab. Sein Nachfolger Harold Wilson stand ebenso für eine pragmatische Erneuerung der Partei, war sich aber des sakrosankten Status der Clause IV bewusst und tastete sie nicht an: „Gaitskell’s attempt to change the clause had gi122
ven common ownership a prominence it had previously lacked“ (Fielding 2003: 67). Nach dieser Erfahrung versuchte es auch kein Labour-Parteiführer mehr, es Gaitskell nachzutun – bis in das Jahr 1995, als es Tony Blair erfolgreich gelang (vgl. Kapitel 7).115 Auch wenn der revisionistische Flügel in dieser – vor allem symbolischen – Auseinandersetzung eine Niederlage erlitt, blieb das tiefe Eindringen des Keynesianismus in das politische Paradigma der Labour Party. In den 1960er Jahren kehrte der Planungsgedanke wieder zurück (vgl. Harris 2000: 35). In Signposts for the Sixites (Labour Party 1961) hatte sich der Schwerpunkt von der Frage des Gemeineigentums auf die Frage der Planung verschoben.116 Die war zum einen dem damaligen Zeitgeist geschuldet. Planung bedeutete vor allem, die Investitionsentscheidungen der Unternehmen zu beeinflussen, sowohl über den Hebel der staatlichen Unternehmen als auch über makroökonomische Steuerung und über tripartistische Institutionen.117 In Singposts for the Sixties wird Planung als Möglichkeit und Notwendigkeit dargestellt und ist geprägt nicht nur vom Steuerungs-, sondern auch vom technologischen Optimismus jener Zeit. Das politische Paradigma der Labour Party blieb in den 1960er Jahren relativ stabil. Gemeineigentum, gesellschaftliche Planung, kollektive Sicherungssysteme und ein „starker“ Mix aus Chancengleichheit, dem sozialen Minimum und der egalitären Verteilungsgerechtigkeit standen im Zentrum des Paradigmas. Der Keynesianismus hatte Einzug gehalten, die Präferenz für das Gemeineigentum war noch nicht abgelöst. Man war nicht gegen das Leistungsethos – solange ein Minimum gewährleistet blieb.118 Mit einem, wenn auch bescheidenen, steigenden Wohlstand für die Arbeiterschaft und dem Rückgang der absoluten Armut stellte sich auch die soziale Frage in Großbritannien anders: Während mehr Verteilungsgerechtigkeit und Chancengleichheit stärker betont wurden, nahm die Bedeutung des Prinzips des sozialen Minimums ab. 115 Wilson hat die Bedeutung der Clause IV anhand einer – für die Labour Party typischen – religiösen Metaphorik begründet: „We were being asked to take Genesis out of the Bible. You don’t have to be a fundamentalist to say that Genesis is part of the Bible“ (zit. nach Padgett/Paterson 1991: 31). 116 Sassoon (vgl. 1996: 304f) sieht in Signposts for the Sixties den äquivalenten Text zum Bad Godesberger Programm der SPD, weil es den Gedanken der Modernisierung besonders stark macht. Dies ist jedoch eine deutliche Überschätzung der Bedeutung dieses Dokuments, das auch als Ausdruck der Zurückdrängung der Revisionisten in der Partei gedeutet werden kann (vgl. Anderson 1964a; Jones 1996: 67–70). 117 Thompson sieht in der Begeisterung für den technologischen Fortschritt die Traditionslinie zu den Webbs, die ebenfalls einen szientistischen Optimismus pflegten (vgl. 1996b: 184f). 118 Das Urteil von Stephen Padgett und William Paterson, dass der Gleichheitsgedanke eine Neudefinition in „liberal humanist terms“ (1991: 38) erfahren habe, ist trotzdem nur halb richtig, da weiterhin das Element der egalitären Verteilungsgerechtigkeit vorhanden war.
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5.1.3 Der Höhepunkt der keynesianischen Planung: Die Wilson Regierung 1964–70 Als nach 13 Jahren die Labour Party unter Harold Wilsons Führung wieder an die Regierung kam, war die revisionistische Welle bereits wieder abgeebbt. Sozialisierungen, aber insbesondere Planung waren in der Labour Party wieder en vogue. Die Rhetorik der Modernisierung, der Planung, Wissenschaft und Technologie war sogar ein Aktivposten für den Wahlsieg der Labour Party 1964 (vgl. Thompson 1996a: 186). Wilson praktizierte im Vergleich zu seinem Vorgänger Gaitskell eine radikal anmutende antikapitalistische Rhetorik, doch war diese modernistisch durchsetzt, da Wilson insbesondere parakapitalistische Praktiken anprangerte, die zu diesem Zeitpunkt in Großbritannien kaum noch eine Rolle spielten. Er war sensibel sowohl für das gesteigerte Interesse an radikalen linken, ja sogar marxistischen Ideen in der Partei, aber auch für die ungeheure technologische Entwicklung dieser Periode und erklärte, dass genau deshalb eine neue postkapitalistische Produktionsweise gebraucht werde. Gleichwohl war das gesamte Kabinett weitaus nicht so links wie Wilson (vgl. Shaw 1996a: 68–70). Gegen den British decline setzte er – ausgedrückt in Signpost for the Sixties – eine Modernisierungsstrategie, die Planung und internationale Wettbewerbsfähigkeit kombinieren sollte, um der damals viel diskutierten technologischen Revolution Rechnung zu tragen. Schon von Beginn der Wilson-Regierung an hatte die Wirtschaftspolitik Priorität vor der Sozialpolitik, doch hieß dies nicht, dass für die WilsonRegierung Sozialpolitik keine große Rolle spielte, im Gegenteil. Im Jahr 1966 gewann Labour die Wahlen mit großer Mehrheit auf der Basis eines Programms, in dem Sozialpolitik einen prominenten Platz einnahm (vgl. Thane 2000: 107f). Die soziale Frage bzw. die Frage der Armut in Großbritannien spielten eine große Rolle. Beispielsweise lebten viele Rentner weiterhin in Altersarmut, aber auch viele Bezieher der Sozialversicherungsleistungen waren aufgrund des niedrigen Sicherungsniveaus von Armut bedroht. In der Folge wurde die Sozialhilfe ausgeweitet, damit aber auch die Bedarfsprüfung. Allerdings wurde diese wiederum weniger stigmatisierend gestaltet, als es die gängige Praxis in Großbritannien zu Zeiten der klassischen Armenfürsorge war. Die Qualität der Armut hatte sich verändert, denn Großbritannien war inmitten des Goldenen Zeitalters des Kapitalismus nicht von einer Welle der Armut im Sinne einer Verelendung heimgesucht worden. Mit insgesamt steigendem Wohlstand hatte sich der Begriff der Armut verändert. Armut wurde nun als relative Größe zum Gesamtwohlstand und nicht mehr als absolute Armut gese124
hen (vgl. Lowe 1993: 135–61; Jones 1994: 168–71). Dies erklärt zum Teil auch den niedrigen Stellenwert des Minimumprinzips im damaligen politischen Paradigma der Labour Party. Denn die relative Armut wurde aus der Perspektive einer mangelnden Verteilungsgerechtigkeit und nicht aus der Perspektive einer würdevollen Existenz gesehen. Die erneuerte Sensibilität für die soziale Frage drückte sich nicht nur in der Bekämpfung der Armut aus. Die Regierung spannte das soziale Netz insgesamt weiter, dichter und großzügiger. Gleichzeitig wurden die sozialen Leistungen differenzierter, komplexer und teilweise selektiver, man rückte partiell von der Universalität und vom Flatrate-Prinzip ab. Die Rentenversicherung wurde durch einkommensbezogene Leistungen ergänzt – es mussten aber auch entsprechend höhere Beiträge gezahlt werden –, die Entschädigungszahlungen bei Kündigungen wurden gesetzlich erhöht und das kurzfristige Arbeitslosengeld wurde an das Einkommen gekoppelt. Diese Entwicklung machte die britische Arbeitslosenunterstützung ihrem deutschen Pendant ähnlicher, da Arbeitnehmer mit hohen Einkommen in der Folge auch höhere Arbeitslosenunterstützung erhielten. Vor allem einige White-Collar-Gewerkschaften119 hatten in diese Richtung Druck ausgeübt, das Umverteilungsvolumen blieb jedoch auch bei der stärker einkommensbezogenen sozialen Sicherung groß. In der Labour Party gab es über diese Frage scharfe Auseinandersetzungen, weil viele Anhänger das universalistische Prinzip der Einheitssätze für egalitärer und „sozialistischer“ hielten. (vgl. Thane 2000: 100f, 106f; Lowe 1993: 158f). Allerdings beruhte diese Kritik im Wesentlichen auf einem liberalen Egalitarismus und nicht auf einer egalitären Verteilungsgerechtigkeit. Denn das Flatrate-Prinzip gründet sich vor allem auf die Gleichbehandlung und hat Gleichheit nicht als Ziel, sondern die Ungleichheit wird ebenso reproduziert wie bei der einkommensbezogenen sozialen Sicherung.120 Auch hier ist wieder auffällig, dass die Verfechter des Universalismus
119 White-Collar im weiten Sinne ist dem deutschen Typus des Angestellten ähnlich, durch die unterschiedlichen Systeme der industriellen Beziehungen gibt es jedoch keinen adäquaten deutschen Ausdruck. 120 Beim Flatrate-Prinzip sind sowohl ehemalige Gering- als auch ehemalige Besserverdiener gleichgestellt, sowohl bei den Beiträgen als auch den Leistungen im Falle von z. B. Arbeitslosigkeit. Aber für Personen mit mittleren oder gar guten Einkommen vergrößert sich unmittelbar die Ungleichheit zu ihrer vorherigen Lebenslage. Bei der einkommensbezogenen Sozialversicherung sind die Beiträge ungleich, ebenso die Leistungen. Im Falle von Arbeitslosigkeit ist man aber weiterhin relativ gleich zu seiner Lebenslage, da man auch höhere Leistungen bekommt. Hier ist man also ungleich gegenüber anderen Beziehern von Arbeitslosenunterstützung. Kurz: Ungleichheit und Gleichheit sind in beiden Systemen vorhanden, sie beziehen sich jedoch auf verschiedene Dimensionen.
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und des Minimumprinzips mit der britischen liberalen Tradition, wie sie Beveridge formuliert hat, koinzidieren.121 In der Wirtschaftspolitik sollten Interventionen in die Wirtschaft, aktive Fiskal- und Geldpolitik gleichzeitig Wachstum, Vollbeschäftigung und angemessene Löhne hervorbringen, der Wohlfahrtsstaat und eine progressive Steuerpolitik für soziale Gerechtigkeit sorgen. Die Regierung Wilson war (wieder einmal) ein Beispiel dafür, wie die britische Wirtschaftspolitik das Bild eines liberalen Kapitalismus durchbrochen hat, denn sie war gerade in ihren Anfangsjahren „highly interventionist“ (Harris 2000: 36). Zwar blieben in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg die industriellen Beziehungen nach dem Prinzip des Free Collective Bargaining organisiert und weiterhin in ihrem Aushandlungsprozessen fragmentiert, aber es entwickelten sich Formen des Korporatismus, die untypisch für liberale Marktwirtschaften waren. Bereits die konservative Regierung unter Harold Macmillan (1957–1963) hatte mit dem National Economic Development Council ein tripartistisches Instrument zur korporatistischen Steuerung entworfen. Die Wilson Regierung baute darauf auf, indem sie mit den Gewerkschaften eine „freiwillige“ Lohnzurückhaltung vereinbarte, um die Inflation zu dämpfen (vgl. Tomlinson 2005: 581; Busch 2006: 417).122 Wilson setzte als zentrale Planungseinheit das Department of Economic Affairs (DEA) ein, das einerseits als Gegengewicht zum Schatzamt wirken und andererseits die anderen, teilweise neu geschaffenen Institutionen und Körperschaften zur Planung koordinieren sollte. In der Praxis war die Planung der Labour Party weder etatistisch noch dirigistisch, sondern – soweit dieser Begriff dafür tauglich ist – liberal (vgl. Anderson 1964a: 16).123 Im Gegensatz zur französischen Praxis des Etatismus war die Planung konsensual ausgerichtet und hatte keine wirklichen Sanktionsmechanismen (vgl. Hall 1986: 54). Die Planungsinstitutionen waren nicht mandatorisch, sondern hinweisend. Sie fügten Informationen zur Erwartungsabstimmung zusammen und machten Vorschläge für ein abgestimmtes Verhalten der Unternehmen, der Gewerkschaften und des 121 Diese unterschiedlichen Deutungen sind als Teil des politischen Paradigmas der Labour Party zu verstehen, weniger als Realanalyse der Gerechtigkeit im britischen Wohlfahrtsstaat. Von seiner Anlage ist ein universalistisches Modell zwar als „umverteilender“ als das konservativ-korporatistische Modell der beitragsbezogenen Lebensstandardsicherung deutscher Prägung, aber der – bei den Leistungen ohnehin extrem niedrige – Universalismus britischer Prägung ist deshalb nicht gleich „gerechter“, da ein gleicher Beitrag die ökonomisch Schlechtergestellten relativ mehr belastet als die ökonomisch Bessergestellten (vgl. Thane 2000: 100f). 122 Zu Frühformen des Korporatismus in Großbritannien vgl. Shaw (1996a: 28). 123 Anders die Einschätzung von Harris: Es war ein „shift towards a much more centralized, dirigist, socialized economy than had been attained by Labour in the post-war years (Harris 2000: 36).
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Staats, um das Wirtschaftswachstum zu fördern und „das Gemeinwohl“ zu mehren: „This mode of planning did not involve any significant transgression of the market order or business autonomy but sought to enhance the competitive position of British industry in domestic and foreign markets by intensified and institutionalized collaboration between government and industry“ (Shaw 1996a: 74).
Die Erfolge der Planung waren beschränkt. Das Ziel der Outputsteigerung um 25 Prozent bis 1970 wurde verfehlt, die Stahlindustrie wurde nicht renationalisiert und die angestrebten Produktivitätssteigerungen wurden nicht erreicht. Lediglich einige industrielle Zusammenschlüsse und eine Förderung bestimmter Sektoren des verarbeitenden Gewerbes124 konnte man hervorbringen. Insgesamt war der Planungsversuch „high-profile policy with rather less substance“ (Tomlinson 2000: 62). Die Planungsbemühungen stießen bald auf wirtschaftliche – bisher nicht gekannte – Probleme. Bereits Mitte der 1960er Jahre sollten die ersten Vorboten vom Ende des großen kapitalistischen Booms die sozialdemokratischen Regierungen erreichen. Die Stop-and-go-Politik der konservativen Vorgängerregierung hatte die Handelsbilanz weiter ins Defizit rutschen lassen. Um die britische Wirtschaft global wieder wettbewerbsfähig werden zu lassen und das Pfund zu stärken, beschloss die Labour-Regierung einen deflationären Haushalt. So geriet die Wirtschaft aber selbst wieder in den Stop-and-go-Kreislauf, da durch die deflationäre Politik das Wachstum hinter den Erwartungen zurückblieb und die Arbeitslosigkeit stieg. Gleichzeitig waren die an höheren Wachstumserwartungen orientierten Lohnabschlüsse nach Meinung der Labour-Regierung deutlich zu hoch und sie griff zum Mittel der Lohnpolitik, 1966 sogar zu einer gesetzlichen Lohnrichtlinie mit Obergrenzen für Lohnerhöhungen. Zwar konnte sie die TUC-Führung auf der Basis historischer Loyalitäten für diesen Kurs gewinnen, auch wenn es eine starke Opposition innerhalb der Mitgliedsgewerkschaften gab (vgl. Panitch 1976: 63–84). Die dezentrale Ordnung der britischen Gewerkschaftslandschaft verhinderte aber eine nachhaltige Einflussnahme des TUC und es kam zu wilden Streiks und einer Lohndrift; so stark, dass die LabourRegierung 1968 das Mittel der gesetzlichen Lohnpolitik sogar fürs Erste ganz aufgab (vgl. Scharpf 1987: 100).
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Der berühmte keynesianische Ökonom Nicholas Kaldor hatte hierfür eine Steuer entworfen.
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Im Ergebnis erreichte die Labour Party keines ihrer Ziele in der Wirtschaftspolitik. Sie konnte Wachstum und Investitionen nicht auf ein höheres Niveau heben, das Verhältnis zu den Gewerkschaften hatte sie durch die Einkommenspolitik stark belastet, und am Ende musste sie – gegen ihren Willen – 1967 auch noch das Pfund abwerten, da sie das Leistungsbilanzdefizit sonst nicht in den Griff bekam. Allerdings betrieb sie trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten eine für heutige Verhältnisse expansive und ehrgeizige Sozialpolitik, die sie gemäß des keynesianischen Produktivismus (vgl. Kapitel 4) als Element zur Erreichung von sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Nützlichkeit durch Nachfragestimulierung sah. Die sozialpolitische Bilanz fiel besser aus: Die Labour Party hatte seit 1964 den Wohlfahrtsstaat vor allem quantitativ ausgebaut und auch die Besteuerung sozial gerechter gestaltet, indem Vermögen stärker besteuert wurden (Whiting 1998).125 Die Bilanz hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit war durchaus erfolgreich. Es wurde nicht nur mehr Chancengleichheit durch einen besseren Zugang zu Bildung geschaffen, sondern die Ungleichheit insgesamt verringert. Durch die Kombination von progressiver Besteuerung und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen – u. a. Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe, Familienunterstützung bzw. Kindergeld, National Health Service und Bildungsausgaben – verbesserte sich die reale Einkommensposition des unteren Teils der Gesellschaft; die Ungleichheit der Einkommen schrumpfte ebenso (vgl. Stewart 1972). Man kann also durchaus davon sprechen, dass die Gerechtigkeitsvorstellungen des politischen Paradigmas der damaligen Labour Party ihren Niederschlag sowohl in den Policies als auch in den Ergebnissen gefunden haben. Freilich, den demokratischen Sozialismus hat sie nicht erlangt, sie hat es auch nicht versucht. Deshalb ist sie ihrem eigenen Anspruch als sozialistische Partei nicht gerecht geworden, doch in der beschränkten Perspektive, wonach der Kern damaliger sozialistischer Parteien ohnehin nicht länger im Ziel des Sozialismus, sondern in der Politik abgefederter Märkte liegt, lässt sich sagen, dass ihre Gerechtigkeitsvorstellungen in konkrete Politik übersetzt wurden. Doch im wohlfahrtsstaatlichen Expansionskurs waren bereits die Vorboten der späteren Krise zu erkennen. Die spezielle Einbettung Großbritanniens in die Weltwirtschaft ließ auch in der Labour Party die Präferenz für ein starkes Pfund die Ziele Wachstum und soziale Gerechtigkeit dominieren. Die Rolle des Pfunds als zweite Reservewährung war enorm wichtig, das Ringen um seine Stärke zeigte aber auch, dass globale Institutionen wie der IWF – durch Kredite – im125
Die Umverteilungseffekte der Vermögensbesteuerung blieben jedoch durch die vielen Ausnahmen begrenzt (vgl. Shaw 1996a: 92).
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mer stärkeren Einfluss auf die britische Politik bekamen. Und die WilsonRegierung war trotz ihrer sozialpolitischen Erfolge, die sie vor allem durch Steuererhöhungen finanziert hatte, immer geneigt, den Interessen der City und der „Nation als Ganze“ durch eine Politik für ein starkes Pfund zu folgen (vgl. ebd. : 93–105; 1947; Thompson 1996a: 191–94). So stieg sie schon vor 1970 in eine Politik ein, die sie in Konflikt mit ihrer eigenen Anhängerschaft bringen sollte. Hatte sie 1964 noch die Einkommensteuer erhöht, wurden in den Folgejahren vor allem die indirekten Steuern (z. B. auf Alkohol, Tabak und Autos) erhöht, die die Klientel der Labour Party relativ stärker belasteten. Dazu kam die ungeliebte Einkommenspolitik wie auch die Regelung der industriellen Beziehungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg stärker dezentralisiert worden waren und an Streikhäufigkeit gewonnen hatten (vgl. Howell 2005: 131– 173). Dies wurde von vielen Seiten, zum Teil auch vom TUC, als Belastung für die Modernisierung der britischen Wirtschaft gesehen. Jedoch sollte der Versuch der Labour-Regierung die Arbeitsbeziehungen neu zu ordnen und das Streikrecht zu modifizieren, zu einer drastischen Entfremdung mit den Gewerkschaften führen. Die erhöhte staatliche Regulation und sogar die Möglichkeit zur direkten Intervention erregte solch einen Unmut, dass der Plan wieder zurückgezogen werden musste (vgl. Kastendiek 1999: 336–41). 5.2 Keynesianischer Korporatismus: Die SPD Im Gegensatz zur Labour Party war die SPD nach dem Krieg Oppositionspartei, und sie war dies mehr als 20 Jahre, bis sie 1966 als kleinerer Partner in die große Koalition eintrat. Die 1945 wiedergegründete SPD stand zunächst ganz in der Weimarer Tradition und „knüpfte dort an, wo sie im Januar 1933 aufgehört hatte“ (Walter 2002: 124). Unmittelbar nach dem Krieg hatte sie noch die Losung vom „Sozialismus als Tagesaufgabe“ ausgegeben, doch mit der Etablierung der sozialen Marktwirtschaft musste nicht nur diese Forderung aufgegeben werden, sondern es entwickelten sich strukturelle und institutionelle Gegebenheiten, an die sie sich in der Folge anpasste. Vor der Analyse des politischen Paradigmas und der Regierungspolitik der keynesianischen SPD werden deshalb die grundlegenden ordnungspolitischen und institutionellen Weichenstellungen – die soziale Marktwirtschaft und der Sozialstaat – untersucht, da sie die zentralen gesellschaftlichen Arenen darstellen, in denen die SPD ihre Präferenzen bildete.
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5.2.1 Soziale Marktwirtschaft und Sozialstaat In der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft waren die traditionellen Wirtschaftseliten (vor allem die der Stahl-, Kohle- und Chemieindustrie) auf Grund ihrer Rolle im Dritten Reich so infinit diskreditiert, dass die Marktwirtschaft als Ganze in Frage gestellt wurde. Wie breit diese gesellschaftliche Stimmung war, zeigt das Ahlener Programm (1947) der CDU, in dem sie gemeinwirtschaftliche, auf Sozialisierung zielende Positionen vertrat: „[I]n der Frage des Eigentums an Produktionsmitteln und seiner Verteilung […] bezogen CDU und SPD gemeinsame Positionen, die näher an gemeinwirtschaftlichen als an reformliberalen Ordnungsvorstellungen lagen“ (Abelshauser 2004: 187). Und in der Tat gab es in der unmittelbaren Nachkriegszeit Sozialisierungsbestrebungen in Deutschland, die auch von den britischen Besatzern – in Großbritannien regierte ja die Labour Party – unterstützt wurden.126 Die Bestrebungen scheiterten schließlich am Widerstand der Amerikaner. Deutschland war nach dem Krieg ein zerstörtes Land, aber die Systemkonkurrenz animierte die Alliierten, die Bundesrepublik ökonomisch und politisch nicht ins Hintertreffen geraten zu lassen. Mit dem Marshallplan (1947) und der Währungsreform127 begann der wirtschaftliche Wiederaufbau, der die große Boomphase der 1950er Jahre einleiten sollte. Der Koreakrieg band die Ressourcen der US-Wirtschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig die wirtschaftliche, politische und militärische Hegemonialmacht war. In der Folge wuchs die Nachfrage vor allem nach deutschen Industriegütern im Ausland, und Deutschland bewegte sich auf seine bis heute erhaltene Exportorientierung zu (vgl. Brenner 1998: 66–76; Abelshauser 2004: Kapitel 3). Das Leitbild der deutschen Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit war die soziale Marktwirtschaft. Die Formierung der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland prägte auch die SPD. Deutschland schlug nach 1948 einen im internationalen Vergleich ordnungspolitischen Sonderweg ein (vgl. Abelshauser 2004: 94–106). Nicht nur die Währungsreform, sondern ein robustes Wettbewerbsrecht und – im Gegensatz zu Großbritannien – eine von der Regierung unabhängige Zentralbank gehörten zu den wichtigsten Elementen. Die soziale Marktwirtschaft, ungeachtet ihrer Bedeutungsoffenheit, wurde sowohl als Alternative zum Laisser-faire-Liberalismus als auch zur marktwirtschaftlichen Len126 In Artikel 41 der hessischen Landesverfassung war sogar die Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum und eine öffentliche Kontrolle der Banken vorgesehen, in Nordrhein-Westfalen hatte die Landesregierung die teilweise Verstaatlichung des Kohlebergbaus beschlossen. 127 Diese war in sich jedoch eine große Enteignungs- und Umverteilungsmaßnahme, da sie den Geldbesitz entwertete und den Sachbesitz privilegierte.
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kungswirtschaft, der korporativen Marktwirtschaft der Bismarck-Zeit oder zur keynesianischen Globalsteuerung, gesehen (vgl. Cassel 1998). Die intellektuelle Fundierung für die soziale Marktwirtschaft lieferte eine Gruppe „ordoliberaler“ Ökonomen und Sozialwissenschaftler, die ihr geistig-geoprafisches Zentrum an der Universität Freiburg hatten. Zu den Ordoliberalen zählten Walter Eucken, Wilfried Röpke, Alexander Rüstow und eben auch der Schöpfer des Begriffs soziale Marktwirtschaft, der Professor für Volkswirtschaftslehre und Staatssekretär von Ludwig Erhardt, Alfred Müller-Armack. Sie hatten ihre Ideen im Wesentlichen in den 1930er und 1940er Jahren als ordnungspolitische Antwort auf die Weltwirtschaftskrise entwickelt128 und werden gemeinhin als Vertreter der deutschen Variante des Neoliberalismus betrachtet. Gleichwohl standen die Ordoliberalen für etwas anderes: die Herstellung und Aufrechterhaltung eines funktionierenden Wettbewerbs mit den Mitteln des Staats (vgl. Nawroth 1962; Foucault 2004; Ptak 2004). Das ursprüngliche Konzept der sozialen Marktwirtschaft zielte, im Kontrast zur tatsächlich vollzogenen sozialstaatlichen Expansion während der Zeit des Wirtschaftswunders, nicht auf den Ausbau einer vornehmlich sozialen Marktwirtschaft. Die soziale Marktwirtschaft sollte ein ökonomisches Ordnungsprinzip sein. Das Adjektiv „sozial“ ist von den Ordoliberalen gänzlich anders gebraucht, als es die heutige Semantik einer sozial = sozialstaatlichen Marktwirtschaft suggeriert. Sozial stand für den Staat als „handelndes Subjekt der Gesellschaft (‚societas‘), der die konkurrenzbestimmte wirtschaftliche Rahmenordnung gegen Tendenzen zu schützen hat, die der Wirtschaft selbst innewohnen“ (Buchheim 2007). Das Soziale in seiner normativen Bedeutung sollte das Ergebnis der sozialen Marktwirtschaft sein, da sie Systemregeln implementiert, die das Handeln des Einzelnen in solche Bahnen lenkt, dass das Gesamtsystem bei maximal möglicher Freiheit automatisch soziale Resultate hervorbringt. Die Ordoliberalen brechen mit der Tradition des Laisser-faire-Liberalismus. Sie gehen davon aus, dass sich aus dem Prinzip des Wettbewerbs als Organisationsform keine Laisser-faire-Politik ableiten lässt, dies sei eine „naturalistische Naivität“. Der Wettbewerb entfaltet seine Wirkung nur unter einer Reihe von Bedingungen, die aufmerksam und bewusst hergestellt werden müssen. Man braucht, so die Ordoliberalen, eine äußerst aktive Politik, eine „aktive Gouvernementalität“, in der der Wettbewerb das Ziel der Regierungskunst ist (Foucault 128 Trotz der Tatsache, dass viele, aber gleichwohl nicht alle in der Emigration während des NSRegimes waren, waren nicht unerhebliche Teile der Wirtschaftseliten in der NS-Zeit in Kontakt mit dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft gekommen, was die spätere Implementierung ungemein erleichterte (vgl. Ptak 2004).
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2004: 174).129 Beim ordoliberalen Konzept der sozialen Marktwirtschaft handelt es sich also um einen „etatistischen Liberalismus“ (Buchheim 2007). Mit den Worten von Alexander Rüstow: Der Staat soll „nicht entgegen den Marktgesetzen, sondern in Richtung der Marktgesetze“ (zit. nach Abelshauser 2004: 95) intervenieren. Gleichzeitig soll der Staat unter die Aufsicht des Marktes gestellt werden, so dass sich Markt und Staat gegenseitig begrenzen (vgl. Foucault 2000: 168–90). Die soziale Marktwirtschaft entpuppte sich als modernisierte Variante des organisierten Kapitalismus, in der ein hoher Grad an Kooperation auf der Unternehmensseite, ein ausdifferenziertes System der Banken-Industrie-Verflechtung und staatliche Intervention ordnungspolitisch institutionalisiert wurden (vgl. Lessenich 2003b: 127–31). Mit einem Wort: Sie war eine „organisierte freie Marktwirtschaft“ (Shonfield 1968: 283–312). Doch trotz der interventionistischen Neigung dauerte es in Deutschland auf Grund der anti-kollektivistischen Vorbehalte der Ordoliberalen vergleichsweise lange, bis sich der Keynesianismus in Deutschland sowohl als wirtschaftspolitische Doktrin als auch als Praxis etablieren konnte (vgl. Allen 1989; Abelshauser 2004: 297–301). Erst mit dem sogenannten Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (vgl. die nächsten Abschnitte dieses Kapitels) war der Keynesianismus auch in Deutschland angekommen. Doch die realisierte soziale Marktwirtschaft umfasste von Beginn an mehr als nur die Prinzipien der Ordoliberalen, ja sie stand sogar zum Teil im Widerspruch dazu (zum Folgenden vgl. Abelshauser 2004: 162–200).130 Die soziale Marktwirtschaft war zugleich auch eine politische Strategie innerhalb der CDU, die sich Ende der 1940er Jahre immer mehr durchsetzte (vgl. Bösch 2002). Bis das Soziale in der sozialen Marktwirtschaft sich entfaltete, sollte es noch ein paar Jahre dauern. Die Ordoliberalen bejahten zwar die Notwendigkeit staatlicher Fürsorge, waren aber gegen einen sorgenden Sozialstaat, der die Ungleichheit reduzierte. Sie waren ausdrücklich antiegalitär, denn sie sahen in der Ungleichheit den Stachel der wirtschaftlichen Dynamik. Umverteilung sollte, wenn überhaupt, zur Existenzsicherung vorgenommen und nur aus dem Mehrprodukt geschöpft werden, das ohnehin für die Konsumption der Wohlhabenden verwendet würde. Die „Entproletarisierung“ sollte nicht durch einen Sozialstaat verwirk129
Die Studien im Anschluss an den Gouvernementalitätsbegriff von Foucault wenden ihn zumeist auf die Führung zur Selbstführung der Individuen an (vgl. Lemke 2000; Lemke et al. 2000). Im zweiten Teil seiner Vorlesungen gebraucht Foucault (vgl. Foucault 2004) die Gouvernementalität allerdings im begrifflichen Kontext von polit-ökonomischen Paradigmen und Steuerungsrationalitäten wie dem deutschen Ordoliberalismus und amerikanischen Neoliberalismus. 130 Auch wirtschaftspolitisch war die Praxis der sozialen Marktwirtschaft nicht ungebrochen ordoliberal, sondern oftmals pragmatisch wettbewerbsorientiert (vgl. Hilger 2004).
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licht werden, der die Gesellschaft durch Protektionismus veröden ließe, sondern durch die Bildung von persönlichem Eigentum (z. B. in Form von Wohnungen) und individueller Vorsorge. Im Allgemeinen strebten die Ordoliberalen Eigenvorsorge statt Kollektivvorsorge, privat-individualisierte Sozialpolitik statt gesellschaftlich-solidarischer Sozialpolitik an. Das Privateigentum soll das wesentliche Instrument der Sozialpolitik sein (vgl. Foucault 2004: 204f). Trotz der liberalen Rhetorik hielt der Trend des staatlichen Sozialinterventionismus auch in den 1950er Jahren an. Die Sozialpolitik wurde ausgedehnt, da sich die Einsicht durchsetzte, dass der Markt zur Zuteilung von Vermögen und Einkommen nicht die gewünschten Ergebnisse lieferte (vgl. Abelshauser 2004: 193). Der Ausbau des deutschen Sozialstaats war inspiriert von der Expansion des britischen Pendants. Aber während in Großbritannien eine Mindestrente für alle Bürger eingeführt wurde, verlief die Reform des deutschen Rentensystems entlang der deutschen Sozialstaatstradition. Das heißt, man entschied sich für das Prinzip der Arbeitnehmerversicherung (Bismarck) und gegen das Prinzip der Staatsbürgerversicherung (Beveridge) (vgl. Lessenich 2003b: 152–57). Die Kontinuität von Weimar gab es nach 1945 auch in den Arbeitsbeziehungen: Der sozialpartnerschaftliche Weg wurde fortgeführt, es gab eine multiple Institutionalisierung des Klassenkonflikts (vgl. Lepsius 1990: 71–77): Betriebsräte, Mitbestimmung und Tarifvertragsautonomie. Im Jahr 1951 wurde die MontanMitbestimmung eingeführt, 1952 wurde das erste Betriebsverfassungsgesetz verabschiedet. Der substanzielle Ausbau des Wohlfahrtsstaats – vor allem die Rentenreform von 1957 – wurde nicht unerheblich von sozialen und politischen Überlegungen getragen. Die vorher gezahlten Sozialrenten waren ursprünglich als Zuschuss der familiären Sicherung im Alter gedacht und so karg, dass sie in der Regel bittere Altersarmut produzierten. Mit der Rentenreform von 1957 sollte die Sozialrente durch die Lohnersatzleistung ersetzt werden. Sowohl ihre sozialpolitische Wirkung als auch ihre Finanzierung brachten erhebliche Innovationen in den deutschen Sozialstaat. Das damalige Rentenniveau wurde auf einen Schlag um 60 Prozent erhöht, die Finanzierung wurde von der Kapitaldeckung auf das Umlageverfahren umgestellt und die Rente wurde dynamisiert, d. h. die jährlichen Rentensteigerungen orientierten sich an der Bruttolohnentwicklung.131 So partizipierten auch die Rentner am steigenden Wohlstand, aber gleichzeitig
131 Die SPD fokussierte ursprünglich auf das britisch-skandinavische Modell einer einheitlichen Rente, rückte aber unmittelbar vor der Reform davon ab und kam auf das deutsche Versicherungsprinzip zurück (vgl. Abelshauser 2004: 195).
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wurde durch die Koppelung an die vorangegangene Lohnhöhe die gesellschaftliche Schichtung reproduziert. Insgesamt wurde durch die Rentenversicherung erst jene Verbindung von Marktwirtschaft und sozialer Sicherung geschaffen, die unser heutiges Verständnis von sozialer Marktwirtschaft prägt. Sie war der Beginn für einen lang anhaltenden Prozess der Expansion des Sozialstaats, in dessen Folge auch immer mehr Gruppen in den Genuss sozialer Sicherheit kommen sollten. Damit wurde eine neue Etappe der Sozialpolitik eingeläutet: Denn sie änderte die dem zugrunde liegende Philosophie (vgl. Schmidt 2007a: 397f). Der Wohlfahrtsstaat sollte nicht nur die existenziellen Notlagen bekämpfen, sondern auch Schutz vor anderen Risiken bieten durch Wohngeld für einkommensschwache Familien, das Kindergeld ab dem zweiten Kind und das bundeseinheitliche Sozialhilfegesetz von 1961. Dass der Wohlfahrtsstaat überhaupt so ausgebaut wurde, war den Ordoliberalen alles andere als recht. Aber der Wirtschaftsaufschwung hatte die Staatskassen gefüllt, es gab einen hinreichenden gesellschaftlichen Bedarf, und die Sozialpolitiker von CDU und SPD hatten in dieser Zeit kaum grundlegende Differenzen. Der politische Wettbewerb zwischen CDU und SPD um die Stimmen der Rentner, aber auch vieler Wähler aus der Arbeiterschaft, für die eine echte Alterssicherung eine hohe Priorität besaß, trieb die die Rentenreform an. Es war Adenauer selbst, der seine Richtlinienkompetenz nutzte, um die Reform auch gegen innerparteiliche Widerstände im Wahljahr 1957 durchzusetzen.132 Die Reform der Rentenversicherung war ein riesiger Erfolg. Zunächst stellte der steigende Wohlstand die notwendigen Ressourcen zur Verfügung, die zu ihrer Finanzierung gebraucht wurden, zudem wirkte sie überaus integrierend in das politische System, sie schuf nicht nur soziale Sicherheit, sondern auch Legitimität (vgl. Winkler 2000a: 183). 5.2.2 Das politische Paradigma der Nachkriegs-SPD Zunächst war das politische Paradigma der SPD, die seit dem Ende des Kriegs von Kurt Schumacher geführt wurde, ganz vom marxistischen Erbe geprägt. Als in der unmittelbaren Zeit nach 1945 im kriegszerstörten Deutschland Mangel an Wohnungen, Lebensmitteln und Rohstoffen herrschte, lag für den neuen, unangefochtenen Mann an der Spitze der SPD die Lösung auf der Hand. Schumacher, der lange im KZ gesessen hatte und an dessen antifaschistischer und sozialisti-
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Die Wahl gewann die CDU triumphal mit 50,2 Prozent. Ein Ergebnis, das sie seitdem nie wieder erreicht hat.
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scher Integrität es keinerlei Zweifel gab, führte die SPD mit harter Hand und pathetischem Parteimarxismus. Er forderte „die Überführung der Produktionsmittel aus der Hand der großen Besitzenden in gesellschaftliches Eigentum, die Lenkung der gesamten Wirtschaft nicht nach privaten Profitinteressen, sondern nach den Grundsätzen volkswirtschaftlicher Planung“ (zit. nach Klönne 1989: 298).
Die Weimarer Sozialdemokratie lebte fort, allerdings mit dem Unterschied, dass der Marxismus als Theorie und Weltanschauung weiter Bestand hatte, aber die von Hilferding geprägte Ausdeutung des organisierten Kapitalismus nahezu völlig an interpretativer Kraft verloren hatte. Die Gründe liegen auf der Hand: Die Annahmen von der tendenziellen Stabilität des Kapitalismus und der Vorstufe der Monopole zum Sozialismus hatten sich in der Weltwirtschaftskrise in Luft aufgelöst. Die Erfahrung des Faschismus hatte viele Sozialdemokraten davon überzeugt, dass gerade die konzentrierte wirtschaftliche Macht der Monopole den politischen Aufstieg des NS-Regimes überhaupt erst möglich gemacht hatte: „Was ehemals als höchste Entwicklungsstufe des Kapitalismus galt, war nun eine reaktionäre Abart. Aus der Präferenz für Organisation wurde die Integration der Wettbewerbspolitik“ (Höpner 2004: 211).
Die neue Zeitdiagnose nach 1945 war die alte – vor Hilferding. Durch die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise und der praktischen Widerlegung des HilferdingParadigmas, kehrte man zu dem alten Parteimarxismus zurück, der schon bald die Wiederkehr einer tiefen Krise prognostizierte (vgl. Walter 2002: 128). Gleichzeitig wurden mit dem Abschied vom organisierten Kapitalismus auch die Vorteile des Marktes als Steuerungselement entdeckt: „Mit der Entwicklung von Konkurrenz zum Monopolkapitalismus verliert der Kapitalismus seine automatische Selbststeuerung. Die industriellen Monopole zerreißen die Steuerkette und das Schiff der Wirtschaft treibt steuerlos einem unabsehbaren Schicksal […] entgegen“ (SPD 1947: 3).133
Mit anderen Worten: Nach dem Zweiten Weltkrieg bevorzugte die SPD den Markt als Steuerungsinstrument und lehnte den organisierten Kapitalismus bzw.
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Diese Position verkehrte die von Engels und Luxemburg vertretene Position, dass der Kapitalismus in erster Linie ein anarchistisches System sei, in ihr Gegenteil.
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– man bezeichnete es mittlerweile anders – den Monopolkapitalismus als politisches Entwicklungsmodell rundweg ab. Unter der Führung ihres wirtschaftspolitischen Vordenkers Viktor Agartz setzte die SPD auch nach dem Krieg auf einen etatistischen Reformismus, wie der „Kapitalismus evolutionär über den Staat zu verändern sei“ (Huster 1978: 37). Die Staatseingriffe visierten schon zu diesem Zeitpunkt nicht die Sozialisierung der Gesamtproduktion an, sondern unterschiedliche Eigentumsformen sollten nebeneinander existieren. Dort wo freie Konkurrenz noch gewährleistet sei und es keine Monopolrenten gebe, erübrige sich „strukturveränderndes Eingreifen“ (ebd.).134 Ferner entwickelte auch die SPD die Zeitdiagnose des „managerial capitalism“. Man ging davon aus, dass sich die Rolle des Privateigentums an den Produktionsmitteln abschwächte und dass die Sozialfigur des Managers nicht das Klasseninteresse vertrete wie der ursprüngliche Fabrikbesitzer. Mit der Ablösung der Einzelunternehmung durch die gesellschaftliche Unternehmung – was nicht identisch ist mit einer Monopolisierung – „löst sich im Zeichen der Aktiengesellschaft die Leitungsfunktion von der Besitzfunktion“ (SPD 1947: 4). Deshalb schwächt sich der Klassengegensatz nach dieser Zeitdiagnose langfristig ab. Auf der anderen Seite gab es klare Präferenzen für Lenkung, Planung und Sozialisierungen in den ersten programmatischen Dokumenten zur Wirtschaftspolitik (SPD 1947, 1950).135 Letztendlich war die politische Ökonomie nach 1945 insgesamt äußerst widersprüchlich. Denn die Steuerungspräferenzen der politischen Ökonomie waren nun Planung und Markt, eingebettet in den theoretischen Rahmen eines Parteimarxismus.136 In der neugegründeten SPD fanden sich nicht nur Parteimarxisten, sondern es strömten auch all jene wieder in die Partei zurück, die sie Ende der 1920er Jahre im jugendlichen Zorn, aus Ärger über die sterile Fantasielosigkeit der Parteiführung, verlassen und sich linkssozialistischen Gruppierungen angeschlossen hatten (vgl. Klönne 1989: 297). In der Weimarer SPD spielten sie gegenüber der dominanten Koalition aus zentristischen und revisionistischen Parteimarxisten nur eine marginale Rolle. Bis dieses dissidente Reservoir in der Partei sich ent134 Agartz verlagerte implizit die Ausbeutung nur auf die Monopole, da dort Monopolrenten erzeugt würden (vgl. Huster 1978: 40). 135 Die von Kurt Schumacher verfassten Politischen Richtlinien für die SPD in ihrem Verhältnis zu anderen politischen Faktoren (1945) enthielten keinerlei Bemerkungen über die politische Ökonomie oder über soziale Gerechtigkeit – außer der Forderung nach der unmittelbaren Einführung des Sozialismus. 136 Dies war aber nicht gleichbedeutend mit dem Marxismus in der späteren DDR. Kurt Schumacher führte die SPD auf einen strikt antikommunistischen Kurs und lehnte einen Zusammenschluss mit den Kommunisten ab. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg verstand sich die SPD als Dritter Weg zwischen östlichem Sozialismus und westlichem Kapitalismus (vgl. Huster 1978: 29f).
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falten konnte, sollten noch ein paar Jahre vergehen. Ihr heterodoxes Denken machte sie offen für alternative Denkansätze, und viele von ihnen kamen im Exil mit keynesianischem Gedankengut in Berührung. Verschiedene Formen eines „freiheitlichen Sozialismus“ (vgl. Grebing 2005: 372–400) konvergierten in der keynesianischen politischen Ökonomie, in der sie das geeignete Instrument sahen, „eine planvolle Lenkung der Wirtschaft bei prinzipiell marktwirtschaftlicher Wirtschaftsordnung zu verwirklichen“ (Abelshauser 2004: 101). Keynesianische Vorstellungen waren sowohl bei den der SPD nahe stehenden Wissenschaftlern – etwa Richard Löwenthal – als auch bei vielen Wirtschaftstheoretikern und politikern der Partei schon in den 1940er Jahren verbreitet (Held 1982). Auch die sich selbst als Marxisten verstehenden Teile sahen keinen unbedingten Widerspruch zwischen dem Parteimarxismus und Keynesianismus – solange beides auf Sozialisierungen hinauslief. Jedoch drangen diese Positionen noch nicht durch. Es waren die Positionen bestimmter (Führungs-)Zirkel, aber mehr noch nicht. Durch eine gute Vernetzung konnten sie hinter den Kulissen an ihren Reformideen arbeiten, „wenngleich die Darstellung der wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Arbeiterbewegung in der Öffentlichkeit weitgehend von verbalem Marxismus geprägt wurde“ (Abelshauser 2004: 101). Abelshauser sieht in der Sprache der Planung nur noch eine Oberflächenentscheidung, unter der längst – durch das Mitwirken der freiheitlichen Sozialisten in den Programmkommissionen – der Keynesianismus sich breitgemacht habe (vgl. Abelshauser 2004: 101, 162). So vertrat Viktor Agartz auf dem Parteitag von Hannover 1946 die Position: „[I]n der sozialistischen Planwirtschaft sieht die SPD nicht einen Selbstzweck […] Unter Einbau marktwirtschaftlicher Elemente des Wettbewerbs muss die Planung unbeschadet ihres umfassenden Charakters mehr und mehr zu den Methoden der indirekten Lenkung übergehen“ (zit. nach Abelshauser 2004: 101).
Abelshauser sieht sogar trotz der weltanschaulichen Unterschiede eine gewisse Nähe zwischen den interventionistischen Ideen von Müller-Armack und der keynesianisch inspirierten Politik der indirekten Steuerung, die schon zu Beginn der 1950er Jahre trotz des „verbalen Marxismus mancher Funktionäre in der Provinz […] den Kern der wirtschaftspolitischen Alternative der SPD“ (Abelshauser 2004: 163) ausgemacht hatten. Hier verallgemeinert Abelshauser allerdings zu stark von den pragmatischen Herangehensweisen führender sozialdemokratischer Wirtschaftspolitiker und der Bedeutung des Keynesianismus. Denn, es wurde bereits in Kapitel 4 erwähnt, der Keynesianismus hat mit dem 137
Marxismus eine sowohl theoretische wie praktische Kommensurabilität – auch Keynes sprach davon, dass es in letzter Instanz um die „Sozialisierung der Investitionen“ gehen könnte. Es handelte sich bei den frühen keynesianischen Einflüssen um Hybridformen aus Marxismus und Keynesianismus, ein marktwirtschaftlicher Keynesianismus, wie Karl Schiller ihn später durchsetzte, hat eine gänzlich andere Qualität. Dies zeigt sich auch in den wirtschaftspolitischen Dokumenten der Nachkriegsjahre. In den Leitsätzen zum Wirtschaftsprogramm der sozialdemokratischen Partei (1947) oder in Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik (1950) dominiert der Sozialisierungsgedanke, gleichwohl schon dort eine gemischte Wirtschaft angestrebt wird. In diesen beiden Dokumenten spiegelt sich bereits der Trend, der schon in der Prinzipienerklärung der sozialistischen Internationale (vgl. Kapitel 4) zu erkennen war: Mit der Akkommodation in der Marktwirtschaft tritt die Frage der sozialen Gerechtigkeit mit Wucht auf die Tagesordnung. Eine klare Linie in den Dokumenten ist nicht wirklich erkennbar: Sowohl egalitäre Verteilungsgerechtigkeit, das Minimumprinzip, Leistungsgerechtigkeit als auch eine umfassende Chancengleichheit sind zu finden. Politische Ökonomie und Gerechtigkeit gehören auch hier zusammen: „Die Sozialdemokratie fordert die Lenkung der Produktion, um die gerechte Verteilung zu ermöglichen“ (SPD 1950: 6). Gerechtigkeit sollte zudem in der Angebotsstruktur, den gerechten Preisen auf „gerechter Grundlage, nämlich den Produktionskosten“ (ebd.:, 5), geschaffen werden. Keynesianische Gedanken sind kaum zu finden, aber die soziale Gerechtigkeit ist explizit an eine Arbeitsgesellschaft gekoppelt, die Lohnarbeit verallgemeinert: „Der Gedanke der Arbeit steht im Mittelpunkt des sozialistischen Lebens und daher auch im Zentrum unserer Wirtschaftsforderungen […] [D]as Recht auf Arbeit ist das Grundrecht sozialistischer Wirtschaftsverfassung […] Allerdings entspricht dem Recht auf Arbeit die Pflicht zur Arbeit“ (SPD 1947: 12).
Dieser Überblick über das politische Paradigma der SPD unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hat gezeigt, dass sie zwar noch marxistisch geprägt, aber gleichzeitig schon heterodox und pragmatisch war. Kurt Schumacher hielt pathetisch am Marxismus fest, war sich aber völlig darüber im Klaren, dass er auch die Mittelschichten für die SPD gewinnen musste, wollte er die Sozialdemokratie zur legitimen Mehrheitspartei machen. Gleichwohl, es gelang ihm nicht.137 Die SPD blieb isoliert und konnte nicht in die Gesellschaft ausgreifen. Im Jahr 1952 137
Allerdings hatte die SPD bis 1957 nicht mal die absolute Mehrheit der Arbeiterstimmen (vgl. Lösche/Walter 1992: 90–92).
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übernahm Erich Ollenhauer die Partei. Auch ihm glückte es nicht, die SPD aus dem 30-Prozent-Turm herauszuführen. Auch fehlte ihm das Charisma, die Tradition Schumachers weiterzutragen. An vielen Stellen der Partei strömten Reformer, die pragmatischer waren, auf einflussreiche Positionen. Die Ergebnisse bei den Bundestagswahlen waren ernüchternd, und wie so oft sind Niederlagen das Schwungrad für Veränderungen. Aus unterschiedlichen Quellen kamen die Impulse: Von Kommunalpolitikern, die lokal seit 1945 Ämter innehatten, aber auch von weltanschaulich pragmatisch oder keynesianisch ausgerichteten Kreisen. Dazu gehörten – neben vielen anderen – Leute wie Heinrich Deist, Willi Eichler, Carlo Schmid, Heinrich Albertz oder Waldemar von Knoeringen, die allesamt, indes von verschiedenen Ausgangspunkten, eine programmatische Weiterentwicklung sowie die Öffnung für andere soziale Gruppen forderten. Einer von ihnen war Karl Schiller, der spätere Finanzminister und „Superminister Willy Brandts“ (Lütjen 2007). Schiller stand Anfang der 1950er Jahre noch nicht in der ersten Reihe, aber er traf das Bedürfnis vieler Sozialdemokraten, stärker keynesianische und marktwirtschaftliche Ideen in die eigene Programmatik zu integrieren. Als Schumacher im August 1952 starb, gab es zwar schon länger eine Programmkommission, aber diese hatte kaum gearbeitet, kaum getagt. Bereits Anfang der 1950er Jahre hatte der Keynesianismus unter den Wirtschaftspolitikern der SPD eine starke Stellung, aber es fehlte ihm eine programmatische Kodifizierung. Diese kam nur wenige Jahre später und war für damalige Verhältnisse radikal. Die Person, die diese Wendung leidenschaftlich und mit großer intellektueller Anstrengung betrieb, war Schiller (Hochstätter 2006). „Er war der Erste, für den sozialdemokratische Wirtschaftspolitik und Keynesianismus völlig identisch waren“ (Held 1982: 220). Der Keynesianismus, den Schiller verfocht, war keiner, der viele Gemeinsamkeiten mit dem Marxismus hatte, sondern jener der „neoklassischen Synthese“, die Keynes in die neoklassische Theorie zurückbettete (vgl. Held 1982: 238).138 Schiller setzte sich dafür ein, dass dem Wettbewerb als Lenkungsprinzip soweit wie möglich Raum gegeben wurde (vgl. Grebing 2005: 416–21). Diese Position brachte er in das Dortmunder Aktionsprogramm von 1952 ein, spitzte sie aber in den folgenden Jahren weiter zu (vgl. Held 1982: 249–57). Auf einer Tagung in Bochum stellte er im Jahr 1953 die Formel vor, die wie keine andere die politische Ökonomie und wirtschaftspolitischen Präferenzen der SPD bis heute prägen sollte:
138 Es war auch diese Nähe zu den neoklassischen Theorien, die Schiller enger an die wirtschaftspolitische Konzeption der CDU als an den Marxismus rücken ließ. Nach 1972 warb er sogar zeitweilig mit Ludwig Erhardt für die CDU und die soziale Marktwirtschaft.
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„Wettbewerb so weit wie möglich, Planung so weit wie nötig.“
Drei wesentliche Charaktermerkmale sind durch diese Formel symbolisiert. Erstens der Verzicht auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, zweitens die Anerkennung des Privateigentums und drittens: die Bevorzugung des Steuerungsmechanismus Markt vor dem Staat. Aber es war noch mehr, denn dieser – in diesem Fall ist der Begriff tatsächlich angemessen – Paradigmenwechsel in der politischen Ökonomie war nicht nur Übergang zum Keynesianismus, sondern gleichzeitig auch die Einverleibung zentraler Elemente des wirtschaftlichen Liberalismus deutscher Prägung, des Ordoliberalismus. Es war „die Annahme dessen, was sich schon als wirtschaftlich-politischer Konsens des deutschen Liberalismus vollzogen hatte“ (Foucault 2004: 132). Ordnungspolitisch war für Schiller der Wettbewerb ein Prozess, der „durch ständige politische Eingriffe effizient gehalten werden muss“ (zit. nach Grebing 2005: 420), was exakt der Logik des liberalen Etatismus der Ordoliberalen entspricht. Im Dortmunder Aktionsprogramm waren zahlreiche Elemente der sozialen Marktwirtschaft übernommen: Leistungswettbewerb, Monopolkontrolle und eine rahmende staatliche Tätigkeit. Man adaptierte die Strukturbedingungen der Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit und übertrug sie in die eigene Programmatik (vgl. Held 1982: 242). Gleichwohl war Schiller ein Keynesianer, der über die „Rahmenplanung“ und „Globalsteuerung“ eine interventionistische, makrosteuernde politische Ökonomie verfolgte, die im Gegensatz zum ordoliberalen Denken und zur Wirtschaftspolitik der CDU stand (vgl. Huster 1978: 169–71). Die von Schiller geprägte politische Ökonomie der SPD war, in Kurzform, eine Synthese aus keynesianischer Stabilisierungspolitik und ordoliberaler Ordnungspolitik. Im Vergleich zur Labour Party versuchte sie, Sozialisierungen zur Residualgröße für jene Fälle zu machen, in denen der Markt keine befriedigenden Ergebnisse lieferte. Der größte Unterschied zu den Ordoliberalen war die Kombination mit einer expansiven Sozialpolitik und den Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, die massive Umverteilung bedeuteten. Die Gerechtigkeitskonzeptionen des Dortmunder Aktionsprogrammes (vgl. SPD 1952/54) reichten von Verfahrensgerechtigkeit bis zur umfassenden Chancengleichheit („Gleichheit wirtschaftlicher Startbedingungen“, ebd.: 257), der Kombination aus Verteilungs- und proportionaler Leistungsgerechtigkeit („gerechte Verteilung des volkswirtschaftlichen Ertrages“, ebd.: 257) sowie dem Minimumprinzip. Es war praktisch „alles drin“ an Gerechtigkeitskonzeption.139 139
Die meisten Gerechtigkeitsdiskussionen wurden erst in der Berliner Erweiterung eingefügt. Zu den unterschiedlichen Fassungen vgl. Münkel (2007b: 239–41).
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Die Formel Wettbewerb so weit wie möglich, Planung so weit wie nötig fand auf Grund des Drucks von Schiller Eingang in die 1954 durchgeführte Überarbeitung des Dortmunder Aktionsprogramms. Dieses war ein Mittelweg zwischen Wahl- und Aktionsprogramm. Es enthielt sich grundsätzlicher Wertaussagen und Zielvorstellungen, sondern umriss relativ konkret die Politik einer möglichen, von der SPD geführten Regierung. Dieser vorläufige Charakter, der auch noch keine Einbeziehung der verschiedenen Ebenen der Partei erforderte, bereitete das Grundsatzprogramm von Bad Godesberg ideal vor. Bis 1957 war nur ein Anschwellen der Lautstärke der Kritik, ein Streit um die sozialistischen Symbole zu vernehmen. Aber 1957 demütigte die AdenauerCDU die SPD, als sie mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielt – fast 20 Prozent mehr als die SPD. Es waren nun nicht länger einzelne Kritiker, sondern die ganze Partei, die erschüttert war. Und die Gruppe der Neuerer hatte sich seit 1953 „erheblich erweitert, und sie war innerhalb der Partei zu einem Machtfaktor geworden. Ihr gehörten mittlerweile viele Oberbürgermeister und Ministerpräsidenten an, die bei Wahlen eindrucksvolle Erfolge erzielt hatten“ (Walter 2002: 147). Der entscheidende Durchbruch gelang den Reformern auf dem Parteitag 1958 in Stuttgart, als der besoldete geschäftsführende Vorstand als Institution abgeschafft und stattdessen ein größeres und breiteres Präsidium gewählt wurde. Damit war die alte Parteizentrale, die personelle Verkörperung der Traditionskompanie Weimars, abgelöst und das Kraftfeld der Partei verschob sich auf das Präsidium und die Bundestagsfraktion (vgl. Oertzen 1996: 21–24). Das Programm von Bad Godesberg hatte viele Väter, zentral waren der ethische Sozialist Willy Eichler und Wirtschaftsfachmann Heinrich Deist, der zu den „neokonservativen“ Jungsozialisten der Weimarer Zeit gehört hatte140, die gemeinsam den Abschied vom marxistischen Alleinstellungsmerkmal und den Wandel zur Volkspartei organisierten. Über diesen Wandel ist schon reichlich geschrieben worden (vgl. u. a. Potthoff/Miller 2002; Lehnert 1983; Oertzen 1996; Walter 2002; Lösche/Walter 1992; Miller 1976b; Heimann 1984; Grebing 2005, 2007). Deshalb sollen nur einige wenige Aspekte herausgehoben werden. Das Programm von Bad Godesberg markierte die Durchsetzung einer neuen dominanten Koalition aus Sozialreformern und ethischen Sozialisten, während Traditionalisten und Marxisten an Einfluss in der Partei verloren.141 Es markierte 140 Zu ihren geistigen Einflüssen vgl. die Darstellung in Grebing (2005: 423–31) und Lösche/Walter (1992b: 110–15). 141 Die beiden wichtigsten Kritiker am Godesberger Programm waren Wolfgang Abendroth und Peter von Oertzen. Während Abendroth sich vehement gegen den Abschied vom Marxismus und vor allem eine unzureichende Klassenperspektive wendete, er schrieb sogar einen alternativen Programmentwurf (vgl. Abendroth 1967: 407–28), war für Oertzen die SPD längst keine marxistische Klassenpar-
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das Ende des sozialistischen Gedankens, wie er noch in der Weimarer Periode existiert hatte (vgl. Abendroth 1967: 452). Der Vorsitzende Ollenhauer trug den Wandel von Godesberg mit, um die Partei intakt zu halten. Seine Leistung war, dass er die Traditionalisten weiter „bei der Stange hielt, als die Reformer die Oberhand“ gewannen (Walter 2002: 135).142 Godesberg war kein radikaler Bruch in der SPD von 1959, es war ein Bruch mit dem Erbe der Grundsatzprogramme – das Heidelberger Programm von 1925 war ja formell immer noch gültig. Godesberg war die Kodifizierung einer programmatischen und strategischen Ausrichtung der Partei, die sich bereits in den letzten Jahren herausgebildet hatte. Das neue Programm, das die SPD in Bad Godesberg verabschiedete, machte diese Veränderungen „nach außen nur deutlich“ (Huster 1978: 171).143 Der sozialphilosophische Ausgangspunkt des Programms sind die „Grundwerte“ Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, die vor allem von Heinrich Deist formuliert wurden.144 In dieser ethischen Herleitung unterscheidet sich das Godesberger von allen vorangegangen Grundsatzprogrammen, die noch marxistisch begründet waren. Kaum zu glauben, aber der Begriff soziale Gerechtigkeit145 kam hier zum ersten Mal in einem Grundsatzprogramm vor. Der Begriff der (sozialen) Gerechtigkeit im Programm von Bad Godesberg ist mehrdimensional und nicht auf eine „Gleichheit im Ergebnis“ ausgerichtet. Zwar gibt es so etwas wie eine egalitäre Gesamtausrichtung darin (SPD 1959), aber diese ist insgesamt vage, es wird „eine gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung“ (ebd.: 226) angestrebt. Daneben stehen Forderungen nach Chancengleichheit und proportionaler wie auch solidarischer Leistungsgerechtigkeit. Allerdings ist die umfassende Chancengleichheit (= Gleichheit der Ausgangsbedingungen) aus dem Dortmunder Aktionsprogramm von 1952/54 nicht mehr enthalten, und das Minimumprinzip ist nur auf die Alterssicherung bezogen. Leistungsgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit waren wichtige Fragen, aber mit dem nun vollzogenen Bruch mit der Vergangenheit war auch die umfassende Chancengleichheit tei mehr, sondern eine soziale Reformbewegung. Die Reformperspektive sei allerdings im Godesberger Programm zu wenig durchdacht (vgl. Oertzen 1959). 142 Einige der Reformer wie Willy Brandt, Helmut Schmidt und Fritz Erler hatten jedoch Bedenken, ein vollständig neues Grundsatzprogramm zu entwicklen, um die Partei nicht in Aufruhr zu bringen. Eine unnötige Vorsicht, die aber in der Labour Party sinnvoll gewesen wäre. 143 Zudem hatte man im Görlitzer Programm (1921) schon wichtige Elemente vorgedacht. 144 Ein anderer Aspekt, der noch Beachtung verdient, aber nicht unter das eigentliche Thema dieser Arbeit fällt, ist der Begriff der Eigenverantwortung im Godesberger Programm. Denn dort ist der begriffliche Zugriff gänzlich anders: Ist heute der Diskurs von der Pflicht zur Eigenverantwortung bestimmt, ist im Godesberger Programm der Tenor ein „Anspruch auf Selbstverantwortung“. 145 In diesem Programm wird – bis auf eine Ausnahme – von Gerechtigkeit ohne das Beiwort „sozial“ gesprochen.
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aus dem Programm verschwunden. Wahrscheinlich auch aus dem Kalkül, nicht als Partei der „Gleichmacher“ dazustehen. Im Godesberger Programm spiegelt sich auch, dass es inmitten des Wirtschaftswunders verfasst wurde. Für eine Politik der Gerechtigkeit, darin wird kein Zweifel gelassen, ist ein „stetiger Wirtschaftsaufschwung“ (ebd.: 224) notwendig, so dass Peter von Oertzen, späterer Bildungsminister und einer der 16 Delegierten, die gegen das Programm stimmten, treffend kritisierte: „Die Verfasser glauben im Grunde nicht an die Möglichkeit ernsthafter konjunktureller Rückschläge“ (zit. nach Heimann 1984: 2064). Wirtschaftspolitisch ist das Godesberger Programm marktwirtschaftlich und marktkritisch zugleich. Man betrachtet den Markt als besten Allokationsmodus, sieht aber genau dieses durch die Marktkräfte bedroht: Der Markt oder der Wettbewerb soll vor dem Einfluss der Großunternehmen und ihrer Marktmacht geschützt werden – Ziel ist ein „fairer Wettbewerb“. Auch wird festgestellt, dass eine Marktwirtschaft von „Gewinn- und Machtstreben“ bestimmt ist und keine gerechte Einkommensverteilung hervorbringt und deshalb politischer Korrekturen bedarf. Man will den Markt als Zuteilungsmittel einsetzen, aber seine Verteilungsergebnisse korrigieren. Die Förderung des Wettbewerbs und die Unterstützung von klein- und mittelständischen Betrieben sind die wesentlichen Gegenmittel gegen Marktverzerrungen. Entsprechend haben sich auch die Zielvorstellungen der politischen Ökonomie geändert. Das Privateigentum wird dezidiert anerkannt, das Gemeineigentum ist eine „legitime Form der öffentlichen Kontrolle“, aber es ist kein Ziel an sich mehr, nur noch ein funktionales Mittel. Die Begriffe Sozialisierung oder Verstaatlichung tauchen erst gar nicht mehr auf. Und dort, wo es Gemeineigentum gibt, ist die Zielrichtung ebenfalls der Wettbewerb: „Wettbewerb durch öffentliche Unternehmen ist ein entscheidendes Mittel zur Verhütung privater Marktbeherrschung“ (ebd.: 225). Die Gleichung Sozialisierung = Sozialismus ist aufgelöst. Die Planungsvorstellungen werden auf ein für die Privatwirtschaft nicht bindendes Nationalbudget reduziert. Das ist auch der Kern des Keynesianismus im Godesberger Programm, das auf „vorausschauende“ Konjunkturpolitik und Methoden der „mittelbaren“ Steuerung setzt. Es dauerte noch sieben Jahre, bis sich endlich die Gelegenheit ergab, in einer Regierung das politische Paradigma in der Praxis zu beweisen.
143
5.2.3 Das kurze Goldene Zeitalter der SPD: 1966–1972 Die erste Bewährungsprobe der erneuerten, keynesianischen Sozialdemokratie fiel mit der ersten Wirtschaftskrise der deutschen Nachkriegsgeschichte zusammen. Der bis dahin schärfste Konjunktureinbruch der Nachkriegsperiode von 1966/67 und der damit verbundene Anstieg der Arbeitslosigkeit traf die deutsche Gesellschaft wie ein Schock. Als die aus heutiger Sicht geringfügige, aus damaliger Sicht dramatische Rezession in Deutschland einbrach, plädierte Helmut Schmidt in seiner ersten Bundestagsrede als SPD-Fraktionsvorsitzender 1966 dafür, „das Gemeinwohl über Gruppeninteressen“ (zit. nach Schönhoven 2004: 136) zu stellen. Die SPD trat als kleinerer Partner in die große Koalition ein. Als Wirtschaftsminister trat Karl Schiller die Nachfolge Ludwig Erhards an.146 Im Jahr 1967 verabschiedete die große Koalition das – von Schiller maßgeblich mit ausgearbeitete – Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StWG). Der Staat hatte damit in keynesianischem Geist die „Verantwortung für den Wirtschaftsablauf übernommen“ (Abelshauser 2004: 410). Das Ziel des wirtschaftlichen Gleichgewichts sollte unter Beachtung der Ziele des „magischen Vierecks“ erreicht werden: Preisniveaustabilität, hoher Beschäftigungsgrad, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und ein angemessenes Wirtschaftswachstum. Die „Globalsteuerung“ kombinierte die antizyklische Haushaltspolitik mit der Koordination der Gebietskörperschaften zum Wohle des wirtschaftlichen Gleichgewichts. „Die nun von ihnen angestrebte Konsultation von Staat und Arbeitsmarktparteien stand einerseits in der Kontinuität des sozialdemokratischen Staatsdenkens, wenn es um die etatistische Planung und Steuerung des wirtschaftlichen und sozialen Handelns ging, andererseits erhoffte man sich von einer keynesianisch inspirierten Wirtschaftspolitik eine effiziente Förderung des Wirtschaftswachstums und einen raschen Abbau der Arbeitslosigkeit“ (Schönhoven 2004: 138).
Es wurde eine mittelfristige Finanzplanung aufgestellt, staatliche „Planung“ und „politische Steuerung“ wurden zentrale Topoi des politischen Denkens in 146 Schiller prägte maßgeblich die Wirtschafts- und Finanzpolitik der großen Koalition. Ganze Passagen von Kanzler Kiesingers Regierungserklärung trugen seine Handschrift. Schillers Konzeptionen wurden von seinem Vorgänger Erhard als „sozialistische Marktwirtschaft“ (zit. nach Schönhoven 2004: 134 Fn. 113) scharf abgelehnt, gleichwohl agierte er in Sachfragen mit Finanzminister Strauß in „großer Eintracht“ (Schönhoven 2004: 135).
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Deutschland (vgl. Ellwein 1989: 43–7; Schönhoven 2004: 142f, 689ff). Die Planungseuphorie überlagerte in weiten Teilen die marktwirtschaftlichen Konzeptionen. Dazu wurden korporatistische Formen der wirtschaftspolitischen Steuerung eingesetzt. Mit der konzertierten Aktion strebte man die Koordinierung und Kooperation von Staat, Zentralbank, Arbeitgebern und Gewerkschaften in der Krisenlösung an – eine Tradition, die schon in der Weimarer Republik angelegt war (vgl. Schönhoven 2004: 138; Schroeder 2001a).147 So richtete sich das Muster des deutschen bzw. sozialdemokratischen Keynesianismus auch an der deutschen Tradition der Kooperation im Kapitalismus aus. Möglicherweise wäre dies nur eine – schnell vergessene – Episode der Wirtschaftspolitik geworden, aber die keynesianische Politik und die konzertierte Aktion sollten sich schnell als erfolgreich herausstellen und festigten das Vertrauen in die Globalsteuerung. Nichts ist erfolgreicher als Erfolg – man hatte das sozialdemokratische Akkumulationsdilemma zumindest für diese Zeit „gelöst“. Erst später sollte sich zeigen, dass es nur aufgeschoben und nicht aufgehoben war. Die hohen Wachstumsraten von 1968/69 (jeweils 6,8 Prozent) gingen einher mit dem Fall der Arbeitslosigkeit auf unter ein Prozent – heute würde man von Vollbeschäftigung sprechen. Die Inflation stieg auf 2,8 Prozent, erreichte damit aber lediglich das Niveau aus den 1950er Jahren. „Damit hatte die Koalition ihre im Stabilitätsgesetz formulierten wirtschaftspolitischen Ziele geradezu idealtypisch verwirklicht“ (Schönhoven 2004: 331). Nur das außenwirtschaftliche Gleichgewicht war durch die hohen Exportüberschüsse nicht gewahrt. Dies wurde allerdings nicht als Problem, sondern als Indiz für die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gesehen. Der Erfolg war jedoch weniger der antizyklischen Fiskalpolitik, sondern der Geldpolitik der Bundesbank sowie der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften geschuldet (vgl. Scharpf 1987: 154; Brenner 1998: 114f). Diese standen der konzertierten Aktion durchaus skeptisch gegenüber. Sie waren nicht nur besorgt um die Tarifautonomie, sondern auch um die Verteilungsrelationen.148 Zudem erreichten sie nicht ihr ursprüngliches Ziel, auch an den wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Zukunft teilzunehmen. Die Tarifautonomie wurde letztlich nicht untergraben, aber ihre Verteilungsposition verschlechterte sich. Lohnquote und Reallohnposition fielen 1968 auf einen Tiefstand (Abelshauser 2004: 415).
147 Die konzertiere Aktion war keine politische Innovation der SPD, sondern ein Vorschlag des Sachverständigenrates aus dem Jahr 1965, der aber am Widerstand Erhards scheiterte. Es war nur Schiller, der diese Politikform produktiv einsetzte. 148 Im Gefolge der konzertierten Aktion gab es in der SPD Sorgen, nicht länger Partei der sozialen Gerechtigkeit zu sein (Schönhoven 2004: 354).
145
Die konzertierte Aktion blieb auch in der Zukunft eine freiwillige Konsultation ohne Sanktionsmittel. Es gelang nicht, dieses tripartistische Instrument zu institutionalisieren. Wie so oft in der Geschichte, ist auf dem Höhepunkt bereits die Krise eines Modells erkennbar. In der Zeit von 1969–73 wurde auch die deutsche Wirtschaft in die lange Krise der Weltwirtschaft mitgerissen (vgl. Brenner 1998: 124–28); die Verteilungskonflikte konnten nicht mehr am Verhandlungstisch gelöst werden, und Gewerkschaften und Unternehmer wurden mit wilden Streiks konfrontiert. Die Gewerkschaftsführungen wollten diese Rebellion, die sich teils ja auch gegen sie selbst richtete, schnell einhegen und vollzogen in den nächsten Jahren eine tarifpolitische Trendwende, mit der versucht wurde, das verlorene Terrain in der Verteilung wieder einzuholen (vgl. Scharpf 1987: 158f; Schroeder 2001a: 36f). Dennoch war die sozialpolitische Bilanz der großen Koalition durchaus positiv für die Gewerkschaften, es war ein ungleicher Tausch zu „beiderseitigem Vorteil“. Die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer mussten Einbußen bei den Löhnen (und in der gesamten Verteilungsrelation) hinnehmen, doch gewannen die Arbeitnehmer im Gegenzug an sozialem und politischem Status hinzu (vgl. Schroeder 2001a: 39f).149 Besonders die Sozialpolitik nahm bei der konzertierten Aktion eine bedeutende Rolle in diesem Tausch ein, sie war die notwendige Voraussetzung für den Erfolg. „Sie diente […] als Kompensationsmasse, indem lohnpolitische Zurückhaltung mit sozialpolitischen Zugeständnissen belohnt werden konnte“ (Abelshauser 2004: 200).150
Die Verbesserungen reichten von der Einebnung der Standesunterschiede von Arbeitern und Angestellten in der Sozialpolitik bis zur Erhöhung von Arbeitslosengeld und –hilfe. Das 1969 verabschiedete Arbeitsförderungsgesetz sah in Ergänzung eine aktive Politik vor, die durch verbesserte Arbeitsvermittlung, Umschulung- und Weiterqualifizierung sowie selektive Lohnkostenzuschüsse Arbeitsangebot und -nachfrage besser austarieren sollte. Für die politischen Akteure war die aktive Arbeitsmarktpolitik als zentralisiertes, abfederndes wie vor149 Die Gewerkschaften kämpften für soziale Symmetrie, die Verknüpfung von Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik: Stärkung der Massenkaufkraft, Stärkung der Vermögensbildung und der Mitbestimmung. Sie wollten zudem direkt in die Erstellung der mittelfristigen Finanzplanung miteinbezogen werden, konnten aber im Prinzip keines dieser Ziele mittelbar in oder durch die konzertierte Aktion durchsetzen. Schiller kam ihnen teilweise entgegen, aber letztendlich scheiterte es am Widerstand von CDU und Unternehmen. 150 Zudem hatte Sozialpolitik durch ihre Nachfrage eine – im internationalen Vergleich – zwar schwache, gleichwohl signifikante konjunkturstabilisierende Wirkung (vgl. Abelshauser 2004: 200).
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ausschauendes Instrument die perfekte Ergänzung zur keynesianischen Wirtschaftspolitik, da sie die Mobilität und Qualifizierung der Arbeitnehmer erhöhte (vgl. Trampusch 2000: 341–55; Schmid 2006: 187).151 Die Sozialpolitik veränderte während der großen Koalition ihren Charakter. Es ging nicht länger nur um Fürsorge, Linderung von Not und Armut, Schutz gegen die Risiken von Unfall, Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit. Man verstand sie als ambitionierte Gesellschaftspolitik, die auch Bildungs- und Kulturpolitik sowie Fragen der Justiz und des Städtebaus mit einbezog. Insgesamt strebte sie die „Minderung von Klassenunterschieden und Einkommensdifferenzen als ein wichtiges Instrument zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit“ an (Walter 2002: 177). Kurz, die Sozialpolitik der großen Koalition fokussierte neben der Ermöglichung von ökonomischer, politischer und kultureller Teilhabe „auf mehr Gleichheit“ in ihren Zielen (Schmidt 2005: 91, H.d.V.). Allerdings sind die getroffenen Maßnahmen nicht vornehmlich der SPD zuzuschreiben, sondern in der Koalition agierte eine „Querfront von christlichen und sozialdemokratischen Reformern“ (Schönhoven 2004: 330; vgl. Schmidt 2006a: 141f). In der großen Koalition zeichneten sich bereits wichtige Linien der sozialliberalen Koalition unter Führung der SPD ab. Man führte die Politik „mit großen Ambitionen“ fort (Schönhoven 2004: 352). Der Beginn der Ära Brandt, getragen von der Hoffnung gesellschaftlicher Erneuerung und dem Echo von 1968, verdeutlicht die voluminöse Reformorientierung der Sozialdemokratie Ende der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre. Brandts erste Regierungserklärung, am 28. Oktober 1969, wirkt bis heute vor allem durch ihre programmatische Kernaussage „Wir wollen mehr Demokratie wagen“. Der wirtschaftspolitische Teil der Erklärung zeugt bereits von der Ressourcenbedingung der Reformvorhaben. Diese seien nur möglich bei einer wachsenden Wirtschaft und gesunden Finanzen. Man strebte eine Stabilisierung ohne Stagnation und eine wirksame Wettbewerbsfähigkeit nach innen und außen an (vgl. Brandt 1969: 505). Soziale Gerechtigkeit in der Praxis bedeutete für die SPD der 1960er Jahre, den Arbeitern und Angestellten Partizipation, Mitbestimmung, Anerkennung, Aufstiegsmöglichkeiten, bessere Chancen zur Vermögensbildung und sozialen Ausgleich zu ermöglichen. Die SPD trat für eine Gleichheit der Lebenschancen ein. Dennoch: Das Ziel war nicht „Gleichheit im Ergebnis“. Mehr Verteilungsgerechtigkeit, Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit fanden Eingang in die Politik. Entsprechend diesen Zielen richteten sich die 151 Gleichwohl führten ihre institutionellen Fehlkonstruktionen und die mangelnde politische Unterstützung dazu, dass die aktive Arbeitsmarktpolitik im Vergleich zu Ländern wie Schweden relativ wirkungslos blieb (vgl. Scharpf 1987: 279–83).
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Policies der sozialliberalen Koalition auf die Entfaltung und Verbesserung des Zugangs zum Bildungssystem, eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes, den Ausbau der sozialen Sicherheit und Daseinsvorsorge, die rechtliche Besserstellung im Betrieb sowie die Ausdehnung der Mitbestimmung. Zu den wichtigsten Maßnahmen gehörten: Das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG), das Rentenreformgesetz von 1972, die Reform und Ausweitung der Krankenversicherung, die Einführung des Kindergeldes, die Erhöhung des Wohngeldes und die Ausweitung des Kreises der Berechtigten, die Sicherung der Betriebsrenten, die Novellierung des Betriebsverfassungs- und des Mitbestimmungsgesetzes, die Gesetzte zur „Humanisierung der Arbeitswelt“ und die Einführung eines einheitlichen Sozialgesetzbuches sowie verschiedene Steuerreformen. Die Arbeitgeber wurden an dem Ausbau der Sozialversicherungen paritätisch beteiligt, was durch das damalige Wirtschaftswachstum gerechtfertigt schien. Die populäre Politik der sozialen Sicherheit und Integration, die vor allem Gruppen mit niedrigem Einkommen zu Gute kam, konnte insgesamt das Bild der SPD als arbeitnehmerfreundlicher Reformpartei festigen. Damit sicherte sie sich die Loyalität bei ihrer Kernwählerschaft wie auch bei den Gewerkschaften (vgl. Schmidt 1978: 240). Es war tatsächlich die Umsetzung der verschiedenen Gerechtigkeitsansätze des politischen Paradigmas. Viele schon bestehende Leistungen wurden erhöht und erweitert. Die von der sozialliberalen Koalition verfolgten Reformen unterschieden sich von der Politik der großen Koalition durch die größere Intensität, die Häufigkeit und die stärkere Fokussierung auf soziale Gerechtigkeit in all ihren Facetten. Sie hatten, einzeln betrachtet, oftmals einen nur geringen Innovationsgrad und Umverteilungscharakter, aber in der Kumulation waren die Verteilungswirkungen erheblich (Schmidt 1978: 210, 236) – allerdings vor dem Hintergrund, dass die vertikale Umverteilungsneigung des deutschen Wohlfahrtsstaats auch in dieser Zeit eher gering war (vgl. Alber 1986: 64–70). Die wichtigsten sozialpolitischen Reformen fanden in der bis 1973 andauernden Phase der Hochkonjunktur statt. Das „Füllhorn sozialer Wohltaten“ (Schmidt 2005: 94) stieß allerdings auch kaum auf Widerstand bei den anderen Parteien, FDP und CDU beteiligten sich an dem „Sozialpolitikwettlauf“ (ebd.). Die Sozialleistungsquote, das Verhältnis von Sozialleistungen zum Sozialprodukt, stieg dementsprechend von 21,5 Prozent im Jahr 1970 auf 29,7 Prozent fünf Jahre später (vgl. BMAS 2007: 152).152 Getreu der keynesianischen Theorie wurde diesen Ausgabensteigerungen auch ein Beitrag zum wirtschaftlichen
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Das lag teils auch daran, dass nach 1973 das Wachstum langsamer wurde und dadurch der Anteil der Sozialleistungen automatisch stieg.
148
Wachstum zugeschrieben153 – nicht zuletzt auch wegen ihrer Funktion als Stabilisatoren, da die Sozialausgaben in Krisenzeiten automatisch steigen. In Deutschland währte das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie bis in die Jahre 1972–74, als man noch hinreichend große Wachstumsraten erreichte, die Sozialpolitik weiter ausbaute und expansive Haushalte auflegte. Allerdings hatte man eine fiskalische Falle eingebaut. Denn die Rentenreform war auf einem erwarteten Wirtschaftswachstum von 5 Prozent [sic!] für die nächsten Jahre aufgebaut worden (vgl. Schmidt 2005: 95). Noch im Jahr 1974 wurde ein expansiver Haushalt vorgelegt, aber der Scheitelpunkt der Reformära war überschritten und man musste mit den ersten Einsparungen beginnen. 5.2.4 Vergleichende Perspektiven Sowohl die Labour Party als auch die SPD fanden sich in den 1950er und 1960er Jahren in immensen revisionistischen Debatten und Flügelkämpfen wieder. Sie führten diese Auseinandersetzung nach einer Reihe von Niederlagen, aber auch aus der sicheren Position heraus, dass ihnen – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern – keine linken Konkurrenten, sondern nur wohlfahrtsstaatlich orientierte konservative Parteien gegenüberstanden. Ihre starke Verbindung zu den Gewerkschaften stand außer Frage. Die revisionistische Zeitdiagnose der Trennung von Kontrolle und Besitz war praktisch überall in Europa dominant (vgl. Sassoon 1996: 247). Der Sozialismus war als Ziel nicht verschwunden, aber er war noch mal weiter aus dem politischen Alltagskampf gerückt worden. Er sollte als qualitativer Umschlag nach einer Reihe inkrementeller Fortschritte stehen. Der demokratische Sozialismus war immer noch Ziel, das neue Jerusalem, die gerechte Gesellschaft, aber für die keynesianische Sozialdemokratie war er Ziel und Weg. Während in der SPD der Druck der „Reformer“ in einem neuen Parteiprogramm mündete, konnten sich die Revisionisten in der Labour Party nicht durchsetzen und die Clause IV in der Satzung blieb nicht nur erhalten, sondern wurde symbolisch durch diesen Konflikt sogar noch aufgewertet. Gleichwohl kann man nicht von einer erfolgreichen „liberalen Erneuerung“ in Deutschland sprechen, während sie in Großbritannien scheiterte. Zwar hatte die SPD in den Jahren 1952–54 die Labour Party in ihrer Absetzbewegung vom Sozialisierungsgedanken überholt (vgl. Padgett/Paterson 1991: 15, 30). Aber bei der SPD war das 153 Dies zeigt z. B. ein Ausschnitt aus dem Sozialgesetzbuch von 1970: „Die Sozialpolitik wird damit – neben ihrer vorrangigen humanitären Bedeutung – in steigendem Umfang auch Bestimmungsfaktor des wirtschaftlichen Wachstums“ (zit. nach Scherf 1986a: 86).
149
primäre Ziel der Abschied vom Marxismus, dieses Erbe brauchte die Labour Party nicht hinter sich zu lassen. Sie hatte es nie. Die SPD bekannte sich erstmals zum Markt, auch das war für die Labour Party kein grundsätzliches Problem. Die SPD verabschiedete sich vom Marxismus, aber nicht vom Sozialismus. Sie hatte lediglich den Weg dorthin neu definiert. Clause IV war in der Labour Party, in Ermangelung einer anderen Zielformulierung, das funktionelle Äquivalent für den Sozialismus, Symbol und sinnstiftende Identität. So fürchteten viele LabourAnhänger, dass man sich mit einer Veränderung der Clause IV auch vom Sozialismus verabschieden würde. Der britische Sozialismus hatte eine andere Kontur bekommen: Er ging von einer Arbeitsteilung zwischen Staat und der Privatwirtschaft aus. Die Privatwirtschaft akkumuliert, der Staat verteilt. Sozialismus waren öffentliche Ausgaben, die ihrerseits auf dem Erfolg der Privatwirtschaft beruhten. Kurz: Der Gegner war nicht der Kapitalismus als solcher, sondern seine unregulierte Form, der Laisser-faire-Kapitalismus (vgl. Sassoon 1996: 247). Die SPD dagegen war explizit gegen die Macht der Großunternehmen, weil sie den Wettbewerb einschränkten, die Labour Party ganz im Gegenteil dafür, weil sie zu mehr Rationalität, mehr Möglichkeiten zu Planung führen konnten. Gleichwohl gab es hinter diesem symbolischen Wandel deutliche Parallelen im politischen Paradigma der Labour Party und der SPD. Beide entwickelten sie eine ähnliche Zeitdiagnose und politische Ökonomie sowie Gerechtigkeitsvorstellungen. Die Veränderung des politischen Paradigmas verlief in einem relativen Gleichklang, wurde aber vermittelt und ausgeformt durch die nationalen Traditionen und historischen Erfahrungen, kulturelle Muster sowie gesellschaftliche Strukturen. In der folgenden Abbildung sind die Grundzüge des politischen Paradigmas der SPD und der Labour Party während des Goldenen Zeitalters festgehalten.
150
Abbildung 3: Varianten der keynesianischen Sozialdemokratie Zeitdiagnose
Politische Ökonomie
Problemdiagnosen
SPD Managerial Capitalism, Steuerbarkeit des Wach-
Labour Party Managerial Capitalism, Planbarkeit des Wach-
stums
stums
Markt- und Monopolmacht
Unverdientes Vermögen, British Decline
Ordnungspolitische
„Wettbewerb so weit wie
Sozialisierungen und dem
Leitbilder
möglich, Planung so weit wie nötig“,
Aspekt der Effizienz, Gemischte Wirtschaft
„ordoliberaler“ Keynesianismus Steuerungsmodi
Soziale Gerechtigkeit
Globalsteuerung,
Liberaler Kollektivismus,
Konzertierte Aktion
Einkommenspolitik
Präferenzen Wirtschaftspolitik
Wachstum,
starke Währung,
Vollbeschäftigung, Preisniveaustabilität
Vollbeschäftigung
Leitbild
gerechter Anteil am Wohl-
Fair Shares,
stand, soziale Sicherheit
Liberaler Egalitarismus
Stark ausgeprägt: Leis-
Stark ausgeprägt:
tungsgerechtigkeit, Vertei-
Chancengleichheit,
lungsgerechtigkeit
Verfahrensgleichheit,
Prinzipien-Mix
Verteilungsgerechtigkeit Schwächer ausgeprägt: Chancengleichheit,
Schwächer ausgeprägt:
Verfahrensgerechtigkeit,
Minimumprinzip, Leis-
Minimumprinzip
tungsgerechtigkeit
Quelle: Eigene Darstellung 151
Die unterschiedlichen politischen Paradigmen gingen einher mit unterschiedlichen Ausprägungen, Erfolgen und Misserfolgen in der Regierungspolitik. Diese hingen zusammen mit der unterschiedlichen Einbettung in die ökonomischen, sozialen und politischen Strukturen und Institutionen.154 In der Regierung hatte die Labour Party deutlich mehr Spielräume. Sie hatte 1964 eine knappe, nach der Wahl von 1966 eine unangefochtene Mehrheit und konnte ohne Koalitionspartner und mit weniger institutionellen Hürden regieren. Das britische Oberhaus hatte kaum noch Einfluss auf die Regierungspolitik, es gab keinen Zwang zur föderalen Aushandlung, und man hatte es auch nicht mit einer unabhängigen Zentralbank zu tun. Die SPD war zunächst nur der kleinere Akteur in der großen Koalition und ab 1969 der führende Partner in der Koalition mit der FDP, einer liberalen Partei, die trotz ihrer damaligen linksliberalen Ausrichtung skeptisch gegenüber staatlichen Interventionen war. Institutionell wirksamer, war die Labour Party sozial und ökonomisch deutlich stärker eingeschränkt. Vor allem durch das britische Empire, die Rüstungsausgaben, die Rolle des Pfund Sterling und eine Wirtschaft, deren Produktivität – nicht zuletzt als Ergebnis der anderen Fesseln – beständig hinterherhinkte. In der keynesianischen Sozialdemokratie waren soziale Reformen mit Wachstum und Vollbeschäftigung eng verkoppelt. Die Labour Party kam jedoch erst ihrer Präferenz für ein starkes Pfund nach. Hierfür gab es keine sozialdemokratischen Gründe, sondern die Erklärung liegt in der tiefen Verwurzelung der LabourFührer in der britischen Kultur sowie dem Druck der City und der Bank of England. So hat die Labour Party nur wenig von dem erreicht, was sie seinerzeit unter Sozialismus verstand, ja sie hat auch nur wenig von dem erreicht, was sie unter einer gemischten Wirtschaft verstand, weil sie weder die Sozialisierungen konsequent gestaltete, noch die Wirtschaft hinreichend modernisierte. Es war vor allem ein kurzfristiges Problemlösen, das wenig mit einer sozialistischen Umgestaltung oder auch nur mit einem Projekt einer tatsächlich geplanten Wirtschaft einherging. Allerdings trugen die von ihr eingeführten Sozialreformen eben die Konturen des damaligen politischen Paradigmas. 154 Der niedrige Zentralisierungsgrad der Gewerkschaften und der Unternehmerverbände sowie die unterschiedlichen industriellen Beziehungen verursachen gewichtige Unterschiede in der Steuerung des deutschen und britischen Kapitalismus. Der deutsche Typ wird oftmals dem „Neokorporatismus“, der britische Typ der pluralistischen Interessenaushandlung zugeordnet (Beyme 1984). Gleichwohl ließen die in den 1950er bis 1970er Jahren entstandenen protokorporatistischen Strukturen sowie die Versuche einer Konzertierung von Arbeitgebern und Gewerkschaften in der Lohnpolitik die Diagnose vom „Quasikorporatismus“ in Großbritannien aufkommen (vgl. Panitch 1976: 246-50; vgl. auch Trampusch 2000; Edwards et al. 1998; Williams 2002).
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Sowohl die Labour Party als auch die SPD suchten ihr Heil aus den ökonomischen Krisen in Formen der Konzertierung. Doch diese unterschieden sich sowohl in der Form als auch in den damit verbundenen Zielen. Die konzertierte Aktion in Deutschland war Teil eines keynesianischen Gesamtpakets, zu dessen Gelingen die starken und zentralisierten Gewerkschaften beitragen konnten – indem sie ihren Mitgliedern einen relativen Lohnverzicht im Verhältnis zur Produktivitätsentwicklung vermittelten. Im „politischen Tausch“ (Pizzorno 1978) hatte man zwar nicht annähernd seine Forderungen nach Mitbestimmung in der Wirtschaftspolitik durchsetzen können, aber man war zu Zugeständnissen auf Grund der sozialen Expansion bereit. Vor allem war das Ziel der konzertierten Aktion die Erhöhung des Wachstums und damit der Beschäftigung. Dieses Ziel lag der Einkommenspolitik der Regierung Wilson nicht zugrunde; sie verlangte von den Gewerkschaften Lohnverzicht, um die britische Leistungsbilanz und das Pfund zu stärken. Sie erreichte mit diesen Maßnahmen jedoch nicht mehr Wachstum, und da die schwachen, dezentralen Gewerkschaften keine Mäßigung erreichen konnten, glitt sie auf die legislative Einkommenspolitik zurück. Mehr oder weniger wilde Streiks von unten gab es schließlich sowohl in Großbritannien und Deutschland gegen die Politik der Konzertierung. Im Unterschied zur Labour Party ging die SPD kaum geschwächt aus dieser Episode hervor. Ihr Reformprogramm hatte wie das Programm in Großbritannien expansive Züge, aber sie war gleichzeitig „erfolgreich“ in der Herstellung von Wirtschaftswachstum, ohne soziale Einschnitte tätigen zu müssen.
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6. Das böse Erwachen aus dem kurzen Traum „It will squeeze the rich until the pips squeak.“ Denis Healey „Die Zeit, in der man es sich leisten konnte, sich die Zukunft als einfache Verlängerung von Entwicklungslinien der Vergangenheit vorzustellen, ging zu Ende, ohne dass man sich dessen bewusst gewesen ware.“ Willy Brandt
Mit ihren Prognosen lag die Sozialdemokratie historisch oft über Kreuz. Die frühe Sozialdemokratie harrte auf den Zusammenbruch des Kapitalismus, als dieser sich ausbreitete. Die keynesianische Sozialdemokratie erwartete Wachstum und Prosperität – und rutschte in die Krise. Seit den 1950er Jahren hatten SPD und Labour Party in einer globalen Wachstumskonstellation agiert, die – bei allen Problemen – eine bis dahin nicht gekannte sozialstaatliche Reformpolitik ermöglicht hatte. Diese Wachstumskonstellation fiel Anfang der 1970er Jahre auseinander. Das Jahr 1973 war das Jahr des Ölschocks, des Auseinanderbrechens des Bretton-Woods-Systems der festen Wechselkurse und der Auftakt zur weltwirtschaftlichen Krise. Es war der Beginn des weltwirtschaftlichen „long downturn“ (Brenner 1998). Dieser brachte zunächst nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern ein Phänomen mit sich, das keynesianische Wirtschaftswissenschaftler bis zu diesem Zeitpunkt für unmöglich gehalten hatten: das simultane Auftreten von verlangsamtem Wachstum, steigender Arbeitslosigkeit und Inflation – der Stagflation. Es war der Beginn des „Erdrutsches“ (Hobsbawm 1995b) der Wohlfahrtskonstellation nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Wohlfahrtsstaat hatte eine spektakuläre Phase der Expansion hinter sich, an deren Grenze er nun angekommen schien. Von Anfang der 1960er Jahre bis in die frühen 1970er Jahre stiegen die Staatsausgaben und die Sozialleistungen schneller als das Wirtschaftswachstum. Nun geriet der Wohlfahrtsstaat von zwei Seiten in die Zange: Durch das niedrige Wirtschaftswachstum sprudelten die finanziellen Quellen geringer, während wegen der höheren Arbeitslosigkeit gleichzeitig mehr ausgegeben werden musste (vgl. Flora 1986).
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Die steigende Inflation war vor allem deshalb ein Problem, weil der Kapitalismus ein wahrlich internationales System geworden war und die wechselseitigen Abhängigkeiten der Staaten durch den expandierenden Welthandel des Goldenen Zeitalters stark zugenommen hatten. Inflation verzerrt nicht nur die relativen Preise international gehandelter Güter, sie schränkt auch die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes ein, wenn ihre Inflation über dem ihrer Handelspartner liegt. Und da die meisten entwickelten Länder, darunter auch Deutschland und Großbritannien, einen Teil ihres Wirtschaftswachstums der Exportindustrie verdankten155, hatten sie ein lebendiges Interesse an einer Eindämmung der Inflation.156 Die historischen Entwicklungen von Wachstum, Arbeitslosigkeit und Inflation sind in den folgenden Tabellen dargestellt. In allen wird deutlich, wie der Pfad des Goldenen Zeitalters sich nach 1973 nicht mehr fortsetzte. Tabelle 1:
Durchschnittliche Wachstumsraten
Deutschland Großbritannien Westeuropa Quelle: Maddison (2006), S. 640 Tabelle 2:
1950-73 5,68 2,93 4,79
1973-2001 1,75 2,08 2,21
Durchschnittliche Arbeitslosigkeit
1950-73 Deutschland 2,5 Großbritannien 2,8 Westeuropa 2,6 Aus: Maddison (2006), 134
1973-83 4,1 7,0 6,0
1984-93 6,2 9,7 9,2
155 Deutschlands Integration in den Weltmarkt verlief rasant nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Anteil am Weltexportvolumen stieg erheblich, während der Großbritanniens zurückfiel: 3,6 Prozent im Jahre 1950 und 8,9 Prozent 1960 erreichte die deutsche Exportindustrie, während der britische Anteil von 11 Prozent (1950) auf 7,8 Prozent (1960) zurückfiel. 156 Die Ursache für die besonders ausgeprägte britische Inflation wird von wirtschaftsliberaler Seite durch die Stärke der Gewerkschaften erklärt. Kritiker dieser Sichtweise sehen eher die durch Unterinvestition verursachte geringe Produktivität der britischen Wirtschaft als Ursache (vgl. Coates 2000: 86–94).
155
Tabelle 3:
Durchschnittliche Inflationsraten
1950-73 Deutschland 2,7 Großbritannien 4,6 Westeuropa 4,3 Aus: Maddison (2006), 134
1973-83 4,9 13,5 11,2
1984-93 2,4 5,2 4,5
In diesem Kapitel werden die Reaktionen der Labour Party und der SPD auf die Krise der 1970er Jahre analysiert. Es war ein Prozess extremer Ungleichzeitigkeit: Auf dem Höhepunkt linker programmatischer Ambitionen entfernte man sich in der Regierung immer weiter vom politischen Paradigma der keynesianischen Sozialdemokratie; der Transformationsprozess der Sozialdemokratie war eingeleitet, indem sie in der Praxis Elemente des Neoliberalismus157 adaptierte. 6.1 Vom Aufbruch zur Ernüchterung – die SPD bis 1982 Erst nach 1969 wurde die SPD zur wirklichen Volkspartei. Durch die Modernisierung der Gesellschaft entproletarisierte sie die Arbeiterschaft und erreichte einen bescheidenen Wohlstand. Die SPD lockte zahlreiche neue Mitglieder aus den Schichten und Milieus jenseits der Industriearbeiterschaft an. Paradoxerweise war es gerade der Zustrom aus den Mittelschichten, den jugendlichen und akademischen Milieus, der die SPD wieder nach links – in die Denkweisen vor Godesberg – zog (vgl. Lösche/Walter 1992: 115–19, 150–57; vgl. Walter 2002: 183–93). Ein Ergebnis dieser soziografischen Veränderung war die erneute programmatische Reflexion, die auch das erstarkte Bedürfnis nach Planung beinhaltete. Das Resultat war der Organisationsrahmen ´85 (OR). Die Programmkommission für den OR wurde zunächst vom späteren Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem ausgewiesenen Parteilinken Johannes Steffen geführt, später vom marxistischen Politikwissenschaftler Peter von Oertzen; zur Kommission gehörte auch Horst Ehmke, der ehemalige Chef des Kanzleramts und ein Planungspraktiker der Politik. Die Zeitdiagnose des OR lautete, dass seit 1945 die Unternehmens- und Kapitalkonzentration stark zugenommen hätte und dadurch der Wettbewerb
157
Zum Neoliberalismus vgl. das nächste Kapitel.
156
bedroht sei.158 Auch trägt das Dokument erste Züge einer Reflexion über das nachlassende Wachstum, die „internationale Wirtschaftsverflechtung“, die Bedeutung „multinationaler Unternehmen“ und die „Vermachtung von Märkten“ (vgl. SPD 1975). Die wettbewerbspolitisch (ordo)liberalen Traditionen aus dem Godesberger Programm sollten mit dem Gedanken der Planung verbunden werden. Doch sind Planung und Wettbewerb zwei politische Substanzen, die sich – ähnlich wie Wasser und Öl – nur unter künstlichen Bedingungen zu einer Emulsion verbinden. Die Debatte um das Verhältnis von Markt und staatlicher Lenkung, geführt unter dem Stichwort „Investitionslenkung“, war deshalb auch der Kern in den Auseinandersetzungen um den OR (vgl. Grebing 2005: 50–55; Narr et al. 1976: 44f). Generell hat der OR einen linkeren Zugriff als das Godesberger Programm, aber in seiner „geradezu ängstlichen Vermeidung eindeutiger Aussagen“ (Narr et al. 1976: 44) handelt es sich um eine Ansammlung von Kompromissformeln und Ambivalenzen. Man hält am Markt als überlegenem wirtschaftlichem Koordinationsmechanismus fest, sieht ihn aber als unvollkommen an, weil er zu gesellschaftlichen Ergebnissen führe, die „nicht hingenommen“ werden dürften (SPD 1975: 156). In der Logik des Sowohl-als-auch von Markt und Lenkung soll die „Investitionslenkung“ vor allem über indirekte Anreize und Steuerungsmechanismen betrieben werden. Die unternehmerische Hoheit über die Produktionsmittel wird, sei es durch Verstaatlichungen oder gesetzliche Regelungen, nicht angetastet (vgl. ebd. 155–164). Lenkung im OR ist von daher eine Technik der wirtschaftlichen Abstimmung (vgl. Abelshauser 2004: 417; Offe 1979: 302; Narr et al. 1976: 46). Hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit sind sowohl Elemente der Chancengleichheit, der Leistungs- als auch der Verteilungsgerechtigkeit zu finden, dominierend ist allerdings die egalitäre Verteilungsgerechtigkeit. Die egalitäre Verteilungsgerechtigkeit im OR ist vor allem als freiheitsermöglichend konzipiert: „Gerechtigkeit verwirklicht die Freiheit jedes Einzelnen, indem sie ihm gleiche Rechte und gleichwertige Lebenschancen in der Gesellschaft eröffnet (SPD 1975: 118). Kurzum: Das keynesianische Deutungsparadigma hat eine stärker egalitäre Note bekommen, ist aber weitgehend unverändert geblieben. Der OR sollte kein neues Grundsatzprogramm werden, sondern auf dem Godesberger Programm aufbauen und dieses diagnostisch wie handlungsleitend für die 1970er Jahre weiterführen.159 Vor allem letzterem Anspruch wurde der OR nicht gerecht; nachdem er nach jahrelangen Diskussionen, 158 Die Diagnose wird häufig mit neomarxistischen Versatzstücken begründet, hat aber als Fluchtpunkt den ordoliberalen Gedanken des Wettbewerbs. 159 Eine gute, wenn auch gegen die Parteilinken gerichtete Darstellung der innerparteilichen Diskussionen findet sich bei Glotz (1975).
157
Beratungen, Re- und Neuformulierungen 1975 auf dem Mannheimer Parteitag verabschiedet wurde, spielte er weder in der Partei noch für die Regierungspolitik eine Rolle (vgl. Lösche/Walter 1992: 119). Für die Implementierung einer Investitionslenkung war der neue Kanzler auch nicht der richtige Mann. Er war ein Macher, ein Pragmatiker eines reformierten Marktes, der Rücksicht auf den Koalitionspartner FDP nehmen wollte und musste. Kein ganzes Jahrzehnt hatte die sozialdemokratische Reformeuphorie gehalten. Als Helmut Schmidt 1974 Willy Brandt als Bundeskanzler beerbte, war der Scheitelpunkt der Reformära bereits erreicht. Die Schritte wurden immer kleiner, aber man trat noch nicht auf der Stelle. Eine staatliche Einflussnahme auf die Investitionsentscheidungen der Unternehmer wurde nie anvisiert. Aber die sozialliberale Koalition erneuerte die Einflussnahme der Arbeitnehmer und Gewerkschaften durch eine Reform der Mitbestimmung. Diese belastete auch nicht den Haushalt, war für den Koalitionspartner gerade noch akzeptabel und mit den „langfristigen Entwicklungslinien und Strukturen der korporativen Marktwirtschaft kompatibel“ (Abelshauser 2004: 418). Die Reform der Mitbestimmung war ein wichtiges Element der Integration der Gewerkschaften in die Stabilitätspolitik der Regierung. Bei der Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 wurden die Rechte der Betriebsräte erweitert, beim Mitbestimmungsgesetz von 1976 die paritätische Vertretung der Arbeitnehmerseite in den Aufsichtsräten für Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten festgelegt. Allerdings blieb die Reform hinter den Erwartungen der Gewerkschaften weit zurück, da die Parität durch die De-facto-Fragmentierung in verschiedene Statusgruppen unterlaufen wurde. Die Mitbestimmung „rührte nicht an den Machtverhältnissen in den Großunternehmen“ (Abelshauser 2004: 429); für die Unternehmer war sie gleichwohl ein Affront. Sie zogen vor das Bundesverfassungsgericht. Dies wiederum veranlasste die Gewerkschaften, die konzertierte Aktion, die in der Praxis nach der Krise 1967/68 ohnehin keine große Rolle spielte, nunmehr auch formell zu verlassen. Verstaatlichungen oder wirkliche Planungen fanden nicht statt. Das „Modell Deutschland“ war eine politische Formel, die die Regierung Schmidt aktiv im Wahlkampf 1976 einsetzte, aber auch eine Chiffre für die reale Kombination einer exportorientierten, aber ebenso korporativen Ökonomie mit einem hohen Grad an sozialer Sicherheit und politischer Stabilität (vgl. Lessenich 2003b: 106– 11). Die enge wechselseitige Bindung von Banken und Industrie, der hohe Ausbildungsstandard, die „diversifizierte Qualitätsproduktion“ (Streeck 1991), diese Faktoren wurden – vor allem in der angelsächsischen Welt – als allgemein erfolgreiches Modell betrachtet. Für Sassoon stach zudem die Industriepolitik der 158
Regierung heraus, die es nach seiner Sicht vermochte, den Abstieg alter Industrien zu moderieren und neue Industrien zu fördern: „This was organized capitalism at its best“ (1996: 511f). Die Krise der Weltwirtschaft erreichte Deutschland zwar nicht mit voller Wucht, führte dennoch 1975 in die bis dahin schärfste Nachkriegsrezession. Die Zahl der Arbeitslosen überschritt erstmals die Millionengrenze. Dabei stand die deutsche Wirtschaft noch vergleichsweise gut da. Sie hatte ihre Exportquote von 0,9 Prozent des Nettosozialprodukts im Jahr 1950, auf 19 Prozent zehn Jahre später und 24,7 Prozent im Jahr 1975 gesteigert (vgl. Abelshauser 2004: 219, 227). Die deutsche Wirtschaft war in der Lage, konjunkturelle Schwankungen über ihre starke Exportwirtschaft auszugleichen, aber dafür wurde sie auch um so abhängiger vom Weltmarkt (vgl. Abelshauser 2004: 260–65; Altvater et al. 1979: 156-79). Die größten Probleme entstanden beim Sozialstaat: Die Ausgaben des Staats hatten sich – auch durch die Umverteilungspolitik – kontinuierlich erhöht. Die Staatsquote war über die 50-Prozent-Marke geklettert (vgl. Abbildung 4). Jetzt, wo das Wachstum stotterte, fehlten die Einnahmen. Es entstand ein kombinierter Problemdruck aus Haushaltsdefizit, Inflation, verlangsamtem Wirtschaftswachstum und steigender Arbeitslosigkeit. Diese Finanzkrise des Staats brachte unmittelbar die „materielle Basis der Reformen ins Schwanken“ (Schmidt 1978: 212f), so dass bald Krisenbekämpfung und Förderung der Wirtschaft der Reformpolitik übergeordnet wurden. Durch die Krise der 1970er Jahre geriet die keynesianische politische Ökonomie unter Druck. Zunächst reagierte die Regierung auf den Ölschock von 1973 mit keynesianischen Mitteln. Aber die Partner in der konzertierten Aktion hatten Anfang der 1970er Jahre an gemeinsamer Krisendeutung, Kohärenz und Handlungsabstimmung verloren. Die Gewerkschaften waren nicht mehr bereit, sich in Lohnzurückhaltung zu üben. Sie wollten sich ihre relativen Wohlfahrtsverluste aus der konzertierten Aktion wiederholen, nachdem die Gewerkschaftsführung innerverbandlich – u. a. durch wilde Streiks Ende der 1960er Jahre – massiv unter Druck geraten war. Als die Inflation nach 1973 weiter stieg, trat die Bundesbank auf die geldpolitische Bremse und erzeugte einen Konjunktur- und Beschäftigungseinbruch.160 Die Bundesbank übte ihre gestiegenen Einflussmöglichkeiten aus, die sich durch den Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems 160 In der deutschen politischen Kultur ist Preisstabilität eine historisch sensible Größe – die Erfahrung der Hyperinflation hatte tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen. Die Inflationssensibilität hatte schon nach dem Zweiten Weltkrieg zur institutionellen Unabhängigkeit der Bundesbank geführt.
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ergeben hatten.161 Helmut Schmidt hatte sich im Wahlkampf 1972 noch zu der Äußerung hinreißen lassen, dass fünf Prozent Inflation besser seien als fünf Prozent Arbeitslosigkeit, aber die Bundesbank hatte die Macht und die Möglichkeit, ihre „legitime“ Aufgabe, die Wahrung der Preisstabilität, durch eine geldpolitische Restriktionspolitik zu verfolgen. Bundesbank und der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung waren sogar schon zu Anfang der 1970er Jahre auf monetaristische Positionen umgeschwenkt. Die Bundesbank restringierte und die Bundesregierung zog schließlich nach, als sie begriff, wie scharf das Schwert der Geldpolitik war (vgl. Scharpf 1987: 165–177; Altvater et al. 1979: 327-41). Ab 1975 konsolidierte die sozialliberale Koalition den Haushalt und sparte dort, wo die größten Ausgabensteigerungen durch die gestiegene Arbeitslosigkeit entstanden waren: bei der Arbeitsmarktpolitik. Bedauerlicherweise konsolidierte man genau in jenem Moment, als die Konjunktur wieder anzog, und würgte den Aufschwung dadurch wieder frühzeitig ab (vgl. Scharpf 1987: 180f). Damit begann eine Phase der Leistungskürzungen in der Sozialpolitik. Im Jahr 1975 war der Höhepunkt der wohlfahrtsstaatlichen Politik in Deutschland überschritten und es wurde der Rückwärtsgang eingeschaltet (vgl. Alber 1986: 85, 114– 22). Die Steuerreform, die in den Jahren 1974–75 verabschiedet wurde, hatte noch einen nicht unerheblichen Umverteilungseffekt. Sie war die letzte Reform im Geiste der egalitären Verteilungsgerechtigkeit. Kleinere Einkommen und Vermögen wurden entlastet, größere belastet. Geringe Einkommen profitierten von dem neu eingeführten Kindergeld im besonderen Maße (vgl. Heilmann 1976: 124). Allerdings wurde der Verteilungseffekt der Steuerreform durch die Erhöhung der Kraftfahrzeugsteuer, einiger Verbrauchssteuern und der Arbeitsund Sozialversicherungsbeiträge deutlich geschmälert. In den Folgejahren wurden vor allem die Reformvorhaben geschleift, deren Umverteilungs- und Zielgruppencharakter am größten war (vgl. Schmidt: 215–23). Dass die ökonomische Krise Mitte der 1970er Jahre in der Bundesrepublik noch vergleichsweise gut bewältigt werden konnte, wurde möglich durch „the government’s restrictive, export-promoting, anti-inflationary macroeconomic policy“ (Brenner 1998: 176).162 Kurz: Die Politik der Schmidt-Regierung passte hervorragend zur weltwirtschaftlichen Orientierung der deutschen Wirtschaft. 161 Zuvor wurden die Wechselkurse noch von der Regierung festgesetzt, mit dem Übergang zu einem System der flexiblen Wechselkurse fiel dieses Instrument weg. Die Zins- und Geldmengenpolitik der Bundesbank gewann dadurch erheblich an Gewicht. 162 Die Arbeitslosenzahlen sanken zwar wieder Mitte der 1979er Jahre, aber es ist nicht klar, welchen Anteil z. B. die verminderte Ausländerbeschäftigung daran hatte, da viele ehemalige Gastarbeiter in ihre Heimatländer zurückgeschickt wurden.
160
Die Austeritätspolitik korrigierte man 1977/78 – auch auf internationalen Druck, die Rolle der Konjunkturlokomotive zu übernehmen – durch die Zukunftsinvestitionsprogramme (ZIP), die eine langfristige keynesianische Nachfragepolitik vorsahen. Es war nicht so, dass keynesianische Wirtschaftspolitik einfach nicht mehr funktionierte. Die ZIP-Programme verliefen für sich genommen durchaus erfolgreich und sorgten für eine Konjunkturbelebung (vgl. Scharpf 1987: 182– 185; Scherf 1986a: 34–55). Die Beschäftigungserfolge blieben jedoch hinter den wirtschaftlichen Erfolgen zurück. Und der neuerliche Abschwung der Weltwirtschaft Anfang der 1980er Jahre und ihr Übergriff auf die deutsche Wirtschaft machten die Erfolge beinahe vergessen. Dies erschütterte das Vertrauen in die (keynesianischen) Fähigkeiten zur wirtschaftlichen Globalsteuerung tief (vgl. Jäger 1987: 14–21). Die Situation spitzte sich weiter zu. Die Verschuldung des Bundes stieg unaufhörlich, die Arbeitslosenzahlen kletterten und das Wachstum stagnierte. Eine keynesianisch-koordinierende Politik kam nicht zustande, da die anderen Staaten in der Weltwirtschaft deflatorisch handelten und die Bundesbank der monetaristischen Logik folgte. Dazu kam noch, dass der Koalitionspartner FDP aus der Bundestagswahl von 1980 gestärkt in die Koalition ging und seine wirtschaftspolitischen Interessen zunehmend strikter artikulierte. Vertrat die FDP vorher die Interessen ihrer mittelständischen Stammwähler und der Unternehmer im Sinne der Förderung des wirtschaftlichen Wachstums, waren im Kontext der global hohen Zinsen die Einkommensinteressen der Kapitalbesitzer unmittelbar auf den Kapitalmärkten zu befriedigen, und für die FDP trat eine einseitige Verteilungs- und Steuerpolitik in den Vordergrund. Die „politische Ökonomie der sozialliberalen Koalition [wurde] zum Nullsummenkonflikt“, bei dem die Verteilung nicht aus dem Wachstum, sondern auf Kosten anderer Gruppen organisiert werden sollte (Scharpf 1987: 195). Es waren jedoch nicht nur die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Interessen des Koalitionspartners, die sich verändert hatten. Statt des Keynesianismus schoben sich immer mehr die Ideen der Angebotstheorie bzw. des Monetarismus in den Vordergrund. Auch Schmidt war diesen Vorstellungen nicht abgeneigt (vgl. Scherf 1986a: 57). Im Haushalt von 1981 waren schon einige Einsparungen in Bereichen vorgenommen worden, die der SPD besonders am Herzen lagen. Innerhalb der Regierung wie auch der Partei führte dies zu heftigen Kontroversen. Die steigenden Kosten der Arbeitslosigkeit gaben den Ausschlag für ein Maßnahmenpaket, das die Richtung sozialdemokratischer Politik zu dieser Zeit grundlegend verändern sollte: die Operation ´82. Diese reduzierte materiell und formell die Leistungen für die Klientel der SPD: Kürzung der Lohnersatzleistungen für Arbeitslose, 161
Einschränkungen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Kürzungen beim Kindergeld und der Arbeitnehmersparzulage (vgl. Schäfer 1982). Kein Wunder, dass selbst die bis dahin bis „zur Selbstverleugnung loyalen“ (Scharpf 1987: 197) Gewerkschaften gegen die Regierung mobil machten. Im Herbst 1982 hatte der sozialdemokratische Finanzminister Manfred Lahnstein im Auftrag von Schmidt ein Papier erarbeitet, das mit geringfügigen sprachlichen Änderungen auch zur Begründung der Agenda 2010 hätte herangezogen werden können (vgl. Abelshauser 2004: 446). Der Bruch der sozialliberalen Koalition kam dazwischen. Die Politik der Koalition hatte den Endpunkt ihrer Erschöpfung erreicht. Die Zeit der Reformen war vorbei, und das sozialdemokratische Politikmodell der Nachkriegszeit hatte eine bittere Niederlage erlitten. Allerdings, und das ist wesentlich, blieb die institutionelle Konfiguration der sozialen Sicherheit erhalten. Die Abkehr von der keynesianisch-sozialdemokratischen Politik im Endstadium der sozialliberalen Koalition bedeutete auch noch nicht das Ende des überlieferten keynesianischen politischen Paradigmas in der SPD. Als Kanzler hatte Schmidt sich durchgesetzt und als Person hatte er sich von den keynesianischen, nachfrageorientierten und interventionistischen Rezepten zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verabschiedet. Er entgegnete der SPD-Fraktion, die ein kreditfinanziertes Beschäftigungsprogramm vorgeschlagen hatte: „Wer mehr tun will, muss in die Geld- und Sozialleistungen tiefer hineinschneiden, als es in dem Kompromisspaket von mir vorgeschlagen wurde. Von den beiden Möglichkeiten scheitert die eine, es nämlich durch höhere Kreditaufnahmen zu finanzieren, an mir. Ich kann das nicht verantworten. Die zweite Möglichkeit scheitert an euch. Wer mehr für die beschäftigungswirksamen Ausgaben des Staates tun will, muss tiefer, noch viel tiefer als hier in die Sozialleistungen reinschneiden“ (zit. nach Winkler 2000a: 393).
Wie weit die politische Ökonomie des Kanzlers und der SPD samt ihrer Präferenzen und Ziele sich entkoppelt hatten, zeigen die Ergebnisse des SPDParteitags in München nur wenige Monate vor dem Bruch der Koalition. Schmidt konnte sich in den höchst kontroversen, von großen sozialen Bewegungen begleiteten Fragen der Sicherheits- und Energiepolitik noch mit deutlichen Mehrheiten durchsetzen. Nicht so in der Wirtschafts- und Verteilungspolitik. Die Delegierten beschlossen ein staatliches Beschäftigungsprogramm, das durch eine Extraabgabe für hohe Einkommen finanziert werden sollte, zudem bekannten sie sich zur Politik der Investitionslenkung. Allen war klar, dass solche Forderungen mit der FDP nicht zu machen waren (vgl. Winkler 2000a: 390; Abelshauser 162
2004: 440). Kurzum: In der SPD blieb das keynesianische Deutungsparadigma dominant, und schon wenige Monate nach dem Bruch der Koalition hatte die SPD „mehrheitlich mit Schmidt gebrochen“ (Walter 2002: 215). 6.2 Thatcher ante portas: Labours Selbstdemontage Im Jahr 1970 gewannen die Konservativen die Wahl und die Regierung von Edward Heath griff erstmalig den britischen Wohlfahrtsstaatskonsens der Nachkriegszeit an. Allerdings setzten sie in ihrer Strategie zur Krisenbekämpfung – die Arbeitslosigkeit war noch 1972 auf über 1 Million gestiegen – auf Rezepte, die einer ähnlichen kollektivistischen und interventionistischen Logik folgten, wie sie auch die Labour Party in den 1960er Jahren praktiziert hatte: eine keynesianische Fiskalpolitik, dazu Verstaatlichungen sowie Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung, die gleichzeitig die britische Volkswirtschaft stabilisieren sollten und nicht unbedingt antiegalitär waren (vgl. Sassoon 1996: 498; Scharpf 1987: 103). Zur interventionistischen Politik der Heath-Regierung gehörte auch eine gesetzliche Einkommenspolitik. Die Einkommenspolitik hatte schon Ende der 1960er Jahre zwischen der Labour Party und den Gewerkschaften zu heftigen Konflikten geführt, aber bei einer konservativen Regierung waren keine sedativen Loyalitäten vorhanden, die eine Konfrontation zwischen Gewerkschaften und Regierung verhindert hätten. Zu dieser kam es mit dem damals noch stärksten Teil der britischen Gewerkschaftsbewegung – den Bergarbeitern. Der Konflikt eskalierte, die Konservativen riefen 1974 Neuwahlen aus und fragten, wer das Land regiere: die Gewerkschaften oder die Regierung. Am Ende war es wieder die Labour Party, da die Konservativen die Wahlen knapp verloren. Der Sieg wurde als allgemeiner Sieg der Linken wahrgenommen. Der neue Premierminister war der alte, Harald Wilson, er hielt aber nur bis 1976 durch. Sein Nachfolger wurde Jim Callaghan, der sich innerparteilich gegen den Linken Michael Foot durchgesetzt hatte. In der Zeit der Opposition von 1970–74 war die Partei – wie meistens in der Opposition – nach links gerückt. Viele aus der „first-generation middle class“ (Tanner 2000: 259), die beeinflusst waren von den sozialen Bewegungen (z. B. der in Großbritannien einflussreichen Kampagne für atomare Abrüstung), prägten die Debatten in der Labour Party. In den verschiedenen Unterkomitees der Partei wurde fieberhaft über Konzepten einer Alternative Economic Strategy (AES) gebrütet, die intellektuell insbesondere von dem linken Wirtschaftswissenschaftler Stuart Holland inspiriert war (vgl. Thompson 1996a: 197–214). 163
Diese Komitees waren innerparteilich durchaus einflussreich, aber es gab eine Abkoppelung von dem Parteiflügel, der sich der Exekutive zurechnete. Wilson, Callaghan, Jenkins und Crosland nahmen nicht an ihnen teil, ja sie betrachteten sie mit ausgesprochener Geringschätzung. Im Jahr 1973 veröffentlichte die Labour Party ein „Parteiprogramm“. Dies ist insofern missverständlich, da die Labour Party keine Programmpartei im klassischen Sinne ist. Sie definiert ihre Positionen für gewöhnlich in den Wahlprogrammen und in unterschiedlichen Policy Papers. Das „Programm“ der Labour Party kommt von seiner Anlage dem Organisationsrahmen `85 nahe – weniger als ein Grundsatzprogramm, aber deutlich reflektierter, strategischer und auch länger als ein Wahl- oder Aktionsprogramm.163 Das Programm von 1973 atmete den Geist der politischen Radikalisierung durch die „neue Linke“. So hatte es, obwohl in der Tradition der Labour Party kaum verankert, auch starke neomarxistische Einflüsse (vgl. Padgett/Paterson 1991: 50). Gleichwohl stellt das Programm eine starke Kontinuität zum Verständnis von politischer Ökonomie und sozialer Gerechtigkeit der Nachkriegsära der Labour Party dar – in radikalisierter Diktion. Das Programm von 1973 ist, obwohl 122 Seiten lang, hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit relativ einseitig und wenig differenziert. Verstaatlichungen werden zu dem ultimativen Mittel für soziale Gerechtigkeit erklärt, während soziale Reformen als notwendiges und wichtiges, dennoch unzureichendes Instrument erklärt werden: „Social reform of itself cannot bring about effective progress towards equality” (Labour Party 1973: 30). In der Gesellschaft relativen Wohlstands veränderte sich die Wahrnehmung und es setzte sich der Prozess fort, der schon während des Goldenen Zeitalters eingesetzt hatte: Zwar wurde die immer noch vorhandene Armut angeprangert, das Gerechtigkeitsprinzip des Minimums spielte jedoch im Verhältnis zur egalitären Verteilungsgerechtigkeit nur eine äußerst marginale Rolle. Reichtum, Vermögen und hohe Einkommen sollen stark besteuert werden, aber die Begründungen und die Gerechtigkeitsprinzipien sind einseitig. Der klassische Topos „unverdientes Vermögen“ spielt eine zentrale Rolle, wird aber lediglich im Kampf gegen die ökonomischen „Privilegien“ der Wohlhabenden apostrophiert. Leistungsgerechtigkeit wird nicht zur Begründung von steuerlicher Umverteilung herangezogen, man beschränkt sich fast ausschließlich auf die egalitäre Verteilungsgerechtigkeit (vgl. Labour Party 1973: 36–39). Mit geringerer Häufung und Dichte, aber pro163 Deshalb ist die gewöhnliche Beschreibung der Labour Party als prozesshafte Partei, die sich um programmatische Fragen nicht kümmert, nicht ganz treffend. Zwar hat sie nicht den weltanschaulichen Pathos in ihren Programmen wie die SPD, hat aber zwischenzeitlich eine enorme programmatische Produktivität an den Tag gelegt.
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minenter Sichtbarkeit ist die Chancengleichheit hervorgehoben: „Social equality is […] about extending opportunities to those who are currently denied them“ (Labour Party 1973: 9). Im Programm von 1973 waren, nachdem in den 1950ern Verstaatlichung von den Revisionisten vorsichtig in Zweifel gezogen worden war, Planung und die Sozialisierung der Schlüsselindustrien wieder eng verzahnt. In der AES kamen die Linkswendung der Parteibasis und das klassische kollektivistische Denken der Labour Party auf der Basis einer veränderten Zeitdiagnose zusammen (vgl. Thompson 1996a: 197–214, 229–34). Obwohl gemeinhin in der AES eine Abwendung vom Keynesianismus gesehen wurde, war es die Infusion von Planungselementen in die keynesianische politische Ökonomie. Man sah im Wachstum der multinationalen Unternehmen eine neue Stufe im Kapitalismus, die den Konzernen einen beträchtlichen Machtzuwachs bescherte. Deshalb sollte die Verstaatlichung der 25 größten Unternehmen einen Quantensprung in der demokratischen Planung der Wirtschaft ausmachen. Das National Enterprise Board (NEB) sollte eine Staatsholding sein, die die wichtigsten Unternehmen kontrolliert, plant und Beschäftigung schafft.164 Nur – das NEB sollte in dieser Form niemals umgesetzt werden. Als Labour 1974 an die Regierung zurückgekehrte, hatten die Ansprüche des linken Parteiflügels einen schweren Stand. Stück für Stück wurden ihre Ambitionen auf Verstaatlichungen und Planung zurückgedrängt, die Parteiführung und die liberalen Keynesianer wie Crosland und Jenkins konnten sich dahingehend durchsetzen, dass man keinen Großkonflikt mit den Unternehmern des Landes riskierte, indem man ihre Eigentumsrechte beschnitt (vgl. Shaw 1996a: 122–27).165 Von den 25 größten Unternehmen, die zur Verstaatlichung gedacht waren (zwischenzeitlich waren es sogar mal 100), wurden nur einige wenige in die öffentliche Hand überführt. Davon waren die meisten ohnehin auf staatliche Subventionen angewiesen, nur bei der Verstaatlichung der British National Oil Company wurden tatsächlich strategische Ziele verfolgt. Lediglich eine freiwillige Konsultation zwischen Regierung und Unternehmen wurde in ein White Paper der Regierung geschrieben, wirkliche Planung, die auch Sanktionsmöglichkeiten der Regierung beinhaltete, war nicht vorgesehen. Letztlich war das NEB 164
Zu dieser Strategie sollte auch industrial democracy gehören. Diese war vor allem auf die individuellen Rechte am Arbeitsplatz bezogen; die repräsentative und kooperative Mitbestimmung nach dem deutschen Modell wurde zwar diskutiert, blieb aber immer nur eine Forderung ohne großen Rückhalt, da die britischen Gewerkschaften die Kooperation mit den Unternehmen bei der Unternehmensführung mehrheitlich aus Prinzip ablehnten (Degen 1976). 165 Später wurde Crosland von den Linken unterstützt, da er am Keynesianismus festhielt, als Callaghan zur Austeritätspolitik schwenkte.
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lediglich der Einstieg in eine Strategie der industriellen Modernisierung (vgl. Sassoon 1996: 513–15). Strategisch war die Situation für die Labour Party äußerst kompliziert. Die Heath durch die Bergarbeiter beigebrachte Niederlage ließ sie vor einer Wiederbelebung gesetzlicher Einkommenspolitik zurückschrecken, dennoch vertrat man in der Regierung und insbesondere im Schatzamt die Position, dass „die Märkte“ eine gesetzliche Einkommenspolitik zur Eindämmung der Inflation verlangten (vgl. Sassoon 1996: 502). Zunächst wurde keynesianische Kontinuität gewahrt, indem auf Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung, selektive Interventionen zur Rettung kriselnder Unternehmen und ausgeweitete Weiterbildungsprogramme gesetzt wurde. Der Eckpfeiler der Regierungspolitik war der Social Contract mit den Gewerkschaften. Darin wurden zahlreiche Verbesserungen sowohl in den Arbeitsbeziehungen als auch bei den wohlfahrtsstaatlichen Leistungen vereinbart, allerdings begann man auch mit den ersten Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung. Neben verfeinerten Schlichtungsverfahren gab es einen verbesserten Kündigungsschutz bei Arbeitskämpfen für die Shop Stewards166, einen qualitativ höherwertigen betrieblichen Kündigungsschutz sowie Leistungsverbesserungen beim Gesundheitsdienst. Zudem sollten die Renten und das Kindergeld angehoben werden. Alles in allem waren es de-kommodifizierende Maßnahmen, die in der Produktions-, in der Verteilungs- und Reproduktionssphäre stattgefunden haben. Im Gegenzug erklärten sich die Gewerkschaften beim Social Contract bereit, ihre Lohnforderungen an die gesamtwirtschaftliche Situation anzupassen.167 Mit dem Social Contract wurden anfangs Erfolge in der Kooperation mit den Gewerkschaften erzielt, auch wenn die Regierung die Inflation nicht in den Griff bekam, die Gewinne der Unternehmen schrumpften und das Pfund weiter unter Druck stand. Zunächst hielten sich die Gewerkschaften an ihre Zusagen für moderate Lohnforderungen. Sie unterwarfen sich freiwillig einer wiederbelebten Einkommenspolitik, konnten aber durchsetzen, dass in dieser das Lohndifferenzial tendenziell gestaucht wurde. Mit anderen Worten: Sie verzichteten auf Autonomie und höhere Lohnsteigerungen für eine größere Gleichheit innerhalb der 166 In Großbritannien sind die Shop Stewards sowohl die Sprecher der Belegschaft als auch die lokalen Vertreter der Gewerkschaften. Anders als im dualen System der Interessenvertretung in Deutschland, in dem die Betriebsräte für betriebliche Fragen zuständig sind und die Gewerkschaften als Tarifparteien auftreten, sind die Shop Stewards Verhandlungspartei sowohl bei tariflichen als auch betrieblichen Fragen (vgl. Kastendiek 1999: 338f). 167 Diese Einbindung der Gewerkschaften durch die Regierung kann nicht unbedingt als Korporatismus bezeichnet werden, da der britische Arbeitgeberverband aufgrund seines geringen Organisationsgrads nicht einbezogen war.
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Arbeiterschaft. Steigende Arbeitslosigkeit und sinkende Reallöhne wiesen jedoch für die Gewerkschaften eine negative Bilanz der freiwilligen Einkommenspolitik aus (vgl. Scharpf 1987: 106–9).168 Etwas später als in Deutschland war in Großbritannien das Jahr 1977 der Scheitelpunkt der wohlfahrtsstaatlichen Expansion. Einkommensbezogene Leistungen nahmen sowohl bei der Renten- als auch bei der Arbeitslosenversicherung einen immer größeren Raum ein. Allerdings mussten zu ihrer Finanzierung immer höhere Steuern erhoben werden (vgl. Thane 2000: 110–12; Perry 1986: 162–67). Die Ungleichheit ging durch wohlfahrtsstaatliche Umverteilung nur gering zurück, aber sie ging zurück (vgl. Perry 1986: 198f, 209; Lowe 1993: 282–93). Die Parteilinken wurden Ende der 1970er Jahre in der Partei regelrecht marginalisiert. Die beiden Aushängeschilder Tony Benn und Michael Foot genauso wie der radikale Wirtschaftswissenschaftler Stuart Holland verloren an Einfluss. Das lag auch daran, dass sich die gesellschaftliche Stimmung verändert hatte. Weder in der Bevölkerung, erst recht nicht in den Medien, aber auch nicht bei den Abgeordneten oder den Gewerkschaften stießen die Parteilinken noch auf große Unterstützung. Im Jahr 1977 verlor die Labour Party ihre Mehrheit und war fortan auf die Stimmen der Liberalen angewiesen. Diese Abhängigkeit verschob die innerparteilichen Kräfteverhältnisse nochmals zu den Parteirechten und schwächte den ohnehin geringen Einfluss der Linken. Zu diesem Zeitpunkt entkoppelten sich die „Partei in der Regierung“ und die „Parteiorganisation“ stärker als jemals zuvor. Mit der Wirtschaftskrise und der Inflation liefen die ohnehin konfligierenden Interessen von verschiedenen Kapitalfraktionen und den Gewerkschaften weiter auseinander. Für die Gewerkschaften war die Inflation ein Problem, weil sie die Einkommen der Arbeitnehmer schrumpfen ließ, aber für die Kapitalbesitzer war eine starke Inflation ebenso bedrohlich, weil diese eine Entwertung ihres Kapitals und eine Umverteilung zugunsten ihrer Schuldner bedeutete. Während die Gewerkschaften durch den Kampf für höhere Löhne ihren Kaufkraftverlust ausgleichen wollten, waren für die Unternehmer die Lohnsteigerungen die Ursache der Inflation. Zudem war der beständige Druck auf das Pfund Gift für den Finanzplatz London. Inflationsbekämpfung wurde so zur zentralen Präferenz für die Kapitalbesitzer, aber auch in der Labour Party wurde das Ziel der Vollbe168 Die Regierungspolitik widersprach in vielerlei Hinsicht dem Parteiprogramm, das Wort Einkommenspolitik kam darin nicht vor, obwohl dies doch der Grundstein der Regierungspolitik war (Sassoon 1996: 501).
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schäftigung durch das Ziel der Preisstabilität herausgefordert. Als 1976 das Pfund abermals unter Druck geriet, war die Wendezeit für das keynesianische Paradigma in der wirtschaftspolitischen Praxis erreicht. Bereits 1975/76 war die Regierung auf einen monetaristischen Kurs in der Praxis umgeschwenkt (vgl. Hall 1992: 99f). Die internationale Spekulation gegen das Pfund brachte die Devisenbilanz ins Ungleichgewicht. Um diese auszugleichen und das Pfund zu stützen, war man schließlich „gezwungen“, einen Kredit beim IWF aufzunehmen.169 Der wiederum forderte obligatorische Haushaltskürzungen – auch um die Inflation einzudämmen, die höher als im übrigen Europa lag. Die Zustimmung zum IWF wurde in der Parteimythologie später als „the day international capitalism destroyed the Labour government“ gesehen (Sassoon 1996: 504). Aber wie bei Mythen und Legenden üblich, es entsprach nicht der ganzen Wahrheit. Zweifellos war dem IWF, ja der internationalen wie der britischen Finanzwelt die keynesianische Politik mehr und mehr ein Dorn im Auge. Aber die vom IWF vorgeschlagenen Maßnahmen wurden in den führenden Regierungskreisen „sogar eher begrüßt“ (Scharpf 1987: 111). Auf eine Restriktionspolitik hatte die Labour-Regierung ohnehin schon mehr oder weniger heimlich umgeschaltet, war aber offiziell immer noch dem keynesianischen Paradigma verpflichtet. Durch den IWF wurde sie formal zu dem gezwungen, was sie bereits in ihre politischen Präferenzen eingebaut hatte. Nach keynesianischer Lesart war die Wirtschaft 1976 nicht überhitzt, innerhalb der Partei hätte es wenig Zustimmung zu einer Konsolidierungspolitik gegeben. Der Schatzkanzler Denis Healey bezeichnete sich schon seit 1975 nicht mehr als Keynesianer. Dem Keynesianismus als politische Ökonomie für die Labour-Regierung wurde von Premierminister Callaghan am 28. September 1976 auf dem Labour-Parteitag dann auch offiziell eine Absage erteilt: „We used to think that you could spend your way out of a recession and increase employment by cutting taxes and boosting government spending. I tell you in all candour that that option no longer exists, and in so far as it ever did exist“ (zit. nach Sassoon 1996: 500).
169 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der IWF ausgerechnet in jenem Land zuerst intervenierte, welches Marx bei der Abfassung von „Das Kapital“ vor Augen hatte – weil es damals der am weitesten entwickelte Kapitalismus war. Marx’ Prophezeiung, dass das „industriell entwickelte Land […] dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft“ (Marx 1867: 12) zeige, sollte sich für die Entwicklungsländer in den 1980er und 1990er Jahren bitter bewahrheiten, als der IWF Kredite mit „Strukturanpassungsprogrammen“ verband.
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Es war die Labour Party selbst, die die ersten Schritte in Richtung Monetarismus in der Wirtschaftspolitik ging (vgl. Hall 1992a: 99f; Hay 2002a: 208). Die Rede von Callaghan wurde von einem der bekanntesten Journalisten des Landes, seinem Schwiegersohn Peter Jay geschrieben, der neben Samuel Brittan der wichtigste Popularisier monetaristischer Ideen in der Öffentlichkeit war. In Großbritannien gab es so etwas wie eine Massenkonversion von Journalisten und Wissenschaftlern Mitte der 1970er Jahre, die alle die monetaristische Doktrin übernahmen. In einer sehr radikalen Interpretation bezweifelt Eric Shaw (1996a: 139f) sogar, dass es überhaupt einen wirklichen ökonomischen Handlungszwang gegeben habe, als man die Strukturanpassungsprogramme anging. Die makroökonomischen Daten seien viel besser gewesen, als oftmals dargestellt; der Kern der Krise sei im Wesentlichen eine politische gewesen, in der eine neue Machtkonstellation aus dem Unternehmerlager und der politischen Rechten ihr Projekt eines Rückbaus des keynesianischen Wohlfahrtsstaats vorangetrieben hätte. Tatsächlich war beispielsweise die Staatsquote bis Mitte der 1970er Jahre auf ein bisher nicht gekanntes Niveau gestiegen, jedoch wich die Entwicklung nicht unbedingt von der deutschen ab (vgl. Abbildung 4).170
170 Quelle: Eurostat, eigene Berechnungen. Wie der Abbildung zu entnehmen ist, stieg die Staatsquote in den 1970ern massiv. Aus der Abbildung lassen sich nur Trends herauslesen, da z. B. der Konjunktureinbruch Anfang der 1970er automatisch die Staatsquote steigen lässt. Auch eine hohe Arbeitslosigkeit kann die Staatsquote in die Höhe treiben. Dass die Quote in den 1980ern in Großbritannien besonders hoch war, lag nicht an einem vermeintlichen Staatsausbau durch die ThatcherRegierung, sondern an der nach oben geschnellten Arbeitslosigkeit von mehr als zehn Prozent.
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Abbildung 4: Die Entwicklung der Staatsquote
Es spielt keine Rolle, ob es ökonomisch tatsächlich „notwendig“ war, den Haushalt zu beschneiden, sondern dass in der Regierung generell die Meinung vertreten wurde, dass „die Märkte“ in ihren Ansprüchen befriedigt werden müssten. Shaw tendiert in seiner Interpretation dazu, den Wandel als Coup d’Etat des Kapitals zu werten, während es wohl eher das Wechselverhältnis aus gewandelten Präferenzen und Ideen der Labour-Führung und den sozialen Interessen und strukturellen Veränderungen in der britischen Gesellschaft und Wirtschaft – z. B. die gewachsene Macht der Finanzmärkte – war, das den Wandel zum Monetarismus befeuerte (vgl. Hall 1992a: 98–193). Die Restriktionspolitik der Labour-Regierung ließ die Arbeitslosigkeit steigen, aber die Inflation bremste nur mäßig ab. Die Regierung entschloss sich deshalb, eine harte Lohnleitlinie von 5 Prozent anzusetzen. Diese wurde zwar nicht gesetzlich festgelegt, sondern nur administrativ über die Unternehmen sanktioniert, aber es reichte, um mit den Gewerkschaften in Konflikt zu geraten. Vor allem der TUC hatte schon vorher seine ganzen Loyalitätsressourcen in die Waagschale geworfen. Einige Facharbeitergewerkschaften, die ihre Freiheitsgrade unter den egalitären Lohnrichtlinien besonders beschränkt sahen, wollten ihre eigene Verhandlungsmacht endlich wieder voll einsetzen können. Auch die Shop 170
Stewards wollten sich aus der Zwangsjacke der vom TUC mitgetragenen Einkommenspolitik befreien. Für die Gewerkschaften hatte die Einkommenspolitik am Ende nur noch „disminishing returns“ aufzuweisen (Shaw 1996a: 155). Denn die realen Lohnverluste wurden sozialpolitisch nicht mehr hinreichend kompensiert, vor allem, da die Regierung ihre Ausgaben immer weiter reduzierte. Am Ende stand der „Winter der Unzufriedenheit“ 1978/79 – das Bündnis von Labour Party und Gewerkschaften zerschellte in einer Reihe von Arbeitskämpfen (vgl. Scharpf 1987: 113–17; Kastendiek 1999: 342f). Aber entgegen oft gebrachter Interpretationen war der Winter der Unzufriedenheit weniger ein Produkt übertrieben streiklustiger britischer Gewerkschaften, sondern eine Folge „des gescheiterten Gesamtarrangements der Gesellschaftspolitik nach 1945“ (Kastendiek 1999: 344). Die Entkoppelung von Partei und Regierungskabinett erreichte in diesem Jahr seinen Höhepunkt. Das NEC sah sich zur Lobbygruppe in der Regierung degradiert. Ende der 1970er Jahre war die Labour Party eine fragmentierte Partei, in der die einzelnen Teile noch organisatorisch verkoppelt, aber nicht mehr politisch wechselseitig verbunden und verantwortlich waren (vgl. Shaw 1996a: 162–65). Bei den Wahlen von 1979 konnte sie Margaret Thatcher nichts entgegensetzen, denn sie hatte Teile von Thatchers Agenda antizipiert. 6.3 Die „organische Krise“ der keynesianischen Sozialdemokratie SPD und Labour Party fanden sich in den 1970ern in einer ähnlichen Problemlage wieder, der Kombination aus ökonomischer Krise, Inflation und der Finanzkrise des Wohlfahrtsstaats. Auch das Muster, mit dem beide Parteien versuchten, dieses Problems Herr zu werden, ähnelte sich. Beide versuchten zunächst Arbeitslosigkeit und mangelndes Wirtschaftswachstum durch Beschäftigungsprogramme und keynesianische Wirtschaftspolitik zu bekämpfen. Das Problem für die Labour Party und die SPD war, dass sie es nicht schafften, „wesentlich über traditionell sozialdemokratische und korporatistische Rezepte hinauszugehen; und die hatten sich bis Mitte der 1970er Jahre als mit den Erfordernissen der Kapitalakkumulation unvereinbar erwiesen“ (Harvey 2007: 22). Die klassischen keynesianischen Reaktionen wurden in ihrer spezifischen Form von den unterschiedlichen politischen Kulturen, Traditionen, Institutionen und Strukturen geprägt. Die exportorientierte, korporatistische, stark antiinflationäre Politik der sozialliberalen Koalition (die zudem von einer unabhängigen Bundesbank geprägt wurde) setzte auf dem Arbeitsmarkt auf die in den 1960er Jahren entwickelte Arbeitsmarktpolitik. Die Labour-Regierung war geprägt vom 171
Niedergang der Industrie und einer schon damals starken City und changierte zwischen Einkommenspolitik, kollektivistischer Industriepolitik und der Stabilisierung des Pfunds. Ab Mitte der 1970er Jahre versuchten beide Regierungen, der Inflation und der Finanzkrise des Wohlfahrtsstaats mit Haushaltskürzungen beizukommen. In der Folge stand man zwischen den konfligierenden Zielen der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Inflation.171 Nachdem die keynesianischen Rezepte nicht gegriffen hatten, gaben Schmidt und Callaghan die keynesianische Wirtschaftspolitik auf, setzen auf Haushaltskonsolidierung und adaptierten monetaristische Politikelemente. Sie legten die Gleise, auf denen später eine fremde Lok fuhr. Sowohl bei der Labour Party als auch bei der SPD gab es eine Entkoppelung von der Partei in der Regierung mit der Partei an der Basis, denn der monetaristische Kurs konnte auf keinen innerparteilichen Konsens zurückgreifen. Schmidt und Callaghan fanden auch in ihren Kabinetten keine einhellige Zustimmung, geschweige denn in den Fraktionen. So kann man davon sprechen, dass zwar selektive Präferenzwechsel stattgefunden haben, das keynesianische Paradigma in eine schwere Funktions- und Legitimationskrise geraten war, aber nicht abgelöst wurde. Die „organische Krise“ der keynesianischen Sozialdemokratie bestand gerade in der Tatsache, dass „das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt“ gekommen war (Gramsci 1991ff: 354). Das Neue kam erst viel später, in den 1990er Jahren, in Gestalt der Marktsozialdemokratie zur Welt.
171 Eine der zentralen Thesen der Korporatismusforschung (vgl. Beyme 1984; Streeck/Kenworthy 2005) ist, dass der hohe Zentralisierungsgrad der deutschen Gewerkschaften nicht unwesentlich dazu beitrug, dass die deutsche Wirtschaft weniger stark mit der Inflation zu kämpfen hatte als die britische.
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7. Die Transformation zur Marktsozialdemokratie „I believe in greater equality. If the next Labour Government has not raised the living standards of the poorest by the end of its time of office it will have failed.“ Tony Blair „What’s left? Ich meine, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: die Begrenzung der Marktlogik, vorsichtiger ausgedrückt: die Einbettung marktwirtschaftlicher Rationalität; die Sensibilisierung für die soziale Frage, das heißt die Förderung des Sozialstaates und bestimmter demokratischer Institutionen.“ Peter Glotz
Als nach 1973 die ökonomische, soziale und nicht zuletzt politische Stabilität zu Ende ging, die die Welt seit 1945 geprägt hatte, war sich dessen noch niemand bewusst. Die meisten gingen davon aus, dass die Probleme der Weltwirtschaft temporär blieben. Ja, bis in die 1980er Jahre war nicht klar geworden, wie „unwiederbringlich die Fundamente des Goldenen Zeitalters bereits zerstört waren“ (Hobsbawm 1995b: 504). Erst nach den Ereignissen von 1989, dem Zusammenbruch der „realsozialistischen“ Staaten, setzte sich diese Erkenntnisse Stück für Stück durch. Diese Epochenwende war gekennzeichnet durch den Aufstieg des Neoliberalismus im politischen Feld in Kombination mit „sozial subversiven“ (ebd.: 514) Entwicklungen in den gesellschaftlichen Strukturen. In ökonomischer Hinsicht waren dies vor allem die Prozesse der fortschreitenden Integration der internationalen Güter- und Finanzmärkte – kurz: Globalisierung – und die Veränderung der Produktion – kurz: Postfordismus –, die die Rahmenbedingungen für sozialdemokratische Politik veränderten. In sozialer Hinsicht war dies Modernisierung, Enttraditionalisierung und Individualisierung der sozialen Klassenverhältnisse und Lebensweisen sowie der Wandel der Einstellung der Bürger, die sozialdemokratische Parteien vor die Aufgabe stellten, alte und neue Anhänger in Allianzen bei den Wahlen zu vereinen. In diesem Kapitel werden zunächst in kurzer Form der Aufstieg des Neoliberalismus skizziert sowie die ökonomischen und sozialen Trends und ihre 173
Interdependenzen der letzten Jahrzehnte rekonstruiert. Letzteres geschieht unter einem bestimmten Blickwinkel: Wie wurden diese Entwicklungen gedeutet? Was waren die Schlussfolgerungen für sozialdemokratische Parteien? Nach dieser Rahmensetzung wird die Transformation zur Marktsozialdemokratie, die auf die „organische Krise“ der keynesianischen Sozialdemokratie folgt, untersucht. Die Fallstudien zur Labour Party und SPD sind unterschiedlich geordnet. Bei der Labour Party wird den Umbrüchen in Großbritannien während der Ära Thatcher und der Periode der Erschaffung von „New Labour“ mehr Gewicht eingeräumt, da sie für die Formierung des neuen politischen Paradigmas entscheidend waren. Im Abschnitt über Deutschland werden insbesondere die Jahre 1999–2007 (bei Labour schließt die Untersuchung mit dem Jahr 2005) analysiert, da diese den drastischen Wandel der SPD kennzeichneten. In einer vergleichenden Betrachtung werden am Ende des Kapitels sowohl die Homologien der Marktsozialdemokratie als auch ihre nationalen Spezifika und Kontingenzen herausgearbeitet. 7.1 Der Aufstieg des Neoliberalismus Der Optimismus der vergangenen Jahrzehnte verflog, der wohlfahrtsstaatliche Konsens bröckelte, die geistige Landschaft veränderte sich. Die wirtschaftliche Krise und die Finanzprobleme des Sozialstaats begünstigten die „Renaissance konservativer Krisentheorien“ (Offe 1979) unter dem Stichwort der „Unregierbarkeit“. Der neue antiwohlfahrtsstaatliche Diskurs war in Deutschland und Großbritannien durchaus ähnlich gelagert. Man diagnostizierte eine Anspruchsinflation und Erwartungsüberlastung gegenüber dem Staat, dessen Interventionen die Freiheit und dessen Generosität die Eigeninitiative beschneiden würden. Das Hauptargument der Neokonservativen und Neoliberalen war, dass der Staat und staatliche Intervention die wirtschaftliche Tätigkeit hemmten. Der umfassende Wohlfahrtsstaat wurde als schleichendes Gift für die Leistungsbereitschaft der Bürger betrachtet. Der Aufstieg des Neoliberalismus beruhte auf einer komplexen Situation, in der die Kritiker des Wohlfahrtsstaats erfolgreich die Schwächen und Widersprüchlichkeiten der Regierungspolitik des Goldenen Zeitalters anprangerten. Die gestiegenen Staatsausgaben des Goldenen Zeitalters ließen den Kapitalismus stabiler werden, schützen ihn aber nicht vor dem long downturn. Der voluminöse Staat war auch nicht besonders effizient organisiert, im Gegenteil, er verschwendete seine Ressourcen, entwickelte bürokratische Wucherungen und war nicht immer treffsicher in seinen Interventionen. Die (vor allem britischen) Unternehmen in Staatsbesitz zeugten nicht gerade von Produktivität und Dynamik. 174
Die neoliberale Theorie ist nicht erst in den 1970er Jahren entstanden, ihre Ursprünge gehen bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Ihre beiden wichtigsten Vertreter, Friedrich August von Hayek und Milton Friedman, hatten schon seit Jahrzehnten Lehrstühle inne, waren in ihren Anschauungen jedoch die meiste Zeit relativ isoliert – noch 1971 bekundete der republikanische amerikanische Präsident Nixon: „We are all Keynsians now“. Die Nachkriesperiode wäre „ohne den Konsens, dass die Wirtschaft […] vor sich selbst gerettet werden musste, nicht möglich gewesen“ (Hobsbawm 1995b: 345). Dieser Konsens kippte nun: „In spite of the lack of strong evidence, the neo-liberal idea that markets should be liberalized as much as possible, because they were the most efficient allocator of prices – including the price of Labour – became the dominant ideology, accepted in one form or another, in most of the world by virtually the entire spectrum of political opinion, including many of the Left“ (Sassoon 1996: 457).
Gerade wirtschaftswissenschaftliche Theorien sind nicht epistemologisch neutral, werturteilsfrei oder weltanschaulich unschuldig: „Economic theories are rationalizations of the political interests of conflicting classes and groups and should be treated as such“ (Przeworski 1985: 206). Die neoliberale Wirtschaftstheorie, darin sind sich ihre Kritiker einig, hat die Interessen der Kapitaleigentümer und eine „bestimmte ideologische Bindung rationalisiert“ (Hobsbawm 1995b: 510), während der Keynesianismus – wie in Kapitel 4 erläutert – einen produktivistischen Kompromiss aus den Interessen der Arbeiterschaft nach Umverteilung und Wirtschaftswachstum darstellt. Die neoliberale Theorie ist nicht einheitlich. In ihrem Kern ist sie eine verallgemeinerte Utopie des reinen Marktes, die antietatistisch und antiinterventionistisch ist. Der Neoliberalismus sieht den Markt als bestes Ordnungs- und Zuteilungsprinzip für alle Lebensbereiche (Foucault 2004; Harvey 2007).172 Zur Begründung und Differenzierung des neoliberalen Denkens trugen nicht nur die monetaristischen Theorien Milton Friedmans und die ordnungspolitischen Überlegungen Friedrich August von Hayeks bei, sondern ein ganzes Bündel damit verwandter Theorien wie die der rationalen Erwartungen und des Public Choice (vgl. Blyth 2002: 126–51). Theorien wie die NAIRU (Non Accelarating Inflation Rate of Unemployment) stellten die politischen Handlungsmaximen des Keyne172 Das ist in der Praxis oft recht widersprüchlich, da das Misstrauen gegenüber dem Staat und der Rekurs auf die Vorrangigkeit der „Freiheit“ oft mit der Notwenigkeit der staatlichen, zum Teil gewaltsamen Durchsetzung der Marktprinzipien verbunden ist.
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sianismus auf den Kopf: Jede über staatliche Intervention herbeigeführte Verringerung der Arbeitslosigkeit würde die Inflationsrate erhöhen. Die „natürliche“ Arbeitslosenquote könne nur durch eine Angebotspolitik, die die Kosten des Faktors Arbeit senkt, verringert werden. Die gesellschaftliche Zielscheibe der Neoliberalen war der Sozialstaat. Für sie hat der Staat keinerlei wirtschaftliche Befugnisse, er soll keine Produktionsmittel besitzen, keine Ressourcen umverteilen, noch darf er in die Preisstruktur eingreifen. Vor allem soll er die meisten Dienstleistungen, sei es das Gesundheitswesen, öffentliches Wohneigentum oder die Rente, privaten Anbietern überlassen. Der staatliche Sektor bietet für die Neoliberalen ein riesiges Reservoir: Vermögenswerte und die öffentliche Daseinsvorsorge, eine kolossale Sphäre wirtschaftlicher Tätigkeit, die bislang der privatwirtschaftlichen Gewinnorientierung entzogen war, sollen privatisiert und kommodifiziert werden.173 Aber auch aus Gründen der Machtressourcen war den Neoliberalen der Sozialstaat ein Dorn im Auge. Der soziale Kapitalismus der 1950er und 60er Jahre hatte seinen Ausdruck in einem veränderten Staat, eben dem Sozialstaat gefunden. Als „Verdichtung der Kräfteverhältnisse“ (Poulantzas 2002) war der Sozialstaat ein Produkt der gewachsenen Macht der Arbeiterbewegung (vgl. Korpi 1978, 1983; EspingAndersen 1985, 1998). Das Wesen der neoliberalen Wende bestand darin, die Unternehmer vom Netz sozialer und politischer Handlungsbeschränkungen zu befreien, die der soziale Kapitalismus vorher entwickelt hatte (Duménil/Lévy 2004; Harvey 2007). Man wollte die eigene „Klassenmacht“174 gegenüber der organisierten Arbeiterbewegung erhöhen und gleichzeitig eine erneuerte Grundlage der Kapitalakkumulation schaffen. Die begrenzte Planung des Wirtschaftsablaufs, die soziale und moralische Selbstverpflichtung auf Vollbeschäftigungspolitik und den Sozialstaat, sollten zurückgedrängt werden. Der Neoliberalismus wäre nicht so erfolgreich geworden, wenn er nicht auf der Erschöpfung des Goldenen Zeitalters, seiner tradierten Institutionen sowie der dazu gehörigen Wirtschaftspolitik hätte aufbauen können. Der Keynesianismus funktionierte in der Situation der Stagflation nur begrenzt, da die Preisentwicklung sensibel reagierte, aber auch die gesteigerte Integration der Güter- und Kapitalmärkte hatte der klassisch keynesianischen Politik neue Koordinationsprobleme beschert. Der Keynesianismus verlor in der Folge an hegemonialer Kraft, während der Neoliberalismus sich in den Kreisen des (Finanz-)Kapitals, 173
David Harvey (vgl. 2007: 198-213) nennt diesen Prozess „Akkumulation durch Enteignung“. Was aber nicht gleichbedeutend ist mit der Herstellung der ökonomischen Macht der alten Wirtschaftseliten. Vielmehr reflektierte es einen Machtzuwachs der Eliten aus den neuen Industrien und dem Bereich der Finanzdienstleistungen (vgl. Harvey 2007: 42-47). 174
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bei zahlreichen Journalisten, den meinungsbildenden Kreisen und Institutionen festsetzte. Auch die individualistische und libertäre Ausprägung der neuen sozialen Bewegungen der 1960er Jahre gab den Neoliberalen einen politischen Anknüpfungspunkt für ihre radikale (wirtschafts-)liberale Agenda (vgl. Harvey 2007: 52–70). Eine wichtige Stütze bei der Verbreitung neoliberaler Ideen waren auch die extra dafür geschaffenen und von der Wirtschaft freigebig unterstützten Think-Tanks (Dixon 2000; Plehwe/Walpen 2002). Der Neoliberalismus zog in den 1970er Jahren in den Parteienwettbewerb ein. In ihre Kritik an der schlechten ökonomischen Entwicklung nahmen die Konservativen oder Christdemokraten bedeutende Elemente des Neoliberalismus auf. Vorher hatten die konservativen Parteien mit den sozialdemokratischen um den Ausbau des Sozialstaats konkurriert, nun wetteiferte man um die Reorganisation der kapitalistischen Prosperität. Während die sozialdemokratischen Parteien weiterhin auf keynesianische Rezepte, einen Ausbau des Wohlfahrtsstaats und einen hohen Regulationsgrad setzten, profilierten sich die konservativen Parteien mit einer Stärkung der Marktprinzipien, der individuellen Verantwortung und zumindest dem Stopp des weiteren Sozialstaatsausbaus.175 7.2 Zersetzung, Erneuerung und Dritte Wege Globalisierung in ihrem ökonomischen Sinne bedeutet die Zunahme internationaler Handelsströme, die Integration der Märkte für Güter, Kapital und Dienstleistungen. Nach 1945 wurden bestehende Handelsbarrieren reduziert und die wirtschaftlichen Beziehungen durch internationale Abkommen und mittlerweile sogar Institutionen wie die Welthandelsorganisation WTO ersetzt. Trotz der starken Zunahme an Ausmaß und Dichte der Globalisierung ist der Prozess der weltwirtschaftlichen Integration keineswegs neu. Neu ist lediglich die Dimension, die er in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts erreicht hat (Borchardt 2001; Osterhammel/Petersson 2003). Genauso bedeutsam wie der Prozess der Globalisierung ist seine Deutung – vor allem hinsichtlich des Grads staatlicher Souveränität und wirtschaftspolitischer Effektivität. Einig ist man sich, dass die Handlungsfähigkeit des Nationalstaats neu bestimmt wird (vgl. Altvater/Mahnkopf 1999; Held et al. 1999). Die Globalisierungsapologeten nehmen jedoch an, dass die Globalisierung die nationalstaatliche Handlungsfähigkeit fast völlig eingeebnet hat und es keine andere Option gibt, als dem globalen Wettbewerb mit Wettbewerb zu begegnen (vgl. 175
In der wirtschaftspolitischen Praxis setzten die Neoliberalen allerdings gänzlich pragmatisch keynesianische Methoden bei der Krisenbekämpfung ein. Für Großbritannien vgl. Heise (1999).
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Held et al. 1999: 3–10). Die Globalisierung führte bei den meisten Sozialdemokraten zu der Überzeugung, dass es keine nationalen Lösungen gegenüber dem internationalen Wettbewerb gebe. Eine internationale Produktion, internationale Kapital- und Devisenmärkte waren – so die Ansicht vieler Sozialdemokratien – nicht mehr durch nationalstaatliche Politik zu kontrollieren, selbst wenn man es wollte. Der Keynesianismus klassischer Provenienz war jedoch ein Projekt, das auf die Handlungskapazitäten und die Souveränität des Nationalstaats setzte. Diese Möglichkeit sah man verbaut: Durch die eigenen Erfahrungen in den 1970er Jahren, aber auch durch das Scheitern des Keynesianismus in einem Land der französischen Sozialisten 1981/82. Sie wurden mit einem Programm gewählt, das neben einer keynesianischen Wirtschaftspolitik auch umfangreiche Nationalisierungen vorsah. Die massive Kapitalflucht und der Kollaps des Francs zwangen die Regierung zur Aufgabe ihrer keynesianisch-etatistischen Wirtschaftspolitik und stellten sie vor das generelle Dilemma, entweder ihre egalitären Ziele gegenüber einem soften Neoliberalismus aufzugeben oder tatsächlich eine Politik gegen das Kapital durch die Kontrolle über die Allokation der produktiven Ressourcen zu betreiben (vgl. Callinicos 2000: 116–20). Bekanntermaßen entschieden sie sich für die erste Lösung. Zur Globalisierung gehörte auch die Veränderung der Produktion. Diese fand zunehmend international integriert statt, war flexibler, differenzierter und spezialisierter. Die klassisch tayloristische Organisation der Arbeit wurde modifiziert und überlagert von neuen Formen der Arbeitsorganisation, die weniger hierarchisch, sondern flüssiger und selbstständiger waren. Die Bedeutung klassischer Produktionssektoren wurde geschmälert durch die Zunahme von neuen Hightech-Industrien und Dienstleistungen. Überspitzt sprach man vom „Ende der Massenproduktion“ (Piore/Sabel 1985). Mit den Diagnosen des „Postindustrialismus“ (vgl. Bell 1960; Esping-Andersen 1999b) und des „Postfordismus“ (vgl. Hirsch/Roth 1986; Jessop 2002) wurden sowohl die Veränderung in der Produktion als die damit verbundenen sozioökonomischen Veränderungen – die zunehmende Bedeutung von Wissen, stärker segmentierte Arbeitsmärkte, die Ausbreitung konfligierender Gruppeninteressen, das Infragestellen des Verteilungskompromisses der Nachkriegsära – erfasst. Allgemein wurde statt der Industriegesellschaft nun eine neue gesellschaftliche Grundkonstellation gesehen, in der Kopf- und nicht Handarbeit, Computer und nicht Maschinen, Netzwerke statt der Hierarchie, die großen Produktivitätsschübe versprachen – dies apostrophierte man als Wissensgesellschaft. Die Veränderungen in der Produktion brachten ferner große Veränderungen für die klassischen Anhänger der Sozialdemokratie mit sich: die Arbeiterschaft. 178
Die große, tayloristisch organisierte Fabrik war die betriebliche Herzkammer der Sozialdemokratie; im Postfordismus schrumpfte sie. Die technologischen Innovationen brachten immense Produktivitätsfortschritte und machten damit einen Teil der klassischen Industriearbeiterschaft überflüssig. In den meisten Ländern zeichnete sich ein ähnliches Bild ab, das der Tertiärisierung: Während die Industriearbeiter als Teil der erwerbstätigen Bevölkerung abnahmen, nahm die Anzahl der Arbeitsplätze im Bereich der Dienstleistungen zu. Auch die Arbeitslosigkeit nahm zu. Die in anderen Sektoren und Branchen neu entstandenen Arbeitsplätze konnten die Verluste in der Industriearbeiterschaft nicht ausgleichen. Die numerische und relative Reduzierung der Industriearbeiterschaft war für viele Beobachter auch ein Faktor, der die Zukunftsperspektiven sozialdemokratischer Parteien nachhaltig zum Schlechteren beeinflussen sollte.176 Diese Veränderungen schlugen sich auch in einer Schwächung der – bis dahin – wichtigsten gesellschaftlichen Machtressource der Sozialdemokratie wieder. Nach der Hochzeit der 1960er und 1970er Jahre schrumpften die Gewerkschaften deutlich. Sie waren Opfer der steigenden Arbeitslosigkeit, aber auch des industriellen Wandels. Die Industriearbeiter verloren – in Großbritannien früher als in Deutschland – nicht nur numerisch an Bedeutung. Neben der Gruppengröße nahm auch die Gruppenkohärenz ab.177 Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Arbeiter aufgrund seiner Klassenlage die Labour Party oder die SPD wählt, hat in Großbritannien genauso abgenommen wie in Deutschland (vgl. Roberts 2006; Nachtwey/Spier 2007: 20–27). Die Interessen der unterschiedlichen Gruppierungen innerhalb der sozialdemokratischen Wählerschaft begannen auseinanderzulaufen. Die besser ausgebildeten und qualifizierten Arbeiter konnten sich flexibler an die Ära der Hochtechnologie anpassen – und waren sogar teilweise in der Lage, von dem 176 Es kann keinen Zweifel am Rückgang dieses Teils der Arbeiterschaft geben, allerdings beruht die These von der Auflösung der Arbeiterklasse auf einem problematischen, aber historisch dominanten Verständnis vom Konzept der „Arbeiterklasse“. Denn sowohl in der Arbeiterbewegung – nicht zuletzt aufgrund von Marx’ Prophezeiung einer Homogenisierung durch Proletarisierung der Arbeiterschaft im Kommunistischen Manifest – als auch in vielen Teilen der Sozialwissenschaft war die Gruppe der Industriearbeiterschaft mit der „Arbeiterklasse“ identisch. Diese Identität beruhte auf historischen Erfahrungen, denn die Fabrikarbeiter waren tatsächlich lange die soziale Basis sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien. Damit verschmolz aber gleichzeitig das Bild des Fließbandarbeiters mit Blaumann in riesigen Fabrikhallen, Händen voller Kettenfett und einem hohen Klassenbewusstsein mit dem Begriff des Arbeiters an sich. Ein Bild, das nie wirklich der Realität entsprochen hatte (vgl. Hobsbawm 1995b: 382). Während moderne neomarxistische Klassentheorien einen relationalen Klassenbegriff verwenden (vgl. Wright 2005, 2000, 1997; Vester et al. 2001) und einen Strukturwandel der Klasse diagnostizieren, führt ein rein struktureller Klassenbegriff dazu, dass die Veränderung in der Zusammensetzung der Arbeiterklasse mit ihrem Niedergang gleichgesetzt wird. 177 In der Wahlforschung wird dies als „Dealignment“ bezeichnet (vgl. Schoen 2005).
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Ausbau der Marktverhältnisse zu profitieren. Mit dem Zeitalter der Hochtechnologie begann die Periode der Spreizung und Segmentierung des Arbeitsmarktes. Den Globalisierungs- und Technologiegewinnern in der Arbeiterschaft stand eine zunehmend breite Schicht von Verlierern gegenüber, die nur noch schlecht bezahlte und unsichere oder überhaupt keine Arbeit mehr fanden. Ein Teil der Gewinner empfand die Bezieher von den – zumindest noch Ende der 1970er Jahren relativ generösen – sozialstaatlichen Fürsorgeleistungen als Belastung, schließlich betrachtete man sich selbst als hart arbeitende Bürger und Steuerzahler (vgl. Hobsbawm 1995b: 380–90).178 Es waren oftmals gerade die Teile der Arbeiterschaft, die dem Weltmarkt unmittelbarer ausgesetzt waren, die sich gegen staatliche Regulierungen und zu hohe Steuern aussprachen, weil sie fürchteten, dadurch könnte ihre kompetitive Position untergraben werden (vgl. Kitschelt 1994: 12–20). Diese Segmentierung der sozialdemokratischen Klientel hatte vielschichtige Folgen: Die politischen Ansprüche derer, die einen relativ sicheren Arbeitsplatz hatten, in Bereichen mit starkem gewerkschaftlichem Organisierungsgrad arbeiteten oder in den expandierenden Industrien angestellt waren, und jenen, die beschäftigungslos blieben oder, wenn sie eine Arbeit gefunden hatten, diese extrem unsicher und schlecht bezahlt war, stellten ein immanentes Konfliktpotenzial für die Prioritäten sozialdemokratischer Politik dar. Die soziale Basis veränderte sich noch in einer weiteren subversiven Hinsicht. Die Sozialdemokratie wurde quasi zum Opfer ihres eigenen Erfolgs. Als sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Volkspartei neu definierte, reduzierte sie nicht nur die Sprache des Klassenkonflikts, sondern verfolgte eine klassenübergreifende Sozialpolitik, die jene sozialen Interessen der Arbeiterschaft anging, die sie mit anderen sozialen Schichten gemein hatte (vgl. Kapitel 4). Man trug somit selbst dazu bei, das Klassenbewusstsein der eigenen Basis zu untergraben. Die wurde auch durch einen anderen Erfolg ausgedünnt: den Wohlfahrtsstaat. Dieser hatte teilweise den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit in der Nachkriegsära befriedet. Auch wenn in den 1970er Jahren die ökonomische Krise wieder zurückkehrte, war Klasse nicht länger das bestimmende Moment der Identität (vgl. Hobsbawm 1995b: 384). Man fühlte sich in erster Linie als Bürger, auch dann, wenn man objektiv weiterhin einer sozialen Klasse zugehörig war.179 Das lag auch daran, dass die Arbeiterschaft nicht länger in hermetischen Wohnquartieren lebte und der Konsum sich insoweit demokratisiert hatte, dass 178 Dazu kamen auch die sich verstärkenden ethnischen Konflikte in der Arbeiterschaft durch Ressentiments gegenüber den internationalen Arbeitsmigranten. 179 Die Veränderungen in der Arbeiterschaft und in ihrem Bewusstsein bedeuten bei weitem nicht, dass soziale Klassen keine zentrale gesellschaftliche Bedeutung und Erklärungskraft mehr haben, wie es einflussreich diskutiert wurde (vgl. Beck 1986).
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für viele Arbeiter ein bescheidener Wohlstand möglich geworden war und für viele ihrer Kinder der Besuch einer Universität ihnen einen gesellschaftlichen Aufstieg versprach. Mit der These vom Postindustrialismus verband man später die Vermutung, dass der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital in den Hintergrund rücken werde, während „neue soziale Risiken“ – beispielsweise die stärkere, aber oft prekäre Arbeitsmarktteilnahme von Frauen und der demografische Wandel – die sozialstaatlichen Konflikte prägen würden (vgl. Esping-Andersen 1999b; TaylorGooby 2004a; Esping-Andersen 1999a). Statt des vertikalen Konflikts zwischen Kapital und Arbeit würde die soziale Frage sich vermehrt in horizontalen Konflikten und Problemlagen ausdrücken. In der Nachkriegsära gewannen linkslibertäre und postmaterialistische Einstellungen vor allem in den jüngeren Generationen große Bedeutung (Inglehart 1977). Liberale Werte wie Selbstverwirklichung, individuelle Selbstbestimmung, Geschlechtergerechtigkeit und von der Arbeit abgekoppelte soziale Rechte waren in diesen Gruppen stark ausgeprägt. Die Postmaterialisten waren zumeist links, lagen aber oft über Kreuz mit der traditionellen Sozialdemokratie, ihrer Ausrichtung auf Wachstum, ihrer industriegesellschaftlichen Vorstellungswelt und der engen Verbindung zu den Gewerkschaften. Dadurch, so die einflussreiche These von Herbert Kitschelt (1994), habe sich die zentrale Achse des Parteienwettbewerbs gleichzeitig erweitert und verschoben. Die Achse des Verteilungskonfliktes zwischen marktorientierter und kapitalorientierter Politik wurde ergänzt durch den Konflikt zwischen libertärer und autoritärer Politik. Kein Wunder, dass bei diesen gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungen in den 1970er und 1980er Jahren „Niedergangstheorien“ der Sozialdemokratie (vgl. Merkel 1993a: 36–57) Konjunktur hatten. Ralf Dahrendorf (1983) sprach sogar vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“. Jürgen Habermas bezog sich zwar nicht auf die Sozialdemokratie, doch traf er eine pessimistische Diagnose über die Zukunft des Sozialstaats: „Weil der Sozialstaat die Funktionsweise des Wirtschaftssystems unangetastet lassen muss, hat er nicht die Möglichkeit, auf die private Investitionstätigkeit anders als durch systemkonforme Eingriffe Einfluss zu nehmen […] Soziale Bändigung des Kapitalismus oder Rückverlagerung der Probleme der planenden Verwaltung auf den Markt sind die entsprechenden Therapien [der Akteure; d. Verf.]“ (Habermas 1985: 36).
Die Prognosen des Niedergangs hielten der Realität nicht stand. Die Fähigkeit sozialdemokratischer Parteien, sich zu erneuern, wurde schlicht unterschätzt. Auf 181
der Basis einer programmatischen Erneuerung waren sie sehr wohl in der Lage, verstärkt neue Gruppen anzusprechen, ohne ihre alten Anhänger zu verlieren (Kitschelt 1994). Abhängig von der nationalen Konfliktstruktur nahm man libertäre Elemente auf und vertrat im Vergleich zu den 1970er Jahren stärker promarktliche Positionen. Man war nicht zu einer spezifischen Politik verdammt, sondern die Transformation der Sozialdemokratie fand in Erneuerung des eigenen Erbes statt (Merkel 1993b, a; Meyer 1998; Callaghan/Tunney 2001). Erleichtert wurde die Erneuerung auch durch die angestaute Schwäche der Gewerkschaften. Ihr Mitgliederschwund führte zu einem Prozess des „de-linking“ der historischen Verbindung von Gewerkschaften und Sozialdemokratie. Die Gewerkschaften reichten als soziale Basis nicht mehr aus. Auf der Suche nach neuen Wählergruppen vertrat die Sozialdemokratie schließliche eine marktfreundlichere Politik, auf die wiederum die Gewerkschaften aufgrund ihrer sinkenden Mitgliederzahlen weniger Einfluss ausüben konnten (Piazza 2001). Die Erneuerung der Sozialdemokratie fand auf der Basis mehrerer Axiome statt, die sowohl von sozialdemokratischen Akteuren als auch von Sozialwissenschaftlern mehrheitlich geteilt wurden (vgl. u. a. Meyer 1998; Merkel 1993a; Jun 2004; Pierson 2001b).
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Eine Krise der Arbeitsgesellschaft und der Gewerkschaften Die Blockade keynesianischer Wirtschaftspolitik durch die Internationalisierung der Märkte180 Der Wandel der Sozial- und Berufsstruktur, eine Tendenz zur Individualisierung Ein postmaterialistischer Wertewandel Ein Bedeutungsverlust des Class-Voting181 Die Krise des Wohlfahrtsstaats angesichts des globalen Wettbewerbs, der Finanzprobleme, konservativer Kritik und demografischer Herausforderungen Bedeutungsverlust der vertikalen Konfliktlinie zwischen Kapital und Arbeit zugunsten multipler horizontaler Konfliktlinien
Zum Wandel der globalen politischen Ökonomie und linker Wirtschaftspolitik vgl. auch die Analysen von Albo (1997; 1994). 181 Die abnehmende Neigung von Arbeitern, die SPD bzw. die Labour Party zu wählen, bedeutet zwar ein Rückgang der Wählerloyalitäten, aber noch nicht das Ende des Class-Voting oder des Linksrechts-Gegensatzes. Allerdings ist hier nur relevant, dass in den Parteien die Strategiebildung auf einem Niedergang des Class-Voting aufbaute (vgl. Mair 1997; Mair et al. 1999; Müller 1998).
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Mitte der 1980er Jahre befanden sich SPD und Labour Party in der Opposition, wo sie auch noch 10 Jahre ausharren sollten. Bereits zu dieser Zeit begannen in den beiden Parteien – wenngleich auch unterschiedliche und ungleichzeitige – programmatische Debatten, die später in die Transformation zur Marktsozialdemokratie münden sollten (vgl. die nächsten Abschnitte). Die programmatische Erneuerung emergierte aus der gegenseitigen Befruchtung von zeitdiagnostischen sozialwissenschaftlichen Analysen und parteiinternen Strategiedebatten, Reflexionen und Revisionen. Was der Debatte um den Dritten Weg zu solcher Prominenz verholfen hat, war das Zusammenfallen der programmatischen Erneuerung sozialdemokratischer Parteien mit ihrer Wiederauferstehung in der Regierungsmacht am Ende des 20. Jahrhunderts. Im Jahr 2000 wurden elf von 15 europäischen Ländern von sozialdemokratischen Parteien regiert oder mitregiert. Anthony Giddens’ Position als intellektueller Hauptreferenzpunkt der erneuerten Sozialdemokratie ist zugleich berechtigt und auch problematisch. Sie ist insofern berechtigt, da sein 1998 erschienenes Buch The Third Way – The Renewal of Social Democracy als Pars pro Toto die wesentlichen Punkte sozialdemokratischer Erneuerung diskutiert und prägnant-programmatisch zusammenfasst. Er beschreibt den Dritten Weg als Alternative sowohl zum konservativen Neoliberalismus als auch zur „alten“ etatistisch-korporatistischen Sozialdemokratie (Giddens 1999: 18), plädiert für eine „neue gemischte Wirtschaft“ jenseits des Keynesianismus, die die Logik der Märkte anerkennt (ebd.: 117), kritisiert die „obsessive Fixierung auf Ungleichheit“ (ebd.: 118) der alten Sozialdemokratie und plädiert stattdessen für „Gleichheit als Inklusion“ (ebd. 123), Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt und in der Bildung. In kurzer Form markieren diese Elemente von Giddens zentrale Elemente der erneuerten Sozialdemokratie. Gleichwohl, und hier wird die herausgehobene Stellung von Giddens’ Ansatz problematisch, war die „New Social Democracy“ in Europa höchst divers, während Giddens vor allem die britische Erfahrung vor Augen hatte (vgl. Bonoli/Powell 2002, 2004; Merkel 2000b; Schroeder 2001b; Powell 2004; Thomson 2000; Clasen 2002). Giddens’ „Dritter Weg“ erschien 1998, als New Labour schon ein Jahr regierte und die SPD sich anschickte, in Deutschland an die Macht zu kommen. Die mit Emphase forcierte Debatte um den Dritten Weg/die neue Mitte (vgl. Giddens 1999; Schröder/Blair 1999; Hombach 1998) war keine generische Debatte, sondern ein Projekt der „nachholenden Programmierung“ (Weßels 2001) auf der Basis bereits verschobener Policy-Präferenzen. Tatsächlich muss man Giddens’ Dritten Weg als Verdichtung und Synthetisierung eines Reformprozesses sehen, der bis in die 1980er Jahre zurückreicht. Es verhält sich 183
– wie man in den nächsten Abschnitten noch sehen wird – also genau umgekehrt zu Juns Annahme, Blairs Politik sei von „Giddens’ Konzept inspiriert“ (Jun 2004: 234). Giddens’ Konzept war das Gegenteil, nämlich das kanonische Statement eines bereits vollzogenes Wandels (vgl. Callinicos 2001: 3). Nachdem die konservativen und christdemokratischen Parteien aus dem wohlfahrtsstaatlichen Konsensus ausgeschieden waren, begannen auch die sozialdemokratischen Parteien in Europa mit dem „learning to love the market“ (Müller 1994). Sie adaptierten die grundsätzlichen Veränderungen der konservativen Wohlfahrtsstaatstransformation und den internationalen Standortwettbewerb (Borchert 1996). So wurden wesentliche programmatische Reformen der Labour Party, aus denen schließlich New Labour entstehen sollte, bereits Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre in einem breiten „Policy Review“Prozess (vgl. nächster Abschnitt) entwickelt. Bereits 1994 wurde ein Buch Reinventing the Left des heutigen britischen Außenministers David Miliband herausgegeben, das zentrale Elemente des Dritten Wegs vorwegnimmt. Als Autoren fungierten bereits zu diesem Zeitpunkt zahlreiche Autoren und Politiker, die bei der Erneuerung der Sozialdemokratie eine Rolle spielen sollten: Wolfgang Streeck, Gordon Brown, Gøsta Esping-Andersen und Anthony Giddens (vgl. Miliband 1994). In seinem in Deutschland wie international breit rezipierten Buch „Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa“ fordert Fritz W. Scharpf im letzten Kapitel „Sozialdemokratische Angebotspolitik und ‚Sozialismus in einer Klasse‘“ (Scharpf 1987: 32–36). 7.3 Von Old Labour zu New Labour Wer hätte Anfang der 1980er Jahre gedacht, dass Großbritannien mal zum „Mutterland der neuen Sozialdemokratie“ (Schmid/Schroeder 2001) werden würde? New Labour lässt sich nicht ohne die immense Wucht verstehen, mit der Margaret Thatcher in den 1980er Jahren Großbritannien veränderte. Erst 1979, mit ihrem Amtsantritt, konnte sich der Neoliberalismus „triumphal als die neue ökonomische Lehre etablieren, die der Regierungspolitik in der entwickelten kapitalistischen Welt als Leitlinie dienen sollte“ (Harvey 2007: 33). Gewonnen hatte Thatcher die Wahl von 1979 durch die Schwäche der Labour Party. Obwohl im Wahlmanifest noch relativ moderat, deutete schon 1979 viel auf die folgende „politische Revolution“ hin, da sie – anders als die alte britische Tradition, nah an der Mitte zu regieren – schon damals mit einem radikal marktwirtschaftlichen Programm antrat (vgl. Judt 2006: 616f). Thatcher gab das Ziel der Vollbeschäftigung auf, ihr vornehmliches Ziel war die Reduzierung der Inflation, egal zu 184
welchem Preis.182 Unter anderem zogen die von der Regierung forcierten hohen Zinsen einen steigenden Wechselkurs des Pfunds nach sich, was die Wettbewerbsfähigkeit der britischen Industrie schwächte und zu einer Reihe von Firmenpleiten führte (vgl. Ludlam 2006: 456). Entsprechend ging auch die Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe in Großbritannien von 7,3 Millionen 1975 auf 4 Millionen 1995 zurück (vgl. Pollard 1999b: 308f). Die Arbeitslosigkeit lag zwischen 1979 und 1984 bei durchschnittlich über zehn Prozent. Die Schaffung einer – wie Marx es genannt hatte – „industriellen Reservearmee“ schwächte die Gewerkschaften ungemein, der Dachverband TUC verlor 17 Prozent seiner Mitglieder in dieser Zeitspanne.183 Den industriellen Umbau der britischen Volkswirtschaft, an dem Labour bisher gescheitert war, betrieb Thatcher mit Härte und zweifelhaftem Erfolg. Es war eine Politik der „schöpferischen Zerstörung“ (Joseph Schumpeter), zunächst mit der Betonung auf dem letzten Wort. Die Teile der Industrie, die man für nicht zukunftsfähig hielt, wurden unsentimental aussortiert. Man ließ sie durch die hohen Zinsen und eine forcierte Marktöffnung am Markt zerschellen oder ging administrativ gegen sie vor. Die Einstellung des Kohlebergbaus und der Niedergang der britischen Autoindustrie standen beispielhaft für das Wechselspiel von neoliberaler Industriepolitik und Schwächung der Gewerkschaften. Die Kohleförderung, über Jahrzehnte der größte Wirtschaftszweig in Großbritannien, wurde als zu unrentabel und nicht zukunftsfähig eingestuft, die Schließung der letzten Kohlezechen fand heftigen Widerstand bei der National Union of Mineworkers und führte zum legendären Bergarbeiterstreik 1984–85. Im Unterschied zum konservativen Premier Edward Heath 1972 gewann Thatcher diese Auseinandersetzung – am Ende hatte sie der stärksten Sektion der britischen Gewerkschaften das Rückgrat gebrochen. Während die britische Automobilindustrie und ihre gut organisierten Belegschaften unter Thatcher weiter niedergingen, förderte sie die Ansiedlung asiatischer Hersteller in der Peripherie, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad schwach war. Die Schwächung der Gewerkschaften gehörte zu den zentralen Zielen der Konservativen. Trotz großer Konflikte über die Fragen der Einkommenspolitik, die Labour Party hatte die Gewerkschaften immer noch konsultiert. Unter Thatcher hörte dies schlagartig auf, alle Formen des ohnehin nur dünn ausgeprägten britischen Korporatismus wurden eingefroren und die Gewerkschaften direkt in 182 Dieses monetaristische Ziel erweiterte sich im Laufe ihrer Amtsperiode zu einer umfassenden neoliberalen Agenda. 183 Wie der Thatcher-Berater Adrian Budd zugab, war die Inflationsbekämpfung auch ein „Vorwand, um die Arbeiter abzustrafen“ (zit. nach Harvey 2007: 77).
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ihren Handlungsmöglichkeiten beschränkt. Dazu gehörten die Beschneidung der Rechte der Arbeitnehmervertretungen, das Erschweren der Aufnahme von Arbeitskämpfen, das Verbot von Solidaritätsstreiks sowie des Closed–ShopSystems (vgl. Ludlam 2006: 456–58). Dies führte dazu, dass die Gewerkschaften in vielen Betrieben ihren Status als Tarifpartner verloren und die Arbeitsbeziehungen zunehmend „atomistic exchange relationships“ (Kastendiek 1999: 348) glichen. Das ist auch einer der Gründe für die stark gestiegene Lohnspreizung in Großbritannien, da die nivellierende Funktion der Tarifverträge außer Kraft gesetzt wurde. „Im Endergebnis hatte sich Großbritannien innerhalb von nur zehn Jahren in ein Land mit relativ niedrigen Löhnen und einer […] weitgehend gefügigen Arbeiterschaft verwandelt. Als Thatcher aus dem Amt schied, war die Zahl der jährlichen Streiktage im Vergleich zu früher auf ein Zehntel zurückgegangen“ (Harvey 2007: 78).
Die Gestalt der Gesellschaft und des Staats, dessen Umbau im Verlauf ihrer Regierungszeit immer stärker in den Vordergrund rückte, veränderte Thatcher auch durch die gewaltige Privatisierungswelle, die sie in den 1980er Jahren über das Land brachte.184 British Telecom, British Airways, Stahl-, Elektrizitäts-, Gasund Wasserwerke, Öl- und Kohlewerke, öffentliche Betriebe und Eisenbahnen – alles wurde verkauft. War Großbritannien bis 1979 ein Land mit einem hohen Anteil an Staatseigentum, nach der konservativen Ära war davon „so gut wie nichts mehr übrig“ (Abromeit 1999: 367). Die britische Gesellschaft erfuhr eine „Kernschmelze“ – es wurde versucht, möglichst alles dem Markt zu überantworten, der „öffentliche Raum wurde zum Marktplatz“ (Judt 2006: 621).185 Thatcher wertete die ohnehin starke Rolle der City in der britischen Wirtschaft weiter auf und festigte ihren Platz im globalen Finanzsystem. Im Jahr 1986 wurden beim „Big Bang“ die Finanzmärkte dereguliert und stärker für den internationalen Wettbewerb geöffnet. Dies wiederum führte zu einer Kreditexpansion, die den Beginn eines lang anhaltenden Immobilienbooms markierte und über den Vermögenseffekt auch die Konsumnachfrage nachhaltig steigerte (vgl. 184 Wenn Thatcher den Staat zurückbauen wollte, dann bezog sich das hauptsächliche auf die Wirtschaft. In anderen gesellschaftlichen Bereichen, wie beispielsweise der Sozialpolitik, war der Staat durchaus stark und autoritär (vgl. Gamble 1988). 185 Dass die Staatsquote in Großbritannien trotz des massiven Rückbaus in den 1980er Jahren sogar noch stieg (vgl. Abbildung 5), lag an der miserablen ökonomischen Entwicklung und vor allem an der hohen Arbeitslosigkeit. Die Substanz des Staats wurde ausgehöhlt, aber der Ressourcenumschlag stieg, da zehn Prozent Arbeitslosigkeit trotz eines sinkenden Leistungsniveaus eine enorme finanzielle Herausforderung darstellte.
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Heise 1999: 160). Der Südosten Englands wurde systematisch zu einer dynamischen Region aus Finanzdienstleistungen und Hightech-Industrie ausgebaut. Ende der 1980er Jahre hatte Großbritannien den größten Weltfinanzsektor relativ zum eigenen BIP (vgl. Pollard 1999b: 302–16). Thatcher hatte das strukturelle Ungleichgewicht der britischen Wirtschaft zwischen verarbeitender Industrie und dem Finanzsektor noch weiter verstärkt (vgl. Coates 2000: 200). Beim Abbau des Sozialstaats tat sie sich schwerer (vgl. Pierson 1996: 159– 63). Für eine Politik gegen die Gewerkschaften fand sie Anhänger, ebenso für die Inflationsbekämpfung und die Privatisierungen. Der Rückbau des Sozialstaats als Ganzes war aber auch in Großbritannien unbeliebt, weil selbst die Mittelschichten eine gewisse soziale Sicherheit schätzten. Es gab einen Rückbau der ohnehin geringen neokorporatistischen Elemente im Wohlfahrtsstaat, einkommensbezogene Elemente in der sozialen Sicherung wurden zurückgenommen, die Sozialhilfeleistungen gekürzt und die zuvor gelockerte und reduzierte Bedarfsprüfung wieder zum allgemeinen Prinzip erhoben. „Die konservative Transformation des Wohlfahrtsstaats“ (Borchert 1995) bedeutete jedoch trotz der radikalen Agenda Thatchers, dass die Institutionen des Sozialstaats nicht tiefgreifend zurückgebaut werden konnten. Unter Thatchers Nachfolger John Major wurden bereits Elemente des Workfare eingeführt (vgl. Peck 2001: 268–75). Insgesamt haben in der konservativen Regierungszeit Armut und Ungleichheit massiv zugenommen. Zwischen 1979 und 1997 sanken die Realeinkommen der ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung um 13 Prozent, während die Einkommen der reichsten zehn Prozent um 65 Prozent stiegen. Die Kinderarmut stieg von 1,4 auf 4,2 Millionen oder von zehn auf 31 Prozent (vgl. Fielding 2003: 179). Ein wichtiges, subversives Element der Thatcher-Politik war der Verkauf öffentlichen Wohnraums an die Mieter: Innerhalb von nur zehn Jahren erhöhte sich die Zahl der Haus- und Wohnungsbesitzer immens. Dieses bediente vordergründig den alten Traum vom eigenen Wohneigentum, der in der britischen Arbeiterschaft weit verbreitet war. Indirekt wurde durch diese Maßnahmen eine Legitimation für die Privatisierungen in der Wirtschaft geschaffen. Die Spekulationsökonomie auf dem Immobilienmarkt stattete vor allem die Mittelschicht mit neuen Konsummöglichkeiten aus. Insgesamt erreichte Thatcher die Zustimmung zu ihrer Politik, indem sie günstiges Hauseigentum, mehr individuellen Handlungsspielraum für die Mittelschichten im Sozialsystem und unbegrenzte unternehmerische Möglichkeiten schuf. Elemente, die auch in Teilen der Arbeiterschaft auf Zustimmung stießen. Durch die „Zersetzung des Arbeiterblocks“ (Hobsbawm 1995b: 388), eine Auflösung der Solidaritätsmuster in Verbindung mit den Strukturveränderungen der Arbeit, fanden die Werte der Mittelschicht 187
auch bei jenen Anklang, die sich „früher fest der Arbeiterklasse zugerechnet hatten“ (Harvey 2007: 81). Die „geniale Leistung“ Thatchers bestand für Harvey darin, dass sie die Strukturen nachhaltig geändert und Fakten geschaffen hat, die die Handlungsoptionen nachfolgender Regierungen in ein Netz von Zwängen einband (vgl. Harvey 2007: 82). Zudem hatte Thatcher nicht nur den alten Nachkriegskonsens zerstört, sondern auch einen neuen geschaffen (vgl. Judt 2006: 624): „Ziel des Ganzen war aber auch ein Wandel der politischen Kultur, indem der Bereich der persönlichen und privatwirtschaftlichen Verantwortung erweitert und Anreize für größere Effektivität, für individuelle unternehmerische Initiativen und für Innovationen gesetzt wurden“ (Harvey 2007: 79).
7.3.1 Der lange Weg zur Transformation Großbritannien hatte Anfang der 1980er Jahre keinen zur Mitte gerichteten Parteienwettbewerb, sondern einen polarisierten mit zwei klaren Alternativen. Während Thatcher den offenen, ungebremsten und unregulierten Markt repräsentierte, stand die Labour Party für eine kollektivistische, egalitäre und regulative Politik (vgl. Judt 2006: 622f). Dass die Labour Party diese Position einnahm, lag an ihrem Linksruck nach der Wahlniederlage von 1979. Die Parteilinke186 und Teile der Gewerkschaften, tief enttäuscht von der Regierung Callaghan, wollten die Partei organisatorisch demokratisieren und schoben sie programmatisch nach links. Für eine kurze Zeit hatte die Parteilinke die Oberhand, so wurde der begabte, aber völlig uncharismatische Michael Foot Parteivorsitzender, während der charismatische, aber umstrittene Tony Benn die Akzente setzte. Labour’s Programme 1982, das bis dato letzte Parteiprogramm der Labour Party, atmete von der ersten bis zur letzten der 279 Seiten den Geist der Linksverschiebung. Das politische Paradigma der Labour Party hatte sich seit dem Programm von 1973 nicht wesentlich gewandelt, außer dass sie in fast allen Fragen eine Schüppe an Radikalität draufgelegt hatte. Wollte man im Programm von 1973 noch eine solidarische, kooperative Community schaffen, ging es jetzt um die „classless society“, die durch einen „fundamental and irreversible shift“ in den Machtund Besitzverhältnissen erreicht werden sollte (Labour Party 1982: 4). Die ersten Seiten des Programms strotzen nur so vor selbstbewussten Sozialisierungsbestrebungen, aber schon im zweiten Kapitel landet man wieder bei der keynesianischen Nachfragepolitik (vgl. ebd.). Der Begriff soziale Gerechtigkeit wird erst186
Die rekrutierte sich wie in der SPD eher aus Mittelschichtaktivisten (vgl. Jun 2004: 163).
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mals prominent aufgeführt. Leistungsgerechtigkeit und egalitäre Verteilungsgerechtigkeit dominieren den Anspruch (vgl. ebd.: 4f). Auf das linkeste Programm der Labour-Geschichte folgte die höchste Wahlniederlage seit 1935, deren Gewicht umso schwerer wog, als die Democratic Labour Party (SDP), eine Rechtsabspaltung von Labour-Parlamentariern, nur haarscharf hinter der Labour Party bei den Wahlen blieb (vgl. Shaw 1996a: 166–68). Das Pendel schwang zurück. Neil Kinnock, ein moderater Linker, gewann den Parteivorsitz mit dem Ziel, die (radikale) Parteilinke zu schwächen, den Einfluss der Gewerkschaften zurückzudrängen und die Autonomie der Parteiführung zu erhöhen (vgl. Jun 2004: 165–74; Ludlam 2001). Es folgte – unter verschiedenen Parteivorsitzenden – mehr als eine Dekade sukzessiver innerparteilicher Reformen, die das Gefüge und die Mechanismen der Entscheidungsfindungen neu konturierten. Die Organisationsressourcen und Kompetenzen der Parteiführung wurden gestärkt, das Blockwahlsystem für die Gewerkschaften abgeschafft sowie direktdemokratische Elemente eingeführt (vgl. Fielding 2003: 123– 41).187 Ein wichtiger Hebel war das One Member one Vote (OMOV) Prinzip, das die Selektion der Parlamentskandidaten den Mitgliedern per Urwahl überantwortete. Unter dem Mantel einer formalen Demokratisierung der Partei wurde das Gewicht der zumeist linken Parteiaktivisten sowie der Gewerkschaften verringert, da die passive Mitgliedschaft in ihren Ansichten meist moderater war. Ende der 1980er Jahre bildeten die Parteirechte und die pragmatische Mitte die „dominante Achse“ (Jun 2004: 168) bzw. dominante Koalition (vgl. Kapitel 2) der Partei. Die radikale Linke war an den Rand gedrängt. Ein weiteres bedeutendes Element war die Informalisierung der Programmfindung. Lag diese vorher ausschließlich bei den Unterausschüssen des Parteivorstands, die zumeist von Gewerkschaftsfachleuten geleitet wurden, wurde dies nun sogenannten Joint Policy Commitees übertragen, die aus Mitgliedern des National Executive Committee (NEC) und der Parlamentsfraktion (für gewöhnlich Mitglieder des Schattenkabinetts) bestanden, in denen die Gewerkschaften nur noch eine untergeordnete Rolle spielten und die Fraktionsführung alle Fäden in der Hand hielt. Der Parteitag war zwar noch formal das bestimmende Organ über die Programme, aber im Vorfeld konnte die Auswahl der Alternativen im Sinne der Parteiführung beschränkt werden. Das Wahlprogramm von 2001 wurde im Wesentlichen von Blair, Brown, einigen Ministern und engen Mitarbeitern 187 Die Gewerkschaften hatten über 80 Jahre lang durch ihre indirekte Mitgliedschaft immer eine klare Mehrheit auf den Parteitagen und im Parteivorstand (NEC), während die Constituency Labour Party (CLP) die Organisation der Labour Party im Wahlkreis ausmachte, die die Kandidaten für die lokalen Regierungen und die Parliamentary Labour Party (PLP) bestimmt.
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geschrieben, der Parteitag und auch das NEC hatten hierauf schon keinen Einfluss mehr (vgl. Jun 2004: 173). Überhaupt verloren die Parteigremien und Parteitage an Bedeutung. Letztere waren für gewöhnlich kontrovers, hitzig und emotional. Es verging in der Vergangenheit kaum ein Parteitag, auf dem der Parteiführung nicht in einer wichtigen Frage die Gefolgschaft verweigert wurde. Aber Einfluss und Konfliktpotenzial der Parteitage waren am Ende kaum noch vorhanden. Der Preis dafür war hoch. Die innerparteiliche Demokratie war ausgehöhlt und konnte nun auf vielen Wegen umgangen werden. Gerade die direktdemokratischen Elemente waren paradoxerweise Teil des Demokratieabbaus, da direktdemokratische Entscheidungen nur von der Führung und nicht von der Basis selbst eingeleitet werden konnten. Es war ein Instrument, mit dem die Parteiführung rein instrumentell umging. Wenn ihr eine Niederlage drohte, verzichtete sie schlicht auf die Mitgliederbefragung. Eine Folge dieses Top-down-Führungsstils war die „Deaktivierung“ der Mitgliedschaft (Jun 2004: 182), was der Parteiführung aber durchaus gelegen kam, da ihr Handlungsspielraum erweitert wurde. 7.3.2 Revisionismus Reloaded Schon Kinnock begann, die Partei auf mehr Markt, mehr Individualismus und weniger Staat, weniger Lenkung und weniger Steuern zu orientieren. Die Gelegenheit für einen wirklichen Kurswechsel ergab sich jedoch erst 1987, nachdem die Labour Party die Wahl wieder mit großem Abstand verloren hatte. Es folgte das sogenannte new strategic thinking, das einen Wandel im Selbstverständnis der Programmatik einleitete. Die internen Funktionen (vgl. Kapitel 2) der Integration, Identifikation und Anleitung der Parteiaktivisten im Prozess der kollektiven Willensbildung werden zugunsten der nach außen gerichteten Werbe-, Agitations- und Profilfunktionen in ihrer Bedeutung geschwächt. Programmatik sollte vornehmlich für das Gewinnen von Wählergruppen verwendet und an diesem Maßstab gemessen werden. Was dem Wähler nicht gefiel, wurde kühl korrigiert. Dieser „Market-Research Socialism“ (Leys 1990: 119) folgte einer rein elektoralen Logik der Stimmen- und Ämtermaximierung, die die politischen Überzeugungen und die Politikzielmaximierung in das zweite Glied verwies. Es dominierte die Logik der Anpassung an die Wählerpräferenzen, auf Strategie der Prägung der Wählerpräferenzen wird weitgehend verzichtete (vgl. Hay 1999: 58–71). Politik wurde noch stärker zur Politikform, die keine Inhalte ohne demoskopische Prüfung und mediale Aufbereitung mehr präsentierte. Die Logik der 190
Reklame und die Annahme, dass man als Klassenpartei keine Wahlen mehr gewinnen könne, verlangten, dass auch Abschied von der Arbeiterpartei, von Old Labour, genommen wurde. New Labour sollte für eine Politik der Mitte, der Modernität, der Kosmopolität, des aufgeklärten Liberalismus und auch der sozialen Gerechtigkeit stehen. Aber sie sollte nicht mehr die Partei sein, die in der Öffentlichkeit als Gewerkschaftspartei, als Steuererhöher, als Marktgegner, als interventionistisch und gleichheitsorientiert wahrgenommen wurde. Die Revision des politischen Paradigmas geschah in einem iterativen Prozess der politischen und programmatischen Reflexion, der sich schließlich kumulativ zu einem neuen Paradigma der Marktsozialdemokratie zusammenfügte und von einer neuen dominanten Koalition repräsentiert wird. Der iterative Prozess drückt sich auch darin aus, dass es kein Grundsatzdokument gibt, das exemplarisch für das neue politische Paradigma steht. Vielmehr existieren eine Vielzahl von kleineren Programmtexten, Policy-Dokumenten und Reden, die in der Summe den paradigmatischen Wandel ausmachen. Der interne Revisionsprozess durchschritt zwei Stufen. Auf der ersten Stufe (1987–1991/2) fand der Policy Review statt, auf der zweiten Stufe (1992–1997) erschuf man New Labour, revidierte Clause IV und begann das neue politische Paradigma in immer konkreteren Policy-Vorschlägen auszubuchstabieren. Der Policy Review war ein komplexer und ambitionierter Prozess, der auf die Wahlniederlage von 1987 folgte. In sieben Arbeitsgruppen sollten die grundlegenden politischen Standpunkte der Labour Party auf die veränderten Verhältnisse überprüft werden. Der Prozess begann in einer Zeit des Übergangs, als die radikale Linke schon marginalisiert, die moderate Linke aber noch einflussreich und die Position der „Modernisierer“188 noch nicht gefestigt war. Gleich der erste Absatz eines ersten Dokumentes zeigte die Richtung an, in die die künftige Debatte gehen sollte. Democratic Socialist Aims & Values war eine – für die Labour Party ausgeprägte – Reflexion über die eigenen Werte. Statt der klassenlosen Gesellschaft, die noch im Programm von 1982 gefordert worden war, ist das Ziel nun die „genuinly free society“ (Labour Party 1988a: 3). Das Ziel war die freie Gesellschaft, in der Gleichheit insbesondere als horizontale Gleichheit zwischen den Geschlechtern und den Ethnien definiert wird. Aber Freiheit, daran 188
Der Begriff Modernisierer – trotz seiner Ambivalenz als innerparteilicher Kampfbegriff, der darauf abzielte, die Nichtmodernisierer als „von gestern“ darzustellen – wird in der politikwissenschaftlichen Literatur für die Gruppe jener Akteure des Parteienwandels gebraucht, die eine grundlegende Revision der klassischen Parteiprogrammatik betreiben wollen. Eric Shaw (vgl. 1996b: 186) sieht 1996 Tony Blair und Gordon Brown als die beiden zentralen Figuren der Modernisierer an. Im Anschluss daran, werden in dieser Arbeit die späteren Protagonisten von New Labour auch als Modernisierer bezeichnet.
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lässt das Dokument keinen Zweifel, ist auch die Freiheit von Armut und dafür hält man ein beträchtliches Maß an Umverteilung notwendig. Im Jahr 1988 erschien ein weiteres vorläufiges Dokument mit dem vielsagenden Titel Social Justice & Economic Efficiency (Labour Party 1988b). Obwohl es in der Partei kaum beachtet wurde (vgl. Shaw 1996a: 182), war es für die künftige Programmatik ein wegweisendes Dokument. Schon im Titel wird der sozialdemokratische Produktivismus ausgesprochen, der auch den weiteren Gang der Argumentation bestimmt: „Economic strength requires the firm foundation of a fair social policy to ensure every member of society contributes their full potential“ (Labour Party 1988b: 17).
Chancen- und Leistungsgerechtigkeit haben eine bedeutendere Stellung als im Programm von 1982.189 Die egalitäre Verteilungsgerechtigkeit spielt semantisch fast keine Rolle, sondern es wird hauptsächliche eine faire Verteilung gefordert. Die Richtung des Dokuments ist diffuser und weniger egalitär, denn der gleichheitsorientierte Fluchtpunkt wurde durch den britischen Topos der liberalprozeduralen Fairness substituiert. Ein anderes Gerechtigkeitsprinzip kommt wieder zum Ausdruck, das neben der Fairness das zweite bestimmende Merkmal der Gerechtigkeitskonzeption von New Labour werden sollte: das Minimumprinzip. Man will einen Working Wage (erst später kommt der Begriff Minimum Wage auf). Das hängt damit zusammen, dass die Armut als einflussreicher Topos wieder in die Zeitdiagnose gerückt ist und ihre Bekämpfung als Politikziel wieder stärker betont wird. Im Programm von 1982, als Thatcher schon drei Jahre an der Macht war, gibt es karge vier Einträge zum Thema Armut im Index des Programms von 279 Seiten. Nach fast 10 Jahren kehrte die Armutsfrage in die britische Gesellschaft zurück – wie auch in die Zeitdiagnose der Labour Party. Das abschließende Dokument des Policy-Review-Prozesses markiert prägnant die Durchsetzung des Wettbewerbsgedankens in der Labour Party: „The single most important requirement of economic policy is to make Britain internationally competitive“ (Labour Party 1989: 9).
Der Markt, so das Dokument, sei der effizienteste Mechanismus zur Generierung und Verteilung des Wohlstands, allerdings habe er Defizite bei der Bereitstellung von öffentlichen Gütern, der Ausbildung der Arbeitskräfte und der Forschung. 189
Die Basis ist wie bisher fast immer die Kritik am unverdienten Vermögen.
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Dies müsse durch staatliches Handeln ausgeglichen werden. Keynesianische Elemente oder auch die Forderung nach Gemeineigentum existieren in vorsichtiger Form weiter, aber die generelle Ausrichtung der politischen Ökonomie der Labour Party ist der „supply-side socialism“ (ebd.: 6). Natürlich ist der Wettbewerbsgedanke der historischen politischen Ökonomie der Labour Party nicht fremd, sowohl bei den Fabians als auch bei Crosland und Wilson finden sich diese Elemente. Für wohlgesinnte Beobachter war der Policy Review deshalb kein Bruch, sondern die Fortsetzung der revisionistischen Tradition der Labour Party (vgl. Fielding 2003: 72–74). „What is different […] is the extent to which this language now infuses all discussions of economic questions – often to the exclusion of [traditional; d. Verf.] ideological markers” (Thompson 1996a: 273).
Beim Policy Review waren der Wandel in der politischen Ökonomie und der Konzeption der sozialen Gerechtigkeit weitgreifend, aber noch gebrochen durch Traditionsbestandteile, die durch den Einfluss der moderaten Linken erhalten blieben. Allerdings hatte nach der radikalen Linken auch die moderate Linke ihren innerparteilichen Einfluss Ende der 1980er Jahre weitgehend verloren (Shaw 1993). Ihr wichtigster Vertreter, Brian Gould, wurde 1989 als Sprecher für industrielle Fragen der Labour Party von Gordon Brown abgelöst. Die Traditionsbestandteile beruhten also eher auf einer Wirkung, die man in den Wirtschaftswissenschaften als Hysterese bezeichnet: der Trägheit eines Effekts, obwohl seine Ursache längst entschwunden ist. Programmatisch waren die Burgen der Linken noch nicht geschleift, obwohl sie innerparteilich keinen nennenswerten Einfluss mehr besaßen. Aber auch die Tradition verlor an Bedeutung. Noch in den späten 1980er Jahren bekannte man sich offensiv zur Rücknahme der Privatisierungen von Thatcher (vgl. Shaw 1993: 118f), dies wurde sukzessiv ausgehebelt und im Wahlmanifest von 1992 wollte man lediglich die Stromversorgung wieder verstaatlichen (Labour Party 1992). Nach der Wahlniederlage von 1987 hatte Neil Kinnock den Parteivorsitz abgeben, sein Nachfolger wurde John Smith, ein Förderer von Tony Blair und Gordon Brown. Als Smith 1994 plötzlich an einer Herzattacke verstarb, folgte der als charismatisch wahrgenomme Blair ihm nach, der als ehemaliger Eliteschüler und Oxford-Absolvent mit konservativem Elternhaus so gar nicht die typische Biografie eines Labour-Parteiführer mitbringen konnte. Die wohl bedeutendste innerparteiliche Veränderung gelang Blair, als er 1995 die Clause IV modifizieren ließ. Obwohl in der Praxis von nur geringer Relevanz, war die
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Clause IV das identitäre Bekenntnis zum Gemeineigentum.190 An der Revision war Hugh Gaitskell beim ersten Versuch in den 1950er Jahren gescheitert (vgl. Kapitel 5). Aber Tony Blair hatte eine tief verunsicherte Partei vor sich, die fast alles tat, um endlich wieder eine Wahl zu gewinnen. Clause IV sollte fallen, um sich nach außen und nach innen des Symbols für Old Labour zu entledigen und einen radikalen Neuanfang proklamieren zu können. Schließlich fiel Clause IV mit großer Mehrheit. Blair hatte zuvor die moderate Linke marginalisiert und durch gelungene Schachzüge seinen Erfolg vorbereitet. So hatte er zuvor eine Mitgliederbefragung organisiert, so dass die Delegierten, hätten sie gegen die Modifizierung der Clause IV votiert, gegen die Mitgliedermehrheit gestimmt und die Führung beschädigt hätten (vgl. Shaw 1996a: 198–201). Das wollte nach mehr als 15 Jahren Opposition wirklich niemand. Blair hatte eine Partei nach seinem Willen und nach seiner Vorstellung. Er war der unangefochtene politische Führer, medienwirksam und beliebt bei den Bürgern. Blair ging es auch nicht darum, die Parteiflügel zu integrieren – er wollte „Old Labour“ marginalisieren. Seine Koalition der Modernisierer war in der Partei völlig dominant, die Autonomie sowie die medialen, programmatischen und organisatorischen Kompetenzen der Parteiführung waren gestärkt. Alles wurde modernisiert, die Beiworte modern oder neu wurden auf alle organisatorischen oder programmatischen Veränderungen geklebt. New Labour war geboren. New Labour versteht sich als Ausdruck von traditionellen sozialdemokratischen Werten in veränderten Umständen. Dazu gehören nicht nur Solidarität und soziale Gerechtigkeit, sondern auch die Werte der Verantwortung und der Gemeinschaft (Blair 1998b). Man vertrat keinerlei Klassendiskurs, sondern rekurrierte auf ein Wir, womit die britische Nation (und äquivalent die britische Wirtschaft) als Gemeinschaft gemeint waren (vgl. Fairclough 2000: 29–50). Die Rezeption des Gemeinschaftsbegriffs ist bei New Labour im Allgemeinen und bei Tony Blair im Besonderen von kommunitaristischen Ideen geprägt. Dort ist Gemeinschaft zunächst das Gegenkonzept zum radikalen Individualismus der Konservativen191, zum Etatismus der klassischen Sozialdemokratie, aber auch zum Klassenbegriff des Marxismus. Als Brückenkonzept soll die Gemeinschaft jenseits von entwurzeltem Individualismus und starkem Staat gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglichen (vgl. Vorländer 2001: 21–23). Wie der Kommunita190 Die neue Clause IV lautet: „The Labour Party is a democratic socialist party. It believes that by the strength of our common endeavour we achieve more than we achieve alone, so as to create for each of us the means to realise our true potential and for all of us a community in which power, wealth and opportunity are in the hands of the many, not the few. Where the rights we enjoy reflect the duties we owe. And where we live together, freely, in a spirit of solidarity, tolerance and respect. “ 191 Thatchers berühmter Satz zu diesem Thema lautete: „There is no such thing as society.“
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rismus akzentuiert New Labour das Wechselverhältnis von Rechten und Pflichten (vgl. Bevir 2005: 72–82).192 Insbesondere die Rolle der Pflichten wird hervorgehoben, auch wenn dabei – so die Kritik – klassische liberale Grundsätze durch die Reduzierung von Rechten verletzt werden (vgl. Callinicos 2001: 55– 67). New Labour hat auch wesentliche strukturelle Veränderungen von Thatcher akzeptiert, wie die Privatisierungen oder die restriktive Gesetzgebung gegenüber den Gewerkschaften. (vgl. Hay 1999: Kapitel 2; Ludlam 2006). Für den Modernisiererflügel waren die Gewerkschaften eine Interessengruppe unter vielen (vgl. Shaw 1996a: 194). Das politische Paradigma liberalisierte sich sukzessiv, mit einer relativ hohen Kohärenz bereits vor der Regierungsübernahme 1997. 7.3.3 Die politische Ökonomie von New Labour Ausgangspunkt für New Labour war die Zeitdiagnose der Wissensgesellschaft, aber vor allem der Globalisierung (vgl. u. a. Coates 1996; Fairclough 2000; Callinicos 2001; Bevir 2005). Für Tony Blair war die Globalisierung eine restringierende Realität, aber er hielt sie für ebenso wünschenswert (vgl. Wilkinson 2000: 141). Die neue politische Ökonomie der Labour Party, die sie bis Mitte der 1990er Jahre entwickelte, wurde unter dem Begriff des „supply-side socialism“ diskutiert, allerdings mit der Betonung auf Angebot und nicht auf Sozialismus: Wettbewerb, Produktivität, Profitabilität, Kosteneffizienz auf der Unternehmensseite und Wahlfreiheit auf der Konsumentenseite wurden die Kategorien des ökonomischen Denkens (vgl. Thompson 1996a, b). Diese Ausrichtung spiegelt sich auch in den beiden Wahlmanifesten von 1992 und 1997 deutlich wider; das Verhältnis zum Markt entspricht im Wesentlichen dem Verständnis des deutschen Ordoliberalismus: Das Ziel der Labour Party ist nicht „[to] replace the market but to ensure that the market works properly (Labour Party 1992, 320). Dazu gehört beispielsweise, den chronischen Hang der britischen Wirtschaft zur Kurzfristigkeit und damit oft zur Unterinvestition in neue Maschinen, Forschung und Entwicklung sowie die Ausbildung der Arbeitskräfte zu beheben. Ein funktionierender Markt wurde schließlich die fundamentale Präferenz von New Labour: Im Wahlmanifest von 1997 sah man „healthy profits as an essential motor
192 Hier orientierte sich New Labour nicht unwesentlich an der Programmatik von Bill Clintons New Democrats, auch die Welfare to Work Programme wurden von der US-amerikanischen Erfahrung geprägt (vgl. Fairclough 2000: 68–72; Peck 2001: 318–24; Daguerre 2004; King/Wickham-Jones 1999).
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of a dynamic market“ (Labour Party 1997: 357).193 Das Beiwort „healthy“ weist allerdings auf die traditionelle politische Ökonomie der Labour Party hin, die ja gegen unverdiente Einkommen war. Gesunde Profite sieht man hier als verdient an. Die Zentralität des Marktes steht für New Labour nicht im Gegensatz zum Staat. Anders als „Old Labour“ will man den Markt nicht durch Sozialisierungen substituieren, sondern ihn mit den Mitteln des Staats vernünftig strukturieren – als „ermöglichender“ Staat (vgl. Shaw 1996a: 202). Statt diskretionärer Intervention will man durch die Bereitstellung von Regeln steuern. Für die internationale Wettbewerbsfähigkeit will man durch den Staat jene Rahmenbedingungen und Voraussetzungen schaffen, die „der Markt“ für gewöhnlich vernachlässigt. Kollektive Güter wie Ausbildung, Forschung und Entwicklung will die Labour Party explizit durch staatliche Initiativen fördern. Das zentrale Leitbild für New Labour ist in diesem Zusammenhang die Partnerschaft: zwischen Regierung und Wirtschaft, zwischen öffentlichen und privaten Sektoren, zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern (Labour Party 1997). Die fundamentale Präferenz der Inflationsbegrenzung aus dem monetaristischen Denken hat die Labour Party übernommen. Deshalb sah sie als einzigen Weg zur Generierung von Wachstum eine Angebotspolitik, die umfassende Industriepolitik mit der Verbesserung der Infrastruktur und des Ausbildungsniveaus kombiniert (vgl. Labour Party 1994c). Der Angebotssozialismus ist trotz der vielen Ähnlichkeiten keineswegs kongruent mit dem Monetarismus. Der jetzige Premierminister und vorherige Schatzkanzler Brown orientierte sich zwar explizit am monetaristischen Konzept der NAIRU. Vorwiegend setzte er aber auf höhere Bildungsinvestitionen, um die natürliche Arbeitslosenrate zu senken (vgl. Callinicos 2001: 49–51). New Labour betrieb viel rhetorischen Aufwand, um sich vom („alten“) Keynesianismus zu distanzieren. Die zentrale Erkenntnis keynesianischer Makropolitik – die grundlegende Instabilität marktwirtschaftlicher Ordnungen – wurde zugunsten einer neomonetaristischen und neukeynesianischen Stabilitätsannahme aufgegeben, die die Hauptaufgaben staatlicher Wirtschaftspolitik in der Herstellung von langfristig niedriger Inflation, Wettbewerbsfähigkeit und stabilitätsorientierter Glaubwürdigkeit sieht (Arestis/Sawyer 2003, 2001; Hay 2004a). Pragmatische Nachfragepolitik wurde allerdings nicht ausgeschlossen. Eine Nachfrageausdehnung auf nationaler Ebene müsse indessen auf einer langfristi193 Die wirtschaftsliberale Einstellung sollte die Labour Party auch in der Regierung beibehalten. 2001 erklärte die Wirtschaftsministerin Patricia Hewitt, dass man „unashamedly pro-business“ sei (zit. nach Fielding 2003: 145).
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gen Verbesserung der Angebotsbedingungen aufbauen und dürfe in keinem Fall mit dem Ziel der Inflationsbeschränkung inkompatibel sein (vgl. Labour Party 1994a; 1991; 1992).194 Darüber hinaus wird auf die endogene Wachstumstheorie zur Fundierung einer politischen Ökonomie zurückgegriffen, die Staatseingriffe (im Sinne von sozialproduktiven Investitionen) befürwortet (Balls/O’Donnell 2002; Buckler/Dolowitz 2000). Damit lässt sich eine Brücke zur sozialen Gerechtigkeit schlagen, da Investitionen in das „Humankapital“ der Bürger für mehr Chancengleichheit sorgen (Dolowitz 2004). Der Korporatismus war in Großbritannien zumeist nur zweiseitig zwischen der (Labour-)Regierung und den Gewerkschaften (z. B. Social Contract, Einkommenspolitik). Jetzt war er wieder zweiseitig, allerdings mit dem Unternehmerverband. Das Ziel der Labour Party für die Regierung war, mit Industrie und der City eine „Partnerschaft“ für eine produktive Erneuerung der Wirtschaft einzugehen (vgl. Thompson 1996a: 276). Eine „Partnerschaft“ legte man auch den Gewerkschaften nahe, aber nicht mit der Labour Party, sondern mit den Unternehmern. Die Labour Party verzichtete deshalb auch auf die Rücknahme der restriktiven Gewerkschaftsgesetzgebung der 1980er Jahre und zielte lediglich auf die Stärkung der individuellen Rechte der Beschäftigten (vgl. 1997: 347). Im Kern der neuen politischen Ökonomie der Labour Party liegt ein offen ausgesprochener, angebotsorientierter Produktivismus. Prinzipien wie Effizienz und Gerechtigkeit, die in einem Spannungsverhältnis stehen, werden als komplementär ausgelegt (vgl. Fairclough 2000: Kapitel 1). Dieser Zusammenhang wird als Kern der künftigen sozialdemokratischen Politik dargestellt (vgl. Labour Party 1994b; 1994c). In einer bekannten Schrift von Gordon Brown, Fair is Efficient, heißt es: „[A] strong […] economy demands a strong and socially just society” (1994: 17). Weiterhin: Die Politik der Ungleichheitsbekämpfung sei „the very same which are necessary to produce a dynamic and competitive society“ (ebd.). Wirtschafts- und Sozialpolitik sind zu einer produktivistischen Einheit verschmolzen. 7.3.4 Soziale Gerechtigkeit Mit der neuen politischen Ökonomie wurden auch der Gerechtigkeitsbegriff und die Wohlfahrtsphilosophie der Labour Party verändert. Überhaupt rückte der 194
Bevor Großbritannien den Europäischen Wechselkursmechanismus 1992 wieder verließ, sah man in der europäischen Integration eine institutionelle Barriere gegen zu hohe Staatsverschuldung (vgl. Thompson 1996a: 263).
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Begriff soziale Gerechtigkeit erst durch die Erneuerungsdebatte ins Zentrum; in den zurückliegenden Dekaden hatte man freimütig alle Debatten über Gerechtigkeit unter dem Oberbegriff der Gleichheit geführt (vgl. Powell 2002b: 21f). Im Jahr 1992 hatte die Labour Party unter dem damaligen Parteivorsitzenden John Smith eine Kommission über soziale Gerechtigkeit eingerichtet.195 Der Bericht der Kommission war sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Partei ein einflussreiches Dokument, obwohl nicht alle seine Empfehlungen umgesetzt wurden (vgl. Annesley 2001).196 Die Kommission schlägt eine Hierarchie der Gerechtigkeitsprinzipien vor: (1) die Gleichwertigkeit aller Bürger, (2) die Gleichheit der Staatsbürgerrechte auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse, (3) die Verteilungsgerechtigkeit der Lebenschancen und (4) die Eliminierung ungerechtfertigter Ungleichheiten (vgl. 1994: 17f).197 Die Hierarchie im Bericht der Kommission beginnt mit der politischen Gleichheit, geht weiter über eine Fusion aus Bedarfsgerechtigkeit und sozialen Staatsbürgerrechten und schließt in den Punkten (3) und (4) mit dem Konzept, was der Angelpunkt der Gerechtigkeitskonzeption von New Labour werden sollte: der Chancengleichheit. In einer Rede über Tony Crosland gab Gordon Brown ein ähnliches Verständnis zu Protokoll: Die Essenz der sozialen Gerechtigkeit sei die Chancengleichheit. Ungleichheiten seien (nur dann) gerechtfertigt, wenn sie im Interesse der Schwächsten seien (Brown 1996). Browns Verständnis von Chancengleichheit unterscheidet sich von einer rein prozeduralen Gleichbehandlung, er versteht sie – als Modernisierung des Ansatzes von Crosland – als einen aktiven Umbau der Gesellschaft, in der die politischen und sozialen Bedingungen für tatsächlich gleiche Chancen geschaffen werden (vgl. Powell 2002b: 23; kritisch Callinicos 2000: 36–41; Callinicos 2001: 46-55). Umverteilung soll Umverteilung der Chancen sein (vgl. White 2001; Powell 2000). Materielle Umverteilung ist mitunter also notwendig für mehr Chancengleichheit, aber soziale Gerechtigkeit hat in ihrer Konzeption eine starke Infusion der Philosophie von John Rawls bekommen, da Gerechtigkeit als Fairness die Verteilungsgerechtigkeit dominiert (vgl. Buckler/Dolowitz 2000; Annesley 2001). Denn für New Labour war klar, dass bei gleichen Chancen Ungleichheiten legitim seien, wenn sie auch auf ungleichen Leistungen be195 Diese wurde formal vom Institute for Public Policy Research (IPPR), einem Labour-nahen ThinkTank, geleitet. 196 Ausgangspunkt für den Bericht ist die Zeitdiagnose einer ökonomischen, sozialen und politischen „Revolution“, die den im ersten Abschnitt dieses Kapitels beschriebenen Veränderungen gleichen und von einem grundlegenden Anforderungswandel an sozialdemokratische Politik ausgehen (vgl. Commission on Social Justice 1994: 61–93). 197 Entsprechend gibt es auch gerechtfertigte Ungleichheiten. Diese Gerechtigkeitsprinzipien sind stark von Rawls inspiriert (vgl. Rawls 1979).
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ruhten. Chancengleichheit wurde als Voraussetzung für das Leistungsprinzip (meritocracy) aufgefasst (vgl. Fielding 2003: 179f). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass New Labour sich von einer egalitären Verteilungsgerechtigkeit vollständig verabschiedet hat, Umverteilung soll als gerechtere Verteilung der Chancen zur Leistungserbringung geschehen. Doch was bedeutet Chancengleichheit für eine Erneuerung des Wohlfahrtsstaats? New Labour sah die dringlichsten sozialen Probleme der britischen Gesellschaft in der weit verbreiteten Armut und in der sozialen Exklusion198 z. B. der (Langzeit-)Arbeitslosen und alleinerziehenden Mütter.199 Der Weg daraus lag für New Labour im Zugang zur Erwerbsarbeit, während Bildung und Qualifikation die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbesserten. In der Praxis war die Verwirklichung von Chancengleichheit somit vor allem die Politik der sozialen Inklusion – durch Integration in die Erwerbsarbeit und durch Bildung und Qualifikation (vgl. Annesley 2001; Lister 1998; Powell 2000; Mohr 2007). Von der fundamentalen Präferenz der Vollbeschäftigung wurde nicht abgewichen, aber mittelbar stand eine Politik der Beschäftigungsfähigkeit (employability) im Vordergrund (Labour Party 1997). Die dahinter stehende Logik war einfach: Eine hohe Beschäftigungsrate vergrößert das Sozialprodukt und belastet nicht die Sozialsysteme. Dafür benötigte man aber auch eine Arbeit, von der man leben konnte. Making work pay nannte New Labour das arbeitsethische Leitbild, das die Aufnahme von Arbeit wieder attraktiv machen sollte. Dieses Minimumprinzip der Gerechtigkeit galt auch für jene Gruppen, die New Labour von der arbeitszentrierten Wohlfahrtsstaatlichkeit ausnahm: „Work for those who can, security for those who cannot“ (Blair 1998a). Alle, vor allem Kinder und Rentner, die nicht fähig zur Arbeit waren, sollten vom Staat eine Mindestsicherung erhalten, alle, die arbeiten konnten, wenigstens einen Mindestlohn und eine staatliche Unterstützung zum Existenzminimum. Neben der Gleichwertigkeit der Bürger ist auch für Blair die Chancengleichheit der zentrale Wert in der Erneuerung der Labour Party, allerdings verbindet er es noch mit den zentralen Werten der Verantwortung und Gemeinschaft (Blair 1998b). Aus diesen letzten beiden Werten abgeleitet vollzieht sich auch ein neues Verständnis von Rechten und Pflichten: Denn wer von der Gemeinschaft Sorge erhält, hat auch die moralische Pflicht, sein Bestes daraus zu machen. Wer dies nicht tut, verwirkt auch einen Teil seiner Rechte. Für diejenigen, 198
Das Konzept der Exklusion als politikleitender Begriff und die Schaffung der Social Exclusion Unit in der Regierung reüssierten allerdings erst 1997 (Benn 2000). 199 Zum Exklusionsbegriff siehe auch Kronauer (2002).
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die arbeiten konnten, sollte das Verhältnis von Rechten und Pflichten auch in der Sozialpolitik neu ausgelegt werden (vgl. White 1999). Die stärkere Betonung der Pflichten schlug sich schon 1995 in der Konzeption des Welfare to Work Konzeptes nieder, das Brown für Jugendliche vorstellte. Dies war die zentrale Veränderung des wohlfahrtsstaatlichen Konzepts von New Labour, in dem es Sozialleistungen und Eingliederungshilfen stärker konditionalisierte und kontraktualisierte. Es war die britische Adaption des Workfare US-amerikanischer Provenienz (King/Wickham-Jones 1999; Peck 2001). 7.4 New Labour an der Regierung Im Jahr 1997 gewann New Labour nach 18 Jahren Opposition die Wahlen. Es war ein Erdrutschsieg. Die Partei hatte die größte, allerdings auch dem Wahlsystem geschuldete, Mehrheit im Unterhaus seit 1935 erreicht und war in einem bislang nicht gekannten Maße von der Mittelschicht gewählt worden. Allerdings hatte sie sich auf der Links-rechts-Achse im politischen Koordinatensystem auch so rechts wie nie positioniert. In der Logik der ökonomischen Theorie von Anthony Down hatte sie sich hauptsächlich am Median-Wähler orientiert und war politisch nahe an die Konservativen herangerückt (vgl. Hay 1999: 76–104). De facto stand die Labour Party nun zwischen den Konservativen und den linksliberalen Liberalen (vgl. Fielding 2003: 102f). Für den Parteienwettbewerb spielen diese aber fast keine Rolle. 7.4.1 Wirtschaftspolitik New Labour war nur wenige Tage im Amt, da kam schon der erste Paukenschlag. Eine der ersten Reformen der noch jungen Regierung stand nicht im Wahlprogramm, beeindruckte den Adressaten – die Finanzmärkte – dafür um so mehr: Sie entließ die Bank of England in die geldpolitische Unabhängigkeit (vgl. Busch 2006: 425f). Das war ein zentrales Ziel von New Labour in den ersten Amtsjahren: die makroökonomische „Zuverlässigkeit“ zu beweisen. Makroökonomisch zuverlässig bedeutete vor allem, sich mit direkten konjunkturpolitischen Interventionen zurückzuhalten. Das Erbe der Konservativen erwies sich für New Labour als günstig. Es gab relativ stabile Wachstumsraten, sinkende Arbeitslosenzahlen und kein überbordendes Haushaltsdefizit (vgl. Petring 2006: 122f). Die Unabhängigkeit der Bank of England war auch die einzige wirtschaftspolitische Neuerung. Denn New Labour hatte ohnehin nicht vor, etwas großartig anders zu machen als die Kon200
servativen. Die Wirtschaftspolitik sollte transparenten Regeln folgen und nur in Ausnahmefällen auf diskretionäre Maßnahmen zurückgreifen (vgl. Annesley/Gamble 2004: 150). Makroökonomische Stabilität, geringe Defizite und niedrige Inflation waren die erklärten Ziele, die Verbesserung der Angebotsbedingungen der Kern der wirtschaftspolitischen Maßnahmen (Glyn/Wood 2001). In der Haushaltspolitik wollte man sich an die sich selbst auferlegte „goldene Regel“ halten, über den gesamten Konjunkturzyklus neue Kredite nur für Investitionszwecke und nicht für die laufenden Ausgaben aufzunehmen. Dafür sollten die Ausgabenpläne der konservativen Vorgängerregierung übernommen werden. Umverteilung stand nicht auf der Agenda, die Steuersätze für die mittleren und höheren Einkommen sollten nicht erhöht werden (vgl. Labour Party 1997). Umverteilung und Steuererhöhungen – das war Old Labour. Damit wollte man auf keinen Fall in Verbindung gebracht werden, denn man wollte die Wähler aus der Mittelklasse nicht verschrecken. So übernahm man den Spitzensatz der Einkommenssteuer von 40 Prozent von der Thatcher-Regierung. Vor Thatchers Regierungsantritt hatte er noch 83 Prozent betragen. New Labour senkte auch die Sätze für die Körperschaftssteuer, allerdings wurde die Gesamtsteuerquote zunächst durch die Erhöhung indirekter Steuern, die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage sowie eine Erhöhung der Dividendensteuer gesteigert. Eine Folge war, dass die Steuerquote während der Boomphase bis 2000 sogar stieg (vgl. Zohlnhöfer 2006). Es ist erstaunlich – vor allem, wenn später die erratische Politik der rotgrünen Politik betrachtet wird –, wie konsistent, durchdacht und ineinandergreifend die Labour Party in der Regierung agierte, wie detailliert sie die Regierungspolitik schon vor der Wahl von 1997 ausgearbeitet hatte. Keine Frage, New Labours Wirtschaftspolitik war vor allem eins: „strongly pro-business and procompetition” (Annesley/Gamble 2004: 150). Dennoch war die wirtschaftspolitische Praxis von New Labour weitaus komplexer, als Anhänger wie auch Kritiker vermuteten. Zunächst setzte man das Ziel der makroökonomischen Stabilität konsequent um und legte pessimistische Prognosen für die Politikplanung zugrunde. So gelangte man zu einer Übererfüllung der Haushaltsziele, da man trotz eines erfreulichen Wirtschaftswachstums und hoher Einnahmen an den restriktiven Ausgabenzielen festhielt (vgl. Petring 2006: 126). In Folge sank die britische Verschuldung deutlich unter das europäische Niveau, aber auch die Staatsquote fiel im Jahr 2000 mit 37,4 Prozent auf das niedrigste Niveau seit mehr als 30 Jahren (vgl. Abbildung 4). Insgesamt waren aber auch die ersten Haushalte auf geringem Niveau redistributiv, da man die Prioritäten anders lagerte. „Heimliche“ Umverteilung – in 201
der Sprache von New Labour kam Umverteilung nicht vor – hat seit 1997 selektiv stattgefunden, z. B. in den Unterstützungsleistungen für Kinder (vgl. Powell 2000: 44; Annesley 2001: 215; Lister 2001: 435–37). Seit dem Jahr 2000 war die Zeit der haushaltspolitischen Enthaltsamkeit vorbei und eine gegenläufige Tendenz brach durch – die Staatsquote stieg wieder. Entgegen der eigenen Rhetorik, keine Umverteilung betreiben zu wollen, hat New Labour seine sozialen Ausgabenprogramme vergrößert. Mit der Ausdehnung der Tax-Credit- Programme stiegen die Ausgaben von 1,4 Milliarden im Jahr 1999 auf 11,5 Milliarden Pfund 2004. Im selben Zeitraum wurde das Budget des Ministeriums für Erziehung und Ausbildung um fast 80 Prozent gesteigert und nahm 2005 fast 5,7 Prozent des gesamten Haushalts ein. Das Budget des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS stieg um nahezu 50 Prozent und war 2005 für 14,3 Prozent des jährlichen Budgets verantwortlich (HM Treasury 2005). Die zusätzlichen Mittel für beispielsweise Bildung und Gesundheit erreichte man zunächst durch Umschichtungen innerhalb des Haushalts, später durch die Steigerung der Gesamtausgaben des Staats. Die haushaltspolitische Sparsamkeit in den ersten Jahren ermöglichte New Labour einen größeren Spielraum und hatte für die notwendige Glaubwürdigkeit gesorgt, dass man nicht in die „tax and spend“-Politik von Old Labour zurückfallen wollte. Der rhetorische Abschied vom Keynesianismus hielt New Labour indessen nicht davon ab, als die Konjunktur nach dem Jahr 2000 schwächer zu werden drohte, pragmatisch verschiedene makroökonomische Instrumente zur Belebung des Wirtschaftswachstums, z. B. auch eine antizyklische Geld- und Fiskalpolitik heranzuziehen, die schließlich die ökonomische Performance deutlich verbesserte (Nachtwey/Heise 2006; Volz 2003; Glyn 2005).200 Auf Grund der Sparsamkeit in den ersten Jahren und der geringen Arbeitslosigkeit konnte man sogar die goldene Regel einhalten. Zwar intervenierte die Regierung selten in direkter Weise in die Wirtschaft, aber sie versuchte möglichst günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. Dazu gehörten eine beträchtliche Erhöhung des Forschungsbudgets, Anreize für Investitionen in Hochtechnologie und Forschung (z. B. eine 150-ProzentAbzugsmöglichkeit von steuerpflichtigen Gewinnen bei kleinen und mittleren Unternehmen bei Ausgaben in Forschung und Entwicklung). Zudem verwischte New Labour zunehmend die Grenzen zwischen Staat und Markt, genauer: Die öffentliche Daseinsvorsorge wurde mit Mechanismen des Marktes infiziert. Die 200 Deshalb debattiert man auch unter britischen Politikwissenschaftlern erneut, wie stark keynesianische Elemente in der Wirtschaftspolitik von New Labour sind (vgl. Clift/Tomlinson 2006a, b; Hay 2006b).
202
Einführung von mehr Wahlmöglichkeiten im kostenlosen staatlichen Gesundheitsdienst sollte den Wettbewerb unter den Krankenhäusern fördern, auch wenn es – wie Kritiker meinen – die ärmeren Teile der Bevölkerung benachteiligt, weil sie weniger mobil sind. Neben der Einführung von internen Märkten und Benchmarking-Prozessen wurde die Infrastruktur von Krankenhäusern, Schulen und Verkehrsmitteln durch Public Private Partnerships und Private Finance Initiatives erneuert. Bis 2003 gab es 564 private Finanzinitiativen im Wert von 35 Milliarden Pfund (Parker 2004). New Labour konnte man tatsächlich nicht vorwerfen, zu gewerkschaftsnah zu sein. Für Tony Blair galt der Grundsatz „fairness but no favours“ (zit. nach Kastendiek 1999: 349). New Labour hat die wesentlichen Einschränkungen der gewerkschaftlichen Handlungsfähigkeit durch die Thatcher-Regierung nicht zurückgenommen. Dennoch hat sich eine spezifische Regulierung der Arbeitsbeziehungen unter New Labour herausgebildet, die sich von der Regulierung Thatchers unterscheidet (vgl. Crouch 2001; Ludlam 2006). Man verzichtete auf Formen der tripartistischen Koordination, wie man sie in den 1960er und 70er Jahren betrieben hatte. Obwohl mit den Employment Relations Acts (ERA) im Jahre 1999 und 2004 sowie dem Weißbuch Fairness at Work von 1998 zahlreiche neue Rechte eingeführt wurden, blieb ihre Reichweite beschränkt. Die ERA zielten in erster Linie auf die Stärkung der individuellen Rechte der Arbeitnehmer im Betrieb und vor Gericht und nicht auf die Stärkung der kollektiven Verhandlungsmacht der Gewerkschaften. Lediglich die betriebliche Anerkennung wurde vereinfacht. Das ursprüngliche System der Tarifverhandlungen und industriellen Beziehungen war für New Labour zu konfliktiv. Die neuen Regulierungsbestimmungen haben weniger den Schutz der Arbeitnehmer vor Augen, sondern sollten einen Kontext der „Partnerschaft“ herstellen, in dem Produktivität und Kreativität gedeihen können. Da die britischen Arbeitgeberverbände traditionell schwach, die ursprünglichen Arbeitsbeziehungen entkollektiviert und die Gewerkschaften insgesamt so geschwächt und institutionell ausgegrenzt sind, erfordern die Arbeitsbeziehungen New Labours allerdings mehr staatliche Intervention und mehr staatliche Regulierung (Howell 2004).201 Die britische Sozial-, Arbeits- und Wirtschaftspolitik greift kongenial ineinander. Denn die Entkollektivierung und Deregulierung in den Arbeitsbeziehungen führen zusammen mit der verstärkten Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt 201
In einem System, das sonst kaum Verrechtlichungen der Interessenvertretung kennt, ist dies wiederum ein Beleg für die Reregulierung der britischen Arbeitsbeziehungen. Auch die erst einmal niedrige Anzahl von Anerkennungsvereinbarungen (500 pro Jahr in den Jahren 2000/2001) sollte nicht gering geschätzt werden (Gall 2003).
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durch die Erhöhung des Arbeitskräfteangebots (vgl. nächster Abschnitt) zu der Situation, dass auch bei niedriger Arbeitslosigkeit die Löhne nur langsam steigen und der Inflationsdruck gering bleibt. Dies schuf wiederum einen Spielraum für eine expansive Wirtschaftspolitik (vgl. Glyn/Wood 2001: 204–11). 7.4.2 Arbeitsmarkt und Sozialpolitik New Labour präsentierte die Wohlfahrtspolitik des Welfare to Work, die Rechte und Pflichten zusammenbringen sollte, als neuen „Gesellschaftsvertrag“ zwischen Bürgen und Staat (vgl. DSS 1998).202 Die Regierung hat wesentliche „Reformen“ des Wohlfahrtsstaats aus der Thatcher-Ära übernommen und weitergeführt. Die konservative Regierungschefin hatte beispielsweise die Leistungen bei Arbeitslosigkeit beschränkt, die Leistungsdauer von 12 auf 6 Monate verkürzt und die Arbeitslosensicherung und Sozialhilfe 1996 in der Job Seekers Allowance zusammengeführt. Während die Politik der Konservativen allerdings auf negative Arbeitsanreize und Sanktion gezielt hatte, schaltete New Labour zahlreiche positive, aktivierende Anreize hinzu (vgl. Mohr 2007: 185–98). Die aktivierende Arbeitsmarktpolitik hat zwei Dimensionen. Die erste Dimension ist die „negative Aktivierung“: Durch extrem niedrige Sicherungsleistungen lastet der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse, der Schatten des Marktes, auf den Arbeitsuchenden. Diese Form der Aktivierung war auch die Grundlage für den „dünnen“ Aktivierungsansatz der Thatcher-Administration, der zusätzlich zur negativen Aktivierung staatliche Maßnahmen zur Unterstützung von Arbeitslosen (z. B. Fortbildungen) abbaut und Alternativen zur Lohnarbeit einschränkt. Der Ansatz von New Labour entspricht demgegenüber einer „dicken“ Strategie, die nach dem Prinzip von „Zuckerbrot und Peitsche“ funktioniert (Levy 2004). Für verschiedene Bevölkerungsgruppen wurden nach dem Prinzip „Fördern und Fordern“ zahlreiche sogenannte New Deals eingeführt, die man mit einer (einmaligen) Sondersteuer auf die Gewinne privatisierter Versorgungsunternehmen finanzierte.203 Die ersten New Deals wurden für junge Arbeitslose unter 25 Jahren eingeführt, später auf Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, Behinderte, Menschen über 50 und die Partner von Arbeitslosen ausgedehnt. Die Förderung umfasst Lohnkostenzuschüsse an Privatunternehmen, Ausund Weiterbildungsprogramme, Programme gemeinnütziger Arbeit, Förderung von Selbstständigkeit, etc. Die Forderung besteht in der Pflicht der Leistungsbezieher, sich beständig Kontrollen und Leistungsnachweisen zu unterziehen. Ver202 203
Zur Debatte um einen neuen Gesellschaftsvertrag im „Postfordismus“ vgl. Reitzig (2005). Zur tatsächlichen Wirkung der New Deals vgl. Mohr (2007: 193–95) und Annesley (2006: 483f).
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letzen sie die Auflagen oder lehnen Angebote ab, werden die Zuwendungen gestrichen. 204 Im Wahlmanifest des Jahres 2000 gab New Labour wieder das Ziel der Vollbeschäftigung aus (Labour Party 2001).205 Das klassische Ziel sozialdemokratischer Politik erhielt aber eine andere Bedeutung. Vorher meinte man mit dem Begriff der Vollbeschäftigung eine möglichst niedrige Arbeitslosenquote. Die Vollbeschäftigungspolitik von New Labour war anders, ja radikaler formuliert. Es ging nicht um die Reduzierung der Arbeitslosigkeit, sondern um die Vollbeschäftigung im Wortsinne: Jeder im erwerbsfähigen Alter sollte arbeiten, das gesamte Arbeitsangebot sollte erhöht werden (vgl. Glyn/Wood 2001: 204– 09). Während Vollbeschäftigung vorher auf den zumeist männlichen Familienernährer bezogen war, sollte Beschäftigung nun nach dem Modell der Vollmobilisierung aller erwerbsfähigen Erwachsenen folgen (vgl. Annesley/Gamble 2004; Lewis 2001). Die Sozialpolitik von New Labour war „arbeitszentriert“ (Annesley 2001, 2006). New Labour strebte nicht nur die Integration von Jugendlichen und (Langzeit-)Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt an, sondern auch die von bislang „ökonomisch inaktiven“ Personen wie alleinerziehenden Müttern oder Behinderten. In der Begrifflichkeit, die in Kapitel 4 eingeführt wurde, strebt New Labour eine verallgemeinerte Kommodifizierung aller Personen im beschäftigungsfähigen Alter an, gleichwohl eine „kompensierte Kommodifizierung“ (Pierson 2001c).206 Allerdings funktioniert eine Politik der Kommodifizierung nicht ohne eine partielle De-Kommodifizierung (vgl. ebenfalls Kapitel 4). So hat New Labour eine Vielzahl von Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie eingeführt. Seit 1998 gibt es umfassende Programme zur Kinderbetreuung, die sowohl die Anzahl als auch die Qualität der Betreuungsplätze signifikant erhöhten, außerdem wurden der (bezahlte) Erziehungsurlaub verlängert und das Erziehungsgeld erhöht. New Labour hatte kein Problem mit der Zunahme der Arbeit im Niedriglohnsektor. Welcher Art die Beschäftigung war, wie angemessen, den Fähigkeiten und Qualifikationen entsprechend, ja wie persönlich erfüllend, wie würdevoll diese Arbeit war, spielte nur eine untergeordnete Rolle. Allerdings kombinierte 204
Allerdings ist nur für Jugendliche und Langzeitarbeitslose die Teilnahme verpflichtend, für die anderen Gruppen ist lediglich ein Gespräch mit einem persönlichen Berater vorgeschrieben. 205 Urteile über New Labour, dass „the old objectives of full employment, equality and social justice have either been abandoned or diluted“ (Shaw 1996a: 218) sind nicht zu halten. 206 Dabei sind die Leistungskürzungen und Konditionalisierungen eine Form der ReKommodifizierung, während die neue Integration von bislang nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Gruppen eine Form der (ursprünglichen) Kommodifizierung ist.
205
New Labour die Politik der allgemeinen Kommodifizierung mit einer sozialen Sockelung, der Garantie eines Minimums, um die in Großbritannien immer häufiger auftauchende Armut trotz Arbeit zu vermeiden. Unter dem Leitbild des making work pay wurden die Steuersätze für Geringverdiener reduziert und verschiedene tax credits (Steuergutschriften) sollten Geringverdienern eine armutsfreie Existenz über dem Sozialhilfesatz garantieren. Diese Steuergutschriften, die im Wesentlichen wie eine negative Einkommensteuer funktionierten, erhöhten den Nettolohn von Geringverdienern und subventionierten die Kinderbetreuung, so dass man (z. B. für alleinerziehende Mütter) Anreize schuf, auch schlecht bezahlte Tätigkeiten aufzunehmen. Das bedeutendste Element der sozialen Sockelung war die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns, der ein angemessenes Auskommen durch Erwerbsarbeit garantieren sollte. Zu Anfang noch relativ niedrig, wurde er kontinuierlich erhöht, auch weil man feststellte, dass er wirtschaftlich keine größeren Probleme bereitete. Im Mindestlohn drückten sich verschiedene Entwicklungen der britischen Gesellschaft und der Labour Party aus. Zunächst war er nötig geworden, da in vielen Bereichen der Wirtschaft Löhne gezahlt wurden, von denen man nicht leben konnte. Dies war teils ein Ergebnis der Reorganisation des Kapitalismus, aber auch der Schwäche der Gewerkschaften, die nicht in der Lage waren, überall angemessene Löhne zu erreichen. Statt die Gewerkschaften durch die Rücknahme der Thatcher-Gesetzgebung (wieder) mit mehr Handlungsressourcen auszustatten und sie in die Lage zu versetzen, selbst flächendeckend hinreichende Löhne zu erreichen, gab New Labour einen gesetzlichen Mindestlohn vor. So konnte man das Problem der niedrigen Löhne ohne direkte Stärkung der Gewerkschaften angehen und eine stärker marktbasierte Lohnfindung in allen Sektoren (und nicht nur den niedrigen) über eine staatliche Regelung erreichen. 7.4.3 Soziale Gerechtigkeit und Wohlfahrtsstaatlichkeit in der Regierungspraxis von New Labour Das sozialpolitische Muster im britischen Sozialstaat ist die lohnarbeitszentrierte Armutspolitik. Eine gesicherte soziale Untergrenze soll den Fall in die Armut verhindern, aber gleichzeitig sollen die Integration in den flexibilisierten Arbeitsmarkt und der Wettbewerb auf diesem verstärkt werden. Vollbeschäftigung ist nach wie vor ein Ziel der Labour Party, nur wurde die Verantwortung dafür ins Individuum verlegt. New Labour steht nicht für die „Transition from socialism to capitalism“ (Leys 1996), sondern für den Übergang von einem keynesianischen zu einem marktzentrierten Produktivismus. 206
Die Politik der sozialen Sockelung entspricht dem Gerechtigkeitsprinzip des Minimums. Ein soziales Existenzminimum, das die grundlegenden Bedürfnisse befriedigt und einen Mindestgrad an Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sichern sollte, war der Fluchtpunkt der Policies von New Labour. Dieser Logik folgte auch die Politik der Armutsbekämpfung bei den Gruppen, die nicht arbeiten konnten, den Kindern und Rentnern. Unter Thatcher waren Kinderarmut und Altersarmut dramatisch gestiegen, New Labour setzte eine Reihe von Initiativen dagegen: Erhöhung des allgemeinen und universellen Kindergeldes, spezielle Programme für soziale Brennpunkte, aber auch zahlreiche Leistungen, die zielgerichtet Kindern aus einkommensschwachen Familien zu Gute kommen sollten, wie auch einige Verbesserungen in der Grundsicherung für Rentner, die allerdings auf niedrigem Niveau bleiben sollte.207 Sowohl bei der Rente als auch beim staatlichen Gesundheitssystem (NHS) erhöhte man signifikant die Ausgaben – aber auch die Reichweite des Marktes. Bei der Rente wurde die private Vorsorge nochmals gestärkt und beim NHS wurden immer größere Bereiche durch Public Private Partnerships abgedeckt (vgl. Petring 2006: 137–48). New Labours Politikziel war die Chancengleichheit. Dies drückte sich in zwei Politikfeldern aus: der (hier nicht behandelten) Ausweitungen in der Bildungspolitik208 und der Chancengleichheit als gleiche Chancengewährung zum Eintritt in den Arbeitsmarkt. Diese „sozialliberale“ Wohlfahrtspolitik war verbunden mit der Übernahme zahlreicher Rückbauten des Wohlfahrtsstaats von der Vorgängerregierung. Allerdings kann man nicht davon sprechen, dass die „Rolle des Staates [..] minimalistisch-liberal verstanden“ wird (Petring 2006: 153). New Labour hat die Koordinaten der Regulation der Sozialpolitik weiter in Richtung Marktförmigkeit verschoben, hat dies aber mit Hilfe einer veränderten Staatlichkeit unternommen. Während der Neoliberalismus einfach nur auf den Rückbau des Staats setzt, bekommt der Staat durch New Labour eine gewandelte und ausgebaute Funktionszuschreibung. Das Staatsverständnis von New Labour ist eher interventionistisch als minimalistisch-liberal. Im Leitbild des „Sozialinvestivstaats“ (Esping-Andersen 2002b, a; Giddens 1999) werden Kinder beispielsweise nicht als aktuelle Kinderbürger betrachtet, sondern sie werden in ihrer 207
Im Ergebnis konnte New Labour in den ersten zwei Legislaturperioden die Zahl der Kinder in Armut signifikant senken, man blieb aber weit hinter den eigenen Zielen zurück (vgl. Annesley 2006: 487–90). 208 Die Verbesserung der Ausbildung blieb weit hinter den Erfordernissen zurück. Man hat bei Weitem nicht das Problem der mangelhaften betrieblichen und überbetrieblichen Ausbildung in den Griff bekommen (vgl. Annesley/Gamble 2004: 160). Von der Ausweitung des Bildungssystems profitieren Kinder aus wohlhabenden Familien überproportional, und die Aufstiegschancen von Kindern aus den ärmeren Familien haben sogar abgenommen (Paxton/Dixon 2004).
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zukünftigen Funktion als Erwerbstätige ökonomisiert. Politik für Kinder und Ausbau der Bildung sind Investitionen in das Humankapital eines Landes (vgl. Lister 2004; Lessenich 2004). Ziel ist die Errichtung eines global wettbewerbsfähigen Staats (Evans/Cerny 2004).209 7.5 Erst langsam, dann stürmisch: die Transformation der SPD Es gibt Jahrzehnte, in denen passiert fast nichts, und dann gibt es Jahre, in denen geschehen Jahrzehnte. Freilich überzogen, aber in groben Zügen ist dies die Geschichte vom Wandel des deutschen Sozialstaats und der SPD seit den 1980er Jahren. Im Folgenden wird die Transformation der SPD analysiert, die der entgegengesetzten Dramaturgie der Labour Party entsprach – man kam erst an die Regierung und erneuerte dann die Programmatik. Die programmatische Erneuerung in der langen Oppositionszeit der 1980er und 90er Jahre brachte für das politische Paradigma nur nuancierten Wandel, auch deshalb, weil das soziale, politische und institutionelle Erbe der Kohl-Regierung ein großes Maß an Kontinuität zur bundesrepublikanischen „Politik des mittleren Wegs“ (Manfred G. Schmidt) aufwies und weniger radikal als die Thatcher-Regierung daherkam. Zwar wollte die schwarz-gelbe Koalition unter der Führung von Helmut Kohl ebenfalls eine Wende in der deutschen Politik herbeiführen, doch weder wollte noch konnte sie dies in dem Ausmaß, wie es Thatcher getan hat. Die „konservative Transformation“ des deutschen Wohlfahrtsstaats bestand vor allem in der Beschneidung der Handlungsfähigkeit des Staats durch die steigende Verschuldung. Meist vollzog sie sich über Kürzungen bei den Sozialleistungen, die durch fiskalischen Druck begründet wurden (vgl. Pierson 1996: 166–70; Borchert 1996: 47–57). Kohl konnte aus verschiedenen Gründen nicht so radikal vorgehen wie Thatcher. Wahrscheinlich wollte er es auch nicht, da in der CDU immer noch eine starke sozialpolitische Tradition fortwährte und ein großer Arbeitnehmerflügel präsent war, auch bei den Liberalen war die Balance zwischen Wirtschafts- und Sozialliberalen noch nicht endgültig gekippt. Aber selbst mäßige Einschnitte gelangen nur schwerlich, weil das politische System in Deutschland eine Vielzahl von Vetospielern – die Bundesländer, den Bundesrat, die Gewerkschaften etc. – bereithält, die Rückbau-Reformen erschweren. Was die KohlRegierung bis 1990 erreichte, war eine relative Stabilisierung der Sozialfinanzen durch Ausgaben- und Leistungskürzungen sowie Einnahmeerhöhungen. Die Kürzungspolitik war aber nichts genuin Neues, sondern von der sozialliberalen 209
Zum Wettbewerbsstaat vgl. die Analysen von Hay (2004c) und Jessop (2002).
208
Koalition begonnen worden. Die Kohl-Regierung verschärfte lediglich das Tempo (vgl. Schmidt 2005: 99). Die Grundphilosophie des deutschen Sozialstaats blieb weitgehend unangetastet (vgl. Schmidt 2006a: 143). Im Jahr 1992 fügte man mit der Pflegeversicherung sogar noch eine weitere Säule zu den bestehenden Sozialversicherungen hinzu.210 Auch in den Arbeitsbeziehungen gab es keinen groß angelegten Angriff auf die Gewerkschaften. Während Thatcher 1984/85 die Bergarbeiter in die Knie zwang, erkämpfte die IG Metall 1984 die 35-Stunden-Woche. Die KohlRegierung veränderte daraufhin den § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes, der indirekt vom Streik betroffene Arbeitnehmer von Lohnersatzleistungen ausschloss. Trotz seiner großen Bedeutung für die gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit: Wirklich schwächen konnte die Kohl-Regierung die Gewerkschaften nicht (vgl. Hassel 2006: 319f). Auch die Deregulierungen auf dem Arbeitsmarkt waren gering geblieben (vgl. Heise 1999: 45). Die Kohl-Regierung hatte sich wie die Thatcher-Administration einer angebotspolitischen Agenda verschrieben. Aber zu mehr Beschäftigung gelangte sie damit ebenfalls nicht. In den 1980er Jahren schlug sich der deutsche Kapitalismus in internationaler Perspektive vergleichsweise gut, aber selbst durch aktive Arbeitsmarktpolitik und durch Angebotsverknappung (Frühverrentung) konnte die Arbeitslosigkeit kaum gesenkt werden. In den 1990er Jahren begannen die Probleme sich zu häufen. Eine Erschöpfung des komplexen Gleichgewichts aus sozialen und wirtschaftlichen Aspekten im Modell Deutschland, die man bislang miteinander vereinbart hatte, zeichnete sich ab. Der Druck der globalen Marktintegration nahm zu, und die deutsche Einheit war eine gewaltige Aufgabe ordnungspolitischer, institutioneller und finanzieller Transfers (Streeck 1997). Es gab Wandel und immer wieder inkrementelle Kürzungen bei der sozialen Sicherung, doch insgesamt blieb der „dynamische Immobilismus“ (Lessenich 2003b) des deutschen Sozialmodells eine Konstante. Die starke Verschuldung, die hohen Sozialversicherungsbeiträge sowie der Druck der Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrages ließen die Regierung Kohl in den 1990er Jahren weiter auf Spar- und Privatisierungskurs gehen (vgl. Zohlnhöfer 2007: 298–305). Nach der Wiedervereinigung spannte sich die Haushaltslage zunehmend an und die Bundesregierung verließ den Pfad der kooperativen Sozialpolitik zu einer konfliktiven. Das 1996 eingebrachte „Sparpaket“ sah neben Haushaltseinsparungen auch die Absenkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und die 210 Allerdings funktioniert sie nach dem „Teilkaskoprinzip“, da sie nur eine Unterstützungsleistung für die häusliche Pflege beinhaltete, und war von daher auch „Rückbau im Ausbau“ (Lessenich 2003b: 248).
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Lockerung des Kündigungsschutzes für Betriebe mit weniger als 10 Beschäftigten vor (vgl. Schmidt 2005: 106f). Dies griff die Interessen der Gewerkschaften nicht nur unmittelbar an, sondern mobilisierte sie überdies ungemein. Schließlich war gerade die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall eine im eigenen Lager legendäre Errungenschaft, war sie doch 1956 in einem 114 Tage dauernden Streik erkämpft worden. Die massiven Proteste gegen das Sparpaket waren der Anfang vom Ende der Ära Kohl. 7.5.1 Die Begrünung der SPD in den 1980er Jahren In Großbritannien war die linkslibertäre Konfliktlinie schwächer ausgeprägt als in Deutschland, vor allem reüssierte dort keine linkslibertäre Partei im Parteiensystem. Anders in Deutschland, dort veränderte die Gründung der Partei Die Grünen 1980 den Parteienwettbewerb für die SPD erheblich (vgl. Kitschelt 1994: 164–70, 178–81). Unter Schmidt hatte sich die SPD nach rechts entwickelt, was den Grünen noch mehr Dynamik verschaffte. Aber der linkslibertäre Zeitgeist, das Thema der Ökologie, ging auch nicht spurlos an der SPD vorbei. Die Parteibasis ertrug bereits Ende der 1970er Jahre Schmidts Politik nur noch schweren Herzens, Anfang der 1980er Jahre hatte man sich vom Regierungsflügel der SPD entfernt und zutiefst entfremdet. Nach dem Verlust der Regierung 1982 und im Angesicht der Konkurrenz der Grünen entwickelte sich die SPD wieder nach links (vgl. Lösche/Walter 1992: 119–24). Das keynesianische Paradigma der politischen Ökonomie blieb trotz verschiedener Diskussionen als Ganzes erhalten, wurde jedoch zunehmend in Frage gestellt. Die SPD hatte nie eine einheitliche Vorstellung vom Keynesianismus. Dominant waren die marktwirtschaftlich ausgerichteten Anhänger der neoklassischen Synthese, einer gleichgewichtstheoretischen Interpretation, die auf die bessere Steuerung der Volkswirtschaft zielte. Die Parteilinken verfolgten einen vagen Linkskeynesianismus, „[s]taatliche Politik sozialer und demokratischer Reformen zugunsten der Arbeitnehmerschaft“ (Deutschmann 1973: 2), die im besten Falle kumulativ als „systemüberwindende Reformen“ wirken sollten. Bei den marktwirtschaftlich-keynesianisch orientierten Sozialdemokraten meldeten sich jedoch Zweifel an den bisherigen Konzepten an. Insgesamt blieben die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Vorstellungen in der traditionellen politischen Ökonomie verhaftet: aktive Arbeitsmarktpolitik, gerechte Verteilung und soziale Grundsicherung (vgl. SPD 1988; Gohr 2000). In den 1980er Jahren wurde die Programmdebatte zunächst von industriegesellschaftlicher Dissidenz geprägt, man zweifelte das bisherige Wachstumsverständnis an, war technologieskeptisch, wollte Produktion und Konsumtion öko210
logisieren. Dem gegenüber standen jene Teile der Partei, die um die Verankerung in der Industriearbeiterschaft bangten. In den späten 1980er Jahren, nach desaströsen Wahlergebnissen, gab es eine Gegenbewegung von „Modernisierern“, die die Partei marktwirtschaftlich und technologieoffener präsentieren wollten.211 Insgesamt konnte sich die Partei auf keine Linie einigen, schwankte zwischen traditioneller Ausrichtung und linkslibertärer Modernisierung (vgl. Dürr/Walter 2001: 170–75; Jun 2004: 256–61). Die Generation der „Enkel“ von Willy Brandt hatte in den 1980er Jahren an Bedeutung gewonnen, so war es auch der spätere Parteivorsitzende und Finanzminister Oskar Lafontaine, der der Programmkommission zum Berliner Programm von 1989 vorsaß. Dieses war ebenfalls kein Produkt einer relativ kohärenten Debatte, eines Ziels der Erneuerung oder gar einer politischen Koalition in der Partei – wie es in der Labour Party der Fall gewesen war –, sondern die Resultante unterschiedlichster Diskussionsrichtungen (Padgett 1993). Es war weit entfernt von einem großen Wurf, weit entfernt von einem Godesberg, aber die Programmdebatte erfüllte letztlich die klassische Aufgabe des „Abbaus der Gegensätze und Integration heterogener Standpunkte“ (Lösche/Walter 1992: 126). Die scharfen Gegensätze zwischen Gewerkschaftern und Ökologen zu Anfang der 1980er Jahre waren weitgehend neutralisiert. Das Berliner Programm war ein Kind seiner Zeit. Obwohl die schärfsten Formulierungen noch im Erstellungsprozess getilgt wurden, war es in seiner Sprache abstrakter, antikapitalistischer und sozialistischer, ohne substanziell über die Axiome des Programms von Bad Godesberg hinauszugehen (vgl. Padgett 1993: 32–34; Grebing 2005: 580–85). Die Zeitdiagnose des Programms ist von der Ökologie, aber auch von den vielen Fragen der neuen sozialen Bewegungen geprägt: Geschlechtergerechtigkeit, Frieden, Technologieskepsis. Auch eine frühe Rezeption der „Globalisierung“ findet sich im Programm – allerdings ohne den Begriff und ohne den Handlungsimperativ, den das Globalisierungskonzept später mitbringen sollte. Von einer kohärenten politischen Ökonomie kann man beim Berliner Programm nicht sprechen. Das Bekenntnis zur gemischten Wirtschaft, keynesianische Wirtschaftspolitik und liberale Präferenzen in der Unternehmenssteuerung markieren Kontinuitäten zum Godesberger Programm. Einzig die Vorstellung von einem qualitativen, ökologischen und nachhaltigen Wirtschaftswachstum reflektiert den Zeitgeist der 1980er Jahre. Gleichzeitig hat sich das ambivalente und eklektische Nebeneinander von Marktkritik und Marktaf211 Protagonisten dieses marktwirtschaftlichen Kurses waren – Tempi passati – die heutigen Politiker der Linkspartei Oskar Lafontaine und Ulrich Maurer (vgl. Lösche/Walter 1992: 127-29; Kitschelt 1994: 166).
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firmation des Godesberger Programms noch verstärkt. Neben der klassischen Formel Wettbewerb so viel wie möglich, Planung so weit wie nötig bezeichnet man den Markt einerseits als „effizientes Instrument zur Steuerung von Nachfrage und Angebot“ (SPD 1989: 100), proklamiert aber mit Emphase: „Es ist ihre [der Arbeiterbewegung; d. Verf.] historische Grunderfahrung, dass Reparaturen am Kapitalismus nicht genügen. Eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft ist nötig“ (ebd.: 48).
Der Gerechtigkeitsbegriff ist mannigfaltig. Er ist geprägt von einer starken egalitären Verteilungsgerechtigkeit, die aber auch die Chancengleichheit mit einschließt: „Gerechtigkeit erfordert mehr Gleichheit in der Verteilung von Einkommen, Eigentum und Macht, aber auch im Zugang zu Bildung, Ausbildung und Kultur“ (ebd.: 55).212
Das Programm reflektiert auch die liberale Sorge, staatliche Intervention für soziale Gerechtigkeit könne der Freiheit Abbruch tun. Im Gegenteil, so wird im Programm argumentiert, gleiche Freiheit sei die Bedingung für soziale Gerechtigkeit, aber erst die Freiheit von sozialer Abhängigkeit ermögliche die Nutzung der Freiheit (ebd.). Dieses reziproke Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit wird durch einen starken Begriff von Wirtschaftsdemokratie als allgemeiner, demokratischer Teilhabe erweitert:213 „Wir wollen Demokratie in der ganzen Gesellschaft, auch in der Wirtschaft, im Betrieb und am Arbeitsplatz verwirklichen, wirtschaftliche Macht begrenzen und demokratisch kontrollieren […] Wir wollen die Teilhabe aller am Sagen und Haben. Dies bedeutet Mitbestimmung der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften auf allen Ebenen und Beteiligung aller am Produktivvermögen“ (ebd.: 47f, 99).
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Leistungsgerechtigkeit wird nicht direkt angesprochen, lediglich bei der unterschiedlichen Belastung durch Steuern und Staat. 213 Der Begriff Teilhabe taucht im Godesberger Programm noch nicht auf, im Berliner mehrfach.
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7.5.2 Bipolar in die Regierung214 Erst hatte die SPD kein Glück, dann kam das Pech dazu. Wenige Tage vor der Verabschiedung des Berliner Programms fiel die Mauer in Berlin. Die deutsche Einheit, die neue globale Konstellation, konnte nicht mehr ins Programm integriert werden. Kurze Zeit später lief der Kanzlerkandidat Lafontaine in die populistische Falle Kohls, der den Deutschen blühende Landschaften und keine zusätzlichen Belastungen durch die Einheit versprach, während Lafontaine vor den Kosten der Vereinigung warnte. Die SPD verlor die Wahl. Die 1990er Jahre konnten nicht zu einer wirklichen Programmerneuerung genutzt werden. Die Parteivorsitzenden wechselten mehrfach und es gab keine parteiinterne Koalition, die Kohärenz, Erneuerung und Innovation in der Partei durchsetzen konnte (vgl. Walter 1995b, a, 1997). So setzten sich in der SPD „postkeynesianische“ Einsichten, wie sie in der Labour Party bereits programmatisch vollzogen worden waren, nicht durch. Sie setzten sich auch deshalb nicht durch, weil man immer auch ein bisschen mitregierte und nie den Zwang zur Erneuerung verspürte wie die britische Schwesterpartei (Busch/Manow 2001). Es herrschte Uneindeutigkeit und Unentschlossenheit: „Wie viel Keynes, wie viel Angebotspolitik unter einem sozialdemokratischen Kanzler zu erwarten waren, darüber konnte man nur spekulieren“ (Walter 1995a: 90).
Erst im Jahr 1998 gelang der SPD der erneute Machtwechsel. Zusammen mit den Grünen glückte der erste vollständige Regierungswechsel in der Geschichte der Bundesrepublik. Mit dem Slogan „Innovation und Gerechtigkeit“ konnte die SPD breite Schichten der Bevölkerung mobilisieren und erzielte vor allem in der organisierten Arbeiterschaft ein herausragendes Ergebnis. Bis dahin hatte sie erst einmal in der Geschichte der Bundesrepublik, nämlich 1972, die Union bei einer Bundestagswahl überflügeln können. Die bei der Bundestagswahl 1998 erfolgreiche Doppelforderung „Innovation und Gerechtigkeit“ stand beispielhaft für den politökonomischen, programmatischen und personellen Dualismus der damaligen SPD. Für die Innovation standen Schröder und der Flügel der „Modernisierer“, die keynesianischen Konzepten skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Für Gerechtigkeit und Umverteilung standen Lafontaine sowie die Parteilinken. Lafontaine hatte 1995 den drögen und behäbigen Parteivorsitzenden Rudolf Scharping mit einer einzigen, 214
Einige der folgenden Überlegungen wurden bereits in Nachtwey/Spier (2007) entwickelt.
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brillanten Rede auf dem Mannheimer Parteitag aus dem Amt gedrängt. Seither spielte er eine neue Rolle. Erreichte er in den 1980er Jahren Aufsehen durch kalkulierte promarktliche Tabubrüche, nahm er im Parteivorsitz die Rolle des soliden „Kärrners und Integrators“ (Walter 1997: 1327–31) ein und führte die Partei mit sicherer Hand an die Regierung. Er verteidigte eine modernisierte Form des keynesianischen Paradigmas und die klassische Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit. Insgesamt hatte sich jedoch der „neoliberale Zeitgeist“ auch in der SPD breitgemacht (vgl. Borchert 1996: 60f). Als die SPD 1998 an die Regierung kam, war die Partei, bzw. das Regierungspersonal, weniger links, dafür aber regierungsorientierter als jemals zuvor in ihrer Geschichte (vgl. Walter 2004: 28). Eine Grundsatzdebatte über das Verhältnis von Markt, Staat und Politik hatte man bisher verdrängt und kein neues, alternatives politisches Paradigma, keine Konzeption von Wohlfahrtsstaat und Gerechtigkeit entwickelt (Stöss/Niedermayer 2000; Egle/Henkes 2003). Im ersten halben Jahr löste die neue rot-grüne Regierung ihre Wahlversprechen ein und verfolgte einen geradezu klassischen sozialdemokratischen Politikwechsel (Egle 2006: 163f). Der demografische Faktor der Rentenreform von 1997 wurde ausgesetzt, die Lockerung des Kündigungsschutzes revidiert, die finanzielle Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen korrigiert und das Gesetz zur Minderung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zurückgenommen. Lafontaine warb für eine Renaissance keynesianischer Wirtschaftspolitik, und Schröder suchte über das neu aufgelegte Bündnis für Arbeit, die korporatistische Einbindung von Arbeitgebern und Gewerkschaften wieder aufleben zu lassen. Zu Beginn der Koalition schien es so, als würde Lafontaine, der mit umfangreichen Kompetenzen ausgestattete Finanzminister, die Richtlinien der Regierungspolitik vorgeben (Egle 2006: 166). Die Ära Lafontaine währte jedoch nur 163 Tage. Im März 1999 trat er von allen seinen Ämtern zurück. Der persönliche Konflikt mit Gerhard Schröder spielte in seiner Entscheidung sicherlich ein Rolle, aber im Kern ging es um die Ausrichtung der Politik der rot-grünen Regierung: Im Finanzministerium hatte Lafontaine Neokeynesianer wie Heiner Flassbeck als Staatssekretäre eingesetzt, während Schröder im Kanzleramt eine Riege von wirtschaftsliberalen Beratern als Gegenpol installierte (vgl. Geyer et al. 2005: 75-93). Es folgte ein weiterer Politikwechsel der rot-grünen Regierung. Mit dem Schröder/Blair-Papier (Schröder/Blair 1999) wurde nun versucht, die in Großbritannien erfolgreiche Debatte über den Dritten Weg auch nach Deutschland zu holen und die „Verknüpfung von Tradition und Modernität [..] putschartig von oben“ aufzulösen (Walter/Dürr 2000: 111). Allerdings lief dieser Ver-
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such zunächst ins Leere und wurde durch den parteiinternen Widerstand blockiert (vgl. Jun 2004: 266–68). Die kurze Periode nahezu klassisch keynesianischer Sozialdemokratie und der folgende Politikwechsel werden nun anhand der Finanzpolitik sowie Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik untersucht und die Rationalität ihrer politischen Ökonomie herausgearbeitet.215 7.5.3 Rot-grüne Wirtschafts- und Finanzpolitik Gleich zu Beginn der Regierungsperiode mühte sich Lafontaine, eine keynesianische Politik auf europäischer und nationaler Ebene zu etablieren. In Europa wollte er mit einer koordinierten Finanzpolitik den Steuerwettbewerb der europäischen Staaten begrenzen. Des Weiteren sollte die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank genutzt werden, in Europa für ein höheres Wachstum zu sorgen. Lafontaine lag vornehmlich die Neubelebung der gesamtwirtschaftlichen Nachfragepolitik am Herzen, die durch eine koordinierte Geld-, Finanz- und Lohnpolitik wirken sollte (Lafontaine/Müller 1998). Die steigende Nachfrage – ganz in der Tradition des Nachkriegsmodells der Sozialdemokratie – sollte ein höheres Wirtschaftswachstum hervorrufen und für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen, da vor allem die Nachfrage der unteren Einkommensgruppen gestärkt werden sollte. Der erste Haushalt der rot-grünen Regierung trug daher expansive Züge, besonders im Budget des Sozialministeriums (vgl. Zohlnhöfer 2003b: 195). Auch in der Steuerpolitik setzte Lafontaine auf die Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage durch Umverteilung, die zudem die in den Kohl-Jahren entstandene „Gerechtigkeitslücke“ schließen sollte. Die Kernpunkte der Steuerreform umfassten vorwiegend Maßnahmen, die die Steuerbelastung niedriger Einkommen senken sollten und sie für mittlere und höhere Einkommen unverändert ließ (vgl. Zohlnhöfer 2003b: 196; Eichhorst/Zimmermann 2005). Unter seiner Führung hatte die SPD zuvor mit ihrer Mehrheit im Bundesrat die Steuerreform der KohlRegierung verhindert. Lafontaine legte nach der Regierungsübernahme seine eigene Steuerreform vor, die in einem ganzen Bündel von Maßnahmen die „Gerechtigkeitslücke“ schließen sollte. Die Kernpunkte der Steuerreform umfassten vor allem Maßnahmen, die die Steuerbelastung niedriger Einkommen senken sollten und sie für mittlere und höhere Einkommen unverändert ließ (vgl. Zohlnhöfer 2003b: 196). Unter verteilungspolitischen Gesichtspunkten trug die Steuerreform eine „klassisch sozialdemokratische Handschrift“ (Egle 2006: 164). 215
Für eine Analyse der anderen Politikfelder vgl. Egle et al. (2003), Gohr/Seeleib-Kaiser (2003) und Egle/Zohlnhöfer (2007).
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Nach Lafontaines Rücktritt wurde Hans Eichel neuer Finanzminister. Mit dem Übergang von Lafontaine zu Eichel fand ein neuerlicher Politikwechsel statt. Der nachfrageorientierte Expansionskurs wurde zugunsten eines Konsolidierungskurses aufgegeben, der nahezu alle Ausgabensteigerungen Lafontaines zurücknahm (vgl. Zohlnhöfer 2003b: 197f). Dies wurde vor allem deutlich, als die Konjunktur im Sommer 2001 einbrach und die Bundesregierung unter dem Motto der Politik der „ruhigen Hand“ aktive Interventionen ablehnte.216 In der Steuerpolitik vollzog Eichel nicht unmittelbar eine so radikale Wende wie in der Haushaltspolitik, änderte jedoch im Verlauf nachhaltig die Richtung: Es ging vorrangig nicht mehr „um Umverteilung, sondern die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft“ (Egle 2006: 168). Für Unternehmen wurden die Körperschaftssteuersätze gesenkt, Veräußerungen von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften steuerfrei sowie Aktionäre mit hohem Einkommen bessergestellt. Bei der Einkommensbesteuerung wurden sowohl der Eingangs- als auch der Spitzensteuersatz gesenkt, aber im Gegensatz zur Reform von Lafontaine wurden zwar auch die geringen, aber vorwiegend höhere Einkommen entlastet. Ein weiteres Indiz für die Politikwende war die Entscheidung der rot-grünen Regierung, im Zielkonflikt zwischen Haushaltskonsolidierung und Steuerentlastung (für Unternehmen und höhere Einkommen) sich für Letzteres zu entscheiden (vgl. Egle 2006: 169f; Schratzenstaller 1999).217 So wurde der „Sachzwang“ der leeren Kassen, auf den von Regierungsseite vehement hingewiesen wurde, von der Politik selbst hergestellt. Die asymmetrischen Konsequenzen von Eichels Politik wurden alsbald deutlich. Bereits 2001 gingen die Einnahmen aus direkten Steuern, d. h. aus Körperschafts- und progressiv erhobener Einkommensteuer, bedingt auch durch die nachlassende Konjunktur, deutlich zurück, während die Einnahmen aus indirekten Konsumsteuern und Sozialbeiträgen stiegen. Anders ausgedrückt: Die Bezieher geringer Einkommen wurden relativ stärker belastet, Bezieher hoher Einkommen entlastet. Im Bereich der Finanzmärkte agierte die Regierung auf der Basis der seit dem Zweiten Weltkrieg gewandelten Präferenzen. Die historisch begründete Präferenz für eine liberale Form der Unternehmenskontrolle koinzidierte mit einem generellen programmatischen Wandel der SPD. Sie akzeptierte nicht nur die Anforderungen des Finanzmarktkapitalismus, sie stellte ihn gleichermaßen her (vgl. Siegel 2007; Höpner 2004). Während Eichels Amtszeit hat sie – vor allem über die steuerliche Freistellung von Gewinnen beim Verkauf von Unter216
Eichel gab später die Konsolidierungspolitik teilweise wieder auf (vgl. Zohlnhöfer 2003a). Insgesamt wies die Finanzpolitik unter Eichels Ägide eine frappierende Ähnlichkeit mit der Konzeption der christlich-liberalen Koalition vor 1998 auf (vgl. Zohlnhöfer 2003b: 202–05).
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nehmensbeteiligungen – begonnen, das Modell Deutschland, die kooperative Beziehung der Unternehmen, zu entflechten, zu liberalisieren und den Finanzmärkten anzupassen. Die SPD, nicht die zu dieser Zeit in diesen Fragen deutlich vorsichtigere CDU, stellte die „Partei der Märkte“ dar (Höpner 2004: 197). 7.5.4 Arbeits- und Sozialpolitik bis 2005 Auch in der Arbeits- und Sozialpolitik war von einer „neoliberalen Umgründung“ zunächst nicht viel zu sehen (Schmidt 2003). Genau wie in der Finanzpolitik folgte dem rot-grünen Regierungswechsel auch in der Beschäftigungspolitik der Politikwechsel zur klassischen sozialdemokratischen Politik (vgl. Zohlnhöfer 2004: 386). Das Arbeitsministerium übernahm der ehemalige IG-MetallFunktionär Walter Riester. Die Einbindung eines führenden Gewerkschafters in die Regierungsverantwortung war indes nur die Ergänzung zum Herzstück der rot-grünen Beschäftigungspolitik. Ganz in klassischer korporatistisch-sozialdemokratischer Manier sollte das „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ die Sozialpartner nach dem historischen Vorbild der konzertierten Aktion zu einem abgestimmten Handeln zur Schaffung von Arbeitsplätzen bewegen. Die Liberalisierungen und Deregulierungen (Kündigungsschutz) sowie Leistungskürzungen (Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) aus der Ära Kohl wurden zurückgenommen. Eine Reregulierung fand auch hinsichtlich geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse und der Scheinselbstständigkeit statt (Rose 2003). Gleich zu Beginn der Legislaturperiode wurde ein Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit gestartet. Das sogenannte Job-AQTIV-Gesetz führte 2001 erste Elemente einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik ein. Die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 2001 stärkte die Rechte der Beschäftigten: Die Schwellen für die Freistellung von Betriebsräten sanken, es gab ein vereinfachtes Wahlverfahren, die Trennung von Arbeitern und Angestellten bei den Wahlen wurde aufgehoben und Initiativrechte für die Betriebsräte wurden erweitert. Der starke Mitbestimmungs- und Teilhabegedanke, wie er im Berliner Programm formuliert wurde, findet im Betriebsverfassungsgesetz seinen Niederschlag.218 Indessen war die Sozialpolitik bereits in der ersten Phase keineswegs nur klassisch sozialdemokratisch. Zwar vertrat Riester arbeitsmarktpolitisch eher klassische Ansichten, doch führte er gleichzeitig die kapitalgedeckte und staat218 Ein Professor aus Heidelberg, Manfred G. Schmidt, attestierte deshalb „eine geradezu unterwürfige Haltung der Schröder-Regierung gegenüber den […] Partikularinteressen der Gewerkschaften“ (Schmidt 2003: 256).
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lich geförderte Zusatzversicherung, die sogenannte Riester-Rente, ein. Diese stellte den Marktmechanismus in den „Dienst der Sozialpolitik“ und wurde bereits 2002 als Teil der „sozialpolitischen Gegenreformation“ interpretiert (Rieger 2002: 8, 3). Mit zeitlicher Verzögerung vollzog sich der erneute Politikwechsel der Arbeits- und Sozialpolitik der rot-grünen Regierung ab 2002. Von Beginn an war es ein Ziel der rot-grünen Regierung, die sogenannten Lohnnebenkosten für die Sozialversicherungsleistungen zu senken. Das deutsche System sozialer Sicherheit hatte – so die einflussreiche wirtschaftsliberale Deutung – die Lohnnebenkosten zu einer ungeheuren Bürde für Beschäftigung werden lassen (Streeck/Trampusch 2005). Die steigende Arbeitslosigkeit219 in Folge des Konjunkturabschwungs erhöhte den Druck auf die Regierung. Der Skandal um die gefälschten Vermittlungsstatistiken der Bundesanstalt für Arbeit im Frühjahr 2002 eröffnete Schröder die Gelegenheit, mit einem Handstreich Reformwillen öffentlich darzustellen und Reformkompetenz stärker an das Kanzleramt zu binden. Die Bundesanstalt für Arbeit (heute Bundesagentur für Arbeit) war über Jahrzehnte ein Ort korporatistischer Balance, da sie von Arbeitgebern, Gewerkschaften und dem Arbeitsministerium gemeinsam gesteuert wurde. Diese Tradition schob Schröder beiseite und setzte unter der Führung des VW-Managers Peter Hartz eine Kommission ein, die Vorschläge zur Reformierung der Anstalt und des Arbeitsmarktes vorlegen sollte. Diese Kommission markierte einen Bruch mit der dreiparteilichen Philosophie der Bundesanstalt, von ihren 21 Mitgliedern kamen nur noch zwei Repräsentanten aus den Gewerkschaften (vgl. Streeck/Hassel 2003: 118f). Durch die Hartz-Kommission konnte die Reformagenda für die deutschen Sozialsysteme besser vom Kanzleramt – an den vermeintlichen Traditionalisten des Arbeitsministeriums vorbei – gesteuert und kontrolliert werden. Noch vor der Wahl 2002 erschien der Bericht der Kommission, die Schröder „eins zu eins“ umsetzen wollte. Im Dezember verabschiedete die hauchdünn wiedergewählte rot-grüne Regierung die ersten Maßnahmen, die so genanten Hartz-I- und -II-Gesetze. Wichtigste Regelungen waren die Einführung von staatlich sanktionierter Zeitarbeit mit PersonalService-Agenturen (PSA) und Job-Centern, die Erfindung der „Ich-AG“ und die erneute Liberalisierung und Deregulierung von geringfügiger Beschäftigung.220 Das war allerdings erst der Anfang. 219 In den ersten Regierungsjahren war die Arbeitslosigkeit von 8,8 auf 7,2 Prozent gefallen. Seit dem Jahr 2000 stieg sie jedoch wieder an und erreichte neue Höchstwerte von 9,5 Prozent in den Jahren 2004 und 2005. 220 Mit der letzten Maßnahme sollte der Kündigungsschutz partiell umgangen werden (vgl. Hickel 2003: 8).
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Der Wirkungslosigkeit des Bündnisses stand die Erfolglosigkeit auf dem Arbeitsmarkt gegenüber. Der Politikwende ging eine Veränderung im Machtgefüge der Regierung voraus. Das Arbeits- und Wirtschaftsministerium wurden zusammengelegt, und der erklärte Modernisierer Wolfgang Clement löste den Gewerkschafter Walter Riester ab. Anfang März 2003 tagte das Bündnis für Arbeit nach über einem Jahr Pause – ohne Ergebnisse – ein letztes Mal. Das Bündnis für Arbeit hatte sich als weitgehend wirkungslos erwiesen. Der Korporatismus, so wie man ihn kannte, war am Ende (Streeck 2003). Schröder entschloss sich, mit der Opposition gegen die Verbände, vor allem die Gewerkschaften und die innerparteiliche Opposition zu regieren. Wenige Tage später, am 14. März 2003, verkündete Gerhard Schröder in einer Rede die „Agenda 2010“, die Ouvertüre für die „größte Kürzung von Sozialleistungen seit 1949“ (Soldt 2004).221 Die Agenda 2010, so verstanden es ihre Befürworter, sollte keineswegs den simplen Abbau des Sozialstaats bedeuten, sondern seinen Umbau, um ihn zukunftsfähig zu machen.222 Die sogenannten Hartz-IV-Gesetze umfassten die Verschmelzung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu Arbeitslosengeld II (ALG II), eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik, die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I (ALG I) auf zwölf Monate (vorher 36) für Arbeitslose unter 55 Jahren, die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien und die Senkung der Schwelle für den Kündigungsschutz. Allein die Forderung der mit Bundesratsmehrheit ausgestatteten Opposition nach einer Lockerung der Tarifautonomie wehrte die Regierung ab. Kritiker der Agenda 2010 heben hervor, dass sie der Logik neoklassischer Deutungen des Arbeitsmarktes folgt, die auf die Mobilisierung der Marktkräfte durch moderate Löhne, niedrige Sozialleistungen und eine Flexibilisierung und Deregulierung des Arbeitsmarktes setzten (z. B. Flassbeck/Spiecker 2003; Bäcker 2006; Horn 2005). Eine umfassende wissenschaftliche Analyse der Auswirkungen der HartzGesetze steht noch aus. Aber bestimmte Wirkungen lassen sich aus den Reformen herauslesen. Diese betreffen nicht nur die Bezieher von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, sondern auch Arbeitnehmer (Schmidt 2007b: 300f). Für die Erwerbslosen bedeutet die Agenda 2010 die „Reintegration durch die Ausweitung prekärer Arbeit“ (Dörre 2005a: 255). Für die Beschäftigten hat man den Schatten des 221
Die Eckpunkte der Agenda 2010, das Scheitern des Bündnisses für Arbeit antizipierend, wurden bereits 2002 im Kanzleramt diskutiert (Korte 2007). 222 Claus Offe (2003: 810) hat auf die Widersprüchlichkeit dieses Begründungsmusters hingewiesen, das nach folgender Logik funktioniere: „Wenn wir soziale Sicherheit gewährleisten wollen, müssen wir sie partiell abschaffen. So einen Satz hätte man früher einen Widerspruch genannt. Heute nennt man ihn Agenda 2010.“
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Marktes erhöht: Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die Verschärfung der Pflichten der Empfänger sowie die Beschneidung der Anspruchsrechte verringern den Grad der De-Kommodifizierung (Dingeldey 2007, 2006; Giesecke/Groß 2005). Ein eingeschränkter Kündigungsschutz und die Verkürzung der Bezugsdauer des den Lebensstandard sichernden Arbeitslosengeldes I haben die relative Statussicherheit der Beschäftigten ausgedünnt. Damit wurde auch ihr Verweigerungspotenzial und damit indirekt die Konfliktfähigkeit der Gewerkschaften geschwächt. Die Lohnzurückhaltung der vergangenen Jahre ist auch ein Produkt der Agenda 2010 (Sinn 2007). Die Agenda 2010 war ein „point of no return“ (Walter 2006b: 242), ein „für die Geschichte der Sozialdemokratie beispielloser Paradigmenwechsel“ (Meyer 2004b: 7).223 Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit war eine – wenn nicht gar die – zentrale Stütze für den Wahlsieg 1998 gewesen (vgl. Walter/Dürr 2000: 109). Jetzt standen die konkreten Policies im direkten Widerspruch zum Verständnis sozialer Gerechtigkeit des politischen Paradigmas aus dem Berliner Programm. Man hatte den Sozialstaat im Umbau abgebaut, die Policies der Agenda 2010 hatten mit einer egalitären Verteilungsgerechtigkeit nur wenig zu tun. Sie standen im Widerspruch zur überlieferten Gerechtigkeitskonzeption in der Partei (Meyer 2004a, b). Es war nicht das erste Mal, dass eine sozialdemokratische Regierung Kürzungen beim Wohlfahrtsstaat mitgetragen oder betrieben hat. Wenn man jedoch die Agenda 2010 mit der Operation ’82 der Schmidt-Regierung vergleicht, gibt es gravierende Unterschiede hinsichtlich des Ausmaßes und der Handlungsmotivation: Die sozialliberale Koalition unter Helmut Schmidt beschloss, nicht nur, aber vorwiegend unter dem Druck des Koalitionspartners FDP, Kürzungen und leichte Verschärfungen im Zugang zu den Sozialleistungen. Die SchmidtReformen blieben gleichwohl immanente, in der Kontinuität des überlieferten Wohlfahrtsstaats verharrende Reformen, während die Agenda 2010 das „Schlüsselprojekt einer wohlfahrtsstaatlichen Politikwende“ ist (Wiesendahl 2004: 20). Schmidt hatte innerparteilich mit einem starken linken Flügel zu kämpfen, der ihm manch schwere Niederlage bescherte. Aber die Partei war insofern intakt, als über den Konflikt nach wie vor die Integration der verschiedenen Flügel stattfand. Die Prämissen des sozialdemokratischen Modells blieben erhalten (vgl. Borchert 1996: 62). Anfang der 1980er Jahre stand Helmut Schmidt mit seiner Position der Haushaltskonsolidierung innerparteilich fast alleine da, heute reprä223
Die Agenda 2010 hatte einen nicht unerheblichen Anteil an einer Abspaltung von der SPD, der späteren WASG, und dem Erfolg der Linkspartei (vgl. Walter 2007; Walter/Spier 2004; Nachtwey/Spier 2007; Nachtwey 2007d).
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sentiert Finanzminister Peer Steinbrück mit dieser Präferenz die Mehrheit der Partei. Bei der Agenda 2010 ging die Initiative für die Reforminnovation von der SPD aus. Mit Hartz IV hat zudem – trotz der bekannten Reformresistenz des deutschen Wohlfahrtsstaats – eine substanzielle Änderung der Institutionalisierung der sozialen Sicherheit stattgefunden (Kemmerling/Bruttel 2006; Mohr 2004). Das Prinzip der Lebensstandardsicherung wurde zurück- und das Prinzip der allgemeinen Grundsicherung hochgestuft. Zudem kann man die Agenda 2010 auch als einen Strategiewechsel im Verhältnis zu den Gewerkschaften betrachten. Nachdem das Bündnis für Arbeit nichts gefruchtet hatte, setzte die Regierung Schröder nicht länger auf die freiwillige Kooperation der Gewerkschaften, sondern auf deren indirekte Schwächung durch eine Vergrößerung des Schattens des Marktes für alle Arbeitnehmer. 7.6 Nachholender Revisionismus der SPD Kein Wunder, dass sich mit dem Politikwechsel eine Debatte über das Gerechtigkeitsverständnis in der SPD entwickelte. Nach Lafontaines Rücktritt hatte der SPD-Parteivorstand 1999 beschlossen, ein neues Grundsatzprogramm auf den Weg zu bringen. Dieses Programm wurde allerdings von einer innerlich völlig veränderten Partei erstellt. Schröder hatte den Parteivorsitz übernommen, aber Charme und Charisma des Bundeskanzlers hatten sich während seiner Regierungszeit abgenutzt (vgl. Walter/Dürr 2000: 112). Schröder betrieb einen dezisionistischen Politikstil, Reformen wurden verkündet, nicht kommuniziert, begründet oder erklärt. Um die Programmarbeit kümmerte er sich als Parteivorsitzender so gut wie gar nicht. Innerparteilich hat er seine kommunikativen Fähigkeiten kaum eingesetzt, was ihm das Attribut „Basta-Kanzler“ einbrachte und dazu führte, dass er 2004 den Parteivorsitz an Franz Müntefering abgeben musste.224 Über die Jahre hat sich in der SPD eine kombinierte und ungleiche Entwicklung vollzogen. Schon in den 1980er und 1990er Jahren hatte die SPD Organisationsreformen durchgeführt, gleichwohl mit geringem Erfolg (vgl. Walter 1995a: 97–102). Zwar präsentierte sich die Partei flexibler, partizipativer, moderner und professioneller, um auf die Erfordernisse der Mediengesellschaft zu reagieren, aber die Reformen waren im Ergebnis bei weitem nicht so einflussreich wie die der Labour Party (vgl. Jun 2004: 187–90). Dennoch hat sich der Prozess der 224
Nicht zuletzt deshalb, weil autoritäre Führungsstile in modernen, differenzierten Parteien kaum noch fruchten (vgl. Walter 1997: 1331–34).
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Entscheidungsfindung auch ohne große Reformen innerhalb der SPD verändert. Diese werden häufig nur noch von einem kleinen Kreis an der Spitze ohne Konsultation der Parteigremien gefällt – quasi „hermetischen Schaltzentralen“ (Wiesendahl 2004: 24) – und anschließend über die Medien kommuniziert (Jun 2004: 149–61). Durch eine Organisationsreform wurden die Bezirksorganisationen in Nordrhein-Westfalen, das stärkste innerparteiliche Machtzentrum in der SPD unterhalb der Führung, parteiintern deutlich geschwächt. Zudem hat sich die parteiinterne Kommunikation, die Legitimierung der Parteiführung vor der Basis verändert. Das Organisationsmodell der SPD entsprach seit den späten 1960er Jahren einer „lose verkoppelten Anarchie“ (Lösche/Walter 1992: 192-200) der horizontalen Integration unterschiedlicher und halbautonomer Parteigruppierungen und Ebenen. Diese wurden innerparteilich deutlich geschwächt (haben allerdings in der Post-Schröder-SPD wieder etwas an Bedeutung gewonnen). Der SPD ist die Erzählung einer alternativen, humanisierten Gesellschaft abhanden gekommen (vgl. Lösche 2004: 105–8). Der Großteil der Parteispitze und zahlreiche jüngere Aktivisten haben längst die wirtschaftsliberale Basisphilosophie und die Prämissen der Agenda 2010 übernommen. Nur bei den numerisch arg reduzierten linken Traditionalisten stößt man noch auf Ablehnung (vgl. Walter 2004, 2006a).225 Durch den Prozess der wirtschaftsliberalen Durchdringung und der innerparteilichen sozialen Modernisierung sowie des Bedeutungsverlusts der Ortsgruppen und Arbeitsgemeinschaften hat sich die innerparteiliche Meinungs- und Machtbildung bei der Parteiführung konzentriert, die ohnehin relativ geschlossen und nur in Nuancen voneinander abweichend die Basisphilosophie der Agenda 2010 teilt. 7.6.1 Neugrundierung der Grundwerte226 Im Rahmen der Programmdebatte fand eine umfassende Inspektion und Revision sozialdemokratischer Grundbegriffe und ihrer Semantik statt. Die Debatte um die Grundwerte erfolgte zunächst innerhalb der Eliten, erst später zwischen den Eliten und der Parteibasis. Auch wenn die unterschiedlichen Flügel zu Wort kamen, diente es hauptsächlich zur Findung eines neuen Konsenses, eines „Ras225
Allerdings hat sich die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Partei deutlich verändert. Die Bedeutung der Arbeiter und Facharbeiter, und damit der Gruppe mit der höchsten Sozialstaatsaffinität, hat in den letzten Dekaden immens abgenommen. (vgl. Lösche/Walter 1992: 82–88, 170). Ironischerweise war es gerade jene Kohorte innerhalb der Partei, die „68er“ und „Post-68er“, die die SPD diskursiv, programmatisch und organisatorisch weitgehend stillgelegt haben (vgl. Walter 2006a: 15– 28). 226 Erste Überlegungen zu diesem Teil wurden in Nachtwey (2007c) vorgenommen.
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ters der Selbstinterpretation“ (Rulff 2004: 60), welches das künftige Handeln einbetten sollte. Es gab zwei Phasen in der Programmdebatte. Die erste dauerte vom Beschluss des Parteipräsidiums im Jahr 1999, ein neues Programm zu erstellen, bis zum Ende von Scholz’ Amtsperiode als Generalsekretär im Jahr 2004.227 Die zweite begann mit der Amtszeit Franz Münteferings als Parteivorsitzender. Die erste Periode war die Zeit der Umprogrammierung der Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.228 Im Zentrum dieses Prozesses stand soziale Gerechtigkeit. Es wurde deutlich, dass die Politik der SPD mit der traditionellen Semantik sozialer Gerechtigkeit nicht mehr stimmig korrespondierte. Folglich waren die Hammerschläge auf die klassischen Begriffe der politischen Sprache der Sozialdemokratie – Gleichheit und Gerechtigkeit – am lautesten und intensivsten. Erst in der zweiten Periode näherte man sich einem diskutierbaren Programmentwurf. Die Debatte zuvor war erratisch, unkoordiniert und nicht zielführend (Meyer 2007).229 Dennoch lassen sich auch für die erste Periode wichtige Linien der Diskussion identifizieren. Der Begriff soziale Gerechtigkeit unterlag einem außerordentlichen Feldzug der Umprogrammierung. Das ging einher mit einer kombinierten Dekonstruktion, die aus der Retrospektive drei Methoden beinhaltete: (1) Verengung, (2) negative Attribution und (3) Einführung semantischer Innovationen.230 Zunächst verengte man diskursiv soziale Gerechtigkeit (und die egalitäre Verteilungsgerechtigkeit) auf ein Gleichheit im Ergebnis. Danach diskreditierte man den starken und positiven Bezug auf Gleichheit und Verteilungsgerechtigkeit – schließlich wollte man doch „mehr Ungleichheit wagen“ (vgl. Egle/Henkes 2003). Im Schröder/Blair-Papier hieß es, dass die Sozialdemokratie Gerechtigkeit fälschlicherweise mit „Gleichheit im Ergebnis verwechselt hätte“.231 Die negative Attribution lautete, dass Gleichheit und Verteilungsgerechtigkeit die gesellschaftliche Dynamik bremsen und die Bürger zur Trägheit an227 In dieser Zeit saß Rudolf Scharping der Programmkommission vor, später hat allerdings Olaf Scholz informell die Programmarbeit gesteuert. 228 Beispielsweise gab es zu jedem einzelnen Grundwert im Jahr 2000 ein Grundwerteforum. Die Dokumentation dieser Foren ist unter www.programmdebatte.spd.de (zuletzt abgerufen am 20. Februar 2008) einsehbar. 229 Die nennenswertesten programmähnlichen Dokumente vor dem Bremer Entwurf waren der Zwischenbericht der Programmkommission (SPD 2001), der von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene Beitrag der Netzwerker (FES 2003) und der Gegenentwurf der Parteilinken (Albers et al. 2003). 230 Obgleich man sich diesen Prozess nicht als strategisch geplant vorstellen muss, sondern eher als überzufälligen Diskurs, der die Veränderungen des politischen Paradigmas der SPD reflektierte. 231 Historisch ging es bei der SPD nie um Gleichheit „im Ergebnis“, sondern um gleiche Lebenschancen und -bedingungen.
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reizen würden. Man hatte die traditionelle Verknüpfungskette verkehrt: Forderte die ursprüngliche Sozialdemokratie Gerechtigkeit auf der Basis von erbrachter Leistung zum Wohlstand, wurde Gleichheit jetzt als individuell und gesamtgesellschaftlich leistungshemmend dargestellt (vgl. Mahnkopf 2000). Konsequenterweise versuchten die Modernisierer dem Begriff Ungleichheit eine neue, positive Bedeutung zu gegeben: Von gerechtfertigten „begrenzten Ungleichheiten“ (Wolfgang Clement) war die Rede, weil sie gesellschaftlich produktiv seien. Des Weiteren wurde das Konzept der Verteilungsgerechtigkeit kritisiert, da es nicht die wirklichen gesellschaftlichen Probleme bekämpfe. Gerechte Politik müsse die Exklusion, den Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe an Arbeit und Bildung bekämpfen (Merkel 2003). Die beiden wichtigsten Begriffe der Gerechtigkeitsdiskussion in der SPD sind Teilhabe- und Chancengerechtigkeit. Des Weiteren gibt es noch eine Reihe von neu in der Debatte platzierten Spiegelstrichgerechtigkeiten, wie etwa Generationen- oder Geschlechtergerechtigkeit, die in einem (vermeintlichen) Gegensatz zur Verteilungsgerechtigkeit stehen (vgl. Mielke 2005: 10).232 Teilhabe- und Chancengerechtigkeit (statt Chancengleichheit) kennzeichnen jedoch nicht nur semantische Innovationen, die dritte Methode innerhalb des sozialdemokratischen Gerechtigkeitsdiskurses, sondern markieren in der Summe eine andere Bedeutung des Begriffs soziale Gerechtigkeit: Schon der Begriff Chancengerechtigkeit verschiebt den semantischen Gehalt der beiden Stammbegriffe Chancengleichheit und Gerechtigkeit. Es geht nicht länger um das soziale Recht gleicher Chancen, sondern jeder bekommt die Chance, die er individuell – durch Leistung oder naturgegebene unterschiedliche Fähigkeiten – verdient (Draheim/Reitz 2004). Dieser scheinbar kleine Unterschied transportiert eine sozialphilosophisch andere, nämlich liberale Begründung und verändert das politische Handlungsfeld: Ziel ist nicht mehr die Herstellung von Gleichheit (der Chancen), sondern zum anerkannten Ausgangspunkt wird die (natürliche) Ungleichheit der Individuen. Auch die Teilhabegerechtigkeit reduziert die Bedeutung der egalitären Verteilungsgerechtigkeit, weil es vornehmlich nur um das „Dabeisein“ geht. Die ist eine Verschiebung zur Teilhabesemantik aus dem Berliner Programm, in dem es um individuelle und kollektive Teilhabe „am Sagen und Haben“ ging, um gesellschaftliche Mitbestimmung und Partizipation. Vielleicht am wichtigsten: Die Teilhabegerechtigkeit blendet die Beschaffenheit der Teilhabe gerne aus, ob es z. B. eine gute, würdevolle Arbeit ist. Olaf Scholz hat dies deutlich artikuliert: 232
Forst (2005) argumentiert, wenn man die Begriffe Teilhabe- und Chancengerechtigkeit ernst nähme, müsste eine umfassende Neu- und Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen die Folge sein.
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„Unter dem Gesichtspunkt der Teilhabe und der Chancen ist selbst schlecht bezahlte und unbequeme Erwerbsarbeit besser als transfergestützte Nichtarbeit“ (Scholz 2003: 17).
Die Verschiebungen im Begriff der sozialen Gerechtigkeit vollziehen sich in einer „Kontinuitätssemantik“ (Leisering 2004: 50) – als neuer Wein in alten Schläuchen. Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit wurde erhalten, aber durch die Nivellierung der Verteilungsgerechtigkeit und die Mutation des Begriffs Teilhabe wurde ihm eine neue Bedeutung eingeschrieben. Aber nicht nur die soziale Gerechtigkeit hatte im Wertekanon der SPD einen schweren Stand. Die gesamte Trias sozialdemokratischer Grundwerte – Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – erhielt eine neue Grundierung, auf die im Folgenden nur sehr kurz eingegangen wird. Der Begriff der Freiheit hat in der SPD natürlich eine historische Bedeutung. Zunächst ging es um die politische Freiheit nach der Unterdrückung durch die Sozialistengesetze und im Dritten Reich. Freiheit hatte aber auch immer die soziale Bedeutung der Freiheit von wirtschaftlicher Not und des selbstverantwortlichen Handelns. Das Godesberger Programm ist da eindeutig: „Sozialpolitik hat wesentliche Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich der Einzelne in der Gesellschaft frei entfalten und sein Leben in eigener Verantwortung gestalten kann“ (SPD 1959: 228).
Diese geschichtliche Verkopplung von Freiheit und Eigenverantwortung, setzt sich auch heute fort – nur wieder in einer auf den Kopf gestellten Verknüpfung. Freiheit ist jetzt zum einen wirtschaftsliberaler grundiert: als Freiheit vor staatlicher Einmischung. Zum anderen ist der Freiheitsbegriff – es scheint nur auf den ersten Blick paradox – autoritärer geworden. Freiheit bedeutet heute „bedingte, gebundene, verpflichtende Freiheit“, denn man ist gehalten, sich eigenverantwortlich zu verhalten (Lessenich 2003d: 1054). Die Semantik von Freiheit und Eigenverantwortung wurde weiter in den Bereich des Individuums verlagert – als Handlungsimperativ. Eigenverantwortung wird als „säkularisierte soziale Befreiungstheologie“ (Lessenich 2005) präsentiert, bedeutet aber das Gegenteil. Das gesamte Leitbild aktivierender, vorsorgender bzw. präventiver und investiver Sozialpolitik vollzieht eine Verantwortungsumkehr im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, es verlagert die Verantwortung und das Wohlergehen des Sozialstaats in die Handlungen des Einzelnen (vgl. Vobruba 1983b). Nicht mehr „das System“ ist verantwortlich für das Wohlergehen und die soziale Sicherheit seiner Bürger, sondern das Individuum muss Sorge um seine eigene Beschäftigung(sfähigkeit) und soziale Absi225
cherung tragen. Eigenverantwortung ist nicht mehr Forderung nach der gesellschaftlichen Gewährleistung eines selbstverantworteten Lebens, sondern vornehmlich eine Vokabel der sozialen Disziplinierung, nicht Tugend, sondern Pflicht, ein Dienst am Allgemeinwohl (vgl. Lessenich 2003a).233 Eigenverantwortung bedeutet die Nichtinanspruchnahme des Sozialstaats, ja den freiwilligen Verzicht auf soziale Staatsbürgerrechte. Das Individuum, frei nach Kennedy, soll sich nicht länger fragen, was der Staat für es tun kann, sondern was es für den Staat und den Erhalt des Systems tun kann.234Auch der Grundwert der Solidarität erfuhr eine Neubestimmung hinsichtlich des Sozialstaats. Der Solidaritätsbegriff ist ein zentraler Wert in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Er bezeichnete ursprünglich eine wechselseitige Unterstützungsbeziehung unter Gleichen, im Falle des Wohlfahrtsstaats die Vorstellung der gemeinsamen Betroffenheit von Arbeits- und Lebensrisiken (vgl. Prisching 2003; Zoll 2000). Doch eben diese Solidarität wird in Frage gestellt. Schröder gebrauchte den Begriff entweder als Terminus technicus für Sozialpolitik oder asymmetrisch als die Solidarität der Starken, der Leistungserbringer mit den Schwachen (Reisz 2004). Solidarität wird konditionalisiert. Man vermutet nicht mehr, dass die „Solidaritätsempfänger“ unverschuldet auf Hilfe angewiesen sind, sondern es wird unterstellt, dass Bedürftige ihren Teil zu ihrer Not beigetragen haben. Und wenn man gesellschaftliche Hilfe in Anspruch nimmt, dann darf man nicht nur nehmen, dann muss man auch geben. In dieser Zusammenschau der Grundwertedebatte der ersten Phase der Programmdiskussion ist das Ausmaß der Dekonstruktion und Umwertung der überlieferten Semantik der sozialdemokratischen Grundbegriffe deutlich geworden. Als halboffene Semantiken, die einesteils eine eigensinnige Bedeutung in sich tragen, andernteils Produkte gesellschaftlicher Deutungsprozesse sind, wurden die Grundbegriffe weder vollständig entleert noch radikal umgedeutet, sondern ihre inneren Verknüpfungen verändert, einige Bestandteile zurückgedrängt, andere dafür radikalisiert. Trotz aller Unterschiede haben die neuen Semantiken zwei sich ergänzende Fluchtpunkte: Alle Begriffe werden relativ entkollektiviert und auf individuelle Verantwortlichkeiten/Chancen/Leistung übertragen, des Weiteren wurden sie produktivistisch durchsetzt. Das Soziale wie auch das individuelle Verhalten dienen dem Zweck der Wohlstandsmehrung. Dieser Prozess der Re-Education verlief entlang der überlieferten Begriffe, stellte aber zahlrei-
233 Allerdings verbergen sich gerade hinter der Rede vom Allgemeinwohl bestimmte Interessen, die sich selbst moralische Legitimität verschaffen und erzieherisch wirken wollen (vgl. Offe 2002). 234 Zu den Paradoxien des Eigenverantwortungsdiskurses vgl. Nullmeier (2006).
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che Traditionen und Wertideen in Abrede oder verkehrte sie nahezu in ihr Gegenteil. 7.6.2 Vorsorgender Sozialstaat und soziale Marktwirtschaft Die SPD war in ihrem Weltbild tief verunsichert, das hatte Franz Müntefering im Jahr 2004 begriffen. Als neuer Parteivorsitzender verantwortete er auch die Programmarbeit, ließ den Versuch der Netzwerker um Scholz zur programmatischen Erneuerung ins Leere laufen, setzte die Programmkommission nach Parteigliederungen austariert zusammen und begann den Programmprozess neu zu organisieren. Damit startete die zweite Phase der Programmfindung. Müntefering entwarf einen strikten Zeitplan, holte das Berliner Programm wieder aus der Schublade und argumentierte fortan, dass man kein vollständig neues Programm bräuchte. Diese Kombination aus Planung und Parteiintegration zeugte von der Erkenntnis, dass es eines neuen, positiven Leitbilds bedurfte. In welchem Wohlfahrtsstaat wollen wir leben? Diese Frage galt es zu beantworten. Durch die Neuwahlankündigung im Mai 2005 wurde auch der von Müntefering angeschobene Programmprozess hinfällig. Erst Münteferings Nachfolger als SPD-Vorsitzender, Matthias Platzeck, gelang es, einen positiven Begriff für das Herzstück der programmatischen Reformanstrengungen – den vorsorgenden Sozialstaat – vorzulegen (Platzeck 2006). Auch wenn Platzeck nur kurze Zeit als Vorsitzender agierte, leitete er mit diesem Begriff die jüngste Phase der Programmfindung ein, in der die SPD ihre Leitbilder wieder positiv aufstellte. Mit dem Konzept des vorsorgenden Sozialstaats grenzte sie sich vom Sozialstaat „alter“ Fassung ab, der von seiner Logik her ein „nachsorgendes“ Narkotikum sei, der die Problemlagen lindere, aber ihr Auftreten nicht verhindere. Der Kerngedanke ist derselbe wie bei der Wohlfahrtsstaatsphilosophie New Labours: Durch „Investitionen“ in die Menschen soll gesellschaftliche Teilhabe ausgebaut werden, vor allem durch verstärkte Bildung (diese Chancen müssen die Bürger dann aber auch wahrnehmen). Im vorsorgenden Sozialstaat sollen Probleme, z. B. durch Prävention in der Gesundheitspolitik, erkannt und behandelt werden, bevor sie akute Fürsorge erfordern. Er soll die Menschen fit für ihre künftig gebrochenen Erwerbsbiografien machen. Durch beständige Bildungs- und Weiterbildungsförderung sollen die Beschäftigungsfähigkeit erhöht und die „Übergänge“ und „Beschäftigungsunterbrechungen“ verkürzt werden. Flexible Beschäftigungsverhältnisse will man besser absichern. Im Leitbild des vorsorgenden Sozialstaats fügen sich die Konfliktlinien innerhalb der SPD zu einem einheitlichen Ganzen zusammen: ein positives Be227
kenntnis zum Wohlfahrtsstaat, das gleichzeitig die Agenda 2010 legitimiert, soziale Gerechtigkeit, Teilhabe am Arbeitsmarkt und Wettbewerbsfähigkeit. Die Bürger sollen stärker aktiviert werden, in Bildung investiert, faire Arbeitsbedingungen auf globalen Märkten gesichert und ein neuer, nachhaltiger Generationenvertrag geschaffen werden. Platzecks Nachfolger im Amt des Parteivorsitzenden, Kurt Beck, übernahm das Leitbild des vorsorgenden Sozialstaats, setzte aber Akzente. Zum einen rehabilitierte er die traditionelle sozialdemokratische Erzählung gesellschaftlicher Spaltungen und Ungleichheit (allerdings nicht im Sinne von sozialen Klassen), die es zu überwinden gelte. Gleichzeitig betonte er, dass der Sozialstaat nicht nur Leistung fordern dürfe, er müsse sie auch fördern: „Leistung muss sich wieder lohnen“ (ursprünglich ein Motto der CDU). Dafür sollen „leistungsblinde“ Finanzmärkte reguliert werden, die Unternehmen an der Finanzierung des Staats stärker beteiligt und mehr Chancengleichheit hergestellt werden (Beck 2006a). Beck korrigierte schon während Platzecks Ägide die im öffentlichen Diskurs oft betonte Unverträglichkeit von Leistung und Gerechtigkeit. Er betrachtete mangelnde Gerechtigkeit als leistungshemmend (Beck 2006b). Beim Konzept des vorsorgenden Sozialstaats wird prononciert ausgesprochen, was vorher ein angenehmer, aber meist ungenannter Nebeneffekt war. Der Sozialstaat sei eine „wirtschaftliche Produktivkraft“; dieser Topos findet sich in allen Texten aus der Parteispitze wieder.235 Wieder haben sich Ziele und Mittel in der Verknüpfungskette verschoben. War der Sozialstaat in der Wahrnehmung der Sozialdemokratie ein Gegengift zum Markt, sollte er jetzt die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit stützen und dabei das Soziale erhalten. Im Kontext des vorsorgenden Sozialstaats wird auch wieder positiv über die Notwendigkeit von Umverteilung, gar von Verteilungsgerechtigkeit gesprochen, beispielsweise im Impulspapier von Kurt Beck, Franz Müntefering und Peter Struck (2006). Doch gemeint ist nicht die klassische Umverteilung. In den Sätzen, die auf den Umverteilungsbegriff folgen, wird herausgestellt, dass man – zweifellos ein hehres Ziel – die Armut mittels staatlicher Umverteilung bekämpfen möchte. Es geht bei diesem Begriff von Verteilungsgerechtigkeit nicht um die Reduzierung gesamtgesellschaftlicher Ungleichheit, sondern die Ungleichheit soll nach unten begrenzt werden. Der vorsorgende Sozialstatt als neues Leitbild reflektiert die Politik der Agenda 2010 und substituiert partiell den kollektiven und solidarischen Risikoausgleich durch die private Vorsorge (vgl. Nachtwey 2007b). Allerdings ver235
Beispielsweise in den Beiträgen von Kurt Beck in Die Welt (2006b; 2006a), dem Impulspapier von Beck, Müntefering und Struck (2006) sowie in denen von Platzeck (2006) und Heil (2006).
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deckt das Leitbild des vorsorgenden Sozialstaats semantisch die durchaus vorhandenen Kontinuitäten zum – schon begrifflich herabgesetzten – „nachsorgenden“ Sozialstaat. Gerade die Sozialversicherung, der institutionelle Kern des deutschen Wohlfahrtsstaats, ist ein Prinzip der Vorsorge: Man sichert sich kollektiv gegen die künftigen Risiken des Lebens ab. Wirklich neu ist der Begriff der Vorsorge in der programmatischen Debatte nicht. Bereits als die SPD noch am Konzept eines „nachsorgenden“ Sozialstaats festhielt, sprach man von vorsorgender Sozialpolitik. „Sozialpolitik, die sich darauf beschränkt, eingetretene Schäden zu beheben, ist inhuman und überdies finanziell rasch überfordert. Der wirksamste Schutz geschieht durch Vorbeugung. Sozialpolitik will nicht nur reparieren und in Notfällen einspringen, sondern vorausschauend gestalten […] Humanisierung der Arbeit, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und gerechtere Einkommensverteilung sind zentrale Aufgaben vorbeugender Sozialpolitik“ (SPD 1989: 85).
Diese Passage aus dem Berliner Programm zeigt, dass der Vorsorgegedanke auch schon vorher Bestandteil des wohlfahrtsstaatlichen Denkens war – allerdings in einer anderen Konnotation. Mit vorbeugender bzw. vorsorgender Sozialpolitik war die Bekämpfung systemischer Risiken gemeint, während sie jetzt eine Unterstützung zu eigenverantwortlicher Selbstführung meint. In der Programmdebatte sticht ein weiterer Ordnungsbegriff hervor, der komplementär zum vorsorgenden Sozialstaat steht: die soziale Marktwirtschaft. Ordnungspolitisch ist die soziale Marktwirtschaft auf die politische Herstellung des Wettbewerbs ausgerichtet. Als Gründungsethos und Erfolgsmythos der Bundesrepublik hat sie in der bundesrepublikanischen Gesellschaft eine positive Konnotation, gehört aber zur politischen Sprache der Christdemokratie bzw. des Ordoliberalismus (vgl. Kapitel 5). Der vorsorgende Sozialstaat hat gleichfalls starke Anleihen im ordoliberalen Denken. Sozialpolitik soll in dieser Tradition möglichst marktkonform und marktbereitend sein. Eben diesen Gedanken der Ordoliberalen hat sich die SPD mit dem Konzept des vorsorgenden Sozialstaats zu eigen gemacht. Der vorsorgende Sozialstaat soll über einen ordoliberalen Minimal-Sozialstaat hinausgehen. Vorsorgende Sozialpolitik soll künftige Belastungen für Staat und Wirtschaft minimieren und die Wettbewerbsfähigkeit sowohl des individuellen Bürgers als auch der Volkswirtschaft erhöhen, aber gleichzeitig eine soziale Grundsicherung für alle Bürger in einer veränderten
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Arbeitswelt mit veränderten Arbeitsbiografien garantieren.236 So hat man den Ordoliberalismus mit den klassischen sozialdemokratischen Vorstellungen sozialer Sicherheit und Fürsorge amalgamiert. 7.6.3 Der Bremer Entwurf Im Januar 2007 erschien der „Bremer Entwurf“, der bis dato ambitionierteste Vorschlag für das neue Grundsatzprogramm. Die erste Vorlage haben wahrscheinlich237 ein kleiner Kreis um den SPD-Generalsekretär Hubertus Heil und den Chefredakteur der Zeitschrift Berliner Republik, Tobias Dürr, geschrieben. Diese Vorlage wurde im November 2006 veröffentlicht und der Programmkommission vorgelegt. Der Bremer Entwurf verzichtet auf die Rhetorik der Sachzwänge („Im Zeitalter der Globalisierung, müssen …“), die in den letzten Jahren die politische Sprache der SPD bestimmt hat. Im Entwurf finden sich die Sachzwangargumente nur vereinzelt, man spricht in der Regel von „Herausforderungen“, die man „gestalten“ möchte.238 Die wichtigsten Innovationen im Entwurf sind die bereits diskutierten Leitbilder des vorsorgenden Sozialstaats und der sozialen Marktwirtschaft (Nachtwey 2007c). Die sozialen Komponenten des Programms werden durch ihren Beitrag zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gerechtfertigt. Das Ziel der Wirtschaftsdemokratie, im Berliner Programm noch eine zentrale Säule, kommt im Bremer Entwurf nicht mehr vor, übrig bleibt nur die Mitbestimmung. Diese ist indessen nicht länger ein erkämpftes und legitimes Recht der Arbeitnehmer, die diesseitige Keimform des demokratischen Sozialismus, sondern vordringlich „Voraussetzung für den unternehmerischen Erfolg“ (SPD 2007b: 43). Insgesamt zeigen alle programmatischen Vektoren in dieselbe Richtung, begründet der Entwurf fast alle sozialen und gesellschaftlichen Reformen mit ihrer Relevanz für den wirtschaftlichen Wohlstand. Man bekennt sich deutlich zu Wachstum und zum globalen Standortwettbewerb, und während man im Berliner Programm eine expansive Exportorientierung ausdrücklich ablehnte, 236 Ohne den Begriff „vorsorgender“ Sozialstaat zu gebrauchen, vertritt Thomas Meyer ein ähnliches Konzept (Meyer 2004b). Was Meyer anstrebt, ist eine Grundsicherung auf gesockeltem Niveau: gleich niedrige soziale Sicherung für alle. Er will die Sicherheit für prekäre Beschäftigung erhöhen und die für die „Kernarbeitsverhältnisse“ (ebd.: 14) begrenzen. Mit anderen Worten: den Kündigungsschutz lockern. 237 Es ist nicht bekannt, wer genau den Entwurf geschrieben hat. Sogar der altgediente Parteiprogrammatiker Erhard Eppler kennt die Autoren nicht (vgl. Eppler 2007). 238 Allerdings fällt man gerade in Bezug auf die Globalisierung noch in die Falle der Hypostasierung („Die Globalisierung schafft Wachstum“), während man an anderen Stellen die Globalisierung als menschengemacht darstellt.
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will man diese jetzt mit Qualität und fairen Löhnen intensivieren. Indes ist der Bremer Entwurf vorsichtiger ausgefallen, als die vorangegangene Debatten vermuten ließen. Er schwankt zwischen produktivistischer Konsequenz und sedativer Rhetorik. Das vielleicht auffälligste Beispiel ist der Begriff Eigenverantwortung. Er taucht im Programm schlicht nicht auf. Genauso kommt das Programm ohne die Begrifflichkeiten der Disziplinierung aus, man verliert kein Wort über das Fordern und die Pflichten, die zu den Rechten gehören. Im Bremer Entwurf dominiert zwar die produktivistische Gerechtigkeit, dessen ungeachtet reüssiert auch die egalitäre Verteilungsgerechtigkeit zusammen mit der Chancengleichheit: „Entweder wir lassen es zu, dass die Kluft zwischen Reich und Arm, zwischen Privilegierten und Benachteiligten immer größer wird – oder wir betreiben eine Politik, die soziale Gegensätze verringert und die allen Menschen die Chance auf eine selbstbestimmte Lebensgestaltung eröffnet“ (ebd.: 47).
Da hatte man so lange die Verteilungsgerechtigkeit dekonstruiert, nur um sie im Programm an prominenter Stelle wieder einzubauen? Ein Teil der Antwort liegt im Vergleich der von Heil & Co verantworteten Vorlage mit dem später verabschiedeten Bremer Entwurf. Im Bremer Entwurf ist der Abschnitt zur sozialen Gerechtigkeit fast doppelt so lang wie in der Vorlage, in der Verteilungsgerechtigkeit fast nicht, dafür aber umso mehr Chancen-, Teilhabe und Leistungsgerechtigkeit enthalten waren. In der endgültigen Version ist wieder eine starke Vision von Verteilungsgerechtigkeit angesprochen, die teilweise wortwörtlich aus dem Berliner Programm übernommen wurde. Während der Autorenkreis des ersten Entwurfs eher zu den Netzwerkern239 und Modernisierern gehört, finden sich in der Programmkommission auch Parteilinke, Vertreter der Gliederungen sowie der Landesverbände. Ja, es gab sogar während der gesamten Zeit ein zahlenmäßiges Übergewicht der Linken in der Kommission, während die Führung zumeist in der Hand von Modernisierern oder Parteirechten lag (vgl. Meyer 2007). Die Linken hatten bis zur Verabschiedung des Bremer Entwurfs im Januar 2007 noch einige Änderungen durchgesetzt. Durch die Kollektivierung der Programmerstellung sind noch andere Interessen und Wertvorstellungen in den Bremer Entwurf eingeflossen. Vor allem auch, weil in der Zwischenzeit die Parteilinke in der SPD sich von ihren schwe-
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Der Netzwerkerflügel distanziert sich zwar vom Links-rechts-Schema, steht aber im Zweifelsfall auf der Seite der Modernisierer.
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ren Niederlagen wieder erholt hatte und besser organisiert und positioniert in den Programmdebatten wirkte. 7.6.4 Das „Hamburger Programm“ – ordoliberale Kodifizierung der Marktsozialdemokratie Im Oktober 2007 wurde das neue Grundsatzprogramm – das Hamburger Programm – verabschiedet. In den letzten Wochen und Monaten hat man den Entwurf zum Hamburger Programm nicht nur gekürzt, sondern nochmals nach links korrigiert. Der demokratische Sozialismus hat wieder Eingang gefunden, insgesamt ist die Sprache wärmer, solidarischer, schlicht sozialdemokratischer. Aber es handelt sich vor allem um eine semantische Retraditionalisierung, eine retronormative Integration der Parteibasis. Dies war ein Produkt einer abermaligen Verschiebung innerhalb des Gefüges der SPD. Die vormalige dominante Koalition der Modernisierer hatte mit dem Wechsel im Parteivorsitz von Matthias Platzeck zu Kurt Beck an Bedeutung verloren. Nicht weil Beck ein Linker wäre, aber eben auch kein Modernisierer. Er war ein Pfälzer, der im Justemilieu der Berliner Republik schlecht ankam, aber dafür seine Volksnähe kultivierte. Beck war uncharismatisch, aber innerparteilich aus Mangel an Alternativen unangefochten, gleichwohl traute man ihm nicht zu, die SPD politisch und programmatisch aus dem Tal zu führen, in dem man seit der Agenda 2010 festsaß. Inzwischen hatte sich die Parteilinke konsolidiert – die Agenda 2010 hat sie längst akzeptiert – und vor allem auf Länderebene kleinere Siege errungen.240 Kurt Beck hatte sich zwar immer positiv zur Agenda 2010 bekannt, später indes ganz sachte, dann etwas stärker Korrekturen angemahnt. Beck war davon überzeugt, beide Flügel der Partei zu integrieren. Deshalb baute er die Parteiführung um und nominierte neben zwei erklärten Modernisierern, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Finanzminister Peer Steinbrück, das Aushängeschild der Parteilinken, Andrea Nahles, für den Posten der Stellvertretung. Dieses Manöver war nicht nur Teil einer Integration, sondern auch Teil der Festigung seiner politischen Autorität, die Beck durch die Unterstützung der Linken aufbaute, ohne selbst ein Linker zu sein. Die Integration der Partei und die Festigung seiner Autorität fielen für Beck zusammen. Franz Müntefering hatte 2005 mit seinem Rücktritt noch verhindert, dass Nahles Generalsekretärin wurde, jetzt machte Beck sie zur stellvertretenden Parteivorsitzenden. Auch politisch suchte Beck den Machtkampf mit Müntefering, der sich in der großen Koalition, in der die 240
Zwei der drei Spitzenkandidaten (Andrea Ypsilanti in Hessen und Wolfgang Jüttner in Niedersachsen) für die Landtagswahlen nach dem Parteitag waren erklärte Parteilinke.
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SPD unter der Führung der CDU und einer Kanzlerin Angela Merkel seit der verlorenen Wahl 2005 beteiligt war, zum apodiktischen Verteidiger der Agenda 2010 gewandelt hatte.241 Indem Beck gegen die mehrfach bekundete Position von Müntefering innerparteilich eine Korrektur bei der Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose durchsetzte, drängte er die Modernisierer programmatisch zurück und stärkte seine innerparteiliche Position. Aber Becks Linksschwenk war relativ, denn er stellte nicht das mühsam erarbeitete politische Paradigma in Frage, sondern wollte die SPD innerhalb der von der Agenda 2010 gesetzten Koordinaten wieder als Partei der sozialen Gerechtigkeit im Parteienwettbewerb positionieren – die Linkspartei hatte sich als ernstzunehmender Konkurrent etabliert, die ihr diese Kompetenz streitig machen sollte (Nachtwey 2007a).242 Zwei Elemente sollten die Neupositionierung erfüllen: die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitnehmer und die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn. Erstere besagt mehr Leistungsgerechtigkeit und mehr Verteilungsgerechtigkeit auf der Grundlage von Bedarf. Die Verlängerung der Bezugsdauer für die Bezieher des Arbeitslosengeldes I war für die langjährigen Beitragszahler mehr Leistungsgerechtigkeit, und zusätzlich wurden Bedarfsaspekte berücksichtigt, da angenommen wurde, dass ältere Arbeitnehmer schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Der bereits im Wahlmanifest von 2005 geforderte Mindestlohn (SPD 2005b) rückte zusammen mit dem Leitbild „gute Arbeit“ in den Mittelpunkt der sozialpolitischen Programmatik der SPD. Innerhalb der starken Tendenz zur Vermarktlichung hat man sich ein kleines Stück nach links entwickelt. Im endgültigen Hamburger Programm wurde der Teilhabebegriff wieder von seiner binären Logik befreit und vorsichtig mit gesellschaftlicher Dimension aufgefüllt. Im Abschnitt „Gute Arbeit“ spricht man vom Ziel gesellschaftlicher Teilhabe und Mitbestimmung als sozialdemokratische Politikziele, auch eine „gerechte Verteilung“, die sich an der Produktionsund Preisentwicklung orientiert, wird wieder benannt (vgl. SPD 2007a: 51–60). Aber „Umverteilung“ will man nicht betreiben – das Wort fällt nicht. Die „gerechte Verteilung“ wird zumeist nicht mit einer egalitären Bedeutung gebraucht, sondern es wird im Dunkeln gelassen, ob eine gerechte Verteilung ein Mehr an Gleichheit bedeuten soll. Nur ex negativo will man Ungleichheit „begrenzen“ 241 Müntefering war auch der Architekt der „Rente mit 67“, der Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die zu heftigen Protesten von den Gewerkschaften führte, später wurde er aber einer der stärksten Verfechter der Einführung eines Mindestlohns. 242 Im Vorfeld des Parteitags hatten Steinbrück, Steinmeier und Platzeck versucht, die programmatischen Verschiebungen noch zu verhindern. Sie mahnten an, dass die SPD nicht genug als Partei der Wirtschaft wahrgenommen werde (Platzeck et al. 2007).
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und dazu „gleiche Chancen fördern“ (SPD 2007a: 43). Das ist vage, aber anschlussfähig an das rawlssche Differenzprinzip, nach dem begrenzte Ungleichheiten legitim sind, solange die Schlechtergestellten davon profitieren. An der zentralen Stelle über die Grundwerte im Programm wird zwar explizit mehr Verteilungsgerechtigkeit und Gleichheit gefordert, aber wiederum nicht aus einer normativ-egalitären Begründung: „Wo die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen die Gesellschaft teilt in solche, die über andere verfügen, und solche, über die verfügt wird, verstößt sie gegen die gleiche Freiheit und ist darum ungerecht“ (ebd.: 15).
Verteilungsgerechtigkeit wird also aus gesellschaftlicher Macht und individueller Freiheit begründet. Zentral in das Programm gerückt ist nun das Minimumprinzip. Arbeit soll existenzsichernd sein (vgl. ebd.: 54). So gibt es im Hamburger Programm noch Restbestände von Verteilungsgerechtigkeit, aber diese sind explizit mit dem Minimumprinzip sowie der Teilhabe verknüpft. Hinter dem vermeintlichen Linksschwenk hat sich die politökonomische Algebra, die programmatische Ratio der SPD verschoben. Denn das neue Parteiprogramm der SPD ist weiterhin Ausdruck ihrer Marktorientierung. Dies drückt sich programmatisch in einer Ordoliberalisierung aus: in den Ordnungsbegriffen soziale Marktwirtschaft und vorsorgender Sozialstaat. In der Programmatik der SPD hat der Begriff der sozialen Marktwirtschaft bis dato keine Rolle gespielt. Weder im Godesberger noch im Berliner Programm wird es erwähnt. Als Leitbegriff taucht es zum ersten Mal im Wahlprogramm von 1994 auf. Doch es ist nicht nur die begriffliche Adaption. Auch die wirtschaftspolitischen Topoi des Ordoliberalismus spielen eine hervorgehobene Rolle: „Damit der Markt seine positive Wirksamkeit entfalten kann, bedarf er der Regeln eines sanktionsfähigen Staats, wirkungsvoller Gesetze und fairer Preisbildung“, man will eine „Ordnung für den Wettbewerb“, die auf langfristiges Wachstum ausgerichtet ist (SPD 2007a: 17, 42). Der vorsorgende Sozialstaat soll eine „entscheidende Grundlage wirtschaftlicher Dynamik“ (ebd.: 57) sein.243 Zwar ist der demokratische Sozialismus in letzter Minute wieder in das Programm gerutscht,244 indes steht er offenkundig im Widerspruch zur realen Politik der SPD:
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In den Beiträgen der Parteiführung im Vorlauf zum Parteitag sah man im vorsorgenden Sozialstaat sogar eine „wirtschaftliche Produktivkraft“ (Beck 2006a, b; Heil 2006; Platzeck 2006; Beck et al. 2006). 244 Im Bremer Entwurf war es nur eine „unsere Geschichte prägende Idee“ (SPD 2007b: 13).
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„Die Sozialdemokraten werden sich irgendwann endlich entscheiden müssen. Falls sie die Politik Schröders fortsetzen wollen, dann sollten sie auch nicht mit dem Etikett des ‚Sozialismus’ herumhantieren. Wenn ihnen der Sozialismus aber unverzichtbar ist, dann, ja dann müssten sie ihre Politik schon grundlegend ändern“ (Walter 2007: 74).
Auch zum Konzept der sozialen Marktwirtschaft steht der demokratische Sozialismus im Widerspruch. Denn obwohl die politische Ökonomie der SPD seit den 1950er Jahren bestimmte ordoliberale Muster aufweist (vgl. Kapitel 5), sind die Ordnungskonzepte soziale Marktwirtschaft und der demokratische Sozialismus inkommensurable Konzeptionen, da Ersteres eine abgesicherte Gesellschaft des Wettbewerbs und Zweiteres eine solidarische Gesellschaft mit Wettbewerbselementen in der Wirtschaftspolitik meint.245 Für einen der bekanntesten Programmatiker der SPD, Thomas Meyer, ist der demokratische Sozialismus gar nur noch ein Relikt in der Programmatik, eine Antiquität wie der Marxismus vor dem Godesberger Programm, deren Gebrauch den Zugang zur Realität verhindere. Das gesellschaftliche Leitbild ist jetzt die soziale Demokratie, die „Chancengesellschaft mit Grundsicherung“ (Meyer 2003). Die Wiederkehr des demokratischen Sozialismus zeugt von der Zerissenheit der SPD: 7.7 Das politische Paradigma der Marktsozialdemokratie In diesem Kapitel wurden bislang die weitreichenden Transformationen der Labour Party und der SPD analysiert. Was macht nun das Modell der Marktsozialdemokratie aus? Das neue politische Paradigma hat sich vor dem Hintergrund einer veränderten Zeitdiagnose entwickelt. Die keynesianische Sozialdemokratie ging davon aus, dass im „managerial capitalism“ durch den Übergang der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel auf die Manager der Klassengegensatz sich abschwächen würde. In der finanzmarktgetriebenen Globalisierung haben es Sozialdemokratie plötzlich mit einer „globalen Klasse“ (Dahrendorf 2000) wirtschaftsliberaler Eliten zu tun. Auch die Überzeugung, dass man den Kapitalismus auf nationaler Ebene mit keynesiansichen Rezepten steuern könnte, ist dahin. In diesem Abschnitt wird die Grundkonfiguration anhand der homologischen Konturen des politischen Paradigmas von SPD und der Labour Party herausgearbeitet. Im darauf folgenden Teil werden die Varianten der Marktsozialdemokratie beleuchtet. Vier miteinander zusammenhängende Faktoren lassen die 245
Zur Konzeption des demokratischen Sozialismus vgl. Meyer (1982).
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Diagnose eines marktsozialdemokratischen politischen Paradigmas zu: (1) Eine veränderte politische Ökonomie. (2) Das Verhältnis von Markt und Staat in der Sozialpolitik wird neukonfiguriert. Dabei handelt es sich nicht um eine Achsenverschiebung zu mehr Markt und weniger Staat, sondern um eine Neuauslegung von staatlicher Sozialpolitik. (3) Der soziale Inhalt des Begriffs soziale Gerechtigkeit verändert sich zu einer Gerechtigkeit des Marktzutritts in Kombination mit dem Prinzip des Minimums. (4) Der produktivistische Kern der Nachkriegssozialdemokratie, der Einklang von sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Effizienz, wird neu definiert – als Zurichtung des Sozialen auf den Markt. 7.7.1 Politische Ökonomie In der keynesianischen politischen Ökonomie wurde der Markt als unfähig betrachtet, eine makroökonomisch ausreichende effektive Nachfrage zu generieren und eine gerechte Verteilung zu ermöglichen. Diese Sichtweise eines makroökonomischen Marktversagens ist mittlerweile jedoch einer Sichtweise des makroökonomischen Staatsversagens bzw. der Beschränkung staatlicher Handlungsfähigkeit gewichen. Sozialdemokratische Akteure und die ihnen wohlgesinnten Wissenschaftler vertreten die Position, dass durch die Globalisierung dem Nationalstaat die Steuerungs- und Interventionsfähigkeiten abhanden gekommen sind. Keynesianische Politik über Nachfragesteuerung ist nur noch eine Option für den Ausnahmezustand. Auf der Ebene wirtschaftspolitischer Präferenzen hat die Haushaltskonsolidierung, ein zentraler Topos der monetaristischen Theorie, Vorrang vor expansiven, kreditfinanzierten und nachfrageorientierten Maßnahmen. Obgleich diese in pragmatischer Weise auch eingesetzt werden können und eine Rückkehr von kollektivistischer Nachfragepolitik für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann.246 In Deutschland war der staatliche Interventionismus bzw. das Ausmaß verstaatlichter Industrien historisch niedriger als in Großbritannien. Dennoch wollte man bestimmte Schlüsselindustrien aus dem Bereich der Grundversorgung und Infrastruktur politisch kontrollieren, weil man sie einerseits für die allgemeine Daseinsvorsorge als gewichtig einstufte und andererseits, weil man in ihnen die Gefahr der Monopolmacht sah. Die Godesberger Formel Wettbewerb so weit wie möglich, Planung so weit wie nötig hat in den vergangenen Jahren eine Umdeutung erfahren. Denn man dehnt den Wettbewerb durch Privatisierung von ehe246 Was sich – im Frühjahr 2009 – durch die Finanzkrise bestätigt. Nachfrageprogramme, ja sogar Verstaatlichungen sind parteiübergreifend wieder in das politische Repertoire zurückgekehrt. Gleichwohl zunächst ohne ein neues politisches Paradigma zu entwickeln.
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maligem öffentlichem Eigentum oder Liberalisierung vormals kontrollierter Märkte aus, schafft im Gegenzug aber ein dichtes staatliches Regulierungsniveau.247 Der vielleicht wichtigste Unterschied: Die Godesberger Formel war intrinsisch. Man wollte in der Privatwirtschaft einen funktionierenden Wettbewerb. Jetzt versteht man den Wettbewerb extrinsisch. Er soll als Mechanismus auf immer weitere Bereiche ausgedehnt werden. Eine ebensolche Entwicklung hat bei der Labour Party stattgefunden. Dort stand der Kollektivismus immer im Konflikt mit dem marktlichen Denken. Jetzt ist man hier völlig auf die Linie der „celebration of a competitive ethos“ (Thompson 1996a: 274). Der Wettbewerb ist das wirtschaftspolitische Leitbild, aber er soll für die Labour Party regelgebunden, fair verlaufen. Deshalb gibt es auch hier einen hohen Grad an Regulierung. Für die heutige Sozialdemokratie gibt es nach wie vor die Notwendigkeit staatlicher Intervention. Freilich nicht als Redistribution oder als diskretionäre Intervention, sondern als Allokation: die Bereitstellung öffentlicher Güter, Regulierung von Monopolen und externen Effekten. Diese Interventionen beruhen meist auf den wirtschaftspolitischen Leitlinien der postneoklassischen Theorien des Marktversagens (vgl. Sturn 2002; Fritsch et al. 2001). Dies sind jedoch keine marktkritischen Theorien, sondern sie sind eingebettet in die neoklassische Gleichgewichtstheorie. Sie sagen weniger darüber aus, wie Elisabeth Andersen es ausgedrückt hat, „was bei Märkten schiefläuft, sondern [darüber; d. Verf.], was schiefläuft, wenn es keine Märkte gibt“ (zit. nach Lukes 2005: 361). Intervention heißt für die Marktsozialdemokratie die Aufstellung und Überwachung von Regeln, damit die Märkte richtig funktionieren. Teilweise hat man diese Märkte – z. B. im Gesundheitswesen – auch erst selbst geschaffen. Ein weiteres Element der neuen politischen Ökonomie ist der – in Deutschland meist implizite – Rekurs auf die postneoklassischen endogenen Wachstumstheorien sowie die Ansätze des Neukeynesianismus (Arestis/Sawyer 2001).248 Postneoklassische Wachstumstheorien gehen davon aus, dass in der Wissensgesellschaft das Wissen selbst ein Produktionsfaktor mit steigenden Skalenerträgen ist (Romer 1986; Grossman/Helpman 1991). Zusätzlich diagnostizieren sie beim Allokationsmechanismus Markt eine Neigung zur Unterinvestition in Forschung & Entwicklung sowie in die Humankapitalbildung. Kurzum: Die neue politische Ökonomie der Sozialdemokratie ist nicht neoliberal antietatistisch, sondern 247
Im Hamburger Programm wurde die Formel zu „so viel Wettbewerb wie möglich, so viel regulierender Staat wie nötig“ (SPD 2007a: 43) umgeschrieben. 248 Die neukeynesianische Theorie, oft auch als neue Makroökonomik bezeichnet, ist von ihrem analytischen Schwerpunkt her nah an der allgemeinen Gleichgewichtstheorie und akzeptiert zahlreiche Axiome des Monetarismus (vgl. Hein et al. 2005; Felderer/Homburg 1999).
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bleibt interventionistisch. Sie hat allerdings die Etage gewechselt: in die Mikroökonomie, in die Sphäre des Angebots, als liberaler Interventionismus. Zur keynesianischen politischen Ökonomie gehörte auch immer eine Strategie der Einbindung der Gewerkschaften. In der SPD wurde dies korporatistisch über die konzertierte Aktion und später über das Bündnis für Arbeit umgesetzt, in der Labour Party durch die Einkommenspolitik und den Social Contract. Die Einbindung der Gewerkschaften über quasikorporatistische Gremien und die Logik des politischen Tauschs gibt es bei der Marktsozialdemokratie nicht mehr. Man sieht die Gewerkschaften zwar noch als wichtige Interessenorganisation an, aber eben nicht mehr. Die Marktsozialdemokratie setzt auf postkorporatistische Praktiken im Umgang mit den Gewerkschaften. Dazu gehört, dass man das Kräfteverhältnis im Klassenkompromiss der Nachkriegsperiode weiter in Richtung Kapital verschoben hat. Denn der Postkorporatismus beruht auf geschwächten Gewerkschaften, da die verbandliche Organisationskraft des Kapitals abgenommen und die Stärke des Einzelkapitals zugenommen hat. 7.7.2 Wohlfahrtsstaatlichkeit Der bedeutendste Wandel im politischen Paradigma von SPD und Labour Party hat nicht in der Wirtschaftspolitik, sondern beim wohlfahrtsstaatlichen Leitbild stattgefunden – der aktivierende Sozialstaat (vgl. Dingeldey 2007). Dies ist der gemeinsame Nenner des vorsorgenden Sozialstaats und der Welfare-to-WorkProgramme. Im Policy-Mix aus (Re-)Kommodifizierung und De-Kommodifizierung ist Erstere nunmehr das dominante Politikziel. Vollbeschäftigung sollte in der Nachkriegssozialdemokratie durch die „aktive“, zentralisierte Arbeitsmarktpolitik, die kongruent und komplementär zum keynesianischen Paradigma war, erreicht werden. Die Marktsozialdemokratie hält am Ziel der Vollbeschäftigung fest, hat aber auch hier die Etage gewechselt: Auf die makropolitische folgt die mikropolitische Steuerung. Durch die Präferenz für eine Politik der individuellen „Employability“ und der Inklusion nimmt man Abschied von der gesamtwirtschaftlichen Verantwortung zur Arbeitsmarkträumung und verlegt stattdessen die Verantwortung für die Beschäftigung in das Individuum (Legnaro 2006). Die Marktsozialdemokratie ist rational-ökonomischer und moralischer zugleich. Die neue soziale Subjektivität der Eigenverantwortung wird zur ersten Bürgerpflicht, um das Gemeinwohl zu steigern (Lessenich 2003c).249 249
Der Begriff der Eigenverantwortung war in der frühen Arbeiterbewegung die Forderung der Gewährleistung eines selbstverantwortlichen Lebens der nach Emanzipation strebenden Arbeiterschichten.
238
Der aktivierende Wohlfahrtsstaat versucht das Prinzip des „Forderns und Förderns“ in die Praxis umzusetzen. Eine re-kommodifizierende Politik der Leistungskürzungen bei der Arbeitslosenversicherung wird kombiniert mit einer „befähigenden“ Politik.250 Durch die Tendenz, die Inanspruchnahme von staatlichen Sozialleistungen durch individuelle Eingliederungsverträge stärker reziprok zu gestalten und zu konditionalisieren – man hat im Verhältnis zu seinen Rechten mehr Pflichten –, dringt in die sozialen Rechte der individuelle (und nicht der Gesellschafts-)Vertrag ein.251 Der Vertrag jedoch ist von seinem Wesen her die Rechtsform der Marktfreiheit, soziale Rechte sind demgegenüber die moderne Fortentwicklung des Staatsbürgerstatus (vgl. Marshall 1992). Ralf Dahrendorf (2004: 203) hat von den „merkwürdig autoritären Zügen“ des Dritten Wegs gesprochen. In der Sozialphilosophie zeigt sich dies im Prinzip des Förderns und Forderns. Callinicos (vgl. 2001: 58–63) betrachtet dieses als eine Art autoritär unterlegten Utilitarismus, der eine Einschränkung der Rechte Einzelner in Kauf nimmt, wenn dadurch die Gemeinschaft als Ganze, das Allgemeinwohl, gewinnt. Nach seiner Einschätzung korrespondiert der Mix aus methodologischem Individualismus und Kommunitarismus, wie er in den Theorien des Dritten Wegs vertreten wird, zu einer bestimmten Interpretation der neoklassischen Theorie. Arbeitslosigkeit wird interpretiert als „freiwillige Arbeitslosigkeit“ oder als individuell dysfunktionales Verhalten, das staatlich sanktioniert werden darf. Im neuen Sozialstaat rückt ein „Stählernes Gehäuse an [die] Stelle von Compassion“ (Walter 2007). Im Wohlfahrtsstaat der Marktsozialdemokratie wird die öffentliche und kollektive Risikobegrenzung nicht abgeschafft, aber in wachsendem Maße durch private und individuelle Eigen- und Selbstvorsorge substituiert. Der Markt als Allokationsmodus wird auf die soziale Sicherung der Daseinsvorsorge übertragen, während der Distributionsmodus Staat nur noch eine Grundsicherung übernimmt. Der Sozialstaat wird ökonomisiert, das Soziale wird vermehrt durch „Wohlfahrtsmärkte“ – wie in der Rentenversicherung – bereitgestellt (Nullmeier 2004). Doch auch Wohlfahrtsmärkte oder privatisierte Institutionen der öffentlichen Hand bedürfen einer gewährleistenden Regulation (vgl. Vogel 2007; Dingeldey 2006). Man hat es also nicht mit einem Prozess der Staatsreduktion zu tun, sondern das Verhältnis von Markt und Staat hat sich geändert. Es geht nicht um marktkorrigierende Politik, sondern um marktbereitende Staatlichkeit, um eine Sozial250
Allerdings bleibt in der Praxis das Fördern weit hinter dem Fordern zurück (vgl. Dingeldey 2007). Zur Debatte um die Veränderung des sozialen Staatsbürgerstatus in Großbritannien vgl. Powell (2002a) und White (2000). 251
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politik im Einklang mit den Marktgesetzen. Wie Josef Schmidt mit Blick auf die Arbeitsmarktpolitik der rot-grünen Koalition feststellt: „[E]s braucht wohl einen starken Staat, um einen freien Markt durchzusetzen und aufrechtzuerhalten“ (Schmid 2007: 286). Die Aufgabe des Staats besteht darin, die Wettbewerbsfähigkeit der Märkte durch eine „aktive Gouvernementalität“ zu sichern (Foucault 2004: 163f). Kurz: Die Marktsozialdemokratie verfolgt nicht den Rückbau des Staats, sondern eine andere, aktive Staatlichkeit, die mit dem Markt enger verkoppelt und von ihm durchdrungen ist. Der Markt soll mit den Mitteln des Sozialen gefördert und das Soziale zwar erhalten, aber nach den Prinzipien des Marktes gesteuert werden. 7.7.3 Soziale Gerechtigkeit Auch die soziale Gerechtigkeit gerät in den Mahlstrom des Marktes. Man nimmt Abschied vom Streben nach „Gleichheit im Ergebnis“, was aber nur einer Karikatur der alten Sozialdemokratie entspricht (vgl. Ryner 2000: 251). Dieser Vorwurf trifft wohl auf keine Periode zu. Nur George Bernhard Shaw trat für gleiche Einkommen ein (vgl. Kapitel 3); und selbst die in den 1970er und 80er Jahren scharf nach links gerückte Labour Party verfolgte zwar eine egalitäre Verteilungsgerechtigkeit, aber eben keine naive Gleichheit: „Old Labour advocated more equal, not equal incomes“ (Powell 2002b: 26). Stattdessen sollen jetzt begrenzte Ungleichheiten zur Steigerung der wirtschaftlichen Dynamik zugelassen werden. Im 20. Jahrhundert wurden in der Sozialdemokratie soziale Gerechtigkeit und Gleichheit als synonyme Begriffe behandelt – die Marktsozialdemokratie unterscheidet zwischen ihnen. Bezog sich Gleichheit vorher auf die soziale Lage und die politische Gleichheit, ist Gleichheit nun der politischen Gleichheit sowie der Nichtdiskriminierung und Anerkennung vorbehalten. In der jüngeren philosophischen Egalitarismuskritik sieht man in der Gleichheit keine fundierte Begründung von Gerechtigkeitsforderungen mehr (vgl. Krebs 2000b). Die wohl wichtigste Ressource für die Erneuerung der sozialdemokratischen Gerechtigkeitsvorstellungen liegt aber weder in der Egalitarismuskritik noch im neoliberalen Denken, sondern in den liberalen Gerechtigkeitsphilosophien, wie es beispielsweise der Ökonom Amartya Sen und der Philosoph John Rawls im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts bekannt gemacht haben. Aus Sens Betonung, die individuellen Fähigkeiten auszubauen, speist sich der Diskurs der Chancengleichheit in der neuen Sozialdemokratie, während – ausgehend von der Priorität der individuellen Freiheit – Rawls Differenzprinzip die Rechtfertigung von Ver240
teilung und Ungleichheit erlaubt (Rawls 1979; Sen 2002, 1993).252 Diese liberalen Theorien der Gerechtigkeit werden als zeitgemäße Antwort für sozialdemokratische Parteien zur Reformulierung ihrer Prinzipien sozialer Gerechtigkeit wahrgenommen (Merkel 2001, 2003; Meyer 2004a, b; Buckler/Dolowitz 2004).253 Soziale Gerechtigkeit ist in der Geschichte der Sozialdemokratie ein Containerbegriff, in dem klassischerweise egalitäre, bedarfs- wie auch leistungsbezogene Elemente eine Rolle spielen. In der programmatischen Semantikenpolitik wurde zwar der Begriff der sozialen Gerechtigkeit erhalten, aber durch Rereferenzialisierungen und Rekombination veränderte sich ihr sozialer Inhalt (vgl. Leisering 2004). Soziale Gerechtigkeit erfährt eine „Hierarchisierung“:254 Von der Politisierung der sekundären Redistribution des durch den Markt erwirtschafteten primären Reichtums und einer Vermittlung des „vertikalen“ Konflikts zwischen Kapital und Arbeit hat sich der Schwerpunkt zu einer prozeduralen Gerechtigkeit verschoben, die die „horizontalen“ Marktzutrittsbedingungen für alle Individuen egalisieren soll. Das Prinzip ist ein „angebotsseitiger Egalitarismus“ (Streeck 2000; Rogers/Streeck 1994). Dabei geht es aber nicht um die Egalisierung der Ausgangschancen, sondern lebenslange Chancen auf die Teilnahme am Arbeitsmarkt und um ein Existenzminimum (White 2004). Kurz: Alle sollen die gleichen Chancen haben, am Marktgeschehen teilzunehmen – durch die Verhinderung von Marginalisierung, Armut und sozialer Exklusion (Merkel 2000a, b). „Teilhabegerechtigkeit“ ist das neue Mantra des sozialdemokratischen Gerechtigkeitsdiskurses der SPD, „Inclusion“ und „Opportunities for all“ das der Labour Party. Verteilungsgerechtigkeit spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. In ihrer reduzierten Form laufen die Begriffe Inklusion und Teilhabe auf eine binäre Codierung von drinnen und draußen hinaus. Sie reduzieren die Bedeutung der Verteilungsgerechtigkeit, weil sie die gradualistische Logik des Mehr oder Weniger, den Vergleich zwischen Arm und Reich aufheben (vgl. Nullmeier 2006). Sie laufen auf die arbeitsgesellschaftliche Erfüllung von Grundbedürfnissen hinaus, es „tritt das Ziel der basalen sozialen Inklusion an die Stelle einer umfassenderen Gerechtigkeit“ (Forst 2005: 30, H. d. V.). Auch muss man sich fragen, welchen Sinn eine Politik der Inklusion für die hat, die schon „drin“ sind. 252
Rawls’ Theorie (1979) hat eine gewisse Wahlverwandtschaft zur liberalen Wirtschaftstheorie, da er seine Theorie – trotz expliziter Systemoffenheit – innerhalb der Kategorien und der politischen Ökonomie eines Systems der vollkommenen Marktkonkurrenz entwickelt. 253 In diesem Sinne widerspricht die Agenda 2010 zwar dem überkommenen Gerechtigkeitsverständnis der SPD, steht aber durchaus in Einklang mit den liberalen Gerechtigkeitstheorien. 254 Andere Gerechtigkeitsprinzipien, wie Generationengerechtigkeit, werden dafür meist gegen die Verteilungsgerechtigkeit in Stellung gebracht.
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Der Teilhabegriff kann allerdings auch umfassender – im Sinne von politischer, kultureller und sozialer Realpartizipation und Mitbestimmung – ausgelegt werden, wie es im Berliner Programm der SPD und jüngst wieder im Hamburger Programm ansatzweise getan wurde. Auch bei der sozialen Gerechtigkeit hat ein Etagenwechsel stattgefunden. Es geht nicht mehr darum, die Ungleichheit zwischen den Polen zu begrenzen, sondern lediglich die Armut nach unten abzustützen. Nun ist Armut ein relativer Begriff, der sich am gesamten gesellschaftlichen Reichtum bemisst, aber Armutsbekämpfung unterscheidet sich von einem gleichheitsorientierten Begriff der Verteilungsgerechtigkeit, der die gesamte Ungleichheit in der Gesellschaft minimieren möchte. Es geht nicht um die Reduzierung gesamtgesellschaftlicher Ungleichheit, sondern die Ungleichheit soll in den Kellergeschossen der Gesellschaft einen festen Boden bekommen, auf dem jeder stehen kann. Diese Sockelung, die sich in der Einführung einer Grundsicherung und eines Mindestlohns niederschlägt, folgt dem Gerechtigkeitsprinzip des sozialen Minimums. Zur Verwirklichung eines sozialen Minimums kann Umverteilung funktional notwendig sein, aber die Umverteilung ist Mittel und kein Ziel. Deshalb ist ein Prinzip des Minimums durchaus mit einer (wirtschafts-)liberalen Ethik vereinbar (vgl. Flora et al. 1977: 723). In Kapitel 2 wurden die drei Dachkategorien von Gerechtigkeitsprinzipien (Verteilungs-, Chancen- und Leistungsgerechtigkeit) als Folie für die Untersuchung eingeführt. Wie hat sich nun der Begriff der sozialen Gerechtigkeit verändert, wenn man die in Kapital 1 eingeführten Unterscheidungen berücksichtigt? Bei der Verteilungsgerechtigkeit wurde zwischen der egalitären Verteilungsgerechtigkeit und dem Minimumprinzip unterschieden. In der vorkeynesianischen Sozialdemokratie waren beide Prinzipien vorhanden, in der frühen keynesianischen Sozialdemokratie ging es zunächst um eine starke Chancengleichheit, später dominierte die egalitäre Verteilungsgerechtigkeit. In der Marktsozialdemokratie ist das Pendel wieder zurückgeschwungen: Es dominiert das Minimumprinzip, eine egalitäre Verteilungsgerechtigkeit wird nicht mehr angestrebt. Bei der Chancengerechtigkeit wurde zwischen der Verfahrensgerechtigkeit und der Chancengleichheit unterschieden. Auch hier waren beide in der Geschichte der Sozialdemokratie immer präsent, wobei Chancengleichheit oftmals eine fundamentale Egalisierung der Ausgangschancen meinte. Der marktsozialdemokratische Begriff der Chancengleichheit/Chancengerechtigkeit ist eine Hybride: Er steht für die Offenheit der gesellschaftlichen Institutionen und die gleiche Chance zur Marktteilnahme – die Egalisierung der Ausgangsposition ist aber nicht länger gemeint. An dieser Stelle schließt sich auch der Kreis zur neuen 242
Stellung des Marktes in der politischen Ökonomie. In der keynesianischen Sozialdemokratie akzeptierte man grundsätzlich das Marktprinzip, aber man beurteilte die Marktergebnisse als nicht gerecht. Mit dem neuen Gerechtigkeitsbegriff kann man auch das Marktergebnis als gerecht betrachten, wenn man für alle die gleichen Chancen auf dem Markt bereitgestellt hat. Diese Konzeption von sozialer Gerechtigkeit korrespondiert mit dem liberalen Wettbewerbsdenken: Wenn alle Marktteilnehmer den gleichen Zugang zum Markt haben und vererbte oder soziale Ungleichheiten (im Idealfall) keine Rolle spielen, entscheiden auf dem Markt nur Talent, Leistung, Aufwand und Ausstattung des Individuums. Auch beim dritten Prinzip, der Leistungsgerechtigkeit, haben Verschiebungen stattgefunden. Diese sind allerdings nicht so klar auszumachen. Die solidarische Leistungsgerechtigkeit ist immer noch vorhanden, z. B. im progressiven Steuersystem, aber sie hat innerhalb des politischen Paradigmas an Bedeutung verloren. Die Marktsozialdemokratie hat die Umverteilung durch das Steuersystem reduziert, aber dafür auch hier eine Sockelung eingezogen. Die proportionale Leistungsgerechtigkeit, die auf der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung/Rechten beruht, wurde teilweise außer Kraft gesetzt, wie bei der Agenda 2010. Das gesellschaftliche Leistungsethos wurde vom Prinzip der Leistungsgerechtigkeit abgekoppelt.
243
Abbildung 5: Keynesianische Sozialdemokratie und Marktsozialdemokratie im Vergleich
Politische Ökonomie
Politiksteuerung
Wohlfahrtsstaat
Keynesianische Sozialdemokratie Keynesianisch
Marktsozialdemokratie
Staatsverständnis
Marktkorrigierender Staat
Marktbereitender Sozialinvestivstaat
Fiskalpolitik
Expansiv
Steuerungsebene
Makroebene
Konsolidierung, Restriktiv Mikroebene
Staatliche Steuerung von Kapital und Arbeit
Korporatismus
Post-Korporatismus
Beschäftigungsund Sozialpolitik
DeKommodifizierung Aktive Arbeitsmarktpolitik
Re-Kommodifizierung, Aktivierung
Leitbild
Fürsorgender Sozialstaat
Sozialinvestiver Sozialstaat
Produktivismus
Materielle Redistribution mit produktiven Nebeneffekten
Sozialinvestitionen mit redistributiven Nebeneffekten
Gerechtigkeitskonzept
Mix aus egalitärer Verteilungsgerechtigkeit, Chancen- und Leistungsgerechtigkeit
Marktzutrittsgerechtigkeit, Minimumprinzip
Wirtschaftstheorie
(Post-)Neoklassisch
Quelle: Eigene Darstellung
7.7.4 Der neue Produktivismus Mark Kesselmann (1996: 138) hatte nach dem Abschied vom Keynesianismus befürchtet, „die Sozialdemokraten [müssten sich; d. Verf.] auf Kosten der wirtschaftlichen Effizienz für die soziale Gerechtigkeit entscheiden oder umgekehrt“. 244
Gleichwohl, in der Transformation zur Marktsozialdemokratie ist der produktivistische Kern der Sozialdemokratie deutlich gewandelt, aber erhalten geblieben. Es geht nicht um den Abschied von der sozialen Gerechtigkeit, sondern weiterhin um ihre Vereinbarkeit mit dem Markt. Der neue Gerechtigkeitsdiskurs ist in zweierlei Hinsicht mit der politischen Ökonomie der Sozialdemokratie verbunden. Die sozialdemokratische Kopplung von Wachstum und Gerechtigkeit bleibt erhalten, aber vor der Distribution kommt die Produktion. Wohlfahrtsstaatliche Ziele sind nur legitim, wenn sie einen ökonomischen Zwecke erfüllen (vgl. Lewis 2004: 222). In der keynesianischen Sozialdemokratie war Umverteilung noch ein Beitrag zum Wachstum. Zu viel Gleichheit sieht man nun als bremsendes Element der wirtschaftlichen Entwicklung. Für die Produktion ist ein gewisser Grad an Ungleichheit als dynamischer Stachel wirtschaftlicher Tätigkeit notwendig (vgl. Mahnkopf 2000: 499). Die klassische Sozialdemokratie zielte auf die Ex-postUmverteilung des auf dem Markt erzielten Wohlstands. Die Marktsozialdemokratie zielt auf die dynamische, künftige Erhöhung des Gesamtwohlstands bzw. Verteilungsvolumens – an dem alle gemäß ihrer Leistung teilhaben sollen. Der Sozialstaat soll künftig nicht nur aktivierend, sondern vor allem sozialinvestiv gestaltet werden (Giddens 1999; Esping-Andersen 2002a, b; zur Kritik vgl. Lister 2003; Lister 2004). Im Sozialinvestivstaat wird die Zeitdiagnose der Produktivkraft des Wissens mit einem sozialpolitischen Programm verbunden: „Sozialpolitik als Human Capital Investment“ (Priddat 2004; vgl. Priddat 2003). So konnte die Marktsozialdemokratie die klassische sozialdemokratische Erzählung des individuellen Aufstiegs über zähe Bildungsaneignung mit einer wettbewerblichen Ausrichtung des Wohlfahrtsstaats verbinden. Wissen und Weltmarkt bilden ein Positivsummenspiel, von dem alle profitieren können. Bildungsausgaben sind Investitionen in Humankapital und – hier schließt sich der Kreis – gemäß der postneoklassischen Wachstumstheorie auch ein positiver Beitrag zum Wirtschaftswachstum.255 Im selben Maße wie die modernisierte Sozialdemokratie Chancengleichheit herstellt, verbessert sie auch die nationale Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt. Soziale Gerechtigkeit wird zur ökonomischen Ressource (vgl. Callinicos 2001: 48). Dies ist der Produktivismus der Marktsozialdemokratie: Während für die keynesianische Sozialdemokratie Redistribution einen produktiven Nebeneffekt hatte, verbessern für die Marktsozialdemokratie Sozialinvestitionen die Wettbewerbsfähigkeit und haben redistributive Nebeneffekte, da die Bildungsausgaben oder die Förderung der Kinderbetreuung auch 255
In genau dieser ökonomistischen Diktion formuliert es auch Thomas Meyer. Bildung sei „die Hauptproduktivkraft der Wissensökonomie“ (Meyer 2004b: 12).
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den Schlechtergestellten zu Gute kommen. Mit anderen Worten: Der Fluchtpunkt des Wertewandels ist die Rekonfiguration des sozialdemokratischen „Einklangs“ von ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit unter dem Vorzeichen (post-)neoklassischer Wirtschaftstheorie. Die Marktsozialdemokratie kommt im veränderten politischen Paradigma zum Ausdruck, in dem das Soziale – als „produktivistische Gerechtigkeit“ (vgl. Brettschneider 2007) – in den Dienst des Marktes gestellt wird. Insgesamt entwickelt sich die Marktsozialdemokratie nach dem Muster der Eigenähnlichkeit. Wie in der fraktalen Geometrie: Jeder Ausschnitt ist von analoger Gestalt. So unterliegt auch das Individuum einer „regelrechten Pflicht zum produktiven Selbst“ (Nachtwey 2007b: 1164). 7.7.5 Ein Paradigmenwechsel? Einige Untersuchungen, die sich mit dem politischen und programmatischen Wandel der Sozialdemokratie beschäftigen, haben einen grundlegenden Paradigmenwechsel diagnostiziert. Peter Hall trifft eine Unterscheidung hinsichtlich der Ausmaße von Paradigmenwechseln (Hall 1993). Ein Wandel 3. Ordnung findet auf der Zielebene, ein Wandel 2. Ordnung auf der Instrumentenebene und ein Wandel 1. Ordnung auf der Ebene der spezifischen Ausgestaltung dieser Instrumente statt.256 Viele Autoren sehen – aus unterschiedlichen Perspektiven – jeweils einen Wandel 3. Ordnung (Seeleib-Kaiser 2003) bzw. 2. und 3. Ordnung (Egle/Henkes 2003)257 bei der Sozialdemokratie. Dieses Urteil ist überzogen. Wie in den vorangegangenen Abschnitten gezeigt wurde, fügen sich bei der Marktsozialdemokratie politische Ökonomie, das wohlfahrtsstaatliche Leitbild und der Begriff der sozialen Gerechtigkeit zu einem neuen politischen Paradigma zusammen, in welchem der Markt der zentrale Referenzpunkt und Steuerungsmodus ist. In diesem neuen Paradigma hat sich aber der Kern nicht verändert: der Einklang von sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Effizienz. In diesem Sinne ist die Transformation ein Wandel 2. Ordnung. Ist dieses Urteil nicht zu „milde“? Ist es nicht unterdramatisch, wenn man sich die tiefgehende Ökonomisierung der Sozialdemokratie in den letzten Jahren anschaut? Viele Kritiker der Marktsozialdemokratie werfen ihr vor, dass sie in der ein oder anderen Form „neoliberal“ sei (z. B. Jessop 2004; Callinicos 2001; Hay 1999; Mahnkopf 2000; Przeworski 2001; Hay 2004b). Diese Analysen sind 256 Colin Hay (1999: 45) definiert einen Paradigmenwechsel als „complex and contested process of ideational struggle (in Gramsci’s terms ‚a war of position‘) by which significant changes in the ideas informing policy are assimilated within the corridors of power.“ 257 Den Wandel 3. Ordnung sehen sie bei der Auslegung sozialer Gerechtigkeit, beim Verhältnis Staat und Markt einen Wandel 2. Ordnung.
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in der Regel klug, erhellend und scharfsinnig, in letzter Konsequenz aber unpräzise. Der Neoliberalismus, so wie er hier verstanden wird, ist eine Theorie, die die Interessen der Kapitaleigentümer theoretisch rationalisiert und in eine Gemeinwohlfiktion überträgt – es ist für alle besser, wenn der Markt regiert. Und er ist eine politische Praxis, wenn man dafür Thatcher heranzieht, die sich um Fragen der sozialen Gerechtigkeit nicht schert. Aber die Sozialdemokratie ist keine Partei des Kapitals, sondern immer noch – gleichwohl schwindend – eine Partei der anderen Seite, der organisierten Arbeiterschaft. Solange das so bleibt, ist die Sozialdemokratie eine Hybride, die im sozialdemokratischen Akkumulationsdilemma die Bedürfnisse der Wirtschaft als Ganzes und die soziale Frage synthetisieren muss. Ihre Gemeinwohlfiktion lautet anders: Was für die Beschäftigten gut ist, ist auch für die Wirtschaft gut. Das ist im Kern der sozialdemokratische Produktivismus. Und eben dieser – als Einklang von ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit – ist erhalten geblieben. Ja, die Marktsozialdemokratie betreibt eine radikale Ökonomisierung der Gesellschaft, ja, der demokratische Sozialismus existiert nur noch als historische Residualgröße. Aber die Unterschiede zum Neoliberalismus bleiben bestehen. Die politische Ökonomie der Marktsozialdemokratie ist interventionistisch und regulierend, der Neoliberalismus setzt auf Laisser-faire und Deregulierung (auch wenn hier ein Mindestmaß an Regulierung bestehen bleibt). Auch beim Wohlfahrtsstaat: Neoliberalen gilt der Wohlfahrtsstaat in jeglicher Form als Hindernis für wirtschaftliche Entwicklung. Die Marktsozialdemokratie erkennt im wettbewerblichen Sozialinvestivstaat einen produktiven Beitrag zu Wachstum, Demokratie und Gemeinwohl. Neoliberale aktivieren durch den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse, Marktsozialdemokraten kombinieren diesen mit Qualifikationsangeboten und konditionalen Unterstützungsleistungen. Der marktsozialdemokratische Begriff der sozialen Gerechtigkeit ist stärker prozedural und weniger egalitär als jener der keynesianischen Sozialdemokratie. Eine egalitäre Verteilungsgerechtigkeit existiert weder in der Sozialphilosophie, noch in den wohlfahrtsstaatlichen Policies oder gar in der politischen Rhetorik. Dennoch unterscheidet sich der Begriff der sozialen Gerechtigkeit der Marktsozialdemokratie vom Neoliberalismus. Zunächst einmal, weil die Neoliberalen soziale Gerechtigkeit an sich ablehnen. Der einflussreichste neoliberale Theoretiker, Friedrich August von Hayek, wandte sich vehement dagegen, die formell freiwilligen, un- und überpersönlichen Prozesse des Marktes mit moralischen Kriterien wie soziale Gerechtigkeit zu beurteilen (Hayek 1981). Hayek formuliert eine radikale Legitimation des Marktprozesses und damit einhergehend eine Kritik der staatlichen Umverteilung. Seine evolutionstheoretischen Überlegun247
gen betrachten Marktergebnisse als Folge sich selbst perpetuierender spontaner Ordnungen, in die staatliche Eingriffe eine Anmaßung von Wissen darstellen und den „Weg zur Knechtschaft“ bereiten (Hayek 1976). Hayek bestimmt soziale Gerechtigkeit in einem prozeduralen Sinn: die gleiche formale Freiheit vor dem Gesetz für alle Wirtschaftssubjekte, die er in einem Trade-off zu einer redistributiv verstandenen sozialen Gerechtigkeit sieht (vgl. Krätke 2003; Goldschmidt 2000). Auch hier sind die Unterschiede deutlich: Die Marktsozialdemokratie setzt auf das Minimumprinzip und auf einen angebotsseitigen Egalitarismus.258 Seeleib-Kaiser (2002) hat die These der Christdemokratisierung der Sozialdemokratie aufgestellt. Trotz guter Argumente bleiben gleichwohl zahlreiche Unterschiede vor allem hinsichtlich moralischer Werte (Jun 2000: 215f). Es erscheint sinnvoller, den Wandel der SPD nicht mit Blick auf die Konvergenz zu anderen Parteien, sondern auf ihre adaptive Selbsttransformation259 zu betrachten: Mit der Transformation zur Marktsozialdemokratie wird das Streben nach sozialer Gerechtigkeit nicht fallengelassen, sondern der Einklang von sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Effizienz neu austariert. In dieser Perspektive ist der Wandel gravierend, aber er führt in veränderter, liberalisierter Form den produktivistischen Kern der Nachkriegssozialdemokratie fort. Und dort liegt vielleicht auch die Ursache für den falschen Neoliberalismusvorwurf. Viele der Kritiker der Marktsozialdemokratie nehmen in ihren Analysen implizit an, dass das politische Paradigma der Nachkriegssozialdemokratie tatsächlich auf einer Politik gegen die Märkte mit dem Ziel eines demokratischen Sozialismus ausgerichtet war. Dabei war der Kern der Nachkriegssozialdemokratie derselbe wie der gegenwärtige. Er offenbart sich jedoch erst in einer hoch integrierten Weltwirtschaft mit ihrem säkularen Wachstumsniedergang mit all seinen dunklen Seiten. Wer heute die Betonung der Pflichten des Individuums durch die Marktsozialdemokratie kritisiert, vergisst, dass Pflichten zu jener Zeit, als noch für den Ausbau der staatsbürgerlichen und sozialen Rechte der Arbeiterschaft gekämpft wurde, wie selbstverständlich zum sozialdemokratisch-arbeitsgesellschaftlichen Ethos dazugehörten. Im Eisenacher Programm setzte sich die SDAP für „gleiche Rechte und gleiche Pflichten“ ein (1869: 388). Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die SPD kein Blatt vor den Mund, als sie sagte, dass „dem Recht auf Arbeit die Pflicht zur Arbeit“ (SPD 1947: 12) entspreche. Dagegen klingt die Formel des Forderns und Förderns regelrecht liberal.
258 Wenn man New Labour als neoliberal definiert, kann man schlussendlich die tatsächlich stattfindende Umverteilung nicht erklären (vgl. Hall 2004; Jessop 2004; zur Kritik vgl. Nachtwey 2005a). 259 Dieses Muster erkennen Borchert/Lessenich (2005) im Wandel des Wohlfahrtsstaats.
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7.8 Varianten der Marktsozialdemokratie Labour Party und SPD haben sich zur Marktsozialdemokratie transformiert. Diese Marktsozialdemokratie hat eine homologische Grundstruktur, gleichwohl verläuft sie nach dem Prinzip der adaptiven Selbsttransformation. Die Transformation ist ein von intentionalen Akteuren vorangetriebener Prozess, aber quasi hinter ihrem Rücken haben sie diese Transformation entlang der Arenen ihrer Wohlfahrtskapitalismen vollzogen (Driver/Martell 2002; Hall 2002). Die Veränderung findet auf der Basis der eigenen (Partei-)Geschichte, der strukturellen und institutionellen Arenen des jeweiligen Landes statt. In diesem Abschnitt werden diese Differenzen herausgearbeitet und es wird gefragt, ob und wie stark ausgeprägt Pfadabhängigkeit und Pfaderschaffung zum Kapitalismustyp und Wohlfahrtsregime sind. In der vergleichenden Kapitalismusforschung wird Großbritannien gewöhnlich als liberale Marktwirtschaft im Kontrast zu der koordinierten Marktwirtschaft Deutschland konzipiert (Crouch 2005; Hall/Soskice 2001).260 In den liberalen Marktwirtschaften findet die strategische Interaktion der Akteure im Wesentlichen über den Markt statt, das staatliche Regulierungsniveau ist niedrig, und kurzfristige Beziehungen überwiegen, die Arbeitsmärkte sind dereguliert und flexibilisiert.261 Bei den kooperativen Marktwirtschaften verhält es sich im Prinzip genau umgekehrt, auch wenn es hier Liberalisierungstendenzen gibt. Strategische Interaktion (zwischen den Unternehmen) findet über nichtmarktliche Formen statt, es überwiegen langfristige Beziehungen, das staatliche Regulierungsniveau ist hoch und die Arbeitsmärkte sind stärker verrechtlicht und zentralisiert. Während Deutschland eine exportbasierte Integration in die Weltwirtschaft aufweist (Brenner 1998), ist Großbritannien vor allem über seine Finanzinstitutionen und die City of London eingegliedert (Hirst/Thompson 2000). Allerdings tendieren alle Varianten des Kapitalismus in den letzten Dekaden in Richtung eines „Finanzmarktkapitalismus“ (Windolf 2005). Weil sich die verschiedenen Kapitalismen durch eine Reihe von institutionellen Komplementaritäten auszeichnen, gibt es meist eine Wahlverwandtschaft zwischen Kapitalismustyp und Wohlfahrtsstaatsregime, so dass man unter260
Historisch ist dies für Großbritannien ein problematischer Begriff. Wie in dieser Arbeit gezeigt wurde, war der Interventionismus und Kollektivismus im britischen Kapitalismus durchaus so hoch, dass der Begriff der liberalen Marktwirtschaft als unpassend erscheint (vgl. Müller 2006; Howell 2003). Für den Kapitalismus seit den Thatcher-Jahren ist der Begriff der liberalen Marktwirtschaft allerdings ein guter heuristischer Begriff. 261 Zu den anderen Dimensionen, in denen sich die Kapitalismen unterscheiden, wie Innovationsprozesse und die berufliche Ausbildung, vgl. die entsprechende Literatur.
249
scheidbare Wohlfahrtskapitalismen vorfindet (Ebbinghaus/Manow 2001b). In der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung sind Deutschland und Großbritannien ebenfalls die Musterfälle. Deutschland als konservativer, Großbritannien als liberaler Wohlfahrtsstaat (Esping-Andersen 1998). In gewisser Weise hat sich die wohlfahrtsstaatliche Erneuerung entlang der klassischen Linien – der Armutsfrage in Großbritannien und der Arbeiterfrage in Deutschland – vollzogen. In Deutschland verlief der Konflikt um die Frage der Lebensstandardsicherung, in Großbritannien um die Vermeidung der Armut. Die Selbsttransformation geschieht nicht glatt und nicht spannungsfrei. Die Labour Party sah z. B. in dem mangelnden Ausbildungsniveau der britischen Arbeiter und Angestellten ein Problem für die britische Wettbewerbsfähigkeit und wollte von daher die Ausbildungssysteme staatlich besser regulieren und anpassen. Generell sah sie immer auch die Kurzfristigkeit der Unternehmensstrategien als Problem an. So präferiert sie auch beim Angebotssozialismus (vgl. Thompson 1996b: 40–44, 1996a: 270–72) ein Modell der langfristigen Unternehmensstrategien, das nachhaltig Wirtschaftswachstum und Wohlstand generiert. Somit sind die Präferenzen für die Wirtschaftskultur bei New Labour teilweise näher am Modell des koordinierten Kapitalismus. Die Präferenzen der SPD sind ebenfalls auf die Langfristigkeit und Nachhaltigkeit bei der Wirtschaftskultur ausgerichtet.262 Diese Homologie erklärt sich dadurch, dass beide Parteien eine Wirtschaftskultur der Langfristigkeit für allgemein gerechter, sozialdemokratischer halten. Dennoch hat es New Labour in der Praxis nicht vermocht, das seit langem bemängelte schwache Qualifizierungsniveau der britischen Arbeitskräfte zu verbessern. Auch wurde das Drama der verarbeitenden Industrie nicht angegangen, auch nicht das Problem der Kurzfristigkeit in der Wirtschaftskultur. Insgesamt war es so, dass New Labour die Veränderungen von Thatcher adaptierte und in keiner Hinsicht ernsthaft versuchte, den Charakter der liberalen Marktwirtschaft zu verschieben (Coates 2001; Wickham-Jones 2000; Hay 1999). Das Ziel einer starken Währung ist, nachdem der Euro sich zur globalen Reservewährung entwickelt hat, nicht länger zentral. Dennoch ist ein stabiler Außenwert des Pfunds immer noch wichtig. Dies stabilisierte die Labour Party durch haushaltspolitische Sparsamkeit und eine am Monetarismus orientierte Inflationsbegrenzung, die die Geldwert- und Währungsstabilität sicherte. Die Entlassung der Bank of England in die Unabhängigkeit ist institutionell dem deutschen, aber auch dem amerikanischen Kapitalismus ähnlich. 262
Der Verweis auf Langfristigkeit und Nachhaltigkeit findet sich in zahlreichen Passagen im Hamburger Programm.
250
Die Privatisierung der Regierungen von Thatcher und Major waren so weitreichend, dass es fast nichts mehr zu privatisieren gab – außer dem britischen Heiligtum NHS. Labour privatisierte nicht in der ursprünglichen Form, aber durch Private Public Partnerships wurden private Anbieter in die öffentliche Daseinsvorsorge kooptiert. Dies kam zwar einer Vermarktlichung gleich, bedurfte aber einer staatlichen Regulierung. Genauso brauchten viele der privatisierten Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge ein größeres Maß an Reregulierung, um überhaupt einen funktionierenden Wettbewerb zu erzielen (vgl. Müller 2006: 448–52). Die industriellen Beziehungen sind entkollektiviert worden, dadurch wurde ihre Steuerung stärker auf den Markt verlegt, allerdings mit verbesserten rechtlichen Positionen der Individuen. Der Staat garantiert minimale Rechte, die nicht mehr von den Gewerkschaften vertreten werden können – so gesehen, passen die von New Labour entwickelten Arbeitsmarktbeziehungen zum liberalen britischen Kapitalismustyp. Auch das Minimumprinzip passte zum britischen Wohlfahrtsstaat. Die wohlfahrtsstaatlichen Reformen des Welfare to Work schrieben die Logik des liberalen Wohlfahrtsstaats fort. Taylor-Gooby bezeichnet das britische Modell als „genuinely liberal, genuine welfare state“ (TaylorGooby 2004b: 56), dessen primäre Aufgabe es ist, die Funktionsweise des Marktes zu stützen. Die präferierten Gerechtigkeitsprinzipien waren neben dem (auch bei der SPD vorhandenen) Minimumprinzip vor allem die meritokratisch ausgelegten opportunities for all. Fairness als Begriff nahm – insbesondere in der politischen Alltagssprache – eine herausragende Rolle ein und wurde z. T. synonym für Chancengleichheit, z. T. für Verfahrensgerechtigkeit gebraucht (vgl. Annesley/Gamble 2004: 150). Dass Fairness diese große Rolle spielt, ist kein Wunder. Schließlich ist der Begriff und das Prinzip tief in der britischen Kultur und im britischen Liberalismus verankert, zu dem New Labour einige Ähnlichkeiten aufweist (vgl. Beer 2001; Driver/Martell 2002). Wie verhielt sich die SPD zum deutschen Wohlfahrtskapitalismus? Die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes „atmet einen betriebsrats- und gewerkschaftsfreundlichen“ Geist (Schmidt 2003: 246). Und nicht nur das, sie bewegt sich in der kooperativen Logik des deutschen koordinierten Kapitalismus und der Logik der politischen Ökonomie der SPD. Als modernisierte Fortsetzung des Wirtschaftsdemokratiegedankens aus der Weimarer Republik werden den Beschäftigten auch im globalen Kapitalismus Mitbestimmungs-, kollektive Repräsentations- und Teilhaberechte eingeräumt, wie sie in Großbritannien undenkbar sind. Auf der anderen Seite hat die rot-grüne Regierung den Wandel in Richtung eines Finanzmarktkapitalismus eher befördert denn behindert (zum Folgenden vgl. Siegel 2007). Die Reform der Rentenversicherung war ein „historischer 251
Bruch“ (ebd.: 389) mit der überlieferten Leitkonzeption der Lebensstandardsicherung und hat das Rentensystem stark liberalisiert. Die Hartz-IV-Reformen der rot-grünen Regierung reduzierten das Ausmaß der Lebensstandardsicherung. Wenn man wie Vester (2006) davon ausgeht, dass Leistungsgerechtigkeit und Statussicherung die beiden normativen Säulen des deutschen Sozialmodells sind, dann war die Agenda 2010 ein tiefer Einschnitt. Im Gesundheitssystem wurde die paritätische Finanzierung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgebrochen, bei den Reformen des Arbeitsmarktes wurden durch die Verkürzung der Bezugsdauer des ALG I und die Einführung des ALG II langjährigen Beitragszahlern ihre durch Einzahlungen erworbenen Anrechte entzogen – während Unternehmen entlastet wurden. Paradoxerweise wird mit der Agenda 2010 genau jener Teil des deutschen Modells ausgehöhlt, der in der Vergangenheit die hohe Konkurrenzfähigkeit der deutschen Unternehmen auf dem Weltmarkt so lange abgesichert hat: die Möglichkeit hohe Qualifikationsniveaus zu schaffen und zu erhalten. Der veränderte deutsche Wohlfahrtsstaat richtet sich nunmehr stärker auf die Absicherung einer Dienstleistungsökonomie, in deren Richtung sich auch die deutsche Wirtschaft stärker bewegt hat. Im Jahr 2005 trug das produzierende Gewerbe nur noch 30 Prozent, der Dienstleistungssektor bereits 70 Prozent zur Bruttowertschöpfung bei (vgl. Statistisches Bundesamt 2006). Die Reformen beim Aktienrecht und der Finanzordnung sollten das Modell Deutschland liberalisieren. Allerdings führte die Entflechtungspolitik der rotgrünen Regierung nicht zu einer Anpassung an das liberale Modell, sondern zu einer Hybridisierung (Busch 2005; Lütz 2005). Auch der Politikprozess liberalisierte sich. Die „Abkehr von der korporatistischen Makrokonzertierung“ (Siegel 2007: 394) durch die Schröder Regierung war zwar nicht das Ende des Korporatismus, markierte jedoch einen signifikanten Bedeutungsverlust der überlieferten Formen der Steuerung. Insgesamt waren die meisten Reformen liberalisierend, aber es gab keinen „Bruch“ mit dem deutschen System. Zwar gibt es sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien eine gleichförmige Entwicklung in Richtung aktivierender Arbeitsmarktpolitik, doch wird sie durch die „Anschlussfähigkeit“ an die nationalen Traditionen der politischen Ökonomie, des Wohlfahrtsdiskurses und der Institutionen gebrochen. Während der Aktivierungsansatz des „Dritten Wegs“ in der Arbeitsmarktpolitik gleichläufig zur institutionellen Logik des britischen Kapitalismus verläuft, ist das in Deutschland deutlich weniger gegeben (Clasen/Clegg 2004). Die Reformen in Deutschland bedeuteten eine Liberalisierung, aber nicht den vollständigen Bruch mit dem deutschen Prinzip der sozialen Sicherung. Es ist trotz der Liberalisierung des deutschen Wohlfahrtsstaats und trotz der Ähn252
lichkeiten in den Reformen etwas übertrieben, von einer „konvergenten Konvergenz“ (Mohr 2004) zwischen beiden Restrukturierungen zu sprechen, da z. B. in Deutschland das Prinzip der Lebensstandardsicherung immer noch erhalten geblieben ist und in Großbritannien das Flate-Rate-Prinzip weiter existiert. Mit dem vorsorgenden Sozialstaat hat die SPD ein Leitbild geschaffen, das sozialinvestiv ist, aber gleichsam Elemente der spezifisch deutschen Tradition integriert – wie den Teilhabebegriff und die Mitbestimmung. Wie man gesehen hat, verhalten sich SPD und Labour Party selbstadaptiv zu ihrem jeweiligen Wohlfahrtskapitalismus, tun dies aber durch das Prisma ihres politischen Paradigmas. New Labour hat den liberalen Wohlfahrtsstaat weiterentwickelt und, gemessen an den Thatcher Jahren, sogar punktuell „sozialdemokratischer“ gestaltet, weil Leistungen wie die Kinderbetreuung universalisiert wurden. In ihren Präferenzen für die Fristigkeit in den Wirtschaftsbeziehungen und dem Ausbildungssektor stand sie quer zum liberalen Kapitalismustyp – und scheiterte. Die SPD dagegen hat die Mitbestimmung weitergeführt, was ganz in der Tradition des deutschen Kapitalismus stand, in Fragen der Unternehmenskontrolle und des Wohlfahrtsstaats hat sie das deutsche Modell liberalisiert, ohne seinen Charakter aufzuheben. Merkel et al. (2006) und Petring et al. (2007) betrachten New Labour als „liberalisierte Sozialdemokratie“ und die SPD als kaum reformierte „traditionelle Sozialdemokratie“. Diese Diagnose scheint aber nur auf den ersten Blick zutreffend. Sicherlich ist New Labour programmatisch stärker liberalisiert als die SPD. Doch trifft das Attribut „traditionell“ für die SPD nicht zu. Denn der wirkliche Entrepreneur im sozialstaatlichen Reformprozess war die SPD. Sie war zum Zeitpunkt der Regierungsübernahme in einen Wohlfahrtskapitalismus eingebettet, der strukturell noch kaum verändert war. So gesehen war ihre Leistung „größer“, denn die Labour Party konnte mit ihrer Politik auf einem bereits durch die Thatcher-Administration liberal-reduzierten Wohlfahrtskapitalismus aufbauen. Zudem hatte New Labour für die Reformen des Wohlfahrtsstaats eine größere Handlungskompetenz, da im britischen Westminster-Modell die Macht der Zentralregierung größer als im semisouveränen Deutschland ist. Im Vergleich mit New Labour hat die Attlee-Regierung die Gesellschaft strukturell stärker verändert, ja grundlegend reformiert.263 Demgegenüber ist New Labour in dem Sinne konservativ, als die Partei die vorgefundenen gesellschaftlichen Bedingungen
263 Obwohl man sich nicht täuschen lassen darf: Die Mitglieder der Regierung Attlee waren keine linkssozialistischen Heiligen, sondern waren dem britischen Empire mit voller Überzeugung verschrieben.
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zwar reformiert, aber kaum grundlegende Veränderungen vollzogen hat (Page 2004). Im Unterschied zur SPD war die Labour Party vor allem eins: gut vorbereitet. Die Labour-Führung hatte vor der Regierungsübernahme die Partei durch organisatorische Änderungen ihrer Eigensinnigkeit beraubt, die meisten programmatischen Innovation abgeschlossen und kohärent durchdacht. Man kann New Labour vieles vorwerfen, jedoch nicht, dass die Wirtschafts-, Arbeitsmarktund Sozialpolitik nicht auffällig stimmig war. Die SPD war planlos, unsystematisch und inkohärent. Das lag auch daran, dass bis zur Regierungsübernahme sowohl die Traditionalisten als auch die Modernisierer das Gleichgewicht der Kräfte in der Partei konfliktscheu mitgetragen haben. Möglicherweise hätte Schröder von Anfang an eine stimmige, an das deutsche Modell angepasste marktsozialdemokratische Politik betrieben, hätte er ohne Lafontaine in die Regierung gehen können. Aber vielleicht hätte Lafontaine als Kanzler seine Version eines erneuerten Euro-Keynesianismus tatsächlich in einem damals mehrheitlich sozialdemokratisch regierten Europa besser entwickeln können. Aber das ist Spekulation, die Geschichte verlief anders. Eine Folge für die SPD war, dass die Koalition der Modernisierer erst langsam die innerparteiliche Hegemonie erlangen konnte (und sie anscheinend inzwischen schon wieder verloren hat). Der Weg zu einem neuen politischen Paradigma, zu einem neuen Grundsatzprogramm musste nun in der Regierungszeit stattfinden. Das war ein schwerer, umständlicher und mühsamer Prozess. Normalerweise werden Programme erstellt, wenn die Partei Zeit hat, sich auf sich selbst zu konzentrieren – in der Opposition. Am Ende ist die Labour Partei sicherlich stärker liberalisiert als die SPD, aber genauso ist es auch der britische Wohlfahrtskapitalismus. Labour war in der Regierung geprägt von Kohärenz und Kontinuität, die SPD von Diskontinuität und Inkohärenz. Labour vollzog einen programmatisch geleiteten Policy-Wandel im Wohlfahrtsstaat, die SPD vollzog eine nachholende programmatische Kodifizierung ihrer Policies. Das ist auch der Grund, warum im Übergang zum 21. Jahrhundert die Labour Party die SPD als Role Model der Sozialdemokratie abgelöst hat.
254
Abbildung 6: New Labour und SPD im Vergleich Einbettung
Politiksteuerung
Wohlfahrtsstaat
Kapitalismustyp
New Labour Liberal
SPD koordiniert
Wohlfahrtstyp
Liberal(-residual)
Weltmarktintegration
finanzmarktzentriert
Leitbild der Wirtschaftsbeziehungen
Langfristig, de facto kurzfristig
Konservativ (-korporatistisch) zentriert im verarbeitenden Gewerbe Langfristig
Steuerung von Kapital und Arbeit
Dezentrales Free Collective Bargaining, mit geschwächten Gewerkschaften aber gestärkten Individualrechten
PostKorporatismus, Mitbestimmung
Leitbild
Sozialinvestiver Sozialstaat, Welfare to Work
Vorsorgender Sozialstaat, „gute Arbeit“
Gerechtigkeitskonzept
Opportunity for All, Minimum, Fairness
Teilhabe, Minimum
Quelle: Eigene Darstellung
7.8.1 Paradoxien der Marktsozialdemokratie Der Historiker Sidney Pollard (1999b) hatte noch Ende des 20. Jahrhunderts eine pessimistische Perspektive in Bezug auf die Entwicklung der britischen Wirtschaft. Wenige Jahre später sprach man vom „Wirtschaftswunderland“, während plötzlich Deutschland der „kranke Mann Europas“ war. Die Zahlen sprachen eine klare Sprache. Wenn man sich die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts oder der Arbeitslosenquote seit Mitte der 1990er Jahre anschaut, schneidet
255
Großbritannien in beiden Fällen deutlich besser als die Bundesrepublik ab (vgl. Abbildung 7)264: Abbildung 7: BIP-Wachstum und Arbeitslosenquote in Großbritannien und Deutschland
Wie konnte es zu diesem Rollentausch kommen? Hier kann keine hinreichende Erklärung für die schlechte Entwicklung der deutschen Wirtschaft und des deutschen Arbeitsmarktes gegeben werden. Es können lediglich ein paar Zweifel an den Ursachen des britischen Erfolgs gestreut werden: Liberale Kommentatoren konstatieren für gewöhnlich eine „bessere“ Anpassungsfähigkeit der angelsächsischen Volkswirtschaften an „die Globalisierung“ (vgl. Wolf 2005). Vor allem die britische Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und die dazugehörige aktivierende Arbeitsmarktpolitik werden als Vorbild für die von Deutschland anzustrebenden Reformen betrachtet (vgl. OECD 1999, 1994).265 Die unterschiedlichen Erfolgsbilanzen werden dann auch gleich mit der modernen und liberalen Labour Party und der zu traditionalistischen SPD in 264
Quelle: Eurostat, eigene Berechnungen. Wie Untersuchungen zur Arbeitsmarktflexibilisierung gezeigt haben, führt eine Deregulierung des Arbeitsmarktes nicht zwangsläufig zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit. Es konnte kein robuster statistischer Zusammenhang zwischen einer allgemeinen Deregulierung und Flexibilisierung sowie Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum nachgewiesen werden (vgl. Baker et al. 2005; Schmitt/Wadsworth 2005). 265
256
Verbindung gebracht. Außer Acht gelassen wird dabei in der Regel, dass das stabile Wachstum und die niedrige Arbeitslosenquote schon vor dem Antritt der Labour-Regierung eingesetzt hatten. Deutschland hatte mit den ungeheuren Problemen und Kosten der Wiedervereinigung zu kämpfen. Wenn man die Staatsquote betrachtet (vgl. Abbildung 4), dann war sie in den 1980er Jahren stetig gesunken und hatte erst durch die Wiedervereinigung wieder massiv zugenommen. Es ist auch nicht so, dass liberale Volkswirtschaften sich grundsätzlich besser schlagen in der Globalisierung. Es gibt viele Spezifika der Weltmarktintegration und der politischen Prozesse, die Wachstum und Beschäftigung beeinflussen. Sicherlich schneidet Deutschland in den Exportstatistiken einer hochkompetitiven Weltwirtschaft gut ab, aber das Exporwachstum schlägt sich nicht im Wirtschafts- oder Beschäftigungswachstum nieder, weil diese Sektoren vor allem kapitalintensiv und Innovationen häufig arbeitssparend sind. Der liberale britische Kapitalismus passt nicht besser zur Globalisierung, aber zum Finanzmarktkapitalismus. Finanzdienstleistungen sind einer der größten britischen Wachstumssektoren, was die britische Volkswirtschaft aber auch allgemein anfälliger für Krisen in der Finanzsphäre werden lässt. New Labour hat mit der Politik der Kommodifizierung viel erreicht. Die Erwerbsquote lag 2004 bei 71,6 Prozent und die Arbeitslosigkeit bei nur 4,7 Prozent. In Deutschland lag die Erwerbsquote bei nur 65 Prozent und die Arbeitslosigkeit bei 9,5 Prozent (vgl. Merkel et al. 2006: 137, 182). Ein Großteil des Beschäftigungszuwachses wurde durch die Ausweitung der öffentlichen Ausgaben geschaffen (Coutts et al. 2007). Aber die „wahre Natur“ des britischen Beschäftigungswunders waren Teilzeitjobs, mit schlechter Qualifikation und schlechter Bezahlung – die Kehrseite des dienstleistungsorientierten Finanzmarktkapitalismus (vgl. Coates 2000: 245–48). Gründe für die schlechte Entwicklung Deutschlands gibt es viele. Viele haben auch nicht direkt etwas mit der Politik der Labour- oder rot-grünen Regierung zu tun. Aber zu den großen Paradoxien der Marktsozialdemokratie gehört die Reaktion der Regierung auf den globalen Konjunkturabschwung im Jahr 2000. Die Labour Party reagierte pragmatisch mit einer staatlichen Nachfragepolitik (vgl. Nachtwey/Heise 2006; Glyn 2005). Sie weitete die Nachfrage massiv aus, hielt sich aber intern an ihre goldene Regel, Neuverschuldung über den Konjunkturzyklus nur für Investitionen aufzunehmen. New Labour konnte auf diese pragmatische Weise reagieren, weil man in den Jahren zuvor noch den Ausgabenplänen der konservativen Vorgängerregierung gefolgt war und die Staatsquote im Jahr 2000 auf den niedrigsten Stand seit den 1960er Jahren ge257
drückt hatte. In einem Konjunkturaufschwung sinkt die Staatsquote für gewöhnlich, deshalb ist der Tiefststand aus dem Jahr 2000 auch vor dem Hintergrund von 3,8 Prozent Wirtschaftswachstum zu sehen. Umso erstaunlicher ist, dass die Staatsquote auch in den Folgejahren, als Großbritannien die globale Wachstumsdelle mit guten Konjunkturdaten umschiffte, noch weiter zunahm. Dies zeigt sich auch darin, dass die nominalen Staatsausgaben (vgl. Abbildung 8) überdurchschnittlich zunahmen. In Deutschland verhielt es sich umgekehrt: Man sparte mitten in die Krise hinein und verstärkte sie dadurch. Eichels Konsolidierungspolitik und die Agenda 2010 ließen die Staatstätigkeit relativ zurückgehen. Dass die Quote in den Jahren 2000–2003 noch mal stieg, lag an der Rezession, die automatisch zu einer höheren Staatsquote führt. Die Unterschiede in der Entwicklung der Staatstätigkeit werden deutlich, wenn man sich die Entwicklung der nominalen Staatsausgaben nach dem Jahr 2000 vor Augen führt (vgl. Abbildung 8)266. Sie stiegen in Großbritannien steil an, während sie in Deutschland sogar fielen: Abbildung 8: Nominales Wachstum der Staatsausgaben
266
Quelle: Eurostat, eigene Berechnungen.
258
Das ist die Paradoxie der Marktsozialdemokratie: Der Transformationsprozess der SPD war mit einem Abbau des Staats im Allgemeinen und des Sozialstaats im Besonderen verbunden. Die Einführung der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik war nicht nur mit Leistungskürzungen, sondern auch mit Kürzungen in den Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen verbunden (Dingeldey 2007).267 In Großbritannien hat man den Staat nach der Kontinuitätsperiode zu den Konservativen wieder ausgeweitet. Die Transformation zur Marktsozialdemokratie war nicht mit einer Kürzungspolitik verbunden. Weil der Staat schon auf ein niedriges Niveau heruntergefahren war, konnte man ihn vorsichtig wieder ausweiten.268 7.8.2 Historisch vergleichende Reflexionen In welcher Beziehung steht die Marktsozialdemokratie zu den Traditionen der SPD und der Labour Party? Im Folgenden werden einige Überlegungen angestellt, welchen Linien der Wandel gefolgt ist und wie sich die eigene Geschichte in der Gegenwart der Sozialdemokratie ausdrückt. Bereits in den 1920er Jahren hatte sich der grundlegende Widerspruch der Sozialdemokratie herausgebildet. Man wollte regieren, um zu verändern. Dafür ließ man sich auf das sozialdemokratische Akkumulationsdilemma ein, die Wirtschaft befördern zu müssen, um sozialstaatlich handeln zu können. Die Tradition, über den Staat verändern zu wollen, war organisch von Beginn an in der Labour Party verankert. Vielleicht ist es ihr deshalb auch leichter gefallen, den Staat im globalen Wettbewerb auch gegen die Interessen der eigenen Anhänger zu verteidigen. Die SPD tat sich zunächst schwerer. In ihr schlummert immer noch eine gewisse Skepsis gegenüber den Interessen des Staats, so als spürte sie immer noch die Phantomschmerzen der Unterdrückung im Kaiserreich und während des Faschismus. Auch die historische Betrachtung der Spielarten des Kapitalismus und des Wohlfahrtsstaats sind für die heutige Entwicklung äußerst instruktiv. Denn Labour Party und SPD haben jeweils kräftig an der Entwicklung „ihrer“ Kapitalismen mitgebaut. Die britische und deutsche Wirtschaft haben schon im frühen 20. Jahrhundert wesentliche Elemente ihres heutigen Kapitalismustyps in sich getragen. Die Institutionalisierung wurde von der Labour Party und der SPD mit- und weitergetragen. In einigen Fällen versuchte man, die Konturierung des Kapitalismustyps zu verändern, ihm Großen und Ganzen wanderte man aber auf den bekannten Pfaden.
267 268
Allerdings ist das Niveau immer noch höher als in Großbritannien (Dingeldey 2007). Die Mehrausgaben flossen zu einem großen Teil in das staatliche Gesundheitssystem.
259
Bis in die 1930er Jahre war sowohl in der SPD als auch in der Labour Party eine passive politische Ökonomie vorherrschend. Mit dieser ging auch die Vorstellung der sozialen Gerechtigkeit einher, die trotz ihrer Rolle als Movens für die sozialdemokratischen Parteien eine nur untergeordnete Rolle im politischen Paradigma spielte. In der vorkeynesianischen Sozialdemokratie war Gerechtigkeit durch die Sozialisierung hergestellt, da man damit das Ende der kapitalistischen Herrschaft und der Ausbeutung gekommen wähnte – auch wenn sie in einem Fall fabianisch und im anderen Fall marxistisch begründet wurde. Überhaupt, es war erstaunlich, wie wenige Überlegungen zur sozialen Gerechtigkeit sich in den frühen politischen Paradigmen der Sozialdemokratie finden. Im Vergleich noch deutlich stärker bei der Labour Party, die sich zwar seit 1918 als sozialistische Partei verstand, aber niemals als marxistische, sondern immer auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie und im Prinzip auch des Kapitalismus stand. Ihre pragmatischere Haltung hat dazu geführt, dass die Frage der sozialen Gerechtigkeit in der Programmatik mehr Raum einnahm. In der marxistischen SPD führten die Interventionen von Marx, Engels und Luxemburg zu der paradoxen Situation, dass die Frage der sozialen Gerechtigkeit – mit Ausnahme von Bernsteins Einspruch – nicht diskutiert wurde. Erst in den 1950er Jahren vollzog sich sowohl in der Labour Party als auch in der SPD eine Wertewende. Man begründete den Sozialismus weniger aus der (passiven) politischen Ökonomie, sondern buchstabierte ihn als Wertesystem aus. In historischer Perspektive kann man sagen: Je geringer die politische Ökonomie der Sozialdemokratie auf eine postkapitalistische Gesellschaft gerichtet ist und je stärker sie auf die diesseitige Steuerung des Kapitalismus zielt, desto mehr sinniert man darüber, was sozial gerecht ist. In der Marktsozialdemokratie kehrt das Gerechtigkeitsverständnis der Arbeiterbewegung vor der keynesianischen Sozialdemokratie in „verkehrten“ Prämissen zurück. Das Effizienzstreben hat das Gleichgewicht mit der Gerechtigkeit gesprengt. Das Minimumprinzip hat in Großbritannien eine starke fabianische Traditionsverankerung, in Deutschland fehlt eine solche. Seit der vorpolitischen, christlichen Bedeutung von Gerechtigkeit als Existenzminimum (vgl. Kittner 2005: 33–41) in der Arbeiterbewegung hat es keine außerordentliche Rolle gespielt. Nicht nur in Bezug auf den Wohlfahrtskapitalismus, sondern auch parteiengeschichtlich kann man nicht von einem „Traditionalismus“ bei der SPD sprechen. Dass New Labour liberalisiert erscheint, liegt daran, dass die SPD sich bereits viel früher liberalisiert hatte als die Labour Party. Bis Anfang der 1990er Jahre war die SPD die „liberalisierte“ Partei. Mit dem Programm von Bad Godesberg hatte sie Abschied vom Marxismus und auch vom Sozialisierungsge260
danken genommen. Zwar war die Labour Party von ihrem genetischen Modell her liberaler, aber sie war programmatisch bis zu Beginn der 1990er Jahre tatsächlich die traditionellere Partei. Bis dahin hielt sie am Sozialisierungsgedanken fest (vgl. Tomlinson 2000: 52). Die Veränderung der Clause IV war im Prinzip eine nachholende Godesbergisierung der SPD. Aber der Sprung der Modernisierung der Labour Party war viel größer. Die lange Persistenz des keynesianischen politischen Paradigmas, das in der Labour Party eben auch starke kollektivistische Elemente trug, ja sogar die zeitweilige Linksentwicklung in Zeiten, als die Mehrheit der Bevölkerung nicht nach links mitging, führte zu einer überschießenden Modernisierung, einem Überholen ohne einzuholen. New Labour ist „auf einen Schlag die Godesbergisierung und die Clintonisierung einer bis dahin traditionalistischen sozialdemokratischen Partei“ (Meyer 1998: 210). Die SPD nach Godesberg wollte einen fairen Wettbewerb für alle Unternehmen auf dem Markt für Güter, Dienstleistungen und Kapital. Aber sie wollte den Wettbewerb aus den privaten und sozialen Sphären der Gesellschaft raushalten. Der Markt sollte dadurch eingebettet werden, dass seine Reichweite beschränkte wurde. Dies galt bis in die 1990er Jahre, wenn auch mit abnehmender Intensität. Die SPD blieb bis in die erste Legislaturperiode tatsächlich in dem Sinn traditionell, als die Koalition der Modernisierer in Regierung und Partei zunächst nur wenige wirtschaftsliberale Reformen durchsetzen konnte und auch programmatisch keine Fortschritte erzielte. Mit der Agenda 2010 wurde sowohl auf der Ebene der Policies als auch programmatisch ein Liberalisierungsschub eingeleitet. Auch in der SPD hat sich das marktsozialdemokratische politische Paradigma durchgesetzt, die Trennung des Marktes vom Sozialen aus dem Godesberger Programm wurde revidiert: Das Soziale wird in den Markt eingebettet und seinen Erfordernissen angepasst. Auf dem traditionellen Pfad wandelte man nur auf der Ebene der Arbeitsbeziehungen. Dort sind die Kontinuitätslinien zur postrevolutionären Betriebsverfassung der Weimarer Republik bis zu Mitbestimmung und Betriebsverfassungsgesetz deutlich erkennbar. Das Mitbestimmungs- und Teilhabeelement wurde von der SPD bis zur Marktsozialdemokratie weitergeführt. Man hat nie die Grenze überschritten, die Verfügungsmacht des Kapitals einzuschränken, aber hat sich dieser Grenze, so weit es der politische Gegner zuließ, in den 1970er Jahren angenähert. Jetzt wird auch die Mitbestimmung vermarktlicht – ihre Begründung findet sie in der produktiven Wirkung für die deutsche Wirtschaft. Aber aus der eigenen historischen Erfahrung hat sich die SPD gegen die starke wechselseitige Verflechtung der Industrie und der Banken im deutschen Kapitalismus gestellt. Sie hatte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Präferenz für 261
die Liberalisierung der Unternehmenskontrolle und Entflechtung des Modells Deutschlands entwickelt – nicht aus dem Willen zur Anpassung an die Globalisierung, sondern aus dem Bruch mit der Theorie des organisierten Kapitalismus und der Erfahrung des Faschismus (vgl. Höpner 2004: vgl. auch Kapitel 5). Soziale Gerechtigkeit war bis in die 1950er Jahre (fast) kein Thema in der deutschen Sozialdemokratie. Erst mit der Akzeptanz der Marktwirtschaft und dem Abschied vom Marxismus kam auch die soziale Gerechtigkeit als Begriff ins Spiel. Kein Wunder, denn vorher stand der Sozialismus für eine gute und eben gerechte Gesellschaft; nun musste man überlegen, was soziale Gerechtigkeit im Kapitalismus sein könne. In den ersten Jahren war der Begriff der sozialen Gerechtigkeit noch reichlich diffus, es war kaum eine klare Richtung auszumachen. Gleichwohl war schon erkennbar, dass man im Unterschied zum liberalen Leistungsprinzip immer Wert auf die Leistungsgerechtigkeit legte. Diese bezog sich zumeist implizit auf das beitragsfinanzierte Sozialsystem – wer hohe Beiträge leistete, sollte gerechterweise auch höhere Leistungen beziehen. Damit hatte die SPD nie ein Problem. Leistungsgerechtigkeit hatte aber auch eine gesamtgesellschaftliche Verteilungskomponente. Der Arbeiterschaft sollte ein gerechter Anteil des volkswirtschaftlichen Ertrages zukommen. Der jetzt dominante Teilhabebegriff hat eine relativ kurze Geschichte, auch wenn er gedanklich in den Mitbestimmungs- und Wirtschaftsdemokratiekonzepten bereits enthalten war. Im Programm von Bad Godesberg taucht er noch nicht auf. Wenn man den Begriff aus seiner heutigen Semantik heraus betrachtet, wird dies verständlich: Denn Teilhabe wird durch Arbeit hergestellt, in den 1950er Jahren herrschte nahezu Vollbeschäftigung. Im Berliner Programm ist zwar die egalitäre Verteilungsgerechtigkeit dominant, aber findet der Teilhabebegriff bereits prominent Eingang. Geprägt von den neuen sozialen Bewegungen, wird er synonym zu politischer Partizipation, aber auch schon im heutigen Begriff von sozialer Inklusion verwendet. Der Unterschied: Damals wollte man Teilhabe für die Ränder der Gesellschaft herstellen, für die „Marginalisierten“, heute ist der Teilhabeanspruch in die Mitte gerutscht, weil die reale Teilhabe durch Arbeit bis in die Mitte der Gesellschaft erodiert, Deutschland zunehmend eine „gespaltene Gesellschaft“ ist (Lessenich/Nullmeier 2006b). Tony Blair hat in Öffentlichkeit und Wissenschaft das erreicht, was er mit der Etikettierung als New Labour erreichen wollte: Man betonte vor allem die – in der Tat großen Differenzen – zu Old Labour (Shaw 1996a, b, 2003). Implizit reduzierte man damit die Geschichte der Labour Party auf die relativ kurze Periode von 1973–83, als Verstaatlichungen wieder stärker in den politischen Fokus rückten und auch die egalitäre Verteilungsgerechtigkeit eine bedeutende 262
Rolle spielte. In dieser verengten Perspektive geraten die Gesamtgeschichte der Labour Party, ihre Traditionen und ihre Eigenheiten aus dem Blick. New Labour ist die Abkehr von Old Labour, wie man sie zwischen 1973–83 kannte. Aber es ist keineswegs der Bruch mit der Geschichte der Labour Party. New Labour knüpft in vielerlei Hinsicht am Revisionismus der 1950er Jahre an (Meredith 2006; Fielding 2003). Dort wurden zwar umfangreiche Verstaatlichungen vorgenommen, aber man hatte bereits in den 1940er Jahren, wie in Kapitel 5 gezeigt wurde, einen „supply side socialism“ auf der Agenda. Die Modernisierung der Wirtschaft war schon damals auch ein Ziel, nur wurde dem Staat eine andere Rolle darin zugedacht. In den 1950er Jahren wurde vor allem durch Tony Crosland und Hugh Gaitskell die Präferenz für Gemeineigentum in Frage gestellt. Auch ist New Labours Betonung der Chancengleichheit kein Bruch mit der eigenen Geschichte. Dieselbe Betonung lässt sich schon in der ersten Welle des Nachkriegsrevisionismus bei Crosland finden (vgl. Powell 2002b: 27). Allerdings maß Crosland der Chancengleichheit eine andere Bedeutung zu. Bei New Labour ist Chancengleichheit mit einer Semantik des Marktzutritts verbunden, Crosland war näher an einer tiefgreifenden Egalisierung der Ausgangschancen durch die Beseitigung der Privilegien der oberen Schichten. Obwohl Crosland auch das Ende der Klassenpolitik forderte, war ihm der strukturelle Vorteil, den die oberen Schichten durch Reichtum und ererbte Privilegien besaßen, in seinen politischen Vorschlägen immer bewusst. Deshalb betonte er die Wichtigkeit von echter Chancengleichheit und sah die Umverteilung des Reichtums über Besteuerung als ein zentrales Mittel an (vgl. Sassoon 1996: 258). New Labour konnte nicht nur an die Revisionisten der 1950er Jahre anknüpfen, sondern auch an die Tradition der Fabier aus den ersten Jahrzehnten der Labour Party. Freilich, der Kollektivismus der Fabier ist verödet, auch spielt die fabianische Rententheorie, die sich gegen unverdientes Vermögen stellt, fast keine Rolle mehr. Im Gegenteil, New Labour macht Politik für die Finanzmärkte, die in der sozialistischen Tradition oftmals Symbol für die Rentiers schlechthin waren. Die ursprüngliche Präferenz für ein starkes Pfund hat sich in die Präferenz für die Finanzmärkte gewandelt. Auch von der industrial democracy ist nicht mehr viel übrig geblieben im politischen Paradigma von New Labour. Historisch hatte der Staat eine größere Distanz in den Arbeitsbeziehungen, in den 1960er und 70er Jahren gab es protokorporatistische Ansätze sowie mit der Einkommenspolitik eine direkte staatliche Einmischung in die Lohnfindung. Davon ist nichts übrig geblieben, da New Labour die restriktiven Thatcher-Gesetze übernommen hat. Hier hat man also mit seiner eigenen, wenn auch dünnen Tra263
dition gebrochen, und sich mit seinen Policies an den liberalen Kapitalismustyp Großbritanniens angepasst. Auf der anderen Seite gab es in der Labour Party schon immer die Suche nach der effizientesten Gestaltung der bürgerlichen Gesellschaft. Denn wie Coates (vgl. 1996: 266) anmerkt, gab es in der gesamten Geschichte der Labour Party Old und New Labour. Die Partei hatte zu jeder Zeit aus sozialen Reformern, die die Macht des Kapitals begrenzen wollten, und bürgerlichen Radikalen, die die industrielle Basis modernisieren wollten, bestanden. So gesehen ist New Labour kein Bruch mit Old Labour, sondern Blair der politische Enkel von Sidney Webb. Der Einklang von Gerechtigkeit und Effizienz in der politischen Ökonomie von New Labour kann bis zu der politischen Ökonomie der Fabier zurückverfolgt werden. Nur: Die Wirtschaftsordnung und die Besitzverhältnisse, die die Fabier im Kopf hatten, unterscheiden sich deutlich von New Labours Vorstellungen (vgl. Thompson 1996a: 279). Auf eine krude Weise kehrt die Labour Party zurück zu den Wurzeln der britischen Arbeiterbewegung. Schon in Labour and the new Social Order (1918) wird der Frage der Chancengleichheit in Erziehung und Bildung ein großer Stellenwert eingeräumt. Bei New Labour wird dieses Motiv unter „Bildung, Bildung, Bildung“ wieder verfolgt. Teilweise kehrt man aber auch zu den Wurzeln vor Gründung der Labour Party zurück. Das gilt sowohl für die Betonung von Freiheit als auch für den Kommunitarismus, der als Sozialphilosophie einen großen Einfluss auf die Labour Party ausübte (vgl. White 2001), während er in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen (vgl. Meyer 1995; Schröder 2000) nur eine sehr geringe Rolle gespielt hat. Die Kommunitarismus-Neigung von New Labour knüpft vor allem an die britische Tradition des New Liberalism im 19. Jahrhundert an. Der New Liberalism hatte ein positives Staatsverständnis und wollte mit der Stärkung der Gemeinschaft einem zu starken Individualliberalismus entgegentreten, während er sich gleichzeitig als antietatistisch verstand (Vorländer 2001). Zu ihren Wurzeln kehrt die Labour Party auch bei der Gerechtigkeit zurück: Das Prinzip des Minimums stammt noch aus der Zeit der Fabier, aus der Zeit vor dem Wohlfahrtskapitalismus. Kurzum: Die Sozialdemokratie kehrt in liberalisierter Form zu der gesellschaftlichen Konfliktlage zurück, die ihre historische Grundlage war. Aber wie in einer geometrischen Parabel kehrt man nicht zum Ursprungspunkt zurück, sondern schneidet dieselbe Koordinate zweimal an verschiedenen Achsenabschnitten.
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8. Legitimationsprobleme der Marktsozialdemokratie „Der Konformismus [der Sozialdemokratie; d. Verf.] haftet nicht nur an ihrer politischen Taktik, sondern auch an ihren ökonomischen Vorstellungen. Er ist eine Ursache des späteren Zusammenbruchs.“ Walter Benjamin „Das wurde überhaupt die geistige Grundlage der Moderne: das Denken in Alternativen.“ Robert Menasse
In der Demokratie ist das politische System abhängig von der Massenloyalität der Bürger, die Parteien sind legitimatorisch rückgebunden an die Zustimmung in der Bevölkerung. Historisch förderte die Sozialdemokratie die Legitimität des politischen Systems durch die politische und soziale Integration der Arbeiterschaft. Nicht nur das System erhielt Legitimität, sondern auch die Sozialdemokratie als Akteur, der glaubwürdig für sich reklamieren konnte, politische und soziale Rechte sowie soziale Sicherheit durchzusetzen. Denn sozialstaatliche Sicherheit ist, „wenn nicht Grundlage, so mindestens eine notwendige Bedingung der Legitimität“ (Habermas 1973: 288). In den 1970er Jahren diskutierte man in der politischen Öffentlichkeit über die Legitimationsprobleme des Kapitalismus und des Staats. Die Theoretiker der Legitimationsprobleme schöpften gleichermaßen aus dem Arsenal der Systemtheorie wie dem Marxismus: In entwickelten Kapitalismen treffen die potenziell antagonistischen Interessen aus differenten Subsystemen zusammen, konfligieren und führen zu Integrations-, Steuerungs- und Legitimationsproblemen. Durch die systemischen Überforderungen ist die Rolle des Wohlfahrtsstaats als Ressource von Massenloyalität deshalb immer prekär. Die Theoretiker der Legitimationsprobleme gingen – in ihren heute noch beeindruckenden Theoremen – davon aus, dass die ökonomische Entwicklung durch keynesianische Steuerung handhabbar sei und dass ein wesentlicher Teil der Legitimationsprobleme dadurch entstehe, dass der Ausbau des Interventions- und Sozialstaats neue Ansprüche und Widersprüche produziert habe, die man nicht mehr befriedigen könne (vgl. Habermas 1973; Offe 1972). Die von Claus Offe und Jürgen Haber265
mas diagnostizierten Legitimationskrisen resultierten demnach aus der zunehmenden staatlichen Intervention und der paradoxalen Ausbreitung nichtkapitalistischer Sphären, die den verschiedenen Funktionsimperativen komplexer Gesellschaften, den nicht-intendierten Nebenfolgen der staatlichen Intervention als auch auseinanderlaufenden Ansprüchen verschiedener Interessengruppen geschuldet waren. Aus heutiger Sicht waren die damaligen Legitimationsprobleme zwar nicht zu vernachlässigen, aber sie spielten sich auf einer anderen Ebene ab. Die Bürger übten mitunter heftige Kritik an den (sozialdemokratischen) Parteien und es gab nicht wenige gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Aber diese Auseinandersetzungen liefen vor dem Hintergrund eines Kapitalismus, der den meisten Bürgern ein Mehr an Wohlstand, sozialer Sicherung und demokratischer Teilhabe gewährt hatte. Die Bürger waren im Vergleich zu heute verhältnismäßig zufrieden mit dem Staat, seinen Institutionen und sogar den Parteien. In den letzten Jahren haben sich die Einstellungen zu vielen demokratischen Institutionen und zu den Parteien rapide verschlechtert. Während sie damals nicht wirklich existierten, treibt „die nun reale Legitimationskrise des bürgerlichen Staats“ niemanden mehr wirklich um (Walter 2005: 35). Zum Vergleich, wenn man eine einfache Annäherung an die Legitimationsprobleme wählt: In Deutschland wurden die Volksparteien SPD und CDU/CSU bei der Wahl 1972 noch von 82% aller Wahlberechtigten gewählt. Die SPD wurde von 41% aller Wahlberechtigten unterstützt. Im Jahr 2005 konnten die Volksparteien nur noch 53% aller Wahlberechtigten für sich gewinnen, die SPD sogar nur noch 26%. Nach mehr als 30 Jahren säkularer Wachstumsschwäche führt gerade der Wohlfahrtsstaatsabbau zu neuen, fundamentalen Legitimationsproblemen, weil genau die notwendige Bedingung für Legitimität und Massenloyalität in entwickelten Wohlfahrtskapitalismen – soziale Sicherheit – fragil geworden ist. Akkumulation und Legitimation können immer weniger in Einklang gebracht werden. Die Sozialdemokratie ist Teil der gegenwärtigen Legitimationskrise, ja sie ist sogar am stärksten von ihr betroffen, da sie über Jahrzehnte als wohlfahrtsstaatliche Partei schlechthin wahrgenommen wurde. Jetzt zwingt sie das sozialdemokratische Akkumulationsdilemma, ihre Ausrichtung stärker den je zu liberalisieren – zur Marktsozialdemokratie. Ihr politisches Paradigma verbindet soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Effizienz, aber die neue Gerechtigkeit ist kühl, kalkulierend und desillusioniert: Vor dem Gesetz und dem Markt sind alle gleich. Die Politik der Marktsozialdemokratie sieht einen radikalen Umbau der Wohlfahrtsstaaten vor, der die sozialen Staatsbürgerrechte neu definiert (d. h. sie in der Regel konditionalisiert), den Bezug von sozialen Sicherungsleistungen 266
im Allgemeinen einschränkt und die allgemeine Kommodifizierung der Bevölkerung vorantreibt. Sozial ist, was ökonomisch sinnvoll ist. Enthusiasmus bei den Bürgern erntet man mit dieser Politik nicht. Vielleicht verliebt sich gegenwärtig nicht jeder in den Gedanken der sozialen Gleichheit, aber auch nur wenige verlieben sich in den Markt. Die rot-grüne Regierung hatte 2005 Neuwahlen ausgerufen, weil die anhaltende Serie von Niederlagen und das Aufkommen eines Linksbündnisses die SPD zu zerreißen drohte. Dagegen hatte Tony Blair im Jahr 2005 das geschafft, was noch kein Labour-Premier vor ihm geschafft hat: die dritte Amtsperiode hintereinander zu erreichen. Doch dieser Erfolg beruhte nicht auf der erfolgreichen Politik in der Vergangenheit, sondern der ausgemachten Schwäche der Konservativen. Im Jahr 2005 gewann Labour die Wahl als „least worst government“ (Quinn 2006). New Labour bekam in der gesamten Nachkriegsgeschichte nur einmal – 1983 – weniger Stimmen, wurde 2005 aber aufgrund des britischen Wahlsystems trotzdem die mit Abstand stärkste Partei. Aber nicht nur die Wähler bleiben fern, obendrein hat auch fast die Hälfte der Mitglieder die Partei in den letzten Jahren verlassen. Nach einem zwischenzeitlichen Zugewinn in der euphorischen Phase von New Labour rutschte die Partei von 400.000 Mitgliedern im Jahr 1997 auf weniger als die Hälfte im Jahr 2005 (Guardian 12.06.2007). In der SPD war es nur etwas weniger dramatisch. Während der gesamten Regierungszeit der rot-grünen Koalition haben mehr als 180.000 Mitglieder der SPD ihr Parteibuch zurückgegeben. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt während der Durchsetzung der Agenda 2010. 2003, im Jahr der Verkündung der Agenda 2010, verlor die SPD 6,2 Prozent ihrer Mitglieder. 2004, im Jahr der scharfen Auseinandersetzungen und großen Proteste, büßte sie 6,9 Prozent ein (vgl. Niedermayer 2007). Doch trotz der schwindenden Unterstützung halten Labour und SPD an ihrer Agenda fest. Gemessen an der Regierungsmacht sogar mit Erfolg. Letztendlich regiert die Labour Party im Jahr 2008 im nunmehr elften, die SPD im zehnten Jahr, auch wenn die CDU die Kanzlerin stellt. 8.1 Die Entwicklung der Ungleichheit Die Marktsozialdemokratie hat ihren Begriff von sozialer Gerechtigkeit verändert. Dies setzte sich auch in veränderten Politikzielen um. Ein soziales Minimum und die Marktteilhabe stehen im Vordergrund. An dieser Stelle kann keine vollständige Analyse der Policy-Outcomes folgen, aber an einigen wenigen Punkten können Indizien angeführt werden, wie die Politik der Marktsozialde267
mokratie sich auch in der gesellschaftlichen Lage niederschlägt: Denn die absolute Ungleichheit in Großbritannien und Deutschland ist gestiegen, während man kleine Erfolge bei der Armutsbekämpfung in Großbritannien vorzuweisen hat. Das Erbe von Thatcher hat es für New Labour zugleich einfach und schwierig gemacht. Relative Verbesserungen im Lebensstandard und besonders bei der Kinderarmut waren recht einfach zu erlangen, oft wurden damit aber gerade kontinentaleuropäische Standards erreicht. Beispielweise hat man die öffentlichen Ausgaben für jedes Kind um 20 Prozent erhöht und damit die Kinderarmut von 34 auf 28 Prozent reduziert. Dennoch weist Großbritannien immer noch die fünfthöchste Rate von Kinderarmut in Europa auf (Stewart 2005a). Zwar ist die Armut insgesamt gesunken (von 18 auf 17 Prozent), aber die Armutsreduktion ist unterschiedlich fokussiert – so ist beispielsweise die relative Armut von erwerbsfähigen Erwachsenen ohne Kinder gestiegen. Das steht durchaus in Einklang mit den sozialen Vorstellungen von New Labour, denn schließlich sollen ja alle erwerbsfähigen Erwachsenen sich durch Arbeit aus der Armut befreien und nicht auf soziale Unterstützung angewiesen sein. Sozialpolitisch ist man nur auf Armutssicherung nach unten, einen niveaugesicherten Wettbewerb, und nicht auf die Ungleichheitsreduktion zwischen oben und unten ausgerichtet. Zwar stiegen die Einkommen der unteren 40 Prozent der Haushalte relativ stärker an als die der wohlhabenden Haushalte. Gleichzeitig hat sich jedoch der Abstand der reichsten 10 Prozent zu den ärmsten 10 Prozent weiter vergrößert. Mit anderen Worten: Die britische Gesellschaft ist weniger arm, aber ungleicher als zuvor (vgl. Sefton/Sutherland 2005; Brewer et al. 2005; Paxton/Dixon 2004). Trotz eines relativen Anstiegs der Umverteilung bleibt Großbritannien nicht nur eines der ungleichsten Länder Europas, sondern rangiert bei den Sozialausgaben auf dem Niveau der osteuropäischen Länder und fällt weiter in die Gruppe der „low spending economies“ (Stewart 2005). Auch in Deutschland hat die Marktsozialdemokratie Spuren hinterlassen. Vor allem die Reformen der Agenda 2010 haben die Strukturierung der Ungleichheit verändert. Zwar wurden teilweise verdeckte Armut bekämpft und neue Bezugsgruppen mit in das System aufgenommen, aber insgesamt ist die Zahl der Verlierer größer als die der Gewinner (Becker/Hauser 2006). Nachdem durch die Agenda 2010 die Statussicherheit der deutschen Arbeitnehmer signifikant gesenkt wurde, waren auch ihre Verhandlungsmacht und ihr Selbstbewusstsein angegriffen. Niedrige Tarifabschlüsse und eine Lohnspreizung zwischen geringund hochqualifizierten sowie zwischen befristeten und unbefristeten Beschäftigten sind die Hauptfolgen der Agenda 2010 (Giesecke/Groß 2005). In der Folge
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fiel die bereinigte Lohnquote in Deutschland auf den niedrigsten Stand seit 40 Jahren (vgl. BMAS 2007). Es ist zu erwarten, dass der Trend zur steigenden Ungleichheit auch in den nächsten Jahren anhält, denn das Ausmaß der sozialen Sicherheit ist eine wesentliche Determinante der Ungleichheit (Groß 2007). Die Politik der Sozialdemokratie hält die zentrifugalen Kräfte im globalisierten Kapitalismus nicht auf, im Gegenteil: Die Schicht jener am Rande, die aus der Mitte herausgeschleudert werden, wird täglich größer. Auch die Distanz zwischen gesellschaftlichen Polen wird größer. In den Jahren 2000 bis 2003 haben die Einkommen des unteren Fünftels der Haushalte um 5,1 Prozent abgenommen. Fast spiegelverkehrt haben die Einkommen des oberen Fünftels um 5,3 Prozent zugenommen. Die polarisierende Entwicklung zeigt sich auch in den Gruppengrößen. Der Bevölkerungsanteil mit hohen Einkommen ist gestiegen, aber auch die Gruppe mit niedrigen Einkommen ist gewachsen. 15,3 Prozent der Menschen in Deutschland leben bezogen auf 60 Prozent des Median-Einkommens - in relativer Armut (vgl. Frick et al. 2005; Berger 2005; Andreß/Kronauer 2006). Sogar das sogenannte Normalarbeitsverhältnis verliert in den unteren Segmenten seinen armutsvermeidenden Charakter (Andreß/Seeck 2007). Es gibt indessen einen signifikanten Unterschied zu Großbritannien: Dort war es ja gelungen, wenigstens die Armut zu begrenzen. In Deutschland ist auch die Armut gestiegen. 8.2 Legitimierungsdiskurse und „Sachzwänge“ Herbert Kitschelt hat als einen Grund für die Legitimationsprobleme der Sozialdemokratie ein „Dilemma der politischen Ökonomie“ ausgemacht: Man hatte sich eine liberalisierte politische Ökonomie zugelegt, mit deren Agenda man die Wahlen gewann, aber mit deren Umsetzung man die Unterstützung in der Bevölkerung verlor (Kitschelt 1999). Die Ausgangslage für die Sozialdemokratie ist kompliziert und widersprüchlich. In den letzten 30 Jahren reagierten die meisten Regierungen auf die Finanzkrise des Wohlfahrtsstaats, indem man zunächst die Leistungen jener Gruppen einschränkte, die nur auf geringe Quellen des Widerspruchs zurückgreifen konnten und die in der Öffentlichkeit auch die wenigsten Fürsprecher fanden: Ausländer, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. Aber die Ab- und Umbaupolitik rückte immer stärker von der Peripherie in das Zentrum der Gesellschaft. Der Umbau der Sicherung traf und trifft nun auch die Sicherheit der sozialen Mitte. Dort stießen die Sozialreformen auf Ablehnung, weil auch Facharbeiter, Angestellte, Beschäftigte im öffentlichen Dienst und gut ausgebildete Akademiker die Rückfallposition eines Sozialstaats zu schätzen wissen: 269
„If citizens dislike paying taxes, they nonetheless remain fiercely attached to public social provision. That social programs provide concentrated and directed benefits while imposing diffuse and often indirect costs is an important source of their continuing political viability“ (Pierson 1994: 2).
Man konnte mit liberalen Forderungen wie Steuersenkungen durchaus bei vielen Arbeitern und erst recht bei den Mittelschichten ankommen. Aber nicht mit der Folge der Steuersenkungen, dass sich der Staat selbst enthauptet und sich der Ressourcen für den Wohlfahrtsstaat entledigt. In Deutschland wie in Großbritannien gibt es nach wie vor eine große Unterstützung in der Öffentlichkeit für den Wohlfahrtsstaat, ja sogar explizit für Umverteilung (Mau 2003).269 Deshalb entwickelte sich seit Ende der 1970er Jahre eine Politik der „blame avoidance“ (Pierson 1996; Ross 2000), die versucht, die politischen Auswirkungen, d. h. die Einbußen bei der Anhängerschaft und bei den Wahlen, zu minimieren.270 Dazu gehört die Suche nach einem Konsens mit den anderen Parteien, ebenso die Konstruktion von Sachzwängen: die Globalisierung, die Europäische Union und die Finanzkrise des Staats. New Labour hatte die einfachere Ausgangsposition. Man übernahm einen vergleichsweise stark gestutzten Wohlfahrtsstaat, dessen Umbau einen partiellen Ausbau bedeutete. Vermarktlichung und (heimliche) Umverteilung gingen Hand in Hand. Auf diese Weise konnte man relativ leicht Legitimation durch Distribution erreichen. Die konservative Regierung hatte ein tiefes Bedürfnis nach einer Erneuerung des Wohlfahrtsstaats in der Bevölkerung hinterlassen. New Labour konnte dies aufgreifen, war aber gleichzeitig programmatisch stark in die Mitte gerückt, so dass man in den 1990er Jahren die Liberal Party buchstäblich links liegen ließ (vgl. Kaiser 2006: 187–90). Die Konservativen näherten sich wiederum von der marktradikalen Seite wieder prosozialstaatlichen Positionen an. Anders bei der SPD: Hier bedeutete der Umbau des Wohlfahrtsstaats einen Abbau desselben. Weil die Wählerschaft stabil gegen einen sozialstaatlichen Abbau eingestellt war, konnte die SPD ihre Reformen nur im Konsens mit den anderen Parteien vollziehen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil das deutsche politische System der Nachkriegszeit mit einem Netz von Vetopunkten durchzogen ist, das eine konsensuale politische Kultur befördert, ja oft genug erzwingt. Zudem ist die CDU, anders als die britischen Konservativen, eine christdemokrati269 Diese ist allerdings durch die sozialstaatlichen Traditionen und Institutionen unterschiedlich strukturiert und verteilt. 270 Ross (2000) geht davon aus, dass sozialdemokratische Parteien – gerade weil sie positiv mit dem Aufbau von Wohlfahrtsstaaten in Verbindung gebracht werden – über eine größere Fähigkeit zum Rückbau des Wohlfahrtsstaats als konservative Parteien verfügen.
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sche Partei mit einem verhältnismäßig großen sozialpolitischen Flügel und immer noch einer großen Anhängerschaft unter den Arbeitern. In der Vergangenheit haben sich SPD und CDU sozialpolitisch immer gegenseitig begrenzt. Falls eine Partei sich zu stark wirtschaftsliberalen Positionen annäherte, gerade auch in Zeiten abnehmender Wählerbindungen, konnte die jeweils andere sich als Bewahrer des Wohlfahrtsstaats profilieren und ihr große Wählersegmente streitig machen (vgl. Kitschelt/Streeck 2003: 131–36). Auf der Basis einer Inhaltsanalyse der Wahlprogramme wurde für das deutsche Parteiensystem 1998 und 2002 – mit Ausnahme der damaligen PDS – eine auffällige Veränderung von der Wohlfahrts- zur Marktpräferenz festgestellt, die bei der SPD sogar am stärksten ausfiel. Schon im Jahr 2002 war das Wahlprogramm der SPD deutlich weniger prowohlfahrtsstaatlich als das der Labour Party. Zudem hat sich die SPD stärker von ihrem historischen Durchschnitt entfernt als ihre britische Schwesterpartei (Padgett 2004). Die im Bundestag vertretenen Parteien bewegten sich im Gleichschritt zu gemeinsamen Policy-Präferenzen, die von einem wirtschaftsliberalen Paradigma gerahmt wurden. In unterschiedlichen Nuancen unterstützten sie alle die Agenda 2010. Der Umbau des Wohlfahrtsstaates konnte nur legitimiert werden, indem er per Elitenkonsens dem politischen Wettbewerb entzogen wurde. Regierung und Opposition agierten als „Einheitsfront der Reformer“ (Walter 2006a) gemeinsam in einer „informellen“ (Trampusch 2005) bzw. „de facto“ (Kitschelt/Streeck 2003) großen Koalition und stritten nur über Ausmaß und einzelne Maßnahmen der Agenda. Indem sich die Verschiebung in einem parteiübergreifenden Gleichklang mit unterschiedlicher Akzentuierung vollzog, konnten SPD und CDU verhindern, dass sich eine Partei auf Kosten der anderen als Bewahrerin des überlieferten Sozialmodells profilierte. Gleichwohl verlor die SPD massiv nach links – an das Linksbündnis (Nachtwey/Spier 2007). Um den Akzeptanzproblemen des wohlfahrtsstaatlichen Umbaus entgegenzusteuern, setzte man vornehmlich auf zwei Mittel: legitimierende Diskurse und die „soziale Konstruktion von Sachzwängen“ (vgl. Cox 2001). Die Umwertung der sozialen Gerechtigkeit gehörte sicherlich zu den zentralen legitimierenden Diskursen. Legitimierende Diskurse finden sowohl innerhalb der Eliten („coordinative stage“) als auch von den Eliten gegenüber der Bevölkerung („communicative stage“) statt (Schmidt 2004, 2000b, 2001). In Diskursen nimmt neben der kognitiven vor allem die normative Funktion eine wichtige Stellung ein, da sie die soziale Akzeptanz von politischen Veränderungen fördert. Diskurse werden über die nationalen institutionellen Rahmenbedingungen und traditionellen politischen Semantiken vermittelt. Auch hier sind die Bedingungen für New Labour leichter. Das zentralistische System und die geringe Anzahl von Vetospielern 271
erleichterte den koordinierten Diskurs. Aber auch der normative Diskurs passte zur liberalen politischen Kultur und knüpfte an die Thatcher-Reformen an. Zugleich konnte man die eingeschlagenen Reformen als sozialen Fortschritt präsentieren und auf das Wohlfahrtsstaatsbedürfnis der Bürger reagieren. Dagegen vermochte es die rot-grüne Regierung nach anfänglichen Schwierigkeiten zwar, einen Elitenkonsens herzustellen, aber der Diskurs stand im Gegensatz zu den Traditionen des deutschen Wohlfahrtskapitalismus und musste eine Kürzung rechtfertigen. Dazu kam, dass die Schröder-Regierung sich zwischenzeitlich wenig Mühe gab, die Bevölkerung überhaupt von den Reformen zu überzeugen. Das wohl bedeutendste Beispiel für die soziale Konstruktion eines Sachzwangs ist der Begriff der Globalisierung (vgl. Fairclough 2000: 23–28).271 Globalisierung ist die Begründung schlechthin, die sowohl britische als auch deutsche Modernisierer für die Transformation zur Marktsozialdemokratie ins Land führten. Auf eine seltsame Art und Weise griff vor allem die SPD damit auf eine schlechte Tradition der Vergangenheit zurück: „In der Einrede von den ‚Alternativlosigkeiten‘ in der Politik kehrt der strategielose sozialdemokratische Entwicklungsobjektivismus in neuem Gewande zurück“ (Walter 2004: 135).
Zweifellos, die „Globalisierung“ ist ein real stattfindender Prozess, der die historischen Muster der Weltwirtschaft durchbricht. Aber heißt das, dass man auf die Globalisierung nur mit einer Wirtschaftspolitik reagieren kann? Globalisierung ist eine materielle Restriktion, aber auch eine diskursive Ressource für die Entrepreneure der Marktsozialdemokratie. Zunächst ist der Raum für staatliche Politik tatsächlich modifiziert durch die Europäisierung und Globalisierung, aber er ist weit davon entfernt, seine Interventionsfähigkeit zu verlieren. Denn der Prozess der Globalisierung beruht nicht nur auf den komparativen Kostenvorteilen einer internationalen Arbeitsteilung, sondern ist ein politisch gesteuerter Prozess, den die Nationalstaaten nicht nur tragen, sondern auch forcieren (Panitch 2002, 1994; Weiss 1998). Und selbst wenn man Teile des Paradigmas der angebotspolitischen Agenda akzeptiert, gibt es noch verschiedene Freiheitsgrade 271
Das Argument über die Beschneidung der internationalen Konkurrenzfähigkeit durch eine sozialreformerische Politik ist so alt wie die Sozialreform selbst: „Unüberhörbar schwangen die Untertöne einer ‚Standort Deutschland‘-Debatte bereits in den Auseinandersetzungen um die ersten Sozialgesetze mit“ (Metzler 2003: 22). August Bebel berichtet in seinen Erinnerungen über die Einwände der deutschen Unternehmer gegen Bismarcks Gesetzentwurf zur Unfallversicherung: „Die Lasten, die die Ausführung des Gesetzentwurfes den Unternehmen auferlege, machte sie dem Ausland gegenüber konkurrenzunfähig“ (Bebel 1997: 756).
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sozialdemokratischer Politik (vgl. Huber/Stephens 2002; Pierson 2001b; Pierson 2001a; Garrett 1998). Es gibt berechtigte Zweifel, wie stark der Handlungsdruck durch „die Globalisierung“ wirklich ist. Die Geschichte sozialdemokratischer Regierungen, die durch die „Finanzmärkte“ in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt sind, ist so alt wie die Geschichte sozialdemokratischer Regierungen selbst (Callaghan 2002). Zumal man eher von einer regionalen Integration der Produktion und Handelsströme ausgehen muss (Hay 2006a). Der wahrgenommene Problemdruck wird nach der Meinung von Andrew Glyn durch eine andere Kombination von Faktoren hergestellt: „General trends within the world economy – growth slow-down [and] the epidemic of neo-liberal ideas in response to these problems – seem to have been more significant than globalisation in the sense of increasing openness“ (2001: 13).
Kurz: Die Globalisierung ist kein materieller Prozess, der an sich bestimmte Handlungen erfordert, sondern sie bekommt erst durch eine spezifische Deutung ihren imperativen Charakter (Hay/Rosamund 2002; Hall 2002). Durch den Globalisierungsdiskurs internalisiert man die Präferenzen des Kapitals in die eigenen Ziele (vgl. Watson/Hay 2003: 301). Europa wird häufig als Alternative zur Globalisierung dargestellt. Genauso häufig nimmt die europäische Integration aber auch den Platz der Globalisierung als Sachzwang ein. Der „disciplinary neoliberalism“ (Gill 1998) des Maastrichter Vertrags erlegt den europäischen Regierungen strenge Regeln für ihre Finanzpolitik auf. Die Erklärung von Lissabon aus dem Jahr 2000, die das Ziel ausgegeben hat, Europa zur wettbewerbsfähigsten Region der Welt zu machen, wurde hauptsächlich von europäischen Sozialdemokraten formuliert. Es waren die europäischen sozialdemokratischen Parteien des Dritten Wegs, die das Europäische Sozialmodell auf den Wettbewerbspfad geführt und die Traditionen des sozialen Ausgleichs unterminiert haben (Aust et al. 2002). So gesehen handelt es sich um eine zirkuläre Sachzwanglogik: Die Globalisierung wird durch das Prisma der wirtschaftsliberalen politischen Ökonomie wahrgenommen und so führt man eine Politik aus, von der man glaubt, dass sie notwendig ist – und produziert eine weitere Liberalisierung der globalen Ökonomie. Mit anderen Worten: Man stellt die Zwänge, auf die man zu reagieren postuliert, durch die eigene Politik oftmals erst her. Analog verhält es sich mit der Finanzkrise des Staats. Am Beispiel Deutschland: Die Gewinnsteuern betrugen in Deutschland 1960 noch 37,7 Prozent des 273
gesamten Steueraufkommens, im Jahr 2004 waren es nur noch 8,4 Prozent (vgl. Andreß/Kronauer 2006: 39). Wenn von der Finanzkrise des Staats die Rede ist, wenn man davon spricht, keine neuen Schulden aufnehmen zu dürfen, dann blendet man schlicht aus, wie man seit „vielen Jahren konsequent und systematisch die eigene Finanzierungsbasis wegreformiert“ hat (Lessenich 2005). 8.3 Populismus, Depolitisierung und Postdemokratie Die Marktsozialdemokratie hat eine autoritäre und populistische Seite. Zum einen in den Politikinhalten, wenn z. B. Arbeitslosen die mangelnde Eigenverantwortung vorgehalten und ihnen die Unterstützung entzogen wird. Zum anderen auch im Führungs- und Kommunikationsstil, wenn Entscheidungen deklamiert werden, ohne die anstrengenden Wege der demokratischen Überzeugungsarbeit gehen zu wollen. Gerhard Schröder setzte mehrfach die Rücktrittsdrohung als Vehikel der innerparteilichen Disziplinierung ein, Tony Blair und Gordon Brown werden in Großbritannien durchweg als Kontrollfreaks dargestellt, die jeden Zug der Partei überwachen wollten. Die „neoautoritären“ Züge der Parteien sind auch ein Produkt der Mediengesellschaft, weil die Parteien ein geschlossenes Bild abgeben wollen und gleichzeitig medial viel abhängiger von ihren Führungsfiguren sind als zu früheren Zeit (vgl. Walter 2004: 55). Die Marktsozialdemokratie pflegt nicht nur einen autoritären und populistischen Stil, im Ergebnis läuft ihre Politik auf eine „Depolitisierung“ (Burnham 2001) hinaus: Vor allem durch die Konstruktion von Sachzwängen, weil sie die demokratische Souveränität, die Gemeinwesen auch unter veränderten Bedingungen noch haben, negieren und Handlungsimperative suggerieren, die außerhalb der demokratischen politischen Entscheidung liegen.272 Im politischen Diskurs legt die Rede vom Sachzwang „eine bestimmte Form der Krisenlösung“ nahe, die als alternativlos erscheinen soll (Vobruba 1983b: 34). Die Systemzwänge werden dadurch vorgreifend erschaffen. Denn wären die konstruierten Sachzwänge tatsächlich welche, „müsste von ihnen nicht die Rede sein“ (ebd.: 35). Eine weitere Methode der Depolitisierung ist die Informalisierung von Politik. Durch die Ausgründung von Kommissionen, in der Wissenschaftler und Praktiker Lösungen entwerfen sollen, wird der Entscheidungsraum verändert. Man kann die Vorschläge der Kommissionen zwar ablehnen, aber schließlich hat die Politik ja die Wissenschaftler und Bürger selbst in die Kommission berufen 272
Die Entlassung der Bank of England in die Unabhängigkeit ist ein Beispiel für die Externalisierung der Verantwortung (vgl. Watson/Hay 2003: 299).
274
und so dafür gesorgt, dass am Ende das Ergebnis nicht entgegen den eigenen Vorstellungen ausfällt. Man verspricht sich davon Legitimation, weil eine Kommission objektiv und neutral sein soll. De facto werden die Souveränität und Kontingenz des politischen Prozesses durch die Informalisierung der Politik ausgehebelt. Durch den sozialpolitischen Umbaukonsens der großen Parteien wurde in der Mitte des Parteiensystems ein zentrales Merkmal der Demokratie ausgehebelt: die Wahl zwischen klar unterscheidbaren Alternativen, zwischen Opposition und Regierung. Die „Postdemokratie“ (Crouch 2004) zeichnet sich nicht durch die Abschaffung der allgemeinen und freien Wahlen aus, aber die Repräsentationsbalance der gesellschaftlichen Interessen hat sich verändert. Man kann mit der Abgabe seiner Stimme nicht mehr für den Ausbau des Wohlfahrtsstaats stimmen. An die Stelle der parlamentarischen Repräsentation der Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung tritt die „Präsentation von exekutiver und unternehmerisch bereits vorentschiedener Politik“ (Lessenich/Nullmeier 2006a: 24). Mit dem Sozialstaat konnten Kapitalismus und Demokratie friedlich koexistieren. Nun unterminiert die steigende Ungleichheit die Demokratie. Die „globale Klasse verteidigt ihre eigene Freiheit eifersüchtig“ (Dahrendorf 2000: 263), während die demokratischen Partizipationschancen durch die wachsende Ungleichheit eingeschränkt werden. Zur Postdemokratie gehört auch die Verneinung von grundlegenden Antagonismen in der Gesellschaft (Mouffe 2007). Dies steckt schon im Konzept der Volkspartei, die ja eine klassenübergreifende Politik mit einem klassenübergreifenden Diskurs verbindet. Die Verschiebung des Subjekts von der Arbeiterschaft zum Volk wurde mit der Marktsozialdemokratie auf die Spitze getrieben. Die Konzeption der kompetitiven Solidarität geht davon aus, dass Unternehmer und Beschäftigte gemeinsam den gemeinsamen Standort wettbewerbsfähig machen sollen (vgl. Streeck 2000; kritisch: Lessenich 2006). Es gibt keinen vertikalen Antagonismus mehr in der Konzeption der Marktsozialdemokratie, sondern eine Wettbewerbspartnerschaft, die den Antagonismus auf andere globale Standorte horizontal externalisiert. Die Kluft zwischen den Eliten und der Mehrheit der Bevölkerung könnte kaum größer sein (vgl. Walter 2006a: 220). Die Legitimationsprobleme der Parteien und des Staats, die wechselseitige Distanz von Eliten und Bürgern führt zu einer brisanten Situation. Denn die sozialdemokratischen Parteien sind mehr und mehr zu Staatsakteuren geworden, sie artikulieren weniger gesellschaftliche Interessen, sondern sie inkorporieren das „Interesse des Staats an sich selbst“ (Offe 1975). Sie regieren, aber repräsentieren nicht mehr – sie gehören zur „go275
verning class“ (Mair 2006). Dies öffnet den politischen Raum für populistische Bewegungen, die die Opposition von außen an das politische System herantragen. 8.4 Hat die Marktsozialdemokratie eine Zukunft? Im politischen Paradigma der Sozialdemokratie hat die Arbeit einen Gestaltenwandel erfahren. Die frühe Sozialdemokratie wollte die Lohnarbeit abschaffen, die reformerische, keynesianische Sozialdemokratie wollte die Lohnarbeit in Form des fordistischen Normalarbeitsverhältnisses universalisieren. Statt um Entfremdung ging es um Mitbestimmung, statt um Mehrwert und Ausbeutung um Verteilungsgerechtigkeit. Auch die Marktsozialdemokratie geht davon aus, dass die Integration in die Erwerbsarbeit der Königsweg zu sozialer Gerechtigkeit ist. Aber ist dem noch so? Die Integration durch Arbeit findet zunehmend durch Leiharbeit, prekäre und befristete Beschäftigungsverhältnisse sowie unter Inkaufnahme unsicherer und ungeschützter Lebenslagen statt. Wie Bertold Vogel schreibt, hat sich Erwerbsarbeit „für immer mehr Menschen zum prekären Ort der sozialen Vorläufigkeit und Widerruflichkeit entwickelt. Die Teilhabe an der Erwerbsarbeit wird vom Sicherheitsgaranten zum Unsicherheitsgenerator“ (Vogel 2007: 83).
Man muss sich nichts vormachen: Die Zeit des allgemeinen gesellschaftlichen Aufstiegs, der kollektiven Rolltreppe nach oben, der Zunahme sozialer Sicherheit ist – möglicherweise unwiderruflich – vorbei. Die Gesellschaft befindet sich inmitten einer Periode der sozialen Verwundbarkeit, der stärkeren Abwärts- und schwächeren Aufwärtsmobilität, des Status- und Sicherheitsverlusts, der kompetitiven Spaltungen, der Prekarität und Exklusion (vgl. Kronauer 2002; Vogel 2007; Dörre 2005b; Lessenich/Nullmeier 2006b; Castel 2005). Die Legitimationsprobleme der Marktsozialdemokratie sind verwoben mit einer neuen Konstellation im Kapitalismus: „Der entfesselte, neoliberalisierte, globalisierte, die Gesellschaft polarisierende Kapitalismus […] setzt die alte soziale Frage, nämlich die nach der Klassengesellschaft und nach sozialer Gerechtigkeit, wieder auf die Tagesordnung“ (Lösche 2003: 215).
In ihrer Glanzzeit konnte die Sozialdemokratie soziale Sicherheit für viele ermöglichen, jetzt wird die Gruppe der Entsicherten immer größer und es wird 276
immer schwieriger, den „prekären Wohlstand“ (vgl. Vogel 2007, 2004) der Facharbeiter und Mittelschichten so zu sichern, dass sie den Risiken des Marktes standhalten. Für die Mehrheit muss man den Abstieg moderieren, muss man die Zerfaserung eingrenzen; statt der Stauchung der Ungleichheit steht nun die Polsterung des Aufpralls und Reduzierung der Fallhöhe auf dem Programm. Auch wenn es nicht zu Klassenformierungen im klassischen Sinne gegenwärtig kommt, die Ungleichheitsmerkmale der Gesellschaft kehren in das politische Feld zurück: „Polarisierung ist [..] der Begriff, mit dem man in den nächsten Jahren, wahrscheinlich Jahrzehnten die postindustrielle Gesellschaft beschreiben wird“ (Walter 2006a: 240).
Das ist das Kernproblem: Die Marktsozialdemokratie vermag nicht, mit ihren Policies die „neue soziale Frage“ einzuhegen. Im Gegenteil, sie beschleunigt ihre Bedeutung. Insgesamt verschiebt man im Konflikt zwischen Arbeit und Kapital das Kräftegleichgewicht in Richtung Kapital und verbreitert gleichzeitig die Grundlage der „Teilhabe“ an und in diesem Konflikt. Dadurch gewinnt der klassische Cleavage Arbeit/Kapital (Lipset/Rokkan 1967) wieder an Gewicht273 – mit dem Unterschied, dass er von den marktsozialdemokratischen Parteien nicht mehr klassisch artikuliert wird. Das ist der Stachel, der die Legitimationsprobleme der Marktsozialdemokratie unter aller Voraussicht in den kommenden Jahren sogar noch verstärken wird – falls sie nicht umsteuert. Wie dies aussehen könnte, ist nicht klar. Ein neuer Reformismus ist nicht in Sicht. Alex Callinicos geht in seinem Buch Equality (2000) davon aus, dass die Verwirklichung wirklicher Chancengleichheit heute nur noch durch Veränderung jener Strukturen erreicht werden kann, die die Ungleichheit hervorbringen. Dazu gehört auch, die produktiven Ressourcen der Gesellschaft von der Minderheit, die sie de facto kontrolliert, wieder unter die demokratische Kontrolle der Mehrheit zu bringen (vgl. ebd.: 119). Diese tatsächliche Politik gegen die Märkte würde allerdings einen drastischen Konflikt mit dem Unternehmerlager und für die Führung der Labour Party und der SPD eine Rückkehr sogar noch vor die keynesianische Sozialdemokratie bedeuten. Es ist nicht absehbar, dass die Führer der gegenwärtigen Sozialdemokratie solch eine Wendung noch einmal vollziehen könnten. 273 Wie Kitschelt selbst festgestellt hat, können ökonomische Entwicklungen die Bedeutung der Verteilungsachse gegenüber der Bedeutung der Konfliktachse libertärer/autoritärer Politik wieder erhöhen (Kitschelt 1994: 27).
277
Ist das Zeitalter der Sozialdemokratie vielleicht doch zu Ende? Hat Ralf Dahrendorf langfristig Recht behalten und die Nemesis ist unausweichlich? Die Legitimationsprobleme der Marktsozialdemokratie zeigen die tiefgreifende Krise, die Entfremdung der Sozialdemokratie von ihren Wurzeln, aber man hat schon oft genug die Erneuerungs-, Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit sozialdemokratischer Parteien unterschätzt. Freilich haben sich die SPD und die Labour Party weiter denn je, aber bei weitem nicht zur Gänze von ihrer Anhängerschaft verabschiedet. Die SPD hat „die historischen Voraussetzungen und die historische Zielsetzung – die Emanzipation der unteren Schichten“ – aufgegeben (Walter 2004: 9). Gleiches könnte man auch über New Labour sagen. Dennoch wird auch die Marktsozialdemokratie sich nicht vollständig von den unteren Schichten verabschieden. Es geht vielleicht nicht mehr um die allgemeine Emanzipation, auch nicht um eine Gesellschaft der Gleichen und Freien, dennoch macht man weiterhin Angebote an die geringqualifizierten Arbeiter, die Leiharbeiter, die Prekarisierten und Arbeitslosen. Diese Angebote sind gepaart mit stahlharter Zuneigung, mit dem Zwang zur Eigenverantwortung, sollen aber ein soziales Minimum garantieren. Die Marktsozialdemokratie hat eher eine Zukunft bei den Starken. Denn der sozialinvestive Sozialstaat ist stark für die Starken, für alle, die es sich leisten können. Die „Vermarktlichung“ der Sozialpolitik rechnet sich für die Bürger mit gutem und sicherem Einkommen. Bei den Qualifizierten, den ohnehin eigenverantwortlichen, den individualistischen und leistungsorientierten Facharbeitern und Angestellten kann man mit der vermarktlichten sozialen Sicherheit wahrscheinlich sogar punkten. Aber für Arbeitslose und die zunehmend große Zahl von Beschäftigten, deren Reallöhne in den letzten Jahren tendenziell gesunken sind, ist die Option privater Vorsorge durch den kleineren Geldbeutel eingeschränkt. Man wird eine Volkspartei bleiben, aber der Charakter wird sich verändern. In den goldenen Jahren der Sozialdemokratie war man eine Arbeiterpartei, die sich gegenüber den Mittelschichten geöffnet hat. Jetzt ist man eine Volkspartei mit Residuen einer Arbeiterpartei, die immer noch von der Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter gewählt wird.274 Die Anhänger der Sozialdemokratie waren bereit, kurzfristig Entbehrungen auf sich zu nehmen, solange die großen Ziele existierten (vgl. Borchert 1996: 72; Vobruba 1991: 9–24). Aber große Ziele gibt es nicht mehr in der Marktsozialdemokratie.
274
Zum Abschied der SPD von der Volkspartei vgl. Walter (2006b: 241–51).
278
Heute ist die Sozialdemokratie nur noch eine elektorale Volkspartei, weil sie von fast allen Bevölkerungsgruppen gewählt wird. Aber man ist eine Volkspartei ohne Rumpf:275 Die Verankerung in der Lebenswelt, in den Vereinen und Gemeinden ist geschrumpft bis auf eine Kernbelegschaft sozialdemokratischer Aktivisten, die ihrer Partei die Treue halten. Die gesellschaftlichen Machtressourcen sind auf zweifache Weise ausgedünnt. Zum einen ist die eben genannte Verankerung in den Milieus nicht mehr gegeben, zum anderen hat man sich auch von den Gewerkschaften abgekoppelt, die in der Vergangenheit oftmals bedingungslose Loyalität und Unterstützung ist nicht mehr gegeben. Kurzum: Das sozialdemokratische Zeitalter – die Periode der sozialen Sicherheit im Industriekapitalismus – ist in der Tat zu Ende. Gleichwohl: Die Marktsozialdemokratie bedeutet nicht das Ende der sozialdemokratischen Parteien, sondern die produktivistische Transformation der Sozialdemokratie wie man sie kannte. Die Geschichte der Marktgesellschaft war bislang ein Ringen um die Eingrenzung des Marktes. Auf Perioden der Entbettung des Marktes folgten Phasen der Eingrenzung (Polanyi 1995). Wir befinden uns am Ende einer langen Periode der Entgrenzung des Kapitalismus. Das Bedürfnis der Bürger nach sozialer Sicherheit ist nur eine stumme Wucht, wenn sie nicht artikuliert wird. Langfristig führt die Wucht zu Ermüdungsbrüchen im Zeitgeist und schafft den Raum für eine neue Artikulation des Sozialen, Raum für eine soziale Demokratie. Die Zukunft ist offen.
275
In der Politikwissenschaft wird schon etwas länger darüber diskutiert, was „nach der Volkspartei“ kommt (vgl. Beyme 2000; Katz/Mair 1995; Detterbeck 2005; Jun 2004).
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