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Makroökonomik Vorlesung in Volkswirtschaftslehre 9. Auflage
Johann Graf Lambsdorff Marcus Giamattei
c 2023 Johann Graf Lambsdorff & Marcus Giamattei Copyright Universität Passau, Innstraße 27, 94032 Passau. E IGENVERLAG WWW. WIWI . UNI - PASSAU . DE / WIRTSCHAFTSTHEORIE
Als Cover des Buches wurde das Gemälde „Der Kampf zwischen Karneval und Fasten“ von Pieter Bruegel dem Älteren aus dem Jahre 1559 gewählt, das im Kunsthistorischen Museum in Wien hängt. Die Vorlage wurde von Wikimedia Commons bezogen (Creative Commons Lizenz CC-BY-SA 3.0). Als LATEX Vorlage für das Buch wurden einzelne graphische Elemente des Template Legrand Orange Book übernommen. Druck, März 2023
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Interaktive Materialien zur Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Symbolverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1
Was ist Makroökonomik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.1
Aggregate
15
1.2
Volkswirtschaftliche Interaktion
18
1.3
Entwicklung der Makroökonomik
20
1.4
Wettstreit der Lehrmeinungen
22
Das Kollektiv in der Volkswirtschaft
23
Das Individuum in der Volkswirtschaft
26
1.5
Schlüsselbegriffe im Kapitel
27
1.6
Ergänzende Literatur
28
1.7
Quiz
28
1.8
Übungsaufgaben
29
2
Inlandsprodukt und VGR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.1
Messung des Inlandsprodukts
31
2.2
Nominal und real
33
2.3
Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR)
35
2.4
Sparen und Investieren
38
2.5
Ersparnis und Investition im Kontenschema
41
classEx Spiel
43
2.6
Lebensstandard und -zufriedenheit
44
2.7
Ausblick
45
2.8
Schlüsselbegriffe im Kapitel
45
2.9
Ergänzende Literatur
46
2.10
Quiz
46
2.11
Übungsaufgaben
47
3
Produktion und Wachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
3.1
Unterschiede im Lebensstandard
51
3.2
Ursachen für Armut und Reichtum
52
3.3
Fallstudie China
54
3.4
Wachstumsmodell
55
Investitionsquote und Wachstum
55
3.5
Änderung der Spar- und Investitionsquote
61
3.6
Änderung des Bevölkerungswachstums
63
3.7
Änderung des technischen Fortschritts
64
3.8
Kritik des Wachstumsmodells
66
3.9
Schlüsselbegriffe im Kapitel
67
3.10
Ergänzende Literatur und Quellen im Web
67
3.11
Quiz
68
3.12
Übungsaufgaben
69
4
Konjunktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
4.1
Wachstum und Konjunktur
73
4.2
Nachfrage und Interaktion
77
4.3
Konsum der privaten Haushalte
78
4.4
Keynesianische Konsumfunktion
80
Konsum und Einkommen
80
4.5
Einfaches Gütermarktmodell
82
4.6
Störungen des Gleichgewichts
84
4.7
Dynamische Anpassung
85
Konsumspiel
86
4.8
Ersparnis und Investition
88
4.9
Sparparadoxon
89
4.10
Schlüsselbegriffe im Kapitel
91
4.11
Quiz
91
4.12
Ergänzende Literatur und Quellen im Web
92
4.13
Übungsaufgaben
93
5
Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
5.1
Staat und VGR
5.2
Nettoinlandsprodukt zu Marktpreisen
102
5.3
Gütermarktmodell mit Staat
103
5.4
Verschuldung und Konjunktur
107
Ricardianische Äquivalenz
97
107
5.5
Schuldenstandsquote
109
5.6
Grenzen der Verschuldung
111
5.7
Schlüsselbegriffe im Kapitel
113
5.8
Quiz
113
5.9
Ergänzende Literatur und Quellen im Web
114
5.10
Übungsaufgaben
115
6
Geld und Zinsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
6.1
Besonderheit des Geldes
119
6.2
Zins und Zinsfuß
121
6.3
Geldnachfrage
122
6.4
Geldnachfragekurve
124
6.5
Fallstudie Goldstandard und Monetarismus
126
6.6
Moderne Geldpolitik
128
6.7
Geschäftsbanken
131
6.8
Direkte Ankäufe und Kredite der EZB
132
6.9
Transmission des Zentralbankzinssatzes
133
6.10
Nullzinsgrenze
136
6.11
Schlüsselbegriffe im Kapitel
137
6.12
Quiz
137
6.13
Ergänzende Literatur und Quellen im Web
138
6.14
Übungsaufgaben
139
7
Inflation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
7.1
Lebenshaltungskosten
143
7.2
Negative Auswirkungen der Inflation
146
7.3
Positive Auswirkungen der Inflation
148
7.4
Ein veraltetes Modell
149
7.5
Träge Preisanpassung
151
Preisspiel
152
7.6
Löhne und Arbeit
155
7.7
Inflation und Produktionslücke
156
7.8
Inflation und die mikrofundierte Makroökonomik
158
7.9
Inflation aus Sicht der Makroökonomik als engineering
159
7.10
Schlüsselbegriffe im Kapitel
161
7.11
Quiz
162
7.12
Ergänzende Literatur
163
7.13
Übungsaufgaben
163
8
Investition und Zins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
8.1
Schwankende Investitionen
167
8.2
Realzins
168
8.3
Einzelwirtschaftliche Investitionsentscheidung
168
8.4
Investition und Zins
171
8.5
Zins und gesamtwirtschaftliche Nachfrage
173
8.6
Multiple Gleichgewichte
176
Koordinierte Investition
176
Schönheitswettbewerb
178
8.7
Investitionspolitik
180
8.8
Schlüsselbegriffe im Kapitel
181
8.9
Quiz
181
8.10
Ergänzende Literatur und Quellen im Web
182
8.11
Übungsaufgaben
183
9
Zins und Gütermarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
9.1
Bestimmung des Zinssatzes Mitglied im Zentralbankrat
9.2
Taylor-Regel
187 188
189
9.3
Gütermarktgleichgewicht mit Taylor-Regel
192
9.4
Expansive Fiskalpolitik
193
9.5
Restriktive Geldpolitik
194
9.6
Nullzinsgrenze und Geldpolitik
196
9.7
Fallstudie Eurozone
197
9.8
Bedeutung der Taylor-Regel
200
9.9
Schlüsselbegriffe im Kapitel
201
9.10
Quiz
201
9.11
Ergänzende Literatur
202
9.12
Übungsaufgaben
203
10
Makroökonomisches Konsensmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
10.1
Inflation und gesamtwirtschaftliche Nachfrage
205
10.2
Potentielles Inlandsprodukt und Inflation
207
Die Zentralbank im Konsensmodell
209
10.3
Erhöhung der Ertragserwartungen
210
10.4
Restriktive Geldpolitik mit Inflation
212
10.5
Exogene Erhöhung der Inflation
213
10.6
Senkung des potentiellen Inlandsprodukts
214
10.7
Die Lucas-Kritik
215
10.8
Deflation und Liquiditätsfalle
217
10.9
Fallstudie Große Depression
218
10.10 Vorteile einer moderaten Inflation
220
10.11 Schlüsselbegriffe im Kapitel
222
10.12 Quiz
222
10.13 Ergänzende Literatur und Quellen im Web
223
10.14 Übungsaufgaben
224
Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Bildquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
11
Vorwort Dieses Buch umfasst die Inhalte der Bachelor-Vorlesung Makroökonomik. Es enthält in knapper und kompakter Form die wichtigsten Modelle, aktuelle Daten, anschauliche Grafiken, Buchungsvorgänge der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und illustrierende Hintergründe, mit denen ein Verständnis des Stoffes ermöglicht wird. Ereignisse der letzten Jahre wie die Euro-, Finanzund Covid-19-Krise sowie regionale Besonderheiten und wirtschaftshistorische Fallstudien fließen gleichermaßen in die Ausführungen ein und veranschaulichen die Brauchbarkeit der verwendeten Modelle. Aktuelle Kontroversen werden mithilfe eines einheitlichen Modellrahmens dargelegt, der nicht nur für Verständlichkeit sorgt, sondern auch einen Ausblick auf die neuesten Forschungsergebnisse bietet. Zudem nutzt die Vorlesung innovative interaktive Lehrmethoden, die durch die Verwendung von classEx eine neuartige Lernumgebung schaffen. Hierbei können auch verhaltensorientierte und experimentelle Erkenntnisse spontan in die Vorlesung integriert und mit Hilfe geeigneter Aufgaben die Schreib- und Argumentationskompetenz mit DeepWrite eingeübt werden. In der 7. Auflage wurde das Buch vollständig überarbeitet und dies in der 8. und 9. Auflage konsequent fortgesetzt. Die Ausführungen zur Staatsverschuldung wurden vertieft. classEx-Spiele zu Wachstum, zur Phillips-Kurve sowie zwei weitere zum Verhalten der Zentralbank wurden integriert. Für die Entwicklung und Erstellung des Manuskripts danken wir den vielen Studierenden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Tutorinnen und Tutoren, die über die Jahre beigetragen haben, insbesondere Susanna Grundmann, Stephan Geschwind und Florian Kammermeier.
Passau im März 2023
Prof. Dr. Johann Graf Lambsdorff Prof. Dr. Marcus Giamattei
12
Interaktive Materialien zur Vorlesung QR-Codes und Quellen im Web Am Ende vieler Kapitel finden sich Links zu Quellen und kurzen Videos im Web, die Sie durch Scannen des QR-Codes erreichen.
classEx - Interaktive Hörsaalexperimente classEx ist eine interaktive Onlineplattform zur Durchführung von Experimenten und Umfragen im Hörsaal. Studierende melden sich mit ihrem mobilen Endgerät (Smartphone oder Notebook) an und können interaktiv an der Vorlesung teilnehmen. Die Ergebnisse werden sofort auf dem Präsentationsbildschirm des Dozierenden mit konkreten Grafiken angezeigt. Weitere allgemeine Information zu classEx finden sich unter http://classEx.de. Login. Mit diesem Link können Sie sich direkt einloggen, um an interaktiven Experimenten und Umfragen teilzunehmen. Sie können sich auch einloggen, indem Sie auf classEx.uni-passau.de gehen und dort „Universität Passau“ und „Makroökonomik“ auswählen. Das Passwort für Teilnehmerinnen und Teilnehmer lautet "keynes". Die Teilnahme ist nur während der Vorlesung Makroökonomik an der Universität Passau möglich.
Der ökonomische Pfadfinder
Aktuelle Fragestellungen der Makroökonomik werden auf dem Youtube-Kanal „Der ökonomische Pfadfinder“ behandelt.
13
Makroökonomischer Roman zur Vorlesung
Ein Wirtschaftskrimi von Johann Graf Lambsdorff und Björn Frank „Man kann doch für eine Idee nicht umgebracht werden.“ „Für was denn sonst? Seit Jahrhunderten wurden Menschen genau dafür ermordet.“
Als Lester Sternberg eines Morgens in die Arbeit kommt, ist nichts mehr so, wie es einmal war. Denn er steht unter dringendem Tatverdacht seinen Chef, Professor van Slyke, ermordet zu haben. Um seine Unschuld zu beweisen sucht er auf eigene Faust nach dem wahren Täter. Hilfe erhält er von der Studentin Milena – und die kann er sehr gut gebrauchen, denn der Mörder seines Doktorvaters ist nun hinter ihm her. Ist der Grund seine wissenschaftliche Arbeit über die Kritik am Bankensystem? Aber wer würde deshalb töten? Eine rasante Verfolgungsjagd durch Europa beginnt, bei der einige Banken und ein internationales Forschungsinstitut verwickelt sind. Licht ins Dunkle könnten dabei bekannte Ökonomen bringen. Die sind längst verstorben, aber ihre Ideen sind wichtiger als je zuvor!
14
Symbolverzeichnis a A BD γ C c δ D E F G H i I Ib K k λI
autonomer Konsum Produktionstechnologie Budgetdefizit Koeff. Produktionslücke Konsum d. Haushalte marginale Konsumquote Abschreibungsrate Abschreibungen Ertragserwartungen Faktoreinkommen Staatskonsum Humankapital nominaler Zinssatz Nettoinvestitionen Bruttoinvestitionen Kapitalstock Pro-Kopf-Kapital Inflationsabneigung der Zentralbank
λP Produktionspräferenz der Zentralbank L Geldnachfrage N Arbeitseinsatz n Bevölkerungswachstum p individueller Preis P Verbraucherpreisindex π Inflationsrate q Zinscoupon ρ interner Zinsfuß einer Investition r realer Zinssatz r′ Ausrichtung der Zentralbankpolitik RP Risikoprämie S Ersparnis s marginale Sparquote t Periode τ Steuersatz
T Td Ti U V Y Yb yb Y¯ Yv Ye ϕ ω Z
Steuern direkte Steuern u.Soz. indirekte Steuern Anleihekurs Vorleistungen Nettoinlandsprodukt Bruttoinlandsprodukt Bruttoinlandsprodukt pro Kopf potentielles Inlandsprodukt verfügbares Einkommen Produktionslücke Zinsreagibilität Nachfrage Nachfragewirkung Impulse Transferzahlungen des Staates
Bei dynamischen Anpassungsprozessen wird die Ausgangslage mit Periode 0 gekennzeichnet und das endgültige Gleichgewicht mit ∞. Störungen finden in Periode 1 statt. Ableitungen und totale Differenziale sind mit d gekennzeichnet. x˙ bezeichnet die Ableitung nach der Zeit x˙ ≡
dx . dt
1. Was ist Makroökonomik?
1.1
Aggregate
Die Makroökonomik ist ein Teil der Volkswirtschaftslehre und blickt aus einer Vogelperspektive auf ökonomische Zusammenhänge. Im Zentrum stehen nicht einzelne Akteure, also nicht etwa einzelne private Haushalte oder Unternehmen. Auch Transaktionen mit einzelnen Gütern oder auf ausgesuchten Märkten sind nicht von primärem Interesse. Vielmehr werden Aggregate betrachtet, also Messgrößen, die viele Akteure und Transaktionen akkumulieren und größere wirtschaftliche Zusammenhänge erfassen. Zu den Gruppen von Akteuren gehören beispielsweise Sektoren, die aus vielen Haushalten und Unternehmen bestehen. Sie werden in der Regel über geografische Gebiete, z.B. Regionen, Länder, Kontinente oder die gesamte Erde aggregiert. Ebenso werden Aggregate von vielen Transaktionen auf verschiedenen Märkte gemessen, auf denen ähnliche Produkte oder Dienstleistungen gehandelt werden. Typische solche Aggregate, die wir in der Folge kennenlernen werden, sind das Inlandsprodukt oder die Inflationsrate einer Volkswirtschaft.
16
Kapitel 1. Was ist Makroökonomik?
Vereinigte Staaten von Amerika 2022 Inlandsprodukt Bevölkerung Pro-Kopf-Inlandsprodukt Preis Menü Wechselkurs
25.460 Mrd.US$ 333 Mio. 76.500 US$ 35 US$ 1,05 US$ / e
Abbildung 1.1: Länderbeispiel Vereinigte Staaten von Amerika Betrachten wir im Folgenden beispielsweise die USA in Abbildung 1.1. Das Inlandsprodukt ist eine Größe, die die gesamte Produktion und das gesamte Einkommen in den USA indiziert und die wir im nächsten Kapitel noch genauer definieren werden. Es beläuft sich auf 25.460 Mrd.US$. Aber was wollen wir mit einer solchen Angabe anfangen? Es ist zunächst zu vermuten, dass das Inlandsprodukt umso größer ausfällt, je mehr Menschen in einem Land leben. Daher können wir das Inlandsprodukt bereinigen und es pro Kopf ausweisen. Bei einer Bevölkerung von 333 Mio. ergibt sich ein Pro-Kopf-Inlandsprodukt von ungefähr 76.500 US$ pro Kopf. 25.460 Mrd.US$ US$ ≈ 76.500 333 Mio.Menschen Kopf
(1.1)
Dies entspricht der durchschnittlichen Produktion und dem Einkommen einer Person in den USA. Aber diese Größenangabe ist immer noch nicht besonders aussagekräftig. Ist dies viel oder wenig? Was bedeutet es für den Lebensstandard? Kann sich eine durchschnittliche Person damit viele oder nur wenige Güter kaufen? Um diese Frage zu beantworten benötigen wir ein Preisniveau. Beispielhaft können wir den Preis eines 3-Gänge Menüs für eine Person in einem Restaurant mittlerer Qualität verwenden. Dieses Produkt eignet sich gut für einen Vergleich, da es den Lebensstandard erfasst, viele Waren und Dienstleistungen benötigt und weltweit angeboten und nachgefragt wird. Dividieren wir das Pro-Kopf-Inlandsprodukt durch diesen Preis, erhalten wir
1.1 Aggregate
17
eine Angabe, wie viele Menüs ein durchschnittlicher Amerikaner im Jahre 2022 produzieren und konsumieren konnte, sofern die Produktion nur aus diesem Produkt bestehen würde. US$ Menüs Kopf ≈ 2.200 US$ Kopf 35 Menü
76.500
(1.2)
Dies ist eine beachtlich große Zahl. Dies wird auch deutlich bei einem Vergleich mit Daten aus Deutschland in Abbildung 1.2. Für Deutschland sehen wir, dass das Inlandsprodukt im Jahre 2022 einen Wert von 3.867 Mrd.e hatte. Bei einer Bevölkerung von 84,2 Mio. entspricht dies einem Pro-Kopf-Inlandsprodukt von circa 48.100 e. Was kann uns dieser Wert diesmal sagen? Wir
Bundesrepublik Deutschland 2022 Inlandsprodukt Bevölkerung Pro-Kopf-Inlandsprodukt Preis Menü
3.867 Mrd.e 84,2 Mio. 48.100 e 27 e
Abbildung 1.2: Länderbeispiel Bundesrepublik Deutschland können erneut ein einzelnes Produkt heranziehen, das Restaurantmenü, das in Deutschland 27 e kostet. Damit können wir die Frage beantworten, wie viele Menüs ein durchschnittlicher Deutscher produzieren und konsumieren würde. e Menüs Kopf ≈ 1740 e Kopf 27 Menü
48.100
(1.3)
18
Kapitel 1. Was ist Makroökonomik?
Damit können wir schlussfolgern, dass vermutlich insgesamt der Lebensstandard in Deutschland etwas niedriger ist als in den USA. Eine solche Schlussfolgerung kann auch aus einem anderen Vergleich gezogen werden. Wir können den Wechselkurs verwenden. Dieser betrug im Jahre 2022 durchschnittlich 1,05US$/e. Dividieren wir das Pro-Kopf-Inlandsprodukt in den USA hierdurch, so erhalten wir US$ 76.500 e Kopf ≈ 72, 800 (1.4) US$ Kopf 1, 05 e Auch bei diesem Vergleich sehen wir also, dass das Pro-Kopf-Inlandsprodukt in Deutschland etwas geringer ist als in den USA.
1.2
Volkswirtschaftliche Interaktion
In der Makroökonomik geht es einerseits darum, diese Aggregate zu messen und zwischen Ländern und Zeiten vergleichbar zu machen. Aber viel wichtiger ist es, die hinter den Aggregaten bestehenden Zusammenhänge zu verstehen. Sofern das Inlandsprodukt stark gesunken und gegenwärtig auf einem niedrigen Niveau ist, welche Auswirkung hat dies auf die Inflationsrate und das Budgetdefizit des Staates? Sofern die Inflationsrate hoch ist, wie wirkt dies auf die Zinsen? Zum Verstehen makroökonomischer Aggregate und Zusammenhänge ist es wichtig, die zentralen Akteure zu identifizieren. Dies sind nicht einzelne Personen, Gruppen oder Unternehmen. Vielmehr werden Personen und Unternehmen in größere Einheiten nach makroökonomischen Funktionen zusammengefasst. Für eine Zusammenfassung müssen sie erkennbare Ähnlichkeiten aufweisen und identische Aufgaben wahrnehmen. So lassen sich unter den Akteuren die privaten Haushalte identifizieren, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie arbeiten, hiermit Einkommen erzielen, für Konsumzwecke verwenden und den Rest sparen. Unternehmer nennen wir alle, die Güter und Dienstleistungen produzieren und aus den privaten Haushalten Arbeitskräfte für die Produktion einsetzen. Investoren sind diejenigen, die Ersparnisse aufnehmen und damit den physischen Kapitalstock der Volkswirtschaft, also beispielsweise den Bestand an Maschinen und Bauten, erhöhen. Dabei können Einzelpersonen auch die Rollen mehrerer Akteure gleichzeitig übernehmen, zum Beispiel als Unternehmer und als Investor. Wir sehen hier erneut den Blick aus der Vogelperspektive, wie in Abbildung 1.3. Wie bei einer Landkarte werden Akteure (Häuser und Betriebe) und Aggregate (Verbindungslinien) zwischen diesen eingezeichnet.
1.2 Volkswirtschaftliche Interaktion
19
Abbildung 1.3: Eine Volkswirtschaft als Landkarte
Makroökonomik wird zum einen aus einem reinen Erkenntnisinteresse betrieben. Wie können wir die größeren wirtschaftlichen Zusammenhänge begreifen? Die Welt um uns herum zu begreifen ist an sich faszinierend, auch wenn diese Erkenntnis keinen praktischen Nutzen mit sich bringt. So können wir uns für die astronomische Erforschung schwarzer Löcher begeistern, auch wenn dies vermutlich niemals von praktischer Relevanz sein wird. Ähnlich können wir erkennen wollen, wie menschlicher Austausch und Koordination in großen geografischen Gebieten funktioniert. Solche Erkenntnisse sind aber auch von großem praktischem Nutzen. So können sie wichtig sein für die wirtschaftspolitische Beratung. Sollte die Bundesregierung ihre Ausgaben erhöhen? Sollte die Zentralbank die Zinsen senken? Solche Fragen lassen sich nur beantworten, wenn die makroökonomischen Zusammenhänge vorher bekannt sind, damit die weitreichenden Auswirkungen einer wirtschaftspolitischen Maßnahme verstanden werden. Daneben ist die Makroökonomik auch für betriebliche und private Entscheidungen wichtig, denn sie liefert die Grundlage für die Erstellung von Prognosen für wichtige Daten des sozialen Umfelds. Welchen Preis sollte man angesichts von Angebot, Nachfrage und Inflationsrate für ein hergestelltes Produkt verlangen? Wie sollte man heute sein Unternehmen finanzieren in Anbetracht der zukünftigen Zinsentwicklung? Lohnt sich der Kauf von Staatsanleihen? Sollte man heute in Anbetracht zukünftiger Wachstumsraten des Inlandsprodukts Investitionen durchführen?
20
Kapitel 1. Was ist Makroökonomik?
Die Bedeutung der Makroökonomik wird nicht zuletzt durch die immensen Gewinne verdeutlicht, die durch makroökonomische Prognosen erzielt werden können. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist der ungarisch-amerikanische Anleger und Fondsmanager George Soros, der im Jahr 1992 auf eine Abwertung des britischen Pfunds gegenüber der Deutschen Mark wettete, , weil die hohen Zinsen Deutschlands Großbritannien in die Rezession geführt hatten. An einem Tag, bekannt geworden als Black Wednesday, verdiente er mehr als 1 Mrd.US$. Dies ist kein Einzelfall. Viele internationale global macro fonds sind heute darauf spezialisiert, mit makroökonomischen Analysen und Prognosen Gewinne zu erzielen. Die Frage, ob man diesen Spekulanten nacheifern oder ihnen Grenzen setzen sollte, wird kontrovers diskutiert. In jedem Fall zeigt sich die Bedeutung der Makroökonomik zur Vorhersage von makroökonomischen Trends und Entwicklungen.
1.3
Entwicklung der Makroökonomik
Für die letzten 170 Jahre zeigt sich ein deutlicher Anstieg des Inlandsprodukts pro Kopf, wie in Abbildung 1.4 dargestellt. So stieg das Inlandsprodukt in den USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien zwischen 1880 und 2020 um ein Vielfaches. Dies lässt sich weitgehend auf technischen Fortschritt zurückführen. Zentral hierfür sind einerseits Unternehmen, die Anreize haben zur Erforschung neuer Technologien und die Entwicklung neuer Produkte. Das Gewinnstreben dieser Unternehmen kann damit die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt steigern. Aus dieser Perspektive werden Eingriffe von Regierungen oftmals kritisch gesehen. Mit der Erhebung von Steuern und Auflagen für Unternehmen würden Staaten aus dieser Perspektive das Wachstum behindern. Diese makroökonomische Ausrichtung beinhaltete die Überzeugung, einzelne Akteure würden rational handeln und damit das kollektive Wohlergehen fördern, so lange sie vom Staat ungestört seien. Staatliche Eingriffe würden hingegen Anreize verzerren, knappe Ressourcen in unproduktive Verwendungen leiten und wirtschaftliche Schwankungen induzieren. Die Rolle des Staates sollte darauf reduziert werden, gute Bedingungen für die Privatwirtschaft zu schaffen, beispielsweise durch klare Regeln und Preisniveaustabilität. Als beispielsweise in den 1970er Jahren Inflationsraten hoch waren, entstand die Sorge, dass private Investitionen nicht verlässlich kalkuliert werden können und zurückgehen. In der Makroökonomik traten Fragen zur Herstellung von Preisniveaustabilität, also einer Inflationsrate nahe Null, in den Mittelpunkt. Dabei entwickelte sich eine makroökonomische Lehrmeinung, der sogenannte Monetarismus, bei dem die Rolle der Zentralbank bei der Herstellung von Preisniveaustabilität
1.3 Entwicklung der Makroökonomik
21
Abbildung 1.4: Langfristige Entwicklung des Pro-Kopf-Inlandsprodukts, internationale Preise von 2011
besonders herausgearbeitet wurde. Diese solle ihre Politik, so die Empfehlung, anhand einfacher Regeln festlegen, im Voraus kommunizieren und sich an die entsprechenden Vorgaben halten. Der Zusammenbruch vieler sozialistischer, planwirtschaftlicher organisierter Staaten 1989/90 und die hohen Wachstumsraten in Nordamerika in den 1990er Jahren schienen die bestehende makroökonomische Lehrmeinung zu bestätigen. Auch das beginnende Informationszeitalter brachte hohe Wachstumsraten mit sich. Roboter und Computer ermöglichten neue Produktionsprozesse, neue digitale Produkte entstanden, das Internet beförderte neue Produktions und Distributionsprozesse. In diesem Umfeld konnten insbesondere Unternehmen den technischen Fortschritt vorantreiben und staatliche Eingriffe erschienen störend. Drei Entwicklungen haben seitdem die bestehende makroökonomische Lehrmeinung herausgefordert. Zum einen hat weltweit der Anteil des Staates an der Gesamtwirtschaft zugenommen. So lag
22
Kapitel 1. Was ist Makroökonomik?
der Steuersatz Anfang des 20. Jahrhunderts noch bei 10% und liegt heute weltweit bei etwa 30%. Dieser Anstieg hat das Wachstum während der letzten 140 Jahre nicht gebremst. Zweitens zeigt Abbildung 1.4 auch die Entwicklung von Japan, Südkorea und China. In diesen Ländern ist die Rolle des Staates bei der Koordination und Durchführung von Investitionen stärker ausgeprägt als in Europa und in Nordamerika. Industrien und Banken werden stark reguliert. Private Investitionen werden gefördert, aber oftmals nur in enger Abstimmung mit der Regierung. Das niedrige Inlandsprodukt dieser drei Länder im Jahre 1950 legte noch nahe, dass mit dieser Form der Wirtschaftspolitik der technische Fortschritt behindert werde. In den letzten Jahrzehnten haben diese Länder aber deutlich aufgeholt. Die Fähigkeiten von Regierungen bei der Schaffung von technischem Fortschritt und Wohlstand erscheinen damit heute in einem anderen Licht. Drittens wurde die bestehende Makroökonomik durch die Finanzkrise 2008/09 herausgefordert. So erscheinen die vorhergehenden Jahre als irrationale Übertreibung. So waren insbesondere die Immobilienpreise in den USA bis 2007 zu hoch bewertet. So lange der Optimismus anhielt, blieb dies unerkannt. Mit einem Platzen der Immobilienblase in den USA begann ab 2007 eine schwere Rezession. In den darauffolgenden Jahren resultierten negative Wachstumsraten in den USA und in Europa. Nur durch ein massives Eingreifen der Staaten konnte ein weiteres Absinken der Produktion verhindert werden. Die moderne Makroökonomik hat dies nachhaltig beeinflusst und betont wieder stärker die Rolle von Regierungen bei der Stabilisierung der Wirtschaft. Seit der Finanzkrise 2008/09 hat sich eine Skepsis gegenüber der Rationalität einzelner Akteure und Märkte verbreitet. Damit wird insgesamt die Notwendigkeit der makroökonomischen Steuerung, der Keynesianismus, wieder weitgehend akzeptiert. Darunter versteht man das aktive Eingreifen des Staates in die Wirtschaft, insbesondere durch staatliche Ausgabenprogramme, Investitionsanreize oder ähnliche Maßnahmen, mit denen in der Rezession bei ausgeprägtem Pessimismus die Ausgaben angeregt und im Boom bei übertriebenem Optimismus gedämpft werden sollen. Dabei soll sich der Staat aus Sicht des Keynesianismus nicht Regeln unterwerfen, sondern ökonomische Probleme identifizieren und zügig dazu situationsadäquate Gegenmaßnahmen ergreifen.
1.4
Wettstreit der Lehrmeinungen
Im Rückblick auf die Entwicklung der Makroökonomik erkennen wir zwei Lehrmeinungen im Wettstreit. Diese unterscheiden sich primär in zwei Fragen: Erstens, wie rational sind einzelne Akteure
1.4 Wettstreit der Lehrmeinungen
23
oder wie stark werden stattdessen makroökonomische Aggregate von Stimmungen, Koordinationsund Prognosefehlern beeinflusst? Zweitens, wie gut tragen Märkte zur Koordination menschlicher Handlungen und Stabilität der wirtschaftlichen Entwicklung bei oder wie stark sollten stattdessen die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger (der Staat) in das Wirtschaftsgeschehen aktiv eingreifen? Eine Lehrmeinung sieht die Makroökonomik ähnlich wie eine Ingenieurswissenschaft (engineering). Das Motto einer solchen Lehrmeinung lässt sich am einfachsten beschreiben mit „Gut ist, was funktioniert.“ Der zufolge sollte der Ausgangspunkt der Makroökonomik die Interaktion von Individuen sein und nicht etwa eine Theorie über individuelles Verhalten. Ausgangspunkt sind Beobachtungen und Erfahrungen, die erst in der Folge zu einer Theorie ausgebaut werden. Ziel der Makroökonomik ist dabei, Politikempfehlungen zu generieren, die auf den beobachteten Regelmäßigkeiten aufbauen und eine Steuerung makroökonomischer Aggregate verbessern. Praktische Probleme sollen gelöst werden, um wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern darzulegen, welche Maßnahmen funktionieren und welche nicht. Irrationales Handeln von Akteuren ist dabei möglich. Die Makroökonomik ist primär eine empirische Wissenschaft, die ihre Schlussfolgerungen aus der Erhebung und Auswertung von Daten gewinnt und keine Mikrofundierung im Sinne einer auf rationalen Einzelentscheidungen aufbauende Theorie benötigt. Die Nobelpreisträger George A. Akerlof (*1940) und Robert J. Shiller (*1946) lassen sich dieser Richtung der Makroökonomik zuordnen. Hierzu passend schreibt der amerikanische Zentralbanker Alan Blinder (1987: 135): „Good science need not always be built up from solid microfoundations. Thermodynamics and chemistry, for example, have done pretty well without much micro theory. [...] And the microfoundations of medicine are often very poor; yet much of it works. Empirical regularities that are formulated and tested directly at the macro level do have a place in science“. Ähnlich ist in der Physik einerseits eine Fundierung mit Hilfe der Teilchenphysik geläufig. So wird die elektromagnetische Wechselwirkung mit einem Austausch von Photonen erklärt. Andererseits existieren Phänomene wie die Gravitation, die sich beharrlich einer Erklärung mit Hilfe von Einzelteilen widersetzen und sich stattdessen besser mit Zusammenhängen auf der Makroebene, insbesondere solche zwischen Raum und Zeit, erklären lassen.
24
Kapitel 1. Was ist Makroökonomik?
Das Kollektiv in der Volkswirtschaft Sie produzieren Konsumgüter für den eigenen Gebrauch. Die Anzahl an Arbeitsstunden pro Jahr wird durch die Variable e angegeben. Sie möchten genau so viel arbeiten, wie die durchschnittliche Person im Hörsaal. Hierzu wählen Sie eine Zahl zwischen 0 und 250. Aus allen im Hörsaal gewählten Zahlen wird der Durchschnitt gebildet. Derjenige Teilnehmer, der mit seiner Zahl diesem Durchschnitt am nächsten kommt, gewinnt 20 e (bei Gleichstand entscheidet das Los).
In diesem Spiel gibt es kein stabiles Gleichgewicht. Jeder Wert zwischen 0 und 250 kann als möglicher Durchschnitt resultieren und damit eine optimale Wahl für einen Teilnehmer sein. Sofern Erwartungen vorliegen, andere Teilnehmer würden eher hohe Werte bevorzugen, ist es vernünftig, ebenfalls einen solch hohen Wert zu wählen. Rechnet ein Teilnehmer eher damit, andere würden niedrige Werte auswählen, so wird er ebenfalls einen niedrigen Wert angeben. Dies hat zur Folge, dass der Durchschnitt nicht prognostiziert werden kann und die gewählten Werte für e eine hohe Varianz aufweisen. Eine eindeutige Lösung des Spiels lässt sich nicht mathematisch herleiten. Dies hat zur Folge, dass Teilnehmer intuitive Methoden zur Auswahl des Wertes verwenden. Wird das Spiel wiederholt und Rückmeldung zur ersten Durchführung gegeben, so können Teilnehmer den Durchschnitt zur Orientierung verwenden. Der Wert des ersten Spiels beeinflusst denjenigen des wiederholten Spiels. Der Durchschnitt bei einer Wiederholung liegt nahe am vorherigen Durchschnitt. Zudem ist die Varianz der gewählten Werte reduziert. Dies erscheint uns logisch, ist aber bei näherer Betrachtung dennoch überraschend. Warum dürfen wir nämlich erwarten, dass Teilnehmer bei einer Wiederholung einen ähnlichen Wert wählen? Wir finden dafür keinen überzeugenden Grund, keine Theorie und keine darauf aufbauenden mathematische Herleitung. Damit wird erkennbar, dass Spielverhalten und eventuell auch ökonomisches Verhalten in der Wirklichkeit von Erfahrungen und Stimmungen getrieben sein kann. Liegt beispielsweise eine optimistische Stimmung vor, bei der Teilnehmer einen hohen Arbeitseinsatz wählen, so wird dieses Verhalten persistent in den Folgerunden auftreten. Erwartungen erfüllen sich selbst. Pessimismus wirkt ansteckend in die andere Richtung. Nicht Rationalität, sondern Gewohnheiten bestimmen das Spielverhalten. Hat eine historische Entwicklung zu einem niedrigen Wert geführt, so haben sich Menschen daran gewöhnt und dieser niedrige Wert wird auch für die Zukunft erwartet. Historische Werte liefern den Orientierungspunkt
1.4 Wettstreit der Lehrmeinungen
25
für zukünftige Handlungen. Für die Prognose menschlichen Verhaltens benötigen wir dabei keine auf Rationalität und individuellen Präferenzen aufbauende Theorie. Verhalten wird nicht davon bestimmt, welche Präferenz ein Spieler selbst hegt, sondern davon, wie er in der Vergangenheit entschieden hat und welches Verhalten er von anderen aufgrund von Erfahrungen der Vergangenheit erwartet. Dieses Spiel impliziert eine mögliche Sichtweise auf die Makroökonomik. Menschliches Verhalten wird dabei nicht primär von individuellen Präferenzen einerseits und der Knappheit von Gütern und Produktionsmöglichkeiten andererseits geprägt, sondern durch die Interaktion mit anderen Menschen. Die sich dabei bildenden Erwartungen entwickeln ein Eigenleben. Die komplexe Interaktion bewirkt, dass Märkte versagen können, beispielsweise indem sie zu stark von Stimmungen und Gewohnheiten getrieben sind. Hieraus resultiert eine Legitimation für staatliche Eingriffe. Diese Sichtweise der Makroökonomik verweist auf die sogenannte fallacy of composition, also den Irrtum, aus der Summe einzelwirtschaftlicher Kalküle auf gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge zu schließen. Eine solche Schlussfolgerung funktioniert nur in besonderen Fällen. So könnten wir uns Produzenten im Spiel vorstellen, die die Produktionshöhe alleine von ihren individuellen Präferenzen abhängig machen. Diese wählen beispielsweise den Wert 100 oder 150, weil sie ihn für vernünftig oder erstrebenswert halten. Erwartungen bezüglich des Verhaltens anderer spielen dann keine Rolle. Das Inlandsprodukt der gesamten Volkswirtschaft ließe sich dann auf die Kalküle der einzelnen Produzenten zurückführen. Dies ist jedoch nicht möglich, wenn Beziehungen zwischen den einzelnen Produzenten zu berücksichtigten sind, wie in obigem classEx-Spiel. Produzenten, die von anderen eine geringe Produktion oder eine geringe Nachfrage erwarten, werden selbst nur wenig produzieren. Nicht ihr einzelwirtschaftliches Kalkül ist entscheidend, sondern ihre Interaktion mit anderen. Diese Lehrmeinung unterscheidet sich von einer mikrofundierten Makroökonomik. Dieser zufolge sollte Ausgangspunkt der Makroökonomik das rationale Individuum sein, dessen Verhalten aus Nutzenfunktionen und Produktionspotentialen hergeleitet und zu einem Gleichgewicht für die Gesamtwirtschaft aggregiert wird. Ohne ein solches mikrofundiertes Modell, so die Argumentation, lassen sich aus Daten keine für die Politik relevanten Entscheidungen herleiten. Um diese Logik zu verstehen, können wir uns beispielhaft der Frage widmen, ob die Sicherheitssysteme für Fort Knox eingespart werden könnten. Eine rein empirische Wissenschaft würde dies nahelegen, da dieses Lager für die Goldreserve der Vereinigten Staaten bisher noch nie überfallen wurde. Daher erscheinen die Ausgaben für die Systeme unnötig. Aber Überlegungen zu den Anreizen, denen Menschen ausgesetzt sind, legen eine andere Schlussfolgerung nahe. Denn offensichtlich wäre
26
Kapitel 1. Was ist Makroökonomik?
der Goldschatz ein lohnendes Ziel für einen Raubüberfall und nur durch die Sicherheitssysteme wird ein solcher verhindert. Die Empirie kann daher in die Irre führen und muss durch plausible Annahmen über menschliche Präferenzen und die Entscheidungen beschränkenden Restriktionen ergänzt werden. Makroökonomen sollten primär diese individuellen Anreize erforschen, um damit robuste analytische Instrumente für die Wirtschaftspolitik herzuleiten, so die Auffassung der mikrofundierten Makroökonomik. Da einzelne Wirtschaftssubjekte rational sind, besteht für wirtschaftspolitische Entscheidungsträger insbesondere die Gefahr, mit ihren Eingriffen gegen individuelle Anreize zu handeln und die Interaktion von Menschen zu stören. Diese Sichtweise wird oftmals auf Klassiker der Wirtschaftswissenschaften wie Adam Smith (1723-1790) oder David Ricardo (1772-1823) zurückgeführt.
Das Individuum in der Volkswirtschaft Sie produzieren Konsumgüter für den eigenen Gebrauch. Die Anzahl an Arbeitsstunden pro Jahr wird durch die Variable e angegeben. Je Stunde Arbeitseinsatz e produzieren Sie einen Konsum im Wert von 0, 40e. Die Kosten (Mühsal) des Arbeitseinsatzes betragen e2 /500e. Bestimmen Sie nun Ihren Arbeitseinsatz. Per Los werden zwei Teilnehmer ausgewählt, denen ihr Konsum abzüglich der Arbeitskosten ausbezahlt wird. Im Gegensatz zum vorherigen Spiel ist dieses durch ein stabiles Gleichgewicht geprägt. Jeder Teilnehmer muss eine identische Maximierungsaufgabe lösen. Mathematisch lässt sich ein Optimum dadurch bestimmen, dass der erzielte Konsum abzüglich der Kosten maximiert wird, also 0, 4e − e2 /500. Ableitung nach e erbringt 0, 4 − e/250 = 0 und damit e = 100. Wird dieser Wert berücksichtigt, so ergibt sich für einen Teilnehmer die optimale Auszahlung 0, 4 · 100 − (100)2 /500 = 20. Allerdings haben Teilnehmer oftmals nur begrenzte Zeit und damit Schwierigkeiten, diesen Wert analytisch herzuleiten. So werden oftmals stattdessen Erfahrungswerte verwendet, beispielsweise Werte, die sich im ersten Spiel ergaben und an die sich Teilnehmer gewöhnt haben. Bei diesem Spiel besteht aber die Aussicht, dass bei Wiederholung eine Annäherung an das Gleichgewicht resultiert. Ein Abweichen vom Optimum geht mit der Erfahrung einher, ein verringertes Auszahlungsniveau erzielt zu haben und dies durch eine Korrektur des Arbeitseinsatzes e erhöhen zu können. Mit einer Konvergenz zu dem Wert von 100 erweist sich das Gleichgewicht als stabil.
1.5 Schlüsselbegriffe im Kapitel
27
Dieses Spiel impliziert eine alternative Sichtweise auf die Makroökonomik. Eine Volkswirtschaft wird durch eine mathematisch herleitbare Lösung aus einzelwirtschaftlichem Verhalten beschrieben. Einzelne Akteure können sich an einer optimalen Lösung orientieren. Würde sich eine Volkswirtschaft also wie in diesem Spiel verhalten, so könnte sie analytisch zerlegt werden in die Kalküle einzelner, rationaler Menschen. Staatliche Eingriffe sind kaum notwendig, da Märkte von sich aus fehlerhafte Erwartungen korrigieren. Die Nobelpreisträger Robert E. Lucas (*1937) und Eugene Fama (*1939) lassen sich dieser Richtung der Makroökonomik zuordnen. Diese beiden kontroversen Lehrmeinungen der Makroökonomik haben das Fach seit jeher vorangetrieben und sich gegenseitig inspiriert. Im Rahmen des Buches wird häufig auf diese beiden konträren Sichtweisen Bezug genommen und dargelegt, welcher Konsens sich bis heute gebildet hat. Gleichzeitig verbleiben offene Fragen und der Wettstreit der Lehrmeinungen wird offener denn je ausgetragen.
1.5
Schlüsselbegriffe im Kapitel
Aggregat fallacy of composition Gewohnheit Gleichgewicht Interaktion Keynesianismus Makroökonomik als engineering
mikrofundierte Makroökonomik Monetarismus Prognose Rationalität Stimmung Wettstreit der Lehrmeinungen
28
Kapitel 1. Was ist Makroökonomik?
1.6
Ergänzende Literatur
• B LINDER, Alan S.: Keynes, Lucas, and Scientific Progress. In: The American Economic Review 77 (1987), Nr. 2, S. 130–136 • K EYNES, John M.: The general theory of employment interest and money. London : Macmillan and Co, 1936 • M ANKIW, N. Gregory: The macroeconomist as scientist and engineer. In: Journal of Economic Perspectives 20 (2006), Nr. 4, S. 29–46
1.7
Quiz
Seit 1950 zeigt sich, dass 1. der Anteil des Staates an der Gesamtwirtschaft abnimmt. 2. die Erhebung von Steuern und Auflagen für Unternehmen das Wachstum behindern. 3. Länder mit einer starken Rolle des Staates im Wachstumsprozess aufholen können. 4. zunehmend knappe Ressourcen in unproduktive Verwendungen geleitet werden.
Welche der folgenden Aussagen entsprechen der Lehrmeinung einer Makroökonomik als engineering? 1. Individuen handeln rational. 2. Historische Entwicklungen haben einen wichtigen Einfluss auf gegenwärtige Verhaltensweisen. 3. Makroökonomen sollten primär die individuellen Anreize erforschen. 4. Eine Volkswirtschaft lässt sich analytisch zerlegen in die Kalküle ihrer Einzelbestandteile.
1.8 Übungsaufgaben
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Welche der folgenden Aussagen entsprechen der Lehrmeinung einer mikrofundierten Makroökonomik? 1. Volkswirtschaften sind oftmals von Stimmungen getrieben. 2. Individuen handeln oftmals irrational. 3. Die makroökonomische Forschung sollte Ähnlichkeiten zu Medizin aufweisen. 4. Wirtschaftspolitische Entscheidungsträger sind in der Gefahr, mit ihren Eingriffen Märkte zu stören.
1.8
Übungsaufgaben
Aufgabe 1.1 Sie beraten die Regierung in Anbetracht eines Rückgangs des Inlandsprodukts und der Beschäftigung. a) Schreiben Sie aus Sicht der mikrofundierten Makroökonomik, welche Ursache der Rückgang haben könnte und warum die Regierung nicht expansiv tätig werden sollte. b) Schreiben Sie aus Sicht der Makroökonomik als engineering, welche Ursache der Rückgang haben könnte und warum die Regierung expansiv tätig werden sollte. Aufgabe 1.2 Bei zwei aufeinanderfolgenden Durchführungen (Zeitpunkt 1 und 2) des classEx-Spiels „Das Kollektiv in der Volkswirtschaft“ (Instruktionen auf S. 24) wurden die in Abbildung 1.5 dargestellten Häufigkeiten erzielt. Zum Zeitpunkt 2 waren die Ergebnisse des Zeitpunkts 1 bekannt. Durch Balken sind die Häufigkeiten der gewählten Größen abgetragen. Je höher der Balken, desto mehr Teilnehmer haben die Menge an Arbeitsstunden in einem entsprechenden Intervall gewählt. So besagt beispielsweise der graue Balken zum Zeitpunkt 1 bei 100, dass 25 Teilnehmer eine Größe zwischen 90 und 100 gewählt haben. Der schraffierte Balken zum Zeitpunkt 2 kann analog interpretiert werden a) Wieso ist die Streuung zum Zeitpunkt 2 geringer als zum Zeitpunkt 1? b) Welche Zahl hätten Sie für den Zeitpunkt 2 im Durchschnitt erwartet, falls zum Zeitpunkt 1 im Mittel ein Wert von 50 gewählt worden wäre? Eine kurze Begründung genügt!
30
Kapitel 1. Was ist Makroökonomik?
Abbildung 1.5: Häufigkeiten der gewählten Arbeitsstunden
2. Inlandsprodukt und VGR
2.1
Messung des Inlandsprodukts
Das Inlandsprodukt ist ein Maß für die gesamtwirtschaftliche Produktion. Dies entspricht in einer (geschlossenen) Volkswirtschaft den gesamten Einnahmen aus dem Verkauf von Endprodukten (z.B. von Unternehmen) und den Ausgaben (z.B. durch private Haushalte). Es wird bestimmt durch den gesamten Wert aller Endprodukte an Gütern und Dienstleistungen, welche in einer bestimmten Periode in einem Land produziert werden. Es beinhaltet sowohl „fassbare“ Güter (Nahrung, Kleidung, Autos) als auch „nicht-fassbare“ Dienstleistungen (Transport, Information und Kommunikation, freiberufliche und technische Dienstleistungen wie Haarschnitt, Reinigungsservice oder ärztliche Beratung). Das Inlandsprodukt umfasst nur Güter und Dienste, die gegenwärtig produziert werden, nicht solche der Vergangenheit oder Zukunft. Es bezieht sich dabei auf ein bestimmtes Zeitintervall (Jahr oder
32
Kapitel 2. Inlandsprodukt und VGR
Quartal). Es bezieht sich auf die Produktion innerhalb der geografischen Abgrenzung, z.B. eines Landes oder einer Region. Gezählt werden alle produzierten und auf Märkten gehandelten Güter. Berücksichtigt werden auch illegal gehandelte Güter, wie beispielsweise Drogen oder geschmuggelte Zigaretten. Vernachlässigt werden Güter, welche zu Hause produziert und konsumiert werden, ohne dabei über einen Markt ausgetauscht zu werden. Bei der Berechnung des Inlandsprodukts ist besonders auf Vorleistungen zu achten. Vorleistungen sind solche Güter und Dienste, die in der gleichen Periode im Produktionsprozess wieder verwendet werden (z.B. Zwischenprodukte, Rohstoffe, Hilfs- und Betriebsstoffe, Brenn- und Treibstoffe, Transportdienstleistungen, gewerbliche Mieten). Die produzierten Vorleistungen gehören nicht zum Inlandsprodukt, da sie im gleichen Zeitraum wieder im heimischen Produktionsprozess verbraucht werden.
Abbildung 2.1: Beispiel einer Volkswirtschaft mit Brotproduktion Würden Vorleistungen miteinbezogen, so ergäbe sich das Problem der Doppelzählungen. Um dies zu erkennen, bedienen wir uns eines einfachen Beispiels einer Volkswirtschaft, in der von den Produzenten nur Brot hergestellt wird, so wie in Abbildung 2.1 dargestellt. Wir wollen uns vorstellen, dass die an der Brotproduktion direkt oder indirekt beteiligten Produzenten in Produktionsstufen hintereinander geschaltet sind. In der 1. Stufe wird von Landwirten unter Einsatz menschlicher Arbeit Getreide produziert. Dem Produktionswert des Getreides von 300 entsprechen auf der Sollseite (links) Löhne und Gewinne in gleicher Höhe. Das Getreide wird als Vorleistung an den
2.2 Nominal und real
33
Müller geliefert, der es zu Mehl mahlt. Dieses stellt wiederum eine Vorleistung für den Bäcker dar, der daraus in der 3. Stufe Brot backt. Auf jeder Stufe werden Löhne für Arbeit gezahlt und Gewinne erzielt. Abbildung 2.1 impliziert zwei Methoden für die Berechnung des Inlandsprodukts. Entweder es werden nur Endprodukte berechnet. Das einzige Endprodukt wäre hier Brot und es ergäbe sich ein Inlandsprodukt von 700. Analog würden in einer Volkswirtschaft mit vielen Produkten alle Vorleistungen unberücksichtigt bleiben und nur solche Produkte, die nicht weiter verarbeitet werden, in die Berechnung miteinbezogen. Oder es wird die Summe aller Produktionswerte (einschl. Vorleistungen) berechnet. Dies wäre in obigem Beispiel 1500. Dieser Wert wäre von Doppelzählungen betroffen. Um diese wird korrigiert, indem alle Vorleistungen abgezogen werden, also 1500 − (300 + 500) = 700. Der Produktionswert ist abhängig vom Ausmaß der Unternehmenskonzentration. Ein Zusammenschluss, z.B. von Müller und Bäcker, reduziert den Produktionswert um 500. Das Inlandsprodukt ist hingegen invariant in Bezug auf solch einen Zusammenschluss. Aus diesem Grund wird für viele statistische Zwecke und Vergleiche oftmals dem Inlandsprodukt gegenüber dem Produktionswert der Vorzug gegeben.
2.2
Nominal und real
Zur Berechnung des Inlandsprodukts müssen Produkte zu Marktpreisen bewertet werden. Hierbei können aktuelle Preise genommen werden. In diesem Fall sprechen wir vom nominalen Inlandsprodukt. Das reale Inlandsprodukt misst hingegen die Produktion von Gütern und Diensten und verwendet hierbei historische Preise. Preise werden damit über die Zeit bei der Berechnung des realen Inlandsprodukts konstant gehalten. Dies erbringt eine aufschlussreiche Betrachtung der wirtschaftlichen Entwicklung. Bei einer Berechnung zu konstanten Preisen indiziert ein Anstieg des Inlandsprodukts einen tatsächlichen Anstieg der physischen Produktion, also der Menge an hergestellten Gütern und Diensten. Ein Anstieg des nominalen Inlandsprodukts könnte demgegenüber auch bei konstanten Mengen resultieren, falls die zur Berechnung verwendeten Marktpreise angestiegen sind. Aus einem Anstieg des nominalen Inlandsprodukts sollte daher nicht zwingend auf einen Zuwachs an Produktionsmengen geschlossen werden. Die Bundesbank berichtet ein nominales Inlandsprodukt für Deutschland im Jahr 2015 von 3026 und im Jahr 2022 von 3867 Mrd.e, siehe Abbildung 2.2. Bei der Berechnung des realen Inlands-
34
Kapitel 2. Inlandsprodukt und VGR
Abbildung 2.2: Bruttoinlandsprodukt Deutschland, nominal, real in Preisen von 2015 und Deflator. produkts muss ein Basisjahr verwendet werden. Werden Preise des Basisjahres 2015 verwendet, so stimmt in diesem Jahr das nominale mit dem realen Inlandsprodukt überein. Bei Verwendung dieser Preise ergibt sich ein reales Inlandsprodukt für 2022 von 3261 Mrd.e. Während real das Inlandsprodukt um (3261 − 3026)/(3026) ≈ 7.8% angestiegen ist, beträgt der nominale Anstieg (3867 − 3026)/3026 ≈ 27, 8%. Der Unterschied dieser beiden Zahlen weist auf einen Anstieg der Preise hin. Wie in der Abbildung zu sehen, steigt das nominale Inlandsprodukt kontinuierlich stärker an als das reale Inlandsprodukt. Ein Absinken des nominalen und noch stärker des realen Inlandsprodukts im Jahr 2020 sticht dabei hervor. Der Preisunterschied zwischen nominalem und realem Inlandsprodukt wird separat ausgewiesen mit Hilfe des Deflators. Für diesen gilt: Deflator =
Nominales Inlandsprodukt . Reales Inlandsprodukt
(2.1)
Wird z.B. der Deflator für 2022 berechnet zum Basisjahr 2015, so gilt Deflator2022 zur Basis 2015 =
3867 Nominales Inlandsprodukt2022 = = 1, 19. (2.2) Reales Inlandsprodukt2022 zu Preisen von 2015 3261
Dies bedeutet, dass das Preisniveau des Inlandsprodukts von 2015 bis 2022 um 19% angestiegen ist. Ein Anstieg des Deflators bedeutet, dass ein Anstieg des nominalen Inlandsprodukts auf Preiserhö-
2.3 Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR)
35
hungen und nicht ausschließlich auf eine gestiegene mengenmäßige Produktion zurückzuführen ist. Die Entwicklung des Deflators für Deutschland lässt sich ebenfalls Abbildung 2.2 entnehmen. Besonders hervorzuheben ist der steile Anstieg der Kurve im Jahr 2022. Dies korrespondiert mit einer großen Diskrepanz zwischen einem stark steigenden nominalen und einem nur gering steigenden realen Inlandsprodukt.
2.3
Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR)
Die Entstehung und Verwendung des Inlandsprodukts lässt sich mit Hilfe eines Kreislaufs und im Rahmen eines Kontensystems systematisch erfassen und darstellen. Für einen einfachen Ansatz unterstellen wir eine geschlossene Volkswirtschaft, d.h. wir vernachlässigen das Ausland und den Staat. Es existieren somit nur private Haushalte und Unternehmen. Eine Volkswirtschaft lässt sich dann durch ein einfaches Flussdiagramm darstellen, wie in Abbildung 2.3.
Abbildung 2.3: Kreislaufdiagramm Haushalte und Unternehmen Die Unternehmen produzieren hierbei Güter und Dienste in Höhe von 2400, wobei 800 in Form von Vorleistungen an andere Unternehmen geliefert werden. Damit beläuft sich das Inlandsprodukt auf 1600, denn in dieser Größenordnung werden Endprodukte hergestellt und verkauft, in diesem Falle Güter und Dienste für Konsumzwecke. Die Unternehmen erwirtschaften Einkommen in gleicher Höhe und zahlen diese in Form von Lohneinkommen an die privaten Haushalte aus als Gegenleistung für die überlassene Arbeitskraft.
36
Kapitel 2. Inlandsprodukt und VGR
Abbildung 2.4: Produktions- und Einkommenskonto
Das einfache Kreislaufdiagramm lässt sich auch mit Hilfe von Konten beschreiben, wie in Abbildung 2.4 dargestellt. Hierbei werden Konten entsprechend der wirtschaftlichen Funktion in der betrachteten Volkswirtschaft aufgestellt. In einem Produktionskonto werden Produktion, Einkommensentstehung und Einkommensverteilung erfasst. Anschaulich kann das Produktionskonto als Konto der Produzenten (hier der Unternehmen) betrachtet werden. Das Einkommenskonto erfasst die Einkommenserzielung, -umverteilung und -verwendung. Anschaulich kann das Einkommenskonto als Konto der Einkommensbezieher (hier der privaten Haushalte) betrachtet werden. In Abbildung 2.4 verzichten wir auf eine Erfassung der Lieferung der Konsumgüter von Unternehmen an die privaten Haushalte. Ebenso vernachlässigen wir die Lieferung des Faktors Arbeit von privaten Haushalten an die Unternehmen erfasst. Alle berücksichtigten Größen sind Zahlungsströme.C (consumption) bedeutet, dass den Produzenten aus dem Verkauf von Gütern und Diensten an die Einkommensbezieher Zahlungsmittel in Höhe von 1600 zufließen.
2.3 Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR)
37
F bringt zum Ausdruck, dass die Produzenten an die Einkommensbezieher Löhne, sogenannte Faktoreinkommen, zahlen. Das Kontensystem ist in sich geschlossen.
Abbildung 2.5: Produktions- und Einkommenskonto In Abbildung 2.5 geben wir die bisherige Annahme auf, dass private Haushalte nicht produzieren. Zur Produktion der von privaten Haushalten erzeugten Güter gehören einerseits Dienstleistungen, die Hausangestellte, Reinigungspersonal, Butler oder ähnliche Bedienstete gegen Entgelt produzieren und an andere private Haushalte verkaufen. Ferner gehören Einzelunternehmen und Personengesellschaften ohne eigene Rechtspersönlichkeit zum Sektor „privaten Haushalte“. Dies sind z.B. selbständige Landwirte, Handwerker, Händler, Gastwirte. Die Produktion dieser Unternehmen wird somit auf dem Produktionskonto der privaten Haushalte verbucht. Unternehmen werden nur dann dem Sektor „Unternehmen“ zugerechnet, sofern sie Waren oder
38
Kapitel 2. Inlandsprodukt und VGR
nicht-finanzielle Dienstleistungen produzieren und sie gesetzlich eigenständige Einheiten darstellen. Dies ist der Fall für offene Handelsgesellschaften und Kommanditgesellschaften und insbesondere für Unternehmen mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit, wie Aktiengesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Genossenschaften. Wird diese Abgrenzung berücksichtigt, so können die Konten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wie in Abbildung 2.5 dargestellt werden. Hierbei haben wir angenommen, dass der Konsum der privaten Haushalte (1600) zum Großteil (900) durch von Unternehmen produzierte Konsumgüter befriedigt und der restliche Konsum von privaten Haushalten produziert wird. Die im Produktionsprozess entstehenden Faktoreinkommen beziehen ausschließlich die privaten Haushalte. Offensichtlich fehlen in einer solch einfachen Volkswirtschaft viele wichtige Ströme. So geben private Haushalte ihre Einkommen vollständig für Konsumgüter aus. Unternehmen produzieren nur Konsumgüter in Form von Gütern und Dienstleistungen, welche in der gleichen Periode abgesetzt und konsumiert werden, also keine Investitionsgüter. Folglich werden Güter mit Hilfe menschlicher Arbeitskraft und Vorleistungen (Rohstoffe, Transport, usw.) produziert, aber ohne den Einsatz von Werkzeugen oder Maschinen. Alle Gewinne werden an die Haushalte ausgeschüttet und nicht etwa einbehalten und im Unternehmen gespart. Aufgrund der fehlenden Ersparnisbildung gibt es kein Vermögen.
2.4
Sparen und Investieren
Private Haushalte und Unternehmen haben einen Bestand an Vermögen. Sie besitzen Häuser, Maschinen, Anleihen oder Aktien. Wir müssen nun die Veränderungen dieser Bestände in eine Beziehung zum Einkommen und Inlandsprodukt bringen. Hierzu müssen wir zunächst den Begriff des Einkommens schärfer abgrenzen. Es lässt sich zwischen Erwerbs- und Vermögenseinkommen unterscheiden. Da sowohl Arbeit als auch Vermögen im Sinne von physischem Kapital zur Produktion verwendet werden, müssen beide Faktoren dafür entlohnt werden. Zu den Vermögenseinkommen gehören Zinsen und Mietzahlungen sowie die verteilten Gewinne in Form von Dividendenausschüttungen oder Gewinnentnahmen. Die Erwerbseinkommen sind die Arbeitnehmerentgelte, die vereinfacht als Lohn bezeichnet werden, und die Selbstständigeneinkommen. Nicht zu den Einkommen gehören Zahlungseingänge wie beispielsweise die Kreditaufnahme eines Haushalts, da in diesem Fall gleichzeitig eine Verbindlichkeit eingegangen wird. Woher kommt aber dieser Bestand an Vermögen? In einem geschlossenen Kreislauf ohne Sparen und ohne Investieren kann dieser nicht aufgebaut werden. Daher müssen wir die Annahme aufgeben,
2.4 Sparen und Investieren
39
dass private Haushalte und Unternehmen nicht sparen. Private Haushalte sparen dadurch, dass sie nur einen Teil ihres Faktoreinkommens für Konsum ausgeben. Das über den Konsum hinausgehende Einkommen verwenden sie dann zum Sparen, beispielsweise indem sie Aktien, Anleihen oder Lebensversicherungen kaufen oder Einlagen bei den Banken halten. Auch Unternehmen können sparen, indem sie nicht alle Faktoreinkommen an die Haushalte ausschütten, sondern einen Teil sich selbst als Einkommen zuweisen. Die übliche Form hierfür ist, dass Unternehmen Gewinne verbuchen und diese teilweise einbehalten, also nicht vollständig als Dividenden an die privaten Haushalte abführen. Einbehaltene Gewinne werden verbucht als ein Einkommen, welches sich die Unternehmen auf ihr Einkommenskonto zuweisen. Neben den privaten Haushalten und Unternehmen benötigen wir für den Aufbau eines Vermögens einen weiteren Akteur, den Investor. Dieser verwendet die Ersparnisse der privaten Haushalte und Unternehmen zur Durchführung von Investitionen. Durch den Kauf von Investitionsgütern baut er einen Kapitalstock auf. Mit Investitionen erhöht sich dieser Kapitalstock sukzessive. Durch Verschleiß vermindert er sich wieder. Volkswirtschaftliche Investitionen sind zu unterscheiden von denen aus einzelwirtschaftlicher Sicht. Dieser Unterschied lässt sich veranschaulichen für den Fall eines Grundstückskaufs. Aus einzelwirtschaftlicher Sicht stellt dies eine Investition dar, denn ein Grundstück wird beispielsweise für den Aufbau eines Betriebes, eines Lagers oder für den Vertrieb genutzt. Aus makorökonomischer Sicht stellt dies aber keine Investition dar, da keine neuen Investitionsgüter entstehen. Es wird lediglich ein Grundstück getauscht. So würde ein Unternehmen investieren, während ein anderes desinvestiert. Unter Bruttoinvestitionen (I b ) verstehen wir Ausgaben für Kapitalausstattung, Vorräte und Bauten (Häuser). Im Unterschied zum Konsum sind dies Güter, welche nicht unmittelbar verbraucht werden. Die wichtigste Art der Investitionen sind die Bruttoanlageinvestitionen: gekaufte und selbst erstellte Anlagen wie Ausrüstungsinvestitionen (Maschinen, Fahrzeuge, Geschäftsausstattung), Bauinvestitionen (Wohnbauten, gewerbliche Bauten, Straßen) und immaterielle Anlagegüter (wie Computerprogramme, Urheberrechte). Ausgaben für Forschung und Entwicklung werden ebenfalls als Investitionen berücksichtigt. Wie in Abbildung 2.6 dargestellt, existieren daneben Lagerinvestitionen als weiterer Bestandteil der Bruttoinvestitionen. Diese Lagerinvestitionen (auch Vorratsveränderungen genannt) beinhalten den Zuwachs an eigenen halbfertigen und fertigen Erzeugnissen und den von anderen Unterneh-
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Kapitel 2. Inlandsprodukt und VGR
Abbildung 2.6: Abgrenzung der Investitionsarten mungen gekauften und noch gelagerten Vorprodukten. Im Falle von Lagerabgängen ist dieser Posten negativ. Die Position ist zumeist eher gering und erreicht Größenordnungen von ±1% des Inlandsprodukts. Der Kapitalstock sinkt über die Zeit aus verschiedenen Gründen, die wir unter dem Begriff Abschreibungen subsumieren. Zum einen gibt es einen nutzungsbedingten Verschleiß und einen außergewöhnlichen Verschleiß, beispielsweise bei Naturkatastrophen. Daneben können sich in der Vergangenheit getätigte Investitionen als Fehlinvestitionen herausstellen oder Teile des Kapitalstocks durch verändert Nachfrage der Haushalte oder überlegene Konkurrenzprodukte wertlos werden. Zuletzt können immaterielle Anlagegüter wertlos werden, beispielsweise wenn Patente auslaufen oder wenn diese nicht mehr dem Stand der Technologie entsprechen. Die Nettoinvestitionen (I) sind definiert als Differenz zwischen Bruttoinvestitionen und Abschreibungen. Letztere werden mit D bezeichnet. Das bedeutet: I = Ib − D
(2.3)
Wie unterscheiden sich hierbei Konsum- und Investitionsgüter? Unter Konsum (C) verstehen wir in Abgrenzung zu den Investitionen sämtliche Ausgaben der privaten Haushalte für Güter und Dienstleistungen, die während der laufenden Periode verbraucht werden. Investitionsgüter werden während der laufenden Periode produziert und erhöhen die für zukünftige Produktion notwendige Kapitalausstattung. Im Gegensatz dazu werden Konsumgüter während der laufenden Periode produziert und verbraucht. Einen Grenzfall stellen Ausgaben der privaten Haushalte für langlebige Konsumgüter dar, wie Autos, Computer, Musikinstrumente oder Waschmaschinen. Ähnlich wie Investitionen werden diese nicht sofort verbraucht. Ähnlich wie Konsumgüter werden sie nicht für die zukünftige Produktion verwendet. Aus diesem letztgenannten Grund werden alle Ausgaben der
2.5 Ersparnis und Investition im Kontenschema
41
privaten Haushalte als Konsum eingestuft. Eine Ausnahme stellen Eigenheime dar. Diese werden von privaten Haushalten gekauft, zählen aber zu den Investitionsgütern.
2.5
Ersparnis und Investition im Kontenschema
Abbildung 2.7: Sparen und Investieren im Produktions- und Einkommenskonto Im Kontenschema in Abbildung 2.7 werden, aufbauend auf Abbildung 2.5, die zusätzlich anfallenden Buchungen aufgeführt. Das Vermögenseinkommen wird im Produktionskonto der Unternehmen als Zahlungsausgang und auf dem Einkommenskonto der privaten Haushalte als Zahlungseingang verbucht. Es zählt auch zum Faktoreinkommen F. Aus dem gesamten Faktoreinkommen sparen die Haushalte einen Teil. Die einbehaltenen Gewinne im Produktionskonto der Unternehmen führen
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Kapitel 2. Inlandsprodukt und VGR
zu einem Zahlungseingang auf dem Einkommenskonto der Unternehmen. Auch diese sind dem Faktoreinkommen F zuzurechnen. Zu anderen Posten fehlt jetzt eine Gegenbuchung, nämlich zu den Bruttoinvestitionen, den Abschreibungen und der Ersparnis. Hierzu ist ein weiteres Konto notwendig. Die Posten ohne Gegenbuchung (Bruttoinvestition, Abschreibung und Ersparnis) betreffen alle Änderungen des Vermögens, sowohl die Sachvermögensbildung als auch deren Finanzierung. Daher werden sie in einem separaten Vermögensänderungskonto erfasst. Anschaulich lässt sich dies als Konto der Investoren beschreiben. In Abbildung 2.8 werden die Konten für private Haushalte und Unternehmen in gesamtwirtschaftlichen Konten aggregiert.
Abbildung 2.8: Vollständiges Kontenschema Die Konten lassen sich folgendermaßen interpretieren: Die den Haushalten und Unternehmen zufließenden Einkommen in Höhe von 1800 werden in Höhe von 1600 für Konsumzwecke ausgegeben und der Rest in Höhe von 200 wird gespart. Die Ersparnis fließt dem Vermögensänderungskonto zu. Diese Transaktion wird zumeist über den Kapitalmarkt organisiert, auf dem private Haushalte beispielsweise über den Kauf von Finanzprodukten (Anleihen, Aktien, Investmentfonds) oder Prämien für die Rentenversicherung ihre Ersparnisse anlegen und diese Investoren zur Verfügung stellen. Damit wird ein Teil der Bruttoinvestition in Höhe von 600 finanziert. Der nicht durch Ersparnisse finanzierte Teil der Bruttoinvestition in Höhe von 400 wird durch Abschreibungen
2.5 Ersparnis und Investition im Kontenschema
43
finanziert. Eine solche Buchung wirkt zunächst unplausibel. Wie können aus Abschreibungen, dem Verschleiß des Kapitalstocks, neue Investitionen finanziert werden? Dies lässt sich mit Hilfe des Produktionskontos erklären. Teile des aus Produktion entstehenden Aufkommens sind zur Verbuchung von Abschreibungen vorgesehen, um eine Unternehmung in ihrem Wert zu erhalten. Diese Buchung bewirkt, dass Aufkommen nicht als Faktoreinkommen oder einbehaltene Gewinne verwendet wird. Die Buchung ist für den Wiederaufbau des Kapitalstocks vorgesehen. Aus diesem Grund dürfen wir diese Mittel im Vermögensänderungskonto gegenbuchen. Damit lässt sich insgesamt das Vermögensänderungskonto als Konto der Investoren interpretieren. Diese werden von den Produzenten gedanklich unterschieden durch ihren Beitrag zum Vermögensaufbau.
classEx Spiel Bestimmen Sie jeweils für die folgenden Vorgänge die Konten, in denen Buchung und Gegenbuchung durchzuführen sind: Die Unternehmen investieren (30). Die Unternehmen buchen die Zahlung von Faktoreinkommen (70). Die Unternehmen buchen Abschreibungen (12). Die Haushalte buchen den Kauf von Konsumprodukten (56). Die Unternehmen bestimmen ihren Gewinn durch Kontenabschluss und behalten diesen ein. Die Haushalte bestimmen ihre Ersparnis durch Kontenabschluss. Die Unternehmen bestimmen ihre Ersparnis durch Kontenabschluss. Die Haushalte kaufen Anleihen von Unternehmen (14).
Bei der Berechnung des Inlandsprodukts können Abschreibungen berücksichtigt werden. Die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beinhaltet die Abschreibungen. Beim Nettoinlandsprodukt hingegen werden die Abschreibungen abgezogen. Es gilt hierbei Nettoinlandsprodukt = Bruttoinlandsprodukt − Abschreibungen.
(2.4)
Aus den Konten in Abbildung 2.8 lässt sich auf zwei Arten das Nettoinlandsprodukt ermitteln. Entweder wird das Bruttoinlandsprodukt aus dem Produktionskonto als Summe aller produzierten Endprodukte: Y b = C + I b = 2200 ermittelt. Zur Bestimmung des Nettoinlandsprodukts müssen hiervon die Abschreibungen abgezogen werden: Y = Y b − D = 1800. Oder alternativ kann direkt aus dem Einkommenskonto das gesamte erzielte Faktoreinkommen F herangezogen werden, da dies dem Nettoinlandsprodukt entspricht.
44
2.6
Kapitel 2. Inlandsprodukt und VGR
Lebensstandard und -zufriedenheit
Das reale Pro-Kopf-Inlandsprodukt korrespondiert mit der Menge an Gütern und Dienstleistungen, die ein Mensch mit seinem Einkommen erwerben kann. Damit ist es ein mögliches Maß für den Lebensstandard, also den materiellen Wohlstand und das physische Wohlbefinden. Dieser Zusammenhang wird vielfach bestätigt, beispielsweise durch einen Zusammenhang zwischen dem realen Pro-Kopf-Inlandsprodukt und dem im Rahmen von Umfragen erhobenen Ausmaß der Lebenszufriedenheit. Dies legt nahe, dass die Erzielung eines hohen realen Pro-Kopf-Inlandsprodukts ein gesellschaftlich wünschenswertes Ziel ist. Gleichzeitig sollte nicht übersehen werden, dass das reale Pro-Kopf-Inlandsprodukt viele wichtige Einflussgrößen unberücksichtigt lässt. Zum einen sind Investitionsgüter nur mittelbar verantwortlich für den Lebensstandard, der eher von Konsumgütern bestimmt wird. Ferner stelle man sich ein Land vor, in dem alle Menschen am Ende ihres Arbeitslebens sofort an Überarbeitung und einer exorbitanten Umweltverschmutzung sterben. Während ein solches Leben unattraktiv erscheint, könnte ein hohes reales Pro-Kopf-Inlandsprodukt gemessen werden. Hierbei fehlt eine Berücksichtigung von Freizeit, Gesundheit und Umwelt und ihr Beitrag zum Lebensstandard. Darüber hinaus wird der Lebensstandard positiv beeinflusst durch gegenseitige Hilfestellungen in der Familie und in Freundeskreisen, eine gerechtere Verteilung von Vermögen und Einkommen sowie intakte soziale Beziehungen und Lebenspartnerschaften. Viele Versuche werden daher unternommen, das Inlandsprodukt zu korrigieren oder zu ergänzen. Eine verbesserte Statistik kann beispielsweise das Inlandsprodukt eines durchschnittlichen Menschen ausweisen, also dasjenige Einkommen, dass der Median aller Bewohner eines Landes erzielt. Dies hat den Vorteil, dass Einkommenszuwächse, die alleine den Reicheren zu Gute kommen, nicht als Verbesserung des Lebensstandards ausgewiesen werden. Andere Ansätze korrigieren um Maße zu Gesundheit, beispielsweise der Lebenserwartung, oder das Ausmaß der Umweltzerstörung. So können beispielsweise die Emissionen von CO2 als Abschreibungen aufgefasst werden, mit denen das nominale Pro-Kopf-Inlandsprodukt korrigiert werden sollte. Solche Maße könnten nahelegen, dass der Lebensstandard in Europa und den USA seit langem stagniert, eventuell sogar rückläufig ist.
2.7 Ausblick
2.7
45
Ausblick
Wir haben in diesem Kapitel einige Grundlagen der VGR kennengelernt. Etliche weitere Akteure wie der Staat und weitere Aggregate wie das Budgetdefizit werden wir noch integrieren. Insbesondere fehlt aber eine Theorie, mit der die verschiedenen Größen auf dahinterliegende Kausalitäten und Verhaltensweisen von Akteuren zurückgeführt werden. So zeigt uns die VGR zwar, dass Nettoinvestitionen immer den Ersparnissen entsprechen müssen. Hierfür kann es aber verschiedene Erklärungen geben. Wir könnten uns vorstellen, dass diese sich wie Angebot und Nachfrage zueinander verhalten und wir in der VGR die registrierten Marktergebnisse abtragen, bei denen beide Seiten einander entsprechen. Dies ist teilweise eine Sichtweise, die einer mikrofundierten Makroökonomik folgt, bei der erst Einzelteile wie Angebot und Nachfrage identifiziert werden, bevor die hieraus resultierenden Umsätze ermittelt werden, die sich dann in der VGR niederschlagen. Wir könnten aber auch vermuten, dass Investitionen und Ersparnisse zwei Messungen eines identischen Kreislaufs sind. So wäre die Blutmenge, die durch Arterien fließt, immer identisch zu derjenigen, die durch Venen fließt. Die eine Menge entspricht zwangsläufig der anderen. Eine Makroökonomik als engineering würde eine solche Parallele zum Blutkreislauf akzeptieren, so lange damit nützliche Wirtschaftsprognosen erstellt werden können, auch wenn Menschen kaum dem intellektuellen Niveau von Blutplasma entsprechen. Wir benötigen somit eine Theorie, die uns erklärt, wie die aufgefundenen Daten zu verstehen sind. Wir suchen das richtige dahinterliegende Erklärungsmodell.
2.8
Schlüsselbegriffe im Kapitel
Abschreibung Deflator Bruttoanlageinvestition brutto vs. netto Einkommenskonto Ersparnis Faktoreinkommen Inlandsprodukt
Investition Konsum Kreislauf Lagerinvestition Produktionskonto Real vs. Nominal Vermögensänderungskonto Vorleistung
46
Kapitel 2. Inlandsprodukt und VGR
2.9
Ergänzende Literatur
Aktuelle Daten zu Deutschland finden sich beim Statistischen Bundesamt.
• F RENKEL, Michael ; J OHN, Klaus D. ; F ENDEL, Ralf: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. 8. Aufl. München : Vahlen, 2016, S. 21-24, 33-40
2.10
Quiz
Damit in einer geschlossenen Volkswirtschaft ohne Staat der volkswirtschaftliche Kapitalstock zunimmt, muss für eine Periode gelten: 1. Das Bruttoinlandsprodukt muss gleich dem Konsum sein. 2. Die Ersparnis muss kleiner als der Konsum sein. 3. Die Bruttoinvestition muss größer als die Abschreibungen sein. 4. Die Nettoinvestition muss kleiner als die Abschreibungen sein.
Zu den gesamtwirtschaftlichen Nettoinvestitionen zählt 1. Die Produktion von Endprodukten auf Lager. 2. der Kauf eines PKW durch einen Haushalt. 3. der Ersatz einer im Produktionsprozess verschlissenen Anlage. 4. der Kauf eines Grundstücks durch ein Unternehmen.
2.11 Übungsaufgaben
47
Sparen in der VGR bedeutet: 1. Die Tilgung einer Anleihe zum Aufstocken des Sparkontos verwenden. 2. In einer Periode weniger Geld auszugeben als in der Vorperiode. 3. Produktionsfaktoren effizienter als bisher einzusetzen. 4. In einer betrachteten Periode weniger als das erzielte Einkommen zu konsumieren.
Die Unternehmen behalten Gewinne ein. Auf welcher Verwendungs- und welcher Aufkommensseite ist dies in der VGR zu verbuchen? 1. Verwendung: Produktionskonto; Aufkommen: Einkommenskonto 2. Verwendung: Einkommenskonto; Aufkommen: Produktionskonto 3. Verwendung: Produktionskonto; Aufkommen: Vermögensänderungskonto 4. Verwendung: Vermögensänderungskonto; Aufkommen: Einkommenskonto
2.11 Übungsaufgaben Aufgabe 2.1 a) Erläutern Sie den Unterschied zwischen nominalem und realem Inlandsprodukt. Berechnen Sie für die Daten in Tabelle 2.1 das nominale und das reale Inlandsprodukt. Jahr 2016 2017 2018
Preis Gut x 5e 7e 9e
Menge Gut x 100 150 200
Preis Gut y 1e 2e 3e
Menge Gut y 50 100 150
Tabelle 2.1: Beispiel Gut x und Gut y
b) Definieren und beschreiben Sie den Deflator. Berechnen Sie diesen für die Daten in Tabelle 2.1. Aufgabe 2.2 Betrachten Sie die Werte in Tabelle 2.2.
48
Kapitel 2. Inlandsprodukt und VGR a) Berechnen Sie die Wachstumsrate des Inlandsprodukt in jeweiligen Preisen im Jahr 2014 und 2015. b) Wie hoch war das Inlandsprodukt in Preisen von 2010 in den Jahren 2013 bis 2014? c) Berechnen Sie die Wachstumsraten des realen Inlandsprodukts im Jahr 2014 und 2015. Jahr 2013 2014 2015
Inlandsprodukt in jeweiligen Preisen (in Mrd.e) 2030,00 2073,70 2110,40
Deflator (Basisjahr 2010) 1,031 1,044 1,061
Tabelle 2.2: Beispiel Inlandsprodukt und Deflator Aufgabe 2.3 In einer Volkswirtschaft werden in einer Periode die untenstehenden Transaktionen registriert (alle Angaben in Mrd.e). Erstellen Sie für jeden der beiden Sektoren, private Haushalte und Unternehmen, je ein Produktions-, Einkommens- und Vermögensänderungskonto und buchen Sie die angegebenen Ströme. Schließen Sie alle Konten mit Hilfe geeigneter Salden ab. Erstellen Sie abschließend ein gesamtwirtschaftliches Kontensystem. a) Die privaten Haushalte produzieren Konsumgüter in Höhe von 150 und Vorleistungsgüter für die Unternehmen in Höhe von 30. b) Die Unternehmen produzieren Investitionsgüter im Umfang von 300. Hiervon erwerben die Unternehmen 100, die privaten Haushalte 200. c) Die Nettoinvestitionen der Unternehmen betragen 80 und die der privaten Haushalte 120. d) Die privaten Haushalte beziehen Löhne von den Unternehmen in Höhe von 150, von den privaten Haushalten in Höhe von 150. e) Die Gewinne der Unternehmen werden nicht ausgeschüttet.
Aufgabe 2.4 Für die ökonomische Aktivität des privaten Sektors sind im Verlauf eines Jahres die Werte in Tabelle 2.3 registriert worden (in Mrd.e). Ermitteln Sie die Höhe der einbehaltenen Gewinne und stellen Sie mit diesen Angaben ein gesamtwirtschaftliches Kontenschema auf.
2.11 Übungsaufgaben
49
Käufe von Vorleistungen Produktion von Konsumgütern Abschreibungen Wert der selbsterstellten Anlagen Lohnzahlungen an Arbeitnehmer Lagerzuwachs fertige Erzeugnisse
39 185 20 8 90 27
Tabelle 2.3: Ökonomische Aktivität des privaten Sektors
3. Produktion und Wachstum
3.1
Unterschiede im Lebensstandard
Der Lebensstandard, gemessen durch das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, variiert stark von Land zu Land. Dies wird durch Abbildung 3.1 besonders deutlich. Für die Schweiz liegt das jährliche Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt bei fast 100.000 US$. Für Burundi, Eritrea, Liberia und Äthiopien ergeben sich Werte unter 1000 US$. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt, auch vereinfacht als Pro-Kopf-Einkommen oder Pro-Kopf-Produktion bezeichnet, unterscheidet sich damit um den Faktor 100. Die Wachstumstheorie sieht die Ausstattung mit Produktionsfaktoren als ursächlich für diese Unterschiede. Sie stellt das Wachstum dieser Produktionsfaktoren in den Mittelpunkt einer Analyse und wirft die Frage auf, welche Faktoren zu einem hohen Wachstum beitragen und welche das Wachstum behindern.
52
Kapitel 3. Produktion und Wachstum
Abbildung 3.1: Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt 2021
3.2
Ursachen für Armut und Reichtum
Der Lebensstandard wird maßgeblich von der Produktivität der Arbeitskräfte bestimmt. Unter Produktivität versteht man die Menge an Gütern und Diensten, die in einer Arbeitsstunde produziert werden. Die Produktivität wird maßgeblich durch folgende Produktionsfaktoren bestimmt. Physisches Kapital, Humankapital, natürliche Ressourcen, technischer Fortschritt. Unter Kapital versteht man einen aus der vergangenen Produktion stammenden Faktor, der in die gegenwärtige Produktion eingeht. Physisches Kapital ist der Bestand an Anlagen in Form von Maschinen, Bauten und immateriellen Anlagen. Dieser entspricht dem Wert aller in der Vergangenheit getätigten Investitionen, abzüglich der Abschreibungen. Kapital ist Ausgangspunkt
3.2 Ursachen für Armut und Reichtum
53
einer Wachstumstheorie, da die heutige Ausstattung damit nicht leicht verändert werden kann, sondern auf lange Phasen der Investitionstätigkeit zurückgeht. Humankapital ist der ökonomische Begriff für das Wissen und die Fertigkeiten, welche Arbeitskräfte durch Erziehung, Training und Erfahrung akquirieren und zur Produktionssteigerung einsetzen können. Wertmäßig wird das Humankapital bestimmt durch die Ausgaben, welche getätigt werden, um den Arbeitskräften das Verständnis neuer Prozesse und Produkte zu vermitteln. Humankapital ist fest mit einer Person verbunden und kann nicht losgelöst von dieser Person erworben oder veräußert werden. Natürliche Ressourcen sind Produktionsfaktoren, die von der Natur bereitgestellt werden. Beispiele hierfür sind Boden, Metalle oder Öl. Sie werden eingeteilt in erneuerbare Ressourcen, wie z.B. Wälder oder Fischbestände, und nicht erneuerbare Ressourcen, wie z.B. Kohle oder Mineralwasser. Natürliche Ressourcen sind wichtig. Aber viele Länder mit wenigen Ressourcen (Deutschland, Japan) können trotzdem einen hohen Lebensstandard erzielen. Länder mit reichen Rohstoffvorräten wie Nigeria sind hingegen teilweise ärmer. Dies liegt unter anderem daran, dass Rohstoffeinnahmen auch negative Auswirkungen auf die Produktivität haben können. Insgesamt sind daher natürliche Ressourcen nicht unbedingt wichtig für die Erklärung der Einkommensunterschiede. Aus diesen Gründen spielen sie in der Wachstumstheorie eine eher untergeordnete Rolle. Unter technischem Fortschritt versteht man das Verständnis innovativer Produktionstechnologien und Organisationsmethoden (Prozessinnovationen) sowie verbesserter oder neuartiger Produkte (Produktinnovationen). Im Gegensatz zu Humankapital können Techniken käuflich erworben und transferiert werden. Während die Erfindung der Schreibmaschine technischer Fortschritt ist, ist das Erlernen der Zehn-Finger-Technik eine Form von Humankapital. Für Humankapital müssen Ausgaben getätigt werden, um den Arbeitskräften das Verständnis neuer Prozesse und Produkte zu vermitteln. Vorhandenes technisches know-how kann hingegen direkt am Markt gekauft werden.
Um systematisch den Zusammenhang zwischen Faktoren und der resultierenden Produktion zu erfassen, bedienen wir uns einer beispielhaften Produktionsfunktion. Diese gibt ein Verhältnis zwischen der Menge an Einsatzfaktoren und der erzielten Produktionshöhe an: Y b = AN 0,5 K 0,5 . bezeichnen Y b
(3.1)
Hierbei das Bruttoinlandsprodukt (die Produktion), A die Produktionstechnologie (Stand des technischen Fortschritts), N die Anzahl an Arbeitskräften, K die Menge an physischem
54
Kapitel 3. Produktion und Wachstum
Kapital und Humankapital. Aufgrund des weniger klaren Einflusses der natürlichen Ressourcen wird auf ihre Berücksichtigung verzichtet. Diese Funktion hat einige plausible Eigenschaften. So hat jeder beiden Produktionsfaktoren N und K einen positiven Einfluss auf die Produktion Y b . Verdoppeln sich beide Produktionsfaktoren gleichzeitig, so verdoppelte sich auch die Produktion. Wird nur ein Produktionsfaktor erhöht und der andere konstant gelassen, so steigt die Produktion nur unterproportional.
3.3
Fallstudie China
Eine Fallstudie zu China hilft, die Veränderung des Pro-Kopf-Einkommens über die Zeit und die Bedeutung der Produktionsfaktoren hierbei zu erkennen. Das Pro-Kopf-Inlandsprodukt (brutto) belief sich 2021 auf 81.000 Yuan. Bei einem Wechselkurs von 6, 7 Yuan /e entspricht dies etwa 12.100 e/Kopf. Dies ist knapp 1/4 des Pro-Kopf-Einkommens in Deutschland. Mit Hilfe des Preises für ein Menü von 100 Yuan lässt sich der Lebensstandard bestimmen. Jährlich kann sich ein Chinese im Durchschnitt 800 Menüs leisten. Dies ist etwa die Hälfte der Menge, die ein durchschnittlicher Mensch in Deutschland produziert und konsumiert. Der Unterschied der beiden
Volksrepublik China 2021 Inlandsprodukt Bevölkerung Pro-Kopf-Inlandsprodukt Preis Menü Wechselkurs
Abbildung 3.2: Länderbeispiel Volksrepublik China
114.000 Mrd.Yuan 1.410 Mio. 81.000 Yuan 100 Yuan 6,7 Yuan / e
3.4 Wachstumsmodell
55
Größen erklärt sich damit, dass Restaurantmenüs in China, gemessen in e, günstiger sind als in Deutschland. Bemerkenswert ist das extrem hohe jährliche Wachstum des Inlandsprodukts. Die jährlichen Wachstumsraten liegen bei durchschnittlich 8%. Anfang der 1970er Jahre war China bedeutend ärmer und weist nunmehr ein Pro-Kopf-Inlandsprodukt auf, das zu dem Deutschlands und den USA aufschließt. Mrd.Yuan Das gesamte Inlandsprodukt ist mit 114.000 ≈ 17.000 Mrd.e mittlerweile das zweitgrößte 6,7 Yuan e der Welt. Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung besteht in den sehr hohen Bruttoinvestitionen. Diese lagen bereits Anfang der 90er Jahre mit 30% des Inlandsprodukts sehr hoch und stiegen danach weiter an auf über 40%. Die hohen Investitionen haben mehrere Ursachen. Zum einen sind die privaten Investitionen gestiegen. 1978 wurde Privateigentum an landwirtschaftlichen Überschüssen eingeführt und 1984 Sonderwirtschaftszonen eingerichtet, wo Experimente mit eigenen Wirtschaftsgesetzen stattfanden. Diese Möglichkeiten zur Gewinnerzielung erhöhten Anreize zur Durchführung privater Investitionen.
In der 1990er Jahren wurde Unternehmen erlaubt, über Preise selbst zu bestimmen, was zeitweise zu einem deutlichen Anstieg der Inflationsrate auf über 12% führte. Hierdurch erhöhten sich die Gewinne der Unternehmen und machten Investitionen attraktiv. Von 1992-2002 erfolgten die Privatisierung kleiner Staatsunternehmen und eine Bankenreform. Privateigentumsrechte wurden damit immer stärker respektiert. Insbesondere die privaten Bauinvestitionen trugen zum starken Wachstum bei. Neben den privaten Investitionen waren auch die staatlichen Investitionen bedeutsam. Insbesondere ab 2008, als Reaktion auf die weltweite Finanzkrise, erhöhten die zentralen und die lokalen Regierungen die staatlichen Investitionen.
3.4
Wachstumsmodell
Das in 2.8 dargestellte Kontenschema legt nahe, dass eine höhere Produktion erhöhte Investitionen ermöglicht und damit einen über die Zeit ansteigenden Kapitalstock. Gemeinsam mit der Produktionsfunktion impliziert dies eine wechselseitige Interaktion nahe zwischen Produktion und Kapitalstock, bei der beide Größen einander positiv beeinflussen. Die resultierende Dynamik kann mit Hilfe des folgenden classEx-Spiels veranschaulicht werden.
56
Kapitel 3. Produktion und Wachstum
Investitionsquote und Wachstum Sie führen einen Haushalt als Selbstversorger und habe dazu ihre eigene Landwirtschaft. Ihre Aufgabe ist es, die Investitionsquote s zu bestimmen, mit der Sie Ihre Produktion yb auf Investitionen s · yb und Konsum (1 − s) · yb aufteilen. Die einmal gewählte Quote wird für Ihre zukünftige Lebensdauer von 30 Jahren beibehalten. Die jährliche Produktion yb wird bestimmt durch den Kapitalstock k gemäß der Formel √ b y = k. Am Anfang gilt k = 16 und damit yb = 4. Der Kapitalstock sinkt jedes Jahr durch Abschreibungen um 5%, also anfangs um 16 · 0, 05 = 0, 8, und steigt mit den Investitionen s · yb . Eine hohe Investitionsquote s lässt den Kapitalstock über die Zeit ansteigen, erhöht damit sukzessive die Produktion und bewirkt einen hohen Konsum in späteren Jahren. Eine niedrige Investitionsquote s erhöht den Anteil der Produktion, der in früheren Jahren konsumiert wird. Der Teilnehmer, der mit der Wahl der Investitionsquote über alle 30 Jahre den höchsten Konsum erzielt, erhält 30 e als Gewinn ausbezahlt. Bei Gleichheit entscheidet das Los. Das classEx-Spiel veranschaulicht die Schwierigkeit bei der Wahl einer geeigneten Investitionsquote und es erlaubt eine anschaulichen Darstellung der Dynamik über 30 Jahre. Mit einer Investitionsquote größer als 0,2 steigt der Kapitalstock stetig an, allerdings auf Kosten eines anfangs geringeren Konsums. Mit einer Quote kleiner als 0,2 wird mehr konsumiert, allerdings auf Kosten eines sinkenden Kapitalstocks und dadurch eines sinkenden späteren Konsums. Eine Analyse der zeitlichen Dynamik verdanken wir Robert Solow (1956). Sein Modell verbindet das Verhalten von Investoren und Sparern mit einer Produktionsfunktion, um damit gleichgewichtige Pro-Kopf-Größen und temporäre wie auch langfristige Wachstumsraten zu bestimmen. Ausgehend von Gleichung 3.1 schreiben wir die Produktionsfunktion in Pro-Kopf-Terme um. 1 b Y ≡ yb = AN −0,5 K 0,5 = Ak0,5 . N
(3.2)
Hierbei indiziert yb das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt eines repräsentativen Wirtschaftssubjekts einer Volkswirtschaft und k ≡ NK den entsprechenden Pro-Kopf-Kapitalstock. Ein Anstieg des ProKopf-Kapitalstocks wird die Pro-Kopf-Produktion positiv beeinflussen. Dabei wird der Grenzertrag abnehmen. Der Zuwachs an Produktion wird also geringer ausfallen, falls der Pro-Kopf-Kapitalstock hoch ist. Grafisch impliziert dies einen konkaven Verlauf der Kurve in einem y/k-Diagramm, wie in Abb. 3.3 zu sehen.
3.4 Wachstumsmodell
57
Abbildung 3.3: Produktionsfunktion yb in Abhängigkeit des Pro-Kopf-Kapitalstocks k
Das repräsentative Wirtschaftssubjekt wird nicht nur produzieren und in Höhe der Produktion Einkommen und Abschreibungsgegenwerte erwirtschaften. Es wird zudem den Anteil des Einkommens c für Konsumzwecke verwenden und den anderen Anteil s für Investitionszwecke. Wir unterstellen, dass es eine feste Relation s wählt zwischen Bruttoinvestitionen und der Bruttoproduktion. Diese Relation bezeichnen wir als Investitionsquote. Der Anteil c = 1 − s wird für Konsum verwendet. Damit beträgt die gesamte Investition pro Kopf s · yb und der Konsum c · yb . Die Investitionsquote ist in dem Modell identisch zur (Brutto-)Sparquote der Wirtschaftseinheit, bezogen auf die Bruttoproduktion pro Kopf. Die hieraus resultierende Dynamik kann mit Hilfe der in Abbildung 3.4 dargestellten Konten aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung beschrieben werden. Eine gegebene gesamtwirtschaftliche Bruttoproduktion Y b führt nach Abzug der Abschreibungen zu Faktoreinkommen. Diese werden gemäß Einkommenskonto für Konsum und Ersparnis verwendet. Aus den Abschreibungen und Ersparnissen werden Investitionen finanziert. Da alle Wirtschaftssubjekte identisch agieren, findet kein Handel zwischen diesen statt. So wird nicht ein privater Haushalt sein Faktoreinkommen bei einem anderen verdienen. Ersparnisse werden von einem Haushalt selbst für Investitionen verwendet. Daher ist der Kontenrahmen eines einzelnen Haushalts identisch zu dem aller anderen.
58
Kapitel 3. Produktion und Wachstum
Abbildung 3.4: Darstellung im Kontenschema Wir können für das Modell zunächst bestimmen, wie sich der Kapitalstock über die Zeit t entwickelt. Für die gesamte Volkswirtschaft, die aus N Personen besteht, müssen wir von den Bruttoinvestitionen (I) die Abschreibungen (δ K) abziehen, K˙ = dK/dt = I b −δ K. In Pro-Kopf-Größen ausgedrückt impliziert dies K˙ = syb − δ k. N
(3.3)
˙ also die Veränderung des Pro-Kopf-Kapitalstocks über Die Größe, die wir bestimmen wollen, ist k, die Zeit. Anwendung der Quotientenregel erbringt: K N K˙ − K N˙ K˙ K N˙ k˙ ≡ N = = − 2. 2 dt N N N d
(3.4)
Wir nehmen an, dass ein konstantes Bevölkerungswachstum exogen vorgegeben ist und dieses sich ˙ = nent und es folgt darstellen lässt als N(t) = ent . Für die erste Ableitung gilt N(t) N˙ = n. N
(3.5)
Einsetzen von (3.3) und (3.5) in (3.4) erbringt k˙ = syb (k) − (δ + n)k.
(3.6)
Der Pro-Kopf-Kapitalstock verringert sich durch Abschreibungen δ k, welche proportional zum existierenden Kapitalstock sind. Zusätzlich verringert sich der Pro-Kopf-Kapitalstock durch einen
3.4 Wachstumsmodell
59
Anstieg der Bevölkerung nk, da der bestehende Kapitalstock dann auf mehr Arbeitskräfte zu verteilen ist. Diese beiden Effekte zusammen bewirken ein Schrumpfen des Pro-Kopf-Kapitalstocks gemäß (δ + n)k. Zum Erhalt des Pro-Kopf-Kapitalstocks müssen die Investitionen gerade (δ + n)k betragen. Diese Größe wird daher auch als notwendige Investition bezeichnet. syb (k) wird dagegen als tatsächliche Investitionen bezeichnet. Sind die tatsächlichen Investitionen höher als die notwendigen Investitionen, so gilt k˙ > 0 und es kommt zu einem stetigen Anstieg des Pro-Kopf-Kapitalstocks. Umgekehrt schrumpft der Pro-KopfKapitalstock, falls Abschreibungen und Bevölkerungswachstum hoch sind und die tatsächlichen Investitionen nicht das Niveau der notwendigen Investitionen erreichen.
Kapitalstock Bruttoinvestitionen Abschreibungen Bevölkerung Bevölkerungswachstum Abschreibungsrate
K Ib δK N n δ
Gesamt 8 Bill.e 480 Mrd.e 400 Mrd.e 80 Mio. −0.6% 5%
Pro Kopf k 100.000e b b I /N = sy 6.000e δk 5.000e
Tabelle 3.1: Beispieldaten für Deutschland (vereinfacht) Nehmen wir als illustrierendes Beispiel grob vereinfachte Daten für Deutschland, wie sie in Tabelle 3.1 abgebildet sind. Bei N = 80 Mio. Einwohnern ergeben sich ein Pro-Kopf-Kapitalstock K/N = 8 Bill. e/80 Mio. = 100.000e sowie die entsprechenden Pro-Kopf-Werte für die Bruttoinvestitionen und die Abschreibungen. Die Veränderung des Pro-Kopf-Kapitalstock ist gegeben ˙ durch K/N = 1000e pro Jahr. Aber zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass der gesamte Kapitalstock durch Änderungen in der Einwohnerzahl variiert. Pro Jahr schrumpft die Bevölkerung in Deutschland um 0, 6%. Dies bewirkt, dass sich der bestehende Kapitalstock auf weniger Köpfe aufteilt. Im Jahre 2050 ergäbe sich dann mit 64 Mio. Einwohnern statt 100.000e ein Pro-KopfKapitalstock von 8Bill. e/64Mio. = 125.000e. Insgesamt folgt dann für die jährliche Veränderung des Pro-Kopf-Kapitalstocks k˙ = syb (k) − (δ + n)k = 6.000 − (0, 05 − 0, 006)100.000 = 1600e. Würde die Bevölkerung hingegen wie in den USA mit 2% jährlich wachsen, so würde der Pro-KopfKapitalstock insgesamt abnehmen gemäß k˙ = 6.000 − (0, 05 + 0, 02)100.000 = −1.000e. Die einzelnen Bestandteile des Modells sind in Abbildung 3.5 dargestellt. Mit dem Pro-KopfKapitalstock an der Abszisse und Pro-Kopf-Produktion und Pro-Kopf-Investitionen an der Ordinate
60
Kapitel 3. Produktion und Wachstum
Abbildung 3.5: Steady state im Wachstumsmodell werden die notwendigen Investitionen als Gerade aus dem Ursprung abgetragen. Die Produktionsfunktion ist im Ursprung sehr steil und wird immer flacher. Dies liegt am abnehmenden Grenzertrag des Faktors Kapital. Während anfänglicher Kapitaleinsatz die Produktion stark erhöht, erhöht späterer Kapitaleinsatz die Produktion zu einem geringeren Grade. Anschaulich lässt sich dies mit dem durch Maschinen erzielten Produktionszuwachs veranschaulichen. Die erste Maschine steigert die Produktion deutlich. Die zehnte Maschine steigert die Produktion bei gleicher Anzahl von Arbeitskräften nur geringfügig. Die Kurve der tatsächlichen Investitionen syb entspricht einer nach unten um den Faktor s gestauchten Produktionsfunktion. In Abbildung 3.5 lässt sich auch die Aufteilung des Pro-Kopf-Einkommens ablesen. Der Pro-Kopf-Konsum c · yb entspricht der Differenz zwischen der Kurve der tatsächlichen Investitionen und der Produktionsfunktion yb . Beim niedrigen Pro-Kopf-Kapitalstock k0 ergibt sich eine dazu korrespondierend niedrige Pro-KopfProduktion y0 . Die tatsächlichen Investitionen syb0 sind größer als die notwendigen Investitionen (δ + n)k0 . Daher gilt hier k˙ > 0. Der Pro-Kopf-Kapitalstock steigt stetig an und damit auch die ProKopf-Produktion. Beim Pro-Kopf-Kapitalstock k∗ entsprechen die tatsächlichen den notwendigen
3.5 Änderung der Spar- und Investitionsquote
61
Investitionen. Daher gilt hier k˙ = 0. Der Pro-Kopf-Kapitalstock verändert sich nicht. Wir bezeichnen diese Art des Gleichgewichts als steady state. Dies ist definiert als eine Situation, in der alle makroökonomischen Aggregate mit einer über die Zeit konstanten Rate wachsen. Das bedeutet hier, dass alle Pro-Kopf-Variablen k, yb , syb und cyb mit der Wachstumsrate 0 unverändert bleiben und K,C, Y b , sY b mit der konstanten Wachstumsrate n wachsen.
3.5
Änderung der Spar- und Investitionsquote
Abbildung 3.6: Änderung der Spar- und Investitionsquote s Mit Hilfe grafischer Darstellungen lässt sich der Einfluss verschiedener wichtiger Parameter erfassen. Dabei wird ein exogener Parameter des Modells verändert und die Wirkung auf die endogenen Parameter untersucht. Im Wachstumsmodell sind die exogenen Parameter mit δ , s, n und A gegeben. Das Wachstumsmodell will dabei die endogenen Parameter yb , k, s · yb und c · yg erklären. So lässt sich eine Erhöhung der Spar- und Investitionsquote von s0 auf s1 durch eine Verschiebung (genauer eine Streckung) der Kurve der tatsächlichen Investitionen nach oben erfassen, wie in Abbildung 3.6 dargestellt. Die Folge hiervon ist, dass beim alten steady state k0∗ die tatsächlichen Investitionen größer sind
62
Kapitel 3. Produktion und Wachstum
als die notwendigen Investitionen. Hierdurch entsteht eine transitorische Dynamik. Erst wenn der Pro-Kopf-Kapitalstock hinreichend angewachsen ist, wird wieder ein neuer steady state k1∗ erreicht. Dieser höhere Pro-Kopf-Kapitalstock bewirkt, dass die notwendigen Investitionen auf ein erhöhtes Niveau ansteigen, um den erhöhten tatsächlichen Investitionen zu entsprechen. Als Folge dieses Anstiegs hat sich auch das Pro-Kopf-Einkommen erhöht.
Abbildung 3.7: Zusammenhang Wachstum und Investitionsquote
Das Modell prognostiziert damit einen positiven Zusammenhang zwischen der Spar- und Investitionsquote und dem Pro-Kopf-Einkommen. Dies wird gestützt durch empirische Evidenz. In Abbildung 3.7 wird eine positive Korrelation zwischen der Investition in Prozent des Inlandsprodukts (Abszisse) und dem realen Wachstum des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt aufgezeigt. Insbesondere das hohe Wachstum in Südostasien und in (Zentral-)Asien korrespondiert gut mit der hohen Investitionsquote. Gleichzeitig ist das geringe Wachstum in Afrika, Südamerika und im Mittleren Osten im Einklang mit den eher geringen Investitionen. Damit wird die Vermutung gestützt, dass die Investitionsquote das Pro-Kopf-Einkommen positiv beeinflusst.
3.6 Änderung des Bevölkerungswachstums
63
Es sollte aber nicht übersehen werden, dass zum Nachweis einer echten Kausalität robustere Methoden notwendig sind. Es wäre nämlich nicht auszuschließen, dass beide Variablen, die Investitionsquote und die Wachstumsrate, von bisher nicht berücksichtigten Variablen abhängen oder die Kausalität umgekehrt vom Wachstum zur Investitionsquote verläuft, z.B. weil arme oder wenig wachsende Länder das geringe Einkommen vollständig für Konsum verwenden müssen. Aufgrund der vielfältigen Interaktionen in einer Volkswirtschaft sind makroökonomischen Kausalitäten oftmals schwer nachzuweisen.
3.6
Änderung des Bevölkerungswachstums
Abbildung 3.8: Änderung des Bevölkerungswachstums n Eine weitere wichtige Einflussgröße ist das Bevölkerungswachstum, das in Abbildung 3.8 mit einem beispielhaften Anstieg von n0 auf n1 dargestellt wird. Beim alten steady state k0∗ sind nun die notwendigen Investitionen größer als die tatsächlichen, da mehr Kapital für die nachwachsende Bevölkerung benötigt wird. Daher wird der Pro-Kopf-Kapitalstock sinken, bis in k1∗ wieder ein steady state erreicht ist. Das Pro-Kopf-Einkommen ist im Vergleich zur Ausgangslage mit niedrigerem Bevölkerungswachstum gesunken. Für einen negativen Zusammenhang zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen und dem Bevölke-
64
Kapitel 3. Produktion und Wachstum
Abbildung 3.9: Zusammenhang Einkommen und Geburtenrate
rungswachstum findet sich erneut Evidenz. So zeigt Abbildung 3.9 eine Korrelation zwischen den Geburten pro 1000 Einwohnern und dem Wachstum des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt. Die wenigen Geburten in Europa, Nordamerika und Südostasien korrespondieren mit Wachstumsraten oberhalb von 1,5%. Die hohe Geburtenrate in Afrika steht im Einklang mit dem geringen dortigen Wachstum. Erneut sollte aber nicht übersehen werden, dass die Kausalität umgekehrt von Wachstum zur Geburtenrate verlaufen könnte, zum Beispiel weil arme und wenig wachsende Länder keine verlässliche Rentenversicherung bieten und Menschen sich mit möglichst vielen Kindern ihre Altersvorsorge sichern.
3.7
Änderung des technischen Fortschritts
Der Erklärungsbeitrag von Investitionsquote und Bevölkerungswachstum erscheint insgesamt zu gering, um die gewaltigen weltweiten Unterschiede im Pro-Kopf-Einkommen erklären zu können. Eine weitere Kritik an dem Modell ist, dass es ein fortgesetztes Wachstum von Pro-Kopf-Variablen nicht erklären kann. Es erscheint daher wichtig, auf eine weitere Einflussgröße einzugehen: Der
3.7 Änderung des technischen Fortschritts
65
technische Fortschritt. In Abbildung 3.10 wird technischer Fortschritt gemäß Gleichung (3.2) durch einen Anstieg der Produktionstechnologie A erfasst. Hierdurch verschiebt (besser gesagt dehnt) sich die Produktionsfunktion nach oben von yb0 auf yb1 . Mit dieser Verschiebung verlagert sich auch die Kurve der tatsächlichen Investitionen nach oben. Ein steady state ergibt sich bei einem Pro-Kopf-Kapitalstock von k1∗ . Das Pro-Kopf-Einkommen ist nun aus zwei Gründen angestiegen. Zum einen ermöglicht der gestiegene Kapitalstock eine höhere Produktion, zum anderen ist der Kapitalstock produktiver geworden aufgrund der besseren Produktionstechnologie.
Abbildung 3.10: Änderung des technischen Fortschritts A. Verbesserungen der Produktionstechnologie könnten daher ein fortgesetztes Wachstum des ProKopf-Einkommens erklären. Sie können zudem die historischen Schwankungen in Folge der großen technischen Innovationen erklären, wie beispielsweise den Beginn der Industrialisierung ab 1780, die Entwicklung der Eisenbahn ab 1840, die Elektrotechnik ab 1890, die Automatisierung ab 1940 und die Informations- und Kommunikationstechnik ab 1990. Unterschiede in der Produktionstechnologie von einem Land zum anderen sind zudem in der Lage, die starken beobachteten Unterschiede im Pro-Kopf-Einkommen zu erklären.
66
3.8
Kapitel 3. Produktion und Wachstum
Kritik des Wachstumsmodells
Das Wachstumsmodell weist zentral auf die Investitionsquote und das Bevölkerungswachstum als Einflussgrößen auf das Pro-Kopf-Inlandsprodukt hin. Hiermit kann sie zutreffend aber nur unvollständigen die Unterschiede in den Entwicklungsniveaus von Ländern erklären. Den Rest versucht das Modell mit Unterschieden in der Produktionstechnologie zu erklären. Diese wird mit der Variable A als exogen angenommen. Diese Exogenität wird kritisiert, da die Investitionsquote als auch der die Produktionstechnologie bestimmende technische Fortschritt unter Umständen von ökonomischem Kalkül beeinflusst ist. Investitionen in den Kapitalstock als auch solche in Forschung und Entwicklung werden sich am zukünftigen Ertrag bemessen. Neuere Modelle der Wachstumstheorie haben dieses Defizit aufgegriffen. Eine weitere Kritik des Modells bezieht sich auf die vereinfachenden Annahmen, insbesondere bezüglich eines repräsentativen Haushalts, der beispielhaft für die Volkswirtschaft steht. Die Volkswirtschaft wird damit zerlegt in einzelne Bestandteile, so wie dies von einer mikrofundierten Makroökonomik gefordert wird. Es droht damit aber, dass wichtige Ursachen der Produktivität übersehen werden: Die Interaktion. So fehlt insbesondere die in der VGR dargestellte Trennung zwischen privaten Haushalten, die Einkommen erzielen und auf Konsum und Sparen aufteilen, Unternehmen, die Produktionsfaktoren einsetzen und entlohnen und damit Konsumgüter und Investitionsgüter herstellen, und Investoren, die Ersparnisse einsammeln und damit Investitionsgüter kaufen. Diese funktionale Aufteilung ermöglicht eine Spezialisierung und Arbeitsteilung. So kann eine erhöhte Produktivität daraus resultieren, dass sich Haushalte und Unternehmen mit ihrer Produktion spezialisieren auf bestimmte Produkte und diese dann mit anderen Haushalten handeln. Manche Haushalte sparen auch für andere, die damit größere Investitionen tätigen. Wieder andere stellen ihre Arbeitskraft anderen zur Verfügung, die damit große und produktive Unternehmen bilden. Insgesamt vernachlässigt damit das Wachstumsmodell viele Bestimmungsgrößen der Produktivität. Trotz dieser Defizite liefert das Modell wichtige Einsichten. Es lässt uns die Bedeutung der Investitionsquote erkennen, die durch einen Verzicht auf Konsum gesteigert werden kann. Es verweist auf eine zentrale volkswirtschaftliche Restriktion: Anders als bei einem einzelnen Betrieb kann ein Investor nicht sofort den gewünschten Kapitalstock aufbauen. In einer Volkswirtschaft muss der Kapitalstock durch Konsumverzicht aller Wirtschaftssubjekte aufgebaut werden. Bis zum Erreichen des steady-state vergehen dann viele Jahrzehnte. Zudem zeigt es die Bedeutung der Bevölkerungswachstumsrate und des technischen Fortschritts auf. Ferner betont es, dass nicht etwa
3.9 Schlüsselbegriffe im Kapitel
67
reiche Böden und Rohstoffe entscheidend sind für das Inlandsprodukt, sondern die Fähigkeit, über einen langen Zeitraum einen hohen Kapitalstock aufzubauen.
3.9
Schlüsselbegriffe im Kapitel
Bevölkerungswachstum Grenzertrag Humankapital Investitionsquote Kapitalstock natürliche Ressourcen notwendige Investitionen
physisches Kapital Produktivität Sparquote steady state technischer Fortschritt Wachstum Wachstumsmodell
3.10 Ergänzende Literatur und Quellen im Web
Eine schöne Übersicht über globale Daten zum Inlandsprodukt und ihre zeitliche Entwicklung hat der Internationale Währungsfonds zusammengestellt.
• M ANKIW, N. Gregory: Makroökonomik. 7. Aufl. Stuttgart : Schäffer-Poeschel, 2017, S. 253-267, 277-286 • S OLOW, Robert M.: A contribution to the theory of economic growth. In: The Quarterly Journal of Economics 70 (1956), Nr. 1, S. 65–94
68
Kapitel 3. Produktion und Wachstum
3.11
Quiz
Die Beherrschung der Zehn-Finger-Technik auf der Tastatur ist ein Beispiel für den folgenden Produktionsfaktor: 1. Natürliche Ressourcen. 2. Technischer Fortschritt. 3. Humankapital. 4. Produktivität.
Der Grund für Chinas hohes Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens liegt an 1. der hohen Investitionsquote, 2. der hohen Bevölkerungswachstumsrate, 3. den natürlichen Ressourcen, 4. der hohen Konsumquote.
Die notwendigen Investitionen steigen mit 1. der Spar- und Investitionsquote s, 2. dem technischen Fortschritt A, 3. dem Bevölkerungswachstum n, 4. dem Pro-Kopf-Einkommen yb .
Der steady state ist definiert als Gleichgewicht, bei dem 1. die Ersparnis der Investition entspricht, 2. die Produktion dem Einkommen entspricht, 3. keine Größen sich ändern, 4. alle Größen über die Zeit mit einer identischen Rate wachsen.
3.12 Übungsaufgaben
69
3.12 Übungsaufgaben Aufgabe 3.1 Gehen Sie zurück zum classEx Spiel auf Seite 56.
Abbildung 3.11: Daten eines classEx Spielers
a) Zeigen Sie, dass bei s = 0, 2 die Anfangswerte in Runde 0 einen steady state kennzeichnen. b) In Abbildung 3.11 sehen Sie die zeitliche Entwicklung von Konsum und Kapitalstock eines ausgewählten Spielers. Welche der folgenden Investitionsquote: 0; 0,1; 0,2; 0,4; 0,8; 1,6 hat dieser ab Runde 1 gewählt? Begründen Sie Ihre Antwort kurz. c) Erklären Sie wie sich die Pro-Kopf-Investitionen über die 30 Jahre als Folge der Wahl des Teilnehmers entwickeln. Aufgabe 3.2 Verwenden Sie die folgende Produktionsfunktion für ein Wachstumsmodell: Y b = AK 0.3 N 0.7 . a) Zeigen Sie, dass die Entwicklung des Pro-Kopf-Kapitalstocks gemäß der Funktion k˙ = sAk0.3 − (δ + n) k bestimmt wird.
70
Kapitel 3. Produktion und Wachstum b) Bestimmen Sie k im steady state als Funktion von s, A, δ und n. c) Zeichnen Sie die Produktionsfunktion sowie die Kurve der notwendigen und der tatsächlichen Investitionen. Erläutern Sie, was bei einer Abweichung vom steady state geschieht. d) Mit welcher Rate wachsen die Pro-Kopf-Größen (yb , k, syb ) und mit welcher Rate wachsen die aggregierten Größen (Y b , K, sY b ) im steady state?
Aufgabe 3.3 Wie beeinflusst die hohe Bevölkerungswachstumsrate in Afrika das Niveau des Inlandsprodukts und dessen Wachstum? Begründen Sie Ihre Antwort mit Hilfe des Wachstumsmodells! Aufgabe 3.4 Stellen Sie eine Produktionsfunktion, die Kurve der notwendigen und der tatsächlichen Investitionen dar, jeweils in Abhängigkeit des Pro-Kopf-Kapitalstocks k. Die Pro-Kopf-Produktion wird dabei durch yb indiziert. Zeigen Sie grafisch und verbal, wie folgende Änderungen auf das Pro-KopfEinkommen, den Pro-Kopf-Konsum und die Pro-Kopf-Ersparnis wirken. a) Die Einführung der Pille reduziert das Bevölkerungswachstum. b) Der Staat fördert Investitionen durch steuerliche Anreize und kann damit die Sparquote auf ein höheres Niveau anheben. c) Die Produktionsfunktion verlagert sich aufgrund einer einmaligen Produktivitätsverbesserung. Aufgabe 3.5 a) Die Sparquote steige auf ein dauerhaft höheres Niveau. Beschreiben Sie die Auswirkungen mit Hilfe eines geeigneten Diagramms und markieren Sie dort den neuen steady state. b) Skizzieren Sie in Abbildung 3.12 (linkes Diagramm) die zeitliche Entwicklung des Pro-KopfKonsums. Dieser ist in der Ausgangslage mit einem Pfeil gekennzeichnet. c) Skizzieren Sie in Abbildung 3.12 (rechtes Diagramm) die zeitliche Entwicklung der ProKopf-Ersparnis. Diese ist in der Ausgangslage mit einem Pfeil gekennzeichnet.
3.12 Übungsaufgaben
Abbildung 3.12: Entwicklung des Pro-Kopf-Konsum und der Pro-Kopf-Ersparnis
71
4. Konjunktur
4.1
Wachstum und Konjunktur
Gemäß Wachstumsmodell ist mit einem stetigen Wachstum des BIP zu rechnen. Eine transitorische Dynamik kann das Wachstum ändern, allerdings nur geringfügig und nur, bis ein steady state erreicht ist. Tatsächlich werden aber Phasen positiven (Expansion) und solche negativen Wachstums (Rezession) beobachtet. Dadurch liegt das Inlandsprodukt manchmal oberhalb (Boom) oder unterhalb (Depression) des langfristigen Trends. Diese Schwankungen werden als Konjunktur bezeichnet und in der Abbildung 4.1 als Abweichung des Inlandsprodukts vom Trend dargestellt. Dort sind beispielsweise Boomphasen in den Jahren 2007 und 2018 ersichtlich und Depressionen in den Jahren 2009 und 2020. Diese Schwankungen könnten, im Einklang mit dem Wachstumsmodell, durch Variation der Ausstattung mit Produktionsfaktoren und technischen Fortschritt erklärt werden. Einige Ökonomen,
74
Kapitel 4. Konjunktur
Abbildung 4.1: Reales Bruttoinlandsprodukt Deutschland in Preisen von 2010.
insbesondere vor der Finanzkrise im Jahre 2008, vertraten diese Ansicht, die in der Makroökonomik als Theorie der Real-Business-Cycles Eingang gefunden hat. Aus dieser Sicht werden Abweichungen vom Trend dadurch verursacht, dass kurzfristig die Bereitstellung von Produktionsfaktoren schwankt oder der technische Fortschritt durch Innovationsschübe und Rückschläge gekennzeichnet ist. Demgegenüber hat sich zuletzt die Ansicht durchgesetzt, dass schwankende Produktionsfaktoren und technischer Fortschritt kaum in der Lage sind, Abweichungen vom Trend zu erklären. Vielmehr stellen sich diese Abweichungen bei Konstanz dieser Einflussgrößen ein. Das gemäß Wachstumsteorie resultierende Inlandsprodukt entspricht demzufolge dem stetigen Trend, wie in Abbildung 4.1 dargestellt. Dieses dem Trend entsprechende Niveau der Produktion nennen wir auch das „potentielle Inlandsprodukt“. Üblich sind auch Bezeichnungen als das „natürliche“ oder „normale“ Produktionsniveau. Es entspricht dem Inlandsprodukt bei normaler Beschäftigung aller volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren, beispielsweise Kapital und Arbeit. Nur eine freiwillige Form der Arbeitslosigkeit, beispielsweise zum Suchen eines neuen Arbeitsplatzes, und Ruhe- und
4.1 Wachstum und Konjunktur
75
Abbildung 4.2: Konjunktur, Kapazitätsauslastung, Auftragseingänge und Erwerbstätigkeit ohne Kurzarbeit.
Wartungszeiten für das in Form von Maschinen eingesetzte Kapital sind dabei zu berücksichtigen. Zudem ist es durch einen konstanten technischen Fortschritt gekennzeichnet. Wir bezeichnen es künftig mit Y¯ .
76
Kapitel 4. Konjunktur
Als Konjunktur bezeichnen wir die Abweichungen der tatsächlichen Produktion von diesem Y¯ . Diese Trend. Wir messen die Konjunktur mit Hilfe der sogenannten Produktionslücke Ye = Y − Y¯ ist die prozentuale Differenz zwischen Inlandsprodukt und seinem potentiellen Niveau. Einen konjunkturellen Boom mit Y > Y¯ erhalten wir bei einer positiven Produktionslücke, eine Depression mit Y < Y¯ bei einer negativen Produktionslücke. Bei einem potentiellen Inlandsprodukt von 2900 Mrd.e und einem tatsächlichen Inlandsprodukt von 2700 Mrd.e gilt für die Produktionslücke = −7, 4%, also eine Depression, bei der die Nachfrage stark unterhalb beispielsweise Ye = 2700−2900 2700 des potentiellen Niveaus liegt. Die konjunkturelle Entwicklung ergibt sich weitgehend aus Schwankungen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Dies wird insbesondere verständlich, wenn wir die Konjunktur in Beziehung zu anderen Größen setzen. Abbildung 4.2, oberer Teil, zeigt die Konjunktur, gemessen als die Produktionslücke. Dabei zeigt sich ein Zusammenhang zwischen der Konjunktur und der Kapazitätsauslastung. Letztere ergibt sich mit Hilfe von Umfragen bei Industriebetrieben bezüglich der Auslastung der betrieblichen Anlagen. Dies veranschaulicht, dass der Produktionsfaktor Kapital in der Depression teilweise ungenutzt bleibt. Die Auslastung wird heruntergefahren, Maschinen bleiben ungenutzt und Bauten stehen teilweise leer. Abbildung 4.2, unterer Teil, zeigt die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Phasen des Booms gehen mit hoher Beschäftigung einher. In der Depression ist die Erwerbstätigkeit gering, der Produktionsfaktor Arbeit wird nicht vollständig eingesetzt und es resultiert Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit, also eine vorübergehende Verringerung der Arbeitszeit. Analog zeigen sich Schwankungen beim Auftragseingang in der Industrie relativ zu den dort vorhandenen Kapazitäten. So gingen beispielsweise während der Finanzkrise 2009 die Aufträge um 20% gegenüber dem Vorjahr zurück. Dieser gewaltige Einbruch der Nachfrage korrespondierte mit einer konjunkturellen Entwicklung, bei der das Inlandsprodukt um fast 6% unter seinem langfristigen Trend lag. Analog korrespondiert die Depression im Jahr 2020 mit der Reduktion der Aufträge um 10% während der Covid-19 Krise. Um die konjunturelle Entwicklung für die Zukunft abzuschätzen, sei auf zwei Konjunkturindikatoren Deutschlands hingewiesen. Diese werden von Personen erhoben, die gut die Auftragseingänge und die Kapazitätsauslastung ihres jeweiligen Unternehmens beurteilen können oder als Finanzmarktexperten Zugang zu entsprechenden Unternehmensdaten haben. Der ifo-Geschäftsklimaindex beruht auf einer monatlichen Befragung des ifo-Instituts (München) von über 7000 Unternehmen in Deutschland. Eingeschätzt wird die gegenwärtige Geschäftslage (Auswahlmöglichkeit: gut,
4.2 Nachfrage und Interaktion
77
befriedigend oder schlecht), die sich insbesondere in den erzielten Umsätzen mit Gütern und Dienstleistungen der befragten Unternehmen widerspiegelt. Ziel des Indikators ist es, die aktuelle gesamtwirtschaftliche Nachfrage abzubilden und diese Informationen mit möglichst geringer zeitlicher Verzögerung zur Verfügung zu stellen. Zudem werden Geschäftserwartungen für das kommende halbe Jahr (Auswahlmöglichkeit: günstiger, gleich bleibend oder ungünstiger) erhoben und damit eine Prognose für die zukünftige gesamtwirtschaftliche Nachfrage erstellt. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim befragt monatlich ca. 350 Expertinnen und Experten von Banken, Versicherungen und Finanzabteilungen ausgewählter Großunternehmen. Neben einem Indikator zur aktuellen Lage werden Ertragserwartungen erhoben mit dem Ziel, die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der zukünftigen 6 Monate zu erfassen.
4.2
Nachfrage und Interaktion
Die Vermutung, die Nachfrage sei Treiber der Konjunktur, wurde wiederholt in Frage gestellt. So postuliert eine andere Theorie, dass eine jedwede Produktion sich automatisch eine Nachfrage in gleicher Höhe verschafft. Die Nachfrage ist damit immer nur Folge der Produktion und nicht selbst ihr Treiber. Diese Idee findet sich erstmals bei Jean-Baptiste Say (1767-1832) und ist daher als das sogenannte Saysche Gesetz bekannt. Dieses besagt, dass sich jedes Angebot seine Nachfrage selbst schafft. So schrieb Say 1803 in seinem Werk Traité d’economie politique: ”Wenn der Produzent die Arbeit an seinem Produkt beendet hat, ist er höchst bestrebt es sofort zu verkaufen, damit der Produktwert nicht sinkt. Nicht weniger bestrebt ist er, das daraus eingesetzte Geld zu verwenden, denn dessen Wert sinkt möglicherweise ebenfalls. Da die einzige Einsatzmöglichkeit für das Geld der Kauf anderer Produkte ist, öffnen die Umstände der Erschaffung eines Produktes einen Weg für andere Produkte.” Ein jeder Umsatz mit einem Produkt (Angebot) führt also zu Einnahmen, die selbst wieder nur für den Kauf anderer Produkte (Nachfrage) verwendet werden können. Dieses Gesetz ist im Wachstumsmodell erfüllt. Dort waren Produktion und gesamtwirtschaftliche Nachfrage identisch. Ein repräsentativer Haushalt bestimmte simultan die Höhe der Produktion und die Aufteilung in Konsum und Investitionen. Ersparnis und Investition waren dabei Synonyme. Abweichend von diesem Modell müssen Wirtschaftssubjekte aber ihre Ersparnis nicht unbedingt selbst für Investitionen verwenden, so dass diese beiden Größen für den Einzelnen nicht mehr
78
Kapitel 4. Konjunktur
identisch sind. Wirtschaftssubjekte können ihre Investitionen stattdessen senken und überschüssige Ersparnis anderen zur Verfügung stellen. Die Interaktion zwischen verschiedenen Haushalten geht mit erhöhter Komplexität einher. Die Folge ist, dass entgegen dem Sayschen Gesetz nicht jede Produktion eines Produkts auch zu einem Verkauf und einer Umsatzerzielung führt. Zudem führt nicht jeder Umsatz zu einem Einkommen privater Haushalte und nicht jedes Einkommen zum anschließenden Kauf von Gütern und Dienstleistungen. Das Auftreten von Schwankungen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage erscheint insbesondere aufgrund der Interaktion verschiedener Sektoren der Wirtschaft plausibel. Kein Sektor der Wirtschaft (Private Haushalte, Unternehmen, Investoren und Staat) ist alleine verantwortlich für die Bestimmung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Vielmehr beeinflussen die Aktionen eines jeden Sektors die Nachfrage der anderen Sektoren. Dabei ergibt sich eine positive Rückkopplung: Geben die privaten Haushalte viel von ihrem Einkommen für Konsumzwecke aus, so wollen die Unternehmen viel produzieren und werden dann hohe Einkommen verteilen. Investoren sind dann zuversichtlich bezüglich zukünftiger Erträge und steigern ihre Käufe von Investitionsgütern. Dies verstärkt den Boom. Die gegenteilige Entwicklung stellt sich in der Depression ein. Für ein Verständnis der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage spielen private Haushalte eine zentrale Rolle. Diese beeinflussen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage insbesondere mit ihrem Konsumverhalten. Hierbei bestimmen sie, welchen Anteil ihres Einkommens sie für Konsum ausgeben und welchen sie stattdessen sparen und zur Absicherung der Altersvorsorge verwenden.
4.3
Konsum der privaten Haushalte
Aus der Perspektive einer mikrofundierten Makroökonomik wird das Konsumverhalten der privaten Haushalte mit Hilfe eines Optimierungskalküls hergeleitet. Ausgangspunkt eines solchen Kalküls ist das Lebenseinkommen, also das über ihre gesamte, vermutete Lebenszeit ihnen zufließende Einkommen. Während ihrer produktiven Jahre wird gespart und in der Ausbildung und Rente wird entspart, um ein gleichmäßiges Konsumniveau zu realisieren. Dies wird anschaulich mit Hilfe von Abbildung 4.3 dargestellt. Mit Y wird dort das Einkommen in Abhängigkeit des Lebensalters erfasst. Das höchste Lebenseinkommen von ca. 50.000 e ergibt sich zumeist im Alter von ca. 55 Jahren. Während der Jugend und im Alter wird kein Einkommen erzielt. Würde der Konsum genau dem Einkommen entsprechen, so ergäbe sich dann eine Notlage, während in der Lebensmitte Überfluss herrscht. Um Notlagen zu vermeiden, wird Einkommen
4.3 Konsum der privaten Haushalte
79
Abbildung 4.3: Jährliches Einkommen in Euro transferiert. Gemäß einem mikrofundierten Optimierungskalkül geht diese Konsumglättung so weit, dass über alle Lebensphasen ein identisches Konsumniveau erzielt wird. Wird nun einmalig das Einkommen in einem ausgewählten Lebensjahr erhöht, z.B. in Folge einer hohen Bonuszahlung, einer Erbschaft oder eines Lottogewinns, so erhöht sich der Konsum in diesem Lebensjahr kaum. Ein Zuwachs an Einkommen wird für einen Anstieg des Konsums in allen aktuellen und zukünftigen Lebensjahren verwendet. Wir würden daher keine oder nur eine geringe statistische Korrelation zwischen dem laufenden, gegenwärtigen Einkommen und Konsum erwarten. Die marginale Konsumquote läge daher nahe bei Null. Das zukünftige Einkommen ist aber typischerweise unsicher. Menschen können ihren Arbeitsplatz verlieren, eine Lohnsenkung erfahren, unter Krankheit oder Krieg leiden oder durch Heirat und Kinder ihr Einkommen mit anderen teilen wollen. Solche zukünftigen Ereignisse sind im Voraus nicht vollständig bekannt, schon gar nicht die Wahrscheinlichkeiten ihres Eintretens. Aus diesem Grunde besteht Unsicherheit bezüglich des zukünftigen Einkommens. Zumeist schließen Menschen eher grob von ihrem aktuellen Einkommen auf das während ihres gesamten Lebens zu erwartende
80
Kapitel 4. Konjunktur
Einkommen. Führt ein unglückliches Ereignis zu einem sinkenden Einkommen, so wird auch der Konsum reduziert. Der Blick auf das Lebenseinkommen und die damit verbundene Hoffnung auf Besserung werden oftmals vernachlässigt. Genauso steigert ein einmaliger Erfolg, der zu einem höheren Einkommen führt, den Konsum. Das Erfolg in Zukunft ausbleiben könnte, wird dann gerne übersehen. Empirisch ergibt sich eine hohe Korrelation aus Einkommen und Konsum.
4.4
Keynesianische Konsumfunktion
Die Ergebnisse des Spiels und die Überlegungen zu Unsicherheit weisen auf den starken Einfluss des laufenden Einkommens auf den Konsum hin und eine geringe Bedeutung einer Konsumglättung. Dies wird auch von Seiten einer Makroökonomik als engineering betont. Keynes (1936: S. 161) geht als Ursache hierfür von einer begrenzten Rationalität aus und beschreibt diese als animal spirits. Menschen widmen Fragen der Altersvorsorge und Sparens kaum Zeit und Aufmerksamkeit. . Ein Kalkulieren und berechnen des angemessenen Konsums mit dem Ziel der Konsumglättung findet dabei nicht statt. Ein weiterer Grund für den hohen Einfluss des laufenden Einkommens ergibt sich, wenn Menschen sich mit Konsum für die Mühen der Einkommenserzielung belohnen wollen. Sie handeln dann nach der Verhaltensregel, dass man sich Konsum verdienen muss, dass Arbeit und Konsum in einer Balance zueinander stehen sollten. Beim classEx-Spiel könnte dies ebenfalls eine Rolle gespielt haben, wenn Teilnehmer einen Erfolg beim Schätzspiel mit nachfolgendem Konsum honorieren. Zuletzt sind Menschen stark von ihrem Umfeld beeinflusst bei der Konsumentscheidung. Sofern Bekannte, Freunde und Familienangehörige viel konsumieren, wirkt dies ansteckend auf den eigenen Konsum. Insgesamt sprechen diese Befunde nicht für eine hohe Bedeutung eines Optimierungskalküls. Um den Einfluss des laufenden Einkommens quantitativ zu verstehen, wenden wir uns erneut einem Spiel zu.
Konsum und Einkommen Sie erhalten ein regelmäßiges Monatseinkommen in einer Höhe und Art, die Ihnen auf ihrem mobilen Endgerät mitgeteilt wird. Bitte schätzen Sie ab, wie Sie dieses verwenden werden für 1) kurzlebige Konsumgüter verwenden (Feier, Urlaub, Kleidung), 2) langlebige Konsumgüter (Auto, Musikinstrument, Spülmaschine) , 3) sparen (Bankkonto, Wertpapiere), Sonstiges.
4.4 Keynesianische Konsumfunktion
81
Für Sparen, also Option 3, wird im Schnitt etwa 28% vorgesehen. Aufschlussreich ist erneut, wie diese Antworten mit der Beschreibung auf dem mobilen Endgerät variieren. So haben manche Teilnehmer ein monatliches Einkommen von 20.000e, andere hingegen von 1.000e. Die reicheren Teilnehmer sparen im Durchschnitt 35%, die ärmeren hingegen nur 21%. Bei geringem Einkommen muss ein größerer Anteil für Konsum verwendet werden, um einen minimalen Lebensstandard zu sichern. Die durchschnittliche Sparquote steigt also mit dem Einkommen und die Konsumquote sinkt entsprechend. Dies ermöglicht eine Beschreibung der Konsumhöhe mit Hilfe mit folgender Funktion: C = a + cY.
(4.1)
Hierbei ist a > 0 der autonome Konsum und c die marginale Konsumquote, für die gilt 0 < c < 1. Aus dieser Funktion folgt, dass Haushalte auch ohne Einkommen (Y = 0) konsumieren und zwar in Höhe des autonomen Konsums. Dies liegt daran, dass private Haushalte ohne Einkommen ihren Konsum aus ihrem Vermögen finanzieren, um ein Mindestniveau im Lebensstandard zu halten. Von einem Anstieg des Einkommens wird der Anteil c, die marginale Konsumquote, für Konsum und der Anteil s ≡ (1 − c) für Ersparnis verwendet. Die Konsumfunktion 4.1 weicht etwas ab von der Konsumfunktion des Wachstumsmodells, bei der die durchschnittliche Konsumquote konstant war und nicht dem steigendem Einkommen sank. Dies liegt am autonomen Konsum, für den im Wachstumsmodell a = 0 angenommen wurde. Dies hatte zur Folge, dass die marginale als auch die durchschnittliche Konsumquote identisch waren und nicht mit dem Einkommen sanken. Realistischer ist die Annahme a > 0. Geplant wird der Konsum nicht als nominale e-Größe, sondern als Bündel an Konsumgütern. Genauso wird das reale Niveau des Einkommens für die Bestimmung des Konsums verwendet. Für die Ersparnis gilt insgesamt S = Y − C, sie ist also der Teil des Einkommens, der nicht für Konsumzwecke verwendet wird. Für sie gilt gemäß Keynesianischer Konsumfunktion S = Y − a − cY = −a + sY.
(4.2)
Die Konsum- und Sparfunktion lassen sich grafisch veranschaulichen, wie in Abbildung 4.4 zu sehen. An der Abszisse ist das Einkommen Y abgetragen und an der Ordinate die Ersparnis S und der Konsum C. Der autonome Konsum a wird als Ordinatenabschnitt eingezeichnet, positiv für den Konsum und negativ für die Ersparnis. Die marginale Konsumquote c bestimmt die Steigung der Konsumfunktion, die marginale Sparquote s analog die Steigung der Sparkurve. Die Sparkurve lässt sich herleiten als Differenz aus einer 45-Grad Diagonale und der Konsumkurve. Die Diagonale
82
Kapitel 4. Konjunktur
Abbildung 4.4: Konsum- und Ersparnisfunktion entspricht dem Einkommen, das auf die Ordinate gespiegelt wird, so dass die Differenz der beiden Kurven gerade die Differenz aus Einkommen und Konsum ergibt.
4.5
Einfaches Gütermarktmodell
Die Keynesianische Konsumfunktion lässt sich zu einem Modell des Gütermarkts erweitern. Hierzu benötigen wir eine einfache Annahme für die Höhe der Produktion Y : Wir nehmen an, dass Produzenten stets in Höhe der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage Y D produzieren. Es gilt also Y = Y D . Sofern zusätzliche Nachfrage auftritt, können Unternehmen die Maschinen länger laufen lassen und Arbeitskräfte zu Überstunden auffordern. So können Unternehmen eine zusätzliche Nachfrage befriedigen. Bei fehlender Nachfrage ergibt sich hingegen Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit sowie eine Unterauslastung der Kapazitäten. Dies impliziert, dass sich das Angebot stets der Nachfrage anpasst. Wir unterstellen ferner, dass eine zusätzliche Nachfrage nicht für Preisanpassungen genutzt wird. Diese Rückwirkung auf das Preisniveau werden wir erst später betrachten und nehmen an, dass diese längere Zeit benötigt und für die hier durchgeführte kurzfristige Betrachtung weniger relevant ist. Y = Y D.
(4.3)
4.5 Einfaches Gütermarktmodell
83
Abbildung 4.5: Gleichgewicht und Keynesianisches Kreuz Aus einer erhöhten Produktion entsteht zusätzliches Einkommen, das an die Haushalte ausgeschüttet wird (von einbehaltenen Gewinnen sehen wir hierbei ab). Auch die Nettoinvestitionen des privaten Sektors können von positiver Rückkopplung angetrieben werden. Hiervon wollen wir hier der Einfachheit halber absehen. Wir unterstellen stattdessen, dass Investoren in einem vorgegebenen Ausmaß Investitionsgüter nachfragen: ¯ I = I.
(4.4)
Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage setzt sich gemäß dem gesamtwirtschaftlichen Produktionskonto aus zwei Bestandteilen zusammen: Y D = C + I.
(4.5)
Alle Größen wie Konsum, Investition und Produktion werden hierbei real bestimmt. Eine Verdoppelung des Preisniveaus hätte hierauf keinen Einfluss. Insgesamt gelten damit die Gleichungen (4.3), (4.4), (4.5) und die vorher definierte Konsumfunktion (4.1) mit den vier endogenen Variablen Y,Y D , I und C. Einsetzen von (4.1) und (4.4) in (4.5) und dies in (4.3) erbringt: ¯ Y = a + cY + I.
(4.6)
84
Kapitel 4. Konjunktur
Auflösen nach Y erbringt für das Gleichgewicht, in dem die Produktion der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage entspricht: Y∗ =
1 ¯ . (a + I) 1−c
(4.7)
Die außerhalb des Modells, also exogen bestimmten Variablen a und I¯ sind die Impulse, die 1 unmittelbar auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und Produktion einwirken. Der Term 1−c wird als Multiplikator bezeichnet. Er bestimmt, wie die exogenen Variablen zu einer Vervielfachung des Inlandsprodukts führen. Abbildung 4.5 veranschaulicht das Gleichgewicht. Sie ist in der Literatur als Keynesianisches Kreuz bekannt. Die gesamtwirtschaftliche Nachfragekurve Y D wird durch vertikale Aggregation der Konsumfunktion und der horizontal verlaufenden Investitionsfunktion konstruiert. Zugleich wird eine 45-Grad Diagonale eingetragen, mit der das Einkommen Y auf die Ordinate projiziert wird. Im Schnittpunkt der Diagonalen mit der gesamtwirtschaftlichen Nachfragekurve entspricht die Produktion der Nachfrage, Y = Y D und es resultiert das Gleichgewicht Y ∗ .
4.6
Störungen des Gleichgewichts
Wie entwickeln sich Konsum, Ersparnis und Inlandsprodukt als Reaktion auf exogene Schocks? Es existieren zwei Möglichkeiten, diese Frage zu beantworten. In der komparativen Statik vergleicht man zwei Gleichgewichte miteinander. Alternativ kann die Anpassung selbst betrachtet werden, inklusive der Kräfte, die wirken und eine Bewegung vom alten zum neuen Gleichgewicht bewirken. Wir wollen zunächst eine komparative Statik eines exogenen Anstiegs der Investitionen durchführen. Wird die Gleichung zur Bestimmung des gleichgewichtigen Inlandsprodukts (4.7) total differenziert, so folgt: dY ∗ =
1 ¯ . (da + d I) 1−c
(4.8)
Hierbei indiziert d eine infinitesimal kleine Änderung einer Variablen. Sofern sich der autonome Konsum nicht ändert, gilt da = 0. Eine solche Konstanz nicht näher betrachteter Variablen wird als ceteris-paribus-Annahme bezeichnet. Sie erlaubt eine klare Identifizierung von Kausalitäten. Es
4.7 Dynamische Anpassung
85
Abbildung 4.6: Änderung der Investitionen d I¯ folgt dann: dY ∗ =
1 ¯ d I. 1−c
(4.9)
Wird statt einer infinitesimal kleinen Änderung eine etwas größere Änderung für d I¯ angenommen, so lässt sich dies grafisch darstellen. Wie Abbildung 4.6 durch grobe Abschätzung zu entnehmen ¯ ist, ist der Anstieg von dY ∗ größer als der von d I.
4.7
Dynamische Anpassung
Die Anpassung nach einer Störung kann auch dynamisch dargestellt werden. Zum Verständnis dient das classEx-Konsumspiel. In diesem Spiel ist der individuelle Konsum zu wählen zu einem Zeitpunkt, zu dem die Teilnehmer noch nicht ihr individuelles Einkommen kennen. Dies ist im Einklang mit dem Gütermarktmodell, in dem sich Einkommen simultan mit den Konsumentscheidungen der anderen Teilnehmer ergibt. Die Konsumentscheidungen aller Teilnehmer zusammen
86
Kapitel 4. Konjunktur
mit einer vorgegebenen Investition I pro Spieler bestimmen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Die Produktion richtet sich nach dieser und das aus der Produktion fließende Einkommen wird gleichmäßig an alle Spieler verteilt.
Konsumspiel Jeder Teilnehmende repräsentiert einen Haushalt in einer Volkswirtschaft. In jeder der 10 Runden besteht Ihre einzige Aufgabe darin, das Konsumniveau Ihres Haushalts zu bestimmen. Gleichzeitig bestimmen die anderen Teilnehmer das Konsumniveau ihrer Haushalte. Die Produktion wird von Linda organisiert, einer zentralen Produzentin, deren Verhalten vom Computer bestimmt wird. Linda sammelt Informationen über das Konsumniveau aller Haushalte und legt das Produktionsniveau entsprechend der Gesamtnachfrage fest. Die Gesamtnachfrage setzt sich aus dem Konsum aller Haushalte und den Gesamtinvestitionen zusammen. Die Gesamtinvestitionen werden von Linda produziert und belaufen sich auf 100 pro Haushalt. Jeder Haushalt arbeitet in gleichem Umfang, um die Gesamtnachfrage zu produzieren, und erzielt ein Einkommen, indem er seine Arbeitskraft an Linda verkauft. Linda verkauft die von ihr produzierten Güter an die Haushalte je nach deren Konsumniveau. Wenn Sie sich für einen bestimmten Konsum entscheiden, kennen Sie das Einkommen Ihres Haushalts nicht. Das Einkommen der Gesamtwirtschaft hängt von Lindas Produktion und damit von der Gesamtnachfrage ab. Diese wiederum wird durch den Konsum aller Haushalte und die Investitionen bestimmt. Jeder Haushalt erhält einen gleichen Anteil am Gesamteinkommen. Folglich ist das Einkommen für jeden Haushalt gegeben durch Einkommen = MittelwertKonsum + 100. Sie streben an, den Konsum Ihres Haushalts in die Nähe eines Ziels zu bringen. Dieses Ziel ist ein Anteil des Einkommens Ihres Haushalts, der verbleibende Anteil wird gespart. Die Zielvorgabe für den Konsum ist: Ziel = 0, 8 · Einkommen. Der Teilnehmer, dessen Konsum in jeder Runde dem Ziel am nächsten kommt, wird mit einem festen Preis belohnt.
4.7 Dynamische Anpassung
87
Die Abschätzung des Einkommens fällt den Teilnehmern hierbei zumeist schwer. Sie könnten das Gleichgewicht berechnen. Da für den Zielwert des Konsums C = 0, 8Y gilt und ferner definitorisch Y = C + I, folgt daraus Y = 0, 8Y + 100. Auflösen ergibt Y = 500. Damit gilt für den Konsum im Gleichgewicht C = 400. Da diese Berechnung des Gleichgewichts schwierig ist, wählen viele Teilnehmer andere Werte, beispielsweise einen Konsum C = 200. Dies kann zum Ausgangspunkt einer Analyse der dynamischen Anpassung in Folge einer Störung verwendet werden. Stellen wir uns vor, die Teilnehmer hätten sich an Investitionen von I = 50 gewöhnt und mit einem korrespondierenden Gleichgewicht von Y = 250 gerechnet. Sie werden nun überrascht von dem Anstieg der Investitionen auf I = 100. Bei der Bestimmung des Konsums gehen sie immer noch von dem alten Einkommen Y = 250 aus und damit korrespondierend einem Konsum C = 0, 8·250 = 200. Diese Wahl des Konsums induziert jedoch jetzt ein Einkommen Y = 200+I = 300. Das Einkommen liegt damit über der Erwartung und induziert eine ungeplante Ersparnis. Statt einer Ersparnis von Y − C = 250 − 200 = 50 resultiert Y − C = 300 − 200 = 100. Gleichzeitig liegt der Konsum unterhalb des Zielwerts von 0, 8 · 300 = 240. In der zweiten Runde könnten Teilnehmer dann aus der Erfahrung lernen, vom Einkommen der Vorrunde ausgehen und den Konsum gemäß dem Zielwert C = 240 wählen. Daraus resultiert Y = 240 + I = 340. Der Zielwert für den Konsum beträgt dann 0, 8 · 340 = 272. Wird dieser Wert von allen Teilnehmern gewählt, so wird in der folgenden Runde der Konsum weiter steigen und sich über die Zeit dem gleichgewichtigen Wert von C = 400 annähern. Teilnehmer lösen die Aufgabe also dadurch, dass sie eine unbekannte Größe (das Einkommen) durch die bekannte Größe der Vorrunde ersetzen und damit über die Runden eine Dynamik zum Gleichgewicht bewirken, statt einer sofortigen Anpassung. Dies illustriert eine Dynamik, die dem Multiplikatorprozess entspricht. Die Dynamik entspricht dabei einem sogenannten Robertson-Lag, also der Idee, dass Konsumenten zeitverzögert auf Einkommensänderungen reagieren. Die dynamische Anpassung kann mit Hilfe eines Flussdiagramms beschrieben werden. Die kleinen schwarzen Pfeile stellen eine Änderung einer Variablen dar. Dabei legt Abbildung 4.7 eine Parallele zu einem Wasserkreislauf nahe. Zum Verständnis dieser Dynamik gehen wir davon aus, dass ein Gleichgewicht gestört wurde durch einen exogenen Anstieg der Investitionen, I ↑. Dieser führt nicht sofort zum neuen Gleichgewicht. Vielmehr erhöht sie die gesamtwirtschaftliche Nachfrage Y D ↑ zunächst in gleichem Ausmaß und veranlasst Produzenten zu einer Erhöhung der Produktion, Y ↑. Hieraus fließt ein erhöhtes Einkommen an die privaten Haushalte, die dies anteilig für Konsum C ↑ und Ersparnis S ↑ verwenden. Der Anstieg des Konsums wirkt zurück auf die gesamtwirtschaftliche
88
Kapitel 4. Konjunktur
Abbildung 4.7: Dynamische Anpassung im Flussdiagramm
Nachfrage und erhöht diese erneut, wodurch sich im Kreislauf eine positive Rückkopplung ergibt. Die Ersparnis wird hierbei auch als Sickerverlust bezeichnet, so wie bei einem Wasserkreislauf eine undichte Stelle. Der Kreislauf wird so lange in Gang gehalten, bis der gesamte Anstieg der Investitionen in Form von Sickerverlusten zu einem Anstieg der Ersparnis geführt hat.
4.8
Ersparnis und Investition
Das Gütermarktgleichgewicht lässt sich auch dadurch grafisch abtragen, dass die gesamtwirtschaftliche Ersparnis der Nettoinvestition gegenübergestellt wird. Für die Ersparnis gilt definitionsgemäß S = Y − C. Ferner gilt Y D − C = C + I − C = I. Damit folgt aus der bisherigen Gleichgewichtsbedingung Y = Y D die alternative Variante S = I. Dies ist dargestellt in Abbildung 4.8 in einem Diagramm mit der Ersparnis und der Investition an der Ordinate, in welchem die bereits bekannten Kurven jetzt zusammen abgetragen werden. Im Schnittpunkt der beiden Kurven bildet sich das identische, gleichgewichtige Inlandsprodukt, das wir bereits aus Abbildung 4.5 kennen. Bei einem Inlandsprodukt, das größer ist als das gleichgewichtige Inlandsprodukt, übersteigen die Ersparnisse die geplante Investition. Dort ergeben sich zum Ausgleich ungeplante Lagerinvestitionen. Abbildung 4.8 lässt sich besonders anschaulich dafür verwenden, eine erhöhte Sparneigung darzustellen. Dies kann daraus resultieren, dass der autonome Konsum sinkt da < 0. Eine komparative Statik
4.9 Sparparadoxon
89
mit der ceteris-paribus-Annahme d I¯ = 0 impliziert: dY ∗ =
1 da. 1−c
(4.10)
Abbildung 4.8: Änderung des autonomen Konsums Aus da < 0 folgt somit dY < 0. Wie in Abbildung 4.8 dargestellt, verschiebt sich die S-Kurve nach oben um da. Damit ergibt sich ein geringeres gleichgewichtiges Inlandsprodukt. Da die Steigung der S-Kurve eher flach ist, also geringer als 45-Grad, ist der Rückgang des Inlandsprodukts größer 1 > 1. Abals derjenige des autonomen Konsums |dY | > |da|. Dies entspricht der Tatsache, dass 1−c bildung 4.8 steht anschaulich für einen Markt, den wir bisher nicht systematisch erwähnt haben: den Kapitalmarkt. Investoren benötigen Kapital. Dieses können sie sich beispielsweise über Abschreibungen verschaffen. Aber in Höhe der Nettoinvestitionen müssen sie weitere Finanzierungsmittel aufnehmen. Hierzu können sie Gewinne einbehalten und sparen. Diese Finanzierungsart hatten wir im Gütermarktmodell vernachlässigt, da Einkommen vollständig an die privaten Haushalte ausgeschüttet wurden. Daher müssen sich Investoren im hier verwendeten Modell Finanzierungsüberschüsse von privaten Haushalten verschaffen, beispielsweise in Form von Krediten oder der Emission einer Anleihe.
4.9
Sparparadoxon
Die vorgenannten Konten legen eine intuitive Vermutung in Bezug auf den Kapitalmarkt nahe: Je mehr Haushalte sparen, desto mehr Finanzierungsmittel stehen zur Verfügung und desto höher kann
90
Kapitel 4. Konjunktur
die Nettoinvestition ausfallen. Diese Intuition ist aber irreführend. Abbildung 4.8 zeigte einen anderen Zusammenhang. Eine Verringerung des autonomen Konsums, also eine erhöhte Sparneigung einzelner privater Haushalte, hat keinen Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Ersparnis. Diese ist alleine durch die Höhe der Nettoinvestitionen bestimmt. Dies impliziert einen Gedanken, der zunächst paradox klingt. Der einzelwirtschaftliche Versuch, die Ersparnis zu erhöhen, scheitert im gesamtwirtschaftlichen Kontext. Dies verweist auf das Problem der fallacy of composition, das bereits in Kapitel 1 vorgestellt wurde, also darauf, dass makroökonomische Zusammenhänge sich unter Umständen nicht durch Aggregation einzelwirtschaftlicher Kalküle herleiten lassen. Im konkreten Fall der Ersparnisse ergeben sich Rückwirkungen, mit denen der Versuch einer Erhöhung der Ersparnis scheitert. Der Grund besteht darin, dass Sparen mit Konsumverzicht einhergeht und zu einer Reduktion des Inlandsprodukts führt. Diese Reduktion ist gerade so hoch, dass die Ersparnis auf ihre alte Höhe zurückgeführt wird. Eine einzelwirtschaftliche Erhöhung der Ersparnis nimmt nur anderen ihr Einkommen weg. Sie verlagert Ersparnis, ohne diese gesamtwirtschaftlich zu erhöhen. Einzelwirtschaftlich halten wir einen Menschen, der hinreichend spart, für weise und vorausschauend. In einer Rezession, z.B. in Folge der jüngsten Finanzkrise, wünschen sich viele eine Rückkehr zu solchen Tugenden. Wir fordern einander dazu auf, verstärkt Konsumverzicht zu üben. Aber das vorherige hohe Konsumniveau bewirkte, dass Produzenten mit Konsumgütern Umsätze erzielten und Einkommen ausschütteten. Diese müssen nun die Produktion herunterfahren. Den früheren Lohnempfängern fehlen die Einkommen und sie werden ihren Konsum reduzieren. Mehr sparen können sie dadurch nicht, denn das Einkommen ist gesunken. Das Kalkül verschlimmert so die Krise. Dies impliziert, dass Ersparnisse keine Restriktion für die Durchführung von Investitionen darstellen. Wir können also nicht vermuten, dass eine denkbare Knappheit an Ersparnissen die Durchführung einer Investition behindern könnte. Ersparnisse sind keine vorhandenen Finanzierungsmittel, die auf ihre Verwendung in Form von einer Investition warten. Sie entstehen erst mit der Durchführung der Investition. Dies geschieht einerseits durch den Multiplikator, da Investitionen Produktion und Einkommen steigern. In den Worten von Keynes (1936: S. 64): „Thus the act of investment in itself cannot help causing [. . . ] saving to increase by a corresponding amount.“ Aber selbst ohne Multiplikator entstehen hinreichend Ersparnisse. Stellen wir uns z.B. einen privaten Haushalt vor, der von erhöhtem Einkommen überrascht wird und nicht mit einer Erhöhung des Konsums reagiert. In diesem Fall wird das zusätzliche Einkommen vollständig gespart in Form
4.10 Schlüsselbegriffe im Kapitel
91
einer ungeplanten Ersparnis. Ist also der Multiplikator außer Kraft gesetzt, so entsteht dennoch die zur Durchführung einer Investition notwendige Ersparnis automatisch.
4.10 Schlüsselbegriffe im Kapitel autonomer Konsum gesamtwirtschaftliche Nachfrage Gütermarktmodell Investition schafft Ersparnis Keynesianische Konsumfunktion Knappheit der Ersparnisse komparative Statik Konjunktur Lebenseinkommen
marginale Konsumquote Multiplikator potentielles Inlandsprodukt Produktionslücke Saysches Gesetz Sparen als Tugend Sparfunktion Sparparadoxon
4.11 Quiz Gemäß Keynesianischer Konsumfunktion bewirkt ein Anstieg des Einkommens, dass 1. der Konsum sinkt, 2. der Konsum steigt, aber weniger als das Einkommen, 3. der Konsum im Ausmaß des Einkommens steigt, 4. der Konsum stärker ansteigt als das Einkommen.
Ein Anstieg der Investitionen nach Abschluss des Multiplikatorprozesses 1. senkt das Inlandsprodukt, 2. lässt das Inlandsprodukt unverändert, 3. erhöht das Inlandsprodukt in gleichem Ausmaß, 4. erhöht das Inlandsprodukt um mehr als den Anstieg der Investitionen selbst.
92
Kapitel 4. Konjunktur
Gemäß mikrofundierter Makroökonomik 1. kümmern sich Menschen zu wenig um ihre Altersvorsorge, 2. wird die Sparentscheidung stark durch das soziale Umfeld bestimmt, 3. liegt die marginale Konsumquote nahe Null, 4. findet keine Konsumglättung statt.
Gemäß Makroökonomik als engineering 1. streben Menschen danach, den Konsum konstant zu halten, 2. wird der Konsum durch die Höhe des Lebenseinkommens bestimmt, 3. schwankt der Konsum mit Schwankungen des laufenden Einkommens, 4. ist der Konsum proportional zur Ersparnis.
Das Sparparadoxon besagt, dass 1. kein Mensch die Ersparnis anderer beeinflusst, 2. mit erhöhter Ersparnis die Investitionen steigen, 3. Konsumverzicht nicht die gesamtwirtschaftliche Ersparnis erhöht, 4. erhöhter Konsum die Ersparnis steigert.
4.12
Ergänzende Literatur und Quellen im Web Gemäß einem Artikel des Economist vom 26. Oktober 2013 erscheint es so, als würden alle Sektoren in der Eurozone überschuldet sein. Kann dies gemäß VGR stimmen?
4.13 Übungsaufgaben
93
Der „ökonomische Pfadfinder“ mit dem Titel „Eurozone im Labor“ zeigt mit Hilfe eines Laborexperiments, das beispielhaft für die Eurozone steht, dass einseitiger Druck auf Schuldner zu einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage führt, was sich mit beidseitigem Druck auf Schuldner und Gläubiger vermeiden lässt. • A KERLOF, George A. ; S HILLER, Robert J.: Animal spirits: How human psychology drives the economy, and why it matters for global capitalism. 9. Aufl. Princeton University Press, 2010, S. 116-130 • K EYNES, John M.: The general theory of employment interest and money. London : Macmillan and Co, 1936 • K EYNES, John M.: On air: Der Weltökonom am Mikrofon der BBC. 1. Aufl. Hamburg : Murmann, 2008, S. 61-69 • M ANKIW, N. Gregory: Makroökonomik. 7. Aufl. Stuttgart : Schäffer-Poeschel, 2017, S. 378-382 • TAYLOR, John B. ; W EERAPANA, Akila: Principles of Macroeconomics. 8. Aufl. Boston : Houghton Mifflin Co, 2017, Kapitel 11
4.13 Übungsaufgaben Aufgabe 4.1 Gemäß Jean-Baptiste Say verschafft sich jedes Angebot seine Nachfrage. Gehen Sie von einer Volkswirtschaft aus, in der die Unternehmen die Produktion um 10 Mrd. e erhöhen. Erläutern Sie, aus welchen Gründen die Nachfrage weniger stark ansteigen könnte.
Aufgabe 4.3 Im Rahmen eines classEx-Spiels in der Vorlesung haben Teilnehmer die Aufteilung ihres monatlichen Einkommens auf kurzlebige Konsumgüter (Feiern, Urlaub, Kleidung), langlebige Konsumgüter (Auto, Musikinstrument, Spülmaschine) und Sparen (Bankkonto, Wertpapiere) bestimmt. Diejenigen mit einem monatlichen Einkommen von 20.000e sparten ca. 39% ihres Einkommens, diejenigen mit 1000e hingegen ca. 20%.
94
Kapitel 4. Konjunktur
Aufgabe 4.2 Ein Studierender, der sein Studium mit BAFÖG finanziert, gewinnt überraschend 20.000 e in einer Lotterie. a) Schreiben Sie als Vertreter einer mikrofundierten Makroökonomik eine kurze Empfehlung, wie der Studierende den Lotteriegewinn im laufenden Jahr auf Konsum und Ersparnis aufteilen sollte und begründen Sie diese. b) Prognostizieren Sie als empirisch erfahrener Volkswirt die Aufteilung für den Fall, dass der Studierende begrenzt rational handelt. Begründen Sie Ihre Prognose! a) Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? b) Gegeben sei die Keynesianische Konsumfunktion C = 200 + 0, 6Y , bei der C den monatlichen Konsum und Y das monatliche Einkommen bezeichnen. Prüfen Sie, ob diese Funktion zu den Werten des classEx-Spiels passt! Aufgabe 4.4 Der Gütermarkt einer Volkswirtschaft lasse sich durch folgende Funktionen beschreiben: Y = YD
YD = C+I
C = a + cY
I = I¯
a) Bestimmen Sie das Gleichgewichtseinkommen! b) Empirische Untersuchungen haben folgende Werte für die Parameter der Konsumfunktion ergeben: a = 20; c = 0, 8. Wie hoch müssen die Investitionen I¯ sein, um im Gleichgewicht ein Inlandsprodukt in Höhe von 400 zu erzielen? c) Bestimmen Sie das totale Differential, mit dem der Einfluss aller Variablen auf Änderungen des Inlandsprodukts bestimmt wird! Unterstellen Sie, dass Haushalte ihre Neigung zum Sparen erhöhen und dazu den autonomen Konsum um da = −10 senken. Wie verändert sich infolgedessen das Inlandsprodukt dY im Gleichgewicht? Aufgabe 4.5 In der Vorlesung wurde ein Konsumspiel mit classEx interaktiv gespielt. Alle Teilnehmer interagierten miteinander und bestimmten den Konsum in einer Volkswirtschaft über 5 Runden. Der Zielwert für Ihren Konsum war hierbei 0, 8·Einkommen und das Einkommen Y bestimmte sich aus dem Mittelwert aller Konsumentscheidungen + Investition. Die Investition belief sich in den Runden 1-5 auf 100.
4.13 Übungsaufgaben
95
a) Bestimmen sie Einkommen Y und Konsum C im Gleichgewicht. b) Angenommen, es stelle sich die in Abbildung 4.9 dargestellte Entwicklung des durchschnittlichen Konsums ein. Wie ist der Anstieg des durchschnittlichen Konsums von Runde 1 auf Runde 2 zu erklären?
Abbildung 4.9: Entwicklung des durchschnittlichen Konsums c) Die Investitionen sind in den Runden 6-10 von 100 auf 200 gestiegen. Wie ändert sich das Gleichgewicht? Ist die Entwicklung in Abbildung 4.9 kompatibel mit dem Gleichgewicht? Erläutern Sie dieses Ergebnis! d) Angenommen, in Runde 1 wählen die drei teilnehmenden Spieler A, B und C einen Konsum von 200, 240 und 310. Bestimmen Sie die Ersparnis der drei Spieler. Was gilt für das Verhältnis zwischen der Summe der Investitionen und der Summe der Ersparnisse? Welche Transaktionen finden auf dem Kapitalmarkt statt? e) Nehmen Sie kritisch Stellung zu folgendem Zitat: „Ein Haushalt kann eine Schuldenaufnahme vermeiden, wenn er nicht mehr als das gleichgewichtige Niveau konsumiert! “ Aufgabe 4.6 In einer Volkswirtschaft ohne Staat ändern sich der autonome Konsum um -100 (d.h. da = −100).
96
Kapitel 4. Konjunktur
Die Volkswirtschaft wird durch folgende Gleichungen charakterisiert: Y = YD
YD = C+I
2 C = a+ Y 3
I = I¯
a) Bestimmen Sie den Einfluss der Änderungen des autonomen Konsums (da = −100) auf das gleichgewichtige Nettoinlandsprodukt, auf den gleichgewichtigen Konsum und die Ersparnis. b) Erläutern Sie das Sparparadoxon unter Rückgriff auf Ihre Berechnung in Teil a.
5. Staat
5.1
Staat und VGR
Wir müssen nun einen zentralen Akteur in die Makroökonomik einführen, den Staat, der in seiner Rolle als wirtschaftspolitischer Akteur auch als Fiskus bezeichnet wird. Die Bestimmung aller Einnahmen und Ausgaben heißt dementsprechend Fiskalpolitik. Bevor wir den Staat in die Modellbildung integrieren, müssen wir ihn in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) berücksichtigen. In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung versteht man unter dem Sektor Staat alle öffentlichen Haushalte. Dies sind die Gebietskörperschaften (Zentralregierung und lokale Regierungen) und Sozialversicherungen. Der Staat produziert Güter. Dies sind insbesondere Dienstleistungen wie Landesverteidigung, Rechtssicherheit, Gesundheit und Bildung. Hierbei können keine Lagerbestandsänderungen entstehen, da Dienstleistungen nicht lagerfähig sind. Zur Produktion werden vom Staat Güter und
98
Kapitel 5. Staat
Dienstleistungen von Unternehmen und privaten Haushalten gekauft (V ) und Arbeitsleistungen unselbstständig Beschäftigter bezogen (F). In Abbildung 5.1 wird ein einfaches Produktionskonto
Abbildung 5.1: Produktions-, Einkommens- und Vermögensänderungskonto des Staates des Staates dargestellt. Auf der Verwendungsseite sind die für ein Produktionskonto üblichen Buchungen zu finden. So wird der Staat Vorleistungen von Unternehmen beziehen (V ), Abschreibungen auf Kapital vornehmen (D) und den Faktor Arbeit der öffentlich Angestellten und Beamten mit Einkommen entlohnen (F). Der Staat erzielt keine Marktumsätze mit seiner Produktion. Stattdessen ist der Empfänger der Leistung häufig nicht bekannt, die Produktion wird unentgeltlich bereitgestellt und Einzelne sollen oder können von der Nutzung solcher Güter nicht ausgeschlossen werden. Die Produktion wird kollektiv von den Haushalten konsumiert und als Staatskonsum G bezeichnet. Die Aufkommensseite ist anders als die eines privaten Produzenten zu verstehen, da keine Marktpreise existieren. Daher werden die Leistungen zu Herstellungskosten bewertet. Durch diese Bewertung kann das Produktionskonto keinen Gewinn ausweisen und sämtliche, auf der Verwendungsseite verbuchten, Kosten werden per definitionem als Leistung vollständig auf der Aufkommensseite des Produktionskontos als Staatskonsum G gebucht, wie in Abbildung 5.1 zu sehen. Nun könnte man einwenden, dass manche Dienstleistungen des Staates auch als Vorleistung in den Produktionsprozess der Unternehmen und privaten Haushalte eingehen. Dann müsste die Gegenbuchung als Vorleistung auf der Verwendungsseite im Produktionskonto der Unternehmen erfolgen. Eine statistische Abgrenzung zwischen Konsum und Vorleistungen ist aber nicht möglich. Daher wird die gesamte Produktion vereinfachend als Konsum und vollständig im Einkommenskonto des Staates gegengebucht. Der Staat erhält kein Faktoreinkommen aus Arbeits- oder Kapitaleinsatz. Die Finanzierung des
5.1 Staat und VGR
99
Staates erfolgt weitgehend über Zwangsabgaben. Hierunter versteht man die direkten Steuern und die Sozialbeiträge Td (Einkommen- und Körperschaftssteuer, Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung). Daneben tragen die indirekten Steuern Ti (Mehrwertsteuer, Mineralölsteuer) zur Finanzierung bei. Von Letzteren werden die Subventionen des Staates an die Unternehmen abgezogen und nur eine saldierte Größe ausgewiesen. Die Posten Td und Ti sind auf der Aufkommensseite des Einkommenskontos zu buchen. Es existieren ferner sogenannte Transferzahlungen des Staates Z wie z.B. Arbeitslosengeld II, BAföG, Elterngeld oder Kindergeld. Diese unterscheiden sich vom Staatskonsum dadurch, dass sie reine Transferzahlungen sind, die nicht im Zusammenhang zur staatlichen Produktion und dem hierbei nötigen Kauf von Vorleistungen und Arbeitsleistungen stehen. Mit Hilfe dieser Transferzahlungen vollzieht sich der überwiegende Teil der Einkommensumverteilung von Einkommensstarken, Gesunden, Beschäftigten zu den Einkommensschwachen, Kranken oder Pensionierten in der Volkswirtschaft. Sofern der Staat mehr Einnahmen aus direkten und indirekten Steuern erzielt, als er für Staatskonsum und Transferzahlungen ausgibt, resultiert ein Saldo, der als Ersparnis des Staates bezeichnet wird. Der Staat investiert auch, z.B. in Straßen, Brücken, Gebäude oder militärische Waffensysteme und muss hierauf Abschreibungen vornehmen. Das vom Staat gebildete Vermögen wird im Vermögensänderungskonto abgetragen. Der Staat finanziert seine Investitionen mit Hilfe der Abschreibungen und durch Ersparnis. Darüber hinaus kann ein Budgetdefizit entstehen. Investitionen werden zumeist dadurch getätigt, dass der Staat Investitionsgüter vom privaten Sektor kauft oder bauen lässt. Wie die Konten des Staates in Abbildung 5.1 zeigen, finden sich manche Gegenbuchungen in anderen Konten des Staates wieder. Dies ist bei Staatskonsum, den Abschreibungen und der Ersparnis des Staates der Fall. Für andere Posten ergeben sich Gegenbuchungen in den Konten anderer Sektoren, wie in Abbildung 5.2 dargestellt. Die Buchungen aus Kapitel 2 (Abbildung 2.8) sind mit abgebildet. Neue Buchungen betreffen die direkten und indirekten Steuern sowie die Transferzahlungen. So sind indirekte Steuern direkt von den Produzenten bei der Umsatzerzielung zu erheben und an den Staat abzuführen. Da sie direkt mit der Produktion zusammenhängen, werden sie im Produktionskonto des privaten Sektors gebucht. Die direkten Steuern stehen hingegen im Zusammenhang mit der Einkommenserzielung von privaten Haushalten oder der Gewinnerzielung von Unternehmen. Sie stellen damit eine Einkommensumverteilung dar und werden auf der Verwendungsseite des Einkommenskontos des privaten Sektors gebucht.
100
Kapitel 5. Staat
Abbildung 5.2: Gegenbuchungen beim privaten Sektor
Den Bruttoinvestitionen des Staates stehen Umsätze von Unternehmen entgegen und werden dort auf der Aufkommensseite gebucht. Zuletzt kann ein Budgetdefizit des Staates auftreten, das der Staat durch Finanzierungsüberschüsse in den Vermögensänderungskonten anderer Sektoren finanzieren und gegenbuchen muss. Hierfür nimmt der Staat einen Kredit auf, beispielsweise durch Emission von Staatsanleihen. Der private Sektor verwendet dann seine Überschüsse für den Kauf dieser Staatsanleihen. Aus den Vermögensänderungskonten in Abbildung 5.1 und 5.2 lässt sich ersehen, dass sich Überschüsse und Defizite in einer Volkswirtschaft ausgleichen. Es können nicht alle Sektoren gleichzeitig Überschüsse erwirtschaften. Dies lässt sich auch empirisch verdeutlichen. Abbildung 5.3 zeigt das Budgetdefizit des Staates sowie die Finanzierungsüberschüsse des privaten Sektors in den USA. Die Finanzierungsüberschüsse des Auslands vernachlässigen wir an dieser Stelle. Es ist gut zu erkennen, dass beide Verläufe spiegelbildlich sind. Weist der Staat ein hohes Budgetdefizit aus, wie in den Jahren 2009, 2020 und 2021, so zeigt sich ein Finanzierungsüberschuss beim privaten Sektor.
5.1 Staat und VGR
101
Abbildung 5.3: Finanzierungsüberschüsse und -defizite in den USA in Prozent des Inlandsprodukts.
Dies wirft die Frage auf, welche Sektoren am ehesten Defizite aufweisen sollten. Am ehesten gilt dies für diejenigen, die Investitionen durchführen. Investitionen ermöglichen nämlich zukünftige Einnahmen, mit denen das Defizit abgetragen werden kann. So werden Unternehmen zukünftige Umsätze und Gewinne erzielen und damit aufgenommene Kredite tilgen können. Der Staat wird durch Investitionen, beispielsweise in Infrastruktur oder Bildung, seinen Bürgern ein höheres Einkommen ermöglichen und daraus erhöhte Steuereinnahmen erzielen. Wir können damit insgesamt festhalten, dass nicht alle Defizite schlecht sind. Sie sind zum einen unvermeidlich, denn private Haushalte streben zumeist danach, Ersparnisse zu bilden und dafür einen Finanzierungsüberschüsse zu erzielen. Ferner sind sie unbedenklich, sofern ihnen durch getätigte Investitionen ein Kapitalstock entgegensteht. Werden aus den Konten 5.1 und 5.2 gesamtwirtschaftliche Konten gebildet, so ergibt sich Abbildung 5.4. Die in der Abbildung verwendeten Werte in Mrd.e sind angelehnt an die Werte für Deutschland. Neu sind die Buchungen für die indirekten Steuern und den Staatskonsum im Einkommenskonto
102
Kapitel 5. Staat
Abbildung 5.4: Gesamtwirtschaftliche Konten mit Staat
und dem Produktionskonto dazugekommen. Die direkten Steuern und die Transferzahlungen stellen Umverteilungen innerhalb des gesamtwirtschaftlichen Einkommenskontos dar. Andere Ströme, wie das Faktoreinkommen, die Ersparnis, die Abschreibungen und die Bruttoinvestitionen, beinhalten nun auch einen Anteil des Staates.
5.2
Nettoinlandsprodukt zu Marktpreisen
Bei der Bestimmung des Nettoinlandsprodukts können nun zwei verschiedene Preisniveaus zu Grunde gelegt werden. Güter können zu Marktpreisen oder zu Herstellungskosten bewertet werden. Werden indirekte Steuern berücksichtigt, Preise also insbesondere inklusive der hierauf erhobenen Mehrwertsteuer berechnet, so ergibt sich das sogenannte Nettoinlandsprodukt zu Marktpreisen, das wir wie bisher mit Y kennzeichnen. Dies kann als Summe der Buchungen des Aufkommens im Produktionskonto bestimmt werden (wobei die Abschreibungen aufgrund des Nettoprinzips
5.3 Gütermarktmodell mit Staat
103
abgezogen werden. Y = C + I + G = 1600 + (900 − 500) + 400 = 2400.
(5.1)
An die VGR schließen sich erneut aufschlussreiche Fragen an. Hat die Höhe des Staatskonsums einen positiven Einfluss auf Y , so wie dies ein Blick auf das Produktionskonto nahegelegt? Ferner legt das Einkommenskonto des Staates nahe, dass eine Erhöhung des Staatskonsums die staatliche Ersparnis reduziert. Sinkt dadurch die gesamtwirtschaftliche Ersparnis und reduzieren sich dadurch die Mittel für gesamtwirtschaftliche Investitionen? Sofern der Staat sein Budgetdefizit erhöht, verdrängt er damit private Investitionen, ein Effekt, der auch als crowding-out bezeichnet wird? Können wir die privaten Investitionen weiterhin als exogen annehmen, oder fehlen den Investoren die Finanzierungsmittel, wenn der Staat diese für sich beansprucht? Dies sind erneut Fragen, die sich nur mit Hilfe eines theoretischen Modells beantworten lassen.
5.3
Gütermarktmodell mit Staat
Für eine modelltheoretische Identifikation der wesentlichen Kausalitäten und Abhängigkeiten erweitern wir das Modell aus Kapitel 4. Private Haushalte beziehen nicht mehr das gesamte aus der Produktion stammende Einkommen. Vielmehr ist dies reduziert um die indirekten und direkten Steuern, die wir zusammenfassend mit T bezeichnen und ergänzt um die Transferleistungen des Staates. Wir nennen dies das verfügbare Einkommen und definieren es gemäß Y v = Y − T + Z.
(5.2)
Wir nehmen an, dass Haushalte ihren Konsum in Abhängigkeit vom verfügbaren Einkommen planen, so dass sich die Konsumfunktion (4.1) wie folgt schreiben lässt: C = a + cY v .
(5.3)
Von den Steuern T nehmen wir an, dass der Staat sie mit dem Steuersatz τ relativ zum Inlandsprodukt erhebt. T = τY mit 0 < τ < 1.
(5.4)
Die Nettoinvestitionen I umfassen nun sowohl einen staatlichen Anteil Ist als auch einen privaten Anteil Ip . I = Ist + Ip = I¯
(5.5)
104
Kapitel 5. Staat
Zur Berechnung des Gleichgewichtseinkommens werden die Verhaltenshypothesen (5.3), (5.4) und (5.5) zusammen mit Y D = C + I + G und (5.2) in die Gleichgewichtsbedingung Y = Y D eingesetzt: Y = a + c (Y − τY + Z) + I¯ + G.
(5.6)
Werden in (5.6) die Terme mit Y auf die linke Seite gebracht, ausgeklammert und um den Klammerausdruck dividiert, so folgt: Y∗ =
1 (a + cZ + I¯ + G) . 1 − c (1 − τ)
(5.7)
Erneut erkennen wir im Quotienten einen Multiplikator, der bestimmt, wie stark die in der Klammer stehenden exogenen Variablen zu einer Vervielfachung des Inlandsprodukts führen. In (5.8) lässt sich erkennen, dass der Multiplikator mit Steuersatz kleiner ist als der Multiplikator ohne Steuersatz, so dass Änderungen der exogenen Variablen nur noch einen gedämpften Einfluss haben. 1 1 < 1 − c (1 − τ) 1 − c
(5.8)
Dies bezeichnet man als „automatischen Stabilisator“. Eine Erhöhung des autonomen Konsums a, der Transferzahlungen Z, der Investitionen I oder des Staatskonsums G führen zu einer Ausweitung des Inlandsprodukts. Diese Ausweitung wird aber automatisch dadurch gedämpft, dass der Staat Steuern erhebt und seine Ersparnis dadurch steigt. Im umgekehrten Fall eines Konjunktureinbruchs resultieren Defizite beim Staat. Diese Defizite wirken stabilisierend auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Diese Stabilisierung ergibt sich automatisch, ohne spezielle Programme des Staates zur Ankurbelung des Staatskonsums oder der Investitionen. Neben den Steuern τ erfüllen auch die Abgaben für die Sozialversicherungen diese Aufgabe, da sie auch anteilig auf das Einkommen Y anfallen. Eine grobe Faustregel besagt, dass ein Anstieg des Inlandsprodukts um 1% Mehreinnahmen bei den Steuern in Deutschland i.H.v. ca. 4 Mrd.e bewirkt. Noch stärker fallen die Überschüsse bei den Sozialversicherungen aus. Der Überschuss bei der Arbeitslosenversicherung beläuft sich etwa auf 6 Mrd.e, weitere 4 Mrd.e beim Arbeitslosengeld II sowie 1 Mrd.e bei der Rentenkasse. Im Gegensatz zum automatischen Stabilisator kann der Staat auch aktive Fiskalpolitik betreiben und zum Beispiel die staatlichen Investitionen erhöhen. In Abbildung 5.5 wird beispielhaft ein solcher exogener Anstieg der Investitionen des Staates dargestellt. Die Investitionen erhöhen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und die Produktion. Damit steigt das Einkommen. Hieraus ergeben sich erhöhte Steuereinnahmen und ein Anstieg des verfügbaren Einkommens. Dieses führt zu einem
5.3 Gütermarktmodell mit Staat
105
Abbildung 5.5: Dynamische Anpassung durch Erhöhung der Investitionen im Flussdiagramm
Anstieg von Konsum und privater Ersparnis S p . Der erhöhte Konsum bewirkt nun seinerseits eine erhöhte Nachfrage, wodurch sich ein positiver Rückkopplungsprozess ergibt. Die Anpassung geht so lange weiter, bis die Erhöhung der Investitionen vollständig in einem Anstieg der Steuern und der privaten Ersparnis versickert ist. Dies legt eine wichtige Schlussfolgerung nahe. Die gesamtwirtschaftliche Ersparnis ist erneut genauso stark angestiegen wie die Investitionen. Hierbei setzt sich der Anstieg der Ersparnis aus einem Anstieg der staatlichen und der privaten Ersparnis zusammen. Die zusätzlichen Steuereinnahmen führen bei konstantem Staatskonsum und konstanten Transferzahlungen vollständig zu einer Erhöhung der staatlichen Ersparnis. Damit können wir eine Frage beantworten, die wir im Abschnitt 5.2 gestellt haben. Eine Erhöhung der staatlichen Investitionen verschafft sich die notwendige Finanzierung automatisch in voller Höhe. Sie muss also nicht durch eine Reduzierung privater Investitionen ausgeglichen werden. Die befürchtete Verdrängung privater Investitionen (crowding-out) findet also nicht statt. Im Rahmen einer komparativen Statik lässt sich die Wirkung einer Veränderung der exogenen Variablen auf das Inlandsprodukt durch das totale Differential erneut bestimmen. Diese geht aber mit einer Schwierigkeit einher. Der Staat kann den Steuersatz τ verändern, daher müssen Variationen dieser Variablen berücksichtigt werden. Der Steuersatz ist aber multiplikativ mit einer anderen endogenen Variablen verknüpft, dem Inlandsprodukt. Daher ist die Produktregel anzuwenden,
106
Kapitel 5. Staat
d (τY ) = τ dY +Y dτ. Wenn man (5.6) total differenziert, so folgt: dY = da + c (dY − τdY − dτY + dZ) + d I¯ + dG 1 ⇔ dY ∗ = (da − cY dτ + cdZ + d I¯ + dG) . 1 − c (1 − τ)
(5.9)
Der Staat kann somit expansive Fiskalpolitik betreiben, indem er den Steuersatz τ senkt. In diesem Fall ergibt sich ein Impuls im Ausmaß von −cY dτ, wie in obiger Gleichung dargestellt. Eine weitere offensichtliche Form der aktiven Fiskalpolitik besteht in einer Variation des Staatskonsum G. Dabei stellt sich eine aufschlussreiche Frage: Wie entwickelt sich dabei das Budgetdefizit? Die Antwort ist auf den ersten Blick nicht eindeutig, da der Multiplikator das Inlandsprodukt erhöht und zu gesteigerten Steuereinnahmen führt. Sind diese erhöhten Steuereinnahmen groß genug, um den erhöhten Staatskonsum zu finanzieren? Aus dem Vermögensänderungskonto und dem Einkommenskonto folgen für das Budgetdefizit: BD = Istb − D − Sst = Ist − (T − Z − G) = Ist − τY + Z + G.
(5.10)
Das totale Differential erbringt dann mit dZ = dIst = dτ = 0: dBD = dG − τdY.
(5.11)
Die Veränderung des Budgetdefizits setzt sich also aus dem erhöhten Staatskonsum zusammen sowie den sich daraus ergebenden erhöhten Steuereinnahmen. Ersetzt man dY mit (5.9) und setzt man dZ = da = d I¯ = dτ = 0, dann erhält man: 1 dBD = 1−τ < 1. dG 1 − c (1 − τ)
(5.12)
Umgeformt folgt: dBD (1 − c) (1 − τ) = > 0. dG 1 − c (1 − τ)
(5.13)
Damit zeigt sich, dass die erhöhten Steuereinnahmen den Anstieg des Budgetdefizits insgesamt abmildern (5.12), aber nicht vollständig neutralisieren (5.13). Dieses Ergebnis möge die Leserin oder der Leser bewahren bis zur nächsten Bundestagswahl, bei der traditionsgemäß beschworen wird, wie sich alle Wahlversprechen von alleine finanzieren.
5.4 Verschuldung und Konjunktur
5.4
107
Verschuldung und Konjunktur
Wie in Kapitel 4 ausgeführt, schwankt das Inlandsprodukt insbesondere mit der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, mit den Konjunkturzyklen, die mal schwächer und mal deutlicher ausfallen können. Dies wirft die Frage auf, wie der Staat hierauf reagieren sollte. Wir haben hergeleitet, dass ein Anstieg des Staatskonsums oder der Transferzahlungen einen gleichgerichteten Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ausübt. Dieser Einfluss wird von einer mikrofundierten Makroökonomik kritisch betrachtet. Aus dieser Sicht können die Ausgaben des Staates für Transfers, Konsum und Investitionen die Einnahmen aus Steuern nicht dauerhaft übersteigen. Das Budget eines einzelnen Haushalts unterliegt einer intertemporalen Budgetrestriktion: Einem heutigen Defizit muss ein Überschuss morgen entgegenstehen. Ein Fiskus, der sich heute beispielsweise durch Transferzahlungen an private Haushalte verschuldet, muss morgen Steuern erhöhen oder Ausgaben kürzen. Private Haushalte streben aus dieser Sichtweise eine Konsumglättung an. Hierfür werden sie diese zukünftigen Steuerzahlungen antizipieren und sofort hierfür Ersparnisse bilden wollen. Damit wird die Auswirkung erhöhter Transferzahlungen auf den privaten Konsum und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage beeinträchtigt.
Ricardianische Äquivalenz Zur Ankurbelung der Konjunktur beschließt die Bundesregierung, jedem Bewohner zwischen 18 und 65 Jahren einen Betrag von 10.000 e zu überweisen. Bitte beachten Sie dazu die weitere Beschreibung auf Ihrem mobilen Endgerät. Den folgenden Anteil werde ich für kurzlebige Konsumgüter verwenden (Feier, Urlaub, Kleidung) ___%. Den folgenden Anteil werde ich für langlebige Konsumgüter verwenden (Auto, Musikinstrument, Spülmaschine) ___%. Den folgenden Anteil werde ich sparen (Bankkonto, Wertpapiere) ___%. Sonstiges ___% (wird automatisch berechnet).
Im Extremfall sollten erhöhte Transferzahlungen vollständig für Ersparnis verwendet werden, um die späteren Steuerzahlungen leisten zu können. Diese Sichtweise wird in der Literatur als Ricardianische Äquivalenz bezeichnet, unter Bezug auf eine Veröffentlichung David Ricardos aus dem Jahre 1820. Eine Überprüfung erfolgt in dem classEx-Spiel, in welchem einem Teil der Teilnehmer mitgeteilt wird, die Bundesregierung finanziere die Transferzahlungen mit Hilfe einer Kreditaufnahme. Dennoch geben Teilnehmer typischerweise an, nur etwa 40% und nicht
108
Kapitel 5. Staat
etwa 100% der Transferzahlungen zu sparen, im Widerspruch zur Ricardianischen Äquivalenz. Einem anderen Teil der Teilnehmer wird mitgeteilt, dass die Bundesregierung neue Vorkommen an natürlichen Ressourcen entdeckt hat, aus deren Verkauf sie die Zahlung finanziert. In diesem Falle ist nicht mit zukünftig erhöhten Steuerzahlungen zu rechnen und für diese müsste keine Ersparnis gebildet werden. Aber die Sparquote wird hierdurch nicht verändert und beträgt zumeist unverändert 40%. Diese Ergebnisse sprechen gegen die Gültigkeit der Ricardianischen Äquivalenz, da zukünftige Steuerzahlungen im Kalkül der Teilnehmer offensichtlich keine wichtige Rolle spielen. Dies legt nahe, dass nicht alle privaten Haushalte eine Konsumglättung anstreben oder die Konsequenz zukünftiger Steuererhöhungen für heutiges Sparverhalten durchschauen. Die extreme Annahme der Ricardianischen Äquivalenz wird allerdings auch von einer mikrofundierten Makroökonomik nicht vertreten. Diese vermutet beispielsweise eine Verletzung der Äquivalenz aufgrund von Marktunvollkommenheiten. So kann die Übertragung von Ersparnissen in die Zukunft mit Kosten einhergehen, beispielsweise weil sich Anleger über verschiedene zur Verfügung stehenden Anleihen informieren müssen, Banken Gebühren erheben oder Steuern fällig werden. Diese Kosten werden vermieden, wenn aktuelles Einkommen für sofortigen Konsum verwendet wird. Erhöhte Transferzahlungen werden dann von privaten Haushalte zur Vermeidung dieser Kosten nur teilweise gespart. Die Ricardianische Äquivalenz gilt nicht vollständig. Insgesamt herrscht Konsens, dass expansive Fiskalpolitik die gesamtwirtschaftliche Nachfrage erhöht. Ergibt sich aber nun angesichts dieser Wirkung des Staatskonsums oder der Transferzahlungen die Schlussfolgerung, dass der Staat Konjunkturschwankungen dämpfen sollte? Dies wird kontrovers diskutiert. So wird seitens einer Keynesianischen Sichtweise betont, dass Konjunkturzyklen stark sind und länger anhalten können. Dies ist darauf zurückzuführen, dass selbstverstärkende Mechanismen existieren. Eine Rezession verstärkt sich selbst durch Multiplikatoreffekte. Die Wirtschaft wird hierdurch unerwünschten Schwankungen ausgesetzt. Die langfristige Anpassung zum Gleichgewicht dauert zu lange. Dies wird besonders prägnant mit dem Zitat von Keynes (1923: 80) ausgedrückt: „In the long-run we are all dead“. Aufgabe der Fiskalpolitik ist es dann, antizyklisch gegen Konjunkturschwankungen in der Expansion den Staatskonsum zu senken und in der Rezession zu erhöhen, so dass er im Boom insgesamt unterdurchschnittlich und dämpfend ausfällt und in der Depression hoch. Gegen diese Argumente wurde häufig argumentiert, dass Änderungen der Fiskalpolitik einen langen politischen Prozess für ihre Durchsetzung benötigen. Aufgrund der Verzögerungen wird eventuell
5.5 Schuldenstandsquote
109
nicht eine gegenwärtige Depression abgeschwächt, sondern ein zukünftiger Boom verstärkt. Zudem wird eine expansive Fiskalpolitik nicht unbedingt zum Wohle der Wirtschaft eingesetzt, sondern um Politikern ihre Wiederwahl zu sichern. Während dabei Ausgabensteigerungen leicht durchsetzbar sind, findet im Boom eine Senkung des Staatskonsums oftmals nicht statt, da erhöhter Staatskonsum oder Steuersenkungen dauerhafte Ansprüche von Marktteilnehmern begründen, gegen die ein Politiker sich ungern richtet. Aus diesen Gründen wird gegen eine aktive Rolle des Fiskus argumentiert. Während ein Kompromiss zwischen diesen beiden theoretischen Positionen nicht ersichtlich ist, scheint die in der Praxis eingeschlagene Linie darin zu bestehen, in einer besonders schweren Depression eine Erhöhung des Staatskonsums und der Transferzahlungen zuzulassen und bei normalen Konjunkturschwankungen auf automatische Stabilisatoren zu vertrauen, die sofort und regelgebunden wirken.
5.5
Schuldenstandsquote
Jährliche Budgetdefizite addieren sich über die Jahre und bestimmen damit die Gesamtverschuldung eines Staates. In Abbildung 5.6 werden die jährlichen Budgetsalden und die aggregierte Verschuldung für Deutschland (Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen) abgetragen. Zwischen 2014 und 2019 liegen Überschüsse vor. In diesen Jahren sinkt die Verschuldung leicht von ca. 2200 Mrd. eauf 2100 Mrd. e. In den Jahren 2002-2004, 2008-2010 und 2020-2022 zeigen sich Defizite von zuletzt über 100 Mrd. e. Diese Defizite werden auch oftmals als Nettoneuverschuldung bezeichnet. Mit diesen hohen Defiziten steigt die Gesamtverschuldung entsprechend stark an. Im Jahre 2022 zeigte sich zuletzt eine Gesamtverschuldung in Höhe von 2570 Mrd.e. Insbesondere ein stetiger Anstieg der Gesamtverschuldung wird oftmals als Zeichen einer problematischen Entwicklung gesehen. Dabei muss aber zunächst beachtet werden, dass auch das Bruttoinlandsprodukt stetig steigt. Ein Anstieg bedeutet, dass der Staat in Zukunft eine erhöhte Basis hat, um Steuern zu erheben. Den Schulden steht damit eine erhöhte Zahlungsfähigkeit des Staates gegenüber. Um dies angemessen zu berücksichtigen, ist es sinnvoll, die Gesamtverschuldung in einen Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt zu setzen. Diese sogenannte Schuldenstandsquote, definiert als Verhältnis zwischen Gesamtverschuldung und dem nominalen Inlandsprodukt, ist in Abbildung 5.7 abgetragen. Es zeigt sich eine Gesamtverschuldung von 66% des Inlandsprodukts im Jahre 2022.
110
Kapitel 5. Staat
Abbildung 5.6: Verschuldung Deutschland (Gesamtstaat). Diese Schuldenstandsquote würde in Zukunft dann konstant bleiben, wenn die Schulden prozentual genauso stark steigen wie das nominale Inlandsprodukt. Eine Variation der Staatsausgaben beeinflusst die Schuldenstandsquote auf zweierlei Art, wie sich mit Hilfe des Gütermarktmodells zeigen lässt. Zusätzlicher Staatskonsum dG in Höhe von 10% des Inlandsprodukts erhöht das Budgetdefizit von 60% auf 70% des Inlandsprodukts und bei einem Multiplikator von 2 das Inlandsprodukt um 20%. Dadurch steigt das Inlandsprodukt auf 120% seines ursprünglichen Wertes. Das gestiegene Inlandsprodukt erhöht auch die Steuereinnahmen und senkt das Budgetdefizit. Gehen wir von einem Steuersatz von 25% aus, so erhöhen sich die Steuereinnahmen um 5% des Inlandsprodukts. Die Schuldenstandsquote steigt einerseits aufgrund der Gesamtverschuldung, die von 60% auf 60 + 10 − 5 = 65% gestiegen ist. Sie sinkt anderseits, da im Nenner das Inlandsprodukt auf 100% gestiegen ist. Insgesamt stellt sich eine sinkende Schulden60 060% auf 60+10−5 quote ein, und zwar von 100 100+20 = 54%. Dies bedeutet, dass die Gesamtverschuldung in Prozent des Inlandsprodukts sich entgegen intuitiver Vermutungen entwickeln kann. Dieses kontraintuitive Resultat stellt sich am ehesten bei einem großen Multiplikator ein.
5.6 Grenzen der Verschuldung
111
Abbildung 5.7: Verschuldung in Prozent des BIP.
5.6
Grenzen der Verschuldung
Bezüglich der Grenzen der Verschuldung stehen sich in der Makroökonomik zwei Positionen gegenüber. Aus einer einzelwirtschaftlichen, mikrofundierten Sichtweise entstehen durch eine hohe Schuldenstandsquote Sorgen, der Staat könne seine aufgenommenen Kredite nicht zurückzahlen und seine Anleihen nicht bedienen. Kreditgeber fürchten eine Insolvenz. Eine nachhaltige Schuldenstandsquote darf aus dieser Perspektive nicht aus dem Ruder laufen und sollte langfristig auf einem konstanten Niveau gehalten werden. Aus einer zu hohen Schuldenstandsquote ergeben sich sonst negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum. So argumentieren Reinhard und Rogoff (2010) in einer vielbeachteten und kontrovers diskutierten Studie, dass ab einer Verschuldung von 90% das Wachstum des Inlandsprodukts um 2 Prozentpunkte niedriger ausfalle. Eine Lehrmeinung, die häufig als expansionary austerity bezeichnet wird, verweist auf die Rolle des Vertrauens für die Fiskalpolitik und argumentiert, dass eine hohe Verschuldung dieses Vertrauen unterminiere. Ein verringertes Vertrauen reduziere dann langfristig das Wachstum. Im Extremfall könnte dies, entgegen dem Konsens in der Makroökonomik, sogar dazu führen, dass eine expansive Fiskalpolitik
112
Kapitel 5. Staat
restriktiv wirkt, sofern ein gesunkenes Vertrauen zu einem Einbruch des Konsums, der Investitionen und damit der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage führt. Diese Position fand in Deutschland Unterstützung seitens des Finanzministeriums und des Sachverständigenrats. Eine restriktive Fiskalpolitik durch Senkung des Staatskonsums oder Erhöhung der Steuern mit dem Ziel einer Reduzierung des Budgetdefizits würde das Vertrauen der privaten Haushalte, Unternehmen und Investoren in die nachhaltige Staatsfinanzierung erhöhen und sich positiv auf das Wachstum des Inlandsprodukts auswirken. Aus diesem Grund wurde in Deutschland im Jahr 2009 die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert. Diese beschränkt das Budgetdefizit von Bund und Ländern auf 0,35 % des Inlandsprodukts und erlaubt nur einen geringen Spielraum für eine antizyklische Fiskalpolitik und für den Fall von Naturkatastrophen und Wirtschaftskrisen. Entgegen diese gesetzlichen Vorgabe, ist eine weniger strikte Haltung im Falle öffentlicher Investitionen zu vertreten, da mit diesen Wachstum und zukünftig höhere Steuereinnahmen generiert werden. Ein Anstieg der Schuldenstandsquote wäre dann nachhaltig, falls die zusätzlich aufgenommenen Mittel für Investitionen verwendet werden. In diesem Fall steht der höheren Verschuldung ein Anstieg an Sachanlagen entgegen. Dieser verspricht zukünftig höhere Steuereinnahmen, mit denen die Verschuldung langfristig getilgt werden kann. Aus einer gesamtwirtschaftlichen, sich insbesondere auf Keynes berufenden Position stellen sich die Grenzen der Verschuldung sogar noch weniger rigide dar. Wir können diese erneut einer Makroökonomik als engineering zuordnen. Diese Sichtweise argumentiert, dass der Fiskus dauerhaft gegen eine zu geringe gesamtwirtschaftliche Nachfrage vorgehen kann. Falls beispielsweise private Haushalte wenig konsumieren und viel sparen, kann der Staat dies dauerhaft durch höhere Ausgaben ausgleichen. Die höhere Sparneigung der Haushalte schafft selbst den Spielraum für höhere Ausgaben des Staates. Mit der dadurch zunehmenden Schuldenstandsquote stützt der Staat die Konjunktur und verhindert eine Depression. Dies könnte das Vertrauen der Wirtschaftssubjekte fördern. So können Investoren beispielsweise von einem stabilen Niveau der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ausgehen und verlässlicher Planen. Sorgen, der Staat würde die Rückzahlung nicht sichern können, sind aus einer keynesianischen Sicht unberechtigt, da solche Sorgen nicht etwa Teil des Problems, sondern Teil der Lösung sind. Falls nämlich private Haushalte um die sichere Rückzahlung ihrer Ersparnisse bangen, müssten sie ihr Einkommen für andere Zwecke als zum Kauf von Staatsanleihen verwenden. Hierfür bieten sich zwei Möglichkeiten an. Entweder müssten die privaten Investitionen steigen und weitere Anlagemöglichkeiten den privaten Haushalten zur Verwendung der hohen Ersparnis zur
5.7 Schlüsselbegriffe im Kapitel
113
Verfügung stehen. Oder der private Konsum müsste steigen und die Neigung zum Sparen ein Ende finden. In beiden Fällen erhöht sich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und erlaubt es dem Staat, seine Ausgaben wieder einzuschränken und die Schuldenstandsquote zu stabilisieren. Gesamtwirtschaftlich ist damit eine hohe Schuldenstandsquote unproblematisch.
5.7
Schlüsselbegriffe im Kapitel
antizyklische Fiskalpolitik automatischer Stabilisator Budgetdefizit crowding-out expansionary austerity Gütermarktmodell mit Staat Investition des Staates Ricardianische Äquivalenz
5.8
Schuldenbremse Schuldenstandsquote Staatskonsum Steuern (direkt und indirekt) Transferzahlung verfügbares Einkommen Vertrauen volkswirtschaftliche Konten des Staates
Quiz
Im Rahmen einer Analyse im Gütermarktmodell bewirkt eine Erhöhung der Investitionen des Staates 1. reduzierte private Investitionen, 2. reduzierten privaten Konsum, 3. erhöhte Ersparnis des Staates, 4. reduzierten Staatskonsum.
Nach Abschluss aller Multiplikatorrunden bewirkt eine Erhöhung des Staatskonsums 1. eine erhöhte private Ersparnis 2. eine erhöhte staatliche Ersparnis, 3. ein verringertes Budgetdefizit, 4. eine erhöhte gesamtwirtschaftliche Ersparnis.
114
Kapitel 5. Staat
Gemäß dem Ricardianischen Äquivalenzprinzip reagieren private Haushalte auf eine kreditfinanzierte Erhöhung des Staatskonsums 1. mit einer Senkung ihrer Ersparnis, 2. indem sie ihre Ersparnis konstant halten, 3. indem sie ihre Ersparnis in gleichem Ausmaß erhöhen, 4. indem sie ihre Ersparnis stärker als den Staatskonsum erhöhen.
Eine hohe Schuldenstandsquote kann aus keynesianischer Sicht 1. das Vertrauen und damit das Wachstum der Wirtschaft behindern, 2. dem Wunsch der Haushalte nach Bildung von Ersparnissen entsprechen, 3. die Schuldenbremse verletzten, 4. Steuererhöhungen notwendig machen.
5.9
Ergänzende Literatur und Quellen im Web
Der Internationale Währungsfonds stellt anschaulich die globalen Verschuldungsquoten dar und ihre zeitliche Entwicklung.
Ein Video zeigt die Funktionsweise der MONIAC (Monetary National Income Analogue Computer), einer Maschine, die 1949 entworfen wurde und mit Wasserflüssen mechanisch den Fluss von Einkommen in einer Volkswirtschaft simuliert.
5.10 Übungsaufgaben
115
In einem Beitrag für den britischen Guardian kritisiert Paul Krugman die Idee der expansionary austerity.
Der Economist argumentiert in diesem Video, dass höhere Schulden des Staates tragbar sein können.
• F RENKEL, Michael ; J OHN, Klaus D.: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. 7. Aufl. München : Vahlen, 2011, S. 24-27, 38-42, 52-53, 55 • K EYNES, John M.: The general theory of employment interest and money. London : Macmillan and Co, 1936 • K EYNES, John M.: On air: Der Weltökonom am Mikrofon der BBC. 1. Aufl. Hamburg : Murmann, 2008, S. 71-77 • L ERNER, Abba: Functional Finance and the Federal Debt. In: Social Research (1943), S. 38–51 • R EINHART, Carmen M. ; ROGOFF, Kenneth S.: Growth in a Time of Debt. In: American Economic Review 100 (2010), Nr. 2, S. 573–578
5.10 Übungsaufgaben Aufgabe 5.1 Buchen Sie für eine Volkswirtschaft mit Staat die folgenden Vorgänge in getrennte Produktions-, Einkommens- und Vermögensänderungskonten für den privaten Sektor (Haushalte, Unternehmen) und den Staat.
a) Der Staat kauft bei den privaten Unternehmen Vorleistungen (30 Mill. e) und beschafft neue Maschinen (50 Mill. e). Abschreibungen fallen beim Staat an (20 Mill. e).
116
Kapitel 5. Staat
b) Die Unternehmen kaufen bei anderen inländischen Unternehmen Anlagen und Maschinen (90 Mill. e) und schreiben Maschinen ab (40 Mill. e). c) Die Haushalte konsumieren (300 Mill. e) und erhalten ein Einkommen (510 Mill. e) zu einem Drittel vom Staat und den Rest von Unternehmen. d) Der Staat erhält von den Unternehmen indirekte Steuern (110 Mill. e) und direkte Steuern von den Haushalten (130 Mill. e). e) Der Staat zahlt Transferzahlungen an die Haushalte (10 Mill. e). f) Die Unternehmen schütten alle Gewinne und Einkommen aus selbstständiger Arbeit an die Haushalte aus. Schließen Sie alle Konten ab und prüfen Sie anschließend, ob die Gleichung S = I erfüllt ist. Stellen Sie anschließenden die Konten für die gesamte Volkswirtschaft dar! Aufgabe 5.2 Gegeben sind Konten einer Volkswirtschaft für das Jahr 2012 in Abbildung 5.8.
Abbildung 5.8: Kontenschema mit Staat
5.10 Übungsaufgaben
117
a) Vervollständigen Sie das Kontensystem. b) Wie groß ist das Nettoinlandsprodukt? c) Berechnen Sie die Höhe des Budgetdefizits! Aufgabe 5.3 Der Gütermarkt einer geschlossenen Volkswirtschaft mit Staat lasse sich durch die nachfolgenden Funktionen beschreiben:
Y = YD
YD = C+I +G
3 C = a+ Yv 4
I = I¯
Yv = Y −T +Z
1 T= Y 5
a) Es gelten am Anfang folgende Werte: I¯ = 100; a = 60; G = 160. Wie hoch ist das Inlandsprodukt im Gleichgewicht? b) Es komme zu einer einmaligen exogenen Erhöhung der Staatsausgaben auf G = 200, also um dG = 40. Bestimmen Sie die Änderungen des Inlandsproduktes dY , der staatlichen Ersparnis dSst , der privaten Ersparnis dS p und des Konsums dC. c) Erläutern Sie die Rolle des automatischen Stabilisators anhand Ihrer Ergebnisse zu Teilfrage b). d) Die Gesamtverschuldung betrage am Anfang 520. Wie hoch ist die Schuldenstandsquote vor und nach Erhöhung der Staatsausgaben? e) Nehmen Sie kritisch Stellung zu folgender Aussage: „Regierungen müssen zur Reduzierung der Schuldenstandsquote ihre Staatsausgaben senken!“ Aufgabe 5.4 Der frühere Präsident der europäischen Zentralbank Jean-Claude Trichet schrieb am 24. Juni 2010 (eigene Übersetzung): „Die Vorstellung, dass Sparmaßnahmen eine Rezession auslösen könnten, ist falsch.... Alles, was dazu beiträgt, das Vertrauen der Haushalte, Unternehmen und Investoren in die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen zu stärken, ist gut für die Konsolidierung des Wachstums und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Ich bin fest davon überzeugt, dass unter den gegenwärtigen Umständen eine vertrauensbildende Politik die wirtschaftliche Erholung fördern und nicht behindern wird, denn Vertrauen ist heute der Schlüsselfaktor.“
118
Kapitel 5. Staat
a) In welcher Beziehung steht die Schuldenstandsquote zur genannten Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen und wie wird sie durch ein Budgetdefizit beeinflusst? b) Wie nennt man die von Trichet vertretene volkswirtschaftliche Theorie und wie wird sie begründet? c) Eine keynesianische Sicht widerspricht der Position von Trichet. Erläutern Sie diese!
6. Geld und Zinsen
6.1
Besonderheit des Geldes
Eine der wichtigsten Größen einer Volkswirtschaft wurde in den bisherigen Kapiteln nicht behandelt: das Geld. Zwar wurde wiederholt drauf verwiesen, dass Zahlungen eines Wirtschaftssubjekts an ein anderes erfolgen, aber nicht, womit diese durchgeführt werden. Geld ist in der Volkswirtschaft eines der Aggregate, an das wir uns seit jeher gewöhnt haben. Gleichzeitig weist es etliche Eigentümlichkeiten und Besonderheiten auf. Da ist zum Beispiel die Frage, ob Geld ein Produktionsfaktor ist. Lässt sich die Produktion durch Geld steigern und sollten wir es daher in einer Produktionsfunktion berücksichtigen? Auf betrieblicher Ebene spricht manches hierfür. Bargeld ist knapp. Es steht so wie der Kapitalstock auf der Aktivseite einer Unternehmensbilanz. Ein Unternehmen mit einem hohen Bargeldbestand hat einen Vorteil gegenüber anderen, da es für die Durchführung von Investitionen auf eigene Mittel zurückgreifen kann. Geld könnte damit als Produktionsfaktor angesehen werden, ähnlich wie natürliche Ressourcen oder Humankapital.
120
Kapitel 6. Geld und Zinsen
Volkswirtschaftlich spricht aber dagegen es als Produktionsmittel zu bezeichnen, da Geld nicht knapp ist. Eine Zentralbank kann Geld in unbegrenzter Höhe herstellen, beispielsweise durch das Drucken von Banknoten (Geldschöpfung). Damit weist Geld nicht die für Produktionsfaktoren übliche volkswirtschaftliche Knappheit auf. Es steht zudem nicht nur auf der Aktivseite von Unternehmen und privaten Haushalten, sondern gleichzeitig auch auf der Passivseite der Zentralbankbilanz. Dies resultiert daraus, dass Bargeld eine Verschuldung der Zentralbank gegenüber den anderen Sektoren darstellt. Gesamtwirtschaftlich kürzt es sich aus einer aggregierten Bilanz heraus. Aus diesen Gründen wird Geld im Allgemeinen nicht als Produktionsfaktor angesehen. Wir wollen zunächst unter Geld vereinfachend den Bestand an Noten und Münzen in einer Volkswirtschaft verstehen. Dies klärt aber nicht, was Geld eigentlich ist. Diese Frage ist insbesondere deswegen schwer zu beantworten, weil die konkreten Erscheinungsformen des Geldes historisch sehr variabel waren. Neben Münzen oder Muscheln wurden teilweise knappe Güter wie Seide oder Zigaretten als Geld verwendet. Deshalb lässt sich Geld nicht anhand seiner Erscheinungsformen definieren, sondern mit Hilfe der Funktionen, die es erfüllt. Unter Geld verstehen wir alles, was zur Bezahlung von Gütern und Dienstleistungen oder zur Abdeckung wirtschaftlicher Verpflichtungen akzeptiert wird. Äquivalent zu Geld ist auch der Begriff Liquidität. Damit ist die Schnelligkeit gemeint, mit der ein Vermögensobjekt in ein anderes getauscht werden kann. Immobilien erfüllen diese Eigenschaft nicht, da zu ihrem Umtausch in andere Vermögensobjekte Zeit und Mühe notwendig sind. Noten und Münzen erfüllen diese Eigenschaft perfekt. Eine erste Funktion des Geldes ist die Tauschmittelfunktion. Beim Naturaltausch wird ohne Geld direkt ein Gut oder eine Dienstleistung gegen ein anderes getauscht. Dies ist nachteilig, da eine doppelte Übereinstimmung der Bedürfnisse notwendig sein muss oder eine Kette von Tauschtransaktionen organisiert werden muss. Dies würde hohe Kosten und Mühen implizieren bei der Suche nach geeigneten Tauschpartnern. Geld hilft dabei, den Tausch in Kauf und Verkauf aufzuspalten und unabhängig voneinander Werte zu übertragen. Eine zweite Funktion des Geldes besteht darin, dass es als Recheneinheit fungiert. Der Wert aller Güter, Forderungen und Verbindlichkeiten wird in Einheiten ein und derselben Bezugsgröße ausgedrückt. Werden beispielsweise 5 Güter (Fleisch, Fisch, Obst, Bier, Zigaretten) untereinander getauscht, so würden sich 4+3+2+1=10 verschiedene Tauschrelationen ergeben (Fleisch zu Fisch, Fleisch zu Obst, Fleisch zu Bier . . . ) und folglich müssten 10 verschiedene Tauschrelationen
6.2 Zins und Zinsfuß
121
bestimmt werden. Bei n Gütern ergeben sich n(n−1) Tauschrelationen. Mit der Anzahl der Güter 2 steigen diese also quadratisch an. So zeigt sich, wie komplex eine Volkswirtschaft wird, in der Tausch und Handel existieren. Ist ein Gut davon aber eine Recheneinheit, so reduziert sich die Anzahl der Austauschverhältnisse auf (n − 1). Wird eine Zigarette zur Recheneinheit, so lassen sich alle Tauschverhältnisse schnell berechnen. Gilt 1 kg Fleisch = 50 Zigaretten und 1 Flasche Bier = 5 Zigaretten, so folgt 1 kg Fleisch = 10 Flaschen Bier. Damit ist Handel mit Hilfe einer Recheneinheit erheblich einfacher. Oftmals liegt eine zeitliche Trennung von Kauf und Verkauf vor. Geld ermöglicht es, Einkommen von der Gegenwart in die Zukunft zu verschieben und damit die Ansprüche auf einen Anteil am Inlandsprodukt zu „lagern“. Dies ist die dritte Funktion des Geldes, die wir Wertaufbewahrungsfunktion nennen. Hierzu ist wichtig, dass bei einer späteren Verwendung das Geld nicht an Wert verliert. Man stelle sich vor, dass Tomaten oder Fisch als Geld verwendet werden. In diesem Falle wird rasch deutlich, dass die Wertaufbewahrungsfunktion nur eingeschränkt gilt, da das Geld über die Zeit verfault oder verdirbt. Daher wird als Geld zumeist nur akzeptiert, was seine physischen Eigenschaften mit der Zeit nicht verändert. Darüber hinaus muss die Akzeptanz eines Geldes über die Zeit konstant sein, also nicht etwa Zigaretten als Geld später wertlos werden, weil sich mittlerweile Seide als Geld verbreitet hat.
6.2
Zins und Zinsfuß
Geld ist nicht die einzige Form, Vermögen zu halten zur Erfüllung der Wertaufbewahrungsfunktion. Aus dem Wachstumsmodell kennen wir eine andere Methode: Investitionen in Sachkapital. Diese führen zu einem zukünftigen Anstieg der Produktion. Mit Investitionen können also Werte in die Zukunft übertragen werden. Sofern private Haushalte nicht selbst investieren, stellen sie ihre Ersparnisse den Investoren zur Verfügung, die mit Zahlungen von Zinsen die Haushalte an den zukünftigen Erträgen partizipieren lassen. Aus Kapitel 5 über den Staat kennen wir eine weitere Form: die Staatsanleihen, die ein Staat zur Deckung seines Budgetdefizits emittiert. Der Staat als Schuldner zahlt hierfür ebenfalls Zinsen und entlohnt die Kapitalgeber, beispielsweise die privaten Haushalte, damit für die Überlassung ihrer Finanzierungsüberschüsse. Inwiefern Zinsen auf die Haltung von Geld einwirken, müssen wir nun genauer herleiten. Eine Anleihe wird zumeist mit dem Nennwert 100e vom Schuldner emittiert. In dieser Höhe gewährt der Käufer (Gläubiger) pro Anleihe dem Emittenten einen Kredit. Jährlich bezahlt der Schuldner einen festen Betrag, den Zinscoupon q, beispielsweise q = 2e. Am Ende der Laufzeit
122
Kapitel 6. Geld und Zinsen
zahlt der Schuldner den Nennwert wieder zurück. Der Zinssatz i einer solchen Anleihe lässt sich mit Hilfe der Methode des internen Zinsfußes berechnen. Für eine 4 Jahre laufende Anleihe mit Nennwert 100 gilt, dass der Marktpreis einer Anleihe U dem Barwert aller zukünftigen Erträge entsprechen sollte, also den Zinscoupons q und der Tilgung. Ein zukünftiger Ertrag ist umso weniger wert, je weiter dieser in der Zukunft ausgezahlt wird. Der Barwert entspricht der Summe aller entsprechend angepassten zukünftigen Erträge, die jeweils mit (1 + i)t diskontiert werden gemäß: U=
q q 100 + q q + + + 1 + i (1 + i)2 (1 + i)3 (1 + i)4
(6.1)
Der Barwert U ist oftmals bekannt, da Anleihen regelmäßig gehandelt werden. Sofern die Akteure am Markt rational handeln, wird der Marktpreis einer Anleihe dem Barwert U entsprechen. Die obige Formel erlaubt damit eine Bestimmung der verwendeten Diskontrate, die wir auch als internen Zinsfuß i (internal rate of return) bezeichnen. Diesen Zinsfuß definieren wir als denjenigen Wert i, bei dessen Verwendung die künftigen Erträge aus den Zinscoupons und der Tilgung von 100 dem Barwert und damit dem aktuellen Marktpreis der Anleihe entsprechen. Zukünftig bezeichnen wir i vereinfachend als Zins. Je niedriger der Marktpreis der Anleihe, desto höher der Zinssatz. Ein Absinken des Marktpreises bewirkt einen Anstieg des Zinses, da ein Käufer die festen, zukünftigen Zinscoupons q für einen günstigeren Preis erwirbt.
6.3
Geldnachfrage
Im Gegensatz zu Anleihen erzielt Geld keinen Ertrag aus Zinsen. Denken wir beispielsweise an Geld in der Form von Banknoten und Münzen. Diese werden gelagert und behalten über die Zeit ihren nominalen Wert bei. Der Inhaber von Geld erhält keinen Ertrag in Form eines Zinscoupons. Dies hat zur Folge, dass Geld eine nachteilige Form der Vermögensanlage ist. Diesem Nachteil stehen jedoch als Vorteile die drei Funktionen des Geldes entgegen. Diese implizieren, dass Unternehmen und private Haushalte eine hinreichende Menge an Geld, hier zunächst verstanden als Banknoten und Münzen, zu halten wünschen. Insgesamt wird umso mehr Geld nachgefragt, je mehr Gütertransaktionen in einer Volkswirtschaft getätigt werden. Dies folgt aus der Tauschmittelfunktion. Das Ausmaß der Gütertransaktionen können wir abschätzen mit Hilfe des Inlandsprodukts (und vernachlässigen dabei Transaktionen mit Vorleistungen). Eine weitere Einflussgröße auf die Geldnachfrage ist das Preisniveau P. Verdoppelt sich in einem Land das Preisniveau, so sollte auch die doppelte Menge an Geld für Transaktionszwecke erforderlich sein. Wir werden auf die Bestimmung des Preisniveaus mit Hilfe von Verbraucherpreisen in Kapitel 7 genauer eingehen.
6.3 Geldnachfrage
123
Auch der Zinssatz hat einen Einfluss auf die Geldnachfrage. Stellen wir uns hierzu die Abwägung eines privaten Haushaltes zwischen dem Halten von Geld und dem Kauf von Anleihen vor. Während Geld zwar eine Tauschmittelfunktion hat, erbringt es keinen Zinsertrag. Anleihen hingegen erwirtschaften i% Zinsen. Private Haushalte überlegen sich daher, in welcher Form sie ihr Vermögen halten. Sind die Zinsen hoch, investieren sie in Anleihen. Sind sie niedrig, dann lohnt sich der Kauf einer Anleihe nicht und Haushalte halten lieber Bargeld.
Abbildung 6.1: Geldnachfrage und Nachfrage nach Anleihen Dies kann man in einem Angebots- und Nachfragediagramm darstellen. Wie in Abbildung 6.1 dargestellt, sind die Geldnachfrage und die Anleihenachfrage voneinander abhängig. Steigt der Zinssatz, so werden Unternehmen und private Haushalte die Aufteilung ihres Vermögens überdenken. Sie möchten dann weniger Geld halten, da dies keine Zinsen erbringt. Stattdessen möchten sie zum aktuellen Preis Anleihen kaufen, da sie damit den jährlichen Zinscoupon erwerben. Zinsen sind in diesem Sinne als Opportunitätskosten der Geldhaltung zu interpretieren. Die Nachfragekurve nach Anleihen hat damit jeweils die entgegengesetzte Steigung der Geldnachfragekurve. Bei niedrigen Zinsen wird mehr Geld gehalten und der Ankauf von Anleihen lohnt sich weniger. Insgesamt werden Unternehmen und private Haushalte also umso mehr Geld und umso weniger Anleihen zu halten wünschen, je niedriger der Zinssatz i ist. Neben den genannten Einflussgrößen Y , P und i ist eine Risikoprämie RP berücksichtigt. Diese
124
Kapitel 6. Geld und Zinsen
lässt sich anschaulich anhand des classEx-Spiels zur Barwertmethode verstehen. Stellen wir uns hierzu vor, ein Anleger wolle sein Fangnetz im Jahr 2 verkaufen. In diesem Fall müsste er dann eine Verkaufsorder platzieren. Wir könnten berechnen, dass er dabei vernünftigerweise mit einem Erlös von 150 rechnen darf. Dieser Marktpreis ist allerdings ungewiss, insbesondere falls andere Marktteilnehmer nicht rational handeln oder neue Ereignisse inzwischen aufgetreten sind. Anleger scheuen typischerweise das Risiko und werden eine solche Anleihe zu geringeren Marktpreisen handeln. Dazu korrespondierend ist der interne Zinsfuß einer solchen Anleihe höher. Dieser höhere Zins spiegelt eine Risikoprämie RP wider. Für das Eingehen des Risikos verlangen Anleger einen Aufschlag auf den Zins in dieser Höhe. Mit einer Risikoprämie veschiebt sich die Nachfragekurve nach Anleihen in Abbildung 6.1 nach links oben. Entweder es wird der höhere Zins bezahlt, damit die Nachfrage unverändert bleibt. Oder der Zins i bleibt unverändert und die Anleger erhalten keine Risikoprämie RP und die Nachfrage nach Anleihen sinkt. In diesem Falle werden sich Anleger verstärkt für die Haltung von Geld entscheiden. Damit hat die Risikoprämie RP eine positive Wirkung auf die Geldnachfrage und verschiebt die entsprechende Kurve nach rechts.
6.4
Geldnachfragekurve
Die vorherigen Überlegungen können mit Hilfe einer gesamtwirtschaftlichen Geldnachfragefunktion und einer entsprechenden -kurve zusammengefasst und ausgedrückt werden. Diese Funktion beschreibt die Nachfrage der Unternehmen und privaten Haushalte nach Geld L und wird bestimmt durch L = L (Y, P, i, RP)
(6.2)
In Abbildung 6.2 ist ein möglicher Verlauf der Geldnachfragekurve abgetragen. Bei einem vorgegebenen Zins i lässt sich an der Kurve die Höhe der Geldnachfrage ablesen. Bei einem hohen Zinssatz wird wenig, bei niedrigem Zinssatz wird viel Geld nachgefragt, sodass eine negative Steigung der Kurve resultiert. Daneben kann es zu Verschiebungen der Geldnachfragekurve kommen. Ein höheres Inlandsprodukt oder ein Anstieg des Preisniveaus P erhöhen die Geldnachfrage bei gedanklich fixiertem Zinssatz und verschieben daher die L-Kurve nach rechts, da die Unternehmen und privaten Haushalte mehr Geld für Transaktionen benötigen. Genauso wird die Kurve mit einem Anstieg der Risikoprämie RP nach rechts verschoben. Anleger wollen lieber risikoloses Geld halten und erhöhen bei gedanklich fixiertem Inlandsprodukt und konstantem Zinssatz die Geldnachfrage. Jeden dieser Einflüsse würden wir grafisch berücksichtigen,
6.4 Geldnachfragekurve
125
Abbildung 6.2: Erhöhung der Geldnachfrage indem wir die Kurve L0 (Y, i, P, RP) nach rechts auf L1 (Y, i, P, RP) verschieben. Erhöht sich der Zinssatz auf i1 , so bleibt die Geldnachfrage auf dem bestehenden Niveau L0 . Bei einem vorgegebenen Zins i0 hingegen wird sich die Geldnachfrage ausweiten auf das Niveau L1 . Der Zentralbank kommt eine zentrale Rolle zu, denn sie hat per Gesetz das exklusive Recht, Banknoten zu drucken und in Umlauf zu bringen. Damit kann sie die Höhe des emittierten Bargelds bestimmen. Im Rahmen ihrer Geldpolitik kann sie diese Höhe variieren. Die Durchführung einer solchen geldpolitischen Maßnahme kann mit Hilfe des Diagramms für Anleihen genauer dargestellt werden, siehe dazu Abbildung 6.3. Gehen wir davon aus, dass die Zentralbank den Unternehmen Anleihen verkauft, die diese mit Bargeld bezahlen. Nach dieser Transaktion stehen den Unternehmen weniger Bargeld und mehr Anleihen zur Verfügung. Dies lässt sich mit Hilfe zweier Angebotskurven grafisch darstellen. Das den Unternehmen zur Verfügung stehende Angebot an Anleihen ist erhöht. Da die Zentralbank dem Kreislauf Bargeld entzogen hat, hat sich das Angebot an Bargeld in gleicher Höhe verringert. Wie Abbildung 6.3 zu entnehmen ist, stellt sich in der Folge des verringerten Angebots an Bargeld ein Anstieg des Zinssatzes von i0 auf i1 ein. Aber wie vollzieht sich dieser Anstieg in der Praxis? Die Anleiheverkäufe der Zentralbank werden die Preise dieser Anleihen verringern. Die günstigeren Preise veranlassen private Haushalte oder Unternehmen zum Kauf von Anleihen. Nehmen wir
126
Kapitel 6. Geld und Zinsen
Abbildung 6.3: Senkung des Angebots an Bargeld
beispielsweise an, die 4-jährige Anleihe trage einen Zinscoupon von q = 10e und werde zum Ablauf zu 100 e getilgt und vor der Intervention der Zentralbank zu U = 118e gehandelt. Werden die Werte für q und U in die Formel 6.1 eingesetzt, so kann mit etwas Aufwand gezeigt werden, dass die Gleichung mit einem Zinssatz i0 ∼ 5% aufgeht. Sofern aber durch den Verkauf der Preis der Anleihe von 118e auf 114e sinkt, ist der mit diesen Anleihen erzielte Zinssatz höher und liegt bei i1 ∼ 6%. Der Anstieg der Zinsen wird also durch eine Senkung der Marktpreise von Anleihen erreicht. Bei dem hohen Zinssatz wären die privaten Haushalte und Unternehmen bereit, weniger Bargeld zu halten. Die günstigen Anleihen motivieren entsprechend zu einer erhöhten Nachfrage nach Anleihen.
6.5
Fallstudie Goldstandard und Monetarismus
Die Zentralbank kann oftmals wählen, ob sie bei einem Anstieg der Geldnachfrage die Menge an Bargeld ausweitet oder den Zins ansteigen lässt. Sie ist aber unter Umständen zu einer bestimmten Politik gezwungen. Ein Beispiel hierfür bietet der historische Goldstandard. Hierbei garantieren Zentralbanken einen Preis zwischen ausgegebenen Banknoten (und Münzen) und Gold und verpflichten sich, ausgegebene Banknoten gegen Gold zu konvertieren.
6.5 Fallstudie Goldstandard und Monetarismus
127
Im Jahre 1833 verpflichtete sich die Bank of England per Gesetz, ausgegebene Noten in Gold zu konvertieren. In den Jahren 1870-1914 setzte sich dieser Goldstandard gegen einen konkurrierenden Silberstandard durch. Zentralbanken weltweit schlossen sich in der Folge Großbritannien an und begründeten einen internationalen Goldstandard. Zahlungen der Zentralbanken untereinander wurden fortan in Gold abgewickelt und privaten Akteuren der internationale Transfer von Gold erlaubt. Diese wechselseitigen Versprechen wurden während des 1. Weltkriegs aufgehoben und von 1919-1931 nur vereinzelt wieder eingeführt. Mit der Konferenz von Bretton Woods im Jahre 1944 wurde eine andere Währungsordnung für die Nachkriegszeit geschaffen. Dabei wurde nur der US$ an Gold gebunden und andere Währungen an den Dollar, mit der Möglichkeit der Abwertung. Durch eine Goldkonvertibilität sind Zentralbanken in der Höhe der ausgegebenen Banknoten beschränkt. Drucken sie Banknoten in einem Ausmaß, das Goldreserven übersteigt, so gefährden sie ihren gesetzlichen Auftrag, denn sie können dann ausgegebene Banknoten nicht in vollem Umfang in Gold eintauschen. Dies bedeutet für Abbildung 6.3, dass die Geldnachfrage exogen durch eine vorgegebene Geldmenge beschränkt ist. Schwankungen der Geldnachfragekurve führen dann stets zu Änderungen des Zinssatzes. Jahre 1971 beendete der US-Prasident Nixon die Bindung des Dollar an Gold. Damit können US-Dollar unbegrenzt emittiert werden und die Zeit des Goldstandards war vorbei. Aber auch in Abwesenheit einer festen Bindung an Gold kann die dahinterstehende Politik weiterhin relevant sein und die Geldmenge für die Zentralbankpolitik eine wichtige Rolle spielen. Dies gilt beispielsweise für den Monetarismus, eine makroökonomische Lehrmeinung der 1970er Jahre, die für die Zentralbank eine Orientierung an einfachen und und im Voraus festgelegten Regeln empfiehlt. Hierfür sieht sie eine zentrale Rolle für eine im Voraus festgelegte Geldmenge. Genauso wie im Goldstandard bewirkt eine solche Politik für bestimmte gesamtwirtschaftliche Störungen eine automatische Stabilisierung. Steigt beispielsweise das Inlandsprodukt über seine potentielles Niveau, so steigt die Geldnachfrage. Bei konstanter Geldmenge resultiert ein Anstieg des Zinses, wie in Abbildung 6.2 dargestellt. Wie wir später noch sehen werden, reduziert dies die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Die Zentralbank würde daher bei Fixierung der Geldmenge einen Anstieg des Inlandsprodukts automatisch dämpfen. Nachteilig am Goldstandard wie auch einer strikten Fixierung der Geldmenge ist, dass die Zentralbank damit den Zinssatz bestimmt und diesen nicht immer den Bedürfnissen der Wirtschaft anpassen kann. Wenn beispielsweise Staatsanleihen als riskanter eingestuft werden, erhöht sich die Geldnachfrage und die Geldnachfragekurve verschiebt sich nach rechts. Aufgrund der festgelegten
128
Kapitel 6. Geld und Zinsen
Menge an Bargeld muss sich dann der Zinssatz erhöhen, selbst wenn die Zentralbank den Zins lieber auf dem bestehenden Niveau halten möchte.
6.6
Moderne Geldpolitik
Die moderne Geldpolitik hat sich von den festen Regeln des Goldstandards und des Monetarismus befreit und steht dabei vor der Aufgabe, mit dem gewonnenen Handlungsspielraum eine verlässliche und der wirtschaftlichen Entwicklung angemessene Politik zu betreiben. Während im Goldstandard die Menge des Bargelds fest vorgegeben war, gibt es eine solche Beschränkung für heutige Zentralbanken wie die Europäische Zentralbank (EZB) nicht mehr. Vielmehr ist die EZB frei darin, Zinsen in der von ihr gewünschten Höhe festzulegen. Die Lage der Geldnachfragekurve bestimmt dann, welche Menge an Bargeld die Zentralbank bereitstellen muss. Wie schafft es aber die Zentralbank als einzelner Akteur, eine so bedeutsame Größe wie den Zinssatz für den gesamten Euroraum zu bestimmen? Dieses Ausmaß ein Einfluss überrascht, denn auf dem Kapitalmarkt werden dem dem Staat Anleihen von vielen Unternehmen emittiert und zum Kauf angeboten und viele private Haushalte stellen dort ihre Ersparnis zur Verfügung. Der Einfluss eines einzelnen Akteurs wie der Zentralbank sollte dann gering sein. Sofern private Haushalte aber einen Finanzierungsüberschuss aufweisen, ergeben sich zwei Anlagemöglichkeiten. Zum einen können sie Anleihen von Unternehmen oder dem Staat kaufen. Zum anderen können sie Bargeld halten. An Bargeld kommen Haushalt aber nur, falls die Zentralbank dieses zur Verfügung stellt. Dieser Fall wird im Rahmen der untenstehenden Konten in Abbildung 6.4 konkret beschrieben. Das Vermögensänderungskonto der Zentralbank zeigt dabei auf, wie Geld zusätzlich in Umlauf kommt, wie in Abbildung 6.4 dargestellt. Wir nehmen zunächst an, dass der private Sektor das gesamte Budgetdefizit des Staates von 100 finanziert, indem er alle emittierten Anleihen des Staates aufkauft. Er wünscht dann, einen Teil der Anleihen zu verkaufen, um mehr Bargeld zu halten. Aus diesem Grund wird er die Anleihen der Zentralbank zum Kauf anbieten. Die Zentralbank druckt nun Bargeld und kauft damit Staatsanleihen vom privaten Sektor. Die Vermögensänderungskonten implizieren dann, dass sich in der dort erfassten Abrechnungsperiode, beispielsweise ein Jahr, der Bestand an Geld um 40 erhöht hat und die Zentralbank dafür Anleihen in gleichem Ausmaß aufgekauft hat. Das Kontensystem zeigt nicht nur, wie Geld in Umlauf gelangt. Es bringt auch die Begriffe Geld, Ersparnis und Vermögen in den richtigen Zusammenhang. Vermögen ist eine Bestandsgröße, dessen
6.6 Moderne Geldpolitik
129
Abbildung 6.4: Vermögensänderungskonto der Zentralbank
Änderungen in der VGR erfasst werden. Das Vermögen der privaten Haushalte entspricht den in der Vergangenheit angesammelten Ersparnissen. Vermögen kann alternativ in Geld oder andere Vermögensobjekte wie beispielsweise Staatsanleihen angelegt werden. Auch Geld ist daher eine Bestandsgröße. Ersparnisse sind hingegen eine Stromgröße, die sich aus den jährlichen Buchungen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ergeben. Wird dies beachtet, so treten keine Fehlschlüsse auf. So wird oftmals vorschnell geschlussfolgert, dass nur diejenigen Haushalte Geld anhäufen, die auf Konsum verzichten und Ersparnisse bilden. Dies stimmt nicht, denn ein Zuwachs an Geld kann beispielsweise auch durch den Verkauf von Staatsanleihen erzielt werden. Analog wird oftmals fehlerhaft vermutet, dass Haushalten ihr Geld ausgeht, wenn sie mehr als ihr Einkommen für Konsum verwenden, also ihr Vermögen reduzieren. Tatsächlich reduziert sich für solche Haushalte aber das Vermögen. Sofern in Höhe der Reduktion Staatsanleihen verkauft werden, bleibt der Bestand an Geld konstant. Abbildung 6.5 zeigt die Entwicklung der Menge des Bargelds, die stetig auf über 1000 Mrd.e angestiegen ist. Dieses Bargeld hat die Zentralbank durch den Ankauf von Anleihen dem privaten Sektor zur Verfügung gestellt. Dieser Ankauf lässt sich auch als Kreditvergabe der EZB interpre-
130
Kapitel 6. Geld und Zinsen
Abbildung 6.5: Banknoten und Kredite der EZB
tieren. In der Abbildung wird daher dieser Begriff verwendet. Wie zu sehen ist, entwickeln sich der Bestand an Banknoten und die Kredite der Zentralbank parallel zueinander nach oben. Auf die starke Abweichung ab 2017 werden wir unten eingehen. Die Bestimmung des Zinssatzes kann nun erneut mit Hilfe der L-Kurve und Abbildung 6.3 erklärt werden. Kauft die Zentralbank zusätzlich Anleihen an und vergibt damit Kredite, so versorgt sie den privaten Sektor mit einer erhöhten Menge an Bargeld. Diese Menge wird der private Sektor aber nur zu halten bereit sein, wenn die Zinsen sinken. Wir können die Kausalität, die zu einer Zinssenkung führt, auch einfacher ausdrücken. Der Ankauf von Anleihen durch die Zentralbank lässt die Marktpreise dieser Anleihen an der Börse ansteigen. Steigende Preise sind aber synonym zu der Aussage, dass die Zinsen im Verhältnis zum Preis sinken.
6.7 Geschäftsbanken
6.7
131
Geschäftsbanken
Die bisherige Darstellung hat aus Gründen der Anschaulichkeit auf eine Berücksichtigung von privaten Geschäftsbanken als makroökonomischem Akteur verzichtet. Tatsächlich spielen diese aber bei der Entstehung von Geld und für Transaktionen der Zentralbank eine zentrale Rolle. Dies wird bereits deutlich bei der Bestimmung der Geldmenge. Zu Geld zählt zunächst das bereits behandelte Bargeld, insbesondere Banknoten. Laut der EZB beläuft sich dies auf 1200 Mrd.e im März 2019. Hierzu zählt nur Bargeld im Besitz des privaten Sektors. Es darf sich nicht im Tresor der Zentralbank oder der Geschäftsbanken befinden. Der Grund für diese Abgrenzung besteht darin, dass das Drucken von Banknoten so lange irrelevant ist, so lange diese nicht in Umlauf gebracht werden. Ferner gehören zur Geldmenge Sichteinlagen bei Geschäftsbanken (im Ausmaß von 7000 Mrd.e), da diese so wie Banknoten für Zahlungszwecke verwendet werden können, z.B. durch Überweisung oder Einzugsermächtigung. Die Summe aus Bargeld und Sichteinlagen wird als Geld in der Abgrenzung M1 bezeichnet. Aus dieser Abgrenzung der Geldmenge zeigt sich die Befähigung der Geschäftsbanken, selbst Geld zu schaffen, sich also an der Geldschöpfung der Zentralbank zu beteiligen. Sofern eine Bank einen Kredit vergibt und der Kreditnehmer eine Überweisung an eine andere Bank tätigt, wird dort eine Einzahlung auf einem Girokonto eingehen. Damit ist Geld entstanden, da die zusätzlichen Sichteinlagen der Geldmenge zugerechnet werden. Damit stellt sich die Frage, ob die Zentralbank weiterhin den Zinssatz kontrollieren kann. Anders gefragt, kann die Geldnachfrage des privaten Sektors vollständig von den Geschäftsbanken befriedigt werden? Dies muss aber verneint werden, da Sichteinlagen nur eine Form der Geldhaltung darstellen und private Haushalte und Unternehmen auch immer Bargeld zu halten wünschen. Sobald eine Bank einen Kredit vergibt, in der Folge eine Überweisung tätigt und Sichteinlagen bei einer anderen Bank steigen, wird auch die Nachfrage nach Bargeld steigen. Dies erfolgt, weil ein Kreditnehmer oder der Zahlungsempfänger einen Anteil des zusätzlichen Geldes bar haben möchte. Die Banken müssen sich dann für die Auszahlung das Bargeld von der Zentralbank besorgen. Die Sichteinlagen können somit das Bargeld nur ergänzen, aber nicht ersetzen. Die Zentralbank behält damit die Kontrolle über den Zinssatz. Die Zentralbank hat weitere Möglichkeiten, die Banken zu kontrollieren. Derzeit müssen die Banken eine verpflichtende Einlage (Mindestreserve) in Höhe von (derzeit nur) 1% der Sichteinlagen, bezogen auf die Girokonten von Haushalten und Unternehmen bei Banken, bei der EZB halten.
132
Kapitel 6. Geld und Zinsen
Die EZB verwendet diese Einlagen ihrerseits, um weitere Anleihekäufe zu tätigen, so dass ihr Vermögensänderungskonto wieder ausgeglichen ist. Dementsprechend erhöht sich der gesamte Anteil an Anleihen im Besitz der EZB. Gleichzeitig haben die Banken einen weiteren Bedarf nach Mitteln der Zentralbank. Nicht nur für die Versorgung mit Bargeld, sondern auch zur Deckung der Mindestreserve müssen sie sich die dafür notwendigen Mittel bei der Zentralbank besorgen. Diese wird auch als Liquiditätsbedarf der Banken bezeichnet.
6.8
Direkte Ankäufe und Kredite der EZB
Für die Bereitstellung von Bargeld und zum Halten von Mindestreserven sind die Geschäftsbanken darauf angewiesen, dass die Zentralbank in erforderlicher Höhe Anleihen ankauft, die sich im Besitz der Banken befinden. Dabei kann die Zentralbank die Anleihen direkt aufkaufen, wie in unserem einfachen Modell in Abbildung 6.3. Der direkte Ankauf von Staatsanleihen ist allerdings nur eine mögliche Form, mit der die Zentralbank den Bargeldbedarf der Geschäftsbanken decken kann. Alternativ erfolgt der Ankauf von Anleihen indirekt: Die EZB vergibt an Geschäftsbanken Kredite. Im Gegenzug hinterlegen die Geschäftsbanken Anleihen bei der EZB als Sicherheiten. Diese Anleihen im Besitz der EZB sind also nicht direkt angekauft, sondern werden nur von der EZB verwahrt. Dies impliziert, dass die Zentralbank relativ kurz laufende Kredite vergeben kann, also Kredite mit einer Laufzeit, die geringer ist als diejenige der Anleihen. Hiermit nötigt sie die Geschäftsbanken, in wöchentlichen oder monatlichen Abständen auslaufende Kredite bei der Zentralbank zu refinanzieren. Im Gegenzug kann die Zentralbank zeitnah die Kredithöhe anpassen und erinnert die Geschäftsbanken permanent daran, dass diese von der Zentralbank abhängig sind. Dies ist insbesondere wichtig bei der Bestimmung des Zinssatzes. Die beiden Formen des Ankaufs sind in der oberen Hälfte in Tabelle 6.1 aufgelistet. Dabei wird deutlich, dass die EZB in letzter Zeit vor allem auf direkte Ankäufe gesetzt hat. Bei den Krediten ist neben der kaum nochverwendeten Hauptrefinanzierungsfazilität insbesondere die längerfristige Refinanzierungsfazilität die wichtigste Art der Kreditvergabe geworden. Diese Fazilitäten sind als wöchentliche oder monatliche Auktionen organisiert, bei denen die Geschäftsbanken ihren Liquiditätsbedarf bei der Zentralbank anmelden und diese dann die Kredite zuteilt. Während direkte Ankäufe und Kredite nur auf Initative der Zentralbank erfolgen, können Geschäftsbanken jederzeit über die Inanspruchnahme der ständigen Fazilitäten selbst bestimmen. Die
6.9 Transmission des Zentralbankzinssatzes Art
133 Laufzeit
Direkte Ankäufe Kredite der EZB Hauptrefinanzierungsfazilität Längerfristige Refinanzierungsfazilität Ständige Fazilitäten Spitzenrefinanzierungsfazilität Einlagenfazilität
Zinssatz
unbegrenzt
Volumen (in Mrd.e) 4940
1 Woche 3 bis 24 Monate
3,50% 3,50%
1 1220
1 Tag 1 Tag
3,75% 3,00%
0 4140
Tabelle 6.1: Ankäufe, Kredite und ständige Fazilitäten der Europäischen Zentralbank; Stand 18.3.2023
Spitzenrefinanzierungsfazilität ist ebenfalls ein Kredit der Zentralbank. Dieser kann (theoretisch unbegrenzt) von Banken in Anspruch genommen werden, falls diese kurzfristig Mittel benötigen. Die Laufzeit beträgt dabei 24 Stunden. Für diese Art des Kredits müssen die Banken einen höheren Zinssatz bezahlen. Die Einlagenfazilität bietet in Abgrenzung zu den anderen Fazilitäten die umgekehrte Möglichkeit, überschüssige Mittel unbegrenzt bei der EZB anzulegen. Sie bewirkt damit einen Mittelabfluss bei Banken und nicht einen Mittelzufluss und ist damit ähnlich wie eine Einlage einer Geschäftsbank auf einem Girokonto bei der Zentralbank. Die Zinsen der ständigen Fazilitäten sowie der Zinssatz der Kredite werden oftmals auch als Leitzinsen bezeichnet. Gehen Sie gedanklich zurück zu Abbildung 6.5, die den Banknotenumlauf und die Kredite der EZB darstellt. In den Jahren 2008, 2012 und seit 2016 übertrafen die Kredite mengenmäßig die Banknoten. Dies lässt sich mit gesamtwirtschaftlichen Störungen erklären, insbesondere der Finanzkrise, der Eurokrise und der Covid-19 Pandemie. Diese erhöhten die Unsicherheit für Banken und veranlassten diese, ihre Finanzierungsmittel vermehrt in der risikolosen Einlagenfazilität anzulegen und damit der EZB einen Kredit zu geben. Dies glich die Zentralbank mit einer verstärkten Kreditvergabe aus, die über das Ausmaß der Banknoten hinausging.
6.9
Transmission des Zentralbankzinssatzes
Die Zentralbank beeinflusst mit ihrem Zinssatz die Höhe, mit der sich Banken untereinander Geld leihen, wie in Abbildung 6.6 zu sehen. Dies tun sie, um kurzfristige Zahlungsein- und ausgänge auszugleichen, aber auch da manche Banken Einlagen vieler Haushalte haben und sich
134
Kapitel 6. Geld und Zinsen
andere stärker bei der Kreditvergabe an Unternehmen engagieren. Der sich hier im Durchschnitt einstellende Zinssatz wird gemessen mit Hilfe des eSTR (Euro Short-Term Rate; bis zum 1.1.2022 wurde ein ähnlicher Zins unter der Bezeichnung EONIA ausgewiesen). Der Einfluss der Zentralbank auf diesen Zins lässt sich mit Arbitragegeschäften erklären. So kann der eSTR nie über die Spitzenrefinanzierungsfazilität steigen, da sich Banken sonst günstiger über die EZB finanzieren können. Genauso kann der Zinssatz nicht unter das Niveau der Einlagenfazilität sinken, da Banken sonst überschüssige Mittel eher bei der EZB anlegen als diese anderen zur Verfügung zu stellen. Auf Grund der aktuell hohen Versorgung mit Krediten durch die Zentralbank liegt der eSTR nahe am Zinssatz der Einlagenfazilität.
Abbildung 6.6: Leitzinsen der Europäischen Zentralbank und eSTR Je höher die Zentralbankzinsen und je höher der eSTR, desto kostspieliger ist für Banken die Kreditvergabe an Unternehmen. Sie werden daher die Zinsen für die Kreditvergabe an Unternehmen erhöhen. Dies bewirkt, dass die Zinsen, die Investoren für eine Kreditaufnahme bezahlen, von der Zentralbank beeinflusst werden. Steigen die Zentralbankzinsen, so stellt dies Kosten für die Mittelbeschaffung der Geschäftsbanken dar, die diese durch höhere Zinsen an die Investoren weiterreichen werden. Damit kann die Zentralbank die Kosten der Kreditaufnahme für Investoren
6.9 Transmission des Zentralbankzinssatzes
135
beeinflussen. Wir nennen dies „Transmission“ und meinen damit den Einfluss der Zentralbank auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage.
Abbildung 6.7: eSTR und Zinsen für Unternehmen Der eSTR und die von Unternehmen zu zahlenden Zinsen korrelieren daher gut miteinander, wie Abbildung 6.7 zu entnehmen ist. Der Zusammenhang ist aber nicht perfekt. Zwei Gründe können hierfür verantwortlich sein. Zum einen bewerten die Banken auch die Risiken eines Kredits (oder eines Kaufs einer Anleihe). Bei sinkendem eSTR, aber gleichzeitig steigenden Risiken, werden die Zinsen für Unternehmen nicht unbedingt sinken. Dies zeigt sich insbesondere in Abbildung 6.7 für den Zeitraum ab 2008. In Folge der Finanzkrise erhöhten sich die Risiken einer Kreditvergabe. Dies bewirkte, dass der sinkende eSTR nicht sofort in voller Höhe die Zinsen für Unternehmen reduzierte. Auch in Folge der Covid-19-Krise stellte sich 2020 kurzfristig ein Anstieg der Zinsen für Unternehmen ein. Zum anderen können Banken selbst illiquide werden. Sofern Banken beispielsweise in der Vergangenheit Verluste erlitten, werden sie versuchen, diese durch höhere zukünftige Gewinne auszugleichen. Aus diesem Grund können sie in einer Krise, die Verluste verursacht hat, nicht den eSTR senken. Hierzu kann auch die Bankenregulierung beitragen, die den Banken ein Mindestniveau
136
Kapitel 6. Geld und Zinsen
an Eigenkapital relativ zur Bilanzsumme vorschreibt. Wurde das Eigenkapital der Banken durch Verluste reduziert, so müssen zukünftige Gewinne erwirtschaftet werden. Im Falle einer strikten Anwendung der Eigenkapitalvorschriften sind sogar sofortige Anpassungen wie eine Kündigung von Krediten durchzuführen. Die Folge hiervon ist, dass ein sinkender eSTR nicht oder erst mit längerer Verzögerung zu sinkenden Zinsen für Unternehmen führt. Diese Wirkungsverzögerung ist ebenfalls in Abbildung 6.7 gut zu sehen.
6.10
Nullzinsgrenze
Neben Risikoprämien unterliegt die Zentralbank einer weiteren Beschränkung in der Steuerung der Zinsen für Unternehmen. Zinsen für Unternehmen unter Null lassen sich nur schwer durchsetzen. Dies zeigt sich an der Entwicklung seit 2016. Um die Zinsen für Unternehmen weiter zu senken, verlangt die EZB Negativzinsen bei der Einlagenfazilität und kauft umfangreich Anleihen an. Dies zielt darauf, die Banken so weit mit Mitteln zu versorgen, dass der eSTR stark negativ wird und Banken daraufhin die Zinsen für Unternehmen weiter senken, potentiell sogar ins Negative. Die Banken geben diesen negativen Zinssatz allerdings nicht an die Unternehmen weiter. Ein Grund für die fehlende Weitergabe besteht darin, dass die Geschäftsbanken statt einer Vergabe von Kredite die Geldhaltung bevorzugen. Geld bietet immer eine Anlage mit einem Zins von 0%. Stellen wir uns beispielsweise vor, die Geschäftsbanken würden erwägen, einen Kredit mit einer Verzinsung von i = −5% zu vergeben. Bei einer Laufzeit von einem Jahr hieße das, dass ein Nennwert von 100e einem Rückzahlungsbetrag von nur e 95 gegenübersteht. Banken würden dann eher Bargeld in ihren eigenen Tresoren horten als einen Kredit mit Negativverzinsung zu vergeben.Die Versuche der Zentralbank, die Zinsen für Unternehmen unter Null zu senken, scheitern daher. Dieses Scheitern wird als Liquiditätsfalle oder auch als Nullzinsgrenze bezeichnet. Tatsächlich liegt die Nullzinsgrenze nicht exakt bei Null. Für das Horten von Bargeld fallen nämlich Lagerhaltungskosten an. Aus diesem Grund kann der eSTR leicht negativ werden, wie in Abbildung 6.7 zu sehen. Banken vergeben daher Kredite an andere Banken zu leicht negativen Zinsen. Dies tun sie, um die Kosten für das Halten von Bargeld in ihren Tresoren zu vermeiden. Insgesamt sind diese Kosten aber gering, so dass der eSTR nicht stark negativ werden kann. Daher gehen wir im Folgenden vereinfachend davon auf, dass der Nominalzins nicht unter Null sinken kann. Es gilt also i ≥ 0.
6.11 Schlüsselbegriffe im Kapitel
137
6.11 Schlüsselbegriffe im Kapitel Anleihe Bargeld eSTR Fazilitäten Funktionen des Geldes Geldmenge Geldpolitik Geldnachfrage Geldschöpfung Goldstandard
Kredite der EZB Leitzins Liquiditätsbedarf Liquiditätsfalle Nullzinsgrenze Mindestreserve Risikoprämie Transmission Zins Zinscoupon
6.12 Quiz Die Geldnachfrage steigt mit 1. sinkendem Preisniveaus, 2. steigenden Zinsen, 3. sinkendem Inlandsprodukt, 4. steigender Risikoprämie.
Ein Vorteil des Goldstandards besteht darin, dass 1. Zentralbanken nicht zum Schaden der Bevölkerung unbegrenzt Geld drucken können, 2. Zinsen nicht gemäß den Bedürfnissen der Wirtschaft gesetzt werden können, 3. die Geldnachfrage nicht mehr vom Zinssatz abhängt, 4. das Halten von Anleihen unattraktiv wird.
138
Kapitel 6. Geld und Zinsen
Moderne Geldpolitik ist dadurch gekennzeichnet, 1. dass Zentralbanken strikt die Geldmenge konstant halten, 2. dass sie den Geschäftsbanken die Bestimmung des Zinssatzes überlassen, 3. dass sie den Handlungsspielraum für die Bestimmung angemessener Zinsen nutzen, 4. dass sie sich an der gesamtwirtschaftlichen Geldnachfragekurve orientieren.
Die Zentralbank kann die Zinsen für Staatsanleihen senken, indem sie 1. Anleihen verkauft, 2. Banken die Möglichkeit einer Einlagenfazilität anbietet, 3. den Mindestreservesatz von derzeit 1% erhöht, 4. den Zinssatz der Spitzenrefinanzierungsfazilität senkt.
Ein sinkender eSTR 1. ist zumeist eine Reaktion auf steigende Zinssätze der EZB, 2. stellt sich zumeist als Folge eines steigenden Inlandsprodukts ein, 3. bewirkt zumeist sinkende Zinsen für Staatsanleihen, 4. geht zumeist mit steigenden Risiken eines Kredits einher.
6.13
Ergänzende Literatur und Quellen im Web Ein Video von Bachelorstudierenden, zu finden beim „ökonomischen Pfadfinder“, diskutiert, ob durch Abschaffung von Bargeld die Nullzinsgrenze überwunden werden kann.
6.14 Übungsaufgaben
139
• JARCHOW, Hans-Joachim: Grundriss der Geldpolitik. 9. Aufl. Stuttgart : Lucius & Lucius, 2010, S. 112-116, 138-162 • JARCHOW, Hans-Joachim: Grundriss der Geldtheorie. 12. Aufl. Stuttgart : Lucius & Lucius, 2010, S. 1-10, 19-28, 62-74 • M ANKIW, N. Gregory: Makroökonomik. 7. Aufl. Stuttgart : Schäffer-Poeschel, 2017, S. 97-110
6.14 Übungsaufgaben Aufgabe 6.1 Eine 4-jährige Anleihe trägt einen jährlichen Zinscoupon von 5 e. a) Welcher Marktpreis stellt sich bei einem Zins von i = 3, 5 oder 7 ein? b) Angenommen, die Zentralbank strebe einen Zins von i = 4 an. Welchen Marktpreis muss sie dafür erreichen? Aufgabe 6.2 Gegeben sei der bekannte Zusammenhang zwischen der Geldnachfrage und dem Zinssatz L = L(Y, i, P, RP). Die Zentralbank möchte den Zinssatz i erhöhen. a) Erläutern Sie diesen Zusammenhang für den Fall, dass die Zentralbank direkt Staatsanleihen verkauft und Banken keine Rolle spielen. b) Wie lässt sich der Zusammenhang zwischen Geldnachfrage, Zins und Staatsanleihen darstellen für den Fall, dass die EZB mit den gängigen Refinanzierungsfazilitäten den Geschäftsbanken Kredite bereitstellt und selbst keine Staatsanleihen direkt kaufen darf?
Aufgabe 6.3 Für eine Zentralbank gelte der Goldstandard. Beschreiben Sie, was darunter zu verstehen ist und welche Konsequenzen sich für die Geldpolitik der Zentralbank daraus ergeben.
140
Kapitel 6. Geld und Zinsen
Aufgabe 6.4 In Folge einer Erhöhung des Inlandsprodukts kommt es zu einer veränderten Nachfrage nach Geld und Anleihen.
Abbildung 6.8: Geldmarkt und Anleihenmarkt a) Stellen Sie im Diagramm in Abbildung 6.8 die Anpassung an das neue Gleichgewicht auf den dargestellten Teilmärkten dar für den Fall, dass die Zentralbank die Menge an Bargeld unverändert lassen möchte. b) Stellen Sie grafisch den Fall dar, dass die Zentralbank den Zinssatz i0 beibehalten möchte. Wie kann die Zentralbank dies erreichen? Aufgabe 6.5 Für die norwegische Zentralbank (Norges Bank) wird in Abbildung 6.9 die Entwicklung der Spitzenrefinanzierungsfazilität, der Einlagenfazilität und das norwegischen Pendant zum eSTR, der NOWA (Norwegian Overnight Weighted Average) wiedergegeben. a) Wieso bewegt sich der NOWA stets zwischen den beiden anderen Kurven? Erläutern Sie dies auf Basis eines Kalküls einer norwegischen Geschäftsbank. b) In welchen Jahren werden die Zinsen auf Unternehmensanleihen in Norwegen hoch sein, in welchen sind sie niedrig? Welche Einflussgrößen sprechen gegen den von Ihnen vermuteten Zusammenhang? c) Angenommen, die norwegische Zentralbank senke die Spitzenrefinanzierungsfazilität auf
6.14 Übungsaufgaben
141
Abbildung 6.9: Zinsen der norwegischen Zentralbank einen Wert kleiner als Null. Wieso werden Zinsen für Unternehmensanleihen dennoch positiv bleiben?
7. Inflation
7.1
Lebenshaltungskosten
Die Lebenshaltungskosten sind ein Maß für die gesamten Kosten der Güter und Dienste, die von einem privaten Haushalt gekauft werden. Ein Anstieg der Lebenshaltungskosten bedeutet, dass ein privater Haushalt mehr Euro ausgeben muss, um den Lebensstandard zu halten. Dies bezeichnen wir als Inflation π > 0. Deflation, π < 0, bezeichnet dagegen die gegenteilige Situation sinkender Lebenshaltungskosten. Das Statistische Bundesamt stellt hierfür monatliche Daten zur Verfügung. Diese erlauben es, die zeitliche Veränderung der Lebenshaltungskosten zu verfolgen. Die Lebenshaltungskosten werden auch Verbraucherpreisindex genannt und im Folgenden mit P gekennzeichnet. Zur Bestimmung der Lebenshaltungskosten muss zunächst ein repräsentativer Warenkorb bestimmt werden. Mit Hilfe von Befragungen von Haushalten werden in periodischen Abständen die pas-
144
Kapitel 7. Inflation
Abbildung 7.1: Zusammensetzung des Warenkorbes 2015. senden Gewichte der einzelnen dort erfassten Güter bestimmt. Haushalte werden hierzu seitens des Statistischen Bundesamtes aufgefordert, drei Monate lang über ihre Einnahmen und Ausgaben Buch zu führen. Eine Darstellung des derzeitigen Warenkorbes findet sich in Abbildung 7.1. Zu den Gütern des Warenkorbes werden regelmäßig die Preise zusammengetragen. Hiermit können dann die gesamten Kosten des Warenkorbes zu unterschiedlichen Zeitpunkten bestimmt werden. Ein Jahr wird als Basisjahr festgelegt und die Ergebnisse anderer Jahre mit denen des Basisjahres verglichen. Die Inflationsrate π im Jahre 2018, beispielsweise, ausgedrückt als prozentualer Anstieg, ergibt sich gemäß: π2018 =
P2018 − P2017 . P2017
(7.1)
Eine beispielhafte Rechnung kann mit Hilfe von Tabelle 7.1 für zwei Güter erstellt werden. Auf den
7.1 Lebenshaltungskosten
145
ersten Blick erschließt sich nicht, ob insgesamt der Verbraucherpreisindex gestiegen, gleich geblieben oder gesunken ist. Hierfür ist zunächst das Preisniveau des Basisjahres 2017 zu bestimmen. Die Jahr 2017 2018
Preis Smartphone 100 90
Menge 200 250
Preis 100ℓ Benzin 120 140
Menge 125 100
Tabelle 7.1: Beispielrechnung für zwei Güter gesamten Kosten des Warenkorbes betrugen 2017: P2017 = 100 · 200 + 120 · 125 = 35.000. Wird nun für 2018 der Warenkorb konstant gehalten, so wären die Kosten des Warenkorbes entsprechend: P2018 = 90 · 200 + 140 · 125 = 35.500. Somit folgt für die Inflation πt im Jahre 2018: π2018 =
35.500 − 35.000 = 1, 4% 35.000
(7.2)
Der Warenkorb ist somit teurer geworden. Der Verbraucherpreisindex ist dabei, ähnlich wie der Deflator des BIP, ein Aggregat der Preise vieler Produkte. Allerdings beinhaltet er anders als der Deflator nicht nur heimische Produkte, also Produkte, die Bestandteil des Inlandsprodukts sind. Vielmehr gehen auch importierte Produkte in den Verbraucherpreisindex ein. Analog finden sich im Deflator auch Exportprodukte. Da diese nicht von heimischen Endverbrauchern bezogen werden, gehen sie nicht in den Verbraucherpreisindex ein. Ein weiterer Unterschied ergibt sich in der Berechnung. Der Deflator wird mit Hilfe des realen und nominalen Inlandsprodukts bestimmt. Für obige Tabellenwerte ergibt sich für das nominale Inlandsprodukt: BIP2018 = 90 · 250 + 140 · 100 = 36.500. Werden nun zur Bestimmung des realen BIP im Jahre 2018 die Preise aus dem Jahre 2017 konstant gehalten, so ergibt sich folgender preisbereinigter Anstieg: BIP2018 in Preisen von 2017 = 100 · 250 + 120 · 100 = 37.000. Der Deflator berechnet das Verhältnis zwischen realem und nominalem BIP. Wir sehen, dass das reale BIP größer ist als das nominale. Dies impliziert sinkende Preise: Deflator2018 zur Basis 2017 =
36.500 = 0, 986. 37.000
(7.3)
Im Gegensatz zur Entwicklung der Verbraucherpreise hat sich eine Preissenkung um 1,4% ergeben, also eine Deflation. Dies ist ein verblüffendes Ergebnis. Der Grund liegt in der unterschiedlichen Berechnungsmethode. Beim Deflator wird der Warenkorb variiert und jeweils der aktuellen Periode angepasst. Beim Verbraucherpreisindex wird er hingegen konstant gehalten. Ein Blick auf Tabelle
146
Kapitel 7. Inflation
7.1 zeigt eine typische Reaktion von Konsumenten bezüglich teurer werdender Produkte. Das teurer gewordene Gut (im Beispiel Benzin) wird weniger gekauft, das im Preis gesunkene Gut (im Beispiel das Smartphone) wird stärker gekauft. Teure Produkte werden somit durch günstigere Produkte substituiert. Mit der Annahme eines konstanten Warenkorbes wird dieser Substitutionseffekt aber vernachlässigt. Dies führt dazu, dass der Verbraucherpreisindex den tatsächlichen Anstieg der Lebenshaltungskosten überschätzt, weil er die Substitutionseffekte, die den tatsächlichen Warenkorb günstiger werden lassen, vernachlässigt. Im Gegensatz dazu berücksichtigt der Deflator diesen Substitutionseffekt. Ein ähnlicher Effekt ergibt sich, wenn neue Produkte auftreten. Neue Produkte erhöhen die Wahlmöglichkeiten eines Konsumenten. Dies macht jeden Euro wertvoller. Konsumenten brauchen weniger Euro, um den gleichen Lebensstandard zu erreichen. Der Verbraucherpreisindex vernachlässigt dies und überschätzt daher die Inflationsrate. Wenn sich die Qualität eines Gutes über die Jahre verbessert, erhöht sich der Wert eines hierfür ausgegebenen Euro, ohne dass sich das Preisniveau des Gutes verändert. Technischer Fortschritt führt zumeist dazu, dass sich die Qualität von Produkten verbessert. Deren Vernachlässigung führt ebenfalls dazu, dass der Verbraucherpreisindex die Inflationsrate überschätzt. Aufgrund der drei genannten Gründe wird der Anstieg der Lebenshaltungskosten durch die ausgewiesene Inflationsrate überschätzt. Schätzungen ergeben, dass die gemessene Inflation den tatsächlichen Anstieg der Lebenshaltungskosten um ca. einen Prozentpunkt pro Jahr überzeichnet. Dies kann problematisch sein, sofern ein Inflationsausgleich bei staatlichen Programmen oder in Tarifverhandlungen festgelegt wird. Eine zu hoch berechnete Inflationsrate bewirkt dann, dass Löhne oder staatliche Leistungen zu stark steigen.
7.2
Negative Auswirkungen der Inflation
Inflation hat vielfältige Auswirkungen auf das Einkommen und Verhalten von privaten Haushalte und Unternehmen. Wie von Akerlof und Shiller (2009: 111) aufgezeigt, fürchten Menschen durch Inflation ein Absinken des realen Vermögens und des Einkommens. Dabei wird vermutet, dass Einkommensbezieher sich im Falle von Inflation für ihr Einkommen weniger Güter und Dienste erwerben können. Dies ist aber nicht korrekt, da Inflation nicht nur die Preise erhöht, sondern in gleichem Ausmaß auch die Einkommen. Dies folgt zwingend aus der Tatsache, dass mit den Verkäufen von Gütern zu höheren Preisen auch höhere Umsätze erzielt werden. Diese erhöhen
7.2 Negative Auswirkungen der Inflation
147
das Vermögenseinkommen und das Selbstständigeneinkommen und, falls die Löhne mit den Preisen ansteigen, auch die Arbeitnehmerentgelte. Das reale Vermögen und das reale Einkommen werden sich in der Folge also nicht ändern. Dies lässt darauf schließen, dass die Auswirkungen der Inflation oftmals nicht hinreichend durchdacht sind, so dass nicht alle Sorgen vor Inflation auf einem rationalen Modell basieren. Die Sorgen sind berechtigt für Haushalte, die ein nominal fixiertes Einkommen erhalten, wie beispielsweise die Bezieher von Lohneinkommen oder staatlicher Transferzahlungen. Beziehen Arbeitnehmer einen nominal fixierten Lohn, so ist dieser bei hoher Inflation weniger wert. Arbeitgeber können hingegen bei hoher Inflation ihren Gewinn steigern, da sie ihre Produkte bei konstanten Lohnkosten teurer verkaufen können. Eine Entwertung des Einkommens resultiert auch für Haushalte, die ihr Vermögen zu nominal fixierten Zinsen angelegt haben, beispielsweise in Anleihen, die einen Ertrag gemäß Zinscoupon erzielen. Inflation verschiebt dabei Vermögen zwischen Anlegern (Gläubigern) und Schuldnern. Bei erhöhter Inflation ist der nominal fixierte Zinscoupon real weniger Wert. Schuldner können hingegen leichter ihre Schulden zurückzahlen, da sie real weniger dafür aufwenden müssen. Erst wenn sich Zinscoupons auf dem Kreditmarkt und Löhne auf dem Arbeitsmarkt an die erhöhte Inflation angepasst haben, wird diese Umverteilung ausgeglichen. Solange dies nicht geschieht, bleibt die Umverteilung bestehen. Diese Umverteilung kann als willkürlich und nachteilig wahrgenommen werden und den Anreiz, mit regulärer Arbeit Einkommen zu erzielen, vermindern. Auch unter der Annahme, dass Einkommen und Vermögen nominal mit der Inflation steigen, lassen sich negative Auswirkungen der Inflation identifizieren. Da sind zuerst die sogenannten Schuhlederkosten zu benennen. Menschen versuchen, ihre Geldhaltung bei hoher Inflation zu reduzieren. Dies impliziert ein häufigeres Aufsuchen der Bank zum Zweck der Abhebung von zinstragenden Vermögensanlagen. Hierbei entstehen Kosten für die involvierte Zeit und Unannehmlichkeiten, bildlich gesprochen durch das Abreiben des Schuhleders. Eine zweite Auswirkung der Inflation betrifft Menükosten, bildlich die Kosten für das Schreiben einer Speisekarte (menu). So müssen Preislisten und Aushängeschilder bei Inflation aktualisiert werden. Die Bestimmung neuer Preise erfordert kostspielige Informationen, Entscheidungsprozesse, Verhandlungen und Kommunikation. Hierbei werden Ressourcen verbraucht. Wird hingegen auf eine Preisanpassung verzichtet, dann beeinflusst Inflation die relativen Preise. In der Folge sind manche Preise zu niedrig im Vergleich zu denen, die gerade angepasst wurden. Dann versagen
148
Kapitel 7. Inflation
Preise aber bei ihrer wichtigen Aufgabe, nämlich Märkte zu räumen und die richtigen Signale für Produktion und Konsum zu liefern. Ferner sollte nicht übersehen werden, dass Inflation es schwer macht, reale Werte über die Zeit zu vergleichen. Geld verliert teilweise seine Bedeutung als Recheneinheit. Eine realistische Darstellung von Kosten, Profiten und Erträgen einer Firma wird so erschwert, erfolgreiche Firmen können nur unzureichend von erfolglosen Firmen unterschieden werden. Damit wird der Kapitalmarkt behindert, da Risiken schwer zu bewerten sind. Kapital könnte bei eher unproduktiven Investoren landen.
7.3
Positive Auswirkungen der Inflation
Inflation hat teilweise auch positive Auswirkungen. So hatten wir gesehen, dass die nominale Geldnachfrage mit steigendem Preisniveau proportional zunimmt. Dies impliziert, dass die Zentralbank mehr Banknoten drucken kann und damit ein Einkommen erzielt. Dieses Einkommen wird die Zentralbank an den Staat abführen, wo es einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung des Budgets leisten kann. Insbesondere in weniger entwickelten Ländern verspricht dies Vorteile. Die Erhebung und Eintreibung direkter und indirekter Steuern funktioniert dort teilweise schlecht. Steuern werden dort vermieden, hinterzogen oder durch Bestechung umgangen. Im Vergleich dazu ist die Gewinnerzielung durch die Zentralbank einfacher und erfolgt ohne derartige Probleme. Je höher die Inflation, desto stärker kann sich ein Staat durch das Drucken von Banknoten finanzieren. Daher wird dieses Einkommen auch als Inflationssteuer bezeichnet. Ein zweiter Vorteil betrifft die Flexibilität von Löhnen. Löhne sollten sich gemäß der Produktivität entwickeln. Branchen mit Produktivitätszuwächsen können höhere Löhne bezahlen. Dagegen sollten die Löhne in Branchen mit rückläufiger Produktivität sinken. Mit dieser Anpassung der Löhne an die Produktivität werden Arbeitskräften passende Signale für eine zukünftig effiziente Beschäftigung gegeben. Eine solche Entwicklung der Löhne ist aber nicht immer gegeben. Insbesondere werden sinkende Löhne oftmals als unfair empfunden und führen in der betroffenen Branche zu Arbeitskämpfen und Streiks. Die Lohnsenkung unterbleibt dann. Inflation ist dann von Vorteil. In Branchen mit rückläufiger Produktivität können die nominalen Löhne konstant bleiben und werden schleichend durch Inflation entwertet. Dabei bleiben Streiks zumeist aus. Eine moderate Inflationsrate erhöht damit die Flexibilität der Löhne und vermeidet Konflikte bei notwendigen realen Lohnsenkungen.
7.4 Ein veraltetes Modell
149
Dies ist kompatibel mit Umfrageergebnissen zu der Frage, welche Form der Lohnsenkung als unfair eingeschätzt wird: Eine Reduzierung des Nominallohnes bei Nullinflation wird als unfair eingeschätzt und reduziert die Arbeitsmotivation und führt damit eher zu einem Streik. Ein konstanter Lohn bei Inflation wird jedoch nicht als unfair empfunden, obwohl in beiden Fällen der Reallohn gleichermaßen sinkt. Wir werden zwei weitere Gründe für positive Auswirkungen der Inflation modelltheoretisch behandeln. Im Rahmen des Modells in Kapitel 10 werden wir sehen, wie eine kurzfristige Erhöhung des Inlandsprodukts langfristig die Inflation erhöht. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass eine langfristig erhöhte Inflation mit einem kurzfristigen Vorteil einhergeht, nämlich der erhöhten Produktion. Zudem werden wir sehen, dass das Gegenteil von Inflation, nämlich Deflation, noch gefährlicher und gesamtwirtschaftlich nachteiliger ist als die Inflation. Eine beständig erhöhte Inflationsrate bringt einen Sicherheitsabstand mit sich. Schwankungen in der Inflationsrate gehen dann mit einem geringen Risiko einher, in die Deflation zu kommen. In Abwägung der Vor- und Nachteile der Inflation sollte bedacht werden, dass eine Inflation von Null übermäßig restriktiv wirkt. Aufgrund des Substitutionseffekts ist eine Inflationsrate von 1% als Preisniveaustabilität zu werten. Darüber hinaus kann aus den genannten Nutzenerwägungen ein wenig Inflation zugelassen werden. Die EZB hat sich daher ein Inflationsziel von unter, aber nahe 2% gesetzt. Andere Zentralbanken haben auch höhere Inflationsziele. Genauso wichtig wie die Höhe des Inflationsziels ist dabei, dass eine Zentralbank Schwankungen der Inflationsrate vermeidet und dem privaten Sektor verlässliche zukünftige Prognosen ermöglicht, um willkürliche Umverteilungen zu vermeiden.
7.4
Ein veraltetes Modell
Welches Verhältnis besteht zwischen Inflation und Geldpolitik? Eine einfache und klassische Verbindung wurde bereits von dem englischen Philosophen John Locke im 17. Jhdt. formuliert, die Quantitätstheorie. Diese liefert eine einfache Faustformel zum Erkennen von Inflationsgefahren. Gemäß der Quantitätstheorie ist die Menge an Gütern einer Volkswirtschaft proportional zur Höhe der Geldmenge. Wir können dies mit einer Modifikation der Geldnachfragefunktion 6.2 herleiten bei der wir unterstellen, dass die Geldnachfrage proportional mit dem Preisniveau ansteigt. Hierzu ziehen wir P aus der Funktion heraus und schreiben die Variable als Faktor vor die Funktion: L = L (Y, P, i, RP) = P · L′ (Y, i, RP)
(7.4)
150
Kapitel 7. Inflation
Eine Verdoppelung der Geldmenge, beispielsweise durch eine erhöhte Bereitstellung von Bargeld oder eine verstärkte Kreditvergabe durch die Zentralbank, erfordert einen Anstieg der Geldnachfrage L, beispielsweise durch eine Verdoppelung des Preisniveaus P. Die Quantitätstheorie unterstellt eine Konstanz von L′ (Y, i, RP). Das Inlandsprodukt wird als konstant angenommen, beispielsweise durch das potentielle Inlandsprodukt bestimmt, und kann nicht zu einem Anstieg von L′ (Y, i, RP) beitragen. Auch das Zinsniveau i und die Risikoprämie RP werden als, zumindest langfristig, konstant angenommen. Damit kann ein Anstieg des Bargelds nur zu einem proportionalen Anstieg des Preisniveaus führen. Diese Schlussfolgerung wird auch als Neutralität des Geldes bezeichnet: Ein Anstieg der Geldmenge beeinflusst nicht die Höhe des realen Inlandsprodukts, sondern nur die Preise.
Abbildung 7.2: Preisindex und Bargeld während der Hyperinflation in Deutschland. Dieser Zusammenhang hat sich insbesondere in Zeiten der Hyperinflation, also eines Anstiegs des Preisniveaus von mehr als 50% im Monat, als brauchbar herausgestellt. So zeigt die Entwicklung Deutschlands im Jahre 1923, wie in Abbildung 7.2 dargestellt, die vermutete Korrelation zwischen Preisniveau und Menge an Bargeld auf. Im Juni 1921 waren 80 Mrd.Reichsmark in Umlauf und ein Hühnerei kostete 800 Mark. Im November 1923 waren 100 Trillionen Reichsmark in Umlauf und ein Ei kostete 20 Mrd.Mark. Die Quantitätstheorie liefert für die Dynamik der Anpassung des Preisniveaus allerdings keine plausible Erklärung. Notwendig für einen Anstieg des Preisniveaus ist ein knappes Angebot und
7.5 Träge Preisanpassung
151
eine hohe Nachfrage, also eine Überschussnachfrage auf dem Gütermarkt. Die Quantitätstheorie versäumt es, darzulegen, wie dies durch einen Anstieg des Bargelds hervorgerufen werden könnte.
Ferner geht eine Erhöhung der Geldmenge notwendigerweise mit eine Absenkung des Zinses i einher. Aus diesem Grund ist die Annahme eines konstanten Zinsniveaus im Term L′ (Y, i, RP) unzulässig und die Quantitätstheorie damit fehlerhaft. Wie wir in Kapitel 6 gesehen haben, wird eine Erhöhung des Bargelds zu einem Sinken des Zinses i führen. Dies führt zu einem Anstieg von L′ (Y, i, RP). Dies hat zur Folge, dass die Preise nicht notwendigerweise steigen. Zuletzt versagt die Quantitätstheorie dabei, die Zählebigkeit und Trägheit der Inflation zu erklären. Diese Eigenschaft der Inflation werden wir in der Folge näher untersuchen. Insgesamt wird der Quantitätstheorie in der Geldpolitik heutzutage keine herausragende Bedeutung mehr beigemessen. Wirtschaftswissenschaftler nehmen die Popularität und didaktische Eingängigkeit der Quantitätstheorie zur Kenntnis nehmen. Aber sie verwenden die Quantitätstheorie nicht selbst zur Darstellung makroökonomischer Zusammenhänge.
7.5
Träge Preisanpassung
Wir sind vertraut mit dem Gedanken, dass eine hohe Nachfrage nach einem Gut den Preis des Gutes in die Höhe treibt und dass ein übermäßiges Angebot Preise senkt. Preise bringen Märkte damit rasch in ein Gleichgewicht, bei dem Nachfrage und Angebot einander entsprechen. Wir kennen solche Auswirkungen von Preisschwankungen bei Aktien, Immobilien, Wechselkursen oder Rohstoffen. Hier können teilweise in Sekundenschnelle Preise auf reagieren. Für die meisten Waren und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft sind starke Preisschwankungen jedoch unüblich. Zudem geht eine Erhöhung des Preises einer Ware häufig mit einer Reduzierung des Preises anderer Waren einher. Der Preisindex eines gesamtwirtschaftlichen Warenkorbs schwankt daher nur geringfügig. Die Inflationsrate πt reagiert insgesamt träge auf Angebot und Nachfrage. Hierzu gibt es verschiedene Erklärungen. Eine mikrofundierte Makroökonomik erklärt die Trägheit der Inflation mit den oben erwähnten Menükosten oder mit einem trägen Fluss von Informationen. Sie sieht Produzenten in einer Rolle, in der sie über ihre Produktionsmengen bestimmen in Anbetracht von Preisen, die sie nicht immer anpassen können. Eine Makroökonomik als engineering identifiziert hingegen verhaltensorientierte Gründe für die Bestimmung von Preisen, die nur träge auf Schwankungen der Produktion reagieren.
152
Kapitel 7. Inflation
Aus dieser Sicht haben selbst starke Schwankungen der Produktion keinen unmittelbaren und vollständigen Einfluss auf die Inflationsrate. Diese verschiedenen Sichtweisen gilt es im Folgenden zu verstehen.
Preisspiel Jeder Teilnehmende repräsentiert einen Produzenten in einer Volkswirtschaft. In jeder der 10 Runden besteht Ihre einzige Aufgabe darin, einen Preis p für Ihr Produkt zu bestimmen. Gleichzeitig bestimmen die anderen Teilnehmer den Preis ihres Produkts. Mit der Wahl von p bestimmen Sie die Höhe der Nachfrage gemäß der Funktion y = ω − p. Die Nachfrage y ist also umso größer, je geringer der gewählte Preis. Sie steigt mit dem exogenen Einfluss ω, mit welchem die maximal mögliche Nachfrage bei einem Preis p = 0 angegeben wird. Jeder Teilnehmer produziert automatisch so viel, wie nachgefragt wird. Jeder Produzent bezieht Vorleistungen von anderen Produzenten zu den von diesen bestimmten Preisen. Mit dem Großbuchstaben P wird der Durchschnitt der Preise aller Produzenten bezeichnet. Dieser Durchschnitt bestimmt Ihre Stückkosten. Diese betragen P − 10 und die Kosten für die gesamte Produktion betragen folglich y · (P − 10). Für den Gewinn gilt Umsatz abzüglich Kosten, also y · p − y · (P − 10). Der Durchschnittspreis P ist am Anfang einer Runde notwendigerweise unbekannt. Das heißt, wenn Sie den Preis Ihres Produktes festlegen, kennen Sie die Kosten Ihrer Produktion noch nicht, da diese von den Preisen aller anderen Haushalte abhängt. Das Spiel wird über 10 Runden gespielt. Es gilt in den ersten 5 Runden ω = 30. In den zweiten 5 Runden gilt ω = 50. Ein Teilnehmer wird für die Auszahlung des über alle 10 Runden in Eurocent erzielten Gewinns zufällig ausgelost. Einen hohen Gewinn erzielen einzelne Teilnehmer, wenn sich Produktion und Gewinn pro Stück nicht stark voneinander unterscheiden. Das classEx-Spiel lässt sich anhand der Abbildung 7.3 illustrieren. Eine theoretische Lösung lässt sich durch Bestimmung des Gewinnmaximums herleiten. Für den Umsatz gilt y · p = (ω − p)p. Die
7.5 Träge Preisanpassung
153
Abbildung 7.3: classEx-Spiel zur Phillips-Kurve Kosten betragen y · (P − 10) = (ω − p)(P − 10). Damit beträgt der Gewinn (ω − p)(p − P + 10). Dieser Gewinn ist beispielhaft in der Abbildung als Rechteck dargestellt. Für ein Gewinnmaximum muss die erste Ableitung nach dem Preis gleich Null sein. Es folgt also ω − 2p + P − 10 = 0. Auflösen nach p und Division durch 2 erbringen ω + P − 10 (7.5) 2 In dieser Gleichung wird ein makroökonomisch zentraler Zusammenhang erfasst. Der von einem einzelnen Produzenten gewählte Preis p ist im Gewinnmaximum positiv abhängig vom Preis des Warenkorbs P. Dies resultiert in der Volkswirtschaft daraus, dass ein jeder Produzent Waren und Dienstleistungen liefert, die in die Produktion der anderen eingehen. Der Preis des Warenkorbs entspricht damit den Kosten für diese Vorleistungen. Der Anstieg der Kosten macht eine Erhöhung des Preisniveaus eines einzelnen Produzenten erforderlich. Dies hat zur Folge, dass sich Preise aller Wirtschaftssubjekte einer Volkswirtschaft gleichgerichtet entwickeln. Ähnlich wie beim Multiplikatoreffekt die Nachfrage privater Haushalte positiv voneinander abhängt, beeinflussen sich die makroökonomisch gewählten Preise. p=
Der Preis des Warenkorbs P ist den Produzenten am Anfang einer Runde unbekannt und sie müssen sich hierzu Erwartungen Pe bilden. Dazu haben sie im Wesentlichen zwei Möglichkeiten. Entweder leiten sie den Preis des Warenkorbs aus Erfahrungen aus der Vergangenheit ab, oder sie bilden sich rationale Erwartungen, basierend auf einer mathematischen Herleitung und der Annahme, dass alle
154
Kapitel 7. Inflation
anderen Teilnehmer ebenfalls vollständig rational sind. Im Falle rationaler Erwartungen werden alle Teilnehmer zum gleichen Resultat kommen, da alle die gleiche Aufgabe lösen müssen. Es muss also im Gleichgewicht, wenn sich alle Erwartungen erfüllen, gelten p = P. Wird dies in Gleichung 7.5 eingesetzt, so folgt p = ω − 10. Wird dies wiederum in die Nachfragefunktion eingesetzt, so folgt für die optimale Produktion y = 10. Nachfrage und Produktion sind damit im Gleichgewicht konstant, also unabhängig vom exogenen Einfluss ω, wie in Abbildung 7.4 mit einer vertikalen, gestrichelten Linie dargestellt. Der Preis reagiert in voller Höhe auf den exogenen Einfluss ω und erreicht in jeder Runde das Gleichgewicht.
Abbildung 7.4: Gleichgewicht und kurzfristige Reaktion im classEx-Spiel zur Phillips-Kurve
Die typischen Ergebnisse des classEx-Spiels legen jedoch nahe, dass die Produktion nicht konstant ist. In den Runden 5 und 10 liegt die Produktion zumeist nahe am Gleichgewicht von y = 10 und p = ω − 10. In den jeweils vorhergehenden Runden unterscheidet sie sich aber hiervon. Die Anpassung an das Gleichgewicht dauert somit jeweils einige Runden. Dies kann damit erklärt werden, dass viele Teilnehmer ihre Erwartung des Preises des Warenkorbs P aus Erfahrungen der Vergangenheit bilden. Statt Pe aus dem Gleichgewicht zu bestimmen, könnte für diese Teilnehmer
7.6 Löhne und Arbeit
155
beispielsweise gelten Pe = P−1 . In diesem Fall wählen Produzenten dann den Preis ω + P−1 − 10 p= . (7.6) 2 Besonders markant ist die Auswirkung der Änderung von ω in Runde 6. Diese führt zu einer unvollständigen Anpassung des individuellen Preises p. In Runde 5 gilt typischerweise P = 20 und damit folgt für Runde 6 für den erwartete Preis Pe = 20. Daraus resultiert dann für Runde 6 = 30. Korrespondierend dazu ist die Nachfrage gestiegen auf y = ω − p = der Preis p = ω +20−10 2 50 − 30 = 20. Diese zwei Punkte lassen sich in Abbildung 7.4 darstellen und zu einer positiv geneigten Kurve verbinden. Die Kurve stellt den kurzfristigen Anstieg der Produktion als Reaktion auf einen Anstieg des Preises dar. Der Preis nähert sich dem langfristigen Niveau von p = 40 erst nach einer hinreichend langen Anpassung, bei der sukzessive über die Runden die Erwartungen Pe = P−1 ansteigen und damit die positiv verlaufende Kurve nach oben verschoben wird.
7.6
Löhne und Arbeit
Die Ergebnisse des classEx-Spiels lassen sich auch auf den Arbeitsmarkt übertragen. Wir haben bereits mehrfach von Löhnen gesprochen. Damit meinen wir den Preis einer Arbeitsstunde. Geleistete Arbeitsstunden gehen zum einen ähnlich wie Vorleistungen in den Produktionsprozess ein. Manche Löhne, wie beispielsweise für Dienstleistungen von Handwerkern, werden als Endprodukte direkt verkauft und sind damit Teil des Warenkorbs. Insgesamt sind Löhne damit ähnlich wie die im classEx-Spiel behandelten Preise eines Produzenten. Sie sind Kosten für diejenigen, die damit weiter produzieren und Endprodukte für Konsumenten und Investoren. Damit lässt sich das Modell, das für die Bildung von Preisen entwickelt wurde, analog auf die Lohnbildung anwenden. Gehen wir hierzu davon aus, dass ein jeder Produzent nunmehr ein Arbeiter ist, der seine Arbeit an andere verkauft. Den Preis p interpretieren wir als den vom Arbeiter dafür festgesetzten Lohn. Ein jeder Arbeiter muss für seinen Konsum Produkte anderer Arbeiter beziehen und diesen dafür den Lohn bezahlen. Daher muss er diese als Lebenshaltungskosten berücksichtigen. Er wird nun nach einer Maximierung seines Wohlergehens streben. Die positive Abhängigkeit der Löhne voneinander gilt nun analog zu derjenigen der Preise. Diese Analogie legt nahe, dass wir zwischen Löhnen und Preisen im Rahmen der Makroökonomik nicht gesondert differenzieren müssen. Eine solche Differenzierung spielt jedoch bei anderen Fragestellungen der Ökonomie eine große Rolle, beispielsweise bei Verteilungsgerechtigkeit oder in der Institutionenökonomik.
156
7.7
Kapitel 7. Inflation
Inflation und Produktionslücke
Für eine volkswirtschaftliche Interpretation der Befunde aus dem classEx-Spiel gehen wir von einem dynamischen Umfeld aus in dem ω einem Trend folgt. Statt eines Sprungs in Runde 6 könnte sich ω beispielsweise jede Runde weiter erhöhen. In diesem Fall würden Wirtschaftssubjekte stetig Erfahrung mit einer Preissteigerung machen. Es erscheint dann plausibel, dies in die Erwartungsbildung einfließen zu lassen. Statt jeweils mit einem zur Vorrunde identischen Preis Pe = P−1 zu rechnen, könnten sie stattdessen eine identische Inflation von 10 % erwarten. Lag das Preisniveau beispielsweise in Runde 5 bei 20 und in Runde 6 bei 22, so erwarten sie in Runde 7 Pe = 22, 4. Es e gilt dann für die erwartete Preissteierung PP−1 = PP−1 . Wird für Pe in Gleichung 7.5 eingesetzt, so −2 P2
folgt p =
ω + P−1 −10 −2
2
p=ω+
. Dies lässt sich umformen zu einer Bestimmung der Preissteigerung:
2 P−1 − p − 10. P−2
(7.7)
Division durch P−1 und Verwendung von y = ω − p erbringt p P−1 ω − p − 10 P−1 y − 10 = + = + . P−1 P−2 P−1 P−2 P−1
(7.8)
Wir können hieraus eine Beziehung für Aggregatsgrößen herleiten. Hierzu bilden wir zu Gleichung 7.8 den Durchschnitt der gesamten aus N Personen bestehenden Volkswirtschaft. Der Durchschnitt von p lautet P. Die Variablen P−1 und P−2 sind bereits Durchschnittsgrößen und ändern sich nicht. Für die durchschnittliche Produktion gilt y = YN . Zudem entspricht die Produktion im Gleichgewicht y = 10. Aggregiert über alle N Produzenten beträgt diese 10N und entspricht dem potentiellen ¯ Inlandsprodukt. Damit können wir 10 durch YN ersetzen. Zudem berücksichtigen wir, dass PP−1 = π + 1 und analog PP−1 = π−1 + 1. Es resultiert dann die sogenannte Phillips-Kurve, benannt nach −2 dem neuseeländisch-britischen Ökonomen Alban „Bill“ Phillips (1914-1975). π = π−1 + γ Ye
(7.9) ¯
Mit γ bezeichnen wir den Koeffizienten der Produktionslücke. Hierbei gilt γ = NPY−1 . Empirisch und unter allgemeineren Bedingungen als denjenigen des classEx-Spiels ist γ die Elastizität mit der die gesamtwirtschaftliche Nachfrage die Inflation treibt und liegt typischerweise nahe 1. Bei ¯ Y − Y einer Produktionslücke von Null Ye = Y¯ = 0 wird die Preissteigerung der Vergangenheit in
7.7 Inflation und Produktionslücke
157
identischem Ausmaß fortgesetzt, π = π−1 . Aus diesem Grund wird das potentielle Inlandsprodukt auch oftmals als das inflationsneutrale Niveau bezeichnet. Eine positive Produktionslücke bewirkt eine ansteigende Inflation. Dies lässt sich volkswirtschaftlich dadurch begründen, dass im Boom Maschinen schneller verschleißen und Produzenten zu einem beschleunigten Anstieg der Preise veranlasst. Für abgeleistete Überstunden muss zudem ein Zuschlag bezahlt werden, der die Löhne erhöht. Ferner steigen die Löhne schneller, weil sich aufgrund der geringen Arbeitslosigkeit Lohnsteigerungen leichter durchsetzen lassen. Über das Niveau der bisherigen Inflation hinaus ergeben sich dadurch Preis- und Lohnsteigerungen. Eine grobe Schätzung für γ = 1 wäre, dass bei Ye = 1 die Inflation um einen Prozentpunkt ansteigt, also gilt π = π−1 + 1. Eine negative Produktionslücke Y < Y¯ lässt die Inflationsrate hingegen unter das Niveau πt−1 sinken. Der Grund hierfür besteht darin, dass die negative Produktionslücke mit Arbeitslosigkeit einhergeht, Maschinen sind nicht ausgelastet und der Wettbewerb um die geringe Nachfrage erlaubt keine hohen Preissteigerungen. Arbeitskräfte sind nicht ausgelastet oder werden entlassen. Ein Anstieg der Löhne ist in diesem Umfeld schwer durchzusetzen. Mit dem Parameter γ wird berücksichtigt, dass Änderungen der gesamtwirtschaftliche Nachfrage, und damit der Produktionslücke je nach wettbewerblichem Umfeld unterschiedlich auf Änderungen der Preise einwirken. Bei starkem Wettbewerb lassen sich Preiserhöhungen und damit ein Anstieg der Inflation nicht leicht umsetzen und γ ist klein, beispielsweise mit einem Wert von 0, 5. Bei geringem Wettbewerb steigen Preise und die Inflation stärker an und γ ist groß, beispielsweise mit einem Wert von 2. Liegt beispielsweise das Inlandsprodukt um 2% über dem potentiellen Niveau, so steigt die Inflationsrate von beispielsweise vorher 1% auf (1 + 2γ)%. Die ursprüngliche, von Bill Phillips konzipierte Gleichung, bezog sich nicht auf die Produktionslücke, sondern die Arbeitslosigkeit. Wie in Kapitel 4 ausgeführt, existiert aber ein enger Zusammenhang zwischen diesen beiden Größen. Der Unterschied zwischen der ursprünglichen und der hier verwendeten Form der Phillips-Kurve ist daher nicht essentiell. DIe Phillips-Kurve 7.9 lässt sich auch vor dem Hintergrund der in vielen Ländern verbreiteten Indexierung von Löhnen oder Preisen interpretieren. So werden unter Umständen Mietverträge geschlossen, in denen eine Anpassung der Miete an die Inflationsrate vorgesehen ist. Oder Arbeitsverträge sehen eine entsprechende Anpassung des Lohns vor und vermeiden Schwankun-
158
Kapitel 7. Inflation
gen des realen Einkommens in Zeiten hoher oder schwankender Inflation. Als Indikator für eine Anpassung wird dabei die im Vorjahr gemessene Inflationsrate verwendet. Ein solcher Einfluss vergangener Werte ist auch im Einklang mit ökonometrischen Untersuchungen. Inflation wird dann vererbt. Eine hohe Inflationsrate in der Vergangenheit bewirkt, dass auch in der Zukunft mit einer hohen Inflationsrate gerechnet wird. Preisniveaustabilität bewirkt, dass auch zukünftig mit geringer Inflation gerechnet und auf Preissteigerungen vollständig verzichtet wird. Erst im Zuge einer Produktionslücke verändert sich die Inflationsrate.
7.8
Inflation und die mikrofundierte Makroökonomik
Der Einfluss der Produktionslücke in Gleichung 7.9 lässt sich sowohl aus Sicht einer mikrofundierten Makroökonomik als auch einer als engineering begründen. Die mikrofundierte Makroökonomik geht von rational handelnden Wirtschaftssubjekten aus, vermutet aber, dass diese ihre Preise aufgrund von Rigiditäten nicht immer anpassen. Hierzu gibt es zwei Varianten. Zum einen können Menükosten vorliegen. Diese bewirken, dass die Anpassung von Preisen und Löhnen kostpielig ist und daher nur selten erfolgt. So werden Lohnverhandlungen nur selten durchgeführt, oftmals nur alle 1-2 Jahre, da die Kosten der Verhandlungen hoch sind. Diese Lohnverhandlungen führen zumeist zu einer Lohnsteigerung auf ein höheres Niveau, das für die Laufzeit eines Tarifvertrages konstant gehalten wird. Diese einmal festgelegte Lohnhöhe reagiert dann während der Laufzeit nicht auf volkswirtschaftliche Ereignisse, wie beispielsweise eine hohe Nachfrage oder viele abzuleistende Überstunden. Genauso sind manche Preise kurzfristig konstant. Um Menükosten einzusparen, werden Preisanpassungen selten vollzogen und reagieren damit nicht immer auf volkswirtschaftliche Ereignisse. Erhöht sich für einen Produzenten beispielsweise die Nachfrage nach seinem Produkt, so wird er nicht sofort mit Preiserhöhungen reagieren, um Menükosten zu sparen. Menükosten sind insbesondere dort hoch, wo ein Hersteller auch in seinen Werbemaßnahmen ein Preissignal abgeben möchte. Hiervon abzurücken würde Kunden verunsichern. Als Coca-Cola 1886 eingeführt wurde, kostete die Flasche 5 Cent. Dieser Preis wurde 70 Jahre lang beibehalten, trotz schwankender Herstellungskosten (Goldberg und Hellerstein 2007). Übertragen auf das classEx-Spiel würde daher gelten, dass die Produktion deswegen schwankt, weil Produzenten ihre Preise nicht vollständig an eine auftretende Störung anpassen und sich demzufolge Schwankungen der nachgefragten Menge ergeben. Mit der Idee der sticky information wird seitens der mikrofundierten Makroökonomik eine zweite
7.9 Inflation aus Sicht der Makroökonomik als engineering
159
Erklärung dafür gegeben, dass als Folge eines Schocks die Anpassung träge erfolgt. Die Information über eine Störung ist dabei nicht allen Wirtschaftssubjekten sofort verfügbar, sondern verbreitet sich träge. Dies können wir illustrieren anhand des classEx-Spiels. Falls Teilnehmer die Formel zur Bestimmung der Stückkosten P − 10 nicht kennen, können sie diese nicht rational in ihr Kalkül einbeziehen. Falls sie nun eine Erhöhung der Nachfrage ω registrieren, haben sie keinen Anlass, von steigenden Kosten auszugehen. Auch bei vollständiger Rationalität werden Teilnehmer dann Gleichung 7.6 verwenden, von einem unveränderten Preisniveau des Warenkorbs P ausgehen und die Produktion erhöhen.
7.9
Inflation aus Sicht der Makroökonomik als engineering
Gleichungen 7.6 und 7.9 stehen anschaulich für eine Makroökonomik als engineering. Wirtschaftssubjekte bilden dort ihre Erwartungen nicht rational, sondern aus der Erfahrung mit den Preisen aus der Vorperiode. Dies hat zur Folge, dass Preise und die Inflationsrate träge reagieren. Aus Sicht dieser Lehrmeinung existieren darüber hinaus weitere Gründe für eine träge Anpassung der Inflationsrate. Menschen haben die Neigung, Entscheidungen zu verschleppen und in die Zukunft zu verschieben (Prokrastination), um den nötigen Aufwand des Überlegens und Abwägens zu vermeiden. Dies korrespondiert im classEx-Spiel damit, dass Teilnehmer die Notwendigkeit einer Anpassung anerkennen, die Mühsal der Anpassung aber scheuen und daher die Entscheidung auf die nächste Runde verschieben. Ihre Entscheidungen korrespondieren dann nur träge mit Änderungen des Umfelds. Wieder andere Menschen haben beschränkte Fähigkeiten beim Auffinden einer optimalen Lösung. Sie handeln stattdessen nach Gewohnheit und verzichten vollständig auf eine Anpassung ihres Preises. Im classEx-Spiel wären dies Teilnehmer, die ihren Preis der Vorrunde zum Ausgangspunkt nehmen und an diesem unverändert festhalten. Ein Abneigung gegen eine Änderung der Preise kann auch mit der emotionalen Beziehung zu Kunden und Zulieferern begründet werden. Solche Beziehungen können auf Reziprozität beruhen, die Neigung Gutes mit Gutem zu honorieren und Böses mit Bösem. Erhöht ein Produzent seinen Preis, so interpretieren Kunden dies als böswillig und sie rächen sich, beispielsweise indem sie die Reputation des Produzenten schädigen oder langfristig nach anderen Produzenten suchen. In Sorge um eine solche Reaktion verzichten Produzenten auf eine Preiserhöhung selbst da, wo diese vernünftig wäre. Insgesamt unterstreicht eine Makroökonomik als engineering die Trägheit von Preisen und Inflation. Bei derart trägen Preisen müssen Produzenten noch stärkere Schwankungen der Produktionslücke
160
Kapitel 7. Inflation
in Kauf nehmen. Bei geringer Nachfrage werden Maschinen nicht ausgelastet, Kurzarbeit bei Arbeitern eingeführt oder Arbeitskräfte sogar entlassen. Dies geschieht ohne sofortige Anpassung der Preise. Genauso sind Produzenten bereit, Überstunden abzuleisten und von ihren Arbeitskräften einzufordern, Sonderschichten einzulegen, Maschinen noch stärker auszulasten oder neue Arbeitskräfte einzustellen, falls die Nachfrage sehr hoch ist. Trotz dieses Anstiegs der Nachfrage halten sie den von ihnen zugesagten und angekündigten Preis konstant. Sie kalkulieren ihren Preis mit Hilfe der aus der Vergangenheit bekannte Inflationsrate und benötigen für eine Änderung dieser Kalkulation eine längere Zeitspanne. Wir können dies mit Hilfe einer Umformulierung von Gleichung 7.9 erfassen. Weicht das Inlandsprodukt von seinem potentiellen Niveau ab, so hat dies eine Veränderung der zukünftigen Inflationsrate zur Folge. Auf die aktuelle Inflation wirkt hingegen die Produktionslücke der Vorrunde. πt = πt−1 + γ Ye−1 .
(7.10)
Abbildung 7.5: Inflationsanpassungskurve Die zu Gleichung 7.10 gehörige Kurve kann grafisch in einem π/Y -Diagramm für die Bestimmung der Inflationsrate in Periode 1 durch eine Horizontale abgetragen werden, wie in Abbildung 7.5 zu sehen. An der Ordinate ist mit π0 die Inflationsrate der Vorperiode 0 abgetragen. Wir nennen diese Kurve die Inflationsanpassungs-Kurve (IA). Die Produktionslücke der Vergangenheit führt zu einer Änderung der Inflationsrate und einer zukünftigen Verschiebung der IA-Kurve. Eine positive Produktionslücke Yt−1 > Y¯ impliziert πt > πt−1 , also eine ansteigende Inflationsrate und eine Verschiebung der IA-Kurve in der Folgeperiode nach oben. Eine negative Produktionslücke Yt−1 < Y¯ lässt die Inflationsrate hingegen unter das Niveau πt−1 sinken und verschiebt die IA-Kurve nach unten.
7.10 Schlüsselbegriffe im Kapitel
161
Neben dieser kurzfristigen, horizontalen IA-Kurve ist in Abbildung 7.5 das langfristige Niveau des Inlandsprodukts bei Y¯ abgetragen. Dieses markiert das Gleichgewicht bei konstanter Inflationsrate. Mit π = π−1 folgt eine Produktionslücke von Null, Y˜ = 0. Dies impliziert Y = Y¯ . Diese vertikale Kurve markiert also diejenige Produktion, die dem potentiellen Niveau entspricht und wird auch als langfristige Phillips-Kurve bezeichnet. Wir können diese potentielle Produktion aus dem Wachstumsmodell herleiten. Diese wird von den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapitel bestimmt und die Inflationsrate hat keinen Einfluss. Wir könnten zwar, wie in Kapitel 7 gesehen, volkswirtschaftliche Kosten und Nachteile der Inflation vermuten, zum Beispiel in Form von Schuhlederkosten, Menükosten oder den Nachteilen durch willkürliche Umverteilung. Auf der anderen Seite ergaben sich aber auch Vorteile aus Inflation aufgrund einer leichteren Anpassung der realen Löhne und der Inflationssteuer. In Abwägung der Vor- und Nachteile erscheint es gerechtfertigt, von einem Einfluss der Inflationsrate auf das potentielle Inlandsprodukt abzusehen.
7.10 Schlüsselbegriffe im Kapitel Hyperinflation IA-Kurve Inflationssteuer Lebenshaltungskosten Lohn Menükosten Neutralität des Geldes Phillips-Kurve Produktionslücke
Prokrastination Quantitätstheorie Schuhlederkosten sticky information Substitutionseffekt Trägheit Verbraucherpreisindex Warenkorb willkürliche Umverteilung
162
Kapitel 7. Inflation
7.11
Quiz
Der Verbraucherpreisindex unterscheidet sich vom Deflator 1. durch die Berücksichtigung von Exportgütern, 2. durch die Annahme konstanter Preise, 3. durch die Berücksichtigung von Qualitätsverbesserungen, 4. durch die Verwendung eines konstanten Warenkorbes.
Unter dem Substitutionseffekt versteht man eine Verzerrung bei der Messung der Inflation, die dadurch entsteht, dass der Warenkorb konstant bleibt, obwohl 1. teurere Produkte weniger nachgefragt werden, 2. Qualitätsverbesserungen auftreten, 3. Geschmäcker sich ändern, 4. Güter im Warenkorb nicht nur im Inland produziert werden.
Beim classEx-Spiel zur Phillips-Kurve ist typischerweise mit steigender Produktion als Folge erhöhter Nachfrage zu rechnen, weil 1. Teilnehmer den Durchschnittspreis korrekt antizipieren. 2. die Produktion im Optimum konstant ist. 3. die Produktion im Optimum positiv vom Durchschnittspreis abhängt. 4. Teilnehmer den Durchschnittspreis der Vorperiode für ihre Berechnung verwenden.
Gemäß einer Makroökonomik als engineering steigt kurzfristig die Inflationsrate 1. bei einer Erhöhung der Geldmenge, 2. bei einer Erhöhung des Inlandsprodukts, 3. bei einer Erhöhung der Inflation der Vorperiode, 4. bei einer Erhöhung der zukünftig erwarteten Inflation.
7.12 Ergänzende Literatur
163
Die IA-Kurve verschiebt sich nach oben mit 1. sinkender Inflationsrate der Vergangenheit, 2. steigendem Staatskonsum, 3. positiver Produktionslücke, 4. steigendem Realzins.
7.12 Ergänzende Literatur • A KERLOF, George A. ; S HILLER, Robert J.: Animal spirits: How human psychology drives the economy, and why it matters for global capitalism. 9. Auflage. Princeton University Press, 2010, S. 107-115 • G OLDBERG, Penelopi ; H ELLERSTEIN, Rebecca: Sticky Prices: Why Firms Hesitate to Adjust the Price of Their Goods. In: Federal Reserve Bank of New York Current Issues in Economics and Finance 13 (2007), Nr. 10, S. 1–7
7.13 Übungsaufgaben Aufgabe 7.1 Gegeben seien die folgenden Daten zur Mengen- und Preisentwicklung: Jahr 2018 2019
Preis von Rohöl 10 20
Menge 2.000 1.000
Preis eines Kleinwagens 20.000 16.000
Menge 1 2
Tabelle 7.2: Beispielrechnung für zwei Güter a) Die Volkswirtschaft produziere nur die beiden angegebenen Güter. Bestimmen Sie den Deflator für das Jahr 2019. Unterstellen Sie das Basisjahr 2018. b) Bestimmen Sie den Verbraucherpreisindex unter der Annahme, die Verbrauchsgewohnheiten seien vollständig durch die Angaben der obigen Tabelle bestimmt. Legen Sie Ihren Berechnungen den Warenkorb des Jahres 2018 zugrunde und berechnen Sie auch die zugehörige Inflationsrate.
164
Kapitel 7. Inflation
c) Erläutern Sie kurz, wie der Unterschied der beiden obigen Maßgrößen zu erklären ist. Aufgabe 7.2 Gehen Sie davon aus, dass die Nachfrage y nach Produkten eines repräsentativen Produzenten einer Volkswirtschaft durch y = ω −2p gegeben ist und die Produktion der Nachfrage entspricht. Die Kosten betragen y · (P − 40), wobei mit P der Preis des Warenkorbs aller Produkte der Volkswirtschaft bezeichnet wird. a) Bestimmen Sie den optimalen Preis p in Abhängigkeit des Preises des Warenkorbs P! b) Bestimmen Sie den optimalen Preis für den Fall, dass alle anderen Produzenten diesen ebenfalls wählen!
Abbildung 7.6: Reaktion von Preisen und Mengen auf eine Störung in Runde 7 c) In Abbildung 7.6 sehen Sie die im Hörsaal im Jahr 2022 von Teilnehmern gewählten Preise und Mengen bei einer analogen Aufgabenstellung. In Runde 6 erhöhte sich ω. Aus welchem Grund stellt sich in Runde 6 ein Anstieg der Produktion ein? Wie lassen sich die gewählten Preise erklären mit sticky information oder mit begrenzter Rationalität?
7.13 Übungsaufgaben
165
d) Wie lässt sich aus den Ergebnissen zu Teilfrage c) ein Zusammenhang zwischen Inflation und Produktionslücke herleiten? Aufgabe 7.3 Gegeben sei die folgende Gleichung: π = π−1 + γ Ye a) Wie ist der Einfluss der zwei Terme auf die Inflation π zu erklären? Welche Erwartungen bilden sich Produzenten bezüglich der von anderen Produzenten gesetzten Preise zur Herleitung dieser Gleichung? b) Wie lässt sich eine Modifikation begründen, derzufolge die verzögerte Produktionslücke Ye−1 berücksichtigt wird? Aufgabe 7.4 Für den Fall eines Anstiegs der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage reagieren Produzenten oftmals mit einer unvollständigen Erhöhung der Preise, woraus eine träge Anpassung der Inflation resultiert. a) Begründen Sie diese Trägheit aus Sicht einer mikrofundierten Makroökonomik! b) Begründen Sie alternativ die Trägheit aus der Sicht der Makroökonomik als engineering! Gehen Sie dabei auf verschiedene Arten der begrenzten Rationalität ein!?
8. Investition und Zins
8.1
Schwankende Investitionen
Wir haben Investitionen in Kapitel 3 als sich nur langsam ändernde und anschließend als weitgehend konstant oder nur exogen bestimmte Größe angenommen. Dies resultierte aus restriktiven Modellannahmen. In der Wachstumstheorie investierte ein repräsentativer Haushalt nur für den eigenen, zukünftigen Konsum und finanzierte dies mit eigenen Ersparnissen, also einem Verzicht auf Konsum. Arbeitsteilung wurde in diesem Modellansatz vernachlässigt. In Wirklichkeit investiert ein Investor zumeist in die eigene Produktion, um damit Produkte für andere herzustellen. Er ist dann konfrontiert mit Unsicherheit bezüglich der zukünftigen Erträge. Er finanziert ferner seine Investitionen nicht mühsam mit eigenen Ersparnissen, sondern per Kredit am Kapitalmarkt. Er muss damit zur Durchführung von Investitionen nicht den eigenen Konsum reduzieren. Dies hat zur Folge, dass Investitionen relativ stark von Jahr zu Jahr schwanken können und entscheidend vom Zins abhängen.
168
Kapitel 8. Investition und Zins
Um die makroökonomische Rolle von Investitionen besser zu verstehen, entwickeln wir im Folgenden ein einzelwirtschaftliches Kalkül zur Erklärung des Verhaltens von Investoren. Anschließend stellen wir uns dem Problem, wie sich aus diesen einzelwirtschaftlichen Betrachtungen Schlussfolgerungen für aggregierte Größen ziehen lassen. Bei unseren Ausführungen wird der Realzins, also die Differenz zwischen nominalem Zins und der Inflationsrate, eine zentrale Rolle spielen.
8.2
Realzins
In Kapitel 6 stand der von einer Zentralbank gesetzte Nominalzins i im Zentrum. Dieser spiegelt das Verhältnis zwischen dem Marktpreis einer Anleihe und Zinscoupon wider. In den folgenden Kapiteln werden wir die Betrachtung auf den Realzins r richten, der zusätzlich die Inflation berücksichtigt. Der Realzins ist zentral für das Verhalten von Investoren. Legt man z.B. 100e zu i = 5% an, so beträgt das angelegte Vermögen nach einem Jahr 100(1 + i) = 105e. In derselben Zeit sind die Preise z.B. um π = 1% gestiegen auf das Niveau 1+π. Daher lassen sich mit dem Betrag von 105e ein Jahr später nur noch Waren im Wert von 100(1 + i)/(1 + π) = 103, 96e kaufen. Der Realzins beträgt daher: 1+r =
1+i 1+π
(8.1)
Mit Logarithmierung auf beiden Seiten gilt ln(1 + r) = ln(1 + i) − ln(1 + π). Da ln(1 + x) ≈ x gilt, wenn x klein ist, erhalten wir die Formel für den Realzins, wie wir sie im Rest des Buches verwenden werden. r = i−π
8.3
(8.2)
Einzelwirtschaftliche Investitionsentscheidung
Versetzen wir uns in die Lage eines Unternehmens, das die Durchführung eines Investitionsprojekts in Betracht zieht. Das Wachstumsmodell hat für diese Überlegung ein eher rudimentäres Kalkül nahegelegt. Vom bestehenden Einkommen wird ein fester Bestandteil investiert, so dass Investitionen nur bis zu diesem Niveau erfolgen. Liegt der Kapitalstock auf einem zu niedrigen Niveau, so ist der Grenzertrag des Kapitals hoch und die yb -Kurve steil. Dadurch werden zusätzliche Investitionen lohnend. Es resultiert eine transitorische Dynamik, bei der sich die Investitionen und
8.3 Einzelwirtschaftliche Investitionsentscheidung
169
das Pro-Kopf-Einkommen über die Zeit erhöhen. Investitionen verändern sich dann im Zeitablauf kaum. Dies ist jedoch unrealistisch. Investitionen schwanken tatsächlich stark und dies lässt sich insbesondere auf die Unsicherheit zukünftiger Erträge zurückführen. Daher wollen wir das einzelwirtschaftliche Kalkül eines Investors genauer fundieren. Dies wird insbesondere den zukünftigen Erträgen und den zu bezahlenden Zinsen für einen Kredit eine zentrale Rolle geben. Investoren benötigen für ein Projekt eine Finanzierung, die sie beispielsweise durch Emission einer Anleihe erhalten oder durch einen Bankkredit. Sollte ein Investor nicht auf einen Kredit angewiesen sein, sondern das notwendige Kapital durch einbehaltene Gewinne oder eigenes Vermögen finanzieren können, so ändert sich an diesem Kalkül nicht viel. Statt der Zinsen für einen Kredit wären dann die Zinsen für eine Anlage der finanziellen Mittel am Kapitalmarkt anzusetzen. Sofern die Investition durchgeführt wird, würden dem Unternehmen diese Zinsen entgehen. Dieser Zinsertrag entspricht dann den Opportunitätskosten einer Durchführung der Investition. Zur Entscheidung über die Durchführung eines Projekts wird ein Investor die zu bezahlenden Zinsen mit dem Ertrag der Investition vergleichen, genauer mit der Rendite des Projektes ρ ? Zur Bestimmung dieser Rendite verwenden wir erneut die Methode des internen Zinsfußes, die bereits auf S. 122 vorgestellt wurde. Diese bestimmt denjenigen Wert ρ im Quotienten, bei dessen Verwendung die künftigen Erträge der Anfangsinvestition entsprechen. In einer inflationsfreien Welt gilt für den internen Zinsfuß ρ, die Anschaffungskosten A0 , die Periodenerträge Et der Periode t und die Lebensdauer des Investitionsobjektes n folgender Zusammenhang: A0 =
E3 En E2 E1 + +···+ . + 2 3 1 + ρ (1 + ρ) (1 + ρ)n (1 + ρ)
(8.3)
Bei konstanten erwarteten Periodenerträgen E ≡ Et und unendlich langer Lebensdauer des Investitionsobjektes n → ∞ folgt: ∞
E t. t=1 (1 + ρ)
A0 = ∑
(8.4)
∞ 1 xt = 1−x Dies lässt sich mit Hilfe der bekannten Formel für eine geometrische Reihe ∑t=0 umformen zu ∞ ∞ A0 1 1 1 1 1 1 E =∑ = ⇔ρ = . ∑ t = t = 1 E (1 + ρ) (1 + ρ) ρ A 1 − (1+ρ ) 0 t=1 (1 + ρ) t=0 (1 + ρ)
(8.5)
170
Kapitel 8. Investition und Zins
Der interne Zinsfuß entspricht dann gerade dem Verhältnis aus konstanten jährlichen Erträgen zu den Anfangsausgaben. Werden jährlich 100 Tonnen Getreide zusätzlich geerntet, falls 1000 Tonnen Getreide für einen Traktor investiert werden, so entspricht dies einem internen Zinsfuß von 0,1=10%. Ein Investor wird nun einen Vergleich anstellen zwischen dem internen Zinsfuß ρ und dem nominalen Zins i. Falls ρ > i sind die Erträge größer als die Anfangsinvestition; das Investitionsobjekt wird durchgeführt. Falls ρ < i sind die Erträge kleiner als die Anfangsinvestition. Es lohnt sich keine Kreditaufnahme und, falls vorhanden, ist eine alternative Anlage einbehaltener Gewinne am Kapitalmarkt ertragreicher. Im Falle von Inflation gilt diese Berechnung weiterhin, lässt aber eine elegantere Schlussfolgerung zu. Bei einer Inflationsrate, die alle Güterpreise gleichermaßen betrifft, steigen die zukünftigen realen Erträge E nominal mit der Inflationsrate an, so dass gilt Et = E (1 + π)t . Damit folgt bei unendlich langer Laufzeit für den internen Zinsfuß: ∞ 1+π (1 + π) ∞ (1 + π)t (1 + π) (1 + π)t 1 A0 1 = = =∑ ≈ . ∑ t t = π ) (1+ E (1 + ρ) t=0 (1 + ρ) (1 + ρ) 1 − ρ −π ρ −π t=1 (1 + ρ)
(8.6)
(1+ρ )
Dies bedeutet: E +π ρ= A0
(8.7)
Zum Verhältnis der realen Erträge zu den Anfangsausgaben wird also die Inflationsrate hinzuaddiert, um den internen Zinsfuß zu bestimmen. Ein Investor wird investieren, falls ρ > i. Dies lässt sich E + π > i. Zieht man auf beiden Seiten die Inflation ab, so ergibt sich auch schreiben als A0 E E > i−π ⇔ > r. A0 A0
(8.8)
Die Investition wird also durchgeführt, falls der Quotient aus realem Ertrag E und Anschaffungskosten A0 höher ist als der Realzins r. Damit wird deutlich, dass sich die Entscheidung des Investors auf die Höhe des Realzinses zurückführen lässt. Beispielweise wird bei einem Nominalzins i = 4 und einer Inflationsrate von π = 2 genauso viel investiert wie bei einem Nominalzins i = 6 und einer Inflationsrate π = 4, da in beiden Fällen ein Realzins r = 2 vorliegt.
8.4 Investition und Zins
8.4
171
Investition und Zins
Das einzelwirtschaftliche Kalkül mit Hilfe des internen Zinsfußes impliziert jeweils eine Entwederoder Entscheidung. Liegt der Realzins niedrig, so wird eine Investition durchgeführt. Bei zu hohem Realzins wird diese unterlassen. Wir können nun durch Aggregation eine gesamtwirtschaftliche Investitionsnachfrage ermitteln. Dies wird in Abbildung 8.1 für eine Volkswirtschaft getan, die aus den zwei Wirtschaftssubjekten A und B besteht. A wird die Investition IA durchführen bei einem Realzins r ≤ rA . B wird eine Investition IB durchführen bei einem Realzins r ≤ rB . Die Anschaffungskosten von Investition IB sind in diesem Beispiel größer als diejenigen von IA . Diese beiden Investitionsentscheidungen lassen sich nun aggregieren, indem die jeweiligen Kurven zusammengeführt werden. Bei einem Realzins rA ≥ r ≥ rB wird nur A die Investition durchführen. Bei einem Realzins r ≤ RB werden beide Investitionen durchgeführt. Im rechten Diagramm von Abbildung 8.1 ergibt sich damit die gesamtwirtschaftliche Investitionsfunktion durch horizontale Aggregation der beiden Kurven. Die Investition mit dem höchsten Verhältnis zwischen realem Ertrag E und den Anschaffungskosten A0 wird auf dieser Kurve immer links liegen und diejenige mit dem nächstbesten Verhältnis wird rechts hinzugefügt.
Abbildung 8.1: Investitionsnachfrage Wir können nun möglicherweise analog für A und B eine Neigung zum Sparen hinzufügen. Hierzu
172
Kapitel 8. Investition und Zins
wird oftmals vermutet, dass die Neigung zum Sparen positiv vom Realzins beeinflusst wird. B wird entsprechend bei rB′ vom Einkommen einen größeren Betrag sparen. Analog wird A bei rA′ das Sparen für attraktiv halten. Würden wir die beiden individuellen Sparfunktionen horizontal aggregieren, so ergäbe sich die im rechten Teildiagramm dargestellte gesamtwirtschaftliche Sparfunktion. Fraglich ist aber, ob die individuellen Sparkurven aggregiert werden dürfen. Diese Ansicht wurde befürwortet von klassischen Ökonomen wie David Hume (1711-1776), David Ricardo (1772-1823) und John Stuart Mill (1806-1873). Dies legt dann nahe, dass sich der Realzins im Schnittpunkt der beiden aggregierten Kurven ergibt. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nach Kapital wird durch die I-Kurve erfasst und das Angebot durch die S-Kurve. Der Realzins ist der Preis für Kapital, mit dem Angebot und Nachfrage zum Ausgleich gebracht werden. Dies hat zur Folge, dass Schwankungen von Investitionen gedämpft werden durch entsprechende Reaktionen von Ersparnissen und Zinsen. Ein Anstieg der Investitionstätigkeit führt hier zu steigendem Realzins, mit dem der Anstieg abgeschwächt wird. Diese Sichtweise klassischer Ökonomen wird heute nicht mehr vertreten, insbesondere weil sie die bedeutende Rolle einer Zentralbank bei der Bestimmung des Zinssatzes vernachlässigt. Wir haben zudem in Kapitel 4 aufgezeigt, dass eine jede Investition sich die zu ihrer Durchführung notwendige Ersparnis selbst verschafft. Dies können wir anhand der beiden Sparkurven illustrieren. Diese sind nämlich nicht unabhängig voneinander. Entscheidet sich B ab einem Zinssatz von rB′ zum Sparen, so geht ihr Konsum zurück. Damit fehlt A ein Einkommen, da B die von A angebotenen Konsumgüter nicht mehr in gleichem Ausmaß kauft. Analog wird die Entscheidung von A zum Sparen ab einem Zinssatz von rA′ das Einkommen von B reduzieren. Die jeweiligen Rückgänge an Einkommen werden entsprechend die Ersparnis senken. Die Kurven zur individuellen Ersparnis sind ohne Berücksichtigung dieser Zusammenhänge konstruiert und lassen sich insbesondere nicht zu einer gesamtwirtschaftlichen Sparkurve aggregieren. Dies wiederholt das Problem der fallacy of composition aus den Kapiteln 1 und 4. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage passt sich stets so anpasst, dass Ersparnisse immer automatisch in Höhe der Investitionen entstehen. Damit ist die Sparkurve insgesamt überflüssig und kann durch eine Horizontale in Höhe des von der Zentralbank bestimmten Realzinsniveaus ersetzt werden. Diese Einsicht geht insbesondere auf John Maynard Keynes (1883-1946) und nachfolgende Ökonomen keynesianischer Prägung wie Alvin Harvey Hansen (1887-1975) zurück, findet sich aber auch bereits in früheren Werken, beispielsweise bei Albert Hahn (1889-1968).
8.5 Zins und gesamtwirtschaftliche Nachfrage
173
Aggregieren wir nicht nur über zwei, sondern unendlich viele Wirtschaftssubjekte, die jeweils infinitesimal kleine Investitionsprojekte durchführen, so wird aus der in Abbildung 8.1 dargestellten Treppenfunktion eine stetige, lineare Funktion. Insgesamt resultiert eine lineare, negative Abhängigkeit der Investitionen vom Realzins. Verbessern sich die Zukunftsaussichten, steigen also für alle Investitionsprojekte die realen Erträge von E auf E ′ , so verschiebt sich die Investitionskurve nach oben. Bei gegebenem Realzins werden dann mehr Investitionsprojekte durchgeführt. Die Investitionen steigen dann von I0 auf I1 . Insgesamt können wir damit die Investitionen als stetige und differenzierbare Funktion des Realzinses und der Ertragserwartungen schreiben: I = I (r, E) mit
8.5
dI dI < 0, > 0. dr dE
(8.9)
Zins und gesamtwirtschaftliche Nachfrage
Die Funktion I = I (r, E) können wir vereinfachen zu I = ωI E − ϕI r und im Gütermarktmodell mit Staat aus Kapitel 5 berücksichtigen. Wenn wir I¯ in (5.7) hierdurch ersetzen, folgt zusammengefasst:
Y=
1 (a + cZ + ωI E − ϕI r + G). 1 − c(1 − τ)
(8.10)
Im Gleichgewicht gilt dann: Y = ω − ϕr mit und
1 (a + cZ + ωI E + G) > 0. 1 − c (1 − τ) ϕI > 0. ϕ= 1 − c (1 − τ)
ω=
(8.11)
Bei einem hohen Realzins rechts oberhalb der Kurve werden Investitionen nur auf einem geringen Niveau durchgeführt. Die Produktion ist zu hoch und übersteigt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Überschüssig produzierte Waren füllen die Lager auf, so dass es zu ungeplanten Lagerinvestitionen kommt. Die Gesamtheit aller Investitionen (I) ist bekanntlich identisch zur gesamtwirtschftlichen Ersparnis (S), aber diese übersteigt nun die ursprünglich geplanten Investitionen. Dies veranlasst Produzenten dazu, ihre Produktion zu senken. Es kommt damit zu einer Anpassung nach links in Richtung der IS-Kurve. Auf der Kurve entsprechen die Produktion der Nachfrage und damit die geplanten Investitionen den geplanten Ersparnissen. Daher resultiert die Bezeichnung der Kurve als IS-Kurve.
174
Kapitel 8. Investition und Zins
Abbildung 8.2: IS-Kurve Diese Kurve ist in Abbildung 8.2 dargestellt. Gleichung (8.11) lässt die Lageparameter der IS-Kurve erkennen. Neben dem autonomen Konsum a, den Transferzahlungen Z und dem Staatskonsum G sind dies nun die Ertragserwartungen E, die wir mit der Variable ω zusammenfassen. Änderungen dieser exogenen Variablen führen zu einer Parallelverschiebung der IS-Kurve. Dahingegen führt eine Änderung des Realzinses zu einer Bewegung auf der bestehenden Kurve. Die Steigung ϕ wird auch als Zinsreagibilität der Nachfrage bezeichnet. Schätzungen gehen teilweise davon aus, dass eine Senkung der Realzinsen um 1 Prozentpunkt, beispielsweise von 2% auf 1%, zu einem Anstieg des Inlandsprodukt von etwa 1% führt, also beispielsweise von 3000 Mrd.e auf 3030 Mrd.e. Damit resultiert in einem r/Y -Diagramm eine negative Steigung von etwa ϕ = −1, wie Abbildung 8.2 zu entnehmen ist. Dieser Einfluss eines geänderten Zinses auf das Inlandsprodukt, also die Transmission einer geldpolitischen Entscheidung auf die aggregierte Nachfrage, wird vor allem mit dem Zinskanal begründet. Damit ist die Befähigung der Zentralbank gemeint, mit Hilfe einer Änderung des Realzinses auf die Investitionen einzuwirken. Ein gesunkener Zins lässt die Investitionsnachfrage steigen und diese erhöhen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage im Rahmen eines Multiplikatorprozesses. Neben diesem Zinskanal lässt sich ein weiterer Grund für die negative Neigung der IS-Kurve identifizieren. Die Realzinsen beeinflussen nicht nur die Investitionen, sondern eventuell auch den
8.5 Zins und gesamtwirtschaftliche Nachfrage
175
Konsum. Ein Konsumverzicht heute ermöglicht erhöhten Konsum morgen. Der Anreiz zu einer solchen Verschiebung des Konsums in die Zukunft könnte umso höher sein, je höher die Zinsen. Niedrige Zinsen bewirken hingegen, dass heutiger Konsumverzicht kaum mit höherem Konsum in der Zukunft entlohnt wird. Dies reduziert die Sparneigung und erhöht den Konsum. Empirisch ist die Stärke dieses Effektes allerdings zu vernachlässigen umstritten. Private Haushalte beachten bei der Entscheidung zu Sparen und Konsumieren nicht auf das Zinsniveau. Aus diesem Grund wurde ein möglicher Einfluss des Zinses bei der Herleitung der Keynesianischen Konsumfunktion vernachlässigt. Überzeugend wirkt hingegen ein Einfluss der Zinsen auf den Konsum, wenn zusätzlich die Preise von Immobilien, Anleihen und Aktien berücksichtigt werden. Mit sinkenden Realzinsen steigen nämlich die Immobilienpreise, die Marktpreisen einer Anleihe und auch diejenigen von Aktien, da Anleger günstige Kredite aufnehmen können, um diese zu kaufen. Durch diesen Anstieg der Preise ändert sich die Bewertung dieser Anlagen. Private Haushalte haben nun ein wertmäßig höheres Vermögen. Ein solcher Vermögensanstieg könnte die privaten Haushalte dazu anregen, ihren Konsum zu erhöhen. Dieser Zusammenhang wird in Abgrenzung zum Zinskanal als Vermögenskanal bezeichnet. So war beispielsweise zu beobachten, wie in den Jahren vor der Finanzkrise 2008/09 in Folge der niedrigen Zinsen in den USA die Immobilienpreise stiegen. Dies veranlasste die privaten Haushalte zu zusätzlichem Konsum. Die Immobilien wurden hierzu mit Hypotheken belastetet und die aufgenommenen Kredite für Konsumzwecke verwendet. Ein solcher Konsumanstieg erhöht die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und liefert einen weiteren Grund für die negative Steigung der IS-Kurve. Eine Senkung der Realzinsen wird, entgegen der einfachen grafischen Darstellung, zumeist erst mit einer Verzögerung auf das Inlandsprodukt wirken. Empirische Schätzungen legen nahe, dass sich das Inlandsprodukt erst nach ca. 1-2 Jahren vollständig angepassen wird. Eine solche Verzögerung liegt einerseits an dem für Investitionsprojekte notwendigen Zeitaufwand, der einen Vorlauf der Planung vor der Durchführung impliziert. Der Konsum reagiert zumeist schneller, da private Haushalte über ihren Konsum auch relativ spontan bestimmen. Andererseits kann es dauern, bis sich der Multiplikatorprozess vollständig entfalten kann. Aufgrund dieser Verzögerung ist es oftmals schwierig, aus empirischen Daten das Ausmaß der Wirkung einer Senkung der realen Zinsen zu bestimmen. Schätzungen diesbezüglich sind umstritten und Resultate hängen stark von der verwendeten statistischen Methode ab.
176
Kapitel 8. Investition und Zins
8.6
Multiple Gleichgewichte
Wie gut sind zukünftige Erträge antizipierbar und prognostizierbar? Oftmals sind diese ungewiss und Erwartungen können stochastisch schwanken. Daher ist damit zu rechnen, dass die Höhe der Investitionen volatil ist. Die Finanzkrise der Jahre 2008/09 hat deutlich gemacht, wie unsicher zukünftige Erwartungen sind und wie stark Investitionen einbrechen können. Dabei können Ertragserwartungen nicht immer aus einem einzelwirtschaftlichen Kalkül hergeleitet werden. Vielmehr können diese abhängig sein von der Investitionshöhe anderer Unternehmen. In diesem Fall prägen nicht nur einzelne Kalküle die Höhe der Investitionen, sondern auch die Erwartungen von Unternehmen A bezüglich der Investitionen von Unternehmen B. Genauso ist wichtig, was Unternehmen A denkt darüber, was Unternehmen B von Unternehmen A erwarten könnte. Das Kalkül eines Investors lässt sich dann beispielsweise durch ein Koordinationsspiel darstellen. Eine Investition lohnt sich, falls erwartet wird, ein anderes Unternehmen werde auch investieren. So würden ein Hotel und ein Restaurant in der Passauer Altstadt nach der Flutkatastrophe von 2013 überlegen, ob sie ihren Betrieb wieder aufmachen. Keiner möchte aber alleine investieren, denn jeder profitiert von der Kundenakquise des anderen. Dabei spielen subjektive Einflussgrößen eine wichtige Rolle. Sind Investoren optimistisch, so werden sie die Investition durchführen und andere mit ihrem Optimismus anstecken. Genauso kann der Pessimismus eines Investors andere zu ähnlich düsteren Voraussagen bewegen. Liegt eine pessimistische Stimmung vor, so koordinieren sich die Betriebe auf das Gleichgewicht ohne Investitionen. Dies entspricht einer Makroökonomik als engineering.
Koordinierte Investition Sie überlegen sich, ob Sie investieren möchten. Ob sich eine Investition lohnt, hängt davon ab, ob auch Ihr Mitspieler, dem Sie zugeordnet wurden, investiert (siehe Abbildung 8.3). Falls nicht, erbringt „nicht investieren“ den höheren Ertrag. Per Los werden zwei Gruppen von Teilnehmern bestimmt, denen die Beträge in e ausbezahlt werden. Bitte beachten Sie die weitere Beschreibung auf Ihrem mobilen Endgerät.
Die Entscheidung über die Durchführung einer Investition resultiert in einem Spiel, das als Koordinationsspiel bezeichnet wird. Wie in Abbildung 8.3 zu sehen, steht einer festen Auszahlung von 5e bei „nicht investieren“ eine riskante Auszahlung bei „investieren“ gegenüber. Investiert der
8.6 Multiple Gleichgewichte
177
Abbildung 8.3: Auszahlungsmatrix - Koordinierte Investition
Mitspieler ebenfalls, so erhält man 10e, andernfalls 0e bei einem nicht investierenden Mitspieler gegenüber. Dabei entstehen multiple Gleichgewichte. Ein Gleichgewicht liegt vor, falls beide Spieler investieren. In diesem Fall lohnt es sich für jeden der Spieler, an der gewählten Strategie festzuhalten. Ein zweites Gleichgewicht besteht darin, dass keiner investiert. Auch in diesem Fall lohnt es sich für keinen, die Strategie zu wechseln. Hierbei zeigt sich, dass die Information über den Ort der Investition einflussreich ist. Je nachdem, welcher Investitionsort auf dem mobilen Endgerät angegeben wird, ergibt sich eine Auswirkung auf die Strategiewahl, obwohl die Auszahlungsmatrix unverändert bleibt. Wird Deutschland als Investitionsort angegeben, so entscheiden sich fast 90% der Teilnehmer für eine Investition. Wird hingegen Griechenland als Investitionsort angegeben, so entscheiden sich nur noch 50% der Teilnehmer für die Investition. Bei multiplen Gleichgewichten können somit kleine Stimmungsänderungen und Erwartungen einen großen Einfluss haben. Für die Existenz von multiplen Gleichgewichten gibt es vielfältige Gründe. So garantiert das Engagement anderer Investoren, dass einmal getätigte Investitionen zu einem späteren Zeitpunkt wieder verkauft werden können. Hierdurch kann sich ein Investor gegen Illiquidität schützen oder strategisch neu ausrichten. Fehlen solche Möglichkeiten, so kann eine Investition unattraktiver sein und wird deswegen eventuell unterlassen. Erneut ist dann die Entscheidung zu Gunsten einer Investition davon abhängig, welche Erwartungen bezüglich des zukünftigen Verhaltens anderer Investoren vorliegen. Genauso entstehen Zulieferbetriebe für notwendige Vorprodukte nur dann, wenn hierfür Abnehmer existieren. Gleichzeitig lohnen sich Investitionen der Abnehmer nur, wenn
178
Kapitel 8. Investition und Zins
diese auf Leistungen von Zulieferern zugreifen können. Eine ähnliche Auswirkung von Erwartungen auf Entscheidungen kann mit Hilfe eines einfachen Spiels illustriert werden.
Schönheitswettbewerb Wählen Sie unter 8 Gesichtern in Abbildung 8.4 die zwei schönsten Gesichter aus. Das am häufigsten gewählte Paar erhält den Titel „Macro-Men“. Aus den Teilnehmern, die dieses Paar gewählt haben, wird per Los der Gewinner von 20e gezogen.
Abbildung 8.4: Schönheitswettbewerb mit 8 Gesichtern. Zunächst vermuten wir, dass sich Entscheidungen der Teilnehmer an ihren individuellen ästhetischen Urteilen orientieren. Andererseits stehen eventuell manche Bilder andersartig vorher, beispielsweise durch besondere Bekanntheit oder eine andersartige Formatierung. Teilnehmer, die dies erkennen, erhalten den Anreiz, von der ursprünglichen Aufgabenstellung abzuweichen. Nicht die schönsten Gesichter werden dann gewählt, sondern diejenigen, die durch eine besondere Eigenschaft besonders hervorstehen. Durch die Erwartung, auch andere Teilnehmer könnten diese Gesichter auswählen, erhöht sich die Chance, das erfolgreiche Paar zu wählen und damit an der Losziehung teilzunehmen.
8.6 Multiple Gleichgewichte
179
Dieses Spiel geht auf Keynes (1936: S. 156) zurück, der ökonomisches Verhalten mit einem Wettbewerb unter Zeitungslesern vergleicht, die folgende Aufgabe lösen sollen: „Competitors have to pick out the six prettiest faces from a hundred photographs, the prize being awarded to the competitor whose choice most nearly corresponds to the average preferences of the competitors as a whole; so that each competitor has to pick, not those faces which he himself finds prettiest, but those which he thinks likeliest to catch the fancy of the other competitors, all of whom are looking at the problem from the same point of view. It is not a case of choosing those which, to the best of one’s judgment, are really the prettiest, nor even those which average opinion genuinely thinks the prettiest. We have reached the third degree where we devote our intelligences to anticipating what average opinion expects the average opinion to be.“ So wählen in dem Spiel tatsächlich viele Teilnehmer Gesichterpaare, die weniger durch Schönheit, sondern durch andere Eigenschaften auffallen. Im Einklang mit Keynes prägen nicht mehr allein persönliche Präferenzen ökonomisches Verhalten, sondern Erwartungen bezüglich des Verhaltens anderer Teilnehmer. Sehen nämlich auch andere Teilnehmer, dass zwei Gesichter hervorstehen, so könnten sie ebenfalls diese beiden wählen, was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, zur Gruppe der Sieger zu gehören. Dies kann als beispielhaft für ein mögliches Verhalten von Investoren stehen. So geht es für Anleger und Banken beim Kauf von Aktien nicht ausschließlich darum, deren Barwert zu bestimmen, also insbesondere die Höhe der zukünftigen Dividenden. Vielmehr kann mit dem Kauf einer Aktie auch dann Gewinn erzielt werden, wenn ihr Marktpreis in Zukunft steigt. Hierfür ist aber entscheidend, ob andere Investoren an die Profitabilität dieser Aktie glauben. Oder es ist entscheidend, dass sie erwarten, andere würden daran glauben. Das individuelle Wissen bezüglich des fundamentalen Wertes einer Aktie ist dann zweitrangig. Zentral werden die bei anderen Anlegern vermuteten Erwartungen. Die beiden classEx-Spiele verweisen damit insgesamt auch bei Investitionen auf eine fallacy of composition. In Bezug auf die Ersparnisbildung haben wir bereits den Ansatz verneint, es den Sparentscheigungen einzelner Wirtschaftssubjekte auf eine gesamtwirtschaftliche Ersparnis zu schließen. Ersparnis bildet sich in dieser Sichtweise nicht als Summe vieler einzelner Sparentscheidungen. Dies liegt daran, dass die Ersparnis des einen einem anderen Wirtschaftssubjekt Nachfrage
180
Kapitel 8. Investition und Zins
vorenthält und damit dessen Einkommen reduziert. Es gibt damit systemische Zusammenhänge, die bewirken, dass Ersparnis nicht als Summe einzelner Entscheidungen verstanden werden kann. Mit der Höhe der Investitionen kann es sich ähnlich verhalten im Falle von multiplen Gleichgewichten. Die Entscheidung des einen zu Gunsten einer Investition kann diejenige des anderen positiv beeinflussen. Auch in diesem Falle lässt sich eine gesamtwirtschaftliche Investitionsfunktion nur auf aggregierter Ebene abschätzen und nicht aus den Kalkülen einzelner Wirtschaftssubjekte herleiten.
8.7
Investitionspolitik
Die vorherigen Ausführungen lassen mögliche Einflüsse des Staates auf die Investitionen und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage erkennen und eröffnen damit die Perspektive einer wirtschaftspolitischen Beeinflussung der Investitionstätigkeit. Eine Möglichkeit hierzu besteht in der steuerlichen Behandlung von Abschreibungen. Wird Investoren beispielsweise ermöglicht, einen Teil der Anschaffungskosten in Form von Sonderabschreibungen steuermindernd geltend zu machen, so könnten sich auch solche Investitionen lohnen, deren interner Zinsfuß geringer ist als der Zins. Manche Investoren gelangen nicht leicht an Kredite. Kreditgeber beurteilen oftmals nicht nur den Barwert eines Investitiosnprojekts, sondern wollen darüber hinaus Sicherheiten haben, also für den Fall des Scheiterns abgesichert sein. Einige Projekte kommen daher für Investoren ohne ausreichende Sicherheiten möglicherweise nicht in Frage. Darüber hinaus schreibt auch der Staat oftmals vor, welche Konditionen Banken bei der Vergabe von Krediten einzuhalten haben. Damit rücken Kreditkonditionen in den Fokus. Tatsächlich kann der Staat auf vielfältige Weise diese Kreditkonditionen beeinflussen. Er schreibt oftmals vor, dass Investoren eigenes Kapital einbringen müssen und nur zu einem Teil ihr Projekt mit Hilfe eines Kredits finanzieren dürfen. Damit werden Kreditkonditionen zu einem wichtigen Instrument der Wirtschaftspolitik. Der Staat kann im Boom die Kreditkonditionen verschärfen. In der Folge wird es schwieriger für Investoren, Kredite für Projekte zu bekommen und der Boom wird gedämpft. Genauso können in der Depression die Konditionen gelockert werden, um zusätzliche Investitionen zu induzieren. Diese Formen der antizyklischen Einflussnahme mit Hilfe von Sonderabschreibungen und Kreditkonditionen haben einen wesentlichen Vorteil gegenüber der normalen Form der antizyklischen Fiskalpolitk: Anders als die Planung von Staatsausgaben oder Steuersätzen bedürfen diese Maßnah-
8.8 Schlüsselbegriffe im Kapitel
181
men keiner langen Planung und können schnell umgesetzt werden, um zeitnah auf die Konjunktur einzuwirken.
8.8
Schlüsselbegriffe im Kapitel
Anschaffungskosten einzelwirtschaftliches Kalkül Ertragserwartung fallacy of composition interner Zinsfuß Investor IS-Kurve Koordination
8.9
multiple Gleichgewichte Opportunitätskosten Realzins Schönheitswettbewerb Transmission Vermögenskanal Zinskanal
Quiz
Gemäß Bestimmung der Investitionen über den internen Zinsfuß 1. entwickeln sich Investitionen stetig und monoton, 2. können Investitionen stark mit den zukünftigen Erwartungen schwanken, 3. entsprechen Bruttoinvestitionen immer den Abschreibungen, 4. entsprechen Bruttoinvestitionen immer dem Anstieg der Geldmenge.
Mit einem Anstieg der Investitionen ist zu rechnen bei 1. steigender Inflation und steigendem Nominalzins, 2. sinkender Inflation und steigendem Nominalzins, 3. steigender Inflation und sinkendem Nominalzins, 4. sinkender Inflation und sinkendem Nominalzins.
182
Kapitel 8. Investition und Zins
Die Höhe der Investitionen kann von multiplen Gleichgewichten bestimmt sein, wenn 1. Investitionen durch die Höhe der Ersparnisse begrenzt sind, 2. die Attraktivität von Investitionen positiv von den Investitionen anderer abhängt, 3. der interne Zinsfuß genau dem Marktzins entspricht, 4. zukünftige Erwartungen unsicher sind.
Gemäß dem Zinskanal erhöht eine expansive geldpolitische Regel die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, 1. weil zusätzliches Geld für Konsumzwecke verwendet wird, 2. weil die Immobilienpreise ansteigen, 3. weil dem Staat erhöhte Zentralbankgewinne zufließen, 4. weil niedrige Zinsen die Investitionen erhöhen.
8.10
Ergänzende Literatur und Quellen im Web David Tucket, Professor für Psychoanalyse des University College London, berichtet von seinen Interviews mit professionellen Anlegern in einem Gespräch mit Perry Mehrling vom Institute for New Economic Thinking.
Der „ökonomische Pfadfinder“ mit dem Titel „Ein Blase in Deutschland“ diskutiert, ob die Immobilienpreise zu hoch sind, oder ob, das hohe Niveau gerechtfertigt ist.
8.11 Übungsaufgaben
183
• A KERLOF, George A. ; S HILLER, Robert J.: Animal spirits: How human psychology drives the economy, and why it matters for global capitalism. 9. Aufl. Princeton University Press, 2010, S. 131-148 • L AMBSDORFF, Johann G.: Savings and investments—an old debate in times of trouble. In: Journal of Post Keynesian Economics 33 (2011), Nr. 4, S. 645–666 • M ANKIW, N. Gregory: Makroökonomik. 7. Aufl. Stuttgart : Schäffer-Poeschel, 2017, S. 391-394
8.11 Übungsaufgaben Aufgabe 8.1 Untenstehend sehen Sie Kurven für Investitionen und Ersparnisse für die Wirtschaftssubjekte A und B.
Abbildung 8.5: Aggregation von Ersparnis und Investitionen a) Bestimmen Sie in der Graphik die aggregierten Investitions- und Sparkurven! Welchen Höhe des Realzinses stellt sich gemäß einer klassischen Sichtweise ein? Begründen Sie Ihre Antwort!
184
Kapitel 8. Investition und Zins
b) Welches Argument spricht gegen eine Aggregation der individuellen Sparkurven? Begründen Sie Ihre Antwort! c) Skizzieren Sie den keynesianische Anatz zur Bestimmung der Höhe des Zinses! Aufgabe 8.2 In der Vorlesung wurde eine Aufgabe mit classEx interaktiv bearbeitet, bei der sich zwei Teilnehmer simultan zwischen „investieren“ und „nicht investieren“ entscheiden mussten. Die daraus jeweils resultierenden Auszahlungen sind in Abbildung 8.6 dargestellt. a) Welche Gleichgewichte existieren in dem Spiel? Wie wirken Erwartungen bezüglich der Entscheidung des Mitspielers auf die eigene Investitionsentscheidung? b) Im Hörsaal wurden den Teilnehmern private Informationen gegeben, die unterhalb der Auswertung in Abbildung 8.6 dargestellt sind. Diese Informationen verändern die Auszahlungen im Spiel nicht. Trotzdem zeigt sich, dass Investitionen häufiger sind, falls beide Teilnehmer die Rolle als Investor in Deutschland innehaben. Erklären Sie dies! Inwiefern entsprechen die Befunde aus dem Juni 2017 einer Makroökonomik als engineering?
Abbildung 8.6: Ergebnisse aus Koordinationsspiel
8.11 Übungsaufgaben
185
Aufgabe 8.3 Welche Anpassung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ergibt sich bei einer Senkung des Realzinses? Erläutern Sie die Anpassung und gehen Sie dabei auf den Zinskanal, den Vermögenskanal und Multiplikatoreffekte ein! Aufgabe 8.4 Bei einem classEx-Spiel sollen unter 8 Gesichtern die zwei schönsten ausgewählt werden. Die am häufigsten gewählte Kombination zweier Gesichter erhält den Titel „Macro Men“. Aus den Teilnehmern, die diese Kombination gewählt haben, wird per Los der Gewinner von 20e bestimmt. a) Wieso könnten Teilnehmer Gesichter danach wählen, welches ästhetische Urteil sie von anderen Teilnehmern erwarten? b) Die Häufigkeit der im Juni 2021 gewählten drei häufigsten Kombinationen wird in Abbildung 8.7 dargestellt. Erklären Sie diesen Befund!
Abbildung 8.7: Ergebnisse aus Contest mit Gesichtern c) Die Ergebnisse zu den Teilfragen a) und b) lassen sich auf das Verhalten von Investoren übertragen. Beschreiben Sie dies unter beispielhaftem Rückgriff auf eine Situation, bei der
186
Kapitel 8. Investition und Zins ein Investor bereit ist, mehr als den Barwert (Fundamentalwert) für den Kauf einer Aktie zu bezahlen.
9. Zins und Gütermarkt
9.1
Bestimmung des Zinssatzes
Wir hatten in Kapitel 6 festgestellt, dass die Zentralbank mit ihrer Kreditvergabe an Geschäftsbanken den nominalen Zins bestimmen kann. Dies wirft zweierlei Fragen auf. Zum einen, ob und wie die Zentralbank den für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage entscheidenden realen Zinssatz bestimmen kann. Zum anderen, in welcher Höhe die Zentralbank die Zinsen setzen wird. Die Zentralbank beobachtet permanent die Inflation. Berücksichtigt sie diese in ihrem Verhalten, so kann sie durch Variation des nominalen Zinses den realen Zins festlegen. Liegen beispielsweise die Inflationsrate bei 2% und der nominale Zins bei 5%, so resultiert ein realer Zins von 3%. Sinkt nun die Inflationsrate auf 1%, so kann die Zentralbank den nominalen Zins auf 4% senken und damit den realen Zins bei 3% halten. Die Zentralbank hat also die Möglichkeit, den von ihr gewünschten Realzins zu steuern.
188
Kapitel 9. Zins und Gütermarkt
Hohe Realzinsen reduzieren die Investitionen und damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Für die Beeinflussung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage sind reale Zinsen und nicht nominale Zinsen entscheidend. Daher wird die Zentralbank letztlich die Höhe der Realzinsen bestimmen und verwendet die nominalen Zinsen lediglich als Mittel, um diesen Zweck zu erreichen. Die Aufgabe und Zielsetzung einer Zentralbank lassen sich mit Hilfe des folgenden Spiels erfassen.
Mitglied im Zentralbankrat Dieses Spiel baut gedanklich auf dem classEx-Spiel zur Phillips-Kurve auf. Alle Teilnehmer sind Mitglied in einem großen Zentralbankrat und können durch Bestimmung des Realzinses die gesamtwirtschaftliche Nachfrage beeinflussen. Die Nachfrage für jeden Produzenten beträgt y = ω − r − p. Sie sinkt mit dem Realzins r, den der Zentralbankrat zu Beginn jeder Runde festlegt. Der Zentralbankrat handelt in jeder Runde zuerst und bestimmt den Realzins r. Jedes Mitglied des Zentralbankrates macht einen Vorschlag für die Höhe des Realzinses r zwischen -5 und +5. Der mittlere Wert aller Vorschläge wird als Realzins ausgewählt. Ein hoher Realzins dämpft die Nachfrage. Ein niedriger Realzins steigert die Nachfrage. Die Produzenten bestimmen anschließend den jeweiligen Preis. So wie beim classEx-Spiel zur Phillips-Kurve gilt für den Durchschnitt aller Preise P=
ω + P−1 − 10 . 2
Ziel des Zentralbankrates ist eine durchschnittliche Produktion von 10. Der Zentralbankrat erhält für jede Runde 5 Euro. Hiervon wird die Abweichung zwischen der durchschnittlichen Produktion und 10 abgezogen. Die Auszahlungen werden über alle Runden aggregiert. Ein Mitglied wird für die Auszahlung des Zentralbankrats ausgelost.
Das classEx-Spiel zeigt auf, wie eine Zentralbank handeln sollte. Sie sollte auf Erhöhungen der Nachfrage dämpfend einwirken, da diese zu einer positiven Produktionslücke führen. Aus diesem Grund werden sich Zentralbanken in der Realität bei der Bestimmung des Realzinses an der Höhe des Inlandsprodukts orientieren. Ist das Inlandsprodukt höher als sein potentielles Niveau Y > Y¯ , so machen Arbeitskräfte Überstunden und verzichten auf Freizeit. Der Kapitalstock wird
9.2 Taylor-Regel
189
übermäßig verschlissen und müsste abgeschrieben werden. Dies wird die Zentralbank veranlassen, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu dämpfen, indem sie den Realzins erhöht. Während dies uns logisch erscheint, bedeutet es andererseits, dass die Zentralbank die Rolle des Spielverderbers einnimmt. Während sich überall in der Wirtschaft ein Aufschwung und Optimismus breit machen, muss die Zentralbank die Rolle des Dämpfers übernehmen und sich gegen den Trend lehnen. Hierzu hat William McChesney Martin, Vorsitzender der US-Notenbank (Fed) von 1951-1970, die Worte geprägt: „[It’s the Fed’s job] to take away the punch bowl just as the party gets going“. Ist das reale Inlandsprodukt niedriger als das potentielle Inlandsprodukt Y < Y¯ , so resultiert Arbeitslosigkeit und der Kapitalstock wird nicht vollständig genutzt. Die Zentralbank steuert dem durch Senkung des Realzinses entgegen. In Anlehnung an die Aussage von William McChesney Martin prägte hierzu N. Gregory Mankiw (2007): „The Fed also has the job of spiking the punch with grain alcohol when the party starts to flag.“ Die Zentralbank wird darüber hinaus der Höhe der Inflationsrate eine große Bedeutung beimessen. Die EZB hält eine Inflationsrate zwischen 1 und 2 Prozent für angemessen. Bei hoher Inflation wird die Zentralbank den Realzins erhöhen. Hierdurch soll der Preisauftrieb gedämpft werden. Bei zu niedriger Inflation wird der Realzins gesenkt, damit zusätzliche gesamtwirtschaftliche Nachfrage und zukünftig höhere Inflation entsteht.
9.2
Taylor-Regel
Die angemessene Reaktion der Zentralbank auf Inflation und Inlandsprodukt lässt sich mathematisch mit Hilfe der Taylor-Regel beschreiben, benannt nach ihrem Entdecker John B. Taylor (*1946): r = r′ + λPYe + λI π
(9.1)
Der Parameter r′ bezeichnet einen von der Zentralbank im langfristigen Mittel für geeignet angesehenen Realzins in Prozent. Eine Änderung von r′ , beispielsweise ein Anstieg von 2 auf 4, bringt eine bewusste Änderung der politischen Ausrichtung zum Ausdruck. Mit einem Anstieg von r′ wird der Übergang zu einer restriktiveren geldpolitischen Regel ausgedrückt. Mit einem Senken von r′ wird ausgedrückt, dass die Zentralbank eine expansivere geldpolitische Regel verfolgt. Mit Ye wird der Einfluss der Produktionslücke erfasst, der Differenz zwischen Inlandsprodukt und seinem potentiellen Niveau. Mit π wird erfasst, dass die Zentralbank auf eine erhöhte Inflation mit
190
Kapitel 9. Zins und Gütermarkt
einem Anstieg des Realzinses reagiert. Steigt beispielsweise die Inflation von 0 auf 1, so wird die Zentralbank im Ausmaß λI den Realzins erhöhen. Hierbei ist das sogenannte Taylor-Prinzip zu beachten. Für den Realzins gilt r = i − π und entsprechend folgt für den Nominalzins i = r + π. Ein Anstieg der Inflationsrate wirkt damit auf zwei Arten auf den Nominalzins. Zum einen muss der erhöhte Nominalzins den Anstieg der Inflation ausgleichen. Zum anderen muss der Nominalzins steigen, da die Zentralbank gemäß Taylor-Regel den Realzins anheben möchte. Das Taylor-Prinzip impliziert damit, dass der Nominalzins immer stärker variieren muss als die Inflationsrate. Mit λP > 0 bezeichnen wir das Ausmaß, mit dem die Zentralbank auf Schwankungen der Produktionslücke reagiert. Je ausgeprägter der Wunsch nach einer Stabilisierung des Inlandsprodukts und der Beschäftigung, desto größer fällt dieser Parameter aus. Daher bezeichnet man λP als Produktionspräferenz der Zentralbank. Analog wird mit λI > 0 das Ausmaß bezeichnet, mit dem die Zentralbank auf Änderungen der Inflationsrate reagiert. Fällt dieser Parameter groß aus, so möchte die Zentralbank bereits kleine Schwankungen der Inflationsrate vermeiden. Taylor schlägt als Werte für λP und λI jeweils 0,5 vor. Ein Anstieg der Inflationsrate von 0 auf 1 müsste dann zu einem Anstieg des Realzinses um 1,5 führen, beispielsweise von 1 auf 2,5 Prozent. ¯ schreiben, wobei mit π¯ das InflaDer Inflationsterm λI π ließe sich auch in der Form λI (π − π) tionsziel der Zentralbank bezeichnet wird. Vereinfachend können wir π¯ = 0 annehmen oder ein positives Inflationsziel im Parameter r′ integrieren. Das Verhältnis zwischen der Taylor-Regel und Gleichung 8.2 zur Bestimmung des Realzinses r = i − π sorgt manchmal für Verwechslungen und Verwirrung, da beide Formeln den Realzins r bestimmen. Der Unterschied besteht darin, dass Gleichung 8.2. insbesondere die Sicht eines Investors erfasst. Dieser beobachtet am Markt die für einen Kredit zu bezahlenden nominalen Zinsen und vergleicht sie mit den Preissteigerungen. Damit bestimmt er den Realzins und folglich die realen Kosten des Kredits. Die Taylor-Regel ist demgegenüber eine Handlungsempfehlung für die Zentralbank zur Steuerung der Volkswirtschaft. Diese beobachtet Preissteigerungen und die Auslastung der Wirtschaft und errechnet, welchen Nominalzins i und damit auch welchen Realzins r sie setzen sollte. Die beiden Gleichungen sind in Abbildung 9.1 grafisch dargestellt. Beispielhafter Ausgangspunkt ist ein Nominalzins i = 3, eine Inflationsrate π = 2 und ein gemäß Taylor-Regel geeigneter Realzins von r = 1.
9.2 Taylor-Regel
191
Abbildung 9.1: Nominaler Zins und Taylor-Regel
Die gestrichelte Linie kennzeichnet die Sicht eines Investors gemäß Gleichung 8.2 alle Punkte, bei denen der Nominalzins unverändert bei i = 3 liegt. Steigt die Inflationsrate auf π = 3, so würde der Realzins auf r = i − π = 3 − 3 = 0 sinken, also für Investoren günstige Finanzierungsbedingungen. Sinkt die Inflationsrate auf beispielsweise π = 1, so würde der Realzins ansteigen auf r = 3 − 1 = 2, wodurch sich die realen Kosten eines Kredits für Investoren erhöhen. Legt die Zentralbank den Realzins gemäß Taylor-Regel fest, so ergibt sich eine andere Linie in Abbildung 9.1, gekennzeichnet durch die durchgezogene Linie mit positiver Steigung. Steigt die Inflation beispielsweise auf π = 3, so will die Zentralbank den Realzins anheben, in der Graphik auf r = 1, 5. Hiermit will die Zentralbank die gesamtwirtschaftliche Nachfrage senken und die hohe Inflation wieder reduzieren. Der Anstieg der Inflation und gleichzeitige Anstieg des von der Zentralbank gesetzten Realzinses impliziert, dass der Nominalzins umso stärker ansteigen muss auf i = r + π = 1, 5 + 3 = 4, 5. Dieser starke Anstieg des Nominalzinses entspricht dem Taylor-Prinzip, also eines Anstiegs der Nominalzinsen, der über den Anstieg der Inflationsrate hinausgeht. Analog erfordert ein Absinken der Inflation, beispielsweise auf π = 1 eine Absenkung des Realzinses auf r = 0, 5 und eine entsprechend starke Reduktion des Nominalzinses auf i = 1, 5.
192
9.3
Kapitel 9. Zins und Gütermarkt
Gütermarktgleichgewicht mit Taylor-Regel
Wird die Taylor-Regel grafisch in einem r/Y -Diagramm dargestellt, so erhalten wir eine Kurve, die die monetäre Politik der Zentralbank beschreibt. Diese in Abbildung 9.2 dargestellte Kurve bezeichnen wir als MP-Kurve (monetary policy). Sie hat eine positive Steigung. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Zentralbank auf einen Anstieg des Inlandsprodukts mit einer Erhöhung des Realzinses reagiert, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu reduzieren. Umgekehrt geht ein niedriges Inlandsprodukt mit einer negativen Produktionslücke einher und veranlasst die Zentralbank zu einer Absenkung des Realzinses. Änderungen des Inlandsproduktes bewirken somit eine Bewegung auf der Kurve. Je größer der Parameter λP , je stärker also die Zentralbank auf die Produktionslücke mit einer Änderung des Realzinses reagiert, desto steiler verläuft die MP-Kurve, da die Zentralbank auf eine Erhöhung von Y umso stärker mit einem Anstieg von r reagiert. Ein Anstieg der Inflation π ↑ oder ein Übergang zu einer restriktiveren Regel r′ ↑ verschieben die MP-Kurve nach oben. Diese beiden Größen sind damit Lageparameter der MP-Kurve, wie in Abbildung 9.2 dargestellt. Ein weiterer Lageparameter ist das potentielle Inlandsprodukt. Ein Anstieg von Y¯ erfordert einen identischen Anstieg des Inlandsprodukts Y , damit die Produktionslücke konstant bleibt. In diesem Fall kann die Zentralbank den Realzins r unverändert lassen.
Abbildung 9.2: MP-Kurve
9.4 Expansive Fiskalpolitik
193
Abbildung 9.3: Gleichgewicht von Realzins und Inlandsprodukt
Diese Kurve können wir nun ergänzen durch die IS-Kurve aus dem letzten Kapitel. Während die IS-Kurve das aus einem Realzins resultierende Inlandsprodukt darstellt, wird mit der MP-Kurve die umgekehrte Kausalität erfasst, nämlich die Anpassung des Realzinses gemäß Reaktion der Zentralbank auf unterschiedliche Realisierungen des Inlandsprodukts. Dies legt nahe, dass im Schnittpunkt der beiden Kurven P0 Ursachen und Wirkungen zusammenpassen und sich damit ein Gleichgewicht ergibt, wie in Abbildung 9.3 dargestellt. Im Gleichgewicht passen also Realzins und Inlandsprodukt in beiden Gleichungen zueinander. Wir nehmen für folgende Darstellungen an, dass in Periode 0 ein Ausgangsgleichgewicht existiert. Dabei entspricht das Inlandsprodukt seinem potentiellen Niveau.
9.4
Expansive Fiskalpolitik
Durch Verschiebungen der IS- oder MP-Kurve verändert sich das Gleichgewicht. Nehmen wir als erstes Beispiel eine Erhöhung des Staatskonsums, mit der ω ansteigt. Die Erhöhung des Staatskonsums auf ein dauerhaft höheres Niveau verschiebt die IS-Kurve nach rechts, wie in Abbildung 9.4 zu sehen. Es handelt sich um expansive Fiskalpolitik. Aufgrund des Anstiegs des Inlandsprodukts ergibt sich eine Überauslastung der Kapazitäten, also
194
Kapitel 9. Zins und Gütermarkt
Abbildung 9.4: Expansive Fiskalpolitik
eine positive Produktionslücke. Die Zentralbank wird gemäß ihrer Reaktionsfunktion den Realzins erhöhen. Die Inflationsrate ist kurzfristig konstant. Daher bleibt die MP-Kurve unverändert in ihrer Lage. Es ergibt sich ein neues Gleichgewicht im Punkt P1 . Das Inlandsprodukt ist angestiegen, allerdings ist der Anstieg gedämpft, da die höheren Realzinsen die Investitionen reduzieren. Der Anstieg des Inlandsprodukts fällt insgesamt geringer aus als bei der Analyse des Gütermarkts ohne Reaktion der Zentralbank. Die Zentralbank wirkt also stabilisierend einer Ausweitung des Inlandsprodukts entgegen. Dies wird auch in der Literatur als als „Dämpfungseffekt der Geldpolitik“ bezeichnet. Eine Folge dieses Dämpfungseffekts ist, dass eine Erhöhung des Staatskonsums die Investitionen reduziert. Diesen Effekt haben wir in Kapitel 5 noch explizit verneint. Da jetzt aber im Gegensatz zur Modellierung von Kapitel 5 der Zinssatz von der Zentralbank variiert wird, kann eine Verdrängung von Investitionen, ein sogenannter crowding-out-Effekt durch erhöhten Staatskonsum auftreten.
9.5
Restriktive Geldpolitik
Eine andere Störung tritt auf, wenn die Zentralbank zu einer restriktiveren geldpolitischen Regel übergeht, also den Parameter r′ erhöht und im Durchschnitt einen höheren Realzins setzen möchte.
9.5 Restriktive Geldpolitik
195
Wie Abbildung 9.5 zeigt, verschiebt sich dadurch die MP-Kurve nach oben. Der Realzins erhöht sich. Aufgrund des steigenden Realzinses sinkt das Inlandsprodukt. Dies wiederum bewirkt, dass die Erhöhung des Realzinses etwas gedämpft wird, denn die Zentralbank berücksichtigt nun neben der Änderungen ihrer Regel auch die negative Produktionslücke. Es resultiert dann das Gleichgewicht in P1 .
Abbildung 9.5: Restriktive Geldpolitik Eine restriktivere Regel der Zentralbank geht mit einer einmaligen Reduktion der Geldmenge und Geldnachfrage einher. Dies zeigt die Gleichung 6.2für die nominale Geldnachfrage, die wir aus Kapitel 6 kennen: L = L (Y, P, i, RP). Aus zwei Gründen sinkt die Geldnachfrage, erstens durch den Rückgang des Inlandsprodukts und zweitens durch das Ansteigen des Realzinses und damit einhergehend des Nominalzinses. Wieso geht eine einmalige Reduktion der Geldnachfrage mit einem Sinken des Inlandsprodukts einher? Hier gilt es, die Begriffe klar zu fassen, damit wir nicht einem populären Irrtum erliegen. Die Begriffe „Geld“ und „Einkommen“ werden nämlich gerne verwechselt. So finden sich in der Tagespresse oft Argumente, dass Haushalte ihr „Geld“ für Konsumzwecke verwenden und eine geringere Geldmenge deswegen den Konsum reduziere. Diese Kausalität ist irreführend, da für Konsum Einkommen notwendig ist. Haushalte verwenden ihr Einkommen gemäß Konsumfunktion für Konsum und Ersparnis. Bei dieser Entscheidung spielt Geld keine Rolle. Relevant ist Geld lediglich bei der Entscheidung, wie Haushalte ihr Vermögen
196
Kapitel 9. Zins und Gütermarkt
halten. Dieses wird aufgeteilt in Geld und Wertpapiere. Dabei spielt das Einkommen keine Rolle. Die gesunkene Geldnachfrage ist korrekterweise nur eine Begleiterscheinung der restriktiveren geldpolitischen Regel. Der Leserin und dem Leser sei hier empfohlen, mit dem Begriff „Geld“ eher sparsam umzugehen und dem populären Irrtum nicht zu erliegen.
9.6
Nullzinsgrenze und Geldpolitik
Die Zentralbank kann, wie in Kapitel 6 angesprochen, keine negativen nominalen Zinssätze am Markt durchsetzen. Die Bedingung i ≥ 0 impliziert, dass bei einer Inflationsrate π = 0 die Zentralbank auch keine negativen Realzinsen erreichen kann. Es folgt aus i ≥ 0 und π = 0 für Realzinsen r = i − π ≥ 0. Punkte der MP-Kurve unterhalb der Abszisse können daher von der Zentralbank nicht erreicht werden, wenn π = 0. Die MP-Kurve müssen wir daher in diesem Bereich bis zum Ursprung als Horizontale einzeichnen, wie in Abbildung 9.6 dargestellt. Die Horizontale veranschaulicht realisierbare Realzinsen, der gestrichelte Teil der MP-Kurve unter Null die gewünschten Realzinsen gemäß der Taylor-Regel.
Abbildung 9.6: MP-Kurve unter Null In der Liquiditätsfalle wird die Zentralbank dann keine Möglichkeit mehr haben, das Inlandsprodukt zu beeinflussen. Geht sie nämlich in einer Liquiditätsfalle zu einer expansiveren geldpolitischen Regel über, wie in Abbildung 9.7 dargestellt, so bleibt dies ohne Auswirkung. Der Schnittpunkt der beiden Kurven bleibt unverändert im Punkt P0 . Weil eine expansivere Regel der Zentralbank
9.7 Fallstudie Eurozone
197
keinen Einfluss auf den Realzins r entfaltet, stellt sich auch kein Anstieg der Investitionen und des Inlandsprodukts ein. Geldpolitik ist in der Liquiditätsfalle somit wirkungslos.
Abbildung 9.7: Liquiditätsfalle Die Existenz einer Liquiditätsfalle wurde viele Jahre bezweifelt und als eher theoretische Möglichkeit denn als reale Gefahr angesehen. Keynes (1936: S. 207) schreibt dazu: „But whilst this limiting case [of a liquidity trap] might become practically important in future, I know of no example of it hitherto“. Dies hat sich erst in den letzten 30 Jahren geändert, beginnend mit den Erfahrungen in Japan. Das Platzen einer Aktienpreisblase 1989 und eine anschließende Finanzkrise induzierte Deflation und eine Depression. In der Folge hätte die Bank of Japan gemäß einer Taylor-Regel Negativzinsen setzen müssen, was aufgrund der Nullzinsgrenze nicht möglich war.
9.7
Fallstudie Eurozone
Die Taylor-Regel lässt sich beispielhaft für die Eurozone darstellen. Wir beginnen mit einer kurzen Darstellung wesentlicher wirtschaftspolitischer Größen. Das Inlandsprodukt hatte im Jahre 2018 einen Wert von 13.400 Mrd.e. Bei einer Bevölkerung von 346 Mio. entspricht dies einem Pro-Kopf-Wert von 35.800 e. Bei einem Preis für einen Menü von 28e heißt dies, dass sich ein durchschnittlicher Einwohner 1280 Restaurantmenüs leisten kann. Damit ist das Pro-KopfInlandsprodukt etwas niedriger als in Deutschland, der größten Volkswirtschaft der Eurozone.
198
Kapitel 9. Zins und Gütermarkt
Eurozone 2022 Inlandsprodukt Bevölkerung Pro-Kopf-Inlandsprodukt Preis Menü
13.400 Mrd.e 346 Mio. 38.700 e 62 e
Abbildung 9.8: Beispiel Eurozone
Für eine Untersuchung der Taylor-Regel ist die Entwicklung der Inflationsrate relevant. Wir folgen dem Vorschlag Taylors und bestimmen zunächst den gewünschten Realzins in dem wir zu einem festen Betrag r′ die Produktionslücke multipliziert mit λP = 0, 5 addieren, sowie λI = 0, 5 multipliziert mit der Inflationsrate. Hierzu addieren wir erneut die Inflationsrate, um den Nominalzins gemäß Taylorregel zu erhalten. Dieser ist in Abbildung 9.9 für die Jahre 1999 bis 2020 abgetragen. Diese Werte können wir vergleichen mit dem eSTR, also dem tatsächlich unter dem Einfluss der EZB bestimmten Nominalzins, wie in Abbildung 9.9 dargestellt.. Für die Werte mit Taylor-Regel ist r′ so gewählt, dass beide Zeitreihen im Durchschnitt identische Werte aufweisen. Insgesamt zeigt sich, dass eine Anpassung des eSTR nach oben zumeist dann erfolgt, wenn auch der Nominalzins gemäß Taylor-Regel steigt, beispielsweise in den Jahren von 2004 bis 2008. Legt die Taylor-Regel hingegen eine Senkung nahe, so zeigt sich zumeist eine entsprechende Reaktion des eSTR. Die Schwankungen des eSTR fallen etwas geringer aus. Dies kann entweder daran liegen, dass die EZB Gewichte λP und λI kleiner als 0, 5 wählt oder dass sie nicht nur aktuelle Werte für die Inflationsrate und die Produktionslücke verwendet, sondern sich nach Werten bezogen
9.7 Fallstudie Eurozone
199
Abbildung 9.9: eSTR und Nominalzins in Prozent gemäß Taylor-Regel
auf längere Zeiträume richtet. Zudem fällt auf, dass der eSTR nur geringfügig negativ wird. In den Jahren 2013 bis 2016 sowie seit 2020 hätte die Taylor-Regel stark negative Werte nahegelegt. Der eSTR konnte jedoch gemäß Nullzinsgrenze nicht deutlich unter Null gesenkt werden. Im Jahr 2022 ist der Zins gemäß Taylor-Regel stark angestiegen aufgrund der stark gestiegenen Inflation. Im Kontrast dazu ist der eSTR nur geringfügig angestiegen. Dies legt zunächst nahe, dass die EZB fehlerhaft handelt. Die Besonderheit der Störung könnte jedoch tatsächlich für eine moderatere Erhöhung der Zinsen sprechen. Der starke Anstieg internationaler Rohstoffpreise hat zu erhöhter Inflation geführt. Dieser Anstieg der Rohstoffpreise ist einmalig und stabilisiert sich auf dem höheren Niveau. In Zukunft ist daher wieder mit einer geringen Inflation zu rechnen. Um dies angemessen zu berücksichtigen, schlagen Ökonomen vor, dass in die Taylor-Regel die zukünftig erwartete und nicht die aktuelle Inflationsrate eingehen sollte. Dies würde einen moderateren Anstieg des eSTR rechtfertigen. Genauso kann auch die zukünftig erwartete statt der aktuellen Produktionslücke berücksichtigt werden. Liegt beispielsweise aktuell eine Finanzkrise vor mit einer
200
Kapitel 9. Zins und Gütermarkt
Insolvenz von Banken, so wird dies typischerweise eine zukünftige Depression ankündigen. Auch dies könnte erklären, warum die EZB die Zinsen im Jahr 2022 nur moderat erhöht hat.
9.8
Bedeutung der Taylor-Regel
Die Taylor-Regel hat breite Zustimmung über Lehrmeinungen hinweg gefunden. Sie lässt sich mikroökonomisch gut fundieren und ist gleichzeitig plausibel und realitätsnah genug, um in einer Makroökonomik als engineering Verwendung zu finden. Sie ist primär als normative Theorie zu verstehen, als eine Handlungsanweisung für die Zentralbank. Tatsächlich lassen sich auch oftmals beobachtete Daten über das tatsächliche Verhalten einer Zentralbank mit Hilfe einer Taylor-Regel gut beschreiben. Abweichungen von der Taylor-Regel sind dann zumeist als Fehler einzuschätzen. In den beiden Fallstudien zur Eurozone und Japan konnte die Bedeutung der Taylor-Regel empirisch teilweise beobachtet werden. Gleichzeitig zeigte sich oftmals auch, dass sowohl die EZB als auch die Bank of Japan zu lange brauchten, um den richtigen Zinssatz zu setzen. In einzelnen Fällen, beispielsweise wenn eine Zentralbank nicht unabhängig entscheiden kann und politischem Druck ausgesetzt ist, stellt sich auch dauerhaft eine Abweichung von der Taylor-Regel ein. Falls private Haushalte oder Unternehmen eine Abweichung von der Taylor-Regel erkennen, können sie dies systematisch zu ihrem Vorteil ausnutzen. Wir können dies mit einem Fokus auf festverzinsliche Anleihen, Aktien und Immobilien darlegen. Setzt die Zentralbank ihren Zins unterhalb des von der Taylorregel vorgeschlagenen Niveaus, so ist in der Zukunft mit einer hohen Inflation zu rechnen. Anleihen werden nominal nur gering verzinst und durch zukünftige hohe Inflationsraten zusätzlich unattraktiv. Private Haushalte und sonstige Anleger sollten daher erkennen, dass der Realzins sehr niedrig ist und festverzinsliche Anleihen zur Anlage ihrer Ersparnisse eher meiden. Für Unternehmen ist demgegenüber eine Emission von festverzinslichen Anleihen besonders attraktiv. Bei Aktien stellt sich die umgekehrte Logik ein, da Sachvermögen zumeist im Wert nominal mit der Inflation steigt. Der zu niedrige Zins und die hohe zu erwartende Inflation lässt Aktien daher als attraktive Anlage erscheinen. Für Unternehmen lohnt sich hingegen eine Emission von Aktien weniger, da eine Finanzierung über festverzinsliche Anleihen attraktiver ist. Für Immobilien sind die Überlegungen analog zu denjenigen von Aktien. Sie profitieren von einer drohenden Inflation und daher lohnt sich ihr Kauf und von einem Verkauf sollte man abraten. Eine analoge Schlussfolgerung gilt, falls die Zentralbank den Zins zu hoch setzt. In diesem Fall ist
9.9 Schlüsselbegriffe im Kapitel
201
in der Zukunft mit einer niedrigen Inflation zu rechnen und der Realzins ist ebenfalls hoch. Der Kauf von festverzinslichen Anleihen ist attraktiv, derjenige von Aktien und Immobilien weniger. Für Unternehmen gilt das Gegenteil. Für sie lohnt eine Emission festverzinslicher Anleihen aufgrund der hohen Realzinsen gerade nicht. Sie sind besser dran mit der Emission von Aktien, also einer Finanzierung durch Eigenkapital.
9.9
Schlüsselbegriffe im Kapitel
Ausrichtung der Geldpolitik crowding-out Dämpfungseffekt der Geldpolitik Europäische Zentralbank Inflationsziel Liquiditätsfalle MP-Kurve
Nullzinsgrenze Produktionslücke Realzinssteuerung restriktivere Regel Taylor-Prinzip Taylor-Regel
9.10 Quiz Die Zentralbank erhöht den Realzins falls 1. die Inflation sinkt, 2. die Geldmenge sinkt, 3. der Nominalzins sinkt, 4. das Inlandsprodukt steigt.
Die MP-Kurve wird nach oben verschoben durch einen Anstieg 1. der Geldmenge, 2. der Realzinsen, 3. der Inflation, 4. des Staatskonsums.
202
Kapitel 9. Zins und Gütermarkt
Ein Anstieg des Staatskonsums reduziert im Gleichgewicht 1. die Investitionen, 2. den Konsum, 3. die Realzinsen, 4. das Budgetdefizit.
In der Liquiditätsfalle 1. kann die MP-Kurve nicht nach rechts verschoben werden, 2. kann die IS-Kurve nicht nach unten verschoben werden, 3. kann die Zentralbank nicht die Zinsen senken, 4. wollen Haushalte kein Bargeld halten.
9.11
Ergänzende Literatur
• JARCHOW, Hans-Joachim: Grundriss der Geldtheorie. 12. Aufl. Stuttgart : Lucius & Lucius, 2010, S. 217-229 Das Keynesianische Konsensmodell. In: WiSt• L AMBSDORFF, Johann G.: Wirtschaftswissenschaftliches Studium 36 (2007), Nr. 8, S. 387–393 • M ANKIW, N. Gregory: How to Avoid Recession? Let the Fed Work. In: The New York Times (23. 12.2007) • ROMER, David: Short-Run Fluctuations. Manuscript, 2018, S. 1-22, 90-95
9.12 Übungsaufgaben
203
9.12 Übungsaufgaben Aufgabe 9.1 Gehen Sie von einer Volkswirtschaft mit konstanter Inflationsrate aus, in der die Zentralbank gemäß einer Taylor-Regel agiert. Die Volkswirtschaft befindet sich im Zeitpunkt 0 in einem Gleichgewicht. Im Zeitpunkt 1 ergibt sich ein Rückgang des Realzinses und des Inlandsprodukts. Welche Störung könnte hierfür der Auslöser sein? Erläutern Sie Ihre Wahl anhand eines Beispiels und schildern Sie die sich daraus ergebende Anpassung unter Berücksichtigung von Multiplikatoreffekten! Aufgabe 9.2 Gehen Sie zurück zum classEx-Spiel zum optimalen Verhalten der Zentralbank, bei dem Produzenten einer Nachfrage y = ω − r − p gegenüberstehen. a) Gehen Sie davon aus, dass ω auf ein hohes Niveau ansteigt. Welchen Realzins sollte eine nach Stabilisierung der Produktion strebende Zentralbank setzen? Welcher Realzins wäre bei einem niedrigen Wert für ω ratsam? b) Vergleichen Sie Ihre Ergebnis aus Teilfrage a) mit dem tatsächlichen Verhalten des Zentralbankrats! Beschreiben Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede! Aufgabe 9.3 In der Abbildung 9.10 sehen Sie im linken Schaubild Quartalszahlen zur Entwicklung der Federal Funds Rate, des Zinssatzes, zu dem sich Geschäftsbanken bei der amerikanischen Zentralbank verschulden können.
Abbildung 9.10: Datenverläufe
204
Kapitel 9. Zins und Gütermarkt
a) Vernachlässigen Sie zunächst das rechte Schaubild in Abbildung 9.10 und gehen Sie vereinfachend von einer konstanten Inflationsrate aus. Mit welcher plausiblen Störung lässt sich die starke Absenkung des Zinssatzes im zweiten Quartal 2020 erklären? Argumentieren Sie mit Hilfe der Taylor-Regel und gehen Sie dabei auf die Änderung der relevanten Variablen oder Parameter ein. b) Gehen Sie, eventuell entgegen Ihrer Analyse zu Teilfrage a), von einer konstanten Produktionslücke aus und einer gemäß Darstellung im rechten Schaubild in Abbildung 9.10 sich ändernden Inflationsrate. Gehen Sie ferner davon aus, dass die amerikanische Zentralbank im IV. Quartal 2019 gemäß der Taylor-Regel r = r′ + 0, 5Ye + 0, 5π ihren realen Zinssatz bestimmte. Berechnen Sie den gemäß Taylor-Regel passenden realen und nominalen Zinssatz im II. Quartal 2020. Was versteht man in diesem Zusammenhang unter dem Taylor-Prinzip? c) Befinden sich die USA in einer Liquiditätsfalle? Argumentieren Sie unter Rückgriff auf Ihr Ergebnis zu Teilfrage b). Aufgabe 9.4 a) Was gilt in einer Liquiditätsfalle bezüglich der Nachfrage nach Bankkrediten? b) Stellen Sie die IS-Kurve und die MP-Kurve unter Berücksichtigung der Liquiditätsfalle in einem Diagramm dar. Gehen Sie hierbei von einem konstanten Preisniveau aus (π = 0). c) Die Zentralbank geht zu einer expansiveren geldpolitischen Regel über. Stellen Sie dies im Diagramm dar. d) Im Zuge der Maßnahme in c) kauft die Zentralbank Wertpapiere von Unternehmen und erhöht hierbei im Gegenzug die Geldmenge. Erläutern Sie, warum die Geldmengenerhöhung keinen Einfluss auf das Inlandsprodukt hat, wenn ein Land sich in einer Liquiditätsfalle befindet. e) Erläutern Sie die Auswirkungen einer expansiven Fiskalpolitik für den Fall, dass ein Land sich in einer Liquiditätsfalle befindet!
10. Makroökonomisches Konsensmodell
10.1 Inflation und gesamtwirtschaftliche Nachfrage Wir werden nun die Inflationsrate systematisch mit den anderen Bestandteilen des Modells in Verbindung bringen und die Rückwirkung auf Realzins und Inlandsprodukt modellieren. Ein weiterer, bisher nicht erfasster Zusammenhang zwischen Inflation und Inlandsprodukt ergibt sich aus dem Zusammenwirken von IS-Kurve und MP-Kurve. Ein Anstieg der Inflationsrate verschiebt die MP-Kurve nach oben. Im r/Y -Diagramm führt dies zu einem neuen Schnittpunkt mit gestiegenem Realzins und verringertem Inlandsprodukt. Analog führt eine geringere Inflationsrate zu einem erhöhten Inlandsprodukt. Es lassen sich bei Variation der Inflationsrate alle entsprechenden Niveaus des Inlandsprodukts bestimmen, die aus dem Zusammenwirken von IS-Kurve und MP-Kurve resultieren. Die Schar dieser Punkte können wir in einem π/Y -Diagramm abtragen, siehe Abbildung 10.1.
206
Kapitel 10. Makroökonomisches Konsensmodell
Abbildung 10.1: Konstruktion der AD-Kurve
Im π/Y -Diagramm hat die hergeleitete Kurve eine negative Steigung. Diese Kurve gibt an, wie hoch das Inlandsprodukt ist, das aus einer Reaktion der Zentralbank auf eine vorgegebene Inflationsrate resultiert. Die Kurve unterstellt dabei, dass Produzenten ihre Produktion vollständig nach der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ausrichten. Bei hoher Inflationsrate setzt die Zentralbank einen hohen Realzins und dämpft damit die Konjunktur. Bei niedriger Inflationsrate setzt die Zentralbank einen niedrigen Realzins und regt damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage an. Daher bezeichnen wir die Kurve auch als Nachfragekurve und verwenden die Abkürzung AD (aggregate demand). Die negativ geneigte AD-Kurve ähnelt einer aus der Mikroökonomik bekannten Nachfragekurve.
10.2 Potentielles Inlandsprodukt und Inflation
207
Erhöht sich der Preis für Bier, so sinkt die Nachfrage. Der Nachfrager kann sich von seinem Einkommen weniger Bier leisten (Einkommenseffekt) und bevorzugt andere Güter (Substitutionseffekt). Ein Einkommenseffekt ist makroökonomisch nicht relevant, da lediglich Einkommen zwischen Produzent und Konsument umverteilt wird. Der mikroökonomische Substitutionseffekt ist ebenfalls gesamtwirtschaftlich nicht möglich. Es existieren nämlich keine Güter, auf die ein Konsument ausweichen könnte, da alle im Warenkorb erfasst sind. Zudem ist Inflation eine Entwicklung, bei der sich alle Preise erhöhen und Preisverhältnisse zwischen jeweils zwei Gütern konstant bleiben können. Daher können wir die negative Steigung der AD-Kurve nicht mit den geschilderten mikroökonomischen Effekten begründen. Der Grund für die negative Steigung der AD-Kurve ist ein makroökonomischer: die Abneigung der Zentralbank gegen Inflation. Eine Erhöhung der Inflationsrate veranlasst die Zentralbank zu Maßnahmen, mit denen die Inflation eingedämmt wird. Sie erhöht bewusst den Realzinses mit dem Ziel eines Absenkens der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und des Inlandsprodukts, um damit Inlandsprodukts langfristig die Inflation wieder zu senken.
10.2 Potentielles Inlandsprodukt und Inflation Neben der AD-Kurve können wir die IA-Kurve und das potentielle Inlandsprodukt Y¯ aus Abbild 7.5 dem π/Y -Diagramm hinzufügen, siehe Abbildung 10.2.
Abbildung 10.2: IA- und AD-Kurve
208
Kapitel 10. Makroökonomisches Konsensmodell
Was passiert nun, wenn bei einer bestimmten Inflationsrate, sagen wir π0 , das potentielle Inlandsprodukt größer ist als die Nachfrage, wenn also gilt Y¯ > Y ? Dies können wir grafisch darstellen, von einer hohen Inflationsrate π0 ausgehen, siehe hierzu Abbildung 10.2. Welche Kurve wird sich bei der Bestimmung des realisierten Inlandsprodukts durchsetzen? Hier erscheint es realistisch, der AD-Kurve den Vorrang einzuräumen. Bei schwacher Nachfrage haben Produzenten nämlich kein Interesse, mehr zu produzieren, als sie am Markt absetzen können. Sie werden stattdessen die Produktion drosseln, Kurzarbeit einführen oder Arbeitskräfte entlassen. Dies wird durch die Inflationsanpassungskurve (IA-Kurve) zum Ausdruck gebracht, die wir in Kapitel 7 kennengelernt haben. Hier ist das Inlandsprodukt kleiner
Abbildung 10.3: Ausgangslage
10.2 Potentielles Inlandsprodukt und Inflation
209
als sein potentielles Niveau, wie in Abbildung 10.2 dargestellt. Es resultiert Arbeitslosigkeit und erlaubt den Unternehmen, die Löhne zu drücken. Gleichermaßen werden sie gezwungen, bei Preiserhöhungen zurückhaltender zu sein. Sie werden ihre Preise weniger stark als die Inflationsrate der Vergangenheit erhöhen. Wie in Kapitel 7 ausgeführt, lässt die negative Produktionslücke Ye < 0 die Inflationsrate unter das Niveau in Periode t − 1 sinken und verschiebt die IA-Kurve nach unten. Bei hoher Nachfrage könnten die Produzenten bereitwillig ihre Produktion über das normale Niveau erhöhen. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn sie Arbeitskräfte mobilisieren können, Überstunden erwarten dürfen und ihre Maschinen leicht über das Normalniveau auslasten können. Die hohe Produktion würde vermeiden, dass sie Nachfrager enttäuschen und den Produzenten eine langfristige Ausweitung der Kapazitäten ermöglichen. In diesem Fall erhalten wir eine positive Produktionslücke Ye > 0, welche die Inflationsrate über das Niveau in Periode t − 1 ansteigen lässt und die IA-Kurve nach oben verschiebt. Wir können nun das r/Y - und das π/Y -Diagramm zusammenführen. Für ein Gleichgewicht in Periode 0 als Ausgangslage ist erforderlich, dass die Kurven im r/Y - und im π/Y -Diagramm zusammenpassen. So müssen sich die Y¯ -, die AD- und die IA-Kurve alle im selben Punkt schneiden. Schneiden sich die Kurven bei Y 6= Y¯ , so würde sich die IA-Kurve gemäß Gleichung (7.10) in der nächsten Periode verschieben, entgegen der Annahme eines Gleichgewichts. Vertikal über diesem Schnittpunkt müssen sich im r/Y -Diagramm zudem die IS- und die MP-Kurve schneiden, damit diese Kurven konsistent zur AD-Kurve sind. Dies ist in Abbildung 10.3 dargestellt. Das folgende classEx-Spiel verwendet das dargestellte Modell.
Die Zentralbank im Konsensmodell Alle Teilnehmer sind Mitglied im Zentralbankrat und bestimmen die Höhe des nominalen Zinses. Der mittlere Wert aller Vorschläge wird ausgewählt. Sie stehen einer Volkswirtschaft gegenüber, die durch das Keynesianische Konsensmodell und eine träge Anpassung beschrieben wird. Die genauen Parameter und Anpassungsgeschwindigkeiten sind Ihnen unbekannt und richten sich nach realistischen Schätzungen von Ökonometrikern. Ihr Ziel ist es, die Produktionslücke nahe 0 und die Inflation bei 2. Dazu müssen Sie angemessen auf eine auftretende Störung reagieren.
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10.3
Kapitel 10. Makroökonomisches Konsensmodell
Erhöhung der Ertragserwartungen
Eine mögliche Störung dieses Gleichgewichts erfolgt mit einer exogenen Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, zum Beispiel durch eine Erhöhung der zukünftigen Ertragserwartungen. Dieses sind Bestandteil von ω und verschieben die IS-Kurve nach rechts, wie in Abbildung 10.4 grafisch dargestellt. Aufgrund der gestiegenen Produktionslücke wird die Zentralbank gemäß ihrer Reaktionsfunktion den Realzins erhöhen. Es ergibt sich in der ersten Periode der Punkt P1 . Die Inflationsrate ist kurzfristig konstant. Daher liegt im π/Y -Diagramm der Punkt P1 auf der unveränderten IA-Kurve.
Abbildung 10.4: Erhöhung der Ertragserwartungen Aufgrund der positiven Produktionslücke erhöht sich nun die Inflation und die IA-Kurve verschiebt sich nach oben. Hierdurch wird die Zentralbank veranlasst, den Realzins noch weiter zu erhöhen,
10.3 Erhöhung der Ertragserwartungen
211
diesmal aufgrund einer Verschiebung der MP-Kurve nach oben. Die Anpassung verläuft so lange, bis ein Endgleichgewicht im Punkt P∞ erreicht ist mit einem Inlandsprodukt in Höhe des potentiellen Niveaus. Die Inflationsrate ist nun gegenüber der Ausgangslage dauerhaft angestiegen. Dies resultiert daraus, dass die Zentralbank den anfänglichen Güternachfrageimpuls ω nicht vollständig neutralisiert. Erst durch eine steigende Inflationsrate wird die Zentralbank zu der weiteren, notwendigen Erhöhung der Realzinsen veranlasst. Möchte die Zentralbank entgegen dieser dargestellten Lösung dauerhaft an der Inflationsrate der Ausgangslage π0 festhalten, so müsste sie auf die erhöhte Güternachfrage mit einer restriktiveren geldpolitischen Regel antworten, r′ ↑. Mit der nun variierenden Inflationsrate führt eine erhöhte Investition nicht mehr zu steigender Ersparnis. Sie bewirkt eine Rechtsverschiebung der IS-Kurve und damit eine erhöhte Nachfrage. Um die Produktionslücke zu reduzieren und zukünftige Inflation zu vermeiden, wird die Zentralbank die Zinsen erhöhen. Hierdurch kann sich eine erhöhte Investitionsneigung nicht durchsetzen und damit auch nicht die Ersparnis erhöhen. Umgekehrt kann nun die Sparquote auf die Investitionen wirken, entgegen der Modellergebnisse bei konstanter Inflationsrate. Sofern nämlich die Sparquote steigt, verschiebt sich die IS-Kurve nach links. Die Zentralbank beobachtet eine zu geringe gesamtwirtschaftliche Nachfrage und eine nachlassende Inflationsrate. Sie wird die Zinsen senken. Die gesunkenen Zinsen erhöhen dann die Investitionen. Ein Anstieg des Staatskonsums würde die Zentralbank ebenfalls zu einer Zinserhöhung veranlassen und damit in gleicher Höhe eine Reduktion der Investitionen bewirken, also ein vollständiges crowding-out. Mit diesem Ergebnis können wir einen kritischen Blick zurückwerfen auf die bisherige Modellierung mit konstanter Inflation. Eine Erhöhung der Sparquote führte hierbei nicht zum gewünschten Ergebnis einer erhöhten gesamtwirtschaftlichen Ersparnis. Die ethische Schlussfolgerung hieraus erschien provokativ und kontraintuitiv: Sparen ist nur für Einzelpersonen eine Tugend, für die Volkswirtschaft aber ein Laster. Sollte dies etwa nahelegen, dass wir unsere Kinder zu Verschwendung und einer hohen Konsumneigung erziehen sollten, statt ihnen Sparsamkeit vorzuleben? Wir können der ethischen Intuition nun wieder auf die Beine helfen. Mit variierender Inflation und einer Zentralbank, die hohe Inflation mit hohen Zinsen bekämpft, wird Sparen auch volkswirtschaftlich wieder zu einer Tugend, da sinkende Zinsen die Investitionen erhöhen. Allerdings funktioniert dieser Zusammenhang nicht in der Liquiditätsfalle. Ob Sparen eine Tugend ist oder nicht, hängt davon ab, ob die Zentralbank mit sinkenden Zinsen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steigert.
212
Kapitel 10. Makroökonomisches Konsensmodell
Unter diesem Gesichtspunkt kann auch die Sinnhaftigkeit staatlichen Sparens nochmals diskutiert und die Debatte über schuldenfinanzierte Fiskalpolitik aus Kapitel 5.5 um ein weiteres Argument bereichert werden. Analog zu Abbildung 10.4 führt expansive Fiskalpolitik nämlich zu steigenden Zinsen und erhöhter Inflation. In Zeiten niedriger Zinsen und deflationärer Tendenzen kann dies durchaus von Vorteil sein, wohingegen unter den gegenteiligen Umständen von einer solchen fiskalischen Expansion abzuraten ist und Haushaltsdisziplin eine Tugend sein kann.
10.4
Restriktive Geldpolitik mit Inflation
Abbildung 10.5: Restriktive Geldpolitik mit Inflation Auch die Konsequenzen der Geldpolitik sind in Anbetracht variierenden Inflation neu zu bewerten. So kann ein Übergang zu einer restriktiveren geldpolitischen Regel, r′ ↑, grafisch veranschaulicht werden, wie in Abbildung 10.5. Die Störung verschiebt die MP-Kurve nach oben. Aufgrund
10.5 Exogene Erhöhung der Inflation
213
des steigenden Realzinses sinkt das Inlandsprodukt. Es ergibt sich ein Zwischenpunkt in P1 . Die Inflationsrate ist kurzfristig konstant. Daher liegt im π/Y -Diagramm der Punkt P1 auf Höhe der alten Inflationsrate. Er markiert einen Konstruktionspunkt der neuen AD1 -Kurve. Aufgrund eines Überschussangebots verringert sich die Inflation. Hierdurch wird die Zentralbank veranlasst, den Realzins wieder zu senken. Die MP-Kurve verschiebt sich nach unten. Die Anpassung verläuft so lange, bis ein Gleichgewicht im Punkt P∞ erreicht ist mit einem Inlandsprodukt in Höhe seines potentiellen Niveaus. Wir sehen also, dass die Zentralbank mit einer restriktiveren geldpolitischen Regel die Inflationsrate reduzieren kann. Hierbei muss sie aber eine temporäre Reduktion der Produktion und des Einkommens in Kauf nehmen. Sofern die Kosten der Inflation den Nutzen überwiegen, wird die Zentralbank damit der Volkswirtschaft insgesamt einen Vorteil verschafft haben. Dem stehen aber temporäre Einbußen gegenüber. Damit ist insgesamt nicht sichergestellt, dass eine restriktivere geldpolitische Regel immer vorteilhaft ist.
10.5 Exogene Erhöhung der Inflation Die Inflationsrate wurde im bisherigen Modellansatz vollständig durch die Erfahrungen der Vergangenheit und die Produktionslücke bestimmt. Allerdings ist es plausibel, dass auch exogene Ereignisse die Inflationsrate beeinflussen. Denkbar wäre beispielsweise ein verringerter Wettbewerb zwischen Firmen, bei dem in der Folge in einzelnen Märkten Monopolisten die Preise bestimmen. Diese Monopolpreise sind höher als die vorherigen unter Wettbewerb. Da Monopolisten ihre Marktmacht zu Preiserhöhungen nutzen, stellt sich Inflation ein. Eine alternative Ursache für eine erhöhte Inflationsrate wird durch internationale Rohstoffpreise ausgelöst. Steigen die Preise für Öl oder Gas, so erhöht sich unmittelbar auch die Inflationsrate. Der Anpassungsprozess eines solchen positiven Inflationsschocks wird in Abbildung 10.6 dargestellt. Die nach oben verschobene IA-Kurve erhöht sofort die Inflationsrate. Im Schnittpunkt mit der AD-Kurve ergibt sich der Punkt P1 . Gemäß Taylor-Regel wird die höhere Inflationsrate die Zentralbank zu einer Erhöhung des Realzinses veranlassen. Entsprechend verschiebt sich die MP-Kurve nach oben. Sie bildet einen neuen Schnittpunkt mit der IS-Kurve. Die Punkte P1 liegen in den beiden Diagrammen genau vertikal übereinander. Da nun eine negative Produktionslücke vorliegt, wird sich die Inflation mit der Zeit wieder reduzieren, so lange bis das Endgleichgewicht P∞ mit dem Anfangsgleichgewicht identisch ist. Mit sinkender Inflation kann auch die Zentralbank die Realzinsen senken und damit geht die MP-Kurve zurück.
214
Kapitel 10. Makroökonomisches Konsensmodell
Abbildung 10.6: Exogene Erhöhung der Inflation
10.6
Senkung des potentiellen Inlandsprodukts
Das potentielle Inlandsprodukt ist nicht immer unveränderlich. Aus dem Wachstumsmodell kennen wir Einflussgrößen, die Y¯ erhöhen oder senken. Im Falle eines Zustroms von Arbeitskräften aus dem Ausland, eines Anstiegs des Kapitalstocks oder einer Verbesserung der Produktionstechnologie erhöht sich das potentielle Inlandsprodukt und die Kurve verschiebt sich nach rechts. Genauso können dauerhafte Krisen auftreten, die zu einer Verringerung des Produktionspotentials führen. Eine Umweltkatastrophe kann den Kapitalstock zerstören, eine Pandemie kann die Bevölkerung dezimieren und ein Krieg zieht Arbeiter aus Produktionsbetrieben ab und setzt sie als Soldaten an der Front ein. Eine Senkung des potentiellen Inlandsprodukts verschiebt einerseits die Y¯ -Kurve nach links. Zudem verschiebt sich in gleichem Ausmaß die MP-Kurve nach links, wie in Abbildung 9.2 dargestellt.
10.7 Die Lucas-Kritik
215
Es erscheint darüber hinaus plausibel, dass sich gleichzeitig die Ertragsaussichten der Investoren eintrüben und damit auch die IS-Kurve nach links verschoben wird. Insgesamt ist damit denkbar, dass Realzins und Inflation unverändert bleiben. Dies wäre genau dann der Fall, wenn sich alle Kurven im gleichen Ausmaß verschieben. Dies impliziert, dass Geld- und Fiskalpolitik nicht kontraktiv reagieren müssen, allerdings auch kaum Spielraum für expansive Maßnahmen haben, um dem Rückgang des Inlandsprodukts zu begegnen.
10.7 Die Lucas-Kritik Die bisherige Modellierung unterstellt, dass Wirtschaftssubjekte ihre Preise und Inflationserwartungen träge aus den Erfahrungen der Vergangenheit bilden. Dies hat zur Folge, dass zentralbankpolitische Maßnahmen nicht nur auf Preise und Inflation wirken, sondern auch auf die Höhe der Produktion. Robert E. Lucas (1976) entwarf hierzu ein mikrofundiertes Gegenmodell ohne eine solche Trägheit. Alle Wirtschaftssubjekte und Arbeitskräfte sind vollständig rational und erwarten dies auch von allen anderen. In einer solchen Welt macht es einen Unterschied, ob eine Störung, beispielsweise eine expansivere geldpolitische Regel, überraschend kommt oder lange im Voraus angekündigt wird. Im Falle einer überraschenden Störung können Menükosten und sticky information relevant sein. Wenn die Zentralbank zur Durchführung der expansiven Politik unerwartet die Zinsen senkt, wollen Produzenten im Falle hoher Menükosten ihre Preise nicht sofort anpassen. Andere Produzenten wiederum leiden unter sticky information und erfahren von der Zinssenkung erst mit zeitlicher Verzögerung. Preise und die Inflationsrate werden nur geringfügig steigen und es stellt sich eine positive Produktionslücke ein. Die Anpassung ist daher träge, wie in Kapitel 7 dargestellt. Eine andere Form der Anpassung ergibt sich bei einer angekündigten Änderung der Politik. Produzenten können notwendige Preisänderungen zeitlich verschieben und damit bis zum Zeitpunkt des angekündigten Schocks warten, damit also Menükosten reduzieren. Produzenten, die unter sticky information leiden, haben genug Zeit, von der geplanten Zinssenkung zu erfahren. Zum Zeitpunkt des Politikwechsel werden daher sofort alle Preise und die Inflationsrate reagieren und das langfristige Gleichgewicht wird sofort erreicht. Die von Lucas vermutete Anpassung an das Gleichgewicht im Falle eines angekündigten Schocks lässt sich im Konsensmodell abtragen. DDie IS-Kurve springt bereits in Periode 1 nach oben. Dieser Sprung ist so groß, dass sofort das langfristige Gleichgewicht P∞ erreicht wird. Dort entspricht die Inflationsrate ihrem langfristigen Niveau und es ergibt sich keine Produktionslücke. Der sofortige
216
Kapitel 10. Makroökonomisches Konsensmodell
Anstieg der Inflationsrate nötigt die Zentralbank dann, trotz expansiverer geldpolitischer Regel (r′ ist gesunken) den Realzins auf seinem Ausgangsniveau zu belassen. Der Politikwechsel wird also von den Wirtschaftssubjekten durchschaut und führt damit lediglich zu einem sofortigen Anstieg der Inflation. Eine Makroökonomik als engineering vermutet hingegen auch bei einem angekündigten Politikwechsel eine träge Anpassung der Preise. Menschen beachten in dieser Sichtweise zukünftige Entwicklungen zu wenig. Sie verschieben Entscheidungen in die Zukunft, versagen bei der Suche nach einer optimalen Lösung, sind kurzsichtig oder legen wenig Wert auf ihr zukünftiges Wohlergehen. Eine sich zukünftig einstellende hohe Inflation spielt dann für aktuelle Entscheidungen keine Rolle. Menschen richten ihr Verhalten nach den Erfahrungen der Vergangenheit selbst dann aus, wenn sie dies lange überdenken können und begehen systematische Fehler bei der Bildung von Erwartungen. Lehrmeinung
Inflationsbekämpfung... Positive Produktionslücke...
Wirtschaftssubjekte rational, mikrofundierte Makroökonomik ...gelingt ohne Produktionseinbuße. ...gelingt der Zentralbank nicht.
Wirtschaftssubjekte handeln nach Gewohnheit, Makroökonomik als engineering ...erfordert Produktionseinbuße. ...gelingt der Zentralbank.
Tabelle 10.1: Lehrmeinungen zu einer angekündigten Änderung der geldpolitischen Regel Analog dazu könnten wir den Kampf einer Zentralbank gegen zu hohe Inflation betrachten. So könnte eine Wirtschaft durch eine zu hohe Inflation gekennzeichnet sein, eine solche, bei der die in Kapitel 7 genannten Nachteile der Inflation besonders gravierend sind. Die Zentralbank möchte daher die Inflationsrate auf ein dauerhaft niedrigeres Niveau reduzieren. Hierfür kündigt sie im Voraus für die laufende und die zukünftigen Perioden einen erhöhten Wert für r′ an. Dies reduziert aus Sicht von Lucas und einer mikrofundierten Makroökonomik die Inflation ohne dass temporär eine negative Produktionslücke entsteht. Wirtschaftssubjekte bestimmen ihre Preise sofort gemäß der gesunkenen Inflationserwartung und die IA-Kurve verschiebt sich sofort nach unten. Eine Zentralbank wäre damit in der Lage, Inflation ohne die Kosten einer Rezession zu reduzieren. Siehe hierzu den entsprechenden Eintrag in Tabelle 10.1. Empirisch konnte eine Inflationsbekämpfung ohne Rezession bisher nicht beobachtet werden. Dieser Befund steht damit einer Makroökonomik als engineering näher, wonach sich Inflationserwartungen
10.8 Deflation und Liquiditätsfalle
217
nur langsam reduzieren lassen. Tabelle 10.1 stellt noch einmal die beiden Lehrmeinungen der Makroökonomik und Politikmaßnahmen einander gegenüber.
10.8 Deflation und Liquiditätsfalle Wir hatten gesehen, dass die Fähigkeit der Zentralbank, den gewünschten Zinssatz zu bestimmen, beschränkt sein kann. Aufgrund der Liquiditätsfalle kann die Zentralbank keine negativen Nominalzinsen am Markt durchsetzen, denn die Geschäftsbanken würden lieber Bargeld in ihren Tresoren horten als Kredite mit negativem Zinssatz auszugeben. Daher kann eine Senkung der Realzinsen unter Null bei Preisniveaustabilität, π = 0, nicht herbeigeführt werden. Wir müssen nun sehen, wie sich dies bei variierender Inflation auf das Gleichgewicht auswirkt. Dies ist in Abbildung 10.7 dargestellt. Unterhalb von r = 0 gilt die MP-Kurve bei π0 = 0 nicht, wie durch die horizontale Linie zu erkennen. In dieser Situation kann die Zentralbank die Inflationsrate nicht steigern, da sie nicht kurzfristig die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durch eine Zinssenkung erhöhen kann. Wir unterstellen nun alternativ eine negative Inflationsrate mit π1 = −1. Die Zentralbank würde im Vergleich zu π0 = 0 die Realzinsen senken wollen, die MP-Kurve also nach unten verschieben auf MP (π1 ). Da die Nominalzinsen aber bereits Null betragen, gelingt ihr dies nicht. Entgegen dem Wunsch der Zentralbank führt die Deflation sogar zu einem Anstieg der Realzinsen, da gilt r = i − π = 0 − (−1) = 1. Durch diesen Anstieg sinkt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage weiter ab. Die Zentralbank kann kann bei einer Deflation mit π = −1 keine Realzinsen unter 1% durchsetzen, die MP-Kurve wird bereits ab r = 1 horizontal. Da i ≥ 0 gilt, sind die Realzinsen beschränkt auf r ≥ −π = 1. Insgesamt ergibt sich bei einer Kombination aus Deflation und Liquiditätsfalle ein positiver Verlauf der gesamtwirtschaftlichen Nachfragekurve. Es droht eine immer weiter zunehmende Deflation. Ein ähnlicher positiver Verlauf kann auch außerhalb der Liquiditätsfalle resultieren, falls eine Zentralbank einen konstanten Nominalzins setzt. Folgt sie beispielsweise einer Politik der Zinsglättung, bei der sie Schwankungen des nominalen Zinssatzes vermeiden möchte, oder sind ihre Entscheidungsprozesse zu langwierig, so würde als Folge eines Absinkens der Inflationsrate der Nominalzins nicht reagieren. Dies würde ähnlich zu Abbildung 10.7 zu einer positiv geneigten AD-Kurve führen. Wird also freiwillig eine Politik verfolgt, die bei sinkender Inflationsrate von der Taylor-Regel abweicht, so kann sich eine Deflation selbst verstärken.
218
Kapitel 10. Makroökonomisches Konsensmodell
Abbildung 10.7: Deflationsspirale
10.9
Fallstudie Große Depression
Ein Beispiel einer Liquiditätsfalle, verbunden mit einer Deflation, war die größte Wirtschaftskrise der Neuzeit in den Jahren 1929-1934, die die gesamte Weltwirtschaft erfasst hatte. Vorausgegangen war der großen Depression eine Blase in Form eines Aktienbooms von 1921 bis 1929. Die Zentralbanken versuchten weltweit zu spät, nämlich erst 1929, diesen Boom mit einer moderaten Zinserhöhung zu dämpfen. In der Folge brach der Aktienmarkt am 24. Oktober 1929 ein. Von einem Wert von über 300 sank der Dow Jones Aktienindex auf 50 im Jahre 1933, also auf ein Sechstel des Wertes. Ein solch starker Einbruch ist beispiellos in der Wirtschaftsgeschichte. Der damit zusammenhängende Vermögenskanal legt nahe, dass auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage immer weiter
10.9 Fallstudie Große Depression
219
Abbildung 10.8: Produktionseinbruch während des großen Depression
zurückgeht. Die weltweit einsetzende Rezession lässt sich mit Daten zum Inlandsprodukt bestätigen, wie in Abbildung 10.8 dargestellt. In den USA, Kanada und in Deutschland sinkt die Produktion um bis zu 40% bis zum Jahre 1933. In Frankreich zeigte sich eine etwas langsamere Anpassung. Der Grund für den anhaltend negativen Trend ist auch in der Zinsentwicklung zu sehen, wie in Abbildung 10.9 dargestellt. Als Folge der Depression und sinkenden Inflationsrate sinken in den USA die Zinsen kaum. Die Zentralbank der USA handelt also nicht gemäß einer Taylor-Regel, der zufolge sinkende Inflation zu sinkenden Realzinsen führen sollte. Erst 1940 wird ein Zinssatz von 1% gesetzt, so dass dann weitgehend eine Liquiditätsfalle erreicht ist. Dieser niedrige Zins kommt zu spät. Vorher haben nämlich die sinkenden Preise die Realzinsen erhöht und damit die Depression verstärkt. So ergibt sich 1932 ein Realzins in Höhe von 14%, wodurch der Abschwung verstärkt wird. Die späteren Zinssenkungen sind dann zu niedrig, um aus der Liquiditätsfalle entkommen zu können. Erst durch erhöhten Staatskonsum wird der Umschwung erreicht. Im Jahre 1933 leitet
220
Kapitel 10. Makroökonomisches Konsensmodell
Abbildung 10.9: Reaktion auf die große Depression in den USA
Präsident Roosevelt das Programm New Deal ein und kurbelt mit massiven staatlichen Investitionen und Sozialleistungen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage an.
10.10 Vorteile einer moderaten Inflation Die Modellierung dieses Kapitels erlaubt einen Blick zurück auf die Vor- und Nachteile der Inflation. Während die Nachteile nicht zu bezweifeln sind, sind zwei weitere Vorteile der Inflation hier festzuhalten. Der erste Vorteil ergibt sich aus den Kosten der Inflationsbekämpfung. Wie wir gesehen hatten, lässt sich Inflation nur durch einen Produktionseinbruch und Arbeitslosigkeit reduzieren. Gemäß Schätzungen ist zur Reduzierung der Inflation um einen Prozentpunkt ein temporärer Produktionseinbruch zu erwarten. Aggregiert über den Anpassungszeitraum beläuft sich der Einbruch auf 5 Prozent des Inlandsprodukts.
10.10 Vorteile einer moderaten Inflation
221
Ein solches Ergebnis käme zustande, falls der Anpassungsprozess drei Jahre dauert und beispielsweise in den ersten beiden Jahren jeweils eine negative Produktionslücke von 2 Prozent auftritt und im dritten Jahr von 1 Prozent. Ein temporärer Produktionseinbruch kann auch länger anhaltende nachteilige Folgen haben. Eine Rezession kann Investoren abschrecken. Damit sinkt der Kapitalstock und temporär die Produktivität. Temporäre Arbeitslosigkeit kann auch Humankapital vernichten, weil know-how verloren geht. In Anbetracht dieser Kosten kann eine fortwährende leichte Inflation das geringere von zwei Übeln sein.
Abbildung 10.10: Inflation als Sicherheitsabstand
Im Vergleich zu Inflation hatten wir gesehen, dass die Deflation ein eventuell noch größeres Übel darstellt, da sie in Kombination mit einer Liquiditätsfalle ein Land in eine Deflationsspirale führen kann. Eine positive Inflationsrate kann hierbei von Vorteil sein. Wenn im Ausgangsgleichgewicht eine positive Inflationsrate π = 2 vorliegt, so kann ein Realzins von r = i − π = 0 − 2 = −2 erzielt werden, wie in Abbildung 10.10 dargestellt. Die erhöhte Inflationsrate bewirkt einen Sicherheitsabstand zur drohenden Deflationsspirale, da Investitionen sogar mit negativen Realzinsen weiter angeregt werden können. In Abwägung mit den bekannten Nachteilen besonders hoher Inflationsraten haben diese Befunde manche Ökonomen dazu veranlasst, ein Inflationsziel von 2-3% für angemessen zu erachten.
222
Kapitel 10. Makroökonomisches Konsensmodell
10.11 Schlüsselbegriffe im Kapitel AD-Kurve Deflation Deflationsspirale Große Depression Inflationsbekämpfung Inflationserwartung Lucas-Kritik
Monopolpreis Phillips-Kurve Sicherheitsabstand Sparen als Tugend Täuschung Zinsglättung
10.12 Quiz Die AD-Kurve verschiebt sich nach unten mit 1. restriktiverer Geldpolitik, 2. steigendem Staatskonsum, 3. steigender Inflationsrate, 4. sinkendem Inlandsprodukt.
Sparen ist nur tugendhaft, wenn 1. eine Volkswirtschaft in der Liquiditätsfalle ist, 2. es die Zentralbank zu Zinssenkungen veranlasst, 3. es die Regierung zu erhöhtem Staatskonsum veranlasst, 4. die Zentralbank die Zinsen unverändert lässt.
Die Lucas-Kritik besagt, dass 1. erhöhter Staatskonsum die private Ersparnis in gleichem Ausmaß erhöht, 2. Zentralbanken Wirtschaftssubjekte täuschen wollen, 3. Zentralbanken Wirtschaftssubjekte nicht täuschen können, 4. Inflationsbekämpfung immer eine Rezession verursacht.
10.13 Ergänzende Literatur und Quellen im Web
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In der Liquiditätsfalle verursacht eine Deflation 1. einen sinkenden Realzins, 2. eine restriktivere geldpolitische Regel, 3. eine Verschiebung der IS-Kurve nach unten, 4. ein sinkendes Inlandsprodukt.
Die große Depression 1. wurde durch starke Zinssenkungen beendet, 2. wurde durch sinkenden Staatskonsum verursacht, 3. zeigt den Vorteil eines Sicherheitsabstands, 4. wirkte in Großbritannien besonders stark.
10.13 Ergänzende Literatur und Quellen im Web Die Federal Reserve Bank of San Francisco präsentiert ein interaktives Spiel, beim dem man in der Rolle eines Zentralbankers versuchen muss, Inflation und Arbeitslosigkeit unter Kontrolle zu halten.
224
Kapitel 10. Makroökonomisches Konsensmodell
• JARCHOW, Hans-Joachim: Grundriss der Geldtheorie. 12. Aufl. Stuttgart : Lucius & Lucius, 2010, S. 229-243 • K EHOE, Tim ; P RESCOTT, Edward: Great depressions of the twentieth century. In: Federal Reserve Bank of Minneapolis (2007) • L AMBSDORFF, Johann: Das Keynesianische Konsensmodell. In: WiStWirtschaftswissenschaftliches Studium 36 (2007), Nr. 8, S. 387–394 • ROMER, David: Short-Run Fluctuations. Manuscript, 2018, S. 54-114 • S TIGLITZ, Joseph E. ; WALSH, Carl E.: Volkswirtschaftslehre. 4. Aufl. München : Oldenbourg, 2013, S. 211-273 • TAYLOR, John B. ; W EERAPANA, Akila: Principles of Macroeconomics. 8. Aufl. Boston : Houghton Mifflin Co, 2017, Kapitel 12-13 • U NITED S TATES . B UREAU OF THE C ENSUS: Historical statistics of the United States, colonial times to 1970. Bd. 93. US Department of Commerce, Bureau of the Census, 1975
10.14 Übungsaufgaben Aufgabe 10.1 Die Ertragserwartungen der Investoren trüben sich zum Zeitpunkt t = 1 eine Verschärfung ein. Welche Entwicklung ergibt sich für Inlandsprodukt, Realzins, nominalen Zinssatz, Inflation, Konsum, Ersparnis und Investitionen für die Perioden t = 1 und t = ∞? Aufgabe 10.2 Gegeben sind in Abbildung 10.11 volkswirtschaftliche Datenverläufe, wobei die Zentralbank gemäß einer Taylor-Regel agiert. Zum Zeitpunkt t = 0 liegt hierbei ein Gleichgewicht vor. a) Mit welchen Maßnahmen der Fiskal- und/oder Geldpolitik in t = 1 wären die obigen Daten kompatibel? b) Erläutern Sie die Entwicklung in den Runden 2 bis 5!
Aufgabe 10.4 Als Folge eines Gütermarkteinbruchs in Periode 1 ergeben sich folgende Datenverläufe:
10.14 Übungsaufgaben
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Abbildung 10.11: Datenverläufe zu Aufgabe 10.2 Aufgabe 10.3 Die Zentralbank entscheidet sich dafür, im Januar 2024 zu einer expansiveren geldpolitischen Regel überzugehen und kündigt dies im Juli 2023 an. Welche Anpassung ergibt sich aus Sicht einer mikrofundierten Makroökonomik! Begründen Sie Ihre Antwort und gehen Sie dabei auf Menükosten und sticky information ein!
a) Bestimmen Sie die Höhe des Nominalzinses im Zeitablauf! b) In Periode 0 entsprechen der Realzins und der Nominalzins dem von der Zentralbank gewünschten Niveau. Welchen Realzins und welchen Nominalzins wünscht sich die Zentralbank in den Perioden 1 und 2? c) Stimmen der gewünschte und der realisierte Realzins überein? Wie ist dieses Ergebnis zu begründen und kann die Zentralbank es abwenden? d) Zentralbanken können eine leicht positive Inflationsrate für nützlich halten, um einen „Si-
Abbildung 10.12: Datenverläufe nach Gütermarkteinbruch
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Kapitel 10. Makroökonomisches Konsensmodell cherheitsabstand“ zu einer möglichen Deflation zu halten. Begründen Sie dies an Hand der Ergebnisse der vorherigen Teilaufgaben.
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Schlusswort Liebe Leserin und lieber Leser, lassen Sie uns schließen mit einem Ausblick zu dem, was dieses Buch Sie hat lehren wollen. Die Krisen der letzten Jahre haben uns gezeigt, dass eine makroökonomische Analyse immer wichtiger geworden ist. Das gesamtwirtschaftliche Umfeld kann sich rasch ändern, alte Vertrautheiten können verloren gehen. Für Prognosen ist ein Verständnis der Makroökonomik immer wichtiger geworden. Denn auch in der heutigen Zeit gilt, was John Maynard Keynes (1936: S. 383) zum Abschluss seiner General Theory anmerkt: "The ideas of economists and political philosophers, both when they are right and when they are wrong, are more powerful than is commonly understood. Indeed, the world is ruled by little else. Practical men, who believe themselves to be quite exempt from any intellectual influences, are usually slaves of some defunct economist." Tatsächlich finden wir in der medialen Berichterstattung viele Aussagen solcher defunct economists. Wirkungsketten werden oftmals ad hoc erfunden. Einzelwirtschaftliche Plausibilitäten sind dabei zu finden, die nicht unbedingt für die Makroökonomik gelten, aber auch frei Erfundenes. „Banken müssen gerettet werden, damit sie die Unternehmen mit dem für Investitionen notwendigen Geld versorgen können“ oder „mit fiskalischer Stabilität wird vorhandenes Kapital für private Investitionen frei“ oder „eine Konsolidierung der Staatsfinanzen stärkt Vertrauen und Wachstum.“ Immer wieder werden Sie auf solche oder ähnliche Sätze treffen und sich verwundert fragen, ob Sie dies in der Vorlesung gelernt haben. Seien Sie hier mit ein wenig Selbstvertrauen versorgt: Falls Sie es so nicht gelernt haben, liegt es zumeist daran, dass die Aussagen irreführend sind. Natürlich werden Sie an manchen Stellen gefordert sein, über das in der Vorlesung Gelernte hinaus zu denken. Aber prüfen Sie immer zuerst, wie sich mit der Logik des Vorlesungsstoffs behauptete Zusammenhänge darstellen lassen. Dieser Vorlesungsstoff stellt das derzeitige makroökonomische Wissen kompakt dar. Die Vorlesung umfasst den Stoff, der den Forschungsstand umreißt, aber auch die derzeit offenen Kontroversen. Gehen Sie selbstbewusst damit um. Gleichzeitig ist jedes Buch permanentem Wandel ausgesetzt und nicht frei von Fehlern. Rückmeldung hierzu ist daher jederzeit willkommen und wird dankbar aufgenommen.
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1.1 Daten: Weltbank, Numbeo.com . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.2 Daten: Weltbank, Numbeo.com . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.4 Daten: Maddison Project Database 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.2 Daten: Zeitreihen-Datenbank der Bundesbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.1 Daten: Weltbank, World Development Indicators . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3.2 Daten: Weltbank, Numbeo.com . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3.7 Daten: Weltbank, World Development Indicators . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.9 Daten: Weltbank, World Development Indicators . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 4.1 Daten: Zeitreihen-Datenbank der Bundesbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 4.2 Daten: Zeitreihen-Datenbank der Bundesbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
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5.3 Daten: Bureau of Economic Analysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 5.6 Daten: Zeitreihen-Datenbank der Bundesbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 5.7 Daten: Zeitreihen-Datenbank der Bundesbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 6.5 Daten: EZB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 6.6 Daten: EZB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 6.7 Daten: EZB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 6.9 Daten: Norwegische Zentralbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 7.1 Daten: Statistisches Bundesamt. Wägungsschema 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 7.2 Daten: Thomas J. Sargent: The Ends of Four Big Inflations (1982) . . . . . . . . . . . . . . . 150 9.8 Daten: Eurostat, Numbeo.com . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 9.9 Daten: Europäische Zentralbank, Statistical Data Warehouse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 10.8 10.9
Daten: Kehoe und Prescott (2007) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Daten: United States Government (1975) und (2007) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
Index
Abschreibungen, 40–44, 52, 55–59, 89, 98–102, 189 AD-Kurve, 206–207 und Liquiditätsfalle, 217 Aggregat, 15–23, 45, 61, 119, 145, 171 Akerlof, George A., 23 Altersvorsorge, 64, 78–80 Anleihe, 38, 89, 121–130, 132–136, 147, 168 Arbeit, 35–36, 38, 53, 59, 76, 98, 147, 214 Einsatz, 24–26, 32 Motivation, 149 Arbeitskampf, 148 Arbeitslosenversicherung, 99, 104 Arbeitslosigkeit, 76, 82, 209, 221 Arbeitsvertrag, 157 Arbitrage, 134 automatischer Stabilisator, 104–109
Bank of England, 127 Bank of Japan, 200 Bargeld, 119–120, 123, 125–126, 128–130, 138, 217 Barwertmethode, 122, 186 Bevölkerungswachstum, 58–66 Black Wednesday, 20 Blase, 22, 182, 218 Blinder, Alan, 23 Boom, 22, 73–78, 108, 109, 180, 218 Bruttoanlageinvestition, 39 Budgetdefizit, 18, 45, 100, 103, 106–110, 121, 128 ceteris-paribus-Annahme, 84, 89 crowding-out, 103, 105, 194, 211 Dämpfungseffekt der Fiskalpolitik, 108
232 der Geldpolitik, 188–189, 194, 218 Deflation, 143, 145, 149, 217–218, 221 Deflationsspirale, 217 Deflator, 34–35, 145–146 Depression, 73, 76, 78, 108, 109, 112, 180 große, 218–220 Einkommen Arbeitnehmerentgelte, 38, 147 Erwerbseinkommen, 38 Faktoreinkommen, 37–43, 57, 98, 102 Lebenseinkommen, 78 Lohn, 35, 37, 38, 147–158 Selbstständigeneinkommen, 38, 147 verfügbares, 103, 104 Vermögenseinkommen, 147 Einkommenskonto, 36, 41–43, 57, 98–103, 106 Einlagenfazilität, 132–134 Endprodukt, 31 Erfahrung, 23, 26, 53, 153–156, 213–216 Ersparnis, siehe Investition, 39 als Tugend, siehe Tugend des Staates, 99, 102, 103, 104, 105 durchschnittliche Quote, 57, 81, 108 Funktion, 81 marginale Quote, 81, 211 ungeplant, 91 Ertragserwartung, 78, 169–174, 210–211 ESTR, 133–136, 198–200 Expansion, 73, 108 expansionary austerity, 111–113, 115 EZB, 128–134, 149, 189, 198–200 Fazilitäten, siehe Fazilitäten fallacy of composition, 25, 90, 172, 179 Fama, Eugene, 27 Fazilitäten, 132–133 Federal Reserve, 189 Finanzierung, siehe Budgetdefizit Überschuss und Defizit, 89, 100, 128
Index des Staates, 98, 148 von Investitionen, 89, 90, 103 Finanzkrise, 55, 76, 90, 133, 135–136, 175, 176, 197, 218 Fiskalpolitik antizyklisch, 108, 180 Definition, 97, 109 expansiv, 112, 193–194, 212 Nachteile, 108 restriktiv, 112 Vorteile, 107–108 Geld, 77, 119–125 als Recheneinheit, 120–121, 148 Erscheinungsformen, 120 Funktionen, 120–121 Verwechslung mit Einkommen, 195–196 Geldmenge, 131 Neutralität, siehe Neutralität des Geldes Geldnachfrage, 122–125, 148, 150, 195, 196 Geldnachfragekurve, 123, 124, 127–128 Geldpolitik Definition, 128 expansiv, siehe geldpolitische Regel Funktionsweise, 125–126, 128–133 restriktiv, siehe geldpolitische Regel geldpolitische Regel, 189, 196 expansiv, 189, 196 restriktiv, 189, 192, 194–196, 211–213, 216 Geldschöpfung, 120, 131 Gewohnheit, 24–26, 159, 216 Gleichgewicht Definition, 24–26, 61, 84–177 multiple Gleichgewichte, 176–178 Nachfrage, 84 Gold, 25, 127–128 Goldstandard, 126–128 Grenzertrag, 60, 168 Hahn, Albert, 172
233 Hansen, Alvin Harvey, 172 Humankapital, 52–119 Hume, David, 172
private, 83–91, 105 Quote, 57, 61–63, 66 Investor, 18, 39, 121, 169–179
IA-Kurve, 160, 208–210, 216 Inflation, 55, 82, 143–146, 170 und Geldpolitik, 149, 151 Auswirkung, 149, 152–220 Bekämpfung, 212–213, 216–217 Erwartung, 216 exogene Erhöhung, 213 Hyperinflation, 150–151 Inflationssteuer, 148 Inflationsziel, 149, 190, 221 und Geldpolitik, 187–198 und Nachfrage, 205–213 und potentielles Inlandsprodukts, 207 und Produktionslücke, 156, 160, 207–209 Inlandsprodukt, 15–19, 31–35, 54, 55, 73–76, 90, 103, 145, 188–190, 198, 205 brutto, 43, 53 netto, 43, 102 nominal, 33 potentielles, 74, 156–157, 207–208 Pro-Kopf, 16–18, 44, 51–66, 169, 197 real, 34, 44 und Inflation, 208–209 Interaktion, 78 Investition, 38–45, 52, 55, 67, 77–78, 103–104, 112, 167–175 Ersparnis und, 38–43, 88–211 koordinierte, 176–178 und Erwartungen, 178–179 und Realzins, 171–173 aus einzelwirtschaftlicher Sicht, 39, 169 brutto, 39 des Staates, 55, 99–102, 104 Lager-, 39, 88 netto, 40 notwendige, 59–60
Kapitalstock, 18, 39, 54, 58, 59, 101, 119, 168, 188 Pro-Kopf, 56–65, 214 Keynes, John Maynard, 80, 90, 108, 172, 179, 197 Keynesianisches Kreuz, 84 Keynesianismus, 22, 108 komparative Statik, 84, 88, 105 Konjunktur, siehe Produktionslücke, 73–78, 107– 109, 112, 181, 206 Konjunkturindikator, 76 Konsum, 36, 40, 57, 86–87 autonom, 81, 84, 88–90, 174 durchschnittliche Quote, 57, 81–82 Einfluss des Zinssatzes, 175 Geld und, 195 Glättung, 78–80, 107–108 Keynesianische Funktion, 80–84, 103 langlebige Konsumgüter, 40 marginale Quote, 79, 81–82 Pro-Kopf, 61 Koordinationsspiel, 176 Kosten Anschaffungskosten, 169–171 Arbeit, 26 der Inflation, 147, 213, 216, 220 der Unternehmen, 147, 153 Geschäftsbanken, 134 Herstellungskosten, 98, 102 Lebenshaltungskosten, 143–146 Menükosten, 147–148, 151–158 Opportunitätskosten, 123, 169 Schuhlederkosten, 147 Suchkosten, 120 Transfer von Ersparnis, 108 Kreditkonditionen, 180 Kreislauf, 35–125
234 Krise, siehe Finanzkrise Krugman, Paul, 115 Lebenshaltungskosten, siehe Kosten Leitzins, 133–134 Liquiditätsfalle, 196–217 Lohn, 155 Lucas, Robert E., 27, 215 Lucas-Kritik, 217 Makroökonomik als engineering, 23–25, 45, 80, 159–160, 176, 200, 216 mikrofundierte, 25–27, 45, 66, 78–108, 111, 151, 158–216 Mankiw, N. Gregory, 189 Martin, William McChesney, 189 Menükosten, siehe Kosten Mill, John Stuart, 172 Mindestreserve, 131 Monetarismus, 20, 126–128 MP-Kurve, 192–193 in der Liquiditätsfalle, 196, 221 Multiplikator, 84, 90, 104, 106, 110 Multiplikatorprozess, 87 Nachfrage gesamtwirtschaftliche, 76–78, 82–84, 86, 88, 104–107, 112, 173–175, 187–189, 192, 206–208, 210–211, 217–220 Kurve, 84, 85, 206 nach Anleihen, 123 nach Bargeld, 131 nach Geld, siehe Geldnachfrage Preiseffekt, 151 natürliche Ressourcen, 52–54, 108, 119 Neutralität des Geldes, 150 Nominalzins, 121–136, 168, 187, 190–191 Berechnung, 122 Deflationsspirale, 217 Liquiditätsfalle, 196
Index und Geldnachfrage, 124 Norges Bank, 140 Nullzinsgrenze, 136, 196 Optimismus, 22, 176, 189 Pessimismus, 22, 24, 176 Private Haushalte, 18, 35, 78, 101, 103, 107–108, 123, 128 Produktionskonto, 36–43, 83, 98–103 Produktionslücke Definition, 75–76 negative, 195, 213, 216, 221 positive, 194, 210, 211, 216 Wirkung auf Inflation, 159 Produktionswert, 32–33 Produktivität, 52–53, 148, 221 Prognose, 19–25, 77, 149 Prokrastination, 159 Quantitätstheorie, 149–151 Rückkopplung, 78, 83, 88, 105 Rationalität, siehe Makroökonomik, mikrofundierte, 20, 147, 158–159 Real-Business-Cycle Theorie, 74 Realzins, 168, 174, 187, 189, 196, 197, 219 Definition, 168 Gleichgewicht im IS-MP-Modell, 192–193 Reagibilität, 174 Steuerung, 187–188 Taylor-Regel, 189, 192, 194–195, 207, 210, 213, 216, 219 und gesamtwirtschaftliche Investition, 171–173 und interner Zinsfuß, 170 Refinanzierungsfazilität, 132–134 Rezession, 20, 22, 73–221 Ricardianische Äquivalenz, 107–108 Ricardo, David, 26, 107, 172 Risiko, 127, 149, 176 Robertson-Lag, 87
235 Say, Jean-Baptiste, 77 Schönheitswettbewerb, 178–179 Schuldenbremse, 112 Schuldenstandsquote, 109–110 Shiller, Robert J., 23 Sicherheitsabstand, 221 Sichteinlagen, 131–132 Smith, Adam, 26 Solow, Robert, 56 Soros, George, 20 Sozialversicherung, 104 Sparparadoxon, 89–91 Staat, 97 Eingriffe des Staates, 27, 103–113, 193, 220 Investition, siehe Investition101 Staatskonsum, 98–99, 101–113 Verschuldung, siehe Verschuldung Staatsanleihe, siehe Anleihe steady state, 61–65, 73 Steuer, 103–110, 148 direkt, 99, 102, 103 indirekt, 99, 101–103 Steuersatz, 103–105 zukünftige Steuerzahlungen, 107–108 sticky information, 158, 216 Stimmung, 23–25, 176–177 Substitutionseffekt, 146, 149 Tauschmittelfunktion, 120, 122, 123 Taylor, John B., 189 Taylor-Prinzip, 190 Taylor-Regel, 189, 192, 196, 200–201, 217, 219 Produktionspräferenz der Zentralbank, 190 technischer Fortschritt, 52–53, 64–66, 73, 146 Trägheit, 151–152, 156–160, 215–216 Transferzahlung, 99, 102, 107–174 Transmission, 133–136, 174 Tugend, 90, 211 Überstunden, 82, 157–160, 188
Umverteilung, 102, 147–149 Unternehmensanleihe, siehe Anleihe Verbraucherpreisindex, 124, 143–146 Vermögensänderungskonto, 42–43, 98–100, 106, 128–130 Vermögenseinkommen, 38–41 Vermögenskanal, 175 Verschuldung, 92, 107–113, 121, 147 Vertrauen, 111–113 Vorleistung, 32–38, 98–99, 122 Wachstumsmodell, 55–67 Warenkorb, 143–146, 151–159, 207 Wertaufbewahrungsfunktion, 121 Zentralbank, 120, 125–136, 187–201, 206–216 Bilanz, 120 EZB, siehe EZB Kredite, 132–136 Zins, siehe Realzins, siehe Nominalzins Zinscoupon, 121–126, 168 Zinsfuß interner, 122, 169–170 Zinsglättung, 217 Zinskanal, 174–175