139 73 910KB
German Pages 160 [155]
Christine Magerski · Svjetlan Lacko Vidulic´ (Hrsg.) Literaturwissenschaft im Wandel
VS RESEARCH Literaturwissenschaft | Kulturwissenschaft Herausgegeben von Prof. Dr. Klaus-Michael Bogdal, Universität Bielefeld Prof. Dr. Erhard Schütz, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Jochen Vogt, Universität Essen
In den Bänden dieser Reihe werden – ohne dogmatische Fixierung – neuere methodische Entwicklungen der Literaturwissenschaft, insbesondere ihre kulturwissenschaftliche Neuakzentuierung reflektiert. Zentraler Gegenstandsbereich ist die deutschsprachige Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher, diskursanalytischer und narratologischer sowie kulturtheoretischer Perspektive. Ausblicke auf das Wirkungspotenzial publizistischer Formen, auf die Genres der ,Paraliteratur’ und den Problemkreis ,Literatur in der Medienkonkurrenz’ erweitern das thematische und methodische Spektrum.
Seit März 2009 erscheint die Reihe, die bisher beim Deutschen UniversitätsVerlag angesiedelt war, im Programm VS Research des VS Verlags für Sozialwissenschaften.
Christine Magerski Svjetlan Lacko Vidulic´ (Hrsg.)
Literaturwissenschaft im Wandel Aspekte theoretischer und fachlicher Neuorganisation
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Gedruckt in Zusammenarbeit mit FF-press Zagreb und mit Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft, Bildung und Sport der Republik Kroatien.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Christina M. Brian / Dr. Tatjana Rollnik-Manke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16502-8
Inhalt
Vorwort
7
David Roberts (Melbourne) Literatur und Globalisierung. Überlegungen zum Transnationalen und zur Translation
11
Siegfried Gehrmann (Zagreb) Europäise Bildung und Mehrspraigkeit: Grundprobleme auf dem Weg zu einem europäisen Bildungsraum
29
Andrew Milner (Melbourne) Die Dekonstruktion der Nationalliteraturen: Komparatistik, Cultural Studies und Kritise Theorie
47
Dean Duda (Zagreb) Transition und Methode. Überlegungen zum lokalen Zustand des literarisen Feldes
65
Stefan Neuhaus (Innsbru) Literatur und Identität. Zur Relevanz der Literaturwissensa
81
Ralf Klausnitzer (Berlin) Kulturen des Wissens, Wissen der Literatur. Kreuzungen auf theoretiser Ebene
97
Christine Magerski (Berlin/Zagreb) Hosulreform als Wissensasreform. Der Fall der Literaturwissensa
137
Hinweise zu den Beiträgern und Herausgebern
159
5
Vorwort Christine Magerski
Der vorliegende Band beruht auf den Annahmen, dass si die wissensalie Besäigung mit Literatur in einem weltweit beobatbaren Wandel befindet und die dadur eröffnete falie Neuorganisation auf theoretiser Grundlage erfolgen sollte. In der laufenden, strukturell notwendigen Neuorganisation von Lehre und Forsung wird sowohl die Chance zur Begründung der eigenen Wissensalikeit und Programmatik wie au zu einem internationalen Dialog gesehen, in dem theoriegeleitete Konzepte literaturwissensalier Praxis mit Sit auf die gewandelten Herausforderungen an Studien- und Forsungsplanung diskutiert werden. Dabei soll es nit um eine Fortsetzung des Konflikts Kulturwissensa vs. Rephilologisierung gehen, der die literaturwissensalie Selbstbeobatung polarisiert und si in konkurrierenden Gewinn- und Verlustrenungen niedergeslagen hat, sondern um die Diskussion von Theorieoptionen im Zusammenhang mit ihren curricularen Konsequenzen. Vor diesem Hintergrund wurden die versammelten Autoren um Antworten auf die Fragen gebeten, weler Ort und Stellenwert dem Studium der Literatur innerhalb einer si weltweit rasant verändernden Hosul- und Medienlandsa zukommt und wele Formen des literaturwissensalien Studiums angesits dieser Entwilung als sinnvoll und mögli eratet werden. Die Beiträge von David Roberts (Melbourne) und Siegfried Gehrmann (Zagreb) werfen zunäst ein Lit auf die gewandelten Rahmenbedingungen des Studiums der Gesellsaen, Kulturen und Spraen im globalen wie au im europäisen Kontext. Roberts geht es darum, dur die Fragestellung Literatur und Globalisierung. Überlegungen zum Transnationalen und zur Translation einen Weg für das Überdenken der Disziplin von einem Standpunkt außerhalb der Nationalphilologien frei zu maen, dur den das Studium der Werke qua Kanonisierung dur das Studium der Netzwerke von Relationen ersetzt wird. Im Zusammenhang mit der Umstellung des Hosulsystems von der ‘University of Culture’ zur globalen ‘University of Excellence’ wird hier die falie Organisation in Nationalphilologien und Komparatistik einer radikalen Kritik unter7
zogen und stadessen das Studium der Weltliteratur als Akt der Translation und als Beitrag zum interdisziplinären Studium von Gesellsaen und Kulturen vorgestellt. Thematis erweitert und gleisam räumli verengt wird der Rahmen der Diskussion um den Ritungswandel des Studiums dur Gehrmanns Überlegungen zur Europäisen Bildung und Mehrspraigkeit. Gehrmann konzentriert si auf den europäisen Bildungsraum und hier auf die Leitmotive der dur den Bologna-Prozess angestoßenen Reform. Hinter ihnen verbirgt si eine intensive Auseinandersetzung um die Rolle und den Begriff von Universität und Bildung im Kontext der Globalisierung. Der Beitrag geht den sitbar werdenden Strukturen na und fokussiert diese auf den Aspekt der Mehrspraigkeit. Konkret wird gefragt, wele Konzepte von Mehrspraigkeit wele Form von Bildung generieren, wele Konzepte den gegenwärtigen Bildungsreformdebaen zugrunde liegen und wie in diesem Kontext die Forderung na „Vielfalt von Kulturen und Spraen“ als Identitätsmerkmal europäiser Bildung zu erhalten und zu fördern ist. Mit den Beiträgen von Andrew Milner (Melbourne) und Dean Duda (Zagreb) gerät der falie wie theoretis-methodologise Wandel der Literaturwissensa innerhalb untersiedlier Bildungsräume in den Bli und lässt die Abhängigkeit seiner Verläufe sowohl von den überkommenen Bildungstraditionen als au von dem jeweiligen literarisen Feld deutli werden. Milner untersut in Die Dekonstruktion der Nationalliteraturen: Komparatistik, Cultural Studies und Kritise Theorie am Beispiel der australisen Literaturwissensa, wie die traditionellen Grenzen der wissensalien Disziplin ’English Literature‘ im englisspraigen Raum dur die Einflüsse der Komparatistik, der Cultural Studies und der Kritisen Theorie zunehmend untergraben und teilweise sogar aufgelöst wurden. Entworfen wird dabei der Umriss einer komparatistis angelegten, theoretis fundierten, die Literaturwissensa als regionales Spezialgebiet subsumierenden Variante der Cultural Studies. Als Möglikeit der methodis-theoretisen Grundlegung einer vergleienden Literatur- und Kulturwissensa wird absließend die Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein diskutiert. Duda verknüp unter dem Titel Transition und Methode. Überlegungen zum lokalen Zustand des literarisen Feldes Elemente eines globalen diagnostisen Diskurses mit den dominanten Merkmalen des postsozialistisen Zustands und der diesbezüglien Funktionsweise der Literatur. Dringlikeit und Modell der literaturwissensalien Neuorganisation werden hier aus den Veränderungen des literarisen Feldes abgeleitet. Indem die Teilhabe der 8
Literatur am allgemeinen Transformationsprozess sowie die Reflexion dieser Teilhabe im Rahmen des zuständigen Faes ins Zentrum gerüt werden, wird die Frage na dem gegenwärtigen Stand der Literaturwissensa, ihrem Status und ihren Perspektiven zur Frage na den Funktionsweisen der Literatur (und des dazugehörigen Wissens) in der öffentlien Kultur, in Sulen und an Universitäten. Die Beiträge von Stefan Neuhaus (Innsbru) und Ralf Klausnitzer (Berlin) knüpfen an die damit aufgeworfene Thematik des Verhältnisses von Wissensa und Gegenstand an und führen über die Diskussion der spezifisen Leistung von Literatur zur Frage na dem Stellenwert der Literaturwissensa und ihrer theoretisen Konzeptionalisierung zurü. Das von Neuhaus in Literatur und Identität. Zur Relevanz der Literaturwissensa vorgestellte Konzept basiert auf dem Begriff der Identität. Attestiert wird hier einerseits das Fehlen verbindlier Sinnstiungssysteme na dem Zusammenbru der großen Ideologien und der Entwilung einer pluralistisen, marktorientierten Gesellsa und andererseits das anhaltende Srumpfen des Stellenwerts der Literatur im öffentlien Bewusstsein im Zuge der Ausdifferenzierung des medialen Angebots. Wurde der Literatur no bis ins 20. Jahrhundert eine gesellsasprägende sinnstiende Kra zugesrieben, so dominieren heute Fernsehen, Film und Internet. Der Beitrag besreibt in einem ersten Sri die veränderten Bedingungen, diskutiert im zweiten die potenziellen Leistungen der Literatur in der Konkurrenz der Medien und skizziert sließli vor der Annahme, dass si Sinnpotenziale ohne Deutungsmuster nit ersließen lassen, die Anforderungen, die dies an die theoretisen Zugänge zur Literatur stellt. Die Überlegungen von Klausnitzer konzentrieren si auf den Problemkomplex Literatur und Wissen. Sein Beitrag Kulturen des Wissens, Wissen der Literatur unternimmt den Versu, jenen Snistellen nazugehen, an und in denen si Kultur- und Literaturtheorien weselseitig wahrnehmen und beeinflussen. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass das Problemfeld von Literatur und Wissen einen exemplarisen Ort der Begegnung und des Transfers von text- wie kulturbezogenen Theoriebildungen darstellt. Auf diesem Feld, so zeigt Klausnitzer, treffen untersiedlie Einsätze distanzierter Beobatung aufeinander. Das Spektrum reit von poetologisen und rhetorisen Regelsystemen über die Textumgangsformen der Philologie bis zu relationierenden Observationen in Strukturalismus und Poststrukturalismus. Abgeslossen wird der Band mit einem vergleienden Bli auf den literaturwissensalien Diskurs der seziger und siebziger Jahre. 9
Christine Magerski (Berlin/Zagreb) untersut in Hosulreform als Wissensasreform das Verhältnis von Struktur und Theorie der Literaturwissensa in drei Srien: Der erste Sri rekonstruiert die damaligen Reformdebaen als Sue na einem verbindlien Gesamtkonzept. Der zweite Sri verfolgt die Spuren dieser Sue innerhalb der Literaturwissensa und führt vor die Klu zwisen Gegenstands- und Theorieentwilung. Den Bemühungen um ihre Überwindung widmet si der drie Teil, indem er ausgewählte Versue einer neuen literaturtheoretisen Grundlegung als innerdisziplinären Ausdru eines durgreifenden Wandels versteht und näher beleutet. Zusammengenommen maen die Beiträge deutli, wie vielsitig die Reflexionen der längerfristigen Veränderungen des Studiums der Literatur, ihrer Ursaen, des aktuellen Standes und des wünsenswerten Verlaufes sind. Sie alle jedo beruhen auf der Einsit, dass die Organisation der Literaturwissensa nur unter angemessener Berüsitigung der Veränderungen ihrer Umwelt und auf einer begründeten theoretisen Grundlage erfolgen kann. Im Ansluss an die Theoriedebaen gibt es einen erheblien Diskussionsbedarf hinsitli der konkreten Vermilung von Theorie und literaturwissensalier Praxis. Die Frage der Anwendung von Theoriemodellen in der Organisation der Literaturwissensa wird die Favertreter au in Zukun besäigen. Denen, die si am hier dokumentierten Austaus im kleinen Rahmen beteiligten, sei an dieser Stelle herzli für die Mitwirkung gedankt. Der Dank der Herausgeber geht au an den Deutsen Akademisen Austausdienst und die Philosophise Fakultät der Universität Zagreb, die mit ihrer finanziellen Unterstützung das Symposium (Zagreb, Juni 2007) und den Sammelband ermöglit haben.
10
Literatur und Globalisierung. Überlegungen zum Transnationalen und zur Translation David Roberts (Melbourne)
Literaturwissensa spürt heute den eisigen Sturm der Veränderung. Alle Anstrengungen, die Disziplin als National- oder Fremdspraenphilologie zu erneuern, seinen nur no die Krisenstimmung zu bestätigen und zu verstärken, da im harten Klima der Kommerzialisierung der Universität selbst die si ras ausbreitenden Alternativen verwelken. Und do wäre es fals, das gegenwärtige Gefühl des Unbehagens nur dem unfreundlien Klima zuzusreiben. Der wahre Grund liegt meines Eratens in der Nationalisierung der Literaturwissensaen, d.h. in den ideologisen Annahmen, die der Einritung von separaten und von einander getrennten Philologien zugrunde lagen; Annahmen, die insbesondere in der Gestalt institutioneller Trägheit bis heute fortbestehen und si in der eifersütigen Verteidigung des jeweiligen nationalphilologisen Territoriums erkennen lassen. Die Nationalisierung von Sprae, Literatur und Kultur im Zeitalter des Nationalismus erfolgte unter Berufung auf die Offensitlikeit linguistiser Besonderheiten und auf die unausweilie Pluralität ‘nationaler’ Spraen. Das Studium der Nationalspraen und Nationalliteraturen taute, gesützt innerhalb der nationalen Institution der Universität, aus der Apokalypse des Nationalismus im 20. Jahrhundert gemäßigt, jedo nit grundsätzli in Frage gestellt, wieder auf. Die eigentlie Herausforderung der Nakriegszeit kam von unten, angetrieben dur die snelle Expansion der Universität in den 1960er Jahren. Do beugt si, wie wir wissen, institutionelle Trägheit (zumeist begründet als Bewahrung dessen, was für die einigen Wenigen in der Massenuniversität gedat war) zumeist nur dem Dru von oben, wobei dieser im Allgemeinen als feindlie, auf die Zerstörung der in der Disziplin akkumulierten Weisheiten abzielende Intervention betratet wird. Wie geretfertigt der Widerstand gegen bürokratise Anordnungen au immer sein mag,1 fest steht, dass unsere Krise zeitli 1
Zur kritise Auseinandersetzung mit der ‘Revolution des Managements’ an den Universitäten siehe: David Roberts: The Globalizing of the University. Some thoughts on the Environment of literary Studies. In: Guido Zurstiege (Hg.): Festsri für die
11
mit einer grundlegenden Veränderung der Universität zusammenfällt. Der Untergang der University of Culture, basierend auf dem deutsen Modell von Bildung, geht einher mit der zunehmenden Globalisierung der zeitgenössisen University of Excellence. Bill Readings stellt heraus, dass, historis gesehen, die Integrität der modernen Universität mit dem Aufstieg und dem Fall des Nationalstaats verbunden war. Ihm diente die Universität, indem sie die Idee nationaler Kultur förderte und bewahrte. Nun, da die Nationalkultur der Förderung nit länger bedarf, werden Universitäten zu transnationalen Unternehmen, in denen das Konzept von Kultur dem bürokratis gesteuerten Exzellenz-Diskurs weit.2 Dieses Zusammentreffen von äußeren Zwängen und innerem Unwohlsein mat die Frage na dem Überdenken und der Neuorientierung des Studiums von Literatur nur umso dringlier. So erklärt si die gegenwärtige Verbreitung konkurrierender Alternativen, unter denen – nit zufällig – derzeit die Favoriten Cultural Studies im angloamerikanisen oder deutsen Stil, Kommunikations- und Medienwissensaen sowie versiedene Kombinationen dieser Ritungen sind. Besreiben ließen si diese mit einigem Wohlwollen als Programme auf der Sue na Inhalt und Methode, verstanden entweder als Symptome der Auflösung des Paradigmas der Nation oder als Zeien eines neuen, im Auauen befindlien Paradigmas. Sier ist, dass die kultur- und kommunikationswissensalie Wende innerhalb der Literaturwissensa dem Globalisierungsdru der Universitäten entsprit. Innerdisziplinäre Selbstreflexion und externe Kontrolle korrespondieren daher, wenn au nur in der Negation, im Verlangen na Übersreitung des Nationalen. Meine einleitenden Kommentare werden den Kollegen von den literaturwissensalien Lehrstühlen bekannt sein. Und do haben wir vielleit bei allem Gespür für die Ersöpfung des Paradigmas der Nation als Grundlage für Lehre und Forsung no immer nit ganz die Blindheit begriffen, die in der Nationalisierung des Literaturstudiums stet. Es ist eine Blindheit, die der Institution anhaet und nit dem Studienobjekt: den Sristellern und Lesern in engliser, französiser, spaniser oder italieniser Sprae. Für Pascale Casanova endet die Gelehrtenrepublik mit Herder, 3 und zwar im Vorfeld jener historistisen
2 3
12
Wirklikeit. Zu Ehren von S. J. Smidt. Wiesbaden: Westdeutser Verlag 2000, S. 75–82. Der vorliegende Beitrag nimmt die dort ledigli aufgeworfene Frage der Weltliteratur auf. Bill Readings: The University in Ruins. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1996. Pascale Casanova: The World Republic of Leers. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2007.
Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts, die unsere Wahrnehmung von Gesellsa und Kultur transformierte, indem sie jenes neue historise Bewusstsein hervorbrate, dur das si das Ariv literariser Werke in einen beispielhaen Korpus sozialer und kultureller Dokumentation der jeweils zu untersuenden Zeit und Gesellsa verwandelt. Bei den Romantikern sloss das Kultivieren der eigenen Kultur in keiner Weise ein gleizeitiges Interesse am Fremden aus. Ganz im Gegenteil, das 18. und 19. Jahrhundert erlebte in Form von Übersetzungen und wissensalien Studien eine no nie da gewesene Öffnung für fremde Kulturen und Zivilisationen. Wir können Autoren und Lesern nit die Suld für die künstlien Grenzen geben, die das Literaturstudium auf das Nationale besränken. Wir müssen daher unterseiden zwisen unserer Praxis als Leser und einer beruflien Praxis, die uns zwingt, das Literaturstudium in ‘nationale’ Subladen zu unterteilen. Obwohl wir Abteilungen für Vergleiende Literaturwissensa gern als notwendige Ergänzung zu den Philologien betraten, haben diese, sier nit zuletzt aufgrund der Tatsae, dass selbst ihre ergänzende Funktion auf der Grundannahme linguistiser Originalität beruht, ihren marginalen Status an der Universität beibehalten. Zwar verlangen und erwarten wir au als Lehrende eine Lesekompetenz in zwei oder mehr Fremdspraen, do sreen sole Anforderungen insbesondere an angloamerikanisen Universitäten die meisten Studierenden ab. Au sollten wir uns an dieser Stelle fragen, wie es um unsere eigene literarise Bildung bestellt wäre, wenn wir uns auf das Lesen von Texten im Original besränken würden. Mag die Komparatistik au das slete Gewissen des nationalen Paradigmas sein, Translation ist und bleibt der blinde Fle der Literaturwissensa in ihrer nationalphilologisen oder komparativen Form. Gepaart führen die Ideologie linguistiser Originalität und das ausdrülie Verständnis von Literatur und Kultur als einem inneren, authentisen Wesen zu einer si der hybriden Natur der ‘nationalen’ Identität versperrenden Abwertung der Vorstellung von Übersetzung und damit des Transnationalen. Und do, wer könnte angesits der zentralen Rolle, die Übersetzung bei der Bildung der Nationalspraen gespielt hat, die grundlegende Bedeutung des Transnationalen verleugnen. Das beste Beispiel für Europa (sieht man von den romanisen Spraen ab) sind Übersetzungen der Bibel. Das Transnationale beinhaltet jedo mehr als das Übersetzen in andere Spraen. Allein wenn wir von engliser, deutser oder spaniser Nationalliteratur spreen, berauben wir uns son der Literatur im Vereinigten Königrei und der Lite13
ratur in engliser Sprae. Besränken wir uns auf das Nationale, so können wir nit von der Literatur der britisen Inseln, einsließli der Literatur in Walisis, Iris und Gälis spreen. Norman Davies’ The Isles ist ein heilsames Korrektiv gegen die vereinheitlienden teleologisen Vorurteile aller nationalen Gesitssreibungen, seien es die Großbritanniens, Frankreis oder Spaniens, da hier deutli wird, wie das Interesse von Autor und Leser von dem Punkt abnimmt, an dem si die faszinierende Gesite der spralien und politisen Vielfalt der Inseln auf die Perspektive des Vereinigten Königreis der letzten drei Jahrhunderte verengt.4 Literatur in Spanien ist nit weniger multilingual: Gerald Brenans Literature of the Spanish People umfasst Werke in Spanis, Arabis, Katalanis, Galizis und Portugiesis. Andererseits, wenn wir von Literatur in Englisch sprechen, müssen wir nahezu zwangsläufig Bruce Clunies Ross’ Argumentation folgen, dass zeitgenössische Dichtung in Englisch zu einer Sprache gehört, „which exists as a cluster of variants, just as it was in the Middle Ages, but its range now extends beyond linguistics variations in Wales, Ireland, Scotland and England to include affiliations with the postcolonial world and the United States as well as interactions with non-European languages“.5 In seiner neuesten Entwilung zur Weltsprae muss Englis nun verstanden werden als eine ausgedehnte Palee von Varianten einer einzelnen Sprae. Die Vitalität der Ditung in Englis entsteht dabei nit aus einem Zentrum heraus, sondern vielmehr aus einem global entwielten Netzwerk untersiedlister Einflüsse. Mit anderen Worten, das Zentrum-Peripherie-Modell, wie es häufig zur Rahmung postkolonialer Literatur herangezogen wird, verkennt den polyzentrisen Verlauf des englisen Geltungsbereis. Denn wenn au das britise Empire und die gegenwärtige amerikanise Hegemonie die weltweite Verbreitung der englisen Sprae weitestgehend erklären, so bieten sie do keine hinreiende Erklärung für die mannigfaltige Entwilung der englisen Sprae oder der englisspraigen Ditung in der zweiten Häle des 20. Jahrhunderts. Francesco Orsini, der über Literatur in Indien sreibt, unterseidet zwisen dem Regionalen, dem Nationalen und dem Internationalen und deren jeweiligen Lesern, Verlagen, Zeitsrien und Öffentlikeiten. Das Regionale umfasst das Sreiben in regionalen Spraen, das Nationale 4 5
14
Norman Davies: The Isles. Oxford: Oxford University Press 2001. Bruce Clunies Ross: Rhythmical Knots: The World of English Poetry. In: Christopher Prendergast (Hg.): Debating World Literature. London: Verso 2004, S. 293–296.
bezieht si auf Literatur in engliser Sprae und das Internationale auf eine Literatur in Englis, die wiederum Teil der globalen Kultur wird. Orsini nimmt dabei Anstoß an Literaturwissensalern wie Casanova, die die Ungleiheiten in der Globalisierung der literarisen Praxis in den vergangenen zweihundert Jahren betonen. Trotz aller Huldigung der World Republic of Leers bewege si Pascale Casanova no immer innerhalb des nationalen Paradigmas, in dem nur die mätigsten Städte (Paris und London) Autoren von der Peripherie internationale Anerkennung verleihen könnten. Orsini zieht das interaktive Modell der weselseitigen Bestimmung dem Zentrum-Peripherie-Modell vor. Indem Orsini dann aber bedauert, dass die globalen Medien- und Migrationsströme die regionalen Literaturen Indiens aussließen, zieht selbst er si in die Verteidigungshaltung der Peripherie zurü. Wenn das Lokale definiert werden kann als das, was si der Übersetzung widersetzt, so sließt dies keinesfalls eine über das Lokale hinausgehende Perspektive aus. Das bedeutet, dass das Regionale, Nationale und Internationale versiedene, aber nit notwendig exklusive Referenzrahmen bilden. Es ist genauso witig, si dem Globalen in Form seiner nationalen oder regionalen Aneignung – oder Ablehnung – zu nähern wie von einer globalen Perspektive aus. Das wiederum heißt, dass komplexe Prozesse kultureller Aneignung oder Ablehnung interlinguale Übersetzung voraussetzen und gleizeitig interlingualer Übersetzung vorangehen. Anstelle von Literatur in Englis könnten wir ebenso leit Beispiele aus der Literatur in Französis oder Spanis, mit ihren jeweiligen Weltreien, heranziehen. Wenn wir Literatur in deutser Sprae betraten, stoßen wir in versärer Form auf die Problematik des Nationalen. Spätestens seit 1945 müssen wir die nationalen Varianten der deutsen, österreiisen und sweizerisen Literatur in deutser Sprae unterseiden. Und versuen wir, eine deutse Nationalliteratur festzulegen, stoßen wir auf eine ganze Reihe von ideologisen und bis heute nit gänzli überwundenen Konflikten. So war Hofmannsthal eine der streitbaren Stimmen, die am Beginn des Bürgerkriegs der zwanziger Jahre ihre eigene, auf Ausgrenzung abzielende Vision deutser Literatur und Kultur zu fördern versuten. Obwohl er si für die Überwindung des modernen Gis des Nationalismus einsetzte, der das gemeinsame europäise Erbe eines universalen Christentums zerstört und in seinem Verlauf au das übernationale Habsburger Rei aufgelöste hae, lässt si seine antinationalistise Haltung kaum von jenem provinziellen österreiisen Nationalismus unterseiden, der als Alternative zum protestantisen Geist von Weimar betratet wurde und dur den Salz15
burg zum wahren Herzen eines ‘deutsen Zentraleuropas’ avancierte. Zwisen 1933 und 1945 hörten in deutser Sprae sreibende oder ins Deutse übersetzte jüdise Sristeller auf, ein Teil der deutsen Nationalliteratur zu sein. Gleies galt für lebende oder bereits verstorbene Kommunisten, Sozialisten und ‘dekadente’ Sristeller. Na 1945 rekonstruierten Ost- und Westdeutsland jeweils ihre eigenen Nationalliteraturen mit ihren eigenen Indexen von verbotenen Büern, während der sweizerdeutsen und österreiisen Literatur gleizeitig ein separater nationaler Status zuerkannt wurde. Die Wiedervereinigung Deutslands brate ein kurzes Wiederaufleben des Traums von einer wahrhaig nationalen, die gespaltene Nation kulturell vereinigenden Literatur. Es war die letzte kulturelle Projektion des Nationalen mit Sit auf eine Öffentlikeit, die selbst son nit mehr daran interessiert war, Fragen der Identität aussließli oder au nur vorrangig in nationalen Begriffen zu verhandeln; eine lesende Öffentlikeit, die das Nationale ohne Bedenken zu Gunsten der Weltliteratur ignorierte. Vom Standpunkt des modernen Lesers aus betratet, sließt Literatur in Deuts ihre deutsen, österreiisen und sweizerdeutsen Varianten ebenso ein wie fremdspraige Literatur, die ins Deutse übersetzt wurde. Als Beispiele für transnationale Literatur in Deuts, Englis und Französis usw. können wir Carlos Ruiz Zafons The Shadow of the Wind (2002) und Yann Matels Life of Pi, den Gewinner des britisen Man Booker Prize von 2002, anführen: Beide werden treffend als ‘the number one international bestseller’ präsentiert. Die Romane von Zafon, der 1964 in Barcelona geboren wurde, sind, so wird der Leser auf dem Klappentext informiert, in mehr als 30 Spraen übersetzt und in einer Auflage von mehr als 7 Millionen Exemplaren in mehr als 40 Ländern veröffentlit worden. Die englise Ausgabe von The Shadow of the Wind enthält weitere Lektürevorsläge, die von Margaret Atwood und A.S Bya bis Umberto Eco, Arturo Perez-Reverte und Manuel Rivas reien und auf die literarise Zuordnung des Romans zur Gothic novel/thriller/romance sließen lassen. Yann Martel, so erfährt der Leser, ist in Spanien geboren, lebt zurzeit aber in Montreal. In den Vorbemerkungen des Autors skizziert Martel die Entstehung von Life of Pi (dt. Siru mit Tiger), die ins Jahr 1939, und zwar na Portugal zurüreit. Der Sristeller entseidet si na Bombay zu fliegen, denn „a novel set in Portugal in 1939 may have very lile to do with Portugal in 1939“.6 Hier wird Portugal in eine Fiktion 6
16
Yann Martel: Life of Pi. Edinburgh: Canongate 2008 (2002), S. IX.
verwandelt; ein Prozess, der die Verbindung zwisen dem realen Ort und der literarisen Fiktion zeitweilig auebt, ja regelret durtrennt. Der Roman bleibt jedo unvollendet. Die Zeugnisse des geseiterten literarisen Projekts werden, versehen mit einem erfundenen Absender in Bolivien, an eine ebenfalls erfundene Adresse in Sibirien gesit. Unverzagt reist unser Autor in die Hafenstadt Pondierry, die bis 1954 die Hauptstadt von Französis-Indien war. Dort hört er eine Gesite, die ihn dazu veranlasst, na Toronto zurü zu fliegen und eine indise Einwandererfamilie aufzusuen, deren Verbleib er in den neun Telefonbuspalten zum Namen Patel ausfindig mat. Hinzuzufügen bleibt, dass das Vorwort nit weniger fantastis ist als das von Cervantes zu Don Quixote. Beide Autoren entseiden si dafür, den Ursprung ihres Fabulierens auf komplexe Übertragungsprozesse zurüzuführen. Beide postulieren eine hybride, geradezu bastardisierte Herkun des literarisen Werks als einem Werk der Übersetzung, basierend auf der befreienden Übersreitung des Lokalen. Literaturgesiten sind nie wirkli über jenes Zeitalter des Nationalismus hinausgegangen, dem sie ihre Existenz verdankten und dessen kulturelles Erseinungsbild wiederum dur sie beeinflusst wurde. An ihrer Wiege steht, Segen und Flu gleiermaßen, ein ihnen zugesriebenes Objekt und eine selektive Vorstellung, in der narrative Teleologie und zentralisierende Perspektive ein Bündnis eingehen. Die Institutionalisierung des Literaturstudiums in Form von separaten Abteilungen ist daher zwangsläufig blind, denn wie ließe si ohne diese Blindheit ein nationaler Korpus von Werken in engliser Sprae im Vereinigten Königrei, in französiser Sprae in Frankrei usw. festlegen? Nationalliteratur steht und fällt mit ihren aussließenden Grenzen, eben so wie koloniale Literatur ein imperiales Zentrum voraussetzt. Und genau so wie eine koloniale Literatur aussließli dur die Dekonstruktion der Asymmetrie von Zentrum und Peripherie post-kolonial wird und eine nationale Literatur aussließli dur eine Dekonstruktion ihrer Grundannahmen transnational wird, so wird eine post-nationale Literatur transnational nur dur die Dekonstruktion der linguistisen Asymmetrie von Original und Kopie. Erst eine sole Dekonstruktion ermöglit uns, zu einem Begriff von Literatur zu gelangen, der nit auf nationaler Exklusion sondern auf transnationaler Inklusion basiert; ein Begriff von derselben globalen Reiweite wie Malerei und Musik. Abteilungen der darstellenden Künste oder Musik sind so weit verbreitet wie Abteilungen für Literaturwissensa selten sind. Die Gründe für die Ablehnung 17
liegen auf der Hand. Selbst wenn wir das nationale raison d’être der Abteilungen für Literaturwissensa aufgeben, können wir nit einfa die Prämisse der linguistisen Originalität über Bord werfen, die von Kultur- und Kommunikationswissensaen zwar ignoriert, aber selten in Frage gestellt wird. Es gibt keine der Literatur gemäße Sprae, es sei denn in Form leerer allgemeingültiger Signifikanten. Was also könnte Goethe gemeint haben, als er die Idee einer (kommenden) Weltliteratur aus der Taufe hob, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als die moderne Vorstellung von Nationalliteraturen si etablierte? Die Beziehung zwisen Nationalliteratur und Weltliteratur steht deutli im Vordergrund von Goethes Antizipation einer allgemeinen Weltliteratur, wie er sie 1827 gelegentli der französisen Reaktionen auf den kurz vorher ersienenen Torquato Tasso mit den Worten zum Ausdru brate: „(…) will i do von meiner Seite meine Freunde darauf aufmerksam maen, dass i überzeugt sey, es bilde si eine allgemeine Weltliteratur, worin uns Deutsen eine ehrenvolle Rolle vorbehalten ist“.7 Goethe versit, duraus angemessen, ein Exemplar der Zeitsri Über Kunst und Altertum, in der seine Gedanken zur Weltliteratur ersienen waren, an seinen englisen Übersetzer Thomas Carlyle (Wilhelm Meisters Lehrjahre war 1824 in engliser Übersetzung ersienen). In seinem Brief an Carlyle vergleit Goethe versiedene Formen kultureller Übersetzung mit dem Umtaus von Währungen. Die Aufgabe des Übersetzers ist es dana, als Miler dieses allgemeinen intellektuellen Handels aufzutreten und dabei, dur fortsreitenden weselseitigen Austaus, das gegenseitige Verständnis zu verbessern. Der Übersetzer als Mediator spielt daher eine unentbehrlie, wenn au zumeist unsitbare Rolle bei der Entstehung von Weltliteratur. Seine Unsitbarkeit entsprit dem wunden Punkt der Literaturwissensa. Der Literatur in übersetzter Form wird im nationalen Paradigma, und das wiederum heißt an nahezu allen Universitäten, das Bürgerret verweigert. Als Ausnahme wären hier ledigli die sog. Great Book-Kurse für Baelor Studenten an einigen amerikanisen Universitäten zu nennen, die wiederum von den Masterstudiengängen in Vergleiender Literaturwissensa zu unterseiden sind.8
7 8
18
Johann W. Goethe: Über Kunst und Altertum, Band 6, 1, Stugart 1827. In: Sämtlie Werke. I. Abteilung, Bd. 22. Frankfurt: Deutser Klassiker Verlag 1999, S. 356. I sließe bei der Betratung die in jüngster Zeit entstandenen Übersetzungsstudiengänge in den Abteilungen für Literaturwissensa aus.
Zum Begriff von Nationalliteratur gelangen wir demna dur ein Ausslussverfahren, das si als eine hartnäige, ererbte Abgrenzung des Nationalen von der World Republic of Leers bestimmen lässt. Im Gegenzug gelangen wir au zu einer Definition von Weltliteratur in aussließender Art und Weise: Weltliteratur ist keine Sammlung von Werken, die imaginäre Summe aller Nationalliteraturen, die vergleibar wäre mit Malraux’ imaginärem Museum der Weltkunst. Vielmehr lässt si Weltliteratur, indem Übersetzung den Weg frei mat zu ‘Büern ohne Grenzen’, eher als Funktion denn als Substanz definieren (in Anlehnung an Ernst Cassirers epistemologise Unterseidung). Das bedeutet, dass Weltliteratur eine Funktion von Beziehungen ist; sie ist gewissermaßen die Relationalität, die Übersetzbarkeit, die im Akt der Translation verankert ist. Aber bevor wir uns der Vielsitigkeit der Translation widmen, von der die interlinguale Übersetzung ja nur ein Teil ist, sollten wir uns David Damross Definition von Weltliteratur ansehen. In der Einleitung zu What is World Literature? sreibt er, dass si der Begriff Weltliteratur beziehen lässt auf „all literary works that circulate beyond their culture of origin, either in translations or in their original language“. Als Begriff bedeutet Weltliteratur daher „not an infinite, ungraspable canon of works but rather a mode of circulation and of reading, a mode that is applicable to individual works as to bodies of material“.9 In seiner Slussfolgerung slägt Damros drei Kriterien vor: 1) Weltliteratur ist eine elliptise Breung von Nationalliteraturen; 2) Weltliteratur ist Sreiben, das dur Übersetzung gewinnt; 3) Weltliteratur ist kein Kanon, sondern eine Lesart, eine Form von unvoreingenommener Verabredung mit Welten, die über unsere eigene Zeit und unseren eigenen Standort hinaus gehen.10 Der elliptise Raum, von dem er sprit, entsteht dur die doppelte Fokussierung von Ursprungskultur und aufnehmender Kultur; eine weitaus treffendere Bestimmung als die frühere Bezugnahme auf ‘Nationalliteraturen’. Der Akt der Übersetzung, der den elliptisen Raum sa , umfasst, wie Damros in seiner Einleitung darlegt, alle literarisen Werke, die jenseits ihre Ursprungskultur, sei es in Übersetzung oder im Original, zirkulieren. Sein zweiter Punkt ist der entscheidende: „Literary language is thus language that either gains or loses in translation, in contrast to non-literary language, which typically does neither.“ Im Kontext von 9 10
David Damros: What is World Literature? Princeton: Princeton University Press 2003, S. 4–5. Damros, World Literature, S. 281.
19
Nationalliteraturen erseint Übersetzung daher bezeinenderweise als Verlust, wohingegen sie im Kontext von Weltliteratur als Gewinn in dem Sinne erseint, dass Übersetzung den Texten überhaupt erst ermöglit, über ihre Ursprungskultur hinauszugehen.11 Die ‘translatorise’ Lesart ersa damit die ‘great conversation of world literature’ in den Köpfen der Autoren und Leser; eine Lesart, die als unvoreingenommene Verabredung besrieben wurde. Wenn wir Weltliteratur als eine Funktion von Translation verstehen, so können wir uns, wie Damros zu Ret insistiert, nit auf Sleiermaers oder Gadamers ‘Horizontversmelzung’ berufen. Der ‘translationale’ Modus beinhaltet eher eine weselseitige Entfremdung von Horizonten oder au die der weselseitigen Übersetzung eigene, bereiernde Spannung zwisen dem Fernen und dem Nahen. Weltliteratur lässt si als Kehrwert von Übersetzung/Übersetzbarkeit begreifen. Wollen wir eine zirkuläre Definition vermeiden, so ist es der Begriff der Übersetzung, der eine Definition oder, besser gesagt, eine Entfaltung verlangt, haben wir es hier do mit einem Begriff zu tun, dessen semantise Komplexität über seine Theoretisierung hinausgeht. Die folgende, keineswegs vollständige Liste von Bedeutungen vermielt einen Eindru von der Polysemie des englisen Wortes translate, das um die Grundbedeutung von „removing to another place“ konstruiert ist: „to remove to heaven; to enrapture; to render into another language; to express in another artistic medium; to interpret; to transfer from one office to another (bishop); to transform; to renovate; to make new from old“ (Chambers Dictionary). Übersetzung ist der Akt, der einerseits der Paraphrase und der Parodie und andererseits der Konversion, Metamorphose, Transfiguration und Transsubstantiation eigen ist. Mit Umformulierung, Interpretation und Umgestaltung umfasst er die drei Dimensionen der interlingualen Übersetzung, die sowohl ein kulturelles wie au ein linguistises Phänomen ist. Mary Snell-Hornby versteht unter interlingualer Übersetzung eine Interaktion zwisen zwei Kulturen.12 Nit zufällig ist Translation der wunde Punkt der Nationalliteratur: Sie steht für eine andere, mit allen essentialistisen Konstruktionen der Nation unvereinbare Vorstellung von Identität. Ohne Geburtsret und Authentizität hae Literatur in übersetzter Form den defizitären Status
11 12
20
Damros, World Literature, S. 289. Mary Snell-Hornby: Translation Studies. Towards an Integrated Approa. Amsterdam: Benjamins 1988.
der Hybridität, weler ex negativo das Selbstverständnis der Vergleienden Literaturwissensa als der ‘internationalen’ Ergänzung des ‘Nationalen’ definierte und ihr Sisal an den Niedergang und das Verswinden der Nationalisierung der Literaturwissensa band. I betone diese Ausgrenzung von Übersetzung – gegen jede historise Realität – um auf die fatale Gleisetzung von nationaler und nationalisierter Literatur aufmerksam zu maen. Die Grundbedingung für das Nationale ist das Transnationale: Das Nationale entsteht aus der Dialektik von Eigenem und Fremdem, angefangen mit der Übersetzung und Übertragung der heiligen Quellen kultureller Werte. Gerade weil die Grundbedingung des Nationalen das Transnationale ist (und kein ursprünglier, natürlier Korpus von einheimisen Texten, wie es der organise Kulturbegriff der Historisten nahelegt) können wir sagen, dass die Perspektivversiebung zugunsten der Weltliteratur alles und nits ändert, und zwar aufgrund der Tatsae, dass es si hier nit um die Bestimmung eines anderen Kanons oder Korpus von Texten handelt, sondern um einen anderen Lesemodus, der si mit Damros auf alle literarisen Werke anwenden lässt, die jenseits ihrer Ursprungskultur, sei es in Übersetzung oder im Original, zirkulieren. In diesem Sinne ist alles Sreiben und Lesen komparativ, ebenso wie alle Kulturen und Zivilisationen vom fortlaufenden Prozess der Übertragung und Übersetzung leben. Eine besonders witige und anerkannte Rolle spielt die Übersreitung des Lokalen mittels Übersetzung dabei für die sog. kleinen Literaturen, die nur wenige Leser haben, oder für Autoren, die aufgrund von Zensur von ihrer Lesersa abgesnien sind. Alles und nits ändert si im Lite von Weltliteratur, wie si treffend an der Koexistenz von Hauptstadt und Metropole illustrieren lässt. Die eine übernimmt die Rolle des politisen und kulturellen Zentrums eines größeren Territoriums und agiert als Regulator der sozialen Hierarie und als Hüter des gemeinsamen Erbes einer territorial definierten Bevölkerung. Als Metropole fungiert die Hauptstadt weder als Zentrum der Mat no als Ursprung von Identität, sondern als Ort multipler Netzwerke des Austauss und der Heterogenität: ein Ort, an dem Migranten ihre ‘natürlie’ Bestimmung finden.13 Der Migrant, Subjekt und Objekt der Übersetzung par excellence, findet seinen Platz an der Naht- und Übergangsstelle von Identität und Differenz, von Hauptstadt und Metropole. Als Zentrum einer Nationalliteratur assimiliert die Haupt13
Ann Querrien: The Metropolis and the Capitol (1986), zitiert na: Prendergast, Debating World literature, S. 20.
21
stadt kulturelle Interaktionen im Sinne des Zentrum-Peripherie-Modells. Als Ort der Weltliteratur ersetzt die Metropole die zentrale Perspektive der Hauptstadt dur Polyzentrismus, klar erkennbar an den existierenden Netzwerken der Distribution. Diese Koexistenz von Hauptstadt und Metropole ist nit neu. Tatsäli ist sie so alt wie Babel, hat jedo als Spiegelbild der o explosiven Kämpfe um nationale Identität unter dem Dru einer si besleunigenden Globalisierung eine stärkere Bedeutung erlangt. Diesen Kampf um Identität als Zusammenprall von Kulturen zu interpretieren, wie es Samuel Huntington tut, ist eine gefährli essentialisierende Fehlübersetzung der Kulturen und Zivilisationen inhärenten Identitätskonflikte.14 Babel sollte nit als Parabel einer verlorenen Originalsprae dienen, der Fata Morgana der Spratheorie bis Walter Benjamin, sondern als Menetekel aller anmaßenden Begriffe und Konzepte von Identität wie au ihrer melanolisen Umkehrung: den Dekadenztheorien von Kultur, in denen si das Ende der Vollkommenheit in der tiefen Klu zwisen einer verlorenen Originalsprae der Präsenz und ihrer auf immer und ewig unvollkommenen und fernen Übersetzungen manifestiert. (Dieser Glaube an die Mat des Originals, nit verloren gegangen, sondern verraten, lebt heute in den modernen religiösen Fundamentalismen weiter.) Das Phantasma der Einheit und Homogenität überlebt in der normativen Unterseidung zwisen Original und Kopie sowie der hegemonialen Unterseidung zwisen Zentrum und Peripherie. Pluralismus ist nur in der asymmetrisen Form der Ableitung von einem determinierenden Ursprung erlaubt, das heißt entwilungsgesitli als eine Form von Abstammung, wele weselseitige Bezugnahme als definierendes Moment von Übersetzung leugnet. Daher erklärt si au die Tautologie der Definition von Nation im Rügriff auf das Original, die, wie Derrida herausgestellt hat, „a recourse, a re-source, a circular return to the source“ mit si bringt und stillsweigend die unentbehrlie Ergänzung der Translation als Miel zur Saffung von Nationalspraen und -kulturen aussließt.15 Mehr no, akzeptiert man mit Derrida die unausweilie, weil allen Akten der Translation inhärente Unsärfe, so werden alle asymmetrisen Konstruktionen der Vorrangstellung des Zentrums oder 14 15
22
Siehe hierzu au David Roberts: From Modernization to multiple Modernities. Rethinking the Clash of Civilizations. In: Klaus Serpe, Thomas Weitlin (Hgg.): Eskalationen. Die Gewalt von Kultur, Ret und Politik. Tübingen: Frane 2003. Jacques Derrida: Onto-theology of National Humanism. In: Oxford Literary Studies 14:1–2/1992, S. 3–23.
des Ursprungs in Frage gestellt. In diesem Sinne slägt Eduard Glissant eine poetique de la relation vor, die das Zentrum-Peripherie-Modell dur die Geopoetik eines Weltsystems ersetzt, das aus multiplen, ineinander greifenden Welten linguistiser Besonderheiten besteht.16 Trotz all ihres Eintretens für Weltliteratur verstehen weder Casanova no Morei wirkli, dass Übersetzung alle unilateralen Deutungen globaler Modernisierung dekonstruiert. Zwar setzen sie, indem sie die Blindheit des Nationalen dem Transnationalen gegenüber umkehren, dazu an, die verlorene transnationale Dimension von Literatur zu entdeen, do maen sie nit den entseidenden Sri. Casanovas Extrapolation von Bourdieus literarisem Feld zur World Republic of Leers steht no immer im Spannungsverhältnis der ungleien Kräen von Zentrum und Peripherie. Zumindest bis in die 1960er Jahre fungiert Paris als Hauptstadt der World Republic of Leers und somit als Ursprung der Akkumulation literarisen Kapitals. Mit Casanovas Verständnis der einen literarisen Hauptstadt verknüp si unweigerli die unhinterfragte Annahme des Zeitgemäßen als ritungweisendes Moment dessen, was das literarise Paris als Avantgarde deklariert. Diese Reduktion des Transnationalen auf einen Frankozentrismus (der zudem no die Reduktion des Nationalen auf die Hauptstadt einsließt) ist völlig unzureiend, will man zu einem adäquaten Modell von Zeit und Raum der Weltliteratur gelangen, das si als Produkt des Austauss von Übersetzungen über spralie, kulturelle, nationale und politise Grenzen hinweg verstehen lässt. Au Franco Moreis Conjectures of World Literature basieren auf der Annahme asymmetriser Matverhältnisse und sind daher unzureiend. Morei bezieht si dabei nit auf Bourdieus Modell der Felder, sondern auf Immanuel Wallensteins Weltsystemtheorie, indem er sein Gesetz literariser Evolution von der Annahme eines zuglei einzigen und ungleien WeltSystems herleitet. Bezieht man das Gesetz mit Morei auf den Roman in Randkulturen innerhalb und außerhalb Europas, so erseint die Gaung (vermutli gelesen als Index kultureller Modernisierung) als Stäe der Begegnung von formalen Einflüssen aus dem Westen und lokalen Inhalten. Morei leitet daraus die Slussfolgerung ab, dass das Studium von Weltliteratur unweigerli au das Studium der weltweiten Kämpfe um die symbolise Vorherrsa umfasst.17 Weltliteratur vorrangig unter
16 17
Edouard Glissant: Poetique de la relation. Paris: Gallimard 1990. Franco Morei: Conjectures on World Literature. In: Prendergast, Debating World Literature, S. 148–162.
23
dem Aspekt von Matverhältnissen zu betraten ist mehr als fragwürdig. Eine sole Perspektive beruht auf jener einseitigen Auslegung der Kultur- und Handelsbeziehungen, wie sie die Weltgesite der vergangenen zwei Jahrhunderte bestimmte. William McNeills Bu mit dem irreführenden Titel Rise of the West (gedat als Entgegnung auf Spenglers Der Untergang des Abendlandes) veransaulit überzeugend die Existenz einer Weltzivilisation, die si, gefestigt dur den fortlaufenden Austaus von Objekten, Tenologien und Ideen dur ganz Eurasien, und zwar bis zum Beginn gesitlier Aufzeinungen, zurüverfolgen lässt.18 Daneben empfehle i Christopher Baylys Darstellung der Weltgesite seit dem 18. Jahrhundert als exzellentes Heilmiel gegen die Kurzsitigkeit des Eurozentrismus.19 Shmuel Eisenstadt hat eine überzeugende, von der Entstehung multipler Modernen ausgehende Darstellung der Modernisierung entwielt, na der si diese von ihrem anfängli nordeuropäisen Kern aus na Zentraleuropa, Nordamerika, Russland, Südamerika und darüber hinaus ausbreitete. An die Stelle von Casanovas oder Moreis hegemonialer Perspektive rüt bei Eisenstadt der endemise und irreduzible Konflikt zwisen totalisierenden und pluralisierenden Visionen der Welt. Er ist na Eisenstadt die treibende Kra der Modernisierung und der Slüssel sowohl zur europäisen Identität als au zu den multiplen Modernen der Weltgesellsaen.20 Daraus folgt nit, dass mit der Globalisierung au die globale Vielfalt verswindet. Im Gegenteil, vormoderne Kulturen, seien sie populär oder elitär, existieren weiterhin dur öffentlie Unterstützung, dur staatlie Subventionierung von ‘ethnisen’ oder ‘nationalen’ kulturellen Identitäten oder gar dur Tourismus. Nit nur, dass die Vormoderne neben der Moderne existieren kann und dies au tut, die multiplen modernen Kulturen der globalisierten Welt behalten ihre unverkennbaren Eigenarten in einem si ständig versiebendem Gleigewit zwisen dem Eigenen und dem Fremden. Vor einer Gleisetzung kultureller Modernisierung mit Verwestliung oder Amerikanisierung sollte man si daher hüten. Umgekehrt sollte man den Sutz des Angestammten nit
18 19 20
24
William McNeill: The Rise of the West (1963). Chicago: University of Chicago Press 1991. Christopher A. Bayly: The Birth of the Modern World 1780–1914. Global Connections and Interactions. Oxford: Blawell 2004. S. N. Eisenstadt: Comparative Civilizations and Multiple Modernities. Leiden: Brill 2003.
verweseln mit modernen nationalen, rassisen oder religiösen Fundamentalismen. Anti-Modernismus ist eine eminent moderne Haltung. Gegen Fundamentalismen jeder Art gilt es die zentrale Rolle zu betonen, die Translation, verstanden als kulturelles Phänomen, für die weselseitige Verfletung des Globalen und Lokalen dur die Gesite hindur spielt; eine Verfletung, die si in den vergangenen Jahrhunderten besleunigt und in unserer Gegenwart, nit zuletzt dank der Revolution im Berei der Kommunikation, eine neue Dimension angenommen hat. Roland Robertsons Überbli über die sukzessiven Phasen der Globalisierung seit dem 15. Jahrhundert hil, diese neue Dimension zu verstehen. Er unterseidet zwisen einer sog. Germinal-Phase (1400–1750), einer Anfangsphase (1750–1870), einer snellen Wastumsphase (1870–1920er) und einer Phase hegemonialen Kampfes (1920er– 1960er), die sließli der gegenwärtigen Phase der Unsierheit wi. Die drie und vierte Phase von 1870 bis in die 1960er Jahre waren dur Webewerb und Kriege zwisen konkurrierenden nationalen Imperialismen geprägt, die ein no stärkeres Bewusstsein der Welt als räumlier und zeitlier Einheit hervorbrate und zu jener derzeit weltweit zu beobatenden Problematisierung kultureller und zivilisatoriser Identitäten führte, in deren Verlauf wiederum die ‘localisation of globalisation’ alle Unterseidungen zwisen dem Lokalen und dem Globalen zunehmend komplexer und problematiser erseinen lässt.21 Vytaulus Kavolis besreibt die Konsequenzen dieser anhaltenden Prozesse der Selbst-Rekonstruktionen von Identität wie folgt: (…) boundaries are blurred, contents interpenetrate, even central meanings become subject to contestations both within and outside of particular civilizational-traditionsin-transformation, alien genres suggest themselves for uncovering native experiences. Bicivilizational, multiethnic identities or identity diffractions arise, either functioning imaginatively as workshops in critical translation or dissolving into the waste products of “cosmopolitan” consumerism.22
„Workshops in critical translation“ – kann es eine bessere Besreibung geben für den Beitrag, den Weltliteratur zum Verständnis der Globalisierung leisten kann? Meine Intention war es, dur die Fragestellung ‘Literatur und Globalisierung’ den Weg für ein Überdenken unserer Disziplin von einem 21 22
Roland Robertson: Mapping the Global Condition: Globalization as a Central Concept. In: Theory, Culture and Society 7: 2–3/1990, S. 15–30. Zitiert na: Frederi Buell: National Culture and the New Global System. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1994, S. 295.
25
Standpunkt außerhalb der Nationalphilologien frei zu maen, d.h. von einem ent-territorialisierten Standpunkt aus, dur den Werke qua Kanonisierung dur Netzwerke von Relationen ersetzt werden. Was also ändert si, wenn wir eine globale Perspektive annehmen? Nits, in dem Sinne, dass eine Transnationalisierung von Nationalkulturen dieselben Texte ansprit – nun aber unter dem Aspekt von Weltliteratur. In Damroschs Worten: „One of the most exciting features of contemporary literary studies is the fact that all periods as well as all places are up for fresh examination and open to new configurations.“ Umgekehrt müssen wir uns fragen, in welem Umfang uns die Nationalisierung von Literaturwissensa die Sit auf die Tatsae verstellt hat, dass Literatur immer Weltliteratur gewesen ist. Die hier vorgeslagene Bestimmung von Literatur als workshop of / for critical translation zwisen Lokalem und Globalem geht davon aus, dass si in unserem globalen Zeitalter der Ungewissheit alles verändert hat. Dafür sprit nit zuletzt, dass die University of Culture, die si der Kultivierung des nationalen Erbes versrieben hae, dur die University of Excellence ersetzt wurde, in der die gesamte Frage von Relationalität in globales Benmarking ‘übersetzt’ und der Zwe von Lehre und Forsung, ungeatet von Inhalten, in Bezug auf Exzellenz neu definiert wurde. Wir können hier einen Traditionsbru beobaten, wie er au dem Aufweien disziplinärer Grenzziehungen in den Geistes- und Sozialwissensaen zugrunde liegt. So bedauert etwa Robertson die Selbstbesränkung, die si die Soziologie seit den 1920er Jahren auferlegt, indem sie der Annahme kulturell zusammenhängender und national umgrenzter Gesellsaen folgt. Mit dem Aufweien disziplinärer Grenzen verbindet si aber au die Möglikeit einer bislang nur in Ansätzen erkennbaren Interdisziplinarität in Lehre und Forsung. Sie könnte die Abgeslossenheit der universitären Abteilungen tatsäli überwinden. Dabei definiere i Interdisziplinarität mit Svend Larsen als Einbeziehung von solen Stoffen und Themen, die für eine einzelne wissensalie Disziplin zu umfangrei und für mehrere Disziplinen von Interesse sind. Derartige interdisziplinäre Projekte erfordern ein grundsätzlies Überdenken disziplinärer Perspektiven: Die Einsit, dass keine Disziplin eine Insel für si ist, zwingt zum Lesen außerhalb der eigenen Disziplin und verlangt von allen Teilnehmern, die weselseitigen Verpflitungen anzuerkennen. Kurz, interdisziplinäre Projekte verlangen sowohl in Lehre als au in Forsung ein fortlaufendes Infragestellen und Überdenken der disziplinären Grenzen, was sie selbst wiederum zu eigenständigen Workshops in kritiser Übersetzung werden lässt. 26
Lassen Sie mi am Ende eine weitreiende Folge der kritisen Selbstreflexion unserer Disziplin aufzeigen – nit als Slussfolgerung, sondern als offene Frage: Wäre die Auflösung der Nationalphilologien nit die logise Konsequenz der Frage na dem Verhältnis von Literatur und Globalisierung? Ist es nit vielleit an der Zeit, die überkommenen Positionen zu verlassen? Brauen wir wirkli no mehr Interpretationen des literarisen Kanons innerhalb des engen Horizonts unserer Spezialisierungen? Ist es nit an der Zeit, das Studium der Literatur wieder in das größere Projekt der Weltliteratur einzubinden – als unser Beitrag zum interdisziplinären Studium von Gesellsaen und Kulturen?
Aus dem Englisen von Annee Stemmeri und Christine Magerski
27
Europäise Bildung und Mehrspraigkeit: Grundprobleme auf dem Weg zu einem europäisen Bildungsraum Siegfried Gehrmann (Zagreb)
1. Problemaufriss: Bologna-Prozess und Bildungskonzepte Es gehört zu den Grundlinien der Kommunikation des Bologna-Prozesses, diesen mit Verweis auf globale Herausforderungen, dem fortsreitenden EU-Integrationsprozess und dem zunehmenden internationalen Webewerbsdru im Hosulberei zu begründen. In der Logik dieser Argumentation ist die Saffung eines einheitlien europäisen Hosulraums eine politise und ökonomise Notwendigkeit, um die Konkurrenz- und Innovationsfähigkeit der europäisen ‘Wissensgesellsaen’ langfristig zu siern und um, wie es der Generalsekretär des DAAD formuliert, im „weltweiten Webewerb um kluge Köpfe“ bestehen zu können.1 Die Maßnahmen, mit denen diese Ziele erreit werden sollen, sind bekannt und gegenwärtig universitärer Alltag. Hierzu gehören im Berei von Forsung und Lehre unter anderem: •
• • • •
1
die Einführung modularisierter und gestuer Studiengänge in Form von Baelor- und Masterabslüssen als gemeinsamer Referenzrahmen in Europa, die Einführung einer Arbeits- oder ‘Workload’-Struktur für die Berenung von Leistungspunkten im Studium, die Intensivierung der Mobilität der Studierenden dur europaweit kompatible Abslüsse, die Vermilung von arbeitsmarktrelevanten Qualifikationen innerhalb des zweistufigen Studiensystems sowie Maßnahmen zur Qualitätssierung von Forsung und Lehre über sogenannte weie Steuerungsinstrumente wie Evaluation, Akkreditierung, Zertifizierung, Benmarking und Rankinglisten.
Christian Bode: Die „Bologna-Agenda 2010“ – noch ein (hochschul-)politischer Paradigmenwechsel. In: DUZ Special v. 4.7.2003. Beilage zur DUZ – das unabhängige Hochschulmagazin. Von Bologna nach Berlin. Eine Vision gewinnt Kontur, S. 26–27.
29
Ein Bli auf vergleiende Studien über die Durführung des Bologna-Prozesses in versiedenen europäisen Ländern zeigt, dass die Realisierung der Maßnahmen des Bologna-Prozesses no von erheblien Differenzen und Ungleiheiten in Europa gekennzeinet ist und dass in vielerlei Hinsit no unklar ist, worauf der Bologna-Prozess im Einzelnen hinauslaufen wird.2 1. So existieren in Europa bezogen auf die Dauer der zweistufigen Studienstruktur sowohl Modelle na dem Muster 3+2, 3+1+1 als au 4+1 oder 0+5, wobei je na Land einige Fäer wie Medizin oder Jura aus der gestuen Struktur ganz herausgenommen sind. 2. Die Workload-Struktur von Studiengängen, d.h. die Umrenung von Studienanforderungen in Zeitkontingente und Leistungspunkte oder Credits, kann dazu führen und führt au son dazu, dass die Wissensalikeit des Studiums tendenziell in Frage gestellt wird, und zwar sowohl von Seiten der Lehrenden wie von Seiten der Studierenden. Es ist nur swer vorstellbar, dass eine Lehrveranstaltung mit 3 Credits, also maximal 90 zu veranslagenden Arbeitsstunden – einsließli Kontaktzeit in Lehrveranstaltungen, Vor- und Nabereitung, Hausarbeit und/oder Prüfung – genügend Zeit lässt, literarise Großwerke oder komplexe wissensalie Aufsätze und Monographien durzuarbeiten, zu exzerpieren und si eine eigene theoretis begründete Meinung zu bilden. Eine sole Orientierung des Studiums na festgelegten Taktzeiten provoziert vielmehr von Seiten der Studierenden ein Lernen na dem Paradigma der Sule, indem Seitenzahlen in der Literaturliste mit den veranslagten Credits und Arbeitsstunden verglien und Lernen im Rahmen dieses Semas besränkt wird; es provoziert von Seiten der Lehrenden, dass die Workload-Struktur nit Ernst genommen wird und etwa die Leselisten mit fakultativer Literatur angereiert werden, die dann aber do prüfungsrelevant ist. Wer Wissensalikeit und forsendes Lernen im Studium erhalten will, müsste entweder diese enge Kontigentierung von Arbeitszeiten ändern oder die Curricula diesen neuen Gegebenheiten entspreend anpassen, einsließli einer organisatorisen und inhaltlien Abstimmung von Mehrfastudiengängen. 3. Die im Rahmen des Bologna-Prozesses geforderte Mobilität der Studierenden erseint unter den Bedingungen eines dreijährigen Ba2
30
Beina Alesi et al.: Stand der Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen im Bologna-Prozess in ausgewählten Ländern Europas im Vergleich zu Deutschland. Endbericht. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2005: hp://www.bmbf.de/ de/3336.php (Zugriff: 12.5.2007).
elorstudiums angesits der Stoff- und Prüfungsfülle dieser Phase nur swer realisierbar. Auslandsemester müssten vielmehr in die Baelorphase curricular integriert oder ein Auslandsstudium nit auf die Regelstudienzeit angerenet werden. Ebenso müssten Zeitkontingente und Angebote für das Erlernen von Fremdspraen als Bestandteil des grundständigen Studiums vorgesehen werden. Beides gesieht zur Zeit nit oder in nit ausreiendem Ausmaß. Eine Abnahme der internationalen Mobilität der Studierenden ist deshalb zu erwarten. 4. Ein besonderes Problem für viele Studiengänge ist die geforderte Berufsqualifizierung des Baelors oder Masters. Insbesondere für geisteswissensalie Faritungen bedeutet die Einforderung von ‘employability’ oder Berufsbefähigung als Ziel des Studiums einen Paradigmenwesel, eine Veränderung der Curricula in Ritung Arbeitsmarkt, wofür die meisten Universitäten weder eingeritet no die Lehrenden hinreiend qualifiziert sind. Nit selten werden bei nur unwesentli veränderten Curricula und ohne entspreende Arbeitsmarktanalysen Berufsprofile ‘kreiert’, um den Anforderungen des Bologna-Prozesses und der Akkreditierung von Studiengängen zu genügen. Eine andere Lösung besteht darin, sogenannte ‘Slüsselkompentenzen’ im Baelor-Studium zu vermieln, von denen man annimmt, dass sie zur Grundausstaung jeglier Berufsbildung gehören. Hierzu gehören na der Londoner Bologna-Nafolgekonferenz aus dem Jahre 2007 unter anderem Sozialkompetenz, Präsentationskompetenz oder berufsunspezifise Sakompetenzen – aber au hier bleibt eher unklar, was eigentli damit gemeint ist, auf welen wissensalien Grundlagen diese Kompetenzen beruhen und wie sie mit einem forsungsorientierten universitären Lernen in den jeweiligen Diszplinen zusammenhängen. 5. Im Rahmen des Qualitätsmangements gehört die Akkreditierung von Studiengängen zu den witigsten Instrumenten der Qualitätsierung. Ist aber die Akkreditierung von Studiengängen dazu geeignet, einen einheitlien europäisen Hosulraum zu saffen? So sind auf europäiser Ebene no keineswegs eindeutige Kriterien für die Mindeststandards von Studiengängen und Studienmodulen aufgestellt worden. Ebenso unklar ist, inwieweit die Universitäten einzelnen Akkreditierungsanforderungen entspreen können, wie etwa gleiermaßen über Kenntnisse hinsitli der Entwilung des zukünigen Arbeitsmarkts und der wissensalien Grundlagen des jeweiligen Faes zu verfügen, oder aber si von anderen Studiengängen in Forsung und Lehre dur individuelle Profilbildungen zu unterseiden und gleizeitig jederzeit vergleibar zu sein. Angesits der Vielzahl von Akkredi31
tierungsagenturen und Gutaterteams und angesits der Offenheit der Kriterien sind daher in näster Zeit nit Transparenz und Vergleibarkeit, sondern eher Unübersitlikeit und Intransparenz zwisen versiedenen Studienangeboten in Europa und wohl au in den Nationalstaaten zu erwarten. Und sließli ist no keineswegs ausreiend geklärt, inwieweit bei der europaweiten Anerkennung von Studienleistungen, d.h. von Credits oder Leistungspunkten, überhaupt von vergleibaren Leistungsanforderungen gesproen werden kann. Solange nit Vereinbarungen bezügli der zu erwerbenden Kompetenzen und der inhaltlien Qualität von Lehre und Studium getroffen werden, um eventuell „substanziell nit geretfertigte Seinäquivalenzen“3 zwisen versiedenen Studiengängen abzubauen, besteht die Gefahr, dass neue Mobilitätshindernisse entstehen, da die Partnerhosulen nit ohne weiteres bereit sein werden, Credits gegenseitig anzuerkennen, wenn kein Einvernehmen über die Ebene der Credits besteht (Studienjahr, einführende oder fortgesriene Lehrveranstaltungen) oder wenn keine vergleibaren Konzepte über zu erreiende Kompetenzen und deren Messung vorhanden sind.4 Man könnte nun einwenden, dass die aufgeführten Defizite und Ungleiheiten in der Realisierung des Bologna-Prozesses typise Erseinungsformen einer no jungen Reform des Hosulwesens sind, die si mit der Zeit von selbst erledigen werden, und dass der internationale Webewerb und der europäise Einigungsprozess ein Übriges tun werden, eine Angleiung der Studienstrukturen in Europa zu erzwingen. Eine sole Sitweise wäre jedo in vielerei Hinsit unterkomplex. Zum einen würde sie verkennen, dass die mit dem Bologna-Prozess verbundenen Hosulreformen ganz grundsätzli den Bildungsaurag und das Selbstverständnis der Universität betreffen und dass auf dieser Ebene erheblie Untersiede und Konfliktpotentiale zu verzeinen sind. So gehen von der Arbeitszeitstruktur als Bewertungsgrundlage von Studienleistungen, der Modularisierung von Studiengängen, der Herstellung von Berufsbefähigung oder ‘employability’ als primäres Studienziel sowie von der webewerblien Ausritung der Universitäten auf einem internationalen Bildungsmarkt deutlie Tendenzen aus, diese im Sinne eines na marktwirtsalien Konkurrenzprinzipien organisierten Modells der Universität zu verändern. Eine Konsequenz dieser Öffnung 3 4
32
Ebd., S. 138 (Anhang: Länderstudien). Ebd., S. 138 (Anhang: Länderstudien) u. S. 32.
der Universität für die Anforderungen des Arbeitsmarktes könnte sein, dass die Universität auf allen Ebenen der Organisation von Wissensa und Forsung na marktwirtsalien Effizienzkriterien reorganisiert und zukünig dauerha webewerbli ausgeritet wird. Dem entgegen steht ein gänzli anderes Leitbild der Universität als forsende und lehrende Anstalt im Sinne Humboldts. Wissen generiert si hier nit über Anwendungszusammenhänge und Berufsbezug, sondern als Erkenntnisfortsri, der gleiermaßen staats- und wirtsasfern ist, und der in eine eigenständige universitäre Wissensform mündet. Ein soles Wissen ist in der Funktion zwefrei, der Allgemeinheit verpflitet und in der Struktur theorieförmig. Na dieser Auffassung ist es eben nit der Anspru der Universität, auf weselnde Berufserfordernisse zu reagieren, sondern je näher die Universität ihrem „wissensalien Wesen bleibt, desto ferner muss sie – zumal in einer Welt si ständig wandelnder Berufs- und Praxisprofile – der Einlösung unmielbar berufs- und praxisbezogener Ansprüe stehen“.5 Ein soler Bildungsansatz hat die Gesamtpersönlikeit des Studierenden im Bli; diese soll dur dur Wissensa gebildet und in eine wissensalie Lebensform eingeführt werden, in deren Mielpunkt die Einheit von Forsung und Lehre bzw. das forsende Lernen stehen. Beide Leitbilder sind in der gegenwärtigen Reformdebae als Hintergrund vorhanden; sie konkurrieren miteinander und generieren für si völlig untersiedlie Formen der Umsetzung des Bologna-Prozesses. Hieraus erklären si zum Teil die oben angeführten Umsetzungsprobleme und Ungleiheiten in der Reform des Hosulwesens in Europa. Beide Ansätze erseinen darüber hinaus kaum kompatibel, sodass zumindest vorübergehend duraus mit einer Zunahme von Differenzen im Zuge der Realisierung des Bologna-Prozesses zu renen ist.6 Zum anderen ist ganz grundsätzli zu vermerken, dass eine einheitlie Umsetzung des Bologna-Prozesses aufgrund der Vielzahl von Lehr- und Lerntraditionen in Europa (Funktionswissen vs. Orientierungswissen, tenisadministrative vs. geisteswissensalie Bildung, Pflitwissen/Kanon vs. Selbstverwirkliung/Selbstreflexionsprobleme der Lernenden) au 5 6
Jürgen Mielstraß: Gibt es noch eine Idee der Universität? In: Jürgen Elm (Hg): Universität zwischen Bildung und Business. Mit einem Anhang zur europäischen Bildungspolitik. Bochum: projekt verlag 2002, S. 51–68, hier S. 66. Vgl. hierzu exempl. Siegfried Gehrmann: Bologna und die Folgen. Mutmaßungen über den Europäischen Hochschulraum. In: Ulla Bracht (Hg.): Leben – Texte – Kontexte. Festschri für Dieter Keiner zum 66. Geburtstag. Frankfurt: Peter Lang 2006, S. 189–204.
33
nit zu erwarten ist. Weder erseint es wünsenwert no mabar, untersiedlie Auffassungen von Bildung und Universität, die zudem no tradionell gebunden und mit der Gesite eines Landes oder einer Region verwoben sind, aufzuheben oder zu vereinheitlien, sofern man die Vielfalt europäiser Kulturen und Bildungstraditionen ernst nimmt und diese als förderungswürdige Ressource und nit als Hindernis auf dem Weg zu einem einheitlien europäisen Hosulraum auffasst. Der Harmonisierung des europäisen Hosulraums sind deshalb duraus Grenzen gesetzt. Bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses kann es daher au nit um Vereinheitliung gehen, sondern um Aushandlungsprozesse, wie die einzelnen Nationalstaaten ihre jeweiligen Bildungstraditionen in den europäisen Hosulraum produktiv einbringen können, und unter welen Bedingungen eine Integration dieser Differenzen, bei weitest möglier Bewahrung eben dieser Untersiede, zu einem einheitlien Bildungskonzept mögli erseint. 2. Europäise Bildung und kosmopolitise Universität Damit sind wir bei einem entseidendem Punkt, der im Umfeld der Debae um den Bologna-Prozesses zwar eine eher marginale Rolle spielt, der aber nits desto weniger denno für die Saffung eines einheitlien europäisen Hosul- und Bildungsraums von zentraler Bedeutung ist: nämli bei der inhaltlien Frage einer europäisen Dimensionierung universitärer Bildung und, sofern es eine sole gibt, bei der Frage, ob diese geeignet ist, die bestehenden Differenzen in den europäisen Bildungssystemen zu überbrüen. Das Prager Kommunique der Bildungsminister aus dem Jahre 2001 vermerkt hierzu lapidar: Um die witigen europäisen Dimensionen des Hosulwesens weiter zu festigen und die Besäigungsancen für Absolventinnen und Absolventen zu erhöhen, haben die Ministerinnen und Minister dazu aufgefordert, auf allen Ebenen die Entwilung von Modulen, Kursen und Lehrplänen mit ‘europäisem’ Inhalt, ‘europäiser’ Orientierung oder Organisation aufzubauen. Dies betri insbesondere Module, Kurse und Lehrpläne für Abslüsse, die partnersali von Institutionen aus versiedenen Ländern angeboten werden und die zu einem anerkannten gemeinsamen Absluss führen. Was mit europäiser ‘Orientierung’ oder ‘Inhalt’ außerhalb von partnersalier Zusammenarbeit zwisen Institutionen aus versiedenen Ländern und sogenannten double degrees, d.h. von 34
mehreren Universitäten unterzeinete Diplome, gemeint ist, wird nit angeführt; au in den Folge-Kommuniques der Bildungsministerinnen und Bildungsminister bis hin zur Bologna-Nafolgekonferenz in London (2007) wird hierauf nit näher eingegangen. Im Folgenden soll versut werden, diesen inhaltlien Aspekt einer europäiser Bildung als Integrationsansatz in der gegenwärtigen Reformdebae zu beleuten. Au hier ist der Ausgangspunkt zunäst ein Bli auf gegenwärtig zu beobatende gesellsalie und politise Veränderungen, allerdings mit einer Perspektivversiebung auf die Bedeutung des Transnationalen. Angenommen wird, dass im Kontext des europäisen Integrationsprozesses und einer si zunehmend transnationalisierenden Wirtsa, Politik und Kultur das nationale Modell der Universität wenn nit ausgedient, so do an Bedeutung verloren hat und in einer gobalisierten Welt, in der keine Nation ihre Probleme allein lösen kann, neue transnationale Bezugspunkte von Bildung und Wissensasorganisation gefunden werden müssen. Um die nationalen Bildungssysteme globalisierungstaugli zu maen, ist es, so Ulri Be, nötig, dass si Bildung von einem methodologisen Nationalismus ablöst.7 Aufgrund seiner Fixierung auf den Nationalstaat konserviere dieser in „Zeiten des transnationalen Vermisens und Verwisens von Grenzen, der Erweiterung von Handlungsoptionen und Handlungswirklikeiten in Wirtsa und Politik (...) kurz: in der globalisierten Welt false Erkenntnis- und Bildungwege“. Be sprit in diesem Zusammenhang von „Humboldt 2“, einer kosmopolitisen Bildung, in der die „Universität als Sule der Weltbürgerlikeit neu begründet wird“.8 Auf diese Weise, so Be, könnte der webewerblie Charakter von Universität mit einer Internationalisierung von Bildung, d.h. mit einem modernisierten Ansatz der Einheit von Forsung und Lehre im Sinne Humboldts, duraus vereinbart werden. Was aber ist kosmopolitise Bildung inhaltli, oder, wie es au von anderen Autoren weniger plakativ und auf Europa begrenzt formuliert wird, eine europäise Dimensionierung von Bildung, von der Integrationsimpulse für die Entwilung eines einheitlien, aber nit vereinheitliten europäisen Hosulraums ausgehen könnten?9 7 8 9
Ulrich Beck: Vorwärts zu „Humboldt 2“. In: Die Zeit, Nr. 47, 11.11.2004; einzusehen unter: hp://www.zeit.de/2004/47/Essay_Beck_Beck (Zugriff: 12.5.2007). Ebd., S. 2. Vgl. hierzu exempl. Robert Helage: Auf dem Weg zum europäischen Bildungskapital? Ein Ausblick. In: ders. (Hg.): Bildung in Europa: Bildung für Europa? Die europäische Dimension in Schule und Beruf. Regensburg: Universitätsverlag 1994, S. 235–253.
35
Zunäst einmal kann man sagen, dass es angesits der Heterogenität Europas und der inneren gesellsalien Pluralisierung der Nationalstaaten in Europoa nit mehr mögli ist, von einer europäisen Kultur und einer europäisen Bildung auszugehen. Vielmehr wird man konzedieren müssen, dass es eine Vielzahl europäiser Kulturen und damit au eine Vielzahl untersiedlier Bildungsorientierungen in Europa gibt, die gleiberetigt nebeneinander stehen. Der Bezug auf eine ristli-abendländise Kultur oder auf das Erbe der Antike und der Au lärung als Identifizierungsansatz einer gemeinsasfähigen europäisen Dimension von Bildung, wie von einigen Autoren gefordert, führt deshalb in die Irre.10 Ein soles Konzept ist mit dem Ende des klassisen Gymnasiums und dem Untergang der bürgerlien Klasse als tragender Sit eines klassisen Bildungskanons als einheitsstiendes Moment einer europäisen Bildung nit mehr wiederherstellbar. Man könnte nun argumentieren, dass aus der gemeinsamen Gesite der europäisen Völker und Nationen si gemeinsame Wertortierungen und Normen herausgesält haben, die wie Demokratie, Retsstaatlikeit, Mensenrete oder Zivilgesellsa au dem europäisen Einigungsprozess als Grundorientierungen zugrunde liegen, und die deshalb zur Grundlegung einer inhaltlien Ausgestaltung von europäiser Bildung geeignet sind. Diese Werte sind jedo weltweit verbreitet und nit (mehr) europaspezifis. 3. Dimensionen europäiser Bildung im Hosulberei Das Dilemma der Fixierung einer europäisen Bildung als Integrationsansatz für die Saffung eines einheitlien europäisen Hosulraums lässt si erst auflösen, wenn man von der Identifizierung einzelner Merkmale absieht und na der Integrations- und Gemeinsasfähigkeit einzelner Bildungskonzepte für die Zukun des europäisen Kontinents fragt. Die Kernfrage, die si dann stellt, ist: Wie kann die regionale und nationale Vielfalt von Bildungsorientierungen und -traditionen in Europa erhalten und gleizeitig ein gesamteuropäiser Bildungszusammenhang als zentrales Ziel europäiser Bildungspolitik hergestellt werden? Eine sole Fragestellung lässt si nit mehr allein mit einer Angleiung 10
36
Wie z.B. Fuhrmann: „Was ist Europa anderes als das, was das Christentum und durch die humanistische Rezeption der Antike freigesetzten Kräe hervorgebracht haben“ (Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität. Stugart: Reclam 2002, S. 82).
von Studienstrukturen- und abslüssen in Europa beantworten, sondern sie bedarf vor allem einer europäisen Fundierung von Studieninhalten, sei es in Form der Vermilung von allgemeinen Fähigkeiten, „um in einer globalisierten Welt als europäiser Bürger zu funktionieren“, oder sei es in Form von Orientierungen, die dazu dienen, ein gesamteuropäises und nit mehr aussließli nationenzentriertes Problembewusstsein in einzelnen Wissensgebieten herauszubilden.11 Wenn man von der Bewahrung und Förderung der Vielfalt europäiser Kulturen als einem wesentlien Identifikationsmerkmal europäiser Bildung ausgeht, Heterogenität sowohl auf europäiser Ebene wie au innergellsali als Normal- und nit als Ausnahmefall betratet, dann wird si europäise Bildungpolitik zunäst einmal darum bemühen müssen, die Grundlagen für eine europäise Bildung in Form eines Austausprozesses zwisen untersiedlien Bildungsorientierungen in Europa zu organisieren und Verständigung über die Zielvorstellungen europäiser Bildung herzustellen. Europäis wäre eine Bildung dann, wenn sie in dieser Hinsit Diskurse in anderen europäisen Ländern wahrnimmt, diese beobatet und in eigene Diskurswelten inkorpiert und wenn die eigenen Konzepte im Lite nationaler Erfahrungen gesehen und transnational relativiert werden. Organisatoris und institutionell müsste es dann darum gehen, transnational vernetzte Kommunikationsräume bereitzustellen, innerhalb derer si nationale Kommunikationsabläufe füreinander öffnen. Ein soler an transnationale Kommunikation gebundener europäiser Bildungsbegriff entsteht nit von selbst als Ergebnis des europäisen Einigungsprozesses, vielmehr ist er äußerst voraussetzungsvoll: Er ist an konkrete bildungspolitise Maßnahmen gebunden, die einen bislang fast durgängig nationalstaatli geprägten Bildungsaurag in Ritung einer europäisen Dimensionierung von Bildungsinhalten verändern. Eine sole Grundlegung von Bildung ist abhängig von der Identifizierung von gemeinsamen Interessen bezügli der Zukunsgestaltung des europäisen Einigungsprozesses; sie ist ferner an eine grenz- und nationenübersreitende Bewältigung von Konflikten und die Diagnose von Defiziten gebunden und geht einher mit der Herausbildung einer europäisen Öffentlikeit. Hier wie dort stehen wir erst am Beginn einer weitreienden Entwilung, von der der Bologna-Prozess zur Saffung eines einheitlien europäisen Hosulraums allenfalls ein Anfang ist, nit jedo deren Absluss. 11
Helage, Auf dem Weg zum europäisen Bildungskapital?, S. 251f.
37
Wie konsequenzenrei ein soler europäiser Bildungsaurag für die Hosulen ist, und wele bildungspolitisen Maßnahmen dieser Aurag in einzelnen Bereien generiert, sei absließend anhand dreier Aspekte erläutert, die auf je untersiedlie Weise die Herausforderungen und Voraussetzungen europäiser Bildung erläutern. Dies sind: Mehrspraigkeit, interkulturelle Bildung und eine transnational ausgeritete Lehrerbildung. 4. Mehrspraigkeit und Hosulbildung Es ist evident, dass si eine transnationale Kommunikation, die von einer zu fördernden und zu erhaltenden Vielfalt von Kulturen und Spraen als witiger Ressource und Identitätsmerkmal europäiser Identität ausgeht, sprali an Mehrspraigkeit gebunden ist. Diese ist kein Hindernis für die Herausbildung transnationaler Kommunikation und transnationaler europäiser Bildung, sondern ihr konstitutives Merkmal. Wir müssen uns deshalb von der Vorstellung verabsieden, dass eine Leitsprae die Milerrolle in der internationalen Kommunikation übernehmen könnte. Eine lingua franca wie Englis ist wesentli für die globale Kommunikation, nit aber für die Öffnung von kulturellen Verstehenshorizonten oder die Herstellung transnationaler Bildungsräume in Europa. Au wissensaspolitis ist die Dominanz einer Leitsprae wie Englis duraus prekär, weil sie dazu tendiert, nit englisspraige oder nit ins Englise übersetzte Konzepte, Theorien und Forsungsfelder zu marginalisieren und sie nit mehr ausreiend in wissensalie Diskurse einzubinden. Die dadur eintretende Einengung von Diskursen ist in höstem Maße ressourcenverswendend und weder demokratie- no kultur- und wissensaspolitis hinnehmbar. Es wird deshalb zukünig im Universitätsberei darum gehen müssen, einen Ausglei zwisen der lingua franca Englis und den versiedenen Nationalspraen in Europa zu finden. Die Europäise Union hat hierfür den Begriff der europäisen Mehrspraigkeit als das Erlernen von mindestens zwei lebenden Fremdspraen geprägt. An der Universität müsste diese Form der Mehrspraigkeit gefördert und in die Curricula inkorporiert werden. Die Mobilität der Studierenden in Europa ist nit abstrakt, sondern an individuelle Entseidungen und an konkrete kulturelle Räume gebunden, in die Studierende gehen und in denen sie si zuretfinden müssen. Au aus dieser 38
Perspektive erseint Mehrspraigkeit als das einzige adäquate Konzept für den geforderten offenen Umgang mit Heterogenität in Europa und als Grundlage europäiser Bildung. Wer Mobilität in Europa will, kommt deshalb an der Forderung einer institutionell verankerten und im Laufe des Studiums geförderten Mehrspraigkeit der Studierenden nit vorbei. Hierfür müssten in den Studiengängen curricular Zeit- und Anrenungskontingente im Sinne von Workloads gefunden werden. 5. Grundlagen einer transnationalen Lehrerbildung Im Rahmen des europäisen Einigungsprozesses und der Saffung eines einheitlien europäisen Bildungs- und Forsungsraums erseint es heute kaum no vertretbar, Lehrerbildung aussließli nationalstaatli auszuriten oder von einem aussließli regional definierten und regional praktizierten Berufsfeldbezug auszugehen.12 Au die Lehrerbildung sollte deshalb verstärkt in europäise Austausprogramme einbezogen werden. Ebenso sollten thematis neue Akzentsetzungen im Studium ermöglien, das eigene Lehr- und Lernfeld in einem europäisen Kontext zu betraten und vor diesem Hintergrund pädagogise Konzepte und Praktiken als „spezifise Variante unter anderen zu sehen, zu verstehen und weiterzuentwieln“.13 Für die Lehrerbildung könnte dies heißen, si verstärkt au spraen-, bildungs- und kulturpolitisen Fragestellungen als Rahmenbedingungen des eigenen Handelns in einem europäisen und globalen Umfeld zuzuwenden.14 Künige Lehrerinnen und Lehrer sollten in die 12
13 14
Vgl. Annelie Knapp-Pohoff: Fremdsprachenlernen und -lehren im Spannungsfeld universeller, kultureller und individueller Faktoren. In: Lothar Bredella, Franz-Joseph Meißner (Hgg.): Lehren und Lernen fremder Sprachen zwischen Globalisierung und Regionalisierung. Symposium zum 70. Geburtstag von Herbert Christ. Tübingen: Gunter Narr 2001, S. 76–94, hier S. 91. Volker Schubert: Lernkultur. Umrisse und Probleme eines deutsch-japanischen Vergleichs. In: ders. (Hg.): Lernkultur. Das Beispiel Japan. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 14–25, hier S. 14. Vgl. Herbert Christ: Sprachenpolitik und das Lehren und Lernen fremder Sprachen. In: Karl-Richard Bausch, Herbert Christ, Hans-Jürgen Krumm (Hgg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Francke 2003, S. 102–110; Siegfried Gehrmann: Globalizacija u obrazovanju. Reformski aspekti i problemi u izobrazbi nastavnika u Hrvatskoj. In: Vlatko Pavletić (Hg.): Globalizacija u Hrvatskoj. Hrvatska u globalizaciji. Samobor: Antun Gustav Matoš/ Zagreb: Udruga „11. siječnja 1972.“ 2003, S. 37–45; Siegfried Gehrmann, Ana Petravić: Izobrazba nastavnika stranih jezika u kontekstu globalizacije i
39
Lage versetzt werden, nit nur ihren Lehrgegenstand, sondern au den „Beruf zu seiner Vermilung von einem transnationalen und europäisen Standpunkt aus [zu] kennen und über entspreende Einsätzungen für die Entwilung der Berufspraxis auf dem europäisen Lehrermarkt [zu] verfügen“.15 Ein soler Anspru verlangt vor allem au von den Erziehungs- und Sozialwissensaen eine europäise Grundlegung der Lehrerbildung. In diesem Punkt befinden wir uns erst am Anfang.16 6. Neue Aufgabenfelder der Fremdspraenlehrerbildung Von besonderer Bedeutung ist in diesem Kontext eine Professionalisierung der Fremdspraenlehrerbildung im Sinne einer grundlegend interkulturellen Dimensionierung des Fremdspraenstudiums. Sofern man Lehrerbildung europäis konstituieren will, wird man nit umhin können, interkulturelles Lernen als Quersnisaufgabe in allen fremdspralien Studiengängen auszuweisen, mit dem Ziel, Fremdverstehen und den Umgang mit Heterogenität in plurikulturellen und plurilingualen Gesellsaen zu ermöglien.17 Insbesondere die Fremdspraendi-
15
16
17
40
europske integracije. In: Metodika 1/1, 2000, S. 167–178; Franz-Jospeh Meißner: Sulspraen zwisen Politik und Markt. Spraenprofile, Meinungen, Tendenzen, Analysen. Frankfurt/M.: Moritz Diesterweg 1993. Harald Kästner: „Nach Maastricht“ – Zum Entwicklungsstand der Europäischen Dimension in Bildung und Erziehung auf nationaler und europäischer Ebene. In: Bernd Janssen (Hg.): Die europäische Dimension für Lehrer. Bericht von der zweiten Tagung zur europäischen Dimension in Unterricht und Erziehung. Bonn: Europa Union 1993, S. 57–77, hier S. 75. Dieser Thematik ist zur Zeit das TEMPUS-Projekt (2006–2009) „Learning for Europe“ gewidmet. Im Rahmen eines Konsortiums von insgesamt 12 Hosulen aus der EU und SOE werden in diesem Projekt u.a. Grundlagen einer europaorientierten Lehrerbildung erarbeitet. Hierzu wurde in Zagreb als langfristige Maßnahme 2007 ein deutskroatises Lehr- und Forsungszentrum für Europäise Bildung in Südosteuropa gegründet. In einem zweiten Projekeil wird gegenwärtig ein internationales Masterstudium „Management und Beratung für Europäise Bildung“ entwielt, mit dem Ziel, international ausgeritete Bildungsexperten für europäise Bildungsreformprozesse in den jeweiligen Nationalstaaten des Konsortiums auszubilden. Als Beginn des Masterstudiums ist das WS 2008/09 vorgesehen. Lehrspraen des MA-Studiengangs sind Deuts und Englis; der Studiengang wird in Form von Präsenzphasen an den Universitäten Münster und Zagreb und in Form von eLearning-Phasen durgeführt. Das Projekt wird von den Universitäten Münster (Lehreinheit für Erziehungswissensa) und Zagreb (Fakultät für Lehrerbildung) geleitet. Beide Hosulen sind au Träger des Zentrums in Zagreb. Vgl. exempl. Ingrid Gogolin: Interkulturelle Erziehung und das Lehren und Lernen fremder Sprachen. In: Bausch et al. (Hgg.), Handbuch Fremdsprachenunterricht, S. 96–102; Marianne Krüger-Potratz: Die nationale Schule – angesichts eines mehrsprachigen und
daktik wäre hier aufgefordert, eigenständige und auf ihren Gegenstand bezogene Konzepte des Fremdverstehens und der interkulturellen Kommunikation zu entwieln, um die mit transnationalen Erfahrungen einhergehenden Verunsierungen aufzuarbeiten und die Lernenden möglist früh auf interkulturelle Begegnungen vorzubereiten. Interkulturelle Begegnungen sollen als Chance der eigenen Weiterentwilung begriffen und nit als Verarbeitung von psyologisen oder sozialen Belastungen wahrgenommen werden.18 Ohne auf die Debae über die Grenzen interkultureller Ansätze für den Fremdspraenunterrit einzugehen, sei denno auf drei Reformaspekte einer europäis orientierten Fremdspraenlehrerbildung hingewiesen.19 1. Unter einem dynamisen Kulturbegriff und unter der Voraussetzung, dass Heterogenität als Normalfall gesellsalier Realität in Europa anerkannt wird, betri interkulturelles Lernen au ethnis weitgehend homogene Lerngruppen. 2. Fremdspraenlernen oder das Studium einer Fremdsprae gehen nit per se mit interkulturellem Lernen einher; vielmehr kann man au ein fremdspralies Studium absließen, ohne mit Fragen des Perspektivwesels, der Inbeziehungsetzung von eigenkultureller Prägung und fremdkultureller Wahrnehmung oder mit Fragen der interkulturellen Grundlegung des Fremdspraenlernens und des eigenen Fas si jemals theoretis oder unterritspraktis ausreiend auseinandergesetzt zu haben. Derartige Defizite bergen die Gefahr, dass sie interkulturelles Lernen im Fremdspraenunterrit auf die Vermilung landeskundlier Daten über Gebräue, Lebensweisen und Ereignisse im Zielspraenland reduzieren. Der Fremdspraenlehrer wäre damit
18
19
plurikulturellen Europa. In: Alfons Tuyaerts, Wilhelm Hagemann, Gerhard Tulodziei (Hgg.): Lernen und Lehren für Europa. Festsri für Waltraut Söler. Frankfurt/M.: Lang 1998, S. 57–76 und dies.: Interkulturelle Bildung. Münster: Waxmann 2005. Vgl. Lothar Bredella: Interkulturelles Verstehen als Schlüsselqualifikation. Überlegungen zu einem Landeskundeseminar über The Civil Rights Movement in den USA. In: Zeitschri für Fremdsprachenforschung 12/1, 2001, S. 1–37; Hans-Jürgen Krumm: Interkulturelles Lernen und interkulturelle Kommunikation. In: Bausch et al. (Hgg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht, S. 156–161; Franz-Joseph Meißner. Fremdsprachendidaktiken als Forschungs- und Ausbildungsdisziplinen im Kontext der Europäischen Union. In: Bausch et al. (Hgg.): Die Ausbildung von Fremdsprachenlehrern. Gegenstand der Forschung. Arbeitspapiere der 10. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Bochum: Universitätsverlag Brockmeyer 1997, S. 126–138. Vgl. exempl. Willis Edmondson, Juliane House: Interkulturelles Lernen: ein überflüssiger Begriff. In: Zeitschri für Fremdsprachenforschung 9/2, 1998, S.161–188; Adelheid Hu: Interkulturelles Lernen. Eine Auseinandersetzung mit der Kritik an einem umstrittenen Konzept. In: Zeitschri für Fremdsprachenforschung 10/2, 1999, S. 277–303.
41
kaum in der Lage, die Vermilung zwisen eigener und zielspralier Kultur als prozessorientierte perspektivise und vielfa interessengeleitete Beziehung aufzuzeigen, in die si der Lerner mit seinen jeweils eigenen Vorstellungen über si und die Zielkultur einbringt und die im Fremdspraenunterrit zur Sprae gebrat werden müssten. Ein soler Fremdspraenunterrit vermag zwar Sprae und landeskundlie Kenntnisse zu vermieln, nit jedo zu einer kritisen Reflexion der eigenen Wahrnehmungs- und Bewertungssemata, zu einem Anerkennen anderer Orientierungssysteme und Identitätskonstruktionen anzuregen oder ‘Mentalitätsuntersiede’ im Kontext von sozialen und nit allein ‘kulturellen’ Differenzen zu diskutieren. Ohne diese im eigentlien Sinne interkulturelle Dimension des Fremdspraenunterrits kann der Fremdspraenlehrer kaum wie gefordert als ‘kultureller Miler’ tätig sein oder Fremdverstehen und interkulturelle Dialogfähigkeit im Sinne der o.a. europäisen Bildung ermöglien.20 3. Dur die Einbeziehung interkulturellen Lernens versieben si die Akzente im Fremdspraenunterrit: Nit mehr der Native-Speaker, sondern der interkulturelle Spreer, das Umgehenkönnen mit Vielspraigkeit und kultureller wie gesellsalier Heterogenität, wird zur Basis des Fremdspraenunterrits; der Spraunterrit selbst wird zum Ort des Einübens interkultureller Kommunikation.21 Eine sole Perspektivierung des Fremdspraenunterrits setzt allerdings voraus, dass dem Lehren und Lernen von Fremdspraen ein „interkultureller Spraenbegriff“ zugrunde gelegt wird, der „neben der Lexik, der Grammatik sowie der Lautung und Sreibung gleibedeutend die pragmatise Dimension sowie kulturspezifise und nonverbale Verhaltensmuster und -routinen mit einbezieht“.22 Er beinhaltet ferner, dass der Besäigung mit Literatur in der Fremdspraenlehrerbildung ein neuer Stellenwert eingeräumt wird. Interkulturelles Verstehen, das Ersließen von Kulturzentrismen, der Wesel von Innen- und Außenperspektive, fremd- und eigenkulturell geprägte 20 21 22
42
Krumm, Interkulturelles Lernen, S. 160. Hans-Jürgen Krumm: Mehrsprachige Welt – einsprachiger Unterricht? In: Günther Schneider, Monika Clalüna (Hgg.): Mehr Sprache – mehrsprachig mit Deutsch. Didaktische und politische Perspektiven. München: iudicium 2003, S. 39–52, hier S. 49f. Karl-Richard Bausch: Plädoyer für eine Didaktik und Methodik der echten Mehrsprachigkeit. In: ders. et al. (Hgg.): Neue curriculare und unterrichtsmethodische Ansätze und Prinzipien für das Lehren und Lernen fremder Sprachen. Arbeitspapiere der 21. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Gunter Narr 2002, S. 26–32, hier S. 28.
Wahrnehmungssemata, die Begegnung mit dem Fremden und der Umgang mit Heterogenität lassen si exemplaris an literarisen Texten erproben. Literarise Erfahrungen verditen in diesem Sinne Handlungsräume und geben Einbli in Handlungsalternativen, anhand derer Weltsiten erslossen und auf ihre Voraussetzungen zurügeführt werden können. Eine sole relationale Inbeziehungsetzung von Innen und Außen, von Fremdem und Eigenem ist konstitutiv für interkulturelles Lernen. Die Besäigung mit interkulturellen Verstehensprozessen in Romanen, Gediten, Kurzgesiten oder Spielfilmen sollte deshalb zum festen Bestandteil in der Fremdspraenlehrerbildung gehören und von hier ausgehend stärker als bisher Eingang in den sulisen Fremdspraenunterrit finden. 7. Sulise Mehrspraigkeit als Voraussetzung europäiser Bildung Einer der sprachen- und bildungspolitisch brisantesten Aspekte europäischer Mehrsprachigkeit ist die Frage, mit welcher Eingangsfremdsprache in der Schule begonnen werden soll, ob mit Englisch oder mit einer anderen europäischen Sprache. Vertreter des Einer-Leitspraenmodells Englis, wie Henrici, gehen davon aus, dass mit Englisch „möglichst früh, spätestens in der Grundschule, begonnen werden [sollte]“.23 Begründet wird dies damit, dass Englisch weltweit in fast allen Lebensbereichen als lingua franca benutzt wird, Englisch in Europa die gebräuchlichste Sprache ist und Wissenschaler und viele andere BerufsvertreterInnen international seit längerem und fast ausschließlich auf Englisch publizieren und korrespondieren. Aus dieser Sicht ist eine Sprachenfolge mit Englisch als erste Fremdsprache in der Schule zwingend; alle anderen Sprachen erhalten im Rahmen eines solchen Konzepts den Status von Ergänzungsoder Zusatzsprachen.24 Eine andere Perspektive auf die Sprachenfolge ergibt sich erst, wenn man nicht mehr globale ‘Realitäten’ und daraus abgeleitete Forderungen, 23
24
Gert Henrici: Sprachpolitisch-didaktische Realitäten und Wünsche. Einige Anmerkungen. In: Hermann Funk, Gerhard Neuner (Hgg.): Verstehen und Verständigung in Europa. Konzepte von Sprachenpolitik und Sprachdidaktik unter besonderer Berücksichtigung des Deutschen als Fremdsprache. Berlin: Cornelsen 1996, S. 193–200, hier S. 197. Ebd., S. 194ff.
43
sondern individuelle Kommunikations- und Lernbedürfnisse und den Aspekt regionaler Mehrsprachigkeit in den Mielpunkt stellt. Sobald man den fremdsprachlichen Lernprozess individualisiert und an den Anforderungen und am Bedarf persönlicher und beruflicher Mobilität in einem konkreten gesellschalichen Umfeld misst, sind starre Sprachenfolgen und festgeschriebene Sprachenangebote zugunsten flexibler regionaler Sprachenfolgen und variierender Mehrsprachigkeitsangebote in der Schule auszudifferenzieren. Darüber hinaus ist auch ganz grundsätzlich die Frage zu stellen, ob die Festschreibung einer Sprachenfolge mit Englisch als Eingangsfremdsprache den Au au von Mehrsprachigkeit eher fördert oder gefährdet. Didaktisch spricht einiges dafür, dass durch den „Beginn mit einer scheinbar leichten Sprache, die zudem überall brauchbar ist, die Bereitscha, danach noch eine weitere, scheinbar schwierigere Sprache zu lernen, gemindert [wird]“.25 Eine mögliche Lösung dieses Problems besteht zum einen in dem grundsätzlichen Offenhalten der Sprachenfolge, zum anderen darin, das „Angebot an fremdsprachlichen Curricula und Kursen (...) so flexibel, so variabel und vor allem so mehrsprachig wie nur möglich auszulegen“.26 Ebenso wäre zu prüfen, welche Folgen die Platzierung von Englisch als zweiter Fremdsprache in der Sprachenfolge für den Au au von Mehrsprachigkeit in der Schule häe. Da der gesellschaliche Bedarf sowie das lernerseitige Interesse, Englisch zu lernen, unabweislich stark gegeben sind, häe Englisch, so Bausch, Krumm und Meißner, an zweiter Stelle der Sprachenfolge für den Au au von Mehrsprachigkeit den meisten Nutzen, und zwar ohne dass es zu einer Einschränkung der Englischkompetenz kommen müsste. Englisch auf dem zweiten Platz könnte vielmehr aufgrund seiner steilen Progression eine zentrale, linguistisch-didaktische Steuerungsfunktion für die Implementierung curricularer Mehrsprachigkeit im Pflichtschulbereich übernehmen, indem es seine inhärenten Vorteile als lingua franca zur Verfügung stellt, d.h. „rasche Erschließung unterschiedlicher, auch ‘theoretischer’ Themenbereiche mit dem Au au eines entsprechenden hochgradig transferablen Wortschatzes“.27 In dieser
25 26
27
44
Krumm, Mehrspraige Welt, S. 45. Karl-Riard Baus: Spraenpolitises Plädoyer für eine begründete Differenzierung von Mehrspraigkeitsprofilen. In: Karl-Riard Baus, Herbert Christ, HansJürgen Krumm (Hgg.): Fremdsprachenunterricht und Sprachenpolitik als Gegenstand der Forschung. Arbeitspapiere der 12. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Bochum: Brockmeyer 1992, S. 15-27, hier S. 19. Meißner, Sulspraen, S. 82.
Position der Sprachenfolge würde Englisch den Au au von Mehrsprachigkeit maßgeblich fördern und beschleunigen. Welche Form der Mehrsprachigkeit sich letztlich durchsetzt, hängt nicht zuletzt von bewussten sprachen- und bildungspolitischen Entscheidungen ab. In keinem Fall ist es jedoch naturgegeben, dass mit Englisch als globaler lingua franca auch eine Marginalisierung aller anderen Fremdsprachen zu Ergänzungs- und Zusatzsprachen einhergehen muss. Eine solche Perspektivierung würde mielfristig auf einen Umbau der europäischen Bildungssysteme hinauslaufen, der, sta transnational und multilingual orientiert zu sein, eine Verschiebung in Richtung eines fremdsprachigen Monolingualismus mit sich bringen würde. Eine solche Orientierung würde nicht nur dem europäischen Modell der Erhaltung und Förderung kultureller und sprachlicher Vielfalt zuwiderlaufen, sondern würde auch langfristig den Au au eines einheitlichen europäischen Hochschul- und Bildungsraums gefähren, indem die Grundlagen europäischer Bildung in Frage gestellt würden. Damit komme ich zum Abschluss meiner Darlegungen. Zusammenfassend wird hier die These vertreten, dass eine europäische Bildung als Grundlage einer transnationalen Ausrichtung der Universität und als Einheit stiendes Moment des europäischen Hochschulraums durchaus möglich ist. Sie beruht allerdings nicht in erster Linie auf einer Angleichung von Studienstrukturen und -abschlüssen, sondern in der Öffnung und Anschlussfähigkeit für Diskurse in anderen Ländern, auf einer europäischen Ausrichtung von Studieninhalten, in einer durchgängig interkulturellen Bildung, auf Mehrsprachigkeit, auf dem Erhalt und der Förderung kultureller und sprachlicher Vielfalt, auf Austausch, Mobilität und Begegnung sowohl von Seiten der Lehrenden wie von Seiten der Studierenden und in einem offenen Umgang mit Differenz und Heterogenität. Zum anderen beinhaltet sie aber auch einen reflexiven Umgang mit den Erfahrungen europäischer Geschichte und mit dem kulturellen Erbe Europas in seiner Ganzheit – hierzu gehören dann das Christentum, die Antike und die Au lärung als prägende Elemente ebenso wie religiöse Vielfalt, Demokratie oder Menschenrechte – einschließlich der Aufarbeitung von je differenten Erinnerungsräumen in Europa als Strategie einer gemeinsamen Konfliktbewältigung. Langfristig wird es jedoch darum gehen müssen, die Lehrerbildung in Europa transnational zu erweitern und europäisches Denken in die schulische Bildung hineinzutragen. Sofern dies nicht oder nur unzureichend gelingt, ist zu erwarten, dass die nachfolgenden Generationen einem gesamteuropäischen Zusammenhang von 45
Bildung eher distanziert gegenüberstehen und die kulturellen Grundlagen des europäischen Bildungsraums für diese Generationen allmählich verlorengehen. Eine solche Entwicklung würde unweigerlich einem ‘hidden curriculum’ im Sinne einer ausschließlich ökonomischen Anpassung von Bildung den Weg ebnen, mit allen Folgen für die Zukunsfähigkeit des europäischen Einigungsprozesses.28
28
46
Vgl. Helage, Auf dem Weg zum europäisen Bildungskapital?, S. 253.
Die Dekonstruktion der Nationalliteraturen: Komparatistik, Cultural Studies und Kritische Theorie Andrew Milner (Melbourne)
I lehre an der Monash Universität (Melbourne) in einem Studienprogramm, das Kritise Theorie, Vergleiende Literaturwissensa und Cultural Studies miteinander verbindet. Unter Kritiser Theorie verstehen wir einerseits Theorie, wie sie si mit dem Institut für Sozialforsung an der Frankfurter Universität, insbesondere mit Adorno und Horkheimer verbindet. Andererseits benutzen wir den Begriff au in einem weiteren Sinne, um auf die Tradition der critique von Kants Kritik der Urteilskra bis zu Sartres Critique de la raison dialectique zu verweisen, die in der anglophonen ‘analytisen Philosophie’ gewöhnli als ‘kontinentale Philosophie’ betitelt wird. Und sließli benutzen wir den Begriff au, um die von Burke bis Orwell reiende anglophone Tradition der Literaturkritik zu bezeinen, wie sie von Raymond Williams in Culture and Society 1780 –1950 (1958) nagezeinet wurde. Unter Komparatistik verstehen wir mit Remak eine Form der Literaturwissensa, die über die einzelnen nationalen und spralien Grenzen hinausgeht.1 Wie die meisten Komparatisten, so arbeiten au wir an der Seite der einflussreieren Nationalphilologien, in unserem Fall English Literature, und zwar sowohl in Kooperation als au in Konkurrenz. Trotz ihres frühen Auretens in Neuseeland ist Vergleiende Literaturwissensa in Australien und Ozeanien no immer vergleisweise swa entwielt.2 Es gibt nur drei Studienprogramme: an der Monash Universität in Melbourne, in Auland und in Sydney. In Frankrei, Deutsland und den USA hingegen ist die wissensalie Disziplin weitaus erfolgreier: In den USA gibt es zurzeit etwa 145 Fabereie bzw. Studienprogramme.3 In Großbritannien und folgli au in den meisten Ländern des ehemaligen britisen Königreies einsließ1 2 3
Henry H. Remak: Comparative Literature. Its Definition and Function. In: Newton P. Stallknet, Horst Frenz (Hgg.): Comparative Literature: Method and Perspective. Carbondale: Southern Illinois University Press 1961, S. 3. Huteson M. Posne: The Science of Comparative Literature (1901). In: Hans-Joaim Sulz, Phillip H. Rhein (Hgg.): Comparative Literature: The Early Years. An Anthology of Essays. Chapel Hill: University of North Carolina Press 1973. Gayatri C. Spivak: Death of a Discipline. New York: Columbia University Press 2003, S. 6.
47
li Australien war die Vergleiende Literaturwissensa an Sulen und Universitäten fast völlig vom Fa English Literature übersaet, wobei letztere nur selten, und dann au eher zähneknirsend, um Literatur aus anderen anglophonen Ländern erweitert wurde. Unter Cultural Studies verstehen wir jenen Diskurs über Kultur im Allgemeinen (im Untersied zur Literatur im Besonderen), der versut, Literatur sowohl in ihrem sozialen und politisen Kontext als au in ihrem Verhältnis zu anderen Künsten und Medien zu erfassen. Dies entsprit teilweise dem, was die Deutsen unter ‘allgemein’ in ‘Allgemeine und Vergleiende Literaturwissensa’ verstehen – Allgemeine Literaturwissensa im Untersied zu Vergleiende Literaturwissensa –, und teilweise dem deutsen Verständnis von Kulturkritik. Do stammt der von uns benutzte Begriff aus Großbritannien, und zwar aus den eher randständigen Bereien der English Literature der 1960er Jahre, in denen Sristeller wie Riard Hoggart und später Stuart Hall damit begannen, die komplexen und o widersprülien Beziehungen zwisen ‚hoher’ Literatur und Populärkultur zu erforsen. Obwohl der Begriff eindeutig britis ist, steht do fest, dass es ganz ähnlie intellektuelle Fragestellungen waren, die zeitglei sowohl die Kritise Theorie der Frankfurter Sule als au Roland Barthes’ Neufassung des Sartresen Existentialismus als eine Semiologie der Entmystifizierung anregten. Zu den grundlegenden Texten der Cultural Studies zählen daher: die Dialektik der Aulärung von Adorno und Horkheimer (erstmalig 1947 in Europa veröffentlit), Barthes’ Mythologies (1957), Hoggarts The Uses of Literacy (1957) und Williams’ Culture and Society 1780–1950 (1958). Alle drei theoretisen Grundlagen können somit in die späten 1940er und 50er Jahre zurüverfolgt werden. Sie alle haben si zudem dur eine zweifae Doppelopposition definiert: politis gegen den amerikanisen Kapitalismus und den russisen Kommunismus, intellektuell gegen den traditionellen literarisen Humanismus und den kommunistisen Marxismus. Während Literaturwissensa, ob vergleiend oder nationalphilologis, ihren Fokus auf eine bestimmte Form der Kultur, nämli die ‘hohe’ Literatur, geritet hae, befassten si diese neuen Cultural Studies, zumindest im Prinzip, mit allen Formen textualisierten Sinns, seien sie elitär oder populär, literaris oder nit-literaris. 1. Die Entfernung des Englisen aus dem Studium der English Literature Auf den ersten Bli seint es, als ob Kritise Theorie, Vergleiende Literaturwissensa und Cultural Studies nit viel gemeinsam häen, 48
außer vielleit, dass sie alle nit ‘Englis’ sind. Denn obglei alle drei seit der Krise der English Studies Anfang der 1980er Jahre einen breiteren Raum innerhalb des Fas eingenommen haben, waren sie denno genau das, wogegen si die Disziplin ein halbes Jahrhundert gewehrt hatte.4 So war Frank Raymond Leavis, das geniale Oberhaupt der Literaturkritik im Cambridge der Nakriegszeit (und damit gleizeitig in weiten Teilen des Commonwealth Englis wie au Melbourne oder Singapur), bekannt dafür, dass er alle drei Ritungen vehement ablehnte. Von René Wellek dazu herausgfordert, seine ablehnende Haltung ‘etwas abstrakter’ zu begründen, gab Leavis die berühmte Antwort: „My whole effort was to work in terms of concrete judgements and particular analyses: ‘This – doesn’t it? – bears such a relation to that; this kind of thing – don’t you find it so? wears beer than that?’“5 Es versteht si von selbst, dass diese Position eine grundsätzlie Ablehnung jeglier Form von Kritiser Theorie einsließt. Was nun die Vergleiende Literaturwissensa betri, muss man si nur Leavis’ erregte Antwort auf den Vorslag ins Gedätnis rufen, Cambridge Studenten der englisen Literatur sollten si Proust und Kaa aussetzen: „It would be a misdirection. There is nothing relevant there“.6 Und versteht man unter Cultural Studies au das Studium der Massenmedien einsließli ihrer Formen und Texte, so lässt si dies kaum mit nafolgender Bemerkung von Leavis in Übereinstimmung bringen, dass nämli „the finer values are ceasing to be a maer of even conventional concern (...) Everywhere below, a process of standardization, mass-production, and levelling-down goes forward, and civilization is coming to mean a solidarity achieved by the exploitation of the most readily released response“.7 Diese Belange wurden von den English Studies nit nur ausgeslossen, sondern au als Gefahr wahrgenommen, drohten sie do, die etablierte Disziplin zu unterlaufen, ja gar zu dekonstruieren: Die Vergleiende Literaturwissensa würde das Englise aus der Englisen Literatur entfernen, die Cultural Studies die aussließlie Besäigung mit Literatur gefährden und die Kritise Theorie eine Reihe analytiser 4 5 6 7
Peter Widdowson: The Crisis in English Studies. In: ders. (Hg.): Re-Reading English. London: Methuen 1982. Frank R. Leavis: The Common Pursuit. Harmondsworth: Penguin 1962, S. 215. Zitiert na Raymond Williams: Seeing a Man Running. In: Denys Thompson (Hg.): The Leavises: Recollections and Impressions. Cambridge: Cambridge University Press 1984, S. 117. Frank R. Leavis: New Bearings in English Poetry. London: Chao and Windus 1938, S. 213–214.
49
Strategien einführen – von der Hermeneutik bis zum Dekonstruktivismus, von der Psyoanalyse bis zum Feminismus –, mit deren Hilfe eine oder beide Unternehmungen erfolgrei voransreiten könnten. Für Komparatisten verbindet si mit der Abkehr von der alleinigen Fokussierung auf englise Literatur nahezu zwangsläufig eine Abkehr vom Anglozentrismus, au wenn dies, duraus bedauerli, in der Praxis nit notwendig au eine Abkehr vom Eurozentrismus einsließt. Vergleiende Literaturwissensa erfordert für gewöhnli eine gewisse Kompetenz in modernen (meistens europäisen) Spraen. An meiner Universität gestaen wir Baelor-Studenten das Lesen von Texten in Übersetzung, bestehen aber nitsdestoweniger darauf, dass die für Abslussarbeiten herangezogenen Srien im Original gelesen und zitiert werden. Aber selbst die Verwendung von Übersetzungen führt zu einer Dezentralisierung des ‘englisen’ Kanons innerhalb der Vergleienden Literaturwissensa, da, wie Franco Morei bemerkt, „you become a comparatist for a very simple reason: because you are convinced that viewpoint is beer. It has greater explanatory power; it’s conceptually more elegant; it avoids that ugly ‘one-sidedness and narrow-mindedness’ (...) there is no other justification for the study of world literature (...) but this: to be a thorn in the side, a permanent intellectual challenge to national literatures – especially the local literature“.8 In der Tat stellt si die Frage, weler intellektuelle Standpunkt, außer dem der nationalistisen Hybris, überhaupt kultiviert werden kann, wenn man si aussließli mit der englisen bzw. au deutsen oder französisen Nationalliteratur oder aber mit der Literatur engliser bzw. deutser oder französiser Muerspraler besäigt? Englis ist keine wissensalie Disziplin; es ist eine Sprae. Die Disziplin ist entweder Literaturwissensa oder, weiter gefasst, Cultural Studies. Englise (bzw. französise oder deutse) Literatur zu studieren, ist in eben jenem begrenzten Maße sinnvoll, wie au ein Studium der englisen (bzw. französisen oder deutsen) Gesite, Politik oder Philosophie. Das sind alles witige regionale Spezialgebiete, die unter dem Oberbegriff einer wissensalien Disziplin zusammengefasst werden, und genau so sollte man mit dem Studium der englisen (bzw. französisen oder deutsen) Literatur verfahren. Unglülierweise aber ist uns diese Einsit bis heute dur die anhaltende Wirkungsmat des kulturellen Nationalismus verstellt. 8
50
Franco Morei: Conjectures on World Literature. In: New Le Review (II) 1/2000, S. 54–68, hier S. 68.
Erinnern möte i in diesem Zusammenhang au an Moreis Mahnung, dass es vor allem die jeweils eigene Nationalliteratur ist, wele der vergleienden Kritik unterzogen werden muss. In Australien gestaltete si dies swierig. Hier wurde beispielsweise die lokale Literatur bis in die 1940er Jahre von den English Studies der australisen Universitäten fast völlig ignoriert und ist bis heute ein eher marginales Spezialgebiet geblieben. Der Grund ist offensitli: English Literature wurde in Australien als ein im Grunde imperialistises Unternehmen gegründet und als soles bis zum Zweiten Weltkrieg weitergeführt. Morris, der erste Professor für English Studies an der Universität von Melbourne, war ein Absolvent der Oxford Universität und der erste in einer Reihe von Patrioten des britisen Empires, die diesen Lehrstuhl innehaen. Seine unmittelbaren Nafolger waren Sir Robert Straan Wallace (Oxford), Sir Aribald Strong (Oxford, Autor von Australia and the War) und George H. Cowling (Leeds). Cowlings Skepsis bezügli einer eigenen, unverweselbaren australisen Nationalliteratur wurde in der Zeitung Age im Februar 1935 veröffentlit und provozierte einen der bekanntesten australis-nationalen Essays: Percy R. Stephensens The Foundations of Culture in Australia.9 Sir Mungo MacCallum, der erste Professor für English Studies an der Universität von Sydney, hae seinen Lehrstuhl 33 Jahre inne und war dana als Professor Emeritus, später als stellvertretender Präsident und sließli als Präsident tätig. Er gründete die örtlie Vertretung der Sir Henry Newbolts’ English Association und wurde ihr erster (und einziger) Vorsitzende auf Lebenszeit. Laut offizieller Fakultätsgesite war seine universitäre Lau ahn „a main and conscious offering to the labours of empire“.10 Von den ersten sieben Lehrstühlen für English Studies an der Universität Adelaide waren ses von Absolventen der Universität Oxford und einer von einem Absolventen der Universität Cambridge besetzt.11 Selbstverständli häe ein britiser Akademiker in Australien au ein Interesse an einheimiser Literatur entwieln können, tatsäli aber ist dies nie gesehen. Stephensens Essay steht in einer langen Tradition nit akademiser, australis-nationaler Kulturkritik, die si von Jules F. Aribalds The 9 10 11
Percy R. Stephensen: The Foundations of Culture in Australia. An Essay Towards National Self Respect. Sydney: W. J. Miles 1936. W. Milgate: The Language and Literature Tradition. In: University of Sydney. One Hundred Years of the Faculty of Arts. Sydney: Angus and Robertson 1952, S. 47. W.G.K. Duncan, R.A. Leonard: The University of Adelaide 1874–1974. Adelaide: Rigby 1973, S. 182.
51
Bulletin (gegr. 1887) bis hin zu Stephen Murray-Smiths Overland (gegr. 1954) verfolgen lässt. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als ‘postkoloniale Kritik’ neu etikeiert, fand der radikale australise Nationalismus sließli Eingang in die English Studies-Programme der Universitäten. Dies ist ein äußerst seltsamer Ort, und zwar nit nur, weil postkoloniale Kritik – wie sie von Edward W. Said und Gayatri Chakravorty Spivak vertreten wird – ihren Ursprung in einem bewusst komparatistisen Ansatz hat, sondern au, weil die postkoloniale Kritik in Australien dazu tendiert, gerade das Englis-Sein der englisen Literatur in Frage zu stellen. Letzteres kann an si nit überrasen, da Australien im 20. Jahrhundert ebenso wenig ein Teil des Britisen Imperiums ist wie beispielsweise Kroatien ein Teil von Österrei. Englise Literatur erseint daher, genauso wie die konstitutionelle Monarie, o nur no als Teil des Naglanzes eines versinkenden Reis. Daraus jedo zu sließen, dass die Zukun nun der australisen Nationalliteratur gehört, wäre irrig. Selbst begeisterte Anhänger dieser Idee tun si swer damit, einen größeren Kanon relevanter australiser Literatur zusammen zu stellen, ganz zu sweigen von einem Kanon, der ernstha als Weltliteratur bezeinet werden könnte. Harald Blooms The Western Canon führt in seiner langen Liste nur elf Autoren aus Australien und Neuseeland, in seiner kurzen Liste findet si kein einziger.12 All das erklärt die derzeit in Australien zu beobatenden seltsamen Verdrehungen in der öffentlien Debae über literarise Bildung. Die mehrheitli konservativen, mit dem Literaturteil von Murdos Tageszeitung The Australian assoziierten Kulturjournalisten berufen si zwar auf Blooms Kanon (Auszüge wurden ausgiebig abgedrut), spreen si dabei jedo entweder für den englisen Kanon, den australisen oder gar für beide aus, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass Blooms Kanon eben gerade nit national sondern komparativ angelegt ist. Und ganz ungeatet des Kanons, sei er nun imperialistiser oder postkolonialer Natur, zeigt si der zeitgenössise Literaturgesma bereits ausgesproen kosmopolitis, wie an den Auslagen der australisen Buläden zu erkennen ist. Allein die Begeisterung für den magisen Realismus Lateinamerikas zeigt deutli, dass der Literaturgesma son längst die Dominanz der englisen Literatur hinter si gelassen hat. Sollte si
12
52
Harald Bloom: The Western Canon. The Books and Sool of the Ages. New York: Harcourt Brace & Co 1994, S. 561.
die Literaturwissensa dazu entsließen, si wieder dem Lesestoff intelligenter Laienleser zu öffnen, so könnte das langfristige strategise Ziel australiser Universitäten angesits dessen tatsäli nur sein, das Studium der englisen Literatur ganz, oder wenigstens in großen Teilen, dur das Studium der Vergleienden Literaturwissensa zu ersetzen. 2. Das Entfernen der Literatur aus dem Studium der English Literature Cultural Studies, in der derzeitigen Verfassung, bleibt eine auffallend mehrdeutige Sammelbezeinung. Es herrst weder ein klarer Konsens über die Inhalte des Studiums no über dessen Organisation. Die versiedenen Verwendungen des Begriffs seinen si inhaltli um vier Hauptbedeutungen zu gruppieren: als Bezeinung für Inter- oder Postdisziplinarität; als Ausdru politiser Intervention in existierende Disziplinen; als Bezeinung für eine si inhaltli in Ritung Popkultur neu definierende wissensalie Disziplin und sließli als Bezeinung für eine neue wissensalie Disziplin auf der Grundlage eines neuen theoretisen Paradigmas. Moderne Cultural Studies, wie sie von Hoggart an der Universität Birmingham geprägt wurden, waren im Wesentlien interdisziplinär, allerdings mit Literaturwissensa als ihrem witigsten Bestandteil.13 Ein Vierteljahrhundert später vertri Hoggart no immer diese Auffassung.14 Ganz anders bei Hall, dem unmielbaren Nafolger von Hoggart in Birmingham. Er versteht Cultural Studies im Sinne politiser Intervention und mat am politisen Aspekt au die Ernsthaigkeit der Disziplin fest, wenn er festhält, „there is something at stake in cultural studies“, und zwar in einem Maße, wie dies na Hall nur für wenige intellektuelle Praktiken zutri.15 Ähnlie ‘politise’ Konzeptionen tauen in der gesamten Faliteratur der Cultural Studies immer wieder auf. So konstituiert na Simon During die politis engagierte Form der Analyse eines der arakteristissten Merkmale des Fas.16
13 14 15 16
Riard Hoggart: Speaking To Ea Other. Bd. 2. Harmondsworth: Penguin 1970, S. 255. Riard Hoggart: The Way We Live Now. London: Chao and Windus 1995, S. 173. Stuart Hall: Cultural Studies and its Theoretical Legacies. In: L. Grossberg, C. Nelson, P. Hall (Hgg.): Cultural Studies. London: Routledge 1992, S. 278. Simon During: The Cultural Studies Reader. Zweite Auflage. London: Routledge 1999, S. 2.
53
Die Vertreter der drien Auffassung sehen in den Cultural Studies eine völlig neue, dur das Studium der Populärkultur definierte wissensalie Disziplin. Zwar ging es in den heigen kulturellen Auseinandersetzungen Amerikas im Wesentlien um Rasse und Ethnie oder Geslet und Sexualität, do berührten selbst diese Fragen das Problem der Populärkultur, insofern als au hier kultureller Elitismus und Populismus aufeinander trafen. Für die Vertreter der kulturellen Elite wie Bloom drohten die Cultural Studies Chaucer, Shakespeare, Milton, Wordsworth und Wallace Stevens dur Batman-Comics, Mormonise Vergnügungsparks, Fernsehen, Filme und Ro zu ersetzen.17 Für kulturelle Populisten wie Lawrence Grossberg war hingegen genau dies das Verspreen der Cultural Studies. Sier ist, dass die Cultural Studies in Großbritannien und später in den USA dur eine quasi populistise Reaktion auf ältere elitäre Formen der Literaturwissensa entstanden sind. Sowohl Hoggart als au Williams haen si eindeutig dem Studium der Populär- bzw. Arbeiterkultur versrieben. Trotzdem aber hae keiner von beiden unter Cultural Studies aussließli das Studium der ‘populären Künste’ verstanden. Von daher widersprit das derzeitige Verständnis von Cultural Studies als Soziologie oder Semiotik der Massenmedien eigentli dem Gründungsgedanken. Zudem liegt insofern ein Missverständnis vor, als an die Stelle der alten binären Ordnung von Ho- und Populärkultur längst eine Vielzahl von kulturellen Nisenmärkten getreten ist, von denen wiederum jeder für si von denselben internationalen Medienkonzernen dominiert und von denselben Bildungs- und Medieninstitutionen zum Gegenstand der Kritik erhoben wird. Mulhern verwendet zur Bezeinung der elitären Position den deutsen Begriff der ‘Kulturkritik’ und zur Bezeinung des populären Moments den englisen Begriff der Cultural Studies, und das mit gutem Grund. Sowohl Raymond Williams als au Geoffrey Hartman haben in der jüngeren Vergangenheit dem Erbe der deutsen Romantik eine große Bedeutung für die Gesite des Kulturbegriffs zugesproen. Deutse Kultur, verstanden als Ausdru der menslien Natur, wurde hier der französisen civilisation, verstanden als Ausdru meaniser Gesilikeit, entgegen gesetzt.18 Kulturkritik meint dann au bei Mulhern nit nur die deutse Tradition. Vielmehr wird das Erbe der deut17 18
54
Bloom, The Western Canon, S. 519. Rayomd Williams: Keywords. A Vocabulary of Culture and Society. Glasgow: Fontana 1976, S. 78–80; Geoffrey Hartman: The Fateful Question of Culture. New York: Columbia University Press 1997, S. 205–207 u. 210.
sen Romantik über die Verwendung des Begriffs der Kulturkritik au auf die englise Tradition von Arnold bis Eliot und Leavis übertragen.19 Während Kulturkritik also zur Be- und Aufwertung der Hokultur beiträgt, sind die Cultural Studies, wie Mulhern sie versteht, für die Be- und Aufwertung der Massenzivilisation zuständig. Und do sind die beiden Begriffe keineswegs so antithetis wie sie erseinen, da die Cultural Studies letztli dieselbe ‘metakulturelle’ Diskursform reproduzieren wie die traditionelle Kulturkritik.20 In beiden Formen, so Mulhern, erfindet der ‘metakulturelle’ Diskurs „an authoritative subject, ‘good’ culture, be it majority or popular, whose function is to mediate a symbolic metapolitical resolution of the contradictions of capitalist modernity“.21 Aber au wenn vieles für diese Argumentation sprit, so sind Mulherns Kategorien do nit annähernd so umfassend wie von ihm behauptet. Wie Mulhern selbst anmerkt, war Williams Werk eine bedeutende Ausnahme, und zwar insofern, als es si zum Ziel setzte, eine unverkennbare, gegen elitäre Kulturkritik und populistise Cultural Studies gleiermaßen geritete Kulturpolitik zu etablieren.22 Daher, aber au ganz abgesehen von diesen spezifis politisen Fragen, sei an dieser Stelle betont, dass eine vierte Position im Spiel war und ist. Ihre Vertreter sahen in den Cultural Studies die gezielte Verbindung der wissensalien Besäigung sowohl mit dem Populären als au mit dem ‘Literarisen’. So verstanden, stehen die Cultural Studies weniger für einen Wesel des empirisen Objekts als vielmehr für eine Änderung des theoretisen Paradigmas. Eine zentrale Stelle nimmt dieser Gedanke bei Raymond Williams ein, dessen ‘empirise’ Arbeit systematis die Grenzen zwisen elitärer und populärer Kultur übersreitet. Do findet man ihn au bei anderen, so zum Beispiel in Greenblas Einordnung seines eigenen Werks zur Renaissance-Literatur als „the new historicism in cultural studies“.23 Zweifellos erfassen alle vier Auffassungen des Begriffs witige Aspekte der untersiedlien Entwilungsphasen der Cultural Studies. Es gibt aber au eine kumulative Logik, die vermuten lässt, dass die vierte Position am aussitsreisten ist, also nit die Entdeung eines neuen wissensalien Gegenstandes, au nit die ‘Dekonstruktion’ der disziplinären Grenzen, die 19 20 21 22 23
Francis Mulhern: Culture/Metaculture. London: Routledge 2000, S. XV–XVI. Ebd., S. 156. Ebd., S. 169. Ebd., S. 72. Stephen Greenbla: Learning to Curse. Essays in Early Modern Culture. London: Routledge 1990, S. 158.
55
Literatur von Fiktion, Kunst von Kultur und das Elitäre vom Populären abgrenzen, sondern vielmehr die Entwilung neuer Methoden zur Untersuung beider. Vor dem Hintergrund dieser Annahme habe i die Cultural Studies, nit ganz ernst gemeint, definiert als „social science of the study of the production, distribution, exange and reception of textualised meaning“.24 Verstehen wir Cultural Studies auf diese Weise, so folgt daraus, dass ihre intellektuelle Neuartigkeit in erster Linie theoretis und nit gegenständli ist; ein Umstand, der uns zur Frage na der Kritisen Theorie zurüführt. Zuvor jedo no eine letzte Bemerkung zu den Cultural Studies. In ihrer ursprünglien britisen Form waren die Cultural Studies beinahe ebenso anglozentristis wie das Studium der English Literature. Ihre zentrale intellektuelle Leistung bestand darin, die Auffassung von einer gemeinsamen Nationalkultur, wie sie si am stärksten im Kanon der Nationalliteratur manifestierte, dur die Vorstellung von einer Vielfalt klassenspezifiser Kulturen innerhalb dieser Nation zu ersetzen. In Australien hae der Nationalismus zudem selbst einen prägenden Einfluss auf die Cultural Studies. Hier, wie au in England, haen si die prototypisen Formen der Cultural Studies dur immanente Kritik am Studium der English Literature entwielt. Die Pluralisierung des Kulturbegriffs erfolgte unter Berufung auf die Nation und nit auf Klassen. Von daher stehen au die australisen Cultural Studies in der Tradition von Stephensen: Ihre dominierenden Themen sind Nationalität, Indigenität und Postkolonialismus, der vorherrsende methodologise Ansatz ist eine eigentümli ‘australise Semiotik’.25 Graeme Turner rechtfertigt diese Art von ‘Semio-Nationalismus’ mit den Worten: „it seems unwise to abandon (...) the category of the national as if it were irredeemably tainted (...) nationalism is immensely flexible. The terms in which it is currently constructed in Australia may well be established (...) but they are not fixed. While nationalism has proved to be a problem (...) we don’t resolve this by dispensing with the category altogether; nor should we, while we can still contest it and its constitutive discourses.“26 Was also als theoretise poststrukturalistise Auseinandersetzung mit dem Humanismus und damit gleizeitig als kosmopolitise De24 25 26
56
Andrew Milner: Re-Imagining Cultural Studies. The Promise of Cultural Materialism. London: Sage 2002, S. 5. Terry Threadgold: Preface. In: ders.: Semiotics – Ideology – Language. Sydney: Sydney Association for Studies in Society and Culture 1986, S. 11. Graeme Turner: National Fictions. Literature, Film and the Construction of Australian Narrative. Sydney: Allen and Unwin 1993, S. 154.
bae gegen ältere Formen des imperialistisen Kulturnationalismus begann, entwielte na und na seine eigenen nationalistisen Formen. In der Realität aber mutet dieser Nationalismus o seltsam leer an, beteuert und demonstriert er seinen australisen Charakter do nit so sehr aus Loyalität zu den Besonderheiten und Eigenheiten einer unverkennbar australisen Nationalkultur, sondern vielmehr als Miel zur Sierung eines eigenständigen Platzes oder, besser, einer Nise im zunehmend globalisierten anglophonen Hosulgesä. Am deutlisten zeigt si diese inhaltlie Leere vielleit im Fall der australisen Version postkolonialer Theorie, die o kaum mehr als eine modise, d.h. international verkäuflie theoretise Auffrisung älterer, sowohl der radikalen nationalistisen Kulturkritik als au der ‘Commonwealth Literatur’ entstammenden Themen ist. Wenn Edward Said au völlig zu ret die britisen Darstellungen Irlands als dramatise Ankündigung der nafolgenden Gesite des imperialistisen Abenteuers analysierte, so hat er si möglierweise do geirrt, als er Australien als ‘weiße’, Irland vergleibare Kolonie und weiße Australier als „an inferior race well into the twentieth century“ ansah.27 Das paradoxe Resultat seiner Ausführungen ist jedenfalls die Verwisung und nit etwa die Hervorhebung von Untersieden. Dies gilt sowohl für den Untersied zwisen den Perioden vor und na der Unabhängigkeit wie au für den Untersied zwisen Kolonialherren und Kolonialisierten. Die europäisen Kolonien sind allein im Sinne einer strengen zeitlien Einteilung (in die Zeit vor und die Zeit na der Unabhängigkeit) postkolonial. In jeder anderen Hinsit sind sie Beispiele einer anhaltenden Kolonialisierung, bei der die Nafahren der ersten Siedler weiterhin die kolonialisierten Ureinwohner dominieren. Au wurden die europäisen Kolonien historis als Übersee-Ausdehnungen Europas betratet, als ‘Eigenes’ und nit als ‘Fremdes’, oder, wie William Charles Wentworth sie 1823 in einem Sone besungen hat, als ‘New-Britannias’ und nit etwa als neue Irlands. Das theoretise Prestige und der radikale politise Glamour, die Autoren wie Said und Spivak anhaen, wurden dur die internationalen Vermarktungsstrategien des Routledge-Verlags wirkungsvoll mobilisiert, und zwar aus keinem anderen Grund als dem Bemühen, die australise Kritik an australiser Literatur der anglo-amerikanisen Lesersa zu verkaufen.28 27 28
Edward W. Said: Culture and Imperialism. London: Chao and Windus 1993, S. XVI u. 127. Bill Ashcro, Garth Griffiths, Helen Tiffin (Hgg.): The Empire Writes Ba. Theory and Practice in Post-Colonial Literatures. London: Routledge 1989 und ders. et al. (Hgg.): The Post-Colonial Studies Reader. London: Routledge 1995.
57
Wenn nun aber ein sol provinzieller Nationalismus au die dunkle Kehrseite der australisen Cultural Studies ist, so ist do au die positive Seite nit zu übersehen. In Australien, wie andernorts übrigens au, wurde die neue Protodisziplin zunehmend auf den multikulturellen Charakter der eigenen Gesellsa aufmerksam. In den USA befassen si die Cultural Studies bereits mit den populären Kulturen nit-engliser Spraen und belegen damit die immer offensitliere Übereinstimmung der Forsungsinteressen von Vergleiender Literaturwissensa, Cultural Studies sowie Hispanistik und Lateinamerikanistik. Der in der jüngeren Vergangenheit wieder auommende innenpolitise Authoritarismus und die Etikeierung des Fremden, wie sie in der gesamten westlien Welt, vor allem aber in den anglophonen Gesellsaen zu beobaten sind, haben zu einem wasenden Interesse an den kulturellen Aspekten der Politik im Berei von Immigration und Exil, Asyl und Internierung in der Philosophie, aber au in den Cultural Studies geführt.29 So war beispielsweise 2006 die alljährlie Konferenz der Cultural Studies Association of Australasia dem Thema ‘UnAustralia’ gewidmet. Die programmatische Rede hielt Jacques Rancière unter dem Titel „What Does it Mean to be ‘Un’? The Thinking of Dissensus Today“.30 Absließend sollte darauf hingewiesen werden, wie die wasende Bedeutung der politisen und akademisen Debae über Globalisierung ein erneutes Interesse an dem gewet hat, was Said als das „konkrete und systematise, kontrapunktise“ Nadenken über die „Beziehungen zwisen den Dingen“ bezeinet hat.31 Ein soles Nadenken liegt etwa David Harveys kultureller Geographie oder au Moreis jüngeren Untersuungen im Berei der Vergleienden Literaturwissensa zugrunde.32 Entseidend ist, soviel sollte deutli geworden sein, dass wir die Cultural Studies als komparatistises und nit als rein nationales Unterfangen begreifen müssen.
29 30 31 32
58
Giorgio Agamben: (Homo Sacer III) Stato di eccezione. Torino: Bollati Boringhieri 2003; Alain Badiou: Abrégé de métapolitique. Paris: Seuil 1998. Vgl. hp://www.unaustralia.com. Said, Culture and Imperialism, S. 408 (hier übersetzt von A. Stemmeri). David Harvey: Spaces of Hope. Berkeley: University of California Press 2000 und ders.: Spaces of Capital. Towards a Critical Geography. New York: Routledge 2001.
3. Vergleiendes Theoretisieren Mit Sit auf dieses komparatistise Unterfangen stellt si nun aber die Frage, wie si vergleiend theoretisieren lässt. Wele Art von Theorie eignet si am besten für eine Vergleiende Literaturwissensa als Spezialgebiet innerhalb der Vergleienden Cultural Studies? Sier ist es nit die Art von literarisem Humanismus, wie er von Bloom in The Western Canon vorgeslagen wird und für den Literatur weiterhin der unmielbaren Gefahr ausgesetzt ist, dur die Cultural Studies und die „Sool of Resentment“ (d.h. dur „Feminists, Marxists, Lacanians, New Historicists, Deconstructionists, Semioticians“) ausgeroet zu werden.33 Tatsäli mat Bloom äußerst bissige Bemerkungen über kontextuelle Herangehensweisen an kanonise Texte, in denen er das Produkt einer dur „deep reading“ ungeduldig gewordenen Generation sieht.34 Sein ‘Weltkanon’ ist eine seltsam anglozentristise – oder vielmehr Shakespeare-zentristise – Neuformulierung von Goethes Begriff von ‘Weltliteratur’.35 Aber zumindest entkommt er den brutaleren Formen des Anglozentrismus, wie er gemeinhin mit ‘bardolatry’ (Bardenvergöerung) in Verbindung gebrat wird. Denno basiert Blooms Position auf zwei grundlegend falsen Prämissen, dass es nämli, erstens, eine notwendige Opposition zwisen Literatur und Cultural Studies sowie, zweitens, einen unswer definierbaren, anhand leit zugänglier Bewertungskriterien etablierbaren literarisen Kanon gibt. Die erste Annahme widersprit beinahe gänzli dem, was der junge Morei für die auflagenstarke Belletristik beobatete: „Mass literature is not the undifferentiated and meaningless expanse most critics (...) say it is. It holds many surprises (...) because of the light it sheds on works of a different kind“.36 Die zweite Annahme vermeidet die Frage, wie wenig wir wissen (und wie wenig wir über unsere Unwissenheit wissen) eher, als dass sie sie berührt. Au sie wurde von Morei angesnien, wenn au erst in jüngerer Zeit. Auf die selbst gestellte Frage, was es bedeutet, Weltliteratur zu studieren, gibt Morei zur Antwort: „I work on West European narrative between 1790 and 1830 (...) Not really, I work on its canonical 33 34 35 36
Bloom, The Western Canon, S. 519 u. 527. Ebd., S. 65. Johann W. Goethe: Bezüge na außen. Gedenkausgabe der Werke. Briefe und Gespräe. Bd. 14. Züri: Artemis-Verlag 1950, S. 895. Franco Morei: Signs Taken For Wonders. Essays in the Sociology of Literary Forms. London: Verso 1988, S. 15.
59
fraction, which is not even one per cent of published literature (...) there are thirty thousand nineteenth-century British novels out there, forty, fiy, sixty thousand – no-one really knows, no-one has read them, no-one ever will. And then there are French novels, Chinese, Argentinian, American (...) Reading ‘more’ is always a good thing, but not the solution“.37 Moreis Lösung besteht darin, si von der Literatur- zu den Sozialwissensaen zu bewegen, und zwar konkret zu Immanuel Wallersteins Weltsystemtheorie.38 Diese Ritung hae si bereits in Moreis früheren Srien angekündigt. Es gibt, soweit i es erkennen kann, drei relativ klar abzugrenzende Phasen in Moreis Auseinandersetzung mit Literatur: Die erste beinhaltet die Essays in Segni e stili del moderno und seine Untersuung zum Bildungsroman Il romanzo di formazione, in denen versut wird, eine textbasierte „Soziologie der symbolisen Formen“ zu entwieln.39 Die zweite Phase beginnt mit Opere mondo und durzieht Atlante del romanzo europeo und seine versiedenen ‘Conjectures’; alle theoretis untermauert dur den Versu, die Weltsystemtheorie auf die Vergleiende Literaturwissensa anzuwenden. Die drie, bis heute andauernde Phase, wie sie si in Graphs, Maps, Trees zeigt, geht über den spezifisen Ansatz Wallersteins hinaus und ist dur eine o geradezu eklektise Vereinnahmung einer großen Bandbreite von Theorien, Methoden und Teniken gekennzeinet, von denen die meisten den ‘härteren’ Gesellsaswissensaen, insbesondere der quantitativen Gesitswissensa, der Geographie und der Evolutionstheorie entliehen sind. Rübliend ist es gewiss einfa, die positivistise Tendenz in Moreis Denken einsließli ihrer Stärken und Swäen aufzudeen. Seine frühe Erkenntnis jedo, dass bei allen kanonisen Ansätzen der Textkritik notwendigerweise die Bestimmung des Untersuungsobjektes jeglier empirisen Untersuung zeitli vorausgeht, ist zweifellos bis heute von zentraler Bedeutung. Morei selbst formulierte diese Einsicht einmal treffend mit den Worten: „if everyone behaved like literary critics (...) doctors might restrict themselves to studying only healthy bodies and economists the standard of living of the well-off“.40 Au hat die Weltsystemtheorie ganz offensitli einigen Erklärungswert, selbst wenn dies vielleit nur in Opere mondo klar erkennbar wird. I selbst 37 38 39 40
60
Morei, Conjectures on World Literature, S. 55. Immanuel Wallerstein: World-Systems Analysis. In: The Essential Wallerstein. New York: The New Press 2000. Morei, Signs Taken for Wonders, S. 19 (hier übersetzt von A. Stemmeri). Ebd., S. 14.
habe sie zur Erörterung der Entstehung und Entwilung des Science Fiction-Genre genutzt.41 Die Gesamtritung dieser positivistisen Tendenz ist aber nitsdestoweniger die Auslösung von Textkritik. Au ist swer einzusehen, warum eine Kombination von Weltsystemtheorie, ‘distant reading’ und Soziologie der literarisen Formen die Methode der Vergleienden Literaturwissensa sein soll – sta nur eine unter vielen. Spivak hat diesen Einwand mit der Frage formuliert: „Why should the (...) whole world as our object of investigation be the task of every comparativist (...)?“42 Jede um Vollständigkeit bemühte Darstellung eines kulturellen Prozesses muss die Textbedeutung bzw. das textuelle Moment ebenso einbeziehen wie die Analyse der institutionellen Bedingungen seiner Produktion, Distribution und Rezeption. Den Bli nur auf die institutionellen Bedingungen zu riten, mat wenig Sinn, da sole Institutionen kulturell überhaupt nur insofern von Bedeutung sind, als sie Texte produzieren, wele ihrerseits nur insofern relevant sind, als sie etwas bedeuten. No grundlegender jedo seint mir die anhaltende Bedeutung des Aktes der Textkritik für die soziale Critique. In The Political Unconscious sprit si Frederik Jameson diesbezügli für eine doppelte, weil gleizeitig sowohl die negative Hermeneutik der Ideologiekritik wie au die positive einer „non-instrumental conception of culture“ umfassende Hermeneutik aus.43 Die negative Hermeneutik, wie sie im Marxismus stark verbreitet ist, wäre dana vor allem insofern notwendig, als tatsäli alle Texte ideologiser Natur sind; während die positive Hermeneutik insofern unverzitbar ist, als alle Texte immer au utopiser Natur sind. Für Jameson sind selbst no die exklusivsten Formen des Klassenbewusstseins der Herrsenden ihrer Natur na utopis.44 Wie Paul Jones bezügli einer vergleibaren Methode bei Williams festhält, zielt diese Art der „emanzipatorisen“ Ideologiekritik auf eine Anklage der immanenten Analyse des „emanzipatorisen Verspreens“, wie es dem utopisen Anspru aller Ideologien eigen ist – ein Verspreen, das diesen Anspru selbst wiederum eher in einen „court of critical ap41
42 43 44
Andrew Milner: Comparative Literature, World-Systems Theory and Science Fiction. In: Christine Magerski, Robert Savage, Christiane Weller (Hgg.): Moderne Begreifen. Zur Paradoxie eines sozioästhetisen Deutungmusters. Wiesbaden: Deutser Universitätsverlag 2007, S. 417–428. Spivak, Death of a Discipline, S. 108f. Fredric R. Jameson: The Political Unconscious. Narrative as a Socially Symbolic Act. London: Methuen 1981, S. 286. Ebd., S. 289.
61
peal“ verwandelt, sta zu einer ideologisen Legitimation zu führen.45 Ähnlie Überlegungen lassen si selbstverständli au auf Adorno und Marcuse anwenden. Mein Verweis auf Williams führt mi zu einigen absließenden Bemerkungen bezügli der anhaltenden Bedeutung des von ihm entwielten kulturell-materialistisen Ansatzes.46 Williams prägte den Begriff ‚kultureller Materialismus’ (‚cultural materialism’), um die von ihm herbeigeführte theoretise Synthese zwisen linker Literaturkritik à la Leavis und Westliem Marxismus zu erfassen. ‘Kultureller Materialismus’ wird dabei verstanden als „a theory of culture as a (social and material) productive process and of specific practices, of ‘arts’, as social uses of material means of production (from language as material ‘practical consciousness’ to the specific technologies of writing and forms of writing, through to mechanical and electronic communications systems)“.47 Um die false Opposition zwisen ‘idealistisen’ Darstellungen von Kultur als Bewusstsein einerseits und ihren ‘materialistisen’ Darstellungen als Ergebnis des ‘Überbaus’ andererseits zu umgehen, bestand Williams darauf, dass Kultur real und materiell ist: „From castles and palaces and ures to prisons and workhouses and sools (...), from weapons of war to a controlled press (...). These are never superstructural activities. They are necessarily material production.“48 Dabei war Williams’ ‘kultureller Materialismus’ selbstverständli Teil einer breiteren Bewegung, die in den 1960er Jahren damit begann, na neuen theoretisen, der unumgänglien Materialität von kulturellen Texten und Institutionen Renung tragenden Paradigmen zu suen; eine Bewegung wohlgemerkt, die au die Bedingung der Möglikeit für Moreis Werk stellte. Für Williams kam der entseidende Durbru mit The Long Revolution, seinem ersten wegweisenden Sri in Ritung auf eine ernstha soziologise Analyse von Literatur und Kultur. An einem entseidenden Punkt seiner Ausführungen hielt er fest, dass es zweifellos ein Fehler war, anzunehmen, man könne Werte oder Kunstwerke ohne Berüsitigung 45 46 47 48
62
Paul Jones: „The Problem is Always one of Method...“ Cultural Materialism, Political Economy and Cultural Studies. In: Key Words: A Journal of Cultural Materialism 2/1999, S. 28–46. I habe dieses Thema vertie in: Andrew Milner: Re-Imagining Cultural Studies. The Promise of Cultural Materialism. London: Sage 2002. Raymond Williams: Notes on Marxism in Britain since 1945. In: ders.: Problems in Materialism and Culture. Selected Essays. London: Verso 1980, S. 243. Raymond Williams: Marxism and Literature. Oxford: Oxford University Press 1977, S. 93.
der jeweiligen Gesellsa, in der sie Geltung erlangen, angemessen untersuen. Zwar ritet si dies gegen ein Verständnis von Literaturwissensa wie es si etwa bei Leavis findet, do könnten Bloom und andere zeitgenössise Anhänger des Kanons ebenso die Zielseibe der hier von Williams formulierten Kritik sein. Gleies gilt für seine Kritik am kommunistisen Marxismus, derzufolge es ebenso fals sei, die soziologise Erklärung als die bestimmende anzusehen und Werte wie Kunstwerke für Nebenprodukte des Sozialen zu halten. Au diese Kritik ließe si problemlos auf die heutigen Vertreter eines strengen Soziologismus ausdehnen.49 Witig ist hier, dass Williams, von dieser beidseitigen Kritik ausgehend, seine na meiner Einsätzung stihaltigste These entwielte: The art is there, as an activity, with the production, the trading, the politics, the raising of families (…) It is (...) not a question of relating the art to the society, but of studying all the activities and their interrelations, without any concession of priority to any one of them we may oose to abstract (...) I would define the theory of culture as the study of relationships between elements in a whole way of life. The analysis of culture is the aempt to discover the nature of the organization whi is the complex of these relationships. Analysis of particular works or institutions is, in this context, analysis of their essential kind of organization, the relationships whi works or institutions embody as parts of the organization of a whole.50
Diese Vorgaben haben meines Eratens bis heute nits von ihrer Gültigkeit verloren. Ihnen zu folgen impliziert, dass wir duraus von Moreis institutioneller Analyse lernen und sie anwenden können, dass wir aber trotzdem nit zulassen dürfen, dass diese Form der Analyse an die Stelle von Textkritik tri. Der entseidende Punkt ist dabei wohl, dass wir es hier mit untersiedlien Ebenen der Analyse zu tun haben, die wiederum untersiedlie Untersuungsgegenstände und mithin untersiedlie Arten von Theorien und Methoden erfordern. Wir werden höstwahrseinli die gesamte Bandbreite benötigen, wenn wir zu einer Form der Vergleienden Cultural Studies gelangen wollen, die den zunehmend globalisierten – aber au textualisierten – Realitäten des 21. Jahrhunderts gewasen ist.
Aus dem Englisen von Annee Stemmeri und Christine Magerski 49 50
Raymond Williams: The Long Revolution. Harmondsworth: Penguin 1965, S. 61. Ebd., S. 61–63.
63
Transition und Methode. Überlegungen zum lokalen Zustand des literarisen Feldes Dean Duda (Zagreb)
Die Frage na dem gegenwärtigen Stand der Literaturwissensa, ihrem Status und ihren Perspektiven, vor allem im Kontext der aktuellen Reformen im akademisen bzw. universitären Feld, na der Dynamik der literarisen Entwilung sowie den lokalen, d.h. kroatisen Besonderheiten, ist wohl am sinnvollsten auf die einfaste, nämli die deduktive Weise zu stellen. Dafür gibt es mindestens zwei triige Gründe. Der erste ist, dass auf diese Weise, zumindest operativ, die Problematik von Literatur und Literaturwissensa no einmal in einem weiteren und analytis ansprusvolleren Entwilungszusammenhang der Geistesund Sozialwissensaen verortet werden kann.1 Auf der einen Seite müsste diese (lokale) Positionierung, wird sie systematis ausgeführt und begründet, zu einer glaubwürdigen Antwort auf den traditionellbesränkten, weitgehend romantisen Zugang der Nationalphilologie, auf ihre Selbstgenügsamkeit und die Auswirkungen der Provinzialisierung führen. Auf der anderen Seite könnte dieser Zugang eine ernst zu nehmende Herausforderung für jene epistemologise oder kulturelle Position darstellen, die von Seiten der postkolonialen Theorie, allerdings in einem anderen Problemzusammenhang, der Figur des Weiterverkäufers (comprador) zugesrieben wird, also eines Vertreters der lokalen Elite, der, bei gesiertem Gewinn, mit den in der Metropole entstandenen großen Ideen handelt, überzogen von einer gehörigen Sit ideologisen (oder theoretisen, methodologisen) Blendwerks. Der zweite Grund besteht darin, dass die deduktive Perspektive die Voraussetzungen für einen komparatistisen Zugang sa, in dem untersiedlie (nationale) literarise Felder erkennbar werden, ihre Parallelen und Differenzen, ihre Organisationsmodelle, die Prozesse der Dominanz sowie 1
Dieser Zugang wurde bekanntlich, zumindest in der zweiten Häle des 20. Jahrhunderts, unter diversen Namen, in diversen Zusammenhängen und in diversen epistemologischen Ordnungen entwickelt und dargelegt, wobei o ein Missverhältnis zwischen prinzipieller Befürwortung und tatsächlicher Erprobung im Rahmen konkreter Problemstellungen zu verzeichnen war.
65
die hierarisen Strukturen des Feldes. Ein höst interessanter Wirkungsaspekt des literarisen Feldes in diesem Zusammenhang ist „das öffentlie Leben der Literatur“,2 bzw. die Funktionsweisen der Literatur (und des dazugehörigen Wissens) in der öffentlien Kultur, der politisen und der alltäglien Sphäre, in Sulen und an Universitäten. Zu berüsitigen ist darüber hinaus die mediale Präsentation der Literatur, die Entwilung der Literaturindustrie, das Verhältnis zur Literatur als öffentliem Gut und profitorientiertem Marktprodukt. Wir gehen also vom Allgemeinen zum Besonderen vor, unter Berüsitigung einiger verbindender Rahmenbedingungen: zum einen der Elemente eines globalen diagnostisen Diskurses, zum anderen der dominanten Merkmale des postsozialistisen bzw. transformationsgesellsalien Zustands und der diesbezüglien Funktionsweise der Literatur als Institution. Die Populärkultur – teils in ihrer medialen Gestalt, do zunäst, beobatet vom Standpunkt der Distribution, als marktvermielte und überwiegend geteilte Kultur (common culture) – erseint dabei als Slüsselelement des neuen Zustands wie au des zu seiner Analyse benötigten epistemologisen Rahmens. Unter den neuen Umständen kommt es nämli zur Ausformung eines spezifisen transformationsgesellsalien literarisen Feldes, in dem au – von methodologiser oder klassiser literaturwissensalier Position aus – die Frage des angemessenen Zugangs bzw. ein ganzer Fragenkomplex von Blindheit und Einsit aufseint, der in der lokalen, regionalen, also relativ besränkten Optik zur Auseinandersetzung mit den Grundproblemen der Literaturwissensa und ihrer Systematik beitragen könnte. 1. Der diagnostise Apparat der Kulturwissensaen bemüht si seit etwa zwanzig Jahren um die Bereitstellung von Kategorien für eine angemessene Besreibung dominanter Züge der zeitgenössisen Welt. Jenseits aller perspektivisen und terminologisen Differenzen führt das breite diagnostise Repertoire zu vergleibaren Qualifikationen hinsitli der Entwilungsdynamik und der Merkmale des zeitgenös2
66
David Carter, Kay Ferres: The Public Life of Literature. In: Tony Benne, David Carter (Hgg.): Culture in Australia: Policies, Publics and Programs. Cambridge: Cambridge University Press 2001, S. 140–160.
sisen Zustands. Ulri Be sprit etwa von der Weltrisikogesellsa und der Zweiten Moderne bzw. der reflexiven Modernisierung;3 Anthony Giddens von der entfesselten Welt und unserer Lebensgestaltung unter den Umständen der Globalisierung sowie von Europa im globalen Zeitalter;4 Pierre Bourdieu betont die Unbeständigkeit (précarité) als omnipräsentes Merkmal, das mit Unsierheit, Ungewissheit und der Unmöglikeit rationaler Prognosen einher geht.5 Zygmunt Bauman erprobt seit einem Jahrzehnt die Idee einer flütigen Moderne und ihrer Aspekte: der flütigen Liebe, des flütigen Lebens, der flütigen Angst, der flütigen Zeiten, bzw. einer ganzen Reihe mehrfa verbundener, dur die unauörlie Angst vor Rüstand oder Ausfall aus den dominanten Trends der besleunigten Konsumgesellsa in Zeiten der Ungewissheit gekennzeineter Phänomene.6 Riard Senne widmet seine Aufmerksamkeit der Kultur des neuen oder flexiblen Kapitalismus, der zu einer grundlegenden Transformation der Institutionen, der Arbeitsfähigkeit und des Konsums, leider jedo zu keinem Freiheitszuwas der Mensen geführt hat.7 Unabhängig davon also, ob es um Diagnosen geht, die von der Idee einer postindustriellen Gesellsa ausgehen, von der Besreibung und Kritik des neoliberalen Kapitalismus oder aber eine Reihe neuer, relativ braubarer ‘post-iser’ Kategorien vorlegen; unabhängig davon, ob sie aus dem Berei der Wirtsastheorie, der Kultur, der politisen oder der sozialen Theorie kommen; abgesehen sließli au von der unabdingbaren Skepsis gegenüber dem westlien Privileg globaler Diagnosen: Die angeführten Positionen seinen sehr überzeugend jenes Problem zu treffen, das si, unter Rügriff auf
3
4 5 6
7
Ulri Be: Risikogesellsa. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986; Ulrich Beck, Anthony Giddens, Sco Lash: Reflexive Modernization. Politics, Tradition and Aesthetics in the Modern Social Order. Stanford: Stanford University Press 1994; Ulri Be: Weltrisikogesellsa. Auf der Sue na der verlorenen Sierheit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007. Anthony Giddens: Runaway World. How Globalization is Reshaping Our Lives. New York: Routledge 2000; Ders.: Europe in the Global Age. Cambridge: Polity Press 2007. Pierre Bourdieu: Prekarität ist überall. In: ders.: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz: UVK 1998 (19971), S. 96–102. Zygmunt Bauman: Liquid Modernity. Cambridge: Polity Press 2000; Ders.: Liquid Love: On the Frailty of Human Bonds. Cambridge: Polity Press 2003; Ders.: Liquid Life. Cambridge: Polity Press 2005; Ders.: Liquid Fear. Cambridge: Polity Press 2006; Ders.: Liquid Times. Living in an Age of Uncertainty. Cambridge: Polity Press 2007. Richard Senne: The Culture of the New Capitalism. New Haven u. London: Yale University Press 2006.
67
einen Titel von Riard Hoggart, einfa bestimmen lässt als „the way we live now“.8 Gehören also Unbeständigkeit, Unsierheit und Flexibilität zu den Grundmerkmale der Gegenwart, so erweist si die Transition – am einfasten zu bestimmen als Angleiung der ehemaligen sozialistisen Gesellsaen an das ersehnte Modell des kapitalistisen Wirtsassystems und der demokratisen Gesellsa – als Prozess, von dem nit erwartet wird, dass er jemals endet. Dort nämli, wo die Transformationsgesellsaen anlangen möten, dominieren Unbeständigkeit und Unsierheit, so dass die Transformation in der Tat kein festes Ziel hat; gesiert ist allenfalls die Kontinuität der Veränderung, jeweils neue Flexibilisierungssübe und Rüstandsängste, also typise Merkmale des Baumansen flütigen Lebens. Auf der Sue na Belegen genügt wohl der Hinweis auf die diversen europäisen Erfahrungen im Berei der Universitätsreformen, wobei als einzige Abfederung für Unsierheit, ernsthae Swierigkeiten und Fehleinsätzungen in der Regel die Vorstellung vom ‘Entwilungsprozess’ in Erseinung tri. Unter solen Bedingungen existieren au die Literatur und das dazugehörige Wissen, in diesem Rhythmus pulsiert au ihre institutionelle Ordnung. Wenn der gesellsalie Prozess der Umwandlung, vereinfat gesehen, des Sozialismus zum Kapitalismus unvermeidbar mit Veränderungen in allen Bereien verbunden ist; wenn die Gesellsa gewissermaßen zum Laboratorium wird, in dem alles neu zu definieren und umzuformen ist, so ist das Erseinen neuer Artikulationen und Akteure, die Revision bestehender und die Aushandlung neuer Arrangements selbstverständli. Wie und mit welen Konsequenzen auf sozialistisem Boden der flexible Kapitalismus gedeiht, dies häe wohl eine zentrale Frage der lokalen Spielart der Geistes- und Sozialwissensaen sein sollen. Die Analyse aktueller Entwilungsprozesse zählte und zählt jedo nit zu ihren Prioritäten, aus Gründen, die selbst einer umfassenderen epistemologisen Auseinandersetzung wert wären. Diese Wissensaen mussten wohl au selbst eine organisatorise und institutionelle Entwilung meistern, um ein Minimum an wissensalier Reflexion der aktuellen Entwilungen bieten zu können; die Verzögerung der Reflexion ist sierli au auf das traditionelle rhetorise Klisee von der unabdingbaren historisen Distanz zurüzuführen, womit sie auf die Teilhabe an und die Einflussnahme auf die gesellsalien Prozesse im Grunde verzitet haben. 8
68
Richard Hoggart: The Way We Live Now. London: Chao & Windus 1995.
Unsere zentrale Frage gilt jedo dem methodologisen Zugang im weitesten Sinne, d.h. den Entwilungen im literarisen Feld im Kontext der Transformationsprozesse, na den an der Artikulation dieses Feldes teilhabenden Elementen, ihrer öffentlien Präsenz und ihrer Relevanz im Rahmen der Literaturwissensa. Mit anderen Worten: Es geht um die Teilhabe der Literatur am allgemeinen Transformationsprozess sowie die Besreibung und Reflexion dieser Teilhabe im Rahmen des zuständigen Faes. Geht es um die Grundzüge der Veränderungsdynamik auf der einen und der Entwilung des Faes auf der anderen Seite, ist die Antwort nit allzu komplex. Die Literaturwissensa war weder bereit für no interessiert an den Veränderungen des literarisen Feldes im Transformationsprozess: Die Veränderungen wurden nit einmal wahrgenommen. Diese neue Artikulation des literarisen Feldes und seine öffentlie Wahrnehmung setzten nämli erst um das Jahr 2000 mit seiner Anpassung an die neuen Umstände ein.9 Im Untersied zur bisherigen literarhistorisen Periodisierung, die die Entwilungsdynamik der kroatisen Literatur, vor allem seit der Mie des 20. Jahrhunderts, mit bestimmten Organisationsmodellen der intellektuellen Elite – meistens Sristellergenerationen und ihren Zeitsrienorganen – in Zusammenhang bringt, werden die Entwilungsimpulse seit der Wende in ganz anderen Bereien verortet. Um überhaupt wahrgenommen zu werden, musste die Literatur si den Anforderungen der neuen Zeit anpassen, d.h. ihrer Projektion in der kroatisen Medienwelt als dominantem Ort der Formung und Reproduktion der sozialen Sphäre. 2. Das Spektakel als beliebteste Form stellte die Literatur vor die Herausforderung, si selbst als öffentlies Ereignis zu inszenieren; dies ge9
Die 1990er Jahre stellen in dieser Hinsit gewissermaßen eine verzögerte Transition dar. Der Entwilungssub um die Jahrtausendwende bestand darin, dass die Figur des ‘Kroaten’ – d.h. des national erweten Patrioten als dominanten sozialen Akteurs der 1990er Jahre – in der öffentlien Szene abgelöst wurde dur die Figur des ‘Konsumenten’ – d.h. den Lifestyle des neoliberalen transformationsgesellsalien Konsumenten. Fast überflüssig zu erwähnen, dass die Kiez-Läden dur Shopping-Citys, die klassisen Kino-Säle dur Multiplex-Kinos ersetzt werden. Die beatlie Menge heimiser TV-Produktion von populären Fiktionen (Soap-Opera, Sitcom u.a.) in den letzten Jahren zeugt ebenfalls von Veränderungen in der Kulturindustrie.
69
sah in Form eines frequenten Festivals mit öffentlien Lesungen in der Kneipen- und Klub-Szene, also an Orten der populären Alltagskultur. Im Repertoire der öffentlien Erseinungsformen der Literatur duraus bekannt, ersien diese Praxis diesmal in einem besonderen Zusammenhang und zeitigte weit reiende Folgen. Im Hinbli auf den hohen Deungs- bzw. Integrationsgrad der Populär- und der Medienkultur – möglie terminologise Bedenken einmal beiseite lassend – kann man sagen, dass die Literatur, indem sie Räume und Organisationsmodelle der Populärkultur eroberte, plötzli in ganz neuer Form das mediale Feld betrat. Für die dominante Form des transformationsgesellsalien Kapitalismus und seine medialen Prioritäten, selbstverständli au für die Gemeinsa der Konsumenten als potenzielle Lesergemeinsa, ist die Literatur also nit als Text, sondern aussließli als Ereignis von Interesse. Die Träger dieses Prozesses und seine Organisationsform sind bekannt geworden unter dem Namen FAK (Festival der alternativen Literatur), der bald na dem Einsetzen des Medien-, Verlags- und Lesererfolgs in Festival der A-Literatur geändert wurde. Seinen alternativen Charakter söpe das Festival aus der Stagnation des literarisen Feldes der 1990er Jahre, seiner sozialen und medialen Marginalität sowie seiner völlig veralteten Funktionsweise. Trotz grundlegendem Wandel des sozialen Umfelds funktionierte das literarise Feld nämli weiterhin na etatistisem Muster, intensiver sogar als etwa in Zeiten des dekadenten Sozialismus seit Ende der 1970er Jahre.10 Der Ausfall dieses Musters konvergiert vollständig mit den eingangs zitierten Diagnosen zu gegenwärtigen Entwilungstrends der globalen Gesellsa. Das aktivierte populärkulturelle Modell, das der Literatur ihr transitionsgesellsalies Leben eingehaut hat, weist große Ähnlikeiten mit der Ökonomie der Klub-Kultur und ihrer Kategorie des subkulturellen Kapitals auf, wie es von Sarah Thornton in Anlehnung an Bourdieu benannt und besrieben worden ist.11 Mehrere Merkmale der sozialen Logik 10
11
70
In einem äußerst simplifizierten Interpretationsmodell könnte man sagen, dass der gesellsalie Wandel in Kroatien Anfang der 1990er Jahre aussließli über die Metanarration vom Nationalstaat wahrgenommen wurde. An zweiter Stelle war das politise Narrativ von der parlamentarisen Demokratie, erst an drier die freie Marktwirtsa bzw. der Kapitalismus. Der Prozess der Transition mate si gerade in der Umkehrung dieser Reihenfolge bemerkbar. Die Folgen dieser Umkehrung können au mit den Veränderungen des literarisen Feldes in Zusammenhang gebrat werden. Sarah Thornton: Club Cultures. Music, Media and Subcultural Capital. Cambridge: Polity Press 1995.
des subkulturellen Kapitals erkennt man als Anliegen oder als Resultat in der festival- und klubmäßigen Inszenierung der Literatur wieder: 1. Das subkulturelle Kapital kann nit vollständig in Kategorien des ökonomisen Kapitals überführt werden (gute Unterhaltung, Spaß, Spontanität, Genuss). 2. Seine Bestimmung und Formung obliegt der Gemeinsa aller Interessierten (Publikum, Autoren, Organisatoren, Klub-Inhaber u.a.). 3. Daher bietet es die Illusion der Klassenlosigkeit und Gleiheit, die zur Neubestimmung der Positionen von Autor und Publikum führt. Es geht um eine grundlegende Demokratisierung der Literatur, um Energien eines literarisen Populismus, der vielen neuen Autoren den Weg ebnen wird. 4. Gesteuert wird seine Zirkulation vor allem dur die Medien – und das bedeutet, dass es im Zuge der Umformung des literarisen Feldes zum Verlust oder zumindest zur Neubestimmung der herkömmlien Formen der Reflexion über die Literatur kommt. Im Hinbli auf den Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist das letztgenannte Merkmal von besonderer Bedeutung: Die Antwort auf die Frage, wer das subkulturelle, in diesem Fall das transformationsgesellsalie Kapital eigentli steuert. Da die ganze Aktion der ‘Belebung der Literatur’ weder auf untersiedlie Autorenpoetiken, no überhaupt auf qualitative Kriterien setzte – stand sie do, mit den Worten eines Teilnehmers, im Zeien einer kollektiven Angst vor dem „Tod des Lesens“, so verwundert es nit, dass das erste Opfer der neuen Konstellation die Reflexion ist. Sie steht einerseits den Medien, andererseits der neuesten Produktion am nästen. Die literarise Kritik als wertender Diskurs fiel so als erste aus dem Spiel, dergestalt etwa, dass sie in den Medien entweder völlig gestrien oder auf die knappe Vorstellung neuer Texte reduziert wurde, als ob es um Werbung für Massenkonsumgüter ginge. Die Literaturkritik wurde zum Entwilungsopfer der lokalen Literaturindustrie, während die Literatur selbst, vereinfat gesagt, si vom Text zum öffentlien Ereignis, zum Event entwielte. Der ehemalige Ort der Literaturkritik verswand mit der Absaffung der Kulturbeilagen in der Tagespresse – neuerdings wahrgenommen als überflüssiger und altmodiser Ballast. Von diesem Trend zeugt wohl am überzeugendsten der Saverhalt, dass in den letzten drei bis vier Jahren mindestens zwanzig neue und interessante Autorinnen und Autoren die literarise Szene betreten haben, do kein einziger neuer Literaturkritiker, obwohl die Produktion in diesem Zeitraum au zahlenmäßig einen Aufswung erlebte: No vor ses bis sieben Jahren ersien weniger als ein Dutzend 71
neue Romane pro Jahr – im Verlagsjahr 2007 waren es fast sezig. Eine erste Institution der literarisen Reflexion ist somit fast restlos aus dem literarisen Feld verswunden; desgleien sind au literaris-poetologise Auseinandersetzungen der Autoren versiegt. Sließli bra au das kollektivistise Gebäude jenes Literatur-Festivals zusammen, da na der Phase medialer Etablierung unter den Teilnehmern plötzli eine Auseinandersetzung um Wertkriterien ausbra, die den Zusammenhalt trübte und das gemeinsalie Populärprojekt in Frage stellte. Das interessanteste Ereignis im Swundprozess der Literaturkritik fand jedo im Sommer 2005 sta, als die Medienkorporation Europapress Holding (Miteigentümer ist WAZ) im Woenrhythmus sieben neue Romane kroatiser Autoren auf den Markt brate. Jeder Roman war nur eine Woe lang an den Zeitungsverkaufsstellen zugängli und wurde ansließend aus dem Vertrieb gezogen. Für die Literatur und den Literaturmarkt von kroatiser Größenordnung war dies ein gewitiges infrastrukturelles Ereignis, eine Produktionszahl, die nur ein Jahrzehnt zuvor der gesamten Jahresproduktion entsproen häe. Wie kann irgendeine Form der Literaturkritik zum Zuge kommen, wenn das darzustellende Produkt sofort wieder verswindet? Die konkurrierenden Medienkorporationen funktionieren na dem Prinzip des gegenseitigen Nitangreifens, so dass es kaum verwundert, dass ein ruhiges Zusammenleben dur Nitbeatung konkurrierender Projekte gesiert wird – au wenn es um Neuerseinungen auf dem Literaturmarkt geht. Unter diesen Umständen häe die – ausgebliebene – Diskussion über die neuen kulturindustriellen Zusammenhänge ein sinnvolles, längerfristig braubares Narrativ über die Standardisierung und Rationalisierung jener Distributionsteniken bieten können, die das literarise Feld völlig neuen, in dem nabarlien, bunten und hart gesoenen Feld der Populärkultur seit Jahrzehnten gängigen Regeln ausgesetzt haben. An diese Welt hat si die Literatur erst zu gewöhnen. Die Gewöhnung läu als Transformation des literarisen Feldes, in dem die literarise Kritik keinen Ort mehr hat. In der Welt der Unbeständigkeit bleiben also von der literarisen Kritik allenfalls Reste übrig, die si im Zeien der geforderten Flexibilität zur Textsorte Information von dursnili 2500 Zeien und ohne ein Mindestmaß an literarisem Wissen gewandelt haben. Zwei weitere Erseinungen sind symptomatis für den Zustand des Feldes. Erstens: Der Swund der Literaturkritik wurde teilweise ersetzt dur die Blogosphäre – eine Reihe von Internet-Blogs zum Thema Literatur, u.a. mit Kommentaren zu neuesten Literaturerseinungen. Ein 72
Ersatzforum, dessen Särfe dur die (früher oder später entlarvte) Anonymität gewährleistet wird, oder aber eine unverzitbare Wissensform im neuen medialen und gaungstypologisen Arrangement – dies ist eine witige Frage. Zweitens: Der Fall des neuen Romans von Miljenko Jergović, Srda pjeva, u sumrak, na Duhove (Srda singt, bei Sonnenuntergang, zu Allerheiligen), ersienen 2007 bei Europapress Holding und zugängli (zumindest in den ersten ses Monaten) nur für Mitglieder eines neu gegründeten korporativen Literaturklubs, dem öffentlien literarisen Leben somit fern geblieben. Denn obwohl der Eintri in den Klub problem- und kostenlos ist, bedeutet die Umgehung des normalen Vertriebs, dass au gar keine öffentlie Reaktion, sondern ledigli der stumme Privatkonsum erwartet wird. Tatsäli ersien kein einziger kritiser Satz zu dem Roman, no seint er zum Gegenstand mündlien Austauss über literarise Neuerseinungen geworden zu sein. Vom lauten, ‘festivalesken’ Eintri in die Transformation des literarisen Feldes, seine Demokratisierung und popkulturelle Artikulation, sind wir bei korporativer Exklusivität und öffentliem Sweigen als vorläufig letzter interessanter Station der kulturindustriellen Entwilung angelangt. Die Romangaung, bereits mehrmals erwähnt, soll in ihrem gegenwärtigen Status kurz beleutet werden. Zu den transformationsgesellsalien Veränderungen des literarisen Feldes gehört au die gaungsmäßige Umsitung der kroatisen Literatur. In dieser Umsitung erseint der Roman als dominante Gaung, allerdings sind seine Popularität und die neue Konstellation von beredtem Sweigen umgeben, als ob die Erinnerung an die alte Beziehung zwisen dem Roman und der bürgerlien Gesellsa verswunden wäre. Dabei ist diese Problematik reaktualisierbar als neue Beziehung zwisen der Gattung und der Rekonstituierung der bürgerlien Gesellsa im Zuge der Transition – ein neues Moment in der Dynamik des literarisen Feldes. Außer dem dominanten Roman fallen einige neue Lifestyle-Gaungen auf, darunter eine Reihe imitativer i lit-Modelle, sowie die in jüngster Zeit besonders dynamise post-touristise Reisebesreibung. Die Verankerung dieser Gaungen im populärkulturellen und medialen Feld liegt auf der Hand. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das literarise Feld son bald na dem ersten Entwilungssub ein den meisten europäisen Erfahrungen vergleibares Profil angenommen hat. Einmal angeregt, lief die transformationsgesellsalie Entwilung in der gewünsten Ritung: Produktionssteigerung, erstarktes Leserinteres73
se, preiswerte Klassiker und neue Texte im Massenvertrieb am Zeitungsstand, neue korporative Literaturpreise, Literaturmessen, entwieltes Subventionswesen und Stipendien. In der Tat hat das literarise Feld in Kroatien, im Zusammenspiel von Medien-Korporationen, Verlagswesen und staatlien Institutionen, eine den dominanten globalen Tendenzen entspreende Stufe infrastruktureller Entwilung erreit. 3. Warum sind diese Entwilungen von der institutionellen Reflexion nit erfasst worden? Und wele epistemologise Konstellation würde die Einbeziehung der skizzierten Elemente in ein systematiseres analytises Projekt mögli maen? Die Produktionsumstände des literaturwissensalien Diskurses in den sozialistisen Zeiten vor der Wende erklären großteils die analytisen Unterlassungen in der Auseinandersetzung mit dem Transformationsprozess. Das Soziale war lange Zeit ein verpönter Berei der Literaturwissensa; das Mediale galt als völlig trivial und ohne Interesse; das Populäre sließli war Gegenstand einer intellektuell-elitistisen Veratung, die dem ganzen Feld der damals so genannten Massenkultur entgegengebrat wurde. Die Literaturwissensa der Vor-Wende-Zeit war vor allem auf der antipositivistisen Revolte begründet; sie bewegte si überwiegend im Berei von Stil, Struktur, Zeien und Bedeutung – der um Literarizität und Text kreisenden Begriffsfelder. Die Literatur jener Zeit ist großteils nur die Sprae in ihrer poetisen Funktion, Jakobsons Narit, ihrer selbst wegen von Interesse, während das Soziale ziemli abstrakt mit der Kategorie des Kontextes verbunden wurde. Au die gelegentlien Transfers jener Wissensbestände, die – vor allem dank den kroatisen Germanisten – den Berei des Sozialen berührten, wie etwa die Rezeptionsästhetik, kamen im lokalen Kontext in der Regel gar nit zur Anwendung. Die Untersuung von Lesergemeinsaen – sei es in diaroner Perspektive, sei es in der konkreten gegenwärtigen Situation – stieß auf kein nennenswertes Interesse. Die Literaturwissensa war einfa nit in der Lage, den sozialen Verbrau der Literatur, die Lesegewohnheiten oder wenigstens den Erwartungshorizont der Leser zu reflektieren. Aus vergleibaren Gründen blieb au die Wahrnehmung der Vielfalt sozialer Erseinungsformen und Konsumvarianten der Literatur im alltäglien Berei des so genannten Niederen aus, abgesehen von dem unhinter74
fragt vorausgesetzten Gegensatz von Ho- und Trivialkultur selbst. Als die Problematik der Trivialliteratur Eingang in die Literaturwissensa fand, blieb der Zugang wieder einmal besränkt dur die Fixierung auf den Text und eine intellektuell-elitistise Kritik. Das Triviale wurde niemals populär in der zeitgenössisen Bedeutung, blieb reduziert auf die Merkmale des Sematismus, der Voraussehbarkeit und der einfaen Textverfahren. Es blieb, um auf eine alte These zurüzugreifen, vor allem ideologis, während die Hokultur immer und vor allem ästhetis ist. Eine Folge dieser Konfiguration war au das Ausbleiben der Literatursoziologie als relevanter wissensalier Disziplin. Einen Beitrag zur Erklärung dieses Saverhalts könnte sierli au die These von der Reproduktion des akademisen Feldes oder der unhinterfragten Wiederholung des Wiederholten liefern. Ist die Rede von den Produktionsbedingungen des literaturwissensalien Diskurses in sozialistisen Zeiten, so darf ein Saverhalt allerdings nit unterslagen werden. Der Verzit auf Fragestellungen, die den konkreten sozialen Charakters der Literatur, ihre alltäglie öffentlie Existenz betreffen, konnte duraus eine Art ideologiser bzw. oppositioneller Antwort darstellen. Wird nämli die Autonomie des Gegenstandes verfoten, was zwangsläufig zur Autonomie des Faes führt, wenn also die Wissensalikeit der Literaturwissensa auf typis modernistise Weise gesiert wird, dann erseint es plausibel, dass auf die gleie Weise au das Ret auf die eigene epistemologise Tagesordnung zu siern versut wird. Do unabhängig davon, ob es hierbei um ein Alibi für die Niteinmisung in den aktuellen Zustand des literarisen Feldes oder eine zusätzlie Autonomiebestätigung geht, ist die Lüe im Berei der sozialen Dimension der Literatur auffällig, zudem in einem Umfeld, in dem die Sozial- und Geisteswissensaen im Zeien des Marxismus standen. Im Kulturberei konnte den Medien damals keineswegs die Konstruktion der sozialen Realität und des Weltbildes vorgeworfen werden, obwohl sie selbstverständli einige ihrer Aspekte regulierten. Ihre Rolle im Berei von Kultur und Literatur war großteils eine dienstleistende. Das gesamte gesellsalie Klima der sozialistisen Jahrzehnte, namentli seit den 1960er Jahren, könnte im Verglei mit dem gegenwärtigen als stärker intellektuell besrieben werden, bzw. in größerem Maße bestimmten, im Zuge der Transition und besonders im Berei der Medien entswundenen Werten verpflitet. Auf jeden Fall war die Zahl der so genannten seriösen, niveauvolleren Tages- und Woenzeitungen sowie 75
der Fernsehsendungen in den Bereien Literatur und Kultur größer als heute, nit nur dank der Größe des gemeinsamen jugoslawisen Marktes. Literatur und ihre Reflexion, unabhängig nun von Gründen und Motiven, sienen trotz allem als eine Art öffentlies Gut behandelt worden zu sein. Blind für die im Transformationsprozess als dominant si erwiesenen Phänomene, begegnete die institutionelle Reflexion der Literatur diesen Veränderungen völlig unvorbereitet. Ihre Beziehungen zur Kulturanthropologie und Kultursoziologie, Ethnologie oder Medientheorie existierten in jenem Maße, in dem ihre Interessensgebiete si kreuzten – also waren sie swa oder blieben gänzli aus. Fanden sie sta, waren die Berührungen großteils auf die Übernahme von Analysekategorien besränkt, die im Berei weit liegender literarhistoriser Epoen und Phänomene zur Anwendung kamen. Der konkrete Alltag, die gelebte Kultur, jenes von Williams12 im britisen Kontext vor langer Zeit mit der ‘sozialen Definition der Kultur’ Umfasste, fand einfa keinen Eingang in den Diskurs. Die Interdisziplinarität, ein au damals son besworenes Prinzip, kam nur selten wirkli zum Zuge. Um den Zustand des Faes und des literarisen Feldes in Zeiten der Unsierheit und der flütigen Moderne überhaupt reflektieren zu können, sind also neue Stützpunkte vonnöten; ein Diskurs, der als nützlies Wissen in der neuen gesellsalien und epistemologisen Ordnung genutzt werden kann, ein Diskurs zur analytisen Verbindung des Literarisen, des Medialen und des Populären unter den Umständen des gesellsalien Wandels. Es seint, dass die Cultural Studies eine möglie, wünsenswerte und produktive Antwort darstellen. 4. Meine Darlegung der Zusammenhänge setzte bereits einen Zugriff auf die Bestände der Cultural Studies voraus, ohne den eine Reihe von Aspekten und aktuellen Bestimmungen des Feldes – vom Standort der klassisen Literaturwissensa aus leit zu übersehen – nit erkennbar geworden wären. Dabei gilt mein Anliegen keineswegs der Absolutsetzung des im Berei der Cultural Studies verorteten Wissens, no einem wissensalien Trend, no einem weiteren unabdingbaren Paradigmenwesel 12
76
Raymond Williams: The Long Revolution. Harmondsworth: Penguin 1965 (19611).
oder einer epistemologisen Wende, sondern der analytisen Einsetzbarkeit dieser Wissensbestände in einer konkreten Situation. Die Cultural Studies brauen wir weder als ein weiteres Studienprogramm, mit dem die Universität, ohne öffentlien Einsatz, ihre Offenheit gegenüber neuen postdisziplinären Wissensformen bestätigen wird, no als Beleg für Zeitgemäßheit und Modernisierung, oder als araktives populärkulturelles Arrangement, mit dem die Studenten angeworben und zur flexiblen Arbeitskra für den Markt präpariert werden. Die Cultural Studies brauen wir als operatives Wissen beim Beobaten der gesellsalien Transformation und der dabei eingenommenen Position des literarisen Feldes. Ein zentraler Beweggrund der Befürwortung ist die ursprünglie Absit der Cultural Studies, in ständiger Berührung mit der Dynamik der gelebten Kultur, mit der unmielbaren Realität zu sein. I verzite auf eine Nazeinung der Entwilungswege der Cultural Studies von den 1960ern bis heute, zumal ein Großteil ihrer Energie seit Jahrzehnten in Selbstreflexion investiert wird.13 Unser Hinweis auf die Zusammenhänge, die zur Konstituierung eines neuen Forsungsfeldes führen sollten, könnte verständlierweise auf Unbehagen stoßen, bedenkt man die üblien und unproduktiven Tiraden über Herkun, Authentizität und ursprünglie Ziele der Cultural Studies. Witig ist jedo, dass diese als prinzipiell offenes und unabsließbares Projekt mit der ständigen lokalen Reartikulation, mit der radikalen Kontextualisierung der eigenen Praxis und der sie reflektierenden Diskurse renen müssen. Zur Praxis der Cultural Studies gehört „ihre ständige Neudefinierung als Antwort auf die Veränderung geographiser und historiser Umstände sowie politiser Forderungen“.14 No konkreter: Die Cultural Studies unter kroatisen Bedingungen, falls sie ihre konstitutiven Swerpunkte und die damit verbundenen Widersprüe in Kauf nehmen (dabei denken wir besonders an die Erfahrung des CCCS in Birmingham), finden die beste Existenzberetigung in der Transition als Ausgangsproblem. Gerade in der Transition finden Veränderungen sta, die zu analytisen Einsiten von der Art jenes frühen Hoggartsen Vergleis15 zwisen der alten und der neuen Ordnung oder den späteren Analysen der Kulturpolitik führen; gerade in der Transition finden intensive Veränderun13 14 15
Vgl. in diesem Sinne die plausiblen Argumente von Stuart Hall: Cultural Studies. Ein politises Theorieprojekt. Ausgewählte Srien 3. Hamburg: Argument Verlag 2000. Lawrence Grossberg: Bringing It All Back Home. Essays on Cultural Studies. Durham u. London: Duke University Press 1997, S. 5 (hier übersetzt von S. L. Vidulić). Richard Hoggart: The Uses of Literacy. London: Penguin 1992 (19571).
77
gen sta, die si weitgehend mit der kulturellen Dynamik der westeuropäisen Gesellsaen der letzten Jahrzehnte deen. In der Erforsung der Transition wird dieses analytise Kapital dringend gebraut, oder, wie Tony Benne in seiner Abhandlung über einige Aspekte der Cultural Studies anmerkte: „das erwünste Ziel“ sollte „von relativ besränktem Umfang und praktiser Orientierung“ sein.16 Für die Notwendigkeit der dem transitionsgesellsalien literarisen Feld zugewendeten Cultural Studies spreen, meiner Meinung na, einige zentrale und grundlegende Saverhalte. Erstens: Eine der produktivsten, in ihrem Ursprung liegenden Ideen der Cultural Studies betri den Kreislauf der Kultur, in untersiedlien terminologisen Fassungen.17 Vereinfat gesagt, geht es um einen Kreislauf, der von den Produktionsbedingungen über den Text und seine Rezeption bis zur gelebten Kultur reit (d.h. er umfasst die Elemente Produktion, Verbrau, Regulation, Repräsentation und Identität) – eine witige Voraussetzung für die systematise Erforsung von Transformationen des literarisen Feldes. Indem jedes Element des Kreislaufs untersiedlie Wissensbereie aktiviert, steht die Literaturwissensa vor der Herausforderung einer Interaktion mit ret untersiedlien Disziplinen, sowohl etwa mit der politisen Ökonomie der Kultur, als au mit der Ethnographie des Konsums und des alltäglien Lebens. Die Frage na dem angemessenen Zugang in der Erforsung der Gesellsalikeit literariser Phänomene wird auf diese Weise, aufgrund des kontinuierlien epistemologisen Dialogs, zumindest teilweise gelöst. Auf der anderen Seite ist in der literarisen Produktion eine steigende Orientierung an der Thematik und der Problematik der Transition zu verzeinen. Außer vor der Literatur in der Transition steht die Literaturwissensa also vor dem interessanten Problem der Transition in der Literatur, d.h. der Transition als literarisem Stoff. Die Kompetenz in der Erforsung des ersten Aspektes lässt si nit trennen von der Systematik in der Erforsung des letzteren. Zweitens, die Entstehung und Verbreitung der Cultural Studies wird o in Zusammenhang gebrat mit dem wasenden Interesse an der Er16 17
78
Tony Benne: Culture: A Reformer’s Science. London: Sage 1998, S. 27 (hier übersetzt von S. L. Vidulić). Vgl. etwa Riard Johnson: Was sind eigentli Cultural Studies? (1986/871) In: Roger Bromley, Udo Göli, Carsten Winter (Hgg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg: zu Klampen Verlag 1999, S. 139–188; Paul du Gay u.a.: Doing Cultural Studies. The Story of the Sony Walkman. London: Sage u. The Open University 1997.
forsung der Populärkultur, so dass diese gewissermaßen zu den stabilsten Bestimmungen des Problemfeldes der Cultural Studies zählt. Zwar ist die Populärkultur sier nit der einzige Swerpunkt dieses Problemfeldes, do umfassen die Diskurse der Cultural Studies, unabhängig von der eventuellen kontextgebundenen Lokalisierung, fast unvermeidli Aspekte des Populären in seinen industrie- und postindustriegesellsalien Formen. Das in der Erforsung des Populären im industrie- und postindustriegesellsalien Kapitalismus gewonnene analytise Kapital sollte genutzt werden, zumal das Populäre eine zentrale Koordinate des transitionsgesellsalien literarisen Feldes darstellt. Die Literatur existiert heutzutage im Kontext der populären Fiktionen, in der Spanne vom Fernsehen über Musik und Sport bis zur Werbeindustrie, und zwar sowohl thematis, als au organisatoris und institutionell. Ihre Rezipienten besränken si selbstverständli nit auf das Studium kanoniser Texte im universitären Rahmen. Im Gegenteil, das Populäre drängt si als erste und allgemeine Form der kulturellen Initiation auf, als bedeutsamer formativer Ort unserer Sozialisation. Der Status des Populären im Sozialismus und der Verglei mit seinen Metamorphosen in der Transition erseinen daher als witige Problemaspekte, besonders bei der Erforsung der Literatur.18 Driens: In Anbetrat ihres interdisziplinären Charakters in der Erforsung kultureller Praxen und Institutionen im Kontext untersiedlier Matbeziehungen bringen die Cultural Studies – als „kritiser Prozess, der zwisen den akademisen Disziplinen und im Berei der Beziehungen zwisen den Universitäten und anderen politisen Orten wirkt“19 – sole Formen des Wissens und Wirkens in den Berei der Literaturwissensa ein, die in unseren flütigen Zeiten dringend nötig sind. Somit ist die Literaturwissensa einer doppelten Reartikulation ausgesetzt: Einerseits, wie bereits betont, bewegt sie si im neu definierten Kontext der sozial- und geisteswissensalien Disziplinen, andererseits betri sie die kulturpolitise und öffentlie Sphäre als Mitträgerin der aktuellen Entwilungsprozesse. Dieses Risiko auf si zu 18
19
Produktive Fragenkomplexe in diesem Berei eröffnen: Lada Čale Feldman, Ines Prica (Hgg.): Devijacije i promašaji. Etnografija domaćeg socijalizma (Deviationen und Verfehlungen. Ethnographie des einheimisen Sozialismus). Zagreb: IEF 2006; Reana Senjković: Izgubljeno u prijenosu. Pop iskustvo soc kulture (Verloren dur Übertragung. Die Pop-Erfahrung der Soz-Kultur). Zagreb: IEF 2008. Richard Johnson: Reinventing Cultural Studies: Remembering for the Best Version. In: Elisabeth Long (Hg.): From Sociology to Cultural Studies. New Perspectives. Oxford: Blawell 1997, S. 452–487, hier 452 (hier übersetzt von S. L. Vidulić).
79
nehmen, bedeutet selbstverständli keinen Verzit auf irgendeine der bestehenden Formen literaturwissensalier Reflexion, es bedeutet jedo die Übernahme einer zusätzlien Verantwortung in der Mitgestaltung des literarisen Feldes. Und sließli ist die Literaturwissensa im Sinne ihrer besseren humanistisen Traditionen duraus in der Lage, ein kontinuierlies Öffnen neuer Ausblie anstelle der permanenten Absoung zu gewährleisten. In der Erforsung des transformationsgesellsalien literarisen Feldes seint dies, in Anbetrat der dominanten Koordinaten der heutigen Welt, die einzig akzeptable Option zu sein. Unter weler Bezeinung sie realisiert wird, ist im Grunde von sekundärer Bedeutung.
Aus dem Kroatisen von Svjetlan Lao Vidulić
80
Literatur und Identität. Zur Relevanz der Literaturwissensa Stefan Neuhaus (Innsbru)
Der Leitgedanke lautet, dass si die Frage na der Form des Subjekts und seiner Identität, na der sozial-kulturellen (Selbst-)Modellierung des Mensen zum Subjekt im Zentrum der Kultur der Moderne befindet und somit ins Zentrum der Kulturwissensaen gehört. (A. Rewitz: Das hybride Subjekt)1
Einführung Identität im Spragebrau wird vom Duden Universalwörterbu definiert als „Etheit einer Person oder Sae; völlige Übereinstimmung mit dem, was sie ist od. als was sie bezeinet wird“.2 Das ist einigermaßen paradox, denn die Vorstellung, dass jemand nit mit si identis ist, mat nur in poststrukturalistisen Theorien Sinn, und ob die hier gemeint sind, darf do sehr bezweifelt werden. Bei der Duden-Definition geht es um die Identifizierung von außen, um die Übereinstimmung von dem, was jemand ist und was er zu sein vorgibt – ganz banal beispielsweise bei der Passkontrolle. Hingegen meint Andreas Rewitz, Identität sei „als die spezifise Form des Selbstverstehens, der Selbstinterpretation zu begreifen“.3 Da das Eigene und das Andere, das I und die Umwelt nit voneinander getrennt werden können, sondern si stets in Weselwirkung miteinander formen, tri beides zu, die innere und die äußere Entspreung – und kann als Grundlage einer stabilen Identität gelten. „Identität bildet ein selbstreflexives Sarnier zwisen der inneren und der äußeren Welt.“4
1 2 3 4
Andreas Rewitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlien Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrü 2006 (Velbrü Wissensa), S. 26. Duden. Deutses Universalwörterbu. 4., neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim u.a.: Dudenverlag 2001, S. 816. Rewitz, Das hybride Subjekt, S. 45. Heiner Keupp u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patwork der Identitäten in der Spätmoderne. 2. Aufl. Reinbek: Rowohlt 2002 (rowohlts enzyklopädie), S. 28.
81
In der Postmoderne ist Identität zu einem der zentralen Begriffe geworden, Lutz Niethammer hat gar von einer „Inflation des Geredes über Identität“ gesproen.5 Ein zentraler Grund liegt auf der Hand: Na dem Zusammenbru der großen Ideologien und der Entwilung einer pluralistisen, marktorientierten Gesellsa fehlen verbindlie Sinnstiungssysteme. Auffallend ist, dass ähnlies für die Literatur in der Medienkonkurrenz gilt. No bis ins 20. Jahrhundert wurde Literatur eine gesellsasprägende, sinnstiende Kra zugesrieben, do im Zuge der Ausdifferenzierung des medialen Angebots ist ihr Stellenwert im öffentlien Bewusstsein immer weiter gesrump. Wenn man vom staatli gesützten Bildungsberei absieht, dominieren Fernsehen, Film und Internet. Vor diesem Hintergrund kann man sta von „Inflation“ au von notwendiger Auseinandersetzung spreen, denn die Besäigung mit Identität hat „ein hohes zeitdiagnostises Potential“ (so Heiner Keupp und seine Mitarbeiter).6 Der Beitrag will versuen, die veränderten Bedingungen der Identitätskonstruktion zu besreiben, die potenziellen Leistungen der Literatur in der Konkurrenz der Medien zu diskutieren und sließli die Anforderungen zu skizzieren, die dies an die theoretisen Zugänge zur Literatur stellt, denn Sinnpotenziale lassen si ohne Deutungsmuster nit ersließen. Zur Konstruktion von Identität in der Postmoderne „Identität in der Krise“, betiteln Rolf Eielpas und Claudia Rademaer ihre Einleitung zu einer Begriffseinführung, und sie stellen fest: „Identität, so seint es, wird in Alltag und Wissensa zum Dauerthema, weil die tradierten gesellsalien und kulturellen Grundlagen für eine stabile soziale Verortung und Einbindung der Mensen zunehmend wegbreen.“7 Grundsätzli ist zu fragen, ob dies aussließli gilt oder ob es nit vielmehr au ein gesäres Bewusstsein für die Problematik der Konstruktion von Identität ist, das eine sole Slussfolgerung nahelegt. Man wird kaum behaupten können, dass die ‘soziale Verortung’ in 5 6 7
82
Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimlie Quellen einer unheimlien Konjunktur. Reinbek: Rowohlt 2000 (Rowohlts Enzyklopädie 55594), S. 55. Keupp, Identitätskonstruktionen, S. 8. Rolf Eielpas u. Claudia Rademaer: Identität. Bielefeld: transcript Verlag 2004 (Einsiten. Soziologise Themen – Themen der Soziologie), S. 5.
Zeiten der Weltkriege oder in Umbruzeiten der früheren Jahrhunderte ‘stabiler’ war. Denno zeinet si die postmoderne Gesellsa – so man von einer solen spreen kann – dur eine gewasene Bedeutung des Themas aus, bedingt dur die Relativität von Normen und Werten einerseits, das Überangebot von ‘Identitätsbausteinen’8 andererseits. „Aritekt und Baumeister des eigenen Lebensgehäuses zu werden, ist (…) zunehmend Pflit in einer grundlegend veränderten Gesellsa“, heißt es in dem Band von Keupp.9 Die „komplexe Problematik“,10 die si hinter dem Begriff der Postmoderne verbirgt, kann hier nit näher erläutert werden. Aber mit Peter V. Zima, der si mit ‘postmodernen Erkenntnistheorien’ auseinandergesetzt hat, kann festgehalten werden, „(…) daß Wahrheit und Vernun nit mehr universell oder transkulturell in einem historisen Kontinuum gelten, sondern kontextgebunden, partikular sind.“11 Erstaunlierweise hat die Grundlage aller dieser Theorien bisher kaum mehr Beatung gefunden als jedes einzelne Erklärungsmodell, sie hat si von der Aulärung bis ins 20. Jahrhundert dur versiedene Denksulen hindur entwielt und wird heute allgemein als ‘radikaler Konstruktivismus’ bezeinet.12 Ansließend an Freud könnte man die Erkenntnis, dass Wirklikeit und Wahrnehmung nur Ergebnis einer Konstruktion sind, die überdies subjektiv ist, na der Dursetzung des Kopernikanisen Weltbildes, der Lehren Darwins und der Psyoanalyse (mit der Erkenntnis, „daß das I nit Herr sei in seinem eigenen Haus“), als ‘vierte narzisstise Kränkung’ bezeinen.13 Man muss dies aber nit als neues Defizit begreifen, man kann dies au – wie bereits Freud die Psyoanalyse – als Chance sehen. „Jeder ist auf si selbst zurügeworfen. Und jeder weiß, daß dieses Selbst wenig ist“, stellt Jean-Fran ois Lyotard in Das postmoderne Wissen fest.14 „Das Selbst ist wenig, aber es ist nit 8 9 10 11 12 13 14
Keupp, Identitätskonstruktionen, S. 7. Ebd., S. 55. Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne. 2., überarb. Aufl. Tübingen u. Basel: Frane 2001 (UTB 1967), S. 92. Ebd., S. 164. Vgl. zur Einführung Paul Watzlawi (Hg.): Die erfundene Wirklikeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. Mit 31 Abb. 18. Aufl. Münen u. Züri: Piper 2006 (Serie Piper 373). Zu den drei narzisstisen Kränkungen vgl. Sigmund Freud: Eine Swierigkeit der Psyoanalyse. In: Ders.: Werke aus den Jahren 1917–1920. Frankfurt/M.: Fiser 1999 (Gesammelte Werke 12), S. 3–12, hier S. 6ff., Zitat S. 11. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Berit. Hg. v. Peter Engelmann. 5. Aufl. Wien: Passagen 2005 (Edition Passagen 7), S. 54.
83
isoliert, es ist in einem Gefüge von Relationen gefangen, das no nie so komplex und bewegli war.“15 Identität und Gesellsa in der Postmoderne Als Gefährdung der Identitätskonstruktion dur das Individuum sieht Lyotard das „System“, das zur „Aufreterhaltung und Verbesserung seiner Performanzen manipuliert“. Das „wahrhae Ziel, weles das System legitimiert“, sei „die Mat“.16 Au wenn Lyotard hier Niklas Luhmann zitiert, so ist der Urheber dieser Erkenntnis do wohl eher Miel Foucault. Lyotard fordert nun, „zu einer Idee und einer Praxis der Geretigkeit“ zu gelangen, „die nit an den Konsens gebunden ist“,17 weil der Konsens omals Ergebnis von strukturellen Zwängen und Manipulationen ist. Zima hat den Glauben an die Möglikeiten des Konsenses no nit aufgegeben, er fordert in Anlehnung an Batins Konzept der Dialogizität „einen offenen Dialog mit dem Anderen“, denn „der kritisen Distanz zum anderen“ müsse „die ironis-kritise Distanz zur eigenen Subjektivität“ entspreen.18 Zima hat das Verhältnis von Individuum und Gesellsa im Bli, au er hält die Kritikfähigkeit des Ersteren gegenüber Letzterem für grundlegend: „Nur wer meint, mit gutem Gewissen auf Gesellsaskritik verziten zu können, kann au den Subjektbegriff verabsieden.“19 Ähnli versteht Wolfgang Wels die Postmoderne; sie sei „grunddemokratisen Geistes, denn sie ist hartnäiger und unverlierbarer als die Moderne von diesem Bewußtsein der Heterogenität geprägt“.20 Au Wels hat Probleme mit jedem Versu der Vereinheitliung dur gesellsalie Gruppen oder die Gesellsa als Gruppe; die Demokratie sieht er folgli als „eine Organisationsform nit für den Konsens, sondern für den Dissens von Ansprüen und Reten“.21 Es müsse si die 15 16 17 18 19 20 21
84
Ebd., S. 55. Ebd., S. 176. Ebd., S. 190. Peter V. Zima: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwisen Moderne und Postmoderne. Tübingen u. Basel: Frane 2000 (UTB 2176), S. 366. Ebd., S. 225. Wolfgang Wels: Unsere postmoderne Moderne. 6. Aufl. Berlin: Akademie Verlag 2002, S. 182. Ebd., S. 183.
Einsit dursetzen, „daß jeder Aussließlikeits-Anspru nur der illegitimen Erhebung eines in Wahrheit Partikularen zum vermeintlien Absoluten entspringen kann.“ Insofern ergreife die Postmoderne „für das Viele Partei und wendet si gegen das Einzige, tri Monopolen entgegen und decouvriert Übergriffe. Ihre Option gilt der Pluralität“.22 Freili wendet si Wels au gegen eine fals verstandene, ‘diffuse’ Postmoderne, „die Pluralität tilgt, indem sie alles zu einem Brei der Gleiheit und Beliebigkeit verrührt“.23 Als Konsequenz für die Konstruktion von Identität lässt si festhalten, dass stabile Identitäten heute zuglei flexibel und offen für neue Eindrüe sein sollten, die seinbar Gewusstes korrigieren. In den Worten von Aleida Assmann und Heidrun Friese: Identitäten „sind um so elastiser und differenzierter, je mehr sie (…) Grenzen selbst zum reflexiven Gegenstand einer immer offenen Identitätsbildung werden lassen“.24 Das Andere dient als Korrektiv für das Eigene, ohne das Eigene in seiner Bedeutung zu relativieren oder gar aufzugeben. Zur postmodernen Identität gehört kritise Beobatung der Umwelt ebenso wie kritise Selbstbeobatung. Das erzählte I Lyotard betont die Bedeutung narrativer Muster für die Einbeung in kollektive Identitäten. Erzählungen, die Wissen vermieln sollen, erlauben „(…) einerseits, die Kriterien der Kompetenz der Gesellsa, in der sie erzählt werden, zu definieren, sowie andererseits, mit diesen die Leistungen zu bewerten, die in ihr vollbrat werden oder werden können.“25 Dass sole Erzählungen omals Vergangenes thematisieren, hat gute Gründe. „Wir suen in der Vergangenheit, was wir als unsere Zukun wünsen“,26 stellt Wolfgang Wels fest. Das derzeit wohl beste Beispiel hierfür ist der Erinnerungsdiskurs, der nit zuletzt in der Forsung breite Resonanz gefunden hat27 und
22 23 24 25 26 27
Ebd., S. 5. Ebd., S. 81. Aleida Assmann, Heidrun Friese (Hgg.): Identitäten. Erinnerung, Gesite, Identität 3. 2. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999 (stw 1401), Vorwort S. 9–23, hier S. 23. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 68. Wels, Unsere postmoderne Moderne, S. 59. Vgl. den Überbli bei Astrid Erll: Kollektives Gedätnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stugart u. Weimar: Metzler 2005.
85
zu einer der tragenden Säulen der sogenannten Kulturwissensa geworden ist.28 Identität entsteht auf der Basis von Überlieferung, zunäst mündlier, dann srilier oder sonstwie medialer. „Erinnerung ist ein Akt der Semiotisierung“,29 lautet eine der fundierenden Feststellungen von Jan Assmann, und er fügt hinzu: „Identität ist (…) eine Sae von Gedätnis und Erinnerung.“30 Da dies dur „Repetition und Interpretation“ gesieht31 und Wahrnehmung immer Ergebnis eines subjektiven Konstruktionsprozesses ist, handelt es si keineswegs nur um bedeutsame historise Texte. Literatur hat einen vergleibaren Stellenwert, da sie Wirklikeit im Sinne eines ‘als ob’ konstruiert. Dies kann so weit gehen, dass das Individuum ein Ereignis als historis erlebt erinnert, das es aus dem Angebot fiktionaler Ereignisbesreibungen entnommen hat, wie Harald Welzer betont.32 Erinnerung, Gesite und Fiktion lassen si in Wahrheit nit trennen: „Wie das Gedätnis des Individuums auf assoziative Weise Muster vervollständigt, die es dann als seine ‘Erinnerung’ begrei, so werden auf der kollektiven Ebene kommunikativ Assoziationskeen hergestellt, die zu jenen Mustern kollektiver Vergangenheiten vervollständigt werden, die wir ‘Gesite’ nennen.“33 Gerade beim Übergang vom kommunikativen (mündli rekapitulierten) zum kulturellen (versriliten oder sonstwie medial au ewahrten sowie na Riten gelebten) Gedätnis findet ein erheblier Konstruktionsaufwand sta, der si in den letzten Jahren an der Auseinandersetzung mit der Shoah, mit der jüngeren deutsen Gesite und mit der 68er Bewegung beobaten lässt, eine Auseinandersetzung, die auf allen Ebenen der Gesellsa abläu, von der Autobiographie über das Feuilleton und über populärwissensalie Beiträge in den audiovisuellen Medien bis hin zu Forsungsdebaen in Gesits- und Literaturwissensaen. Die Pluralität der Deutungsangebote führt beim Individuum zu einem erhöhten Bedarf an Orientierung. Das lässt si beispielsweise an der wasenden Bedeutung von Kanondebaen ablesen. „Kanon stiet einen Nexus zwisen I-Identität und Wir-Identität“, meint Jan Ass28 29 30 31 32 33
86
Vgl. Markus Fauser: Einführung in die Kulturwissensa. 2., unveränd. Aufl. Darmstadt: Wiss. Buges. 2004, Kap. VI. „Gedätnistheorien“, S. 116–138. Jan Assmann: Das kulturelle Gedätnis. Sri, Erinnerung und politise Identität in frühen Hokulturen. 4. Aufl. Münen: C.H. Be 2002 (Be’se Reihe 1307), S. 77. Ebd., S. 89. Vgl. ebd. In diesem Fall aus Filmen; vgl. Harald Welzer: Das kommunikative Gedätnis. Eine Theorie der Erinnerung. Münen: C.H. Be 2005 (Be’se Reihe 1669), S. 187ff. Ebd., S. 206.
mann dazu.34 Und die Gruppen-Identität ist absolut notwendig für die Existenz des Individuums in einer Gemeinsa: „Personale Identität ist ein Bewußtsein von si, das zuglei ein Bewußtsein der anderen ist: der Erwartungen, die sie an einen riten, der Verantwortung und Haung, die si daraus ergibt“.35 Äquivalenz dur Identifikation und Differenz dur Unterseidung sind gleiermaßen notwendig, um eine stabile Identität zu konstruieren. Literatur in der Medienkonkurrenz No hat Literatur einen vergleisweise hohen Stellenwert, au wenn die Literaturwissensa mit großer Begeisterung an ihrer Selbstauebung dur Inkorporierung in die Kulturwissensa arbeitet. Sier ist der folgende Verglei in doppelter Hinsit fals – aber hat si Preußen nit au, als es den Deuts-Französisen Krieg gewann, dur seine Vergrößerung zum Deutsen Rei selbst abgesa? Nun ist es, man möge mir au diese Feststellung verzeihen, weder um das deutse Rei no um Preußen sonderli sade; außerdem kann es ja sein, dass die Bedeutung der Literaturwissensa dur ihr neues Engagement stabilisiert wird oder sogar wäst. Do lässt si die Vermutung nit von der Hand weisen, dass für die Besäigung mit im engeren Sinn literarisen, also fiktionalen Texten, die bestimmten Qualitätsansprüen genügen, tendenziell weniger Zeit zur Verfügung steht. Ähnlies lässt si beobaten, wenn man das Bu in der Konkurrenz mit anderen Medien sieht. Die Lektüre von Literatur kann, zeitli und im Dursni, weder mit Zeitungen und Zeitsrien, erst ret nit mit Film und Fernsehen oder dem Internet konkurrieren. Da die Lektürekompetenz abnimmt, das Bu allgemein und die Literatur insbesondere aber no einen hohen Stellenwert in der Gesellsa hat, nimmt das Bedürfnis na Orientierung zu – etwa dur Kanonisierungsversue mit Leselisten in den Medien. Das si immer weiter ausdifferenzierende Medienangebot sorgt allerdings in allen Bereien für Orientierungssehnsüte, die auf lukrative Weise bedient werden können – man denke an den Erfolg der Sumasine google. Dabei spielt der Faktor Qualität eine zentrale Rolle, au wenn man si dies nit immer eingestehen will. 34 35
Assmann, Das kulturelle Gedätnis, S. 127. Welzer, Das kommunikative Gedätnis, S. 135.
87
„Eine gelungene Selbststilisierung bleibt an jene semiotise Kompetenz gebunden, die Stilvolles von Stillosem seidet (…)“, heißt es dazu beispielsweise bei Andreas Rewitz.36 Allerdings ist es omals der ‘Markt’, der über Hierariebildungen entseidet; bei google ist es nit nur, aber au die Menge an Geld, die ein Unternehmen für seine entspreende Platzierung bezahlt. Bei den Zeitungen und Zeitsrien ist es die Auflage, in den audiovisuellen Medien ist es die Quote. Rewitz hat zu den Formierungskräen des Marktes festgestellt: „Innerhalb des postmodernen Praxis-/ Diskurskomplexes der Arbeit, der Intimbeziehungen und der Selbstpraktiken wird das konsumtorise Kreativsubjekt als ‘universal’ deklariert.“37 Dass der Markt bei Produkten wie Medienangeboten zu einer Nivellierung führt, lässt si jeden Tag dur einen kurzen Bli ins Fernsehprogramm bestätigen. Jürgen Wertheimer und Peter V. Zima sehen angesits der skizzierten Entwilung swarz: „Die Katastrophe ist möglierweise son da, weil gerade die Intellektuellen immer seltener in der Lage sind, das ritige vom falsen Wort zu unterseiden. Denn wer es ablehnt, wertvolle von wertloser Literatur zu trennen, der wird bald nit mehr in der Lage sein, im politisen Berei zu differenzieren, wo in neuester Zeit Diskurse entstehen, die unliebsame Tatsaen wie Völkermord oder Folter slit leugnen.“38 Nun stellt si die Frage na den Wertmaßstäben der Differenzierung vom ‘ritigen’ und ‘falsen’ Wort. Angesits des referierten Plädoyers für Pluralität sollte man vielleit eher sagen, dass es unverzitbar ist, eine sole Unterseidung zu versuen – ohne das Ergebnis eines solen Versus glei als in Stein gemeißeltes Lesegebot zu verstehen.39 Der von Wertheimer und Zima vorgelegte Band setzt si denn au nit für eine Stigmatisierung von Unwissenden ein, im Gegenteil. Vor Augen geführt wird die Bedeutung von Bildung im traditionellen Sinn, 36 37 38
39
88
Rewitz, Das hybride Subjekt, S. 587. Ebd., S. 591. Jürgen Wertheimer, Peter V. Zima (Hgg.): Strategien der Verdummung. Infantilisierung in der Fun-Gesellsa. 5. Aufl. Münen: C.H. Be 2002 (Be’se Reihe 1423), Vorwort S. 7–10, hier S. 9. – Zum Fernsehen vgl. im genannten Band Omar Ee: Von hergestellter Dummheit und inszenierter Intelligenz, S. 119–138, hier S. 132: „In der zeitgenössisen Gesellsa verkörpert das Fernsehen seit langem die gesellsalie GAD, die größte ernstzunehmende Dummheit.“ So wie dies Segebret mit seiner Leseliste unternimmt, mit der er „dem Leser Anregungen geben, ihm nit ein Pflitpensum auferlegen“ will, vgl. Wulf Segebret: Was sollen Germanisten lesen? Ein Vorslag. 3., neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin: Eri Smidt 2006, S. 9.
allerdings in einer reflektierten Form – so, wie es Rewitz, Wels und andere in ihren Analysen des Postmoderne-Diskurses als wünsenswert bezeinet haben. Was die Besäigung mit Literatur angeht, wird jeder Besserwisserei dur Feuilleton oder Wissensa eine Absage erteilt und ganz grundsätzli die Auseinandersetzung mit einem Text als „Frage na der sliten Bedeutung“ gefordert, die ganz und gar nit, wie selbsternannte Eliten glauben maen wollten, „deplaziert, naiv“ sei, so Jürgen Wertheimer.40 Insofern stellt si die Frage na der Lektüre zwar neu, aber auf eine seltsam bekannte Weise. Jurij Lotman hat dazu vor mehr als drei Jahrzehnten festgestellt: „Die Spezifik künstleriser Kommunikation besteht nun aber unter anderem darin, daß der Kode des Empfängers si immer in der oder jener Weise vom Kode des Senders unterseidet.“41 Der Leser sei „daran interessiert, die notwendige Information mit dem geringsten Aufwand an Mühe zu erlangen“, der Autor hingegen erhöhe die Komplexität und saffe so Werke, „deren seinbare Einfaheit zur adäquaten Entslüsselung die kompliziertesten stillsweigenden Voraussetzungen und einen Reitum an extratextuellen Kulturbezügen erfordert“. So unterseide si die „Massenkultur“ von der Hokultur, man könnte au sagen: die Trivialliteratur von der Literatur.42 Eine sole Unterseidung ist kein Selbstzwe, sondern – wenn man den referierten Positionen Glauben senkt – im Zeitalter der Postmoderne eine absolute Existenznotwendigkeit. Das Individuum kann entweder na Bestätigung seiner Identität suen und jede möglie Veränderung aussließen, es kann aber au flexibel darauf reagieren und so beständig an si arbeiten, um Werte wie ‘Geretigkeit’ (Lyotard) leben zu können. Triviale Rezeptionsangebote helfen dabei in der Regel nit, denn sie suggerieren Spannungsfreiheit, wo keine ist: Gelungene Identität ermöglit dem Subjekt das ihm eigene Maß an Kohärenz, Authentizität, Anerkennung und Handlungsfähigkeit. Weil diese Modi in der Regel aber in einem dynamisen Zusammenhang stehen, weil beispielsweise Authentizität und Anerkennung in Widerstreit geraten können, ist gelungene Identität in den allerseltensten Fällen ein Zustand der Spannungsfreiheit.43
40 41 42 43
Jürgen Wertheimer: Geklonte Dummheit: Der infantile Mensenpark. In: Wertheimer u. Zima (Hgg.), Strategien der Verdummung, S. 58–80, hier S. 73. Jurij M. Lotman: Die Struktur literariser Texte. Übers. v. Rolf-Dietri Keil. 4., unveränd. Aufl. Münen: Fink 1993 (UTB 103), S. 417. Vgl. ebd., S. 418f. Keupp, Identitätskonstruktionen, S. 274.
89
Dabei hat si das triviale, der Selbstbestätigung dienende Angebot in zwei Ritungen ausdifferenziert, es findet si in der gesellsalien Hierarie nit mehr nur bei den wenig Gebildeten, sondern au bei denen, die anseinend besonders viel Bildung akkumuliert haben – Wertheimer sprit hier von „Einsüterungs- und Verdummungsstrategien von Elitegesellsaen“.44 Freili ist zu fragen, ob dies nit immer son so war – man denke etwa an die intellektuelle Elite im Deutsen Kaiserrei. Literatur und Identität Literarise Texte leisten einen zentralen Beitrag zur Identitätsbildung, weil sie permanent Identitätsbildungsprozesse durspielen. Man könnte sogar sagen, dass es ihre zentrale Aufgabe ist, beispielha (am Beispiel von Figuren) Angebote der Identitätskonstruktion zu maen oder zu verwerfen. Je komplexer die entspreenden Verfahren eines Textes sind, desto größer ist seine potenzielle Leistung für die Identitätsbildung der Leserin oder des Lesers. Dafür müssen natürli gewisse Grundvoraussetzungen gegeben sein, vor allem die Bereitsa, die eigene Identitätskonstruktion als nit endgültig absließbaren Prozess zu betraten. Triviale Texte werden Leserinnen und Lesern Identifikations- und Rollenmuster anbieten, die für die Dauer der Lektüre einen Identitätswesel und in diesem Wesel eine Statusverbesserung ermöglien, damit si das Gefühl einstellt, den eigenen Begrenzungen zumindest auf begrenzte Dauer entkommen zu sein. Sole Angebote sind nit zu verurteilen, im Gegenteil; die zeitweilige Stärkung der eigenen Identität dur Identifikation oder Abgrenzung ist ganz normaler Bestandteil des Alltags und Hilfestellung in versiedenen Lebenssituationen. Allerdings ist es wie mit dem Verhältnis von Süßigkeiten und Gemüse – wer zuviel Süßes zu si nimmt, um si besser zu fühlen, wird si irgendwann immer sleter fühlen und seine Gesundheit wird leiden. Ein grundlegendes Problem der Debae über die deutsspraige Gegenwartsliteratur seit 1990 war die Frage, wele Voraussetzungen Literatur maen soll und kann und inwieweit es legitim ist, Erwartungen und Wünse der Leserinnen und Leser zu befriedigen. Martin Hielser beispielsweise formulierte spöis: „es gilt als Gütesiegel avancierter 44
90
Wertheimer, Geklonte Dummheit, S. 80.
deutser Literatur, wenn sie si gleisam als Strafarbeit darbietet“.45 Do au Warnrufe möglier gegenteiliger Entwilung wurden laut, etwa bei Rainer Moritz: „Eine Kritik, die einseitig dana verlangt, unterhalten zu werden, nimmt letztli der Literatur, was sie ausmat: das Widerständige.“46 Es ließen si viele Beispiele dafür bringen, dass die beiden Positionen in der literarisen Praxis o gar nit so weit voneinander entfernt sind. I möte es aus Zeit- und Platzgründen bei zwei kurzen Beispielen bewenden lassen, die si au als Beiträge zu dem meinen Ausführungen unterlegten Metadiskurs zur Identitätskonstruktion und Medienkonkurrenz lesen lassen. In seinem Roman Der Kameramörder von 2001 sildert Thomas Glavinic, wie ein junges Paar ein anderes junges Paar besut und dabei erfährt, dass ein von der Polizei fieberha gesuter Täter zwei kleine Kinder in den Selbstmord getrieben und die Tat sogar mit einer Videokamera aufgenommen hat. Der Roman ist aus der I-Perspektive im Beritstil gesrieben, der außerordentli pedantis anmutet. Erst zum Sluss stellt si heraus, dass der I-Erzähler selbst der gesute Täter ist. Bei der Relektüre offenbart si die zeitlie Lüe, die er am Anfang seiner Silderungen zu überdeen sut – er muss die Tat begangen haben, als seine Freundin no ihren Raus ausslief. Der erste Satz – „I wurde gebeten, alles aufzusreiben“47 – signalisiert bei der wiederholten Lektüre, dass man dem I-Erzähler grundsätzli nit trauen sollte. Zu harmlos stellt er si dar, etwa im Verglei mit Gastgeber und Freund Heinri, dessen Interesse an der Sensation und dessen Saulust bei den Fernsehübertragungen er breit ausmalt. Dur die Differenz von seinbarer Harmlosigkeit des I-Erzählers und Radikalität der Tat wird die Konstruktion von Identität problematisiert – der I-Erzähler muss eine außerordentli kranke Psye haben, die er ebenso gut zu verbergen weiß. Zum Sluss verkündet er nit ohne Stolz: „I leugne nit.“48 Sein geheimes Motiv lässt si nur interpreta45
46 47 48
Martin Hielser: Literatur in Deutsland – Avantgarde und pädagogiser Purismus. In: Andrea Köhler, Rainer Moritz (Hgg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debae über die deutsspraige Gegenwartsliteratur. Leipzig: Reclam 1998 (Reclam-Bibliothek 1620), S. 151–167, hier S. 153. Rainer Moritz: Plädoyer für die Langeweile. In: Köhler/Moritz (Hgg.), Maulhelden und Königskinder, S. 238–244, hier S. 242. Thomas Glavinic: Der Kameramörder. Roman. Ungek. Ausg. 2. Aufl. Münen: dtv 2006, S. 5. Ebd., S. 157.
91
toris ersließen – die Lust an der Sensation, die er ausgelöst hat, also die Bedeutung, die ihm als Täter zugesrieben wird und mit der er seine bedeutungslose Dursnisexistenz adeln kann. Zuglei lässt si der Roman als medienkritise Analyse lesen, denn die Medien, insbesondere das Fernsehen, erfüllen dem Täter seinen Wuns na Beatung in jeder Hinsit. Ein Privatsender überträgt sogar das vom Täter gedrehte Video – und unterbrit es an den besonders dramatisen Stellen mit Werbung. Dies beginnt son, bevor die Sendung beginnt. Zunäst werden Telefonnummern eingeblendet, unter denen man für „Telefongebühren von max. 0,97 DM die Minute“ Hilfe suen kann, sofern man das Gezeigte nit verkraet. „Kurz darauf sah man eine junge Frau, die von ihren 2 Söhnen beauragt wird, eine bestimmte mit Milcreme gefüllte Sokolade zu kaufen.“49 Versteht man die Täterfigur als exemplaris auf die Lesergegenwart beziehbar, und dies ist in der Lektüre literariser Texte generell angelegt, dann handelt es si um einen Roman, der beispielha den Verlust jeglier Moral dur die Beliebigkeit heutiger Sinnstiungsangebote, insbesondere der Medien, inszeniert. Eine ganz ähnlier Befund lässt si bereits aus der Lektüre von Bret Easton Ellis’ Roman American Psyo von 1991 gewinnen, der wegen seiner exzessiven Gewaltszenen in Verbindung mit pornographisen Darstellungen in Deutsland viele Jahre verboten war. Ein soles Verbot verweselt freili Ursae mit Wirkung oder Diagnose. Patri Bateman, der Protagonist und I-Erzähler des Romans, ist erfolgreier Börsenmakler, do gibt es in seinem Leben keine befriedigenden Sinnstiungsangebote. Er versut die Leere dur Konsum, Krasport, Drogen, Sex und Gewalt zu überspielen. Allerdings bleibt offen, ob er die zahlreien Morde, die er sildert, wirkli begangen hat oder sie si nur einbildet.50 Gespräe über den Sinn des Lebens werden mit Redewendungen und üblien Versatzstüen geführt, nur im literarisen Text bekommen sie eine zusätzlie Bedeutung, weil sie die existenzielle Leere der Figuren illustrieren.51 Beide Romane waren und sind sehr erfolgrei, sie befriedigen vordergründig Leserbedürfnisse, aber nur, um sie zu desavouieren. Die Literaturwissensa kann zeigen, welen kritisen Nutzen die Lektüre soler Texte hat. 49 50 51
92
Ebd., S. 57. Vgl. Bret Easton Ellis: American Psycho. Roman. Deuts von Clara Dresler und Harald Hellmann. 2. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Wits 2001. Vgl. ebd., z.B. S. 514.
Literaturwissensa und Identität Ansließend an das Gesagte lässt si feststellen, dass die Literaturwissensa ein großes Spektrum von Möglikeiten vorhält, Literatur zu interpretieren und dabei einen Bezug zur Lebenswirklikeit der LeserInnen herzustellen, um damit au einen Beitrag zur – nit absließbaren – Identitätskonstruktion zu leisten. In der Praxis stellt si die Situation jedo etwas anders dar. Der Bli auf das literaturwissensalie Angebot zeigt si dann eher als Auswahl relativer Beliebigkeit – der eine fragt na der Autorenperspektive, der näste na der Rezeption, ein anderer favorisiert die Systemtheorie. Der eine swört auf die von jeder Theorie ungetrübte hermeneutise Herangehensweise, der andere interessiert si eigentli nur no für theoretise Zugänge und belässt der Literatur eine Alibifunktion für seine Argumentation. Wer Anträge auf Projektförderung stellt, der weiß, dass dies o der Teilnahme an einer Loerie ähnelt – deren Ergebnis si dana ritet, ob die Gutater ihre eigenen methodisen Vorstellungen in dem Antrag wiedergefunden haben. Manmal hat man den Eindru, komple versiedene Wissensasspraen zu spreen – und das in einem einzigen Teilfa. Die Beliebigkeit der Zugänge wird au gern für eigene Profilierungsversue genutzt – wobei es neben dem Anknüpfen an bestimmte Sulen vor allem von der Zugehörigkeit zu informellen Netzwerken abhängt (die o mit der gemeinsamen Herkun von einer Universität oder bestimmten akademisen Lehrern zu tun haben), wie viel Erfolg man damit hat. Dass den Lehrenden und Forsenden au Studierende gegenüberstehen, die na Orientierung suen, um ihre eigene Identität als LiteraturwissensalerInnen zu konstruieren, wird darüber gern vergessen. Wer si das 2007 aktuelle Ranking des Centrums für Hosulentwilung in Deutsland ansieht, der wird feststellen, dass für die Germanistik in der Rubrik „Studiensituation insgesamt“ 9 Universitäten zur „Spitzengruppe“ gezählt werden, 8 zur „Slussgruppe“ und 32 zur „Mielgruppe“. Bei dem Wertungspunkt „Betreuung“ ergibt si ein vergleibares Bild: 6 in der Sluss-, 36 in der Miel- und sieben in der Spitzengruppe. Das heißt, dass von 49 bewerteten Germanistik-Instituten im deutsspraigen Raum nur sieben eine optimale Betreuung gewährleisten.52 Das hat 52
Vgl. die Ergebnisse des Rankings auf hp://www.das-ranking.de/e8/CHE?module=Hitliste&do=show_l1&esb=30&ab=0 (Zugriff: 21.5.07).
93
zweifellos ein Bündel von Gründen, aber i kenne die Verhältnisse an versiedenen getesteten Instituten, darunter au an zwei Universitäten aus der Slussgruppe, und in den beiden Fällen glaube i zu wissen, dass das slete Absneiden viel mit dem Angebot und der – um es vorsitig zu formulieren – Selbstreferenzialität der Lehrenden zu tun hat. Ein Bli in Einführungen in die Literaturwissensa düre bestätigend wirken – zwar versuen neuere duraus, eine Klammer zu finden, insofern lassen si Veränderungen zum Positiven feststellen. Denno ist das, was Einführungen zu ihren Zielen erheben, heterogen und nit immer sehr studierendenfreundli – obwohl man dies do eigentli von Einführungen erwarten können sollte.53 Die strukturellen Mängel des Faes haben Joen Vogt beinahe dazu bewogen, sein beliebtes Einführungsbu nit Einladung zur Literaturwissensa, sondern „Warnung vor der Literaturwissensa“ zu nennen.54 Und Ralf Snell karikiert in seiner Orientierung Germanistik eine Reihe von Zugängen, indem er in einem eigenen Kapitel mit satiriser Absit typise Vertreter vorstellt: „Der Sozialgesitler“, „Der Postmodernist“, „Der Mediologe“ und andere mehr.55 Dabei gehören Joen Vogt und Ralf Snell zu den profiliertesten Vertretern ihres Faes. Was tun? Ein Vorslag wurde bereits gemat und wird hier no einmal wiederholt: Die germanistise Literaturwissensa kann ihre Identität nur finden, wenn sie Heterogenität als Chance begrei, ohne dafür auf eigene Standpunkte zu verziten. Professionalität besteht au darin, in der Lage zu sein, das heute erforderlie ‘Identitätsmanagement’56 auf dem eigenen Arbeitsgebiet zu betreiben. Es ist legitim, eher mit Bourdieu zu arbeiten, aber warum sollte man deswegen etwas gegen Foucault oder Luhmann haben? Es ist spannend, einen Text auf seine Symbole und Motive zu befragen, aber deshalb kann 53 54 55 56
94
Für einen wie au immer unvollkommenen Versu vgl.: Stefan Neuhaus: Grundriss der Literaturwissensa. 2. Aufl. Tübingen u. Basel: Frane 2005 (UTB 2477). Joen Vogt: Einladung zur Literaturwissensa. Münen: Fink 1999 (UTB 2072), S. 19. Vgl. Ralf Snell: Orientierung Germanistik. Was sie kann, was sie will. Reinbek: Rowohlt 2000 (rowohlts enzyklopädie), S. 200ff. Keupp, Identitätskonstruktionen, S. 83.
man do au andere tolerieren, denen es mehr um die Rezeption geht. Identität bedeutet ein Weselspiel von Einheit und Differenz, im Privaten wie im Beruf und eben au im Umgang mit Literatur an den Universitäten. Gerade Literatur bietet si an, sole grundlegenden Erkenntnisse zu lernen und zu vermieln. Man muss diese Erkentnisse allerdings au leben.
95
Kulturen des Wissens, Wissen der Literatur. Kreuzungen auf theoretiser Ebene Ralf Klausnitzer (Berlin)
Wenige Problemfelder der textinterpretierenden Disziplinen wurden in den letzten Jahren so intensiv und kontrovers verhandelt wie die mehrfa dimensionierten Beziehungen zwisen Literatur und Wissen. Die in literarisen Texten auf untersiedlie Weise gestalteten Wissensansprüe fanden ebenso nahaltige Aufmerksamkeit wie die vielfältigen Bezugnahmen von Autoren auf die Entwilungen spezialisierter Wissenskulturen. Rekonstruiert wurden der Einfluss von wissensalien Innovationen auf die poetise Einbildungskra und ihre Metaphern, die Exponierung von Entdeern und Erfindern zu Figuren von Romanen, Dramen und Gediten sowie die Reflexion weltansaulier Ideen und erkenntnistheoretiser Probleme in Belletristik und Essayistik. Narrative Muster historiser Darstellungen wurden analysiert, die rhetorisen Verfahren philosophiser Texte aufgedet und dekonstruiert. Au Sabu und Saliteratur, die witige Vermilungsfunktionen bei der Kommunikation wissensalier Erkenntnisse an die Öffentlikeit übernehmen, haben an Beatung gewonnen. Anstöße für neue und erweiterte Konzeptualisierungen des Wissens der Literatur kamen nit zuletzt von literaturtheoretisen Reflexionen und einer über Institutionen und Personengesite hinaus gehenden Wissensasgesitssreibung. Die nafolgenden Überlegungen unternehmen nit den Versu, dieses weite Feld zu vermessen. Sie beabsitigen au nit, bereits vorliegenden Detailuntersuungen zu historisen Konstellationen eine weitere Fallstudie hinzuzufügen. Vielmehr soll am Problemkomplex Literatur und Wissen jenen Kreuzungen und Snistellen nagegangen werden, an und in denen si Kultur- und Literaturtheorien begegnen und austausen, weselseitig wahrnehmen und beeinflussen. Ausgangspunkt dieser Skizze ist die Beobatung, dass bereits in den ersten Varianten der Reflexion über die Zusammenhänge von Literatur und Erkenntnis theoretis distanzierte Deutungs- und Erklärungsmodelle von Kultur mit systematisen Reflexionen über Auau und Wirkungsprinzipien von literarisen Texten kollidieren, in Dialog treten und si weselseitig 97
befruten: Rhetorik und Poetik als im antiken Grieenland entstehende Formationen des Wissens über Texte sind weit mehr als nur Instruktionen zur Verfertigung wirkungsvoller, d.h. ästhetis und sozial erfolgreier Äußerungen – sie können vielmehr als grundlegende Theorien der kulturellen Bedeutungsproduktion verstanden werden, die im Austaus mit anderen Wissensformationen wie der Sophistik und der philosophisen Erkenntnistheorie je spezifise und zuglei übergreifende Einsiten gewinnen. Mit anderen Worten: Das Problemfeld von Literatur und Wissen stellt ein exemplarises Feld der Begegnung und des Transfers untersiedlier Theoriebildungen dar. Das Spektrum der Einsätze reit von poetologisen und rhetorisen Regelsystemen, die si in einem Diskussionsstrom um das Wesen von Sprae und wahrer Erkenntnis formieren, über die Textumgangsformen der Philologie (die nit nur Probleme des Verstehens und Besser-Verstehens konzeptualisiert und im Kommentar einen no heute verbindlien Typus diskursiver Präsentation ausprägt) bis zu relationierenden Observationen in Strukturalismus und Poststrukturalismus, die auf je eigene Weise kulturtheoretise Modellbildungen voraussetzen und bedingen, in Anspru nehmen und generieren. Die Beobatung dieser Dialoge gewährt versiedene Aufslüsse. Wissensasgesitli interessierte Reeren können die Wissensformen und Erkenntnisnormen jener methodis distanzierten Textumgangsweisen studieren, die die Verknüpfung von Wort und Liebe bzw. Literatur und Wissen in ihre Namen eingetragen haben und in rekursiven Operationen methodis gesierte Erkenntnisse über Texte, Textgruppen und historise Konstellationen erzeugen und austausen, diskutieren und modifizieren. Profitieren kann au die kulturwissensalie Theoriediskussion, werden do neben den Erkenntnisformationen von Philologie und Literaturwissensa au die Strukturprinzipien kulturtheoretiser Modellbildungen ermielbar. Und sließli lassen si mit sensitiven Sondierungen der Dialoge zwisen Literatur- und Kulturtheorien übergreifende Muster und Regularien der Zirkulation theoretisen Wissens erfassen und benennen, deuten und erklären. Um diese Ziele einlösen zu können, sind Einsränkungen und begrifflie Klärungen im Vorfeld notwendig. Die grundlegenden Begriffe Literatur und Wissen sind nur zu heuristisen Zween als jene Einheiten aufzufassen, die ihre terminologise Prägung suggeriert. Genauere Observationen erweisen sie als Bündel untersiedlier Bestimmungen, deren Qualitäten si im begriffli-diskursiven Zugriff verändern. Denn die Entseidung für einen Wissensbegriff dirigiert nit nur Rah98
mung und methodologise Implikationen des weiteren Vorgehens; sie bestimmt (au) darüber, was als Nit-Wissen ausgeslossen oder als unsieres Wissen problematisiert wird. Au der Begriff der (sönen) Literatur funktioniert nit als eine statise, sondern als eine dynamise und relationale Kategorie, die Texte bzw. Textgruppen auf der Basis kulturell konditionierter Formierungsweisen und Wirkungsabsiten wie historis variabler Umgangsformen sortiert und dabei vor allem Differenzen zu anderen Textereignissen thematisiert. Als Literatur gelten in dieser Perspektive also Texte, die individuelle Ausdrusinteressen, ästhetise Formationsregeln und Publikumserwartungen miteinander vermieln, um dur Mobilisierung der Einbildungskra faszinierend zu unterhalten. Literarise Texte transportieren weniger kodifizierte oder formalisierbare Erkenntnisse, sondern vielmehr emotional wirkende Einsiten in individuelle oder kollektive Problemverarbeitungen. Sie geben keine Handlungsanweisungen für reale Situationen, sondern ermöglien ein symbolises Probehandeln in imaginierten Welten. Und sie befreien dur besondere Gestaltungen von Sprae unsere Wahrnehmung von Automatismen. Beispiele für diese Formen der kulturellen Bedeutungsproduktion lassen si ras und in großer Menge finden; ihr Spektrum reit von Homers Epen Ilias und Odyssee bis zu James Joyce’s Roman Ulysses; von den Soneen des Andreas Gryphius bis zu Versen von Robert Gernhardt. Zuglei kennen wir Texte, die keine fiktiven Welten imaginieren, sondern dur eindringlie Darstellung des faktis Gegebenen wirken: Autobiographien und Memoiren gehören ebenso dazu wie Reiseberite und Reportagen. Au diese (seinbar) der Wirklikeit verpfliteten Texte lassen si der Literatur zuordnen: Bei aller suggerierten Authentizität und Lebensnähe bleiben sie Kompositionen, die Aussnie aus einer wie au immer besaffenen Realität darstellen und perspektivis konditionierte Einstellungen mit ästhetisen Wirkungsabsiten formieren – und darau in au entspreend behandelt werden. In ähnli relationaler Weise können wir au Wissen näher bestimmen – obwohl die Verwendung des Terminus als Substantiv und als Verb die Sae nit einfaer mat.1 Sehr allgemein formuliert, lässt si Wissen als 1
Das von den Brüdern Grimm initiierte Deutse Wörterbu teilt mit, dass si das Verb ‘wissen’ vom indogermanisen ‘videin*’ ableitet und die sinnlie Bedeutung ‘erblit, gesehen haben, sehen’ hae; die Entwilung zum allgemeineren Bedeutungsfeld ‘erfahren haben, Kenntnis genommen haben von’ jedo son in der vorgermanisen Zeit durlief. In substantiviser Form im Sinne von ‘Kunde, Narit, Kenntnis’ wurde der Terminus ‘Wissen’ erst in frühneuhodeutser Zeit gebräuli, au wenn Verbindungen wie ‘Wissen haben’ bereits in mielhodeutsen Texten bezeugt sind.
99
Gesamtheit von begründeten (bzw. begründbaren) Kenntnissen begreifen, die innerhalb kultureller Systeme dur Beobatung und Mieilung, also dur Erfahrungen und Lernprozesse erworben werden und einen reproduzierbaren Bestand von Denk-, Orientierungs- und Handlungsmöglikeiten bereitstellen. Wissen ist jedo mehr als eine (si stetig verändernde) Summe gespeierter und wieder abruarer Erkenntnisse, sondern zuglei immer au ein Prozess, in dem si Identitäten bilden und abgrenzen sowie untersiedlie Wissenssysteme entwieln und ausdifferenzieren – und zwar in synronem Nebeneinander wie im diaronen Naeinander. In diesem weiten Sinne umfasst Wissen also Alltagskenntnisse und Produkte der epistemologis begründeten Wissensaen ebenso wie implizit regulierte Praktiken (tacit knowledge) und explizite Regeln institutionalisierter und si selbst reflektierender sozialer Systeme. Knapp formuliert: Wissen ist die dynamise Gesamtheit aller jener Vorgänge und Resultate, in denen si regelgeleitete Umgangsweisen mit (begründeten) Erkenntnissen auf Grundlage symboliser Ordnungen und Tenologien formieren und vollziehen, in Wirkung treten und verändern. Do wie gesagt: An dieser Stelle sollen weder die historisen Veränderungen der Zentralbegriffe Literatur und Wissen no die untersiedlien Modellierungen ihrer Beziehungen erläutert werden. Vielmehr wird drei exemplarisen Konstellationen des Zusammentreffens literatur- und kulturtheoretiser Überlegungen nagegangen, die das Wissen von Literatur reflektieren. Ohne die Kollisionen von Poesie bzw. Poetik und Philosophie in der Antike, die si an der Frage na der Wahrheit literariser Äußerungen entzünden, und die kulturtheoretisen Implikationen von philologisen Textumgangsformen au nur ansatzweise behandeln zu können, sind in einem ersten Absni die Integrationsbemühungen der sog. Geistesgesite zu skizzieren, in einem zweiten Absni poststrukturalistise Entgrenzungen zu diskutieren und in einem drien Teil die gegenwärtig diskutierten Modelle einer ‘Poetologie des Wissens’ vorzustellen. 1. Die in den Bibliotheken von Alexandria, Athen und Pergamon entstehende Philologie begrei Texte als Spradenkmale, die mit den Verfahren der Kritik zu bearbeiten sind, um gesierte Grundlagen für ihre Kommentierung und Interpretation herstellen zu können. Ihre Behandlungsmaximen und Srifolgen zeigen, wele Investitionen von Zeit und Aufmerksam100
keit für die Rekonstruktion eines solen Text-Wissens notwendig sind: Um die Formen der Überlieferung bestimmen und autoren- bzw. zeitspezifis einordnen zu können, sind Lautstand und Sprastufe ebenso zu ermieln wie lexikalise Besonderheiten, die nur vor dem Hintergrund umfassender Kontextkenntnisse sitbar und benennbar werden. Diskursiver Ort eines so erzeugten philologisen Wissens über (literarise) Texte ist der Kommentar, dessen besondere Leistungen zuglei seine Grenze bilden: Zumeist auf das Einzelwerk und seine erläuterungsbedürigen Stellen bezogen, bleiben umfassendere historise Zusammenhänge und Deutungsebenen eher wenig berüsitigt; Modellierungen des literaturgesitlien Prozesses und seiner Verbindungen mit allgemeinen kulturellen Entwilungen bilden in der Regel nit seinen Gegenstand. Dementspreend limitiert sind au die Zugänge der Philologie zum Wissen der Literatur; gleiwohl bleiben ihre Methoden zum Gewinn von Einsiten in Text- und Werk-Genese, Autor-Wortsatz, zeitspezifises Vokabular etc. unverzitbar. Erste Ansätze zu einer ‘inneren’ Gesitssreibung, die auf das ‘Ganze’ der literarisen Werke sowie auf die in ihnen eingesriebenen Erkenntnisse und Ideenbestände zielt, bilden si in Deutsland in der zweiten Häle des 18. Jahrhunderts heraus. Eine herausragende Rolle spielt Johann Gofried Herder, der kulturelle Artefakte und ästhetise Erfahrungen in ihrer gesitlien Bedingtheit erklären will. In seiner (Fragment gebliebenen) Aräologie des Morgenlandes besreibt er die Bibel und vor allem deren Genesis-Berit als symbolis-diterisen Ausdru des Weltverständnisses eines Volkes unter bestimmten nationalen wie lokalen Voraussetzungen. Aufgenommen und ausgebaut werden diese Ansätze dur die romantise Bewegung seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Zu „Urkunden des menslien Geistes“ erklärt, sollen literarise Texte in den „innerste[n] Teil der Gesite“ führen und einen privilegierten Zugang zur ideellen Konstitution einer übergreifenden Gemeinsa eröffnen: „Dur Bekanntsa mit der Literatur eines Volkes lernen wir seinen Geist, seine Gesinnung, seine Denkungsart, die Stufe seiner Bildung, mit einem Wort sein eigentümlies Sein und Wesen kennen, wir erhalten eine Charakteristik, die wir anderswo vergebens suen würden“, erklärt Friedri Slegel in seinen Pariser Vorlesungen über die Gesite der europäisen Literatur 1803/04.2 Poetise Denkmäler lassen 2
Friedri Slegel: Vorlesungen über die Gesite der europäisen Literatur. In: Friedri Slegel. Kritise Ausgabe seiner Srien. Hrsg. von Ernst Behler. II. Abt.: Srien aus dem Nalaß. Bd. 11: Wissensa der europäisen Literatur. Vorlesungen, Aufsätze und Fragmente aus der Zeit von 1795 bis 1804. Münen, Paderborn, Wien 1958, S. 11f.
101
si also in übergreifende historise Perspektiven einbinden und als integrale Bestandteile einer sinn-vollen Entwilungsgesite darstellen. Vor allem aber sollen sie die Entzifferung einer Größe gestaen, die den Wissenshorizont von Literatur in signifikanter Weise ausweitet: Literarise Texte gelten als prädestinierte Behälter eines Geistes, der in untersiedlier Spezifikation – national, epoal, generationstypis oder au kontinental – die besondere Eigenart von Werken und ihrer Kultur konditionieren soll (obwohl er do eigentli erst aus ihnen abzulesen ist). Verwirklit wird dieses Programm son in den Vorlesungen über söne Literatur und Kunst, die August Wilhelm Slegel 1801/04 in Berlin hält, in den Pariser Lektionen seines Bruders Friedri Slegel sowie in dessen Wiener Vorträgen Gesite der alten und neuen Lieratur von 1812–15, denen no Heinri Heine das Kompliment maen sollte, es gebe „kein besseres Bu dieses Fas“.3 Bevor si um 1900 die sog. Geistesgesite als wirkungsmätiges Integrationsprogramm der historisen Wissensaen formiert und die Fragen na dem Zusammenhang von Literatur und Wissen in den Varianten von Ideen- und Problemgesite bearbeitet, entstehen im 19. Jahrhundert ideengesitlie Ansätze, die eine Alternative zur philologisen Besränkung auf beobatbare Tatsaen darstellen und an dieser Stelle zumindest kurz zu erwähnen sind. Die 1830 veröffentlite Gesite der Deutsen Poesie im Mielalter des Philosophen Karl Rosenkranz – er wird 1833 auf den Lehrstuhl Immanuel Kants in Königsberg
3
102
Heinri Heine: Die romantise Sule. In: Ders.: Werke und Briefe. Hrsg. von Hans Kaufmann. Bd. 5. Berlin (DDR) 1961, S. 65. – Die besondere Qualität eines solen geistes- bzw. ideengesitlien Zugangs zu Literatur und Kunst wird im Verglei mit der bereits erwähnten Philologie und der gleifalls romantis inspirierten Sammeltätigkeit klarer. Während philologise Umgangsweisen si historis distanzieren und faktise Texteigensaen wie metrise Gestalt, Stilform und Motivübernahme analysieren, versteht die in der Romantik aulühende Sammlung von Überlieferungen den (literarisen) Text als Zeugnis einer vergangenen Lebensweise, der dem Kenntnisstand zeitgenössiser Leser angepasst aufzubereiten und zu verbreiten ist. So demonstrieren es Aim von Arnim und Clemens Brentano mit der Lieder- und Geditsammlung Des Knaben Wunderhorn, die in drei Bänden zwisen 1806 und 1808 in Heidelberg erseint. Eine Anpassung bzw. Akkomodation der mielhodeutsen Überlieferung an den Verständnishorizont gegenwärtiger Rezipienten prägt au die Nibelungenlied-Ausgaben des Juristen und Privatgelehrten Friedri Heinri von der Hagen, der 1810 auf die Stelle eines außerordentlien Professors für Deutse Sprae und Literatur an der neu gegründeten Berliner Universität berufen wird und mit einer vierbändigen Anthologie mielhodeutser Lyrik sowie einer dreibändigen Sammlung mielhodeutser Verserzählungen zur Begründung der mediävistisen Germanistik beiträgt.
berufen, sreibt 1844 im Aurag der Familie das Leben Hegels und legt 1853 eine bis heute grundlegende Ästhetik des Hässlien vor – dokumentiert, wele Potentiale in theoretis angeleiteten Reeren na dem Sinn und den Erkenntnishorizonten von Texten steen. Ging es einer (namentli von Karl Lamann präsentierten) Wort-Philologie um die Rekonstruktion der spralien Formung eines Textes, zielt Rosenkranz’ „innere Gesitssreibung“ auf das „Ganze“ bzw. „die Anordnung, Eintheilung, Bewegung“ der literarisen Werke.4 Deshalb stellt seine Literaturgesite nit Autoren und Überlieferungslage, sondern Ideen, Handlungs- und Kommunikationsformen literariser Figuren in den Mielpunkt. In Einzelanalysen des Nibelungenliedes, der Artusepen oder Wolfram von Esenbas Parzival eruiert er die in Texten niedergelegten Verhaltensweisen, die auf übergreifende Entwilungen in Gesellsasund Gaungsgesite, Weltbild und Retsnormen bezogen sind – und gelangt (nit zuletzt gesult dur Hegels Ästhetik) zu eindringlien und plausiblen Besreibungen der mielalterlien Literatur, die Redeweisen ebenso ernst nehmen wie Handlungsregulative und Ordnungsmuster. Do auf dieses Angebot einer kulturhistoris erweiterten Erforsung der literarisen Kommunikation – ein „wissensasgesitlies Ereignis allerersten Ranges“5 – reagieren die Anwälte einer strengen Philologie mit harser Zurüweisung. Als „dummes Zeug“ lehnt Karl Lamann die Darstellung zur Lyrik des Mielalters dur Rosenkranz ab und distanziert si von einer philosophis geleiteten Perspektivierung: „Mir ist ordentli läerli, wie dünn und armselig diese Hegelianer werden, wenn sie über Saen spreen, die sie nit in den Sraubsto ihrer Formeln nehmen können, und die sie wie unglüselige Einzelheiten ohne Zusammenhang nehmen.“6 – Angesits dieser Abfuhr verwundert es nit, dass ideen- und geistesgesitlie Beiträge (insbesondere zur Entwilung der neueren Literatur) im 19. Jahrhunderts vorwiegend die Domäne von Historikern und Philosophen sowie von außeruniversitär wirkenden Publizisten bleiben. Neben Heinri Heine (der für ein französises Publikum eine auf Themen und Ideen konzentrierte Übersit über die deutse Literatur und Philosophie sowie 4 5 6
Karl Rosenkranz: Gesite der deutsen Poesie im Mielalter. Halle 1830, S. IV. Klaus Weimar: Gesite der deutsen Literaturwissensa. Münen 1989, S. 306f. Karl Lamann an Jacob Grimm. Briefe vom 18. April 1832 und vom 24. Oktober 1829. In: Albert Leitzmann (Hg.): Briefwesel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lamann. Jena 1927, Bd. II, S. 582–588, Zitat hier S. 587 und S. 852–854, Zitat hier S. 853.
103
die „romantise Sule“ gibt) und Heinri Laube (der 1839/40 ganze Teile von Rosenkranz’ mediävistiser Poesiegesite wörtli in seine Gesite der deutsen Literatur übernimmt, ohne die Entdeung dieses Plagiats fürten zu müssen), tragen vor allem der Gesitssreiber Georg Gofried Gervinus und die von Hegel beeinflussten Literatur- bzw. Philosophiehistoriker Hermann Hener und Rudolf Haym zu einer ideengesitlien Modernisierung der Literaturforsung bei. Wie stark gesitsphilosophise Deutungsmuster die von ihnen entwielten literarhistorisen Verlaufsformen (vor)prägen, dokumentiert aber son Gervinus’ Gesite der poetisen Nationalliteratur der Deutsen, die in fünf Bänden zwisen 1835 und 1842 in Leipzig erseint. Das hier entwielte genetise Konzept bildet einen klaren Gegensatz zur stellenbezogenen Kommentierung und bibliographisen Verzeinung von Wissensbeständen dur die Philologie. Die ronologise Darstellung der historisen Entwilung realisiert si als Entfaltung eines Zusammenhanges, der die Literaturgesite zu einem sinnhaen Prozess mit einem Ziel erhebt. Die Abfolge von Texten und ihren Autoren wird zu einer ‘Sinn-Gesite’, als deren Subjekt die Nation auri – folgt man do der bereits von Herder formulierten und von Friedri Slegel aktualisierten Vorstellung, literarise Texte eröffneten den Zugang zum ‘Geist der Nation’ so direkt wie keine anderen Quellen. Deshalb verzitet Gervinus’ Gesite der poetisen Nationalliteratur der Deutsen au auf eine Darstellung des ästhetisen Gehalts literariser Texte und gibt stadessen eine Analyse ihrer historisen Bezüge und Funktionen.7 Diese Ansätze – zu denen no Hermann Heners sesbändige Literaturgesite des 18. Jahrhunderts und Rudolf Hayms umfänglie Monographien Herder na seinem Leben und seinen Werken (2 Bde., 1877–85) und Die Romantise Sule (1870) treten – verditen si an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu einem integrativen Programm, das neben einer theoretis angeleiteten Behandlung der literarisen Überlieferung 7
104
Literatur erseint bei Gervinus als kulturelles Medium eines nationalen Formationsprozesses; die Aneignung dieser Tradition soll dem deutsen Bürgertum zur Ausbildung einer eigenen Identität verhelfen. Um die Nähe der Literatur zum Leben der Nation herauszustellen, will Gervinus das „viele kleine Strauwerk“ der Volksditung stärker zur Geltung bringen und literarisen Produktionen die Aura der Hokultur nehmen. Wie massiv gesitsphilosophise Annahmen die Modellierung prägten, zeigt vor allem seine Auffassung vom Ende der Literatur in der Gegenwart: Als Ersatz politiser Emanzipation habe Literatur nun ihren Zwe, die Heranbildung der Nation zur Vorstellung politiser Freiheit, erfüllt und müsse in eine dur praktises Handeln herbeigeführte Emanzipationsbewegung des deutsen Bürgertums münden.
ihre geistesgesitlie Deutung betreiben sollte. Bezeinenderweise erfolgen sowohl die Versue zur Begründung einer auf Gesetzeserkenntnis abzielenden Literatur-Wissensa als au die im Folgenden zu skizzierenden Einsätze der Geistes- und Ideengesite unter Rügriff auf Leistungsangebote einer Grundlagendisziplin, die na einer sweren Krise seit 1840 wieder neue Reputation gewonnen hae: die Philosophie. Na dem Zusammenbru der großen idealistisen Systeme hae sie ihre Zentralstellung innerhalb des Wissensassystems verloren und war im zweiten Driel des 19. Jahrhunderts eine Fawissensa unter anderen geworden. Dem Vorbild der philologis-historisen Disziplinen folgend, wandte sie si verstärkt der eigenen Gesite und der Auslegung ihrer klassisen Texte zu, um über eine Kant-Renaissance seit den 1870er Jahren zu neu-idealistisen Positionen zurüzufinden.8 Wasende Bedeutung erlangt die Philosophie jedo vorrangig dur die Produktion anthropologis fundierter Erkenntnistheorien, die Ergebnisse der Einzelwissensaen aufnehmen, um sie theoretis zu modellieren und zu überbieten. Mit diesen Kompetenzen kann sie den text- und zeieninterpretierenden Fäern am Ende des 19. Jahrhunderts zwei araktive Angebote unterbreiten: Vorgeslagen werden zum einen die Konzepte und Verfahren einer (experimentellen) Psyologie, die ursprüngli eine philosophise Subdisziplin ist und si in Kontakt mit der Biologie, Physiologie und Völkerkunde sowie dur erfolgreie Institutsgründungen (namentli dur Wilhelm Wundt und seine Süler) zu einer eigenständigen Disziplin entwielt. Die dur empirise Beobatung und Introspektion gewonnenen Begriffe der Psyologie seinen geeignet, den Entstehungsprozess poetiser Werke adäquat besreiben und erklären zu können. „Seitdem Hegel dur die rükehr zu Kant und dur die hohe blüte der naturwissensaen als überwunden galt und die philosophie in engste beziehungen zu physiologie und biologie trat, ist die psyologie zur königin der geisteswissensaen emporgestiegen“, fasst Alfred Biese 1899 die Entwilung zusammen, „sie beherrst die moderne ästhetik, die moderne literaturbetratung. Damit sind denn au die slimmsten zeiten des specialismus vorüber.“9 – Als Anläufe zu einer induktiven Poetik und die Versue zur Formulierung von Ge8 9
Dazu Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutse Universitätsphilosophie zwisen Idealismus und Positivismus. Frankfurt/M. 1986. Alfred Biese: Rezension Ernst Elster, Prinzipien der Lieraturwissensa. In: Zeitsri für deutse Philologie 31 (1899), S. 237–243, hier S. 237.
105
setzen der literarisen Entwilung nit den erho en Erfolg bringen, soll ein anderes Angebot der Philosophie von Bedeutung werden. Die klassifikatorise Trennung von erklärenden Naturwissensaen einerseits und verstehenden Geistes- und Kulturwissensaen andererseits staet die Wissensansprüe der Literaturforsung mit radikal veränderten Akzeptanz- und Plausibilitätsbedingungen aus und avanciert zum Distinktionskriterium einer Forsergeneration, die na 1900 zur Besetzung universitärer Positionen rüstet. Im Ansluss an Überlegungen des Philosophen Wilhelm Dilthey formuliert Rudolf Unger in seiner 1908 veröffentliten Programmsri Philosophise Probleme in der neueren Literaturwissensa einen gegen die „meanistise bzw. atomistise Auffassungsweise“ des „Positivismus“ geriteten Forsungsimperativ und fordert, literarise Texte als Zeugnisse der „Weltansauungs- oder Ideengesite“ sowie als „Ditungen“ zu behandeln: Da die neuere deutse Literaturgesite „in weitem Umfange zuglei Gesite dieser allgemeinen geistigen Strömungen und Kämpfe“ sei und ihre Manifestationen als „selbständige, in si abgeslossene künstlerise Gestaltungen“ in Erseinung treten, müsse si au deren Erforsung „philosophiser, speziell psyologiser und ästhetiser Methoden und Maßstäbe sowie ethiser, religions- und gesitsphilosophiser Ideen“ bedienen.10 Die programmatis verkündete Abkehr von einer besränkten Philologie trägt nur wenige Jahre später erste Früte: 1911 erseint Rudolf Ungers zweibändiges Werk Hamann und die Aulärung, das son im Nebentitel („Studien zur Vorgesite des romantisen Geistes im 18. Jahrhundert“) die Swerpunkte des neuen wissensalien Interesses markiert; im selben Jahr publiziert der im George-Kreis beheimatete Friedri Gundolf seine Habilitationssri Shakespeare und der deutse Geist. Bereits 1910 wurde die zweibändige Habilitationssri Die Mythologie in der deutsen Literatur von Klopsto bis Wagner des erst siebenundzwanzigjährigen Fritz Stri veröffentlit. Alle diese (und zahlreie weitere) Werke dokumentieren einen Modernisierungsprozess in der Literaturforsung, der im wissensashistorisen Rübli als geistesgesitlie Wende apostrophiert wurde und den Umgang mit dem Wissen der Literatur nahaltig verändern sollte: Auf Grundlage eines umfangreien, philologis erslossenen Wissens und befrutet dur Anregungen aus Philosophie, Psyologie und der Kulturge10
106
Rudolf Unger: Philosophise Probleme in der neueren Literaturwissensa [1908]. In: Ders.: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgesite. Gesammelte Studien. Berlin 1929, S. 1–32, hier S. 13–15 u. 17f.
sitssreibung entstehen nun synthetise Übersitsdarstellungen, die eine bislang dominierende mikrologise Quellen- und Textkritik zugunsten umfassender philosophis-ästhetiser bzw. wissens- und mentalitätsgesitlier Perspektivierungen verabsieden. Das na 1910 in Erseinung tretende Spektrum der geistesgesitlien Literaturforsung markiert jedo nit nur den Ausgangspunkt einer si ras entfaltenden Vielfalt von methodisen Ritungen und Sulen (deren Heterogenität eine vielstimmig konstatierte „Krisis“ des Faes hervorrufen sollte). Ihre Ergebnisse stoßen zudem auf breites öffentlies Interesse; die intensive Beteiligung ihrer Repräsentanten an der Theoriediskussion mat die Neuere deutse Literaturwissensa zu einem Experimentierfeld innerhalb der philologis-historisen Disziplinen. No heute gehört die 1923 dur den Germanisten Paul Kluhohn und den Philosophen Eri Rothaer begründete Deutse Vierteljahrssri für Literaturwissensa und Geistesgesite zu den renommierten Faorganen. Den Auakt der später als Geistesgesite bezeineten Strömung, die als Integrationsprogramm der historisen Wissensaen die Entwilung der Neueren Philologien und insbesondere der Germanistik in der ersten Häle des 20. Jahrhunderts wesentli bestimmen sollte, bildet die 1905 von Wilhelm Dilthey zusammengestellte Aufsatzsammlung Das Erlebnis und die Ditung. In dezidierter Absetzung von philologisen Akkumulationen faktisen Wissens und zum kausalgenetisen ‘Erklären’ demonstrieren Diltheys Texte ein hermeneutises ‘Verstehen’ von Leben und Werk am Beispiel von vier Autoren, denen paradigmatise Bedeutung für den Gang der neueren deutsen Literatur zugesrieben wird: Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Leitend für den hier praktizierten Umgang mit Texten ist ein Prinzip, das dem zergliedernden Erklären der Naturwissensaen diametral entgegengesetzt ist und Fundierungsfunktionen für die Geisteswissensaen übernimmt: Das Verstehen ist ein Wiederfinden des I im Du; der Geist findet si auf immer höheren Stufen von Zusammenhang wieder; diese Selbigkeit des Geistes im I, im Du, in jedem Subjekt einer Gemeinsa, in jedem System der Kultur, sließli in der Totalität des Geistes und der Universalgesite mat das Zusammenwirken der versiedenen Leistungen in den Geisteswissensaen mögli. Das Subjekt des Wissens ist hier eins mit seinem Gegenstand, und dieser ist auf allen Stufen seiner Objektivationen derselbe.11
11
Wilhelm Dilthey: Der Auau der gesitlien Welt in den Geisteswissensaen. In: Ders.: Gesammelte Srien. Bd. 7. Leipzig 1927, S. 191.
107
In Konzeption und Darstellungsform bietet Diltheys Werk eine Vielzahl von Anslussmöglikeiten: Die nafolgende Ideen- bzw. Problemgesite kann si auf seine philosophis angeleitete Deutung literariser Werke ebenso berufen wie auf das von ihm demonstrierte „kunstmäßige Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen“.12 Von Diltheys Überlegungen zur heuristisen Zusammenfassung altersgemeinsali verbundener Autoren profitiert die sog. geistesgesitlie Generationentheorie, die in Karl Mannheims soziologis fundierten Überlegungen zum Generationen-Begriff neue Impulse erfahren wird; seine Konstruktion eines literaturgesitlien Kontinuums zwisen 1770 und 1830 bietet später Raum für den Begriff ‘Goethe-Zeit’ und für die Rede von der Deutsen Bewegung, die als Einspru gegen westeuropäise Aulärung ausgedeutet und nationalistis instrumentalisiert werden kann. – No bevor in Rudolf Ungers bereits erwähnter Programmsri Philosophise Probleme der Neueren deutsen Literaturwissensa von 1908 und den wenige Jahre später folgenden Monographien von Unger, Friedri Gundolf, Fritz Stri sowie in der stammesethnographisen Literaturgesite Josef Nadlers die Gründungsurkunden einer neuen, seit den 1920er Jahren als Geistesgesite bezeineten Literaturforsung vorliegen, dokumentiert Diltheys Aufsatzsammlung also neue Wissensformen von und über Literatur: Nit mehr editionsphilologise Sierung und mikrologise Analyse der Quellen, sondern geistesgesitlie Rekonstruktionen und weltansaulie Ausdeutung in Form ganzheitlier Synthesen stehen auf der Tagesordnung. Ursaen wie Folgen der später als geistesgesitlie Wende deklarierten Modernisierung der universitären Literaturforsung in Deutsland werden vor dem Hintergrund des tief greifenden Wandels im Kunst- und Wissensassystem na 1900 verständli. Die neuen Textbehandlungsformen partizipieren einerseits an einer Kulturkritik, die im Protest gegen plaen Fortsrisglauben und Rationalismus ihren Ausgang nahm und in ästhetizistise Hermetik und mystifizierende Lebens-Ideologien münden sollte. Als Teil einer ‘verstehenden’ Geisteswissensa vollziehen sie andererseits die Lösung von einem Methodenideal, das mikrologise Detailforsung und kausalgenetise Erklärung favorisiert hae und nun als ‘positivistis’ disqualifiziert wird. Zu einer „Revolution in der Wissensa“ exponiert, soll der Bru mit „Histo12
108
Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik. In: Ders.: Gesammelte Srien. Bd.5. Leipzig 1924, S. 319.
rismus“, „Relativismus“ und fawissensaliem „Spezialistentum“ sowie mit „Intellektualismus“ und „Meanismus“ das Erbe der Romantik antreten und zum Wiedergewinn einer verlorenen „Ganzheit“ führen.13 Profitieren kann die geistesgesitlie Literaturforsung von der wasenden Selbstreflexivität des Kunst- und Literatursystems: Die mit der Neuromantik einsetzende Umkehr „zu Symbol und Metaphysik, zu Intuition und Kosmologie, zu Geheimnis und Mythos, zu Geist und Überpersonalität“,14 die wie die zeitgenössise Bildungskritik an untersiedlien Projekten einer „geistigen Revolution“ laboriert,15 befördert nit nur eine Renaissance lebensphilosophiser Konzepte, die bis zur politisen Zäsur des Jahres 1933 (und darüber hinaus) anhält und einer problem- wie ideengesitli interessierten Literaturforsung leitende Begriffe zur Verfügung stellt. In den Berührungen zeitgenössiser Poeten mit der universitären Literaturwissensa entstehen zuglei frutbare Austausbeziehungen, die von privat-freundsalien Verbindungen (wie etwa zwisen dem philologis promovierten Hugo von Hofmannsthal und Konrad Burda, Walter Bret oder Josef Nadler) bis zur Konstitution des Kreises von Künstlern und Wissensalern um Stefan George reien.16 Eine Frut dieser Verbindung ist die Entdeung einer Gegenwartsliteratur, die spezifise Züge aufweist: Der wissensalien Bearbeitung als würdig erweisen si vor allem Werke, die das Kriterium formaler Geslossenheit erfüllen, also ein hohes Formbewusstsein verraten oder si in klassizistise Traditionen stellen. Die Wissensasfähigkeit no lebender Autoren und ihrer Texte steigert si, wenn zu formaler Insistenz geistesgesitli bearbeitbare Inhal13
14 15
16
Ernst Troelts: Die Revolution in der Wissensa. Eine Bespreung von Eri von Kahlers Sri gegen Max Weber: „Der Beruf der Wissensa“ und die Gegensri von Arthur Salz: „Für die Wissensa gegen die Gebildeten unter ihren Verätern“. In: Jahrbu für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtsa im Deutsen Rei (Smollers Jahrbu) 45 (1921), S. 65–94; wieder in E. Troelts: Gesammelte Sriften. Bd. 4: Aufsätze zur Geistesgesite und Religionssoziologie. Tübingen 1925, S. 653–677, Zitate hier S. 676f. Werner Mahrholz: Deutse Literatur der Gegenwart. Probleme – Ergebnisse – Gestalten. Durgesehen und erweitert von Max Wieser. Berlin 1930, S. 92. Eri von Kahler: Der Beruf der Wissensa. Berlin 1920, S. 5 und 8. Ähnli Ernst Robert Curtius: Krisis der Universität? In: Ders.: Deutser Geist in Gefahr. Stugart 1932, S. 51–78, hier S. 51f. die Datierung des Beginns der „geistigen Revolution“ auf die Zeit um 1910. Vgl. Rainer Kolk: Literarise Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945. Tübingen 1998 (= Communicatio 17); Christoph König: Hofmannsthal. Ein moderner Diter unter den Philologen. Göingen 2001 (=Marbaer Wissensasgesite 2).
109
te treten – etwa dur Bezüge zu Philosophie und Kunst, zu Mythologie oder Gesitssreibung.17 Die heterogenen Konzepte der sog. Geistesgesite repräsentieren und katalysieren eine fortsreitende Binnendifferenzierung innerhalb der universitären Literaturwissensa, die in der Lösung von philologiser wie literaturhistoriographiser Besränkung seit den 1890er Jahren ihren Ausgang genommen hae. Die konzeptionellen und methodisen Separationen führen nit nur zu einer bis dahin ungekannten Pluralisierung von Thematisierungsweisen im Umgang mit Literatur – der Wiener Landessulinspektor Oskar Benda konstatiert 1928 insgesamt 12 konkurrierende Methoden18 –; sie slagen si au in untersiedlien Bearbeitungen der Ideen- und Wissensgehalte von Texten nieder. Denn au wenn die Frontstellung gegen ‘Positivismus’ und ‘Philologismus’ die Repräsentanten einer geistesgesitlien Literaturforsung eint, ist der von ihnen praktizierte Umgang mit Texten und Autoren keineswegs homogen. Im Gegenteil. Innerhalb des Integrationsprogramms ‘Geistesgesite’ existiert vielmehr ein breites Spektrum untersiedlier Positionen. Konzeptionelle Übereinstimmung besteht in der von Dilthey übernommenen Überzeugung, einen in literarisen Werken inhärenten, transpersonal und zumeist epoenspezifis bestimmten Geist in kulturhistorisen Zusammenhängen aufzufinden und darzustellen – ob im Ausgang von Grundformen der Welterfahrung (‘Erlebnissen’ bzw. ‘elementaren Problemen des Mensenlebens’), von ‘Ideen’ bzw. Bewusstseinseinstellungen (‘Typen der Weltansauung’) oder altersgemeinsalien ‘Generationserfahrungen’. Den Abstand zu mikrologiser Quellenersließung und philologiser Textkritik markieren die neuen Arbeitsfelder: Im Zentrum der Bemühungen stehen nit länger 17
18
110
Gewinner dieser neu zentrierten Aufmerksamkeit sind Autoren wie Paul Ernst und Gerhart Hauptmann, vor allem aber Hugo von Hofmannsthal, Stefan George und Thomas Mann, deren Werke bereits in den 1920er Jahren zu Themen germanistiser Dissertationen aufsteigen. Demgegenüber haben die Literaten des Expressionismus slete Karten: Abgesehen vom Sonderfall Fritz von Unruh und dem Interesse des Sweizer Literaturhistorikers Walter Musg für expressionistise Innovationen gelangen ihre Texte nur selten in den Fokus der geistesgesitlien Literaturbeobatung. (Eine die Regel bestätigende Ausnahme ist die „Silderung der deutsen Literatur der letzten Jahrzehnte“ unter dem Titel Ditung und Diter der Zeit aus der Feder des in Chemnitz lehrenden Albert Soergel, die in zahlreien Auflagen verbreitet wird und si mit der 1925 ersienenen „Neuen Folge“ Im Banne des Expressionismus au den jüngsten Entwilungen widmet.) Oskar Benda: Der gegenwärtige Stand der Literaturwissensa. Eine erste Einführung in ihre Problemlage. Wien u. Leipzig 1928, S. 7.
die Edition, die als „Prüfstein des Philologen“19 gegolten hae, und die Biographie, deren Lüenlosigkeit dur Detailforsung und Induktion zu siern war, sondern die synthetise Rekonstruktion grundlegender Beziehungen und Strukturen des literatur- und kulturgesitlien Prozesses – ohne dazu direkte Einflussbeziehungen zwisen Einzelzeugnissen naweisen zu müssen. Ermilung und Deutung eines in der literarisen Überlieferung objektivierten ‘Geistes’ eröffnen untersiedlie Anslussmöglikeiten, die methodis gleiwohl dem Prinzip der typologisen Generalisierung verpflitet bleiben. Rudolf Unger, Paul Kluhohn und Walther Rehm verfolgen in der Gestaltung von Liebe, Glauben, Tod die poetis-philosophise Gestaltung „elementarer Probleme des Mensenlebens“.20 Diese „Problemgesite“ findet ihren Niederslag in Paul Kluhohns 1925 veröffentliter Monographie Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der Romantik und in Walther Rehms 1928 publizierter Habilitationssri Der Todesgedanke in der deutsen Ditung vom Mielalter bis zur Romantik, die ihren Autoren eine Reputation siern, die über die Zäsuren der Jahre 1933 und 1945 hinausgeht. Au Clemens Lugowski übernimmt Ungers „Gehaltsanalyse“ und versut sie dur die Frage na der Besaffenheit literariser Figuren in eine „Formanalyse“ zu überführen.21 Selbst der aus dem George-Kreis stammende Max Kommerell, der in seinen Texten ein unmielbares, dur Interventionen anderer Interpreten seinbar unbeeinträtigtes Verhältnis zur Überlieferung inszeniert, knüp in seinem Jean Paul-Bu von 1933 an das Inventar der von Rudolf Unger begründeten „Problemgesite“ an.22 Die von Hermann August Korff repräsentierte Ideengesite besreibt dagegen den historisen Wandel von Weltansauungen in ihrer diterisen Gestaltung. Ihr eindrusvolles Zeugnis bleibt das 19 20
21 22
Gustav Roethe: Gedätnisrede auf Eri Smidt. In: Sitzungsberite der Königli Preußisen Akademie der Wissensaen 1913, S. 617–624, hier S. 623. Rudolf Unger: Literaturgesite als Problemgesite. Zur Frage geisteshistoriser Synthese, mit besonderer Beziehung auf Wilhelm Dilthey. Berlin 1924 (= Srien der Königsberger Gelehrten Gesellsa. Geisteswissensalie Klasse I), wieder in R. Unger: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgesite. Gesammelte Studien. Bd. I, S. 137–170, hier S. 155. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutsen Prosaerzählung. Berlin 1932. Neuausgabe hrsg. von Heinz Slaffer. Frankfurt/M. 1976, hier S. 3f. Ralf Simon: Die Reflexion der Weltliteratur in der Nationalliteratur. Überlegungen zu Max Kommerell. In: Hendrik Birus (Hg.): Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993. Stugart u. Weimar 1995, S. 72–91, hier S. 75.
111
vierbändige Werk Geist der Goethezeit, das als „Versu einer ideellen Entwilung der klassis-romantisen Literaturgesite“ zwisen 1923 und 1953 erseint und zahlreie Auflagen erreit.23 Die von Germanisten aus dem George-Kreis wie Friedri Gundolf, Max Kommerell oder Rudolf Fahrner realisierte Kräegesite sut dagegen die geistige Gestalt gesitsbildender Individuen zu erfassen und deutet literarise Produktion als Kräe und Wirkungen, ohne aber die Methodik ihres Verfahrens navollziehbar und operationalisierbar zu maen. Ihre Werke demonstrieren am deutlisten die Abkehr von philologiser Mikrologie: Nit unbekannte Quellen sollen erslossen, sondern das zugänglie Material in neuer Perspektive dargestellt werden. „Darstellung, nit bloß Erkenntnis liegt uns ob; weniger die Zufuhr von neuem Stoff als die Gestaltung und geistige Durdringung des alten“, erklärt Friedri Gundolf 1911 in seiner Heidelberger Habilitationssri Shakespeare und der deutse Geist, die zuglei die Möglikeit zur Vermilung seiner als „Erlebnisart“ deklarierten Methode dementiert.24 Fünf Jahre später legt er eine vieldiskutierte Goethe-Monographie vor, die in äußerlier Gestalt wie in öffentlier Wahrnehmung ein Novum markiert. Ohne Hinweise auf die bisherige Forsung, ohne Anmerkungen und wissensalien Apparat in der Srienreihe Werke der Wissensa aus dem Kreise der Bläer für die Kunst ersienen, erreit sie no zu Lebzeiten des Autors mehr als zehn Auflagen, erntet über 60 Rezensionen und wird in zahlreie europäise Spraen sowie ins Japanise übersetzt. Gleiwohl versut man, den Verfasser aus dem falien Diskurs auszusließen: Ein 1921 publiziertes Sonderhe der literaturgesitlien Zeitsri Euphorion markiert sein Werk als „Wissensaskunst“ sowie seinen Verfasser als „Künstler der Wissensa“ und fixiert in Gestalt des Lobes eine Kritik, die unbestimmt lässt, in weler Weise das Werk die Grenze zwisen Kunst und Wissensa übersrien und weles künstlerises Darstellungsverfahren seinen wissensalien Ertrag eingesränkt habe.25 Als weitere, nur knapp zu erwähnende Variante der 23
Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. Bd. 1: Sturm und Drang. Leipzig 1923, 1966; Bd. 2: Klassik. Leipzig 1930 81966; Bd. 3: Frühromantik. Leipzig 1940 71966; Bd. 4: Horomantik. Leipzig 1953 71966. Friedri Gundolf: Shakespeare und der deutse Geist. Berlin 1911, S. VIII: „Deshalb ist au Methode nit erlernbar und übertragbar, sofern es si darum handelt, darzustellen, nit zu sammeln. Methode ist Erlebnisart, und keine Gesite hat Wert die nit erlebt ist (...).“ Ernst Osterkamp: Friedri Gundolf zwisen Kunst und Wissensa. Zur Problematik eines Germanisten aus dem George-Kreis. In: Christoph König, Eberhard Lämmert (Hgg.): Literaturwissensa und Geistesgesite 1910–1925. Frankfurt/M. 1993, S. 177–198. 8
24
25
112
geistesgesitlien Literaturforsung tri die von Oskar Walzel und Fritz Stri geprägte Stiltypologie in Erseinung. Sie versut, formale Gestaltungsprinzipien des Wortkunstwerks zu ermieln und grei dazu auf Kategorien der Kunstgesitssreibung zurü – insbesondere auf die vom Kunsthistoriker Heinri Wölfflin entwielten Stilbegriffe und Polaritätskonstruktionen. Die aus Wölfflins Erstlingswerk Renaissance und Baro von 1885 übernommenen Begriffsbildungen sind antithetiser Natur: ‘Spannung’, ‘Unendlikeit’, ‘Formlosigkeit’ bilden den Gegenpol zu ‘Erlösung’, ‘Vollkommenheit’, ‘Vollendung’. Au wenn Wölfflin die Einseitigkeiten seines Jugendwerkes in den 1915 veröffentliten Kunstgesitlien Grundbegriffen revidiert, ist der Grundstein für eine Formanalyse als Daseinsdeutung gelegt: Stilbegriffe avancieren zu Abbreviaturen für Geisteshaltung und Seelenverfassung ganzer Zeitalter und gerinnen, empirise Untersuungen vernalässigend, zu psyologisen Strukturtypen.26 Diese Varianten des si in der ersten Häle des 20. Jahrhunderts ausdifferenzierenden Methodenspektrums der Geistesgesite verallgemeinern die Einzeldaten des literaturgesitlien Prozesses typologis, um in bewusster Opposition zur „mikrologisen Nitigkeitskrämerei“27 einer verselbständigten Detailforsung umfassende Perspektiven und Sinnangebote zu erzeugen. Damit sind nit nur erweiterte Forsungsfelder, sondern au Orientierungskompetenzen für eine zunehmend unübersitlie Welt gewonnen. In dieser Verbindung von wissensalier Innovation und (behaupteter) weltansaulier Kompetenz gründet die Überzeugungskra eines geistesgesitlien Umgangs mit Literatur: Die Integration diversifizierter Wissensbestände in ganzheitlien Synthesen setzt nit nur dem Relativismus einer si selbst genügenden Philologie seinbar siere Normen des Wissenswerten entgegen, sondern stellt auf drängende Fragen der kulturellen Orientierungssue zuglei bildungsidealistise „Ethikangebote“ bereit.28 – Die meisten der so begründeten literaturgesitlien Darstellungen visibilisieren ihre
26
27 28
Deutli etwa in Fritz Stris erstmals 1922 veröffentlitem Werk Deutse Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlikeit, wo der behauptete Antagonismus zweier Charaktertypen zum Axiom wird, zu dessen Illustration eine historise Konstellation nur no Belegmaterial bereitstellt. Unger, Philosophise Probleme (zit. Anm. 10), S. 8. Rainer Kolk: Reflexionsformel und Ethikangebot. In: König/Lämmert, Literaturwissensa und Geistesgesite (zit. Anm. 25), S. 38–45.
113
Prämissen und Präsuppositionen aber nur unzureiend. Voraussetzung ihrer Fixierung des literaturhistorisen Prozesses auf Ideen oder geistige Prinzipien sind radikale Ausblendungen: Unterbelitet bleiben sowohl sozialhistorise Konditionen als au gesellsasgesitlie Bezugsprobleme der literarisen Produktion; der Gesamtdeutung entgegenstehende Einzelbefunde wie empirise Beobatungen swinden unter unifizierenden Begrifflikeiten, die ihre Abkun aus gesitsund lebensphilosophisen Semata nur swer verbergen. Trotz ihrer zum Teil gravierenden Mängel stellen die hier knapp umrissenen geistes- und ideengesitlien Textumgangsformen nit zu vernalässigende Einsiten für die späteren Modellbildungen zum Verhältnis von Literatur und Wissen bereit. Ein wesentlier Gewinn besteht in der Integration poetiser Texte in übergreifende kultur- und wissensgesitlie Horizonte: Literatur ist mehr als nur die Summe von (besonders gestalteten) Werken; sie ist Bestandteil und gleizeitig Resultat und Katalysator geistig-kultureller Zirkulationsprozesse, in denen Ideen und Probleme generiert, weselseitig beobatet und in je eigener Weise bearbeitet werden. Damit ist der Gegenstandsberei literaturwissensalier Aufmerksamkeit irreversibel erweitert: Au wenn die geistes- und ideengesitlien Zugänge in der ersten Häle des 20. Jahrhunderts no keine eigene Besreibungssprae und Erklärungskonzepte für die komplizierten Beziehungen zwisen literariser Kommunikation und Wissenskulturen entwieln und si – wie mehrfa selbst eingestanden – vor allem bei der Philosophie und der Kunstgesite bedienen, steen sie do zumindest das Terrain ab, auf dem si spätere Ansätze entfalten können. Zu diesen zählen vor allem die Varianten eines integrativen Forsungsprogramms, das die historise Semantik und also den gesitlien Wandel von Begriffen und Konzepten untersut. 2. Wird Wissen als Gesamtheit von historis veränderlien Kenntnissen begriffen, die innerhalb kultureller Systeme dur wiederholte Beobatungen erworben und in reproduzierbaren Zeien fixiert werden, dann leisten die Besreibungs- und Erklärungsverfahren des zwisen 1915 und 1925 in Russland aulühenden Formalismus und die ihm – na Wanderungsbewegungen witiger Vertreter – ab den 1930er Jahren folgende Bewegung des Strukturalismus einen wesentlien Sri zur 114
Reflexion des Wissens von und in Literatur. Denn die strukturalistise Tätigkeit besteht laut Roland Barthes darin, „ein ‘Objekt’ derart zu rekonstruieren, daß in dieser Rekonstitution zutage tri, na welen Regeln es funktioniert (weles seine ‘Funktionen’ sind)“29 – und das bedeutet nit weniger als die (regelgeleitete) Zerlegung kultureller Artefakte in ihre Bestandteile und Elemente mit dem Ziel, ihr Arrangement zu ersließen. Die Operationen des Zerlegens und Arrangierens siern dem Strukturalismus überzeugende Optionen zum Umgang mit untersiedlien Zeien und Zeiensystemen: Von der semiologisen Unterteilung der menslien Rede in langue (als ein unabhängig von seinen Spreern existierendes Zeiensystem) und parole (den im einzelnen Spreakt aktualisierten Äußerungen) profitiert die Linguistik; die gleifalls im Rahmen der Semiologie entwielte Unterseidung von Signifikant und Signifikat befrutet Analysen von Literatur wie von Mode, Film, Fotografie. Für den Gewinn anslussfähigen Wissens aus und von literarisen Texten werden sließli die Verfahren zur Unterseidung und Benennung ihrer spralien Beziehungen bedeutsam: Die Differenzierung von Syntagma und Paradigma erlaubt die Ermilung von Ordnungsbeziehungen in narrativen wie in lyrisen Texten; die Abgrenzung von Denotation und Konnotation nimmt die versiedenen Bedeutungsebenen von Sprae in den Bli und sär das Bewusstsein für die spezifis ‘versnürten’ Qualitäten literariser Werke; die Unterseidung von Objekt- und Metasprae ermöglit eine Selbstreflexion analytiser Verfahren. Die im Rahmen der strukturalen Semantik entwielten Srifolgen zur Aufdeung von elementaren Strukturen der Bedeutung gestaen es, kleinste bedeutungstragende Einheiten sowie Ebenen und Miel des Diskurses aufzuspüren – wennglei die Konzentration des Suprogramms auf grundlegende Binäroppositionen zu einseitigen Blien und Perspektiven führen können. Diese Einseitigkeiten strukturalistiser Konzepte und Verfahren aber lösen alternative Theoriebildungen aus, in denen Fragen na der Spezifik von Literatur und ihrem Wissen in völlig neuer Weise gestellt und beantwortet werden sollen. Gemeinsamer Nenner dieser in Frankrei son Mie der 1960er Jahre einsetzenden Bewegungen ist ein ambivalenter Bezug auf Theorie und Praxis des Strukturalismus: Einsiten in die differentielle Organisation von Zeien und Zeiensystemen 29
Roland Barthes: Die strukturalistise Tätigkeit. In: Kursbu 5 (1966), S. 190–196; hier S. 191, zu Zerlegung und Arrangement ebenda S. 192.
115
werden zumindest partiell geteilt, Versue zum Naweis universell gültiger Strukturen aber abgelehnt.30 Do wird von diesen na-strukturalistisen Programmen nit nur bestrien, dass literarise Objekte sinnvoll als eindeutige Strukturen oder Systeme rekonstruierbar seien. Da Zeienträger nit auf feststehende Bedeutungen und damit auf stabile Signifikate zurüführbar wären, sei jede Zeienverwendung prinzipiell unabsließbar; Texte könnten nit als Träger eines fixierten Sinns angesehen und entspreend interpretiert werden. Do mehr no. In poststrukturalistisen Überlegungen existieren keine Beziehungen zwisen feststehenden Elementen, die si hieraris um ein Zentrum gruppieren (wie es strukturalistise Konzepte annehmen und Binäroppositionen wie männli/weibli, Natur/Kultur, Bewusstes/Unbewusstes etc. auauen). Die kritisen Erben bzw. Überwinder des Strukturalismus gehen vielmehr davon aus, dass in diesen Gegensatzpaaren immer eine Seite unterdrüt bzw. verdrängt wird – und formulieren deshalb einen Forsungsimperativ, der die Aufmerksamkeit auf differente und plurale Elemente ritet und die Verdrängungsleistungen von Sprae und Kultur in besonderer Weise thematisiert: Nit die Rekonstruktion von Bedeutungen und Bedeutungszuweisungen, sondern deren Dekonstruktion soll vollzogen werden, indem man die Prozesse der Zusreibung von Sinn und Bedeutung kritis hinterfragt; nit die der Sprae und Literatur zugesriebenen Repräsentationsfunktionen gilt es zu erforsen, sondern das in sie eingetragene verdrängte Wissen, das dur Lektüren gegen den Stri sitbar zu maen ist. Umgang mit Texten wird in poststrukturalistiser Perspektive so zu einer „Arbeit am Verdrängten“, geht es do um nit weniger als um 30
116
Die ersten Manifeste dieser post-strukturalistisen Bewegung(en) erseinen, als der Strukturalismus in Frankrei gerade seinen Höhepunkt erreit. 1965 veröffentlit Tzvetan Todorov unter dem Titel Theorie de la liérature eine Anthologie von Texten russiser Formalisten; die Zeitsri Aletheia bringt 1966 ein He Le Structuralisme (mit Beiträgen von Claude Lévi-Strauss und Roland Barthes), Communications 1966 eine Nummer zur „analyse structurale du récit“ (mit Beiträgen von Roland Barthes, Gerard Genee, Tzvetan Todorov und Algirdas Greimas); Les Temps Modernes fragt na den „Problèmes de structuralisme“ und publiziert mit den von Pierre Bourdieu kommenden Überlegungen zum Champ intellectuel et projet créateur einen (son bald ins Deutse übersetzten) Beitrag zur Soziologie des kulturellen Feldes. 1966 erseint Algirdas Julien Greimas’ Sémantique structurale – im gleien Jahr wie die „Aréologie des sciences humaines“ Les mots et les oses des Philosophen Miel Foucault und der erste Band der Écrits des Psyosemiotikers Jacques Lacan. In der Folge erseinen Jacques Derridas De la grammatologie (1967) und Julia Kristevas Reeres pour une sémanalyse (1969); Roland Barthes legt 1970 seine Balzac-Studie S/Z vor.
die Restitution kulturell tabuisierter Wissensbestände und also um eine Reaktivierung des „Unliebsamen“.31 Das erklärt wohl au die Faszination, die poststrukturalistises Denken in und an der Psyoanalyse gefunden hat. Der witigste Vertreter eines solen ‘Psyostrukturalismus’ ist der französise Therapeut Jacques Lacan, der das Unbewusste als Sprae begrei und Freuds Verfahren zur Aufdeung verdrängter Strebungen mit dem Zeienkonzept von Ferdinand de Saussure verbindet, um so eine Psyosemiotik zu begründen. Exemplarise Anwendung finden seine Überlegungen zur Überlagerung von Begehren und Zeienprozessen in der Analyse von literarisen Texten – ein Seminar über Edgar Allen Poes Erzählung Der entwendete Brief gilt als Gründungsurkunde der mit seinem Namen verbundenen Bewegung.32 Lacans Einsätze zeigen zuglei, dass poststrukturalistise Übersreitungen nit an einzelne Fäer gebunden sind, sondern ihre Wirkungen disziplinenübergreifend entfalten: In bewusster Frontstellung gegen Einordnungen und Klassifikationen verstehen ihn seine Vertreter weder als literarises no als literaturwissensalies Programm und nit als philosophises System. Denno wird er in diesen Bereien angewandt und ist vor allem eine Herausforderung für die Literaturforsung geworden. Die Araktivität dieses poststrukturalistisen Umgangs mit Literatur speist si nit zuletzt aus dem Verspreen, zentrale und gleiwohl bislang unbearbeitete Aspekte der kulturellen Bedeutungsproduktion zu ersließen: Texte erseinen in diesen Theoriebildungen als ein Gedätnis kulturell ausgeslossenen bzw. tabuisierten Wissens; poetise Söpfungen kehren – so die prominente bulgaris-französise Literatur- und Kulturtheoretikerin Julia Kristeva – „die Sranken des gesellsali nützlien Diskurses hervor und tragen den Stempel dessen, was verdrängt wurde: des Prozesses, der über das Subjekt und die Kommunikationsstrukturen hinausweist“.33 Die Entgrenzungen strukturalistiser Observationen gehen aber no weiter. Mit der Modifikation des von Miail Batin geprägten Begriffs der ‘Dialogizität’ – der die kommunikativen Aspekte von Sprae als soziales und mit den Intentionen und Akzenten anderer Spreer angereiertes Medium erfasst – werden zuglei die Bezugs- und Verweisungszusammenhänge von Texten maximiert. In poststrukturalistiser 31 32 33
Johanna Bossinade: Poststrukturalistise Literaturtheorie. Stugart 2000, S. IX. Jacques Lacan: Das Seminar über E. A. Poes „Der entwendete Brief“. In: Ders.: Srien (1966), Bd. 1, Olten 1973, S. 7–60. Julia Kristeva: Die Revolution der poetisen Sprae (1974). Frankfurt/M. 1978, S. 30.
117
Perspektive baut si jeder Text als „Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes“.34 Intertextualität besränkt si nit mehr auf intentionale Bezüge oder Anspielungen auf andere Texte (die bereits in Begriffen der klassisen Rhetorik und Poetik benannt und bearbeitet wurden).35 Hae Batin no betont, dass jeder Text einen Spreer oder Autor habe und Sprae also stets die Form einer Äußerung annehme, die zu einem bestimmten spreenden Subjekt gehöre, löst si diese Bindung in Kristevas Intertextualitäts-Begriff und bei den ihr folgenden Poststrukturalisten auf, so dass die Grenzen zwisen lesendem und sreibendem Subjekt fließend werden: „Derjenige, der sreibt, ist au derjenige, der liest“ und ist „selbst nur ein Text, der si aufs neue liest, in dem er si wieder sreibt“.36 Ein so entgrenzter Intertextualitäts-Begriff eröffnet Perspektiven, deren Folgen für die Modellierung des Verhältnisses von Literatur und Wissen nit zu untersätzen sind. Gelten Texte als Snipunkte aufeinander verweisender Zeien und Text(element)e, dann verwandelt si die gesamte Erfahrungswirklikeit der Mensen in einen riesigen, si beständig selbst transformierenden und selbst reproduzierenden Text. „Es gibt kein Außerhalb des Textes“,37 postuliert denn au Jacques Der34 35
36 37
118
Julia Kristeva: Wort, Dialog und Roman bei Batin (1967). In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissensa und Linguistik. Bd. 3. Frankfurt/M. 1972, S. 345–375, hier S. 348. Son klassise Rhetorik und Poetik kennen die Kategorie imitatio, die eine Naahmung vorbildlier Autoren in Stil und Struktur, d.h. also ein Spreen in fremden Stimmen umsreibt und Verweise wie Entlehnungen eher als Qualitätsmerkmale denn als Stigmata bestimmt. Der postmoderne Intertextualitätsbegriff basiert auf zwei untereinander verbundenen denkgesitlien Voraussetzungen, die si im Zusammenhang mit Umwertungen der (westlien) Individualitätssemantik ausbilden: Zentral wird zum einen die Vorstellung vom besondern Wert der Originalität (eines Autors), zum anderen die besondere Prämierung der Einzigartigkeit und Einmaligkeit von Texten. Vor diesem Hintergrund enthüllt si die provokative Gewalt einer Vorstellung, die nit nur spralie Texte im engeren Sinne in das Gewebe von Intertextualität eingesponnen sieht, sondern letztli die ganze kulturelle Welt in einen texte général verwandelt. Dieser Radikalvariante – die literarise Texte in Prätexte bzw. Intertexte auflöst – steht eine gemäßigtere Version gegenüber, der es um die Besreibung konkreter Bezugnahmen zwisen Texten geht. Der hier favorisierte engere Intertextualitätsbegriff geht von einem intentionalen Bezug auf andere Texte und einem (kalkulierten) Intertextualitätsbewusstsein aus, das si dur konkrete Intertextualitätssignale manifestiert; dazu jetzt Verf., Guido Nasert: Gaungstheoretise Kontroversen? Konstellationen der Diskussion von Textordnungen im 20. Jahrhundert. In: R. K., Carlos Spoerhase (Hgg.): Literaturtheorie in der Kontroverse; Kontroversen der Literaturtheorie. Frankfurt/M. u.a. 2007, S. 369–412. Kristeva, Wort, Dialog und Roman bei Batin (zit. Anm. 34), S. 372. Jacques Derrida: Grammatologie (1967). Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zisler. Frankfurt/M. 1983, S. 274.
rida, der ersten Ruhm nit zufällig an Literatur-Departments von USamerikanisen Universitäten gewinnen sollte. Seine frühen Arbeiten besäigen si kritis mit dem westli-metaphysisen ‘Logozentrismus’, von dessen Ursprungsdenken und ‘Phonozentrismus’ er si dezidiert absetzt. Im Gegensatz zur traditionellen westlien Philosophie, die versiedene Begriffe als Signifikanten eines transzendentalen Signifikats (Go, Identität, Sinn, Vernun) bestimmt und über Oppositionspaare (Go/Teufel, Identität/Differenz, Sinn/Unsinn, Vernun/Unvernun) fest gefügte hierarise Ordnungen erzeugt habe, wird nun die Abwesenheit soler transzendentalen Signifikate betont und das Feld des Bezeinens ins Unendlie geöffnet. Zugrunde liegt diesem Ansatz eine Aufwertung von ‘Sri’ gegenüber von ‘Stimme’: Während die Stimme aufgrund ihrer Bindung an den Logos bzw. das spreende Subjekt die Präsenz eines Signifikats betone, erweise si Sri als Ort der Differenz. In ihr sei die Folge der Signifikanten nit auf ein Signifikat rüführbar, da sie dur Arbitrarität und Differenzialität von Zeien geprägt sei. Jede neue Lektüre einer Sri versiebe dur eine Aktualisierung der Sinnkonstitution die ursprünglien Signifikat-Annahmen und führe zu neuen Sinnkonstitutionen, die unendli weitergeführt werden könnten. Diesen Vorgang und die ihm zugrunde liegende Bedingungen versut Derrida mit dem Begriff der Différance zu fassen. Voraussetzungen und Konsequenzen dieser Auflösung der Einheit von Signifikant und Signifikat sind hier nit näher darzustellen. Festzuhalten aber ist der darauf gründende Zeien- und Textbegriff, an den versiedene Spielarten des Poststrukturalismus ansließen können. Texte sind in dieser Lesart immer Transformationen anderer Texte, so wie Zeien als Umwandlungen anderer Zeien erseinen. Demzufolge kann man si nit mit einem Text von einer hieraris höheren Position aus über andere Texte äußern; Interpretation im hermeneutisen Sinn wird unmögli. An ihre Stelle tri das Verfahren der Dekonstruktion, das Derrida an zahlreien Beispielen vorgeführt hat und das darin besteht, die (per se unendlien) Verweisungskeen der kulturellen Zeienproduktion aufzudeen und navollziehbar zu maen. Dekonstruktion will also zeigen, wie in jeder Bedeutungszuweisung die Selbstauflösung von Bedeutung bereits angelegt ist. Vormals feste Grenzen fallen: Wie etwa zwisen Ökonomik (der Hausverwaltungskunst) und Chrematistik (der Kunst des Gelderwerbs) gibt es au keinen Untersied mehr zwisen Falsgeld und Geld – denn Falsgeld ist, „was es ist, nämli fals und nagemat“ nur insofern, „als man dies nit weiß, das heißt sofern es 119
zirkuliert, aussieht und funktioniert wie ritiges und gutes Geld.”38 Ist so der Untersied von Wahrheit und Fiktion in der Geldwirtsa aufgehoben, hat er au in den Textwelten der Gesite und der Literatur keinen Platz: „Alles, was si über Falsgeld sagen läßt, wird man von der Gesite sagen können, vom fiktiven Text.“39 Fiktionalität und Realität, Text und Natur werden zu ununterseidbaren Einheiten von Textualität: Es gibt „keine Natur, sondern allein Naturwirkungen (...); Denaturierung oder Naturalisierung. Die Natur, die Bedeutung von Natur wird naträgli wiederhergestellt ausgehend von einem Trugbild (zum Beispiel der Literatur), für dessen Ursae man sie hält.“40 Der bereits erwähnte Kultur- und Literaturtheoretiker Roland Barthes wendet diese Zeienkonzeption auf den Umgang mit literarisen Texten an. Die Folgen sind weitreiend und betreffen zum einen die Rezeption: Erst in der Lektüre wird das Potential des unendlien Verweisungsspiels der Texte aktualisiert; indem ein Leser einen Texte auf- bzw. wahrnimmt, sreibt er ihn erst eigentli. Da Lektüren keinem Sinnzwang unterworfen sind und der Leser die Freiheit besitzt, Sinn zu- oder abzuerkennen, geht es na Barthes beim Lesen letztli um nits anderes als um das Ausleben und Aktualisieren von Lust. – Die Vorstellung von der aktiven Erzeugung eines Textes dur mehrdimensionale Zeienkeen revolutioniert au die Auffassung von Autor und Textbedeutung: In seinem Aufsatz La mort de l’auteur von 1967/68 demontiert Barthes die Figur des „Autor-Goes“ und seiner „Botsa“ als Zentralpunkt von Interpretationen;41 zuglei weist er die Behauptung eines präsenten Sinnes von Texten überhaupt zurü. Häe man einen Text bisher als einen fertigen Sleier aufgefasst, hinter dem ein verborgener Sinn bzw. die Wahrheit zu entdeen sei, soll nun das Werden des Textes als Gewebe von Zitaten in den Mielpunkt gestellt werden. Zentralidee dieser generativen Vorstellung ist die Idee, „dass der Text dur ein ständiges Fleten entsteht und si selbst bearbeitet; in diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, 38 39 40 41
120
Jacques Derrida: Falsgeld: Zeit geben I (1991). Münen 1993, S. 81f. Ebenda, S. 116. Ebenda, S. 217. Roland Barthes: Der Tod des Autors (eng. 1967, frz. 1968). In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorsa. Stugart 2000, S. 185–193, hier S. 190: „Heute wissen wir, dass ein Text nit aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologisen Sinn enthüllt (weler die ‘Botsa’ des Autor-Goes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in dem si versiedene Sreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe aus Zitaten aus unzähligen Stäen der Kultur.“
löst si das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.“42 Dem entspreend habe man zu untersuen, wie Autoren als Regulatoren bzw. Verknüpfungsinstanzen von Diskursen arbeiteten oder in der Ermilung von Textbewegungen die Strategien des Sagens jenseits des Gesagten herauszupräparieren. Genau dieses Feld bearbeitete der Historiker und Philosoph Miel Foucault, der seit 1970 einen Lehrstuhl für Gesite der Denksysteme am Collège de France in Paris inne hae und mit seinen Srien nahaltige Wirkungen auf die Erforsung des Wissens der Literatur auslösen sollte – obwohl seine Rekonstruktionen epistemiser Ordnungen von ihm selbst nit auf das Feld der literarisen Kommunikation angewandt wurden und Literatur vornehmli zur Illustration und Plausibilisierung ideenhistoriser Szenarien diente. Sein Interesse griff weiter aus und ritete si auf historis situierte Redeformationen bzw. Diskurse, die neben Texten au kulturelle Praktiken und Institutionen umfassen und das sag- bzw. sreibbare Wissen einer Kultur überhaupt konditionieren. In seiner Antrisvorlesung Die Ordnung des Diskurses von 1970 formulierte Foucault die grundlegenden Bestimmungen eines Begriffsfeldes, das in zahlreien Untersuungen der Literaturforsung dann geradezu inflationäre Verwendung fand: Diskurse unterliegen der Kontrolle und Kanalisation dur bestimmte Prozeduren, zu denen versiedene Formen der Aussließung, Klassifikation oder Spraregelung gehören; sie sind Ergebnisse von Mat und deren (ungleier) Verteilung in regulierten Konstellationen. Diskursanalytise Untersuungen sollen deshalb dur Umkehrung gängiger Spra-Regelungen und unter besonderer Berüsitigung diskontinuierlier Elemente die Aufmerksamkeit auf das Verdrängte dieser Denk- und Redeformationen lenken. Vor allem geht es darum, die Meanismen jener Zusreibungen offen zu legen, in denen Berufungen auf ein begründendes Subjekt oder auf eine ursprünglie Erfahrung den Umstand verdeen, dass si Redegegenstände überhaupt erst im Rahmen von regelgeleiteten Praktiken (und damit stets nur vorläufig) konstituieren können. In dieser besonderen Aufmerksamkeit für historise Dimensionen und Dokumente wie für die Ordnungen des Denkens unterseidet si Foucaults Ansatz von textorientierten Konzepten poststrukturalistiser Provenienz, die si kritis gegen die Repräsentationsfunktion von Sprae wenden; mit der Auflösung vormals verbindlier Demarkationslini42
Roland Barthes: Die Lust am Text. Frankfurt/M. 1974, S. 94.
121
en zwisen Diskursen teilt er ihren entgrenzenden Anspru. Denn das von ihm entwielte und in zahlreien Untersuungen historis angewandte Konzept einer ‘Diskursaräologie’ sut keine Ausgangs- und Endpunkte, sondern will das ‘Ariv’ als Summe diskursiver Ereignisse rekonstruieren. Es zielt auf die Ermilung von Regeln, die eben nit mehr nur Relationsgefüge von Zeien, sondern au Praktiken dirigieren. In der Erweiterung und Neubesetzung einer in Linguistik und Narratologie länger gebrauten Kategorie gewinnt der Diskurs-Begriff bei Foucault eine Materialität von eigener Konsistenz und Zeitlikeit; er avanciert zu einer Wertgröße des Wissens einer Kultur und umsließt die Redeweisen von sozialen Klassen und Berufsständen, Generationen und Epoen ebenso wie von wissensalien Disziplinen und kulturellen Milieus: Diskurs und diskursive Praxis stehen nit neben der Gesellsa, sondern konstituieren sie eigentli erst – denn sie definieren nit allein, was na bestimmten Regeln hervorgebrat wird, sondern au, was mit spezifisen Ausslussmeanismen als das Nit-Sagbare exkludiert wird und damit gleisam draußen bleibt.43 Ein sol ausgreifender Diskurs-Begriff zieht Konsequenzen na si. Eine davon ist die Entwilung von großräumigen Szenarien der Denk- und Wissensgesite, in deren Zentrum die von Foucault als Episteme bezeineten historisen Wissensformationen stehen. Die Entwilung des Denkens in der abendländisen Kultur erseint in seinen (nit selten spekulativen) Szenarien als Ablösungsprozess versiedener epistemiser Ordnungen, zwisen denen keine Vermilung mehr mögli seint.44 – Eine weitere Konsequenz ist die Verabsiedung eines 43
44
122
Wie diese Meanismen funktionieren, wird in der Antrisvorlesung an der Rezeption der Mendelse Vererbungslehre demonstriert; vgl. Miel Foucault: Die Ordnung des Diskurses (1971). Frankfurt/M. 1974, S. 24: „Man hat si o gefragt, wie die Botaniker oder die Biologen des 19. Jahrhunderts es fertiggebrat haben, nit zu sehen, daß das, was Mendel sagte, wahr ist. Das liegt daran, daß Mendel von Gegenständen spra, daß er Methoden verwendete und si in einen theoretisen Horizont stellte, wele der Biologie seiner Epoe fremd war (...). Mendel sagte die Wahrheit, aber er war nit ‘im Wahren’ des biologisen Diskurses seiner Epoe: biologise Gegenstände und Begriffe wurden na ganz anderen Regeln gebildet.“ Die erstmals 1966 veröffentlite „Aräologie der Humanwissensaen“ Les mots et les oses (deuts u.d.T. Die Ordnung der Dinge; 1971) diagnostiziert im Verhältnis des Mensen zur Welt zwei tiefe Brüe: Bis zur Renaissance im 16. Jahrhundert werden Zeien na Ordnungen der Ähnlikeit organisiert; Wortzeien und Ding ähneln si und sind austausbar. Diese an magise Praktiken ansließenden Beziehungen finden in analogisen Entspreungen ihren Ausdru: Wie oben, so unten; wie im Makro-, so im Mikrokosmos. Eine si seit dem 17. Jahrhundert formierende und mit Descartes’ Namen verbundene Ordnung des Denkens brit mit dieser Vorstellung: Wörter und Dinge trennen si; das Zeien wird zu einer Größe, die von den Dingen
emphatisen Subjektbegriffs (die Roland Barthes’ Todes-Erklärung des genialen Autors korrespondiert): In Foucaults Diskursgesiten handeln weniger Individuen als vielmehr Strukturen und Meanismen; das Subjekt agiert als Fiktion bzw. Element in einem ihm stets vorausgehenden diskursiven Regelwerk.45 Obwohl der französise Philosoph seine Überlegungen nit als Verfahren zur Besreibung oder Deutung literariser Texte konzipiert hae und Literatur wie Kunst für ihn eher illustrative Funktionen übernehmen, hat die Diskursanalyse in der Literaturforsung ein vielstimmiges Eo gefunden. Ihre bis heute anhaltende Faszination speist si aus Erweiterungen des Gegenstandsbegriffs und methodisen Innovationen, von denen insbesondere die Erforsung der Beziehungen von Literatur und Wissen profitiert. Denn diskursanalytise Verfahren wollen nit (wie etwa hermeneutise Modelle) dur interpretative Verfahren zu einem adäquaten Sinnverstehen des (singulären) Werkes gelangen; sie deuten das Kommu-
45
selbst radikal separiert ist. Der Bezug des Zeiens zu seinem Gegenstand wird willkürli; das Zeien gewinnt zuglei vollkommene Transparenz für den bezeineten Gegenstand; die Dinge werden in Taxonomien der Naturgesite oder mathematise Ordnungen gebrat. Im epistemisen Bru um 1800 wird diese Ordnung umgekehrt; die Zeien verlieren ihre Transparenz und werden ‘dunkel’: Sie sind nur no an der Oberfläe der Dinge angesiedelt und entfalten si nit mehr in einem Tableau der Dinge, sondern nur no in Methoden des Erkennens, die auf einen bestimmten Gegenstandsberei anzuwenden sind. In diesem Raum des Wissens öffnen si nun Dimensionen der Lebensprozesse, der Produktionsformen und des Diskurswandels, was Gesite, Arbeit und Leben zu den Gegenständen von Humanwissensaen, politiser Ökonomie und Philologie mat. In seinem Vortrag Qu’est-ce qu’un auteur? vor der Französisen Gesellsa für Philosophie kritisiert Foucault spezifise Umgangsweisen mit dem Begriff des Autors: In der Wissensa sei die Nennung von Autorennamen omals mit dem Wuns verbunden, bestimmte Srien in einen Kontext einzuordnen oder sie dur das Konzept einer ‘Autorenfamilie’ miteinander zu verbinden, ohne dass si diese Relationen aus den Texten selbst ergeben würden. Na Foucault ist ein Autorname nit einfa nur ein Element in einem bestimmten Redezusammenhang, sondern Träger einer klassifikatorisen Funktion. Mit einem Autornamen gruppiere man Texte, grenze bestimmte Texte von anderen ab, sließe aus und stelle gegenüber. Zuglei riteten si die Fragen na dem Autor auf irrelevante Aspekte: „Wer hat eigentli gesproen? Ist das au er und kein anderer? Mit weler Authentizität oder weler Originalität? Und was hat er vom tiefsten seiner selbst in seiner Rede ausgedrüt?“ (Miel Foucault: Was ist ein Autor? In: Ders.: Srien zur Literatur. Frankfurt/M. 1993, S. 31.) Demgegenüber plädiert Foucault für eine Umkehr der Bliritung: Zu fragen sei nit, wer spree, sondern: „Wele Existenzbedingungen hat dieser Diskurs? Von woher kommt er? Wie kann er si verbreiten, wer kann ihn si aneignen? Wie sind die Stellen für möglie Stoffe verteilt?“ (Ebenda.) Es geht also um die Erfassung von Diskursregeln, die etwas über die Verteilung von Mat- und Herrsasansprüen verraten – und den individuellen Autor zu einer Funktion reglementierter Äußerungen degradieren.
123
nikationsdreie aus Autor, Text und Leser vielmehr neu, um Relationen und intertextuelle Verweise im Prozessieren diskursiver Formationen zu beobaten. Diskursanalysen fragen dana, wele Aussagen in einer bestimmten Zeit, Disziplin oder Gaung gemat werden konnten, was als wahrheitsfähiges (z.B. anthropologises, medizinises, ökonomises) Wissen galt und was von vorgängigen Regularien ausgeslossen, nit denkbar oder sagbar oder nit wissensasfähig war. Diskursanalytise Fragestellungen stellen also weniger eine Methodik zur Untersuung einzelner Texte dar, sondern ermöglien Textgruppenbildungen auf der Basis neuer Objektbereie und Fragestellungen, die kulturelle Relevanz beanspruen – Körperbilder und Körperteile, Haut und Haar maen als Gegenstände von ‘Grenzdiskursen’ nun ebenso wissensalie Karriere wie Beziehungen zwisen Literatur und Medizin oder Literatur und Ret. Erweiterungen von Gegenstandsberei und Fragestellungen ermöglien also neue Thematisierungsweisen und rekonstruktive Srifolgen für Explorationen des Verhältnisses von Literatur und Wissenskulturen. Gleiwohl werfen gerade sie nit zu untersätzende Probleme auf und haben zu entspreenden Interventionen geführt. Ein erster Einwand ritet si gegen den demonstrativen Wesel von Interpretationen zu ‘Lektüren’: Auslegungen bzw. Deutungen können ihren Geltungsanspru verlieren, wenn es keine Kriterien mehr gibt, die eine intersubjektive Geltung von Bedeutungszuweisungen garantieren; Beziehungen zwisen poetisen Werken und diskursiven Praktiken ihrer Entstehungszeit sind zwar spannend, eröffnen aber erst einmal nur begrenzte Einsiten in die spezifis literarisen Qualitäten von Textgesamtheiten. – Ein zweiter Einwand ritet si gegen das Theorem des ‘Historisen Apriori’ (das innerhalb von Foucaults System selbst wie für die Begründung einer kulturwissensalien Wissensgesite eine zentrale Stellung einnimmt) sowie gegen den grundlegenden Wissens-Begriff, der es aufgrund seines hohen Abstraktionsgrades erlauben soll, nit nur untersiedlie Gegenstände der Wissensaen, sondern au diese mit Erkenntnisformen in den historisen Lebenswelten zu korrelieren. Die substanzielle Differenz zwisen wissensaliem und nitwissensaliem Wissen wird gradualisierend aufgelöst, wenn Wissen in der erstmals 1969 veröffentliten Aräologie des Wissens als Ergebnis einer „diskursiven Praxis“ erseint;46 zuglei wer46
124
Miel Foucault: Aräologie des Wissens (1969). Übersetzt von Ulri Köppen. Frankfurt/M. 1981, S. 261f.: „Diese Menge von einer diskursiven Praxis regelmäßig gebildeten und für die Konstitution einer Wissensa unerläßlien Elementen, obwohl sie nit notwendig dazu bestimmt sind, sie zu veranlassen, kann man Wissen nennen. Ein Wissen ist das, wovon man in einer diskursiven Praxis spreen kann, die dadur
den Erkenntnisansprüe von ihren Bindungen an ein wissendes Subjekt abgelöst – so dass nit subjektive Gewissheit oder möglie Wahrheit eine Aussage in den Status eines Wissens erheben, „sondern daß ‘Wissen’ heißt: einem vorgegebenen, unhintergehbaren Feld von symbolisen Handlungen eingesrieben sein, dessen Regeln es [das Wissen] nit sa , sondern navollzieht.“47 Werden in den Begriff des Wissens neben den empirisen Erkenntnissen einer Epoe alle Formen der symbolisen Bedeutungsproduktion eingemeindet, dann ist Wissen extensional universell. Entspreend heißt es bei Foucault denn au: „Das Wort Wissen wird also gebraut, um alle Erkenntnisverfahren und -wirkungen zu bezeinen, die in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Gebiet akzeptabel sind.“48 Damit aber können Möglikeiten zur Rekonstruktion von Differenzen zwisen historis bestehenden Geltungsansprüen verloren gehen: Als gleiursprünglie Realisationen einer ‘Episteme’ oder ‘diskursiven Praxis’ sind Untersiede zwisen einer Lupumpe und einer philosophisen Gesellsastheorie nitig – was Foucault au konsequent reflektiert, indem er erklärt, in der historisen Rekonstruktionsarbeit eines je spezifisen Wissens könne man die Grenzen zwisen den „Disziplinen, die man Ideengesite, Wissensasgesite, Gesite des Denkens und au Literaturgesite nennt“, vernalässigen.49 Eine auf so breite Füße gestellte Wissensgesite begrei si selbst als transdisziplinär und grenzenübersreitend – sind
47
48 49
spezifiziert wird: der dur die versiedenen Gegenstände, die ein wissensalies Statut erhalten werden, konstituierte Berei (…); ein Wissen ist au der Raum, in dem das Subjekt die Stellung einnehmen kann, um von Gegenständen zu spreen, mit denen es in seinem Diskurs zu tun hat (…); ein Wissen ist au das Feld von Koordination und Subordination der Aussagen, wo Begriffe erseinen, bestimmt, angewandt und verändert werden (…); sließli definiert si ein Wissen dur die Möglikeit der Benutzung und Aneignung, die vom Diskurs geboten werden (…). Es gibt Wissensgebiete, die von den Wissensaen unabhängig sind (die weder deren historiser Entwurf no ihre gelebte Kehrseite sind), aber es gibt kein Wissen ohne definierte diskursive Praxis; und jede diskursive Praxis kann dur das Wissen bestimmt werden, das sie formiert.“ – Konkreter hae es zuvor geheißen, die Aräologie habe „empirises Wissen zu einer gegebenen Zeit und innerhalb einer gegebenen Kultur“ zu rekonstruieren; M. Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Aräologie der Humanwissensaen (1966). Frankfurt/M. 1971, S. 9. Manfred Frank: Ein Grundelement der historisen Analyse: die Diskontinuität. Die Epoenwende von 1775 in Foucaults „Aräologie“. In: Reinhart Herzog, Reinhart Koselle (Hgg.): Epoenswelle und Epoenbewußtsein. (Poetik und Hermeneutik XII). Münen 1987, S. 97–130, hier S. 102. Miel Foucault: Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 32. Foucault, Aräologie des Wissens (zit. Anm. 46), S. 10.
125
do für Rekonstruktionen der historisen Episteme alle Gegenstände qualitativ glei und Disziplingrenzen also notwendig aufzuheben.50 ‘Transdisziplinarität’ bildet einen Ausgangs- bzw. Zielpunkt von Forsungen, die Wissen und Wissensformationen unter Au ebung bisheriger Grenzziehungen erforsen wollen; weitere basale Elemente sind der auf Foucaults (paradoxale) Begriffskombination des „historisen Apriori“51 rekurrierende Imperativ der „radikalen Historisierung“52 und die ‘aräologise’ Reere na dem allen konkreten Wissens- und Erkenntniserseinungen einer Epoe zugrundeliegenden Regelwerk, das die konkreten Denk- und Redeformationen lebensweltlier, literariser oder wissensalier Art hervorbringt. Die weitreienden Intentionen seiner ‘Aräologie’ hat Foucault selbst auf den Punkt gebrat: Was i jedo erreien wollte, war ein positives Unbewußtes des Wissens zu enthüllen: eine Ebene, die dem Bewußtsein des Wissensalers entgleitet und denno Teil des wissensalien Diskurses ist (…). Was der Naturgesite, der Ökonomie und der Grammatik in der Klassik gemeinsam war, war dem Bewußtsein des Wissensa-
50
51
52
126
So etwa Claudia Benthien, Christoph Wulf: Einleitung. Zur kulturellen Anatomie der Körperteile. In: Dies. (Hgg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Hamburg 2001, S. 9–26; Claudia Benthien, Hans-Rudolf Velten: Einleitung. In: Dies. (Hgg.): Germanistik als Kulturwissensa. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hamburg 2002, S. 16; Ansgar Nünning, Vera Nünning (Hgg.): Konzepte der Kulturwissensaen. Theoretise Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stugart u. Weimar 2003, S. 3f.; Markus Fauser: Einführung in die Kulturwissensa. Darmstadt 2003, S. 8. Als historiographise Kategorie erseint der Begriff son in Foucault, Die Ordnung der Dinge (zit. Anm. 46), S. 204 und 261: „Dieses historise Apriori ist das, was in einer bestimmten Epoe in der Erfahrung ein möglies Wissensfeld abtrennt, die Seinsweise der Gegenstände, die darin erseinen, definiert, dem alltäglien Bli mit theoretisen Kräen ausstaet und die Bedingungen definiert, in denen man eine Rede über die Dinge halten kann, die als wahr anerkannt wird. (...) Die Gesite des Wissens kann nur ausgehend von dem gebildet werden, was ihm gleizeitig war, und nit in Termini gegenseitiger Beeinflussung, sondern in Termini von Bedingungen und in der Zeit gebildeter Apriori.“ – Die paradoxale Struktur dieser Begriffskombination wird später explizit eingestanden; vgl. Foucault, Aräologie des Wissens (zit. Anm. 46), S. 184: „Diese beiden Worte nebeneinander rufen eine etwas srille Wirkung hervor.“ Die auf Foucault zurügreifende Formel von der „radikalen Historisierung“ findet si u.a. bei Albret Kosorke: Körperströme und Sriverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. Münen S. 35; Claudia Benthien: Haut. Literaturgesite – Körperbilder – Grenzdiskurse. Hamburg 1999, S. 15f.; Hartmut Böhme, Peter Matussek, Lothar Müller (Hgg.): Orientierung Kulturwissensa. Was sie kann, was sie will. Hamburg 2000, S. 106; Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistisen Sönheitsideals. Göingen: Wallstein 2001, S. 8; Ute Daniel: Kompendium Kulturgesite. Theorien, Praxis, Slüsselwörter. Frankfurt/M. 2001, S. 170 sowie Jürgen Martsukat (Hg.): Gesite sreiben mit Foucault. Frankfurt, New York 2002, S. 14.
lers sier nit präsent (…); aber die Naturgesitler, die Ökonomen und die Grammatiker benutzten – was ihnen unbekannt blieb – die gleien Regeln zur Definition der ihren Untersuungen eigenen Objekte, zur Ausformung ihrer Begriffe, zum Bau ihrer Theorien. Diese Gesetze des Auaus, die für si selbst nie formuliert worden sind, sondern nur in weit auseinanderklaffende Theorien, Begriffen und Untersuungsobjekten zu finden sind, habe i zu enthüllen versut, indem i als den für sie spezifisen Ort eine Ebene isolierte, die i, vielleit zu willkürli, die aräologise nannte.53
Die Konsequenzen eines so begründeten Umgangs mit Wissen und Wissensformationen liegen auf der Hand. Systematise Auseinandersetzungen mit philosophisen Texten oder historise Überprüfungen der Ergebnisse empiriser Wissensaen werden obsolet; da jede Form transhistoriser Geltung unmögli ist, erlist nit allein die Notwendigkeit, sondern sogar die Möglikeit der Wahrheitsfrage. Denno (oder vielleit gerade deshalb?) hat dieser strenge Historismus untersiedlie Anslussmöglikeiten eröffnet: nit zuletzt aufgrund des Verspreens, die allen konkreten Wissens- und Erkenntniserseinungen einer Epoe zugrunde liegende Systematik ermieln zu können, die zuglei alles konkrete Denken und Reden generiert. Zu den wirkungsmätigen Adaptationen gehören die Programme des New Historicism und der ‘Poetologie des Wissens’, die als gegenwärtig prominente Konzeptionen kurz vorgestellt werden sollen. 3. Die knapp skizzierten Einsätze poststrukturalistiser Theorie-Bildung eröffnen untersiedlie Optionen für die Arbeit an den Relationen von Literatur und Wissen. Zum einen inspirieren sie ‘Dekonstruktionen’ von (konventionellen) Bedeutungszusreibungen, in dem sie dur genaues Lesen (close reading) die Weselspiele von „Blindheit und Einsit“ (Paul de Man) in den unhintergehbar rhetorisen Strukturen von Sprae und Literatur offen zu legen suen. Zum anderen bieten sie Chancen für Versränkungen von Literaturbeobatung und psyoanalytiser Therapeutik, wenn sie Texte als Krankengesiten lesen und mit ‘symptomalen Lektüren’ traktieren. Ein in untersiedlien Zusammenhängen entwielter, von Miel Foucault wirkungsvoll neu besetzter Diskurs53
Foucault, Die Ordnung der Dinge, Vorwort zur deutsen Ausgabe (zit. Anm. 46), S. 12.
127
Begriff eröffnet Chancen, Literatur als historis-genealogise Formation wie als Objekt einer historisen Epistemologie zu besreiben: Sreibweisen in Literatur und Wissensa werden nun als Voraussetzung wie als Ergebnis regelgeleiteter Praktiken sitbar, die Rüslüsse auf die Denk-Möglikeiten und -Strukturen einer Epoe gestaen und also bislang verborgene Sub-Texte oder Handbüer freilegen. Gemeinsamer Grund aller dieser Einsätze ist ein neu gedates Verhältnis von poetis-zeienhaen Verfahren und Wissen: Die in kulturellen Systemen erworbenen und weitergegebenen Kenntnisse sind nit (mehr länger) Kontext-Elemente, deren Einwirkungen auf (literarise) Texte in weselnden Modellen besrieben werden; sie manifestieren si au nit in strukturierenden Binäroppositionen, die auf eine textexterne Wirklikeit referieren. Wissen avanciert vielmehr zur conditio sine qua eines Diskursuniversums, das keine Grenzen zu einer atextuellen Außenwelt mehr hat: Als Gesamtheit von symbolisen Ordnungen und Zusreibungen zirkuliert Wissen in und mit den Regelsystemen der Kultur und wird zum generativen Grund der Bedeutungsproduktion in Lebenswelt, Literatur und spezialisierten Expertenkulturen. – Die Voraussetzungen wie Konsequenzen eines solen ausgeweiteten Wissensbegriffs sind an dieser Stelle nur knapp zusammenzufassen: Todes-Erklärungen des Autors und Zweifel an einem traditionellen, auf Einheit und Kohärenz angelegten Werkbegriff verbinden si, wenn Texte als Sni- und Knotenpunkte von Diskursen und nit länger als selbständige, voneinander abgrenzbare Gebilde verstanden werden. In jedem Text spreen – so die These – versiedene andere Texte mit; jeder Text kann als Antwort auf weitere Texte gedeutet werden, so dass jeder Umgang mit ihnen niemals bei einem in si selbst sinnvollen Text stehen bleiben kann, sondern bis ins Unendlie auf andere Texte verwiesen ist. Diese Auffassungen einer entgrenzten Intertextualität korrespondieren dem Verfahren der différance, in dem dieselbe Figur des ins Unendlie ‘aufgesobenen’ Sinnes, der si nur aus dem unendlien differentiellen Spiel der Zeien ergibt, entfaltet wird – dort allerdings auf der Ebene der Zeientheorie. Die Erben dieser Bewegungen sind no heute aktiv: Zum einen der si als ‘Poetik der Kultur’ begreifende New Historicism, der in Verhandlungen mit diskursiven Konstellationen und deren Aufladung mit ‘sozialer Energie’ eintri und Austaus bzw. Zirkulation zu zentralen Besreibungskategorien erhebt, mit denen Wissensökonomie und Beziehungssinn der als ‘semantise Krafelder’ bestimmten Texte zu erfassen sind; zum anderen eine ‘Poetologie des Wissens’, die epistemologise 128
und rhetorise Revisionen der Literatur- und Wissensasgesitssreibung postuliert und Begriffe wie ‘Sozialität’, ‘Historizität’, ‘Diskursivität’, ‘Konstruktivität’ und ‘Poetizität’ als grundlegende Aribute ihres Erkenntnisbegriffs exponiert. Von besonderer Bedeutung für den hier zu verhandelnden Dialog von Kultur- und Literaturtheorie ist der si im Rahmen post-strukturalistiser Theoriebildungen vollziehende rhetoric turn, der eine prinzipielle Gleistellung von Texten und Kontexten im Zeien ihrer Lesbarkeit begründet. Er bildet die Basis für eine Modellierung des Verhältnisses von Literatur und Wissen, die si unter dem Label New Historicism in den 1980er Jahren formiert. Programmatis für diese von US-amerikanisen Universitäten ausgehende Ritung der Literaturforsung – die si von den textimmanenten Verfahren des New Criticism abgrenzt und auf den matanalytisen Diskursbegriff von Miel Foucault ebenso zurügrei wie auf das vom Ethnologen Clifford Geertz entwielte methodologise Paradigma der thi description und den Cultural Materialism eines Raymond Williams – ist die Verbindung von zwei bekannten Thesen mit einer überrasenden Pointe. Die (bekannte) Einsit in die historise Dimension von Texten koppelt man mit der (ebenfalls bekannten) Einsit in das textuell vermielte Wissen von und über Gesite – und erhält als Pointe den folgensweren Chiasmus von der „Gesitlikeit von Texten und der Textualität der Gesite“.54 Diese These von der unhintergehbaren Textualität von Gesite ist nit ohne Brisanz. Denn die Vertreter des New Historicism wie etwa Stephen Greenbla, 1943 geborener Professor am Department of English an der University of California, Berkeley, meinen nit nur, dass Gesite und Gesitssreibung auf Quellentexte angewiesen seien, sondern dass au der Gegenstand soler Gesite wie ein Text verfasst sei. Jede historis zu erfassende Kultur wäre als ein sinnhaer Zusammenhang, als eine symbolis strukturierte Praxis bzw. als System von Zeien zu lesen und zu deuten. Wird Kultur als semiotis organisierte Wirklikeit aufgefasst, gehören Gebrausanleitungen und Gedite ebenso zu ihr wie Experimentalanordnungen, Fußballspiele oder Hahnenkämpfe. Die si daraus ergebenden Konsequenzen für eine Modellierung der Relationen zwisen Literatur und Wissen sind gravierend. Für den New Historicism geht es nit mehr 54
Louis A. Montrose: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur. In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgesite als Poetik der Kultur. Zweite, aktualis. Aufl. Tübingen u. Basel 2001, S. 60–93, hier S. 67.
129
um eine Rekonstruktion der literarisen Transformationen von begründeten Erkenntnissen oder Geltungsansprüen, sondern um das, was als bereits symbolis strukturiertes Material in einen Text eingeht bzw. was si ihm als kollektiver Sinn ‘einsreibt’. Kulturelle Ausdrusformen sind in ihrer Aussagekra gleiwertig – Hexenbesuldigungen, medizinise Traktate und Kleidung gelten wie gelehrte und literarise Texte als „komplexe symbolise und materielle Artikulationen der imaginativen und ideologisen Strukturen jener Gesellsa, die sie hervorgebrat hat“.55 Das mit einer solen Gegenstandserweiterung und Gewitsverlagerung das Objekt von Literaturforsung aus dem Bli gerät, liegt auf der Hand. Als Ziel seines Bues Shakespearean Negotiations nennt Stephen Greenbla deshalb au eine „Poetik der Kultur“, die es erlauben soll, die „dynamise Zirkulation von Lüsten, Ängsten und Interessen“ bzw. die „Zirkulation sozialer Energie“ zu erfassen.56 Der gesitli in der Tat nur swer greiare Autor William Shakespeare wird in dieser Perspektive kein Gegenstand historis-philologiser Rekonstruktion, sondern erseint als semantises Krafeld, dur das die sozialen und ästhetisen Energien seiner Zeit strömen. Der New Historicism delegiert Fragen na dem Status und der Funktion von Wissen in und von literarisen Texten aber nit nur an eine weiter ausgreifende Kulturwissensa; er mat Texte zuglei zum Gegenstand von Verhandlungen, an denen retrospektive Beobater auf eine methodis nit vollständig zu klärende Weise teilnehmen können. Wele Folgen dieses betont kontingente, die eigene Konstruktivität hervorhebende Verfahren hat, zeigen die Arbeiten des Historikers Hayden White. Sein bereits 1973 ersienenes Bu Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe und die 1986 au in deuts veröffentlite Sri mit dem programmatisen Titel Au Klio ditet oder Die Fiktion des Faktisen deklarieren die Organisationssemata der Gesitssreibung als rhetorise Spraspiele: Historise Darstellungen sind demna tropo-logise Konstrukte, die keinen Bezug auf empiris verifizierbare Daten aufweisen müssen und in fiktionalen Texten ebenso gut funktionieren wie in historiographisen. Die philologise Abstinenz dieses reduktiven Verfahrens, das aretypise Mythen als Muster vo55 56
130
Stephen Greenbla: Smutzige Riten. Betratungen zwisen Weltbildern. Berlin 1991, S. 14. Stephen Greenbla: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansiten der englisen Renaissance (1988). Berlin 1990. Im Original lautet der Nebentitel „The Circulation of social Energy in Renaissance England”.
raussetzt, um sie in Gesitswerken wieder aufzufinden, wurde in der davon ausgelösten Diskussion ebenso bemängelt wie die Konsequenzen eines Programms, das wissensalie Ansprüe dispensiert und dafür Lizenzen als methodis nit navollziehbare Spraspiele aussöp. In detaillierter Rekonstruktion der Konstitutionslogik von Gesitserzählungen zwisen Friedri Siller und Leopold von Ranke wurde zudem überzeugend nagewiesen, dass bereits auf der Ebene des Erzählvorgangs historiographises und fiktionales Erzählen unverweselbar auseinander treten und also versiedene Arten von Gegenständen erzeugen.57 Die für den New Historicism verbindlie Auffassung von Texten als dynamise, mit soziokulturellen und ästhetisen Energien aufgeladene Interdependenz-Bündeln teilen au Forsungsritungen zum Zusammenhang von Literatur und Wissen, die si im deutsen Spraraum im Austaus mit internationalen Entwilungen seit Beginn der 1990er Jahre formieren.58 Au diese Zugangsweisen interessieren si für literarise Texte in ihren Interaktionen mit anderen, nit-literarisen Texten und kulturellen Praktiken und versuen, kausale wie teleologise Deutungsmuster zu unterlaufen. Sie nehmen jedo weniger konkrete Einflussbeziehungen und Konstruktionen von Identitäten als vielmehr weiträumige Interferenzen zwisen Literatur- und Wissens(as)gesite in den Bli – mit dem weitreienden Anspru, ein 1959 dur 57
58
Zur philologisen Abstinenz vgl. Patri Bahners: Hayden White liest Edward Gibbon. Zur Ironie der Rezeptionsgesite. In: Jörn Stürath, Jürg Zbinden (Hgg.): Metagesite. Hayden White und Paul Ricoeur. Dargestellte Wirklikeit in der europäisen Kultur im Kontext von Husserl, Weber, Auerba und Gombri. Baden-Baden 1997, S. 125–138; überzeugende Kritik an den Konsequenzen von Whites Programm in den Spielarten des New Historicism übt Klaus Weimar: Der Text, den (Literar-)Historiker sreiben. In: Hartmut Eggert, Ulri Profitli, Klaus R. Serpe (Hgg.): Gesite als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Stugart 1990, S. 29–39. Den überzeugenden Naweis, das bereits auf der Ebene des Erzählvorgangs historiographises und fiktionales Erzählen unverweselbar auseinander treten und also zwei völlig versiedene Arten von Gegenständen erzeugen, liefert die detailliert vorgehende Dissertation von Johannes Süssmann: Gesitssreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Gesitserzählungen zwisen Siller und Ranke (1780–1824). Stugart 2000. Nahezu zeitglei erseinen die Texte, die Label und Programmatik formulieren: Jacques Rancière: Die Namen der Gesite. Versu einer Poetik des Wissens (1991). Frankfurt/M. 1994 (hier S. 17 die Bestimmung, die „Poetik des Wissens“ erforse „die Regeln, na denen ein Wissen gesrieben und gelesen wird, si als eine spezifise Rede konstituiert“); Joseph Vogl: Mimesis und Verdat. Skizze zu einer Poetologie des Wissens na Foucault. In: François Ewald, Bernhard Waldenfels (Hgg.): Spiele der Wahrheit. Miel Foucaults Denken. Frankfurt/M. 1991, S. 193–204.
131
den englisen Literaturkritiker Charles P. Snow ausgelöstes, dur Literature and Science Studies sowie epistemologise Einsätze vorgeprägtes Diskussionsfeld besetzen und Deutungsmat für das Verhältnis der ‘zwei Kulturen’ gewinnen zu können: „Die Frage na dem Verhältnis zwisen Literatur und Wissensa, dessen systematise Erforsung der Streit zwisen Snow und Leavis allererst ausgelöst hat, ist unwiederbringli zu einer literaturwissensalien Frage geworden. Ihr Gegenstand mag die Naturwissensa sein, ihre Antwort wird sie ohne Beteiligung von Vertretern dieses Gegenstandes geben müssen“, proklamiert Nicolas Pethes in einem 2003 veröffentliten Forsungsüberbli, der eine Entwilungslinie skeptizistiser Wissensasgesitssreibung von Ludwik Fle über Gaston Baelard und Georges Canguilhem bis zu Miel Foucault zieht und Joseph Vogls „Poetologie des Wissens“ zu deren synthetisem Höhepunkt erklärt.59 Auf der Basis dieser Traditionskonstruktion erfolgt die programmatise Forderung na einer revidierten Literatur- und Wissensgesitssreibung: „Fünf Aspekte seinen na diesem Durgang entseidend für eine epistemologise und rhetorise Revision der Wissensasgesite: die Sozialität, Historizität, Diskursivität, Konstruktivität und Poetizität des Wissens.“60 Eine so propagierte „Poetologie des Wissens“ seint auf andere, etwa nit-skeptizistise Varianten von Wissensasforsung ebenso verziten zu können wie auf die Entwilung stihaltiger Transfermodelle zwisen den abgrenzbaren Sphären von Entdeung und Begründung, Genese und Geltung wissensalier Tatsaen (die in wissensasphilosophisen Überlegungen zum ‘context of discovery’ und ‘context of justification’ diskutiert werden). Wissenspoetologise Einsätze zielen vielmehr auf „die Regeln, na denen ein Wissen gesrieben und gelesen wird“ und also auf einen „wissenshistorisen Zugang, der an die Stelle der Überprüfung des Wahrheitsgehaltes die Untersuung der Bedingungen der Wahrheitsbildung in den Wissensaen treten läßt.“61 Die Konsequenzen dieses Perspektivwesels von den Objekten des Wissens zu den Diskursen, die dieses Wissen erst erzeugen, sind ebenso weitreiend wie ansprusvoll: Wenn die „Konstitution des Faktums“ 59
60 61
132
Nicolas Pethes: Literatur- und Wissensasgesite. Ein Forsungsberit. In: IASL 28, 1 (2003), S. 181–231, hier S. 191. Charles P. Snow hae in seiner Rede von den ‘zwei Kulturen’ eine Unvereinbarkeit von literariser Kultur und naturwissensalier Intelligenz postuliert; sein Kritiker Leavis bestri diese Klu aber ebenso wie Snows Kompetenz zu deren Diagnose. Pethes, Literatur- und Wissensasgesite, S. 208. Ebenda, S. 209.
eben „nit vom Gegenstand zum Begriff“, sondern „vielmehr in umgekehrter Ritung“ verläu und also „Beobatung und Experiment nur unter dem Zwang vorausgehender Bahnungen mögli“ sind,62 werden Konzepte und Verfahren notwendig, die genau diese „vorausgehende[n] Bahnungen“ identifizieren und erklären können. Eine möglie (und in versiedenen Untersuungen mit mehr oder weniger Erfolg durgeführte) Variante ist eine Perspektive, „die das Auauen neuer Wissensobjekte und Erkenntnisbereie zuglei als Form ihrer Inszenierung begrei“63 – und also na den ästhetisen Strategien und performativen Dimensionen forst, in und mit denen si wissensalie Erkenntnisse formieren.64 Eine weitere Konsequenz des wissenspoetologisen Engagements betri die Modellierung der Verhältnisse von Wissen und Literatur. Kategoriale Untersiede zwisen Erkenntnisformen in literarisen Texten und spezialisierten Expertenkulturen seinen eingeebnet, wenn die „Frage na Zeienproduktionen und deren Zusammenhang mit physiologisen, medialen und textuellen Umgebungen“, die „Frage na einem Regierungswissen“ und die „Frage na der Entstehung der Konzepte“ untersiedslos an „Ditung und Reflexion, Erzählung und Wissen“ angelegt werden.65 Die Folgen davon sind bedenkenswert: Denn nun 62 63 64
65
Joseph Vogl: Für eine Poetologie des Wissens. In: Karl Riter, Jörg Sönert, Miael Titzmann (Hgg.): Die Literatur und die Wissensaen 1770–1930. Stugart 1997, S.107–129, hier S. 114. Joseph Vogl: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. Münen 1999, S. 9–15, hier S. 13. Wele Probleme mit der Durführung dieses Programms verbunden ist, zeigen etwa Versue, aus Georg Büners naturphilosophiser Dissertation ‘poetise Teniken’ herauszupräparieren; so etwa Daniel Müller-Nielaba: Die Nerven lesen. Zur LeitFunktion von Georg Büners Sreiben. Würzburg 2001; Helmut Müller-Sievers: Desorientierung. Anatomie und Ditung bei Georg Büner. Göingen 2003. Au wenn Büners Text über die Sädelnerven der Barben rhetorise Verfahren aufweist, bleibt der Naweis einer konstitutiven Funktion dieser Formen für die wissensalie Argumentationsbewegung und deren Ergebnis ein nit risikofreies Unterfangen. Ohne Anleihen bei einer Poetologie des Wissens werden die vielfältigen Beziehungen dagegen rekonstruiert bei Udo Roth: Georg Büners naturwissensalie Srien. Ein Beitrag zur Gesite der Wissensaen vom Lebendigen in der ersten Häle des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2004. – Zudem entsprit es nit den Tatsaen, wenn wissenspoetologise Wortführer suggerieren, die bisherige Wissensasgesitssreibung habe die Rolle poetiser Teniken für die Wissensgewinnung vernalässigt (so etwa Pethes, Literatur- und Wissensasgesite, zit. Anm. 59, S. 186). Wissensashistoris wie methodologis einslägig ist na wie vor der Sammelband von Lutz Danneberg, Jürg Niederhauser (Hgg.): Darstellungsformen der Wissensaen im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie. Tübingen 1998. Vogl, Einleitung (zit. Anm. 63), S. 9 und 14.
133
setzen Umdeutungsprozesse ein, die es nit nur erlauben, „wahnsinnige Texte“ („na einer bestimmten Zeit“) als literarise Werke zu lesen, sondern au „literarise Texte als psyiatrise Anleitungen“ zu rezipieren.66 Voraussetzung für eine sole Grenzübersreitung sind miteinander verbundene Suspensionen: Zum einen müssen die Eigenlogiken wissensalier und literariser Geltungsansprüe mitsamt ihren je eigenen Darstellungsformen aufgehoben und im geräumigen Container der ‘Sreibweisen’ vermist werden; zum anderen sind spezifizierte Einflussbeziehungen zwisen wissensalien Quellenstrukturen und literarisem Werk als Erkenntnisziel aufzugeben und dur weitergehende (kulturwissensalie) Problemstellungen zu ersetzen.67 *** Die hier vorgelegte Skizze des Problemfeldes Literatur und Wissen muss notwendig unvollständig bleiben. Denno hat der kursorise Abriss zumindest partiell zeigen können, in weler komplexen Weise poetise Inventionen, literaturtheoretise Reflexionen und kulturtheoretise Modellierungen zusammenhängen, aufeinander reagieren und si gegenseitig beeinflussen. Son am Beginn der europäisen Geistesgesite formieren si poetologise und philosophise Überlegungen in weselseitiger Beobatung eines Gegenstandsbereis, der aufgrund seiner mehrfa dimensionierten kulturellen Relevanz zum Auslöser konträrer Positionierungen avanciert: Die Frage na der Natur des Wissens und na den Konditionen seiner (spralien) Formierung wird zu einem Ausgangspunkt sophistiser wie sokratis-platoniser Überlegungen, die Modelle von Kultur entwieln und diskutieren, umsreiben und modifizieren. Die Regelsysteme der Rhetorik stellen mehr dar als nur Instruktionen zur Abfassung überzeugender Reden. Sie können als Modelle der Textproduktion und der Textanalyse sowie als Paradigmen der sprali-kulturellen Sozialisation überhaupt verstanden werden – 66 67
134
So Wolfgang Säffner: Die Ordnung des Wahns. Zur Poetologie psyiatrisen Wissens bei Alfred Döblin. Münen 1995, S. 8. Exemplaris zu studieren in der Habilitationssri von Alexander Honold: Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800. Berlin 2005, der si auf S. 12 zu einer „kulturwissensali ausgeriteten Problemstellung“ bekennt und betont, dass „Querverbindungen zwisen kulturgesitlien und astronomisen Quellenstrukturen einerseits und dem Werk Hölderlins andererseits nur selten von jener Stringenz [sind], die man im positivistisen Sinne beweiskräig nennen düre“.
und gewinnen damit geradezu fundamentale Bedeutung für jede Reflexion der mehrfa dimensionierten Verhältnisse von epistemisen Dingen zu den Formen und Formaten, in denen sie erseinen und unter denen literarise Gestaltungsweisen eine besondere Rolle spielen. Sowohl die Varianten philologiser Aufmerksamkeit als au geistesgesitlie Synthesen setzen kulturtheoretise Rahmungen voraus, die no in (seinbar ganz dem ‘literarisen Faktum’ hingegebenen) Observationen von Formalismus und Strukturalismus wirksam bleiben, au wenn si deren Gestalt verändert. Im Untersied zu diesen Textumgangsformen führen poststrukturalistise Entgrenzungen dann Gegenbewegungen vor, die das Verhältnis von Literatur- und Kulturtheorie auf neue Füße stellen – verspreen sie do nit weniger als einen grundlegenden Paradigmenwesel: Sta Literatur und Wissen als (isolierte) Objekte zu studieren, geht es ihnen um Analyse kultureller Praktiken, die diese Objekte erst konstituieren. Literatur und Wissen sind in diesen Perspektiven nit getrennte Gegenstandsbereie mit mehr oder weniger intensiven Austausbeziehungen, sondern Formen der Repräsentation einer kulturellen Bedeutungsproduktion. Die damit ermögliten Gewinne sind ebenso deutli wie ihre nit unproblematisen Konsequenzen: Denn nun lassen si zwar Veränderungen literariser und wissensalier Denk- und Sreibweisen als Ergebnis von Umstrukturierungen in der Erkenntnisökonomie einer Epoe nazeinen; zuglei aber swindet die Gültigkeit traditionsreier Unterseidungen wie etwa jener zwisen Realität und Fiktion oder Objekt und Diskurs. Die Fragen na den Zusammenhängen zwisen Literatur und Erkenntnis bleiben also offen. Und das ist nit slet. Denn was dient einer lebendigen Forsung mehr als eine sole Herausforderung?
135
Hosulreform als Wissensasreform. Der Fall der Literaturwissensa Christine Magerski (Zagreb)
1. Saut man angesits der aktuellen Bildungsreform und der sie begleitenden Diskussionen auf den Reformdiskurs der seziger und siebziger Jahre, so könnte man meinen, die Gesite wiederholt si. Titel wie Das Dilemma der Wissensasförderung, Das Dilemma der Hosulen, Was erwarten Staat und Gesellsa von der Universität?, Perspektiven für unsere Hosulreform oder Zur gegenwärtigen Situation der Hosulreform maen deutli, dass der Reformbedarf der deutsen Hosullandsa keineswegs erst mit Bologna in das öffentlie Bewusstsein getreten ist. Dabei ist ein neuerlier Bli auf die damaligen Diagnosen und Rezepte vor allem insofern aufslussrei, als diese den Hintergrund des Modernisierungsdiskurses in den einzelnen Disziplinen stellen. Worauf, so soll zunäst gefragt werden, ritete si die allgemeine Kritik dieser Jahre und wele Srie wurden empfohlen? Eart Heimendahl sah 1966 in der föderativen Staatsstruktur den wesentlien Untersied zur Wissensasförderung in anderen westeuropäisen Staaten und gleisam das größte Hindernis für eine der umfassenden Wissensasförderung „gemäße Gesamtplanung“.1 Zwar wurde 1957 mit dem Wissensasrat eine institutionelle Verklammerung per Verwaltungsabkommen begründet. Do habe dieser den „Status einer nur empfehlenden Instanz“ und könne somit an der „Misere unserer völlig zersplierten Wissensasförderung“ nits ändern.2 Zudem wird auf die quantitative Verteilung der Institute und Ausgaben mit ihrem deutlien Überhang an geisteswissensalien Instituten verwiesen; ein na Heimendahl „merkwürdiges Bild, an den si au das Verhältnis von Tradition und Forsung indirekt ablesen lässt“.3 Im Festhalten an 1 2 3
Eart Heimendahl: Das Dilemma der Wissensasförderung. In: Merkur 7/1966, S. 647–660, hier S. 648. Ebd., S. 648f. Ebd., S. 657f.
137
überkommenen Traditionen wird dann au das eigentlie Dilemma der Hosulen gesehen. Jahrzehntelang habe „si die Gelehrtenrepublik der deutsen Universitäten gegen Reformen ihrer Struktur erfolgrei zur Wehr gesetzt“ und gleisam die Universität zu einer „Festung der si selbst regierenden Wissensa in der tosenden Brandung der von politisen Umbrüen und Weltkriegen gänzli veränderten Welt“ gemat.4 Dem entspräen die vorwiegend konservative Haltung der staatli beamteten deutsen Ordinarien und ihre „restaurative Ausdauer“ ebenso wie die strenge Hierarie an deutsen Universitäten, die niedrige Zahl deutser Abiturienten und Studierender im internationalen Verglei sowie die Tatsae, dass nur 5,2 % der Studierenden aus Arbeiterhaushalten stammen.5 Die Diagnose, so wird deutli, zeigt auffallende Parallelen zur gegenwärtigen Hosuldebae. Von daher mag es kaum verwundern, dass au die Rezepte vertraut klingen. Gefordert wird von Heimendahl eine „Auflösung der Verklammerung von Lehre und Forsung“ und, damit zusammenhängend, die Einführung „gestuer Studiengänge“ na angelsäsisem Vorbild.6 Darüber hinaus wird in Anlehnung an Helmut Selsky für die Einritung von Zentren für interdisziplinäre Forsung na dem Beispiel der Centres for Advanced Studies plädiert.7 Na detailliertem Verglei mit den USA, England und Frankrei hält Heimendahl fest, dass die Chance, versäumte Anpassungen aufzuholen, bei den „neuen Hosulgründungen und einem dur Swerpunktbildung und interdisziplinäre Koordination rationalisierten Forsungs- und Lehrprogramm“ liegt, wobei jedo betont wird, dass ohne „eine neue bildungspolitise, bei der Sulausbildung einsetzende Gesamtkonzeption“ alle reformerisen Anstrengungen vergebli bleiben werden.8 Eine das gesamte Bildungswesen umfassende Gesamtkonzeption also – ein Bildungsplan, ausgeritet am angelsäsisen Modell mit gestuen
4 5
6 7 8
138
Eart Heimendahl: Das Dilemma der Hosulen. Aufriß der Probleme. In: Merkur 12/1966, S. 1171–1190, hier S. 1171. Ebd. Dabei fällt die Kritik an den Ordinarien besonders sarf aus: Diese entspräen dem „Ideal des Fürsten am Hofe seines Instituts oder Seminars, dessen Thron der Lehrstuhl, dessen Fürstenversammlung die Fakultät ist, und neben dem nit stimmberetigte Lehnsherren und Edelleute des ‘Mielbaus’ als untergeordnete Helfer fungieren“ (S. 1182). Ebd., S. 1181. Ebd., S. 1186f. Ebd., S. 1190.
Studiengängen, Forsungszentren und zielgeritetem Forsungs- und Lehrprogramm. Nadru erhalten die Forderungen na tief greifenden Reformen jener Jahre aus den Hosulen selbst. Folgt man Jürgen Habermas, so zeinen si an den Universitäten der Bundesrepublik bereits 1967 Konflikte ab, die „nit mehr allein auf der Ebene fehlender Lehrstühle und überfüllter Seminare entstehen und nit mehr in administrativen Begriffen definiert werden können.“9 Dabei beru si Habermas au auf ein Arbeitspapier der Vertreter des Allgemeinen Studentenaussusses, in dem bereits 1961 bemängelt wurde, dass die Diskussion über wissensalie Methoden und Inhalte und damit au über den Zwe des Studiums vor allem dur die an den Arbeits- und Prestigebedürfnissen der Lehrstuhlinhaber ausgeritete Ordinarien- und Institutsstruktur der Hosule behindert werde.10 Interessant ist dabei, dass Habermas aus der Forderung der Studenten na einer Diskussion über wissensalie Methoden, Inhalte und Zwe des Studiums die Dringlikeit von „metatheoretise[n] Erörterungen“ ableitet. Als Diskussionen über theoretise Grundannahmen oder über die Leistungsfähigkeit versiedener methodiser Ansätze sind sie laut Habermas „das Medium des wissensalien Fortsris“.11 Metatheorie wird damit zum bestimmenden Moment nit nur der wissensalien Methoden und Inhalte sondern au des Zwes des Studiums. Die Sue na einem Gesamtkonzept oder Bildungsplan grei hier auf die wissensastheoretise Ebene dur und wirkt als Sue na einer Metatheorie auf die wissensasorganisatorise Ebene zurü. Do hat man damit no keine Ergebnisse. Vielmehr stellt si gerade mit Sit auf das von Heimendahl geforderte rationalisierte Forsungsund Lehrprogramm die Frage umso dringlier, an welen Zween si die Gestaltung der Wissensa denn auszuriten habe. Eine Antwort auf diese Frage gibt Georg Pit unter dem bezeinenden Titel Was erwarten Staat und Gesellsa von der Universität? (1968).12 Au Pit kritisiert zunäst die „tief eingewurzelte Abneigung dagegen, die Wissen-
9 10 11 12
Jürgen Habermas: Universität in der Demokratie – Demokratisierung der Universität. In: Merkur 5/1967, S. 416–433, hier S. 416. Ebd., S. 419. Ebd., S. 426. Georg Pit: Was erwarten Staat und Gesellsa von der Universität? In: Merkur 1,2/1968, S. 18–32.
139
sa selbst und ihre Institutionen zum Gegenstand wissensalier Untersuungen zu maen“ und aestiert einen „Rationalisierungsrüstand“, in dem si die Universitäten, verglien mit anderen Institutionen unserer Gesellsa, no immer befänden.13 Angesits dessen wird nun explizit eine „wissensalie Theorie der Wissensasplanung“ oder au eine „Theorie der Forsungsorganisation und -planung“ gefordert.14 Au bekommt der Bildungsplan hier eine Ritung: „Ihrer gesellsalien Funktion na“, so Pit, „ist die Universität eine berufsbildende Anstalt; sie darf diese Funktion nit veraten.“15 Na dieser Funktionsbestimmung riten si seine Thesen zu den „Bildungsaufgaben in der modernen Welt“, von denen einige vielleit erst heute in ihrer Stihaltigkeit erkennbar werden. Sie fußen auf dem Gedanken, dass der rase Zuwas und die Veränderung des Wissens eine entspreende Veränderung der tenisen, ökonomisen und gesellsalien Strukturen und Lebensbedingungen bewirken, weshalb si die Gesellsa Einritungen saffen muss, „wele die nötigen Umsulungsund Weiterbildungsprozesse zu tragen vermögen“. In einer Periode immer särferer internationaler Konkurrenz sei die Leistungsfähigkeit der Gesellsa entseidend, was wiederum „methodis aufgebaute Bildungsgänge“, „Erwasenenbildung als die Entwilung der Leistungsfähigkeit aller sozialen Gruppen“ und „freie Formen des Qualifikationserwerbs“ verlange. Nur so bekomme man die Chance, jene für moderne
13 14 15
140
Ebd., S. 19f. Ebd., S. 27f. Ebd., S. 30. Der Zusatz zeigt bereits, dass si Pit des zu erwartenden Widersprus duraus bewusst war. Sei die Institution do vor allem gesiert dur „den vielberufenen Gegensatz von Bildung und Ausbildung, der seine Herkun aus einem falsen Verständnis der Bildungstheorien des deutsen Idealismus herleitet“. Gerade die „Emotionen, die si regen, soo die magise Formel ‘Bildung oder Ausbildung’ ertönt“, lassen Pit zufolge erkennen, „dass hier nit bloße Theorien, sondern handgreiflie gesellsalie Interessen auf dem Spiel stehen“. Seit Jahrhunderten herrse die Grundvorstellung, dass si das Leben des Bürgers in zwei Phasen aueilt: in der ersten „erwarb man si jenes Maß an Bildung, das für den erwählten Beruf und den erstrebten sozialen Status erforderli war; in der zweiten konnte man dann mit dem erworbenen Bildungskapital arbeiten“. Das Examen garantierte die Beretigung für entspreende Positionen in der Gesellsa, und der Bildungsprozess in den Sulen und Hosulen führte zu einer Sanktionierung des sozialen Ausleseprozesses. Von daher müsse, wer an der etablierten Ordnung des überlieferten Bildungssystems rüeln wolle, mit heigem Widerstand renen. Vgl. hierzu Georg Pit: Erwasenenbildung – die große Bildungsaufgabe der Zukun. In: Merkur 3/1968, S. 193–208, hier S. 197–204.
Gesellsaen konstitutive Mobilität zu bewirken, „von der heute so viel die Rede ist, die wir aber bisher kaum zu realisieren vermögen“.16 Bemerkenswert ist nun, dass si na Pit die Folgeritigkeit seiner Überlegungen nur mit Hilfe einer „Analyse des Strukturwandels von Wirtsa und Gesellsa“ demonstrieren ließe, für die man jedo zunäst eine „zusammenfassende Theorie der heutigen Gesellsa und der modernen politisen Welt“ benötige.17 Au hier also ist die Legitimation des Bildungsplans an eine Gesamtkonzeption gebunden. Gesut wird weiterhin die Metatheorie, miels derer si Ort und Funktion der Wissensa innerhalb der Gesellsa verbindli festlegen lassen. Nur vorsitig formuliert Pit diesbezügli, dass si das „Phänomen, das wir ‚Gesellsa’ nennen“, in gewisser Hinsit „als Prozeß der sozialen Selbstproduktion und sozialen Selbstreproduktion“ besreiben ließe – ein Prozess, der „bei näherer Betratung als ein riesiger Komplex von Bildungsvorgängen“ erseint.18 Innerhalb dieses dynamisen Komplexes „kristallisieren si immer mehr Gebiete heraus, in denen man die erforderlien Kenntnisse und Fertigkeiten nur dur methodis aufgebaute, systematise Lehrgänge erwerben kann“.19 Für Hartmut von Hentig heißt 1968 dann au das „Kernproblem“ Didaktik, und zwar von Sule und Universität.20 Seine These lautet, „dass die gegenwärtige Krise von Sule und Universität nur dur die Auebung dieser Grundfigur – der Trennung von Lernen und Studieren – wirkli überwunden werden kann: also dur eine no zu saffende Didaktik der Wissensa“. Vorgestellt wird diese ausdrüli nit als Hosuldidaktik, sondern als „Teil einer ’Wissensaswissensa’ – eine Metawissensa, wie man heute sagen würde“.21 Hentig sieht die eigentlie Ursae der Krise in der Autonomie der Universität bzw. „in der Gestalt ihres eigenen Systems“. Wie andere komplexe, si verselbständigende Gebilde au, fiele es ihr immer swerer „zwisen Systemzwang und Sagesetz zu unterseiden“. Dabei müsse das System gerade übersrien und von den Zielen der Wissensa her gefragt werden, wenn man über Gegenstän-
16 17 18 19 20 21
Ebd., S. 198. Ebd. Ebd., S. 204. Ebd. Hartmut v. Hentig: Sule ohne Absluß – Universität ohne Anfang. In: Merkur 3/1968, S. 999–1018, hier S. 1000. Ebd.
141
de und Fragen, Einteilungen und Swerpunkte oder au Arbeitsweisen (von der Kompetenzverteilung bis zu den Zitiergewohnheiten) entseiden wolle.22 Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf Untersuungen zu Lernerfolgen, in denen vor allem die Geisteswissensaen slet absneiden: Ein bezeinender Befund der Untersuungen ist, dass Studien um so länger dauern, je mehr die jeweilige Wissensa mit ihrer eigenen Verbalisierung identis und damit den ’Sulmeinungen’ und ihrem Streit ausgeliefert ist: in der Germanistik, in der Philosophie, in der Kunstgesite und leider no weitgehend in der Pädagogik. Son wo die im Grunde gleie Literaturwissensa auf eine fremde Sprae übergeht, tri nit etwa eine Verzögerung (weil Erswerung), sondern eine Verkürzung (weil Strukturierung) des Lernprozesses ein.23
Strukturierung und Systematisierung bedürfen jedo au na Hentig einer Zielsetzung, die si, ganz im Sinne der Funktion der Universität als Ausbildungsstäe, an der Praxis auszuriten habe, da es „Studien weder unwissensali no unwürdig mat, wenn sie si an den Problemen des Berufs orientieren: es hil ihnen vielmehr, si zu gliedern“.24 Während aber Akteure wie von Hentig oder Pit no grundsätzlie, sowohl Hosul- als au Wissensasstruktur umfassende Reformen fordern, verengt si die Diskussion andernorts zunehmend auf tenise Fragen wie die Dauer der Amtszeit der Rektoren, die Rete des Senats oder die Organisation der Fakultäten. Erwin K. Seu zieht dann au bereits am Beginn des Jahres 1969 eine eher nüterne Bilanz: Eine „Hosulreform, die ausgeht von grundsätzlien Überlegungen über die Aufgaben der Universität und die Möglikeiten dieses Landes“, sei nit versut worden. Die gegenwärtige Hosulreform sei „weitgehend Verfassungskosmetik“ ohne ein langfristiges Konzept.25 Sta die bisherigen Universitäten mit Sit auf wasende Studentenzahlen zu erweitern, werden für die Erweiterung des Lehrangebots Fahosulen gesaffen, die Ausbildung von Mensen für Führungspositionen wird an „neue Luxusuniversitäten“ wie Bielefeld und Konstanz verlagert, an denen Zulassungsbesränkungen und Auswahl für die nötige
22 23 24 25
142
Ebd., S. 1008f. Ebd., S. 1009. Ebd. Erwin K. Seu: Verfassungskosmetik oder Verstaatliung? Perspektiven für unsere Hosulreform. In: Merkur 1/1969, S. 95–98, hier S. 98.
Qualität sorgen, und die kostenintensive Forsung werde glei ganz an hosulfreie Institute wie das MPI ausgelagert.26 Da aber die Reform gerade mit Bli auf die Zukun weiterhin überfällig sei, setzt Seu seine Hoffnung auf den zu erwartenden Dru der Fakten: „Spätestens 1972 werden wir jedenfalls andere Sorgen haben als Drielparität oder Universitätspräsidenten. Zu diesem Zeitpunkt werden die Universitäten aus den Nähten platzen und die Ausgaben für Studienprogramme und andere Unterstützungen gewaltig steigen. Unter dem Dru dieser Fakten wird si dann irgendeine wirklie Neuorganisation der Universitäten ergeben.“27 Tatsäli sprit man 1972 nit mehr von der Krise der Hosule sondern von der „Hosulreform in der Krise“.28 Bei Uwe Wesel ist gar von einer „Gegenreformation“ die Rede, wele si vor allem gegen das 1961 vom SDS mit der Denksri „Hosule in der Demokratie“ ausgelöste hosulpolitise Reformprogramm rite.29 Die Gegner dieses Programms häen die Hosulreform sehr formal als Institutionenreform verstanden und sreten nun, wo es an eine „Veränderung der Wissensa selbst“ gehen sollte, zurü.30 Für Wesel bleibt das erklärte Ziel die „Studienreform“, d.h. die „Neuordnung der Institution“ mit Sit auf „die Neuordnung der Ausbildung“. Do stärke die Gegenreformation ihre Kräe derart, dass man das Jahr 1971 als „das Jahr des hosulpolitisen roll ba“ bezeinen könne.31 Wesels Skizze der Entwilung von der studentisen Denksri zum professoralen Protest verweist dabei auf einen für die Weselwirkung zwisen Hosul- und Wissensasreform interessanten Zusammenhang: Die Denksri ersien im September 1961. Im Oktober fand in Tübingen eine Arbeitstagung der Deutsen Gesellsa für Soziologie sta, auf der Popper und Adorno ihre Referate zur ’Logik der Sozialwissensaen’ hielten und damit eine neue Phase im ’Positivismusstreit in der deutsen Soziologie’ eröffneten (…). Dieser Streit wird in der Soziologie exemplaris für alle anderen Wissensaen geführt und zum Teil in den einzelnen Disziplinen no wiederholt. Er ist bis heute nit beendet. Das Gelingen der Hosulreform wird au davon abhängen, ob es gelingt, in dieser Krise der Wissensa zu neuen Perspektiven zu gelangen.32 26 27 28 29 30 31 32
Ebd., S. 97. Ebd., S. 96. Siehe hierzu u.a. Uwe Wesel: Zur gegenwärtigen Situation der Hosulreform. In: Neue Rundsau 1/1972, S. 87–105. Ebd., S. 87. Ebd., S. 105. Ebd., S. 91 u. 94. Ebd., S. 90.
143
Die Diskussion um die Krise der Hosule, so zeigt si, ist von jener um die Krise der Wissensa nit zu trennen. Um letztere näher zu erfassen, soll nun der Fokus auf die Krise bzw. auf den Reformdiskurs innerhalb einer Disziplin verengt und gefragt werden, zu welen neuen Perspektiven die Literaturwissensa unter dem Dru der Hosulreform gelangte. 2. Das „Dilemma der Literaturwissensa“, so Peter Szondi 1970, seint zu sein, dass sie nur in der „Versenkung das Kunstwerk als Kunstwerk zu begreifen vermag“ und daher „gerade um ihrer Wissensalikeit, das heißt Gegenstandsangemessenheit willen, auf Kriterien wie die des Abstands und des ‚einmal ist keinmal’ verziten muß, die sie von anderen Wissensaen übernommen hat.“33 Dass die von Szondi behauptete Eigenheit der Literaturwissensa am Beginn der 1970er Jahre als Zwangslage wahrgenommen wird, kann vor dem Hintergrund der oben umrissenen Reformdebaen nit überrasen. Vor allem die Forderung na Strukturierung und Systematisierung traf hier auf eine Wissensa, die hogradig „mit ihrer eigenen Verbalisierung identis und damit den ‚Sulmeinungen’ und ihrem Streit ausgeliefert ist“.34 Der Streit der Positionen über Inhalte und Form der Literaturwissensa durzieht dann au die Fadiskussion jener Jahre. Mit dieser Diskussion verbunden ist ein Modernisierungssub, dessen Reiweite erst im Rübli auf die fünfziger Jahre und die in dieser Zeit dominierende Position der interpretierenden Literaturwissensa erkennbar wird. Die universitäre Besäigung mit Literatur meinte hier vor allem die Besäigung mit der Ditung, verstanden als eine Erörterung, die laut Heidegger allein den Ort eines Gedites bedenkt und somit erklärtermaßen unzeitgemäß, weil „für das historis, biographis, psyoanalytis, soziologis, an der naten Expression interessierte Zeitalter eine offenkundige Einseitigkeit, wenn nit gar ein Irrweg“ ist. Die Erörterung als „eine denkende Zwiesprae mit dem Diten“ entspringe dabei keiner verträumten „Romantik abseits der tenis-wirt33 34
144
Peter Szondi: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, S. 23. Hentig, Sule ohne Absluß, S. 1009.
salien Welt des modernen Massendaseins“, sondern vielmehr dem klaren „Wissen des ’Wahnsinnigen’, der Anderes sieht und sinnt als die Beriterstaer des Aktuellen, die si in der Historie des Gegenwärtigen ersöpfen“.35 Man stelle si nun den Ansturm von Studierenden auf die deutsen Hosulen vor; allein in der Germanistik stieg die Zahl zwisen 1956 und 1966 von 8240 auf 13540. Mit Hartmut Titze lässt si dieser Anstieg dem zweiten, zwisen 1960 und 1980 zu beobatenden Wastumssprung des Bildungssystems zuordnen; ein Wastumssprung, der wiederum dur „eine Annäherung und Vermisung von Elitebildung und Massenbildung“ gekennzeinet ist.36 Wie aber, so musste si die Disziplin angesits derartiger Entwilungen fragen, ließ si no eine „denkende Zwiesprae mit dem Diten“ führen, wenn das „moderne Massendasein“ selbst Einzug in die literaturwissensalien Seminare hielt? Und war das Wissen desjenigen, „der Anderes sieht und sinnt“, überhaupt angemessen angesits eines Studiums, dessen Absolventen mehrheitli an Sulen unterriteten und hier das Zwiegesprä häen fortsetzen müssen? Tatsäli gibt si hier sehr sön jene von Rudolf Stiweh den Universitäten des 20. und 21. Jahrhunderts aestierte soziologise Charakteristik der Inklusion zu erkennen, der zufolge jede Öffnung der Universitäten für neue Studentenpopulationen mit einer salien Öffnung für neue Themen und Wissenssysteme verbunden ist.37 Die salie Öffnung der Literaturwissensa wurde dabei nit zuletzt au dur den Wandel im Feld der Literatur selbst besleunigt. Von dort meldeten si zunehmend kritise Stimmen, die, wie Dieter Wellershoff, bemängelten, dass von „der alten bildungsbürgerlien Ideologie“ immer no
35
36
37
Martin Heidegger: Georg Trakl. Eine Erörterung eines Gedites. In: Merkur 3/1953, S. 226–258, hier S. 226f. u. 257. Am Beispiel der Trakl-Interpretation lässt si ersehen, wie radikal si die Vorstellung von Literaturwissensa veränderte. Siehe hierzu vor allem den Aufsatz von Heinz Dieter Maas: Einige statistise Untersuungen zum Werk Georg Trakls. In: LiLi 4/1971, S. 43–50. In einen weiteren gesitlien Rahmen lässt si dieser Anstieg mit Hartmut Titze stellen: „1985 studierten an einer der Traditionsuniversitäten im Dursni genau so viele Studierende wie hundert Jahre zuvor an sämtlien Universitäten des Deutsen Reies zusammen.“ (Hartmut Titze: Das Lernen der Generationen seit der Aulärung. In: Jürgen Büsenfeld (Hg.): Wissensasgesite heute. Festsri für Peter Lundgreen. Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte 2001, S. 328–351, hier S. 338 u. 345). Rudolf Stiweh: Die Universität in der Wissensgesellsa. Wissensbegriffe und Umweltbeziehungen der modernen Universität. Internet-Publikationen. www.unilu./ deu/prof._dr._rudolf_stiwehpublikationen_38043.aspx - 33k, S. 8 (Zugriff 12.8.2008).
145
ein „Veto gegen literatursoziologise Untersuungen“ eingelegt werde und daher die do immer offensitlier werdende Beziehung von „Literatur und Markt, Kultur und Industrie“ ungeklärt bliebe. Niemand, so Wellershoff 1967, „seint an der Aulärung der Zusammenhänge interessiert zu sein“.38 Nit ohne Grund also biet Habermas 1967, si mit Fragen der Demokratisierung der Universitäten auseinandersetzend, die Leser darum, si vorzustellen, „wie si das Bild der Deutsen Klassik in den Köpfen der zukünigen Studienräte versieben müsste, wenn beispielsweise der Suhrkamp-Verlag eine Generation lang die germanistisen Lehrstühle für neuere Literatur besetzen würde“.39 Dazu kommt es nit. Und do gerät das Fa, das seine primäre Aufgabe in der Versenkung ins Kunstwerk sah, zunehmend au dur die Entwilung des Bumarkts unter Dru. Insbesondere das Auommen des Tasenbus und hier wiederum ganzer Tasenbureihen führte, folgt man Heinri Vormweg, „zu einem handfesten Boom mit sehr weitreienden Folgen“.40 In raser Folge erseint nun eine Vielzahl soziologiser, gesellsas- und ideologiekritiser Texte, was früher son aus Gründen der Kostenkalkulation gar nit mögli gewesen wäre. Witige ausländise Werke werden sneller und in größerer Zahl zugängli, junge Autoren können früher und mehr publizieren und zahlreie neue Überblisdarstellungen entstehen. Damit wird das Tasenbu „ein zentrales Medium in einer Demokratisierung der Informationspraktiken und Bildungsvorstellungen“; eine Entwilung, die au für die Literaturwissensa weitreiende Folgen hat.41 In der Edition Suhrkamp ersienen nun witige Arbeiten zur Literaturtheorie, die vorher gar nit oder nit in deutser Übersetzung zugängli waren. Mit ihrer Hilfe ließ si au die Reform des „denkbar grundlagenund theoriefeindli[en]“ Lehrangebots einer Wissensa angehen, deren „mangelnde Lebendigkeit“ si na Ernst-Friedri Suhr no 1969 „nit nur in der Abwehr aller Zusammenarbeit mit verwandten, empiris vorgehenden Disziplinen, sondern au in ihrem blanken Desinteresse an der Diskussion des internationalen Forsungsprozesses“ zeigte. 38 39 40 41
146
Dieter Wellershoff: Literatur, Markt, Kulturindustrie. In: Merkur 11/1967, S. 1013–1026, hier S. 1013. Jürgen Habermas: Universität in der Demokratie – Demokratisierung der Universität. In: Merkur 5/1967, S. 416–433, hier S. 422. Heinri Vormweg: Pro Kopf und Jahr ein Tasenbu. In: Merkur 10/1969, S. 985–988. Ebd.
Suhr fordert dagegen eine „radikal sozialwissensali“ orientierte Besäigung mit Sprae und Literatur; eine Wissensa, die die literarise Kritik einbeziehen, eine empirise Überprüfung und Korrektur ihrer Begriffe vornehmen und damit letztli in eine „neue Ästhetik“ münden würde.42 Insgesamt lässt si Ende der seziger Jahre dann au ein „neu erwaende[s] Bedürfnis na einer theoretisen Bestimmung philologiser Objekte“ beobaten.43 Dabei korrelieren die Bemühungen um eine Neuorganisation der Forsung und Lehre und die Sue na einer umfassenden Theorie der Literatur. Von letzterer wird eine Antwort auf die Frage verlangt, was Literatur überhaupt sei. Do besitzt die Literaturwissensa 1969, so Wolfgang Iser, eben „no keine den verwandten Wissensaen vergleibare Theorie“.44 Von daher beantwortet Iser die Frage au negativ, indem er zunäst auf einen Absied vom Konzept der Literatur als Ausdru des Nationalarakters drängt. Ein soles Literaturverständnis verewige eine na dem 1. Weltkrieg formulierte Funktion der Literatur und führe zwangsläufig zu „Provinzialismus“. Und da Nation kein letzter Bezugsrahmen der Literatur sein könne, sei au das „zu Disziplinen geronnen[e]“ Konzept der Nationalliteratur nit länger zu halten. Folgeritig wird Literaturwissensa dann bei Iser au zur Textwissensa und damit zu einer Disziplin erklärt, die
42
43
44
Ernst-Friedri Suhr: Germanistik ’69 – Ein Vorslag zur Güte. In: Linguistise Berite 1/1969, S. 74–76. Suhr entwir hier einen ganzen „Vorslagskatalog für ein in eine Art Kommunikationswissensa umgeformtes Germanistikstudium“. Zu seinen Vorslägen zählen: der Absied von „uneingestanden normativen, auf das ‘Wesen’ der Literatur zielenden, in irgendwelen Absolutheiten wurzelnden Ästhetik“; eine Revision der Begriffe der literarisen Tradition und Evolution; eine Neuformulierung des Problems der literarisen Gaungen unter dem Aspekt des „Mediums“; sta „obligatoriser Antiquitätenlektüre würden Kurse im snellen Lesen und in Weltliteratur zu halten sein: notwenige Voraussetzung komparatistiser Arbeit“; das „ungeheure Material literaturwissensalier Daten wäre na einer Überprüfung der Braubarkeit der Fasprae zu formalisieren, zu programmieren und zu speiern, wäre abru ar, und alle die Detaildissertationen bekämen vielleit no einen Sinn für die Wissensa“; „eine der generativen Grammatik analoge Grammatik der literarisen Formen als Besreibung der ‘Literaturfähigkeit’“ wäre zu entwieln. Suhr sließt seinen Katalog ab: „Da diese Besäigung mit Sprae und Literatur radikal sozialwissensali orientiert wäre, würde die literarise Kritik nie auszuklammern sein und eine empirise Überprüfung und Korrektur ihrer Begriffe erleben; sie wäre die neue Ästhetik.“ (Ebd., S. 75f.) Eberhard Lämmert: Das Ende der Germanistik und ihre Zukun. In: Jürgen Kolbe (Hg.): Ansiten einer künigen Germanistik. Münen: Hanser 1969, 5. Auflage 1971, S. 79–104, hier zitiert na Eberhard Lämmert: Das überdate Labyrinth. Ortsbestimmung der Literaturwissensa 1960 – 1990. Stugart 1991, S. 47–68, hier S. 50. Wolfgang Iser: Überlegungen zu einem literaturwissensalien Studienmodell. In: Linguistise Berite 2/1969, S. 77–87, hier S. 80.
147
si hinsitli möglier Untersuungsgegenstände öffnet und neben kanonisierten literarisen Texten au Reklame, Zeitung, politise Reden und Trivialliteratur einsließt. Dies alles nit zuletzt au mit Bli auf die Erfordernisse der Praxis, denn Literaturwissensa müsse „die Möglikeit ihrer Anwendung mit reflektieren, wenn sie ihren witigen Platz in der Ausbildung behaupten will“.45 An Isers kommentierter Neudefinition des Fas zeigt si ret deutli, wie der von der Wissensa beobatete Funktionswandel der Literatur zu einer Neufassung des Literaturkonzepts führt, die dann wiederum Auswirkungen auf die Organisation der Literaturwissensa hat. Dass die Organisation nit grundlegend geändert wurde und das zu Disziplinen geronnene Konzept der Nationalliteratur bis heute fortlebt, ist weniger auf die mangelnde Überzeugungskra der in diesen Jahren vorgelegten Definitionen zurüzuführen, als vielmehr auf den Umstand, dass diese in einem konkurrierenden Plural auraten. Einerseits war das ästhetis-formalistise Paradigma, wie es si in Stilistik und werkimmanenter Ästhetik zeigte, in seiner „Negierung aller außerästhetisen Bedingungen des Kunstwerks“ zum „Stein des Anstoßes einer von den soziologisen Disziplinen wie von der Öffentlikeit vorgetragenen Kritik“ geworden.46 Andererseits war, wie der außen stehende Beobater Kurt Sontheimer 1972 festhält, der „Horizont möglier Interpretation von Literatur“ gerade dur das Eindringen soziologiser und ökonomiser und damit politiser Kategorien für das „Gewerbe der Literaturwissensa“ eher „bedrohli als verheißungsvoll aufgerissen“.47 Dabei wurde kaum no bestrien, dass literarise Werke in gesellsalien Zusammenhängen gesehen werden müssen, auf „wele Weise aber soziale Momente im Kunstwerk wirksam sind und wie sie wissensali
45 46
47
148
Ebd., S. 78. Hans Robert Jauß: Paradigmenwesel in der Literaturwissensa. In: Linguistise Berite 3/1969, S. 44–56, hier S. 51. Die Tatsae, dass die konzeptionellen Überlegungen kaum auf die strukturelle bzw. organisatorise Ebene durgriffen, ist dabei sier au auf pragmatise Gründe zurüzuführen. Wie Dorit Müller bezügli des Konstanzer Sule feststellt, konnte die Rezeptionsästhetik zwar als international anerkanntes Theorieangebot Einfluss gewinnen, das zweiteilige Studienmodell jedo konnte si nit zuletzt aufgrund der mit ihm verbundenen Probleme für die Gymnasiallehrerausbildung nit dursetzen. Vgl. Dorit Müller: Literaturwissensa na 1968. In: Thomas Anz (Hg.): Handbu Literaturwissensa. Institutionen und Praxisfelder. Bd. 3. Stugart u. Weimar: Metzler 2007, S. 147–190, hier S. 149. Kurt Sontheimer: Literatur und Politik. Anmerkungen zu Fragen literaturwissensalier Interpretation. In: Neue Rundsau 3/1972, S. 402–414, hier S. 402.
zu erfassen wären, darüber tobt heiger Streit“.48 Das Fa stellte si in den seziger und siebziger Jahren auf den Streit als Dauerzustand ein. Mit Zeitsrien wie der ab 1971 erseinenden LiLi gab es nun au Medien, die si ausdrüli der Methodendiskussion widmen, keiner bestimmten Ritung dienen und ausdrüli „die Pluralität versiedener Methoden und Ansätze [bejahen], deren Darstellung, Diskussion und Verglei“ sie ermöglien.49 Im Rübli erseint daher der Modernisierungssub vor allem als „ein Pluralisierungssub innerhalb der Literaturwissensa“.50 Und do fördert der an Reflexivität gewinnende Reformdiskurs jener Jahre nit nur eine Vielzahl literaturwissensalier Positionen zutage, sondern stößt au eine kritise Bilanzierung und Systematisierung der Fa- und Theoriegesite an. Zu ihren zentralen Einsiten zählt sier die der Diskrepanz zwisen Gegenstand- und Theorieentwilung, wie sie Sontheimer treffend auf den Punkt gebrat hat: „Während die bedeutsamere Literatur der zwanziger Jahre in vielerlei Gestalt die bislang bestimmende Tradition des Idealismus hektis zu überwinden sute, verharrte die herrsende Literaturwissensa no in dieser Tradition. Sie muß si erst heute ernstha mit der Frage herumslagen, ob sie damit no ihren Aufgaben geret werden kann.“51 Wie also sahen die Bilanzen aus und weler Art waren die Bemühungen, dem literarisen wie wissensalien Wandel theoretis geret zu werden? 3. Zunäst einmal gilt es daran zu erinnern, dass innerhalb der traditionellen disziplinären Arbeitsteilung die Ästhetik als Teilberei der Philosophie die Funktion des Theorielieferanten für die Kunst- und Literaturwissensa innehae. Auf der Sue na einer neuen Ästhetik treffen si somit nahezu zwangsläufig sowohl Kunst- und Literaturwissensa
48 49 50 51
Jürgen Jacobs: Rezension zu H. A. Glaser u.a., Literaturwissensa und Sozialwissensa. In: Linguistise Berite 3/1969, S. 767–770, hier S. 767. LiLi 1/1971, S. 5. Harro Müller: Literaturwissensa heute. Beobatungen aus der Ferne. In: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hgg.): Literaturwissensa. Münen: Fink 1995, S. 329–341, hier S. 335. Sontheimer, Literatur und Politik, S. 407.
149
wie au Philosophie.52 Saut man auf die seziger und siebziger Jahre, so lässt si ein Wandel innerhalb dieser Konstellation beobaten. Der theoretis avancierte Teil der Literaturwissensa wendet si von der Philosophie ab und versut, die Klu zwisen Gegenstands- und Theorieentwilung mit Hilfe der Soziologie zu sließen. Illustrieren lässt si dieser Ritungswesel mit einem vergleienden Bli auf Heinz Paetzolds Einige Positionen gegenwärtiger Ästhetik (1975) und Peter Bürgers Theorie der Avantgarde (1974). Paetzold, der in seiner kurzen aber aufslussreien Bilanz keine Notiz von Bürger nimmt, geht ausdrüli „entgegen der vorherrsenden Meinung“ grundsätzli davon aus, dass die Ästhetik in der Philosophie eine wesentlie Rolle spielt. Vor dem Hintergrund dieser Annahme wird das „Problem der Ästhetik“ für die „Heideggersule“ (Heidegger, Gadamer), für die Gesellsastheoretiker (Rier und Gehlen) und für die „Kritise Theorie des Neomarxismus“ (Blo, Benjamin, Adorno, Marcuse) untersut.53 Dabei versteht Paetzold diese Ritungen als opponierende, in einem Punkt jedo vergleibare Positionen: alle drei stellen Alternativen zu „einer autonomistisen Ästhetik – im Sinne der l’art-pour-l’art-Theorie“.54 Die Position Heideggers und Gadamers steht in der Tradition der klassisen deutsen Philosophie, in weler Kunst aufgrund der eigentümlien Seinsweise des Kunstwerks mit der Idee der Wahrheit in Verbindung gebrat wurde. Auf sakral oder agraris geprägte Gesellsaen lasse si diese Position anwenden, fragli „bleibt dann aber, ob der ganze Berei der modernen Kunst, die Kunst der Industriegesellsa, ausgeslossen werden darf“. Zumindest der für die Hermeneutik von Gadamer erhobene Universalanspru wäre damit zweifelha und die „Auflösung der Ästhetik in Hermeneutik“ nit die Lösung.55 Da das Problem der Ästhetik, wie es si 1975 stellt, aber nit zu trennen sei von der Frage, was die Kunst und das Ästhetise für den
52
53 54 55
150
Zur Austragung des literaturwissensalien „Theoriekonflikts“ auf einem Feld, „das dur philosophise Fragen und Begriffe zumindest vorstrukturiert ist“, siehe: Monika Smitz-Emans: Philosophie. Beziehungen zwisen Literaturwissensa und Philosophie. In: Handbu der Literaturwissensa. Methoden und Theorien. Bd. 2. Hg. v. Thomas Anz. Stugart u. Weimar: Metzler 2007, S. 438–448, hier S. 438. Heinz Paetzold: Einige Positionen gegenwärtiger Ästhetik. In: Neue Rundsau 4/1975, S. 605–627, hier S. 605. Ebd., S. 617. Ebd., S. 612.
gegenwärtigen Mensen bedeuten, sei es wiederum nötig, „eine Theorie der Gegenwart“ und das bedeutet au „eine Theorie der modernen Gesellsa“ zu entwieln. Die Konzeptionen der Gesellsastheoretiker und der Kritisen Theorie stimmen dann au darin überein, „dass man über die Bedeutung der Kunst nur auf der Basis einer Theorie der Gesellsa Klarheit bekommen kann“.56 Sowohl bei Gehlen als au bei Adorno und Benjamin falle „die gesellsastheoretise und damit gesitsphilosophise Orientierung zuglei au mit einer genaueren Reflexion auf die konkrete Entwilung der Kunst zusammen“.57 Allein der von Gehlen geprägte Begriff der „post-histoire“ zeige an, dass si von der Erfahrung der Tradition nit mehr auf den Verlauf gegenwärtiger Entwilungen sließen lasse. Sta Kontinuität ist die moderne Welt dur ständige vielfältige Umbrüe gekennzeinet, ja sind „revolutionäre Umbrüe gewissermaßen permanent geworden“.58 Dem korrespondiert die moderne Kunst, indem sie si, wie der Impressionismus zeigt, gegenüber der Bildgegenständlikeit löst, si als Form verselbstständigt und si damit „einem ständigen Kommentierungsbedürfnis“ aussetzt. Befriedigt wird dieses Bedürfnis na Gehlen nun aber von der Kunst selbst. Dies allerdings nit über das Kunstwerk und die ihm innewohnende Wahrheit, sondern vielmehr dur „die von Künstlern selbst gegebenen Kommentare, Absitserklärungen usw. in Gestalt von Kunsttheorien, Wahrnehmungstheorien usw.“59 Ästhetik wäre aus Sit dieser Gesellsastheorie gewissermaßen obsolet. Anders die Kritise Theorie bzw. die „neomarxistise Ästhetik“. Zwar gewinnt au sie na Paetzold „ihren Begriff der Kunst von der Moderne aus“, do übernimmt sie dabei aus der klassisen deutsen Philosophie die These, dass Kunst als Erfahrung der Wahrheit begriffen werden muss. Aus dieser Spannung, also „aus der Konfrontation der tradierten Kategorien und der lebendigen ästhetisen Erfahrungen“, erwäst nun bei Adorno das Bedürfnis „einer Neudefinition der Kategorien“. Von daher liegt bei ihm laut Paetzold au „das methodis fortgesrienste Problembewusstsein vor“.60 Von Adorno haen ein Jahr
56 57 58 59 60
Ebd., S. 617. Ebd. Ebd., S. 615 u. 619. Ebd., S. 622. Ebd., S. 623–625. Siehe ausführlier dazu au Heinz Paetzold: Neomarxistise Ästhetik. 2 Bde. Düsseldorf: Swann 1974.
151
zuvor bereits Bürgers Überlegungen ihren Ausgang genommen. Für ihn steht außer Frage, dass „ästhetise Theorie nur in dem Maße gehaltvoll ist, wie sie die historise Entwilung ihres Gegenstands reflektiert“.61 Mit den Avantgarden aber hat die Gesite der Kunst einen Stand erreit, den die Ästhetik, einsließli der ästhetisen Theorie Adornos, nit mehr einholt. Ihre Kategorien, so zeigt die von Bürger unternommene, von Siller und Kant über Hegel bis hin zu Lukács und der Kritisen Theorie reiende Historisierung der ästhetisen Theorie, werden der Entfaltung des Gegenstands nit mehr geret.62 Um die europäisen Avantgarden zu erfassen, führt Bürger die Kategorie der Institution ein – eine Begriffsform, die er der Gesellsastheorie entlehnt. Ihre Reiweite bis hinein in die ästhetise Theorie kann dabei selbst wieder nur über eine Reflexion der Avantgarden geprü werden. Von daher konfrontiert Bürger seine Bilanz der Ästhetik mit der Gesite einer Kunst, die seit dem 18. Jahrhundert dur zunehmende Autonomisierung und wasende Reflexivität gekennzeinet ist. Mit Sit auf die „swierige Frage der gesitlien Herausbildung der Institution Kunst“ verweist er auf das 18. Jahrhundert und damit auf jene Zeit, in der si „ein neuer Begriff von autonomer Kunst“ und mithin „eine systematise Ästhetik als philosophise Disziplin“ entwielten, betont jedo, dass si damit no nit die Selbstkritik der Kunst vollzog.63 Erst seit der Mie des 19. Jahrhunderts habe „die Form-Inhalt-Dialektik künstleriser Gebilde si immer mehr zugunsten der Form versoben“. Mit der „Kunst seit Baudelaire“ und dem Ästhetizismus kommt es am Ende des 19. Jahrhunderts zu dem „Augenbli“, in dem Kunst nur no Kunst sein will und „die Selbstkritik des gesellsalien Teilsystems Kunst mögli“ wird.64 Mit dem Ästhetizismus ist die „volle Ausdifferenzierung des Phänomens Kunst“ in der bürgerlien Gesellsa erreit und es ist dieser Entwilungsstand, auf den einerseits kunstintern „die historisen Avantgardebewegungen antworten“ und auf den si andrerseits kunstextern überhaupt erst „die Bedingung der Möglikeit einer adäquaten Gegenstandserkenntnis“ gründet.65
61 62 63 64 65
152
Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 7. Ebd., S. 20f. Ebd., S. 34 u. 57. Zu sehen ist die „Ausdifferenzierung des Teilsystems Kunst“ dabei na Bürger im Zusammenhang mit der die bürgerlie Gesellsa arakterisierenden Tendenz zu fortsreitender Arbeitsteilung (S. 34). Ebd., S. 25f., 29 u. 42. Ebd., S. 22.
Die radikalste Bewegung innerhalb der europäisen Avantgarde, der Dadaismus, übt na Bürger „nit mehr Kritik an den ihm vorausgegangenen Kunstritungen, sondern an der Institution Kunst, wie sie si in der bürgerlien Gesellsa herausgebildet hat“.66 Erst dur den Versu der „Negation der Autonomie der Kunst dur die Avantgarde“ bzw. dur ihren geseiterten „Angriff auf den Status der Kunst in der bürgerlien Gesellsa“ wird die Institution Kunst überhaupt als sole erkennbar.67 Entseidend ist dabei, dass, nadem die historisen Avantgardebewegungen „die Institution Kunst als die Lösung des Rätsels der Wirkung bzw. Wirkungslosigkeit von Kunst enthüllt haben“, in der Folge „keine Form mehr den Anspru – sei es ewiger, sei es zeitbedingter Geltung – allein für si beanspruen“ kann. Ein soler Anspru ist Bürger zufolge dur die historisen Avantgarden „liquidiert“ worden. Indem selbst Lukács und Adorno diesen Anspru no einmal erheben, bleiben sie „einer voravantgardistisen Kunstperiode verpflitet, die einen gesitli bedingten Stilwandel kannte“.68 Um den „einsneidenden Veränderungen des Gegenstandsbereis“ geret zu werden, braue es eine „Umstrukturierung der Verfahren wissensalier Erfassung des Phänomens Kunst“. Dabei versteht Bürger seine Theorie ausdrüli als kritise Literaturwissensa und mithin als „Teil der gesellsalien Praxis“.69 Als sole fokussiert sie 66 67
68
69
Ebd., S. 25f., 29 u. 42. Ebd., S. 63 u. 66. „Nadem der Angriff der historisen Avantgardebewegungen auf die Institution Kunst geseitert, d.h. Kunst nit in Lebenspraxis überführt worden ist, besteht die Institution Kunst als von der Lebenspraxis abgehobene weiter. Der Angriff hat sie jedo als Institution erkennbar gemat und damit die (relative) Folgenlosigkeit der Kunst in der bürgerlien Gesellsa als deren Prinzip“ (S. 78). Ebd., S. 121. Die Ästhetise Theorie Adornos sei zwar nit als Theorie der Avantgarde konzipiert, liefere aber duraus „Kategorien für eine Erfassung des avantgardistisen Kunstwerks“, die jedo, folgt man Bürger, unzureiend sind. So stehe mit der „Kategorie des Neuen“ (S. 81) ein Begriff im Zentrum der Adornosen Theorie der modernen Kunst, der zwar nit fals sei, „aber zu allgemein und zu unspezifis, um das Einsneidende eines solen Traditionsbrus präzise zu bezeinen“ (S. 85). Die Kategorie übersieht, dass „die historise Abfolge von Verfahrensweisen und Stilen“ dur die Avantgardebewegungen „in eine Gleizeitigkeit des radikal Versiedenen transformiert“ wurde, mit der Folge, dass „heute keine künstlerise Bewegung mehr legitimerweise den Anspru erheben kann, als Kunst historis fortgesriener zu sein als andere Bewegungen“ (S. 86). Da Adorno diese gravierende Konsequenz verkennt, gehört er „selbst als Theoretiker der Epoe der historisen Avantgardebewegungen an“ (S. 86). Peter Bürger: Für eine kritise Literaturwissensa. In: Neue Rundsau 3/1974, S. 410–419, hier S. 410. Es handelt si dabei um einen inhaltli nahezu exakt der Theorie der Avantgarde entspreenden Artikel.
153
den „Zusammenhang von literarisen Objektivationen und gesellsalien Verhältnissen“.70 Zur Aufdeung eben dieses Zusammenhangs empfiehlt Bürger den „Begriff der Institution Kunst“, verstanden als eine Vermilungsebene „zwisen der Funktion des Einzelwerks und der Gesellsa“ oder au „als gesitlie Variable“, deren Veränderungen viel langsamer stafinden als die Abfolge der einzelnen Werke.71 Indem Bürger auf die Institution Kunst abstellt, bewirkt er eine epistemologise Versiebung von der Kategorie des Kunstwerks hin zu einem Begriff, der dur Theorietransfer aus der Gesellsaswissensa übernommen wird – und in seiner Anwendbarkeit auf Literatur- und Kunstwissensa nit unproblematis ist.72 Bürger ist si dessen duraus bewusst: „Das Problem wird klar, wenn man die Institution Kunst der Institution Ret gegenüberstellt; letztere ist uns gegeben als gesriebenes Ret, d.h. als Corpus von Texten, die unmielbar das Funktionieren der Institution regeln. Für die Institution Kunst gibt es nit Vergleibares; sie ist nit in Statuten festgelegt.“73 Gerade darum sei die mit dem Begriff der Institution Kunst verbundene Problematik für die neue Literaturwissensa vor allem ein Forsungsproblem, heißt es do, die si daraus ergebende Herausforderung anzunehmen und zunäst einmal die „Komplexität der Kategorie Autonomie“ dur eine „Klärung der Genesis der Autonomie der Kunst“ aufzulösen. Vor diesem Hintergrund plädiert Bürger dann au für „eine theoriegeleitete Empirie“.74 Nur so lasse si herausfinden, ob die Prämissen und die Kategorien, allen voran die der Institution und der Autonomie, für die Literaturwissensa überhaupt tragen und, in letzter Konsequenz, ob der „Zustand der Verfügbarkeit aller Traditionen überhaupt no ästhetise Theorie zulässt“.75 Tatsäli ist mehr als dreißig Jahre später von ästhetiser Theorie kaum no Rede. Ob dies allerdings allein auf den von Bürger herausgestellten Zustand der Verfügbarkeit aller Traditionen zurüzuführen ist, wäre zu hinterfragen. Eine nit zu vernalässigende Rolle könnte hier au der Umstand spielen, dass si dem von Bürger gestellten
70 71 72 73 74 75
154
Ebd., S. 411. Ebd., S. 418. Bürger sprit daher zumeist au von „künstlerisen Objektivationen“ und betont, dass die „Entwilung eines Begriffs des nit-organisen Kunstwerks“ no zu leisten sei. Ebd., S. 22 u. 92. Bürger, Theorie der Avantgarde, S. 15. Ebd., S. 49 u. 55f. Ebd., S. 131.
Forsungsproblem in der Folge vor allem die Soziologie annahm. Denn während Paetzold, wenn au unter Berufung auf die Kritise Theorie, die Ästhetik no für die Philosophie zu reen versute und Bürger si für seine Theorie der modernen Kunst ledigli bei der Gesellsastheorie bediente, wandte si ein Teil der Gesellsaswissensaen glei selbst der Kunst und Literatur zu. Au dies, wohlgemerkt, nit unbeobatet, hält Helmut Nobis do bereits 1974 und damit im Erseinungsjahr der Theorie der Avantgarde fest, dass der Literaturwissensa verstärkt ihr „genuines Objekt – die Literatur – und mit ihr die Evolutionstheorie von benabarten Wissensaen streitig gemat“ werde. Genannt werden in diesem Zusammenhang die philosophise Ästhetik, die Soziologie und die Ethnologie. Um „den unweigerli auretenden Kompetenzstreitigkeiten entgegenzutreten“, empfiehlt Nobis der Literaturwissensa dringend die „konsequente Ausarbeitung einer umfassenden, der Komplexität der Problematik adäquaten Theorie literariser Evolution“ und eine „intensive praktise Überprüfung der theoretis gewonnenen Ergebnisse“.76 Übernommen wurde diese Aufgabe, so lässt si heute sagen, von der Kultursoziologie, und dies mit einer gewissen Folgeritigkeit, da, wie Nobis ebenfalls bereits 1974 festhält, die erklären-
76
Helmut Nobis: Literarise Evolution, Historizität und Gesite. Wissensas- und erkenntnistheoretise Aspekte zur ‘strukturalistisen Tätigkeit’. In: LiLi 14/1974, S. 91–110, hier S. 109f. Es ist sogar zu vermuten, dass die Ritung von Nobis’ Argumentation von der zu diesem Zeitpunkt bereits ret präsenten Theorie sozialer Systeme vorgegeben wurde. Der von ihm betonte Stellenwert von Kategorien wie Evolution und Funktion zumindest spräe dafür. Au war die Systemtheorie dur die Kontroverse zwisen Luhmann und Habermas spätestens seit 1971 Gegenstand der Diskussion: „Mit der heute son fast legendär erseinenden soziologisen Kontroverse zwisen Jürgen Habermas und Niklas Luhmann aus dem Jahre 1971 gelangte der Begriff der Systemtheorie erstmals ins Bewusstsein einer breiten Öffentlikeit.“ (Henk de Berg, Mahias Prangel (Hgg.): Kommunikation und Differenz. Systemtheoretise Ansätze in der Literatur- und Kunstwissensa. Opladen: Westdeutser Verlag 1993, S. 7) Zu den „Positionsnahmen im literaturwissensalien Feld seit Anfang der siebziger Jahre“ siehe au Fohrmann u. Müller, Literaturwissensa, hier S. 7. Zur Etablierung soziologiser Verfahren Mie der 1960er Jahre „als neues Paradigma der westdeutsen Literaturwissensa“ siehe Müller, Literaturwissensa na 1968, S. 150f. Um eine in diesem Zusammenhang ebenfalls wissensasgesitli relevante Weselwirkung handelt es si womögli bei der erst seit den 1970er Jahren zu beobatenden expliziten Aufmerksamkeit für ‘wissensalie Sulen’. Siehe hierzu Ralf Klausnitzer: Wissensalie Sule. Systematise Überlegungen und historise Reeren zu einem nit unproblematisen Begriff. In: Ralf Klausnitzer, Lutz Danneberg, Wolfgang Höppner (Hgg.): Stil, Sule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissensasgesitlier Rekonstruktion. Frankfurt/M.: Peter Lang 2005, S. 31–64, hier S. 37f.
155
de Darstellung literariser Prozesse eben „sowohl einer Theorie literariser wie au gesellsalier Evolution“ bedarf.77 So legen in dieser Zeit mit Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu glei zwei Soziologen erste Ansätze elaborierter Theoriearitekturen vor, die nit nur den kategorialen Rahmen au der Literaturtheorie erweitern und systematisieren, sondern au zur Klärung der Genesis der Autonomie der Kunst ansetzen. Zumindest ein Strang des literaturtheoretisen Diskurses wird seit Mie der siebziger Jahre von diesen Gesellsastheorien gelenkt; Theorie, die allein aufgrund der Breite ihrer Gegenstände den übergreifenden Anspru von Metatheorien erkennen lassen. Die Anziehungskra, die diese Metatheorien auf den reformfreudigen Teil der Literaturwissensa ausüben, erklärt si aber nit allein aus ihrem Beitrag zur Überwindung der Klu zwisen Gegenstand- und Theorieentwilung. Vielmehr können die mit ihnen vorgelegten Theorien gesellsalier und künstleriser Evolution als wissensalie Antwort auf die Herausforderungen einer Zeit tiefgreifenden Wandels insgesamt verstanden werden.78 Wie eingangs ausgeführt, knüpe Habermas die answellende Diskussion über wissensalie Methoden, Inhalte und Zwe des Studiums in den seziger Jahren an die Forderung na metatheoretisen Erörterungen, mit deren Hilfe theoretise Grundannahmen oder methodise Ansätze hinsitli ihrer Leistungsfähigkeit geprü werden könnten. Als „Medium des wissensalien Fortsris“79 lassen si diese, so wurde gesagt, als wissensalie Antwort auf die Sue na einem Gesamtkonzept oder au Bildungsplan begrei-
77
78
79
156
Nobis, Literarise Evolution, S. 104. Gerade von daher lassen si umfassende und hogradig abstrakte Gesellsastheorien wie die Systemtheorie Luhmanns eben au als ästhetise Theorie lesen. Siehe hierzu Christine Magerski: Zum Verhältnis von Kunst und Wissensa bei Niklas Luhmann. In: Christine Magerski, Roberts Savage, Christiane Weller (Hgg.): Moderne begreifen. Zur Paradoxie eines sozio-ästhetisen Deutungsmusters. Wiesbaden: DUV 2007, S. 403–415. Nit zufällig holt die Literaturwissensa 1974 mit Eberhard Lämmert unter nadrülier und ausführlier Berufung auf Luhmanns „Selbststeuerung der Wissensa“ zu einer grundsätzlien Kritik „an den Regulativen des Wissensasbetriebs“ aus. Offen wird nun die „insgesamt selbst unter den Geisteswissensaen beispiellose Abstinenz der Literaturwissensaler von gemeinsamer Planung“ bemängelt und eine „Art von Wissensasgesite“ gefordert, die nit mehr „nur in der Datierung der wissensalien Leistungen besteht“. Vgl. hierzu Eberhard Lämmert: Wissensasgesite und Forsungsplanung. In: Wolfgang Müller-Seidel (Hg.): Historizität in Spra- und Literaturwissensa. Münen 1974, S. 663–685, erneut abgedrut in Lämmert, Das überdate Labyrinth, S. 86–107, hier S. 94, 98 u. 103. Ebd., S. 426
fen, weler dann wiederum auf die wissensasorganisatorise Ebene zurüwirkt. Indem si die Literaturwissensa der siebziger Jahre für diese Theorien öffnete, partizipierte sie an dem alle universitären Ebenen erfassenden Modernisierungssub.80 Dass die konsequente Anwendung von Theoriemodellen in der Organisation und Lehre der Literaturwissensa ausblieb,81 sollte nit den Bli für die Relevanz von Theorieoptionen für die grundsätzlie Ausritung der Disziplin verstellen. Versteht man Literaturtheorie mit Oliver Jahraus als „Seismograph für die wissensalie Entwilung“ des Fas und saut gleizeitig, wie dies hier versut wurde, auf die zurüliegende Hosul- und Wissensasreform, so erklärt si der heige Ausslag in den seziger und siebziger Jahren.82 Die Literaturwissensa befand si, wie die Wissensa jener Jahre insgesamt, in der absurden Situation, dass „die Folgen der eigenen Forsung die Reformen, die man verhindern wollte, gerade herausforderten“.83 Von daher kann es allerdings au nit überrasen, dass die nahezu gleizeitig zu beobatende Ermüdung ebenfalls alle Ebenen erfasste.84
80
81
82 83 84
So beru si Dieter Janik beispielsweise 1974 auf Bourdieus Soziologie der symbolisen Formen, um die „literarise Kommunikation zum zentralen Thema der Literaturtheorie“ zu erklären. Und Eberhard Lämmert holt im selben Jahr, si nadrüli und ausführli auf Luhmanns Selbststeuerung der Wissensa berufend, glei zur grundsätzlien Kritik „an den Regulativen des Wissensasbetriebs“ aus und bemängelt offen die „insgesamt selbst unter den Geisteswissensaen beispiellose Abstinenz der Literaturwissensaler von gemeinsamer Planung“. Vgl. Dieter Janik: Informationsästhetise Gaungstheorie: Ebenen und Repertoires literariser Bedeutungserzeugung. In: LiLi 16/1974, S. 79–98, hier S. 79f. und Lämmert, Wissensasgesite und Forsungsplanung, S. 94, 98 u. 103. Und wurde 1994 von Wilhelm Vosskamp erneut als prinzipielle Forderung an die Literaturwissensa geritet. Vgl. Wilhelm Vosskamp: Einheit in der Differenz. Zur Situation der Literaturwissensa in wissensashistoriser Perspektive. In: Ludwig Jäger (Hg.): Germanistik: Disziplinäre Identität und kulturelle Leistung. Weinheim: Beltz Athenäum 1995, S. 29–45, S. 40. Oliver Jahraus: Literaturtheorie. Tübingen und Basel: Frane UTB 2004, S. 7. Heimendahl, Das Dilemma der Hosulen (zit. Anm. 4), S. 1171. „Wir alle“, so Seu 1969, „sind des Themas Hosulreform überdrüssig“, und Helmut Kreuzer aestiert 1975 eine „relative Theoriemüdigkeit“ – fügt jedo hinzu, dass diese „nits an der objektiven Bedeutung der gegenwärtigen Grundlagendiskussion für die Literaturwissensa“ ändert. Seu, Verfassungskosmetik oder Verstaatliung? (zit. Anm. 25), S. 95 und Helmut Kreuzer: Einleitung. In: LiLi 17/1975, S. 7–9, hier S. 7. Zur anhaltenden Wirkung der im Beobatungszeitraum verhandelten Probleme und Lösungsvorsläge siehe Jürgen Mielstraß: Wissensasreform als Universitätsreform. In: Dirk Kemper, Silvio Viea (Hgg.): Germanistik der siebziger Jahre. Zwisen Innovation und Ideologie. Münen: Fink 2001, S. 143, und Klaus-Miael Bogdal (Hg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Opladen: Westdeutser Verlag 1990, S. 23.
157
Hinweise zu den Beiträgern und Herausgebern Dean Duda ist Professor für Vergleiende Literaturwissensa an der Universität Zagreb. Zu seinen Publikationen zählen: Priča i putovanje. Hrvatski romantičarski putopis kao pripovjedni žanr (Erzählung und Reise. Der kroatise romantise Reiseberit als Erzählgaung, 1998), Kulturalni studiji. Ishodišta i problemi (Cultural Studies. Herkun und Problematik, 2002) und (Hg.) Politika teorije. Zbornik rasprava iz kulturalnih studija (Die Politik der Theorie. Ausgewählte Texte der Cultural Studies, 2006). Siegfried Gehrmann ist Professor für germanistise Linguistik und interkulturelle Kommunikation an der Universität Zagreb und gesäsführender Vorstand des internationalen Zentrums für Europäise Bildung Zagreb. Zu seinen Publikationen zählen: Deutse Phonetik in Theorie und Praxis (1994), Spreen als Tätigkeit. Koordinations- und lerntheoretise Grundlagen des zweispralien Ausspraeerwerbs (1999) und (Hg.) Europe at Sools in South Eastern Europe – Core Curriculum for Master of European Education (2003). Ralf Klausnitzer ist wissensalier Mitarbeiter an der Humboldt Universität zu Berlin. Zu seinen Publikationen zählen: Blaue Blume unterm Hakenkreuz (1999), Literaturwissensa. Begriffe – Verfahren – Arbeitsteniken (2004), Poesie und Konspiration (2007), (Hg.) Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse (2007) und Literatur und Wissen: Zugänge – Modelle – Analysen (2008). Svjetlan Lao Vidulić ist Dozent für neuere deutsche Literatur an der Universität Zagreb. Zu seinen Publikationen zählen: (Hg.) Germanistik im Kontakt (2006) und Lieben heute. Postromantise Konstellationen der Liebe in der österreiisen Prosa der 1990er Jahre (2007). Christine Magerski ist Dozentin für neuere deutsche Literatur an der Universität Zagreb. Zu ihren Publikationen zählen: Die Konstituierung des literarisen Feldes in Deutsland na 1871 (2004), (Hg.) Henrik Ibsen. Beiträge zum Werk eines Autors der europäisen Moderne (2007) und (Hg.) Moderne begreifen. Zur Paradoxie eines sozio-ästhetisen Deutungsmusters (2007).
159
Andrew Milner ist Professor für Komparatistik und Cultural Studies an der Monash University, Melbourne und stellvertretender Direktor des Centre for Comparative Literature and Cultural Studies an der Monash University. Zu seinen Publikationen zählen: John Milton and the English Revolution (1981), Postmodern Conditions (1990), Cultural Materialism (1993), Class (1999), Re-Imagining Cultural Studies (2002), Contemporary Cultural Theory (2002) und Literature, Culture and Society (2005). Stefan Neuhaus ist Professor für Literaturkritik, Literaturvermilung und Medien / Angewandte Literaturwissensa an der Universität Innsbru. Zu seinen Publikationen zählen: Revision des literarisen Kanons (2002), Literatur und nationale Einheit in Deutsland (2002), Sexualität im Diskurs der Literatur (2002), (Hg.) Kaas „Urteil“ und die Literaturtheorie: Zehn Modellanalysen (2002), Grundriss der Literaturwissensa (2003), Literaturkritik. Eine Einführung (2004), Mären (2005) und (Hg.) Literatur als Skandal: Fälle – Funktionen – Folgen (2007). David Roberts ist Professor emeritus für German Studies an der Monash University, Melbourne und Mitherausgeber der Zeitsri Thesis Eleven. Zu seinen Publikationen zählen: Tendenzwenden: Aspekte des Kulturwandels der siebziger Jahre (1984), Art and Enlightenment. Aesthetic Theory aer Adorno (1990), (Hg.) The European Community in the 1990s (1992), (Hg.) The Idea of Europe: Problems of National and Transnational Identities (1992), (Hg.) Reconstructing Theory: Gadamer, Habermas, Luhmann (1995), (Hg.) Sreiben na der Wende: Ein Jahrzehnt deutser Literatur (2001) und Elias Canei‘s counter-image of society. Crowds, power, transformation (2007).
160