Lauter Gründe, warum die Welt ganz anders ist. Die Rätsel des Kosmos, die Grenzen des Wissens. 3-426-77323-6 [PDF]


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Table of contents :
Cover......Page 1
Über den Autor......Page 2
Inhalt......Page 4
Einleitung......Page 7
1. Die Top-Ten-Probleme der Wissenschaft......Page 14
Warum gibt es etwas anstatt nichts?......Page 15
Hat die Gentherapie eine Zukunft?......Page 18
Werden wir das Geheimnis unseres Bewusstseins jem......Page 22
Warum altern wir?......Page 26
Wie stark wird das menschliche Verhalten durch Ve......Page 29
Wie entstand das Leben?......Page 32
Kann man das Gehirn überwachen?......Page 36
Werden Viren uns besiegen?......Page 40
Wann gibt es Designermedikamente?......Page 43
Gibt es eine Theorie von allem?......Page 47
2. Physik......Page 51
Gibt es wirklich eine Wissenschaft der Komplexit......Page 52
Lässt sich die Welt simulieren?......Page 55
Wie weiter ohne den Super-Teilchenbeschleuniger?......Page 59
Wie chaotisch ist die Welt?......Page 63
Hören wir dieselbe Melodie, wenn das Band noch e......Page 67
Gibt es Probleme, die nicht zu lösen sind?......Page 71
Ist eine Quantentheorie der Schwerkraft möglich?......Page 74
Der Quantenlöscher......Page 78
Wie spät ist es?......Page 82
Und die Zeitreise?......Page 85
Gravitationswellen: ein neues Fenster zum Weltall?......Page 89
Wie kalt kann es werden?......Page 93
3. Astronomie und Kosmologie......Page 96
Woraus besteht dunkle Materie?......Page 97
Wie sind Galaxien entstanden?......Page 101
Wie alt ist das Weltall?......Page 104
Wo sind die fehlenden Neutrinos von der Sonne?......Page 108
Wie wird das Weltall enden?......Page 111
Wie viele andere Sterne haben Planeten?......Page 114
Ist da jemand?......Page 118
Wie launisch ist die Sonne?......Page 122
Was sind Quasare?......Page 125
Wo sind Schwarze Löcher?......Page 129
Parallelwelten und so......Page 132
Warum ist Pluto so eigenartig?......Page 135
4. Meteorologie, Geologie und Planetologie......Page 138
Hatte Malthus doch Recht?......Page 139
Erwärmt sich das Klima?......Page 143
Wie stabil ist das Klima?......Page 146
Warum stimmt die Kohlenstoffbilanz nicht?......Page 150
Kommt uns die Ozonschicht abhanden?......Page 154
Können - und sollten wir das Klima verändern?......Page 157
Schmilzt das antarktische Binneneis?......Page 160
Wie bewegt sich der Erdmantel?......Page 164
Warum kehrt sich das Magnetfeld der Erde um?......Page 168
Wie genau lassen sich Vulkanausbrüche vorhersage......Page 171
Wird man Erdbeben vorhersagen können?......Page 174
Warum gibt es Erdbeben in Missouri?......Page 178
Wie genau lässt sich das Wetter vorhersagen?......Page 182
War es auf dem Mars einmal feuchter und wärmer?......Page 186
Wird ein Asteroid uns treffen?......Page 190
Wie werden wir das Sonnensystem erforschen?......Page 194
Was ist das Erdbeobachtungssystem?......Page 198
5. Biologie......Page 201
Wie werden Gene gesteuert?......Page 202
Wie entwickelt sich ein Organismus aus einer einzigen befruchteten Eizelle?......Page 206
Wie wird die DNS repariert?......Page 210
Warum sterben Zellen?......Page 214
Warum sieht ein Protein so und nicht anders aus?......Page 218
Die Wundermoleküle......Page 221
Humanes Genomprojekt, was nun?......Page 224
Welche ethischen Standards gelten für molekulare......Page 227
Was kommt nach der Pille?......Page 231
Können wir ewig leben?......Page 234
Wie »sieht« das Gehirn?......Page 238
Wie kommt der Kopf zum Geist?......Page 241
Sind Männer noch das, was sie mal waren?......Page 244
Was kostet das Ökosystem?......Page 247
Der Angriff der Killerbienen......Page 250
6. Medizin......Page 254
Krankheitsursachen? Befragen Sie Ihre Gene!......Page 255
Was geschieht, wenn Antibiotika nicht mehr wirken?......Page 258
Neue Wunderkugeln?......Page 261
Wie funktioniert das Immunsystem?......Page 264
Warum greift das Immunsystem nicht die eigenen Zellen an?......Page 267
Welche Ursachen hat Krebs?......Page 271
Verlieren wir den Krieg gegen Krebs?......Page 275
Lassen sich Antikörper gezielt herstellen?......Page 278
Wann wird AIDS heilbar sein?......Page 281
Wo sind die neuen Impfstoffe?......Page 285
7. Evolution......Page 289
Woher stammt der Jetztmensch?......Page 290
Der molekulare Ursprung des Menschen......Page 293
Warum sind wir so klug?......Page 297
Wer war der erste Mensch?......Page 301
Wie schnell verläuft die Evolution?......Page 305
Gab es Leben auf dem Mars?......Page 308
Was ist bloß mit dem Neandertaler passiert?......Page 311
Spricht hier jemand Nostratisch?......Page 315
8. Technologie......Page 319
Wenn man einen Menschen zum Mond schicken kann, w......Page 320
Wie leistungsfähig können Mikrochips sein?......Page 323
Wird es Lichtcomputer geben?......Page 326
Müssen Computer aus Silizium sein?......Page 329
Werden Computer lernfähig?......Page 333
Wie klein kann ein elektrischer Schaltkreis sein?......Page 336
Wohin führt uns die Nanotechnologie?......Page 339
Wie virtuell ist Ihre Realität?......Page 343
Die Zukunft der Fuzzy Logic......Page 347

Lauter Gründe, warum die Welt ganz anders ist. Die Rätsel des Kosmos, die Grenzen des Wissens.
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Zitiervorschau

James Trefil

Lauter Gründe, warum die Welt ganz anders ist Die Rätsel des Kosmos die Grenzen des Wissens

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Warum altern wir? Wie konnte sich Leben entwickeln? Wie können wir Vulkanausbrüche voraussagen? Wird AIDS heilbar sein? Werden Gehirntumoren, einmal durch eine Spritze therapierbar sein? Viele Fragen, die jeden beschäftigen, gehören gleichzeitig zu den spannendsten ungelösten Rätseln der Wissenschaft. Der renommierte Wissenschaftler James Trefil nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die faszinierende Welt der Forscher und Entdeckungen. ISBN 3-426-77323-6 Originalausgabe "The Edge of the Unknown" Aus dem Amerikanischen von Johannes Schwab 1998 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf Umschlaggestaltung: Agentur Zero, München Umschlagfotos: The Image Bank, München

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Über den Autor James Trefil ist Professor für Physik an der George Mason University. Er ist Autor zahlreicher Wissenschaftsbücher und wurde für seine Tätigkeit als Wissenschaftsjournalist ausgezeichnet.

Meinen alten Freunden Jeff und Vicki und meinen neuen Freunden Jared und Seth

Inhalt Einleitung ................................................................................................................ 7 1. Die Top-Ten-Probleme der Wissenschaft ................................................... 14 Warum gibt es etwas anstatt nichts?............................................................ 15 Hat die Gentherapie eine Zukunft?............................................................... 18 Werden wir das Geheimnis unseres Bewusstseins jemals lüften? .......... 22 Warum altern wir? ........................................................................................... 26 Wie stark wird das menschliche Verhalten durch Vererbung geprägt?. 29 Wie entstand das Leben?................................................................................ 32 Kann man das Gehirn überwachen?............................................................. 36 Werden Viren uns besiegen?......................................................................... 40 Wann gibt es Designermedikamente?.......................................................... 43 Gibt es eine Theorie von allem? ................................................................... 47 2. Physik ................................................................................................................ 51 Gibt es wirklich eine Wissenschaft der Komplexität? .............................. 52 Lässt sich die Welt simulieren?..................................................................... 55 Wie weiter ohne den Super-Teilchenbeschleuniger? ................................ 59 Wie chaotisch ist die Welt? ........................................................................... 63 Hören wir dieselbe Melodie, wenn das Band noch einmal läuft? ........... 67 Gibt es Probleme, die nicht zu lösen sind? ................................................. 71 Ist eine Quantentheorie der Schwerkraft möglich?.................................... 74 Der Quantenlöscher......................................................................................... 78 Wie spät ist es?................................................................................................. 82 Und die Zeitreise? ........................................................................................... 85 Gravitationswellen: ein neues Fenster zum Weltall? ................................ 89 Wie kalt kann es werden? .............................................................................. 93 3. Astronomie und Kosmologie ......................................................................... 96 Woraus besteht dunkle Materie?................................................................... 97 Wie sind Galaxien entstanden?...................................................................101 Wie alt ist das Weltall? .................................................................................104 Wo sind die fehlenden Neutrinos von der Sonne?...................................108 Wie wird das Weltall enden?.......................................................................111 Wie viele andere Sterne haben Planeten?..................................................114 Ist da jemand? ................................................................................................118 Wie launisch ist die Sonne?.........................................................................122 Was sind Quasare? ........................................................................................125 Wo sind Schwarze Löcher? .........................................................................129 Parallelwelten und so....................................................................................132

Warum ist Pluto so eigenartig? ...................................................................135 4. Meteorologie, Geologie und Planetologie .................................................138 Hatte Malthus doch Recht?..........................................................................139 Erwärmt sich das Klima? .............................................................................143 Wie stabil ist das Klima?..............................................................................146 Warum stimmt die Kohlenstoffbilanz nicht?............................................150 Kommt uns die Ozonschicht abhanden?...................................................154 Können - und sollten wir das Klima verändern?......................................157 Schmilzt das antarktische Binneneis?........................................................160 Wie bewegt sich der Erdmantel? ................................................................164 Warum kehrt sich das Magnetfeld der Erde um? .....................................168 Wie genau lassen sich Vulkanausbrüche vorhersagen?..........................171 Wird man Erdbeben vorhersagen können?...............................................174 Warum gibt es Erdbeben in Missouri?.......................................................178 Wie genau lässt sich das Wetter vorhersagen?.........................................182 War es auf dem Mars einmal feuchter und wärmer? ...............................186 Wird ein Asteroid uns treffen?....................................................................190 Wie werden wir das Sonnensystem erforschen?......................................194 Was ist das Erdbeobachtungssystem? ........................................................198 5. Biologie ...........................................................................................................201 Wie werden Gene gesteuert?.......................................................................202 Wie entwickelt sich ein Organismus aus einer einzigen befruchteten Eizelle? ............................................................................................................206 Wie wird die DNS repariert? .......................................................................210 Warum sterben Zellen?.................................................................................214 Warum sieht ein Protein so und nicht anders aus?..................................218 Die Wundermoleküle ....................................................................................221 Humanes Genomprojekt, was nun?............................................................224 Welche ethischen Standards gelten für molekulares Wissen?...............227 Was kommt nach der Pille? .........................................................................231 Können wir ewig leben?...............................................................................234 Wie »sieht« das Gehirn? ..............................................................................238 Wie kommt der Kopf zum Geist?...............................................................241 Sind Männer noch das, was sie mal waren?..............................................244 Was kostet das Ökosystem?.........................................................................247 Der Angriff der Killerbienen.......................................................................250 6. Medizin ............................................................................................................254 Krankheitsursachen? Befragen Sie Ihre Gene!.........................................255 Was geschieht, wenn Antibiotika nicht mehr wirken?............................258 Neue Wunderkugeln? ...................................................................................261 Wie funktioniert das Immunsystem?..........................................................264

Warum greift das Immunsystem nicht die eigenen Zellen an?..............267 Welche Ursachen hat Krebs?.......................................................................271 Verlieren wir den Krieg gegen Krebs?......................................................275 Lassen sich Antikörper gezielt herstellen?................................................278 Wann wird AIDS heilbar sein? ...................................................................281 Wo sind die neuen Impfstoffe? ...................................................................285 7. Evolution.........................................................................................................289 Woher stammt der Jetztmensch? ................................................................290 Der molekulare Ursprung des Menschen ..................................................293 Warum sind wir so klug? .............................................................................297 Wer war der erste Mensch?.........................................................................301 Wie schnell verläuft die Evolution? ...........................................................305 Gab es Leben auf dem Mars?......................................................................308 Was ist bloß mit dem Neandertaler passiert?............................................311 Spricht hier jemand Nostratisch?................................................................315 8. Technologie ....................................................................................................319 Wenn man einen Menschen zum Mond schicken kann, warum gibt es dann kein anständiges Elektroauto?...........................................................320 Wie leistungsfähig können Mikrochips sein?...........................................323 Wird es Lichtcomputer geben? ...................................................................326 Müssen Computer aus Silizium sein? ........................................................329 Werden Computer lernfähig? ......................................................................333 Wie klein kann ein elektrischer Schaltkreis sein?....................................336 Wohin führt uns die Nanotechnologie?.....................................................339 Wie virtuell ist Ihre Realität? ......................................................................343 Die Zukunft der Fuzzy Logic ......................................................................347

Einleitung

In diesem Buch werfe ich einen Blick auf jenes außerordentlich vielgestaltige Unterfangen, das man Wissenschaft nennt, und berichte Ihnen von den offenen Fragen, die an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend die Triebfedern der Forschung sind. Deren Ergebnisse werden die Welt und Ihr Leben auf mannigfaltige Weise wandeln. Die Konstruktion Ihres Wagens, Ihr Besuch in der Arztpraxis und die Art Ihrer Ernährung sind nur einige der Dinge, die sich verändern werden. Eine der Kardinalsünden von Wissenschaftsautoren besteht darin, vom Anspruch besessen zu sein, alles - und das auch noch vollständig - erklären zu wollen. Dadurch muss sich der Leser erst durch Berge von Hintergrundinformationen kämpfen, bevor er zum Kern der Sache vordringt. Ich war für diesen Fehler nicht weniger anfällig als andere Autoren auch und habe mir in diesem Buch deshalb einen bestimmten Standard gesetzt: Jedes der wissenschaftlichen Themen wird auf maximal vier Seiten abgehandelt. Sie interessieren sich für die aktuellen Theorien über die Entstehung von Krebs? Blättern Sie auf Seite 288, und auf drei Seiten erhalten Sie einen knappen Überblick. Sie wollen etwas über die Technologie von Elektroautos erfahren? Schlagen Sie auf Seite 341 nach. Ein Vorteil dieser Knappheit ist, dass Sie rasch an bestimmte Informationen kommen, ohne eine Menge Hintergrundmaterial wälzen zu müssen. Es bedeutet auch, dass Sie die Themen nicht in einer bestimmten Reihenfolge lesen müssen. Ja, dieses Buch soll nicht einmal von Anfang bis Ende gelesen werden. Man soll darin herumblättern. Jedes Kapitel steht für sich. Sie können eines davon lesen, um sich das nötige Hintergrundwissen zu einem Zeitungsartikel anzueignen. Sie können die Querverweise am Ende des Buches lesen, um verwandte Themen zu finden, die über das Buch -7-

verstreut sind. Wenn Sie dieses Buch dennoch von vorn bis hinten lesen, werden Sie gelegentlich feststellen, dass ich manche Informationen wiederholen musste, damit jeder InfoBlock für sich stehen kann. Natürlich hat diese Knappheit auch ihre Nachteile. Auf drei Seiten kann ich bei keinem Thema besonders in die Tiefe gehen. Sie werden hier kaum historische Zusammenhänge finden und keine umfangreichen Erörterungen der philosophischen Konsequenzen wissenschaftlicher Entdeckungen. Aber das macht auch nichts - meine Kollegen haben eine stattliche Anzahl von Büchern geschrieben, die derartige Themen behandeln. Welches sind heute die wichtigsten offenen Fragen der Wissenschaft, und nach welchen Kriterien filtert man sie heraus? Jedem Wissenschaftler erscheint natürlich das eigene Forschungsgebiet am wichtigsten, und er räumt nicht gerne ein, dass ein anderes Thema vielleicht noch bedeutender sein mag. Dennoch sind, um George Orwell abzuwandeln, alle Ideen zwar gleich, aber manche noch gleicher als andere. Es ist eine unbestrittene und in der Welt der Wissenschaft auch tausendfach beschriebene Tatsache, dass manche Fragen einfach wichtiger sind als andere. Als ich das erste Mal darüber nachdachte, war ich zunächst geneigt, alle wichtigen wissenschaftlichen Fragen in der Reihenfolge ihrer Bedeutung von l bis 93 aufzulisten. Diese Idee gab ich aber wieder auf, als ich überlegte, ob ich in einer solchen Liste wirklich eine vernünftige Entscheidung zwischen den Punkten 77 und 82 treffen könnte. So beschloss ich, eine »Top-Ten-Liste« der zehn wichtigsten Fragen zusammenzustellen und die übrigen nach Themenkreisen zu ordnen. In gewissem Maße ist die Auswahl der Themen zu einem solchen Buch genauso subjektiv und willkürlich wie die Aufnahme von Fragen in die Top-Ten-Liste. Ich behaupte aber, dass diese Entscheidungen viel weniger beliebig sind, als Sie vielleicht glauben. Der Grund hat mit dem Aufbau der -8-

Wissenschaft zu tun. Das Wissen entspricht einem Baumstamm, bei dem um das Kernholz eine dünne Schicht lebendes Gewebe heranwächst. Die grundlegenden wissenschaftlichen Prinzipien Newtons Bewegungsgesetze, die natürliche Auslese und anderes - befinden sich im Kern und dürften sich kaum noch verändern. Doch um diesen Kern herum arbeiten Forscher daran, zu unserem Wissen beizutragen, und dort werden die Antworten auf die Fragen in diesem Buch gegeben. Im Grunde sind die in diesem Buch behandelten Fragen also das Ergebnis einer Beobachtung der Wissenschaft und eine Auswahl der erzielten Fortschritte. Die Auswahl der Themen dieses Buches und der Top-Ten-Liste erfolgte anhand einer Reihe von Kriterien, im Wesentlichen der folgenden (nicht unbedingt in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit): Ist das Problem bedeutungsvoll? Fragen zum Ursprung und Aufbau des Weltalls haben seit Jahrtausenden das menschliche Denken angeregt. Fortschritte in diesem Bereich sind schon an sich bedeutend, und die Aufnahme solcher Fragen bedarf keiner weiteren Rechtfertigung. Ist eine Lösung (oder ein wichtiger Fortschritt) in naher Zukunft wahrscheinlich? Ich habe weniger Wert auf solche Fragen gelegt, die in den nächsten zehn Jahren vermutlich nicht geklärt werden. Aus diesem Grund befasst sich eine der TopTen-Fragen mit den chemischen Ursprüngen des Lebens, während Fragen über das Leben auf anderen Planeten später, in den Kapiteln über Astronomie und Planeten, behandelt werden. Wird die Antwort unser Leben verändern? Wissenschaft und Technologie greifen in unser Leben ein. Viele Themen aus den Bereichen Biologie, Medizin und Technologie wurden aufgenommen, weil sie große Konsequenzen für uns haben dürften. Ist das Thema von großem öffentlichem Interesse? Einige der Themen, die für Wissenschaftler von größter Bedeutung sind, interessieren die Öffentlichkeit nicht besonders, und umgekehrt. -9-

Die Suche etwa nach außerirdischer Intelligenz und Theorien der Zeitreise rangieren bei den meisten Wissenschaftlern auf der Liste der ungeklärten Probleme nicht besonders weit oben, sind für die breite Öffentlichkeit aber von hohem Interesse und tauchen häufig in den Medien auf. Ernster gesprochen beschäftigt uns die Evolution des Menschen viel mehr als die anderer Arten, obwohl es für diese Vorliebe keine stichhaltige wissenschaftliche Begründung gibt. Hat die Frage Auswirkungen auf die Art und Weise, wie wir Wissenschaft betreiben? Gelegentlich wirken sich neue Fortschritte auf einem Gebiet stark auf eine ganze Reihe anderer Wissenschaften aus, und zwar manchmal mit überraschenden Folgen. Deshalb habe ich Fragen aufgenommen, die mit Computersimulation und der Lösbarkeit mathematischer Probleme zu tun haben. Ist die Frage repräsentativ für einen ganzen Themenbereich? Viele Aspekte der Wissenschaft eignen sich nicht für kurze Antworten, weil die Forschung oft eine ganze Reihe verwandter Probleme abdeckt und nicht ein scharf umrissenes Gebiet. In einem solchen Fall wähle ich eine Frage stellvertretend für den gesamten Bereich aus. Die Geschichte des Planeten Pluto zum Beispiel steht für all die kleinen, aber feinen Fragen zu unserem Sonnensystem. Besitzt die Frage Konsequenzen für die Politik? Unser Verständnis der Welt prägt unser Verhalten. So habe ich Umweltfragen wie etwa die mögliche Erwärmung durch den Treibhauseffekt und die Reinigung von Giftmüll aufgenommen, obwohl diese Themen aus rein wissenschaftlicher Sicht vielleicht nicht zu den wichtigsten gehören. Macht es Spaß? Ich bin auch nur ein Mensch. Manchmal finde ich ein Thema einfach besonders spannend und amüsant. Solche Fälle habe ich, oft gegen den klugen Rat von Herausgebern und Freunden, in das Buch aufgenommen. Wenn Sie meine Begeisterung für Killerbienen (Seite 263) nicht teilen, -10-

können Sie zu einer anderen Frage übergehen. Betrachten Sie diese etwas kauzigen Einträge als meine Belohnung für mich selbst - für die Arbeit, die notwendig war, um die anderen, nüchterneren Themen zu präsentieren. Selbst mit diesen Richtlinien blieb die letzte Entscheidung, eine bestimmte Frage aufzunehmen oder nicht, dem persönlichen Urteil vorbehalten. Ich denke, die meisten Wissenschaftler würden - nicht ohne zugleich ein paar Korrekturen einzubringen - beipflichten, dass ich alle entscheidenden Punkte unserer Zunft erwähnt habe. Viele Themen dieses Buches sind, vorsichtig ausgedrückt, umstritten. Zu manchen habe ich eine dezidierte Meinung entweder über die eingeschlagene Richtung oder über die nach dem heutigen Stand der Wissenschaft zu ziehenden politischen Konsequenzen. Ich habe mich bemüht, meine persönliche Meinung jeweils als solche zu kennzeichnen und von den Informationen über das allgemein akzeptierte wissenschaftliche Denken zu trennen. Allzu oft versuchen Autoren, ihre persönliche Sicht dadurch zu untermauern, dass sie ihr den Anstrich wissenschaftlicher Wahrheit geben. Bevor ich Sie auf die Grenzen der Wissenschaft loslasse, will ich Ihnen noch eine Überraschung mitteilen, auf die ich beim Schreiben dieses Buches gestoßen bin. Sie lag nicht darin, dass auf der Welt so viele Fragen offen sind - jeder aktive Wissenschaftler könnte Dutzende solcher Fragen aufzählen. Die Überraschung war vielmehr, dass ich als Physiker die interessantesten und faszinierendsten Grenzen der heutigen Wissenschaft nicht in der Physik oder gar in der Kosmologie fand, sondern in der Biologie. Um mein Erstaunen zu verstehen, müssen Sie wissen, dass es in den letzten Jahrhunderten vor allem Physiker, Chemiker und Astronomen waren, die die Grenzen des Wissens hinausschoben. Die Ergebnisse ihrer Arbeit sind wahrhaft -11-

eindrucksvo ll; unter anderem haben sie die Elektrizität nutzbar gemacht, den digitalen Computer erfunden und die Millionen synthetischer Materialien und Arzneimittel produziert, die wir heute tagtäglich verwenden. Dies hat wohl den Eindruck erweckt, die genannten Wis senschaftszweige würden stets die Vorhut bilden. Natürlich wusste ich von den Umwälzungen, die in der Biologie im Gange sind - ausgelöst durch unser neues Verständnis der Funktionsweise von lebenden Systemen auf Molekularebene und repräsentiert durch die Doppelhelix der DNS. Nicht gefasst war ich dagegen auf die Tiefe und Breite dieser neuen Art von Biologie und auf die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der neue Entdeckungen in die Praxis umgesetzt werden, wie auch auf die Konsequenzen dieser Forschung fü r Gebiete jenseits der Molekularbiologie. In den nächsten Jahren wird es eine Unmenge von Entdeckungen darüber geben, wie lebende Systeme, darunter Körper und Geist des Menschen, funktionieren, und die Konsequenzen dieser Entdeckungen sind noch gar nicht absehbar. Auf den folgenden Seiten habe ich versucht, Ihnen ein Gespür für diese revolutionären Veränderungen zu vermitteln. Die Hälfte meiner Top-Ten-Fragen wie auch die meisten Einträge unter Biologie und Medizin befassen sich auf die eine oder andere Weise mit der Molekularbiologie. Gleichzeitig spielt der Nachweis durch Moleküle eine immer größere Rolle in dem Bemühen, die Entwicklung der Menschheitsgeschichte nachzuvollziehen - ein Bereich, der zuvor ausschließlich Paläontologen, Anthropologen und Linguisten vorbehalten war. Neben der üblichen Aussage, dass ich für alle im Buch verbliebenen Fehler selbst verantwortlich bin, möchte ich zuletzt meinen Freunden und Kollegen Harold Morowitz und Jeff Newmeyer für ihre kritische Lektüre des Manuskripts sowie für wertvolle Einsichten und Kommentare danken. Nach dieser Einleitung können Sie das Buch nun auf einer beliebigen Seite -12-

aufschlagen und Ihre Reise zu den Grenzen der Wissenschaft beginnen! James Trefil, Red Lodge, Montana

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1. Die Top-Ten-Probleme der Wissenschaft

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Warum gibt es etwas anstatt nichts? Warum gibt es überhaupt ein Universum? Wie konnte alles, was wir um uns herum sehen, aus dem Nichts geschaffen werden? Wenn man darüber nachdenkt, wie das Weltall geschaffen wurde, fragt man sich unwillkürlich, was davor da war. Die nahe liegende Antwort lautet »nichts«. Aber was bedeutet »nichts« eigentlich? Das Nachdenken über diese Frage lässt sich am besten dadurch charakterisieren, dass man sagt, das »Nichts« sei heute auch nicht mehr das, was es einmal war. In der Geschichte hatten die Menschen sehr lange ein Problem damit, das Nichts oder Vakuum gedanklich überhaupt zu erfassen - selbst die Anerkennung der Existenz eines solchen Zustands liegt noch nicht lange zurück. Der Grund für diese Schwierigkeit liegt auf der Hand. Haben Sie jemals versucht, sich nichts vorzustellen? Ich schaffe es nicht. Ich kann mir leeren Raum vorstellen, der etwas einschließt (zwei Basketbälle etwa), aber die Abwesenheit von allem - da bin ich überfordert. Dieser Mangel an Phantasie hat unser Denken über die Natur beeinflusst - Wissenschaftler akzeptierten die Existenz des Vakuums erst, als die Ergebnisse wiederholter Experimente sie dazu bewogen. Doch diese Akzeptanz sollte nicht von Dauer sein. Mit dem Aufkommen der Quantenmechanik veränderte sich unser Bild vom Nichts wieder. Die Quantenmechanik behauptet, das Vakuum sei nicht eine passive, träge Abwesenheit von Materie, sondern aktiv und dynamisch. Nach den Gesetzen der Quantenmechanik kann ein Stückchen Materie spontan aus dem Nichts entstehen, vorausgesetzt, dass (1) gleichzeitig ein entsprechendes Stückchen Antimaterie auftaucht und (2) Materie und Antimaterie zusammenkommen und sich gegenseitig so schnell vernichten (wieder im Vakuum -15-

verschwinden), dass ihr Vorhandensein nicht direkt gemessen werden kann. Dieser Prozess wird als Erzeugung eines »virtuellen« Teilchenpaares bezeichnet, das aus Materie und aus Antimaterie besteht. Stellen Sie sich das Vakuum als ebenes Feld vor und die Erzeugung eines virtuellen Paares als das Graben eines Loches, indem man Erde aushebt und aufhäufelt. Dann haben Sie ein Teilchen (den Erdhaufen) und ein Antiteilchen (das Loch), aber wenn Sie die Erde in das Loch zurückschütten, ist das Feld wieder eben. Das moderne Vakuum ähnelt also ein wenig aufspringendem Popcorn, nur kann dieses Popcorn wieder »zusammenspringen«. Und damit Sie nicht glauben, ich würde hier Märchen erzählen, sollte ich darauf hinweisen, dass gelegentlich ein Teilchen auf seiner Flugbahn durch den Raum, etwa ein Elektron, einem dieser virtuellen Paare nahe kommt und durch die Begegnung ganz leicht verändert wird. Diese Veränderung lässt sich nachweisen, und so wird die Vorstellung vom quantenmechanischen Vakuum durch mehr als bloße Phantasie gestützt! Das »Nichts«, aus dem das Weltall entstand, war nicht einfach das Fehlen von allem, sondern ein Nichts mit virtuellen Paaren höchst energiereicher Teilchen, die aufgesprungen sind und sich überall verteilt haben. Wie dieses Vakuum aber genau zu dem Weltall wurde, in dem wir leben, bleibt die große Frage, und es wurden alle möglichen theoretischen Spekulationen darüber vorgebracht, wie das System funktionieren könnte. Ich will Ihnen von meiner Lieblingstheorie berichten, damit Sie sich ungefähr vorstellen können, wie solche Theorien aussehen. Betrachten Sie das »Gewebe« des Weltraums einmal als Membran eines ganz besonderen Ballons. Das Vorhandensein jeder Art von Materie, sogar von virtuellen Teilchenpaaren, sorgt für eine Ausdehnung des Materials, was dem Gravitationsfeld Energie ent zieht, die zur Bildung von Materie -16-

gebraucht wird. Ist die Krümmung stark genug, dehnt sich der Ballon aus. Wenn nach dieser Theorie die virtuellen Paare lange genug aufspringen, sind irgendwann genug zur selben Zeit am selben Ort, um das Gewebe so weit auszudehnen, dass die Expansion in Gang gesetzt wird. Diesen Vorgang bezeichnet man gewöhnlich als Urknall oder Big Bang. Seltsamerweise legen Berechnungen nahe, dass man nicht besonders viel Masse braucht, um diesen Prozess auszulösen - etwa fünf Kilo, zusammengedrückt auf weniger als das Volumen eines Protons, würden durchaus genügen. Nach den meisten Theorien kommt die zur Erzeugung der übrigen Masse des Universums benötigte Energie aus der späteren Verzerrung von Gravitationsfeldern. Diese Version der Schöpfung enthält einige interessante Aspekte. Beispielsweise lässt sie die Möglichkeit offen, dass der Prozess noch im Gange ist und damit womöglich weitere Welten existieren. Außerdem eröffnet sie die Möglichkeit, dass wir durch eine Manipulation von Materie unsere eigenen Welten schaffen könnten - was der Kosmologe Alan Guth als »Weltbausatz« bezeichnet. Und sie liefert Schriftstellern einige äußerst nützliche Zitate. So kommentierte der Physiker Edward Tyron die Tatsache, dass die Schöpfung nichts anderes als ein statistischer Glücksfall sein könnte, mit den Worten: »Vielleicht ist das Universum eines dieser Ereignisse, die ab und zu einfach passieren.«

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Hat die Gentherapie eine Zukunft? Die moderne Medizin besteht zumeist in der Behandlung von Symptomen, bis sich der Körper selbst heilen kann. Tatsächlich gibt es nur drei Bereiche, in denen uns medizinische Fortschritte die Fähigkeit verliehen haben, Krankheiten auszumerzen. Dies sind (1) die Entwicklung des öffentlichen Gesundheitswesens und der Hygiene, (2) die Erfindung der aseptischen Chirurgie mit Betäubungsmitteln und (3) die Entdeckung von Antibiotika. Heute stehen wir vielleicht am Beginn einer vierten Entwicklung, die sich die Methoden der Gentherapie zunutze macht. Bei dieser Methode wird ein neues Gen in eine funktionierende Körperzelle eingesetzt, um einen Defekt in der DNS dieser Zelle zu korrigieren oder der Zelle eine neue Funktion zu geben. Die erste Gentherapie am Menschen wurde 1990 an den National Institutes of Health in den USA durchgefü hrt. Zunächst wurde Blut von Patienten entnommen, die einen äußerst seltenen genetischen Defekt hatten, der sie hinderte, ein bestimmtes Protein zu produzieren. Ein Gen wurde in die entnommenen weißen Blutkörperchen eingesetzt, die sich anschließend einige Tage teilen durften, bis sie dem Patienten erneut injiziert wurden. Mit den zusätzlichen Genen produzierten die neuen Zellen nun das fehlende Protein, und die Patienten wurden vollständig geheilt. Ein Wort zur »Injektion« von Genen in Zellen. Dieses Verfahren mag vielleicht kompliziert erscheinen, aber eine bestimmte Klasse von Viren praktiziert es ständig. Die so genannten »Retroviren« enthalten einige RNS-Stränge und die Enzyme, die notwendig sind, um die RNS in Gene (DNSAbschnitte) zu verwandeln und jene Gene in die DNS einer Wirtszelle einzufügen. In der Gentherapie werden große -18-

Anstrengungen unternommen, die Wirkungsweise von Retroviren zu verstehen und sie den Erfordernissen der medizinischen Praxis anzupassen. Seit diesem ersten Versuch wurden in den Vereinigten Staaten beinahe einhundert Gentherapie-Protokolle zum Einsatz zugelassen. Während für die Grundlagenforschung seltene Krankheiten geeignet waren, werden erste Erfolge der Gentherapie bei viel häufigeren Krankheiten wie Krebs, Mukoviszidose und verschiedenen Blut- und Lungenkrankheiten zu erzielen sein. Erstmals kommerziell wird sie vielleicht bei der Behandlung bestimmter Gehirntumore angewendet. Bei einer solchen Behandlung (für die bereits eine Reihe von Vorstudien durchgeführt wurden) wird ein Retrovirus durch eine Nadel in einen inoperablen Hirntumor injiziert. (Um die Nadel einführen zu können, wird ein kleines Loch in den Schädel gebohrt.) Das Retrovirus enthält in diesem Fall ein »Selbstmord-Gen« ein Gen, das im aktivierten Zustand ein Protein erzeugt, das die Wirtszelle vergiftet und tötet. Ich habe einige Röntgenaufnahmen vor und nach einer solchen Behandlung gesehen, und es grenzt schon an ein Wunder - der Tumor scheint einfach zu verschwinden. Ähnlich hoffnungsvolle Ergebnisse wurden bei Patienten erzielt, die an Mukoviszidose litten, einer Krankheit, die durch die Unfähigkeit der Zellen bedingt ist, Proteine zu erzeugen, die Chlor durch die Zellmembran befördern. In diesem Fall wird das entsprechende Retrovirus durch ein Röhrchen in die Lunge eingeführt. Doch die eigentliche Zukunft der Gentherapie liegt nicht in Verfahren wie Bluttransfusionen oder in Schädel gebohrten Löchern. Sie liegt in der Erzeugung eines Virus, das durch eine gewöhnliche Injektion in den Körper eingeführt werden kann (ganz ähnlich wie bei einer Impfung) und dann (1) selbständig die Zellen aussucht, (2) von diesen Zellen erkannt wird, (3) in die Zellen eindringt und (4) seine genetische Ladung an einer Stelle der DNS seines Wirts einfügt, wo wichtige Zellfunktione n -19-

nicht beeinträchtigt werden. Das scheint ein bisschen viel verlangt, aber natürliche Viren tun dies ständig - Hepatitis B etwa scheint keine Probleme zu haben, unsere Leberzellen zu finden und in sie einzudringen. Ein Retrovirus, das all dies schafft und keine Krankheit hervorruft, würde als therapeutisches Virus bezeichnet - und bei dessen Herstellung sind bereits beachtliche Fortschritte erzielt worden. Alle Zellen haben in ihrer äußeren Membran Moleküle, die man als »Rezeptoren« bezeichnet. Jeder Rezeptor besitzt eine komplexe Form, die zu einem bestimmten Molekül in der Umgebung passt (dieses Molekül »erkennt«). Viren dringen in Zellen ein, wenn sie eine Form präsentieren, die die Rezeptoren erkennen. Auch Wissenschaftler konnten bereits Viren produzie ren, deren äußere Hülle die richtige Form besitzt, um von bestimmten Zellen im menschlichen Körper erkannt zu werden. Werden sie in den Blutkreislauf injiziert, wandern diese Viren solange umher, bis sie die richtigen Zellen finden, an deren Oberfläche sie sich anlagern können. Soweit sind wir im Augenblick. Der Vorgang, bei dem Viren tatsächlich in Zellen eindringen und ihre Gene einfügen, wird noch erforscht. Sobald er verstanden ist (und ich nehme an, dass es bald soweit sein wird), wird man therapeutische Viren herstellen können, die routinemäßig vom Hausarzt gespritzt werden können. 1995 empfahl eine Expertenkommission, dass sich die Forschung im Bereich der Gentherapie vor allem auf diesen Bereich konzentrieren sollte und nicht so sehr auf die Entwicklung klinischer Verfahren. Wenn Sie heute eine bakterielle Infektion haben, gehen Sie zum Hausarzt und erwarten, dass er Ihnen zur Heilung Tabletten oder eine Spritze verabreicht. Können Sie sich dasselbe bei Krebs vorstellen? Genau das ist die Verheißung der Gentherapie. Schließlich werden wir krank, weil irgendwo in unserem Körper einige Moleküle nicht ganz richtig funktionieren. Die Gentherapie verspricht, solche Probleme lösen zu können, Molekül um Molekül. -20-

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Werden wir das Geheimnis unseres Bewusstseins jemals lüften? »Ich denke, also bin ich.« Mit diesen Worten eröffnete der französische Philosoph René Descartes (1596-1650) eine der großen Diskussionen der Neuzeit - eine Diskussion, deren Lösung wir heute nicht näher sind als zu Lebzeiten des Philosophe n. Es handelt sich um die Debatte darüber, was genau es für den Menschen bedeutet, Bewusstsein zu besitzen, zu denken, Gefühle zu haben, die Welt subjektiv zu erfahren. Ich habe sie aus zwei Gründen in meine Top-Ten-Liste aufgenommen: Erstens ist es die einzige zentrale Frage der Wissenschaft, von der wir nicht einmal wissen, wie sie richtig zu stellen ist, und zweitens sehe ich heute die Entwicklung von Methoden und die Herausbildung von Schulen, die mich zu der Überzeugung bringen, dass es sich um die wissenschaftliche Frage des 21. Jahrhunderts handeln wird. Auf allen anderen Gebieten der Wissenschaft kennen wir die grundlegenden Konzepte und Kategorien, die uns erlauben, sinnvolle Fragen zu stellen (worunter ich verstehe, dass man weiß, auf welchem Wege man eine Antwort erhält). In der Kosmologie etwa hat man zwar noch keine vollständig vereinheitlichte Theorie von allem, aber man weiß ziemlich genau, wie eine aussehen würde und wie man vorgehen muss, um sie zu finden. Auf dem Gebiet des Denkens/Gehirns/Bewusstseins weiß man dagegen einfach nicht, wie die entscheidenden Fragen lauten und wie man vorgehen sollte, um sie zu stellen. Sollten wir uns auf die Wirkungsweise von Zellen im Gehirn konzentrieren? Auf die Gehirnfunktionen allgemein? Auf tiefere metaphysische oder philosophische Fragen? Im Moment tappen die Wissenschaftler im Halbdunkel herum, um sich über diese Punkte Klarheit zu verschaffen. Wenngleich es zahlreiche -22-

Ansatzpunkte zu diesem Problem gibt, glaube ich, dass die Forscher im wesentlichen drei Schulen zuzurechnen sind, die ich als Neurophysiologen, Quantenmechaniker und Mystiker bezeichnen will. Der bekannteste der Neurophysiologen ist Francis Crick, Nobelpreisträger und Mitentdecker der DNS-Struktur. Er behauptet, man könne das Bewusstsein verstehen, indem man sich Neuronen oder Ansammlungen von Neuronen im Gehirn betrachte, und all unsere subjektive Erfahrung sei nichts weiter als »das Verhalten einer gewaltigen Ansammlung von Nervenzellen und der mit ihnen verbundenen Moleküle«. Mit anderen Worten: Ihre Empfindungen von Freud und Leid sind nichts anderes als die Aktivität von Milliarden von Neuronen im Gehirn. Wer diesen Weg verfolgt, erforscht die Gehirnfunktionen (vor allem das Sehen) in allen Einzelheiten und versucht, das reiche Panorama menschlicher Erfahrung in diesen Begriffen zu erfassen. Sie vermuten wahrscheinlich, als Physiker würde ich einem derart reduktionistischen Ansatz das Wort reden, aber offen gestanden hoffe ich, dass diese Leute falsch liegen - auch wenn ich in meinen trübseligen Stunden denke, dass sie vielleicht doch Recht haben. Dagegen behaupten die Quantenmechaniker, mit dem englischen Mathematiker Roger Penrose als prominentestem Vertreter, die Gesetze der Physik, welche gewöhnlichen elektrischen Schaltkreisen zugrunde liegen (und das Gehirn in der Darstellung von Neurophysiologen), könnten die ganze Unvorhersagbarkeit und Nichtlinearität des Gehirns nicht adäquat beschreiben. Nach ihrer Überzeugung begreift man das Gehirn so lange nicht, bis man ein grundlegend neues Verständnis des Verhaltens von Materie auf der atomaren Ebene besitzt. An diesem Punkt, behaupten sie, müsse man den Ursprung des Bewusstseins und der Gefühle suchen, denn diese letzte große Lücke in unserem Verständnis des Universums liege an der Grenze zwischen der großen Welt (bestimmt durch die Newtonsche Physik) und der -23-

kleinen Welt (bestimmt durch die Quantenmechanik). Wenn man diese Lücke füllen könne, so ihre Überzeugung, werde man zuletzt eine wahre Theorie des Bewusstseins erhalten. Penrose behauptet, dieses Verständnis werde sich aus einer Quantentheorie der Schwerkraft ergeben. Wenn ich an die dritte Gruppe der Mystiker denke, stellt sich bei mir eine typische Szene aus einem Sciencefiction-Film der fünfziger Jahre ein (ein Genre, von dem ich eine gewisse Abhängigkeit bekennen muss). In diesen Filmen tritt häufig ein weißhaariger, pfeiferauchender Wissenschaftler auf, eine Art Albert-Einstein-Klon, der an einem entscheidenden Punkt seine Überzeugung kundtut: »Es gibt gewisse Dinge, mein Sohn, die der Wissenschaft für immer verborgen bleiben sollten. « Entsprechend argumentieren manche Leute (vor allem Philosophen), dass der Mensch ein Verständnis des Bewusstseins entweder nicht erlangen kann oder nicht erlangen sollte. In einigen Fällen gründen die Argumente auf alten Theorien, dass es unmöglich sei, einen rein geistigen Zustand von einem rein körperlichen System abzuleiten. Andere Argumente, die sich auf Analogien zur Evolution stützen, lauten, dem Menschen fehlten die geistigen Voraussetzungen zum Begreifen des Bewusstseins, denn dazu sei er nie gezwungen gewesen. Doch alle kommen zu demselben Schluss: Die Methoden der Wissenschaft alleine können dieses Problem niemals lösen. Welche Antwort wird man auf diese Frage finden? Meine Vermutung ist, dass sich Bewusstsein als eine Eigenschaft komplexer Systeme erweisen wird. Ich denke, man wird entdecken, dass beim Vorgang der Verknüpfung vieler Neuronen zu einem Gehirn ein Punkt kommt, an dem »mehr« zugleich »anders« wird. Und obwohl sich diese Sichtweise sowohl in das neurophysiologische als auch in das quantendynamische System einfügen ließe, hoffe ich, dass sich das Menschsein nicht darin erschöpft, »eine gewaltige -24-

Ansammlung von Nervenzellen und der mit ihnen verbundenen Moleküle« zu sein.

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Warum altern wir? Mit jedem Lebensjahr klettert diese Frage auf meiner Liste wichtiger Themen weiter nach oben, und falls sie auf Ihrer Liste noch nicht so weit ist, garantiere ich Ihnen, dass sich dies noch ändern wird. Wir werden alle älter, und die Chronologie des Alterns ist uns allen wohlbekannt. Aber warum altern wir? Welcher Mechanismus bewirkt den Alterungsprozess? Gibt es keine Möglichkeit, ihn irgendwie zu steuern? In diesem Bereich werden große Forschungsanstrengungen unternommen, und wahrscheinlich gibt es ebenso viele Theorien des Alterns wie Forscher, die an diesem Thema arbeiten. Gleichwohl lassen sich die meisten Theorien zwei Hauptgruppen zuordnen - nennen wir sie Theorien der »künstlichen Veralterung« und der »Unfallakkumulation«. Beide Theorien beruhen auf einer einfachen Tatsache bei der Entwicklung von Lebewesen: Die natürliche Auslese wirkt durch genetische Unterschiede, die von Eltern an ihre Nachkommen weitergegeben werden. Genetische Abweichungen, die die Chancen des Nachwuchses erhöhen, lange genug zu leben, um sich fortpflanzen zu können, haben eine größere Chance, weitergegeben zu werden, und verbreiten sich ganz allmählich über die Population. Ein Zustand, der erst ins Spiel kommt, nachdem sich ein Organismus fortgepflanzt hat (und normales Altern fällt in diese Kategorie), hat keinen Einfluss auf die Produktion von Nachkommen und ist daher keinem Evolutionsdruck ausgesetzt. Als Wissenschaftler mittleren Alters empfinde ich es nicht gerade als tröstlich, dass ich aus Sicht der Natur vielleicht überflüssig bin, aber so ist es nun einmal. »Künstliche Veralterung« war ein Ausdruck aus den fünfziger und sechziger Jahren, um Produkte zu beschreiben, deren Lebensdauer bewusst begrenzt war. Autos beispielsweise -26-

wurden angeblich so gebaut, dass sie weniger als zehn Jahre hielten, um einen kontinuierlichen Absatz von Neuwagen zu garantieren. (Zumindest glaubten dies die Verbraucher damals.) Auf dem Gebiet des Alterns behaupten Theorien der künstlichen Veralterung, der menschliche Körper sei so gebaut, dass er nach Ablauf seiner nützlichen Lebensspanne den Geist aufgibt, um durch ein neueres Modell ersetzt zu werden. Ein wichtiges Argument für diese Theorien ist die nach dem Biologen Leonard Hayflick benannte Hayflick-Grenze. 1961 gaben Hayflick und seine Mitarbeiter die Ergebnisse eines wichtigen Experiments bekannt. Zellen aus einem menschlichen Embryo wurden in Kulturen eingesetzt, die den kompletten Nahrungsbedarf deckten und sie vor allen schädlichen Einflüssen schützten. Unter diesen idealen Bedingungen wuchsen und teilten sich die Zellen. Wenn eine Zelle aber bei etwa fünfzig Teilungen angelangt war, kam der Prozess zum Stillstand - fast so, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Theorien der künstlichen Veralterung gehen davon aus, dass die Gene in jeder Zelle einen Mechanismus besitzen, der sie abschaltet, wenn ihre Zeit abgelaufen ist. Kritiker der Theorie bestreiten zwar nicht die Existenz der Hayflick-Grenze, behaupten aber, dass die meisten Organismen lange vor deren Erreichen aus anderen Gründen absterben. Theorien der Unfallakkumulation weisen zunächst darauf hin, dass jede lebende Zelle eine komplizierte chemische Fabrik darstellt, die zur Ausübung ihrer Funktion alle möglichen Gerätschaften besitzt. Diese Gerätschaften werden ständig von chemischen Stoffen aus ihrer Umgebung beschossen nicht nur von den Pestiziden und Schadstoffen, von denen wir immer wieder hören, sondern auch von den Abfallprodukten aus genau den chemischen Prozessen, die die Zelle zur Lebenserhaltung durchführen muss. Gemäß diesen Theorien nutzen sich die Abwehrmechanismen der Zelle nach längerer Zeit einfach ab. Altern (und letztlich der Tod) ist die Folge. Im Augenblick -27-

scheinen die Indizien eher für diese Sicht zu sprechen. Die Erforschung des menschlichen Alterns konzentriert sich gegenwärtig auf das Verständnis der chemischen Reaktionen, die zum Alterungsprozess beitragen, sowie auf den Charakter unserer genetischen Abwehrmechanismen. Als mutmaßlicher Übeltäter gilt im Augenblick vor allem eine Gruppe von Stoffen, die unter der Bezeichnung »freie Radikale« bekannt sind und als normale Nebenprodukte des Grundstoffwechsels (und anderer Vorgänge) anfallen. Sobald diese Stoffe frei in der Zelle vorhanden sind, brechen sie zur Zellerneuerung notwendige Moleküle auf, in manchen Fällen auch die DNS selbst. Ein wichtiges Indiz, das auf die freien Radikale als Auslöser des Alterns hinweist, ist die Tatsache, dass Tiere mit einer hohen Stoffwechselrate (und damit einer hohen Produktionsrate freier Radikaler) im Durchschnitt eine kürzere Lebensdauer haben und weniger chemische Stoffe produzieren, um die freien Radikale zu bekämpfen. Man erhofft sich, dass ein Verständnis der Wirkungsweise dieser chemischen Stoffe in unseren Zellen uns in die Lage versetzt, den Prozess des Alterns zu verlangsamen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass unser Höchstalter zunimmt wir wissen so gut wie nichts darüber, warum die Grenze des menschlichen Lebensalters bei etwa 110 Jahren liegt. Die Beschäftigung mit der Frage, ob diese Grenze überschritten werden kann, steckt gerade erst in den Kinderschuhen. Unterdessen zielt die Forschung heute darauf ab, den Verfall im Alter hinauszuschieben, damit wir länger bei Kraft und Gesundheit bleiben. Die Aussicht, so lange aktiv zu bleiben, bis man mit den Stiefeln an den Füßen stirbt, ist doch eigentlich gar nicht so übel, oder?

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Wie stark wird das menschliche Verhalten durch Vererbung geprägt? Diese Frage scheint einfach nicht verschwinden zu wollen. Aber kein Wunder, schließlich wird danach gefragt, ob der Mensch in seinem Verhalten frei ist oder ob seine Handlungen vorbestimmt sind. In ihrer heutigen Form wird diese leidenschaftliche Diskussion in Kategorien der Molekulargenetik geführt. Ist unser Verhalten durch unsere Gene bestimmt, oder wird jeder Mensch ausschließlich durch seine Umgebung geprägt? Um die Mitte unseres Jahrhunderts besaßen die Amerikaner lange Zeit einen fast religiösen Glauben an die zweite Alternative. Der Mensch, so dachten wir, sei unendlich zu vervollkommnen, und wenn sich Leute falsch verhielten, dann nur als Folge ihrer schlechten Umgebung. Es galt die Überzeugung, um den perfekten Menschen zu erhalten, brauche man nur auf seine Umgebung einzuwirken. Anderslautende Berichte wurden bestenfalls als irregeleitet, schlimmstenfalls als ketzerisch betrachtet. Doch die Zeiten haben sich geändert. Genau wie wir erfahren haben, dass viele Krankheiten auf unsere DNS zurückgehen, haben wir auch erkannt, dass die Gene eine wichtige (aber alles andere als ausschließliche) Rolle bei der Bestimmung unseres Verhaltens spielen. Die Hinweise, die für den Meinungsumschwung bei den Verhaltenswissenschaftlern sorgten, waren vielgestaltig. Großangelegte Tierversuche, etwa an Fruchtfliegen oder Ratten, erwiesen eindeutig erbliche Einflüsse auf das Lern- oder Paarungsverhalten. Direkter belegt die umfangreiche Literatur zu detaillierten Zwillingsstudien eindeutig die Bedeutung genetischer Faktoren bei Geisteskrankheit und einer Reihe von Verhaltensweisen, die von -29-

der Berufswahl bei Jugendlichen bis zu allgemeinen kognitiven Fähigkeiten reichen. Solche Studien untersuchen im Allgemeinen entweder eineiige Zwillinge mit identischer DNS vor allem eineiige Zwillinge, die in unterschiedlicher Umgebung aufwachsen oder zweieiige mit unterschiedlicher DNS, aber einer ganz ähnlichen Umgebung. Generell lautet die Schlussfolgerung, die auf Hunderten von Studien basiert, dass für viele Verhaltensweisen zu dreißig bis siebzig Prozent erbliche Faktoren verantwortlich sind. In vielen Fällen liegt der Prozentsatz höher als bei erblich bedingten körperlichen Defekten. So hat sich die Fragestellung in den letzten Jahren verlagert von »Haben Gene einen Einfluss auf das Verhalten?« hin zu »Welches Gen oder welche Gene beeinflussen welches Verhalten?« Doch hier gibt es große Unruhe und kontroverse Diskussionen, da das Bild nicht so einfach ist wie zuvor angenommen. Bei körperlichen Krankheiten (Mukoviszidose etwa) ist es häufig möglich, ein einzelnes Gen oder ein einzelnes Chromosom als Ursache der Krankheit zu identifizieren. Ursprünglich hatte man erwartet, dass Verhaltensweisen demselben Muster folgen würden - dass es etwa ein »Alkoholismus-Gen« oder ein »Aggressivitäts-Gen« gebe. Tatsächlich wurde in dieser Richtung eine ganze Reihe vielbeachteter Thesen aufgestellt, die in der heutigen Diskussion aber untergehen. Im Allgemeinen scheint das »Ein- Gen-einVerhalten-Modell« für Verhaltensweisen zu gelten, bei denen eine klare Unterscheidung zwischen den Menschen mit und denen ohne dieses Merkmal getroffen werden kann. Starke geistige Behinderung und Autismus etwa scheinen in diese Kategorie zu fallen. Doch bei weniger eindeutigen Verhaltensweisen wie Alkoholismus oder manischdepressiven Störungen wurden die ersten Behauptungen, man habe ein eindeutig dafür verantwortliches Gen gefunden, mittlerweile wieder in Frage gestellt. Manchmal ist vielleicht mehr als ein -30-

Gen beteiligt, oder es besteht ein komplexer Austausch zwischen Genen und der Umgebung. Im Falle von Alkoholismus ergibt sich die Komplexität womöglich daraus, dass unterschiedliche Formen der Krankheit auch eine unterschiedliche genetische Basis haben. Neue Methoden, die in Studien an durch Inzucht gezüchteten Ratten entwickelt wurden, geben zur Hoffnung Anlass, dass auch in diesen komplexeren Situationen die Einflüsse durch Umwelt und Vererbung in Zukunft besser zu trennen sind. Dieses Gebiet wurde und wird auch weiterhin stark durch die rasanten Fortschritte in der Molekularbiologie geprägt. Nachdem das menschliche Genom immer präziser kartiert wird, ist es für Forscher möglich geworden, alle dreiundzwanzig Chromosomen in jedem Menschen zu identifizieren. Anstatt wie bisher nach einzelnen Genen zu suchen, werden Forscher in Zukunft ein viel größeres Netz auswerfen und gewaltige Datenmengen sortieren müssen, um Gruppen von Genen zu finden, die sich zwischen Menschen mit einer bestimmten Verhaltensweise und der Gesamtbevölkerung unterscheiden. Sobald mehr solcher Daten zur Verfügung stehen, wird man auch die Bedeutung der Vererbung für das menschliche Verhalten besser begreifen. Ich erwarte aber nicht, dass man jemals an den Punkt kommen wird, dass man glaubt, das Schicksal einer Person werde vollständig von ihren Genen bestimmt. Stattdessen wird man ein realistischeres Bild der Ursachen menschlichen Verhaltens bekommen, wobei sich Umwelt und Vererbung auf komplexe und überraschende Weise überlagern werden. Und ich bin Optimist genug zu glauben, dass wir auf dem besten Wege sind, Menschen zu helfen, deren Verhalten wir heute einfach nicht verstehen - wenn wir die überkommenen »Entwederoder‹‹-Thesen der Vergangenheit hinter uns lassen.

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Wie entstand das Leben? Vor viereinhalb Milliarden Jahren war die Erde ein heißer Ball aus geschmolzenem Gestein. Heute gibt es keinen Ort an ihrer Oberfläche, wo sich keine Spuren des Lebens finden ließen. Wie ist es soweit gekommen? Wir wissen bereits einen großen Teil der Antwort auf diese Frage. Wer schon einmal in einem naturkundlichen Museum war, erinnert sich wahrscheinlich an die Versteinerungen von Dinosauriern - getreue Steinreproduktionen der Knochen heute ausgestorbener Ungeheuer. In den letzten 600 Millionen Jahren ist eine Vielzahl von Versteinerungen entstanden, die nicht nur die Lebensgeschichte von Dinosauriern, sondern auch von vielen anderen Lebensformen für die Nachwelt erhalten haben. Vor dieser Zeit hatten Tiere noch keine Knochen oder sonstigen harten Teile, aus denen Versteinerungen hervorgehen konnten, aber es wurden Abdrücke komplexer Lebensformen (stellen Sie sich Quallen vor) entdeckt, die noch einige hundert Millionen Jahre älter sind. Und selbst aus der Zeit davor wurden, ob Sie es glauben oder nicht, recht eindeutige Beweise für die Existenz einzelliger Organismen gefunden. Vielleicht überrascht es Sie zu erfahren, dass sich Versteinerungen von so mikroskopisch kleinen Organismen wie Bakterien finden lassen, aber genau damit beschäftigen sich Paläontologen seit einiger Zeit. Die Methode sieht so aus: Man findet einen Stein, der vor langer Zeit aus dem Schlamm am Meeresgrund entstand, schneidet ihn in Scheiben und untersucht diese unter einem gewöhnlichen Mikroskop. Wenn Sie Glück (und großes Geschick) haben, stoßen Sie auf Abdrücke von Zellen, die schon sehr lange tot sind. Mit genau dieser Methode konnten Wissenschaftler die Spur des Lebens bis zu ziemlich komplexen Kolonien von Kieselalgen zurückverfolgen, die vor -32-

3,5 Milliarden Jahren lebten. Das Leben auf der Erde muss somit deutlich früher eingesetzt haben. Darüber hinaus ist auch bekannt, dass es in der Frühphase des Sonnensystems einen massiven Trümmerschauer auf die neu entstandenen Planeten gab. Astronomen bezeichnen diese Periode, die sich über die erste halbe Milliarde Jahre der Erdgeschichte erstreckte, als »Großes Bombardement«. Wäre das Leben in dieser Zeit entstanden, wäre es von jedem größeren Einschlag ausgelöscht worden (beispielsweise würde die Energiezufuhr durch einen Asteroiden der Größe von Ohio genügen, um alle Ozeane verdampfen zu lassen). Daraus ergibt sich, dass es ein schmales Zeitfenster gibt - vielleicht fünfhundert Millionen Jahre -, in dem das Leben nicht nur durch unbelebte Materie entstanden sein muss, sondern sich zu einem ziemlich komplexen Ökosystem von Algen entwickelt hat. Seit den fünfziger Jahren ist bekannt, dass man Materialien, von denen man annimmt, dass sie in der frühen Erdatmosphäre vorhanden waren, in Form von Wärme oder elektrischer Entladung Energie zuführen und auf diese Weise Moleküle erzeugen kann, wie sie in lebenden Systemen zu finden sind. Außerdem weiß man, dass solche Prozesse die Weltmeere in relativ kurzer Zeit (geologisch gesprochen) in eine Suppe energiereicher Moleküle verwandeln würden - die so genannte Ursuppe. Heute konzentriert sich die Forschung auf die Frage, wie diese Situation eine selbständige, sich fortpflanzende Zelle entstehen ließ. Hier sind einige gängige Theorien, wie dies vonstatten gegangen sein könnte: • RNS-Welt - RNS, eine enge Verwandte der bekannteren DNS, spielt eine entscheidende Rolle beim Stoffwechsel von Zellen. In jüngster Zeit ist es Wissenschaftlern gelungen, kurze RNS-Abschnitte zu erzeugen, die sich in der richtigen Nährlösung selbst reproduzieren können. Entspricht diese -33-

Methode dem ersten Schritt auf dem Weg zum Leben? • Lehmwelt - bestimmte Lehmarten besitzen eine statische elektrische Ladung auf ihrer Oberfläche. Diese Ladungen könnten Moleküle aus der Suppe angezogen und miteinander verbunden haben. Nach ihrer Entstehung trieben diese Moleküle sogleich fort und trugen nur indirekte Hinweise auf ihren Ursprung in sich. • Ur-Ölschlick - meine Lieblingsthese. Danach haben dieselben chemische n Prozesse, die auch zur Ursuppe führten, jene Moleküle hervorgebracht, die Fetttröpfchen in einem Suppentopf bilden. Jedes Tröpfchen beinhaltete eine andere Mischung chemischer Substanzen und war damit ein eigenes Experiment zur Entstehung des Lebens. Nach dieser Theorie wuchs das erste Tröpfchen, dessen chemische Zusammensetzung eine Fortpflanzung erlaubte, teilte sich und wurde so zu unser aller Vorfahr. Unabhängig davon, welcher dieser (oder anderer) theoretischen Prozesse nun tatsächlich stattfand, musste die erste lebende Zelle jedenfalls innerhalb von wenigen hundert Millionen Jahren erzeugt werden, und diese Tatsache wiederum eröffnet die faszinierendste Perspektive von allen. Wenn sich primitives Leben tatsächlich so einfach reproduzieren lässt, wird früher oder später (ich vermute früher) jemand diesen Prozess im Labor nachvollziehen. Das Ergebnis eines solchen Experiments wird sich im Vergleich zu den heute einfachsten Zellen nicht gerade eindrucksvoll ausnehmen, aber im Grunde doch denselben biochemischen Aufbau besitzen. Heutige Zellen hatten schließlich 4 Milliarden Jahre Zeit, um im Prozess der natürlichen Auslese ihre Fähigkeit im Umgang mit der Umgebung zu verbessern. Die Experimente dürften höchstwahrscheinlich einen trägen Klecks aus chemischen Substanzen ergeben, die von Fettmolekülen umgeben sind, welche wiederum Energie und Materialien aus der Umgebung -34-

aufnehmen und sich reproduzieren. Mit diesem Klecks wird jedoch das letzte Glied in der Kette zwischen der toten Erde vor 4 Milliarden Jahren und uns geschmiedet.

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Kann man das Gehirn überwachen? Alles, was unser Menschsein ausmacht - die Gedanken, die Träume, die schöpferischen Impulse -, kommt aus einer Gehirnregion, die herausgelöst und flach auseinandergerollt nicht mehr Fläche einnehme n würde als eine große Serviette. Es ist die Großhirnrinde, die äußere Hülle des Gehirns. Heute erfahren Wissenschaftler durch die neue Methode der funktionalen Kernspinresonanztomographie, wie dieses menschlichste aller menschlichen Organe funktioniert. Die Bedeutung dieses Durchbruchs ist kaum zu überschätzen. Vor nicht allzu langer Zeit bestand die einzige Möglichkeit zur Erforschung der Gehirnfunktion darin, ein radioaktives Isotop in ein Tier zu injizieren, dieses zu töten und das Gehirngewebe zu sezieren. Dann konnte man untersuchen, wie sich das Isotop in verschiedenen Regionen ansammelte, und daraus schließen, welche Bereiche des Gehirns aktiv gewesen waren. Später wurden bei der Methode der Positronenemissionstomographie (PET) Moleküle mit einem radioaktiven Sauerstoffisotop in den Blutkreislauf eines Patienten eingeführt. Innerhalb von wenigen Minuten fand der radioaktive Zerfall des Sauerstoffisotops statt, bei dem Positronen abgegeben wurden, die außerhalb des Körpers nachzuweisen waren. Auf einem so genannten »PETScan« konnte man erkennen, wie bestimmte Regionen »aufleuchteten«, wenn sie für die entsprechenden Aufgaben mehr Blut benötigten. Später wurden dann Moleküle, die nur mit bestimmten Rezeptoren in ganz besonderen Zellen interagieren, mit radioaktiven Markern versehen. Das Ergebnis: eine Karte der Stellen im Gehirn, wo bestimmte Moleküle ihre Arbeit verrichten. Wie die bekanntere Kernspinresonanztomographie wurde die funktionale Kernspinresonanztomographie in der Medizin zu -36-

einem gängigen Hilfsmittel. Bei beiden Methoden wird ein Material zwischen die Pole eines großen Magneten gesetzt; die Protonen, die den Kern der Wasserstoffatome dieses Materials bilden, vollführen dann eine Bewegung, die man als Präzession bezeichnet. Stellen Sie sich das Proton als einen Kreisel vor, der sich schnell um die eigene Achse dreht. Wenn diese Achse zusätzlich langsam einen Kreis beschreibt, sagt man, das Proton präzessiert. Die Geschwindigkeit, mit der Protonen präzessieren, hängt exakt von der Stärke des Magnetfelds ab. Wenn man Radiowellen durch ein Material schickt, dessen Protonen präzessieren, interagieren die Wellen, deren Kämme der Präzessionsfrequenz entsprechen, mit den Protonen. Normalerweise sendet man Radiowellen in unterschiedlichen Winkeln durch das Gewebe, misst, was davon durchkommt, und konstruiert anschließend anhand der Radiomuster mit dem Computer ein dreidimensionales Bild des Gewebes, durch das die Wellen gegangen sind. Bei der gewöhnlichen (oder strukturellen) Kernspinresonanztomographie bestimmt man anhand der Stärke der Interaktion die Zahl der Protonen an verschiedenen Stellen, woraus sich detaillierte Karten verschiedener Körperorgane erstellen lassen. Die funktionale Kernspinresonanztomographie arbeitet ganz ähnlich, nur ist sie fein genug, um auch kleinste Veränderungen im Magnetfeld an der Position der Protonen zu messen, und zwar sogar jene, die durch Veränderungen der Durchblutung hervorgerufen werden. Diese winzigen Schwankungen im Magnetfeld zeigen, welche Teile des Gehirns mehr Blut brauchen, wenn eine bestimmte Aufgabe erfüllt wird. Um einem Gehirn bei der Arbeit zuzusehen, muss man also nur eine Versuchsperson bitten, sich in einen Kernspinresonanztomographen zu legen und eine geistige Aufgabe auszuführen, etwa an ein bestimmtes Wort zu denken. Der Computer erstellt ein Bild des Gehirns, auf dem die Regionen, die mehr Blut erhalten, aufleuchten. Die neuesten -37-

Geräte sind so genau, dass sie Regionen von einem Quadratmillimeter Größe unterscheiden können. Diese feine Auflösung ist wichtig, denn das Gehirn ist ein hochgradig spezialisiertes Organ, in dem jede Region - insgesamt gibt es etwa tausend - bestimmte Aufgaben erfüllt. Wenn Sie etwa einen Moment lang die Augen schließen und sie dann wieder öffnen, sind mit der scheinbar mühelosen Wiederherstellung des Bildes Ihrer Umgebung Neuronen in Dutzenden verschiedener Bereiche des Gehirns befasst. Einige Bereiche sind nur mit dem Rand des Gesichtsfelds beschäftigt, andere mit dem Zentrum usw. Die anhand dieser neuen Methode gewonnenen Einsichten betreffen den Kernbereich der Funktionsweise des Gehirns. So wurden in einer Studie zweisprachigen Versuchspersonen Aufgaben gestellt, bei denen von ihnen verlangt wurde, zwischen ihren beiden Sprachen hin und her zu wechseln. Dabei stellte man fest, dass die unterschiedlichen Sprachen keine unterschiedlichen Gehirnregionen brauchen. Dies scheint die von Linguisten derzeit vertretene Theorie zu stützen, dass das Gehirn für die Sprache »fest verdrahtet« ist und verschiedene Sprachen wie verschiedene Programme sind, die auf derselben Hardware laufen. Das Endziel der funktionalen Kernspinresonanztomographie und der Positronenemissionstomographie besteht darin, eine Karte der gesamten Großhirnrinde zu erstellen, aus der ersichtlich wird, welche Regio nen alleine oder zusammen bei welchen geistigen Tätigkeiten angeregt werden. Dahinter steckt die Vorstellung, dass sich bei jeder geistigen Tätigkeit, ob man nun grün sieht oder an ein Walross in der Badewanne denkt, genau sagen lässt, welche Teile der Großhirnrinde beteiligt sind. Wie die Kartierung des menschlichen Genoms ist auch die Kartierung des Gehirns ein ganz zentrales Unterfangen, dem man nur mit Hochachtung begegnen kann. Wie können wir uns glücklich schätzen, in der Zeit zu leben, da diese beiden Karten erstellt werden. -38-

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Werden Viren uns besiegen? Sie werden sich wahrscheinlich erinnern, dass die in Star Trek (Raumschiff Enterprise) praktizierte Medizin sehr fortschrittlich war. Man betrieb Gehirnchirurgie, indem man den Patienten etwas auf die Stirn legte, und man erstellte umfassende Diagnosen, während der Patient von Gerätschaften umgeben auf dem Bett lag. Trotz aller Kunstfertigkeit hatte man aber noch kein Mittel gegen Erkältung erfunden. Je mehr wir über die Wirkung von Viren auf den menschlichen Körper erfahren, desto mehr erscheint diese kleine Pointe als erstaunlich präzise Prophezeiung. Ein Virus ist entweder die komplizierteste tote Materie, die wir kennen, oder das einfachste Lebewesen, je nachdem, wie wir »Leben« definieren. Es besteht aus Molekülen der DNS oder der damit eng verwandten RNS, die von einer Proteinschicht überzogen sind. Diese äußere Schicht überlistet die Zellen und gaukelt ihnen vor, dass das Virus hineingehört. Sobald das Virus dann in das Innere der Zelle eingedrunge n ist, wirft es seine Hülle ab und nutzt den Stoffwechsel der Zelle, um weitere Viren zu produzieren. Dies geht so lange, bis die Ressourcen der Zelle verbraucht sind und sie stirbt, während die entstandenen Viren weiterziehen und in andere Zellen eindringen. Auch wenn sich ein Virus somit nicht selbständig fortpflanzen kann wie ein Lebewesen, gelingt ihm die Reproduktion, sofern die richtige Zelle vorhanden ist. Die Lebensweise des Virus erklärt, warum sich Viruserkrankungen so schwer bekämpfen lassen. Eine von Bakterienbefall verursachte Krankheit kann man durch Antibiotika in den Griff bekommen. Viele Antibiotika wirken dadurch, dass sie sich an Moleküle anlagern, die für die Entstehung der Außenwand eines Bakteriums wichtig sind, und deshalb verhindern, dass sich eine neue Zellwand bildet. Doch ein Virus hat keine Zellwand, und jeder Wirkstoff, der die Zelle abtöten würde, in der ein Virus -40-

zugange war, würde auch alle gesunden Zellen in der Umgebung abtöten. Um ein Virus zu bekämpfen, muss man in den Stoffwechsel der Zelle selbst gelangen, doch ist man gerade erst dabei, dies zu lernen. So besteht der beste Schutz gegen Viren bislang in Impfstoffen, die das Immunsystem des Körpers mobilisieren. Mit solchen Impfstoffen wurden die Pocken weltweit ausgerottet, und heute stellen Viruserkrankungen wie Kinderlähmung in diesem Lande keine große gesundheitliche Gefahr mehr dar. Die Verbreitung von AIDS ist dagegen eine tödliche Erinnerung daran, was eine Viruskrankheit anrichten kann, wenn ein wirksamer Impfstoff fehlt. Zwei Eigenschaften von Viren machen diese besonders gefährlich: ihre Mutationsrate und ihre Fähigkeit, Nukleinsäuren von einem Virus zum anderen zu transportieren. Wenn sich Zellen im Körper teilen, sind komplizierte »Korrekturlesemechanismen« am Werk, die sicherstellen, dass die kopierte DNS dieselbe ist wie im Original, und zwar mit einer Fehlerquote von weniger als eins zu einer Milliarde. Bei Viren gibt es ein derartiges Korrekturlesen dagegen nicht. Messungen haben ergeben, dass ein einziger Kopiervorgang der DNS im Virus, das für AIDS verantwortlich ist, eine Fehlerquote von eins zu zweitausend aufweisen kann. Das bedeutet, dass Viren mit einer Geschwindigkeit mutieren, die bei zellulären Lebensformen niemals vorkommt. Wenn außerdem zwei oder mehr Viren dieselbe Zelle angreifen, tauschen sie mitunter Elemente ihrer DNS oder RNS aus und erzeugen dabei ein ganz neues Virus. Da diese beiden Eigenschaften zusammenwirken, ist das menschliche Immunsystem laufend neuen Viren ausgesetzt. Dies ist einer der Gründe, weshalb man sich jedes Jahr gegen neue Formen der Grippe impfen lassen muss. Außerdem kann deshalb ein Virus, das zuvor auf Affen beschränkt war, plötzlich auf den Menschen übergreifen und ihn infizieren. Als noch nicht -41-

so viel gereist wurde, konnte ein besonders tödliches Virus die Bevölkerung in einem kleinen Gebiet stark dezimieren oder sogar auslöschen - denken Sie nur an den Ausbruch des EbolaVirus 1995 in Zaire. Selbst bei solch schlimmen Katastrophen war die Menschheit in gewisser Weise geschützt, da das letzte Virus mit dem letzten Wirt ausstarb. Durch das heutige Verkehrsnetz kann sich ein neues Virus dagegen über alle Kontinente verbreiten, bevor wir überhaupt von seiner Existenz wissen. Da der Mensch die Wildnis immer weiter zurückdrängt, stößt man auf immer mehr Viren, zu denen zuvor kein Kontakt bestanden hatte, und gibt ihnen so die Chance, einen neuen Wirt zu finden. Gegen solche Viren besitzt der Mensch keinen natürlichen Schutz. So glaubt man, dass das ursprüngliche AIDS-Virus die mutierte Form eines Virus war, das zuvor nur Affen befallen hatte. Um diese tödliche Krankheit auf die Welt loszulassen, brauchte sich nur ein Jäger in den Finger zu schneiden, als er gerade einem Affen das Fell abzog, der mit dem mutierten Virus infiziert war. Wollen Sie einen richtigen Alptraum hören? Stellen Sie sich ein Virus wie das AIDS-Virus vor, bei dem der Wirt am Leben bleibt und die Krankheit noch jahrelang übertragen kann. Dann stellen Sie sich vor, dass sich das Virus wie Grippe oder eine ganz normale Erkältung durch die Luft verbreitet. Wie viele Milliarden Menschen würden sterben, bevor wir es in den Griff bekämen? Mit den Worten des Nobelpreisträgers Joshua Lederberg: »Die Viren bleiben unsere einzige echte Konkurrenz um die Herrschaft auf dem Planeten. Das Überleben der Menschheit ist nicht vorherbestimmt. «

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Wann gibt es Designermedikamente? Bei jedem Einnehmen einer Medizin, ob Aspirin-Tablette oder Hightech-Wundermittel, vertrauen Sie implizit auf zwei Eigenschaften des Universums. Die erste Eigenschaft ist, dass das Leben, von Amöben bis zu Menschen, auf Chemie basiert. Jede Zelle in Ihrem Körper lässt sich als komplexe chemische Raffinerie interpretieren, mit Tausenden von unterschiedlichen Molekülen, die in Ihrem Körper herumjagen und ihre jeweiligen Aufgaben erfüllen. Die zweite Eigenschaft von Lebewesen besteht darin, dass die Wirkung all dieser Moleküle von ihrer dreidimensionalen Geometrie und einigen anderen einfachen Merkmalen abhängt. Damit sich zwei Moleküle zu einem dritten zusammenschließen, müssen sie so geformt sein, dass die Atome auf ihrer Oberfläche Bindungen eingehen können, um die Moleküle zusammenzuschließen. Die Funktion eines Moleküls in einem lebenden System hängt von seiner Form ab. Und an dieser Stelle kommen die Medikamente ins Spiel, da die Funktion der Moleküle in jeder eingenommenen Arznei darin besteht, die Form der Moleküle in den Zellen und dadurch deren Funktion zu verändern. Ein Beispiel: Die Funktion einer Flasche wird durch ihre Geometrie bestimmt. Sie besitzt einen großen umschlossenen Rauminhalt zur Aufbewahrung von Flüssigkeit sowie einen offenen Hals, um diese aufnehmen und abgeben zu können. Wenn Sie einen Korken in die Flasche drücken, kann sie ihre Funktion nicht mehr erfüllen, da der Korken verhindert, dass Flüssigkeit eingeführt wird oder austritt. In dieser Analogie ist die Flasche ein Molekül in Ihrer Zelle und der Korken ein Medikament, das Sie einnehmen, um sein Wirken zu behindern. Seit jeher hat der Mensch überall nach Molekülen gesucht, die -43-

medizinisch wirksam sind. Schließlich »kocht« die Natur schon seit Milliarden Jahren chemische Substanzen, weshalb es dort eine große Auswahl an »Korken« gibt. Wissenschaftler sammeln auf der ganzen Welt Pflanzen und Tiere und untersuchen sie auf interessant aussehende Substanzen, die dann getestet werden, um zu sehen, ob sie besondere nützliche Eigenschaften aufweisen. Wenn ja, wird ein aufwendiges Entwicklungsprogramm (das normalerweise einige hundert Millionen Dollar verschlingt) gestartet, um die Moleküle zu etwas zu formen, was eine nützliche Medizin werden kann. Der entscheidende Punkt ist aber, dass dieser Prozess bisher ein mehr oder weniger planloser Streifzug durch die Natur war, um darin nützliche Moleküle zu finden. Das wäre so, als würden Sie auf der Suche nach einem Korken für die Weinflasche einen ganzen Haufen durchwühlen, bis Sie den passenden gefunden haben. Diese planlose Suche hat eigentlich recht gut funktioniert, vor allem wenn man bedenkt, dass sie fast die ganze Menschheitsgeschichte über blind durchgeführt wurde, ohne jedes Verständnis dafür, wie die Medikamente wirkten oder (im Sinne unseres Beispiels) welche Geometrie das entsprechende Molekül aufwies. In den letzten Jahrzehnten jedoch, seit detailliertere Informationen über die Molekularbiologie von Krankheiten zur Verfügung stehen, ist es möglich geworden, auf völlig neuartige Weise nach neuen Medikamenten zu suchen. Anstatt blind einen Haufen von Korken zu durchwühlen, um den richtigen für die Flasche zu finden, lässt sich nun die Flasche vermessen und ein entsprechender Korken herstellen. Obwohl einige der so genannten Designermedikamente seit zwanzig Jahren auf dem Markt sind, glaube ich, dass uns eine große Umwälzung ins Haus steht und die pharmazeutische Industrie in nächster Zeit gewaltige Fortschritte auf diesem Gebiet machen wird. Wir werden in Zukunft viel mehr dieser Arzneimittel sehen. (Der Ausdruck »Designermedikamente« wird von -44-

Wissenschaftlern benutzt, um Moleküle zu beschreiben, die nicht aus der Natur stammen, sondern im Labor hergestellt wurden.) Das Hauptwerkzeug für die Entwicklung von Designermedikamenten heißt »Computer Assisted Drug Design« (computerunterstützte Entwicklung von Medikamenten). Bei diesem System werden Zielmoleküle auf einem Computerbildschirm dargestellt und anschließend mit verschiedenen Arzneimolekülen zusammengeführt, um zu sehen, ob sie passen. Praktisch wird der Computer also benutzt, um zu erkennen, ob der »Korken« in die »Flasche« passt. Dieser Schritt ersetzt den mühevollen Prozess des Sammelns und Testens, mit dem bislang die Rohmaterialien für Arzneimittel gesucht werden. Wenn der spezielle Aufbau eines Arzneimoleküls verheißungsvoll erscheint, lassen sich weitere Fragen stellen - hat es die effizienteste Struktur für diese Aufgabe? Kann es zu Testzwecken im Labor erzeugt werden? Billig? Wird es vom Körper absorbiert, so dass es tatsächlich an die Stelle gelangt, wo es wirken soll? Und schließlich, gibt es schädliche Nebenwirkungen? Einige dieser Fragen lassen sich im CADD-Stadium beantworten, während andere (vor allem die letzte) nur durch klinische Versuche zu klären sind. Die Entwicklung von Designermedikamenten wird aber nicht in erster Linie die Medizin beeinflussen (so wichtig sie dort sein mögen), sondern unsere Einstellung zur Umwelt. Ein Standardargument für die Erhaltung der Regenwälder lautet, dass diese seit jeher als Reservoir für Moleküle dienen, die man zu medizinischen Zwecken einsetzen kann. Wenn sich Arzneimittel aber am Reißbrett entwerfen lassen, verliert dieses Argument für die Erhaltung der Regenwälder an Bedeutung. Vielleicht sollten wir uns ein neues ausdenken.

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Gibt es eine Theorie von allem? Die Welt ist ziemlich kompliziert, doch seit Jahrtausenden spukt in den Köpfen der Wissenschaftler ein scheinbar verrückter Gedanke herum. »Die Welt mag vielleicht kompliziert erscheinen«, sagen sie, »aber wenn wir nur clever und hartnäckig genug sind und die entsprechenden Geräte besitzen, werden wir einmal erkennen, dass hinter all dieser Komplexität eine Welt unübertrefflicher Schönheit und Einfachheit liegt.« Dazu eine einfache Analogie: Sie kommen in eine fremde Stadt und sehen alle möglichen Gebäude, von Wolkenkratzern bis zu Bungalows. Doch wenn Sie sich die Bauten näher ansehen, merken Sie, dass ein paar Grundtypen von Backsteinen nur ganz unterschiedlich angeordnet sind. Scheinbar komplex, darunter einfach. Die Suche nach der zugrunde liegenden Einfachheit hat ein enorm erfolgreiches wissenschaftliches Projekt beflügelt, das sich nach manchen Einschätzungen zweitausend Jahre bis zu den griechischen Philosophen zurückverfolgen lässt. In seiner modernen Gestalt betrat es Anfang des 19. Jahrhunderts die Bühne, als John Dalton behauptete, dass es im Weltall zwar eine riesige Anzahl unterschiedlicher Materialien gebe, diese aber aus einer relativ kleinen Zahl von Atomen bestünden. In unserem Jahrhundert wurde diese Spur bis zum Atom und seinem Kern und weiter bis zu den Teilchen verfolgt, aus denen dieser Kern besteht. In jüngster Zeit hat sich die Aufmerksamkeit auf Quarks konzentriert, die man heute für die elementarsten Teilchen der Materie hält. Wenn man nach dieser Sichtweise einen Bleistift zur Hand nimmt und fragt »Was ist das?«, muss man als Antwort zunächst Quarks zu Elementarteilchen zusammensetzen, aus diesen Teilchen dann Atomkerne bauen, anschließend Elektronen auf ihre Bahn -47-

setzen, um Atome zu erhalten, und schließlich die Atome richtig kombinieren, damit sich das Holz und das Graphit des Bleistifts ergeben. Scheinbar komplex, darunter einfach. In den letzten Jahrzehnten wurde nun allmählich die Vermutung laut, die zugrunde liegende Einfachheit könne noch einfacher sein, als die Entdeckung der Quarks vermuten ließe. Das wäre so, als hätte man nicht nur entdeckt, dass alle Gebäude aus Backsteinen sind, sondern auch, dass alles, was den Bau zusammenhält Nägel, Leim, Mörtel etc. -, aus einem einzigen Material besteht. Mörtel stellt eine Möglichkeit dar, die einzelnen Bestandteile zu größeren Strukturen zusammenzuschließen. Im Weltall wird die Rolle des Mörtels von den Kräften gespielt, die bestimmen, wie ein Stückchen Materie mit einem anderen in Wechselwirkung tritt. Auf den ersten Blick scheint es in der Natur vier solcher Kräfte zu geben - die Gravitationskraft und den Elektromagnetismus sowie auf der atomaren Ebene die starke Wechselwirkung (die den Atomkern zusammenhält) und die schwache Wechselwirkung (die für einige Formen radioaktiven Zerfalls verantwortlich ist). Physiker haben entdeckt, dass diese Kräfte identisch zu werden scheinen, wenn man sie nur stark genug vergrößert betrachtet. Auch wenn im Kern dem Anschein nach die Pendants zu Nägeln, Mörtel, Leim und Klammern existieren, lässt sich mit einem gewissen Scharfsinn erkennen, dass es nur eine Art von Bindemittel gibt. Scheinbar komplex, darunter einfach. Theorien, die das Zusammenfallen der vier Kräfte bei starker Vergrößerung (oder entsprechend bei hoher Energie) erklären, nennt man einheitliche Feldtheorien. Die erste derartige Theorie zeigte, dass bei Energien, die in den größten Teilchenbeschleunigern der Welt heute erreichbar sind, die elektromagnetische und die schwache Kraft identisch erscheinen. Der nächste Schritt, vorhergesagt im so genannten Standard-Modell (unsere bislang beste Theorie des Universums), ist die Vereinigung der starken Kraft mit diesen -48-

beiden. Die letzte Theorie, bislang nicht mehr als ein Leuchten in den Augen der Physiker, würde diese vier Kräfte in einer Theorie von allem vereinigen. Stellen Sie sich vor: Dies wäre eine einzige Gleichung, die vielleicht auf der Rückseite eines Briefumschlags Platz fände und in gewisser Weise alles enthielte, was man über das Weltall wissen kann. Als ich meine Laufbahn als Physiker begann, glaubte ich an eine reelle Chance, dass diese Gleichung einmal von unserer Generation geschrieben würde. Heute gla ube ich nicht mehr daran. Um den Fortschritt in der Wissenschaft voranzubringen, muss es eine regelmäßige Wechselwirkung zwischen neuen Theorien und neuen Experimenten geben. Die beiden tanzen eine Art Walzer durch die Zeit. Im Augenblick ist der Prozess unterbrochen, da es zwar eine Menge theoretischer Ideen gibt, aber keine relevanten Daten, um sie zu überprüfen. Um solche Daten zu erhalten, brauchen wir ein Gerät mit ausreichend Energie zu ihrer Gewinnung. Ein solches Gerät sollte die SuperProtonen-Kollisionsmaschine (Superconducting Supercollider, SSC) werden, ein zehn Milliarden Dollar teurer Teilchenbeschleuniger, der in einem 84 Kilometer langen Ringtunnel unter der texanischen Prärie südlich von Dallas gebaut werden sollte. Als bereits 22 Kilometer des Tunnels gegraben waren, stoppte der Kongress die weitere Finanzierung des Projekts. Eine spätere Generation wird den Traum vollenden, der vor zweitausend Jahren bei den Griechen begann - vielleicht in einem Land, das mit einer weitblickenderen Regierung gesegnet ist. Wir werden dagegen nur als Fußnote in die Geschichte eingehen - als diejenigen, die die Zeit zwischen dem ersten Menschen auf dem Mond und der Theorie von allem verschlafen haben.

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2. Physik

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Gibt es wirklich eine Wissenschaft der Komplexität? Motiviert durch die Notwendigkeit, gewaltige militärische Anstrengungen zu organisieren und zu überwachen, entwickelten amerikanische Wissenschaftler im 2. Weltkrieg einen Zweig der Mathematik, der als Systemtheorie bezeichnet wird. Er hatte damit zu tun, optimale Konstruktionsabläufe, Versorgungswege und ähnliches zu finden. Nach dem Krieg überlegte man in Wissenschaftskreisen eine Weile, ob es so etwas wie eine Systemwissenschaft geben könne - ob sich etwas wie ein Verkehrsnetz ganz einfach deshalb in einer bestimmten Weise verhalte, weil es ein System ist. Die Idee dahinter war, dass alle Systeme womöglich bestimmte Eigenschaften gemeinsam haben, so wie Metalle bereits deshalb Elektrizität leiten, weil sie Metalle sind. Es sollte sich herausstellen, dass die Antwort auf diese Frage »nein« lautet. Zwar gibt es viele Systeme, die alle im Detail zu analysieren sind, aber keine allgemeingültigen Systemeigenschaften oder Systemtheorien. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Suche nach einer allgemeinen Theorie völlig zwecklos gewesen wäre - die moderne Wissenschaft verdankt ihr große Fortschritte. Es heißt lediglich, dass ein gemeinsamer Name noch kein gemeinsames Verhalten bedeutet. Heute ist das Lieblingskind der Wissenschaft ein Gebiet namens Komplexität, insbesondere all das, was als komplexes lernfähiges System bezeichnet wird. Und wieder wird heftig spekuliert, ob es eine allgemeine Theorie der Komplexität gibt: Besitzen ganz unterschiedliche Systeme bestimmte gemeinsame Eigenschaften, nur weil sie komplex sind? Zunächst muss man aber wissen, dass sich die Wissenschaftler trotz (oder vielleicht wegen) all dieser Aufregung nicht einmal über eine Definition -52-

der Komplexität einig sind. Jüngst hörte ich auf einer Tagung zu diesem Thema sogar die Bemerkung, ein Wissenschaftler würde eher die Zahnbürste eines Kollegen benutzen als dessen Definition. Ich will Ihnen diese Diskussion dadurch ein wenig näher bringen, dass ich eine einfache Definition von Komplexität gebe, die mit der Größe des Computerprogramms zu tun hat, das man schreiben müsste, um das Verhalten eines komplexen Systems zu reproduzieren. Wenn das »System« beispielsweise die Gesamtheit aller geraden Zahlen wäre, könnte man es dadurch reproduzieren, dass man dem Computer den Befehl gibt, jede Zahl mit zwei zu multiplizieren. Die Befehle an den Computer enthielten weit weniger Informationen als erforderlich wären, um alle geraden Zahlen aufzuschreiben; das System wäre also nicht besonders komplex. Je weiter sich die für das Programm erforderliche Informationsmenge der Menge der reproduzierten Daten annähert, desto komplexer ist das System. Diese Form der Komplexität nennt man »algorithmische Komplexität«. (»Algorithmus« bezieht sich auf die Befehle oder Regeln zur Lösung eines Problems.) Ein komplexes lernfähiges System enthält erstens viele unterschiedliche Teile, die sich alle verändern und gegenseitig beeinflussen können, und vermag zweitens als Ganzes auf seine Umgebung zu reagieren. Das Gehirn lässt sich ebenso als komplexes lernfähiges System begreifen wie Volkswirtschaften und sogar einige große Moleküle. Das Hauptwerkzeug der Erforschung komplexer lernfähiger Systeme ist das Computermodell. Es gibt alle möglichen Computersimulationen (von denen viele eine beklemmende Ähnlichkeit mit kommerziellen Computerspielen besitzen), die im Modell darstellen können, wie komplexe Systeme wachsen, sich verändern und unterschiedlichen Umgebungen anpassen. Bis heute war jedoch noch niemand in der Lage, von den unterschiedlichen Computersimulationen allgemeine Regeln für -53-

komplexe lernfähige Systeme abzuleiten. Mit anderen Worten: Es gibt derzeit keine allgemeine Theorie der Komplexität. Falls eine solche Theorie je gefunden werden sollte, dürfte sie eine Eigenschaft aufweisen, die man als selbsteinstellende Kritikalität bezeichnet. Die einfachste Möglichkeit, sich diese Eigenschaft vor Augen zu halten, besteht darin, sich das Aufschütten eines Sandhaufens vorzustellen. Eine Weile wächst der Sandhaufen gleichmäßig an, was man als unterkritisches Verhalten bezeichnet. Doch von einem gewissen Punkt an wird die Neigung des Hangs so steil, dass kleine Lawinen abgehen. Diesen Punkt bezeichnet man als kritische Größe des Sandhaufens. Wenn man den Sand ganz langsam Körnchen für Körnchen aufhäuft, um einen noch steileren Hang zu erhalten, ist der Sandhaufen in einem überkritischen Zustand. Dann kommt es zu großen Lawinen, bis der Hang wieder auf seine kritische Größe zurückgeführt ist. Mit anderen Worten: Der Sand reagiert auf eine sich verändernde Situation, indem er zum kritischen Zustand zurückkehrt. Dieses Beispiel illustriert viele Eigenschaften, die komplexe Systeme offenbar gemeinsam haben. Dazu gehört eine große Anzahl von »Agenzien« (Sandkörner), die bei einem bestimmten Gruppierungsgrad einfach deshalb ein bestimmtes Verhalten aufweisen, weil es viele sind. Es wäre äußerst schwierig, das Verhalten der einzelnen Körner vorauszusagen, aber es lässt sich ungefähr abschätzen, wie viele Lawinen in einer bestimmten Zeit abgehen. Es gibt also Verhaltensweisen komple xer anpassungsfähiger Systeme, die sich leicht vorhersagen lassen, und Verhaltensweisen, bei denen dies nicht so einfach ist. Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit wird man meines Erachtens aber feststellen, dass komplexe Systeme wie Sandhaufen und das menschliche Gehirn nicht mehr miteinander gemein haben als einfache Systeme.

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Lässt sich die Welt simulieren? Traditionell gibt es zwei Zweige der Naturwissenschaft: die Theorie, die mathematische Modelle der Welt konstruieren will, und das Experiment bzw. die Beobachtung, deren Aufgabe darin besteht, Theorien zu überprüfen und zu klären, in was für einer Welt wir eigentlich leben. Seit etwa zehn Jahren behaupten einige Wissenschaftler aber, mit dem Aufkommen des digitalen Computers sei eine dritte Wissenschaft geboren worden - die Wissenschaft oder Kunst der Computersimulation. Eine Computersimulation funktioniert wie folgt: Die Gesetze, die das Verhalten eines physikalischen Systems (etwa eines Sterns oder des Erdklimas) bestimmen, werden auf eine Reihe von Gleichungen reduziert und zusammen mit den Zahlen, die das aktuelle System beschreiben, in den Computer eingegeben. Anschließend wird dem Computer aufgetragen, anhand der Gleichungen zu berechnen, wie das System einen Schritt weiter in der Zukunft aussehen wird. Dieser Vorgang wird dann für jeden weiteren Schritt wiederholt. Auf diese Weise lässt sich die Entwicklung des Systems vorhersagen, und obwohl der eben beschriebene Vorgang sogar auf einfache Systeme anzuwenden wäre, bezieht sich der Ausdruck »Simulation« gewöhnlich auf komplexe Systeme, in denen Veränderungen in einem Bereich einen Einfluss darauf haben, was in anderen Bereichen passiert. Betrachten wir angesichts des erhöhten Ausstoßes von Kohlendioxid (Treibhauseffekt) die Vorhersage künftiger Klimazustände als Beispiel einer Computersimulation. Bei dieser Simulation wird die Atmosphäre zunächst in eine Reihe von Boxen unterteilt. Jede Box ist mehrere hundert Meilen breit, und von der untersten bis zur obersten Schicht der Atmosphäre stapeln sich etwa elf Boxen übereinander. Im Inneren jeder Box beschreiben die bekannten Gesetze der Physik und der Chemie, -55-

was dort passiert. Wenn man einkalkuliert, dass Luft, Wärme und Wasserdampf von einer Box in eine andere wechseln können, lässt sich vorhersagen, wie sich die Atmosphäre entwickeln wird. Nach Abschluss der Berechnungen liefert der Computer eine Simulation der Erdatmosphäre in der nahen Zukunft. Fährt man damit fort, projiziert er die Erdatmosphäre immer weiter in die Zukunft. Häufig sieht man die Ergebnisse solcher Berechnungen in Diskussionen über den Treibhauseffekt dargestellt. Die Computermodelle werden als »globale Zirkulationsmodelle« bezeichnet. Sie sind ein sehr gutes Beispiel für die Stärken und Schwächen dieser neuen Art von Wissenschaft. Wenn man vorhersagen will, was passiert, falls sich die Menge an Kohlendioxid in der Atmosphäre verdoppelt, ist es natürlich einfacher und vor allem ungefährlicher, dies in einem Computer und nicht in der realen Welt zu betreiben. Wird man mit solch dramatischen Computergraphiken konfrontiert, vergisst man aber allzu leicht, dass dieses Bild nicht unbedingt mit der realen Welt, die es darstellen soll, übereinstimmt. Wie nahe es ihr kommt, hängt davon ab, wie viel man über das simulierte System weiß und wie geschickt man diese Informationen im Computer einsetzt. Nun gibt es aber eine ganze Reihe wichtiger Eigenschaften der realen Erde, die nicht in die Simulationen eingeflossen sind, was noch einmal anhand der globalen Zirkulationsmodelle deutlich werden soll. So weiß man, dass Wolken eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung der Temperatur spielen. Manche Wolken reflektieren das Sonnenlicht zurück in den Weltraum, andere fangen Wärme an der Oberfläche ein. Jede realistische Beschreibung des Klimas sollte also eine realistische Beschreibung der Wolken enthalten, aber in den globalen Zirkulationsmodellen ist der Himmel entweder von mehreren hundert Meilen großen Wolken bedeckt oder absolut klar. Mit anderen Worten: Die Wolken auf dem Planeten im -56-

Computer sind mit den Wolken auf dem Planeten Erde überhaupt nicht zu vergleichen. In ähnlicher Weise wird die Auswirkung der Meere und ihr Zusammenspiel mit der Atmosphäre nur unzureichend berücksichtigt. Eine gängige Version des globalen Zirkulationsmodells etwa betrachtet den Ozean als »Sumpf« zwischen Luft und Wasser findet zwar ein Gasaustausch statt, aber es gibt keine Meeresströmungen wie den Golfstrom. Der Ozean im Computer weist somit auch keine große Ähnlichkeit mit dem richtigen Ozean auf. Hier wie bei den Wolken liegt das Problem darin, dass auch die leistungsfähigsten Computer mit der ganzen Komplexität der realen Erde einfach überfordert sind. Es lassen sich zwar detaillierte Modelle der Meereszirkulation erstellen, aber es ist schwierig, sie zusammen mit einem globalen Zirkulationsmodell in einen Computer einzugeben und in einer vernünftigen Zeit Antworten zu erhalten. Schließlich gibt es einige Aspekte des Erdklimas, die man nicht gut genug verstanden hat, um sie überhaupt in den Computer zu geben. Die Auswirkungen der Bodenbeschaffenheit und der Vegetation auf Regenfälle, die Ab- und Zunahme von Polareis und die möglichen Schwankungen der Sonnenenergie sind Beispiele dafür. Wer sich etwas wie das globale Zirkulationsmodell einmal näher angesehen hat, der entwickelt eine gesunde Skepsis gegenüber Computersimulationen. Wenn man sich die Ergebnisse einer Simulation ansieht, sollte man als erstes fragen, wie genau das System im Computer zum System in der realen Welt passt. Im Jargon der Simulatoren bezeichnet man dies als »Validierung« (Feststellung der Gültigkeit) des Modells. Die beste Validierung besteht darin, die Simulation auf eine Situation anzuwenden, bei der man bereits die Antwort kennt. Man könnte beispielsweise Klimadaten von vor hundert Jahren eingeben und prüfen, ob das globale Zirkulationsmodell tatsächlich das heutige Klima voraussagt. Die Tatsache, dass -57-

globale Zirkulationsmodelle dies nicht schaffen, ist ein Grund dafür, dass ich ihre Vorhersagen mit Vorsicht genieße.

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Wie weiter ohne den SuperTeilchenbeschleuniger? Erinnern Sie sich an die Super-Protonen-Kollisionsmaschine (Superconducting Supercollider, SSC)? Dieser Teilchenbeschleuniger sollte die nächste Station auf der Entdeckungsreise zum Wesenskern der Materie sein, die vor 2000 Jahren mit den Griechen begann. Im größten Bauprojekt auf dem Gebiet der Hochtechnologie, das je in Angriff genommen wurde, sollte der SSC in einem Ringtunnel von 84 Kilometer Länge unter der Ebene im Süden von Dallas Platz finden. Leider drehte der Kongress dem Projekt 1993 den Geldhahn zu, und heute laufen die bereits fertig gestellten 22 Tunnelkilometer allmählich mit Wasser voll - ein Denkmal für die Unfähigkeit Amerikas, sich auf langfristige Ziele zu konzentrieren. Nun will ich nicht, dass Sie denken, ich wäre darüber verbittert. Die Tatsache, dass ich in meinen trübseligen Stunden glaube, einer der hehrsten Träume der Menschheit sei durch eine Allianz aus politischen Intrigen und einigen Wissenschaftlern geplatzt, deren Mangel an Urteilsvermögen nur durch ihren Neid übertroffen wurde, sollte Sie nicht in die eine oder andere Richtung beeinflussen. Unabhängig von unserer Einstellung dazu ist der SSC tot, und wir müssen uns der Frage zuwenden, was in der vorhersehbaren Zukunft geschehen wird. Die Suche nach dem Wesenskern der materiellen Welt erbrachte immer wieder die Erkenntnis, dass jede Art von Materie aus noch kleineren und elementareren Einheiten besteht. Gewöhnliche Materialien bestehen aus Atomen, Atome enthalten Kerne, die selbst wieder aus Elementarteilche n bestehen, und diese Teilchen bestehen wiederum aus den noch elementareren Quarks. Während sich Wissenschaftler durch diese immer kleiner werdenden und ineinander verschachtelten -59-

Einheiten arbeiteten, stellten sie fest, dass auf jeder neuen Ebene mehr Energie gebraucht wird, um etwas über den Charakter der Teilchen zu erfahren - und viel mehr Geld. Atome aufzubrechen ist einfach - wir tun es ständig in Leuchtröhren. Das Aufbrechen eines Kerns erfordert aber eine Million Volt und eine Million Dollar. Um an die Elementarteilchen heranzukommen, braucht man eine Milliarde Volt und zehn Millionen Dollar. Die Erforschung der Quarks und der ersten Stufen der einheitlichen Feldtheorie - die jetzige Grenze - erfordert fast eine Billion Volt und einige hundert Millionen Dollar. Der SSC als nächste Stufe hätte fast hundert Billionen Volt erzeugt und etwa zehn Milliarden Dollar gekostet. Diese Kostenexplosion bei technischen Anlagen ist nicht auf die Untersuchung von Elementarteilchen beschränkt. Als 1948 das große Teleskop auf dem Mount Palomar in Kalifornien fertig gestellt wurde, kostete es etwa sieben Millionen Dollar soviel wie der Bau des damals aufwendigsten Autobahnkreuzes. Als 1992 mit dem Keck das zu seiner Zeit größte Teleskop der Welt auf dem Mauna Kea auf Hawaii eingerichtet wurde, kostete es hundert Millionen Dollar - immer noch etwa genauso viel wie das seinerzeit größte Autobahnkreuz des Landes. Es scheint, als werde die Forschung immer teurer, ob man den Blick nun nach innen oder nach außen richtet. In jedem Entwicklungsstadium einer Wissenschaft gibt es aber ein Experiment, das ausgeführt, und eine Anlage, die gebaut werden muss, wenn der Fortschritt weitergehen soll. Der SSC war diese Anlage für die Hochenergiephysik des 21. Jahrhunderts. Er sollte eine Reihe von Fragen klären, von denen die wichtigste die Beschaffenheit von Masse war. Masse bleibt eine der geheimnisvollsten Eigenschaften im Weltall. So ist beispielsweise bekannt, dass das Elektron Masse besitzt, und man kann diese sogar auf sieben Dezimalstellen genau messen. Man weiß aber nicht, warum es Masse besitzt und warum nicht dieselbe wie das Proton. Die Theorien, die im SSC überprüft -60-

worden wären, legen nahe, dass die Antwort auf eine solche Frage mit dem bislang unentdeckten Higgs-Boson zusammenhängt. Das nach dem schottischen Physiker Peter Higgs benannte Teilchen soll das Universum wie ein exotisches Magnetfeld durchdringen. Und genau wie verschiedene Magneten mit dem Magnetfeld der Erde unterschiedlich stark interagieren, gehen die Theorien davon aus, dass sich verschiedene Teilchen auf unterschiedliche Weise dem HiggsHintergrund anschließen. Wir nehmen diese Wechselwirkungskräfte als Masse wahr, weshalb Fragen zur Masse letztlich auf die Eigenschaften des Higgs-Bosons zurückgehen. Der SSC war dazu gedacht, diese Higgs-Teilchen in großer Zahl zu erzeugen - und deshalb auch so wichtig. Was soll man also tun, während man auf einen neuen SSC wartet? Einige Physiker nehmen erneut bereits bestehende Beschleuniger ins Blickfeld. Sie versuchen, Leistungsfähigkeit durch Cleverness zu ersetzen und Experimente durchzuführen, die das Wesen des Higgs-Bosons beleuchten sollen. So gibt es den Vorschlag, in den bestehenden Anlagen eine große Zahl von Teilchen zu erzeugen, die die selteneren Quarks enthalten, da man sich erhofft, durch eine große Zahl von Daten einige Eigenschaften zu erkennen, die heute noch im dunkeln liegen. Andere setzen ihre Hoffnungen auf eine neue Anlage, die im Europäischen Kernforschungszentrum (CERN) in Genf gebaut wird. Der dortige Large-Hadron-Collider (LHC) war ursprünglich als Rohfassung des SSC geplant. Ohne dessen Energie wird er das Higgs-Teilchen aber nur dann erzeugen können, wenn es die geringste Masse aufweist, die heute von Theoretikern erwartet wird. Doch während die Pla nung dieser Anlage Fortschritte macht, verringert der unvermeidliche finanzielle Druck innerhalb der Europäischen Union die erzeugte Energie und rückt das Datum der Fertigstellung in immer weitere Ferne - nach dem heutigen Stand in das Jahr 2008. Wenn der LHC das Higgs-Teilchen dann nicht findet, -61-

stellt sich folgendes Problem: Entweder sind die Theorien falsch, oder die Anlage hat einfach nicht genügend Energie. Wir werden es niemals erfahren - bis zum Bau des SSC.

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Wie chaotisch ist die Welt? In den letzten zwei Jahrzehnten war eine der erstaunlichsten Entdeckungen von theoretischen Physikern und Mathematikern, dass es in der Natur - mitunter sehr einfache - Systeme gibt, deren Verhalten zu praktischen Zwecken nicht vorhersagbar ist. Diese Systeme erhielten die schillernde Bezeichnung »chaotisch«, und von da an wurde das Prinzip des Chaos, wie häufig in diesen Tagen, überstrapaziert. Die meisten natürlichen Systeme sind nicht chaotisch, aber es sind immer noch genug, um das Problem interessant zu machen. Eine der spannendsten Fragen betrifft die Grenze zwischen chaotischem und nichtchaotischem Verhalten. Was ist auf der einen Seite, was auf der anderen? Wollen wir uns zunächst ein wenig darüber unterhalten, wie ein chaotisches System aussieht und in welchem Sinne es nicht vorhersagbar ist. Denken Sie an ein Experiment, bei dem Sie kleine Holzstöckchen dicht nebeneinander in einen Fluss werfen. Wenn der Fluss tief ist und gleichmäßig fließt, bleiben die Stückchen auf ihrem Weg flussabwärts dicht nebeneinander. Verdoppeln Sie den Abstand zwischen den Stöckchen, wenn diese in das Wasser geworfen werden, sind sie weiter flussabwärts auch doppelt so weit auseinander wie beim ersten Versuch. Dies ist ein Beispiel für ein lineares, vorhersagbares System. Nun stellen Sie sich vor, man werfe die Holzstöckchen nicht in einen tiefen Fluss, sondern in einen Gebirgsbach. Zwei Stöckchen, die nebeneinander in den Oberlauf des Baches geworfen werden, sind im Unterlauf normalerweise weit voneinander entfernt, und es gibt keine einfache lineare Beziehung zwischen ihrem Abstand zu Beginn und am Ende des Experiments. Dies ist ein chaotisches System. Die geringste -63-

Veränderung im Ausgangszustand sorgt für gewaltige Veränderungen im Ergebnis. An dieser Stelle kommt nun die Vorhersagbarkeit ins Spiel. Wenn Sie mit absoluter mathematischer Genauigkeit wissen, wo sich das Holzstöckchen befindet, wenn es in den Bach geworfen wird, können Sie auch genau vorhersagen, wo es wieder herauskommt. Weicht die Startposition aber nur geringfügig davon ab, wird die tatsächliche Position am Ende der »Teststrecke« weit von der vorhergesagten Position entfernt sein. Da es in der realen Welt immer eine gewisse Unsicherheit bei der Messung der Ausgangsposition des Stöckchens gibt, kann man in der Praxis unmöglich vorhersagen, wo es wieder herauskommt. Ist ein natürliches System chaotisch, lässt sich in der Praxis unmöglich seine Zukunft vorhersagen (wenngleich es im Prinzip immer möglich ist, sofern sich der Ausgangszustand mit hundertprozentiger Genauigkeit messen lässt). In einem chaotischen System muss sich die Kluft zwischen nebeneinander beginnenden Systemen mit der Zeit exponentiell ausdehnen. Auch wenn es vielleicht nicht unmittelbar einleuchtet, hatte die Analyse von Bächen und anderen chaotischen Systemen einen großen philosophischen Einfluss auf unser Denken über die Beschaffenheit der materiellen Welt. Seit Newton ging man davon aus, dass sich die Zukunft eines Systems vorhersagen lasse, wenn man es mit einer mathematischen Gleichung beschreiben könne. Mit anderen Worten glaubte man, die Fähigkeit der Beschreibung bedeute zugleich die Fähigkeit der Vorhersage. Die Entdeckung des Chaos hat nun aber gezeigt, dass dies nicht unbedingt stimmen muss - es gibt Systeme, die man mit Gleichungen beschreiben, aber trotzdem nicht vorhersagen kann. Seit der Entdeckung chaotischer Systeme beherrscht nun eine andere Frage die wissenschaftliche Diskussion: Welche natürlichen Systeme sind chaotisch? Einige Antworten auf diese -64-

Frage sind offensichtlich - turbulentes Wasser, der Aktienmarkt und das Wetter sind mit großer Sicherheit chaotisch. Andere Antworten überraschen dagegen. So haben Wissenschaftler jüngst behauptet, viele Eigenschaften des Sonnensystems - das Paradebeispiel Newtonscher Vorhersagbarkeit könnten chaotisch sein. Komplexe Computermodelle, die Planetenbahnen und die dazwischen wirkenden Gravitationskräfte simulieren, legen nahe, dass die Umlaufbahnen von Planeten im Lauf von einigen hundert Millionen Jahren tatsächlich chaotisch sein könnten. Diese Schlussfolgerungen ergeben sich aus Untersuchungen, in denen zunächst die Planetenbahnen von einem bestimmten Punkt aus weit in die Zukunft projiziert wurden, um anschließend die Planeten auf ihrer Bahn theoretisch ein paar Zentimeter weiterzuschieben und dann erneut zu berechnen. Die Ergebnisse zeigen offenbar genau die Abweichung, über die wir im Zusammenhang mit den Holzstöckchen berichtet haben. Ich muss an diesem Punkt eine gewisse Skepsis einräumen - es besteht kein Zweifel, dass die Computersimulationen des Sonnensystems chaotisch sind. Die Frage ist nur, ob diese Simulationen tatsächlich die Welt darstellen, in der wir leben. Ich will bei Ihnen aber nicht den Eindruck erwecken, die Existenz des Chaos sei für die Wissenschaft absolut negativ. Wie immer bei neuen Entdeckungen wird bereits darüber nachgedacht, wie man dieses Phänomen nutzen könnte. So eignen sich chaotische Systeme hervorragend für die Anwendung bei Verschlüsselungen. Wenn zwei Menschen die Gleichung kennen, die ein chaotisches System beschreibt, können sie dieses System als Grundlage für einen Code benutzen. Anhand der Gleichung können sie dann eine Botschaft verschicken, die sie zwar verstehen, alle anderen aber nur als Folge willkürlicher Signale wahrnehmen. In ähnlicher Weise haben einige Wissenschaftler in letzter Zeit ihre akademische Karriere aufgegeben, weil sie glauben, sie könnten ihre -65-

Kenntnisse der Chaosforschung einsetzen, um den Aktienmarkt zu verstehen. (Ich denke, das war ein kluger Schritt, wenn ich mir die Typen ansehe, die im Rolls-Royce herumfahren und den Markt kaputtmachen.)

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Hören wir dieselbe Melodie, wenn das Band noch einmal läuft? Denken Sie an die Kette von Ereignissen, die erst geschehen mussten, damit Sie jetzt an Ihrem Platz sitzen und dieses Buch lesen können. Unter den Milliarden Menschen auf der Erde mussten sich gerade Ihre Eltern begegnen. Jemand (ein Lehrer? ein Elternteil?) hat Sie mit den Freuden des Lesens vertraut gemacht. Sie sind zufällig an einer Buchhandlung oder Bibliothek vorbeigekommen und haben dieses Buch gesehen die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Eine interessante Frage, die sich aus derartigen Spekulationen ergibt, ist die folgende: Würde auch dann eine neue Version von Ihnen irgendwann dasitzen und eine neue Version dieses Buches lesen, wenn wir zum Ursprung der Welt zurückkehrten und noch einmal von vorne anfingen? Dieses Thema klingt zwar eher nach Sciencefiction, berührt aber eine ganz grundlegende Frage über die Beschaffenheit der Welt, in der wir leben. In welchem Maße ist das Verhalten der Welt durch starre, deterministische Regeln bestimmt und damit vorhersagbar, und in welchem Umfang ist sie das Ergebnis unvorhersehbarer Ereignisse, des Zufalls? Mit anderen Worten: Wie viel von der Welt ist Physik, und wie viel ist Geschichte? Die Antwort auf diese Frage verändert sich entsprechend der vorherrschenden Philosophie. Im 18. Jahrhundert hätte man sich mehrheitlich sicher zur deterministischen Vorhersehbarkeit bekannt, im 20. Jahrhundert zum Zufall (auch wenn das Pendel vielleicht allmählich wieder zurückschwingt). In zwei Bereichen der Wissenschaft wurde über diese Frage nicht nur müßig spekuliert, sondern ernsthaft diskutiert: in der Kosmologie und in der Evolutionstheorie. In der Kosmologie wird die Frage üblicherweise im Rahmen der grundlegenden -67-

Konstanten der Natur behandelt. Wie würde die Welt aussehen, wenn etwa die Gravitationskraft oder die Ladung des Elektrons anders wäre? Und vor allem: Wäre es für ein intelligentes Wesen möglich gewesen, sich eine derartige Frage auszudenken und zu stellen? Wenn die Gravitationskraft deutlich schwächer wäre, hätte sie kein Material zusammenziehen können, um Sterne und Planeten entstehen zu lassen. Wäre sie dagegen deutlich stärker, hätte sich die Ausdehnung des Weltalls kurz nach dem Urknall wieder umgekehrt, und das Universum wäre noch vor der Entstehung von Sternen oder Planeten kollabiert. In beiden Fällen hätte es kein Leben gegeben und damit auch niemanden, um die Frage nach der Schwerkraft zu stellen. Derartige Überlegungen zeigen, dass bei Phänomenen wie der Gravitationskraft oder der elektrischen Ladung nur ein relativ kleines Spektrum an Werten die Möglichkeit von Leben eröffnet. In Welten außerhalb dieses Spektrums lassen sich die Fragen gar nicht stellen; die Tatsache, dass es in unserer Welt möglich ist, bedeutet, dass wir uns innerhalb dieses Spektrums befinden. Diese Art der Beweisführung bezeichnet man häufig als »anthropisches Prinzip«. In der Evolutionstheorie kreist die Frage darum, ob und in welchem Umfang Lebewesen genau so aussehen müssen, wie man es auf der Erde beobachtet. So ist bekannt, dass die erste sich selbst reproduzierende Zelle aus Molekülen bestand, die aus anorganischem Material hervorgegangen waren. Die Frage lautet also: War dieser Vorgang das Ergebnis eines zufälligen Zusammentreffens beliebiger Moleküle, oder war er in gewissem Sinne durch die Gesetze der Physik und Chemie vorherbestimmt? Vor nicht allzu langer Zeit herrschte noch Konsens im Sinne jener Schule des »eingefrorenen Zufalls«, die argumentierte, Leben könne auf ganz unterschiedliche Weise entstanden sein und unsere eigene Lebensform sei einfach zuerst dagewesen. -68-

Aber seit man weiß, wie rasch sich das Leben auf unserem Planeten entwickelt hat und wie schnell präbiotische Reaktionen im Labor stattfinden können, ändert sich dieses Denken allmählich. Viele Wissenschaftler auf diesem Gebiet - vielleicht sogar die meisten - glauben heute, das Leben sei nicht durch eine Kette von Zufällen entstanden, sondern durch die naturgesetzliche Ordnung. Ein wichtiger Test dieser Theorie bestünde natürlich darin, Überreste von anderswo (etwa auf dem Mars) entstandenem Leben zu finden und auf Ähnlichkeiten hin zu überprüfen. Sobald wir zur Phase der Evolution gelangen, die auf die erste Zelle folgte, werden die Argumente wirrer. Das größte Problem dürfte hierbei darin bestehen, dass der Evolutionsprozess darauf angelegt ist, einen Organismus an seine Umgebung anzupassen, diese Umgebung sich aber ständig verändert. Infolgedessen kann uns kein Beispiel aus der Evolution in der realen Welt eine Lektion wie aus dem Lehrbuch bieten. So tauchten vor etwa 550 Millionen Jahren Skelette und harte Teile auf, wodurch in Form von Versteinerungen Beweise für Leben erhalten blieben. Viele der Formen, die in diesen frühen Versteinerungen zu sehen sind, kennt man heute nicht mehr. Daraus haben einige Paläontologen abgeleitet, dass die ausgestorbenen Arten das Wirken des Zufalls repräsentierten und dies - ohne die Gnade Gottes - auch unser Schicksal sei. Andere haben dagegen darauf hingewiesen, dass zumindest einige dieser frühen Arten Nachfahren haben, die noch heute herumlaufen (oder besser rutschen). Wie könne man außerdem behaupten, dass die Ausrottungen auf Zufall zurückzuführen seien, wenn man gar nicht wisse, welche Kräfte die Evolution in dieser frühen Umgebung prägten? Vielleicht hätten diese Lebensformen einfach nirgends überleben können? Der Streit wird weitergehen. Erwarten Sie nicht, dass er bald beigelegt wird, und seien Sie skeptisch, wenn jemand behauptet, er habe die Lösung gefunden. -69-

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Gibt es Probleme, die nicht zu lösen sind? Vor vielen Jahren verbrachte ich ein angenehmes Jahr in einem Genfer Labor. Mit dem festen Vorsatz, mein Französisch zu verbessern, vereinbarte ich mit einem Schweizer Ingenieur, »Sprachen zu tauschen«. Jeden Tag trafen wir uns zum Mittagessen und sprachen eine Dreiviertelstunde lang Englisch. Dann zogen wir uns in ein anderes Zimmer zum Kaffee und zu fünfundvierzig Minuten Französisch zurück. Eines Nachmittags sagte mein Freund etwas zu mir, was ich nie vergessen sollte: »Jim, das Problem mit dir - das Problem mit allen Amerikanern - ist, dass ihr glaubt, es gäbe für alles eine Lösung.« Unter der Überschrift »unlösbare Probleme« kann man sich über zwei unterschiedliche Dinge unterhalten. Das eine betrifft die logischen Grundlagen der Mathematik selbst, das andere das moderne Computerwesen. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts wurde unter Mathematikern ernsthaft diskutiert, ob immer eindeutig zu entscheiden sei, dass eine mathematische Aussage richtig oder falsch ist. 1901 entdeckte Bertrand Russell eine Paradoxie, die Zweifel daran aufwarf. (Hier ist eine einfache Form der so genannten Russell-Antinomie: In einer bestimmten Stadt erklärt der Friseur, er schneide nur denen die Haare, die sie nicht selbst schneiden. Schneidet er sich die Haare?) 1931 bewies der österreichische Mathematiker Kurt Gödel dann ein (inzwischen nach ihm benanntes) Theorem, das behauptet, jedes ausreichend komplexe mathematische System enthalte Aussagen, die eindeutig wahr, aber nicht innerhalb des Systems selbst zu beweisen seien. Im Computerzeitalter dreht sich die Diskussion aber nicht mehr darum, ob Probleme prinzipiell zu lösen sind, sondern darum, wie lange ein Computer zu ihrer Lösung braucht. Es stellt sich heraus, dass es bei Problemen eine -71-

Hierarchie der Komplexität gibt, die darauf basiert, wie rasch sich die Rechenzeit erhöht, wenn das Problem größer wird und man gleichzeitig davon ausgeht, dass dem Computer möglichst effiziente Befehle zur Lösung des Problems gegeben werden. Nehmen wir einmal an, man gebe Daten einer Volkszählung in einen Computer ein, der einem dann die Gesamtbevölkerung in einem bestimmten Gebiet angibt. Nehmen wir weiterhin an, der Computer brauchte eine Millisekunde für die Antwort, wenn ihm die Daten aus einem Häuserblock eingegeben werden. Man würde erwarten, dass es nicht länger als zwei Millisekunden dauert, wenn er die Daten von zwei Blocks erhält, nicht mehr als zehn Millisekunden bei zehn Blocks und so weiter. (In Wirklichkeit würde ein gutes Programm wahrscheinlich viel schneller arbeiten.) Ein solches Problem gilt als »leicht bearbeitbar« oder zur »Komplexitätsklasse P« gehörig, weil die Zeit, die es braucht, um ein erweitertes Problem zu lösen, (in diesem Fall) linear ansteigt - bei doppeltem Inp ut verdoppelt sich auch die dafür benötigte Zeit. Das Problem gälte übrigens auch dann noch als leicht bearbeitbar, wenn sich die Zeit um die zweite, dritte oder eine andere Potenz des Inputs erhöhen würde (das heißt, wenn die Verarbeitung von zwei Blocks die Zeit um das Vierfache, die von drei Blocks um das Neunfache etc. erhöhen würde). Mathematische Ausdrücke, die mit derartigen Potenzen arbeiten, heißen Polynome, was das »P« zur Bezeichnung der Komplexitätsklasse erklärt. Ein Problem, das nicht in Polynomzeit zu lösen ist, gilt als »nicht bearbeitbar«. Die nächste Stufe der Komplexität ist die Klasse der NP (nichtpolynomischen) Probleme. Ein Beispiel dafür ist das so genannte »Handelsvertreter-Problem«, bei dem der Computer aufgefordert wird, eine Route zu planen, die den Handelsvertreter einmal und nur einmal in jede Stadt führt, die er aufsuchen muss. Je mehr Städte auf seiner Liste stehen, desto länger braucht natürlich der Computer zur Lösung des Problems. (Dies bedeutet nicht, dass eine bestimmte Variante des -72-

Handelsvertreter-Problems nicht mit dem Computer zu lösen wäre - das Problem lässt sich bei jeder endlichen Zahl von Städten lösen, sofern man gewillt ist, lange genug zu warten.) Probleme der NP-Klasse zeichnen sich dadurch aus, dass man verifizieren kann, ob sie sich in Polynomzeit lösen lassen, wenn man eine Lösung rät, aber niemand weiß, ob die bestmöglichen Computerbefehle in diesem zeitlichen Rahmen funktionieren oder nicht. Das Bild kompliziert sich, wenn viele NP-Probleme sich gegenseitig entsprechen - das heißt, wenn man die Lösung für eines kennt, kommt man durch ein paar einfache Veränderungen auf die Lösung des anderen. Es gibt sogar eine Reihe von NPProblemen (die man als »NPkomplett« bezeichnet), die im Hinblick auf die Komplexität erwiesenermaßen das Worst-CaseSzenario darstellen. Wenn eines von ihnen leicht bearbeitbar ist, sind es alle anderen NP-Probleme auch. Die Frage, wie man NPProbleme löst, ist heute die große Herausforderung an die Bearbeitbarkeitstheorie. Die Diskussion der Bearbeitbarkeit ist nicht rein theoretisch. In vielen Fällen müssen Ingenieure - analog zur Erhöhung der Zahl der Städte beim Handelsvertreter-Problem - die Probleme immer genauer unter die Lupe nehmen, um auf praktikable Lösungen zu kommen. Zu wissen, dass das Computerprogramm nicht unendlich laufen muss, ist wichtig und praktisch zugleich.

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Ist eine Quantentheorie der Schwerkraft möglich? Wenn das Größte, was Sie sich vorstellen können, das gesamte Universum ist, dann ist das Kleinste ein Elektron oder ein Quark. Und wenn Sie dann noch theoretischer Physiker sind, glauben Sie im Innersten Ihres Herzens, dass ein einziges Gesetz - eine einzige Art, die Dinge zu beschreiben - beides zugleich erklären kann. Seltsamerweise ist das Haupthindernis auf der Suche nach diesem Gesetz das mangelnde Verständnis des bekanntesten Naturgesetzes - der Schwerkraft. In unserer Alltagsrealität halten wir Kräfte für etwas ganz Simples, was entweder schiebt oder zieht. Anfang des Jahrhunderts entwickelte Albert Einstein die allgemeine Relativitätstheorie. Diese ist nach wie vor unsere beste Beschreibung der Gravitationskraft (Schwerkraft) und besonders nützlich zur Darstellung von wechselseitigen Beeinflussungen über große Entfernungen hinweg, wie in Galaxien, oder im Umkreis von sehr massereichen Objekten wie Schwarzen Löchern. In der allgemeinen Relativitätstheorie geht man davon aus, dass die Schwerkraft der Krümmung der Raumzeit entspringt. Wenn sich ein Lichtstrahl krümmt, der an der Sonne vorbeigeht, biegt die Masse nach unserer Vorstellung den Raum im Umkreis der Sonne, etwa wie ein schweres Gewicht eine aufgespannte Plane dehnt. Wenn Licht in diesen verzerrten Raum eindringt, wird es gekrümmt, was man auf die Gravitationskraft zurückführt. In Einsteins Sicht des Universums gibt es keine Gravitationskraft, sondern nur die Geometrie eines gekrümmten Raum- ZeitKontinuums. Am anderen Ende der Größenskala ist die Quantenmechanik die Theorie, die die wechselseitige Beeinflussung der Teilchen innerhalb des Atoms beschreibt. Wenn wir über die elektrische -74-

Kraft sprechen, die Elektronen in der Umlaufbahn um den Kern hält, entspringt sie nach unserer Überzeugung dem Austausch von Masse- und Energiebündeln. Stellen Sie sich vor, zwei Menschen laufen die Straße entlang und werfen einen Baseball hin und her. Die beiden müssten dazu einander ziemlich nahe bleiben, und ein Beobachter von außerhalb würde vielleicht meinen, der Baseball erzeuge eine Kraft, die die Menschen zusammenhalte. Bei der Quantenmechanik stellt man sich vor, dass sich Teilchen im Atom zusammenschließen, indem sie andere Teilchen austauschen; das Elektron umkreist den Kern, weil zwischen ihnen ein Austausch von Photonen stattfindet. In ähnlicher Weise treiben Sie nicht in den Weltraum davon, weil zwischen Ihnen und der Erde eine Flut von Teilchen (Gravitonen) ausgetauscht wird und die Schwerkraft erzeugt. Diese Sicht der Schwerkraft unterscheidet sich ganz offensichtlich von der der allgemeinen Relativitätstheorie. Normalerweise ist dieser Unterschied für Wissenschaftler bedeutungslos, weil sie an Problemen arbeiten, bei denen entweder nur die Quantenmechanik oder nur die Relativität zu beachten ist. Wenn Sie bei der Bestimmung der elektrischen Kraft zwischen einem Elektron und einem Kern die Schwerkraft einschließen wo llten, würden Sie feststellen, dass sie sich erst an der siebenunddreißigsten Dezimalstelle auswirkt! Auch was sich innerhalb eines einzelnen Atoms abspielt, hat praktisch keine Auswirkung auf das Verhalten einer Galaxie. Aber was ist mit dem Universum in seinem Anfangsstadium, als die gesamte Masse ein Volumen ausfüllte, das kleiner als ein Atom war? Was ist mit Schwarzen Löchern, wo Massekonzentrationen für enorme Gravitationskräfte sorgen? In diesen Bereichen müssen sich die Wissenschaftler der Frage nach dem grundlegenden Unterschied zwischen der Schwerkraft und anderen Kräften stellen. Eine Theorie, nach der die Schwerkraft durch den Austausch von Teilchen erzeugt wird, wäre eine Quantentheorie der Schwerkraft oder einfach die Theorie der -75-

Quantenschwerkraft. Obwohl sich die Wissenschaftler seit einem halben Jahrhundert um die Aufstellung einer solchen Theorie bemühen, ist man noch nicht soweit. Eine Quantentheorie der Schwerkraft wäre nicht nur ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Theorie von allem, sondern man vermutet auch, dass sie uns neue Einblicke in einige der verrückten Eigenschaften der Quantenmechanik geben würde. Vergleichen Sie das Problem der Entwicklung der Quantenschwerkraft mit dem Aufstieg auf einen hohen Berg. Es gibt zwei mögliche Strategien. Entweder versuchen Sie einfach, ihn auf einmal zu besteigen. Dieser Ansatz wirkt vielleicht geradlinig, aber Sie riskieren dabei, Ihr Ziel nicht zu erreichen. Oder Sie klettern zunächst auf ein paar kleinere Berge. Sie wissen, dass Sie das schaffen, und Sie hoffen, dass Ihnen diese Erfahrung bei einem späteren Gipfelsturm auf den hohen Berg zugute kommen wird. Wer den ersten Ansatz zur Quantenschwerkraft wählt, entwickelt von Anfang an komplette Theorien, die dann etwa »Supersymmetrie« oder »String-Theorie« heißen. Dazu gehören äußerst komplizierte Berechnungen, und bis heute war niemand in der Lage, sie durchzuarbeiten. Es sind tapfere Versuche, den Berg auf einmal zu erklimmen, aber wie alle derartigen Bemühungen nur schwer durchführbar. Andere (allen voran Stephen Hawking) versuchen sich an der zweiten Route zum Gipfel. In der Regel enthalten ihre Theorien sowohl Elemente der allgemeinen Relativität als auch der Quantenmechanik, aber nur solche Teile, die auch tatsächlich lösbare Gleichungen liefern. Diese Versuche hatten einen gewissen Erfolg. So wurde etwa herausgefunden, dass Schwarze Löcher ständig Teilchen verströmen (die so genannte HawkingStrahlung) und auf lange Sicht einfach verdampfen. Eine vollständige Theorie würde uns vermutlich noch interessantere Einblicke in Schwarze Löcher und den Ursprung des Universums gewähren. -76-

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Der Quantenlöscher Sehen Sie, es gibt keine Möglichkeit, Ihnen auf wenigen Seiten die absolute Verrücktheit der Quantenmechanik darzustellen. So soll meine Einschätzung genügen, dass ich fest daran glaube, dass wir mit diesem Zweig der Wissenschaft, der sich mit der Erforschung des Verhaltens von Materie und Energie auf der subatomaren Ebene beschäftigt, einen wichtigen Meilenstein erreicht haben. Zum ersten Mal sind wir in einen Bereich des Universums vorgestoßen, für dessen Verständnis unser Gehirn einfach nicht entsprechend verdrahtet ist. Man kann sich nicht vorstellen, was sich im Inneren eines Atoms abspielt, selbst wenn sich das Ergebnis von Experimenten auf Dutzende von Dezimalstellen genau vorhersagen lässt. Für die meisten Menschen (mich eingeschlossen) ist das ein recht beunruhigender Zustand. Und so leid es mir tut: Einige Experimente, die am Horizont auftauchen, werden die Sache nur noch schlimmer machen. Ein paar Hintergrundinformationen vorab: In unserem Alltag sind Dinge entweder Teilchen (denken Sie an einen Baseball) oder Wellen (denken Sie an einen Strand). Wir sind an Dinge gewöhnt, die einen festen Ort haben - entweder da sind oder nicht. Doch dieser Normalfall gilt nicht in der Quantenwelt. Die klassische Erklärung dafür ist etwas, was man als »DoppelspaltExperiment« bezeichnet. Stellen Sie sich eine Mauer vor, in die horizontal zwei parallele Schlitze eingeschlagen sind. Wenn man Teilchen auf diese Mauer prallen lässt, kann man beobachten, wie sich einige davon hinter den Schlitzen anhäufen. Lässt man die Wellen auf die Mauer prallen, erkennt man hinter der Mauer abwechselnd Gebiete mit hohen Wellen und solche ganz ohne Wellen; hervorgerufen wird dies durch Wellen, die durch die beiden Schlitze dringen und sich entweder -78-

verstärken oder auslöschen. Im Alltag sollte es also ein leichtes sein, Teilchen von Wellen zu unterscheiden - man wirft einfach etwas gegen einen Doppelschlitz und sieht zu, was passiert. Entsteht ein gebändertes Muster, sind es Wellen, und wenn nicht, sind es Teilchen. Nun will ich Ihnen erzählen, was in der Quantenwelt passiert. Stellen Sie sich vor, Sie schicken einen Elektronenstrahl so auf einen Doppelschlitz, dass immer nur ein Elektron durchkommt. Jedes Elektron landet an einem ganz bestimmten Punkt auf der anderen Seite der Schlitze, nicht anders als ein Baseball. Wenn Sie diesen Vorgang aber oft wiederholen, das heißt, einzelne Elektronen immer wieder auf Schlitze schießen und notieren, wo sie auftreffen, werden Sie feststellen, dass sich die Elektronen auf Bändern sammeln, die sich verstärkenden Wellen entsprechen, und dass Elektronen an den Stellen ausbleiben, die sich auslöschenden Wellen entsprechen. Bemühen Sie sich erst gar nicht, sich diesen Vorgang anhand von alltäglichen Gegenständen vorzustellen - in dieser Richtung lauert der Wahnsinn. Glauben Sie mir nur, dass die Wissenschaft der Quantenmechanik dieses Ergebnis exakt vorhersagt und sich nicht darum kümmern muss, woher ein Elektron »weiß«, was andere Elektronen tun, wenn sie durch den Schlitz fallen. Es hat damit zu tun, dass Objekte auf der Quantenebene weder Teilchen noch Wellen im klassischen Sinne sind, sondern etwas anderes, das Eigenschaften von beiden besitzt. In diesem Experiment zeigen die Elektronen ihre Welleneigenschaften, indem sie beide Schlitze gleichzeitig spüren, und ihre Teilcheneigenschaften, indem sie an einem bestimmten Punkt auf der anderen Seite nachweisbar sind. Wenn man an den Schlitzen aber Detektoren anbringt, um herauszufinden, durch welchen Schlitz das Elektron fällt, stellt man fest, dass der Nachweis des Elektrons dessen Verhalten ändert und das gebänderte Muster verschwindet. Auch wenn diese Experimente bereits vor Jahrzehnten durchgeführt wurden, bereitet die -79-

Vorstellung, dass die Quantenwelt so anders als unsere sein könnte, immer noch Kopfzerbrechen. Im Augenblick arbeitet eine Gruppe in München an einer Hightech-Version des Doppelschlitzexperiments, das mit unserer Erfahrung noch schwerer in Einklang zu bringen sein wird. Der Versuch wird nicht mit Elektronen, sondern mit Atomen durchgeführt, wobei sich vor jedem Schlitz ein Lasergerät und eine Box befinden. Der Laser regt das Atom so an, dass es seine Elektronen neu anordnet, verändert aber nicht die Wellen/Teilcheneigenschaften des Atoms als Ganzes. Infolgedessen lässt das Atom eine gewisse Mikrowellenstrahlung in der Box zurück, um seinen Weg zu markieren, schlüpft anschließend durch den Schlitz und macht sich auf der anderen Seite bemerkbar. Dies sind die von der Quantenmechanik vorhergesagten Ergebnisse: Wenn das Experiment mit abgeschalteten Lasern durchgeführt wird, erkennt man die oben beschriebene gebänderte Wellenstruktur. Sind die Laser eingeschaltet, so dass man weiß, durch welchen Schlitz ein Atom jeweils ging, verschwindet die gebänderte Struktur, und man erkennt ein Muster, das für Teilchen charakteristisch ist. Dadurch, dass die Atome als Visitenkarte ihre Mikrowellen hinterlassen und diese gemessen werden, »friert« jedes Atom in einem teilchenartigen Zustand ein. Aber jetzt kommt der Clou! Angenommen, man führt das Experiment mit immer nur einem Atom durch, öffnet nach dem Durchgang der einzelnen Atome aber eine Sperre zwischen den Boxen, so dass die Mikrowellen in beiden sein können. Nehmen wir mit anderen Worten also an, man würde die Aufzeichnung »löschen«, die verrät, durch welchen Schlitz das Atom geschlüpft ist. Dann sagt die Quantenmechanik voraus, dass man die für Wellen charakteristische gebänderte Struktur erhält, selbst wenn man für jedes Atom die Sperre öffnet, nachdem dieses Atom auf der anderen Seite der Schlitze angekommen ist und registriert wurde! Diese Vorhersage ist so -80-

verrückt, dass manche Physiker völlig aus dem Häuschen geraten, wenn sie darüber reden. (»Schwarze Kunst« ist eine der harmloseren Bezeichnungen, die mir untergekommen sind.) Aber warum reagiert man so heftig? Warum sollte sich die Natur nach unseren Maßstäben »vernünftig« verhalten? Wir Primaten sind schließlich nur Nachzügler in einem Universum, das bereits Milliarden von Jahren existiert hatte, als unsere Vorfahren in Afrika von den Bäumen kletterten. Die Natur ist nicht rational oder irrational, sie ist einfach so. Und ich nehme an, dass uns der Quantenlöscher in dieser Angelegenheit noch einmal beschäftigen wird.

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Wie spät ist es? Seit langem stehen wir vor dem Problem der Definition von Zeit. Vor fünftausend Jahren errichteten Steinzeit-Stämme im südenglischen Stonehenge ein riesiges astronomisches Observatorium, durch das der Anfang eines neuen Jahres festgelegt werden sollte. Heutige Atomuhren gehen auf eine Billionstel Sekunde genau. Aus Sicht der Wissenschaft ist die Zeitmessung sehr einfach: Man muss nur ein sich regelmäßig wiederholendes Naturphänomen finden und als Uhr benutzen. Die ersten Phänomene dieser Art waren die Bewegungen der Erde - ihre Umlaufbahn um die Sonne (die das Jahr definiert) und ihre Drehung um die eigene Achse (die den Tag definiert). Später ersetzte das Schwingen eines Pendels die schwerfällige Erde, und im Eisenbahnzeitalter gingen Uhren bereits auf den Bruchteil einer Sekunde im Jahr genau. In jüngerer Zeit sorgten die Schwingungen eines Stückchens Quarz für noch größere Genauigkeit. Die Entwicklung der Vergleichsgrößen von der Drehung der Erde bis zur Schwingung von Quarz illustriert eine wichtige Erkenntnis über die Zeit: Ereignisse, die sich nach dem alten Standard sehr regelmäßig zu wiederholen schienen, erwiesen sich oft als ruckartig und ungleichmäßig, wenn sie in dem kleinen Maßstab untersucht wurden, den die neueren Standards bieten. Die Drehung der Erde verläuft in Wirklichkeit recht ungleichmäßig. Wenn der Wind nach Westen weht, fällt die Erde nach Osten zurück - was die Länge eines Tages um einige Zehntausendstel Sekunden verändern kann. Auch Gezeiten und Erdbeben können die Länge des Tages verändern. Eine Möglichkeit, die Genauigkeit einer Zeitmessung zu kennzeichnen, besteht in der Bestimmung der Dezimalstelle, ab der sie nicht mehr verlässlich ist. So wäre eine Uhr, die im Jahr -82-

eine Sekunde verliert, ab der siebten Dezimalstelle nicht mehr zuverlässig. Dementsprechend kann man den besten Pendeluhren bis zur sechsten und den besten Quarzuhren bis zur neunten Dezimalstelle vertrauen. Beide sind für die moderne Technologie aber bei weitem nicht genau genug. Auftritt Atomuhr. In den späten vierziger Jahren entwickelte der Physiker Norman Ramsey (der später den Nobelpreis erhielt) eine Möglichkeit, die Rotation von Elektronen in Atomen sehr genau zu messen. Das Ergebnis dieses Fortschritts, die Atomuhr, ist der heute in der ganzen Welt gebräuchliche Zeitstandard. In diesen Uhren bahnen sich Atomstrahlen ihren Weg abwechselnd durch Magneten und Hohlräume, was eine extrem genaue Messung der Frequenzen erlaubt, die bei der Bewegung der beteiligten Elektronen auftreten. 1967 definierte man eine Sekunde als die Zeit, die für 9 192 631 770 Wiederholungen einer bestimmten Periode eines Cäsiumatoms erforderlich ist. Der Vorteil der Verwendung von Elektronen zur Zeitmessung ist offensichtlich: Sie werden weder von den Gezeiten noch vom Wind beeinflusst. Jedes Elektron in jedem Cäsiumatom der Welt verhält sich genau gleich, was den Cäsium-Standard ebenso universal wie reproduzierbar macht. Atomuhren sind auf dreizehn Dezimalstellen genau. Die Atomuhren, die in den Vereinigten Staaten die Zeit angeben, befinden sich im Naval Observatory in Washington D.C., und weitere Uhren an den National Institutes for Standards and Technology in Maryland und Colorado. Diese Uhren gehören zu einem weltweiten Netz von Zeit-Büros. Gemeinsam beobachten diese Büros die ungleichmäßige Drehung der Erde. In periodischen Abständen »stimmen sie darüber ab«, ob sich die Erddrehung stark genug verlangsamt hat, um in den normalen Zeitstandard eine »Schaltsekunde« einzufügen. Diese Neubestimmung ge schieht etwa einmal im Jahr. Eigentlich möchte man meinen, dreizehn Dezimalstellen sollten genügen, damit alle zufrieden sind, aber gegenwärtig bemüht man sich -83-

verschiedentlich darum, die Sache noch besser zu machen. Eine dieser Bemühungen entspringt einer neuen Technologie, die es erlaubt, einzelne Atome (oder kleine Atomgruppen) einzufangen und sie über lange Zeit (der Rekord steht bei einigen Monaten) von der Umgebung zu isolieren. Sobald eine kleine Gruppe von Atomen isoliert ist, können Laser die Atome verlangsamen, so dass ihre Bewegungen eine geringere Auswirkung auf das emittierte und absorbierte Licht haben. Für kurze Zeit haben derartige Geräte bereits eine Genauigkeit von dreizehn Dezimalstellen erreicht und sollten im Prinzip sogar auf fünfzehn kommen können. Daneben wurde auch schon vorgeschlagen, Radiowellen, die von toten Sternen, den so genannten »Pulsaren«, ausgesandt werden, zur Einrichtung eines Zeitstandards zu verwenden. Pulsare rotieren mit hoher Geschwindigkeit (bis zu mehreren tausend Umdrehungen in der Sekunde) und senden entlang ihrer Rotationsachsen Radiostrahlen aus. Es wurde vorgeschlagen, die sich wiederholenden Signale einiger stabiler Pulsare als Grundlage für die Zeitmessung herzunehmen. Befürworter dieser Methode gehen von einer potentiellen Genauigkeit von fünfzehn Dezimalstellen aus, wenngleich erst wenig praktische Arbeit geleistet wurde. Der wichtigste Einsatzbereich präziser Zeitmessung in der heutigen Technologie ist das »Satellitennavigationssystem«, das aus einer Reihe von Satelliten besteht, die mit Atomuhren ausgestattet sind. Wenn ein Beobachter auf der Erde Signale auswertet, die exakt gleichzeitig von mindestens vier Satelliten ausgesandt wurden, kann er seine Position bis auf wenige Fuß genau bestimmen. Diese Fähigkeit kommt bereits zum Einsatz, um Flugzeuge ohne die Steuerung eines Piloten landen zu lassen, und vielleicht werden dadurch eines Tages Autos ohne Fahrer über die Autobahn gelotst.

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Und die Zeitreise? In der Sciencefiction-Literatur gibt es eine lange Tradition der Zeitreise, die bis zu H.G. Wells' Roman Die Zeitmaschine aus dem Jahre 1895 zurückreicht. Als Kind war ich fasziniert von diesen Geschichten. Ich will Ihnen von einem PhantasieExperiment berichten, das ich mir damals überlegt hatte. Es ging um eine Maschine, die etwas (meinetwegen eine Murmel) in die Vergangenheit versetzen konnte. Mit einem Knopf konnte man die Maschine einschalten und die Murmel um fünfzehn Minuten zurückschicken; mit dem anderen konnte man die Maschine mitsamt der Murmel in die Luft jagen. Ich versuchte mir vorzustellen, am Schreibtisch zu sitzen und zu beobachten, wie die Murmel aus der Zukunft mit einem Schlag auftaucht. Das wäre wie »Fangen-Spielen« mit dem Universum. Wenn die Murmel aus der Zukunft nicht käme, könnte man den Knopf drücken, um sie zu holen, und käme sie doch, könnte man die Maschine in die Luft sprengen, damit sie nicht kommt. In beiden Fällen würde der menschliche Wille klar über die unpersönlichen Gesetze des Universums triumphieren. Wenn man sich über Zeitreisen unterhält, ergeben sich allerlei Paradoxien. Die vielleicht berühmteste ist die »GroßvaterParadoxie«, bei der jemand in die Vergangenheit reist und die Hochzeit seines Großvaters verhindert. Wenn ihm das gelänge, wäre er natürlich nie geboren worden und hätte folglich auch nie in die Vergangenheit reisen können, worauf sein Großvater doch geheiratet hätte und er doch geboren worden wäre und... Sie merken, worauf es hinausläuft. Vielleicht war es das Nachdenken über derartige Paradoxien, das Stephen Hawking auf die Formulierung der so genannten »Theorie des Chronologie-Schutzes« brachte, die im Grunde aussagt, dass immer ein Grund vorhanden sein wird, warum es keine Zeitreise -85-

geben kann. Als wissenschaftliche Idee ähnelt die Zeitreise ein wenig den Parallelwelten. Gelegentlich taucht sie unerwartet als Folge irgendeiner Theorie auf und wird mit großem Tamtam angekündigt, aber bei näherem Hinsehen entdeckt man (bislang jedenfalls) immer einen Faktor, der nicht bedacht wurde und einen Strich durch die Rechnung macht. Ich hatte wahrscheinlich Glück, bereits am Anfang meiner Laufbahn in eine solche Episode verwickelt zu werden und dadurch eine gewisse Immunität zu erwerben. Anfang der siebziger Jahre diskutierte man in der Physik über ein hypothetisches Teilchen, das Tachyon, das angeblich schneller als mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sein konnte. Wenn solche Teilchen tatsächlich existieren (wofür bislang niemand auch nur Indizien hat), wäre es möglich, einige Spielchen mit Tachyonen zu spielen, die fast mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sind (die ganzen Details brauchen Sie hier nicht zu interessieren) und Botschaften in die Vergangenheit zu senden. Das würde ebenso leicht zur Großvater-Paradoxie führen wie zum Zurückschicken einer Person in die Verga ngenheit schließlich würde der Ausspruch »Mein Gott, heirate nicht diese Frau« genauso zur Paradoxie der Bewegung führen wie alles andere. In diesem Fall konnte ich zusammen mit einem Studenten aufzeigen, dass das Problem der Unterscheidung zwischen absichtlich emittierten Tachyonen und Tachyonen der kosmischen Hintergrundstrahlung das Versenden einer sinnvollen Botschaft verhindern würde. In jüngerer Zeit befassten sich Theorien der Zeitreise mit Schwarzen Löchern, jenen massereichen Objekten, die die Raumstruktur ihrer Umgebung krümmen. Die allgemeine Relativität lehrt uns, dass Raum und Zeit zusammenhängen (daher der Begriff Raum-Zeit); die Verzerrung des Raums verzerrt also auch die Zeit. In einigen Fällen ist es möglich, einen Weg zu finden, wie ein Raumschiff zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren kann, bevor es seine Reise antrat. Eine beliebte Version dieser Idee hat mit dem so genannten -86-

»Wurmloch« zu tun. Wie Star-Trek-Fans wissen, ist ein Wurmloch eine hypothetische Verbindung zwischen zwei Schwarzen Löchern - stellen Sie sich einen Tunnel durch eine andere Dimension vor. Die Idee war, das Wurmloch so umzubiegen, dass die beiden Enden dicht nebeneinander liegen, und dann ein Schwarzes Loch annähernd auf Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen. Das hätte den Effekt, die Zeit in dieser Region zu krümmen, und würde einem Raumschiff erlauben, »untenwann« (um einen wunderbaren Ausdruck Isaac Asimovs zu gebrauchen) zu reisen. Bei näherer Betrachtung stellte sich jedoch heraus, dass die Situation nicht so einfach war (wenngleich die meisten Leute eine Beschleunigung von Schwarzen Löchern auf Lichtgeschwindigkeit nicht unbedingt als einfach ansehen würden). Wie sich herausstellte, würde die große Energie, die erforderlich ist, um den Raum im Umfeld eines sich beschleunigenden Schwarzen Lochs zu krümmen, das Vakuum in diesem Gebiet sprengen und das Wurmloch letztlich zerstören. Mit anderen Worten: Der »Tunnel« von einem Schwarzen Loch zum anderen würde sofort nach seinem Bau wieder zerstört. Kann ich sicher sein, dass jede Theorie der Zeitreise ein ähnliches Schicksal ereilen wird? Natürlich nicht - man kann nie wissen, wie spätere wissenschaftliche Theorien aussehen werden. So hege ich eine gewisse Hoffnung, dass die Menschen eine Möglichkeit finden werden, die Barriere der Lichtgeschwindigkeit zu umgehen und in die Galaxie auszubrechen. Solche Hoffnungen habe ich jedoch nicht für die Zeitreise, trotz der angenehmen Stunden, die ich mit der Lektüre entsprechender Sciencefiction zugebracht habe. Das vielleicht überzeugendste Argument für diese Einschätzung stammt von Stephen Hawking. Wenn die Zeitreise überhaupt möglich ist, argumentiert er, wird eine spätere Generation mit Sicherheit herausfinden wie. -87-

Und er fragt: »Wo sind die ganzen Touristen aus der Zukunft?«

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Gravitationswellen: ein neues Fenster zum Weltall? Einsteins allgemeine Relativitätstheorie ist nach wie vor die beste Erklärung des Phänomens der Schwerkraft, aber sie hat eine erstaunlich geringe Zahl von Experimenten zu ihrer Bestätigung hervorgebracht. Dies liegt daran, dass sie sich nur in wenigen ungewöhnlichen Situationen deutlich von Isaac Newtons guter alter Theorie der Schwerkraft unterscheidet (etwa bei der Krümmung von Licht auf seiner Bahn um die Sonne). Aus diesem Grund halten Wissenschaftler stets die Augen offen, um neue Methoden zur Überprüfung dieser Theorie zu finden. Eine Aussage der Theorie, die prinzipiell in einem Labor auf der Erde getestet werden könnte, hat mit den so genannten Gravitationswellen zu tun. Wenn sich eine Masse bewegt - so die Theorie -, bewegt sich eine Reihe von Wellen von dieser Masse weg, so wie sich Wellen auf einem Teich von der Stelle wegbewegen, an der ein Stein hineingeworfen wurde. Die Gravitationswelle, die entsteht, wenn Sie winken, ist viel zu klein, um gemessen zu werden, aber Ereignisse, bei denen sich große Massen rasch bewegen - wie der Kollaps einer Supernova -, sollten eigentlich Wellen erzeugen, die auf der Erde nachweisbar sind. Hier ist ein Beispiel, wie man sich diese Suche vorstellen kann: Stellen Sie sich einen langen, hohlen und flexiblen Plastikschlauch vor, der auf einem Teich schwimmt. Wenn Sie einen Stein in den Teich werfen, bewegt sich dieser Schlauch beim Passieren der so erzeugten Wellen entsprechend, das heißt wellenförmig. Durch die Beobachtung des Schlauchs lässt sich die Existenz der Wellen erkennen, ohne dass man unbedingt das Wasser sieht. Auf ganz ähnliche Weise sollten Veränderungen in einem -89-

Schlauch das Vorbeiziehen einer Gravitationswelle anzeigen. Doch anstatt sich wellenförmig zu bewegen, sollte der Schlauch die Existenz einer Gravitationswelle durch eine Veränderung seines Querschnitts deutlich machen. Wenn Sie die Schnittfläche des Schlauchs betrachteten, würden Sie sehen, wie sich sein runder Querschnitt verwandelt: erst in eine Ellipse mit vertikal langer Achse, dann wieder in einen Kreis, dann in eine Ellipse mit horizontal langer Achse, dann wieder in einen Kreis usw. Bei den ersten (erfolglosen) Bemühungen zur Entdeckung von Gravitationswellen in den siebziger und achtziger Jahren wurden große Metallstäbe im Inneren unseres Plastikschlauchs verwendet. Die Stäbe wurden mit allerlei Geräten versehen, um Veränderungen der Form zu erkennen, aber letztlich scheiterten die Experimente, weil die vermuteten Auswirkungen so gering waren. So betrug die erwartete Abweichung vom runden Querschnitt des Zylinders weniger als den Durchmesser eines einzigen Atoms. In Experimenten spielen diese kleinen Schwingungen aus der Umwelt eine wichtige Rolle. Zugeschlagene Türen, vorbeifahrende Autos und sogar der Wind, der sich an einem Gebäude fängt, bringen einen Metallstab zum Vibrieren, und diese Vibrationen könnten leicht als Folgen von Gravitationswellen interpretiert werden. Um solchem »Lärm« zu begegnen, geben sich die Wissenschaftler größte Mühe, ihre Anlagen von der Umwelt abzuschirmen - normalerweise wird das Gerät auf einen dicken Stoßdämpfer aus Gummi gesetzt, der auf einer Marmorplatte liegt, die wiederum (wenn möglich) direkt auf dem Grundgestein ruht und in keiner Weise mit dem Gebäude verbunden ist. Außerdem werden zwei Experimente simultan an unterschiedlichen Orten durchgeführt, damit der Lärm am einen Ort möglichst nicht am anderen sichtbar wird. 1994 wurde in Hanford im Bundesstaat Washington Neuland beschritten und mit der nächsten Generation von Experimenten -90-

zu Gravitationswellen begonnen. In diesem 250 Millionen Dollar teuren Projekt soll der Nachweis nicht mehr mit einem einfachen Metallzylinder geführt werden. Das Arbeitsteil des Detektors besteht aus zwei 4 Kilometer langen und rechtwinklig angeordneten Metallrohren. In den Rohren herrscht ein hohes Vakuum, und an ihren Enden befindet sich, von Erschütterungen abgeschirmt, je eine Kammer mit den Testmassen. Stellen Sie sich diese beiden Testmassen als isolierte Metallzylinder von 4 Kilometer Länge und 4 Kilometer Durchmesser vor. Die oben beschriebenen Veränderungen des Querschnitts sollen sich in dieser Anlage als kleine Abweichungen der relativen Position der beiden Massen auswirken. Wenn das System funktioniert, dringt ein Lichtstrahl von einem Laser durch einen teilweise versilberten Spiegel, so dass die Hälfte des Strahls die beiden Schenkel entlangwandert. Die beiden Strahlen werden von den Testmassen reflektiert, wandern durch die Röhre zurück und werden wieder zusammengeführ t. Durch die Entdeckung kleiner Veränderungen der relativen Position der Lichtwellenkämme lassen sich kleine Veränderungen der Position der Testmassen erkennen. Ein derartiges Instrument bezeichnet man als Interferenzgerät, und das gesamte Projekt heißt »Laser Interferometer Gravitational Observatory« oder kurz LIGO. Später wird eine zweite Anlage in Louisiana gebaut, um den Geräuschfaktor ausschalten zu können. Mit diesen Observatorien wird ein ganz neues Fenster zum Weltall geöffnet. Man wird nicht nur solche Gravitationswellen »sehen« können, die von Supernovae ausgesandt werden, sondern auch solche von Sternensystemen, in denen sich die einzelnen Sterne umkreisen, von vibrierenden Schwarzen Löchern, von Material, das in Neutronensterne und Schwarze Löcher fällt, und von einer ganzen Menagerie seltsamer Sternentiere. Wenn man in der Vergangenheit - etwa durch Satellitenobservatorien - ein neues Fenster zum Weltall geöffnet -91-

hat, wurde immer etwas Neues und Wunderbares entdeckt. Ich nehme an, dass LIGO genauso aufregend wird.

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Wie kalt kann es werden? Eine der großen Einsichten der Physiker des 19. Jahrhunderts bestand darin, dass Temperatur mit der Bewegung von Atomen und Molekülen zusammenhängt. Je schneller sich die Atome und Moleküle in einem Material bewegen, desto heißer ist es. Diese Vorstellung lässt ganz selbstverständlich an eine tiefstmögliche Temperatur denken, den absoluten Nullpunkt, was einer Situation entspricht, bei der sich die Atome einfach nicht mehr bewegen. (In der Quantenmechanik wird diese Definition leicht abgewandelt; Atome am absoluten Nullpunkt besitzen dort nicht Nullgeschwindigkeit, sondern die niedrigstmögliche Energie.) Der absolute Nullpunkt liegt bei - 273° Celsius oder - 456° Fahrenheit, und niedrige Temperaturen werden danach gemessen, wie nahe sie an diese Zahl herankommen. Es gibt viele Möglichkeiten, niedrige Temperaturen zu erzeugen. So kann man eine Flüssigkeit verdampfen, um Wärme zu entziehen (etwa wenn ein Mensch schwitzt), oder man kann ein Gas plötzlich ausdehnen (weshalb sich Spraydosen kalt anfühlen, wenn man eine Weile gesprüht hat). Diese traditionellen mechanischen Methoden verwendete man, um Temperaturen von wenigen Grad über dem absoluten Nullpunkt zu erreichen. An diesem Punkt bewegen sich die Atome sehr träge, aber es ist schwierig, sie noch weiter zu verlangsamen. Ein großer Durchbruch auf dem Weg zu niedrigen Temperaturen gelang in den achtziger Jahren, als man die Fähigkeit erwarb, kleine Atomgruppen in magnetischen Fallen zu suspendieren und mit Lasern zu bearbeiten. Diese Methode wurde oft flapsig als »atomare Molasse« bezeichnet und verlangte einige kunstvolle Beinarbeit mit dem Laser. Und so funktioniert sie: Eine Atomgruppe wird in Magnetfeldern -93-

gefangen. Die Atome haben eine niedrige Temperatur, aber sie bewegen sich noch ein wenig. Laserlicht wird aus ganz unterschiedlichen Richtungen auf die Atome gelenkt und überflutet sie mit Photonen. Atome, die sich auf die Photonen zubewegen, nehmen sie als blauverschoben (und damit als energiereicher) wahr, während Atome, die sich von den Photonen wegbewegen, sie als rotverschoben (energieärmer) sehen. Der Trick besteht darin, die Energie der Photonen so anzupassen, dass Atome, die sich von ihnen wegbewegen, das Licht rasch absorbieren können, die anderen Atome aber nicht. Letztlich werden die Laserfrequenzen so angepasst, dass nur Atome mit relativ hoher Geschwindigkeit Photonen absorbieren. Sobald die Atome die Photonen absorbiert haben, wird ihre Energie im Inneren des Atoms verteilt und schließlich mit der normalen Absorptionsfrequenz des Atoms wieder abgestrahlt. Dies bedeutet, dass man durch den Einsatz von Lasern Atome dazu bringen kann, Photonen mit niedriger Energie zu absorbieren und mit höherer Energie wieder abzustrahlen. Dieses Energiedefizit muss irgendwo herrühren, und der einzige Grund ist die Bewegungsenergie des Atoms selbst. Ein Atom, das dieses kleine Menuett mit Laserphotonen durchlaufen hat, wird sich später langsamer bewegen. Unabhängig davon, in welche Richtung sich ein Atom bewegt, wird es von einigen Photonen überholt, absorbiert diese und verlangsamt sich. Aus der Perspektive des Atoms ist es wie der Versuch, ein MolasseMeer zu durchdringen. Wenn man die Laser immer wieder nachstellt, kann man die Atome so weit verlangsamen, bis man einige beisammen hat, deren Temperatur wenige Millionstel Grad über dem absoluten Nullpunkt liegt. Bis vor kurzem waren das die niedrigsten Temperaturen, die je erzielt wurden. 1995 entdeckten Wissenschaftler an den National Institutes of Standards and Technology (NIST) einen Weg, um noch niedrigere Temperaturen zu erreichen. Sie begannen mit einer Sammlung eingefangener Cäsiumatome, die man wie oben -94-

beschrieben verlangsamt hatte. Dann richteten sie ihre Laser so aus, dass die Lichtwellen eine Reihe von Mulden ergaben. Stellen Sie sich die Atome als Murmeln vor, die auf einem Tisch rollen, und das Laserlicht als Berge und Täler auf der Tischplatte. Die Cäsiumatome werden verlangsamt, bis sie in die Mulden fallen. Sobald die Atome eingefangen sind, werden die Laser so angepasst, dass die Mulden allmählich breiter und flacher werden und sich die Atome allmählich von den Mulden lösen - letztlich wird die Sammlung von Atomen größer. Und genau wie eine Spraydose kühler wird, wenn sich das darin befindliche Gas ausdehnt, kühlt sich auch die Sammlung von Atomen ab. Die zusätzliche Energie wird abgestrahlt, und man erhält Temperaturen im Bereich von einigen hundert Milliardstel Grad über dem absoluten Nullpunkt. Nach den ersten Experimenten wurden Temperaturen im Bereich von 700 Milliardstel Grad über dem absoluten Nullpunkt berichtet, aber diese Zahl ist bereits auf 30 Milliardstel Grad gefallen und wird weiter zurückgehen. Doch unabhängig davon, wie weit die Temperaturen noch sinken, wie sehr man Atome noch verlangsamen und wie viele clevere Tricks man sich noch ausdenken kann, wird man den absoluten Nullpunkt nie ganz erreichen. Dies folgt aus einem obskuren physikalischen Gesetz, dem dritten Gesetz der Thermodynamik. Wie die Lichtgeschwindigkeit ist der absolute Nullpunkt offenbar eine feste Grenze der Natur, der man sich annähern, die man aber nie erreichen kann.

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3. Astronomie und Kosmologie

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Woraus besteht dunkle Materie? Wenn man in einer klaren Nacht zum Himmel blickt, kann man ein paar tausend Sterne sehe n. Mit einem Teleskop sind es noch viel mehr - ferne Galaxien, Gaswolken und Staub zwischen den Sternen. All diese Objekte geben entweder Licht ab oder absorbieren es. Wenn Sterne kein Licht emittierten, wüssten wir gar nicht, dass sie da wären. In den letzten Jahrzehnten sind die Astronomen zu der Erkenntnis gelangt, dass es eine Menge Materie im Universum geben muss, die mit Licht (oder anderen Arten von Strahlung) überhaupt nicht reagiert. Von dieser treffend als »dunkle Materie« bezeichneten Substanz weiß man nur durch ihre Gravitationswirkung. Das ist so, als könnte man nie den Mond sehen und müsste seine Existenz von den Gezeiten der Meere ableiten. Das Vorhandensein dunkler Materie wurde erstmals durch das Verhalten rotierender Galaxien wie der Milchs traße bemerkt. Die hellen Spiralarme dieser Galaxien sind umgeben von einem diffusen Meer aus Wasserstoff, der schwache Radiosignale abgibt. Durch das Aufzeichnen dieser Signale können Astronomen die Bewegungen des Wasserstoffs nachvollziehen. In jeder untersuchten Galaxie gibt es ein erstaunliches Phänomen - wie Blätter auf einem Fluss bewegt sich der Wasserstoff, als wäre er immer noch im allgemeinen Strom der Galaxie gefangen, obwohl er sich in Wirklichkeit weit außerhalb der Sternenregion befindet. Die einzige Schlussfolgerung, die sich daraus ziehen lässt, lautet, dass jede Galaxie von einem großen Ring an Material umgeben ist, das zwar nicht mit Licht (oder einer anderen Art von Strahlung) interagiert, aber trotzdem eine Gravitationskraft ausübt. Offenbar bestehen mindestens 90 Prozent einer Galaxie wie unserer eigenen Milchstraße aus dunkler Materie. Andere Studien haben dunkle Materie -97-

zwischen Galaxien in Sternhaufen entdeckt, wo die Gravitationskraft den Sternhaufen viel fester zusammenhält, als man auf Grundlage der Gravitationsanziehung zwischen den hellen Teilen der Galaxien vermuten würde. Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass man überall dort dunkle Materie gefunden hat, wo danach gesucht wurde. Das Universum besteht also zu über 90 Prozent aus dunkler Materie, deren Existenz bis vor wenigen Jahrzehnten noch nicht einmal vermutet wurde. Woraus besteht sie? Bei der Beantwortung dieser Frage ist die Wissenschaft in zwei Lager gespalten, die ich »Baryonisten« und »Exotiker« nennen will. Die Beze ichnung »Baryon« (vom griechischen Wort für »schwer«) bezieht sich auf Dinge wie Protonen oder Neutronen, aus denen gewöhnliche Materialien bestehen. Baryonisten argumentieren, die dunkle Materie sei ganz normales Material, das man einfach noch nicht entdeckt habe - beispielsweise jupitergroße Objekte zwischen den Galaxien. Die Exotiker behaupten dagegen, die dunkle Materie müsse etwas Neuartiges sein, was der Mensch noch nie gesehen habe. Sie wählen ihre Kandidaten aus einem ganzen Stall hypothetischer Teilchen aus, die verschiedene theoretische Physiker im Lauf der Jahre erträumt haben, die im Labor aber noch nie nachgewiesen wurden. Das eine Schlachtfeld ist theoretischer Natur. Dabei überlegen Wissenschaftler, wie sich eine bestimmte Art dunkler Materie in unsere Theorien über die Anfangsphase des Urknalls einfügen würde. Lässt sich von dieser Art der dunklen Materie erwarten, dass sie die enormen Sternhaufen und Superhaufen aus Galaxien entstehen ließ, die wir beim Blick zum Himmel erkennen? Würde eine andere Art erklären, weshalb alle Galaxien eine ähnliche Größe zu besitzen scheinen? Mein Gefühl ist, dass dieser Streit nicht so schnell beigelegt werden wird, weil Theoretiker auf beiden Seiten immer in der Lage sein werden, ihre Lieblingstheorien so weit zurechtzubiegen, dass sie zu den (dürftigen) Daten passen. -98-

Die Frage, woraus das Universum vor allem besteht, wird also auf dem anderen Schlachtfeld entschieden werden, dem der guten alten Experimente und Beobachtungen. 1993 fiel der erste Schuss, als Astronomenteams die Entdeckung von dunklen Objekten verkündeten, die die Milchstraße umkreisten. Sie hatten Millionen von Sternen in der Großen Magellanschen Wolke (einer kleinen Vorstadtgalaxie in der Nähe der Milchstraße) beobachtet, um einen Stern zu finden, der innerhalb weniger Tage heller und wieder dunkler werden sollte. Die Idee dahinter: Wenn sich ein massereiches dunkles Objekt zwischen uns und diesen Stern schiebt, wird das Licht um den Stern gelenkt, und das Objekt dient faktisch als Linse, die den Stern zeitweilig heller aussehen lässt. Solche Aufhellungen sind bereits dutzendfach beobachtet worden. Die dunklen Objekte werden als MACHOs (Massive Compact Halo Objects) bezeichnet und dürften höchstwahrscheinlich aus Baryonen bestehen. 1996 gaben Astronomen neue Ergebnisse bekannt, die darauf hinweisen, dass bis zu fünfzig Prozent der dunklen Materie in der Milchstraße aus MACHOs bestehen, vielleicht in Form ausgebrannter Sterne. Gleichzeitig finden in Labors um die ganze Welt direktere Suchen nach dunkler Materie statt. Hinter diesen Experimenten steckt der folgende Gedanke: Wenn wir tatsächlich in ein Meer aus dunkler Materie eingebettet sind, sollte die Bewegung der Erde darin einen »Dunkle-MaterieWind« erzeugen, so wie das Autofahren an einem windstillen Tag einen Luftzug bewirkt. Mit Blocks aus perfekten Siliziumkristallen, die auf einen Bruchteil eines Grades über dem absoluten Nullpunkt heruntergekühlt sind, warten die Physiker darauf, dass ein Teilchen aus dunkler Materie mit einem Siliziumatom kollidiert und genügend Energie entlädt, um den Kristall zu stören. Bei diesen Experimenten sucht man vor allem nach den exotischen Teilchen, die unter der Bezeichnung WIMPs (Weakly Interactive Massive Particles, schwach interaktive massereiche Teilchen) firmieren. Wenn -99-

diese Experimente Erfolg haben, werden wir erfahren, dass sich all unsere Bemühungen um die Erforschung des Universums bisher auf einen winzigen Bruchteil der Materie konzentriert haben und ganz andere Formen von Materie existieren, deren Wesen und Wirkung erst noch zu entdecken sind.

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Wie sind Galaxien entstanden? Über Galaxien müssen Sie zweierlei wissen: (1) In ihnen ist beinahe die gesamte sichtbare Masse des Universums konzentriert, und (2) sollte die erste Aussage eigentlich falsch sein. Unter Kosmologen ist dies als »Galaxie-Problem« bekannt. Wenngleich meine Darstellung des Problems ein wenig schnodderig ist, steht die Frage, warum das Universum so und nicht anders strukturiert ist, seit langem (ungelöst) im Raum. Um zu wissen, warum, muss man sich Gedanken machen, wie Galaxien im Kontext des Urknalls entstanden sein könnten. In seiner Frühphase war das Universum viel zu heiß und zu dicht für die Existenz von Atomen - Zusammenstöße zwischen Teilchen hätten sie sehr schnell aufgebrochen. Das Material bei der Entstehung des Universums muss also - wie die Sonne - ein Plasma gewesen sein, das Strahlung absorbierte. Wenn ein Teil des Plasmas zu einem Klumpen in der Größenordnung einer Galaxie verschmolzen wäre, hätte er mehr von der Strahlung in der Umgebung aufgenommen und wäre explodiert. Solange das Universum zu heiß für Atome war (was etwa für die ersten 500 000 Jahre gilt), konnten keine Galaxien entstehen. Sobald die Abkühlung so weit fortgeschritten war, dass stabile Atome existieren konnten, wurde das Universum für Strahlung durchlässig. Da das Hindernis der absorbierten Strahlung aus dem Weg geräumt war, konnten sich unter dem Einfluss der Gravitationskraft allmählich Materiebrocken zusammenschließen. Doch da kommt das Problem. Weil sich das Universum ausdehnte, entfernten sich Materiebrocken immer weiter voneinander, während die Schwerkraft versuchte, sie zusammenzuziehen. Wenn man wartet, bis sich Atome bilden können, ist die Materie zu weit verteilt und bewegt sich zu -101-

schnell, um jemals in Galaxien eingefangen zu werden. Dieses Problem wurde in den achtziger Jahren noch verschlimmert, als detaillierte Himmelsstudien ergaben, dass der Großteil der sichtbaren Materie nicht nur zu Galaxien zusammengezogen ist, sondern dass diese Galaxien Haufen bilden, die selbst wieder in größeren Zusammenschlüssen auftreten, den so genannten Superhaufen. Zwischen den Superhaufen gibt es leere Räume, die so genannten Leeren oder Voids. Heute glaubt man, das Universum gleiche einem Haufen Seifenblasen - die Materie in Superhaufen ist der Seifenfilm, und die Hohlräume sind das leere Innere der Blasen. Doch wenn die Materie während des Urknalls keine Möglichkeit gehabt hätte, sich zu Galaxien zusammenzuschließen, hätte sie sich gewiss nicht zu den größeren Haufen und Superhaufen sammeln können. Heute gibt es zum Problem der Galaxien im Wesentlichen zwei Ansätze, den - nennen wir sie so - theoretischen und den beobachtenden. Ersterer konzentriert sich darauf, einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, und zwar normalerweise mit der Annahme einer bislang unbestätigten Substanz wie der dunklen Materie. Der beobachtende Ansatz ignoriert die theoretischen Schwierigkeiten und konzentriert sich auf die Suche nach fernen Galaxien. Da Licht von diesen Galaxien seit Jahrmilliarden zu uns unterwegs ist, besteht die Hoffnung, dass wir irgendwann eine Galaxie bei ihrer Entstehung beobachten können. Mit diesen richtungweisenden Daten, meinen die Beobachter, sollten die Theoretiker in der Lage sein, die Dinge zu klären. Die gängigsten theoretischen Erklärungsansätze bauen, wie oben dargelegt, auf dunkle Materie. Der Theorie zufolge reagiert dunkle Materie nicht mit Strahlung und könnte sich daher unter dem Einfluss der Schwerkraft bereits vor der Bildung von Atomen zusammengeschlossen haben. Szenarios mit dunkler Materie gehen davon aus, dass die sichtbare Materie in das Zentrum der bereits entstandenen Konzentrationen dunkler Materie hineingezogen wurde, sobald das Universum etwas -102-

durchlässig war. Die wechselseitige Gravitationsanziehung zwischen Stückchen sichtbarer Materie war irrelevant - worauf es ankam, war die Anziehungskraft der dunklen Materie. Je nach den Eigenschaften, die man der dunklen Materie zuschreibt, kann man aufgrund dieser Theorien tatsächlich Galaxien, Sternhaufen und Superhaufen erzeugen. Während die Theoretiker zusehen, wie ihre Computer sich mögliche Welten ausdenken, bemühen sich beobachtende Astronomen eifrig um Daten, die definieren, in welcher Welt wir tatsächlich leben. Wenn wir ferne Objekte betrachten, werfen wir zugleich einen Blick in die Vergangenheit. Doch ferne Objekte sind nur schwach zu sehen, was diese Suche sehr schwierig macht. Lange waren die fernsten Objekte, von denen man wusste, Quasare punktförmige Lichtquellen, die in Form von Radiowellen gewaltige Energiemengen aussenden. Doch anhand moderner elektronischer Verfahren haben Astronomen erstmals herausgefunden, dass normale Galaxien so fern wie jedes Quasar sind. 1995 wurden sogar erstmals Galaxien entdeckt, die gerade zu entstehen scheinen - das Licht muss diese so genannten Urgalaxien verlassen haben, als das Universum weniger als eine Milliarde Jahre alt war. Während solche Daten nun allmählich eintreffen, sind die Theoretiker gezwungen, ihre Szenarios zur dunklen Materie zu überarbeiten, von denen viele Galaxien nicht so schnell entstehen lassen wollen. Ich rechne damit, dass sich dieser Austausch zwischen Theorie und Beobachtung in naher Zukunft intensivieren wird, wenn mehr Daten zu fernen Galaxien vorliegen. Natürlich erhofft man sich, dass die Daten jene Theorien aussortieren, die nicht funktionieren - und wir Aussage Nr. 2 von der obigen Liste streichen können.

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Wie alt ist das Weltall? Im Jahre 1929 veränderte der amerikanische Astronom Edwin Hubble nachhaltig unsere Sicht des Universums. Mit dem damals sensationellen Teleskop auf dem Mount Wilson in der Nähe von Los Angeles bewies er, dass (l) Sterne im Universum zu Galaxien zusammengeballt sind und (2) sich die Galaxien voneinander entfernen. Er entdeckte, mit anderen Worten, die Ausdehnung des Universums. Von dieser Entdeckung ist es nur ein kurzer Schritt zur Theorie des Urknalls, die besagt, dass das Universum zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit begann und deshalb ein bestimmtes Alter besitzt. (Um sich die gegenwärtige Ausdehnung des Universums vorzustellen, lassen Sie den Film in Gedanken rückwärts laufen, bis alles zu einem einzigen Punkt zusammenschrumpft.) Ein wenig bekanntes historisches Streiflicht von Hubbles ursprünglicher Arbeit ist, dass sein erster Wert für dieses Alter 2 Milliarden Jahre betrug. Von den frühen dreißiger Jahren bis 1956 (als, wie weiter unten beschrieben, eine Unstimmigkeit in den ursprünglichen Messungen bereinigt wurde) war das Universum offiziell nur halb so alt wie der Planet Erde! Ich erwähne diese historische Paradoxie, weil sich heute, dank der Ergebnisse des nach Hubble benannten Weltraumteleskops, eine ganz ähnliche Situation zu ergeben scheint. Zunächst ein Wort zur Altersbestimmung des Universums. Von jeder Galaxie muss man zwei Dinge wissen: Wie schnell sie sich von der Erde wegbewegt und wie weit sie entfernt ist. Die Berechnungen folgen im Prinzip dem Muster der Frage, wie lange ein Auto bereits unterwegs ist, wenn man weiß, dass es fünfzig Kilometer in der Stunde fährt und einhundertfünfzig Kilometer weit gekommen ist. -104-

Die Messung der Geschwindigkeit einer Galaxie ist einfach. Man beobachtet das Licht, das von einem Atom in dieser Galaxie ausgesandt wird, und vergleicht, ob es dieselbe Wellenlänge hat wie Licht, das von einem gleichartigen Atom im Labor emittiert wird. Wenn das Licht in der Galaxie eine längere Wellenlänge besitzt (und damit röter ist), muss sich die Quelle zwischen der Emissionszeit eines Wellenkamms und des nächsten verschoben haben. Wenn man diese Verschiebung misst und durch die Zeit zwischen den Pulsen teilt, erhält man die Geschwindigkeit des Atoms und der Galaxie, zu der es gehört. Das Hauptproblem bei der Altersbestimmung des Universums war (und ist) also nicht, die Geschwindigkeit der Galaxie herauszufinden, sondern die Entfernung zu ihr. Die Betrachtung einer fernen Galaxie ist wie die Betrachtung einer Glühbirne in einem völlig abgedunkelten Raum - man kann nie sagen, ob man etwas hell und weit entfernt oder düster und sehr nah sieht. Astronomen haben sich diesem Problem stets dadurch genähert, dass sie eine »Standardkerze« gesucht haben, deren gesamter Energieausstoß bekannt ist. Der Gedanke dahinter ist, dass man die Entfernung zum Objekt messen kann, wenn man weiß, wie viel Energie es aussendet, und misst, wie viel davon tatsächlich empfangen wird. Um noch einmal die Analogie zum abgedunkelten Raum zu bemühen, wäre die 100-Watt-Birne eine Standardkerze - wenn sie schwach leuchtet, weiß man, dass sie weit entfernt ist; leuchtet sie hell, muss sie ganz nah sein. In der Vergangenheit war die wichtigste Standardkerze der Sterntyp der variablen Cepheiden. (Der Name leitet sich vom Sternbild Cepheus ab, wo der erste Stern dieser Art entdeckt wurde.) Diese Sterne durchlaufen einen regelmäßigen Zyklus der Erhellung und Verdunkelung, der einige Wochen oder Monate dauert, und die Länge des Zyklus hängt mit der gesamten Energie zusammen, die der Stern in den Weltraum strahlt. Die Messung der Zyklusdauer eines Cepheiden -105-

entspricht damit in unserem Beispiel dem Ablesen der Wattzahl auf der Glühbirne. Hubbles Fähigkeit, einzelne variable Cepheiden in nahen Galaxien zu sehen, machte seine Entdeckung der Ausdehnung des Universums erst möglich. Durch die 1956 gemachte Entdeckung, dass Hubble zwei unterschiedliche Cepheiden als einen interpretiert hatte, wurde das Alter des Universums nun höher geschätzt als das der Erde. Bis 1994 war keine Methode leistungsfähig genug, um einzelne Sterne in Galaxienhaufen erkennen zu können, die mehr als etwa 50 Millionen Lichtjahre entfernt sind, weshalb von dieser Entfernung an indirekte Schätzungen angestellt werden mussten, um die Entfernungen zu Galaxien zu ermitteln. Das geschätzte Alter des Universums lag danach zwischen 7 und 20 Milliarden Jahren. 1994 isolierten zwei Gruppen von Astronomen (eine mit fortschrittlichen elektronischen Systemen von der Erde aus, die andere mit dem Weltraumteleskop Hubble) schließlich einige dieser Sterne und bestimmten die genaue Entfernung zu einer Gruppe von Galaxien, dem so genannten Virgo-Nebelhaufen. Die Ergebnisse ihrer Messungen: Das Universum ist zwischen 8 und 12 Milliarden Jahre alt. Diese Zahlen sind noch immer recht umstritten; seien Sie also nicht überrascht, wenn andere Wissenschaftler in den nächsten Jahren auf ein höheres Alter kommen. Wenn diese Altersangabe aber Bestand hat, wird sie einige unserer Vorstellungen über die Vorgänge im Universum erschüttern. Das drängendste Problem besteht nach Aussagen von Astronomen, die an den Lebenszyklen der Sterne arbeiten, darin, dass eine große Zahl von Sternen im Universum zwischen 12 und 16 Milliarden Jahre alt ist. Meine eigene Vermutung ist, dass wir die Vergangenheit neu aufrollen und das Alter des Universums nach oben korrigieren müssen. Wenn sich dies als unmöglich erweist, muss vielleicht die gesamte Urknall-Theorie des Universums erneut auf den Prüfstand. -106-

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Wo sind die fehlenden Neutrinos von der Sonne? Jede Wissenschaft hat ein Problem, das nicht zu lösen ist und einfach nicht verschwindet. Für Astronomen, die Sterne untersuchen, ist es das Problem der Neutrinos von der Sonne. Neutrinos sind geisterhafte Teilchen, die durch Kernreaktionen entstehen. Sie haben keine Masse oder Ladung und reagieren kaum mit Materie. Während Sie dies lesen, dringen sie millionenfach durch Ihren Körper, reagieren aber nicht mit Ihren Atomen, weshalb Sie ihre Existenz nicht spüren. Ein Neutrino könnte sogar eine mehrere Lichtjahre dicke Bleiwand durchdringen, ohne etwas durcheinander zu bringen oder eine Spur von seinem Durchgang zu hinterlassen. Ihr ausweic hender Charakter lässt Neutrinos so schwer erkennen, aber dadurch sind sie für die Untersuchung der Sonne äußerst nützlich. Man glaubt zu wissen, welche Kernreaktionen sich im Zentrum der Sonne abspielen, woraus sich schließen lässt, wie viele Neutrinos produziert werden. Diese Neutrinos strömen aus dem Zentrum der Sonne und kreuzen etwa acht Minuten später die Erdumlaufbahn. Wenngleich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Neutrino mit einem Atom auf der Erde reagiert, sehr gering ist, sind es so viele, dass es aus Zufall gelegentlich zu einer Reaktion kommt. Diese flüchtigen Zusammenstöße sind es auch, die das Problem der Neutrinos von der Sonne entstehen lassen. Seit Mitte der sechziger Jahre läuft in einem 1450 Meter tiefen Stollen der Homestake-Goldmine in Lead (Süd-Dakota) ein Experiment. Der wichtigste Bestandteil des Experiments ist ein Tank mit mehr als 6000 Tonnen Reinigungsflüssigkeit. Mehrmals am Tag trifft eines der Neutrinos, die durch den Tank strömen, auf ein Chloratom der Reinigungsflüssigkeit und verwandelt es in Argon. Anhand von präzisen chemischen -108-

Methoden sammeln und zählen die Wissenschaftler einzeln die Argonatome, und seit Mitte der sechziger Jahre fielen die Zahlen regelmäßig zu niedrig aus - man erhält nur zwischen einem Drittel und der Hälfte der Neutrinos von der Sonne, die man eigentlich erhalten sollte. In jüngerer Zeit kamen auch Experimente in Russland und Europa, die andere Materialien und Methoden zum Zählen der Neutrinos verwendeten, zum selben Ergebnis: Im letzten Vierteljahrhundert ist die Zahl der Neutrinos, die auf ihrem Weg von der Sonne durch die Erde drangen, zu gering. Zunächst machte man sich über dieses Ergebnis keine allzu großen Gedanken - schließlich mochte das Experiment in SüdDakota fehlerhaft sein, und vielleicht hat man ja auch das eine oder andere Detail der Kernreaktionen in der Sonne falsch verstanden. Doch im Lauf der Zeit, als die Lücken in der Interpretation der Ergebnisse nach und nach geschlossen wurden, machten sich die Astronomen immer größere Sorgen. Wie sollte man schließlich hoffen können, die enorme Vielfalt der anderen Sterne am Himmel zu begreifen, wenn man trotz der enormen Datenfülle nicht einmal weiß, wie unsere Sonne funktioniert? Einige Vorschläge zeugten bereits von einer gewissen Verzweiflung. So erinnere ich mich an eine Theorie, dass es im Zentrum der Sonne ein wachsendes Schwarzes Loch gebe, das bereits einen Teil des Sonnenkerns, wo Kernreaktionen stattfinden, aufgezehrt habe und sich eines Tages bis zur Oberfläche durchfresse, um das auszulösen, was man nur als ultimative Umweltkatastrophe bezeichnen kann. Heute gründen die Hoffnungen auf eine Lösung des Problems der Neutrinos von der Sonne auf den Eigenschaften der Neutrinos selbst. Man weiß, dass es drei Arten von Neutrinos gibt, nämlich das Elektron-Neutrino, das My-Neutrino und das Tau-Neutrino, die alle mit einem anderen Elementarteilchen zusammenhängen. Wenn die Masse des Neutrinos exakt bei Null liegt, verrät uns die Theorie, dass diese drei verschiedenen -109-

Typen stets getrennt bleiben müssen. Da bei Kernreaktionen nur das Elektron-Neutrino erzeugt wird und mit Atomen auf der Erde interagieren kann, ist die Existenz der anderen beiden Neutrinos für das Problem der Neutrinos von der Sonne in herkömmlicher Sicht einfach nicht relevant. Wenn die Neutrinos aber eine geringe Masse besitzen (wie einige moderne Feldtheorien prophezeien), kann ein Prozess der Mischung oder »Oszillation« stattfinden. Wenn die Neutrinos aus der Sonne strömen, verändern sie bereits ihre Identität. Was ursprünglich ein Strom von Elektron-Neutrinos war, wird zu einem Strom, der alle drei Typen enthält. Stellen Sie sich eine Kolonne von Fahrzeugen vor, die auf eine Autobahn auffahren. Zunächst befinden sich alle Fahrzeuge auf der rechten Spur, aber mit der Zeit wechseln einige die Spur, und nur ein Teil bleibt weiterhin auf der rechten. Da Detektoren auf der Erde nur auf ElektronNeutrinos ansprechen und uns aufgrund der Oszillationen weniger von dieser Neutrino-Art erreichen wird, wäre das Problem der Neutrinos von der Sonne gelöst. Diese Theorie wurde 1995 untermauert, als Wissenschaftler am Los Alamos National Laboratory die Ergebnisse eines Experiments bekannt gaben, bei dem My-Neutrino-Strahlen in einen mit Babyöl gefüllten 9-Meter-Tank geschossen wurden. Man beobachtete einige Ereignisse, die von einem ElektronNeutrino ausgelöst wurden, was - die Richtigkeit des Experiments vorausgesetzt - bedeutet, dass Neutrinos tatsächlich oszillieren (in diesem Fall vom My- zum Elektron-Neutrino). Es gibt Pläne, dieses Experiment noch zu verbessern; ein Vorschlag lautet, einen Neutrinostrahl vom Fermi National Accelerator Laboratory in der Nähe von Chicago durch die Erde zu einem Detektor in Nord-Minnesota zu schicken und zu beobachten, was dem Strahl unterwegs widerfährt. Die Seifenoper um die Neutrinos von der Sonne ist aber schon so lange im Gange, dass ich keine Hoffnung auf eine einfache Lösung mehr habe.

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Wie wird das Weltall enden? Seit Edwin Hubble aufgezeigt hat, dass sich das Weltall ausdehnt, ist bekannt, dass es zu einer bestimmten Zeit in der Vergangenheit begonnen hat (auch wenn man sich noch immer streitet, wann dieses Ereignis genau stattfand). Heute ist es durchaus üblich, dass Kosmologen über Ereignisse reden, die sich während der ersten Mikrosekunde der Existenz der Welt abspielten. Man kennt die Grundzüge der Entstehung des Universums inzwischen recht genau. Von der Zukunft des Universums lässt sich das hingegen nicht behaupten. Die entscheidende Frage liegt auf der Hand: Wird die derzeitige Ausdehnung ständig weitergehen, oder kehrt sie sich eines Tages um? Wenn das Universum dazu bestimmt ist, sich ewig auszudehnen, gilt es als offen. Kehrt sich die Ausdehnung aber eines Tages um, so dass die Galaxien wieder in sich zusammenstürzen (was von den Astronomen nur halb im Scherz »Big Crunch« genannt wird), bezeichnet man das Universum als geschlossen. Die Variante zwischen diesen beiden Möglichkeiten, bei der sich die Expansion verlangsamt und ganz allmählich zum Stillstand kommt, gilt als flaches Universum. Offen, geschlossen oder flach - dies sind die Optionen, zwischen denen man sich entscheiden muss, wenn man die Zukunft des Universums begreifen will. Eine einfache Analogie hilft, diese Frage besser zu verstehen. Wenn man auf der Erdoberfläche steht und einen Baseball in die Höhe wirft, fällt er irgendwann wieder auf den Boden zurück. Dies liegt daran, dass die gesamte Masse des Planeten unter den Füßen eine Gravitationsanziehung auf den Baseball ausübt, was dazu führt, dass er sich verlangsamt, zum Stillstand kommt und wieder auf den Boden zurückfällt. Würde man einen Baseball aber auf einem kleinen Asteroiden in die Höhe werfen, könnte -111-

man ihn jederzeit in den Weltraum schleudern. Auch wenn man ihn nicht stärker werfen würde als auf der Erde, könnte man beobachten, wie er auf Nimmerwiedersehen vom Asteroiden davonjagt. Es ist nicht so, dass der Asteroid keine Schwerkraft auf den Baseball ausüben würde, aber er besitzt zuwenig Masse, um die Richtung des Balls umzukehren. Der Baseball würde sich zwar ein wenig verlangsamen, aber nicht innehalten und zurückfallen. Betrachten Sie nun eine ferne Galaxie als analog zum Baseball, geht es bei der Frage, ob das Universum offen oder geschlossen ist, im Kern darum, ob im übrigen Universum genug Masse vorhanden ist, um eine Umkehr der Bewegung der Galaxie zu bewirken. Wenn die Masse ausreicht, um eine Gravitationskraft auszuüben, die in der Lage ist, diese Galaxie wieder zurückzuholen, ist das Universum geschlossen. Reicht die Masse nicht, so ist das Universum offen. So einfach ist das. In der Praxis ist es natürlich nicht so einfach, denn herauszufinden, wie viel Masse es im Universum gibt, kann natürlich ganz schön heikel werden. Man könnte zunächst die gesamte sichtbare Masse im Universum zusammenrechnen Sterne, Nebel, sogar Staubwolken, die man »sieht«, weil sie Licht absorbieren. Diese so genannte leuchtende Materie beträgt nur etwa 0, l Prozent der Masse, die notwendig ist, um (im Astronomen-Jargon) »das Universum zu schließen«. Wenn man noch die gesamte dunkle Materie hinzufügt, die man aufgrund ihrer Gravitationswirkung auf die Bewegung von Galaxien und Galaxienhaufen kennt, erhöht sich die Zahl auf etwa 30 Prozent. Die große Frage ist, wo es mehr Masse gibt. Wenn sie nicht vorhanden ist, ist das Universum offen und wird sich immer weiter ausdehnen. Im Verlauf von einigen zehn Milliarden Jahren werden die Sterne zu leuchten aufhören, wenn der ursprüngliche Sauerstoff, von dem sie ihre Energie beziehen, aufgebraucht ist. Theoretische Modelle legen nahe, dass in unvorstellbar langer Zeit die gesamte Materie des Universums entweder in Elementarteilchen zerfällt oder in Schwarze Löcher -112-

umgewandelt wird. Die Schwarzen Löcher werden dann - durch ein als Hawking-Strahlung bekanntes Phänomen - in Elektronen und Positronen verwandelt, die durch den leeren Raum reisen. Die aktuellen Theorien über den Ursprung des Universums (»inflationäre Welten«) sagen voraus, dass sich das Weltall irgendwann als flach erweisen wird. Das heißt, es wird genau die kritische Menge an Materie vorhanden sein, um das Universum zwischen unendlicher Ausdehnung und Zusammenziehen in der Schwebe zu halten. Oft liest man die Aussage, das Universum »müsse« flach sein, und hört Verweise auf die »fehlende Masse«. Dies ist eine unglückliche Wendung, da die Masse nur dann »fehlen« würde, wenn man sicher wüsste, dass sie eigentlich vorhanden sein sollte. Es gibt viele Stellen im Weltall, wo sich mehr dunkle Materie verstecken könnte. Einige Theorien besagen, dass die Konzentration dunkler Materie so etwas wie ein Gebirgszug ist. An den meisten Stellen ist die Konzentration gering, aber gelegentlich gibt es Gipfel. An diesen Gipfeln sammelt sich leuchtende Materie (etwa Galaxien) wie Schnee auf den Rocky Mountains, aber der Großteil der dunklen Materie verteilt sich in Wirklichkeit fein zwischen den Gipfeln, wo wir sie, wenn man diesen Theorien Glauben schenken darf, noch nicht entdecken konnten. Sollte sich der Großteil der dunklen Materie tatsächlich dort befinden, könnte das Universum in der Tat flach sein. Dann würde sich seine Zukunft von der Zukunft eines offenen Universums gar nicht so sehr unterscheiden ein allmähliches Auslaufen der Schöpfung. Nichts, worauf man sich besonders freuen könnte, oder?

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Wie viele andere Sterne haben Planeten? Es gibt jede Menge Gründe, warum man eine Antwort auf diese Frage haben möchte. Aus rein wissenschaftlicher Sicht eröffnet uns das Auffinden anderer Planetensysteme Einblicke in unser eigenes - ist es gewöhnlich oder ungewöhnlich, typisch oder einzigartig? Und dann stellt sich die Frage nach dem Leben. Da sich das einzige uns bekannte Leben auf unserem Planeten entwickelte, müssen noch andere Planeten gefunden werden, wenn wir je auf eine echte Version der Bar-Szene aus Star Wars stoßen wollen. Das zentrale Problem ist, dass Planeten im astronomischen Maßstab im Vergleich zu Sternen einfach nicht besonders groß oder bedeutend sind. Selbst wenn jemand vom nächsten Stern aus einen Blick auf unser Sonnensystem werfen würde, wäre keiner der Planeten als separates Objekt erkennbar. Um zu verstehen, warum, muss man sich folgendes Problem vor Augen halten: Das hellste Licht in den Vereinigten Staaten ist der Leuchtturm auf dem Empire State Building in New York. Stellen Sie sich vor, jemand würde einen Geburtstagskuchen mit einer Kerze direkt an den Rand der Linse des Leuchtturms stellen. Die Entdeckung Jupiters vom nächsten Stern aus gliche dem Versuch, diese Kerzen in Boston zu sehen! Dies bedeutet, dass man bei der Ausschau nach Planetensystemen nicht nach Bildern von einzelnen Planeten suchen darf. Die erfolgreichste Strategie ist die Suche nach Schwankungen in der Bewegung eines Sterns, die durch die Gravitationsanziehung der ungesehenen Planeten hervorgerufen werden. Es ist extrem schwierig, die Auswirkungen von Planeten auf die Bewegung eines Sterns festzustellen. Stellen Sie sich als Beispiel etwa den Einfluss des Jupiters auf die Sonne vor. Gemeinhin geht man -114-

davon aus, dass der Jupiter um die Sonne kreist, aber in Wirklichkeit bewegen sich die beiden um einen Punkt dazwischen, wie Tanzpartner bei einem Walzer. Die Sonne sollte also eigentlich wie eine unwuchtige Waschmaschine im Schleudergang aussehen. Doch der Punkt, um den sich Sonne und Jupiter drehen (das Massezentrum), ist in Wirklichkeit nur 1600 Kilometer vom Zentrum der Sonne entfernt - und damit deutlich innerhalb des Sonnenkörpers. Das Schwanken der Sonne wäre damit sehr gering und sehr schwer zu entdecken. Wird eine solche Schwankung aber trotzdem entdeckt, dann zeigt sie an, dass es einen Planeten gibt, da nichts anderes dafür verantwortlich sein kann. Seit den dreißiger Jahren wird immer wieder einmal behauptet, man habe eine auf Planeten zurückgehende Schwankung entdeckt. Das Resultat war meist deprimierend - eine Weile gab es eine allgemeine Aufregung, worauf man die zweite Runde der Messungen und Interpretationen einläutete und die Behauptung entweder widerrufen oder mit Vorsicht aufgenommen wurde. Tatsächlich gibt es erst seit 1994 allgemein akzeptierte Beweise für andere Planetensysteme. Diese Beweise entstammen der Messung von Radiowellen, die von einem Pulsar ausgesandt wurden - dem kleinen, dichten und sich schnell drehenden Rest, der übrig bleibt, wenn ein großer Stern in einer Supernova explodiert. Dieser spezielle Pulsar (mit der Bezeichnung PSR B1257+12) dreht sich etwa 160mal in der Sekunde und strahlt bei jeder Umdrehung einen Puls von Radiowellen zur Erde aus. Falls Planeten die Bahn des Pulsars bestimmen, scheint sich die Zeit zwischen den Pulsen zu verkürzen, wenn sich der Stern auf uns zubewegt, und zu verlängern, wenn er sich wegbewegt. Die Wissenschaftler, die PSR B1257+12 beobachteten, haben Unregelmäßigkeiten entdeckt, die angeblich von Planeten verursacht werden. Sie behaupten sogar, der Pulsar werde von drei Planeten begleitet - von denen zwei etwa dreimal so groß wie die Erde seien und einer etwa die Größe des Mondes habe. -115-

Sie dürfen aber nicht vergessen, dass ein Pulsar das ist, was von einer Supernova übrig bleibt. Eine solche Explosion würde mit Sicherheit jeden Planeten zerstören, der sich ursprünglich um den Stern gebildet hatte. So vermuten Theoretiker auch, dass die Planeten aus der Materie entstanden, die von der Supernova übrig blieb, und deshalb gar kein Leben beherbergen können. Mit anderen Worten: Das erste eindeutig identifizierte Planetensystem umkreist den falschen Stern! Dann verkündete eine Gruppe von Schweizer Astronomen 1995 die Entdeckung des ersten Planeten, der einen gewöhnlichen Stern umkreist. Dies war ein Stern in der Umlaufbahn 51 Pegasi (der einundfünfzighellste Stern im Sternbild Pegasus). Dieser Planet, dessen Größe zwischen Jupiter und Saturn angesiedelt ist, kreist so nahe um seinen Stern, dass er fast die äußere Atmosphäre des Sterns berührt; in unserem Sonnensystem wäre er weit innerhalb der Umlaufbahn des Merkurs. 1996 beric hteten zwei amerikanische Astronomen auf einer Tagung in San Antonio, dass Planeten, wie die meisten Astronomen vermuteten, in der Milchstraße recht verbreitet sind. Bei ihrer Beobachtung von Sternschwankungen am Lick Observatory bei San Francisco entdeckten sie noch zwei Sterne mit Planeten. So besitzt der Stern 70 Virginis (Jungfrau) einen gewaltigen Planeten - mit der achtfachen Größe des Jupiters in einer Umlaufbahn, die in unserem Sonnensystem knapp außerhalb der des Merkurs verliefe. Der andere Planet, der den Stern 47 Ursae Majoris umkreist, hatte nur etwa die dreifache Größe des Jupiters und befand sich auf einer Umlaufbahn, die außerhalb von der des Mars wäre. Eine Zeitlang hatte dieser Planet den Spitznamen »Goldilocks« (Goldköpfchen), weil er weder zu heiß noch zu kalt war, sondern genau die richtige Temperatur für flüssiges Wasser in seiner Atmosphäre hatte. Durch diese Entdeckungen wurde eine fieberhafte Suche nach weiteren Planeten ausgelöst. Als dieses Buch im Sommer 1996 (in der Originalversio n) in Druck ging, wurde eine weitere -116-

Entdeckung vermeldet, und in Astronomenkreisen redete man bereits über den »Planet-des-Monats-Club«. Wichtiger ist aber, dass unsere aktuellen Theorien über Sonnensysteme besagen, dass Riesenplaneten wie Jupiter nur in den äußeren Bereichen entstehen und nahe am Stern befindliche Planeten klein und steinig wie die Erde sind. Falls die Astonomen keine Theorie aufbringen, dass die neu entdeckten Planeten weiter außen entstanden und sich dann auf ihre Sterne zubewegten, wird man den Vorgang der Entstehung von Planeten vielleicht noch einmal überdenken müssen.

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Ist da jemand? Ich bin immer im Bilde, wenn sich bei der Suche nach außerirdischer Intelligenz (Search for Extraterrestrial Intelligence, SETI) etwas Neues tut, denn ich werde dann sofort von Reportern angerufen. Vor Jahren schrieb ich zusammen mit meinem Freund und Kollegen Robert Rood ein Buch, das der verbreiteten Meinung widersprach, die Galaxie sei voller intelligentem Leben. Ich stecke offensichtlich in einer Menge Karteikästen als derjenige, der anzurufen ist, wenn man begründeten Widerspruch braucht, aber ich fürchte, eine Menge Reporter ziehen enttäuscht wieder davon. Der Grund: Obwohl ich glaube, dass wir die einzige fortschrittliche technologische Zivilisation in der Galaxie sind, sollte SETI nach meiner Überzeugung mit allem Nachdruck verfolgt werden. Es ist eine der wenigen wissenschaftlichen Studien, deren Ergebnisse im negativen Fall genauso interessant wären wie im positiven. Der Mensch neigt dazu, den Himmel mit fremden Wesen zu bevölkern. So glaubte man im 19. Jahrhundert eine Zeitlang, dass Menschen in der Sonne lebten - der Gedanke dahinter war, dass die Sonne unter ihrer feurigen Hülle der Erde recht ähnlich sei. Es gab sogar ein »SETI-Programm«, um sie durch die Sonnenflecken hindurch zu erkennen. Die Sciencefiction der dreißiger und vierziger Jahre war voller insektenäugiger Monster von anderen Planeten (die normalerweise eine seltsame Ähnlichkeit mit spärlich bekleideten Starlets hatten). Seit dieser naiven Frühzeit hat unser Denken über SETI zwei klar unterscheidbare Phasen durchlaufen. Die erste Phase begann 1959, als eine Gruppe von Wissenschaftlern am Green Bank Radio Astronomy Observatory in West Virginia zusammenkam, um zu diskutieren, mit welcher Wahrscheinlichkeit man die Existenz -118-

von Außerirdischen nachweisen könne. Diese Konferenz führte zu der berühmten Drake-Gleichung (nach dem Astronomen Frank Drake), die besagt, die Anzahl der außerirdischen Zivilisationen im Universum, die sich im Augenblick darum bemühten, mit uns Verbindung aufzunehmen, sei N = R x P x E x L x I x T, wobei R für die Anzahl der Sterne in der Galaxie, P für die Wahrscheinlichkeit, dass ein Stern Planeten besitzt, E für die Anzahl der Planeten pro Stern, der Leben enthalten kann, L für die Wahrscheinlichkeit, dass sich Leben tatsächlich entwickelt, I für die Wahrscheinlichkeit, dass sich Intelligenz entwickelt (Intelligenz definiert als die Fähigkeit zum Bau von Radioteleskopen und zum Aussenden von Signalen) und T für die Dauer, mit der die Signale ausgesendet werden, steht. Die Wissenschaftler schätzten die Werte für diese Variablen und kamen so zu dem Schluss, es müsse in der Galaxie buchstäblich Millionen von Lebensformen geben. Dieser Gedanke fand natürlich Eingang in die populäre Kultur und gilt heute als unumstößliche Wahrheit. Die zweite Phase des Nachdenkens über außerirdische Intelligenz begann, als wir nach den Millionen ETs konkret Ausschau hielten. In den fünfziger Jahren hatte man den Gedanken an Leben auf der Sonne natürlich aufgegeben, war aber davon überzeugt, Leben auf dem Mars oder der Venus zu finden, vielleicht sogar auf einigen der größeren Monde. Mit der zunehmenden Erforschung des Sonnensystems im letzten Vierteljahrhundert zerstreuten sich diese Hoffnungen jedoch. Die Venus erwies sich als sengende Hölle, der Mars als kalte, wasserlose Wüste. Trotz des Optimismus der fünfziger Jahre gibt es heute keinen Beweis für Leben im Sonnensystem, wenngleich es auf dem Mars einmal primitives Leben gegeben haben könnte. Da man mittlerweile auch die Dynamik von Systemen wie Planetenatmosphären begriffen hat, ist man zu der Erkenntnis gelangt, dass Planeten wie die Erde - Planeten, die über die -119-

Milliarden Jahre, die es zur Entwicklung fortschrittlicher Lebensformen braucht, flüssiges Wasser auf ihrer Oberfläche haben - vermutlich recht selten sind. Der Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang ist »kontinuierlich bewohnbare Zone« (engl.: continuously habitable zone, CHZ), ein Band um einen Stern, in dem ein Planet wie die Erde existieren kann. Die CHZ um die Sonne erstreckt sich über eine Zone, die zwischen einem Prozent kleiner und fünf Prozent größer als die Erdumlaufbahn ist. Weiter außerhalb wäre die Erde seit langem überfroren, weiter innerhalb wie die Venus. Kleinere Sterne als die Sonne besitzen gar keine CHZ, und die größeren existieren nicht lange genug, damit sich Leben entwickeln könnte. Selbst die Planetengröße spielt eine Rolle bei der Entwicklung des Lebens. Größere Planeten als die Erde haben zu viele Vulkane und werden wie die Venus; kleinere Planeten verlieren ihre Atmosphäre und werden wie der Mars. Außerdem legen Berechnungen nahe, dass Planeten ohne große Monde Rotationsachsen haben, die chaotisch herumhüpfen - was auf der Erde das Leben gewiss auslöschen würde. Um intelligentes Leben zu entdecken, muss man also einen Planeten in der richtigen Größe finden, mit einem großen Mond, der in der genau richtigen Entfernung einen Stern der genau richtigen Größe umkreist. Es könnte sehr wohl sein, dass die Erde der einzige Planet der Galaxie ist, der diesen Bedingungen entspricht! Doch selbst wenn man die Erfolgsaussichten für gering hält, muss die Suche nach außerirdischer Intelligenz weitergehen. Die wichtigste bisher (und auf absehbare Ze it) verwendete Methode ist die Suche nach Radiosignalen, die entweder absichtlich oder unabsichtlich von anderen Zivilisationen ausgesandt wurden. Es wurden zwar einige derartige Versuche durchgeführt (bislang alle ohne Erfolg), aber noch keine systematische Untersuchung großen Stils. Der Kongress der USA war mit der Förderung von Großprojekten in diesem Bereich sehr zurückhaltend. Zur -120-

Ehrenrettung der NASA-Bürokratie sei gesagt, dass sie sich ernsthaft um die Finanzierung bemüht hat - sogar dadurch, dem Programm einen geheimnisvolleren Namen zu verleihen. Doch der Kongress merkte, dass HRMES (High Resolution Microwave Survey, dt.: hochauflösende Mikrowellenüberwachung) nur SETI in einem neuen Gewand war, und kappte 1993 die Gelder. Nun ersteht SETI durch private Sponsoren wie Phönix aus der Asche. Die Suche geht weiter.

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Wie launisch ist die Sonne? Beinahe alle Analysen des Erdklimas gehen von der Annahme aus, dass die einzigen interessanten Systeme zur Erde selbst gehören Treibhausgase, antarktische Eismassen, Meeresströmungen und dergleichen. Diese Analysen lassen aber die wichtigste Antriebskraft des Erdklimas außer acht - die Sonne. Bis vor kurzem stellte praktisch niemand die Frage, ob die Energie, die wir von der Sonne erhalten, im Lauf der Zeit größeren Schwankungen unterworfen war. Seit Ende der siebziger Jahre, als man für die Aufzeichnung von Informationen Satelliten einsetzte, gibt es direkte Messungen der »Sonnenkonstante« - der Menge an Sonnenenergie, die den äußeren Rand der Erdatmosphäre erreicht. Es war bekannt, dass die Anzahl der Sonnenflecken auf der Sonne einen elfjährigen Zyklus durchläuft. Wissenschaftler vermuteten, dass die Helligkeit der Sonne demselben Zyklus folgen würde - also am niedrigsten sei, wenn es die meisten Sonnenflecken gebe, und mit nur wenigen Flecken am höchsten sei. Man erwartete keine große Schwankung der Helligkeit (alles in allem vielleicht 0,1 Prozent), aber selbst eine so kleine Abweichung könnte eine Rolle beim Erdklima spielen. Zur Überraschung aller stellte sich heraus, dass die Sonne dann am hellsten ist, wenn die meisten dunklen Flecken auf ihrer Oberfläche sind. Tatsächlich gibt es zwei Arten von Flecken auf der Sonnenoberfläche - die bekannten Sonnenflecken, die die Sonnenscheibe abdunkeln, und heiße Flecken, die so genannten Sonnenfackeln, die sie erhellen. Die Anzahl beider Arten von Flecken steigt und sinkt im elfjährigen Zyklus parallel, aber die hellen Flecken »gewinnen«, weshalb die Sonne gerade dann am hellsten ist, wenn der größte Prozentsatz ihrer Oberfläche mit dunklen Flecken bedeckt ist. -122-

Für Klimaforscher ist die entscheidende Frage, ob die Energie, die wir von der Sonne erhalten, im Lauf von Jahrzehnten und Jahrhunderten irgendwie anders variiert als der Sonnenfleckenzyklus. Wenn ja, wird die Erwärmung oder Abkühlung der Sonne mit Sicherheit Auswirkungen auf unser Klima haben, was künftige Theorien der globalen Erwärmung und verwandter Phänomene in Betracht ziehen müssen. Es gibt zwei Wege, sich dieser Frage zu nähern - einen astronomischen und einen geologischen. Astronomen besitzen keine direkten Daten zur Helligkeit der Sonne über Jahrhunderte hinweg, aber sie können über einen kürzeren Zeitraum eine Reihe von Sternen wie die Sonne beobachten und versuchen, ein Bild des Verhaltens der Sterne zusammenzusetzen, das es erlaubt, Aussagen über das vergangene und zukünftige Verhalten unseres Sterns zu treffen. Das ist, als wollte man den Lebenszyklus von Bäumen anhand von Fotografien des Waldes bestimmen. Astronomische Untersuchungen dieser Art legen nahe, dass die Abweichung der Sonne von 0,1 Prozent ungefähr der Größenordnung bei anderen Sternen entspricht. Geologische Messungen der Sonnenaktivität beruhen darauf, dass die Erdatmosphäre ständig von kosmischen Strahlen bombardiert wird und das Magnetfeld der Erde diese ablenkt und zum Teil als Schutzschild wirkt. In Zeiten sehr großer Sonnenfleckenaktivität stört von der Sonne wegströmendes Material das Magnetfeld der Erde, und der Zustrom der kosmischen Strahlung erhöht sich. Wenn diese schnellen Teilchen mit Atomen in der Atmosphäre kollidieren, erzeugen sie eine Reihe besonderer Isotope, darunter Kohlenstoff-14 und Beryllium-10 (Beryllium ist ein leichtes metallisches Element, das dem Magnesium ähnelt). Das Beryllium-10 ist im Schnee aus der Atmosphäre sowie im Packeis enthalten. Deshalb bohren Wissenschaftler in das Eis, messen die vor langer Zeit abgelagerte Menge an Beryllium und leiten davon die Aktivität der Sonne in der Vergangenheit ab. Die Ergebnisse sind -123-

überraschend: In den letzten eineinhalb Jahrhunderten ist die Sonne wärmer geworden, was immerhin 0,25°C der Erderwärmung erklärt. Mit anderen Worten: Veränderungen in der Sonne könnten eine ebenso große Wirkung haben wie das vom Menschen erzeugte Kohlendioxid! Im Allgemeinen zögern die Wissens chaftler noch, dieses Ergebnis zu akzeptieren. Zum einen würde es eine ziemlich peinliche Zurücknahme der öffentlichen Stellungnahmen zur globalen Erwärmung bedeuten, zum anderen gab es in der Vergangenheit schon häufig falsche Theorien über die Wirkung der Sonne auf das Erdklima. Da die Existenz von Sonnenflecken erstmals 1851 festgestellt wurde, zog man deren Zyklus immer wieder heran, um von den Getreidepreisen in England bis zur Stärke des Monsuns in Indien alles zu erklären. Um zu zeigen, wie leicht ma n solche Querverbindungen herstellen kann, habe ich einmal eine »Studie« durchgeführt, in der ich zeigte, dass die Länge von Damenröcken in den Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert fast genau dem Sonnenfleckenzyklus folgte. (Perioden der unkonventionellen Damenmode in den zwanziger und der Miniröcke in den sechziger Jahren waren zwei extreme Bezugspunkte dieser Analyse.) Kein Wunder, dass Wissenschaftler, die in ihrem Herzen konservativ sind, jeden Versuch, das Wetter durch die Sonne zu erklären, mit Skepsis betrachten. Für die nächsten Jahre rechne ich damit, dass Klimaexperten Veränderungen der Sonne in ihre Berechnungen einbeziehen werden. Außerdem wird man Fortschritte bei der Rekonstruktion der Helligkeit der Sonne in der Vergangenheit machen. Es würde mich nicht überraschen, wenn derartige Arbeiten unsere Sicht der globalen Erwärmung völlig veränderten. Schließlich kann der Kongress zwar Gesetze zur Kohlendioxidemission erlassen, aber die Regulierung der Sonne ist schon ein bisschen schwieriger!

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Was sind Quasare? Offen gestanden hatte ich nicht damit gerechnet, diese Frage aufwerfen zu müssen, als ich 1994 mit der Arbeit an diesem Buch begann. Quasare sind, wie wir noch sehen werden, seltsame Erscheinungen, aber eine ebenso schöne wie elegante Theorie erklärte damals ihre Existenz und verknüpfte sie mit anderen Phänomenen des Universums. Dummerweise ziehen neue Daten des Weltraumteleskops Hubble aus dem Jahre 1995 diese Theorie in Zweifel - und die Frage nach der Identität von Quasaren ist wieder offe n. So wurde eine weitere schöne Theorie durch eine unschöne Tatsache zunichte gemacht! Das Wort »Quasar« ist ein Kunstwort aus »quasistellares Objekt«. Quasare wurden 1963 zum ersten Mal gesichtet und sind so weit entfernt, dass sie selbst durch die damals leistungsfähigsten Teleskope wie kleine Lichtpunkte aussahen. Quasare waren damals die am weitesten entfernten sichtbaren Objekte überhaupt. Aufgrund der Tatsache, dass man sie trotz ihrer Entfernung sehen kann, müssen sie gewaltige Energien in den Weltraum verströmen - nicht weniger als die 10 000fache Energie, die von einer Galaxie wie der Milchstraße ausgesandt wird. Um das Bild zu vervollständigen, sei noch erwähnt, dass Quasare alle paar Tage oder Wochen periodisch auflodern und wieder erlöschen, was bedeutet, dass ihre extrem starke Energiequelle in einem Volumen enthalten sein muss, dessen Durchmesser nur weniger Lichttage oder Wochen beträgt. (Zum Vergleich: Die Milchstraße besitzt einen Durchmesser von etwas weniger als 100 000 Lichtjahren.) Einige Quasare sollen mehr als 14 Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt sein. Genau wie jemand, der nachts auf eine Stadt zufliegt, aus der Entfernung nur die hellsten Lichter der Innenstadt erkennt, sehen auch Astronomen bei ihrem Blick in -125-

die Tiefen des Raums nur die am stärksten leuchtenden Objekte. Da das Licht von diesen Quasaren bereits den längsten Teil der Lebenszeit des Universums unterwegs war, sehen wir Quasare nicht in ihrem heutigen Zustand, sondern wie sie vor Milliarden Jahren ausgesehen haben. Eine Zeitlang gingen Astronomen davon aus, dass Quasare eine turbulente Frühphase in der Entwicklung der Galaxien darstellten - einen Zustand, den jede Galaxie auf ihrem Weg zur langweiligen Normalität durchlaufen hat. Viele Autoren (auch ich) spekulierten damals, dass Astronomen in einer fernen normalen Galaxie, die ursprünglich ein Quasar war, bei ihrem Blick auf die Milchstraße einen Quasar sehen würden - durch das Licht, das dieser vor Milliarden Jahren ausgesendet hat. Als es nun möglich wurde, mit besseren Teleskopen schwache Objekte im Weltraum herauszufiltern, verlor diese evolutionäre Sicht der Quasare an Beliebtheit; Astronomen konnten nun normale Galaxien entdecken, die zwar lichtschwächer als die Quasare waren, aber dieselbe Entfernung hatten. Was immer Quasare sein mögen, scheinen sie nicht nur eine Entwicklungsphase darzustellen, sondern Teil des galaktischen Zoos zu sein. Offenbar gibt es im Weltall zwei unterschiedliche Arten von Galaxien. Bei weitem die meisten ähneln unserer eigenen Milchstraße - es sind nette, angenehme Orte, an denen Sterne ihre Entwicklung durchlaufen und (jedenfalls im Prinzip) Leben entstehen kann. Doch manche Galaxien - insgesamt vielleicht einige zehntausend - sind ganz anders. Sie sind turbulent, werden von Explosionen verwüstet und verströmen riesige Energiemengen in den Weltraum. Quasare sind der Prototyp dieser so genannten aktiven Galaxien, aber es gibt auch andere Arten, die als Radio-Galaxien, Seyfert-Galaxien oder BL-LacObjekte bezeichnet werden. Sie weisen alle denselben starken Energieausstoß und die schnelle Veränderung der Quasare auf, aber keine Galaxie ist ganz so energiereich. Die Theorie, die schließlich zur Erklärung aktiver Galaxien aufgestellt wurde, -126-

war schön und einfach. Der Grundgedanke war, dass es im Zentrum dieser Galaxien ein großes Schwarzes Loch gibt - im Falle des Quasars eines mit nicht weniger als der milliardenfachen Sonnenmasse. Material, das von der Galaxie im Umkreis des Schwarzen Lochs in dieses hineinstürzt, wird erhitzt und strahlt seine Energie an die Umgebung ab. Das Aufflackern der Helligkeit rührt demnach von größeren Materieklumpen her, die in das Schwarze Loch hineinstürzen und zu einer zeitweiligen Aufhellung führen. Nach dieser Theorie entsprechen unterschiedliche Arten von Galaxien unterschiedlich großen Schwarzen Löchern. Die Theorie erklärte die meisten Beobachtungen an aktiven Galaxien durch die Tatsache, dass wir jeden »Schwarzes-Loch-Komplex« aus einem anderen Blickwinkel sehen. Der Komplex »Schwarzes Loch plus hineinstürzende Materie plus Wirtsgalaxie« sieht von oben anders aus als von der Seite. Doch jede wissenschaftliche Theorie, so schön und schlüssig sie auch sein mag, muss einer Beobachtung standhalten. Ein wichtiger Bestandteil dieser Theorie war, dass jeder Qua sar ein Schwarzes Loch darstellt, das von einer Wirtsgalaxie umgeben ist, die Materie beisteuert je heller der Quasar, desto größer vermutlich die Wirtsgalaxie. Nachdem das Weltraumteleskop Hubble repariert war, besaßen die Astronomen zum ersten Mal ein Instrument, das Quasare detailliert genug untersuchen konnte, um diese Wirtsgalaxien zu erkennen. Doch es kam anders. In einem der mit Sicherheit sensationellsten Momente der modernen Astronomie wurde 1995 bekannt gegeben, dass die erste Studie eine Reihe von »nackten« Quasaren ergeben hatte - Quasare, bei denen der helle Fleck in der Mitte von nichts umgeben schien. Von den vierzehn Galaxien der ersten Studie wiesen acht keine Spur einer Wirtsgalaxie auf; nur drei besaßen Wirtsgalaxien, wie sie von der Theorie vorhergesagt wurden. Seit damals haben wiederholte Beobachtungen bei einigen (aber nicht allen) der »nackten« Quasare schwache Galaxien ergeben. Damit stehen -127-

wir wieder am Anfang. Die ältesten und am weitesten entfernten Dinge im Weltall gehören wieder einmal zu den geheimnisvollsten.

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Wo sind Schwarze Löcher? Kein Zweifel, die Theorie der Schwarzen Löcher gehört zu den verrücktesten Ideen, die sich die Menschheit je ausgedacht hat. Als erste stießen theoretische Physiker darauf, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts bemühten, Einsteins Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie zu lösen. Die Theorie schien die Existenz von Objekten vorherzusagen, in denen die Materie so stark verdichtet ist, dass nichts, nicht einmal Licht, von ihrer Oberfläche entkommen kann. Zunächst wurde vielfach angenommen, Schwarze Löcher seien nur Phantasiekonstrukte, aber im Lauf der letzten Jahrzehnte nahm man den Gedanken allmählich ernst und fragte sich, ob sie tatsächlich existierten. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, sich Schwarze Löcher vorzustellen. Am einfachsten ist der Gedanke an eine Masse, die auf so kleinem Raum zusammengedrückt ist und dadurch eine so starke Schwerkraft ausübt, dass nicht einmal das Licht einer Taschenlampe von der Oberfläche entkommen könnte. Oder Sie denken ein wenig abstrakter und stellen sich die Masse so konzentriert vor, dass sie den Raum wie eine Decke um sich herumschlägt. Doch unabhängig davon, wie Sie sich ein Schwarzes Loch vorstellen, ist es stets ein Ort, der vom übrigen Universum abgeschottet ist. Wenn Licht auf das Schwarze Loch trifft, kommt es nie wieder heraus - daher sein Name. Wissenschaftler unterscheiden drei Arten von Schwarzen Löchern, und vielleicht überrascht es Sie, dass es nur für die Existenz von einer schlüssige Beweise gibt. • Schwarze Löcher in der Theorie der Quantengravitation Einige Theorien besagen, dass das gesamte Universum (auch der Raum, der Sie im Augenblick umschließt) mit kleinen Schwarzen Löchern gesprenkelt ist. Diese Schwarzen Löcher, -129-

die noch viel kleiner als die Teilchen im Inneren des Atoms sind, sollen eine Art schaumigen Hintergrund für bekanntere Objekte bilden. Wenngleich einige Theoretiker (allen voran Stephen Hawking) davon ausgehen, dass solche Dinge tatsächlich existieren könnten, gibt es dafür keinen Beweis. Ich wäre mir nicht einmal sicher, ob jemand weiß, wie man danach suchen sollte. Im Augenblick sind Schwarze Löcher in der Theorie der Quantengravitation nicht mehr als ein Glänzen im Auge theoretischer Physiker. Stellare Schwarze Löcher Wenn von »Schwarzen Löchern« die Rede ist, sind zumeist die stellaren gemeint. Die Theorie besagt folgendes: Wenn sehr große Sterne - mindestens dreißigmahl so massereich wie die Sonne - zu Supernovae werden und dann unter dem erdrückenden Gewicht ihrer eigenen Schwerkraft kollabieren, ziehen sie bei ihrem Verschwinden Raum zu sich heran. Diese Objekte sind enorm massereich, haben aber nur einen Durchmesser von wenigen Kilometern. Wenn ein stellares Schwarzes Loch ganz alleine im Weltraum wäre, könnte man es von der Erde aus praktisch nicht entdecken - wonach sollte man auch suchen? Die Suche konzentriert sich also auf Doppelsternsysteme, bei denen ein Stern sichtbar und der andere (unsichtbare) Gefährte ein Schwarzes Loch ist. Wenn man die Bewegung des sichtbaren Partners beobachtet, kann man die Eigenschaften des unsichtbaren Gefährten ableiten. Der bislang beste Kandidat hierfür ist ein Sternsystem namens Nova Perseii 1992 (»neuer Stern im Sternbild Perseus im Jahre 1992«). Dieser Stern umkreist einen unsichtbaren Gefährten, der so massereich ist, dass er ein Schwarzes Loch sein muss. Das System ist Astronomen dadurch aufgefallen, dass es gelegentlich Eruptionen von Röntgenstrahlen aussendet (vermutlich immer dann, wenn Material in das Schwarze Loch fällt). Heute sind ein halbes Dutzend Doppelsternsysteme bekannt, die stellare Schwarze Löcher sein könnten. -130-

• Galaktische Schwarze Löcher Zuletzt gibt es sehr deutliche Hinweise auf riesige Schwarze Löcher im unmittelbaren Zentrum von Galaxien. Nach heutige m Stand ist das größte von ihnen vierzigmillionenmal schwerer als die Sonnenmasse. Wie bei stellaren Schwarzen Löchern kann man diese Objekte zwar nicht unmittelbar sehen, aber doch erkennen, wie sie ihre Nachbarn beeinflussen. Was man sieht, sind Gaswolken, die um das Zentrum von Galaxien kreisen. Wenn es im Zentrum nur Sterne gibt, bewegen sich die in der Nähe befindlichen Gase langsamer als das weiter außen liegende Material. Umkreisen die Wolken aber ein Schwarzes Loch, bewegen sie sich umso schneller, je näher sie am Zentrum sind. Dies ist ein ziemlich eindeutiges Signal für ein Schwarzes Loch. Mit Bodenteleskopen arbeitende Forscher haben in einigen Galaxien bereits Beweise für diese großen Schwarzen Löcher gefunden - darunter auch in unserer eigenen Milchstraße (deren Schwarzes Loch im Zentrum vielleicht weniger als die millionenfache Sonnenmasse aufweist und damit von bescheidener Größe ist). Seit der Reparatur des Weltraumteleskops Hubble lässt sich die Suche aber ausdehnen, da Hubble die Zentren ferner Galaxien sehr detailliert erkennen kann. Die Frage, die Astronomen im nächsten Jahrzehnt stellen werden, lautet: Hat jede Galaxie ein Schwarzes Loch in ihrem Zentrum? Die Entdeckung galaktischer Schwarzer Löcher wird damit unsere Detailkenntnis des Aufbaus von Galaxien erweitern, und durch die Bestätigung stellarer Schwarzer Löcher werden wir den Lebenszyklus massereicher Sterne besser verstehen. Der Nachweis Schwarzer Löcher wird in meinen Augen aber vor allem eine Bestätigung dafür sein, dass sich in diesem seltsamen Universum auch die kühnsten theoretischen Vorhersagen als richtig erweisen können.

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Parallelwelten und so Haben Sie sich jemals gefragt, ob es ein Universum gibt, in dem eine Parallelversion von Ihnen ein Parallelbuch liest, nur dass die Seiten des Buches dort violett sind und Sie drei Augen haben? Wenn ja, dann wissen Sie bereits, wie verlockend die Vorstellung von Parallelwelten für die menschliche Phantasie ist. Was Sie vielleicht nicht wussten, ist, dass diese Vorstellung auch für theoretische Kosmologen von Interesse ist. Tatsächlich scheinen die Parallelwelten so schnell in die anerkannte kosmologische Theorie Eingang zu finden (und wieder aus ihr zu verschwinden) wie Veränderungen in der Breite von Herrenkrawatten oder in der Saumlänge von Damenmänteln. Ein wenig Hintergrund: Die Wissenschaft, die sich (im Gegensatz zur Sciencefiction) mit Parallelwelten befasst, geht auf die verschiedenen Theorien über den Ursprung des Universums zurück, die in diesem Buch an anderer Stelle (vgl. S. 23) behandelt wurden. All diese Theorien haben eines gemeinsam - sie gehen davon aus, dass das Universum aus dem Urvakuum entstand, da dieses Vakuum in gewisser Weise instabil war. Unterschiedliche Theorien schreiben dem Vakuum unterschiedliche Arten der Instabilität zu und sagen deshalb Welten mit unterschiedlichen Eigenschaften voraus. In einem Punkt sind sie sich aber einig: dass bei der Erschaffung der Welt das Raum- Zeit-Gefüge extrem verzerrt wurde und die daran beteiligte Energie schließlich durch eine Reihe hochenergetischer Wechselwirkungen zwischen Elementarteilchen in die Masse verwandelt wurde, die wir heute um uns herum sehen. Der Grund dafür, dass die Vorstellung von Parallelwelten scheinbar ständig in und aus der Mode kommt, liegt darin, dass Kosmologen niemals Theorien aufstellen, die sich nur mit -132-

diesem Phänomen befassen. Sie versuchen immer, Theorien so zu formulieren, dass beispielsweise die richtige Massedichte des Universums oder der richtige Anteil der dunklen Materie herauskommt. Die Frage, ob die Theorie auch Parallelwelten vorhersagt, ist in jedem Falle zweitrangig. Gleichwohl ist es oft der einzige Aspekt, den Wissenschaftsautoren herausgreifen. Sobald Theorien aufgegeben werden (wiederum aus Gründen, die mit Parallelwelten nichts zu tun haben), schwindet der Gedanke aus dem Bewusstsein - bis die nächsten Theorien auftauchen. In gewisser Weise ist also die Frage, ob man zu einer bestimmten Zeit über Parallelwelten nachdenkt, eine zufällige Folge der vorherrschenden kosmologischen Theorien. Ich will Ihnen ein Beispiel geben, wie eine Theorie des Universums in diesen Kreislauf münden kann. Eine beliebte Analogie, um die Entstehung des Universums zu beschreiben, ist das Aufblasen eines Ballons. Im gängigen, auf Edwin Hubble zurückgehenden Bild des expandierenden Universums ist die Oberfläche des Ballons glatt und faltenlos, was aus theoretischer Sicht bedeutet, dass in der Oberfläche selbst sehr wenig Energie gebunden ist. Mitte der achtziger Jahre verkündeten aber einige Physiker, die sich mit Elementarteilchen befassten, dass einige Versionen ihrer Theorien bei den hohen Temperaturen im ersten Sekundenbruchteil der Existenz des Universums Wechselwirkungen zwischen Elementarteilchen vorhersagten, die dieses Bild ändern könnten. Im Grunde behaupteten sie, dass Wechselwirkungen zwischen Elementarteilchen mikroskopisch kleine (aber sehr ausgeprägte) Falten an der Oberfläche des Ballons hervorrufen könnten. Wenn die Oberfläche faltig genug war, konnten sich kleine Bereiche vom Hauptballon lösen und selbst kleine Blasen bilden. Nach gängigen kosmologischen Theorien dehnten sich diese kleinen Blasen mit der Zeit aus und wurden selbst zu großen Ballons. Voilà - Parallelwelten! Nach dieser Vorstellung verliert jede expandierende Welt kleine -133-

Welten, wie ein Hund im Sommer Haare verliert. Leider wurden die ursprünglichen Theorien über die Wechselwirkungen von Elementarteilchen im Lauf der Zeit abgelöst (aus Gründen, die Sie wirklich nicht zu interessieren brauchen), und so hört man derzeit nicht viel von Parallelwelten. In gewisser Weise ist das sehr bedauerlich, da man meines Erachtens eine sehr interessante Frage stellen könnte: Konnte sich in jedem dieser Parallelwelten Leben entwickeln? Es ist bekannt, dass sich Leben unter den richtigen Bedingungen und auf einem geeigneten Planeten sehr rasch entwickeln kann. Wenn in diesen Baby-Welten aber zuviel Masse vorhanden wäre, könnte die Ausdehnung des Universums bereits vor der Entstehung von Sternen zum Stillstand kommen und sich wieder umkehren. Oder die Ladung des Elektrons in jenen Welten wäre für die Entstehung von Atomen zu gering; dann gäbe es keine Atome, keine Chemie und kein Leben. Derartige Spekulationen lassen sich bis ins Detail ausarbeiten (was auch getan wurde). Die Voraussetzungen für Leben in einer Welt sind sehr genau bekannt, aber meines Wissens hat nie jemand versucht, dieses Denken auf eine bestimmte Theorie der Parallelwelten anzuwenden, um zu sehen, wie weit das Leben (theoretisch) verbreitet sein könnte. Na gut, es ist wohl nicht so schrecklich wichtig, denn Theorien der Parallelwelten haben noch einen weiteren Punkt gemeinsam: Alle gehen davon aus, dass es unmöglich ist, zwischen den Welten zu kommunizieren. Selbst wenn es also eine Parallelwelt gibt, wird man es nie erfahren!

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Warum ist Pluto so eigenartig? Es ist nur gut, dass Isaac Newton niemals vom Planeten Pluto gehört hat. Ansonsten hätte er es sich nämlich zweimal überlegt, das Sonnensystem mit einer majestätischen, gleichmäßigen Uhr zu vergleichen. Vom Augenblick seiner Entdeckung an war Pluto stets die Extrawurst unter den Planeten. Alle Planeten umkreisen die Sonne auf derselben Ebene - mit Ausnahme von Pluto, dessen Umlaufbahn um 17° geneigt ist. Alle Planeten haben eine etwa kreisförmige Umlaufbahn - mit Ausnahme von Pluto, dessen Umlaufbahn so elliptisch ist, dass sie von 1979 bis 1999 sogar innerhalb der Umlaufbahn des Neptuns verläuft. Die Beschaffenheit der Planeten entspricht einer gewissen Systematik, wobei die inneren Planeten klein und steinig, die äußeren groß und gasförmig sind - mit Ausnahme von Pluto, der eine kleine steinige Welt am Rand des Sonnensystems darstellt. Ich könnte die Liste noch erweitern, aber Sie wissen, worauf ich hinaus will: Pluto scheint einfach nicht in das System zu passen. Diese Situation hat natürlich Spekulationen heraufbeschworen, dass er vielleicht gar kein Planet ist, sondern entweder ein eingefangener Komet oder ein Mond, der sich irgendwie gelöst hat. 1978 fanden Astronomen heraus, dass Pluto seinen eigenen Mond hat. (Charon, benannt nach jenem Fährmann aus der griechischen Mythologie, der die Toten in die Unterwelt beförderte.) Diese Entdeckung hat es schwieriger gemacht, an den beiden Theorien festzuhalten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelnes Objekt im Sonnensystem eingefangen wird, ist schon klein genug, aber die Wahrscheinlichkeit, dass es zwei sind, ist noch viel kleiner. Allmählich gehen die Astronomen dazu über, Pluto nicht als Laune des Planetensystems, sondern als ganz normalen Bewohner der Randbereiche des Sonnensystems zu betrachten. -135-

Diese Bereiche hatten schon immer etwas Geheimnisvolles, da man (1) über keine Teleskope verfügte, durch die jene kleinen Objekte zu sehen gewesen wären, und (2) noch keine Computer besaß, die in der Lage gewesen wären, die extrem komplexen und wechselnden Gravitationskräfte zu berechnen, denen diese Objekte ausgesetzt sind. In den letzten fünf Jahren haben das Weltraumteleskop Hubble und neue Computer die Situation aber verändert. So ergibt sich folgendes Bild: Als die Planeten entstanden, verhinderten die äußeren Planeten durch ihre Gravitationskraft die Entstehung von Planeten innerhalb der Umlaufbahn des Jupiters (daher der Asteroidengürtel) sowie außerhalb der Umlaufbahn des Neptuns. Was außerhalb des Neptuns lag, war zunächst eine mehr oder weniger gleichförmige Scheibe aus Objekten, deren Durchmesser zwischen einigen Kilometern und einigen hundert Kilometern betrug. Mit der Zeit haben verschiedene Einflüsse den Bestand dieser Objekte dezimiert. So stoßen manchmal zwei von ihnen zusammen, was beide von der Scheibe stößt. Vorbeiziehende Sterne sorgen ebenso für Durcheinander wie die Schwerkraft der Gasriesen. Berechnungen legen nahe, dass die Zahl der Objekte auf der Innenseite der Scheibe allmählich abnimmt (was Astronomen als »Gravitationserosion« bezeichnen). Da man dort im Augenblick nichts sieht, müssen diese Prozesse seit langem im Gange sein. Wenn man weiter hinausblicken könnte, würde man wahrscheinlich das ursprüngliche, nicht- erodierte Material der Scheibe erkennen. Nach dieser Theorie ist Pluto nur eines von vielen größeren Objekten, die im inneren Gürtel existierten. An einem gewissen Punkt in der Frühzeit des Sonnensystems stieß das Objekt, das schließlich zu Pluto wurde, mit einem seiner Nachbarn zusammen. Dadurch verlor Pluto einen Teil seiner Energie und konnte sich auf seiner heutigen stabilen Umlaufbahn festsetzen (überdies verschaffte der Zusammenstoß dem Planeten auch -136-

seinen kleinen Mond). Computersimulationen zeigen, dass nur Objekte, die einen derartigen Zusammenstoß erle iden, so lange wie Pluto im Sonnensystem bleiben können. So wirkt Pluto anders als die anderen Planeten, weil er anders ist. Er ist eigentlich gar kein Planet, sondern der letzte Überlebende einer großen Gruppe nichtplanetarischer Objekte. In den nächsten Jahren werden Astronomen mit dem Weltraumteleskop Hubble jene Bereiche des Weltraums erforschen, die außerhalb der Umlaufbahn von Pluto liegen. Wenn sie Hinweise darauf finden, dass die Gravitationserosion tatsächlich der Hauptfaktor für die Entwicklung des äußeren Sonnensystems ist, wird Pluto nicht länger so eigenartig wirken. (Ich sollte darauf hinweisen, dass es bei Drucklegung dieses Buches bereits Vorankündigungen gibt, man habe dort - wie von dieser Theorie vorausgesagt - einige hundert Objekte der Größe New Hampshires bzw. Hessens entdeckt.) Dieses neue Bild beleuchtet nicht nur die Entwicklung unseres eigenen Sonnensystems, sondern wird auch für die künftige Suche nach Planeten im Umkreis anderer Sterne von größter Bedeutung sein. Bislang ging man davon aus, dass andere Sonnensysteme mehr oder weniger dem unseren ähneln. Seit bekannt ist, wie sensibel das äußere Sonnensystem auf die großen äußeren Planeten reagiert, bin ich mir dessen offen gestanden nicht mehr so sicher. Wenn in einem anderen System die dortigen Pendants zu Jupiter oder Neptun ein wenig größer oder kleiner wären oder ihre Umlaufbahn ein wenig anders liegen würde, wäre es durchaus möglich, dass der äußere Teil eines anderen Sonnensystems ganz anders aussieht als der unseres eigenen. Es könnte beispielsweise keinen Pluto haben oder gleich Dutzende davon. Wie auch immer: Astronomen auf Planeten um diese Sonne wären wahrscheinlich verblüfft über unser System mit seinem einzigen Überlebenden der ursprünglichen Planetenscheibe.

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4. Meteorologie, Geologie und Planetologie

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Hatte Malthus doch Recht? Der englische Ökonom Thomas Malthus (1766-1834) gilt als Begründer der modernen politischen Ökonomie. Die meisten von uns kennen ihn jedoch als düsteren Propheten des nach ihm benannten Dilemmas. In seinem Essay Versuch über das Bevölkerungsgesetz und seine Auswirkungen auf die künftige Verbesserung der Gesellschaft. Mit Bemerkungen über die Theorien Mr. Godwins, M. Condorcets und anderer Autoren stellt er das Problem dar: »Die Bevölkerung wächst, wenn keine Hemmnisse auftreten, in geometrischer Reihe an. Die Unterhaltsmittel nehmen nur in arithmetischer Reihe zu. Eine gewisse Vertrautheit mit Zahlen zeigt die enorme Größe der ersten Macht im Vergleich zur zweiten. « Modern ausgedrückt lässt sich das Malthussche Dilemma einfach darlegen: Bevölkerungen wachsen in der Regel exponentiell, während die in einem Ökosystem verfügbaren Ressourcen (bis zur und einschließlich der Erde selbst) eine feste Grenze haben. Somit werden Bevölkerungen immer stärker wachsen als ihre materiellen Grundlagen, was an vielen Orten zu Hunger und Tod führt. Seit Malthus' Zeit gibt es auf seine Argumente zwei unterschiedliche Reaktionen. Die Technik-Optimisten (zu denen ich gehöre) vertreten die Meinung, dass technologische Fortschritte die verfügbaren Ressourcen ständig erhöhen, so dass jedes Ökosystem auch dann seine menschliche Bevölkerung ernähren kann, wenn diese Bevölkerung wächst. Malthusianische Schwarzmaler prophezeien dagegen ständig, dass eine Katastrophe vor der Tür stehe. 1968 verkündete der Ökologe Paul Ehrlich in seinem Buch Die Bevölkerungsbombe: »Der Kampf um die Ernährung der gesamten Menschheit ist vorbei. In den siebziger Jahren wird die Welt von Hungersnöten -139-

heimgesucht - einige hundert Millionen Menschen werden trotz aller mittlerweile eingerichteten Sofortprogramme zugrunde gehen. Zu diesem späten Zeitpunkt kann ein dramatischer Anstieg der weltweiten Sterberate/durch nichts mehr verhindert werden. « In den siebziger und achtziger Jahren kam es in einigen Regionen zwar zu Hungersnöten, die aber vor allem dadurch bedingt waren, dass Nahrungsmittel als politische Waffe zurückgehalten wurden (so von marxistischen Diktatoren in Äthiopien), und nicht weil die Bevölkerung eine malthusianische Grenze erreicht hätte. Vielmehr werden die siebziger Jahre sogar als Zeit der »grünen Revolution« in Erinnerung bleiben, eines technologisch bedingten massiven Anstiegs der Weltnahrungsmittelproduktion: von 1965 bis 1990 stieg die Kalorienaufnahme pro Tag weltweit durchschnit tlich um 21 Prozent, der Weizenertrag pro Acre verdoppelte sich, und die Reisernte stieg um 52 Prozent. Eins zu null für die TechnikOptimisten! Aber was ist mit dem nächsten Jahrhundert? Kann eine wachsende Menschheit auch dann noch ernährt werden, wenn sie sich, wie aktuelle Modelle prophezeien, um 2050 bei einer Zahl von etwa 8 Milliarden einpendeln wird? Darum dreht sich die Debatte heute. Die Malthusianer (häufig Umweltforscher) haben ihre Argumente etwas modernisiert und argumentieren heute, Umweltschäden würden in Zukunft verhindern, dass die Böden einen weiteren Anstieg der Nahrungsmittelproduktion wie in den letzten Jahrzehnten zuließen. Der Großteil des guten Ackerlands werde bereits bebaut, und die Erosion zerstöre insbesondere in der Dritten Welt viel von dem, was noch übrig sei. 1990 behaupteten Paul und Anne Ehrlich in Die Bevölkerungsexplosion: »Das Bevölkerungswachstum befindet sich auf Kollisionskurs mit großer Hungersnot... Wenn der Mensch nicht handelt, wird die Natur die -140-

Bevölkerungsexplosion für uns beenden - auf sehr unschöne Weise.« Die Optimisten (häufig Wirtschaftsund Agrarwissenschaftler) entgegnen darauf, unser System der Landwirtschaft stoße keinesfalls an seine Grenzen. Sie verweisen auf detaillierte Studien, denen zufolge vierma l so viel Land wie heute urbar zu machen wäre (etwa durch künstliche Bewässerung) und verbesserte Pflanzensorten die Erträge steigern. Die Weltreisernte hat erst 20 Prozent ihrer theoretisch möglichen Grenze erreicht. Außerdem machen sie darauf aufmerksam, dass die Verschwendung von Nahrungsmitteln noch deutlich zu verringern wäre (nach einigen Schätzungen konsumieren die Menschen nur etwa 60 Prozent der von ihnen angebauten Nahrung). Außerdem zeige der aktuelle Verfall der Weltgetreidepreise, dass bereits mehr Nahrungsmittel als nötig produziert würden. Ironischerweise wird vielleicht eines der drohenden globalen Umweltprobleme - der Treibhauseffekt - eine positive Rolle bei der Nahrungsmittelproduktion spielen. Klimamodelle, die eine globale Erwärmung vorhersagen, prophezeien auch einen weltweiten Anstieg der Niederschlagsmenge. Mehr verfügbares Süßwasser und zusätzliches Kohlendioxid in der Luft dürften die Wachstumsbedingungen deutlich verbessern (normalerweise begrenzt die Verfügbarkeit von Kohlendioxid das Pflanzenwachstum). Wenn sich die Erwärmung außerdem als leichter Anstieg der Nachttemperaturen in den gemäßigten Klimazonen auswirkt (was zu vermuten ist), wird sich im nächsten Jahrhundert die Wachstumsdauer in nördlichen Breiten verlängern, was weite Gebiete Kanadas und Russlands für die Landwirtschaft öffnet. Diese Debatte wird natürlich weitergehen, aber ich habe den Eindruck, dass auch diesmal die Technik-Optimisten als Sieger hervorgehen werden. Wenn ja, kann man sich endlich der eigentlichen Frage zuwenden - wollen wir wirklich in einer Welt mit 8 Milliarden Menschen leben? Schließlich ist Leben mehr -141-

als Essen.

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Erwärmt sich das Klima? Oft ist von »globaler Erwärmung« die Rede, als wäre sie bereits eindeutig erwiesen, aber unter Wissenschaftlern gibt es einige Zweifel, ob die zur Verfügung stehenden Daten mehr als die normale Veränderlichkeit des Klimas zeigen. Ich muss Sie warnen, dass ich in diesem Punkt recht skeptisch, tendenziell sogar negativ eingestellt bin; genießen Sie meine Ausführungen (und die von allen anderen!) also mit Vorsicht! Erstens muss man wissen, dass sich sowohl das Erdklima als auch die Durchschnittstemperatur ständig verändern. Im Laufe von einigen hunderttausend Jahren sind Veränderungen um einige Grad nichts Ungewöhnliches. Zweitens werden Temperaturwerte noch nicht sehr lange aufgezeichnet. Das erste Thermometer wurde 1602 erfunden (von Galileo, ob Sie es glauben oder nicht), und das Quecksilberthermometer setzte sich erst gegen 1670 durch. Dies bringt uns zu einem der schwierigsten Probleme, vor denen Wissenschaftler stehen, die versuchen, Tendenzen beim Erdklima zu erkennen: Da es noch nicht allzu lange Temperaturaufzeichnungen gibt, ist es sehr schwierig, eine Grundlinie zu definieren, mit der jede Erwärmung oder Abkühlung verglichen werden kann. So geht in Nordamerika eine der besten Temperaturaufzeichnungen auf das frühe 19. Jahrhundert zurück, als Thomas Jefferson in seinem Heimatort Monticello (Virginia) damit begann, sich Werte zu notieren. In Europa reichen die Aufzeichnungen in einigen Städten dreihundert Jahre zurück. Um mehr zu erfahren, haben Wissenschaftler alle möglichen Ersatzmethoden zur Temperaturbestimmung bemüht. So haben sie den Zeitpunkt der Traubenernte im mittelalterlichen Frankreich überprüft, um Sommertemperaturen und die Niederschlagsmenge zu schätzen, Schenkungsurkunden in der Schweiz gesucht, um das -143-

Vordringen und den Rückzug von Gletschern nachzuvollziehen, und Eisberge in Island vermessen, um das Klima auf der Nordhalbkugel zu bestimmen. Das Auftauchen des Thermometers war natürlich hilfreich, warf aber selbst wieder ein Problem auf - welche Temperatur sollte gemessen werden? Die Lufttemperatur wird nur an wenigen Orten der Welt gemessen (auf Flughäfen etwa). Die Wassertemperatur an der Meeresoberfläche lässt sich einfach via Satellit bestimmen. Beide Messungen werfen jedoch Interpretationsprobleme auf. So werden Flughäfen normalerweise in ländlichen Gegenden gebaut, die dazu großflächig zubetoniert werden. (Wussten Sie, dass sich das Kürzel für den Flughafen Chicago O'Hare - ORD auf die Apfelplantagen [engl.: apple orchards] bezieht, auf denen der Flughaufen errichtet wurde?) Gibt eine höhere Temperatur zwanzig Jahre später Aufschluss über das Klima oder über die Auswirkungen der Landschaftsversiegelung? In ähnlicher Weise maß man früher die Wassertemperatur an der Meeresoberfläche in Eimern, die man vom Schiff aus über die Reling zog. Nach 1946 wurde aber Wasser gemessen, das in die Maschinenräume strömte. Macht man nun das Klima oder die wärmere Umgebung der Maschinenräume verantwortlich, wenn nach 1946 die Temperaturen stiegen? In den letzten Jahren werden derartige Debatten immer häufiger geführt, da Fragen der globalen Erwärmung nicht mehr nur in Wissenschaftszirkeln, sondern zunehmend in der öffentlichen Diskussion des Treibhauseffekts behandelt werden. Tatsächlich werden zwei unterschiedliche Themen in der Diskussion immer wieder durcheinander gebracht : (1) Lässt sich eine globale Erwärmung nachweisen, und (2) ist diese Erwärmung auf menschliches Handeln zurückzuführen? Die besten Langzeitdaten, die vor allem auf Aufzeichnungen der Temperatur der Meeresoberfläche in den letzten 140 Jahren basieren, geben eine Erwärmung um knapp ein halbes Grad an. Diese Erwärmung vollzog sich vor allem in zwei Schüben -144-

einer 1920, der andere 1977. Zwischen diesen Daten war die Temperatur der Meeresoberfläche ungefähr konstant und fiel von den vierziger Jahren an sogar zehn Jahre lang. (Ich erinnere mich gut an diese Zeit, als in den Zeitungen von Chicago scho n Schlagzeilen über eine »bevorstehende Eiszeit« auftauchten.) Der erste Schub erfolgte bereits, als ein Treibhauseffekt aufgrund der erhöhten Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre noch lange nicht zu erwarten war. Der zweite folgte leider, bevor man damit begann, Satelliten zur Temperaturbeobachtung einzusetzen. Seit 1979, mit Beginn der Satellitenaufzeichnung, gab es trotz der Computerprognosen, dass sich die Erde in einem Jahrzehnt um ein Viertel Grad erwärmen würde, keine feststellbare globale Erwärmung. In Wirklichkeit zeigen die Daten sogar eine leichte Abkühlung. Vor das Problem gestellt, den menschlichen Einfluss auf das Klima zu bestimmen, schlug das »Intergovernmental Panel on Climate Change« 1996 einen neuen Weg ein. Man betrachtete nicht die Gesamterwärmung, sondern die Muster der Veränderung, vor allem die Temperatur der Atmosphäre in verschiedenen Höhen sowie das Muster der Erwärmung und Abkühlung in verschiedenen Teilen der Welt. Das Gremium behauptet, gerade die ersten Anzeichen des menschlichen Einflusses auf das Klima erkennen zu können. Die große Frage lautet natürlich, was weiter geschehen wird. Wenn die Temperaturen von heute bis zum Jahr 2000 weiterhin im normalen Rahmen schwanken, werden wir die Gültigkeit unserer Computermodelle in Frage stellen müssen. Kommt es aber zu einem raschen Temperaturanstieg, muss vielleicht sogar ich die globale Erwärmung ernster nehmen.

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Wie stabil ist das Klima? Wir sind daran gewöhnt, dass sich das Wetter von Tag zu Tag ändert, gehen aber davon aus, dass das Klima relativ stabil bleibt. Minneapolis sollte also stets kältere Winter als Miami haben, unabhängig davon, wie stark sich lokale Wettermuster ändern. Wenn sich das Erdklima verändert, geht man davon aus, dass sich der Wandel über viele tausend Jahre erstreckt, damit sich die Lebewesen anpassen können. Allgemein rechnet man damit, dass eine der großen Gefahren des Treibhauseffekts, sollte er tatsächlich eintreten, darin besteht, dass sich die Durchschnittstemperaturen weltweit rasch verändern würden und Ökosysteme sich nicht mehr rechtzeitig anpassen könnten, bevor ganze Arten ausgerottet werden. Während das Ausmaß der erwarteten Erwärmung durch den Treibhauseffekt in der Erdgeschichte bereits da war, sucht die Geschwindigkeit ihresgleichen. Als die Erde die letzten Eiszeiten hinter sich ließ, stieg ihre Durchschnittstemperatur jeweils um 5 Grad. Allerdings ist man bisher davon ausgegangen, dass diese Erwärmung einige tausend Jahre gedauert und Flora wie Fauna damit reichlich Zeit zur Anpassung gegeben hat. Doch diese bequemen Annahmen sind vielleicht unbegründet. Die überlieferten Vorstellungen zu diesem Thema werden vor allem durch Bohrungen in der polaren Eiskappe Grönlands in Frage gestellt. In all den Jahren, in denen die Gletscher vordrangen und sich wieder zurückzogen, fiel in Grönland Schnee, der im Lauf der Zeit verdichtet wurde und alle Stoffe aus der Luft mit konservierte. Heute nehmen Wissenschaftler im Eis Bohrungen vor, um bis zu 200 000 Jahre alte Proben zu nehmen. (Nur die letzten 180 000 Jahre weisen eindeutig zuzuordnende Jahresschichten auf, die man sich wie Jahresringe an Bäumen vorstellen kann.) Anhand dieser Schichten lassen -146-

sich Informationen über die Temperatur (durch die Messung der Häufigkeit bestimmter chemischer Elemente) und den Schneefall gewinnen - sie sind praktisch ein Museum vergangener Klimaphasen. Wenn Sie gefragt werden: »Wo ist der Schnee von gestern? «, sollten Sie antworten: »Im Eis Grönlands.« Der überraschendste Aspekt der Daten hängt mit einem Ereignis zusammen, das als »jüngere Dryaszeit« bezeichnet wird. Nachdem das Eis der letzten Gletscher vor 15 000 Jahren allmählich zu schmelzen begann, herrschte eine allgemeine Tendenz zur Erwärmung. Dann, vor etwas weniger als 12 000 Jahren, gab es einen plötzlichen Kälterückschlag. Er hielt etwa 1000 Jahre an, bevor es plötzlich wärmer wurde. Und wenn ich plötzlich sage, meine ich das auch - Daten zu Sauerstoffisotopen, die bei Bohrungen im Eis und im Meeresboden gewonnen wurden, legen nahe, dass sich die Temperatur in Grönland innerhalb von nur zwanzig Jahren um 7 Grad erhöht hat! Entsprechend müsste das Klima in Boston in nur zwei Jahrzehnten so werden wie heute in Miami - eine viel abruptere Veränderung, als je in einer Studie über den Treibhauseffekt vorhergesagt wurde. Es gibt eine große Menge an Daten, die diesen Befund erhärten, darunter Analysen von versteinertem Plankton aus Tiefseebohrungen im ganzen Atlantik sowie aus Bohrungen in südamerikanischen Gletschern. Die Haupterklärung für dieses Phänomen hängt mit Meeresströmungen zusammen (wie dem Golfstrom), die warmes Wasser nordwärts befördern, wo es sich abkühlt und sinkt. Südwärts gerichtete kalte Strömungen unter der Oberfläche vervollständigen den Kreislauf. Die Wärme, die der Arktis durch diese Nordströmung zugeführt wird, beläuft sich auf über 30 Prozent der von der Sonne gelieferten Wärme. Die Theorie besagt, dass sich durch das Schmelzen der Gletscher Süßwasser in den Nordatlantik ergoss und den Salzgehalt des Wassers verringerte. Süßwasser sinkt nicht, wodurch die Strömung -147-

blockiert wurde. Die Folge: eine abrupte Temperaturveränderung an den Polen. Als sich das Süßwasser verteilte, stieg der Salzgehalt wieder und ließ die Strömung wieder fließen. In einem jener Glücksfalle, die in der Geschichte der Wissenschaft hin und wieder vorkommen, haben Informationen zu diesen plötzlichen Klimaveränderungen die Wissenschaftler animiert, einen Zusammenhang zwischen den neuen und einigen alten (und ziemlich verwirrenden) Daten herzustellen, die bei Bohrungen im nordatlantischen Meeresgrund gewonnen wurden. Diese Daten scheinen darauf hinzuweisen, dass alle 7000 bis 12 000 Jahre mitten im Atlantik eine Gesteinsschicht vom Kontinent abgelagert wird. Die einzige schlüssige Erklärung für dieses sonderbare Phänomen lautet, dass diese Steine in Eisbergen ins Meer hinaus geflößt wurden, um jeweils dort liegenzubleiben, wo der Eisberg schließlich schmolz. Aber warum sollten diese Floßfahrten so regelmäßig stattfinden? Eine mögliche Antwort auf diese Frage hat mit dem geologischen Aufbau Kanadas zu tun. Das Gestein im Nordosten des Landes ist zumeist hart und kristallin, doch um die Hudson Bay sind die Steine weicher. So lautet die Theorie: Als sich das Eis mehr als 3000 Meter hoch über der Hudson Bay auftürmte, zerbrach das Gestein darunter, vermischte sich mit geschmolzenem Wasser aus der Eisdecke und bildete eine Schicht mit der Konsistenz von Zahnpasta. Dadurch glitt das Eis auf der Hudson Bay über seine »Zahnpasta« in den Nordatlantik und bildete gewaltige Eisberge, die Gesteinsmassen auf den Meeresboden kippten und genug Süßwasser mitbrachten, um die Nordströmung zu unterbrechen. Weitere Analysen der Bohrungen in Grönland und die Versteinerungen im Atlantik werden erweisen, ob diese Theorie oder eine Variante davon die rapiden Klimawechsel in der Erdgeschichte erklären kann. Als Fazit lässt sich aber festhalten, dass unser Planet eine viel heftiger bewegte Vergangenheit hat als bisher angenommen, -148-

und die Tatsache, dass das Klima in den letzten 8000 Jahren mehr oder weniger konstant war, ist keine Garantie dafür, dass es auch künftig so bleiben wird.

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Warum stimmt die Kohlenstoffbilanz nicht? Immer wenn Sie atmen oder Auto fahren oder auf einem Gasherd kochen, produzieren Sie Kohlendioxid, ein Molekül aus einem Kohlenstoff- und zwei Sauerstoffatomen. Kohlendioxid ist kein Schadstoff - zusammen mit Wasser ist es ein natürliches Verbrennungsprodukt, ob es nun von einer künstlichen Maschine oder von einer lebenden Zelle erzeugt wird. Pflanzen brauchen Kohlendioxid aus der Atmosphäre zum Wachsen, und die Erdatmosphäre wie auch die Meere haben immer eine bestimmte Menge davon enthalten. Unsere Aufmerksamkeit gilt dem Kohlendioxid heute aus zwei Gründen: (1) Aktivitäten des Menschen wie das Verbrennen fossiler Brennstoffe und die Abholzung der Regenwälder führen der Erde messbar zusätzliches Kohlendioxid zu, und (2) reflektiert Kohlendioxid die abgehende Strahlung zur Erde zurück und ist deshalb einer der Hauptverursacher des Treibhauseffekts und der möglichen globalen Erwärmung. Man weiß, dass ein Teil des Kohlendioxids, das Sie produziert haben, als Sie heute morgen zur Arbeit fuhren, schließlich im Meer landen wird, einiges wird von Pflanzen aufgenommen, und einiges wird in der Atmosphäre verbleiben und zum Treibhauseffekt beitragen. Doch damit verknüpft ist eines der hartnäckigsten Probleme der Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten: Wenn man versucht, eine ausgeglichene Bilanz aufzustellen - das gesamte Kohlendioxid addiert, das in die Atmosphäre abgegeben wird, und davon all das abzieht, was in bekannte Reservoirs eingeht oder in der Luft verbleibt -, stellt man fest, dass einige hundert Millionen Tonnen nicht erfasst sind. Sie scheinen irgendwo zwischen dem Schornstein und dem Ökosystem verschwunden zu sein. -150-

Eine typische Rechnung sieht etwa so aus: Durch Abholzung und die Verbrennung fossiler Brennstoffe werden jedes Jahr zwischen 6,5 und 7 Milliarden Tonnen Kohlenstoff in die Atmosphäre abgegeben. Am Ende des Jahres sind aber nur noch 3 Milliarden Tonnen in der Luft. Wenn man nun Ozeanographen fragt, wie viel Kohlenstoff in die Meere gelangt, geben sie etwa 2 Milliarden Tonnen an, was bedeutet, dass der Rest von Landpflanzen aufgenommen wird. Die besten Untersuchungen haben aber stets ergeben, dass sie mindestens eine halbe Million Tonnen Kohlenstoff im Jahr weniger absorbieren als in der Bilanz ausgewiesen. Das nicht entdeckte Material firmiert in Wissenschaftskreisen heute als »fehlender Kohlenstoff«. Im Laufe der Jahre wurde an diesem Problem ständig gearbeitet, und in der Ho ffnung, jede neue Entdeckung könne die Erklärung sein, suchte man nach Orten, wo zuvor unentdeckter Kohlenstoff in großen Mengen lagern könnte. Meine Lieblingserklärung wurde Anfang der achtziger Jahre entwickelt, als die - von meinem vorpubertären Sohn »Fischkacke-Theorie« genannte - Vorstellung hoch im Kurs stand. Nach dieser Theorie sollte der fehlende Kohlenstoff in einem Material am Meeresboden enthalten sein, das man schamhaft als »organische Sinkstoffe« bezeichnet. Seit damals ist unser Verständnis des globalen Kohlenstoffgleichgewichts viel detaillierter und präziser geworden. Es ist bekannt, dass sich der Großteil des Kohlenstoffs in der Biosphäre im Meer befindet (39 000 Milliarden Tonnen gegenüber nur 600 Milliarden Tonnen in der Atmosphäre), und zwar zumeist in Form von gelöstem Kohlendioxid, als wäre das Meer ein riesiges (und etwas fades) kohlensäurehaltiges Getränk. Kohlenstoff aus der Atmosphäre wandert in das Meer, und Kohlenstoff aus dem Meer wandert regelmäßig in die Atmosphäre. In den gemäßigten Temperaturzonen der Erde fließt netto mehr Kohlenstoff ins Meer, in den Tropen dagegen mehr in die Atmosphäre. Weltweit absorbiert das Meer 2 Millionen Tonnen Kohlenstoff mehr pro -151-

Jahr. Ich glaube nicht, dass man eines Tages feststellen wird, dass die Meere den fehlenden Kohlenstoff versteckt halten. In den letzten Jahren wurde eine Reihe von Untersuchungen durchgeführt, die zumindest auf einige Stellen kamen, wo sich der fehlende Kohlenstoff möglicherweise versteckt halten könnte. Zum einen stimmt es zwar, dass die tropischen Regenwälder abgeholzt werden, aber dafür gedeihen die Wälder in den gemäßigten Zonen. Wenn man von Neu-England durch die Eichen- und Ahornwälder Nord- und Süd-Carolinas wandert, stößt man immer wieder auf alte Zäune und Feuerstellen Zeichen dafür, dass dieses Land ein Jahrhundert zuvor noch offenes Feld war. Einige Schätzungen gehen davon aus, dass die Menge an Kohlenstoff, die von jungen Wäldern in gemäßigten Temperaturzonen absorbiert wird, durchaus größer sein könnte als die Menge, die durch die Abholzung der tropischen Regenwälder in die Atmosphäre abgegeben wird. Außerdem lassen Analysen der Wurzelsysteme von Gräsern der südamerikanischen Savanne vermuten, dass sie der Luft jährlich bis zu eine halbe Milliarde Tonnen Kohlenstoff entziehen. Die Weideflächen, die sich auf dem Gebiet der ehemaligen Regenwälder breit machen, könnten sich also als wichtige Absorptionsmittel von Kohlenstoff erweisen. Wissenschaftler konzentrieren sich bei der Suche nach dem fehlenden Kohlenstoff heute auf die Vegetation auf dem Land. Ich vermute, dass man künftig die Wälder in gemäßigten Temperaturzonen, die arktische Tundra und das Grünland stärker ins Visier nehmen wird, um zu sehen, wohin der Kohlenstoff verschwunden ist, und um die Bilanz allmählich auszugleichen. Das ist aus Sicht der Politik sehr wichtig, da man erst klären muss, woher der Kohlenstoff kommt und wohin er verschwindet, bevor sich sagen lässt, ob der Treibhauseffekt durch eine Einschränkung der Verbrennung fossiler Brennstoffe und der damit einhergehenden Freisetzung von Kohlenstoff wirklich reduziert werden kann. -152-

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Kommt uns die Ozonschicht abhanden? Wahrscheinlich nicht, weil die Reaktion auf diese Bedrohung das beste Beispiel dafür ist, wie Wissenschaft und Politik zusammenarbeiten. Ozon ist ein Molekül aus drei Sauerstoffatomen. Der Großteil davon befindet sich in einem Bereich der Atmosphäre fünfundzwanzig bis dreißig Kilometer über der Erdoberfläche, den man als Ozonschicht bezeichnet. Dort wird ein großer Teil der ultraviole tten Strahlung von der Sonne absorbiert, aber es ist zugleich die Region, die durch den Einsatz von Fluorkohlenwasserstoffen (FCKWs) bedroht war. (Ich sollte noch erwähnen, dass Ozon auch in der Ozonschicht nur einen kleinen Teil der in der Atmosphäre vorhandenen Gase ausmacht.) Die Zeit vor 1985 ist für mich im Hinblick auf die Ozonschicht die »Sprühdosenära«. Damals war bereits bekannt, dass FCKWs, die in die Atmosphäre eindringen, aufgrund ihrer extremen Stabilität in die Ozonschicht aufsteigen, wo durch die Wirkung des Sonnenlichts Chlor freigesetzt wird. Ein kleiner Teil des Chlors dient als Katalysator, der die Ozonmoleküle aufbricht. Man berechnete, dass die Sprühdosen die Ozonschicht mit einer Geschwindigkeit von etwa fünf Prozent im Jahrhundert abbauen würden. Aufgrund dieser Erkenntnis verboten Kanada, Schweden und die Vereinigten Staaten 1985 den Einsatz von FCKWs in Sprühdosen. Mitte der achtziger Jahre wurde auch das Ozonloch über der Antarktis entdeckt, der gravierende Ozonabbau, der jedes Jahr während des antarktischen Frühlings über diesem Kontinent vor sich ging. Zunächst gab es eine große Diskussion über das Ozonloch, vor allem über seine Ursachen. Man fand heraus, dass sich das Ozonloch über der Antarktis auftut, weil es der kälteste Ort auf dem Planeten ist. Während der langen antarktischen Nacht -154-

bilden sich hoch oben in der Ozonschicht polare Stratosphärewolken aus winzigen Eiskristallen. Das meiste Chlor in der Atmosphäre wird von Chlorwasserstoffmolekülen aufgenommen, die vielleicht zum sauren Regen beitragen, aber keinen Einfluss auf das Ozon haben. In den polaren Stratosphärewolken setzt sich Chlorwasserstoff (Salzsäure) jedoch an der Oberfläche der Eiskristalle ab, und in chemischen Reaktionen entsteht Chlormonoxid. Chlormonoxid bricht Ozonmoleküle nicht von sich aus auf, sondern zerfällt unter Einwirkung von Sonnenlicht zu normalem Chlor, das wiederum Ozon spaltet. Während des antarktischen Winters nimmt die Menge des Chlormonoxids somit zu, und es fehlt das Sonnenlicht, um es wieder loszuwerden. Wenn die Sonne im Frühjahr wiederkehrt, geschehen zwei Dinge: Erstens verschwinden die polaren Stratosphärewolken, und zweitens zerfallt das Chlormonoxid, um anschließend Chlor freizusetzen. Die Folge ist eine Welle der Ozonvernichtung, die so lange anhält, bis sich die Zusammensetzung des Chlors wieder stabilisiert hat. So entsteht das Ozonloch. Neuere Untersuchungen haben ein ähnliches, aber viel weniger dramatisches Phänomen in der Arktis aufgezeigt. Die Arktis ist nicht kalt genug für polare Stratosphärewolken, weshalb die Zerstörung des Ozons dort viel geringer ist. Während das antarktische Ozonloch womöglich bereits Schädigungen von dreißig bis vierzig Prozent aufweist, kommt das arktische Ozonloch kaum über zehn Prozent. Neuere Untersuchungen haben außerdem einen etwas geringeren Abbau der Ozonschicht über den mittleren Breitengraden ergeben, wo die Zersetzung jeweils zu unterschiedlichen Zeiten feststellbar ist. Es wird darüber diskutiert, was dafür verantwortlich sein könnte. Ein Grund könnten große Vulkanausbrüche sein, die etwa alle zehn Jahre auftreten und Teilchen in die Luft schleudern, die in den mittleren Breitengraden dieselbe Rolle spielen wie die polaren Stratosphärewolken in der Antarktis. -155-

Eine andere Möglichkeit ist, dass chlorhaltige Luft von der Arktis und der Antarktis zu den mittleren Breitengraden strömt und so das Ozon in diesen Regionen reduziert. 1987 trafen sich die Industriestaaten der Welt in Montreal und vereinbarten, die Produktion von FCKWs auslaufen zu lassen. Dieses Vorgehen war enorm erfolgreich - so erfolgreich sogar, dass sich die Länder seither - zuletzt 1992 in Kopenhagen - in periodischen Abständen trafen, um die Standards zu verschärfen. Das Kopenhagener Abkommen forderte ein Ende der Herstellung von FCKWs bis zum Jahre 1996. Wie wird es also mit dem Ozonloch weitergehen, wenn das Kopenhagener Abkommen eingehalten wird? Berechnungen lassen vermuten, dass sich der Chlorgehalt in der Atmosphäre etwa bis zum Jahr 2030 wieder normalisiert haben wird. Dies ist eine erstaunliche Erfolgsgeschichte. Erstens haben Wissenschaftler das Problem zügig erkannt und analysiert. Dann hörten die Regierungen auf die Wissenschaftler und machten sich daran, das Problem aus der Welt zu schaffen. Und schließlich sieht es danach aus, als würde das Problem aufgrund dieses gemeinsamen Handelns tatsächlich verschwinden. Wie könnte das System noch besser funktionieren?

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Können - und sollten wir das Klima verändern? Mittlerweile ist deutlich geworden, dass der Mensch - durch Schadstoffemissionen und andere Aktivitäten - das Erdklima unbeabsichtigt verändern kann. Kann er es auch absichtlich? Gibt es eine Möglichkeit, den negativen Folgen menschlichen Handelns für das Klima zu begegnen oder das Klima sogar mehr nach unserem Geschmack zu ge stalten? Die Antwort auf diese Frage hängt von zwei Faktoren ab: (1) Gestattet uns die heutige Technologie, weitreichende Klimaveränderungen durchzuführen, und (2) welche politischen, rechtlichen und ethischen Erwägungen sind dabei zu beachten? Das Nachdenken über diese Frage drehte sich bisher vor allem um den Treibhauseffekt. Einige Zahlen als Hintergrund: Über der Atmosphäre verströmt die Sonne eine Energie von etwa 1500 Watt pro Quadratmeter - genug für einen Toaster und vier Glühbirnen. Die Verdoppelung des Kohlendioxids in der Atmosphäre würde eine Erhöhung dieser Zahl um etwa 4 Watt pro Quadratmeter bedeuten. Das ist das ungefähre Niveau der Erwärmung durch den Treibhauseffekt, mit dem für Ende des nächsten Jahrhunderts gerechnet wird. Doch ein großer Vulkanausbruch wie der des Pinatubo im Jahre 1993 schleudert Schwefelverbindungen in die Stratosphäre und erhöht die Menge des Sonnenlichts, das von der Erde reflektiert und in den Weltraum zurückgeworfen wird. Der Ausbruch des Pinatubo bedeutete eine Verminderung der eintreffenden Energie um etwa diese 4 Watt pro Quadratmeter und sorgte damit weltweit für eine drei Jahre andauernde Abkühlung. Da das Klima so empfindlich auf Veränderungen der Energiebilanz reagiert, zielt ein Vorschlag zur Klimaveränderung darauf ab, mehr Sonnenlicht in den Weltraum zu reflektieren. Weltraumspiegel, -157-

Weltraumstaub, Ballonflotten, die Verteilung von Staub in der Stratosphäre mittels Jumbo-Jets und ein verstärktes Besäen von Wolken waren alles Vorschläge, um dem Treibhauseffekt entgegenzuwirken. Auf diesem Gebiet wurden keine Großversuche durchgeführt oder geplant, sondern vielmehr dienten mächtige Vulkanausbrüche als natürliche Experimente. So spuckte der Pinatubo etwa eine Million Tonnen Schwefelverbindungen in die Atmosphäre. Wenn man einen Teil dieser Verbindungen ganz normalem Flugbenzin beimischen würde, bliebe genügend Schwefel in der Atmosphäre, um den Treibhauseffekt auszugleichen. Mit anderen Worten: Eine derartige Beeinflussung des Klimas liegt zweifellos im Bereich unserer Möglichkeiten. Die Frage ist natürlich, was die Schwefelverbindungen sonst noch bewirken würden. Das ist der Haken an der Sache. Es ist einfach noch nicht genug bekannt, um die klimatischen Folgen von Treibhausgasen auch nur halbwegs verlässlich vorhersagen zu können. Außerdem weiß man einfach noch zuwenig, um die Nebenwirkungen einer derartigen Klimaveränderung abzuschätzen. Es wird wohl noch zehn Jahre dauern, bis die Theorien gut genug sind, um solche Prognosen mit hinreichender Genauigkeit stellen zu können, und dies scheint mir auch das größte Problem bei all den Ideen zu sein, die darauf abzielen, das Sonnenlicht von der Erde zu reflektieren. Nach anderen Plänen soll der Atmosphäre Kohlendioxid entzogen werden. Eine Variante ist sogar schon in der Testphase; sie funktioniert wie folgt: In einigen Meeresregionen wird das Wachstum von photosynthetischem Plankton durch die Knappheit von Eisen begrenzt. Was würde passieren, wenn man einfach Eisen ins Meer kippte? Das Plankton würde wachsen, der Luft Kohlendioxid entziehen und es (hoffentlich) beim Absterben mit in die Tiefen des Meeres hinunternehmen. Und wieder hat man eine Möglichkeit zur Klimaveränderung, die auf den ersten Blick plausibel erscheint. Dazu gibt es auch ein neues -158-

Experiment. Eine Gruppe von Wissenschaftlern des Meeresforschungszentrums von Moss Landing verklappte in der Nähe der Galapagosinseln Eisenspäne ins Meer, um zu sehen, ob der Mechanismus auch im offenen Meer funktioniert. Sie stellten fest, dass das Eisen tatsächlich das Wachstum von Phytoplankton anregte; die Planktonmenge verzehnfachte sich in diesem Bereich sogar. Der Ozean verfärbte sich im Umkreis von einigen Kilometern um ihr Schiff tatsächlich von einem klaren Blau zu einem trüben Grün. »Das war wie auf einem Ententeich«, schilderte einer der Teilnehmer. Alles in allem wurden der Atmosphäre während des einwöchigen Versuchs etwa 100 Tonnen Kohlenstoff entzogen. Doch wie bei den Plänen im Zusammenhang mit der Atmosphäre ist noch nicht genug über die Düngung des Meeres bekannt, um zuverlässig etwas über die Nebenwirkungen sagen zu können. Eine Möglichkeit: Wenn die Düngung eingestellt wird und das tote Plankton etwas absinkt, werden bei dessen Zersetzung die Stickstoffverbindungen frei, die viele Fischgründe der Erde am Leben erhalten. Nur weitere Forschungen werden auf solche Fragen Antwort geben. Die im Zusammenhang mit der Klimaveränderung sich ergebenden politischen Probleme sind sogar noch komplizierter als die technischen. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass im Augenblick kein internationales Organ existiert, das weitreichende Klimaveränderungen autorisieren kann. Durch Verträge - etwa den Vertrag von Rio oder die Seerechtskonventionen - wurden zwar einige beratende Gremien ins Leben gerufen, aber sie sind nicht entscheidungsbefugt.

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Schmilzt das antarktische Binneneis? Vielleicht haben Sie während der letzten großen Kampagne gegen globale Erwärmung das Plakat gesehen, auf dem die Freiheitsstatue bis zum Hals im Wasser steht. Die implizite Botschaft des Plakats lautete, dass die globale Erwärmung alle Gletscher der Welt zum Schmelzen bringe und die Freiheitsstatue ein Opfer des steigenden Meeresspiegels werde. Auch wenn kein verantwortlicher Wissenschaftler eine solche Wendung für möglich hält, steckt in dem Plakat doch ein Fünkchen Wahrheit. Ein kleiner Prozentsatz der Wasservorräte der Erde ist in Eis und Gletschern gebunden - vor allem in der Antarktis und auf Grönland, aber auch in den Gebirgen. Wenn all dieses Eis schmelzen sollte, stiege der Meeresspiegel beträchtlich an, vielleicht sogar so stark, dass die Freiheitsstatue in Gefahr geriete. Da sich der Großteil des Eises auf Antarktika befindet, konzentriert sich die Sorge vor einem Ansteigen des Meeresspiegels durch das Schmelzen von Eis vor allem auf diesen Kont inent. Und obwohl uns die Forschung einige recht überraschende Einblicke in die Beschaffenheit großer Eiskörper gegeben hat, entfachte sie auch eine andauernde wissenschaftliche Diskussion über die Frage, wie viel vom antarktischen Binneneis in naher Zukunft schmelzen dürfte. Seltsamerweise hängt diese Diskussion nur ganz am Rande mit dem Treibhauseffekt zusammen - die Aufmerksamkeit richtet sich stattdessen auf die Dynamik von Gletschern. Gewaltige Gletscher sind nicht nur große Eisblöcke, sondern auch dynamische Systeme. Schnee, der in größeren Höhen fällt, verdichtet sich, sammelt sich im Lauf einiger Jahre an und fließt wie ein träger Fluss nach unten. In geringeren Höhen schmilzt der Gletscherrand. -160-

Antarktika besitzt zwei Binneneisdecken mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften. Auf dem östlichen Teil des Kontinents befindet sich das Eis auf dem Festland Gebirgszügen und Ebenen. Hier türmt sich das Eis jedes Jahr einige Kilometer hoch auf und bewegt sich nur sehr wenig. Die meisten Wissenschaftler halten das ostantarktische Binneneis für sehr stabil, und es ist unwahrscheinlich, dass sich daran in Zeiträumen etwas ändert, die für den Menschen relevant sind. Das westantarktische Binneneis dagegen befindet sich zu einem Großteil nicht auf Festland, sondern treibt im Meer. Außerdem ist seine Bewegung recht kompliziert. Über Land sind die Temperatur und der Druck unter der Eisdecke hoch genug, um einen Teil des Eises schmelzen zu lassen und das darunterliegende Gestein und die Erde in ein Material zu verwandeln, das ungefähr die Konsistenz von Zahnpasta besitzt. Auf dieser glatten Fläche »treibt« das Eis in Richtung Meer. Wenn man darüber hinwegfliegt, kann man außerdem erkennen, dass die breiten Flächen aus glattem Eis von Streifen aus geborstenem Eis und Gletscherspalten durchbrochen werden. Dabei handelt es sich um Eisströme, die durch das langsamere Eis fließen und ein gut Teil des Eises ausmachen, das vom Binneneis ins Meer geschoben wird. Die Eisströme bewegen sich überraschend schnell - einige Kilometer pro Jahr sind nichts Ungewöhnliches - und ungleichmäßig; sie werden schneller, verlangsamen sich wieder und kommen manchmal ganz ins Stocken. Wie Sie wahrscheinlich vermuten, lässt sich das Verhalten des westantarktischen Binneneises kaum vorhersagen. Im Allgemeinen fließt es ins Meer, wo es Eisberge auftürmt, die hinaustreiben und schmelzen. Im Detail verhält es sich so: Eis treibt im Meer schneller, als es sich über Land schiebt, so dass der im Wasser schwimmende Teil des Binneneises den Rest hinter sich herzieht. Infolgedessen bewegt sich der Punkt, an dem das Eis auf dem darunter befindlichen Wasser zu treiben -161-

beginnt, die so genannte Schichtgrenze, weiter ins Landesinnere. Wenn es keine anderen Kräfte gäbe, würde das gesamte westantarktische Binneneis ins Meer gezogen und schmelzen, was den Meeresspiegel um etwa sechs Meter anheben würde. Das reicht nicht aus, um die Freiheitsstatue zu überschwemmen, würde aber mit Sicherheit große Probleme für die Küstenstädte schaffen. Zum Glück gibt es noch einen anderen Vorgang, der die Lage der Schichtgrenze verändert. Zusammen mit dem Binneneis wird auch die Gleitschicht darunter ins Meer geschoben, die sich zu einer Art Delta aus »Zahnpasta« auftürmt. Dadurch verschiebt sich die Schichtgrenze ein wenig seewärts. Im Augenblick wird die Lage des westantarktischen Binneneises durch das feine Wechselspiel zwischen diesen beiden Kräften bestimmt; während die eine in Richtung Meer zieht, wirkt die andere stabilisierend. Die Frage ist, ob und wie lange dieses Gleichgewicht aufrechterhalten werden kann. Und da beginnt die Kontroverse, weil unser Verständnis dieses Vorgangs noch in den Kinderschuhen steckt. Allgemein geht man davon aus, dass die Binneneisdecken mehr oder weniger in ihrem heutigen Zustand entstanden, als sich der antarktische Kontinent vor etwa 14 Millionen Jahren an seine heutige Position über dem Südpol schob. Einige Indizien (vor allem Versteinerungen in Bohrkernen) legen aber nahe, dass das westantarktische Binneneis geologisch gesprochen in jüngerer Verga ngenheit vielleicht vor nicht mehr als 400 000 Jahren - vollständig verschwunden war. Dies würde bedeuten, dass das Gleichgewicht des Binneneises tatsächlich so empfindlich ist, wie es den Anschein hat, und dass eine kleine Veränderung der Bedingungen genügen würde, um es zum Schmelzen zu bringen. Diese Theorie erhielt 1993 unerwartete Unterstützung, als Wissenschaftler einen vollständig unter dem westantarktischen Binneneis begrabenen Vulkan von der Größe des Fudschijama -162-

entdeckten, der überdies noch aktiv ist. Das Schreckensszenario: Ein Vulkanausbruch unter dem Eis bewirkt seewärts einen Stoß, der das gesamte Eis ins Meer stürzen lässt.

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Wie bewegt sich der Erdmantel? Zum heutigen Bild der Erde gehört, dass die Bewegung der Kontinente durch tief im Inneren des Planeten erzeugte Radioaktivität angetrieben wird. Diese Wärme steigt durch Konvektion an die Oberfläche. (Derselbe Prozess, den man in einem Kessel mit kochendem Wasser sieht, in dem heißes Wasser vom Grund aufsteigt, sich dann abkühlt und wieder sinkt, um den Zyklus von neuem zu durchlaufen.) Über einige hundert Millionen Jahre hinweg durchlaufen Steine tief im Erdinneren denselben Zyklus, während die Platten und Kontinente auf dem in Bewegung befindlichen Gestein wie Blasen auf kochendem Wasser »tanzen«. Zwar herrscht so weit noch Übereinstimmung, doch im Detail gehen die Meinungen deutlich auseinander. Insbesondere wird immer wieder diskutiert, wie weit sich die Konvektion ins Erdinnere erstreckt. Zum Hintergrund: Nachdem die Erde entstanden war, durchlief sie eine alles erfassende Schmelzphase. Schwermetalle sanken in den Erdmittelpunkt, und der Rest des Planeten nahm eine Schichtstruktur an. Zwischen dem Nickel- Eisen-Kern und einer wenige Kilometer dicken Schicht bis zur Oberfläche erstrecken sich mehr als 3000 Kilometer schweres Gestein, der so genannte Erdmantel. Die Konvektion dieses Gesteins ist für die Bewegung der Kontinente verantwortlich. Wissenschaftler können das Erdinnere zwar nicht direkt untersuchen, aber in Observatorien an der Erdoberfläche das Eintreffen seismischer Wellen beobachten. Jedes Mal, wenn sich ein größeres Erdbeben ereignet, wandern Wellen durch die Erde, und durch Messungen, wie lange sie brauchen, um an verschiedene Stellen der Oberfläche zu gelangen, lässt sich ein erstaunlich detailliertes Bild vom Erdinneren gewinnen. Diese Methode ist -164-

mit der Computertomographie (CT) auf dem Gebiet der Medizin vergleichbar, bei der durch die Messung der Absorption von Röntgenstrahlen Bilder des Körpers erzeugt werden. Seismische Untersuchungen liefern eine erstaunliche Erkenntnis über den Mantel: Eine etwa 600 Kilometer unter der Erdoberfläche gelegene Schicht markiert den Übergang zwischen oberem und unterem Mantel. Offenbar beschleunigen sich seismische Wellen, wenn sie diese Zwischenschicht passieren, was nur dadurch zu erklären ist, dass die Atome im unteren Mantel anders angeordnet sind als die im oberen. In den letzten dreißig Jahren herrschte unter Geologen ein Streit über die Frage, ob sich die aufwühlende Konvektion, die die Kontinente antreibt, nur bis zu dieser Schicht erstreckt, oder ob sie bis zum Grund des Mantels hinunterreicht. Wie oft bei jahrelang andauernden wissenschaftlichen Kontroversen besteht das Grundproblem darin, dass es zwei Datensätze aus zwei unterschiedlichen Disziplinen gibt, die sich nicht miteinander in Einklang bringen lassen. Auf der einen Seite weisen Geochemiker darauf hin, dass es eine Reihe von chemischen Elementen gibt, deren Häufigkeit an der Erdoberfläche nicht mit der Häufigkeit im Mantel übereinstimmt. Sie argumentieren, dass diese Ungleichheit nur daher rühren könne, dass tiefer im Erdmantel befindliches Material gelegentlich nach oben transportiert werde, was dann passiere, wenn Konvektion die beiden Mantelschichten durchmische. Auf der anderen Seite vertreten Seismologen die Ansicht, sie sähen in ihren »CTs« der Erde keine Anhaltspunkte für eine solche Durchmischung. Diese Diskussion ist noch immer voll im Gange, aber vielleicht wird sie in den nächsten Jahren beigelegt. Neue Informationen sowohl durch verbesserte Datenanalysen als auch durch präzisere Computermodelle der Erde weisen den Weg zu Kompromissen. Es stellt sich heraus, dass seismische Wellen in kaltem -165-

Gestein schneller wandern als in warmem, was Seismologen die Gelegenheit gibt, die Temperatur von Gestein tief im Erdinneren zu messen. Das Problem, eine solche Untersuchung in großer Tiefe durchzuführen, lag immer darin, dass Wellen auf ihrem Weg zur Oberfläche durch Inhomogenitäten im Gestein verzerrt werden - ähnlich wie Lichtwellen flimmern, wenn sie an einem heißen Tag die aufgeheizte Luft über einem Parkplatz durchdringen. Eine neuere Analyse, für die genügend Daten gesammelt wurden, um dieses Problem anzugehen, zeigte vor der Westküste des amerikanischen Doppelkontinents eine Wolke aus kaltem Gestein, das bis zum Mantel nach unten sank. Dies war der erste direkte Beweis für ein Durchbrechen der Grenze zwischen oberem und unterem Mantel. An der theoretischen Front wurde eine ganze Reihe von Ideen vorgeschlagen, um die beiden Sichtweisen miteinander zu versöhnen. Einer Theorie zufolge sinkt kaltes Gestein zur Grenze, wo es sich sammelt. Wenn genügend zusammengekommen ist, bricht es in den unteren Mantel durch, während Material von dort durch den Spalt nach oben schießt. In einem anderen Modell werden Phasen wie diese, in denen die Konvektion im wesentlichen auf den oberen Mantel beschränkt ist, von anderen Phasen unterbrochen, in denen Wolken aus erhitztem Material - wie Blasen in einem Wassertopf kurz vor dem Kochen - vom Grund des Mantels aufsteigen. Bei beiden Theorien gibt es ausreichend Gelegenheit, dass sich die beiden Schichten des Mantels vermischen, aber diese Vermischung dauert nicht ewig. Ich vermute, dass sich eine Theorie in dieser Richtung als korrekt erweisen wird, wenn mehr Daten zur Verfügung stehen.

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Warum kehrt sich das Magnetfeld der Erde um? Wenn Sie je mit einem Kompass gearbeitet haben, wissen Sie wahrscheinlich, dass sich die Erde wie ein riesiger Magnet verhält, dessen Nordpol in Kanada und dessen Südpol in der Antarktis liegt. Eine Kompassnadel, die selbst ein winziger Magnet ist, richtet sich aufgrund ihrer Wechselwirkung mit diesem Erdmagneten in Nord-Süd-Richtung aus. Was Sie wahrscheinlich nicht wissen, ist, dass Kompassnadeln nicht immer nach Norden gezeigt haben. Tatsächlich mussten erst einige Jahre des 20. Jahrhunderts ins Land gehen, bis Wissenschaftler herausfanden, warum die Erde überhaupt ein Magnetfeld besitzt. Physiker hatten seit langem gewusst, dass man ein Magnetfeld erzeugen kann, indem man Elektrizität durch einen Draht schickt - dies ist das Grundprinzip sowohl des elektrischen Generators als auch des Elektromotors. Zunächst vermutete man, dass vielleicht die Erdrotation im Erdinneren Elektrizität erzeugt und diese Elektrizität wiederum das Magnetfeld hervorbringt. Die Erde als Ganzes besitzt jedoch keine elektrische Nettoladung, und so kann ihre Rotation auch keine Elektrizität sein. Die gegenwärtig akzeptierte Theorie über den Ursprung des Magnetfelds der Erde hat mit dem Verhalten des flüssigen Erdkerns zu tun. Gut 3000 Kilometer unter Ihren Füßen nähert sich die Temperatur 6000 °C (etwa die Temperatur an der Oberfläche der Sonne), und der Druck ist über einmillionmal höher als in der Atmosphäre. Unter diesen Bedingungen sind das Eisen und das Nickel im Kern flüssig. Noch weiter innen, unter noch größerem Druck, sind die Atome zu einem festen Körper zusammengedrückt, aber ein etwa 2,4 Kilometer tiefer Abschnitt des Erdinneren ist flüssig. Stellen Sie ihn sich als brodelnden, dampfenden, turbulenten Ozean vor, der -168-

oben und unten von Feststoffen begrenzt ist, und Sie haben ein ziemlich genaues Bild davon. Wenn ein solches flüssiges Metall in einem kleinen präexistenten Magnetfeld rotiert, beginnen ungebundene elektrische Ladungen zu fließen und erzeugen einen elektrischen Strom. Dieser Strom erzeugt wiederum das Magnetfeld, das dann einen stärkeren Strom bewirkt, der wiederum ein stärkeres Feld erzeugt - und so weiter. Auf diese Weise wird sogar ein mikroskopisch kleines Magnetfeld stärker, und so sind die meisten Wissenschaftler heute der Überzeugung, dass sich die Magnetfelder der Erde und der Sonne auf diese Weise aufbauten. Körper ohne einen flüssigen Kern (wie der Mond und der Mars) sollten demnach kein solches Feld haben (und haben es auch nicht). Das wäre alles schön und gut - wenn es nicht die höchst eigenartige Tatsache gäbe, dass das Magnetfeld der Erde nicht immer in dieselbe Richtung weist. Ab und zu scheint es sich nämlich umzukehren. Es gab Phasen, in denen der Nordpol in der Antarktis und der Südpol irgendwo bei Grönland lag. Die letzte Periode dieser Art endete vor ungefähr 750 000 Jahren. Sie fragen sich vielleicht, woher man wissen will, in welche Richtung eine Kompassnadel vor so langer Zeit zeigte. Die Antwort hat damit zu tun, dass in der Erdgeschichte recht häufig geschmolzenes Gestein ausgeflossen ist, etwa bei Vulkanausbrüchen. Geschmolzenes Gestein enthält oft kleine Körner aus Eisenerz, die alle als winzige Kompassnadeln funktionieren. In einer Flüssigkeit können sich die Körner frei drehen und ausrichten, so dass sie jeweils in die Richtung zeigen, wo sich der Nordpol zur Zeit des Ausflusses befand. An der Erdoberfläche angekommen, verfestigt sich das Gestein, und die Ausrichtung der Eisenkörnchen wird in die kristalline Struktur eingeschlossen. Diese Körnchen weisen auch weiterhin in dieselbe Richtung, unabhängig davon, wo sich der Nordpol später befindet. Mit anderen Worten: Die Steine »erinnern« sich -169-

daran, wo der Nordpol bei ihrer Entstehung lag. Die Analyse dieser Erinnerungen gehört zu den wichtigsten Aufgaben des Paläomagnetismus, eines Teilbereichs der Geologie. In den sechziger und siebziger Jahren entdeckten Wissenschaftler systematische Muster bei der Ausrichtung von »Kompassen« in alten Steinen. Diese Körnchen zeigten manchmal nach Norden, manchmal nach Süden. Dies führte zu der Vorstellung, dass sich das Magnetfeld der Erde umkehrt. Heute sind mehr als dreihundert solcher Umkehrungen des Feldes nachweisbar. Es lässt sich kaum erkennen, wie ein einfaches Modell unter Einbeziehung des flüssigen Kerns dieses Verhalten erklären könnte, vor allem da der zeitliche Ablauf der Umkehrungen sehr unregelmäßig ist. Es gibt lange Phasen ohne jede Umkehrung, auf die immer wieder Phasen folgen, in denen sich das Magnetfeld in rascher Folge ändert. Die meisten Theorien, die Erklärungsansätze liefern wollen, greifen auf Turbulenzen im flüssigen Erdkern zurück - Stürme im inneren Ozean der Erde. Der Gedanke ist, dass einige Eigenschaften der Bewegung den Nordpol immer dort ansetzen, wo er sich heute befindet, während andere Eigenschaften ihn in die Antarktis verlegen. Das tatsächliche Magnetfeld resultiert aus dem feinen Wechselspiel zwischen diesen Eigenschaften, und kleinste Veränderungen können das Gleichgewicht kippen und wieder zu einer Umkehrung führen. Derartige Theorien sehen recht viel versprechend aus, aber in meinen Augen wird die Frage, warum sich das Magnetfeld der Erde umkehrt, das größte Rätsel der Geologie bleiben.

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Wie genau lassen sich Vulkanausbrüche vorhersagen? Die genaue Vorhersage von Naturkatastrophen war seit jeher ein Ziel der Wissenschaft. Heute lässt sich das Verhalten von Hurrikanen exakt vorhersagen. Schwerer tut man sich schon bei der Vorhersage von Erdbeben, da uns die heute zur Verfügung stehende Technik nur die Vorhersage allgemeiner Wahrscheinlichkeiten über lange Zeiträume hinweg erlaubt. Die Vorhersage von Vulkanausbrüchen ist zwischen diesen beiden Extremen angesiedelt. In den letzten zehn Jahren hat man die Fähigkeit entwickelt, Ausbrüche rechtzeitig vorherzusagen, um Leben zu retten - und diese Fähigkeit wird sich in naher Zukunft noch deutlich verbessern. Ein paar Zahlen zur Illustration: 1985 brach in Kolumbien der Nevado del Ruiz ohne Vorwarnung aus und kostete mehr als 20000 Menschen das Leben. 1991, nur sechs Jahre später, wurde der Zeitpunkt des Ausbruchs des Pinatubo auf den Philippinen genau genug vorhergesagt, um die meisten in dieser Gegend lebenden Menschen zu evakuieren. Das Ergebnis: nur einige hundert Todesfälle, nicht gleich Tausende. 1994 wurden in einem ähnlichen Fall 20 000 Menschen vor einem Ausbruch auf Papua-Neuguinea evakuiert und dadurch gerettet. Im Vergleich dazu soll die Zerstörung Pompejis durch einen Ausbruch des Vesuv im Jahre 79 v. Chr. 20 000 Menschen das Leben gekostet haben; einem Ausbruch des Tambora in Indonesien fielen im Jahre 1815 beinahe 100 000 Menschen zum Opfer. Ein Vulkan ist ein Ort, an dem heißes Magma aus dem Erdinneren an die Oberfläche gelangt. Der Vorgang setzt ein, wenn geschmolzenes, relativ leichtes Magma tief im Erdinneren langsam an die Oberfläche steigt, so wie ein unter Wasser losgelassener Holzscheit immer wieder an die Wasseroberfläche -171-

schießt. Sobald das Magma nach oben steigt, sinkt der Druck, und gelöste Gase bilden Blasen. Wenn das Magma nicht besonders zäh ist und nur wenige Blasen enthält, strömt die Lava einfach an die Oberfläche. Ist das Magma aber zäh und enthält eine Menge gelöster Gase, kommt es zum klassischen explosiven Ausbruch. Typischerweise gehen einem Vulkanausbruch alle möglichen Anzeichen voraus - verstärkte unterirdische Beben, kleine Ausbrüche und die Freisetzung von Asche und Gas (vor allem Gase, die Schwefelverbindungen enthalten). Traditionell erstellten Vulkanologen ihre Vorhersagen anhand solcher Indikatoren und einem guten Schuss eher instinktiver Annahmen. Heute tragen zwei moderne Technologien - der Computer und der Satellit - zur Fähigkeit bei, vorherzusagen, (l) wann Eruptionen stattfinden und (2) was dann passieren wird. Vulkanologen können heute Sofortanalysen neuer Daten auf ihrem PC erstellen - was früher nur in weit entfernten Labors mit riesigen Großrechnern möglich war. Die Zeit, die verloren geht, um Daten an einen Großrechner zu übertragen, kann natürlich entscheidend sein, wenn ein Vulkanausbruch im Anzug ist und deshalb laufend aktuelle Vorhersagen getroffen werden müssen. Außerdem ist es heute möglich, Instrumente auf einen Vulkan zu setzen und dann von einem Satelliten aus zu beobachten. Dadurch lassen sich bei einem nahenden Ausbruch wichtige Messungen vornehmen, ohne Menschen zu gefährden. Erst durch die Verbindung aus Satellitenüberwachung und Echtzeitanalysen mit dem PC konnten Vulkanologen genaue Vorhersagen über den Ausbruch des Pinatubo treffen. In Zukunft wird noch ein weiteres Hilfsmittel zur Verfügung stehen, das eine verbesserte Überwachung ermöglicht: das Satellitennavigationssystem (vgl. S. 92). Wenn sich ein Ausbruch ankündigt, sorgen Deformationen und Druckkräfte in der Erde für kleine Wölbungen entlang den Bergflanken. Werden auf dem Berg Sensoren aufgestellt, bevor die -172-

Wölbungen auftreten, kann das Satellitennavigationssystem deren Position bestimmen und das allmähliche Ansteigen oder Abfallen des Bodens registrieren. Außerdem können Computer einer Regierung bei der Planung jener Maßnahmen helfen, die zu ergreifen sind, wenn der Vulkan tatsächlich ausbricht. So war die häufigste Todesursache beim Ausbruch des Nevado del Ruiz eine Reihe von Schlammlawinen an den Bergflanken. Wenn man gewusst hätte, wo diese Rutsche abgehen, hätten sich die Bewohner auf hohe Bergketten begeben können, um ihnen auszuweichen. Heute erstellen die Wissenschaftler Karten mit dem wahrscheinlichsten Verlauf von Schlammlawinen, Lavaströmen und Aschewolken (die Triebwerke von Flugzeugen lahm legen können, die das Pech haben, durch sie hindurch zu fliegen) auf der Basis detaillierter Simulationen bestimmter Vulkanausbrüche. Die ersten Simulationen dieser Art wurden 1994 in Erwartung eines Ausbruchs des Popocatépetl in Mexiko angestellt. Die Computersimulationen errechneten den wahrscheinlichsten Verlauf von Schlammlawinen und gaben offiziellen Stellen dadurch die dringend notwendige Orientierung bei der Planung der Evakuierung. Mein Eindruck ist, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis Vulkanausbrüche neben den Hurrikanen eine weitere Geißel der Menschheit sein werden, die zwar nicht verhindert, aber doch ohne große Verluste an Menschenleben ertragen werden können.

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Wird man Erdbeben vorhersagen können? Nachdem ich einige Jahre in Kalifornien gelebt habe, kann ich aus eigener Erfahrung berichten, dass nichts so Furcht einflößend ist wie ein Erdbeben. Auch wenn die Beben, die ich selbst erlebt habe, nur vergleichsweise unbedeutend waren und in den überregionalen Medien kaum Beachtung fanden, reichten sie aus, um mir eine schreckliche Vorahnung zu vermitteln, wie einst »die große Nummer« aussehen wird. Wenngleich Erdbeben auch anderswo auf dem Planeten vorkommen, ereignen sich die meisten doch in Regionen wie etwa entlang der legendären Sankt-Andreas-Spalte, wo die tektonischen Platten, aus denen sich die Erdoberfläche zusammensetzt, gegeneinander bewegen. Die Pazifische Platte, zu der einige Küstenregionen Südkaliforniens gehören, bewegt sich im Verhältnis zur Nordamerikanischen Platte um mehrere Zentimeter pro Jahr nordwärts. Die Wirkung ist ähnlich, wie wenn man einen Bleistift durchbiegt. Eine Zeitlang hält der Bleistift und verbiegt sich höchstens ein wenig - bis er plötzlich bricht. Und während man leicht vorhersagen kann, dass der Stift irgendwann bricht und die Platten irgendwann gegeneinander schrammen und ein Erdbeben hervorrufen, lässt sich nicht genau sagen, wann die beiden Ereignisse eintreten werden. Das ist das Problem bei der Vorhersage von Erdbeben. Bevor wir zur eigentlichen Vorhersage kommen, will ich mich einem Nebenaspekt zuwenden. Die Stärke von Erdbeben wird normalerweise anhand der Richterskala angegeben, die 1935 von Charles Richter aufgestellt wurde, einem Geologen am California Institute of Technology. Geologen benutzen die Richterskala heute nicht mehr, sondern verwenden Skalen, anhand derer sich die Energie abschätzen lässt, die durch die -174-

Gesteinsbewegung insgesamt freigesetzt wurde. Normalerweise gehen sie über diesen Punkt einfach hinweg und sprechen von der »Stärke« eines Erdbebens, ohne Ric hter dabei zu erwähnen. Die meisten Beben, von denen man liest, bewegen sich auf dieser Skala zwischen den Stärken 6 und 8. Im Zusammenhang mit der Vorhersage von Erdbeben kursieren eine Menge Geschichten. Vielleicht am verbreitetsten ist diejenige, dass Tiere ein Erdbeben bereits vorher spüren. Der am besten dokumentierte Fall ereignete sich am 18. Juli 1968 im chinesischen Taichin. Zoowärter beobachteten unmittelbar vor einem großen Erdbeben allerlei verrückte Verhaltensweisen Schwäne mieden das Wasser, Pandas kreischten, und Schlangen wollten nicht mehr in ihre Löcher zurück. Wissenschaftler spekulieren, dass die unter Spannung stehenden Steine nahe der Erdoberfläche Veränderungen im elektrischen Feld hervorrufen und diese Veränderungen irgendwie das Nervensystem einiger Tiere durcheinander bringen. Leider hat sich die Theorie über das Verhalten der Tiere seither nicht besonders erhärtet; es gibt viele Beispiele für Beben, vor denen kein abnormales Tierverhalten zu beobachten war. Bei weitem die umfangreichsten wissenschaftlichen Anstrengungen zur Vorhersage von Erdbeben wurden unternommen, um in Erdbebenzonen Veränderungen an der Erdoberfläche zu messen. Man vermutet, dass es nachweisbare Veränderungen gibt - etwa die Ausbeulung der Oberfläche oder Spannungen im Gestein -, sobald eine Spalte zu rutschen beginnt. Wenn man einen Vorläufer von Erdbeben, vergleichbar dem Rumoren eines Vulkans vor dem Ausbruch, identifizieren könnte, hätte man eine Möglichkeit der Vorhersage. Ein Schritt auf diesem Weg wurde 1995 vollendet, als es Wissenschaftlern gelang, entlang einer Spalte im kalifornischen Bear Valley einige Stellen zu entdecken, an denen sich Spannung aufbaute. Den ehrgeizigsten Versuch zur Messung von Erdbebenindikatoren unternehmen Forscher in der Nähe von Parkdale (Kalifornien). Die Stadt steht -175-

auf einem Abschnitt jener Spalte, die 1881, 1901, 1922, 1934 und 1966 Erdbeben verursachte. Auf der Grundlage bisheriger Erfahrungen war zwischen 1988 und 1992 wieder mit einem Erdbeben zu rechnen. In Erwartung dieses Ereignisses wurden Instrumente aufgebaut und laufend überwacht, mit denen die Bodenneigung, der Wasserstand, die Spannung im Gestein und kleine Vorbeben registriert werden sollten. Bislang hat sich allerdings nur herausgestellt, dass Murphys Gesetz für Erdbeben ebenso gilt wie für alles andere - es wurden zwar eine Menge Daten gesammelt, aber das erwartete Beben blieb aus. Ein Bereich, den man gerade erst zu erforschen beginnt, ist die Verwendung des Satellitennavigationssystems zur Sammlung von Daten für die Erdbebenwarnung. Mit dem entsprechenden Instrumentarium kann dieses System bereits Positionsveränderungen von nur einem Zentimeter erkennen; es sollte also möglich sein, viele Stellen viel billiger und einfacher zu überwachen als früher. Ein Aspekt der Vorhersage von Erdbeben ist aber noch kaum beachtet worden. Angenommen, man sagt aufgrund von Spannungsmessungen voraus, dass es im Großraum von Los Angeles in den nächsten drei Monaten mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent zu einem Erdbeben der Stärke 8 kommen wird. Was sollte man mit dieser Information anfangen? Wenn man sie öffentlich verkündet, würde eine große Fluchtbewegung aus dem Gebiet einsetzen, die leicht einen wirtschaftlichen Schaden von mehreren Milliarden Dollar verursachen könnte. Und was ist, wenn nach all dem das Beben ausbleibt? Können Sie sich die Prozesslawine vorstellen? Angenommen aber, Sie behalten die Information für sich, und das Beben kommt. Können Sie sich die Reaktion vorstellen, wenn man herausfindet, dass die Daten bereits vorher verfügbar waren? In meinen Augen könnte die Vorhersage von Erdbeben durchaus ein Gebiet sein, auf dem wir gar keine Fortschritte -176-

machen wollen.

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Warum gibt es Erdbeben in Missouri? Jeder weiß, dass es in San Francisco Erdbeben gibt, weil die Stadt auf der Sankt-Andreas-Spalte liegt. Die Erdbeben resultieren aus dem Rutschen und Ruckeln, wenn die Pazifische Platte langsam nordwärts gegen die Nordamerikanische Platte schrammt. Aber wussten Sie, dass die größten Erdbeben, die jemals die Vereinigten Staaten (jedenfalls das Festland) heimgesucht haben, sich nicht in Kalifornien, sondern 1811 und 1812 in New Madrid (Missouri) ereigneten? Und dass das drittgrößte Erdbeben (nach dem Beben von 1906, das San Francisco dem Erdboden gleichmachte) 1886 in Charleston (Süd-Carolina) stattfand? Eine fortdauernde Frage, der sich die Wissenschaft gerade erst zuwendet, lautet: Wie können sich Erdbeben weit von den Grenzen der tektonischen Platten entfernt ereignen? Damit keine Missverständnisse aufkommen: Der Ausdruck »tektonische Platte« bedeutet nicht dasselbe wie »Kontinent«. Tektonische Platten sind die großen Blöcke, aus denen sich die Erdoberfläche zusammensetzt. Die Bewegung der Platten bewirkt die Verschiebung (Drift) der Kontinente, die als Passagiere auf den Platten mitfahren. Platten müssen nicht unbedingt Kontinente tragen, und die Grenzen zwischen den Platten müssen nicht unbedingt mit den Kontinentalgrenzen übereinstimmen. Die Nordamerikanische Platte erstreckt sich beispielsweise von der Westküste der Vereinigten Staaten (wo die Sankt-Andreas-Spalte einen Teil der Grenze darstellt) bis zum Mittelatlantischen Rücken, der großen Bergkette in der Mitte des Atlantiks. Sowohl New Madrid als auch Charleston liegen weit von den Rändern der Platte entfernt, auch wenn eine der Städte an der Küste liegt. So dürftig unsere Fähigkeit zur Vorhersage von Erdbeben -178-

entlang den Grenzen tektonischer Platten ist, übertrifft sie doch bei weitem unsere Fähigkeit zur Vorhersage (und selbst unser Verständnis) der Ereignisse im Zentrum von Platten. Dies hat weitreichende Konsequenzen, da es in Regionen, wo keine Erdbeben erwartet werden, auch keine Bauvorschriften gibt, die im Erdbebenfall Leben und Eigentum schützen. In Kalifornien müssen Neubauten in den letzten fünfzig Jahren zunehmend strengeren Maßstäben genügen, da Ingenieure und Wissenschaftler einiges darüber gelernt haben, wie Bauten auf die Bewegungen der Erde reagieren. Derartige Standards sind im Mittleren Westen oder an der Ostküste nicht vorgeschrieben; alle Bauten in diesen Regionen - Wolkenkratzer, Autobahnbrücken, Tunnels - sind somit in Gefahr. Aber lassen Sie sich nicht täuschen: Wenn Erdbeben im Zentrum einer Platte stattfinden, können sie gewaltig ausfallen. Das Beben in New Madrid beispielsweise dürfte tausendmal stärker gewesen sein als das 1989 in San Francisco. Zeitgenössischen Quellen zufolge zerstörte die Erschütterung an der Ostküste vor Anker liegende Schiffe und ließ noch in New York und Boston Gebäude erzittern und Kirchturmglocken läuten. Es stürzte sogar das Gerüst ein, das um das Capitol in Washington D.C. aufgebaut war. Mich schaudert bei dem Gedanken, was ein Erdbeben in dieser Größenordnung heute anrichten würde! Erdbeben im Zentrum von Platten finden natürlich nicht nur in Nordamerika statt - sie sind ein weltweites Phänomen. Die Tatsache, dass sie weit verbreitet sind, gibt Wissenschaftlern die Chance, sie zu verstehen. Eine Untersuchung der Schauplätze dieser Ereignisse hat sie zu der Erkenntnis gebracht, dass Erdbeben dort auftreten, wo die Kontinente irgendwann in der Vergangenheit geschwächt wurden. Die Gegend um New Madrid etwa stellt das dar, was Geologen als »verhinderten Grabenbruch« bezeichnen. Ein Grabenbruch (eine Senke von großer Länge) entsteht, wenn die Kräfte, welche die Platten auseinander treiben, unter einem -179-

Kontinent wirken. Der Kontinent wird buchstäblich auseinander gerissen, und das Meer schiebt sich in den Bruch hinein. Das Ostafrikanische Grabensystem, das sich von Ostafrika über das Rote Meer bis zum Jordan erstreckt, ist ein Beispiel dafür, wie dieser Prozess heute vonstatten geht - in Millionen von Jahren wird das Horn von Afrika eine Insel sein. Ein »verhinderter Grabenbruch« ist, wie Sie wahrscheinlich schon vermuten, wenn dieser Prozess an einem Ort begonnen hat, aber aus dem einen oder anderen Grund nicht vollendet wurde. Die Folge ist ein geschwächter Punkt in der Erdkruste - ein Punkt, der früher nachgibt, wenn sich im Kontinentalgestein Spannungen aufbauen. Wenn Sie schon einmal beobachtet haben, wie Fensterglas geschnitten wird, können Sie es sich vorstellen. Das Glas wird eingeritzt und dadurch entlang der Kerbe ein wenig geschwächt, und wenn man darauf klopft, bricht es dort entzwei. Bei dieser Erklärung von Erdbeben im Plattenzentrum sind noch einige Fragen offen (so scheinen Ereignisse in Australien anders zu verlaufen als anderswo), aber ich vermute, dass sie im Grunde richtig ist. Geologen können die Spannung messen, die sich im Gestein aufbaut - etwa indem sie ein Loch bohren und beobachten, wie es sich im Lauf der Zeit verändert. Sobald bekannt ist, wo man nachschauen muss, lässt sich also überprüfen, wo sich Spannung aufbaut. Das Problem ist, dass niemand weiß, wie man diese Information zur Vorhersage eines Erdbebens heranziehen soll. Zum einen ist an der Oberfläche selten ein Hinweis darauf zu erkennen, dass sich tief im Erdinneren eine Spalte verbirgt. Zum anderen beben die bisher identifizierten Schwachstellen, wie etwa die New-MadridSpalte, nicht oft genug, um Aufschluss darüber zu geben, was die Bewegung ausgelöst hat. Soweit man weiß, war keines der weltweit registrierten großen Erdbeben im Zentrum einer Platte einfach die Neuauflage eines früheren Ereignisses. Im Moment lässt sich also nur sagen, dass Beben wie das in New Madrid wieder passieren könnten - aber das wollen wir nicht hoffen. -180-

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Wie genau lässt sich das Wetter vorhersagen? Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber die Wettervorhersagen haben sich in letzter Zeit deutlich verbessert. Heftige Stürme, die früher unerwartet aufzogen und große Teile des Landes lahm legten, werden heute regelmäßig Tage vorher angekündigt. Selbst die täglichen Vorhersagen scheinen genauer zu werden - wie oft sind Sie in den letzten Jahren von nicht angekündigtem Regen überrascht worden? Früher galt die Wettervorhersage bestenfalls als ungenaue Kunst. So richtig setzte sie erst Mitte des 19. Jahrhunderts ein, als es durch die Telegraphie möglich wurde, Wetterinformationen aus einem großen Gebiet zusammenzutragen. Bis in die fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts hinein wurden Vorhersagen ausschließlich auf der Grundlage von Erfahrung und Überlieferung getroffen. Es gab umfangreiche Bücher mit Wetteraufzeichnungen, und der Vorhersager suchte in den Büchern nach einer ähnlichen Situation wie auf der aktuellen Wetterkarte, bevor er vorhersagte, dass sich die Abläufe von damals nun wiederholen würden. Eine Menge von Bauernregeln basieren auf dieser Art von Logik. Als ich in Virginia Bienen hielt, hatte ich meinen eigenen Plan - ich hielt im Herbst den Tag fest, an dem die Drohnen aus dem Bienenstock geworfen wurden. Je früher dies geschah, desto härter sollte der Winter werden. Offenbar ist nichts zu dumm, um als Wettervorhersage herhalten zu müssen! 1950 standen zum ersten Mal Computer zur Verfügung, die in der Lage waren, die komplexen Gleichungen zu lösen, die die Bewegungen der Atmosphäre bestimmten. Anstatt einfach zu hoffen, dass sich das Wetter so verhalten würde wie in der Vergangenheit, konnten sich die Wissenschaftler zur Vorhersage -182-

des Wetters nun der Gesetze der Physik und Chemie bedienen. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts gab es einen stetigen Fortschritt im Umfang und in der Genauigkeit von Computervorhersagen. Bei Vorhersagen mit dem Computer gibt es jedoch zwei große Probleme. Eines besteht darin, dass bis vor kurzem nicht genügend Daten für das Programm vorhanden waren. Die Temperatur und die Windgeschwindigkeit waren nur an einigen weit verstreuten Orten bekannt (etwa an Flughäfen), was dem Computer für eine genaue Vorhersage nicht genügend Daten lieferte. Heute ist die Datenlage, zumindest in den Industrieländern, durch ein dichtes Netz an Bodenstationen und Beobachtungssatelliten viel besser geworden. Das zweite Problem ist tief greifender und scheint ein integraler Bestandteil der Atmosphäre zu sein. Ich meine die Tatsache, dass die Bewegungen der Atmosphäre chaotisch sein können. Am besten lässt sich dies durch den »Schmetterlingseffekt« darstellen, der seinen Namen daher erhielt, dass die Atmosphäre (im Prinzip jedenfalls) so sensibel is t, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Kalkutta eine Kette von Ereignissen auslösen kann, die schließlich zu einem Sturm in Rio führen. Praktisch gesprochen bedeutet das chaotische Verhalten der Atmosphäre, dass es sehr schwierig ist, langfristige Vorhersagen zu treffen. Wenn beispielsweise eine Wettervorhersage für die nächsten sieben Tage erst auf Grundlage der Daten von 6 Uhr und dann auf Grundlage der Daten von 9 Uhr erstellt wird, können die beiden Vorhersagen ganz unterschiedlich ausfallen, weil sich die Ausgangsbedingungen leicht verändert haben. Das ist kein Problem, das sich durch bessere Computerprogramme lösen lässt - es liegt in der Natur der Atmosphäre. Dies ist auch der Grund dafür, dass der Nationale Wetterdienst bis 1995 nur für drei bis fünf Tage detaillierte Vorhersagen treffen wollte. 1996 verlängerte der Wetterdienst diese Frist auf sieben Tage - mit einer gewissen Hoffnung, irgendwann noch mehr zu -183-

schaffen. Die neuen Vorhersagen gründen, wie es sich gehört, auf einer neuen Methode. Anstatt einen supergenauen Rechnerlauf mit den besten verfügbaren Daten durchzuführen, wird ein und dasselbe Programm viele Male durchgespielt, wobei die Anfangszeit und die Ausgangsbedingungen jeweils leicht verändert werden. Anstatt also Vorhersagen auf der Grundlage von entweder 6 Uhr oder 9 Uhr zu treffen, werden beide Werte eingegeben. Alles in allem erfordert die Methode des Nationalen Wetterdienstes sechsundvierzig Rechnerläufe. Wenn alle Szenarios (beispielsweise) Regen vorhersagen, geht man davon aus, dass es tatsächlich regnen wird. Der Gedanke dahinter ist, dass jene Eigenschaften des Wetters, die in den meisten oder allen Läufen auftauchen, Eigenschaften des Wettersystems selbst und nicht der Ausgangsbedingungen eines einzelnen Laufs sind. Diese Methode der Durchschnittsermittlung stellt einen vernünftigen Weg dar, aus chaotischen Systemen nützliche Informationen zu ziehen. Eine ähnliche Anstrengung unternimmt man für langfristige Klimavorhersagen, die der Nationale Wetterdienst nun für mindestens fünfzehn Monate anstellt. Hier wird der Durchschnitt nicht dadurch ermittelt, dass ein Programm viele Rechnerläufe mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen durchführt, sondern durch drei ganz unterschiedliche Programme, die alle den Anspruch erheben, einen Aspekt des langfristigen Klimas zu beschreiben. Wiederum gilt: Wenn alle drei Ansätze dieselbe Vorhersage treffen, geht man davon aus, dass diese der zugrunde liegenden Dynamik der Atmosphäre entspringt und nicht Details der analysierten Durchschnittswerte. In den nächsten Jahren wird man also feststellen können, ob der Nationale Wetterdienst endlich besser ist als meine Kartei.

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War es auf dem Mars einmal feuchter und wärmer? Irgendwie hat der nächstäußere Planet in unserem Sonnensystem - der Mars - schon immer eine besondere Faszination ausgeübt. Von der alten Obsession mit den künstlichen »Kanälen« auf seiner Oberfläche bis zu frühen Sciencefiction-Autoren, die als genaue Chronisten einer frühen Marszivilisation aufgetreten sind, hatte man immer eine gewisse Hoffnung, dass es auf dem roten Planeten Leben geben würde wie auf der Erde. Doch ach, die moderne Astronomie und die Raumfahrtprogramme waren unseren Träumen nicht hold. Die Kanäle erwiesen sich als optische Täuschungen, die auf der Verwendung kleiner Teleskope beruhten, und auch die VikingSonden aus dem Jahre 1976 konnten keinen chemischen Fingerabdruck von Lebewesen zutage fördern. Zwar gibt es tatsächlich Wasser auf dem Mars, vor allem in Form von Eis in den unteren Schichten der Polkappen (die oberen Schichten bestehen im Winter aus gefrorenem Kohlendioxid, das heißt Trockeneis), aber die Bodentemperatur erreicht fast nie den Punkt, an dem Eis schmilzt. Die Atmosphäre ist dünn vergleichbar etwa der Erdatmosphäre in dreißig Kilometern Höhe. Der Mars ist also kein Ort, den man sich heute bewohnbar vorstellen kann. Die große Frage ist, ob es früher anders war. Astronomen sind im Augenblick mit einem höchst faszinierenden Projekt beschäftigt - einem Versuch, »Langzeitgeologie« auf einem Planeten zu betreiben, den kein Mensch je betreten hat und von dem noch keine einzige Probe genommen wurde. Es wird Sie vielleicht überraschen, dass sich nur durch die Betrachtung von Fotos einiges über die Frühgeschichte des Mars herausfinden lässt. -186-

Eine wichtige Methode ist das Zählen von Kratern. Wie die Erde wird auch der Mars ständig von Meteoriten beschossen, aber aufgrund der dünnen Atmosphäre verglühen dort weniger auf ihrem Flug. Wenn eine bestimmte Oberfläche auf dem Mars (etwa ein Lavastrom) eine hohe Kraterdichte aufweist, kann man davon ausgehen, dass sie schon lange existiert. Eine Oberfläche mit wenigen Kratern dürfte dagegen relativ jung sein. Das deutlichste Indiz dafür, dass der Mars einmal ganz anders aussah als heute, sind die bis zu 1500 Kilometer langen Kanäle, die höchstwahrscheinlich durch Wasserströme eingeschnitten wurden. Tatsächlich ähneln sie den Trockentälern im Südwesten der USA - von gelegentlichen heftigen Regenfällen eingeschnittene, aber zumeist trockene Täler. (Man beachte, dass diese Kanäle zu klein sind, um von der Erde aus mit dem Teleskop gesehen zu werden; es handelt sich also nicht um die legendären Marskanäle.) Die Täler sind ein eindeutiger Beweis dafür, dass auf der Marsoberfläche früher - im Unterschied zu heute - einmal Wasser floss, auch wenn dies heute anders ist. Die eigentliche Frage ist, woher dieses Wasser kam und wann es zu fließen aufhörte. Auch hier liefern Satellitenbilder einige neue Erkenntnisse. Ein Blick auf die Schatten, die von den Rändern der Kanäle geworfen werden, verrät den Astronomen, dass viele der Kanäle eher einen u- förmigen Querschnitt aufweisen als einen vförmigen, wie er für Wasserläufe auf der Erde charakteristisch ist. Außerdem können sie die Gesamtverteilung der Marskanäle mit den Entwässerungssystemen auf unserem Planeten vergleichen. Hier, wo Flüsse vom Regen gespeist werden, gibt es ein System von Rinnsalen, die über Bäche und Nebenflüsse in große Ströme münden. Auf dem Mars sehen einige Regionen auch so aus, aber die meisten Kanäle schienen sich aus ihren eigenen Quellen zu speisen und unabhängig von anderen zu fließen. Dieses Muster hat zu der Theorie geführt, dass sich viele der Kanäle mit Grundwasser füllten, das aus dem Boden -187-

sickerte. Man geht davon aus, dass der Mars bei seiner Entstehung vor 4,5 Milliarden Jahren unter dem Einfluss von Meteoriten eine Phase der Erwärmung, vielleicht sogar des Schmelzens durchlief. Nachdem der Planet abgekühlt war und die Oberfläche gefror, schmolz das heiße Magma unter der Oberfläche Eis. Nach diesem Szenario entstanden die Täler, die heute auf der Oberfläche zu sehen sind, durch Grundwasser, das zur Oberfläche durchsickerte und danach weite Strecken zurücklegte. Das Hauptproblem ist, dass die Lufttemperatur in der Frühzeit des Mars nach gängigen Klimamodellen deutlich unter Null lag und Wasser an der Oberfläche eigentlich innerhalb von Stunden gefrieren musste. Wie diese Theorien mit den Indizien für fließendes Wasser in Einklang zu bringen sind, bleibt die große Frage. Hier sind einige denkbare Lösungen: • Wenn der Mars in der Anfangszeit wirklich kalt war, floss das Wasser in den Kanälen vielleicht unter Eisschichten, die den oberen Teil isolierten, während geothermische Wärme den unteren Bereich aufheizte. Seen mit diesem Aufbau kommen in der Antarktis häufig vor. • Vielleicht wurde in den Klimamodellen etwas vergessen, und der Treibhauseffekt war stärker als angenommen. • Oder das Vorhandensein von Wasser sorgte für einen Rückkopplungseffekt und erwärmte das Klima eine Weile über den Gefrierpunkt. Verfechter dieser Theorie behaupten, im Zusammenhang mit vulkanischer Tätigkeit habe es mehrere Ausflüsse gegeben, die jeweils zu einem kurzen »Sommer« und an der Oberfläche zu Ozeanen von der Größe des Mittelmeers geführt hätten.

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Wird ein Asteroid uns treffen? Nur falls Sie keine anderen Sorgen haben, will ich Ihnen erzählen, was - Wissenschaftlern zufolge - an einem ruhigen Tag vor 65 Millionen Jahren geschehen ist. Während Dinosaurier zufrieden Palmwedel kauten und unsere SäugetierVorfahren durch die Urwälder huschten, kam ein Asteroid von etwa 10 Kilometern Durchmesser auf die Erde zugesaust. Seine Masse und Geschwindigkeit verliehen ihm eine Energie, die etwa der 10 000fachen Menge des gesamten menschlichen Kernwaffenarsenals entsprach, und er war so schnell, dass er ein Loch in die Atmosphäre und in das Meer vor der mexikanischen Halbinsel Yucatán brannte, bevor er fast ungebremst auf den Meeresboden schlug. Er ließ sich nicht aufhalten und pflügte einige Kilometer tief in die Erde, bis der gesamte Energievorrat in Wärme umgewandelt war. Das Gestein explodierte und schlug einen Krater von 160 Kilometern Durchmesser. Ein Teil des Gesteins und Staubs flog durch das Loch in der Atmosphäre zurück in den Weltraum, bevor andere Luft nachströmen konnte. Dieses Material breitete sich aus und fiel allmählich wieder zurück; es verdunkelte die Erdoberfläche durch die Absorption von Sonnenlicht, was zu einer drei Monate währenden künstlichen Nacht führte. Gewaltige Flutwellen schwappten über die Meere. Als sich in der Atmosphäre über Mittelamerika der auf einige tausend Grad erhitzte Stickstoff mit Sauerstoff verband, fiel Regen, der die Korrosionswirkung von Batteriesäure hatte, auf eine Fläche von der Größe eines Kontinents. Vielleicht wurden dadurch sogar Vulkanausbrüche in Indien ausgelöst. Die Dunkelheit, der Regen und die Vulkane wirkten zusammen, um die Dinosaurier und etwa zwei Drittel aller Arten auf dem Planeten auszurotten. Diese Geschichte ist die mittlerweile anerkannte -190-

Asteroidenhypothese, der zufolge die massive Ausrottung von Leben vor 65 Millionen Jahren durch den Einschlag eines außerirdischen Körpers erklärt wird. Das ist natürlich an sich schon interessant, aber es wirft eine wichtige Frage auf: Wie wahrscheinlich ist es, dass eine derartige Folge von Ereignissen in absehbarer Zeit wieder geschehen wird? Zum Hintergrund: Der Weltraum ist voller Materiebrocken, die noch von der Entstehung des Sonnensystems übrig sind, und dieses Material geht ständig auf die Erde nieder. Immer wenn Sie eine Sternschnuppe sehen, sind Sie Zeuge des Zusammenstoßes zwischen einem erbsengroßen Steinbrocken und der Atmosphäre unseres Planeten. Solche kleinen Steinchen verglühen vollständig in der Atmosphäre, aber größere Körper verglühen nur teilweise, wenn sie als Meteoriten auf die Erde niedergehen. So schlug vor 15 000 bis 40 000 Jahren ein Meteorit mit einem Durchmesser von ungefähr 22 Metern in der Nähe des heutigen Winslow (Arizona) ein und schlug einen Krater von 1,5 Kilometer Durchmesser und 200 Meter Tiefe. Astronomen wissen, dass die Umlaufbahnen bestimmter Asteroiden die Erdbahn kreuzen, was bedeutet, dass große Einschläge tatsächlich wieder vorkommen könnten. 1991 flog ein Asteroid zwischen der Erde und dem Mond hindurch; nach astronomischen Maßstäben ein Beinahe-Zusammenstoß. Auch wenn dieser Asteroid klein war (nur etwa 10 Meter Durchmesser), erinnert uns das Ereignis daran, dass größere Objekte mit der Erde kollidieren könnten. Diese Bedrohung für unseren Planeten ist uns noch nicht sehr lange bewusst, und bisher brechen die Wissenschaftler bei diesem Thema nicht gerade in hektische Betriebsamkeit aus. Der erste Schritt ist klar - es gilt herauszufinden, wie viele Brocken sich in Umlaufbahnen befinden, die uns gefährlich werden könnten. Asteroiden in der Nähe der Erde sind relativ klein und daher schwer zu erkennen; es klingt also einfacher, als es ist. Im Augenblick sind ein paar alte Teleskope zur Katalogisierung -191-

umfunktioniert worden. (Eines davon, auf dem Mauna Kea in Hawaii, entdeckte 1991 den Beinahe-Zusammenstoß.) Im größten Projekt mit der Bezeichnung Spaceguard (Raumwache) wird eine 25 Jahre dauernde und 50 Millionen Dollar teure Suche vorgeschlagen, bei der 90 Prozent der erdnahen Asteroiden mit mindestens 800 Meter Durchmesser entdeckt werden sollen. Man hat sich sogar Gedanken darüber gemacht, was im Falle eines nahenden Zusammenstoßes zu tun wäre. Dabei ist unter anderem daran gedacht, den Asteroiden mit Atomwaffen zu sprengen, ihn durch ein Sieb mit Wolframprojektilen zu zerkleinern und kleine Asteroiden abzulenken, um sie mit großen kollidieren zu lassen. Wie ernst man die Bedrohung durch Asteroiden nimmt, hängt davon ab, für wie wahrscheinlich man Zusammenstöße hält. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass uns Asteroiden mit 100 Meter Durchmesser alle paar Jahrhunderte treffen werden (bis solche Asteroiden die Atmosphäre durchdrungen haben, sind sie kleiner als der von Arizona). Zusammenstöße mit Objekten von 1,5 Kilometer Durchmesser dürften sich in einer Million Jahren durchschnittlich einmal ereignen; die Wahrscheinlichkeit, dass es im nächsten Jahrhundert zu einem solchen Ereignis kommt, beträgt also l zu 10 000. Wenn ein Asteroid dieser Größenordnung einschlagen würde, zumal auf bewohntes Gebiet, wären mit Sicherheit Tod und Verwüstung die Folge. Aber wir kennen alle Naturkatastrophen (Erdbeben, Vulkane, Hurrikane), die viel häufiger auftreten. Katastrophale Einschläge wie derjenige, der zur Ausrottung der Dinosaurier geführt hat, kommen viel seltener vor, vielleicht nur alle 26 Millionen Jahre. Es gibt ein paar Objekte in der Größenordnung des Dinosaurier-Killers im Umkreis der Erdumlaufbahn, aber ein Zusammenstoß mit einem neuen Kometen, der zur Sonne hinstürzt, oder mit einem Asteroiden, der sich gerade aus dem Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter befreit hat, ist wahrscheinlicher. In diesem Fall würden wir das Objekt vor -192-

seinem Eintreffen wahrscheinlich selbst dann nicht einmal sehen, wenn wir danach suchten. Wir werden nie erfahren, was uns getroffen hat!

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Wie werden wir das Sonnensystem erforschen? Die großen Augenblicke bei der Erforschung des Sonnensystems sind zugleich Meilensteine der westlichen Zivilisation die Apollo-Landung auf dem Mond, die VikingLandung auf dem Mars, die Voyager-Vorbeiflüge an den äußeren Planeten. Aber das ist Geschichte; wir schreiben die Gegenwart. Beim derzeitigen politischen Klima in den Industrieländern ist es mehr als fraglich, ob und in welcher Form diese Forschungen weitergeführt werden. Es besteht keine Gefahr, dass man sich völlig aus dem Weltraum zurückzieht, da mit der Nutzung erdnaher Umlaufbahnen eine Menge Geld zu verdienen ist. Kommunikationssatelliten, das Satellitennavigationssystem und Beobachtungsinstrumente, die vom Wetter über das Polareis bis zur Vegetation alles überwachen, spielen für die modernen Volkswirtschaften eine derart wichtige Rolle, dass man sie gar nicht aufgeben kann. Schwierig wird es dann, wenn es um Projekte geht, deren Nutzen nicht so sehr praktischer, sondern in erster Linie ästhetischer und intellektueller Natur ist. Der meistbeachtete Aspekt dieser Debatte ist die Frage bemannte oder unbemannte Raumfahrt (wem zur Beschreibung der heute üblichen gemischtgeschlechtlichen Crews eine andere Bezeichnung als »bemannt« einfällt, der möge es mich wissen lassen). In den siebziger und achtziger Jahren etwa wurden für viele unbemannte Erkundungsflüge die Mittel gekürzt, um die Entwicklung des Space Shuttle zu ermöglichen. Warum, so fragen Wissenschaftler, soll man Milliarden aufwenden, um für empfindliche Menschen eine sichere Umgebung im Weltraum zu schaffen, wenn Maschinen die Arbeit genauso gut erledigen können? Befürworter bemannter Flüge halten dagegen, dass -194-

heute und in absehbarer Zukunft keine Maschine mit der Fähigkeit eines gut ausgebildeten Menschen mithalten kann, auf unerwartete Situationen zu reagieren. Sie verweisen auf die Notwendigkeit, dass Astronauten das Weltraumteleskop Hubble reparieren, und behaupten, dass einige gravierende Probleme bei unbemannten Programmen (beispielsweise das Unvermögen der Sonde Galileo, ihre Antenne auszufahren) mit einer Mannschaft an Bord leicht zu lösen gewesen wären. Ich denke aber, dass diese in den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte wurzelnde Frage weitgehend ausdiskutiert ist. Alle Beteiligten erkennen heute an, dass die bemannte wie die unbemannte Raumfahrt ihre Berechtigung haben, und vielleicht bildet sich sogar ein Konsens heraus, welches Niveau der Förderung jeweils sinnvoll ist. Doch während die eine große Diskussion allmählich aufhört, fängt eine andere gerade an. Die bisherigen Raumfahrtmissionen waren ziemlich teuer. Die Voyager-Sonden, die 1977 gestartet sind und nun das Sonnensystem verlassen, haben bisher mehr als 2 Milliarden Dollar gekostet. Die Galileo-Mission zum Jupiter kostete mehr als 3 Milliarden. Da stellt sich doch die Frage, was man künftig tun kann, wenn Gelder für derartige Projekte einfach nicht mehr zur Verfügung stehen? Es gibt viele Gründe, warum Projekte wie die Galileo-Mission so teuer sind. Da die NASA-Budgets in den letzten Jahren gekürzt wurden, ist die Zahl der Starts zurückgegangen. Dies bedeutet, dass jeder Start »der letzte Bus aus der Stadt« wird und jede Mission mit Aufgaben überfrachtet wird. Das Ergebnis: Die Komplexität und der Preis jeder Trägerrakete steigen, und wenn der unvermeidliche Unfall eintritt (wie 1993, als der Mars Observer verschwand), sind die Kosten gleich in Milliarden Dollar zu beziffern. Der neue Trend geht zu Raumschiffen, die, wie die neuen Schlagwörter der NASA verheißen, »kleiner, schneller, billiger, besser« sind. Unter der Bezeichnung Discovery-Programm -195-

knüpft diese neue Generation von Raumschiffen an die Frühzeit der Weltraumforschung an, als regelmäßig kleine Satelliten mit einer ganz speziellen Aufgabe gestartet wurden. Natürlich ist »billig« hier relativ. Die Sonden, die der NASA vorschweben, werden nicht mehr als 150 Millionen Dollar kosten, aber auch das ist kein Pappenstiel. Sie werden viel kleiner sein als die heutigen Sonden. So wiegt Galileo noch um die drei Tonnen, während der Ende 1996 gestartete Mars Pathfinder (ohne Treibstoff) nur etwa neunhundert Pfund wiegt. Die Idee dahinter ist, dass viele kleinere Missionen zu den Kosten einer großen durchgeführt werden können, und selbst wenn ein paar davon fehlschlagen, bekommt man letztlich »mehr fürs Geld« und trägt ein geringeres Risiko katastrophaler Verluste. Der Prototyp eines verkleinerten Programms war 1994 der Start der Sonde Clementine. Sie wurde vor allem entwickelt, um die Fähigkeit einer neuen Generation leichter Sensoren zu demonstrieren, die für Reagans SDI-Programm entwickelt wurden, aber ihr wissenschaftlicher Zweck war zunächst die Kartierung des Mondes und anschließend der Vorbeiflug an einem erdnahen Asteroiden. Mit einem Preis von 80 Millionen Dollar (bei dem die Entwicklung der Instrumente nic ht eingerechnet ist) fügt sich Clementine gut in die Spielräume des Discovery-Programms. Die Sonde erstellte tatsächlich die erste digitale Karte des Mondes und daneben auch die erste Karte der Gesteinsarten auf der Mondoberfläche sowie die ersten detaillierten Karten der Polarregionen. Leider verbrauchten die Düsen durch einen Fehler des Bordcomputers den gesamten Treibstoff, weshalb der zweite Teil der Mission abgebrochen werden musste. Aber Clementine war ihr Geld bis dahin bereits wert. Für die Zukunft sind also kleinere Missionen zu Merkur, Pluto und Venus sowie viele Missionen zur Erforschung naher Asteroiden und Kometen zu erwarten, von denen vielleicht sogar Proben mitgebracht werden. Und all das wird von einer -196-

neuen Generation billiger »Wegwerf-Raumfahrzeuge« erledigt.

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Was ist das Erdbeobachtungssystem? Ein immer wiederkehrender Kritikpunkt an der Raumfahrt lautet, dass sie knappe intellektuelle und finanzielle Ressourcen von drängenden Problemen auf unserem eigenen Planeten abzieht. In meinen Auge n ist diese Kritik unangebracht, da einige der wichtigsten Ergebnisse des Raumfahrtprogramms Entdeckungen waren, die uns ein besseres Verständnis der Erde vermittelt haben. Wir wollen (und müssen!) Fragen beantworten, wie unser Planet funktioniert, und oft lässt sich dies am besten vom Weltraum aus tun. Um dies nachvollziehen zu können, müssen Sie wissen, wie bisher neue Erkenntnisse über die Erde und ihre Systeme gewonnen wurden. Angenommen, Sie wollten die Wassertemperatur an der Meeresoberfläche wissen. Bis in die späten siebziger Jahre hinein konnten Sie diese Information nur anhand von Messungen auf dem Meer erhalten, aber diese Daten sind problematisch. Erstens gibt es fast keine Daten aus Regionen wie dem Zentralpazifik oder dem Südatlantik, die weit abseits der Schifffahrtsstraßen liegen. Zweitens sagen diese Daten nur in rege befahrenen Regionen etwas darüber aus, wie sich die Temperatur im Lauf der Zeit verändert. Satellitendaten haben diese Nachteile nicht, denn Satelliten decken den gesamten Planeten ab und nehmen über lange Zeiträume hinweg laufend Messungen vor. In den späten siebziger Jahren wurden dann Satelliten gestartet, deren Aufgabe es war, die Erde zu beobachten. In den achtziger Jahren erstellten mehrere Satelliten die ersten Aufzeichnungen von Temperaturen an der Meeresoberfläche, die den gesamten Planeten einschlössen. Andere Satelliten, die das »Gesamtbild« der Erde nutzten, das nur vom Weltraum aus zu sehen ist, zeichneten Phänomene wie die Höhe der -198-

Ozeanwellen, die Häufigkeit von Phytoplankton und die Verteilung der Vegetation oder des Eises auf dem Land auf. Es waren diese frühen Satelliten, die auf die Südwanderung der Wüste Sahara aufmerksam machten. Sie lieferten auch die wichtigen und laufend aktualisierten Daten, die erforderlich sind, das antarktische Ozonloch zu überwachen und die Gründe dafür herauszufinden. Der ursprüngliche Plan der NASA sah vor, 1998 den ersten Satelliten des künftigen Erdbeobachtungssystems (engl.: Earth Observing System, EOS) in die Umlaufbahn zu schießen. Dieser Satellit AM-1 soll aus einer Plattform mit fünf verschiedenen Instrumenten bestehen, die laufend die Kontinente, die Meere und die Atmosphäre überwachen und uns weltweit mit Daten zum Aerosolgehalt der Luft, zur Feuchtigkeit und zu anderen wichtigen Eigenschaften der Ökosysteme unseres Planeten versorgen. Politischer Druck, der mit den hohen Kosten eines solchen Systems zusammenhängt, hat die Zukunft dieses Projekts jedoch gefährdet, und so bemüht sich die NASA im Augenblick um die Möglichkeit, zur Gewinnung vergleichbarer Daten eine Reihe von kleineren und billigeren Satelliten zu starten. Das Erdbeobachtungssystem ist ein Bestandteil dessen, was die NASA gerne »Mission zum Planeten Erde« nennt. Der Zweck der Satelliten besteht darin, erstmals eine weltweite Datenbank einzurichten, deren Informationen für das Verständnis der Abläufe auf der Erde wichtig sind. Eines der schwierigsten Probleme, vor denen wir im Augenblick stehen, hat mit der Frage zu tun, ob sich unser Klima ändert oder nicht, und wenn ja, ob dies auf den Menschen zurückzuführen ist. Uns sind im Augenblick die Hände gebunden, da keine Messbasis vorhanden ist - wie soll man beurteilen, ob sich etwas verändert hat, wenn man den Ausgangspunkt nicht kennt? Das Aussetzen eines solchen Satellitensystems auf die Umlaufbahn birgt natürlich viele technische Schwierigkeiten. Ich will Ihnen ein -199-

Problem schildern, an das man einfach nicht gedacht hat, bevor das EOS realisiert wurde, und das ist die ungeheure Informationsmenge, die von den Satelliten eintreffen wird. Wenn alle Satelliten in der Umlaufbahn sind, müssen die eingehenden Daten von Computern auf der Erde mit einer Geschwindigkeit verarbeitet werden, die drei kompletten Ausgaben der Encyclopaedia Britannica pro Minute entspricht. Eine der großen Herausforderungen, vor denen die NASA und die gesamte Wissenschaft stehen, ist die Entwicklung der technischen Möglichkeiten, um die Daten überhaupt mit einer solchen Geschwindigkeit zu verarbeiten. (Die Auswahl relevanter Informationen aus einem solchen Strom ähnelt ein wenig dem Versuch, aus einem Feuerwehrschlauch trinken zu wollen.) Zu den großen Problemen gehört unter anderem, die Daten so zu präsentieren (wahrscheinlich in Form von Diagrammen), dass sich ein menschlicher Betrachter noch zurecht findet (niemand möchte sich durch Stapel von Endlospapier kämpfen, um an die benötigten Zahlen zu kommen), sowie die Entwicklung »intelligenter« Instrumente auf den Satelliten, die wissen, welche Daten wichtig sind und zur Verarbeitung und Speicherung zur Erde geschickt werden sollen bzw. welche Daten hinfällig sind. Außerdem muss ein Team von Wissenschaftlern gebildet werden, die genügend über den Ursprung und die Bedeutung der Daten wissen, um entscheiden zu können, wann ein bestimmter Wert zu markieren ist. An all diesen Problemen wird gearbeitet, und ich gehe davon aus, dass sie um die Jahrhundertwende gelöst sind. Und zuletzt, wie oft in solchen Situationen, wenn Wissenschaftler den Umgang mit riesigen Datenmengen lernen, erreicht diese Technologie bald auch die übrige Gesellschaft. Dank des Erdbeobachtungssystems wird unsere Fahrt auf der Datenautobahn in Zukunft vielleicht ein bisschen weniger holprig.

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5. Biologie (vor allem der Moleküle)

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Wie werden Gene gesteuert? Es gehört zu den erstaunlichs ten Rätseln der Biologie: Jede Zelle in einem Organismus, beispielsweise in einem Menschen, enthält dieselbe DNS. Zellen im Gehirn und im Darm enthalten alle das Gen zur Herstellung von Insulin, aber keine dieser Zellen stellt Insulin tatsächlich her - diese Aufgabe ist den Zellen der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) vorbehalten. Woher wissen Zellen also, welche Gene aktiv werden sollen? Woher wissen Zellen im Pankreas, dass sie das Gen für Insulin aktivieren sollen, während Zellen im Gehirn wissen, dass sie es nicht sollen? Das ist das Problem der Gensteuerung. Die erste Erklärung der Gensteuerung stammt aus den fünfziger Jahren. Sie betrifft Gene in Bakterien, wo die DNS frei in der Zelle flottiert und nicht, wie bei fortgeschrittenen Organismen, in einem Kern enthalten ist. Das untersuchte Bakterium war Escherichia coli, das im menschlichen Verdauungstrakt vorhanden ist. Anstatt sich - wie eine Zelle im menschlichen Körper - entscheiden zu müssen, ob sie am richtigen Ort ist, um ein bestimmtes Protein zu produzieren, muss sich die Bakterienzelle entscheiden, wann sie ein Protein produziert. E. coli beispielsweise besitzt einige Gene, mit denen ein Protein zum Aufspalten von Laktose hergestellt werden kann, einem in Milch vorkommenden Zucker. Aber Milch ist im menschlichen Verdauungstrakt nicht immer vorhanden - sie kommt normalerweise schubweise, mit langen Pausen dazwischen. Das Bakterium muss also die Möglichkeit besitzen, beim Vorhandensein von Milch die laktoseverdauenden Gene einund nach der Verdauung wieder auszuschalten. Jedes Gen in bakterieller DNS besteht aus einer langen Kette von Molekülen, dem Code für das laktoseverdauende Protein, dem ein kurzer Molekülabschnitt vorausgeht, den man als »Promotor« bezeichnet. Dort lagern sich die Enzyme, die mit dem -202-

Zusammenbau dieses bestimmten Proteins befasst sind, an die DNS an und bewegen sich die Doppelhelix hinunter. Stellen Sie sich den Promotor wie den Zündschalter Ihres Wagens vor - er muss seine Aufgabe erfüllen, bevor überhaupt etwas anderes passieren kann. Zwischen dem Promotor und dem eigentlichen Gen befindet sich eine weitere kurze Region, die man als »Operator« bezeichnet. Unter normalen Bedingungen gelangen die Enzyme über diese Region zum Gen. Wenn aber keine Laktose vorhanden ist, wickelt sich ein »Repressormolekül« um die Operatorregion und verhindert dadurch, dass die Enzyme vordringen und die Gene in ihrem Gefolge gelesen werden. Denken Sie dabei an eine Klemme, die die beiden Stränge der Doppelhelix zusammenhält und den Verkehr stromabwärts blockiert. Solange es dort sitzt, können die Proteine, die Laktose aufspalten, nicht produziert werden. Sobald Sie aber Milch trinken, binden sich die Laktosemoleküle an eine bestimmte Stelle des Repressormoleküls und sorgen dafür, dass es sich beugt und seinen Zugriff auf die DNS lockert. Der Repressorplus-Laktose-Komplex treibt davon, und die Zelle beginnt die Proteine auszustoßen, die die Laktose aufspalten. Wenn die Laktose verdaut ist, treibt der Repressor (jetzt ohne sein Laktosemolekül) zurück, lagert sich wieder an und stellt die gesamte Operation bis zu Ihrem nächsten Milchshake ein. Die Mechanismen der Gensteuerung in einfachen Bakterien sind ziemlich gut erforscht, und alle vollziehen sich so direkt und relativ unkompliziert wie der Laktosestoffwechsel in E. coli. Was aber die komplexeren Zellen im Menschen angeht, so werden die Mechanismen recht unübersichtlich. Unsere Gene besitzen nicht die oben beschriebene einfache PromotorOperator-Kodierungssequenz. Stattdessen sieht es so aus, dass zusätzlich zum Promotor auch andere, vom Hauptteil des Gens weit stromaufwärts liegende Regionen des DNS-Moleküls beeinflussen können, ob dieses Gen aktiviert wird. Diese Regionen bezeichnet man als »Enhancer« (Verstärker) und -203-

»Silencer« (Beruhiger). Stellen Sie sich analog dazu das Gaspedal und die Bremse an Ihrem Wagen vor. An all diesen Stellen kann sich eine große Molekülfamilie anlagern und beeinflussen, was als nächstes passiert, wobei die Steuerung durch eine komplexe (und noch nicht ganz geklärte) Serie von Start- und Stoppbefehlen ausgeübt zu werden scheint. Hier eine Liste der relevanten Moleküle: • Aktivatoren - binden sich an Enhancerregionen und entscheiden, welche Gene eingeschaltet werden. • Koaktivatoren - binden sich an Aktivatoren (die wiederum an Enhancer gebunden sind) und verknüpfen diese mit • Basalfaktoren - einer komplexen Gruppe von Molekülen, die sich an die Promotorregion der DNS binden und eine Verknüpfung zwischen Aktivatoren, Koaktivatoren und der DNS selbst darstellen. Sie scheinen die Enzyme, die später die DNS lesen, in Position zu bringen und auf den Weg zu schicken. • Repressoren - binden sich an Silencerregionen, um Gene zu schließen (oder zu verlangsamen). Außerdem können sie sich mit Koaktivatoren verbinden. Jedes Gen in Ihren Zellen ist also von diesem Komplex aus Molekülen umgeben, und die eigentlichen Moleküle im Komplex unterscheiden sich von Gen zu Gen. In den letzten Jahren haben die Wissenschaftler in Grundzügen herausgefunden, wie sich diese vier Molekülarten verbinden, um Gene an- und auszuschalten. Wir sind inzwischen so weit, dass wir die Frage beantworten können, wie Gene gesteuert werden. Die nächste - und aus mancherlei Gründen die interessantere Frage lautet, woher Zellen wissen, welche Aktivatoren und Repressoren sie produzieren sollen. Für jedes dieser Moleküle wurde von einem Gen irgendwo in der DNS ein Code eingegeben, und die Erforschung der Frage, woher Zellen wissen, welches jener Gene zu aktivieren ist, wird in meinen -204-

Augen das Betätigungsfeld der nächsten Jahre darstellen.

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Wie entwickelt sich ein Organismus aus einer einzigen befruchteten Eizelle? Wir alle haben als eine einzige befruchtete Zelle im Eileiter der Mutter angefangen. Über einen Zeitraum von ungefähr neun Monaten wuchs diese Zelle durch wiederholte Zellteilung zu einem voll ausgebildeten Neugeborenen heran. Dieselbe Entwicklung lässt sich in jedem vielzelligen Organismus auf der Erde erkennen. Die Frage, wie sich dieser Vorgang abspielt woher das befruchtete Ei weiß, was es tun soll und wie -, fällt in den Bereich der Entwicklungsbiologie. Genau wie alle anderen Teilgebiete der Biologie macht dieses Gebiet im Augenblick gewaltige Fortschritte, da man biologische Vorgänge zunehmend mit dem zugrunde liegenden molekularen Wechselspiel zu verknüpfe n versteht. Das allgemeine Entwicklungsmuster ist seit einiger Zeit bekannt: Zunächst macht die Ausgangszelle einige Teilungen durch, dann faltet und verformt sich der kugelförmige Embryo bei der Gastrulation (Becherkeimbildung), und schließlich entstehen Organsysteme bei der Morphogenese (»Schaffung von Formen«). Betrachtet man diese Prozesse auf der Molekularebene, zeigen sich zwei hochinteressante Dinge: (1) Wie ein Bildhauer, der nur einen Satz Werkzeuge benutzt, um all die verschiedenen Teile einer Statue zu formen, benutzt die Natur offenbar dieselben Proteine (die man sich als molekularen Hammer und Meißel vorstellen kann), um bei der Entwicklung des Organismus ganz unterschiedliche Funktionen auszuüben, und (2) scheinen bei vielen Arten im Grunde dieselben Prozesse stattzufinden - mit ähnlichen Genen, die in so unterschiedlichen Organismen wie Mäusen und Fruchtfliegen ähnliche Funktionen kodieren. Ich will Ihnen von neueren Arbeiten auf diesem Gebiet berichten, damit Sie ungefähr wissen, was im Augenb lick -206-

passiert. Eines der Hauptprobleme für das befruchtete Ei besteht darin, dafür zu sorgen, dass der ausgewachsene Organismus einen genau definierten Plan des Körpers besitzt. Es muss ein Oben (Kopf) und ein Unten (Füße) geben, ein Vorne und ein Hinten. Wie weiß eine einzige kugelförmige Zelle, die in einer Flüssigkeit flottiert, wo »oben« und »unten« liegt, wo »vorne« und »hinten«? Bei einem Organismus, der Fruchtfliege, kennt man die Antwort auf diese Fragen tatsächlich. Bevor das Ei befruchtet wird, le gt die weibliche Fruchtfliege einige RNSMoleküle darin ab. Ein RNS-Typus ist am Ende des Eis konzentriert, das später zum Kopf wird, ein anderer RNS-Typus am anderen Ende. Nach der Befruchtung produzieren die RNSMoleküle am Kopf ein bestimmtes Protein in diesem Teil des Embryos, während die RNS-Moleküle an den Füßen ein anderes produzieren. Die Proteine am Kopf schalten ein bestimmtes Gen in der DNS der Fruchtfliege an, während die Proteine an den Füßen dieses Gen abschalten. Damit ist die Achse »oben-unten« im Embryo festgelegt, was schließlich zur Aufteilung der für den Insektenkörper charakteristischen drei Segmente führt. Ein Ziel der Entwicklungsbiologie besteht darin, einen ähnlich detaillierten Plan davon aufzustellen, wie dieser Prozess bei anderen Organismen und beim Menschen abläuft. Fragen zur Entstehung der Organe werden auch auf der Molekularebene gestellt. Zum Beispiel: Wie kommunizieren Zellen im Embryo miteinander? Vor langer Zeit ergaben klassische Experimente der Entwicklungsbiologie, dass bestimmte Zellen, die von einem Teil eines Embryos in einen anderen transplantiert wurden, an ihrem neuen Platz andere Zellen zur Bildung von Organen heranziehen konnten, die dem alten Platz entsprachen. So bildete der Embryo beispielsweise eine zweite Körperachse aus. Offensichtlich teilten die transplantierten Zellen ihren neuen Nachbarn etwas mit. Die Frage ist, was kommuniziert wurde und wie. Es ist bekannt, dass Zellen im Embryo in einer reichen -207-

biochemischen Umgebung leben, in der Moleküle von manche n Zellen sezerniert und von anderen aufgenommen werden. Wissenschaftler machen sich nun daran, die Einzelheiten dieser chemischen Pfade aufzuspüren - wie eine Zelle ein Molekül erkennt und aufnimmt, wie das vom Molekül mitgeführte Signal zur DNS der Zelle übertragen wird, wie das Signal bestimmte Gene anschaltet, und welche Wirkungen diese Gene auf den Organismus in seiner Entwicklung haben. Der Vorgang der Signalgebung ist nur selten einfach, da jede Zelle viele Signale gleichzeitig enthält und das Ergebnis normalerweise aus einem komplizierten Wechselspiel zwischen diesen Signalen hervorgeht. So gibt es beispielsweise nicht weniger als vier Moleküle, die durch wechselnde Anziehung und Abstoßung bestimmen, wie sich Nervenzellen verbinden. Das erste praktische Ergebnis unseres neugewonnenen Verständnisses der chemischen Grundlage der Embryonalentwicklung werden wahrscheinlich Arzneimittel sein, die Gene in erwachsenen Zellen anschalten können. Zellen im Embryo besitzen die Fähigkeit zu wachsen, die dem Erwachsenen fehlt - wenn ein Fötus in utero einen Schnitt erleidet, heilt er ohne Narbe aus. Sofern bekannt ist, welche Moleküle die Zellvermehrung im Embryo auslösen, könnte man diese Moleküle vielleicht auf erwachsene Zellen anwenden, um dieselbe Wirkung zu erzielen. Einige Arzneimittel dieser Art sind bereits auf dem Markt, etwa Medikamente, welche die Produktion der roten Blutkörperchen bei Anämie und der weißen Blutkörperchen nach Knochenmarkstransplantationen anregen. Doch dies ist erst der Anfang. Wissenschaftler schwärmen von der Aussicht, Medikamente zu gewinnen, um die Neubildung der Netzhaut des Auges nach bestimmten Schäden anzuregen, die Heilung von Hautgeschwüren (einer häufigen Begleiterscheinung bei Diabetes) zu fördern, die Heilung von schwierigen Knochenbrüchen zu beschleunigen und womöglich das Nachwachsen von Nervenzellen nach Rückenmarksverletzungen -208-

zu ermöglichen. All diese Arzneimittel sind im Augenblick noch Zukunftsmusik, aber es würde mich schon wundern, wenn in den nächsten Jahren nicht einige davon auf den Markt kämen.

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Wie wird die DNS repariert? Jede chemische Reaktion, die in jeder Zelle Ihres Körpers abläuft, ist von der DNS programmiert. Die Befehle, die in der Molekülsequenz der Doppelhelix enthalten sind, geben Ihren Zellen an, wann bestimmte chemische Stoffe zu produzieren sind, wann sie sich zu teilen haben und wann sie damit wieder aufhören sollen. Eine beschädigte DNS ist sowohl für den Ausbruch von Krankheiten wie Krebs wie auch für das gewöhnliche Altern verantwortlich. Es ist also entscheidend wichtig für die Funktionstüchtigkeit jedes Lebewesens, dass in der DNS festgehaltene Botschaften unversehrt bleiben. Leider hat die Bedeutung der DNS einige Legenden über die Verletzlichkeit des Moleküls entstehen lassen. Man stellt sich die DNS als passives Opfer von Umwelteinflüssen vor, die allesamt die Zelle und vielleicht sogar den Organismus zerstören können, zu dem sie gehört. Aber wie ein kurzes Nachdenken über den Evolutionsprozess zeigt, sind Wichtigkeit und Verwundbarkeit nicht dasselbe. Organismen, deren Zellen Verfahren entwickeln, Schäden an ihrer DNS zu beheben, haben einen offensichtlichen Überlebensvorteil gegenüber jenen, die das nicht tun, und so sollte es nicht überraschen, dass menschliche Zellen solche Reparaturen durchführen können. Was allerdings überrascht, ist das Ausmaß, in dem Schädigungen der DNS beim normalen Gang der Dinge auftreten. In den späten achtziger Jahren stellten Wissenschaftler anhand von extrem empfindlichen chemischen Tests fest, dass jede Körperzelle pro Tag durchschnittlich 10 000 »Treffer« auf ihre DNS aushalten muss. Ein Teil dieser Schäden ist durch äußere Umwelteinflüsse bedingt, aber der Großteil sind chemische Schäden durch die Abfallprodukte des gewöhnlichen Zellstoffwechsels. Ein Hauptschuldiger ist beispielsweise die -210-

Klasse der Oxidationsmittel, die bei der normalen »Verbrennung« von Kohlenhydraten zur Erzeugung von Energie in der Zelle anfallen. (Broccoli und verwandte Gemüse enthalten Antioxidationsmittel, was ein Grund dafür ist, dass sie eine wichtige Rolle bei der Ernährung von Krebskranken spielen.) Normale Zellen leben also auf des Messers Schneide, da ständig Schäden auftreten und repariert werden. Wissenschaftler haben zwei Grundtypen von DNS-Schäden beobachtet, die jeweils ihre eigenen Reparaturmechanismen besitzen. Einer davon, die »Inkompatibilitätsreparatur«, hat vor allem mit Fehlern zu tun, die beim Kopieren der DNS während der Zellteilung entstehen. Wenn Sie sich das DNS-Molekül als verdrehte Leiter vorstellen, kopiert sich das Molekül, indem es die Sprossen durchschneidet und dann dafür sorgt, dass jede Hälfte den fehlenden Partner durch Material aus der Zelle zusammensetzt. Eine Form der Inkompatibilität ergibt sich, wenn sich eine Hälfte der Leiter beim erneuten Zusammens etzen im Verhältnis zur anderen verschiebt und eine Schleife aus nicht ergänzten Halbsprossen seitlich aus der DNS hinausragt. Bei einer anderen Inkompatibilität wird die neue Halbsprosse aus dem falschen Material zusammengesetzt. Bei der Reparatur einer Inkompatibilität scheint es, als produziere ein halbes Dutzend Gene Proteine, die den Fehler erkennen und den entsprechenden Abschnitt an der Seite der Doppelhelix herausschneiden. Eine kleine Zahl anderer Proteine überwacht die Rekonstruktion des fehlenden Segments. Ohne diese Proteine kann fehlerhaft kopierte DNS nicht korrigiert werden, und einmal gemachte Fehler werden an künftige Generationen von Zellen weitergegeben. Ein Defekt in einem der Gene, die Reparaturproteine erzeugen, ist mittlerweile als Ursache einer sehr häufigen Art von Dickdarmkrebs bekannt. Eine komplexere Art des Reparaturprozesses, die »Nukleotidentfernung«, behandelt Schädigungen der DNS, die etwa durch chemische Substanzen innerhalb oder außerhalb des -211-

Körpers oder durch Strahlung wie die UV-Strahlung im Sonnenlicht hervorgerufen werden. Man kann sich dieses Verfahren als Tausendsassa vorstellen, der jede erdenkliche Schädigung repariert. Die Vorgehensweise ähnelt dabei der Inkompatibilitätsreparatur - ein Defekt in der DNS wird entdeckt, die »Sprossen« der DNS-Leiter werden geöffnet, die Seite mit dem Defekt wird herausgeschnitten, und zuletzt wird ein nicht beschädigter Strang eingefügt, um das Molekül zu »heilen«. Durch diesen Prozess wird eine ganze Reihe von Reparaturen durchgeführt; die Wissenschaftler müssen abgesehen von einem vollständigen Bruch des Strangs - erst noch Schädigungen der DNS finden, die nicht zu reparieren sind. Aber abgesehen davon, dass es sie gibt, weiß man sehr wenig über den genauen Mechanismus der Nukleotidenentfernung. Unser Verständnis der Reparatur von DNS durch Zellen wird sich in den kommenden Jahren deutlich verbessern. Auf kurze Sicht wird sich dies in zwei Bereichen auswirken. In der Medizin werden mehr Krankheiten erkannt, die durch Fehler in diesem Mechanismus hervorgerufen werden, und diagnostische Tests (vielleicht sogar Behandlungsmethoden) werden in die ärztliche Kunst Eingang finden. In der Politik wird ein Verständnis der DNS-Reparatur großen Einfluss auf die Umweltdiskussion haben. Wenn bisher versucht wurde, die Risiken der Belastung durch chemische Substanzen oder Strahlung abzuschätzen, wurde stets angenommen, eine unbedenkliche Dosis gebe es nicht - selbst eine minimale Belastung könne Zellen schädigen. Solange es keine Informationen darüber gibt, wie Zellen mit Schädigungen umgehen, muss sich ein vorsichtiger Mensch an diese Maßgabe halten, aber er überschätzt dabei mit Sicherheit die tatsächlichen Risiken. Ein Verständnis komplexer DNSReparaturmechanismen versetzt uns in die Lage, das Niveau der Belastung zu bestimmen, bei dem gewöhnliche -212-

Reparaturmechanismen mit dem Schaden umgehen können. Das Einbeziehen dieser Information in unsere Risikoabschätzung könnte eine deutliche Lockerung von Durchführungsbestimmungen zur Folge haben.

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Warum sterben Zellen? In der fünften Woche der Schwangerschaft sind die Hände des menschlichen Fötus flache Scheiben, die ungefähr wie Tischtennisschläger aussehen. In den Wochen darauf sterben Zellen in den späteren Zwischenräumen, und die Hand wächst in ihrer bekannten fünffingrigen Form weiter. Dies ist ein Beispiel für einen der bemerkenswertesten Prozesse in lebenden Systemen - den programmierten Tod von Zellen. Ein weiteres Beispiel: Der Schwanz einer Kaulquappe verschwindet, wenn sie sich zu einem erwachsenen Frosch auswächst, weil Millionen von Zellen im Schwanz programmiert sind, abzusterben. Der Fachausdruck für programmierten Zelltod lautet »Apoptosis«. Die Bezeichnung kommt aus dem Griechischen, wobei apo »weg von« und ptosis »fallen« bedeutet. Sie unterscheidet sich vom zufälligen oder pathologischen Zelltod, der von einer Krankheit oder Verletzung herrührt. Bei der Apoptosis bricht die Zelle geordnet auf, und das Material wird von gesunden Nachbarn absorbiert. In den letzten Jahren sind Wissenschaftler zu der Erkenntnis gelangt, dass jede Zelle zur Apoptosis fähig ist - tatsächlich besitzt jede ein »Selbstmord-Gen«, das die Zelle tötet, wenn es aktiviert wird. Einige Wissenschaftler gehen sogar so weit, diesen Prozess als notwendigen Bestandteil des »Gesellschaftsvertrags« zu sehen, wenn so viele Zellen in einem einzigen Organismus zusammenleben; die Selbstopferung einer Zelle ist oft für die Gesamtentwicklung des Organismus erforderlich. Bei der Entwicklung des menschlichen Nervensystems wachsen Ranken auf Nervenzellen auf der Spur von Molekülen, die von bestimmten sensorischen Zellen emittiert werden - beispielsweise verbinden sich Nervenzellen -214-

im Gehirn durch diesen Prozess mit der Netzhaut des Auges. Wenn eine Zelle nicht die entsprechende Stelle findet, um sich anzuschließen, oder wenn sie in die falsche Körperregion gerät, begeht sie Selbstmord, während die richtig verknüpften überleben. Frühe Arbeiten zum Vorgang des Zelltods benutzten ein interessantes Modell, einen mikroskopisch kleinen Wurm namens Caenorhabditis elegans, kurz C. elegans, der ein beliebtes Versuchstier für Biologen darstellt. Alle erwachsenen Würmer besitzen genau 1090 Körperzellen, von denen genau 131 während der Reifung den programmierten Zelltod erleiden. Mit Hilfe dieses erstaunlich genauen Beispiels konnten Wissenschaftler das Proteinmolekül, das den Zelltod bewirkte, sowie das Gen, das für das Protein kodierte, identifizieren. In einer jener faszinierenden wissenschaftlichen Entwicklungen, die aufregend wie gute Detektivgeschichten sind, lokalisierten verschiedene Forschergruppen ähnliche Gene in anderen Organismen (vor allem Säugetieren) und stellten eine erstaunliche Überschneidung der Evolution fest - SelbstmordGene schienen in ganz unterschiedlichen Organismen sehr ähnlich zu sein. In einem klassischen Experiment wurde ein ursprünglich in der DNS von C. elegans vorhandenes Gen durch das Gen eines Säugetiers ersetzt, ohne dass sich die Zelle irgendwie verändert hätte. Zur Apoptosis lassen sich zwei grundsätzliche Fragen stellen: (1) Welches Signal muss die Zelle empfangen, um den Prozess in Gang zu setzen, und (2) durch welchen Mechanismus wird der Zelltod nach dem Signal ausgeführt? Forschungen auf diesen Gebieten gehören zu den heißesten Themen in der Biologie. Was die erste Frage angeht, verweist das frühere Beispiel von Nervenzellen im Gehirn vielleicht auf eine wichtige Wahrheit. Zellen empfangen Signale in Form bestimmter Moleküle von anderen Zellen, und es scheint sich ein Konsens herauszubilden, -215-

dass diese Signale die Selbstmord-Gene von der Aktivierung abhalten. Wenn diese Theorie richtig ist, kann man sich vorstellen, dass jede Zelle Ihres Körpers Moleküle aussendet, die ihren Nachbarn mitteilen, sie sollten sich nicht umbringen, und gleichzeitig ähnliche Signale vo n ihnen empfängt. Wenn eine Zelle diese Signale nicht mehr empfängt, weiß sie, dass ihre Zeit abgelaufen ist, und löst den Zelltod aus. Die Einzelheiten der im Inneren der Zelle ablaufenden Signalmechanismen kristallisieren sich nun heraus. Es scheint, dass bei der Apoptosis von Säugetieren nicht einfach ein Schalter umgelegt werden muss, sondern vielmehr sieht es so aus, als hätten einige ganz unterschiedliche Moleküle in unseren Zellen mit diesem Vorgang zu tun (jedes Molekül in einem eigenen Gen kodiert). Ein paar dieser Moleküle scheinen den Zelltod-Mechanismus in Gang zu setzen, während andere offenbar die Zelle schützen. Es ist beinahe so, als enthielte die Zelle ein Zifferblatt, dessen Einstellung von den Eigenschaften der »Todes-« und »Antitodesmaterialien« bestimmt sei. Wenn das Signal zum Selbstmord eintrifft, eröffnet eine Zelle, in der das Todesmaterial überwiegt, den Prozess des Selbstmords, während dort, wo der Antitod vorherrscht, das Signal einfach ignoriert wird. Das Gen, das diese Signale integriert, wurde 1995 entdeckt und auf den passenden Namen »SensenmannGen« getauft. Die Forschungen zur Apoptosis sind nicht einfach durch wissenschaftliche Neugier motiviert - es stellen sich auch wichtige medizinische Fragen. Beispielsweise wird ein AntitodGen, das in Zellen identifiziert wird, als p53 bezeichnet; es ist seit langem bekannt, dass das Fehlen von p53 mit der Entstehung von Tumoren zu tun hat. Dies legt nahe, dass einige Krebsarten nicht davon herrühren, dass Zellen unkontrolliert wachsen, sondern dass sie nicht sterben. Ein verfrühtes Auslösen der Suizidreaktion könnte auch für die Parkinson- und Alzheimer-Krankheit verantwortlich sein. Wie so oft, wenn man -216-

grundlegende Prozesse der Natur erforscht, ergeben sich die praktischen Implikationen wie von selbst.

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Warum sieht ein Protein so und nicht anders aus? Das Leben basiert auf den chemischen Reaktionen zwischen Molekülen, und diese Reaktionen hängen von deren Geometrie ab. Diese Aussage ist eine der elementarsten Wahrheiten, die über die Natur des Lebens bekannt sind. Nehmen Sie als Beispiel die Verbindung zwischen zwei großen Molekülen. Bindungen lassen sich nur zwischen einzelnen Atomen herstellen. Stellen Sie sich die Atome, die Bindungen eingehen können, als kleine Klettverschlüsse auf einer großen Kugel vor. Damit eine Verbindung möglich wird, müssen die Moleküle so zusammenkommen, dass die Klettverschlüsse direkt aufeinander passen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies bei einer zufälligen Begegnung geschieht, ist relativ gering; chemische Reaktionen in Zellen hängen also von einer dritten Molekülart ab, dem Enzym. Das Enzym bindet sich separat an jedes der Moleküle, die an einer Reaktion beteiligt sind, sorgt dafür, dass der Klettverschluss jeweils an der richtigen Position sitzt, und ermöglicht so den Ablauf der Reaktion. Das Enzym ist selbst nicht am Prozess beteiligt. Man kann es sich als Vermittler vorstellen, der einen Käufer und einen Verkäufer zusammenbringt, selbst aber weder etwas kauft noch verkauft. Die Enzyme in unseren Zellen sind Proteine; es sind lange Moleküle, die aus einigen kürzeren Molekülen bestehen, den Aminosäuren. Diese sind wie Perlen auf einer Kette aufgefädelt, und das daraus entstehende Protein rollt sich zu einer komplexen Form zusammen. Da es sehr viele Kombina tionsmöglichkeiten von »Perlen« gibt, kann die endgültige Form ganz unterschiedlich ausfallen, was Proteine für die Rolle von Enzymen so geeignet macht. Zellen funktionieren so: Die DNS im Zellkern enthält Codes, -218-

die die Reihenfolge der Aminosäureperlen bestimmen, die in ein Protein eingehen. Den DNS-Abschnitt, der den Bauplan für ein Protein enthält, bezeichnet man als Gen. Jedes Gen besitzt den Code für ein Protein, und jedes Protein dient als Enzym für eine chemische Reaktion. In einer einzigen Zelle können mehrere tausend Gene gleichzeitig im Einsatz sein. In Verbindung mit der Fähigkeit, Gene herzustellen und sie in Bakterien einzusetzen, eröffnet uns dieses Wissen eine aufregende Möglichkeit. Wenn man weiß, welche chemische Reaktion man auslösen möchte, kann man die Form des dazu erforderlichen Enzyms herausfinden. Sofern bekannt ist, wie sich eine bestimmte Sequenz von Aminosäuren zur endgültigen Form eines Proteins gefaltet hat, lässt sich ein Gen zur Herstellung dieser Sequenz entwerfen, einigen Bakterien einpflanzen und »ausbrüten«. Bei dieser Theorie gibt es aber ein Problem, das Biochemiker die letzten vierzig Jahre beschäftigt hat. Selbst wenn die Sequenz von Aminosäuren in einem Protein - die Reihenfolge der aufgefädelten Perlen - bekannt ist, lässt sich die endgültige Gestalt des Proteins nicht vorhersagen. Die heutige Wissenschaft ist von der Lösung des so genannten »Proteinfaltungsproblems« nach wie vor unangenehm weit entfernt. Der Grund für diese Wissenslücke ist einfach: In einem einzigen Protein können sich einige hunderttausend Atome befinden, und selbst unsere besten Computer sind nicht gut genug, um alle Vorgänge bei der Faltung des Proteins zu verfolgen. Im Augenblick werden zwei Forschungsansätze verfolgt. Der erste umfasst Experimente, deren Ziel darin besteht, Zwischenphasen bei der Faltung zu identifizieren. So könnte sich eine lange Kette beispielsweise erst zu einem Korkenzieher verdrehen, bevor einige Abschnitte doppelt gefaltet werden und anschließend die gesamte Kette ihre endgültige Form annimmt. Wenn man diese Zwischenphasen kennt, lässt sich der Prozess der Faltung in eine Reihe -219-

einfacherer Schritte gliedern. Eine Schwierigkeit bei diesem Ansatz besteht darin, dass Proteine offenbar ganz unterschiedliche Faltungen durchmachen können, um einen bestimmten Endzustand zu erreichen. Andere Wissenschaftler versuchen, durch intelligente Computermethoden - bei denen es nicht notwendig ist, jedes einzelne Atom durch den Prozess der Faltung zu verfolgen - die endgültige Form einer Kette von Aminosäuren vorherzusagen. Beispielsweise können Computerprogramme den endgültigen Energiezustand unterschiedlicher Faltungsmuster berechnen. Da natürliche Systeme dem jeweils niedrigsten Energiezustand zustreben, geht man davon aus, dass mit dem niedrigsten Energiezustand zugleich die endgültige Struktur eines Moleküls gefunden wird. Das Problem: Vielleicht gibt es viele Zustände niedriger Energie, und es wird schwierig herauszufinden, in welchem das Molekül irgendwann endet. Ein anderes Computerprogramm arbeitet mit Methoden der künstlichen Intelligenz. Daten bekannter Faltungsmuster von Aminosäurebändern werden in einen Computer gefüttert, der dann auf der Basis von Analogien zu bekannten Proteinen Spekulationen über ein Faltungsmuster für ein neues Molekül anstellt. Das Problem: Man weiß nie, ob die Spekulation stimmt. Unabhängig davon, welche Methode uns letztlich die Lösung des Proteinfaltungsproblems bringen mag, ist eines heute schon klar: Wenn das Problem gelöst wird, ist eine große Hürde auf dem Weg zur Herstellung jedes beliebigen Moleküls aus dem Weg geräumt.

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Die Wundermoleküle Jedes Jahr im Januar kürt Time seine Frau oder seinen Mann des Jahres. Das Magazin Science, die Publikation der American Association for the Advancement of Science (Amerikanische Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft) wollte nicht dahinter zurückstehen und führte ihre eigene Version dieser Auszeichnung ein. Jedes Jahr im Dezember benennt Science ein »Molekül des Jahres«. Die Auszeichnung wurde 1993 mit der Ehrung des Moleküls p53 ins Leben gerufen. Das »p« steht für Protein, das »53« für die Tatsache, dass das Molekül 53 000mal so viel wiegt wie ein Wasserstoffatom. Entdeckt wurde es 1979, beinahe in der grauen Vorzeit der Molekularforschung. Wenngleich man wusste, dass es irgendwie mit Krebs zu tun hat, wurde es bis 1989 weitgehend ignoriert; dann entdeckten Wissenschaftler, dass Mutationen des p53-Gens häufig bei Dickdarmkrebs auftreten und dass normale Gene tumorhemmend wirken. Heute gehen Wissenschaftler davon aus, dass p53 an 50 Prozent (vielleicht sogar an 80 Prozent) der Krebserkrankungen beim Menschen irgendwie beteiligt ist. (Ein Wort zur Nomenklatur: Das Gen, das für das Protein p53 kodiert, trägt denselben Namen wie das Molekül.) Um die Erforschung von p53 zu beschreiben, bedient man sich am besten einer Analogie. Angenommen, man schickt vier Forscherteams in eine Stadt. Das erste Team soll den wichtigsten Geschäftsmann finden, das zweite den wichtigsten Politiker, das dritte den wichtigsten Künstler und das vierte den wichtigsten Wissenschaftler. Nehmen wir weiter an, die Teams stellten unabhängig voneinander ihre Nachforschungen an, und am Ende fänden sie sich alle in derselben Straße vor demselben Haus wieder. Wahrscheinlich käme man zu dem Schluss, dass der Bewohner dieses Hauses eine ganz außerordentliche -221-

Persönlichkeit sei. Etwas Ähnliches geschah in den neunziger Jahren mit p53. Forscher aus vier ganz unterschiedlichen Bereichen der Biologie fanden heraus, dass das Gen und sein Protein bei ihren Untersuchungen eine entscheidende Rolle spielten, und waren später überrascht zu erfahren, dass die beiden auch in anderen Bereichen von großer Bedeutung waren. Auf jeden dieser vier Bereiche wird in diesem Buch an anderer Stelle näher eingegangen. Es sind: • DNS-Reparatur. Wenn die DNS beschädigt wird, unterbricht p53 die Zellteilung, bis die Reparatur durchgeführt ist, und bestimmt die Enzyme, die diese Aufgabe erledigen. • Apoptosis. Wenn die Beschädigung der DNS nicht repariert wird, oder wenn die Zelle für das Gemeinwohl des Organismus sterben muss, löst p53 den »Zell-Selbstmord« aus. • Tumorsuppressoren. Krebsforschern ist seit langem bekannt, dass einige Moleküle das Wachstum von Tumoren hemmen. Im Hinblick auf die Rolle von p53 bei der DNS-Reparatur sollte man sich nicht wundern, wenn das Protein zu dieser erlesenen Gruppe gehört. • Zellzyklusregulierung. Wissenschaftler, die sich mit der Zellteilung beschäftigen, haben herausgefunden, dass p53 bei dem Prozess und vor allem bei dessen Beendigung eine entscheidende Rolle spielt. Am Ende erscheint p53 als eine Art zentrales Steuerungsmolekül der Zelle; seine Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Abkömmlinge der Zelle dieselbe DNS enthalten, die die Zelle ihrerseits geerbt hat. Klappt dies nicht, muss sie verhindern, dass eine fehlerhafte Zelle beschädigte DNS an künftige Generationen weitergibt. -222-

Die Implikationen der Wirkungsweise von p53 sind für die medizinische Forschung offensichtlich, und es ist ein Wettlauf im Gange, in dessen Verlauf sich erweisen wird, wer das Protein als erster bei der Krebsbekämpfung einsetzen wird. Im p53-Gen lassen sich bereits spezifische Veränderungen feststellen, die von Karzinogenen (krebserregenden Stoffen) in Tabakrauch verursacht werden und deren Rolle bei der Entstehung von Lungenkrebs nachweisbar ist. Die Rolle des Moleküls bei der Entstehung anderer Krebsarten wird derzeit untersucht. Eine Behandlungsmethode von Krebs wäre der Einsatz der Gentherapie, vielleicht mit künstlich hergestellten Viren, um das gesunde p53-Gen in Tumorzellen zu injizieren. Experimente im Labor legen nahe, dass Tumorzellen Selbstmord begehen, sobald sie ausreichend mit p53 versorgt werden. Ein anderer Ansatz ist die Überflutung eines Tumors mit p53-Molekülen in der Hoffnung, dass sie in die Zellen aufgenommen werden und dort dasselbe Resultat erzielen. Schließlich stellt die Existenz eines Moleküls wie p53 ein ernstes Problem für die Evolutionstheorie dar. Wenn dieses einzige Molekül so wichtig ist, warum hat die natürliche Auslese dann kein Ausweichsystem entwickelt, das (mindestens teilweise) übernehmen könnte, wenn dieses Gen scheitert? Derartige Sicherungssysteme gibt es für weniger wichtige Moleküle, und so ist es erstaunlich, dass es für p53 keines geben soll.

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Humanes Genomprojekt, was nun? Gegen Ende der achtziger Jahre gab es in Wissenschaftskreisen eine große Diskussion über das Humane Genomprojekt (HGP), dessen Zweck in einer vollständigen Identifizierung der menschlichen DNS besteht (die gesamte DNS eines Organismus bezeichnet ma n als dessen Genom). Einige Wissenschaftler sprachen sich gegen das Projekt aus, da es unter anderem zu langweilig sei, um kluge Köpfe anzulocken. Andere warfen ethische und politische Fragen auf. Trotz dieser Einwände wurde das Humane Genomprojekt 1990 vo m amerikanischen Kongress gebilligt; es ist auf fünfzehn Jahre angelegt und wird viele Milliarden kosten. Ich freue mich, Ihnen berichten zu können, dass sich heute, nach mehr als einem Drittel der Projektdauer, keiner dieser Einwände als richtig erwiesen hat. Technologische Fortschritte haben es möglich gemacht, dass der Großteil der langweiligen Arbeit Geräten überlassen wird, und viele der besten Wissenschaftler des Landes sind auf die eine oder andere Weise mit dem Humanen Genomprojekt befasst. Darum ge ht es in dem Projekt: Die DNS in jeder Zelle jedes Menschen enthält den vollständigen Bauplan, wie man eine einzige Zelle in einen Erwachsenen verwandelt. Ein Mensch unterscheidet sich von einem anderen nur in einem winzigen Bruchteil dieses Bauplans; man muss den DNS-Bauplan also nur einmal »lesen«, um die Information für immer zu besitzen. Außerdem kristallisiert sich allmählich heraus, dass praktisch jede menschliche Krankheit eine genetische Komponente besitzt; die Fähigkeit, den Bauplan zu lesen, wird für die Medizin damit ein großer Gewinn sein. Am einfachsten stellt man sich die DNS als lange, flexible Leiter vor, deren Sprossen aus jeweils zwei miteinander -224-

verbundenen Molekülen (den Basen) bestehen. Wenn man diese Leiter ein wenig verdreht, erhält man die bekannte DoppelhelixStruktur der DNS. Bestimmte DNS-Abschnitte - zwischen einigen tausend und einigen hunderttausend Basen lang - nennt man Gene. Die Reihenfolge der Basen in diesen Genen enthält die Anweisungen zur Produktion von Proteinen, die die chemischen Reaktionen in der Zelle steuern. In menschlichen Zellen ist die DNS zu Bündeln zusammengefasst, die man als Chromosomen bezeichnet. Die meisten Zellen enthalten sechsundvierzig Chromosomen; dreiundzwanzig von der Mutter und dreiundzwanzig vom Vater. Es gibt zwei Möglichkeiten, die DNS zu erforschen. Beim so genannten »Mapping« (Kartierung) geht es darum, die Position bestimmter Gene in bestimmten Chromosomen zu finden. Man kann sich das Mapping als erste grobe Erforschung des Genoms vorstellen - wie die Expedition von Lewis und Clark in den Nordwesten Amerikas. Ein anderer Prozess, die »Sequenzierung«, spezifiziert Sprosse um Sprosse die tatsächliche Reihenfolge der Basenpaare in der DNS-Leiter eher wie die genaue Kartierung des National Geological Survey nach Lewis und Clark. Die Ziele des Humanen Genomprojekts sind die Erstellung einer ausführlichen Karte sowie eine vollständige Sequenzierung der menschlichen DNS. Um festzustellen, ob ein bestimmter Defekt in einem bestimmten Gen für eine bestimmte Krankheit verantwortlich ist, muss man (1) herausfinden, auf welchem Chromosom sich das Gen k befindet, (2) die genaue Position des Gens auf diesem Chromosom aufspüren, (3) eine Sequenzierung des Gens durchführen und (4) den mit der Krankheit zusammenhängenden »Schreibfehler« identifizieren. So wurde 1989 der Grund für die häufigste Form der Mukoviszidose als Fehlen von drei speziellen Basenpaaren in einem bestimmten Gen auf Chromosom sieben identifiziert, und dieses Wissen hat bereits experimentelle Therapien der Krankheit ermöglicht. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, was man vom Humanen Genomprojekt -225-

erwarten kann. Nach Abschluss des Humanen Genomprojekts werden sich jedoch neue Probleme stellen. Was sollte man mit der Information anfangen, wenn man etwa weiß, dass Alkoholismus und die Veranlagung zu bestimmten Krankheiten genetisch bedingt sind? Wenn man etwas daran ändern könnte, würden die meisten Menschen (ich eingeschlossen) erfahren wollen, ob sie die genetische Veranlagung zu einer Krankheit haben. Jemand mit einer bekannten Veranlagung zu einer bestimmten Krebsart könnte sich regelmäßigen Tests unterziehen, damit der Krebs gegebenenfalls in einem frühen Stadium erkannt wird und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu heilen ist. Wenn aber jemand Ihr Genom untersuchen und dabei feststellen würde, dass Sie sich höchstwahrscheinlich vor dem fünfzigsten Geburtstag eine unheilbare Krankheit zuziehen, wollten Sie das wissen? Ich sicher nicht. Und dann stellt sich - die an anderer Stelle in diesem Buch diskutierte - Frage, wem die Information über das Genom gehört. Das Humane Genomprojekt schreitet jedenfalls voran. 1995 wurde das erste vollständige Genom eines Lebewesens (eines einfachen Bakteriums) veröffentlicht, 1996 bereits das Genom der Bierhefe mit 12 Millionen Basen. Die Hauptpunkte der Diskussion sind im Augenblick, wie nicht anders zu erwarten, die Kosten (gegenwärtig peilt man einen Preis von 20 bis 30 Cents pro Base an) und die Genauigkeit (das Ziel sind 99,99 Prozent). Neue automatisierte Methoden, die diesen Vorgaben entsprechen, sollen bis 1999 etwa 3 Prozent des menschlichen Genoms sequenziert haben. Doch die Arbeit geht stetig voran, und irgendwann nach der Jahrhundertwende wird man den gesamten Bauplan des Menschen lesen können. Davor sollte man sich vielleicht schon einmal Gedanken machen, was man damit anfängt.

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Welche ethischen Standards gelten für molekulares Wissen? Sind wir nicht aller Sorgen ledig, wenn nach Abschluss des Humanen Genomprojekts die gesamte in der menschlichen DNS aufgeschr iebene Geschichte entschlüsselt ist und wir die molekularen Mechanismen verstehen, die menschliche Krankheiten und (vielleicht) Verhaltensweisen verursachen? Wir werden ein völlig neuartiges Wissen über einzelne Menschen besitzen, aber dieses Wissen wird alle möglichen neuen Fragen auf dem Gebiet der Ethik aufwerfen. Allgemein formuliert wird sich unser Augenmerk von der Frage »Wie funktioniert es? « zur Frage »Was fangen wir mit diesem Wissen an? « verlagern. Einige dieser Themen sind bereits in Gesetzesdiskussionen aufgetaucht. Wenn Sie wissen, dass ein bestimmter Defekt in einem bestimmten Gen Sie für eine bestimmte Art von Krebs anfällig macht, sind Sie dann verpflichtet, diese Information Ihrer Versicherungsgesellschaft mitzuteilen und zu riskieren, dass der Defekt als vorbestehende Erkrankung klassifiziert oder, noch schlimmer, der Versicherungsschutz überhaupt verweigert wird? Können Versicherungsgesellschaften oder Arbeitgeber verlangen, dass Gentests als Vorbedingung des Versicherungs- oder Arbeitsve rhältnisses durchgeführt werden? Dies sind schwierige Fragen, aber das Rechtssystem kann relativ gut damit umgehen. Andere Fragen sprengen den rechtlichen Rahmen jedoch deutlich. Um Ihren eigenen »Genethikquotienten« zu testen, können Sie einmal versuchen, die folgenden anschaulichen Probleme zu lösen, die kürzlich auf einer Konferenz über Genetik am Jackson Laboratory in Bar Harbor (Maine) vorgebracht wurden.

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Fall l Bei einer Frau wird Dickdarmkrebs festgestellt, und ein Test ergibt einen genetischen Defekt, der sie für diese Krankheit anfällig macht. In der Familie der Frau gab es bereits mehrere Fälle von Dickdarmkrebs, so dass es als wahrscheinlich gilt, dass sie ein mutiertes Gen geerbt und an ihre Kinder weitergegeben hat. Die Frau möchte die Diagnose jedoch vor ihrer Familie (einschließlich ihrer Geschwister) geheim halten und weigert sich, ihre Kinder auf diesen Defekt hin untersuchen zu lassen. In diesem Fall gibt es einen Konflikt zwischen dem Recht der Frau auf Privatheit - dem Besitz und der Verfügungsgewalt über ihre eigenen genetischen Daten - und der Sicherheit ihrer Geschwister und Kinder. Sollten diese aufgeklärt werden oder nicht? Fall 2 Dabei handelt es sich eigentlich um zwei Fälle, die zwei unterschiedliche Aspekte desselben Themas betreffen. (a) Eine Frau weiß, dass es in ihrer Familie geistige Behinderung gibt und sie selbst ein dafür verantwortliches rezessives Gen trägt. Sie verlangt einen Gentest am Fötus, mit dem sie schwanger ist, da sie vorhat, den Fötus abtreiben zu lassen, falls der Test eine Behinderung des Kindes ergibt. Darüber hinaus kündigt sie an, einen ansonsten gesunden weiblichen Fötus auch dann abtreiben zu wollen, wenn er, wie sie, Träger der Erkrankung ist. (b) Ein Ehepaar, beide zwergwüchsig, sucht eine genetische Beratungsstelle auf, als die Frau schwanger wird. Das für ihre Zwergwüchsigkeit verantwortliche Gen ist bekannt. Kinder, die zwei fehlerhafte Kopien des Gens erben, leben normalerweise nur wenige Jahre, und Kinder mit einem fehlerhaften Gen werden zwergwüchsig. Das Paar plant, den Fötus abzutreiben, wenn zwei fehlerhafte Gene gefunden werden. Außerdem -228-

kündigt es an, eine Abtreibung auch dann vorzunehmen, wenn der Fötus keine fehlerhafte Kopie des Gens geerbt hat - das heißt, wenn er nicht zwergwüchsig wird. In beiden Fällen wird genetische Information dazu benutzt, einen ansonsten normalen Fötus abzutreiben. In Fall 2a geht das Bestreben der Frau dahin, das Auftreten geistiger Behinderung in ihrer Familie zu beenden. Sie übernimmt sogar selbst die Entscheidung, die eine Tochter mit dem mutierten Gen treffen müsste - ob sie Kinder haben will oder nicht. In Fall 2b wünschen sich die zwergwüchsigen Partner Kinder, die wie sie sind, obwohl viele solcher Paare normal große Kinder aufgezogen haben. Man kennt bereits Tausende genetischer Erkrankungen, und wir alle sind Träger des einen oder anderen mutierten Gens. Diese Tatsachen werfen äußerst schwierige Fragen auf dem Gebiet der Familienplanung auf. Die meisten Menschen, die eine Abtreibung nicht aus moralischen Gründen rundweg ablehnen, dürften der Meinung sein, dass die Abtreibung eines Fötus mit einem gravierenden genetischen Defekt wie geistiger Behinderung gerechtfertigt sei, aber was ist, wenn - wie in Fall 2 - der Fötus nur eine Kopie eines fehlerhaften Gens besitzt? Wie steht es mit Abtreibungen aufgrund der körperlichen Leistungsfähigkeit? Der Intelligenz? Der Augenfarbe? Des Geschlechts? Lässt sich hier eine Grenze ziehen, und wenn ja, wo? Der Vollständigkeit halber, und ohne den Anspruch, hier mehr als eine ganz persönliche, unwissenschaftliche Meinung abzugeben, sei noch mein Urteil zu den obigen Fällen abgegeben: Ich würde Fall l als eine Frage der Volksgesundheit behandeln. Genau wie man jene warnen und untersuchen muss, die sich möglicherweise mit Tuberkulose angesteckt haben, weil sie mit einer infizierten Person in Berührung kamen, muss man die Geschwister und Kinder der Frau über ihr Risiko aufklären. -229-

In Fall 2 würde ich die genetische Information liefern und die Entscheidung dem Paar selbst überlassen, da solche Entscheidungen zu wichtig und zu persönlich sind, um sich vom Staat hineinreden zu lassen.

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Was kommt nach der Pille? Nicht viele technologische Entwicklungen hatten eine stärkere Wirkung auf die Gesellschaft als die Einführung oraler Verhütungsmittel in den sechziger Jahren. Trotz ihres überholten technischen Standes wurde »die Pille« in diesem Land und auf der ganzen Welt rasch angenommen. So überrascht es auch, dass es seit den emsigen Aktivitäten zu Beginn der Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren kaum Fortschritte bei Verhütungsmethoden gegeben hat. Nicht, dass es keine neuen Ideen gäbe. Wie in jedem anderen Bereich der Biomedizin eröffnet die neu erworbene Fähigkeit, mit lebenden Systemen auf der Molekularebene umzugehen, ganz neue Möglichkeiten. Doch nicht anders als bei den Antibiotika scheinen auch hier die Marktkräfte weiteren Forschungsanstrengungen der Pharmaunternehmen entgegenzuwirken. Es sind bereits erfolgreiche Verhütungsmittel auf dem Markt, und so fehlen die Anreize für Firmen, die enormen Kosten (und das juristische Risiko) auf sich zu nehmen, um neue auf den Markt zu bringen. Tatsächlich ist die einzige Neuentwicklung der letzten Jahre das in Frankreich entwickelte Präparat RU486, das die Menstruation herbeiführt und in Wirklichkeit eine Abtreibungspille ist. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass sich auf dem Gebiet überhaupt nichts bewegt. So sind gewisse Anstrengungen in die Entwicklung von Verhütungsmitteln für Männer und von Präparaten für den »Morgen danach« geflossen, die eine Empfängnis verhindern, aber nicht unbedingt in den Menstruationszyklus eingreifen. Das bislang erfolgreichste Verhütungsmittel für den Mann wirkt durch Testosteronspritzen. Dadurch wird zwar offenbar die Spermienzahl wirksam vermindert, aber alle paar Wochen muss neu gespritzt werden, -231-

weshalb sich dieses Verfahren mit Sicherheit nicht durchsetzen wird. Die Forschung zur Empfängnisverhütung konzentriert sich heute vor allem auf einen entscheidenden Schritt bei der Befruchtung - die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Auf der Molekularebene müssen erst einige Schritte durchlaufen werden, damit es zur Befruchtung kommen kann. Zunächst müssen die Moleküle in der Außenmembran des Samens bestimmte Moleküle in der äußeren Eihülle »erkennen« und sich dort festsetzen - der Samen muss an das Ei »andocken«. Nach dem Andocken setzt der Samen Enzyme frei, die ein kleines Loch in die äußere Eihülle bohren, durch das der Samen dringen kann. Zuletzt sorgen bestimmte Enzyme dafür, die äußere Ummantelung der Eizelle und der Samenzelle miteinander zu verschmelzen. Auf der Molekularebene gibt es also mindestens drei mögliche Ansatzpunkte: Man kann entweder den Erkennungsprozess oder das Wirken der Enzyme, die die Eihülle öffnen, oder die eigentliche Verschmelzung unterbinden. Die aktuelle Verhütungsforschung sondiert tatsächlich alle drei Möglichkeiten. 1980 identifizierten Wissenschaftler die Moleküle in der äußeren Eihülle, an die sich der Samen bindet. Wie bei allen molekularen Aktivitäten in Lebewesen hängt die se Bindung von einer einfachen Geometrie ab - einer Schlüssel-SchlossÜbereinstimmung zwischen den Molekülen. Die Verhütungsstrategie besteht nun darin, künstliche Moleküle derselben Art und Form wie auf der äußeren Eihülle herzustellen. Diese frei flottierenden Moleküle verbinden sich anschließend mit den Molekülen in der Hülle der Samenzelle. Wenn man das System mit künstlichen Schlüsseln überflutet, wird der Samen davon abgehalten, an den richtigen Schlüssel in der äußeren Eihülle anzudocken. Im Umgang mit der Freisetzung von Enzymen durch den Samen, die es diesem ermöglicht, in die äußere Eihülle -232-

einzudringen, gibt es verschiedene Strategien. Man weiß noch nicht genau, was sich auf der molekularen Ebene abspielt, aber es scheint, dass hier unter anderem Kalzium beteiligt ist, und zwar insbesondere Kanäle in der äußeren Eihülle, die Kalzium in den Samen eindringen lassen. Es gibt Hinweise darauf, dass eine Blockade dieser Kalziumkanäle - also die Verhinderung des Eindringens von Kalzium in das Sperma - die Vereinigung von Ei und Samen zumindest im Labor verhindert. Im Augenblick bemühen sich Wissenschaftler um eine Identifizierung der Gene, die die Produktion der Enzyme kodieren, die wiederum die Kalziumkanäle steuern; letztlich besteht das Ziel in der Herstellung eines »Designermedikaments«, das die Aktivierung jener Gene verhindert. Schließlich widmet sich die Forschung noch dem letzten Stadium der Verschmelzung - der Verschmelzung der Außenmembranen von Ei und Samen. Anscheinend wird diese Reaktion durch bestimmte Proteine ausgelöst, und wie bei den Enzymen, die dem Samen den Weg in das Ei öffnen, denken Wissenschaftler über ein Designermedikament nach, das sie blockiert. Von den drei genannten Ansätzen ist dieser der spekulativste. Es ist tatsächlich eige nartig, dass sich bei der Empfängnisverhütung trotz der enormen Methodenvielfalt, die in der Biomedizin erreicht wurde, so wenig verändert hat. Im Hinblick auf die Zeit, die ein neues Produkt braucht, um auf den Markt zu kommen, ist es extrem unwahrscheinlich, dass ein Produkt, das aus der hier beschriebenen Forschung hervorgeht, vor dem Jahre 2010 zu kaufen sein wird. Forschungen auf diesem Gebiet werden in näherer Zukunft also nicht dazu beitragen, das Bevölkerungswachstum einzuschränken.

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Können wir ewig leben? Im Bronzezeitalter konnte man bei der Geburt im Durchschnitt damit rechnen, achtzehn Jahre alt zu werden. Bis zum Mittelalter hatte sich die Lebenserwartung auf dreiunddreißig Jahre erhöht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die Amerikaner eine Lebenserwartung von neunundvierzig Jahren, und heute liegt sie bei über fünfundsiebzig Jahren. Technologische, hygienische und medizinische Fortschritte haben die durchschnittliche Lebenserwartung des Menschen vor allem in diesem Jahrhundert dramatisch erhöht. Die nahe liegende Frage - die für uns alle von dauerhaftem Interesse ist - lautet, ob sich die Lebenserwartung in Zukunft noch weiter erhöhen wird. Gibt es durch neue technologische Entwicklungen die Chance, dass die Menschen länger leben als heute - vielleicht sogar so etwas wie Unsterblichkeit erlangen? Um die Diskussion über diese Frage zu verstehen, müssen Sie aber folgendes wissen. Obwohl die durchschnittliche Lebenserwartung in der Geschichte tatsächlich rapide angestiegen ist, gibt es keine Hinweise darauf, dass sich das Höchstalter des Menschen - die menschliche Lebensspanne verändert hat. Das höchste Alter, das Menschen nach verlässlichen Quellen erreicht haben, ist im Lauf der Geschichte konstant bei etwa 110 Jahren geblieben. In den letzten Jahrzehnten haben ernsthafte Forschungen den Mythos zerstört, Menschen könnten 160 Jahre und länger leben. Solche Behauptungen wurden in einigen extrem isolierten ländlichen Gegenden vorgebracht (beispielsweise im Kaukasus), wo es keine verlässlichen Geburtsurkunden gibt. In diesen Regionen ist ein behauptetes (aber unzuverlässiges) Alter von mehr als 120 Jahren keine Seltenheit. Meine Lieblingsgeschichte zur Illustration der Behauptung, dass diese -234-

Zahlen nicht mehr akzeptabel sind, handelt von einem Forscher, der ein Dorf in Ecuador zweimal im Abstand von fünf Jahren besucht hat. Beim zweiten Besuch stellte er fest, dass sich das Alter der »Hundertjährigen« um sieben Jahre erhöht hatte! Der offensichtliche Konflikt zwischen höherer Lebenserwartung und fester Lebensspanne ist dann zu begreifen, wenn man sich das menschliche Leben als Hindernislauf vorstellt. Alle gehen mit derselben Geschwindigkeit ins Rennen, aber die meisten Läufer scheitern an den Hindernissen und fallen aus, und nur wenige schaffen es bis zur Ziellinie. Für Menschen im Naturzustand zählen Raubtiere, Hungersnöte, Krankheiten, Unfälle und das Wetter zu den Hindernissen. Die Technik und die Medizin haben viele Hindernisse im Rennen weggeräumt oder zumindest niedriger gemacht, so dass immer mehr Menschen bis zur Ziellinie durchhalten. In einer perfekten Welt würde jeder Läufer, der ins Rennen geht, die Ziellinie erreichen, und jeder Mensch würde bis zum Alter von 110 Jahren gesund und vital bleiben. Bei diesem Bild stellen sich zwei Fragen ein: (1) Ist es unvermeidlich, dass Menschen im Alter an Kraft verlieren? (2) Ist die Lebensspanne von 110 Jahren eine feste Grenze, oder kann auch sie durch Fortschritte in der Medizin hinausgeschoben werden? Von diesen beiden Fragen wird bislang nur die erste ernsthaft untersucht. Wenngleich die Gerontologie - die Disziplin, die sich mit der Erforschung des Alterns befasst - noch in den Kinderschuhen (!) steckt, lassen sich ein paar Aussagen treffen. Zunächst sieht es so aus, als durchliefen alle Säugetiere einen Alterungsprozess, wenn sie lange genug leben (was sie in der Wildnis aber selten tun). Aus evolutionärer Sicht ist das Altern ein irrelevanter Prozess. Sobald sich ein Tier fortgepflanzt hat, hat es, evolutionär gesprochen, keine Bedeutung mehr, und die natürliche Auslese kann ihm nichts mehr anhaben. Wie ein Wagen, der nach Ablauf der Garantiezeit weiterfährt, lebt das -235-

Tier einfach weiter, bis es zusammenbricht. So gesehen ist Langlebigkeit ein zufälliges Nebenprodukt der Eigenschaften, die ein Tier besitzt, um bis zur Fortpflanzung zu überleben. In dieser Perspektive ist es das Ziel der Medizin, den menschlichen Körper so lange wie möglich am Leben zu erhalten ihm künstlich zu geben, was ihm nicht schon von der Natur mitgegeben wurde. Der phänomenale Anstieg der Lebenserwartung ist eine Folge dieser Bemühungen, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass er in Zukunft weniger dramatisch ausfallen wird. Im Augenblick sind Herz-KreislaufErkrankungen in den Vereinigten Staaten die häufigste Todesursache. Wenn eine Heilung oder Vorbeugung möglich wäre, gehen Wissenschaftler davon aus, dass sich die Lebenserwartung um mindestens weitere siebzehn auf zweiundneunzig Jahre erhöhen würde. Medikamente gegen Krebs und andere tödliche Krankheiten könnten sie noch weiter steigern. Es scheint also, als sollte man sich allmählich über die andere Grenze des menschlichen Lebens Gedanken machen die endliche Lebensspanne. Dieses Feld wurde noch kaum beackert, aber es bilden sich bereits zwei Lager heraus man könnte sie Optimisten und Pessimisten nennen. Die Optimisten, die durch Fortschritte in der Molekularbiologie und Molekularmedizin Auftrieb erhalten haben, behaupten, wenn die letzten Hindernisse wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen ausgeräumt seien, werde die Wissenschaft die Grenze der Lebensspanne weiter hinausschieben. Schließlich, behaupten sie, seien alle Vorgänge im Körper molekularer Natur, und sobald man Moleküle steuern könne, habe man alles in der Hand, auch das Altern. Die Pessimisten vertreten dagegen die Ansicht, das Altern werde sich als zu kompliziert erweisen, um es selbst steuern zu können, und selbst im umgekehrten Falle seien die gesellschaftlichen Folgen einer unbegrenzten Lebensspanne zu schrecklich, um sie sich auszumalen. Ich muss sagen, dass ich deutlich auf der Seite der Optimisten stehe, jedenfalls im -236-

Prinzip. Wenn das Leben wirklich auf Chemie basiert, sollten wir jedes Lebewesen durch eine Veränderung seiner Chemie beeinflussen können. Wenn diese Aussage für die Heilung von Krankheiten gilt, sehe ich keinen Grund, warum sie nicht auch für das Altern und die Lebensspanne gelten sollte.

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Wie »sieht« das Gehirn? Schauen Sie sich einen Augenblick um. Was sehen Sie? Vielleicht ein Zimmer mit farbigen Wänden, Bildern, Türen und Fenstern? Aber was Sie auch sehen mögen, eines ist klar -Zellen in Ihrem Auge und Gehirn verwandeln einfallendes Licht aus der Umgebung in ein zusammenhängendes Bild. In den letzten Jahren haben Wissenschaftler erstaunlich detaillierte Erkenntnisse darüber gewonnen, wie dieser Prozess funktioniert. Er beginnt, wenn Licht in das Auge eindringt und auf der Netzhaut an der Rückseite des Augapfels gebündelt wird. Dort, in den Zellen, die man (aufgrund ihrer Form) als Stäbchen und Zapfen bezeichnet, wird die Energie des Lichts in ein Nervensignal umgewandelt. Von diesem Punkt an spielt die äußere Umgebung bei dem Vorgang keine Rolle mehr; es übernehmen die Mechanismen des Gehirns und des Nervensystems. Die zentrale Frage lautet: Wie werden diese ursprünglichen Nervenimpulse in der Netzhaut in ein Bild verwandelt? Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist den Wissenschaftlern bekannt, dass die Grundeinheiten des Nervensystems Zellen sind, die als Neuronen bezeichnet werden. Jede der vielen Neuronenarten besitzt einen zentralen Zellkörper, eine Ansammlung von Fortsätzen (die Dendriten), die Signale von einer Gruppe von Neuronen empfangen, sowie eine lange Faser (das Axon), durch die Signale an eine andere Gruppe hinausgehen. Das Neuron ist ein »Alles-oder-nichts-Element«, das nur in eine Richtung funktioniert - wenn es (durch einen Vorgang, den wir nicht verstehen) die richtige Mischung von Signalen von seinen Dendriten erhält. Das Problem für Hirnforscher besteht darin, zu verstehen, wie eine Gruppe von Zellen mit diesen Eigenschaften Bilder von der Außenwelt -238-

produzieren kann. Die erste Stufe der Verarbeitung der vom Licht transportierten Daten findet in zwei Zellschichten in der Netzhaut statt (seltsamerweise befinden sich diese Zellen vor den Stäbchen und Zapfen und blockieren eintreffendes Licht). Diese Zellen sind so miteinander verknüpft, dass ein starker Impuls von einer Gruppe von Zellen in das Gehirn geschickt wird, wenn diese Gruppe einen dunklen Punkt mit einer weißen Umgebung und ansonsten ein schwaches Signal sieht. Das Signal, das an das Gehirn geht, besteht somit aus Impulsen, die über die Axone geleitet werden und das Gesichtsfeld in eine Reihe heller und dunkler Punkte zerlegen. Diese Signale treffen an der primären Sehrinde an der Rückseite des Gehirns ein, und von da an ist das System darauf angelegt, die Ansammlung von Punkten in ein zusammenhängendes Bild zurückzuverwandeln. Die Signale werden einer Gruppe von Zellen in einer bestimmten Schicht der Sehrinde an der Rückseite des Gehirns eingefüttert. Jede Zelle dieser Gruppe »fe uert«, wenn sie starke Signale von einer bestimmten Untergruppe von Zellen in der Netzhaut empfängt. Beispielsweise könnte eine der Zellen in der Sehrinde feuern, wenn sie Signale empfängt, die einem Satz dunkler Punkte entsprechen, die um 45° geneigt sind. Tatsächlich »sieht« diese Zelle einen gekrümmten dunklen Rand im Gesichtsfeld. Andere Zellen feuern bei hellen Rändern, bei Rändern mit einem anderen Neigungswinkel und so weiter. Der Ausstoß dieser Zellen wird zur weiteren Eingliederung wiederum an andere Zellen weitergeleitet (vielleicht in andere Teile des Gehirns). Der Sehvorgang ist also alles andere als einfach. Neuronen feuern und geben Informationen über eine Kette von Zellen nach oben weiter, während gleichzeitig Rückkopplungssignale durch die Kette zurückgelangen und auf niedrigere Zellen einwirken. Die Herausarbeitung der Details dieser komplexen Kette ist ein wichtiges Forschungsgebiet. Ein anderes besteht darin, der Kette -239-

aufwärts zu immer spezialisierteren Neuronen zu folgen. Beispielsweise gibt es Neuronen in den Schläfenlappen (seitlich im Gehirn), die nur feuern, wenn sie Signale empfangen, die genau definierten Mustern entsprechen - eine Gruppe von Zellen feuert vielleicht stark in Reaktion auf einen dunklen Kreis, der von einer waagrechten Linie durchschnitten wird, eine andere auf die Form eines Sterns, wieder eine andere auf die Umrisse eines Quadrats und so weiter. Vermutlich verknüpfen Neuronen, die in der Kette weiter oben stehen, den Ausstoß dieser Zellen, um noch integriertere Versionen des Gesichtsfelds zu erhalten. So setzt sich unser Bild der Außenwelt im Gehirn durch wiederholte Eingliederungen visueller Elemente zusammen. Wo endet der Prozess? Einmal sprachen einige Neurophysio logen von der »Großmutterzelle« - der einen Zelle im Gehirn, die feuern sollte, wenn alle Reize zu einem Bild der Großmutter passten. Zwar hat diese einfache Vorstellung an Beliebtheit verloren, aber in den nächsten zehn Jahren werden Wissenschaftler die Verbindungen von den Stäbchen und Zapfen bis zu den Zellen im Gehirn, die das Bild schließlich zusammensetzen, wohl nachvollziehen können. Andere Wissenschaftler bemühen sich bereits, die Zellen im Stirnlappen zu lokalisieren, die bei der Aktivierung des Kurzzeitgedächtnisses feuern. Diese Arbeit bedeutet den nächsten Schritt zum Verständnis des Sehvorgangs - die Frage, wie man ein Objekt erkennt, dessen Bild bereits zusammengesetzt wurde. Doch selbst wenn all diese Nervenbahnen erkannt und erforscht sind, ist die drängendste Frage noch nicht gelöst: Was ist das »Ich«, das diese Bilder sieht? Um diese Frage beantworten zu können, muss man über mehr Bescheid wissen als über neuronale Netze - man muss das Bewusstsein selbst verstehen.

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Wie kommt der Kopf zum Geist? Das ist keine rein wissenschaftliche, sondern zugleich eine philosophische Frage, und eine sehr alte dazu. Doch in den nächsten Jahrzehnten, wenn Wissenschaftler die Funktionsweise des Gehirns immer detaillierter erhellen werden (diese Forschungen werden in diesem Buch auch an anderer Stelle angesprochen), wird die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Gehirn und dem Geist immer drängender. Das Gehirn ist ein physisches System. Es enthält etwa 100 Milliarden miteinander verknüpfte Neuronen - etwa so viele Neuronen, wie es in der Milchstraße Sterne gibt. Es ist nicht die reine Anzahl der Zellen, die hier von Bedeutung ist, sondern die Verbindungen zwischen ihnen. Jedes Neuron kann Signale von Tausenden anderer Neuronen empfangen und umgekehrt Signale an Tausende von anderen Neuronen senden. Die Neuronen scheinen hierarchisch organisiert zu sein: Diejenigen, die Signale von den Sinnesorganen empfangen, verarbeiten sie und leiten sie an höhere Neuronensysteme weiter. Am Ende werden diese Signale durch Mechanismen, die (noch!) nicht erforscht sind, von Neuronen in verschiedenen Teilen des Gehirns in die Signale umgewandelt, die Bilder oder Gerüche oder Klänge erzeugen. So funktioniert das Gehirn im Grunde dadurch, dass es Informationen von Neuron zu Neuron weitergibt. Das Beste, was man in einer bestimmten Situation versprechen kann, ist eine genaue Kenntnis des Plans dieser Information. »Erfolge« in der Hirnforschung bestehen also im detaillierten Wissen darüber, welche Signale Neuronen in den unterschiedlichsten Situationen jeweils aussenden. Der Geist ist... was eigentlich? Formale Definitionen sprechen oft von der »Summe der mentalen Aktivitäten«, aber das besagt nicht viel. Andererseits haben wir alle schon »Geist« erfahren. -241-

Schließen Sie die Augen und denken Sie an eine Episode aus Ihrer Kindheit. Wahr scheinlich können Sie ein recht detailliertes visuelles Bild einer bestimmten Umgebung heraufbeschwören, vielleicht sogar einige Klänge und Gerüche. Sie haben diese Bilder »vor Ihrem geistigen Auge«, aber wo genau sind sie? Sie hängen offensichtlich nicht mit einem aktuellen sensorischen Input an das Gehirn zusammen, wenngleich irgendwo Neuronen aktiv sein müssen. Mitte des 20. Jahrhunderts entdeckten Neurochirurgen, die am Gehirn von wachen Patienten operierten, dass sie solche Bilder evozieren konnten, wenn sie bestimmte Teile des Gehirns mit elektrischem Strom versorgten (das Gehirn hat keine Schmerzsensoren, weshalb dieses Vorgehen absolut schmerzfrei ist). Offensichtlich gibt es also eine Verbindung zwischen der Aktivität von Neuronen und unserer Erfahr ung von »Geist«. Aber wie kann diese Verbindung aussehen? Wer ist das »Ich«, das »Ich erinnere mich« sagt, und wo befindet es sich? Eine (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsche) Möglichkeit, sich dieser Frage zu nähern, ist die Vorstellung, irgendwo im Gehirn gebe es ein »Ich«, das die Endprodukte der von Neuronen geleisteten Signalverarbeitung beobachtet. Diese Sichtweise geht im Grunde davon aus, dass etwas im »Geist« die Arbeit des physischen Gehirns transzendiert (oder sich zumindest davon unterscheidet). Der im 17. Jahrhundert lebende französische Philosoph und Mathematiker René Descartes (»Ich denke, also bin ich«) war ein Befürworter dieses Dualismus zwischen Körper und Geist; den hypothetischen Ort, an dem geistige Bilder betrachtet werden, bezeichnet man deshalb oft als »Cartesianisches Theater«. Man kann es sich als kleine Bühne irgendwo im Gehirn vorstellen, wo sich Ihre gesamte Erfahrung abspielt. (Descartes selbst wähnte diesen Ort in der Zirbeldrüse, da sich diese im Zentrum des Gehirns befindet.) Wenn die Vorstellung, der Geist transzendiere das Gehirn, nicht stimmt, gibt es nicht mehr als die Signale der Neuronen. -242-

Aber das funktioniert genauso wenig, und man braucht kein Neurochirurg zu sein, um zu erkennen warum. Angenommen, irgendwann in der Zukunft würde ein Neurochirurg behaupten: »Wenn Sie die Farbe Blau sehen, sendet genau diese Gruppe von Neuronen Signale in genau dieser Reihenfolge. « Stellen Sie sich vor, immer wenn Sie die Farbe Blau sähen, sendeten diese Neuronen Signale aus, aber niemals genau dieselben bei einem anderen Reiz. Sie hätten einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Erfahrung des Sehens von Blau und einem bestimmten Vorgang im Gehirn hergestellt. Doch die Erfahrung selbst hätten Sie nicht erklärt! Sie sind sich schließlich nicht der Signale der Neuronen bewusst, sondern der Farbe Blau, und auch die beste neurologische Forschung der Welt kann diese Kluft nicht überbrücken. Antike Philosophen, die nicht wussten, was ein Neuron ist, bezeichneten dies als Problem der qualia einer Eigenschaft, etwa des Blauseins, die separat betrachtet wird. Um die Erfahrung selbst zu verstehen, muss man eine ganz andere Wissenschaft bemühen - die Psychologie. Es sind viele Forschungen im Gange, um die menschliche Wahrnehmung durch Phänomene wie optische Täuschungen, die entlegene Winkel des Geistes erhellen können, und durch den Vorgang des Lernens selbst zu begreifen. Ich habe den Eindruck, dass sich zwei Gruppen bemühen, die Kluft zwischen Geist und Gehirn zu überbrücken. Auf der einen Seite die Neurowissenschaftler, die von der kleinsten Einheit ausgehen, und auf der anderen Seite die Psychologen, die sich von der größten hinunterarbeiten. Ob die beiden je zusammenkommen werden, ist in meinen Augen völlig offen.

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Sind Männer noch das, was sie mal waren? Die Ausgangssituation ist folgende: Zu Beginn der neunziger Jahre ergaben in Europa mehrere Studien, dass die Spermienzahl seit 1940 kontinuierlich zurückgegangen ist, von etwa 113 Millionen pro Kubikmillimeter im Jahre 1940 auf ungefähr 66 Millionen im Jahre 1990. Angesichts dieser Daten stellen sich zwei wichtige Fragen: (1) Stimmen die Zahlen, und bedeuten sie wirklich, was sie nahe legen? (2) Wenn ja, was könnte für den Trend verantwortlich sein, der in den Daten zum Ausdruck kommt? Auf den ersten Blick würde man vermuten, es könne keinen Zweifel daran geben, was diese Zahlen bedeuten. Schließlich existieren in den meisten Ländern der entwickelten Welt Krankenberichte mit Daten zu Spermienzahlen. Das Problem ist, dass man Untersuchungen zur Bestimmung der Spermienzahl, die von verschiedenen Forschern unter unterschiedlichen Bedingungen, Kriterien und Mikroskopen durchgeführt wurden, nun zusammenführen muss, um mit den Daten etwas anfangen zu können. Innerhalb von fünfzig Jahren können sich all diese Faktoren deutlich verändern. Wäre das Ergebnis identisch, wenn man heute einem Laboranten in Dänemark zur Untersuchung der Spermienzahl genau dieselbe Probe gäbe wie 1940 einem Laboranten in Dallas? Einige Wissenschaftler behaupten etwa, dass sich die Kriterien der Spermienzählung sowie das verwendete Stichprobenverfahren von Land zu Land und im Lauf der Zeit deutlich voneinander unterschieden und der offensichtliche Rückgang der Fruchtbarkeit vielleicht ganz oder teilweise auf unterschiedliche Anweisungen an Laboranten zurückzuführen sei. Außerdem berichteten Forscher in den Vereinigten Staaten -244-

1996 über eine Langzeitstudie (25 Jahre) von Spermaproben bei Männern, die sich einer Vasektomie unterzogen. Die Forscher stellten keinerlei Rückgang der Spermienzahl fest, wohl aber deutliche regionale Unterschiede - Männer in New York hatten offenbar eine höhere Spermienzahl als Männer in Kalifornien. So drängt sich die Vermutung auf, dass die europäischen Studien, die sich für die Frühzeit vor allem auf New Yorker Daten stützen, eher regionale als zeitliche Unterschiede festgestellt haben. Das bringt uns zur zweiten Frage: Was könnte für einen Rückgang verantwortlich sein? Im Verdacht steht eine Molekülgruppe, die in der Industrie häufig eingesetzt wird und in den meisten Industrieländern in kleinen Mengen in der Umwelt zu finden ist. Diese chlorierten Kohlenwasserstoffe, die Chlormoleküle enthalten, sind ein wichtiger Bestandteil von PVC-Kunststoffen (die vor allem bei der Sanitärinstallation Verwendung finden) sowie von vielen gebräuchlichen Pestiziden und Herbiziden. Tatsächlich enthalten etwa zwei Drittel der in den Vereinigten Staaten verwendeten Kunststoffe und ein Fünftel aller modernen Arzneimittel Chlorverbindungen. Viele dieser Moleküle besitzen eine Form, die es ihnen offensichtlich erlaubt, das weibliche Hormon Östrogen nachzuahmen, wenn sie in den menschlichen Körper aufgenommen werden. Wie bei allen molekularen Vorgängen hängt auch das Verhalten von Östrogen (das in der Biochemie der Geschlechter eine wichtige Rolle spielt) von dessen Form ab. Es wird in eine Zelle aufgenommen, da es das »Schloss« ist, das zum »Schlüssel« der Rezeptormoleküle der Zelle passt. Die Erklärung für den angeblichen Rückgang der Spermienzahl lautet, dass bestimmte chlorierte Kohlenwasserstoffe genau die richtige Form besitzen, um auf diese Rezeptoren zu passen. Nach dieser Theorie kommen die Moleküle aus der Umwelt noch zu den östrogenartigen Molekülen hinzu, die normalerweise im Körper vorkommen (und von ihm produziert -245-

werden). In der Frühphase der Entwicklung des menschlichen Fötus können Gene chemische Botenstoffe produzieren, die praktisch chemische Schalter betätigen und dadurch die Produktion männlicher Hormone anregen. Werden die Schalter nicht betätigt, wird der Fötus weiblich. Technisch ausgedrückt ist die weibliche Entwicklung der »Vorbelegungsmodus« für den Fötus. Bei der extremen Bedeutung chemischer Signale in dieser entscheidenden Entwicklungsphase ist es nicht unvernünftig zu behaupten, dass zusätzliche östrogenartige Moleküle, die vielleicht über den Blutkreislauf der Mutter übertragen wurden, die männliche Entwicklung beeinträchtigen könnten. In Tierversuchen haben sich gewisse Hinweise darauf ergeben, dass sich bestimmte Verbindungen entsprechend verhalten. Dagegen verweisen Kritiker dieser Theorie darauf, dass chlorierte Kohlenwasserstoffe auch in natürlicher Form auftreten (Seegras ist beispielsweise voll davon), und fragen, warum künstlich hergestellte Moleküle eine andere Wirkung haben sollten als natürlich entstandene. Wenn man je einen »rauchenden Colt« finden sollte, der eine Verbindung zwischen der Embryonalentwicklung und chlorierten Kohlenwasserstoffen herstellt, wird man diese zweifelsohne aus der Natur entfernen müssen. Im Hinblick auf die dabei anfallenden Kosten muss man sich des Zusammenhangs aber sehr sicher sein, bevor man aktiv wird. Das ist der Punkt, auf den sich die Diskussion in den nächsten Jahren wohl konzentrieren wird.

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Was kostet das Ökosystem? Da die Erdbevö lkerung wächst und die Umweltbewegung politisch immer mehr an Einfluss gewinnt, wird diese Frage immer häufiger gestellt werden. Sollte man dieses Feuchtgebiet erhalten oder für ein Einkaufszentrum planieren? Sollte man diesen Wald für ein Wohngebiet roden? Dabei werden im Grunde Werte angesprochen. Wie ist uns das Ökosystem mehr wert: In seinem jetzigen Zustand oder nach einer Umgestaltung? Im Augenblick gibt es drei Ansätze zu diesem Problem: Wie viel würden Sie zahlen? Sozialwissenschaftler nähern sich der Frage nach dem Wert eines Ökosystems gerne über den Marktwert. Eine typische Studie würde einer Testgruppe etwa die folgende Frage stellen: »Wie viel würden Sie bezahlen, damit Gebiet A so bleibt wie bisher?« Antworten werden von einem breiten Spektrum an Leuten gesammelt, bevor die Daten nach Einkommen, Wohnort und anderen Variablen bereinigt werden (wohlhabende Menschen sind normalerweise mehr zu geben bereit als arme, die Anwohner in der Nähe eines geplanten Projekts haben eine andere Meinung als diejenigen, die weiter entfernt leben, und dergleichen mehr). Zum Schluss erhält man eine Zahl, die den Marktwert dieses Ökosystems in der Einschätzung der Bevölkerung darstellt. Wenn Amerikaner im Durchschnitt etwa meinten, es sei ihnen 100 Dollar wert, den Yellowstone Park in seiner jetzigen Form zu erhalten, beliefe sich der Wert des Parks auf 28 Milliarden Dollar (100 Dollar mal 280 Millionen Amerikaner). Diese Bewertungsmethode funktioniert für Erholungsgebiete wie Parks, wäre aber nicht so sinnvoll, wenn das Ökosystem noch andere als Erholungsfunktionen hätte. Wenn die Befragten diese Funktionen nicht kennen oder verstehen, werden sie als -247-

Antwort auch keinen realistischen Wert nennen können. Verborgene Schätze Praktisch alle heutigen Arzneimittel stammen ursprünglich aus der Natur. Aspirin, Digitalis und Kodein (um nur ein paar zu nennen) sind Beispiele für weit verbreitete Medikamente, die aus Pflanzen gewonnen wurden. Das Argument der »verborgenen Schätze« lautet daher, in der unerforschten Fauna und Flo ra von Regionen wie dem tropischen Regenwald steckten Arzneimittel, die für die Menschheit von ungeheurem Nutzen seien, und so müsse der potentielle Nutzen, der in diesen Medikamenten stecke, auf den angenommenen Wert des Ökosystems aufgeschlagen werden. Aus rein biologischer Sicht ist dieses Argument überzeugend. Der Prozess der natürlichen Auslese fand über viele hundert Millionen Jahre hinweg statt und hat die chemischen Vorgänge in allen möglichen Organismen verfeinert. So produziert eine einzige Pflanze vielleicht Dutzende oder sogar Hunderte verschiedener Pestizide, um sich vor Insekten zu schützen - und diese Insekten produzieren mit der Zeit wiederum Gegenmittel dazu. Verglichen mit der gesammelten chemischen Expertise eines Regenwalds sind Du Pont und Dow Chemicals kleine Fische. Auf den ersten Blick erscheint das Argument für die Erhaltung von Ökosystemen (vor allem der Regenwälder) aufgrund ihrer verborgenen Schätze also sinnvoll. Ich muss aber gestehen, dass es mich nicht überzeugt. Zunächst bedeutet es ja gar nicht, dass man ein Ökosystem tatsächlich erhalten sollte. Man hätte auch dann noch den Nutzen der verborgenen Schätze, wenn man eine Kopie der DNS von jedem Organismus in einem Hektar Regenwald aufbewahren und den Wald anschließend abholzen würde. Vor allem aber lässt dieses Argument die (an anderer Stelle in diesem Buch diskutierte) Tatsache außer acht, dass Chemiker in der pharmazeutischen Industrie die Medikamente künftig eher -248-

selbst entwerfen als in der Natur danach suchen werden. Während sich diese Tendenz beschleunigt (und sie ist bereits in Fahrt), sinkt zugleich der Wert der verborgenen Schätze. Ich mag keine Argumente für eine bestimmte Politik, die so eindeutig vom technologischen Fortschritt abhängen. Nicht anerkannte Dienste Wenn Sie ausatmen, entweicht das Kohlendioxid aus Ihren Lungen in die Luft und wird schließlich von einer Pflanze aufgenommen, die den Sauerstoff ersetzt, den Sie bei diesem Atemzug verbraucht haben. Mit anderen Worten: Das globale Ökosystem reinigt die Luft, die wir atmen. Systeme wie die Everglades (Sumpfgebiete) in Florida tun dasselbe mit dem Wasser, das durch sie hindurchfließt. Das Argument der »nicht anerkannten Dienste« für die Erhaltung von Ökosystemen basiert auf der Tatsache, dass viel von dem, was wir auf der Welt für selbstverständlich halten (wie Luft und Wasser), das Ergebnis des Wirkens des gesamten Ökosystems Erde ist. Wirtschaftswissenschaftler haben diese Faktoren nie in ihre Berechnungen einbezogen, und so lautet das Argument, sie würden andernfalls erkennen, dass die Erhaltung eines Ökosystems viel mehr wert sei, als ihre Bilanzen auswiesen. Was würden Sie etwa antworten, wenn man Sie fragte: »Wie viel würden Sie für Ihren nächsten Atemzug bezahlen?« Ich sollte allerdings darauf hinweisen, dass die Anerkennung eines solchen Arguments ein völlig anderes Herangehen an Umweltfragen voraussetzt. Anstatt so über Ökosysteme und Artenvielfalt zu sprechen, als stellten sie einen Wert an sich dar, würden wir uns auf ihren Wert für ein Mitglied des Ökosystems - den Homo sapiens - konzentrieren. Letztlich denke ich aber, dass das Argument der »nicht anerkannten Dienste« das einzige ist, das auf lange Sicht genug Unterstützung für den Umweltschutz mobilisieren kann.

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Der Angriff der Killerbienen Okay, ich sehe ein, dass ein Artikel über die Einführung der so genannten Killerbienen nach Nord- und Südamerika in einem Buch, in dem es um den Ursprung des Universums und das Schicksal der Menschheit geht, vielleicht etwas deplaziert wirkt. Trotzdem ist es ein Beispiel von vielen, was in Zukunft ein wichtiges ökologisches Thema sein wird - die Einführung exotischer Arten in neue Gebiete. Die Kaninchen in Australien, die Zebramuscheln in den Großen Seen und die Kudzubohne im Süden der USA sind allesamt Beispiele für dieses Phänomen. Eine neue Art wird entweder absichtlich oder durch Zufall eingeführt und gerät dann, in Ermangelung natürlicher Feinde, völlig außer Kontrolle. Und die Geschichte der Killerbienen illustriert diesen Vorgang so gut wie jede andere. Doch der eigentliche Grund, weshalb ich diese Geschichte anführe, ist viel einfacher. In den siebziger Jahren kaufte ich eine aufgelassene Farm in den Blue Ridge Mountains. Ich baute eigenhändig ein Haus, machte auf »Zurück zur Natur« und hielt Bienen. Mit bis zu sechs Bienenvölkern lernte ich diese Wesen gut kennen und ließ mich auf den alten Handel der Imker ein: Ich gebe ihnen Schutz und ein bisschen Aufmerksamkeit, dafür geben sie mir Honig. Es ist schon zehn Jahre her, dass die letzte meiner Bienen in unbekannte Gefilde davonschwirrte, aber ein paar Pfund von ihrem Honig lagern immer noch in meinem Keller. Die Beziehung zwischen Menschen und domestizierten Bienen reicht weit zurück; Bilder von Imkern finden sich sogar an ägyptischen Grabwänden. Die gewöhnliche schwarzbraune Honigbiene, Apis mellifera, ist wahrscheinlich ein Abkömmling von Bienen, die vor Jahrtausenden im Mittleren Osten domestiziert wurden. Sie kamen im Gefolge europäischer -250-

Siedler in die USA und heißen heute europäische Bienen. Es sind staatenbildende Insekten, die in Völkern um eine einzige Königin herum leben, die ihren Bienenstock nur einmal im Leben zu einem Paarungsflug verlässt, bei dem sie eine Drohne aus einem anderen Volk wählt. Befruchtet kehrt sie zum Bienenstock zurück und legt einige Jahre lang Eier, bevor sie durch eine neue Königin ersetzt wird. Imker, die den Brutprozess steuern wollen, tun dies normalerweise durch einen komplizierten Vorgang, bei dem sie die alte Königin aus dem Stock entfernen (Entweiselung) und durch eine neue ersetzen, die zuvor mit einer Drohne aus einem bekannten Bienenstock gepaart wurde. Europäische Bienen haben ihre Aktivität im Laufe ihrer Entwicklung an die Länge des Tages angepasst. Wenn die Tage kurz werden, machen sie den Bienenstock allmählich zu, werfen die männlichen Drohnen hinaus (»Wir brauchen dich nicht mehr, Kumpel«) und richten sich auf den Winter ein. Sobald die Tage wieder länger werden, legt die Königin mehr Eier, und das Volk im Bienenkorb wächst an. Auf diese Weise gibt es bei der Blüte im Frühjahr eine Vielzahl von Arbeitern. Dieser Ablauf klappt gut in den gemäßigten Zonen. In den Tropen hapert es jedoch damit. Die Blumen blühen am üppigsten zur Regenzeit, was nicht unbedingt mit der Phase der langen Tage zusammenfällt; die Bienen sind also nicht so produktiv, wie es Imker gerne hätten. 1956 entschlossen sich einige Imker in Brasilien, siebenundvierzig afrikanische Königinnen einzuführen, um zu sehen, ob sie mehr Honig produzieren. 1957 entfernte ein Besucher einer Versuchsstation in Brasilien von einigen Bienenstöcken das Gitter, das die Königinnen am Ausfliegen hinderte. Niemand weiß, wer das tat und warum, aber bis man es gemerkt hatte, waren sechsundzwanzig afrikanische Bienenvölker geflohen (oder, um den farbigen Ausdruck des Imkers zu zitieren, »durchgebrannt«). Killerbienen, Apis mellifera sceutellata, drangen in das -251-

Bewusstsein der Hemisphäre. Während sich die Bienen mit anderen Populationen mischten und nach Norden vordrangen - 1977 nach Venezuela, 1982 nach Panama, 1993 nach Südtexas -, wurden einige Dinge deutlich. Die Kreuzungen produzierten hybride Spielarten mit neuen Merkmalen, unter anderem mit einer abnehmenden Neigung zur Produktion von Honig und einer deutlich verstärkten Neigung zur aggressiven Verteidigung des Bienenstocks. Diese letztgenannte Eigenschaft brachte ihnen auch ihren Spitznamen ein. Alle Bienen verteidigen ihre Stöcke ich erinnere mich, wie ich an einem wolkigen Tag ein paar hundert Meter von wütenden Bienen verfolgt wurde, als ich einen meiner aggressiveren Bienenstöcke öffnete. Afrikanisierte Bienen unterscheiden sich allerdings durch das Ausmaß ihrer Verteidigungsbereitschaft - sie können stundenlang angreifen und dem Eindringling Tausende von Stichen zufügen. Sie sind verantwortlich für einen dokumentierten Todesfall in den Vereinigten Staaten und alles in allem vielleicht für tausend seit ihrer Freisetzung. Wie bei den meisten eingeführten »Exoten« wird auch die Wirkung der Killerbienen am Ende doch begrenzt sein. Erstens erreichen sie die Grenzen ihrer natürlichen Verbreitung, und zweitens ergreift der Mensch Maßnahmen zu ihrer Begrenzung. Man geht davon aus, dass sich afrikanisierte Bienen bis zum Jahr 2000 zwar über den äußersten Süden der USA, aufgrund des Klimas aber nicht weiter nach Norden ausbreiten werden. Außerdem greifen Imker zu zwei Strategien, um die Ausbreitung der Invasoren einzudämmen. Die eine ist das Einsetzen neuer Königinnen, um die genetische Abstammungslinie in einheimischen Bienenvölkern nicht abreißen zu lassen. Die andere bezeichnet man als Drohnenüberschwemmung. Bei dieser Methode wird eine große Zahl europäischer Drohnen in Gegenden freigelassen, wo sich Königinnen zur Paarung einfinden (diese Gebiete spielen etwa -252-

dieselbe Rolle für Bienen wie überdachte Einkaufszentren für Teenager). Dadurch erhöhen sich die Chancen, dass neue Bienenvölker nicht afrikanisiert werden. Zuletzt wird man die Killerbienen also doch in den Griff bekommen. Aber um wie viel einfacher wäre es gewesen, jene Bienenhäuser in Brasilien gar nicht erst aufzumachen!

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6. Medizin (vor allem der Moleküle)

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Krankheitsursachen? Befragen Sie Ihre Gene! Wenn ich mir den heutigen Stand der Medizin vor Augen halte, fühle ich mich an die Anzeige einer Versicherungsgesellschaft erinnert, die vor einigen Jahren in Zeitschr iften geschaltet wurde. Darauf waren zwei Menschen zu sehen, die im Gebirge ins Gespräch vertieft waren, während über ihnen völlig unbemerkt eine große Lawine abging. Wie diese Comicfiguren werden auch wir von einer Lawine verschüttet, nur besteht sie aus Wissen und Technologie anstatt aus Fels und Schnee. In den fünfziger Jahren wurde erstmals die Doppelhelix der DNS entwirrt. Seit dieser Zeit ist das Wissen über die grundlegenden chemischen Abläufe in der Zelle exponentiell gewachsen. Während ich dies schreibe, werden so rasch neue Entdeckungen gemacht, dass bald jeder ein kleiner Molekularbiologe sein muss, um sich mit seinem Arzt verständigen zu können. Und das hat man über das Funktionieren von Lebewesen herausgefunden: Wenn man die Doppelhelix des DNS-Moleküls als eine Art gewundene Leiter betrachtet, besteht jede Sprosse der Leiter aus zwei miteinander verbundenen Molekülen, den so genannten Basen. Für jede Base gibt es vier Möglichkeiten, nämlich Moleküle mit den Bezeichnungen Adenin, Zytosin (engl.: cytosine), Guanin und Thymin, kurz A, C, G und T. Die Buchstabenfolge der Leiter ist die genetische Botschaft, die Ihren Körper steuert und die Sie Ihren Nachkommen weitergeben. Beim Menschen ist die Botschaft etwa 3 Milliarden Basen lang und auf den so genannten Chromosomen enthalten, die in unseren Zellkernen sitzen. Wie ich auf diesen Seiten immer wieder betone (ich denke, man kann es nicht oft -255-

genug sagen), basiert das Leben auf Chemie, und die Anweisungen zum Betrieb der chemischen Mini-Fabriken, die wir Zellen nennen, sind in der DNS enthalten. Bestimmte DNSAbschnitte, die so genannten Gene, enthalten die Codes zum Aufbau der Proteinmoleküle, die für die chemischen Reaktionen in der Zelle verantwortlich sind, wobei jedes Gen eine Reaktion steuert. Es gibt etwa 80 000 Gene in der menschlichen DNS, aber eine bestimmte Zelle setzt zu einem bestimmten Zeitpunkt höchstens einige tausend davon ein. Menschliche Krankheiten haben oft damit zu tun, dass etwas mit den chemischen Abläufen in den Zellen nicht stimmt entweder findet eine chemische Reaktion nicht statt, oder sie wird nicht richtig gesteuert. Dies bedeutet, dass die Krankheit auf Probleme in der DNS zurückgeführt werden kann, etwa auf gelegentliche Fehler beim Kopieren von Basen. Solche »Punktmutationen« würden einfachen Shreibfelern in einem geschribenen Satz entsprächen. Ein anderer Fehler wäre beispielsweise das ständige ständige ständige ständige ständige Kopieren derselben Sequenz, bis der Zellstoffwechsel damit überfordert ist. Wieder ein anderer Fehler bestünde Auslassung von einem Teil des Codes. Der Punkt ist folgender: Jeder Fehler im Code kann eine bestimmte Krankheit auslösen, und mittlerweile gibt es die Möglichkeit, diesen Defekt in einer DNS-Probe herauszufinden. So sind nicht weniger als 450 verschiedene Krankheiten, von Gicht bis zu einigen seltenen angeborenen Krankheiten, von denen ich bei Gott hoffe, dass Sie niemals davon hören werden, an bestimmten Stellen des XChromosoms lokalisiert worden. Diese Zahl wird sicherlich noch steigen, da es auf diesem Chromosom etwa 5000 Gene gibt, von denen prinzipiell jedes für eine oder mehrere Krankheiten verantwortlich sein könnte. Was Ihren Arztbesuch in absehbarer Zeit verändern wird, ist die Tatsache, dass eine Kombination aus Robotik und einfachen chemischen Tests die Gentests so billig (und wahrscheinlich so -256-

verbreitet) machen wird wie heute Bluttests. Die Methode ist im Grunde einfach: Proben entsprechend präparierter DNS lässt man auf ein kleines Raster fallen. In jedem Quadrat des Rasters befindet sich ein chemischer Stoff, der sich mit einer bestimmten fehlerhaft kopierten DNS verbindet. (Quadrat l verbindet sich vielleicht mit einer fehlerhaften Schreibweise eines bestimmten Gens, Quadrat 2 mit einer fehlerhaften Wiederholung und so weiter.) Dieser Test ist so konzipiert, dass die Quadrate, in denen chemische Reaktionen stattfinden, ihre Farbe oder eine andere Eigenschaft verändern, während jene, die keinen Fehler aufnehmen, unverändert bleiben. Zuletzt liest ein Computer einfach das Raster und gibt detailliert darüber Auskunft, welche Anomalien in Ihrer DNS gefunden wurden. Heute kostet ein normales Blut-Screening in der Arztpraxis etwas mehr als hundert Dollar und testet auf etwa zwanzig verschiedene Krankheiten. Das sind ungefähr fünf Dollar pro Krankheit. Forscher, die an den eben beschriebenen automatisierten Gentests arbeiten, wollen die Kosten ungefähr auf die Hälfte drücken. Mit anderen Worten: Diese Technologie steht vor keinen technischen oder ökonomischen Hürden, wenngleich, wie an anderer Stelle besprochen, vor einer breiten Anwendung noch viele ethische Fragen zu klären sind. Naturgemäß wurden diese Tests erstmals durchgeführt, um die Diagnose von Patienten zu bestätigen, die bereits Symptome einer Krankheit aufwiesen. Irgendwann könnte jedoch durch routinemäßig durchgeführte genetische Screenings herausgefunden werden, welcher Personenkreis für bestimmte Krankheiten anfällig ist. Genetische Beratung dürfte etwa für künftige Partner sehr nützlich sein und sie auf mögliche Probleme aufmerksam machen, falls sie beide Träger desselben fehlerhaften Gens sind.

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Was geschieht, wenn Antibiotika nicht mehr wirken? Ein paar Wochen, bevor ich dies schrieb, musste ich eine ziemlich entnervende Erfahrung machen. Als Teil meines Trainingsprogramms gehe ich regelmäßig schwimmen, und wie es manchmal so geht, wachte ich eines Morgens mit einer Ohreninfektion auf. Kein Grund zur Beunruhigung, dachte ich ein kurzer Besuch beim Arzt, Antibiotika, und die Sache ist wieder in Ordnung. Als ich die Tabletten dann aber einnahm, geschah etwas Erschreckendes. Die Antibiotika sprachen nicht an! Ich hatte mir eine Mikrobe zugezogen, die resistent war gegen das, was mir der Arzt verschrieb. In meinem Fall war die Lösung einfach - ich wurde auf ein anderes Antibiotikum gesetzt, und die Infektion ging vorbei. Doch was für mich nur lästig war, mag in nicht allzu ferner Zukunft zu einer lebensbedrohenden Gefahr für die Allgemeinheit werden. Tatsache ist nämlich, dass unsere Flitterwochen mit Wundermitteln langsam zu Ende gehen und wir uns in Zukunft mächtig anstrengen müssen, gegenüber den Krankheitserregern, die uns überall umgeben, die Nase vorn zu behalten. Der Grund für die Entwicklung solcher antibiotikaresistenter Bakterien liegt in Darwins Evolutionstheorie. In jeder Population von Mikroben gibt es einige Exemplare, deren Gene mutiert sind, und einige dieser Mutationen bewirken, dass ihre Träger einen Angriff der Antibiotika überleben. So wirkt Penicillin durch das so genannte Betalaktam, ein Molekül, das die Bildung der Zellwände von Bakterien verhindert. Bald nach der Einführung des Penicillins wurden einige Bakterien entdeckt, die ein Molekül produzieren konnten, das Betalaktam aufbrach. Für diese Mutanten war Penicillin ein Geschenk des -258-

Himmels. Abgesehen davon, dass es ihnen nichts anhaben konnte, tötete es ihre Konkurrenten ab und sorgte für freie Bahn. Über die Jahre hinweg lieferten sich Wissenschaftler und Mikroben einen erbitterten Krieg. Erstere entwickelten eine neue Art von Penicillin mit einer leicht veränderten Form von Betalaktam, dem die resistenten Bakterien nichts entgegenzusetzen hatten. Dies funktionierte eine Weile, aber irgendwann wurden die Bakterien gegen das neue Heilmittel resistent, und der gesamte Prozess begann von vorne. Die weite Verbreitung von Antibiotika in der Medizin und in der Landwirtschaft (häufig füttert man Vieh routinemäßig Antibiotika zu, um es gesund zu erhalten) hat im Verlauf der letzten fünfzig Jahre zur Existenz eines großen Pools von Bakterien geführt, die gegen ein oder mehrere Antibiotika resistent sind. Die verbreitete Resistenz gegen Heilmittel wird noch dadurch gefördert, dass verschiedenartige Bakterien beim Vorgang der Konjugation oft Gene miteinander tauschen. Wenn ein Stamm gegen ein bestimmtes Medikament resistent wird, können dies somit auch die anderen schaffen. Ein Beispiel: Obwohl über hundert verschiedene Antibiotika auf dem Markt sind, ist im Augenblick mindestens ein Stamm von Staphylokokken gegen alle resistent - mit einer Ausnahme. Es ist zwar ein Furcht einflößender Gedanke, dass Krankheiten wie Cholera und Typhus die Menschheit wieder dezimieren könnten, aber ich muss sagen, dass mir diese Bedrohung keine schlaflosen Nächte bereitet. Die Hauptgründe, weshalb wir derzeit hinter die Bakterien zurückgefallen sind, sind wirtschaftlicher und nicht wissenschaftlicher Natur. Pharmakonzerne haben einfach nicht geglaubt, mit der Einführung weiterer Antibiotika ließe sich Geld verdienen. Es ist auch nach der Labophase noch sehr teuer, ein neues Medikament auf den Markt zu bringen, und bisher gab es keine große Notwendigkeit, in dieser Richtung mehr Geld oder Anstrengungen aufzubringen. Seit in den letzten Jahren die -259-

Notwendigkeit neuer Antibiotika deutlich geworden ist, legen die Firmen aber doch einen Zahn zu. Dazu werden mehrere Strategien ausprobiert. Eine davon ist sehr direkt - wenn die Wirkung eines Antibiotikums von einem Molekül blockiert wird, das von den Bakterien produziert wurde, gibt man dem Antibiotikum etwas hinzu, was die Wirkung dieses Moleküls blockiert. Wenn sich beispielsweise ein Molekül finden lässt, das sich mit dem Molekül verbindet, das Betalaktam aufbricht und träge macht, funktioniert das Penicillin wie gehabt. Diese Methode hat den Vorteil, einigen »Golden Oldies« des Antibiotikum-Kriegs ein Comeback zu ermöglichen. Einige Firmen sprechen etwa davon, Tetrazyklin eine neue Chance zu geben und die Moleküle zu blockieren, mit deren Hilfe resistente Bakterien das Medikament hinauspumpen, bevor es wirken kann. Dies ist ein Gebiet, auf dem »Designermedikamente« in meinen Augen eine wichtige Rolle spielen dürften. Man weiß bereits eine ganze Menge über die Struktur von Molekülen, die Bakterien resistent machen; die Entwicklung von Begleitmedikamenten zu Antibiotika ist also zumindest teilweise bereits vollzogen. Und schließlich gibt es Hoffnung auf Antibiotika, die auf eine völlig andere Weise wirken. Die heutigen Antibiotika verhindern den Bau der Zellwand, die Bildung von Proteinen oder das Wirken der DNS, aber dies sind nicht die einzig möglichen Angriffspunkte. In den achtziger Jahren wurde eine Klasse von Bodenbakterien entdeckt, die ganz anders funktionieren. Aus den oben angeführten wirtschaftlichen Gründen wurden sie nie so weit entwickelt oder auch nur analysiert, dass man ihre Wirkungsweise begriffen hätte. Alleine die Tatsache ihrer Existenz sagt uns aber, dass wir in der nie endenden Schlacht gegen die Krankheit noch weitere Geschütze in der Hinterhand haben.

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Neue Wunderkugeln? Im Jargon der medizinischen Forschung ist eine »Wunderkugel« ein (normalerweise in Form einer Arznei verabreichtes) Molekül, das die Wirkung krankheitsverursachender Moleküle hemmt, ohne sonst den Organismus anzugreifen. Eine Art »Wunderkugel« erhält die Form eines Medikaments, das so konstruiert ist, dass es die Wirkung bestimmter Proteine hemmt. (Proteine sind die Moleküle, die - unter anderem chemische Reaktionen in Zellen erleichtern; ohne sie finden die Reaktionen nicht statt.) Bei der Suche nach Wunderkugeln wurden auf diesem Gebiet die größten Anstrengungen unternommen. Jüngst ging man die Suche jedoch anders an. Anstatt zu versuchen, die Wirkung eines Proteins erst nach dessen Entstehung zu hemmen, fragen sich manche Forscher, warum man nicht bereits an dem Vorgang ansetzen sollte, der überhaupt erst zur Entstehung führt? Dieser Ansatz ist noch nicht so weit gediehen wie andere Bemühungen um Wunderkugeln, aber eine ganze Reihe darauf basierender Medikamente werden bereits klinisch erprobt. Da die Methoden von einem detaillierten Verständnis des genetischen Systems des Menschen abhängen, werden sie mitunter als »genetische Medizin« bezeichnet (nicht zu verwechseln mit Gentherapie, die ganz anders funktioniert). Um zu begreifen, wie Wunderkugeln funktionieren, muss man ein wenig über den Zellstoffwechsel wissen. Die Anweisungen zum Bau von Proteinen sind in Abschnitten des DNS-Moleküls enthalten, die man als Gene bezeichnet. In der menschlichen DNS gibt es etwa 80 000 Gene, und jedes Gen kodiert für jeweils ein Protein. Die Information auf den Genen wird auf kürzere Moleküle transkribiert, die so genannte RNS, wobei die RNS zum Gen dasselbe Verhältnis hat wie ein Foto zu seinem -261-

Negativ. RNS-Moleküle bilden ein langes Band, und die Information ist in einer Folge kleinerer Moleküle enthalten, den Basen, die von diesem Band herausstehen. Es gibt vier verschiedene Basen, die man (nach den Anfangsbuchstaben ihrer chemischen Namen Adenin, Uracil, Guanin und Zytosin [engl.: cytosine]) normalerweise mit A, U, G und C bezeichnet. Die Botschaft in der RNS könnte also lauten: AAUG-GCU... Im Zellkörper gibt es eine Menge Moleküle, deren Aufgabe es ist, diese Botschaft zu lesen und zum Bau eines Proteins zu verwenden. Ein Ansatz zur Hemmung der Produktion eines Proteins ist der Angriff auf den RNS-Boten, der die Information von der DNS zur Zelle bringt. Diese so genannte »Antisense-Methode« (entgegengesetzte Richtung) funktioniert wie folgt: Wissenschaftler konstruieren ein Molekül, das einen kleinen Teil des »Fotos« darstellt, von dem die RNS das Negativ ist. Wenn diese Moleküle in die Zelle eingeführt werden, verbinden sie sich mit den entsprechenden Teilen der RNS. Dadurch bleibt die RNS für die Zelle unlesbar; diese erhält also nie den Auftrag, das Protein herzustellen. Ein wichtiger klinischer Test der Antisense-Methode zielt auf RNS ab, die für ein Protein kodiert, das für die Reproduktion des (für Feigwarzen verantwortlichen) menschlichen Papillomavirus entscheidend ist. Ohne dieses Protein kann sich das Virus nicht reproduzieren und damit nicht im Körper ausbreiten. Wenn die klinischen Versuche erfolgreich sind, wird diese Arznei vielleicht als erste der neuen Wunderkugeln auf den Markt kommen. Außerdem sind weitere Tests von Arzneimitteln im Gange, die AIDS und eine Form von Leukämie bekämpfen sollen. Bei einem anderen Ansatz der genetischen Medizin, der nicht ganz so weit fortgeschritten ist wie die »Antisense-Methode«, konzentriert man sich auf den ersten Schritt beim Prozess der Herstellung von Protein, das Kopieren von Informationen von -262-

der DNS auf die RNS. Anders als die Antisense-Methode, die die Wirkung der RNS erst nach deren Entstehung hemmt, verhindern diese Verfahren bereits die Entstehung der RNS. Der DNS-Abschnitt, den man als Gen bezeichnet, besteht in Wirklichkeit aus mehreren Teilen. Ein Teil enthält den Code zum Bau des Proteins, aber davor liegt ein Abschnitt, der den Prozess der Transkription einleitet - eine Art Schalter oder Steuerung. Wenn sich bestimmte Proteine an dieser Region festsetzen, kopiert die Zelle Botschaften auf die RNS. Die Kodierungsabschnitte sind zum Schutz vor anderen Molekülen in der Zelle normalerweise in Proteine eingepackt, während die Steuerungsregionen nicht so geschützt sind. So denkt man an die Herstellung eines Moleküls, das sich mit der Steuerungsregion eines bestimmten Gens verbindet und dadurch verhindert, dass sich die speziellen Proteine festsetzen und den Transkriptionsvorgang auslösen. Dies wird durch den Bau eines Moleküls bewerkstelligt, das sich um die Doppelhelix der DNS wickelt und die Proteine behindert, die eigentlich dort passen würden. Tatsächlich wickelt sich ein dritter Strang entlang der Helix um die DNS, weshalb man diese Methode gerne als »Triplexstrategie« bezeichnet. Im Reagenzglas scheint sie gegen einige krebserregende Gene zu wirken. Ob die Triplexmoleküle in einer Form herzustellen sind, die Zellmembranen durchdringt, die feindliche Umgebung der Zelle überlebt (die viele Mechanismen enthält, um Fremdkörper zu zerstören) und sich mit DNS im Kern verbindet, wird man sehen. Unabhängig von ihrem späteren Erfolg sind sowohl der »Antisense-« als auch der »Triplex-«Ansatz hervorragende Beispiele dafür, wie durch ein Verständnis der genetischen Abläufe in der Zelle Krankheiten bekämpft werden können.

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Wie funktioniert das Immunsystem? Wie jeder andere Teil des menschlichen Körpers hängt die Funktionsweise des Immunsystems, das uns vor vielerlei Bedrohungen schützt, letztlich von der geometrischen Form der Moleküle ab. Wie zu erwarten ist, wenn sich etwas im Lauf von Jahrmillionen herausgebildet hat, ist das Immunsystem komplex und facettenreich. Man weiß im Prinzip, wie es funktioniert, aber es gibt Probleme, es im Detail zu erklären (und zu verstehen), da man über das Wirken der Moleküle im Körper immer noch Neues erfährt. Man kann relativ leicht erkennen, wie die einzelnen Teile des Immunsystems im Hinblick auf das Zusammenwirken der Moleküle funktionieren, aber es sind so viele Schritte und Prozesse beteiligt, dass sich jede Erklärung in einem Nebel aus seltsam klingenden Molekülen mit undurchsichtigen Aufgaben zu verlieren droht. Seien Sie also gewarnt! Das zentrale Ereignis in einer Immunreaktion ist die Erkennung des »Feindes« durch den Körper, ob es sich dabei um ein eindringendes Virus oder um eine eigene Zelle handelt, die einen Tumor ausbildet. Die erste Verteidigungslinie besteht aus einer bestimmten Sorte von Leukozyten, den BLymphozyten (das B steht für Knochenmark, engl.: bone marrow, wo die Zelle produziert wird). Jede B-Zelle enthält an ihrer Oberfläche Proteinmoleküle, die zu komplexen Formen gefaltet sind. Stellen Sie sich diese Moleküle als Schlüssel vor. Die B-Zelle sucht ein fremdes Objekt mit einem Molekül, das ein Schloss zu diesem Schlüssel darstellt - ein Protein an der äußeren Membran eines Virus oder Bakteriums zum Beispiel. Wenn die B-Zelle das Schloss findet, vermehrt sie sich rasch und produziert eine Flut von Antikörpern, die denselben Schlüssel aufweisen wie sie selbst. Die Antikörper verbinden -264-

sich mit jedem Schlossmolekül, das ihnen in den Weg kommt, und hemmen deren Funktion entweder direkt oder locken andere Bestandteile des Immunsystems an, um sie zu zerstören. Die B-Zellen bestehen also aus einer Vielzahl unterschiedlicher Moleküle »von der Stange«, die sich dann vermehren, wenn sie auf ihr molekulares Gegenstück stoßen. Nach verschiedenen Schätzungen kann das menschliche Immunsystem mehr als 2 Milliarden Schlüssel herstellen, von denen in jedem Menschen jeweils nur ein Bruchteil zum Zuge kommt. Sobald ein bestimmter Antikörper aber einmal produziert wurde, behalten die B-Zellen eine Erinnerung daran dies ist der Grund dafür, dass ein Auftreten einer Krankheit wie Masern lebenslang Immunität verleiht und Impfstoffe so gut wirken. Manchmal jedoch schwächt sich diese ursprüngliche Reaktion im Lauf der Zeit ab, weshalb man erstens für viele Impfungen eine Auffrischung braucht und zweitens eine Krankheit wie Windpocken später in Form von Herpes zoster erneut auftreten kann. Wenn es einer Mikrobe gelingt, in eine Zelle Ihres Körpers einzudringen, kommt ein anderer Leukozyt ins Spiel, der so genannte T-Lymphozyt (T - da er im Thymus hergestellt wird). In jeder Zelle werden Proteinstückchen durch ein spezialisiertes Molekül, den Haupthistokompatibilitätskomplex (engl.: major histocompatibility complex, kurz MHC), an die Oberfläche gebracht. Wenn die T-Zelle das Protein im MHC als fremd erkennt, was auf ein Eindringen in die Zelle schließen lässt, löst es eine Folge von chemischen Ereignissen aus, die zur Zerstörung der Zelle führen. Das Virus, das AIDS hervorruft (was an anderer Stelle diskutiert wird), greift die T-Zellen an, schwächt dadurch das Immunsystem und sorgt dafür, dass der Patient für viele Bakterien- und Virusinvasionen anfällig ist. In Zukunft dürfte es viel mehr medizinische Behandlungsmethoden geben, die sich auf das Immunsystem konzentrieren. So haben Wissenschaftler in den letzten Jahren -265-

genetisch veränderte Mäusepopulationen gezüchtet, die menschliche Antikörper produzieren. Vielleicht werden in Zukunft bei der »Antikörper AG« große Bottiche mit menschlichen Antikörpern brodeln, die zur Bekämpfung von Viruserkrankungen direkt injiziert werden können. Außerdem machen Wissenschaftler entscheidende Fortschritte bei der Entwicklung von Impfstoffen. Ein weiterer viel versprechender Bereich hat mit der Rekrutierung von T-Zellen zur Tumorbekämpfung zu tun. Einige Wissenschaftler glauben, dass eine der Hauptfunktionen patrouillierender T-Zellen darin besteht, Krebszellen zu erkennen und zu eliminieren, bevor sie zu Tumoren werden. In vielen Fällen lösen Tumore jedoch kaum eine oder keine Immunreaktion aus, weil zum System offensichtlich ein eingebauter Sicherheitsfaktor gehört. Bevor die T-Zelle aktiv werden kann, muss sie offenbar zwei Signale von einer Zelle empfangen: das Erkennen eines fremden Protein-MHC-Systems, wie oben angesprochen, aber auch ein Signal von einem separaten Molekül, das von einem separaten Rezeptor auf der TZelle erkannt werden muss. Das zweite Molekül scheint eher als Anreger des Immunsystems denn als unmittelbarer Akteur bei der Immunreaktion zu fungieren. Im Labor werden Krebszellen, denen diese sekundären Moleküle eingefügt wurden, heftigen Attacken von T-Zellen ausgesetzt, und man versucht, das Ergebnis dieser Versuche zur Entwicklung verbesserter Behandlungsmethoden gegen Krebs einzusetzen. Fortschritte bei der Behandlung des Immunsystems dürften sich dadurch ergeben, dass man zunächst herausfindet, welche Moleküle bestimmte Funktionen ausüben, und dann, wie man dieses Wissen zur Heilung von Krankheiten einsetzt.

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Warum greift das Immunsystem nicht die eigenen Zellen an? Das Immunsystem soll uns vor allen möglichen Eindringlingen schützen. Zu diesem Zweck produziert es eine große Vielfalt von Zellen, von denen die wichtigsten die B- und T-Lymphozyten sind. (Die Buchstaben stehen für »bone marrow« und »thymus«, auf deutsch Knochenmark und Thymus, wo die Zellen hergestellt werden.) Diese Zellen haben an der Oberfläche Rezeptoren, die als »Schlüssel« zu Molekülen eindringender Organismen mit einem »Schloss« passen. Diese molekulare Erkennung ist das zentrale Ereignis bei der Immunreaktion. Unter normalen Umständen präsentiert jede Körperzelle auf ihrer Oberfläche Proteinstückchen, die von anderen spezialisierten Molekülen dorthin transportiert wurden. Diese zur Schau gestellten Proteine spielen im Körper dieselbe Rolle wie ein Passwort beim Militär. Vorbeiziehende T-Zellen spüren diese Proteine und lassen die Zelle in Ruhe. Dies bezeichnet man als »Autoantigenerkennung« der T-Zelle. Autoimmunkrankheiten wie die Multiple Sklerose und die rheumatoide Arthritis treten auf, wenn etwas mit der Passworterkennung nicht stimmt und das Immunsystem gesundes Gewebe angreift. Eines der großen Probleme der Immunologie besteht darin, genau zu verstehen, wie sich das Immunsystem selbst erkennt warum es beispielsweise Zellen einer transplantierten Leber angreift, die eigene Leber des Patienten aber in Ruhe lässt. Das Immunsystem erzeugt Milliarden unterschiedlicher Rezeptoren, und die Immunreaktion wird ausgelöst, wenn einer davon zum Molekül eines Eindringlings passt. Diese Verschiedenheit der molekularen Schlüssel ergibt sich aus einer im Grunde willkürlichen Mischung von Proteinteilchen, und so ist es -267-

extrem unwahrscheinlich, dass Ihr Immunsystem keine T-Zellen produziert, die Ihre Zellen angreifen können. Das System testet jedoch die T-Zellen, bevor sie vom Thymus in den Körper entlassen werden. Da der Thymus überreich an Eigenzellen ist, verbindet sich jede T-Zelle, die einen Schlüssel für das Zellschloss zur Schau stellt, zwangsläufig mit einer Zelle in der Nähe. An diesem Punkt hört die T-Zelle zu wachsen auf und stirbt schließlich. Die einzigen reifen T-Zellen, die aus dem Thymus austreten, sind somit jene, die nicht mit Eigenzellen reagieren. Es ist nicht im Detail bekannt, warum T- und B-Zellen, die eigens ausgewählt wurden, weil sie Eigenzellen ignorieren, diese plötzlich angreifen. Eine beliebte Theorie lautet, dass Viren, die sich um Einlas bemühen, dem Immunsystem Moleküle präsentieren, die jene des Wirtskörpers nachahmen. Dieser Vorgang könnte das System darauf vorbereiten, alle Zellen mit ähnlichen Molekülen anzugreifen - und damit auch Eigenzellen. Wie so oft in der modernen Medizin erfordert auch der Umgang mit Autoimmunkrankheiten ein genaues Verständnis der Vorgänge auf Molekularebene. Bei der Multiplen Sklerose etwa greifen B- und T-Zellen die Hülle an, die Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark umschließt. Zunächst verbindet sich eine Gruppe von Molekülen auf den Membranen von T-Zellen mit den entsprechenden Molekülen in den Wänden von Blutgefäßen und löst die Produktion von Proteinen aus, die ein kleines Loch in der Gefäßwand aushöhlen. Dadurch können die T-Zellen durch die Gefäßwand und in das Gehirn dringen. Dort treffen sie auf Triggermoleküle an der Oberfläche von Nervenzellen und lösen die Immunreaktion aus. Dies führt letztlich dazu, dass andere Zellen des Immunsystems und die TZellen selbst zusammenwirken, um die Hülle um die Hauptnervenzellen zu zerstören. Das Verständnis der wichtigsten Prozesse, die bei der -268-

Multiplen Sklerose auf der Molekularebene ablaufen, war die Grundlage dafür, dass Forscher einen Mehrfrontenkrieg gegen die Krankheit führen konnten. Im Prinzip soll für jeden Schritt in der oben skizzierten Ereigniskette ein Molekül gefunden werden, das diesen Schritt blockiert. Eine Methode ist die Verwendung von Medikamenten zur Blockierung der Vorgänge, bei denen Proteinstückchen an die Oberfläche der Nervenzellen transportiert werden. Tatsächlich bediente sich die erste (1993) zugelassene MS-Therapie des Wirkstoffs Betainterferon, der die Herstellung der Moleküle verhindert, die diese Proteine enthalten. Ohne diese Träger gibt es keine Proteine, die eine TZelle an der Zelloberfläche erkennen kann, und die Krankheit ist damit abgewendet. Weitere Strategien, die im Augenblick entwickelt werden, sollen den Krankheitsverlauf an anderen Punkten unterbrechen. So arbeiten Wissenschaftler an der Entwicklung von Ködermolekülen, die sich an die Moleküle klammern, die normalerweise Proteine an die Zelloberfläche bringen; damit wird verhindert, dass jene Moleküle Eigenproteine präsentieren, die wiederum T-Zellen triggern. Eine andere Strategie ist die Suche nach Molekülen, die verhindern sollen, dass T-Zellen an den Wänden von Blutgefäßen kleben; zu diesem Zweck werden Moleküle hergestellt, die die »klebrigen Stellen« auf den TZellen oder auf den Wänden der Blutgefäße besetzen. Stellen Sie sich diese Strategie so vor, als würde man Klettverschlüsse auf der T- Zelle oder dem Blutgefäß abdecken und damit verhindern, dass sie aneinander haften bleiben. Schließlich kann man auch versuchen, Antikörper zu entwickeln, die einige der Moleküle angreifen, die die Nervenhülle tatsächlich beschädigen. Diese lange Liste an Möglichkeiten illustriert, welchen Weg die Medizin in Zukunft vermutlich nehmen wird. Zunächst wird man die molekularen Grundlagen des Krankheitsverlaufs verstehen und dann Strategien finden, ihn auf dieser Ebene -269-

aufzuhalten. Ich habe mich hier auf MS konzentriert, aber ich vermute, dass dieses Vorgehen künftig in allen Bereichen übernommen wird.

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Welche Ursachen hat Krebs? Krebs ist nach wie vor eine der häufigsten Todesursachen in den Vereinigten Staaten, und die Erforschung seiner Wirkungsweise und Ausbreitung genießt in der Medizin höchste Priorität. Derzeit ist man dabei, sich das erforderliche Wissen zu erschließen. Beim Krebs gibt es einige Fragen, die einer Erklärung bedürfen. Warum treten manche Arten innerhalb einer Familie gehäuft auf? Warum gibt es unterschiedliche Phasen der Zellvermehrung, von mäßigem Wachstum bis zum wild wuchernden metastasierenden Tumor? Und warum ist Krebs, alles in allem, eine Krankheit des Alters? Um zu erfahren, warum sich eine Zelle unkontrolliert teilt, muss man zuerst darüber Klarheit haben, woher Zellen wissen, wann sie unter normalen Umständen den Teilungsprozess beginnen und wieder beenden. Die Zellteilung wird durch das Eintreffen der so genannten Wachstumsfaktoren ausgelöst; das sind Proteine, die in Rezeptorproteine in der Zellwand passen. Als Reaktion auf das Eintreffen der Wachstumsfaktoren produzieren die Re zeptorproteine noch weitere Moleküle, die eine Reihe von Reaktionen auslösen, die letztlich dazu führen, dass die DNS der Zelle Proteine produziert, die an der Zellteilung mitwirken. Somit ist eine Kette von Signalen sowohl von außen (die Wachstumsfaktoren) als auch von innen (die Moleküle, die schließlich die DNS anregen) erforderlich, um den Teilungsvorgang einzuleiten. Zum Abschluss des Zyklus teilt eine ähnliche Kette von Ereignissen der Zelle mit, die Teilung wieder einzustellen. Bestimmte Moleküle - die so genannten wachstumshemmenden Faktoren - werden von einer anderen Gruppe von Rezeptoren in der Zellwand aufgenommen, was die Produktion von Molekülen -271-

auslöst, die schließlich dafür sorgen, dass die DNS der Zelle Proteine produziert, die den Teilungszyklus unterbrechen. Diese letztgenannten Proteine bezeichnet man auch als Tumorsuppressoren. Die Zellteilung wird also in gewisser Weise so gesteuert wie ein Auto. Es gibt ein »Gaspedal« (die Wachstumsfaktoren), um sie zu beschleunigen, und eine »Bremse« (die Tumorsuppressoren), um sie zu beschließen. Deshalb kann der Vorgang aus zweierlei Gründen außer Kontrolle geraten. Wenn ein Gen in der DNS fehlerhaft ist, stößt die Zelle am laufenden Band die Moleküle aus, die die Zellteilung auch dann auslösen, wenn außerhalb der Zelle kein Wachstumsfaktor vorhanden ist. Das ist, als würde das Gaspedal im Auto klemmen - der Motor läuft auf vollen Touren, obwohl niemand auf das Gaspedal drückt. Oder die DNS ist so stark beschädigt, dass sie keine Moleküle produzieren kann, die den Zyklus beenden. Dies entspricht einem Versagen der Bremsen. In der menschlichen DNS besitzt jedes Gen zwei Kopien, die so genannten Allele eines von der Mutter, das andere vom Vater. Jedes Allel kann das Protein produzieren, dessen Code es trägt. Wenn ein Allel mutiert und dadurch zuviel von einem Protein produziert, das die Zellteilung auslöst, kann das Steuerungssystem ausfallen dies ist eine Möglichkeit, warum das Gaspedal manchmal klemmt. Die so genannten Onkogene (Gene, die mit dem Ausbruch von Krebs zu tun haben) sind ein Beispiel für dieses Scheitern. Alternativ dazu können beide Allele so stark mutieren, dass ein notwendiges Protein (wie etwa ein Tumorsuppressor) überhaupt nicht produziert wird - ein Versagen des Bremssystems. Sollten Sie von einem Elternteil ein fehlerhaftes Gen geerbt haben, sind Sie nicht automatisch dazu verurteilt, Krebs zu bekommen, weil Sie keine tumorunterdrückenden Proteine haben. Solange Sie ein funktionierendes Gen besitzen, werden Ihre Zellen den Teilungszyklus trotzdem steuern können. Es bedeutet allerdings, -272-

dass es keine Sicherung gibt, wenn eine Mutation das gesunde Gen beschädigt. Dies erklärt, warum Krebs in der Familie liegen kann und trotzdem nicht jedes Familienmitglied daran erkrankt. Was vererbt wird, ist eine erhöhte Anfälligkeit aufgrund der fehlenden Sicherungsgene. Heute betrachten Wissenschaftler die Entwicklung von Krebs in Kategorien der »klonalen Evolution« oder der »Mehrfachtreffer-Theorie«. Man geht davon aus, dass das Steuerungssystem der Zelle selbst mit ein oder zwei Mutationen von wichtigen Genen noch notdürftig weiterarbeiten kann. Es müssen schon verschiedene Gene mehrfach getroffen werden, bevor sich Krebs entwickelt. Jüngst wurde die Reihenfolge der Treffer entschlüsselt, die es zur Entstehung von Dickdarmkrebs braucht. Der erste Schritt ist der Verlust eines »Bremsgens« auf Chromosom 5, das zur Entwicklung eines kleinen gutartigen Polypen führt. Darauf folgt die Verwandlung eines Gens auf Chromosom 12 in ein Onkogen, das das Zellwachstum initiiert, um einen großen gutartigen Polypen zu produzieren. Schließlich kommt es zum Verlust von Suppressorgenen auf Chromosom 17 und eines Gens auf Chromosom 18, das möglicherweise für Substanzen kodiert, die das Zusammenkleben der Zellen fördern. Erst wenn all diese Treffer zusammengekommen sind, wird das Wachstum karzinomatös. In den nächsten zehn Jahren werden viele weitere Ereignisketten detailliert entschlüsselt werden, und ich vermute, dass man noch eine Menge über die Identifikation von Gene n lesen wird, die an der Entwicklung bestimmter Krebsarten beteiligt sind. Dieses Wissen wird einen enormen Einfluss auf die Behandlung von Krebs haben. Anhand von Genanalysen wird man bessere Diagnosen stellen können, und durch das Wissen, welches Protein in einem bestimmten Stadium der Krankheit vorhanden ist oder nicht, wird man Medikamente entwickeln können, um vom Gaspedal zu gehen oder auf die -273-

Bremse zu treten.

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Verlieren wir den Krieg gegen Krebs? Am 23. Dezember 1971 unterzeichnete Präsident Nixon den National Cancer Act (Nationales Krebsgesetz), der einer der gefürchtetsten Krankheiten der Menschheit den Krieg erklärte. Ein Vierteljahrhundert und mehr als 25 Milliarden Dollar später darf man die Frage stellen, was all die Mühe gebracht hat. Wie so oft am Schnittpunkt von Wissenschaft und Politik ist die Antwort nicht leicht zu finden. Zur Beurteilung der Rolle von Krebs in den Vereinigten Staaten braucht man über einen langen Zeitraum hinweg Informationen über die Sterblichkeitsrate durch die Krankheit, was wiederum epidemiologische Daten erfordert. Mit einer gewissen Hartnäckigkeit kann man Informationen aus Sterbeurkunden und anderen Zeugnissen zusammentragen, aber dann stellen sich zwei Interpretationsprobleme: (1) Sagen die Daten wirklich das aus, was sie vordergründig nahe legen, und (2) wie sind sie zu interpretieren? Wenn man einfach die jährliche Zahl der Todesfälle durch Krebs in den letzten fünfzig Jahren nähme, würde man zweifellos einen massiven Anstieg feststellen. Doch diese Zahl bedeutet nicht, dass im Augenblick eine regelrechte Krebsepidemie über uns hereinbricht, da Krebs vor allem eine Alterskrankheit ist. Ein guter Teil der erhöhten Krebsrate resultiert aus der Tatsache, dass die amerikanische Bevölkerung älter wird. Das ist eine gute Nachricht! Mehr von uns leben lange genug, um Krebs zu bekommen. Wenn man sich »altersbereinigte« Krebsraten ansieht, die das höhere Durchschnittsalter der Bevölkerung berücksichtigen, stellt man fest, dass es seit 1950 zu einem Anstieg der Krebstoten um etwa zehn Prozent gekommen ist. Doch selbst diese Zahl ist irreführend, da sie fast vollständig auf einen -275-

gewaltigen Anstieg von Lungenkrebs zurückzuführen ist, der vom Rauchen herrührt. Zieht man die Folgen des Rauchens ab, so stellt man fest, dass die Sterberate durch alle anderen Krebsarten zusammen seit 1950 um etwa fünfzehn Prozent gefallen ist. Das ist eine gute Nachricht, oder? Nun, nicht unbedingt, da die Gesamtzahlen ein sehr komplexes Bild ergeben, wenn man sich bestimmte Krebsarten genauer ansieht. Haut-, Prostata und Leberkrebs haben sich dramatisch vermehrt, während Gebärmutter-, Magen- und Blasenkrebs zurückgegangen sind. In manchen Fällen, wie beim Hirntumor, gibt es Licht und Schatten - die Rate ist bei den unter 65jährigen leicht zurückgegangen, bei den über 65jährigen dagegen dramatisch angestiegen. Jede Diskussion über Krebs entwickelt sich deshalb rasch zu einer detaillierten Betrachtung bestimmter Krebsarten und ihrer Ursachen. Ein Problem ist, dass die dramatischen Verbesserungen bei der Behandlung, die in den letzten Jahren Schlagzeilen machten - so fiel die Sterberate bei Krebs im Kindesalter zwischen 1973 und 1989 um 50 Prozent -, zu Krebsarten gehörten, die von vornherein nicht sehr häufig waren. Die Behandlung der häufigsten Todesursachen - Lungen-, Dickdarm-/ Mastdarm-, Brust- und Prostatakrebs - hat sich hingegen kaum verbessert. In der Diskussion über das weitere Vorgehen im Krieg gegen Krebs bilden sich zwei Schulen heraus. Die eine behauptet, Krebs sei unter Kontrolle und in na her Zukunft würden die (an anderer Stelle in diesem Buch behandelten) neuen Behandlungsmethoden die Sterberate senken. Die andere Schule liest die Daten als Anfang einer großen Krebsepidemie, die durch Umweltverschmutzung und Raubbau an der Natur hervorgerufen wird. Leider sind die Daten einfach nicht sauber genug, um diese beiden Interpretationen richtig beurteilen zu können. Die Optimisten erklären, ein Großteil des offensichtlichen -276-

Anstiegs sei auf bessere Diagnosemethoden zurückzuführen. So behaupten sie, dass vor den achtziger Jahren, als sich die Kernspintomographie durchsetzte, viele Todesfälle durch Hirntumor dem Schlaganfall zugeschrieben wurden. In dieser Sichtweise ist der aus den Daten hervorgehende Anstieg von Hirntumoren einfach das Ergebnis einer verbesserten Diagnose und nicht einer erhöhten Krankheitshäufigkeit. Weiterhin argumentieren die Optimisten, insgesamt verbesserte Diagnosemethoden hätten zu einer viel früheren Erkennung von Krebs geführt. Tatsächlich wird der Krebs von morgen bereits heute diagnostiziert, was zu einer zeitweiligen Verzerrung der Daten führt, die fälschlich eine erhöhte Krankheitshäufigkeit suggerieren. Die Umweltschützer lehnen diese Interpretationen ab. Sie verweisen auf Unterschiede in den Krebsraten verschiedener Länder als Beweis dafür, dass Umweltfaktoren und die Ernährung einen großen Einfluss haben. So beträgt die Brustkrebsrate in Japan nur etwa ein Viertel der Quote in den Vereinigten Staaten, aber wenn japanische Frauen in die USA auswandern und sich fettreich ernähren, bekommen sie und ihre Töchter genauso häufig Brustkrebs wie amerikanische Frauen. So wird argumentiert, man solle mehr Augenmerk auf die Krebsprävention legen und deshalb auf eine saubere Umwelt sowie eine gesündere Lebensweise achten. Meiner Meinung nach ist die Vorbeugung gegen Krebs durch die Errichtung einer perfekten Welt zumindest kurzfristig kein gangbarer Weg. Man wird sich bis zur Verfügbarkeit der neuen Therapien gedulden müssen, bis man aus dem Krieg gegen Krebs als Sieger hervorgeht.

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Lassen sich Antikörper gezielt herstellen? Zur Bekämpfung einiger Krankheiten wurden Impfstoffe entwickelt, die das Immunsystem anregen. In der ganz überwiegenden Zahl schwerer Krankheiten hat man aber entweder noch nicht herausgefunden, wie dies zu geschehen hat, oder Faktoren wie die rasche Mutation von Viren erschweren die Herstellung eines geeigneten Impfstoffs. In diesen Fällen bestünde das ideale Vorgehen darin, Antikörper außerhalb des menschlichen Körpers herzustellen, anstatt darauf zu warten, dass das Immunsystem sie selbst produziert. Zur Herstellung synthetischer Antikörper werden gegenwärtig zwei Verfahren entwickelt. Bei einem davon, das mit der Modifikation von Antikörpern in Mäusen arbeitet, heißen die Endprodukte durchaus zutreffend »vermenschlichte« Antikörper. Diese Methode hat die klinischen Tests bereits weitgehend durchlaufen und dürfte, wenn Sie diese Zeilen lesen, bereits auf dem Markt sein. Beim zweiten Verfahren, das noch im Forschungsstadium steckt, werden »Antikörperbanken« angelegt, deren Material menschlichen Immunsystemen entnommen wurde. Sie bezeichnet man als »menschliche« (im Gegensatz zu vermenschlichte) Antikörper. Um zu verstehen, wie diese Methoden funktionieren, muss man etwas über den Bau von Antikörpermolekülen wissen. Die Grundform eines Antikörpers ist ein großes Y, dessen Arme aus zwei getrennten Molekülen bestehen, die man als leichte und schwere Ketten bezeichnet; die beiden schweren Ketten krümmen und verbinden sich zum Fuß des Y. Die Enden der beiden Arme sind die Teile des Antikörpers, die auf fremde Moleküle passen. Je nach Struktur der leichten und schweren Ketten können die Enden des Arms viele Formen annehmen. Man kann sie sich als komplexe -278-

Gruppe von Schlaufen vorstellen, wobei jede Schlaufe ein gekrümmter Finger ist, der in den Raum hineinragt und sich jederzeit in den Zielort eines eindringenden Organismus einhaken kann. Die große Vielseitigkeit des Immunsystems besteht darin, dass jeder dieser Finger viele unterschiedliche Formen annehmen kann. Um einen »vermenschlichten« Antikörper zu produzieren, werden einige Abschnitte des Y im Antikörper einer Maus entfernt und durch die entsprechenden Abschnitte dieses Antikörpers beim Menschen ersetzt. Jene Elemente, die sich von einem Menschen zum anderen stark unterscheiden, werden in ihrer »Mausform« belassen, während die Teile, die von einem menschlichen Antikörper zum anderen im wesentlichen konstant bleiben, durch ihre menschlichen Pendants ersetzt werden. Solche hybriden Moleküle können das menschliche Immunsystem ergänzen, ohne allergische Reaktionen auszulösen, wie es Antikörper von Mäusen alleine häufig tun. Der Einsatz vermenschlichter Antikörper gegen das so genannte RS-Virus wird bereits seit einiger Zeit klinisch getestet. Dieses Virus ruft eine grippeartige Viruserkrankung hervor, wegen der in den Vereinigten Staaten etwa 100000 Kinder pro Jahr ins Krankenhaus müssen und die vielleicht auch für Grippeepidemien unter alten Menschen in Pflegeheimen verantwortlich ist. Das Virus hat zwei unterschiedlich ge formte Moleküle in seiner Außenmembran - eines verbindet sich mit Molekülen in der Membran von Zellen der menschlichen Lunge, das andere passt auf andere Moleküle und startet den Prozess, bei dem das Virus in die Zelle transportiert wird. Die getesteten Antikörper sollen sich mit dem zweiten dieser Moleküle auf der Virushülle verbinden, so dass das Virus auch dann nicht in die Zelle eindringen und sich vermehren kann, wenn es sich an sie angehängt hat. Das RS-Virus ist ein besonders guter Testfall für diese Methode, weil es, wie die Grippe überhaupt, saisonal auftritt. Infolgedessen machen ein oder zwei Injektionen einen Winter lang gegen die Krankheit immun; man kann also hoffen, -279-

dass Kinder und alte Menschen bald Antikörperspritzen erhalten, so wie sie heute schon gegen Grippe geimpft werden. Die zweite Art künstlich hergestellter Antikörper menschliche Antikörper - wird durch einen ganz anderen Vorgang gewonnen. Material, das an den Stellen im Körper gesammelt wird, wo die schweren und leichten Ketten vo n Antikörpern entstehen (etwa in der Milz), wird zur Herstellung von DNS-Strängen verwendet, die für die Ketten kodieren. Viele solcher Gene werden erst gesammelt und dann durcheinander geworfen - das heißt, es werden alle möglichen Kombinationen aus unterschiedlichen Arten von schweren und leichten Ketten konstruiert. Sogar aus dem Material von einem einzigen Menschen kann es Millionen solcher Kombinationen geben, die alle einen anderen potentiellen Antikörper produzieren. Jeder dieser Antikörper wird anschließend getestet, um zu sehen, ob er den Zweck, für den man einen Antikörper herstellen will, erfüllt. Wenn man beispielsweise einen Antikörper gegen das RS-Virus möchte, nimmt man eine große Menge dieser vermischten Antikörper und schüttet sie einfach auf einen Teller mit den Molekülen aus der Hülle des Virus. Diejenigen, die sich verbinden, bleiben an den Molekülen des Virus auf dem Teller haften; der Rest wird weggeworfen. Das Ergebnis: Man kann Gene für eine große Menge von Antikörpern produzieren, die gegen dieses bestimmte Virus wirken. Die DNS für jene Antikörper lässt sich anschließend in gewöhnliche Bakterien spleißen und wie jedes andere gentechnisch veränderte Molekül herstellen. Durch die Entwicklung synthetischer Antikörper werden Viruserkrankungen künftig einen anderen Verlauf nehmen. Man geht zum Arzt, kriegt eine Spritze und fühlt sich besser. Und man braucht nicht einmal zu wissen, welche technische Raffinesse dies erst möglich gemacht hat.

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Wann wird AIDS heilbar sein? Im Gesundheitswesen wird seit langem darüber diskutiert, welche Beträge für die AIDS-Forschung aufgewendet werden sollen. Kritiker verweisen darauf, dass weltweit etwa 550 000 Menschen an AIDS sterben, was nicht viel ist im Vergleich zu älteren Krankheiten wie Lungenentzündung (über 4 Millionen), Tuberkulose (über 3 Millionen) und Malaria (über l Million). Zahlen wie diese ließen viele Menschen (auch mich) daran zweifeln, ob das enorme Budget für die AIDS-Forschung noch gerechtfertigt ist, wenn viel gefährlichere Killer links liegengelassen werden. Im Verlauf der Forschungsanstrengungen gegen AIDS habe ich meine Meinung aber geändert. Der Grund für diese Wendung liegt darin, dass AIDS die erste große Viruskrankheit war, die auftauchte, nachdem sich Wissenschaftler mit den molekularen Abläufen bei lebenden Systemen vertraut gemacht hatten. Da Viruskrankheiten für künftige Generationen eine große Bedrohung (manche würden sagen: die große Bedrohung) darstellen dürften, lindern die im Kampf gegen AIDS entwickelten Instrumente nicht nur heutiges Leid, sondern werden uns auch zustatten kommen, wenn neue und vielleicht leichter übertragbare Killer auftauchen. AIDS wird durch einen Mikroorganismus hervorgerufen, das so genannte humane Immundefizienz-Virus oder HIV. Ein Ergebnis des Forschungsprogramms ist bereits, dass HIV zum bestuntersuchten Virus der Geschichte wurde. Wir besitzen ein erstaunlich detailliertes Bild des Lebenszyklus dieses Virus und zudem eine Reihe von »Zielen«, die uns vielleicht die Chance auf eine Heilung der Krankheit (oder zumindest einen Impfstoff) geben. Das Virus ist kreisförmig, und aus seiner äußeren Hülle ragen -281-

Spitzen hervor, die sich aus einer Gruppe komplexer Moleküle zusammensetzen. Zufällig passen diese Moleküle in entsprechende Moleküle an der Oberfläche von einigen menschlichen Zellen, vor allem auf eine Art von T-Zellen im menschlichen Immunsystem. Wie ein Soldat, der sich den feindlichen Linien mit einem Passwort nähert, wird das Virus von der T-Zelle erkannt. Die äußere Hülle vermischt sich dann mit der Zellmembran und erlaubt dem inneren Kern des Virus, in die Zelle einzudringen. Dieser Kern ist ein stumpfer Kegel aus Proteinen, die zwei kurze RNS-Abschnitte (ein mit der DNS verwandtes Molekül) und drei verschiedene Proteine enthalten, um die folgenden Reaktionen zu erleichtern. Sobald der innere Kern des Virus in die Zelle gelangt ist, löst er sich auf. Eine Gruppe von Virusproteinen erleichtert eine als »umgekehrte Transkription« bezeichnete Reaktion, bei der nach einer Matrize auf der RNS des Virus Zellmaterial zu DNS-Abschnitten zusammengefügt wird. Diese kurzen DNS-Abschnitte (mit insgesamt neun Genen) wandern zum Zellkern, wo sie von einer zweiten Gruppe von Virusproteinen in die DNS der Zelle integriert werden. Von diesem Punkt an übernimmt das Virus die Abläufe in der Zelle und produziert am laufenden Band RNS-Abschnitte und andere Proteine, die sich mit Hilfe des dritten Virusproteins zu neuen Viren zusammenfinden, die aus der Zellmembran erwachsen. Schließlich erschöpfen sich die Ressourcen der T-Zelle durch die Produktion neuer Viren, und die Zelle stirbt. Seiner T-Zellen beraubt, bricht das Immunsystem zusammen. Das in den letzten beiden Absätzen bilanzierte Wissen stellt die Frucht einer gewaltigen biomedizinischen Forschungsanstrengung dar. Dieses Verständnis des HIVLebenszyklus bietet Ansatzpunkte, mit der Krankheit umzugehen. Im Prinzip gibt es zwei Strategien: Entweder findet man eine Möglichkeit, das Virus zu bekämpfen, wenn es bereits in menschliche Zellen eingedrungen ist (das heißt, man findet -282-

eine AIDS-Therapie), oder man versucht, das Immunsystem dazu zu bringen, das Virus zu bekämpfen (das heißt, man findet einen AIDS-Impfstoff). Beide Strategien werden mit Nachdruck verfolgt. Der erste Ansatz konzentriert sich darauf, Wege zu finden, um entscheidende Schritte im HIV-Lebenszyklus zu blockieren. So setzen Wirkstoffe wie Azidothymidin (AZT) bei der Blockierung der umgekehrten Transkription an, die DNS produziert. Diese Wirkstoffe sind den Molekülen, die normalerweise in die DNS aufgenommen werden, ähnlich genug, um Einlass in die Kette zu erhalten, aber einmal dort angekommen, blockieren sie die Bildung weiterer Verbindungen. Alternativstrategien, die in klinischen Tests Erfolg hatten, versuchen die Eingliederung der zusätzlichen Gene in die DNS der Zelle zu blockieren oder die HIV-Gene anschließend daran zu hindern, ihre Wirkung zu entfalten. Das Hauptproblem bei allen Therapien (und in diesem Punkt auch bei allen Impfstoffen) ist die rasche Mutationsrate von HIV. Es scheint, als habe der Prozess der umgekehrten Transkription eine hohe Fehlerquote - nach jedem Durchgang gibt es drei oder vier Fehler in der neuen DNS. Dies bedeutet, dass jedes Virus, das wieder aus einer Zelle herauskommt, etwas anders ist als dasjenige, das in die Zelle eingedrungen ist. Dies ist der Grund dafür, dass im Blut eines Patienten, der einige Monate Azidothymidin genommen hat, resistente Virusstämme auftreten und so viele unterschiedliche Stämme des Virus bekannt sind. Durch die hohe Mutationsrate ist es äußerst schwierig, Impfstoffe gegen HIV zu produzieren. Das Ziel der Forschung besteht darin, ein nicht letales Element des Virus (etwa eines der Proteine in der äußeren Hülle) dazu zu benutzen, eine Immunreaktion auszulösen, damit das Immunsystem das Virus auslöscht, bevor es sich festsetzen kann. Doch wie die Grippeviren verändert sich HIV für die Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs vielleicht zu schnell. -283-

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Wo sind die neuen Impfstoffe? Die beste Möglichkeit, mit einer Krankheit fertig zu werden, besteht darin, sie gar nicht erst zu bekommen. Das menschliche Immunsystem, dessen Wirkungsweise an anderer Stelle in diesem Buch beschrieben ist, soll den Körper vor Eindringlingen schützen und diese unschädlich machen, bevor sie Fuß fassen können. Seit 1796, als Edward Jenner herausfand, dass eine Inokulation mit dem Kuhpockenvirus das Auftreten der viel tödlicheren Pocken verhindert, hat man viele häufige Krankheiten durch Impfungen in den Griff bekommen. Die Wirksamkeit der Impfung hängt aber letztlich vom Immunsystem ab. Früher waren Pocken eine tödliche Geißel. Wenn Indianer Nord- und Südamerikas nach ihrem ersten Kontakt mit Europäern zu Tode kamen, so waren dafür nicht in erster Linie Militäraktionen verantwortlich, sondern die Pocken. (Lewis und Clark hatten auf ihrer heldenhaften Expedition Pockenimpfstoff dabei und sollten damit so viele Indianer wie möglich inokulieren, doch ich fürchte, dass diese Episode niemals in die politisch korrekte Geschichtsschreibung der heutigen Zeit eingehen wird.) Heute ist das Pockenvirus der erste Krankheitserreger, der weltweit ausgerottet wurde. (Die letzten Proben, die noch in wissenschaftlichen Labors lagern, sollen in Kürze vernichtet werden.) So kann also ein richtig durchgeführtes Impfprogramm wirken! Alle Teile des Immunsystems - B-Zellen, T-Zellen, Antikörper und so weiter arbeiten mit Hilfe der Geometrie. Das heißt, sie identifizieren ihr Ziel, weil ihre Moleküle zur Form der Moleküle auf dem Eindringling passen. Unmittelbar nach dem Kampf zirkuliert noch eine kleine Zahl von B-Zellen und T-Zellen im Blutkreislauf, die den »Schlüssel« tragen, der zum »Schloss« -285-

auf dem Eindringling passte. Diese so genannten Gedächtniszellen bieten einen raschen Schutz gegen weitere Invasionen und verleihen lebenslang Immunität, wenn man einmal eine Krankheit wie Mumps oder Masern hatte; das Ziel jeder Impfung ist damit die Produktion von Gedächtniszellen. Heute wird der Kampf um wirksamere Impfmethoden an drei Fronten geführt: (l) Grundlagenforschung mit dem Ziel, die Wirkungsweise des Immunsystems zu begreifen, (2) Forschung, um bestehende Impfstoffe zu verbessern und neue gegen mehr Krankheiten zu entwickeln, und (3) politische Strategien, um die demographischen Aspekte von Infektionskrankheiten anzugehen. Auch wenn einige der wichtigsten Merkmale des Immunsystems bekannt sind, gibt es noch große Wissenslücken. Das System ist außerordentlich komplex, und detaillierte Fragen wie »Warum (oder wie) erfüllt Molekül X Funktion Y? « bleiben unbeantwortet. So besteht der Zweck einer Impfung, wie beschrieben, in der Produktion von Gedächtniszellen, aber es ist nach wie vor heftig umstritten, wie Gedächtniszellen produziert werden und wie lange sie halten. Diese Fragen entspringen nicht nur eitler Neugier - die Antworten sind für die Entwicklung wirksamer Impfstoffe von entscheidender Bedeutung. Von bestimmten Impfstoffen weiß man, dass sie zwar eine Immunreaktion auslösen, aber keinen dauerhaften Schutz bieten; in einigen Fällen wird die geimpfte Person sogar anfälliger für die Krankheit als zuvor. Um in Zukunft bessere Methoden zur Verfügung zu haben, gilt es herauszufinden, warum manche Impfstoffe scheitern. Manchmal kommt es vor, dass das Schloss des Immunsystems zu mehr als einem Schlüssel des Eindringlings passt. Das war bei der ersten Pockenimpfung der Fall; die Proteine auf dem Kuhpockenvirus waren denen auf dem Pockenvirus so ähnlich, dass beim Auftreten der Pocken Gedächtniszellen aktiviert wurden, die eigentlich gegen Kuhpocken entwickelt worden waren. Viele Impfstoffe bestehen -286-

aus Viren, die zwar abgetötet wurden, aber trotzdem noch wichtige Proteine auf der Oberfläche zur Schau stellen. Gedächtniszellen heften sich an diese Proteine im toten Virus und attackieren dann lebende Viren, die diese ebenfalls tragen. Ein besonders aufregendes Forschungsgebiet hat mit der Identifikation des genauen Proteins in einem Virus oder Bakterium zu tun, das unser Immunsystem angreifen soll. Ziel ist dabei, das Protein anschließend alleine als Impfstoff zu verabreichen. Alternativ dazu können Gene für das Protein in ein harmloses Virus eingefügt werden, das dann die Immunreaktion auslöst. Wie bei Killerviren greifen die Gedächtniszellen anschließend das Zielprotein an, wenn es in einem Eindringling enthalten ist. Sofern die Methode, die Immunreaktion an bestimmte Proteine anzupassen, kommerziell eingesetzt würde, entfielen einige der Nebenwirkungen und Gefahren heutiger Impfungen. Ein abgetötetes Virus ist vielleicht doch nicht so tot wie angenommen und damit gefährlich, aber ein Protein alleine kann keine Krankheit auslösen. Außerdem berührt die Methode ein anderes Problem im Zusammenhang mit der Immunreaktion. Normalerweise erkennt und reagiert das Immunsystem auf viele Proteine des Eindringlings, aber womöglich sind nur ein paar dieser Proteine tatsächlich für die Entwicklung der Krankheit verantwortlich. Wenn man sich auf Proteine konzentriert, die für den Lebenszyklus des Eindringlings entscheidend sind, kann der Impfstoff viel wirkungsvoller konzipiert werden. Zuletzt sollte ich darauf hinweisen, dass das Hauptproblem von Impfprogrammen in Zukunft nicht wissenschaftlicher, sondern politischer Natur sein wird. Das Problem ist, dass Impfstoffe vor allem in den Industrieländern produziert werden, der größte Bedarf aber in Entwicklungsländern besteht. Bis vor kurzem verlangten Pharmabetriebe, die Impfstoffe entwickelt hatten, hohe Preise in Industrieländern und subventionierten damit niedrigere Preise in Entwicklungsländern. Durch die -287-

Kostensteigerungen im Gesundheitswesen sind entwickelte Länder aber immer weniger gewillt, diese Preise zu bezahlen und darunter hat die Erforschung von Impfstoffen gegen schlimme Seuchen wie Malaria bereits gelitten.

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7. Evolution (vor allem des Menschen)

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Woher stammt der Jetztmensch? Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es in der Naturwissenschaft eine heftige Kontroverse um zwei scheinbar unumstößliche Schlussfolgerungen aus zwei wichtigen Disziplinen. Einerseits behaupteten theoretische Physiker mit der ihnen eigenen Arroganz (da ich selbst ein solcher bin, darf ich mir diese Qualifizierung erlauben), die Naturgesetze ließen es nicht zu, dass die Erde und die Sonne mehr als 20 bis 100 Millionen Jahre alt seien. Geologen und Biologen argumentierten dagegen, ihre Daten ließen darauf schließen, dass die Erde viel älter sei. Dieser Konflikt wurde schließlich beigelegt, als die theoretischen Physiker merkten (hoppla!), dass das neu entdeckte Phänomen der Radioaktivität ihre Vorhersagen korrigierte; schließlich schrieben auch sie der Erde ein Alter von mehreren Milliarden Jahren zu. Heute, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, scheint ein ähnlicher Konflikt heraufzuziehen. Auf der Grundlage ihrer neuen und Aufsehen erregenden Methode der DNS-Analyse beharren die Molekularbiologen darauf, dass alle Menschen vor einigen hunderttausend Jahren gemeinsame Vorfahren hatten. Paläontologen verweisen dagegen auf ihre altmodische (und hochgradig biedere) Fossiliensammlung und behaupten einfach, die Welt habe sich nicht so entwickelt. Der Konflikt lässt sich als Streit zwischen der Afrika-Schule und den MultiRegiona listen beschreiben. Nach der Afrika-Schule breitete sich der Homo erectus, der Vorläufer des Jetztmenschen, vor etwa 2 Millionen Jahren von Afrika aus, wurde dann aber durch den heutigen Homo sapiens abgelöst, der Afrika vor etwa 100 000 Jahren verließ. Danach wäre die Verschiedenheit der Menschen eine relativ junge Entwicklung. Zur Untermauerung ihrer Theorien verweist diese -290-

Schule auf Stammbäume, die aus DNS-Analysen von Menschen in allen Teilen der Erde hervorgegangen sind. Die Paläontologen ihrerseits verweisen auf die spärliche Sammlung menschlicher Versteinerungen, die sie im letzten Jahrhundert aus dem Boden gekratzt haben. Jene, die sich vor allem auf diese Daten stützen, glauben wie die Afrika-Schule, dass der Homo erectus vor etwa 2 Millionen Jahren Afrika verlassen und sich über die übrige Welt verbreitet hat. Doch im Gegensatz zu ihren Kollegen behaupten sie, die Jetztmenschen hätten sich in diesen Regionen anschließend unabhängig voneinander entwickelt. In ihrer extremsten Form ist die These der Multi- Regionalisten so gut wie sicher falsch - es ist höchst unwahrscheinlich, dass in unterschiedlichen Umgebungen identische evolutionäre Veränderungen stattfinden. In einer abgewandelten Form jedoch, wonach sich Menschen in unterschiedlichen Regionen der Erde zwar unterschiedlich entwickelten, aber ein gewisser Genaustausch zwischen ihnen stattfand, passt die Theorie recht gut zu dem, was man über die Versteinerungen weiß. Wenn man sich in einer bestimmten Region (meinetwegen in Australien, Asien oder Europa) die Schädel ansieht, scheint überall eine stetige, allmähliche Veränderung nachweisbar; dagegen gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass andere Völker plötzlich zugewandert wären oder neu entstandene Menschen aus Afrika die eingeborene Bevölkerung vor 100 000 Jahren verdrängt hätten. Es scheint einfach nicht möglich, diese Daten mit den Ergebnissen der DNS-Analyse unter einen Hut zu bringen. Und nun? Es gibt zwei Sammlungen von Beweismaterial, beide mit tadellosen Referenzen, die zu Schlussfolgerungen führen, die sich gegenseitig ausschließen - dieselbe Situation, vor der bereits unsere Vorfahren gegen Ende des letzten Jahrhunderts standen. Wenn man der DNS glauben darf, breitete sich der Jetztmensch vor etwa 100 000 Jahren ausgehe nd von -291-

Afrika über den Erdball aus. Akzeptiert man dies aber, so muss man die Versteinerungen ignorieren, und glaubt man den Versteinerungen, so muss man die DNS ignorieren. Wie Sie wahrscheinlich bereits dem Tonfall meiner Eingangsbemerkungen entnehmen konnten, vermute ich, dass letztlich die Molekularbiologen ins Hintertreffen geraten werden. Die Zeit, die ich mit Paläontologen beim Sammeln von Versteinerungen im Big-Horn-Becken in Wyoming zugebracht habe, hat bei mir einen bleibenden Respekt sowohl vor den Schwierigkeiten bei der Sicherung fossiler Beweismittel als auch vor der nackten und steinharten Realität der Daten hinterlassen. Als theoretischer Physiker bin ich dagegen skeptisch gegenüber Argumenten wie jenen der Molekularbiologen, die auf langen Reihen theoretischer Annahmen beruhen. Ich denke, der Streit zwischen den beiden Schulen wird dann beigelegt, wenn man sich über den Unterschied zwischen dem Austausch der Gene und dem Austausch der Menschen klar wird. Die Molekularbiologen messen ersteren, in den Versteinerungen ist hingegen (vermute ich) letzterer erhalten. So könnte eine Schiffsladung von Reisenden, die vom Kurs abgekommen sind, jederzeit neue Gene aus dem Immunsystem in eine einheimische Bevölkerung einbringen, ohne dass sich die versteinerten Schädel deshalb merklich verändern müssten. Zuletzt wird man wohl feststellen, dass unsere Vergangenheit viel komplizierter ist, als beide Theorien in ihrer einfachsten Form erfassen können. Vermutlich wird man sich darauf einigen, dass die wahre Geschichte der Menschheit in den letzten paar Millionen Jahren aus vielen Wanderungen und Rückwanderungen bestand und dass in der jüngeren Geschichte eine komplizierte Vermischung von genetischem Material stattfand.

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Der molekulare Ursprung des Menschen Als Art sind sich die Menschen bemerkenswert ähnlich. Die Unterschiede zwischen der DNS zweier Menschen aus entgegengesetzten Ecken der Welt sind weniger groß als zwischen der DNS zweier Gorillas aus demselben afrikanischen Regenwald. Dennoch unterscheiden sich Menschengruppen untereinander, und so hoffen Wissenschaftler, anhand dieser Unterschiede herausfinden zu können, wie wir wurden, was wir sind. Es gibt einige Ansätze, sich diesem Problem zu nähern. Einer besteht darin, sich die Versteinerungen von Menschen genauer anzusehen. Der zweite ist, das am stärksten unterschätzte lebende Fossil der Welt zu untersuchen - den menschlichen Organismus selbst. Die menschliche DNS repräsentiert in Millionen von Jahren akkumulierte Evolution, und wir lernen gerade erst, sie zu entschlüsseln. Die Methode ist vom Prinzip her einfach zu beschreiben, aber nicht unbedingt immer einfach auszuführen. Bestimmte DNSAbschnitte werden sequenziert und auf Unterschiede zwischen verschiedenen Menschen hin analysiert. Dabei geht man von der Annahme aus, dass ein gemeinsamer Vorfahr dieser Menschen um so länger zurückliegt, je mehr Unterschiede vorhanden sind. Wenn man diese Informationen über viele Menschen in einen Computer füttert, kommt ein Stammbaum heraus, der bis zu einem gemeinsamen Vorfahren zurückreicht (der Fachausdruck für diese Zeitspanne lautet »Koaleszenzzeit«). Der erste Versuch einer derartigen Analyse verwendete DNS aus Bestandteilen der menschlichen Zelle, den so genannten Mitochondrien, die im Ei vorhanden sind und deshalb nur von der Mutter vererbt werden. Die Analyse erbrachte die ziemlich unglückliche Hypothese, dass alle Menschen von einer einzigen -293-

Frau abstammten, die passenderweise Eva getauft und auf dem Titel des Magazins Newsweek abgebildet wurde. Diese Hypothese basierte auf einer fehlerhaften Datenanalyse und wurde inzwischen weitgehend aufgegeben. Daten zur DNS in Mitochondrien werden heute durch DNS-Analysen des Zellkerns ergänzt. Ich will Ihnen von einer Untersuchung der DNS im Zellkern berichten, damit Sie ein Gefühl dafür bekommen, wie solche Studien aussehen. Beim Menschen ist die DNS im Kern auf dreiundzwanzig Chromosomenpaare verteilt, und auf Chromosom 6 gibt es einen DNS-Abschnitt mit etwa fünfzig Genen, der für verschiedene Proteine im menschlichen Immunsystem kodiert. Für jedes Protein befindet sich das Gen an einer bestimmten Stelle auf der DNS, kann aber (etwa wie das Gen für die Augenfarbe) in ganz unterschiedlichen Formen vorkommen. Einige Gene des Immunsystems können in bis zu sechzig verschiedenen Formen auftreten - diese Fähigkeit, Proteine von diesen Genen zu durchmischen, verleiht dem Immunsystem seine Flexibilität. Wie bei der DNS-Analyse von Mitochondrien vergleichen Wissenschaftler DNS aus dem Zellkern zweier Menschen und zählen, wie viele Elemente man austauschen müsste, um zwei identische Sätze zu erhalten. Je höher die Zahl liegt, desto länger ist die Koaleszenzzeit. Gene des menschlichen Immunsystems weisen eine sehr überraschende Besonderheit auf. Zwischen zwei Menschen lassen sich me hr Unterschiede in der DNS ihrer Gene finden als zwischen diesen beiden und einem Schimpansen. Wenn Daten zu Genen des Immunsystems in den Computer eingefüttert werden, ergeben sich Stammbäume, in denen der letzte Vorfahr, der dasselbe Gen hatte, vor 30 Millionen Jahren lebte, lange bevor sich der Mensch vom Schimpansen trennte. Mit anderen Worten: Diese Gene fanden bereits Eingang ins Genom, bevor es eine menschliche Rasse gab. Anhand der Gentheorie lässt sich abschätzen, wie viele Menschen einer Population angehören müssen, um ein Gen mit -294-

so vielen Formen intakt zu halten - wenn die Zahl der Individuen zu klein ist, ist es auch nicht möglich, dass sechzig verschiedene Versionen eines Gens länger als ein paar hundert Generationen lang in der Population überleben. Daraus schließen Wissenschaftler, dass die menschliche Population in den letzten paar Millionen Jahren aus etwa 100 000 sich fortpflanzenden Individuen bestand, mit möglichen »Engpässen«, als die Population auf ein paar tausend zurückging. (Es ist ein ernüchternder Gedanke, dass wir vielleicht einmal eine bedrohte Art waren!) Die meisten Untersuchungen der DNS in Mitochondrien (und einige Untersuchungen der DNS im Zellkern) lassen darauf schließen, dass der letzte gemeinsame Vorfahr der Jetztmenschen vor 100 000 bis 400 000 Jahren lebte, wobei jeder DNS-Abschnitt eine etwas andere Koaleszenzzeit in diesem Bereich angibt. Dass unterschiedliche DNS-Abschnitte auch unterschiedliche Antworten auf die Frage der gemeinsamen Abstammung geben, ist nicht überraschend. Zum einen würde man erwarten, dass unterschiedliche Gene zu unterschiedlichen Zeiten in die Population Eingang gefunden haben; so entwickelten sich die Gene, die Indianer von ihren asiatischen Vorfahren unterscheiden, erst in jüngster Vergangenheit. Außerdem gibt es keinen Grund, dass sich Veränderungen der DNS-Sequenz in unterschiedlichen Teilen der DNS im selben Tempo akkumulieren. Vorteilhafte Mutationen in Genen, die eindeutig einen hohen Überlebenswert darstellen (im Immunsystem zum Beispiel), sollten sich viel rascher in einer Population ausbreiten als Gene für etwas relativ Neutrales wie die Augenfarbe. Nichtsdestotrotz fällt das Urteil der Molekularbiologie über den Ursprung des Menschen eindeutig aus: Alle heutigen Menschen hatten vor einigen hunderttausend Jahren einen gemeinsamen Vorfahren, und seither hat sich die ganze Vielfalt des Menschen entwickelt. Leider ist diese Schlussfolgerung ein -295-

Schlag ins Gesicht der Paläontologen, was an anderer Stelle diskutiert wird.

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Warum sind wir so klug? Letztlich ist es die Intelligenz, die den Menschen von anderen Tieren unterscheidet. Die Funktionen, die wir normalerweise mit Intelligenz assoziieren, befinden sich in der dünnen, faltigen Außenhülle des Gehirns, der Großhirnrinde. Wenn man eine normale Großhirnrinde ausbreiten würde, bedeckte sie etwa sechs Seiten dieses Buches. Im Vergleich dazu würde die Großhirnrinde eines Affen etwa eine halbe Seite und die eines Schimpansen (unseres nächsten Verwandten) etwa eineinhalb Seiten bedecken. Die Frage nach dem Ursprung unserer Intelligenz lässt sich von zwei Seiten betrachten: Man kann fragen, wann unsere Vorfahren sie erwarben, und man kann fragen warum. Die Frage nach dem Wann ist leichter zu beantworten, da wir Schädel von Vorfahren des Menschen besitzen, die mindestens 4,5 Millionen Jahre alt sind. Es ist relativ einfach, von diesen Schädeln einen Abguss herzustellen und danach die Größe des Gehirns zu bestimmen. Messungen der Gehirngröße zeigen bei unseren Vorfahren einen stetigen Anstieg des Schädelvolumens. Ein ganz wichtiger Schritt in der Evolution war die Entwicklung des Homo erectus vor etwa 1,5 Millionen Jahren. Die Bandbreite des Gehirnvolumens beim Homo erectus deckt sich zum Teil mit dem beim heutigen Menschen. Diese erhöhte Leistungsfähigkeit des Gehirns spiegelte sich in veränderten Verhaltensweisen - der Entwicklung fortschrittlicher Werkzeuge, der Zähmung des Feuers und der Nutzung von Höhlen zu Schutzzwecken, um nur einige zu nennen. Der bekannte Paläontologe Richard Leaky hat zu diesem Thema folgendes beizutragen: »Wenn ich den Schädel eines Homo erectus in der Hand -297-

halte,... habe ich das starke Gefühl der Gegenwart von etwas eindeutig Menschlichem... Er scheint es ›geschafft‹ zu haben, scheint an der Schwelle von etwas höchst Entscheidendem in unserer Geschichte zu stehen. « Offen gestanden vertraue ich der Intuition eines Wissenschaftlers, der sich lange mit Versteinerungen beschäftigt hat, mehr als den gewundenen Argumenten auf der Grundlage von Schädelmessungen. Für mich jedenfalls ist die Frage nach dem »Wann« geklärt - vor etwa 1,5 Millionen Jahren geschah etwas im Gehirn unserer Vorfahren, was diese deutlich von anderen Tieren abhob. Doch was war dieses »Etwas«? An diesem Punkt beginnt die Ungewissheit, da nach den Spielregeln der Evolution jeder Zeitpunkt der Geschichte eines Organismus einen Evolutionsvorteil mit sich bringt, nicht nur der Endzustand. So bringt es wenig zu behaupten, die Ausbildung von Flügeln erlaube einem Tier, seinen Räubern zu entkommen. Vielmehr muss man aufzeigen können, dass bereits ein halber Flügel (oder ein Viertelflügel oder sogar ein Stummel) einen Evolutionsvorteil bringt. Wenngleich es offensichtlich ist, dass eine voll entwickelte Intelligenz einen großen Vorteil für unsere Art darstellt, muss dennoch nachgewiesen werden, dass jeder Schritt auf dem Weg zur Intelligenz von den Gesetzen der natürlichen Auslese bestimmt war. In einer solchen Situation suchen Wissenschaftler nach Funktionen, die sich überschneiden - so wurde mitunter argumentiert, die Stummel, die sich später zu Flügeln entwickelten, seien für die Ableitung von Wärme gut gewesen und hätten sich aus purem Zufall auch für rudimentäre Flugversuche geeignet. Entsprechend wird heute argumentiert, bei der Entwicklung der menschlichen Intelligenz hätten sich Teile des Gehirns ausgebildet, weil sie aus einem bestimmten Grund nützlich waren, um sich anschließend aus Zufall für etwas völlig anderes als geeignet zu erweisen. Die meisten -298-

Theorien der Intelligenz kreisen um Entwicklungen, die daraus resultierten, dass unsere Hände durch den aufrechten Gang befreit wurden. Ein Mensch, der Hand und Auge koordinieren und dadurch präziser werfen kann als seine Artgenossen, besitzt einen eindeutigen Vorsprung beim Sammeln von Nahrung; die Wahrscheinlichkeit, dass er gut genährte Kinder hat, die gesund das Erwachsenenalter erreichen, ist damit größer. So kann man davon ausgehen, dass die Gene (und die entsprechenden Gehirnstrukturen) dafür verantwortlich sind, dass sich die Koordination von Hand und Auge über die Population verbreitet. Einige Wissenschaftler vertreten die These, die HandAuge-Koordination sei zum Teil mit der Fähigkeit des Gehirns verknüpft, eine ganze Folge vor allem neuer und unbekannter Handlungsabläufe zu bewältigen. (Um beispielsweise einen Feuerstein mit einem Steinwerkzeug richtig zu treffen, muss man von Anfang an die gesamte Abfolge der Handbewegungen planen - die Zeit reicht nicht für Korrekturen, wenn der Schlag bereits eingesetzt hat.) Dieselben planerischen Fähigkeiten sind auch für die Entwicklung der Sprache wichtig - tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass Schlaganfallpatienten, bei denen einige Sprachfunktionen verloren gegangen sind, auch Schwierigkeiten damit haben, ihre Arme in einer neuen Reihenfolge zu bewegen. Vertreter einer solchen Theorie argumentieren, dass die Entwicklung von Sprachzentren in der linken seitlichen Region des Gehirns eine Begleiterscheinung von Verbesserungen bei der Koordination zwischen Hand und Auge war. Ich vermute, dass wir mit zunehmendem Wissen über die Arbeitsweise des Gehirns auch mehr derartige Erklärungen für verschiedene geistige Fähigkeiten bekommen werden, und zwar vor allem für solche, die wir als exklusiv menschlich betrachten. Das Vermögen, mit komplexen Handlungen fertig zu werden, ist für kurz- und langfristiges Planen unabdingbar, wobei sich beide Fähigkeiten ausschließlich als Nebenfolge von etwas anderem entwickelt haben könnten. Wie viele weitere Eigenschaften, die -299-

wir für exklusiv menschlich halten, entstanden als Begleiterscheinungen derart prosaischer Fähigkeiten? Das, glaube ich, ist die zentrale Frage.

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Wer war der erste Mensch? Ein Großteil der Erkenntnisse über unsere menschlichen Vorfahren resultiert aus der Entdeckung und Erforschung von Fossilien - steinernen Abgüssen vo n Skeletteilen. Das eigentliche Problem beim Zurückverfolgen des menschlichen Stammbaums besteht darin, dass von unseren Vorfahren nicht besonders viele Versteinerungen erhalten sind. Dafür gibt es eine Menge von Gründen. Zum einen waren die Menschen früher nicht so zahlreich - wahrscheinlich gab es damals nicht mehr als heute Schimpansen. Außerdem werden die Kadaver von Landtieren normalerweise nicht beerdigt, sondern eher von Aasfressern verstreut, um anschließend zu verwesen. Und selbst wenn eine Versteinerung entsteht, gibt es keine Gewähr, dass der Fels, in den sie eingeschlossen wurde, nach Millionen von Jahren noch zugänglich ist. Die aufschlussreichsten Versteinerungen der Erde befinden sich womöglich außerhalb unserer Reichweite - beispielsweise 70 Meter unter einem Einkaufszentrum am Stadtrand. Ein weiterer Grund für die geringe Zahl menschlicher Versteinerungen ist die von Wissenschaftlern eingesetzte Suchmethode. Oft erstaunt es den Laien, dass Wissenschaftler auch in unserem hochtechnologisierten Informationszeitalter noch wie vor hundert Jahren mit gesenktem Blick herumlaufen, um am Boden nach Versteinerungen zu suchen. Die Paläontologie des Menschen ist somit ein Gebiet, dem es seit jeher an Daten mangelt - und daran wird sich vermutlich auch in Zukunft nichts ändern. Es ist hier nicht wie in der Physik, wo man ein Experiment so lange durchführen kann, bis man alle notwendigen Informationen zusammenhat. So basiert das Wissen über unseren jüngsten Verwandten, den Neandertaler, auf etwa einem Dutze nd Schädel und kleineren -301-

Versteinerungen von etwa einhundert Menschen. Aus diesem Grund ist die Paläontologie des Menschen eines der wenigen Gebiete der Wissenschaft, in denen ein einziger neuer Fund ein Gedankengebäude völlig auf den Kopf stellen kann. So entdeckte Donald Johnson 1974 in Äthiopien mit der Versteinerung, die wir heute Lucy nennen, den ältesten damals bekannten Verwandten des Menschen. Die meisten seither erstellten Stammbäume zeigen den Australopithecus afarensis (der Fachbegriff für Lucy und ihre Verwandten) vor 3,8 Millionen Jahren an der Basis und weiter oben verschiedene verwandte Arten, die später entstanden. Doch da jedes Mitglied des Stammbaums nur durch wenige Versteinerungen bekannt ist, lässt sich schwer beurteilen, wann genau eine Linie auftauchte und ausstarb und ob eine bestimmte Versteinerung einen Nebenzweig oder den Stamm eines anderen Baums darstellt. Selbst heute wird noch darüber diskutiert, ob der Neandertaler als Vorfahr oder als Vetter betrachtet werden sollte. Für unsere jüngeren Ahnen lässt sich dagegen ein grobes Schema des Stammbaums zeichnen. Die Probleme treten da auf, wo die jüngeren Zweige mit der älteren Vergangenheit verknüpft werden sollen. Es gibt halbwegs aussagekräftige fossile Zeugnisse von bis zu 8 Millionen Jahre alten Primaten. Eine Handvoll Primaten sind aus der früheren Zeit bekannt kleine affenähnliche Wesen, die man ohne große Probleme vom Stammbaum des Menschen unterscheiden kann. Zwischen diesen frühen Primaten und Lucy erstreckt sich jedoch eine 4 Millionen Jahre währende paläontologische terra incognita. Nicht nur, dass es aus dieser Zeit praktisch keine Versteinerungen von Primaten gibt; man findet auf der Erdoberfläche auch kaum Felsformationen, die solche Versteinerungen enthalten könnten. Deshalb ist die Region im Süden Äthiopiens, wo Lucy gefunden wurde, so wichtig - eines der wenigen Gebiete, wo man darauf hoffen kann, frühe -302-

Menschen und ihre Ahnen zu finden. Leider war diese Region in jüngster Vergangenheit politisch instabil und deshalb für wissenschaftliche Expeditionen nicht immer zugänglich. Nach diesen Ausführungen muss ich eine Warnung anbringen. Manchmal wird die Diskussion über Vorfahren des Menschen im Hinblick auf das »missing link« geführt - ein Bindeglied zwischen dem Menschenaffen und dem Jetztmenschen. Diese Vorstellung basiert auf dem Gedanken, dass wir irgendwie von den heutigen Menschenaffen abstammen. Dabei handelt es sich um eine Fehlinterpretation der Evolutionstheorie, die nichts dergleichen lehrt. Stattdessen geht sie davo n aus, dass sowohl der heutige Mensch als auch die heutigen Affen von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen, der bereits vor Millionen Jahren lebte. Aufgrund der oben skizzierten Probleme kommen die Erforschung der frühesten Menschen und die Suche nach einem gemeinsamen Vorfahren nur in plötzlichen Schüben - zwischen denen oft Jahrzehnte liegen - voran, wenn neue Funde gemacht werden. Erst 1994 wurde in Äthiopien ein wichtiger Prä-Lucy-Fund bekannt gegeben, der Australopithecus ramidus (»südlicher Menschena ffe, Wurzel der Menschheit«). Dieses Tier ist uns durch einen Unterarm, einen Teil des Schädels und des Kiefers sowie einige Zähne von insgesamt siebzehn Individuen bekannt. Dennoch rücken diese Versteinerungen (etwa die Eckzähne, die größer als bei anderen Hominiden, aber kleiner als bei Menschenaffen sind) ramidus ungefähr zwischen Lucy und die früheren Primaten. Diese Entdeckung (der erste größere Fund in dieser Region seit Lucy) verkürzte die Phase der Ahnungslosigkeit um eine halbe Million Jahre. Ich gehe davon aus, dass die Aufdeckung der Vergangenheit des Menschen in diesem langsamen Tempo weitergeht und jedes Jahr ein oder zwei neue Fossile auftauchen. Die Tatsache, dass ramidus niemanden dazu bewog, die Geschichte umzuschreiben, könnte -303-

aber bedeuten, dass künftige Funde weniger revolutionär sein werden als jene in der Vergangenheit.

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Wie schnell verläuft die Evolution? Als Charles Darwin vor mehr als einem Jahrhundert seine Evolutionstheorie vorbrachte, glaubte er, dass evolutionärer Wandel langsam und allmählich vonstatten ginge, dass sich kleine Veränderungen akkumulierten und schließlich zu der enormen Artenvielfalt führten, die wir heute haben. Bei dieser Sichtweise stellt sich aber ein Problem, das Darwin selbst bereits erkannte. Wer sich mit Fossilien beschäftigt, der stößt häufig auf Fälle, in denen eine Art lange Zeit überdauert und dann plötzlich verschwindet, um durch eine andere Art ersetzt zu werden; dieses Muster wiederholt sich immer wieder. Die Vorstellung, dass die Evolution durch die langsame Akkumulation von Veränderungen stattfindet, bezeichnet man als Gradualismus; die Theorie, dass lange Phasen der Stabilität von Schüben schneller Veränderung unterbrochen werden, heißt Punktualismus oder Theorie des unterbrochenen Gleichgewichts. Sie werden sich vielleicht fragen, warum der Evolutionsprozess überhaupt in der Diskussion ist, da die Versteinerungen doch eigentlich Aufschluss darüber geben sollten, wer nun Recht hat. Um zu begreifen, warum das Feststellen der Evolutionsgeschwindigkeit ein solches Problem darstellt, muss man ein wenig darüber wissen, wie man Versteinerungen findet (oder sammelt, um im Paläontologenjargon zu bleiben). Wenn ein Organismus nach dem Ableben rasch begraben wird, kann es passieren, dass durch den Boden fließendes Wasser die Knochen und harte Teile durch Mineralien ersetzt. Das Ergebnis: eine steinerne Reproduktion des Originals, die man als Versteinerung oder Fossil bezeichnet. Wird das Fossil durch Verwitterung an die Oberfläche gebracht und von einem Paläontologen gefunden, so -305-

stellt es für uns ein versteinertes Zeugnis der Vergangenheit dar. Wie zu erwarten, ist dieser Vorgang ziemlich unberechenbar. Bei einem Tier, das an Land stirbt, ist es viel wahrscheinlicher, dass seine Knochen von Aasfressern verstreut werden, als dass sie versteinern. Wissenschaftler schätzen sogar, dass uns weniger als eine von 10 000 Arten (nicht Individuen) in Form von Versteinerungen erhalten ist. Paläontologen finden ein paar Fossilien von einer Art hier und ein paar Fossilien dort und versuchen dann, einen Stammbaum daraus zu machen. Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass zwischen zwei erhaltenen Versteinerungen einer Art ein Zeitraum von mehreren hunderttausend oder sogar Millionen Jahren liegt. Unter diesen Umständen kann es natürlich leicht passieren, dass der Übergang von einer Art zur anderen verpasst wird. Dazu eine Analogie: Wenn man ein Foto von einer geschäftigen Stadt sieht, entdeckt man darauf zumeist viele Menschen im Auto und viele Menschen zu Fuß. Wahrscheinlich würde man auf dem Foto aber kaum jemand - vielleicht sogar niemand - sehen, der gerade in einen Wagen steigt. Sofern man nicht über einen ganzen Zeitraum eine Reihe von detaillierten Fotos der Stadt vorliegen hat, kann man leicht den Augenblick verpassen, in dem Fußgänger zu Autofahrern werden. Entsprechend braucht man schon ungewöhnlich viele und detaillierte Versteinerungen, um nicht den Übergang von einer Art zur anderen zu verpassen. Genau dies ist auch die traditionelle darwinistische Erklärung für die Lücken zwischen den Versteinerungen, obwohl der zugrunde liegende Evolutionsprozess selbst graduell verläuft. Die einzige Chance auf eine Klärung der Frage besteht darin, Orte mit ungewöhnlich vielen Fossilien aufzusuchen. Eine der ersten derartigen Untersuc hungen wurde in den Waliser Bergen durchgeführt, wo aus Ablagerungen, die sich vor einigen hundert Millionen Jahren in einer ruhigen Bucht sammelten, ein überaus feinkörniges Gestein entstand, in dem sich die Evolution der Trilobiten erhalten hat. Durch sorgfältiges -306-

Sammeln und Analysieren dieser Versteinerungen konnte der britische Paläontologe Peter Sheldon nachvollziehen, wie sich eine Art in eine andere verwandelte. Sein Urteil: In diesem Fall vollzog sich die Evolution graduell. Aber das ist nicht das letzte Wort. Wissenschaftler, die sich mit der Evolution der korallenartigen Moostierchen in den letzten 15 Millionen Jahren befassten, stießen exakt auf das gegenteilige Muster. Nach ihrer Analyse blieben Moostierchenarten über eine lange Zeit hinweg mehr oder weniger konstant, um dann innerhalb von vielleicht 100 000 Jahren (nach geologischen Maßstäben nur ein Wimpernschlag) neue Arten hervorzubringen. Diese 1995 veröffentlichte Studie ist der bislang beste fossile Nachweis für Punktualismus. Und so weiter und so fort. Paläontologen, die sich mit der Evolution von präriehundeartigen Tieren befassen, die vor 50 Millionen Jahren in Wyoming lebten, stoßen auf graduelle Entwicklungen; Wissenschaftler, die sich auf Süßwasserschnecken konzentrieren, finden einige, die sich über einen Zeitraum von 2 Millionen Jahren hinweg graduell entwickelten, und solche, bei denen es eine sprunghafte Entwicklung gab. Die richtige Antwort auf die Frage »Verläuft die Evolution punktuell oder graduell? « lautet offenbar »ja«. In Zukunft wird sich diese Diskussion um zwei Fragen drehen: (1) Wie oft und unter welchen Umständen weisen Arten einen graduellen oder punktuellen Evolutionsverlauf auf? (2) Wie bleiben Arten unter veränderten Umweltbedingungen über lange Phasen hinweg stabil? Dies sind zwei interessante Fragen, und ich jedenfalls freue mich auf eine lebhafte Diskussion.

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Gab es Leben auf dem Mars? Wenn der Mars in seinen jungen Jahren wirklich feuchter war - wenn es auf seiner Oberfläche tatsächlich Meere gab, wie man heute glaubt -, tut sich eine höchst interessante Möglichkeit auf. Heute geht man davon aus, dass das Leben auf unserem eigenen Planeten nach der Phase des so genannten »Großen Bombardements« ziemlich rasch entstand, als große Materiebrocken die neu entstandenen Planeten beschossen. Was wäre, wenn die Meere auf dem Mars nach dieser Phase lange genug existierten, dass sich Leben entfalten konnte? Dann könnte es vor über 3 Milliarden Jahren Leben auf unserem Nachbarn gegeben haben, auch wenn es heute ausgelöscht is t. Lassen sich heute auf der Oberfläche des Planeten Hinweise auf dieses kurze Experiment des Lebens finden? Tatsächlich hatte das Leben auf dem Mars vielleicht sogar mehr als eine Chance zu entstehen. Der Planet enthielt nicht nur in der Frühzeit des Sonnensystems Wasser, als der Mars noch jung war, sondern es gibt auch einige Hinweise darauf, dass die Oberfläche seither in periodisch auftretenden Phasen massiv überflutet wurde. Mit anderen Worten: Es könnte Phasen gegeben haben (wenn auch keine in der letzten Jahrmilliarde), in denen auf dem Mars Gewässer von der Größe des Mittelmeers oder sogar des Atlantiks existierten. Es ist möglich, dass auf dem Mars einige Male Leben entstand, nur um nach dem Verschwinden des Wassers wieder ausgelöscht zu werden. Daher darf man heute zwar nicht erwarten, auf dem Planeten kleine grüne Männchen (oder auch nur kleine grüne Mikroorganismen) zu finden, aber bei genauem Hinsehen könnte man doch auf Versteinerungen stoßen. Auf der Erde haben Wissenschaftler versteinerte Mikroorganismen entdeckt - der Nachweis einzelliger Bakterien ist eine der wichtigsten Stützen der Evolutionstheorie. Zu diesem Zweck muss man altes Sedimentgestein suchen, das sich -308-

in der Anfangsphase des Lebens auf dem Planeten ablagerte, die Steine in dünne Scheiben schneiden und diese unter einem leistungsfähigen Mikroskop betrachten. Wenn man Glück hat, findet man Eindrücke von einfachen Bakterien. Auf der Erde wurden so Beweise für 3,5 Milliarden Jahre altes Leben entdeckt. Auf dem Mars lassen sich Bereiche mit Sedimentablagerungen erkennen, die heute auf der Erde ein erstklassiges Revier für die Fossilienjagd abgäben. Außerdem bedeutet die Tatsache, dass es auf dem Mars keine Plattentektonik gibt, dass die Steine an der Oberfläche seit langer Zeit dort liegen; auf der Erde dagegen sind die meisten Steine, die vor Milliarden Jahren an der Oberfläche waren, entweder auf dem Meeresboden verschwunden oder verwittert. Durch die dünne Atmosphäre und das Fehlen von Wasser findet auf dem Mars keine Verwitterung statt, und so lassen sich an der Oberfläche immer noch viele alte Steine untersuchen. Die Bedeutung von Fossilienfunden auf dem Mars wäre kaum zu überschätzen. Die Fragen, die sich beantworten ließen, wenn man eine Lebensform auf einem anderen Planeten fände, sind so grundlegend, dass sie in der heutigen Biologie nur höchst selten gestellt werden. Worin liegt nun diese Bedeutung? Jede Lebensform auf der Erde, vom Schaum auf einem Weiher bis zum Grauwal, ist das Ergebnis eines einzigen Experiments mit dem Leben - eines einzigen genetischen Mechanismus. Jedes Lebewesen stammt von derselben Urzelle ab, und dieses Verhältnis spiegelt sich in unseren eigenen Zellen wider. Es ist ein ernüchternder Gedanke, dass sich einige Abschnitte der menschlichen DNS zu etwa fünfzig Prozent mit der DNS von Bierhefe decken wenig schmeichelhaft für den Homo sapiens. Selbst wenn auf unserem Planeten irgendwann andere Lebensformen entstanden sein sollten, ist offenbar kein Hinweis darauf überliefert. Die gesamte Wissenschaft der Biologie basiert daher auf der -309-

Erforschung eines einzigen Experiments - das vor Milliarden Jahren auf der Erde stattfand. Wenn das Leben aber unter anderen Umständen erneut einsetzen würde - in einem anderen Experiment der Natur -, wäre dieses Leben dann anders oder identisch? Würde es auf der Chemie von Kohlenstoff basieren? Auf DNS? Sähen alte Versteinerungen vom Mars wie jene auf der Erde aus? Im gegenwärtigen Kontext der Biologie lässt sich diese Fragen nicht beantworten. Fände man jedoch Versteinerungen auf dem Mars, erhielte man zumindest ansatzweise eine Antwort. Wenn sich herausstellte, dass das Marsexperiment wie unseres auf DNS basierte, könnte man argumentieren, bei der molekularen Basis des Lebens gebe es eine gewisse Zwangsläufigkeit. Eine solche Erkenntnis würde darauf hindeuten, dass auf Kohlenstoff basierendes Leben unter Verwendung der DNS in gewisser Weise die Lebensform ist, die durch die Gesetze der Chemie und Physik zugelassen wird. Wenn wir andererseits aber Leben fänden, das auf einer völlig anderen chemischen Zusammensetzung beruht, müssten wir daraus schließen, dass die Mechanismen auf der Erde im Grunde Zufall sind - nur eine Möglichkeit unter vielen. In diesem Fall erschiene die gesamte Biologie als die Untersuchung eines Zufalls, und ma n würde nicht erwarten, dass Lebensformen, denen man anderswo im Weltall begegnet, der unseren ähnlich sind. Diese Fragen lassen sich aber so lange nicht beantworten, wie man noch keine Versteinerungen auf dem Mars gefunden hat. Und hier die gute Nachricht : Die nächste Mars-Mission (das Eintreffen ist für 1998 geplant) wird an einer Stelle landen, wo die ersten Schritte auf dieser Suche - die Analyse von Mineralien, die Versteinerungen enthalten könnten - möglich sind.

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Was ist bloß mit dem Neandertaler passiert? Armer Neandertaler. Von Anfang an wurde er als Verlierer abgestempelt, als schlurfender, dummer, ungeschlachter Kerl, der die Ausrottung mehr als verdient hat. Glücklicherweise ändert sich diese Sichtweise nun, und die moderne Wissenschaft geht mit dem Neandertaler freundlicher um. Heute weiß man, dass die gängige Vorstellung einer gebeugten Haltung und eines schlurfenden Gangs von der Analyse eines versteinerten Mannes herrührt, der an fortgeschrittener Osteoarthritis litt! Der Neandertaler lief aufrecht wie wir - wenn man ihn in einen eleganten Anzug stecken und in die New Yorker U-Bahn setzen würde, dürfte er kaum neugierige Blicke auf sich ziehen. Der Neandertaler war tatsächlich unser engster Verwandter im Stammbaum - einige Wissenschaftler halten ihn sogar für eine Unterart des Homo sapiens. Aus unten angeführten Gründen habe ich daran meine Zweifel, aber Tatsache ist, dass er uns ganz ähnlich war. Der Neandertaler bestattete seine Toten mit einer Zeremonie, besaß vielleicht eine mündliche Sprache und hatte im Durchschnitt ein größeres Gehirn als wir. Unter Paläontologen gab es heftige Auseinandersetzungen darüber, wie der Neandertaler entstand und warum er wieder ausstarb. 1992 schien eine wichtige Entdeckung in einer Höhle in Spanien die erste Frage zu klären. Bis dahin hatte es das Problem gegeben, dass die wenigen in Europa gefundenen Schädel, die mehr als 130 000 Jahre alt waren, sich deutlich voneinander unterschieden und keiner alle typischen Merkmale des Neandertalers (ausgeprägte Augenbrauenkämme, längliche Schädelform, vorstehender Kiefer) aufwies. Einige Paläontologen argumentierten, diese Überreste bewiesen die Existenz von mehreren verschiedenen Arten des Altmenschen, -311-

von denen nur eine zum Neandertaler geführt habe. In der spanischen Höhle stießen die Paläontologen auf eine Goldgrube - drei gut erhaltene Neandertalerschädel, die bis zu 300 000 Jahre alt waren. Diese Schädel, die offensichtlich alle aus derselben Population stammten, unterschieden sich ebenso deutlich wie alle vorherigen Schädel von unterschiedlichen »Arten«. Die Schlussfolgerung: Eine große Bandbreite an Schädelformen ist ein normales Merkmal der Neandertalerpopulation, die nun zumindest 300 000 Jahre verlässlich zurückdatiert werden kann. Die wirklich interessante Frage im Zusammenhang mit dem Neandertaler betrifft aber sein Verhältnis zu den Ahnen des Jetztmenschen. Hier sind neuere Untersuchungen von Versteinerungen aus Höhlen in Israel von Bedeutung. Diese Höhlen waren offenbar von 90 000 bis 35 000 Jahren vor unserer Zeit bewohnt. Unter dem Boden befinden sich einige Schichten mit versteinerten Neandertalern im Wechsel mit Schichten, die Versteinerungen des Jetztmenschen enthalten. Eine mögliche Interpretation dieser Tatsache lautet, Jetztmenschen und Neandertaler hä tten 55 000 Jahre lang gleichzeitig gelebt, ohne sich zu vermischen; dies wäre ein deutlicher Hinweis darauf, dass es sich beim Neandertaler und bei unseren Vorfahren um zwei unterschiedliche Arten gehandelt hat. Was ist ihnen also zugestoßen? Versteinerungen des Neandertalers sind am vollständigsten in Europa erhalten, und dort ist die Geschichte eindeutig. Über einige hunderttausend Jahre gibt es eine Fülle von Versteinerungen des Neandertalers. Dann - vor etwa 35 000 Jahren und damit fast genau zeitgleic h mit dem Auftreten des Jetztmenschen - kam es zum Bruch; vom Neandertaler sind keine Versteinerungen mehr erhalten. Wie dies zuging, bleibt eines der großen Rätsel der Menschheitsgeschichte. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen über diese Frage sind denn auch höchst spekulativ, da es keine direkten Beweise -312-

gibt - beispielsweise keinen Neandertalerschädel mit einer darin eingeklemmten Axt des Jetztmenschen. Früher nahm man an, der Neandertaler sei von den Eindringlingen einfach ausgelöscht worden - im Jahrhundert von Adolf Hitler, Joseph Stalin und Pol Pot sicherlich keine unvernünftige Theorie. Als in jüngerer Zeit aber mehr Daten zur Anatomie und zur Lebensweise des Neandertalers gesammelt wurden, schlug die Forschung eine etwas andere Richtung ein. Im Hinblick auf das große Gehirn des Neandertalers haben sich Wissenschaftler die Frage gestellt, warum unsere Vorfahren diesen prähistorischen Wettstreit für sich entscheiden konnten. Wenn die Intelligenz ein wichtiger Überlebensfaktor ist und in Beziehung zum Gehirnvolumen steht, hätten eigentlich unsere Vorfahren ausgelöscht werden müssen und nicht der Neandertaler. Heute wird argumentiert, der Jetztmensch habe zwar ein etwas kleineres Gehirn als der Neandertaler, vor allem auf dem Gebiet der technologischen Innovation aber recht vielseitige Fähigkeiten entwickelt. So war über eine Jahrmillion hinweg das grundlegende Werkzeug des Menschen die Handaxt, ein Stein, der so lange mühselig behauen wurde, bis er auf einer Seite eine scharfe Kante hatte. Die Jetztmenschen perfektionierten dagegen die Kunst, scharfe Steinsplitter (die selbst als Werkzeug dienen können) von einem Steinkern abzuschlagen. Durch diese Technik konnten die Jetztmenschen rasch eine große Bandbreite von Steinwerkzeugen herstellen. Wenn sich der Neandertaler diesem technologischen Wandel tatsächlich nicht anpassen konnte, ist der Grund für sein Verschwinden kein Geheimnis, und er war lediglich eine von vielen Arten, die einer anderen Art weichen mussten, die eine bestimmte ökologische Nische besser ausfüllen konnte. Nach diesen Ausführungen sollte ich hinzufügen, dass auf diesem Gebiet der Wissenschaft jede neue Entdeckung (wie die Höhle in Spanien) unser Denken revolutionieren kann. Mit anderen Worten: Seien Sie nicht überrascht, wenn sich die -313-

herrschende Meinung noch ein paar Mal drastisch ändert, bevor sich eine Variante endgültig durchsetzt.

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Spricht hier jemand Nostratisch? Unsere Sprachen verraten viel über die Geschichte und die Gesellschaft, in der wir leben. Englisch enthält beispielsweise Wörter wie hand, shoe und bread (die ihren deutschen Pendants sehr ähnlich sind) oder wie pendant, fumigate und cataclysm (die ihren französischen oder lateinischen Pendants sehr ähnlich sind); daraus lässt sich eine Menge über die englische Geschichte ableiten. Analog dazu werden in ferner Zukunft Linguisten, die Wörter wie microchip und airplane im heutigen Englisch feststellen, einige Schlussfolgerungen über unsere technischen Fähigkeiten ziehen können. Linguisten haben derartige Analysen dazu verwendet, die Entwicklungsgeschichte der Sprachen dieser Welt nachzuvollziehen. Durch die Untersuchung existierender Sprachen und mit Hilfe von linguistischen Gesetzen leiten sie die früheren Formen ab. Ein derartiges Gesetz wurde 1822 von Jacob Grimm formuliert (der vor allem durch die Sammlung von Märchen bekannt ist, die er zusammen mit seinem Bruder aufschrieb). Der Grundgedanke des Grimmschen Gesetzes lautet, dass es in der Entwicklung von einer Sprache zur anderen bestimmte Muster des Lautwandels gibt - so werden Konsonanten wie »b«, »d« und »g« in der Regel durch »p«, »t« und »k« ersetzt. Durch diese Analysemethode konnten Linguisten einen Großteil des Indo-Europäischen rekonstruieren, das die Grundlage der meisten modernen europäischen und indischen Sprachen bildet. (Allgemein geht man davon aus, dass IndoEuropäisch vor etwa 6000 Jahren gesprochen wurde.) Die Sprache enthält viele Wörter für Dinge wie hohe Berge und Gebirgsflüsse; das Urvolk stammte somit wahrscheinlich aus einer Gebirgsregion. Daneben gibt es Wörter für Trauben, -315-

Gerste und Kirschen, was sowohl auf Ackerbau als auch (zumindest im Hinblick auf die Trauben) auf eine südliche Lage hinweist. Als Herkunftsregion der Ursprache kommen wohl am ehesten die Osttürkei und das Kaukasusgebirge in Frage. Diese Art der Rekonstruktion ist keine bloße Träumerei im Elfenbeinturm. Im späten 19. Jahrhundert argumentierte ein französischer Linguist unter Berufung auf diese Analyse, es müsse heute verloren gegangene Sprachen mit bestimmten Eigenschaften geben. In den zwanziger Jahren förderten Ausgrabungen in der Osttürkei Tontafeln mit einer von ihm vorhergesagten Sprache (einer Version des Hethitischen) zutage. Diese Ausgrabungen, die aufzeigten, dass es vor etwa 4000 Jahren mehrere verschiedene indoeuropäische Sprachen gab, lieferten auch Informationen darüber, wann sich die Ursprache in ihre vielen Abkömmlinge aufteilte. Soweit befinden wir uns sprachgeschichtlich auf einem ziemlich sicheren Terrain. Der Konflikt beginnt da, wo versucht wird, vom Indo- Europäischen zu einer (möglichen) früheren Sprache zurückzuarbeiten. So behaupteten einige sowjetische Linguisten tatsächlich, sie könnten die Entwicklung bis zu einer hypothetischen Sprache namens Nostratisch (nach dem lateinischen Wort für »unser«) zurückverfolgen. Nostratisch ist angeblich die Wurzel der indoeuropäischen und der semitischen Sprachen wie Arabisch und Hebräisch sowie asiatischer Sprachen wie Koreanisch. Vertreter dieser Theorie glauben, dass etwa drei Viertel der Menschheit eine Sprache sprechen, die vom Nostratischen abgeleitet ist, das angeblich vor 12 000 Jahren gesprochen wurde. Natürlich hat auch diese Theorie ihre Kritiker. Die schärfsten Gegner sind in der Regel Forscher, die das Indo- Europäische herausarbeiteten. Sie behaupten nicht, dass der Gedanke einer Sprache wie des Nostratischen falsch sei, sondern fühlen sich gekränkt, dass eine solche Theorie vertreten wird, ohne sich der detaillierten und mühevollen Arbeit zu unterziehen, die für die -316-

Rekonstruktion des Indo-Europäischen aufgewendet wurde. Wenn die Theorie vom Nostratischen stimmt, dürften diese Kritiker beizeiten umschwenken. Was verrät uns das Nostratische über die Kultur jener, die es sprachen? Im Augenblick behaupten die Linguisten, sie hätten 1600 nostratische Wortstämme rekonstruiert. Die Sprache scheint viele Worte für Pflanzen, aber keine für Kulturpflanzen zu besitzen. Die Wörter für Tiere unterscheiden nicht zwischen domestizierten und wilden Varianten. Es gibt sogar ein Wort (haya), das »Tiere im Verlauf von einigen Tagen zur Strecke bringen« zu bedeuten scheint. Die Sprecher des Nostratischen hatten eindeutig noch keinen Ackerbau entwickelt und lebten als Jäger und Sammler. Niemand erwartet, dass uns die linguistische Analyse die gesamte Geschichte der frühen Wanderungen des Jetztmenschen aufzeigt. Zur Unterstützung jeder linguistischen Theorie sind archäologische Daten erforderlich, ob sie nun durch schriftliche Zeugnisse oder durch Gegenstände geliefert werden. Das Problem ist natürlich, dass Jäger und Sammler nicht besonders viele Gegenstände anfertigen; ihre Spur ist archäologisch deshalb äußerst schwierig zu verfolgen. Jüngst haben Molekularbiologen versucht, DNS-Studien mit linguistischen Theorien zu verknüpfen, um aufzuzeigen, dass sich die in der Sprache manifestierte Geschichte von der Teilung der Völker mit der Geschichte deckt, die in der DNS enthalten ist. Dies ist ein etwas zweifelhaftes Unterfangen, da die Menschen ohne einen Austausch ihrer Gene von einer Sprache zur anderen wechseln können - und umgekehrt. Die heutigen Ungarn etwa sind genetisch Europäer, sprechen aber eine nichtindoeuropäische Sprache, die vor über tausend Jahren von den Magyaren eingeführt wurde. Schließlich wollen einige Linguisten Teile der ursprünglichen Protosprache rekonstruieren, die zu Nostratisch und allen modernen Sprachen führte. Bis ich das glaube, warte ich aber -317-

lieber erst einmal ab.

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8. Technologie (vor allem des Computers)

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Wenn man einen Menschen zum Mond schicken kann, warum gibt es dann kein anständiges Elektroauto? Die Antwort liegt, mit einem Wort, in der Batterie. Eine Batterie ist ein Gerät, das Energie in Form bestimmter chemischer Verbindungen speichert. Wenn diese Verbindungen miteinander reagieren, erzeugen sie (unter anderem) einen Elektronenfluss in einem externen Draht, der als elektrischer Strom wahrgenommen wird. In einer Bleibatterie - wie etwa in Ihrem Wagen - werden durch chemische Reaktionen zwischen Blei und Schwefelsäure an einer Platte Elektronen freigesetzt, die sich dann durch einen äußeren Draht bewege n, um sich Atomen anzuschließen, die an der anderen Platte chemische Reaktionen durchlaufen. Wenn die chemischen Verbindungen ihre Arbeit getan haben, ist die Batterie entladen, und es fließt kein Strom mehr. An diesem Punkt müssen manche Batterien (etwa die im Walkman) weggeworfen werden. Andere (wie die im Wagen) lassen sich regenerieren, wenn man Strom (etwa durch einen Generator) in umgekehrter Richtung durch die Batterie fließen lässt und diese neu auflädt. Das Prinzip eines Elektroautos ist also einfach: Man benutzt Batterien, um den Wagen tagsüber zu fahren, und schließt ihn über Nacht zum Laden wieder an die Steckdose an. Die Anforderungen, denen die Batterie eines Elektroautos genügen muss, sind ziemlich hoch, und ob sie überhaupt zu erfüllen sind, steht noch dahin. Zum einen muss die Batterie genügend Energie speichern, damit das Fahrzeug eine vernünftige Reichweite hat (die Entfernung, die man ohne erneutes Aufladen fahren kann). Die meisten Elektroautos haben heute eine Reichweite von etwa 100 Kilometern, aber man wird -320-

sie auf mehr als 160 Kilometer erhöhen müssen, damit die Autos für potentielle Kunden attraktiv sind. Die Batterie braucht genügend Leistung, um den Wagen rasch zu beschleunigen. Sie muss Hunderte von Ladevorgängen aushaken (im Idealfall sollte man die Batterien während der Lebensdauer des Fahrzeugs niemals austauschen müssen) und sollte sich rasch wieder aufladen lassen. Sie muss bei allen Temperaturen funktionieren und im Wesentlichen wartungsfrei sein. Darüber hinaus sollte die Batterie billig sein und nach Ablauf ihrer Nutzungszeit recycelt werden können. Und das, meine Freunde, ist eine ganz schöne Liste! Im Wettlauf um die beste Batterie gibt es drei Kontrahenten. Da ist zunächst die alte Bleibatterie, die zwar am billigsten ist, aber kaum genügend Energie aufbringen und speichern kann. Die ebenfalls seit langem erhältlichen Nickel-CadmiumBatterien werden häufig in der Industrie und in elektronischen Geräten eingesetzt; die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass auch in Ihrem Laptop eine steckt. Diese Batterien liefern etwa doppelt so viel Energie pro Kilogramm wie Bleibatterien und können viele Male neu aufgeladen werden. Leider sind sie auch etwa doppelt so teuer. Schließlich gibt es noch Batterien, die auf chemischen Reaktionen zwischen Nickel und einer Mischung aus Metallverbindungen basieren. Vielleicht haben Sie einige dieser »Nickel-Metall- Batterien« in letzter Zeit in Computern gesehen. General Motors und die kleine Hightech-Firma Ovonics haben Fahrzeuge entwickelt, die von diesen Batterien angetrieben werden; sie speichern etwa zweieinhalbmal so viel Energie wie eine Bleibatterie und werden, wenn sie einmal in Produktion gehen, ungefähr so teuer sein wie die aus NickelCadmium. Ovonics testet seit einigen Jahren in Michigan umgebaute Fahrzeuge von General Motors und verfügt daher bereits über Daten, welche Leistungen ihre Batterien in der Praxis erbringen. In der Stadt beträgt die Reichweite über 200 Kilometer (240 auf -321-

der Autobahn), und sie scheinen mächtig beschleunigen zu können. Ich denke, wenn die Kosten noch gesenkt werden können, ist das die Batterie, die die Autos der Zukunft antreiben wird. Noch ein Wort zum Markt für Elektroautos. Man wird sie hauptsächlich für den Pendelverkehr und für Stadtfahrten benutzen - niemand will damit durch die Wüste fahren. Peugeot hat in den letzten Jahren einen Wagen mit einer NickelCadmium- Batterie im französischen La Rochelle getestet und war mit den Tests so zufrieden, dass die Firma 1995 gleich 5000 Elektroautos produzierte. Ein interessanter Nebenaspekt ist die aus Marktstudien gewonnene Erkenntnis, dass die Hauptsorge der Leute im Zusammenhang mit Elektroautos darin besteht, dass unterwegs die Batterie leer wird. In La Rochelle luden die Leute ihre Batterien meist in der Nacht auf, wenn noch etwa 70 Prozent der Energie vorhanden war. Der »Impulse« (ein Vorführwagen von GM mit Bleibatterien) hat eine integrierte Abschaltautomatik. Wenn die Batterien schwach werden, schaltet der Wagen zuerst alle Extras ab (wie Klimaanlage oder Radio) und fährt dann nicht mehr schneller als 30 km/h. Ingenieure bezeichnen dies als »Humpelmodus«. Wenn man auf dem Highway oft Leuten begegnet, deren Fahrzeuge nicht schneller als 30 km/h fahren, wird es allerdings eine Weile dauern, bis das Elektroauto ein Schlager auf dem amerikanischen Automarkt wird.

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Wie leistungsfähig können Mikrochips sein? In den sechziger Jahren, als die Computerrevolution noch in den Kinderschuhen steckte, bemerkte ein Mann namens Gordon Moore (der später einer der Gründer von Intel werden sollte), dass die Entwicklung der Computertechnologie ein ungewöhnliches Merkmal aufwies: Die Speicherkapazität von Computern verdoppelte sich alle zwei Jahre. Seither hat man festgestellt, dass offenbar beinahe jedes Kriterium für die Leistungsfähigkeit eines Computers - die Größe der Schaltkreise, die Arbeitsgeschwindigkeit und so fort - ebenfalls alle zwei Jahre doppelt so gut wird. Insgesamt bezeichnet man diese Beobachtungen häufig als Mooresches Gesetz. Nun sollten Sie sich darüber im Klaren sein, dass das Mooresche Gesetz kein Naturgesetz im Sinne etwa von Newtons Gravitationsgesetz ist. Es ist einfach die Beobachtung, dass sich die Technologie der Computer und der Datenverarbeitung ungeheuer rasch entwickelt. Was ich daran so faszinierend finde, ist die Tatsache, dass dieses Wachstum unabhängig von der zugrunde liegenden Technologie fortschreitet. Beispielsweise konnte in den späten sechziger Jahren niemand die heutigen Methoden der Chipfertigung oder des Entwurfs von Schaltkreisen absehen, und dennoch war das Tempo des Wachstums - unabhängig von den technologischen Umwälzungen in der Zwischenzeit damals fast genauso hoch wie heute. Ein Beispiel: In den späten sechziger Jahren war die dünnste Linie, die man ziehen konnte, etwa 20 Mikron breit, was etwa dem Durchmesser von 200 000 Atomen entsprach. (Ein Mikron ist ein millionstel Meter.) Seither ist dieser Wert ständig gefallen, auf dem Höhepunkt des Booms der integrierten Schaltkreise in den späten siebziger Jahren auf 5 Mikron (etwa -323-

50 000 Atome), in der PC/Mikrochip-Ära der achtziger Jahre auf l Mikron und heute bis auf etwa 0, l Mikron - den Durchmesser von ein paar hundert Atomen. Ich kenne kein besseres Beispiel, um die Tatsache zu illustrieren, dass das Mooresche Gesetz unabhängig von der Technologie gilt - die Art und Weise, wie diese Linien gezogen werden, ist seit den siebziger Jahren mehrfach revolutioniert worden, und dennoch scheint die Größe gleichmäßig und unerbittlich abzunehmen. Was lässt sich im Hinblick auf die technologische Entwicklung der Vergangenheit über die Zukunft des Computers sagen? Ich denke, dass Computer kaum viel kleiner werden dürften als heute, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen liegt das Schwergewicht heute nicht auf Großrechnern, sondern auf kleinen, vernetzbaren Einheiten. In diesem Fall setzt nicht die Technologie der Größe des Computers eine Grenze, sondern die menschliche Physis. So kann ein Laptop aufgrund der Größe der menschlichen Finger gar nicht viel kleiner werden als heute - im Augenblick ist das Eintippen die einzige Möglichkeit, das Gerät mit Informationen zu füttern. (Natürlich könnte diese Beschränkung dadurch aufgehoben werden, dass Computer künftig - wie in Star Trek - sprachgesteuert funktionieren.) Außerdem setzt die Größe der Buchstaben, die vom menschlichen Auge noch gut zu lesen sind, dem zur Anzeige der Rechenergebnisse verwendeten Bildschirm eine Grenze. Praktisch wird die Größe eines Mikrochips also nicht durch die Faktoren begrenzt, die Größe und Gewicht eines Laptops definieren. Das Gewicht wird hauptsächlich (wie heute schon) durch das Gewicht der Batterien und die Größe durch die Stärke des menschlichen Fingers und die Schärfe des menschlichen Auges bestimmt. Im Falle der Mikrochips ist man außerdem fast an einem Punkt angelangt, wo man an grundlegende physikalische Grenzen stößt. Nehmen Sie das Beispiel des kleinsten Merkmals - die oben schon bemühte dünnste Linie -, mit dem man einen -324-

Mikrochip beschriften kann. Es laufen Forschungsprogramme, die eine Breite von wenigen hundert Atomen anstreben, aber auf diesem Niveau tun sich allmählich Probleme auf. Beispielsweise ist es äußerst schwierig, Elektronen um scharfe Kurven zu leiten, wenn ihre Bahn so schmal ist - sie dringen dann gerne nach außen. Solche Schwierigkeiten dürften sich vervielfachen, wenn man die Merkmalsgröße reduziert. Außerdem gibt es eine absolute Grenze bei ungefähr einem tausendstel Mikron (etwa der Größe eines einzigen Atoms), die wir nach dem Mooreschen Gesetz um 2060 erreichen. Es ist sogar prinzipiell unmöglich, kleinere Strukturen als die auf einem Siliziumchip zu haben. Ein Merkmal der zunehmenden Leistungsfähigkeit von Computern finde ich besonders faszinierend. Die Größe des kleinsten produzierbaren Merkmals wirkt sich offensichtlich auf viele andere Einheiten aus - etwa auf die Zahl der Transistoren, die sich auf einem einzigen Chip unterbringen lassen. Wenn man von realistischen Annahmen über dieses Verhältnis ausgeht und diese dann in die Zukunft projiziert, stellt man fest, dass irgendwann zwischen 2020 und 2030 der Punkt erreicht sein wird, an dem man mindestens einhundert Milliarden Transistoren auf einem Sockel von der Größe eines Brühwürfels unterbringen kann. Dies entspricht etwa der Zahl der Neuronen im menschlichen Gehirn. Mit anderen Worten: Wenn die Computertechnologie in Zukunft so rasch voranschreitet wie bisher, wird man noch zu Lebzeiten vieler Leser dieses Buches fähig sein, (zumindest im Prinzip) ein künstliches System in der Größe (wenn nicht in der Komplexität) des menschlichen Gehirns zu scha ffen. Und dann?

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Wird es Lichtcomputer geben? Stoßen wir bei der Leistungsfähigkeit des Computers heute an eine Grenze? Dies ist eine derart wichtige Frage, dass ich weitere Aspekte zu diesem Thema noch an verschiedenen anderen Stellen behandle. Hier will ich über eine bestimmte Strategie zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit von Computern sowie über eine bestimmte Technologie reden, die fast ideal dafür geeignet ist. Die Strategie ist der Parallelrechner, die Technologie dazu der optische Computer. Wenn ein herkömmlicher Rechner beispielsweise ein Bild analysieren soll, geht er geradlinig und logisch vor. Er analysiert zunächst in der oberen linken Ecke, bewegt sich dann weiter und analysiert den zweiten Punkt der ersten Reihe, dann den dritten und so weiter, bis er sich in die rechte untere Ecke vorgearbeitet hat. Bei diesem System, einem seriellen Computer, konzentriert sich die gesamte Leistungsfähigkeit des Computers jeweils Schritt für Schritt auf ein Teil des Problems. Mit einigen wichtigen Ausnahmen funktionieren heute alle Computer so, ob sie nun ein Bild analysieren oder eine komplizierte mathematische Berechnung durchführen. Ein Grund dafür, warum das menschliche Gehirn Bilder so viel besser analysieren kann als die leistungsfähigsten Computer, liegt darin, dass das menschliche Gehirn nicht sequentiell arbeitet. Die Elemente, die von der Bild Verarbeitung beim Menschen bekannt sind, benutzen eine ganz andere Strategie, bei der die verschiedenen Teile eines Bildes simultan von vielen kleinen »Computern« analysiert werden, deren Ergebnisse dann zur nächsten Analyseebene weitergeleitet werden. Dies ist das Prinzip des Parallelrechners, durch den Rechenvorgänge beschleunigt werden sollen. Auch herkömmliche Siliziumcomputer können dazu gebracht werden, im Parallelmodus zu arbeiten - solche Geräte sind sogar schon auf dem Markt. Wenn man ein Problem -326-

in einzelne Elemente aufteilt und diese Elemente dann durch unterschiedliche Teile eines Geräts lenkt, liegt das Hauptproblem darin, dass man sich allerlei Gedanken über die Verkehrssteuerung machen muss - beispielsweise, damit Teil A eine Rechnung abschließt, bevor Teil B das Ergebnis braucht. Einige Computerwissenschaftler rechnen damit, dass Parallelcomputer auf Siliziumbasis bis zum Ende des Jahrhunderts eine Milliarde Rechenvorgänge in der Sekunde schaffen werden (eine Art Heiliger Gral des Computerspiels). 1990 griff jedoch eine neue unbekannte Größe ins Rennen der Parallelcomputer ein. Der so genannte optische Computer ersetzt den elektrischen Strom, der als Kommunikationsmedium durch Drähte fließt, durch Lichtstrahlen. Das zentrale Arbeitselement des optischen Computers ist ein kleiner Glasturm, der Halbleiterschichten enthält. Ein auf den Turm gerichteter Laserstrahl setzt Elektronen frei, die in den Halbleitern eingefangen werden. Abhängig von der Stärke des Lasersignals bestimmen die Elektronen, ob der Turm durchscheinend ist oder nicht. Dann wird ein stärkerer Laser auf das System gespiegelt und entweder stark (von dem durchscheinenden Turm) oder schwach (von dem nicht durchscheinenden Turm) reflektiert. Dieses reflektierte Signal ist eine digitale Informationseinheit - Ja oder Nein, An oder Aus. Der reflektierende Turm spielt dieselbe Rolle beim optischen Computer wie der Transistor im Siliziumgerät. (Ein Transistor, wir erinnern uns, dient als Schalter, der Strom entweder durchlässt oder blockiert.) Ein typisches Bauteil eines optischen Computers wäre eine Ansammlung von Tausenden von Türmen auf einer Glasplatte, zusammen mit Linsen zur Bündelung der Laser - ein Laser für jede Stelle auf der Platte. Der optische Computer ist damit an sich schon parallel, da immer viele Operationen gleichzeitig ablaufen. Ein vollständiger Computer würde wahrscheinlich so funktionieren, dass Licht durch viele derartige Platten gelenkt -327-

und dann die Lichtstärke der Laserstrahlen, die auf der anderen Seite herauskommen, gemessen wird, so wie herkömmliche Computer elektrischen Strom ablesen. Anhänger dieser Technologie glauben, ein solches System könne um die Jahrhundertwende einsatzfähig sein. Es gibt einige Gründe für die Annahme, dass optische Computer in Zukunft eine wichtige Rolle spielen werden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn Ingenieure die Mikrochips aus Silizium immer kleiner machen, stoßen sie auf ein ernstes Problem, das mit dem Charakter von Elektronen zu tun hat. Wenn elektrischer Strom durch zwei Drähte fließt, die sehr dicht nebeneinander liegen (wie es in Miniaturgeräten zwangsläufig der Fall ist), beeinflussen sich die Elektronen in diesen Drähten gegenseitig. Dies begrenzt den Informationsfluss in den Computer ganz ähnlich wie ein Tunnel oder eine Brücke den Verkehrsfluss in eine Stadt. Lichtstrahlen können dagegen nebeneinander existieren oder sich sogar schneiden, ohne sich gegenseitig zu stören. Wenn die Comp uter immer besser werden, entfernen sie sich vielleicht auch immer mehr von ihren heutigen Vorbildern.

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Müssen Computer aus Silizium sein? Heutzutage weiß jeder, wie ein Computer aussieht, und viele wissen sogar, wie er funktioniert. Der digitale Computer ist von einem Abakus oder einer Additionsmaschine schließlich gar nicht so verschieden, nur schiebt der Computer nicht Perlen oder Rädchen hin und her, sondern schaltet Transistoren ein und aus, indem er Elektronen hin und her schiebt. Selbst experimentelle Technologien wie die bereits behandelten optischen Computer arbeiten im Grunde genauso - sie knipsen Schalter an und aus. Am Horizont tauchen jedoch neue Ideen auf, die zu »Computern« führen könnten, die kaum jemand erkennen würde -Fässer mit Chemikalien beispielsweise oder Würfel aus perfekten Kristallen, die auf Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt gehalten werden. Bei diesen Geräten werden die Rechenvorgänge - die Verarbeitung von Information - ganz anders gehandhabt als beim bekannten digitalen Computer. Ob sie jemals in Serie gehen (und ob sie überhaupt je funktionieren), ist im Augenblick nicht absehbar. Ihr Einsatz wird so gut wie sicher auf spezialisierte Anwendungen bei speziellen Problemen beschränkt bleiben. Molekularcomputer Der erste »Molekularrechner« wurde 1994 an der University of Southern California in Betrieb genommen. Er sollte eine einfache Version des klassischen »Handelsvertreter-Problems« lösen oder, wie der Fachausdruck lautet, die »Hamiltonsche Bewegungsgleichung«. Dieses Problem lässt sich wie folgt darstellen: Finden Sie bei einer Gruppe von Knotenpunkten, von denen die eine Seite als »Herein« und die andere als »Heraus« definiert ist, einen Weg, der von »Herein« nach »Heraus« führt und jeden anderen Knotenpunkt einmal und nur einmal -329-

aufsucht? Wie an anderer Stelle besprochen, bezeichnet man dieses Problem in der Komplexitätstheorie als »NPkomplett«. Diese Probleme erhalten eine besondere Bedeutung in der Mathematik, denn wenn sie lösbar sind, können diese Lösungen auch auf eine Fülle anderer Probleme angewendet werden. Der Molekularrechner funktioniert wie folgt: Zunächst wird eine Anzahl einzelner DNS-Stränge vorbereitet. Jeder Strang ist zwanzig Basen lang. (Zur Erinnerung: Das gewöhnliche DNSMolekül besitzt einen Doppelstrang und sieht aus wie eine Leiter, wobei jede Sprosse durch das Zusammenfügen zweier Moleküle, der Basen, gebildet wird.) Jeder Knotenpunkt wird durch ein Molekül mit zwanzig Basen repräsentiert, und jeder mögliche Weg zwischen Knotenpunkten durch ein anderes Molekül, in dem zehn Basen so beschaffen sind, dass sie sich der Hälfte eines Knotenpunktes anschließen, während sich zehn andere der Hälfte eines anderen Knotenpunktes anschließen können. Milliarden dieser Moleküle werden in einen Behälter geschüttet, wo sie sich miteinander verbinden können. Ein »Wegmolekül« schließt sich zwei Knotenpunkten an und erlaubt der Hälfte jedes Knotenpunktmoleküls, sich einem anderen Wegmolekül anzuschließen. Sobald sich ein Weg mit einer bestimmten Hälfte eines Knotenpunk ts anschließt, kann sich kein anderer Weg an dieser Stelle festsetzen, was gewährleistet, dass zu jedem Knotenpunkt nur zwei Wege führen. Am Ende wird nach einem Molekül gesucht, bei dem der »HereinKnotenpunkt« und der »Heraus-Knotenpunkt« frei sind und alle anderen Knotenpunkte nur einmal erscheinen. Dieses Molekül kodiert die Lösung des Problems. Der Molekularcomputer funktioniert, da sich die Moleküle auf alle möglichen Arten verbinden, von denen die meisten keine Lösung des Problems bieten. Nur Kombinationen, die »funktionieren« (wenn es sie überhaupt gibt), werden am Ende ausgewählt. In gewisser Weise führen die Moleküle eine groß angelegte Übung im Parallelrechnen durch, und die Lösung ihrer -330-

Berechnungen ist in der Art und Weise enthalten, wie sich erfolgreiche Moleküle verbinden. Quantencomputer Das Grundprinzip des Quantencomputers beruht auf einer der seltsamen Eigenschaften der Quantenmechanik - auf der Vorstellung nämlich, dass ein bestimmtes Teilchen in vielen unterschiedlichen Zuständen zugleic h existieren kann und nur der Akt des Messens es in einen bestimmten Zustand zwingt. Stellen Sie sich jedes Teilchen analog zu einer Welle auf dem Wasser vor, wo die Höhe der Welle an jedem Punkt proportional zur Wahrscheinlichkeit ist, dass sich das Teilchen tatsächlich an diesem Punkt befindet - wenn die Welle an einem bestimmten Punkt den Scheitelpunkt erreicht, ist das Teilchen wahrscheinlich dort anzutreffen. Ein Quantencomputer wäre so angelegt, dass sich alle möglichen Wellen durch das System bewegen, aber nur jene Wellen, die für die richtige Antwort stehen, sich zuletzt gegenseitig verstärken, während jene mit einer falschen Antwort sich gegenseitig vernichten. Ein solcher Computer könnte ein spezieller Kristall sein, in dem die Wellen durch unterschiedliche Schwingungen repräsentiert werden, die von Atom zu Atom wandern. Das »Problem« könnte dadurch in den Computer eingegeben werden, dass Laserstrahlen Schwingungen auf einer Seite des Kristalls auslösen, und die Antwort wäre durch eine Beobachtung der Schwingungen auf einer anderen Seite abzulesen. Dieser theoretische Ansatz hat eine Schar von Kritikern auf den Plan gerufen. Das größte praktische Problem dürfte darin bestehen, dass Quantenwellen durch Ungleichmäßigkeiten im Kristall verzerrt werden können - genau wie Wellen im Wasser durch einen herausragenden Felsen. Bereits ein winziger Fehler könnte den Quantencomputer somit durcheinander bringen. -331-

Andererseits ist es Wissenschaftlern 1996 gelungen, einen Teil eines Quantencomputers in Betrieb zu ne hmen - ein so genanntes Logikgatter. Wir müssen einfach warten, bis es soweit ist.

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Werden Computer lernfähig? Nur weil das Gehirn rechnen kann, ist es noch lange kein Computer. Trotz einiger oberflächlicher Ähnlichkeiten gibt es enorme Unterschiede zwischen der »Wetware« in Ihrem Kopf und der Hardware in Ihrem Computer. Die Grundeinheit des Computers ist der Transistor, der elektrische Signale empfängt und auf der Basis dieser Signale entweder an- oder ausgeschalten wird. Die Grundeinheit des Gehirns ist das Neuron, das Signale von Tausenden anderer Neuronen empfängt und in einem komplizierten Vorgang, den man noch nicht verstanden hat, diese Signale integriert und entweder Nervensignale an viele andere Neuronen aussendet oder nicht. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass ein normaler Computer genau das tut, was ihm aufgetragen wird, sobald man ihn verdrahtet und instruiert hat - ja, die Fähigkeit, komplizierte Aufgaben endlos zu wiederholen, ist eine der großen Stärken des Geräts. Ein Gehirn dagegen verändert und entwickelt sich beim Gebrauch und lernt neue Aufgaben dazu. Dies geschieht zum Teil dadurch, dass es die Stärke der Verbindungen zwischen Neuronen verändert. Bei der Entwicklung von Geräten, die eher wie das Gehirn funktionieren, haben Computerwissenschaftler große Fortschritte gemacht. Die wichtigste Entwicklung in dieser Forschungsrichtung ist das »neurale Netz«. Dieses Netz setzt sich aus drei Teilen zusammen: einem Eingabesystem, das Informationen aufnimmt, einem Verarbeitungssystem, das mit den Informationen umgeht und veränderbar ist, und einem Ausgabesystem, das die Ergebnisse der Berechnungen weitergibt. Durch einen Vorgang, den ich gleich beschreiben will, kann ein neurales Netz tatsächlich Operationen erlernen, die zunächst nicht einprogrammiert sind. -333-

Nehmen wir ein einfaches Beispiel für das Erlernen einer Aufgabe - das Erkennen eines Musters. Der Eingabeabschnitt des neuralen Netzes könnte beispielsweise aus Photozellen bestehen, die auf den Bildschirm eines Schwarzweißfernsehers gerichtet sind. Das Bild wird dann in winzige Vierecke (die so genannten Rasterpunkte) zerlegt, ein Rasterpunkt pro Photozelle, wobei das von jedem Viereck kommende Licht gemessen wird. Das Eingabesignal zum System bestünde dann aus einer Reihe von elektrischen Strömen, deren Stärke jeweils der Helligkeit oder Dunkelheit eines bestimmten Rasterpunkts entspricht. (Zum Vergleich: Das Bild in einem normalen amerikanischen Fernsehgerät wird in Rasterpunkte zerlegt, indem man jede Seite in 525 Bereiche unterteilt. Ein Bild setzt sich somit aus 525 x 525 = 275 625 Rasterpunkten zusammen.) Den Eingabeabschnitt eines neuralen Netzes beim Menschen kann man mit den Zellen in der Netzhaut vergleichen, die das Licht in Nervenimpulse umwandeln. Die Signale gehen dann der Verarbeitungseinheit zu, und von diesem Punkt an unterscheidet sich ein neurales Netz von einem herkömmlichen Computer. Stellen Sie sich vor, es ginge darum, eine Zahl auf dem Bildschirm zu lesen. Wenn sich die Information von der Eingabe allmählich durch das Verarbeitungssystem kämpft, werden eine ganze Reihe von Regeln befolgt, wie viel Gewicht jedes Signal erhalten soll. So sind Rasterpunkte am Bildrand vielleicht weniger wichtig als solche in der Bildmitte. Den Verarbeitungseinheiten würde dann aufgetragen, Rasterpunkte in der Bildmitte doppelt so stark zu gewichten wie jene am Bildrand. Weiterhin könnte es ähnliche Regeln zu den Kanten (»Gewichte die Signale, wo alles zur Rechten dunkel und alles zur Linken hell ist, dreimal so stark wie jene, wo hell und dunkel sich vermischen«) und anderen Merkmalen geben, die für die Erkennung von Zahlen wichtig sind. Am Ende geht ein Signal zur Ausgabe, wo je nach der gelesenen Zahl eine von zehn Einheiten ein Signal weitergibt. -334-

An diesem Punkt beginnt das Lernen. Stellen Sie sich vor, Sie geben die Zahl 2 ein, aber das Netz erklärt Ihnen, es sei die 7. Sie erklären dem Computer, er habe sich getäuscht; er wird darauf programmiert, noch einmal von vorne anzufangen und dabei die Gewichtung in der Verarbeitungseinheit zu verändern - er könnte sich beispielsweise entscheiden, die Rasterpunkte in der Bildmitte viermal so stark zu gewichten wie die am Rand. Das System würde einen neuen Durchlauf starten, das Ergebnis überprüfen, die Gewichtung korrigieren, wieder einen Durchlauf starten, und so weiter. Irgendwann lernt das Netz, die Zahlen vom Bildschirm zu lesen. Das Lesen einer einzigen Zahl ist relativ einfach, aber solche Systeme bewältigen auch viel schwierigere Aufgaben. So kann man ihnen beibringen, in einer Fertigungsstraße korrekte Muster im Material zu erkennen, was bei der Qualitätskontrolle in der Industrie eine Rolle spielt. Man kann ihnen beibringen, individuelle Gesichter und Stimmen in Sicherheitssystemen zu erkennen. Selbst Systeme, die lernen können, handgeschriebene Postleitzahlen auf Briefen zu erkennen, um so die Postsortierung zu beschleunigen, haben ihre Erprobungsphase fast abgeschlossen. (Bei einer Handschrift wie der meinen ist das gar nicht so einfach.) Auf einer höheren Ebene können ausgereifte Versio nen dieser neuralen Netze große Datenmengen analysieren und Muster herausfiltern, die viel zu kompliziert sind, als dass ein menschlicher Beobachter sie erkennen könnte. Solche Geräte können sehr nützlich beim Verstehen von Systemen mit einer großen Zahl wechselseitig abhängiger Variablen sein, etwa bei landwirtschaftlichen Ökosystemen oder großen Molekülen. Nach diesen Ausführungen muss ich zwei Fragen aber deutlich voneinander trennen: ob neurale Netze nützlich sind (mit Sicherheit), und ob sie ein Modell für die Funktionsweise des menschlichen Gehirns darstellen (was immer noch höchst fraglich ist). Ich denke, die zweite Frage wird man verneinen.

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Wie klein kann ein elektrischer Schaltkreis sein? Der erste Transistor besaß etwa die Größe eines Golfballs. Heute können Ingenieure aus einer Vielzahl standardisierter Methoden auswählen und leicht Millionen von Transistoren auf einem einzigen Mikrochip von der Größe einer Briefmarke unterbringen. Bis zum Anfang des nächsten Jahrhunderts wird diese Zahl sicher noch höher liegen. Mit jedem Anstieg dieser Zahl schrumpft die Größe elektronischer Bauteile, und man ist wieder einen weiteren großen Schritt in der Informationsrevolution vorangekommen. Als ich Ende der sechziger Jahre an meiner Doktorarbeit schrieb, führte ich an der Stanford University, im Herzen des entstehenden Silicon Valley, Berechnungen auf einem der damals besten Computer durch. Das Gerät nahm einen ganzen Raum ein und musste von mehreren Leuten gleichzeitig bedient werden. Man gab auf einem Stapel Karten die Befehle ein und musste dann ein paar Stunden auf das Ergebnis warten. Trotzdem besaß diese mächtige Maschine lange nicht die Rechenleistung eines modernen Laptops, das die Berechnungen für meine Doktorarbeit innerhalb von Millisekunden durchführen und die Arbeit selbst in seiner Freizeit schreiben könnte. Eine Verkleinerung der Schaltkreise kann also revolutionäre Auswirkungen auf unser Leben haben. An diesem Punkt stellen sich aber technische Probleme. Um noch mehr Schaltkreise auf einem Chip zu plazieren, wird man Transistoren und Schaltkreiselemente bauen müssen, die nur wenige Atome groß sind. (Die heute üblichen Schaltkreiselemente haben einen Durchmesser von einigen tausend Atomen.) Die aktuellen Methoden der Miniaturisierung sind leicht zu -336-

beschreiben. Ein gängiges Verfahren besteht darin, ein Siliziumsubstrat mit einer lackartigen Abdeckung zu überziehen, in die ein Muster geätzt wird. So kann man bestimmte Bereiche mit einer Maske versehen und anschließend Licht auf die Abdeckung aus einer chemischen Substanz lenken, die sich (ähnlich wie ein fotografischer Film) unter Lichteinfall verändert. Daraufhin werden die unveränderten Teile mit anderen Substanzen entfernt, und zurück bleiben extrem dünne Linien und Muster in der Abdeckung. Selbstverständlich erfordert die Herstellung winziger Schaltkreise die Fähigkeit, ganz feine Linien zu ziehen. Heute geschieht dies in der Regel durch einen »Stift« aus energiereichen Elektronenstrahlen. Solche Stifte können Linien im Silizium ziehen, die zwischen zwanzig und vierzig Atome breit sind. Vielleicht haben Sie schon einmal Fotos von Firmen oder Behördennamen gesehen, die mit nur wenigen Atomen breiten Linien geschrieben wurden. Dies scheint ein bevorzugtes Hobby der Leute vom Labor zu sein - damit erregt man die Aufmerksamkeit der Vorgesetzten garantiert. Es gibt jedoch Grenzen dessen, was man mit energiereichen Elektronenstrahlen erreichen kann, und so arbeiten Wissenschaftler derzeit mit Nachdruck an der Entwicklung von Verfahren, noch feinere Linien zu ziehen. Ich will Ihnen nur von einer experimentellen Methode berichten, die mit einem völlig neuen »Stift« arbeitet. Bei dieser Methode schickt man Laserstrahlen über die Oberfläche der Substanz, die geätzt werden soll, und richtet anschließend einen Atomstrahl darauf. Die elektrischen Kräfte des Lichts drücken die Atome in die Täler der Laserwellen und halten dadurch die Wellenkämme frei. Ein ähnliches Phänomen lässt sich bei Flüssen beobachten, wo sich Treibgut in den ruhigen Zonen sammelt, während das schnell fließende Wasser klar bleibt. Wenn die Atome durch das Laserlicht gelangen, befinden sie sich auf extrem dünnen Linien, die den Tälern des Laserstrahls entsprechen. Auf diese Weise ist es -337-

Wissenschaftlern von IBM und den National Institutes of Standards and Technology gelungen, auf verschiedenen Materialien etwa zehn Atome breite Striche zu ziehen. Wenn Sie diese Zeilen lesen, dürfte man bereits bei Linien von einem Atom Breite angelangt sein. Aus wirtschaftlicher Sicht liegt der Vorteil dieser Methode darin, dass sie für jedes feste Material verwendet werden kann. So habe ich auf einem Dia von einer Chromoberfläche Rillen gesehen, die zwanzig Atome voneinander entfernt, nur wenige Atome breit und etwa drei oder vier Atome tief waren. Sie sahen gleichmäßig und sauber aus, wie Furchen, die man mit einer Gabel in die Kuchenglasur zieht. Nach der Schilderung dieser neuen technologischen Kabinettstückchen möchte ich Sie aber davor warnen, aufgrund der Fortschritte bei der Miniaturisierung unmittelbare Auswirkungen auf Ihre elektronischen Systeme zu Hause zu erwarten. Bevor die Größe von Schaltkreisen deutlich reduziert werden kann, sind noch eine ganze Reihe technischer Probleme zu lösen, von denen Sie in den nächsten Jahren noch einiges hören werden. So verhalten sich die Elektronen immer eigenartiger, wenn man die »Drähte« von Schaltkreisen bis auf atomare Dimensionen reduziert. Bereits heute, mit Drähten, die »nur« einige hundert Atome breit sind, dürfen Schaltkreise keine scharfen Kurven aufweisen, aus denen die Elektronen purzeln können. Außerdem gehen Computerwissenschaftler in ihrer Mehrzahl davon aus, dass die nächste Herausforderung beim Bau von Computern gar nicht in der Miniaturisierung liegt, sondern in neuen Möglichkeiten der Kombination von Schaltkreiselementen - der so genannten Computerarchitektur. Die Fähigkeit, äußerst feine Linien auf Mikrochips zu ziehen, führt daher nicht zwangsläufig zu einem jener technologischen Durchbrüche, die den PC und die heutige Generation von elektronischen Geräten hervorgebracht haben.

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Wohin führt uns die Nanotechnologie? In dem Typ von Werkstatt, den es seit der industriellen Revolution gibt, ist es relativ einfach, beispielsweise ein Zahnrad herzustellen: Man nimmt eine Metallplatte, entfernt alle Atome, die nicht gebraucht werden, und zurück bleiben jene, die das Zahnrad bilden. (Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass viele Mechaniker ihre Arbeit so sehen.) Wissenschaftler stehen gerade erst an der Schwelle zu einer neuen Produktionsmethode. Der Bereich der Nanotechnologie befasst sich mit der Frage, wie man Materialien auf der Ebene einzelner Atome und Moleküle manipulieren kann. Anstatt mit vielen Atomen anzufangen und anschließend die zu entfernen, die man nicht braucht, konstruieren die so genannten Nanotechniker ihre Strukturen durch das gezielte Hinzufügen einzelner Atome. Ein Wort zur Terminologie: Die Vorsilbe nano bedeutet »ein Milliardstel«. Ein Nanometer ist ein milliardstel Meter - soviel wie etwa zehn Atome nebeneinander oder ein Hunderttausendstel der Dicke eines menschlichen Haares. Mit dem Begriff Nanotechnologie werden häufig alle Verfahren bezeichnet, die sehr kleine Dinge hervorbringen, etwa die an anderer Stelle diskutierten miniaturisierten Schaltkreise. Anhand von Methoden, wie sie bei der Herstellung von Schaltkreisen verwendet werden, konnten Wissenschaftler bereits unglaublich kleine Geräte herstellen - beispielsweise eine absolut funktionstüchtige Dampfmaschine mit einer Seitenlänge von einem vierhundertstel Zentimeter. Doch bei diesen Methoden werden normalerweise überzählige Atome entfernt (wenn auch in sehr kleinem Maßstab), anstatt welche hinzuzufügen. Eines der faszinierendsten Beispiele für die Nanotechnolo gie sind die so genannten Zeolithen, ein pulverförmiges, kristallines Material, das in der Natur vorkommt. Im Inneren dieser Kristalle -339-

befinden sich nanometergroße Löcher - oder Poren - von erstaunlich einheitlichem Durchmesser, die größere Kammern oder Hohlräume miteinander verbinden. Man stellt sich vor, dass sie nur Moleküle oder Atome einer bestimmten Größe durchlassen - tatsächlich wurden Zeolithen industriell erstmals als eine Art »Sieb« eingesetzt, um bestimmte Moleküle herauszufiltern. Chemiker kontrollieren die Atome oder Moleküle, die in den Kristallen reagieren dürfen, und benutzen diese somit als »Nano-Prüfröhrchen«, in denen Reaktionen mit noch nie dagewesener Genauigkeit abzulesen sind. Unter Verwendung künstlich hergestellter Zeolithen gelang Forschern an der Purdue University jüngst die Herstellung »molekularer Drähte« - elektrischer Leiter von nur einem Nanometer Durchmesser. Solche Drähte könnten als Verbindungselemente auf hochgradig miniaturisierten Mikrochips Verwendung finden. Eine weitere Verwendungsmöglichkeit für diese Materialien liegt im Nachweis chemischer Substanzen. Dabei wird ein dünner Film aus Zeolithen, der nur eine Molekülart aufgreift, über ein anderes Material gelegt, und wenn dieses Molekül in der Umwelt vorhanden ist, dringt es in die Röhrchen im Zeolithen ein und verändert dabei die Eigenschaft des Zeolithfilms ein wenig. Auf diese Weise lassen sich sogar geringe Mengen von Zielmolekülen nachweisen. Ein weiteres wichtiges Gebiet der Nanoforschung sind die »Designerfeststoffe« - Großmaterialien aus bestimmten molekularen Modulen. Hier liegt die Herausforderung weniger im Zusammenbau der Module als darin, sie so zu entwerfen, dass sie sich zu größeren Mustern zusammenschließen. Das ist so, als würde man Backsteine entwerfen, die sich von selbst zusammenfinden und zu einem Haus verbinden, wenn man sie auf einen Haufen wirft. Diese Aufgabe ist zwar nicht einfach, aber auch nicht so unmöglich, wie es scheint. Moleküle und Molekülgruppen üben elektrische Kräfte aufeinander aus, sie -340-

drücken und ziehen ihre Nachbarn umher. Wenn man die Moleküle so entwerfen kann, dass sie weitere gleichartige Moleküle zu sich heranziehen, wenn bereits ein paar zusammenhängen, könnten selbstbauende Materialien tatsächlich Realität werden. Mit den Worten eines Forschers: »Es geht einzig und allein darum, eine Struktur zu schaffen, in der die Atome glücklich sind. « Für Moleküle bedeutet Glück soviel wie Wachstum. Ein Gebiet, auf dem die Nanotechnologie rasch Fortschritte zu machen scheint, ist die Konstruktion so genannter KohlenstoffNanoröhren. In einem starken elektrischen Feld können sich Kohlenstoffatome zu Lagen anordnen, die sich dann zu einem Satz verschachtelter Röhren falten. Ein Röhrensatz enthält normalerweise bis zu zwanzig einzelne Röhren mit bis zu zwanzig Nanometer Durchmesser und einigen tausend Nanometer Länge. Einige Forscher versuchen nun, Möglichkeiten zu finden, die Kohlenstoffatome so »glücklich« zu machen, dass sie meterlange Nanoröhren bilden. Wenn sie Erfolg haben, werden diese stärker als alle anderen bisher bekannten natürlichen oder künstlichen Materialien sein. Eine Anwendung, die vielleicht bald kommerziell produziert wird, sind Haarkristalle in Nanometergröße, die bei leichten Verbundstoffen zum Einsatz kommen könnten. Diese dünnen Haarkristalle, die unter anderem in Flugzeugen und Autos Verwendung finden, bestehen aus einem festen Material, das in ein Hüllmaterial aus Keramik oder Kunststoff eingebettet wird. Dies sind die stärksten Leichtmaterialien, die heute herstellbar sind. Bei der Produktion von Nanohaarkristallen werden Kohlenstoff-Nanoröhren einem Gas ausgesetzt, das Silizium, Titan oder ein anderes Metall enthält. Die Röhren fangen dieses Gas ein, das dann mit dem Kohlenstoff reagiert, um röhrenförmige Haarkristalle aus Silizium oder Titankarbid zu produzieren jenen Materialien, die normalerweise in -341-

Verbundstoffen eingesetzt werden. Nanohaarkristalle haben im Durchschnitt aber nur ein Tausendstel der Größe von normalen Haarkristallen, was bedeutet, dass sie bei einem bestimmten Gewicht viel mehr Oberfläche zur Verfügung haben, um sich mit dem Hüllmaterial zu verbinden. Man hofft, dass Materialien aus Nanohaarkristallen noch leichter und fester sein werden als die im Augenblick verwendeten.

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Wie virtuell ist Ihre Realität? Manchmal glaube ich, das wichtigste Kennzeichen des Informationszeitalters ist die Effekthascherei. Jedenfalls sollte man nach all den atemlosen Artikeln über künstliche Intelligenz zumindest ein wenig Skepsis gegenüber den verstiegenen Behauptungen über die neue Technologie der Virtuellen Realität (VR) an den Tag legen. Die Idee dahinter ist einfach und basiert auf einem Grundprinzip der Informationstheorie. Wir erfahren die Welt durch Sinneseindrücke, und jeder Sinneseindruck kann im Prinzip in ein elektronisches Signal zerlegt werden, das so genannte »Bits« (ein Kunstwort aus »binary digit«, dt. »Binärziffer«) aussendet. Ein Bit ist die Antwort auf eine einfache Frage - an oder aus? oben oder unten? 0 oder l? Nehmen Sie zum Beispiel Ihren Fernseher. Seine Bilder werden von Elektronenstrahlen erzeugt, die auf der Rückseite des Bildschirms auf eine lichtemittierende Schicht treffen. Der Bildschirm ist in kleine Rasterpunkte eingeteilt; beim amerikanischen System gliedert sich jede Seite des Bildschirms in 525 Abschnitte, was insgesamt 275 625 (525 x 525) Vierecke ergibt. Jeder Rasterpunkt sendet eine genau definierte Lichtmenge aus, und Ihr Auge fasst die daraus resultierende Menge an Punkten zu einem homogenen Bild zusammen. Man benötigt 10 Bits, um in jedem Rasterpunkt zwischen 1000 verschiedenen Stufen der Lichtintensität zu differenzieren. Ein einziges schwarzweißes Fernsehbild wird somit durch 275 625 x 10 Informationseinheiten (Bits) definiert. Sie wollen Farbe? Wiederholen Sie die Rechnung für jede der drei Primärfarben, und Ihr Auge verwandelt alles in ein vollständig buntes Bild. Ein Farbbild lässt sich daher durch eine Kette von etwa 8 Millionen Bits erzeugen - etwa dieselbe Zahl von Bits, die es -343-

brauchte, um alle Buchstaben dieses Buches in einem Digitalrechner zu kodieren. Ein ähnlicher Analysevorgang lässt sich für Klänge (die Bits stehen für den Druck der Schallwellen in aufeinander folgenden Augenblicken) und Berührungen (die Bits stehen für Druck auf die Rezeptoren der Haut an benachbarten Punkten) durchführen. Tatsächlich lässt sich jede sensorische Erfahrung, vo n einer Symphonie bis zu einem Kinofilm, durch eine Kette von Bits darstellen. Die einzige Grenze des Möglichen besteht in der Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung. (Ich mache jetzt keinen Witz: Ein Typ an der University of Washington berechnete jüngst den Informationsgehalt eines »absolut befriedigenden sexuellen Erlebnisses«. Es kam heraus, dass es dazu im Vergleich zu unseren heutigen Systemen einer um einmilliardenmal höheren Übertragungsrate bedürfte.) Ich will Ihnen also folgende Frage stellen: Welchen Unterschied würde es machen, wenn Sie nicht einfach dasitzen und dieses Buch lesen würden, sondern Handschuhe anhätten, die genauso viel Druck auf Ihre Hand ausübten und wiedergäben, wie sich das Buch anfühlt, und eine Brille trügen, die Ihr gesamtes Gesichtsfeld einnähme und wiedergäbe, was Sie jetzt sähen. Sobald Sie erkannt haben, dass es bei einem ausreichend großen Informationsfluss absolut keinen Unterschied macht, haben Sie die Verheißung der Virtuellen Realität begriffen. Wenn für die Erzeugung einer Erfahrung nicht mehr als ein Informationsfluss erforderlich ist, kann man sich durch die Virtuelle Realität an Orte bringen lassen, die man als Person niemals aufsuchen kann - beispielsweise in ein Atom oder in das Innere eines Sterns. Ein bekanntes Beispiel für dieses Prinzip ist der moderne Flugsimulator, in dem ein Pilot sich ungewöhnlichen Situationen aussetzen und das Flugzeug ein Dutzend Mal abstürzen lassen kann, während er das richtige Verhalten einübt. In einem faszinierenden Einsatz in der Frühphase der Virtuellen Realität konnten Chemiker virtuelle -344-

Moleküle packen und versuchen, sie zusammenzubringen. Man spürte richtig die Kräfte, die Moleküle aufeinander ausüben wenn sie richtig angeordnet waren, zogen sie sich an wie Magneten. Einfache VR-Systeme ermöglichen es Wissenschaftlern, im Labor zu sitzen und Roboter zu steuern, die sich auf den Meeresboden oder in das Innere eines Vulkans begeben. Die VR-Technologie kommt zunächst in Form von Spielen auf den Markt, aber es sind auch alle mö glichen anderen Verwendungen denkbar - virtuelle Geschäftssitzungen, die sich von tatsächlichen Zusammenkünften nicht mehr unterscheiden lassen, Reisen an exotische Orte (oder sogar zur Arbeit), ohne dass man aus dem Haus gehen muss, und anderes mehr. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Aber wenn das stimmt, warum habe ich diese Ausführungen dann in einem derart skeptischen Ton begonnen? Der Grund dafür ist, dass die VR-Systeme in absehbarer Zeit alles andere als überwältigend sein werden. Ich habe noch nie eine VRPräsentation erlebt, die ein Kind nicht von der Realität unterscheiden könnte. Machen wir uns nichts vor: Unser Gehirn ist ziemlich geschickt im Umgang mit Gesichtsfeldern, und um es zu überlisten, werden wir uns ganz schön anstrengen müssen. Nehmen Sie als Beispiel dreidimensionale Darstellungen. Im Computer werden sie von einer Menge kleiner Vielecke dargestellt - für ein realistisches Bild braucht man etwa 80 Millionen. Außerdem ist ein Wechsel von mindestens zehn Bildern in der Sekunde erforderlich, um eine realistische Bewegung wahrzunehmen (im Fernsehen sind es normalerweise dreißig). Das heißt, dass ein Computer 800 Millionen Vielecke pro Sekunde verarbeiten muss, um ein glaubhaftes dreidimensionales Bild der »Realität« zu erzeugen. Die höchste Geschwindigkeit, die in den nächsten zehn Jahren auf den Markt kommen dürfte, liegt wahrscheinlich bei 2 Millionen pro Sekunde - weniger als l Prozent dessen, was erforderlich wäre. -345-

Diese Kluft zwischen der virtuellen und der echten Realität ist doch tief, und sie ist ein Grund dafür, dass ich mir in nächster Zeit von der Virtuellen Realität keine großen Dinge verspreche.

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Die Zukunft der Fuzzy Logic In der Welt der Logik und Mathematik ist man an Aussagen gewöhnt, die entweder wahr oder falsch sind. Zwei plus zwei ist vier - nicht normalerweise vier oder ungefähr vier, sondern vier. Punkt. Solche eindeutigen und logischen Aussagen gibt man normalerweise in den Computer ein, und der kann mit ihnen auch umgehen. In unserem Alltag treffen wir jedoch häufig Aussagen, die weder völlig falsch noch völlig richtig sind, sondern irgendwo dazwischen liegen. Wenn ich beispielsweise sagen würde, dass Dianne rechtzeitig zur Sitzung kam, hätte niemand Schwierigkeiten damit, diese Behauptung zu interpretieren. Dianne war früh dran, aber nicht zu früh. Sie war nicht schon eine Stunde vorher da, aber sie kam auch nicht erst zur Tür herein, als die Sitzung bereits im Gange war. Die Aussage ist verständlich, ohne dass man den Zeitpunkt von Diannes Eintreffen genau spezifizieren müsste. Willkommen in der Welt der Fuzzy Logic. Die konventionelle Logik beachtet die so genannte »Regel der ausgeschlossenen Mitte«, nach der etwas entweder A oder nicht A, weiß oder schwarz ist. Fuzzy Logic widmet sich dem Rest der Welt einer Welt, in der Grautöne vorherrschen. Seit den fünfziger Jahren haben sich Mathematiker um die Regeln bemüht, die unscharfen (engl.: fuzzy) Aussagen zugrunde liegen, und ihre Logik ist heute so gut durchdacht (wenn auch anders) wie die Logik, mit der wir vertraut sind. Wenn ich nur erklären müsste, dass es auf der Welt noch eine andere Logik gibt, wäre das Thema kaum wert, in einem solchen Buch behandelt zu werden. Fuzzy Logic hat jedoch enorme Auswirkungen auf alle möglichen Technologien. Die Art und Weise, wie man Anlagen steuert, von Fabriken bis zu Kameras, -347-

hängt von Regeln ab, die sich in den Rahmen der Fuzzy Logic viel besser einfügen lassen als in den konventionellen Rahmen. Wenn Sie Auto fahren, regeln Sie ständig die Menge der Benzinzufuhr in den Motor, um die richtige Geschwindigkeit zu halten. Wenn diese Aufgabe einem Computer übertragen werden sollte, der auf der Basis von Fuzzy Logic arbeitet, würde man zunächst einige Regeln aufstellen (später mehr dazu). Die Regeln könnten beispielsweise lauten: »Wenn Sie zu langsam fahren, drücken Sie das Gaspedal durch« oder »Wenn Sie zu schnell fahren, nehmen Sie den Fuß vom Gas.« Diese Regeln würden dann in Aussagen der Fuzzy Logic übersetzt. Auf einem städtischen Boulevard könnte man etwa die Aussage treffen, dass eine Geschwindigkeit von 40 km/h weder schnell noch langsam ist, sondern 70 Prozent langsam und 30 Prozent schnell. Anhand dieser Gewichtung würden dann genaue Befehle an den Motor berechnet - der Computer könnte beispielsweise signalisieren, dass die Geschwindigkeit des Motors um 286 Umdrehungen pro Minute erhöht werden sollte. Außerdem ließe sich das System noch dadurch verbessern, dass man weitere Faktoren in Betracht zieht. Die Verkehrsdichte, die Straßenverhältnisse und das Wetter könnten beispielsweise alle ähnlich behandelt und in die endgültige Entscheidung einbezogen werden. Fuzzy-Logic-Systeme haben den enormen Vorteil, dass sie relativ billig sind. Sie bieten Lösungen, die »gut genug« sind, ohne dass man die enormen Mühen (und Kosten) auf sich nehmen muss, exakte Lösungen auszuarbeiten. Dieser Ansatz ist seit den späten achtziger Jahren wirtschaftlich enorm erfolgreich, und man schätzt, dass die Branche 1998 weltweit 8 Milliarden Dollar umsetzen wird. Das U-Bahn-System im japanischen Sendai setzt Fuzzy Logic bei seinen automatisierten Fahrzeugen ein, die sanfter, schneller und energiesparender fahren als von Menschenhand gesteuerte Wagen. Waschmaschinen mit Fuzzy Logic beobachten den -348-

Verschmutzungsgrad im Waschwasser und richten die Dauer des Waschzyklus danach aus. In einigen neuen Automodellen steuert Fuzzy Logic auch die Benzinzufuhr und das Getriebe. Am wahrscheinlichsten dürfte Ihnen Fuzzy Logic aber bei modernen vollautomatischen Kameras begegnen, in denen Sensoren die Schärfe einiger Bildbereiche überwachen. Anstatt zu fordern, dass das Bild überall absolut scharf ist, stellt das logische System die Linse so ein, dass die Schärfe in den Testbereichen genügt. Diese Systeme funktionieren so effizient, dass Camcorder mit Fuzzy Logic entscheiden können, wann sich die Hand des Bedienenden (im Gegensatz zum gefilmten Objekt) bewegt, und die Bewegung ausgleichen. Der entscheidende Punkt beim Erstellen eines Fuzzy-LogicSystems ist das Aufstellen der Regeln, die Messergebnisse der Sensoren in Befehle verwandeln. Im Augenblick werden diese so genannten Expertenregeln durch ein ziemlich kompliziertes Verfahren entwickelt. In Zukunft könnten sie - mit Hilfe der an anderer Stelle in diesem Buch diskutierten neuralen Netze - aber durchaus von Computern entwickelt werden. Dann füttert man einige Regeln und Daten in einen Computer ein, der die Regeln danach ausrichtet, wie gut der Output die Erwartungen erfüllt. Die neuen Regeln werden dann ausprobiert, korrigiert, wieder ausprobiert und so weiter, bis die optimale Lösung gefunden ist. Diese Entwicklung wird Fuzzy- Logic-Systeme noch billiger und effizienter machen, als sie heute bereits sind. Nach all diesen Ausführungen muss ich aber gestehen, dass Fuzzy Logic in meinen Augen eine »Transmissionstechnologie« darstellt. Wie das Getriebe in einem Fahrzeug ist sie zwar ein Juwel der Ingenieurskunst und absolut notwendig für das Funktionieren einer modernen Industriegesellschaft, aber kein Gebiet, über das viele Menschen sehnlichst mehr erfahren möchten oder das ihre Sicht der Welt verändert, wenn sie sich damit auskennen.

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