Kosten und Nutzen der Psychotherapie: Eine kritische Literaturauswertung [1 ed.] 3540683127, 9783540683124 [PDF]

Psychische Erkrankungen sind heute die zweith?ufigste Ursache von Berufsunf?higkeit und krankheitsbedingtem Arbeitsausfa

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Zitiervorschau

Jürgen Margraf Kosten und Nutzen der Psychotherapie Eine kritische Literaturauswertung

Jürgen Margraf

Kosten und Nutzen der Psychotherapie Eine kritische Literaturauswertung

Mit 9 Abbildungen und 36 Tabellen

123

Professor Dr. Jürgen Margraf Universität Basel Fakultät für Psychologie Abteilung für Klinische Psychologie & Psychotherapie Missionsstr. 60/62 4055 Basel, Schweiz

ISBN-13 978-3-540-68312-4 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2009 Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Planung: Renate Scheddin, Heidelberg Projektmanagement: Rose-Marie Doyon, Heidelberg Umschlaggestaltung & Design: deblik Berlin Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg SPIN 12238996 Gedruckt auf säurefreiem Papier.

15/2117 – 5 4 3 2 1 0

V

Vorwort Darf man vom Geld sprechen, wenn es um die Gesundheit geht? Bei Fragen von Leben und Tod, Heilung und Krankheit zögern wir verständlicherweise, uns auf finanzielle Debatten einzulassen. Das gilt ganz besonders, wenn wir selbst betroffen sind. Ökonomen haben gezeigt, dass die Zahlungsbereitschaft steigt, je näher das Problem oder die Krankheit rückt. Das Zögern gilt aber auch für Psychotherapeuten, vielleicht sogar noch mehr als für andere Berufsgruppen. Psychotherapeuten haben ihren Beruf in der Regel gewählt, weil sie sich für Menschen interessieren, weil sie ihnen helfen wollen, weil sie etwas Sinnvolles tun möchten. Andererseits vergeht beinahe kein Tag, ohne dass in den Medien über die Gesundheitskosten berichtet wird. Bei Spardebatten geraten Heilbehandlungen, die nicht unmittelbar mit Leben und Tod in Verbindung gebracht werden, typischerweise schneller und stärker unter Druck. So wird auch bei der Psychotherapie immer mal wieder die These vertreten, es handele sich um etwas nicht wirklich Notwendiges, um einen Luxus oder neudeutsch »nice to have«, aber nicht »must have«. Wenn nicht gleich die Wirksamkeit der Psychotherapie in Frage gestellt wird, so wird doch die Notwendigkeit und die Kosten-Effektivität bezweifelt. Psychotherapie wird immer wieder zumindest implizit als »teuer« angesehen. Stimmt das wirklich? Allein die Klärung dieser Frage wäre bereits ein Grund, das Thema »Geld« bzw. Kosten auch bei Psychotherapie direkt anzugehen. Es gibt aber noch mehr Gründe, von denen ich hier zwei kurz diskutieren möchte. Zunächst einmal müssen wir uns klar machen, dass Ressourcen immer begrenzt sind. Niemand hat unbegrenzte Mittel zur Verfügung, es gibt nicht mehr als 100%. Daraus folgt, dass wir immer Verteilungsentscheidungen treffen müssen. Das gilt auch für das Gesundheitswesen und es gilt auch für Fragen von Leben und Tod. Wenn dies so ist, dann sollten die Argumente und möglichst auch die Fakten auf dem Tisch liegen. Nur dann kann die Debatte explizit und wissensbasiert geführt werden. Die Alternative wäre eine implizite Debatte oder gar keine. Auch in diesem Fall könnten wir Verteilungsentscheidungen nicht ausweichen, wir würden sie lediglich implizit (»wer zuerst kommt…«), nach Gewohnheit (»das haben wir immer so gemacht…«), nach dem Recht des Stärkeren (»wer es sich leisten kann…) oder anderen suboptimalen Gesichtspunkten treffen. Der zweite Grund betrifft die Bandbreite der Wirkungen von Psychotherapie. Wenn wir tatsächlich breite und nachhaltige Wirkungen erzielen, dann sollten sich diese nicht »nur« im »subjektiven« Befinden, sondern auch bei »harten« ökonomischen Parametern niederschlagen. Sollte dies zutreffen, dann würden wir uns in unserer Rolle als Psychotherapeuten deutlich wohler fühlen. Kosten-Nutzen-Debatten können also helfen, bessere Entscheidungen zu treffen. Allerdings ist dies nicht garantiert. Wir müssen uns klar machen, dass Verteilungsentscheidungen bei so hohen Gütern wie der Gesundheit immer auf mehreren Ebenen diskutiert werden müssen: 4 auf einer sozialen Ebene geht es um gesellschaftliche Fragen und Werte (z.B. Solidarität, Eigenverantwortung, Leistung, Gerechtigkeit, Gleichheit, welches Gesundheitssystem zu welchen Kosten und für wen),

VI

Vorwort

4 auf einer allgemeinen psychologischen Ebene geht es um den Einzelnen (z. B. wie wichtig ist mir meine Gesundheit im Vergleich zu anderen Gütern, welche Ziele verfolge ich im Leben, welchen Aufwand möchte ich dafür treiben etc.) 4 und schliesslich auf der engeren fachwissenschaftlichen Ebene (z. B. wie genau können Kosten und Nutzen erfasst werden, welche Ergebnisse kommen dabei heraus, wie ist das Verhältnis von Kosten und Nutzen bei einzelnen Behandlungen, Patientengruppen etc.). Das vorliegende Buch befasst sich mit der dritten, fachwissenschaftlichen Ebene. Es möchte einen Beitrag zur Gesundheitsdebatte leisten, in dem es die Fakten zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie aufarbeitet. Die beiden anderen Ebenen der Debatte werden damit jedoch nicht entschieden, sie sind unser aller Aufgabe als Angehörige des Staatswesens. In der Diskussion der Befunde in Kapitel 6 wird dieser breitere Rahmen kurz angesprochen. Dabei wird auch auf die ethischen Aspekte der Kosten-Nutzen-Debatte und mögliche problematische Verwendungen der Ergebnisse hingewiesen. Das Buch wendet sich an alle Leser, die in Praxis, Lehre oder Forschung mit Psychotherapie zu tun haben. Von unmittelbarer Bedeutung sind die Ergebnisse für Praktiker, Forscher, Studenten und Ausbildungskandidaten aus den Bereichen Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie deren Nachbardisziplinen. Darüber hinaus sollen aber auch Interessenten aus Gesundheits- und Erziehungswesen, Kostenträgern, Verwaltung und Politik angesprochen werden. Die Ergebnisse der Literaturauswertung haben ein erstaunlich konsistentes Bild zutage gefördert: Die untersuchten Psychotherapien sind im Durchschnitt nicht nur dauerhaft wirksam, sondern auch kosteneffizient in einem Ausmass, wie es nur selten im Gesundheitswesen gefunden wird. Das Kernstück des Buches bildet eine detaillierte Auswertung aller Originalarbeiten der letzten zehn Jahre zu Kosten und Nutzen ambulanter Psychotherapie. Insgesamt konnten 54 Studien mit über 13‘000 Patienten aus den wichtigsten Indikationsbereichen identifiziert werden. Dabei wurde in 95% der einschlägigen Studien eine bedeutsame Kostenreduktion durch Psychotherapie festgestellt, in 86% der entsprechenden Studien zeigte sich zudem eine Netto-Einsparung (positives Kosten-Nutzen-Verhältnis nach Abzug der Psychotherapiekosten). Dieser Effekt wird in der Regel bereits nach ein bis zwei Jahren erreicht und beruht vor allem auf zeitlich stabilen Kostenreduktionen bei den stationären Leistungen und den Arbeitsausfallkosten. In 76% der diesbezüglichen Studien war Psychotherapie gegenüber medikamentösen Strategien überlegen bzw. erbrachte einen signifikanten Zusatznutzen. Psychotherapie ist demnach nicht nur wirksamer, sondern auch billiger als keine Therapie bzw. eine Vielzahl von Vergleichbedingungen. Aufgrund des hohen Anteils an Studien unter Praxisbedingungen können die Forschungsergebnisse gut auf die klinische Routinepraxis übertragen werden. Kontrollauswertungen zeigen zudem, dass die Ergebnisse nicht durch eine verzerrte Publikationspraxis (»Schubladisierung« von unpassenden Befunden) erklärt werden können. Es darf jedoch nicht über verschiedenen Formen von Psychotherapie hinweg verallgemeinert werden, sondern nur über die in den vorhandenen Studien untersuchten Formen von Psychotherapie (v. a. kognitiv-behaviorale Therapien sowie andere Kurzinterventionen in ambulanten Versorgung). Einschränken muss erwähnt werden, dass die vorliegenden Studien allzu oft die Risiken und Nebenwirkungen nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt haben, dass die untersuchten Therapieformen nicht dem Durchschnitt der praktizierten Behandlungen entsprechen und viele der Befunde aus anderen Gesundheitssystemen kommen. Bereits die drei

VII Vorwort

deutschsprachigen Länder unterscheiden sich hier so deutlich, dass manche Verallgemeinerungen sich verbieten. Dennoch liefern die Ergebisse insgesamt ein starkes Argument für Wirksamkeit, Nutzen und Kosten-Effektivität der Psychotherapie. Der Autor dankt Kathrin Dubi, Natascha Milenkovic, Sandra Roth und Simone Schelling für die Durchführung der Literatursuche und Erstellung von Vorlagen für die tabellarischen Zusammenfassungen und Abbildungen, Silvia Schneider für wertvolle Hinweise zum Bereich Kinder und Jugendliche sowie Peter C. Meyer und Stefan Spycher für ihre kritische Durchsicht des Manuskripts und ihre Unterstützung bezüglich gesundheitsökonomischer Aspekte des Berichts. Alexander Kiss und Katharina Balmer gaben wertvolle Hinweise zu einer früheren Fassung des Manuskriptes. Corinne Urech und Claudia Haenni gebührt Dank für ihre Hilfe bei der Erstellung des Literaturverzeichnisses. Dank gebührt auch den Experten, die im Rahmen der Literatursuche befragt wurden: Urs Baumann, Gerhard Bühringer, Franz Caspar, Klaus Grawe, Kurt Hahlweg, Viktor Hobi, Siegfried Höfling, Sven-Olaf Hoffmann, Stefan G. Hofmann, Frank Jacobi, Horst Kaechele, Uwe Koch, Detlev Kommer, Hans Kordy, Simon-Peter Neumer, Meinrad Perrez, Silvia Schneider, Dietmar Schulte, Peter Schulthess, Hans-Ulrich Wittchen und Manfred Zielke. Selbstverständlich gehen mögliche Fehler ausschliesslich zu Lasten des Autors. Jürgen Margraf

IX

Inhaltsverzeichnis 1

Ausgangslage und Fragestellung . . .

1

2 2.1 2.1.1

Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . Psychotherapie und andere psychologische Interventionen . . . Anwendungsbereiche von Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . Validität empirischer Studien . . . . . Effektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ermittlung der Relation zwischen Kosten und Nutzen bzw. Effektivität Vorgehen bei der Literatursuche und -auswertung . . . . . . . . . . . .

. . . .

5 6

. .

6

2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.1.7 2.2

3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3

. . . . .

. . . . .

9 12 15 17 18

4.3.2 4.3.3 4.3.4

4.3.5 4.3.6 5 5.1 5.2

4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1

. 93 . 98

. 104 . 107 . 112

Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse auf die Routinepraxis . . . . 119 Wirksamkeitsergebnisse – Effectiveness 120 Kosten-Nutzen-Ergebnisse . . . . . . . . 122

. . 19 . . 21

Zum Stand der Forschung . . . . . . . . Kosten psychischer Störungen . . . . . . Wirksamkeit der Psychotherapie . . . . . Unmittelbare Wirksamkeit von Psychotherapien . . . . . . . . . . . . Dauerhaftigkeit der Therapieerfolge . . Zusammenhang zwischen Wirksamkeit und Dauer der Psychotherapie . . . . . .

25 26 36

6.4

Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Diskussion der referierten Befunde . . . 128 Stellenwert von Kosten-EffektivitätsAnalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Problematische Verwendung von Kostenberechnungen . . . . . . . . . 137 Die Kosten-Effektivitäts-Perspektive darf nicht den Blick auf andere Entscheidungskriterien verstellen . . . . 138 Ethische Aspekte der Kosten-NutzenThematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Hinweise für die Steigerung der KostenEffektivität bei Psychotherapien . . . . . 140 Abschließendes Fazit . . . . . . . . . . . . 143

7

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . 145

8

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

6 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2

37 59 6.2.3 62 6.3

4

Abhängigkeiten und Essstörungen . . Somatoforme, psychosomatische und gemischte Störungsbilder . . . . . Schizophrenie, Borderline-Persönlichkeitsstörung und Verhaltensauffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychodynamische Therapien . . . . . Zusammenfassende Auswertungen .

Ergebnisse zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . Angaben zur gefundenen Literatur . . . Frühere Literaturübersichten zu Kosten und Nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cost Offset . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrolle von Publikationsverzerrungen Kosten-Effektivität . . . . . . . . . . . . . . Originalarbeiten zu Kosten und Nutzen Angst- und affektive Störungen. . . . . .

65 66 69 72 74 76 83 84

Anhang: Liste der zur Literatursuche kontaktierten Experten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

1 1 Ausgangslage und Fragestellung

2

1

Kapitel 1 · Ausgangslage und Fragestellung

Wenngleich Gesundheit den meisten Menschen als höchstes Gut gilt, so hat doch die anhaltende Diskussion zur »Kostenexplosion im Gesundheitswesen« das öffentliche Interesse verstärkt auf die Frage nach dem Verhältnis von Kosten und Nutzen ausgerichtet. Dies gilt auch für den Bereich der Psychotherapie, wo jedoch zum Teil in recht emotionaler Weise extreme Behauptungen aufgestellt werden. Auf der einen Seite findet sich die Befürchtung, eine stärkere Verwendung von Psychotherapie würde zu einer massiven Kostensteigerung führen. Dabei wird häufig die Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren in Frage gestellt. Die Kombination von hohen direkten Kosten und niedriger Effektivität (und damit geringem Nutzen) würde in diesem Fall zu einer wahren Kostenlawine führen. Typisch für das andere Extrem ist die Proklamation von Psychotherapie als Allheilmittel nicht nur für eine Vielzahl von Krankheiten, sondern auch für die Kostenmalaise des Gesundheitswesens, da nur durch eine adäquate kausale Behandlung kostenintensive Fehlbehandlungen vermieden werden könnten. Angesichts solcher Diskrepanzen ist es unabdingbar, die Datengrundlage zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie sorgfältig zu betrachten. Im Juli 2004 gab das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) dem Autor den Auftrag für eine aktuelle Literaturauswertung zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie. Das Obsan hat den Auftrag, politikbezogene Analysen im Bereich des Gesundheitswesens durchzuführen. Es unterstützt damit eine auf Wissen basierende Gesundheitspolitik und Gesundheitsplanung des Bundes und der Kantone in der Schweiz. Das vorliegende Buch ist auf dieser Basis entstanden. Es enthält eine kritische Auswertung der aktuellen empirischen Literatur zu Kosten und Nutzen von Psychotherapie. Zudem soll eine Einführung in Terminologie und Methodik von Kosten-Nutzen- und KostenEffektivitäts-Berechnungen zu einer angemessenen Einschätzung der Aussagekraft von Kosten-Wirkungs-Analysen1 verhelfen. Eine adäquate Interpretation der Ergebnisse zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie hat eine hinreichende Kenntnis der Befundlage zu den Kosten psychischer Störungen sowie zur Wirksamkeit von Psychotherapie zur Voraussetzung. Allerdings kann eine detaillierte Darstellung dieser Literatur hier nicht vorgenommen werden, da dies angesichts des enormen Umfangs der Literatur den vertretbaren Rahmen sprengen würde. Stattdessen werden den Ergebnissen der Literaturauswertung zwei kurze Zusammenfassungen des Forschungsstandes zu den Kosten psychischer Störungen und zur Wirksamkeit von Psychotherapie vorangestellt. Für die Literaturauswertung wurden ausführliche tabellarische Zusammenfassungen aller erfassten Studien und Übersichtsarbeiten erstellt. 1

Im gesamten Bericht wird die neutrale Bezeichnung »Kosten-Wirkungs-Analysen« als Oberbegriff für Kosten-Nutzen-Analysen und für Kosten-Effektivitäts-Analysen verwendet.

3 Kapitel 1 · Ausgangslage und Fragestellung

Diese wurden inzwischen vom Obsan als Forschungsprotokoll veröffentlicht (Milenkovic et al. 2008). Diese Publikation ergänzt das vorliegende Buch und ermöglicht es interessierten Lesern, ggf. selbst weitere Auswertungen vorzunehmen oder Detailfragen zu klären. Sie gliedert sich in zwei Themenbereiche: 1) Langzeiteffektivität von Psychotherapien und 2) Kosten-Nutzen- und Kosten-Effektivitäts-Studien von Psychotherapien. Beide Themenbereiche umfassen je zwei Tabellensätze, wobei im einen Originalstudien, im anderen Übersichtsarbeiten (Reviews) aufgeführt sind.

1

2 2 Methodik 2.1

Begriffsbestimmung – 6

2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.1.7

Psychotherapie und andere psychologische Interventionen – 6 Anwendungsbereiche von Psychotherapie – 9 Validität empirischer Studien – 12 Effektivität – 15 Kosten – 17 Nutzen – 18 Ermittlung der Relation zwischen Kosten und Nutzen bzw. Effektivität

2.2

Vorgehen bei der Literatursuche und -auswertung – 21

– 19

6

Kapitel 2 · Methodik

2.1

2

Begriffsbestimmung

Trotz des raschen Anwachsens der Literatur zu gesundheitsökonomischen Aspekten der Psychotherapie werden selbst zentrale Begriffe noch immer nicht einheitlich verwendet. In gleicher Weise wird auch der Begriff Psychotherapie nicht immer in einheitlicher Weise verwendet. In einem ersten Schritt ist es daher erforderlich, die Verwendung der wichtigsten Begriffe im vorliegenden Bericht explizit zu klären. Dabei beziehen wir uns auf die ausführliche Darstellungen bei Drummond et al. (1987), Miller & Magruder (1999) und Vogel & Wasem (2004), auf eigene frühere Arbeiten (Neumer & Margraf 1996, Jacobi & Margraf 2001, Margraf & Schneider 2009) sowie auf das Glossar des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie der Bundesärztekammer und der Bundespsychotherapeutenkammer Deutschlands (Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie 2004).

2.1.1 Psychotherapie und andere psychologische

Interventionen Definition Psychologische Interventionen können definiert werden als »professionelles, wissenschaftlich fundiertes und überprüftes Handeln, das mit psychologischen Mitteln und Methoden im Erleben und Verhalten zum Zweck der Entfaltung oder Rehabilitation einer Person oder der Vorbeugung oder Behandlung von Störungen bzw. Krankheiten ansetzt« (Margraf & Schneider 2009).

Psychotherapie ist in diesem Sinne ein Teilbereich der psychologischen Interventionen, nämlich derjenige, der Behandlungsmaßnahmen umfasst. Weitere Teilbereiche sind psychologische Beratung und Prävention. Beratung ist keine Heilbehandlung, sondern dient allgemein der Information und Unterstützung der Ratsuchenden. Generell übernehmen die Berater die Rolle des aktiven Zuhörens und der emotionalen Unterstützung (vgl. Margraf & Schneider 2009). Insbesondere die stützende Beratung soll in der Regel die Wahrnehmung von Selbstkontrolle fördern. Darüber hinaus kann Ratsuchenden bei täglichen Problemen, die nicht unbedingt in Verbindung mit einer Krankheitssymptomatik stehen müssen, beigestanden werden. Häufig werden allgemeine Problemlösefertigkeiten erörtert. Prävention wird traditionell in die drei Formen Primär-, Sekundärund Tertiärprävention unterteilt. Diese Einteilung wird aber aufgrund der unscharfen Trennung zwischen Prävention und Behandlung als problematisch angesehen und inzwischen weitgehend durch ein neues Klassifikationssystem ersetzt, das zwischen Präventiv-, Behandlungs- und Erhal-

7 2.1 · Begriffsbestimmung

tungsintervention unterscheidet (Munoz, Mrazek & Haggerty, 1996). Der Begriff Präventionsintervention beschreibt in dieser Klassifikation all jene Interventionen, die vor dem erstmaligen Auftreten von Störungen erfolgen. Behandlungsinterventionen beziehen sich auf Interventionen bei bereits vorliegenden Störungen und Erhaltungsinterventionen gelten der Nachbehandlung bzw. der Rückfallprophylaxe. Obwohl es zahlreiche Versuche zur Definition von Psychotherapie gegeben hat, ist in jüngster Zeit im Kontext einer zunehmenden Professionalisierung der psychologischen Therapien (Barlow 2004) ein Trend zu einer einheitlicheren Nomenklatur zu beobachten. Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie hat jüngst eine Arbeitsdefinition vorgelegt und zudem die folgenden Abgrenzungen zwischen psychotherapeutischer Grundorientierung (basic psychotherapeutic orientation, orientation basale psychothérapeutique), Verfahren (psychotherapeutic method, méthode psychothérapeutique) und Technik (psychotherapeutic technique, technique psychothérapeutique) vorgenommen (Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie 2004): Definition 4 »Psychotherapie ist die Behandlung von Individuen auf der Basis einer Einwirkung mit überwiegend psychischen Mitteln. Die Definition wissenschaftlicher Psychotherapie fordert eine Reihe von weiteren Bedingungen, z.B. das Anstreben der positiven Beeinflussung von Störungs- und Leidenszuständen in Richtung auf ein nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (z.B. Symptomminimalisierung und/oder Strukturveränderungen der Persönlichkeit) sowie einen geplanten und kontrollierten Behandlungsprozess, der über lehrbare Techniken beschrieben werden kann und sich auf eine Theorie normalen und pathologischen Verhaltens bezieht. Wissenschaftliche Psychotherapie sollte als Heilbehandlung im Rahmen des jeweiligen Gesundheitssystems zu bestimmen sein.« 4 Das Konzept psychotherapeutischen Grundorientierung »bezieht sich auf übergeordnete theoretische Hintergrundsannahmen, denen sich unterschiedliche psychotherapeutische Verfahren zuordnen lassen. Der heute eher vermiedene Begriff der Psychotherapie-Schulen gehört hierher. Typischerweise handelt es sich um ein spezifisches, d.h. eigenständiges und differenziertes Theoriesystem, das eine spezifische Nosologie (Krankheits-, Störungs-) und Gesundheitslehre mit einer ätiologisch orientierten Behandlungstheorie verbindet. Eine möglichst weitgehende empirische Validierung solcher Hintergrundsannahmen ist anzustreben. Beispiele: Behavioristisches Modell, Psychoanalytisches Modell, Humanistische Psychologie.«

6

2

8

Kapitel 2 · Methodik

4 Der Begriff psychotherapeutisches Verfahren »meint eine umschriebene Form psychotherapeutischer Praxis, die sich als ausreichend standardisiert erwiesen hat. Die umschriebene Anwendungspraxis des Verfahrens bezieht sich auf eine psychotherapeutische Grundorientierung, von der sie eine praktisch bewährte, so weit wie möglich auch empirisch evaluierte, Umsetzung darstellt. Die Differenzierung in unterschiedliche Einzelverfahren, die sich auf dieselbe Grundorientierung beziehen, ist sowohl konzeptuell als auch anwendungsbezogen gegenwärtig noch unbefriedigend. Beispiele: Verhaltenstherapie, Psychoanalytische Therapie, Gesprächstherapie.« 4 »Mit psychotherapeutischer Technik ist eine konkrete Methode innerhalb der Behandlungspraxis gemeint. Das Konzept ist handlungsbezogen, d.h. als ein bestimmtes therapeutisches Vorgehen (idealerweise operational) beschreibbar. Der Anwendungsbereich ist bei einer bestimmten Behandlungstechnik meist enger als bei einem Verfahren und der Bezug zu einer theoretischen Grundorientierung kann im Einzelfall deutlich lockerer, im Extrem gar nicht vorhanden sein. Beispiele: Symptomexposition in vivo, Fokaltherapie, EMDR 1.«

2

Der Begriff der psychotherapeutischen Grundorientierung ist vor allem im deutschen Sprachraum gebräuchlich, er kann im Englischen mit »basic psychotherapeutic orientation« bzw. im Französischen mit »orientation basale psychothérapeutique« übersetzt werden. Die Übersetzung der Begriffe Verfahren und Technik lauten entsprechend »psychotherapeutic method« bzw. »méthode psychothérapeutique« und »psychotherapeutic technique« bzw. »technique psychothérapeutique«. Im vorliegenden Bericht wird der Begriff Psychotherapie nach Margraf & Schneider (2009) wie folgt verwendet: ! Behandlung von kranken bzw. gestörten Menschen mit (überwiegend) psychologischen Mitteln.

Psychotherapeutische Verfahren können nach verschiedenen Gesichtspunkten klassifiziert werden, z.B. nach den angewandten Mitteln (Gespräch, Zuwendung, Übungen, Direktivität, Entspannung, Einsicht, Lernen etc.), nach den Zielen (Stützung, Schulung, Umstrukturierung 1

EMDR ist eine Abkürzung für »Eye Movement Desensitization and Reprocessing«, eine psychotherapeutische Technik, die in den USA zunächst für die Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen entwickelt wurde und inzwischen auch in Europa bzw. bei anderen Störungsbildern zum Einsatz kommt.

9 2.1 · Begriffsbestimmung

der Persönlichkeit, Symptomminimalisierung etc.) oder nach der Art der Durchführung (sog. Setting: Einzel-, Paar-, Familien- oder Gruppenpsychotherapie). Im Sinne unserer Definition wird etwa unter Psychoedukation eine Gruppe spezifischer therapeutischer Verfahren verstanden, die durch strukturierte Informationsvermittlung positive Effekte (z.B. Besserung der Symptomatik, Abbau problematischen Verhaltens, erhöhte wahrgenommene Vorhersagbarkeit, bessere Compliance o.Ä.) anstreben. Ein bewährtes Beispiel stellen psychoedukative Ansätze in der Familienbetreuung schizophrener Patienten dar, wo sie eine deutliche und kosteneffektive Reduktion der Rückfallraten bewirken. Während wir uns für den vorliegenden Bericht um maximale begriffliche Exaktheit bemühen müssen, muss doch darauf hingewiesen werden, dass die klinische Realität im Gesundheitswesen nicht immer eindeutige Abgrenzungen zulässt. Die praktische Tätigkeit von Psychotherapeuten umfasst mehr als nur die reine Psychotherapie im engeren Sinne. Zum Beispiel lassen sich Aspekte der Beratung und Stützung bei chronisch psychisch Kranken oder Anteile von Diagnostik, Triage und Begutachtung nicht immer von den klassischeren kurativen Tätigkeiten trennen.

2.1.2 Anwendungsbereiche von Psychotherapie Als Anwendungsbereiche von Psychotherapie werden umschriebene Symptome, Symptomgruppen (Syndrome) oder Störungsbereiche bezeichnet, die Indikationsfelder für Psychotherapie darstellen. Die Beschreibung von Anwendungsbereichen kann sich auf aktuelle Klassifikationen psychischer Störungen (ICD-10 oder DSM-IV) oder anders beschriebene Funktionsdefizite oder Dysfunktionen beziehen. Beispiele sind etwa Angststörungen, Somatoforme Störungen, Beziehungsstörungen oder Entwicklungsstörungen. Ein zentraler Begriff ist in diesem Zusammenhang derjenige der psychischen Störung. Da nicht jede Störung Krankheitswert hat und auch nicht jede Störung unbedingt behandlungsbedürftig ist, müssen auch diese Begriffe klar definiert werden. Wir verwenden im vorliegenden Bericht die Definitionen des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie (2004), die wie folgt lauten: Definition 4 Psychische Störung: »Eine psychische Störung wird als ein klinisch bedeutsames psychisches oder Verhaltenssyndrom bzw. Muster bezeichnet, das bei einem Individuum auftritt. Definitionsgemäß ist es mit aktuellem Leiden (z.B. Schmerz) oder Versehrtheit (z.B. Behinderung in einem oder mehreren wichtigen Funk-

6

2

10

2

Kapitel 2 · Methodik

tionsbereichen) verbunden oder es besteht eine Beeinträchtigung in der Fähigkeit, Entwicklungsaufgaben (z.B. Schule) zu bewältigen oder ein signifikant erhöhtes Risiko für Tod, Schmerz, Siechtum oder ein bedeutsamer Verlust an Freiheit. Der Begriff der psychischen Störung ist vor allem dahingehend widersprüchlich, dass psychische Störungen zugleich somatische und die somatische Störungen zugleich psychische Phänomene beinhalten und somit eine sich ausschließlich im psychischen (mental) Bereich manifestierende Störung praktisch nicht vorkommt. Dennoch hat er sich insbesondere in der Folge des DSM-III/IV, dem die Definition entnommen ist, durchgesetzt.« 4 Krankheitswertigkeit: »Im Falle von Krankheitswertigkeit schränkt die psychische Störung deutlich die normale Lebensführung der Person, ihre berufliche (oder schulische) Leistung oder soziale Aktivitäten und Beziehungen ein oder sie verursacht dem Individuum erhebliches Leiden. Auch die Stärke der Abweichung vom in einem soziokulturellen Raum üblichen Verhalten kann einen Hinweis auf die Krankheitswertigkeit einer Störung darstellen. In diesem Sinne besteht im DSM-IV und in der ICD-10 eine Tendenz, den Begriff der Störung implizit mit dem der Krankheitswertigkeit zu verbinden.« 4 Behandlungsbedürftigkeit: »Auch wenn dies meistens der Fall sein wird, beinhaltet die Diagnose einer psychischen Störung nicht automatisch Behandlungsbedürftigkeit. Für die Feststellung von Behandlungsbedürftigkeit kommen weitere Kriterien hinzu. Dabei handelt es sich vor allem um (a) die Krankheitswertigkeit der Störung und (b) das Vorhandensein einer Behandlungsmethode, die, wissenschaftlich belegt, eine Besserung oder Heilung der Störung wahrscheinlich macht. Die Feststellung von Krankheitswertigkeit allein - in der Praxis meist über die Schwere der Störung definiert - stellt noch keine hinreichende Indikation für eine Behandlung dar. Auch für ein rein körperliches Leiden steht nicht in jedem Fall eine erfolgsversprechende Behandlungsmethode zur Verfügung.«

Diese Definitionen bieten zusammen mit dem Klassifikationssystem der ICD-10 eine Grundlage, um die wesentlichen Anwendungsbereiche der Psychotherapie zusammenzufassen. Da sich die Indikationen bei Erwachsenen von denjenigen bei Kindern und Jugendlichen unterscheiden, müssen für die beiden Bereiche getrennte Zusammenfassungen vorgelegt werden. Die . Tab. 2.1 und 2.2 stellen die wesentlichen Anwendungsbereiche der Psychotherapie nach den Stellungnahmen des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie zusammen.

11 2.1 · Begriffsbestimmung

. Tab. 2.1. Wesentliche Anwendungsbereiche der Psychotherapie bei Erwachsenen nach Definition des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie der Bundesrepublik Deutschland

Anwendungsbereiche

Beispiele zugehöriger Störungen (allgemeinsprachliche oder ältere medizinische Begriffe)

1. Affektive Störungen (F 3)

Depressionen, Manien

2. Angststörungen

Phobien, Panikattacken, Zwänge

3. Belastungsstörungen (F 43)

Stressreaktionen, posttraumatische Belastungsstörungen, Anpassungsstörungen

4. Dissoziative, Konversionsund somatoforme Störungen

Hypochondrie, Somatisierung, Dissoziationen, Hysterie, Neurasthenie

5. Essstörungen (F 50)

Anorexie, Bulimie

6. Andere Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (F 5)

(nicht-organische) Schlafstörungen, sexuelle Funktionsstörungen

7. Psychische und soziale Faktoren bei somatischen Krankheiten (F 54)

Psychische Faktoren bei HerzKreislauf- oder Krebserkrankungen

8. Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen (F 6)

Persönlichkeitsstörungen, Verhaltensstörungen

9. Abhängigkeiten und Missbrauch (F 1, F 55)

Sucht, Alkoholismus

10. Schizophrenie und wahnhafte Störungen (F 2)

Schizophrenien, Psychosen

11. Psychische und soziale Faktoren bei Intelligenzminderung (F 7)

Schwachsinn, Debilität, Oligophrenie

12. Hirnorganische Störungen

Psychische Faktoren bei Folgeerscheinungen von Schlaganfällen

Bei Betrachtung der in . Tab. 2.1 und 2.2 aufgeführten Anwendungsbereiche wird deutlich, dass Psychotherapie nicht auf den Bereich der psychischen Störungen beschränkt ist, wenngleich diese den größten Teil der Indikationen ausmachen (vgl. Anwendungsbereiche 7, 11 und 12 bei Erwachsenen sowie 8 bei Kindern und Jugendlichen).

2

12

Kapitel 2 · Methodik

. Tab. 2.2. Wesentliche Anwendungsbereiche der Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen nach Definition des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie der Bundesrepublik Deutschland

2

Anwendungsbereiche

Beispiele zugehöriger Störungen (allgemeinsprachliche oder ältere medizinische Begriffe)

Affektive Störungen (F 30 – F 39) und Belastungsstörungen (F 43)

Depressionen, Stressreaktionen, posttraumatische Belastungsstörungen, Anpassungsstörungen

Angststörungen (F 40 – F 42) und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F 93)

Trennungsangst, Phobien, Zwänge, emotionale Störungen

Dissoziative, Konversions- und somatoforme Störungen (F 44 – F 45) und andere neurotische Störungen (F 48)

Hypochondrie, Dissoziationen, Somatisierung, Hysterie, Neurasthenie

Essstörungen (F 50) und andere Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (F 5)

Anorexie, Bulimie, (nicht-organische) Schlafstörungen, psychische Faktoren bei somatischen Krankheiten

Verhaltensstörungen (F 90 – F 92, F 94, F 98) mit Beginn in der Kindheit und Jugend und Tic-Störungen (F 95)

Hyperaktivität, Tics, Störungen des Sozialverhaltens, andere Verhaltensstörungen oder emotionale Störungen

Autistische Störungen (F 84)

Autismus

Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen (F 60, F 62, F 68 - F 69), Störungen der Impulskontrolle (F 63), Störungen der Geschlechtsidentität und Sexualstörungen (F 64 - F 66), Abhängigkeit und Missbrauch (F 1, F 55), Schizophrenie und wahnhafte Störungen (F 20 - F 29)

Persönlichkeitsstörungen, Sucht, Psychosen, Transsexualität

Intelligenzminderung (F 7), hirnorganische Störungen (F 0) und Entwicklungsstörungen (F 80 – F 83 sowie F 88 und F 89)

Schwachsinn, Oligophrenien, Zustände nach Schlaganfall

2.1.3 Validität empirischer Studien Ebenso wie andere menschliche Produkte sind Forschungsarbeiten kaum je perfekt. Zur Beurteilung ihrer Qualität wird das Gütekriterium der Validität herangezogen. Ohne Kenntnis der Validität können die Aussagen von Forschungsarbeiten nicht adäquat beurteilt werden. Die Psychologie hat über mehr als ein Jahrhundert hinweg eine sehr differenzierte Methodologie entwickelt, die inzwischen die relevanten Teilaspekte des Validitätskonzeptes sowie deren wichtigste Störfaktoren identifiziert hat. Wichtig für die Feststellung der Aussagekraft empirischer Untersuchungen sind die verschiedenen Aspekte der Schlüssigkeit (Konklusivität) und der Verallgemeinerbarkeit (Generalisierbarkeit) der Befunde. Beide zusammen machen die Validität einer Studie aus. Die interne Va-

13 2.1 · Begriffsbestimmung

lidität nimmt Bezug darauf, wie eindeutig die gezogenen Schlüsse durch die Versuchsplanung möglich sind. Die statistische Validität betrifft die Angemessenheit der ausgewählten statistischen Analyseverfahren sowie die Zuverlässigkeit der Messinstrumente. Die externe Validität schließlich gibt an, wie gut die Ergebnisse der Stichprobe auf die gesamte interessierende Population generalisiert werden können. Hier wird oft auch von Generalisierbarkeit oder Verallgemeinerbarkeit gesprochen. Weitere Aspekte der Validität sind die ätiologische, die Übereinstimmungs-, die Voraussage- und die Konstruktvalidität. Diese sind für unsere Aufgabenstellung weniger bedeutsam und werden daher hier nicht näher behandelt. . Tab. 2.3 stellt die typischen Störfaktoren der für unser Thema wichtigsten Aspekte der Validität in der Psychotherapieforschung zusammen. Die verschiedenen Aspekte der Validität ergänzen einander, sie können sich daher nicht gegenseitig ersetzen. Insbesondere interne und externe Validität stehen jedoch z.T. auch in einem komplementären Verhält-

. Tab. 2.3. Typische Störfaktoren der wichtigsten Teilaspekte der Validität empirischer Studien in der Psychotherapieforschung

Validitätsaspekt

Störfaktoren

Externe Validität

4 4 4 4

Interne Validität

4 Unklare Kausalbeziehungen in korrelativen Studien 4 Bekanntheit oder Nachahmung von Behandlungsbedingungen über verschiedene Behandlungsbedingungen hinweg 4 Kompensatorischer Ausgleich bei verschiedenartigen Behandlungsbedingungen 4 Kompensatorische Rivalität in verschiedenen Behandlungsbedingungen 4 Motivationsverlust bei unbehandelten oder gering behandelten Kontrollgruppen 4 Auf eine Bedingung begrenzte lokale Einflüsse 4 Mangelnde Therapieintegrität (tatsächliche Umsetzung geplanter Therapiemaßnahmen)

Statistische Validität

4 4 4 4

Selektionseffekte bei der Patientenrekrutierung Selektionseffekte bei der Auswahl der Therapeuten Konfundierung von Kontext- und Behandlungseinflüssen Konfundierung von Therapeuten- und Behandlungseinflüssen

Mangelnde statistische Power Multiple Vergleiche mit oder ohne Alpha-Adjustierung Mangelnde Retest-Reliabilität der Messinstrumente erhöhte Fehlervarianz durch zufällige Störereignisse, heterogene Patienten oder nicht reliable realisierte Behandlungsbedingungen

2

14

2

Kapitel 2 · Methodik

nis zueinander. In diesen Fällen kann eine Steigerung des einen Teilaspektes eine Beeinträchtigung des anderen zur Folge haben, so dass »perfekte« Werte auf beiden Teilaspekten nicht gleichzeitig erreicht werden können. Im Bereich der Psychotherapieforschung hat dies zu der in jüngster Zeit zunehmend häufiger betonten Unterscheidung von zwei Studientypen geführt, die mit den beiden englischen Begriffen »Efficacy« und »Effectiveness« bezeichnet werden. ! Bei Efficacy handelt es sich um die in systematischer, möglichst kontrollierter Forschung nachgewiesene Wirksamkeit eines Therapieverfahrens.

Als »Goldstandard« des Wirksamkeitsnachweises im Sinne der Efficacy gilt nach wie vor die randomisierte kontrollierte Therapiestudie, in der versucht wird, eine maximale interne Validität des Versuchsplans zu erreichen. Dies geht jedoch möglicherweise auf Kosten der externen Validität, die für die Generalisierbarkeit der Befunde von großer Bedeutung ist. ! Daher wird mit Effectiveness ein eigener Begriff eingeführt, um zu beschreiben, wie ein gegebenes Therapieverfahren unter den Bedingungen der Routinepraxis wirkt.

Hier sind daher auch die Fragen der Verbreitung des Verfahrens, seiner Akzeptanz und des Verhältnisses von Aufwand und Nutzen, kurz seiner Realisierbarkeit in der Praxis angesprochen. Analog zur internen und externen Validität ergänzen Efficacy und Effectiveness einander komplementär, können sich jedoch nicht gegenseitig ersetzen. Die Evaluation eines Verfahrens unter den Bedingungen der Alltagsroutine kann nicht als Nachweis der spezifischen Wirksamkeit des angewendeten Therapieverfahrens interpretiert werden und umgekehrt kann nicht aus dem positiven Ergebnis in einer randomisierten kontrollierten Therapiestudie automatisch auf die Wirkung unter Alltagsbedingungen geschlossen werden. In den Abschnitten zur Auswertung der Literatur werden wichtige Beeinträchtigungen der Validität jeweils bei den einzelnen Studien dargestellt. Darüber hinaus werden die verwendeten Forschungsdesigns als eine der wichtigsten Dimensionen der internen Validität zusammenfassend behandelt und die Frage der Übertragbarkeit der Forschungsbefunde auf die Routinepraxis in einem eigenen Abschnitt erörtert.

15 2.1 · Begriffsbestimmung

2.1.4 Effektivität Bei der Beurteilung der Effektivität 2 von Psychotherapien muss neben der zufallskritischen Absicherung der beobachteten Effekte durch statistische Signifikanztests auch die Größe der festgestellten Wirkungen berücksichtigt werden. Zu diesem Zweck werden in der Psychotherapieforschung so genannte Effektstärken berechnet. Dabei handelt es sich um eine spezifische Quantifizierung der Größe eines beobachteten Effektes. ! Grundsätzlich wird die Effektstärke als standardisierter Differenzwert berechnet (Mittelwert behandelte Gruppe minus Mittelwert unbehandelte Gruppe, geteilt durch die Standardabweichung der unbehandelten Gruppe).

Analog können auch Differenzwerte innerhalb einer Gruppe (vor vs. nach Behandlung) oder beim Vergleich zweier verschiedener Behandlungen gebildet werden. Heutzutage wird die Standardisierung der verschiedenen Messvariablen dadurch erreicht, dass die Differenzwerte durch die gepoolte Standardabweichung der betrachteten Gruppen oder Bedingungen geteilt wird (Hedges’ g, vgl. Hedges 1981): Mittelwert Gruppe 1 – Mittelwert Gruppe 2 g = 000000400 gepoolte Standardabweichung innerhalb der Gruppen Zudem werden in der Regel Korrekturen für Verzerrungen aufgrund kleiner Stichproben einbezogen. Dabei findet meist folgende Formel von Hedges (1981) Verwendung (N ist die Stichprobengröße): 3 d = 1 – 02 g 4N – 9





! Grundsätzlich besagt eine Effektstärke von 1.0, dass der durchschnittliche Patient aus Gruppe 1 (z.B. mit Psychotherapie behandelte Patienten) einen Wert im betrachteten Erfolgsmaß aufweist, der genau eine Standardabweichung über derjenigen des durchschnittlichen Patienten aus Gruppe 2 (z.B. ohne Psychotherapie oder mit einer alternativen Methode behandelt) liegt.

Bei einer Effektstärke von 0.8 liegen die beiden Durchschnitte 0.8 Standardabweichungen auseinander etc. Als Konvention zur Interpretation von Effektstärken hat sich eingebürgert, Werte ab 0.8 als »groß«, solche 2

Die ökonomische Literatur unterscheidet nicht zwischen »efficacy« und »effectiveness«. Die Verwendung des Begriffes »Effektivität« erfolgt eher analog zur »efficacy« in der Psychotherapieforschung.

2

16

2

Kapitel 2 · Methodik

von 0.5–0.8 als »mittel« und solche von 0.2–0.5 als »klein« zu bezeichnen. Werte unter 0.2 gelten als vernachlässigbar bzw. ohne praktische Bedeutsamkeit und negative Werte bedeuten, dass die Vergleichsgruppe im Durchschnitt besser abschneidet. Die Effektstärke ist nicht nur die Grundlage für den quantitativen Vergleich verschiedener Erfolgsmasse oder Studien, sondern auch die Basis für die statistischen Sekundäranalysen mit der Methode der MetaAnalyse, die eine objektive und quantifizierende Zusammenfassung von Forschungsbefunden aus verschiedenen Studien ermöglicht. Bei der Meta-Analyse werden die einzelnen Effektstärken per Durchschnittsbildung zu einer integrierten Effektstärke verrechnet. Viel diskutierte methodologische Themen sind in diesem Kontext das Problem der statistischen vs. klinischen Signifikanz und die Grenzen des meta-analytischen Verfahrens bei Mittelung von sehr verschieden aussagekräftigen Werten oder bei mangelnder Berücksichtigung der methodischen Qualität der Primärstudien. Bei einem Vergleich mehrerer Behandlungsalternativen muss ein möglichst konsensfähiges Kriterium gefunden werden, um zwischen »erfolgreichen« und »nicht erfolgreichen« Behandlungen unterscheiden zu können. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist sodann stets zu berücksichtigen, dass sich die ermittelte Kosten-Effektivität lediglich auf das jeweils gewählte Erfolgskriterium bezieht. Es ist daher nicht möglich, »die« Kosten-Effektivität einer Therapiemethode unabhängig vom Erfolgkriterium zu bestimmen. Die Messung des Therapieerfolgs ist jedoch äußerst vielfältig: So fanden Froyd et al. (1996) in 348 Psychotherapiestudien, die zwischen 1983 und 1988 veröffentlicht worden waren, 1’430 verschiedene Masse für den Therapieerfolg. Lambert und Hill (1994) demonstrierten an einem Beispiel, dass die »Erfolgsquote« derselben Studie in Abhängigkeit von der Wahl verschiedener Erfolgsindikatoren zwischen 69 % und 6,3 % schwanken kann. Selbstverständlich ist ein solcher Zustand gegenüber Patienten wie Kostenträgern unhaltbar. Auf der Basis des allgemeinen Krankheitsmodells schlägt Schulte (1993) daher einen allgemein akzeptablen Konsens zur Erfolgsmessung vor: Da das (gesellschaftlich vorgegebene) Ziel einer Therapie in der Heilung bzw. Linderung von Störungen mit Krankheitswert liegt, sollte »Therapieerfolg« (u.a.) in einem Rückgang der Beschwerden und ihrer Folgen bestehen. Er verweist zunächst auf störungsspezifische Messungen, die sich an den aktuellen Diagnoseschlüsseln (DSM, ICD) orientieren. Vorschläge zu konkreten Messinstrumenten für verschiedene Störungen stammen u.a. von Fydrich und Mitarbeitern (1996), Strupp et al. (1997), Margraf & Schneider (2009) sowie Schneider & Margraf (2009). Darüber hinaus müssen auch Störungsfolgen (Demoralisation, Krankenrolle, Verlust von Kontrolle, Selbstwert und sozialer Einbindung), die störungsübergreifende Symptombelastung und mögliche Nebenwirkungen der Therapie erhoben werden.

17 2.1 · Begriffsbestimmung

Bei den meisten Kosten-Effektivitäts-Analysen werden angesichts der Vielzahl der zur Verfügung stehenden Masse mehrere Kriterien herangezogen und jeweils eigene Kosten-Effektivitäten berechnet.

2.1.5 Kosten Als Grundlage für Kosten-Wirkungs-Analysen wird das so genannte Opportunitätskostenprinzip benutzt (vgl. Drummond et al. 2004). Dabei werden die Opportunitätskosten als entgangener Nutzen für eine alternative Verwendung der Ressourcen definiert. Der Wert dieser Opportunitäten wird in Geldeinheiten erfasst. Hinsichtlich der verschiedenen Kostenarten wird zwischen direkten und indirekten sowie zwischen tangiblen und intangiblen Kosten unterschieden. Direkte Kosten werden unmittelbar von der Behandlung oder der Krankheit verursacht und bestehen in unmittelbaren Ausgaben (z.B. Therapeutenhonorare), indirekte Kosten werden mittelbar von der Behandlung oder der Krankheit ausgelöst und können anstelle von direkten Ausgaben auch im Verlust von Ressourcen bestehen (z.B. Fahrtkosten, Zeitverlust, Arbeitsausfallkosten). Bei tangiblen Kosten können unmittelbar monetäre Marktwerte zugeordnet werden, bei intangiblen Kosten hingegen gibt es keine klar bezifferbaren Preise. . Tab. 2.4 gibt eine schematische Darstellung der resultierenden 2 × 2-Matrix an Kostenarten.

. Tab. 2.4. Übersicht über die verschiedenen Arten von Kosten und Nutzen von Psychotherapie (Mod. nach Jacobi 2001)

Kostenart

Beispiele für Kosten

Beispiele für Nutzen

direkt tangibel

z.B. in Rechnung gestellte Kosten der Behandlung pro Patient

Reduktion der Inanspruchnahme anderer medizinischer Leistungen

direkt intangibel

Unannehmlichkeiten durch die Behandlung für den Patienten (z.B. emotionale Belastung durch Therapie)

Bessere Lebensqualität nach Ende der Behandlung

indirekt tangibel

Nebenkosten der Therapie, die der Patient selbst übernehmen muss, z.B. Fahrtkosten zum Behandlungsort; ggf. Übernachtungskosten; Kosten, die Rahmen von Konfrontationsübungen entstehen (z.B. Zugfahrten)

Reduktion der Arbeitsunfähigkeit, weitere Aspekte wie z.B. höheres zukünftiges Gehalt für einen Patienten, der dank der Therapie seine Ausbildung abschließen bzw. seine Karriere weiterverfolgen kann

indirekt intangibel

Unannehmlichkeiten für Verwandte durch die Therapie (z.B. Mehraufwand bei der Haushaltsführung, wenn ein Familienmitglied sich für Wochen in einer stationären Maßnahme befindet)

Bessere Lebensqualität der Verwandten als Folge der Therapie (z.B. wenn geheilter Patient wieder mehr familiäre Aufgaben übernehmen kann)

2

18

2

Kapitel 2 · Methodik

Zusätzlich kann die Perspektive, aus der die Kosten erfasst oder beurteilt werden, noch genauer spezifiziert werden (die Perspektiven des Patienten, des Arbeitsgebers, des Kostenträgers, des Gesundheitswesens, der Volkswirtschaft). Weiterhin können bei der Beurteilung anfallender Kosten die folgenden Berechnungsansätze unterschieden werden (Yates & Newman 1980): 4 Betriebskosten (»operations perspective«) entstehen direkt durch das Erbringen der Leistung und werden bei der stationären Behandlung auf den Pflegesatz umgeschlagen. 4 Im Gegensatz zu den Betriebskosten werden in die Leistungskosten (»opportunity value costs«) Spenden, Kosten der Patienten (z.B. Reisekosten) sowie ihrer direkten und indirekten Bezugspersonen (z.B. Reisekosten des Ehepartners) einbezogen. 4 Die umfassenden Gesamtkosten (»comprehensive approach«) beziehen alle Betriebs- und Leistungskosten mit ein. Zusätzlich werden auch die Kosten für die Therapie von Folgeschäden, die auf die durchgeführte Therapie zurückgehen, berechnet. . Abb. 2.1 stellt am Beispiel der emotionalen Störungen das Zustande-

kommen von Kosten in der Gesundheitsversorgung und im sozialen System schematisch dar. Bei sämtlichen Kostenansätzen werden die entstandenen Kosten auf die therapeutische Intervention umgeschlagen. Dies kann bei der ambulanten Behandlung über den Stundensatz der Therapie, bei stationären Einrichtungen über die Pflegesätze geschehen. Zu Forschungszwecken können die Kosten aber auch verschiedenen Behandlungsprogrammen, Patientengruppen oder Einzelpersonen zugeordnet werden.

2.1.6 Nutzen Analog zur Kostenberechnung können auch hier direkte und indirekte sowie tangible und intangible Nutzwerte unterschieden werden (. Tab. 2.4). Im Gegensatz zur Effektivitätsberechnung werden bei der Nutzenberechnung die gleichen Einheiten wie bei den Kosten zur Bewertung herangezogen. Da Kosten meist als finanzieller Aufwand ausgedrückt werden, werden also auch die Therapieergebnisse in monetären Einheiten dargestellt. Dies kann in zweifacher Weise geschehen: 4 Für die Berechnung des so genannten positiven Nutzens werden die im Vergleich zum Beginn der Therapie entstandenen finanziellen Vorteile ermittelt (z.B. höherer Verdienst, Steuerzahlung). 4 Der Nutzen durch Kosteneinsparung erfasst dagegen die im Vergleich zum Beginn der Therapie entstandene Kosteneinsparungen (z.B. geringere Arztkosten).

19 2.1 · Begriffsbestimmung

. Abb. 2.1. Schema zur Entstehung von Krankheitskosten am Beispiel der emotionalen Störungen

Die zwei Arten der Nutzenberechnung können sowohl direkt als auch indirekt durchgeführt werden. Die direkte Nutzenberechnung ist genauer, aber auch aufwendiger, da für jeden Patienten der Nutzen individuell berechnet werden muss. Bei der indirekten Nutzenberechnung wird dagegen eine einmalige Transformation von Therapieergebnissen in monetären Einheiten durchgeführt.

2.1.7 Ermittlung der Relation zwischen Kosten

und Nutzen bzw. Effektivität Zur Ermittlung der Relation zwischen Kosten einerseits und Nutzen oder Effektivität andererseits gibt es eine ganze Reihe verschiedener Ansätze. Obwohl alle Verfahren ökonomische Schätzwerte liefern, die von Entscheidungsträgern für Allokationsfragen genutzt werden können, unter-

2

20

2

Kapitel 2 · Methodik

scheiden sie sich doch in bedeutsamen Punkten. Die wichtigsten Verfahren sind Kosten-Nutzen-Analysen (engl. cost-benefit analyses, franz. Analyse coût-bénéfice), Kosten-Effektivitäts-Analysen (engl. cost-effectiveness analyses, franz. Analyse coût-efficacité) und Kosten-NutzwertAnalysen (engl. costutility analyses, franz. Analyse coût-utilité). 1. Kosten-Nutzen-Analysen befassen sich mit der Frage, in welchem Ausmaß eine spezifische Behandlung ein wünschenswertes Ergebnis erzielt. Dabei werden Kosten und Nutzen in monetären Einheiten erfasst und können daher direkt verglichen werden. Dies ist z.B. der Fall, wenn der Nutzen einer Therapiemaßnahme als Einsparung an anderer Stelle definiert wird (etwa über die Reduktion weiterer Behandlungskosten oder Arbeitsunfähigkeitszeiten). Sofern der Nutzen die Kosten übersteigt, sprechen wir von einer positiven Kosten-Nutzen-Relation. 2. Kosten-Effektivitäts-Analysen erfassen dagegen nur die Kostenseite monetär, während das Therapieergebnis in natürlichen Einheiten ausgedrückt wird (z.B. Symptomreduktion, erhöhte Arbeitsproduktivität). Hier geht es im Wesentlichen darum festzustellen, welche Ressourcen für ein spezifisches Therapieergebnis aufgewendet werden müssen. Diese Methode ist besonders für den Vergleich verschiedener Therapieoptionen geeignet. So kann etwa festgestellt werden, ob zwei gleich effektive Therapiemethoden unterschiedlichen Kosteneinsatz erfordern oder ob zwei gleich teure Therapien unterschiedliche Effektivität aufweisen. 3. Kosten-Nutzwert-Analysen ähneln Kosten-Effektivitäts-Analysen, drücken jedoch den Therapieeffekt in standardisierten Einheiten aus, die die Lebensqualität berücksichtigen (z.B. »gesunde« Lebensjahre). Hier hat sich vor allem das Konzept der »qualitätsbereinigten Lebensjahre« (QALY: quality-adjusted life years) durchgesetzt. Dabei wird die Anzahl der Lebensjahre berechnet, die das behandelte Individuum auf Grund der Therapie frei von Symptomen oder Beeinträchtigung sein wird. Verwandt ist das Konzept der DALYs (disability adjusted life years: die Anzahl »verlorener« Lebensjahre aufgrund vorzeitiger Sterblichkeit oder Beeinträchtigung, gewichtet nach dem Schweregrad der Beeinträchtigung), das v.a. in der Global Burden of Disease Studie im Auftrag von Weltbank und Weltgesundheitsorganisation eingesetzt wurde. Zur Ermittlung der Kosten-Nutzen-Relation wird ein Quotient aus dem Gesamtnutzen und den Gesamtkosten berechnet (beide in monetären Einheiten). Zur Beurteilung der Kosten-Effektivitäts-Relation werden dagegen häufig die Gesamtkosten im Verhältnis zur Anzahl erfolgreich behandelter Patienten betrachtet. Wesentlicher Bestandteil der Kosten-Nutzen-Analyse ist typischerweise ein Vergleich der störungsbezogenen direkten und indirekten Krankheitskosten (v. a. Inanspruchnahme von ambulanten und stationären Behandlungen sowie Arbeitsunfähigkeit) vor und nach Therapie.

21 2.2 · Vorgehen bei der Literatursuche und -auswertung

Dieser Vergleich ermöglicht eine Abschätzung des finanziellen Nutzens der durchgeführten Behandlungen im Sinne einer Einsparung von Krankheitskosten. Optimalerweise sollten die Angaben z.B. über die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen anhand von Daten der Krankenkassen überprüft werden. Dies ist aufgrund von Datenschutzproblemen häufig kaum möglich. Im nächsten Schritt müssen die erhobenen Kostenfaktoren (z.B. Besuche beim Hausarzt, stationäre Behandlungstage, Arbeitsunfähigkeitstage) in Geldeinheiten umgerechnet werden. Dazu kann auf zuvor ermittelte Durchschnittsgrößen zurückgegriffen werden.3 Ferner wird häufig eine Diskontierung des Nutzens vorgenommen, da sich der Nutzen der Therapie später als die Kosten einstellt und somit diese Geldwerte nicht direkt vergleichbar sind (vgl. Drummond et al., 1987). Ein weiterer wichtiger Begriff ist der so genannte »Offset-Effekt«. Damit wird die Beobachtung beschrieben, dass Psychotherapie zu allgemeinen Einsparungen im Bereich der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen führen kann (z.B. nach psychotherapeutischer Behandlung einer Panikstörung suchen Patienten deutlich seltener medizinische Notfalldienste auf). Gelegentlich wird eine engere Definition des Offset-Effektes verwendet, bei der zusätzlich verlangt wird, dass die Einsparungen größer sind als die Kosten der psychologischen Intervention. Wir verwenden im vorliegenden Bericht die üblichere breite Definition.

2.2

Vorgehen bei der Literatursuche und -auswertung

Die Literatursuche erfolgte in zwei Stufen.4 Für die ältere Literatur wurde auf bereits publizierte Literaturübersichten zurückgegriffen. Für die aktuellen Forschungsergebnisse zu Kosten und Nutzen von Psychotherapie wurde versucht, alle in den Sprachen Englisch, Deutsch und Französisch publizierten Originalarbeiten der letzten 10 Jahre zu erfassen. Dabei stützten wir uns auf die folgenden Quellen: 3

4

Die Durchschnittswerte können einer Sensitivitätsanalyse unterzogen werden, falls sie nicht exakt sind. Dabei wird geprüft, ob sich die Kosten-Nutzen-Relation nicht verändert, auch wenn die tatsächlichen Werte z.B. 50% oder 150% der Schätzwerte betragen würden. Bei wesentlichen Veränderungen im Gesundheitssystem (z.B. nach einem neuen Tarif wie Tarmed oder nach einer Integration der psychologischen Psychotherapie in das KVG) kann die Kosten-Nutzen-Analyse leicht neu berechnet werden. In der empirischen Forschungsliteratur zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie wird in der Regel nicht zwischen ärztlicher und psychologischer Psychotherapie unterschieden. Aus diesem Grund kann auch die vorliegende Literaturauswertung diese Unterscheidung nicht treffen. Zudem deuten die wenigen empirischen Befunde auf eine vergleichbare Effektivität der Psychotherapie durch Psychologen und Psychiater hin (vgl. etwa von Korff et al. 1998, Heinzel et al. 1997 und 1998). Die Aussagen des Berichtes beziehen daher stets auf Psychotherapie unabhängig von der Berufszugehörigkeit der Anwender, sofern nicht explizit anders angegeben.

2

22

Kapitel 2 · Methodik

1. Die elektronischen Datenbanken zur medizinischen und psychologischen Forschung in den Sprachen Englisch, Deutsch und Französisch (Datenbanken und Suchbegriffe sind in . Tab. 2.5 dargestellt). 2. Eine schriftliche Befragung einschlägig ausgewiesener Fachleute, mit der Bitte eventuelle Quellen zu benennen. Eine Liste der kontaktierten Experten ist im Anhang 6 aufgeführt. 3. Die Auswertung der Literaturverzeichnisse der durch 1. und 2. aufgefundenen Publikationen sowie einschlägiger Monographien und Handbücher zur Psychotherapieforschung. 4. Aktuelle eigene empirische Forschungsarbeiten des Autors.

2

Für die Interpretation der Forschungsergebnisse ist es zudem von Bedeutung, die langfristige Wirksamkeit von Psychotherapie und die externe Validität der Studien zu berücksichtigen. Die Literatursuche umfasste daher auch Studien zu den folgenden beiden Fragen: 1. Wann und wie lange wirkt welche Art von Psychotherapie bei welchen Krankheiten (differentielle bzw. spezifische Wirksamkeit und Katamnesen)? 2. Inwieweit sind die unter Forschungsbedingungen erzielten Ergebnisse zur Psychotherapie auf die Routineversorgung übertragbar? Eine Darstellung der Suchbegriffe und der »Treffer« in der elektronischen Recherche gibt . Tab. 2.5. Der weitaus größte Teil der elektronisch gefundenen Literaturstellen war jedoch nicht relevant. Obwohl die anderen

. Tab. 2.5. Suchbegriffe und »Treffer« in der elektronischen Literatursuche für die Jahre 1995–2004 in den drei verwendeten Datenbanken

Suchbegriffe

PubMed

Psyndex

PsycINFO

Englisch: Behavior/behaviour therapy, client centered therapy cognitive therapy, cognitive behavior/behaviour therapy, humanistic therapy, psychoanalysis, psychotherapy, systemic therapy / cost, benefit, effectiveness, utility

1129

33

447

Deutsch: Humanistische Therapie, (Klientenzentrierte) Gesprächspsychotherapie, Kognitive Therapie, kognitive Verhaltenstherapie, Psychoanalyse, Psychotherapie, Systemische Therapie, Verhaltenstherapie / Effektivität, Kosten, Nutzen, Nutzwert

0

77

0

Französisch : Intervention psychologique, Psychothérapie, Thérapie behaviorale, Thérapie cognitive, Thérapie cognitivo-comportementale, Thérapie comportementale, Thérapie familiale, Thérapie familiale strategique, Thérapie humaniste, Thérapie rogérienne, Thérapie systemique / Bénéfice, Coûts, Dépenses, Effectivité, Profits, Utilité, Valeur d’usage

186

0

0

23 2.2 · Vorgehen bei der Literatursuche und -auswertung

Suchstrategien zusätzliche Arbeiten erbrachten, war daher die Zahl der tatsächlich gefundenen Studien deutlich geringer (vgl. dazu die Ergebnisabschnitte weiter unten). Alle gesammelten Studien wurden einer kritischen Bewertung im Hinblick auf Validität, Generalisierbarkeit und praktische Relevanz unterzogen und dann nach einem einheitlichen Raster tabellarisch zusammengefasst. Diese Zusammenfassungen sind als Forschungsprotokoll des Obsan zugänglich (Milenkovic et al. 2008). Speziell für Kosten-Nutzen-Analysen haben erstmals 1987 Drummond et al. Richtlinien in Form einer »Checkliste« mit 10 Fragen vorgelegt (inzwischen in zweiter Auflage 2004 publiziert; s. Übersicht).

Checkliste für Kosten-Nutzen-Analysen: 4 Wurde eine genau definierte Fragestellung in einer beantwortbaren Form aufgestellt? 4 Wurde eine umfassende Darstellung und Beschreibung der konkurrierenden Alternativen gegeben (d.h., kann gesagt werden, wer was wann wo bei wem wie oft tat)? 4 Wurde die Wirksamkeit der betrachteten Programme und Interventionen bestimmt? 4 Wurden alle relevanten Kosten- und Nutzenfaktoren für jede betrachtete Alternative ermittelt? 4 Wurden Kosten und Nutzen in geeigneten Einheiten gemessen? 4 Wurden Kosten und Nutzen glaubwürdig mit Werten versehen? 4 Wurden Kosten und Nutzen bei unterschiedlichen Erhebungszeiträumen bereinigt (Diskontierung)? 4 Wurde eine inkrementelle Analyse von Kosten und Nutzen vorgelegt (Marginalanalyse)? 4 Wurden Unsicherheiten der Schätzwerte für Kosten und Nutzen berücksichtigt (Sensitivitätsanalysen)? 4 Beinhaltete die Darstellung der Studie alle relevanten Punkte?

Die Betrachtung der Studien zeigte eine außerordentlich große Heterogenität der verwendeten Methoden. Keine der Kosten-Nutzen-Studie erfüllte alle 10 Kriterien nach Drummond et al. (1987, 2004) und nur wenige erfüllten die wichtigsten Punkte. Insgesamt verfügt das Feld noch nicht über einen auch nur annähernd einheitlichen Standard der Erfassung selbst so zentraler Faktoren wie Kostenvariablen, die Definition von Stichproben und Behandlungen, die Erhebungszeiträume oder die Berechnung verschiedener Kosten-Nutzen-Indices. Daher war eine weitergehende quantitative Zusammenfassung der Ergebnisse nicht möglich. Auch eine ursprünglich beabsichtigte Meta-Analyse war nicht sinnvoll durchführbar.

2

3 3 Zum Stand der Forschung 3.1

Kosten psychischer Störungen – 26

3.2

Wirksamkeit der Psychotherapie

– 36

3.2.1 Unmittelbare Wirksamkeit von Psychotherapien – 37 3.2.2 Dauerhaftigkeit der Therapieerfolge – 59 3.2.3 Zusammenhang zwischen Wirksamkeit und Dauer der Psychotherapie – 62

26

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

3.1

3

Kosten psychischer Störungen

Störungen der psychischen Gesundheit sind eine vernachlässigte Epidemie, deren Bedeutung für das Wohlergehen des Einzelnen wie für das Funktionieren von Staaten nach wie vor unterschätzt wird (Weltgesundheitsbericht der Weltgesundheitsorganisation, WHO 2001, EU-Bericht zur psychischen Gesundheit, Jané-Llopis & Anderson 2005). Die Befunde großer epidemiologischer Studien haben übereinstimmend folgende Aussagen erbracht: 4 Psychische Störungen sind in der Allgemeinbevölkerung sehr häufig. Zwischen einem Drittel (32%, Robins & Regier 1991) und der Hälfte (48.7%, Kessler et al., 1994, 2003) aller Erwachsenen wird im Laufe des Lebens mindestens eine psychische Störung von Krankheitswert haben. Weltweit sind affektive, Angst- und Substanzstörungen als die häufigsten Formen psychischer Krankheiten identifiziert worden (WHO International Consortium of Psychiatric Epidemiology (ICPE): Andrade et al., 2000, WHO World Mental Health Survey Consortium, 2004). Jüngste Analysen des Obsan bestätigen die international beobachteten hohen Prävalenzen auch für die Schweiz (Adjacic-Groß & Graf 2003, Rüesch & Manzoni 2003). 4 Psychische Störungen beginnen früher und verlaufen chronischer als lange angenommen (Steinhausen et al. 1998, Verhulst et al. 1997). Tatsächlich konnten die ersten drei Lebensjahrzehnte als besondere Risikoperiode für die Entstehung chronischer psychischer Leiden identifiziert werden (Andrade et al., 2000; Lieb et al., 2002; Wittchen et al., 1999). Transnationale Vergleiche haben sehr frühe Erstauftretensalter für Angststörungen bestätigt (Andrade et al. 2000, Michael & Margraf 2004, Wittchen et al. 1999). Selbst nicht-phobische Angststörungen konnten bereits bei 8-Jährigen nachgewiesen werden (Federer et al. 2000a, 2000b, 2000c). Studien in der Schweiz haben diese Befunde bestätigt und zusätzlich Aufmerksamkeit auf Risikoverhalten und Lebensstilvariablen gelenkt (Steinhausen et al. 1998, Narring et al. 2002). 4 Psychische Störungen sind schwer beeinträchtigende Krankheitsbilder. Studien in der Primärversorgung und in der Allgemeinbevölkerung haben bemerkenswerte Effekte auf Arbeitsproduktivität und Aufgabenerfüllung sowie stark herabgesetzte Lebensqualität und hohe direkte und indirekte Krankheitskosten belegt (z.B. Magee et al. 1996, Greenberg et al. 1999, Rosenbaum & Hylan 1999, Wittchen et al. 2000). Nach WHO-Angaben werden diese Effekte bereits in der nahen Zukunft drastisch zunehmen (Murray & Lopez 1996a+b, WHO 2001). Darüber hinaus hat die WHO World Mental Health Survey Initiative gezeigt, dass fehlende oder falsche Allokation von Ressourcen zu dramatischen Unterversorgungen führen (WHO World Mental Health Consortium 2004, vgl. auch den Bericht der US-amerika-

27 3.1 · Kosten psychischer Störungen

nischen President’s New Freedom Commission on Mental Health 2003). 4 Ein hoher Prozentsatz der Betroffenen leidet an mehr als einer psychischen Krankheit zugleich (»Komorbidität«). Die Komorbiditätsraten liegen typischerweise im Bereich von 50–60%. Sie sind besonders hoch für Angststörungen und Depressionen (Angst 1993, Jacobi et al. 2004, Kessler et al. 1994, Merikangas et al. 1998a, Michael & Margraf 2004, Robins et al. 1991, WHO World Mental Health Survey Consortium 2004).1 Die Auswirkungen psychischer Störungen auf Gesundheit und Produktivität sind lange unterschätzt worden. Erst mit den aktuellen Berichten der Weltgesundheitsorganisation (Weltgesundheitsbericht 2001, WHO World Mental Health Survey Consortium, 2004), der EU (Jané-Llopis & Anderson 2005) sowie einer Reihe von einzelnen Staaten (z.B. USA: President’s New Freedom Commission on Mental Health 2003, Großbritannien: Mental Health Foundation 2000, Deutschland: Bundesgesundheitssurvey 1998) wurde deutlich, dass psychische Störungen in entwickelten Marktwirtschaften für rund 15% (in Europa: 20%) der gesamten krankheitsinduzierten Belastungen (»burden of disease«) verantwortlich sind (Murray & Lopez 1996, vgl. auch Abb. 3.1). Dieser Wert ist höher als etwa derjenige aufgrund aller Krebserkrankungen. Er wird nur noch von demjenigen für kardiovaskuläre Erkrankungen übertroffen. Dabei wird für die USA geschätzt, dass die indirekten Kosten der Depression mindestens dreimal höher sind als die direkten Krankheitskosten (Zhang et al. 1999). Die bahnbrechende »Global-Burden-of-Disease«-Studie entwickelte ein einheitliches Maß für krankheitsinduzierte Belastungen (im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation und der Weltbank, vgl. Murray & Lopez, 1996). Dieses Maß wurde als »disability adjusted life years« (DALY) bezeichnet. Es erfasst die Anzahl »verlorener« Lebensjahre aufgrund vorzeitiger Sterblichkeit oder Beeinträchtigung (gewichtet nach dem Schweregrad der Beeinträchtigung). . Tabelle 3.1 zeigt den »Burden of Disease« für wichtige Gruppen von Krankheiten in entwickelten Marktwirtschaften im Jahr 1990. . Abbildung 3.1 zeigt den Anteil psychischer Störungen an gesamten Krankheitsbelastungen in Europa und weltweit. In die gleiche Richtung weisen die Daten des jüngsten deutschen Bundesgesundheitssurveys hin, der erstmals auch ein umfassendes Zusatz1

Die Auswirkungen von Komorbidität auf Kosten und Nutzen von Psychotherapie sind nicht hinreichend untersucht. Es besteht aber Grund zu der Annahme, dass die Störungskosten mit zunehmender Komorbidität steigen, zugleich aber die Effektivität der Behandlungen nicht abnimmt, was auf eine günstige Kosten-Nutzen-Relation hindeuten müsste.

3

28

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

. Tab. 3.1. Anteil wichtiger Krankheitsgruppen an der gesamten krankheitsinduzierten Belastung in entwickelten Marktwirtschaften im Jahr 1990 (Murray & Lopez 1990, vgl. Weltgesundheitsbericht 2001)

3

Krankheitsgruppe (Auswahl)

Prozent aller krankheitsbezogen Belastungen (»Burden of Disease« erfasst durch DALY)

Alle kardiovaskulären Krankheiten

18.6

Alle psychischen Störungen (einschließlich Suizid, aber ohne Substanzgebrauch)

15.4

Alle bösartigen Neubildungen (Krebs)

15.0

Alle respiratorischen Krankheiten

4.8

Alle Alkoholgebrauch

4.7

Alle infektiösen und parasitären Krankheiten

2.8

Alle Drogengebrauch

1.5

modul zur psychischen Gesundheit enthielt (. Tab. 3.2 und . Abb. 3.2). Dabei zeigte sich nicht nur ein hohes Ausmaß an eingeschränkter Arbeitsproduktivität, sondern auch eine insgesamt niedrige Behandlungsrate (. Tab. 3.3). Angesichts der starken Beeinträchtigung durch psychische Störungen ist daher anzunehmen, dass die von ihnen verursachten hohen Kosten zumindest teilweise durch die unzureichende Behandlung verursacht werden könnten.

. Abb. 3.1. Anteil der psychischen Störungen an den gesamten von Krankheit verursachten Belastungen: Dargestellt sind die Ergebnisse für zwei Maße für Krankheitsbelastungen aus dem Weltgesundheitsbericht 2001 »disability adjusted life years« (DALY) und »years of life lived with disability« (YLD); Quelle: WHO (2001)

29 3.1 · Kosten psychischer Störungen

3

. Tab. 3.2. Häufigkeit und mittlere Anzahl von Arbeitsunfähigkeitstagen in Abhängigkeit von körperlichen und psychischen Krankheiten nach den Daten des Bundesgesundheitssurveys 1998 (Wittchen et al. 1999, 2002)

Anzahl Krankheiten

Mittlere Anzahl Arbeitsunfähigkeitstage

% mit Arbeitsunfähigkeitstagen Körperlich

Psychisch

Körperlich

Psychisch

Keine

15.5

14.6

0.8

0.9

Eine

19.0

25.6

1.2

1.8

Zwei

24.0

40.5

2.0

3.2

Drei

26.9

56.8

2.4

6.5

Vier oder mehr

37.8

79.8

3.6

9.2

. Tab. 3.3. Prävalenz- und Behandlungsraten psychischer Störungen in der Allgemeinbevölkerung nach dem deutschen Bundesgesundheitssurvey 1998 (Wittchen et al. 1999, 2003)

Psychische Störung

12-Monats-Prävalenz (% der Bevölkerung)

Behandlungsrate (% der Erkrankten)

Alle Störungen

32.2

36.4

6.8

29.0

Affektive Störungen

11.5

50.1

Angststörungen

14.5

43.6

Somatoforme Störungen

11.0

40.5

2.9

61.0

Sucht

Andere (z.B. Psychosen, Essstörungen)

. Abb. 3.2. Beeinträchtigungstage in den vergangenen 4 Wochen (linker Teil der Abbildung: %, rechter Teil: mittlere Anzahl der Betroffenen) nach Diagnosen wichtiger psychischer Störungen im Vergleich zu ausgewählten somatischen Störungen und Gesunden im Bundesgesundheitssurvey 1998 (nach Wittchen et al., 2003)

30

3

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

Die WHO (2001) weist darauf hin, dass bei psychischen Störungen zudem in ganz erheblichem Umfang schwer fassbare Belastungen von Bedeutung sind. Dabei unterscheidet sie zwischen einem »undefined burden« und einem »hidden burden«. Ersterer entsteht durch die oft chronischen Auswirkungen auf das Funktionieren des betroffenen Individuums in der Gemeinschaft. Letzterer geht auf die Stigmatisierung psychischer Beschwerden zurück (vgl. Gaebel et al. 2004). Die WHO führt die folgenden Beispiele derartiger Belastungen an: »Undefined Burden« 4 Produktivitätsverlust durch vorzeitige Mortalität bei Suizid (in vielen Ländern, darunter auch Deutschland und der Schweiz, häufiger als Verkehrsunfälle) 4 Arbeitsunfähigkeit oder verminderte Produktivität der Patienten und ihrer (pflegenden) Angehörigen 4 Gehäufte Unfälle (Verkehr, Maschinenbedienung, Arbeit, Haushalt) 4 Unterstützung der Angehörigen psychisch Kranker 4 Schlechtere kognitive Entwicklung der Kinder psychisch Kranker 4 Emotionale Belastung und verringerte Lebensqualität in Familien psychisch Kranker »Hidden Burden« 4 Zurückweisung durch Freunde, Angehörige, Nachbarn, Kollegen etc. 4 Verweigerung gleichberechtigter Teilnahme an sozialen Aktivitäten in Arbeit, Freizeit und Familie 4 Remissionsverzögerungen durch Stigmatisierung 4 Zurückweisung auch der Angehörigen psychisch Kranker sowie anderer an der Versorgung beteiligter Personen Eine beispielhafte Zusammenstellung früher Studien zu den Kosten verschiedener psychischer Störungen mit dem Schwerpunkt bei Angststörungen gibt . Tab. 3.4. ! Psychische Störungen gehören also bereits jetzt zur Spitzengruppe der kostenintensivsten und am meisten beeinträchtigenden Krankheiten.

Darüber hinaus erwartet die Weltgesundheitsorganisation, dass die Bedeutung psychischer Störungen in naher Zukunft noch stark steigen wird (WHO 2001). Besonders bei den emotionalen Störungen wie der Depression und den Angststörungen sind in den letzten Jahrzehnten starke Anstiege der Prävalenzraten beobachtet worden, die zum Teil durch Veränderungen sozialer Faktoren erklärt werden können (z.B. »social connectedness«, Twenge 2000). Nach den Berechnungen der Weltgesundheits-

31 3.1 · Kosten psychischer Störungen

. Tab. 3.4. Chronologische Übersicht ausgewählter früher Studien zu Kosten psychischer Erkrankungen (v.a. Angststörungen). (Mod. nach Jacobi 2001 sowie Candilis & Pollack 1997)

Autoren

Diagnose

Datenbasis

Kostenfaktoren

Ergebnisse

Reimer et al. (1979)

chronische psychogene Erkrankungen

N = 100 retrospektive Befragung von Patienten einer psychosomatischen Fachklinik

medizinische Behandlungen, Medikamente

4 92% konsultierten mind. 3 Ärzte 4 15% mehr als 10 Ärzte 4 70% lediglich somatisch behandelt 4 nichtkausale medizinische Behandlungen tragen zur Chronifizierung bei

Butollo & Höfling (1984)

chronische Ängste

N = 43 Patienten, die sich aufgrund eines Zeitschriftenartikels zur Verhaltenstherapie anmeldeten

psychologische und ärztliche ambulante Behandlungen, stationäre Aufenthalte, Arbeitsunfähigkeit

4 51% konsultierten praktische Ärzte 4 aber nur 9% waren beim Neurologen/Psychiater 4 14% hatten Klinikaufenthalte hinter sich 4 25% absolvierten mehrjährige Psychoanalyse 4 kein Patient hatte Verhaltenstherapie bekommen 4 50% waren arbeitsunfähig

Shapiro et al. (1984)

verschiedene, u.a. Ängste und psychosomatische Störungen

retrospektive Erhebung über die letzten 6 Monate

psychologische und ärztliche ambulante Behandlungen

4 70% hatten ambulante Arztkontakte 4 aber nur 18% waren beim Psychologen/Psychiater 4 20% der psychosomatischen und der Angstpatienten wurden adäquat behandelt 4 deutliche therapeutische Unterversorgung von Patienten mit psychischen Störungen

Edlund & Swann (1987)

Panikstörung

N = 30 Behandlungssuchende Patienten

Arbeitsunfähigkeit

4 83% verringerte Arbeitsqualität 4 66% arbeitslos 4 43% mind. 1 Monat lang arbeitsunfähig

Markowitz et al. (1989)

Panik

Analyse der ECA Daten (Epidemiologic Catchment AreaStudie zu psychischen Erkrankungen)

psychologische und medizinische Behandlungen, Notarztkontakte, Medikamente staatliche Zuwendungen

4 43% nutzten psychol. und medizin. Versorgung (im Vgl. zu 4% der Nichterkrankten) 4 28% riefen den Notarzt (2% der Nichterkrankten) 4 42% erhielten Beruhigungsmittel (8% der Gesunden) 4 27% bekamen Sozialhilfe (12% der Gesunden) 4 dtl. höhere Gesundheitskosten als psychisch Gesunde

3

32

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

. Tab. 3.4 (Fortsetzung)

Autoren

Diagnose

Datenbasis

Kostenfaktoren

Ergebnisse

Leon et al. (1995)

Angststörungen

Analyse der ECA Daten

psycholog. und medizin. Behandlungen, Notarztkontakte, staatliche Zuwendungen, Arbeitsunfähigkeit

4 60% der männl. Paniker z.Zt. arbeitslos 4 31% der weibl. Paniker bekommen Sozialhilfe 4 36% der männl. Paniker suchten mind. 1 Spezialisten auf 4 Angstpatienten verursachen sehr hohe soziale Kosten

Simon et al. (1995)

Depressionen und Angststörungen

N = 303 Patienten der medizinischen Basisversorg., Vergleich mit Nichterkrankten

Inanspruchnahme der medizinischen Grundversorgung

4 Kosten für Gesundheitssystem bei psychisch Kranken doppelt so hoch 4 90% der Kosten für ambulante und stationäre medizinische Versorgung 4 nur 10% der Kosten für psychologische Behandlungen

DuPont et al. (1996)

Angststörungen

Analyse der ECA Daten

Nutzung des medizinischen Systems, Arbeitsunfähigkeit

4 Angststörungen verursachen 31,5% der Kosten aller psych. Erkrankungen im Gesundheitssystem 4 75% der krankheitsbezogenen Kosten entstehen durch Arbeitsunfähigkeit

3

organisation wird allein die Depression bis zum Jahr 2020 auf den zweiten Platz aller Ursachen von DALYs steigen, nur noch übertroffen von HerzKreislauf-Erkrankungen. Betrachtet man das Bild in den entwickelten Staaten und in der Altersgruppe von 15–44 Jahren, so sind psychische Störungen sogar noch wichtiger (. Abb. 3.3, WHO, 2001): Sie stellen dann 7 der 10 wichtigsten Ursachen von DALYs. Auch für Deutschland und die Schweiz mit ihren im weltweiten Vergleich weit überdurchschnittlichen Gesundheitskosten stellen Ängste, Depressionen, Sucht und der Zusammenhang zwischen Jugendgewalt, Medienkonsum und Übergewicht wachsende Herausforderungen dar. Selbst für unsere wohlhabenden Gesellschaften sind die davon verursachten steigenden Sozialausgaben kaum noch leistbar. In den letzten 10 Jahren stiegen die IV-Renten aufgrund psychischer Störungen erheblich stärker an als aufgrund körperlicher Schäden. Nach Schätzungen des Schweizerischen Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) machen die Kosten von Stress-bedingten Störungen 2.3% des BNP aus. Die enormen Folgeprobleme weisen daher ebenso wie das massive Leiden der Betroffenen mit Nachdruck auf die Notwendigkeit einer adäquaten Versorgung

33 3.1 · Kosten psychischer Störungen

3

. Abb. 3.3. Die fünf weltweit wichtigsten Ursachen von Beeinträchtigung und vorzeitiger Sterblichkeit (DALY: disability adjusted life years«) in den Jahren 1990 und 2020 aus der bahnbrechenden »Global Burden of Disease Study« im Auftrag der WHO und World Bank. b: die 10 wichtigsten Ursachen von DALY in der Altersgruppe 15–44 Jahren in entwickelten Ländern (Quelle: Murray & Lopez; 1996; WHO 2001) a

b

im Bereich der psychischen Gesundheit hin. Für den Zweck des vorliegenden Berichtes ist dabei vor allem der Bereich der ambulanten Psychiatrie und Psychotherapie von Interesse. In einer frühen Arbeit hatte V. Hobi bereits 1990 eine genaue Analyse der Situation am Beispiel der Kantone Basel-Stadt und Baselland vorgelegt. Eine neuere Darstellung der Situation für die gesamte Schweiz gaben Meyer & Hell (2004). . Tab. 3.5 gibt Auskunft über die Anzahl und Zuwachsraten der wichtigsten Leistungserbringer in der Schweiz im letzten Jahrzehnt. Die im Vergleich zu Allgemeinmedizinern höheren Zuwachsraten bei Psychologischen Psychotherapeuten sind ein Phänomen, das auch in anderen europäischen und nordamerikanischen Staaten seit geraumer Zeit zu beobachten ist. In der Schweiz trat diese Gruppe von Leistungserbringern später auf als in Deutschland und den meisten andere Staaten (im Jahr 1984 verfügten die beiden Fachverbände FSP und SPV erst über 155

34

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

. Tab. 3.5. Anzahl und Zuwachsraten von Psychotherapeuten und Ärzten in der Schweiz 1995 und 2005 (modifiziert nach Meyer & Hell 2004 mit zusätzlichen Zahlen von FMH, FSP und SPV)

Leistungserbringer

Anzahl 1995

Anzahl 2005

Pro 100 000 Einwohner (2005)

Zuwachsrate 1995–2005

Psychotherapeuten FSP+SPV*

1627

2776

37

71%

Fachärzte Psychiatrie/Psychotherapie FMH in Praxis

1148

1882

25

64%

216

409

5

89%

Fachärzte Psychiatrie/Psychotherapie insgesamt FMH in Praxis

1364

2291

31

68%

Fachärzte Allgemeinmedizin FMH in Praxis

2394

3476

47

45%

3 Fachärzte Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie FMH in Praxis

* Da Doppelmitgliedschaften nicht geprüft wurden, ist die Summe der Psychotherapeuten FSP+SPV eventuell niedriger als angegeben. In diesem Fall würde auch die berechnete Zuwachsrate anders ausfallen.

Psychotherapeuten). Dabei sind Psychotherapiepraxen ähnlich wie psychiatrische Einrichtungen aber auch heute noch außerordentlich ungleich über das Gebiet der Schweiz verteilt: Während in den Kantonen Uri, Unterwalden, Glarus und Appenzell nur vereinzelte Praxen bestehen, sind Großstädte wie Basel, Genf oder Zürich weit überproportional versorgt. Während sich das Gesundheitswesen der Schweiz nach wie vor durch Kostensteigerungen auszeichnet, die einen wachsenden Anteil des Bruttoinlandsproduktes beanspruchen, ist das absolute Niveau der Kosten durch Psychotherapeuten bemerkenswert gering. Die Zuwachsraten übersteigen dennoch nicht diejenigen anderer Bereiche des Gesundheitswesens. Im Jahr 2002 betrugen die gesamten Gesundheitskosten der Schweiz fast 48 Milliarden Franken bzw. 11.2% des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Dieser Wert wurde weltweit nur noch von den USA übertroffen (13.9%), in Deutschland werden 10.7% des BIP für die Gesundheit ausgegeben. Unter den Nachbarländern Deutschlands und der Schweiz lagen Frankreich (9.5%), Italien (8.4%) und Österreich (8.0%) deutlich tiefer. Die Kosten für Psychotherapie beanspruchten jedoch mit rund 161 Millionen in der Schweiz nur 0.3% der gesamten Gesundheitskosten. Ihre Zuwachsrate lag mit 1.6% nicht einmal halb so hoch wie die Gesamtrate (4% im Jahr 2002). ! Der größte Kostenfaktor ist nach wie vor die stationäre Versorgung.

3

35 3.1 · Kosten psychischer Störungen

. Tab. 3.6. Kosten des Gesundheitswesens nach Leistungserbringern in den Jahren 1995 und 2004 (absolut und relativ) sowie jährliche Steigerungsrate (Quelle: Bundesamt für Statistik 2006)

Leistungserbringer

1995

1995

2004

2004**

Zuwachsraten

Millionen Franken (gerundet)

Anteil an allen Kosten (%)

Millionen Franken (gerundet)

Anteil an allen Kosten (%)

1995–2004 (%)

2004 (%)

Krankenhäuser (davon Psychiatrie)

12.612 (1.494)

34,9 (4,1)

18.253 (1.791)

35,3 (3,5)

44,7 (19,9)

3,1 (1,7)

Sozialmedizinische Institutionen

6.028

16,7

9270

17,9

53,8

3,1

Ambulante Versorgung (davon Psychotherapeuten*)

11.275

31,2

15.553

30,1

37,9

5,0

(120)

(0,3)

(173)

(0,3)

(44,2)

(4,6)

Detailhandel

3.401

9,4

4.886

9,4

43,7

3,5

Staat

862

2,4

1.019

2,0

18,2

–1,7

Versicherer

1.585

4,4

2.189

4,2

38,1

5,4

Organisationen ohne Erwerbscharakter

399

1,1

555

1,1

39,1

4,7

Total

36.161

100,0

51.724

100,0

43,0

3,7

* Ohne ärztliche Psychotherapeuten/Psychiater. ** Die Zahlen 2004 können nicht als endgültige Ergebnisse betrachtet werden, da die Grunddaten der Eidgenössischen Finanzverwaltung über die Ausgaben der Gemeinden noch fehlen.

Die stationäre Versorgung beansprucht nicht nur rund die Hälfte aller Gesundheitskosten, sondern weist auch besonders hohe Zuwachsraten auf. Zugleich ist erneut ein starker Anstieg des Staatsanteils an der Finanzierung des Gesundheitswesens festzustellen. Darüber hinaus weisen die ambulanten Leistungen der Spitäler im Gegensatz zu den anderen ambulanten Leistungen ebenfalls einen überproportionalen Zuwachs auf (5.5% vs. 1.8% in 2002). Angesichts des deutlich höheren absoluten Niveaus der stationären Leistungen (Psychiatrie: über 10 mal höher als Psychotherapie) ist es besonders bemerkenswert, dass hier immer wieder höhere Zuwachsraten als bei der ambulanten Psychotherapie auftreten. So entsprach allein der Zuwachs bei den psychiatrischen Kliniken zwischen 1997 und 2002 mit 314.5 Millionen Franken etwa dem Doppelten der gesamten aktuellen ambulanten Psychotherapiekosten. Bei diesem Vergleich muss allerdings berücksichtigt werden, dass ein Teil der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung von Ärzten erbracht wird und daher nicht in der Rubrik »Psychotherapeuten« auftaucht. Auch für die ambulante ärztliche Versorgung galt jedoch eine vergleichsweise niedrige jährliche Steigerungsrate von 1.6% in 2002.

36

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

Fazit

3

Kosten psychischer Störungen: 4 Psychische Störungen gehören zu den größten Kostenverursachern im Gesundheitswesen. In Deutschland und der Schweiz lässt sich ebenso wie in anderen Industriestaaten ein Trend zur Zunahme der Kosten aufgrund psychischer Störungen beobachten. 4 Nach den Vorhersagen der WHO wird dieser Trend bis zum Jahr 2020 dazu führen, dass die Depression weltweit die zweitwichtigste Ursache von Krankheitsbelastungen darstellen wird. In den Industriestaaten ist die Bedeutung psychischer Störungen dabei fast doppelt so groß wie im Gesamtdurchschnitt der Welt. 4 Zu den größten Kostenfaktoren gehören stationäre Behandlungskosten und Arbeits-ausfallkosten. 4 Obwohl in der Schweiz ein Anwachsen der Zahl der Leistungserbringer im Bereich der psychischen Gesundheit festzustellen ist, ist die Dichte der Versorgungsangebote nach wie vor nicht sehr hoch. Hinsichtlich der psychologischen Psychotherapeuten handelt es sich im Wesentlichen um ein Nachholen einer Entwicklung, die in Deutschland und anderen Nachbarstaaten bereits länger vollzogen wurde. 4 Die größten Kostensteigerungen sind in jüngster Zeit bei der stationären Versorgung und den IV-Renten zu beobachten. Die Aufwendungen für Psychotherapeuten steigen dagegen unterproportional. 4 Betrachtet man die epidemiologischen Daten zu Krankheitsdauer und Versorgungstypen zusammen mit den Daten zur Kostenentwicklung in Deutschland und der Schweiz, so kann man die Ergebnisse mit dem folgenden Merksatz zusammenfassen: »Statt früh, ambulant und kostengünstig werden psychische Störungen spät, stationär und teuer behandelt.«

3.2

Wirksamkeit der Psychotherapie

Während in der Psychotherapieforschung in der Vergangenheit vor allem die Wirksamkeit einzelner Therapieformen untersucht wurde, wendet man sich in letzter Zeit verstärkt den Fragen der differentiellen Therapieforschung zu. Hier geht es um Antworten auf die Frage, welche Art von Behandlung durch welche Therapeuten unter welchen Bedingungen bei welchen Störungsbildern welche Wirkungen erzielen und auf welche Weise diese Wirkungen zustande kommen (»differentielle Indikation«). An die Seite der reinen Wirksamkeits- bzw. Ergebnisforschung (»outcome research«) tritt daher zunehmend stärker auch die Untersuchung der während der Behandlung ablaufenden Prozesse (»process research«, Prozessforschung). Weiterhin kann auch eine immer stärkere Anwen-

37 3.2 · Wirksamkeit der Psychotherapie

dung klinisch-psychologischer Methoden auf körperliche Probleme festgestellt werden (z.B. »Verhaltensmedizin«). Im Kontext der Therapieforschung müssen auch Fragen wie die optimale Erfassung von Therapiewirkungen (z.B. Effektstärke, statistische vs. klinische Signifikanz) oder die Aggregation von Forschungsbefunden über verschiedene Studien (z.B. Meta-Analysen) geklärt werden. Zu den ethisch bedingten Problemen der Psychotherapieforschung zählt die Tatsache, dass Patienten nicht ohne ihre Einwilligung einer bestimmten Therapiebedingung zugeordnet werden können. Es muss daher oft auf quasi-experimentelle Designs zurückgegriffen werden. Darüber hinaus stellt bei manchen Therapiestudien die Vorenthaltung von Behandlungsmaßnahmen im Rahmen einer unbehandelten Kontrollgruppe ein ethisches Dilemma dar, das nicht zur vollkommenen Befriedigung aller Beteiligten gelöst werden kann. An die Seite der klassischen Psychotherapieforschung tritt zunehmend auch die Evaluationsforschung. ! Bei diesem Teil der Anwendungsforschung wird auf der Grundlage empirischer Methoden eine Bewertung (»Evaluation«) praktischer Maßnahmen wie z.B. Beratungs-, Therapie- oder Präventionsangebote vorgenommen. Die Bewertung von Parametern wie Nutzen, Kosten, Akzeptanz/Zufriedenheit oder Qualität der Durchführung hat zum Ziel, eine rationale Informationsbasis für Planung und Entscheidungsfindung bereitzustellen.

Das Spektrum der verwendeten Methoden reicht vom strengen experimentellen Vorgehen mit den dafür typischen Zufallszuweisungen zu Therapie- und Kontrollbedingungen bis zu den »liberaleren« Verfahren der Beobachtung, Interpretation und ex post facto-Analyse. Entscheidend für die Auswahl der jeweils verwendeten Methoden sind neben der Art der Fragestellung vor allem Gesichtspunkte wie Kosten, Zeit, Ethik und Akzeptanz. Wesentliche Bewertungsdimensionen der Evaluationsforschung sind Bedarf und Bedürfnisse, Zielsetzungen und Indikationen, Voraussetzungen und Aufwand, Prozess der Implementierung, Akzeptanz, Inanspruchnahme und Zufriedenheit, Auswirkungen und Effekte, Effizienz der Maßnahmen, Qualität und Angemessenheit, Relevanz bzw. Nutzen sowie Kosten-Nutzen-Verhältnis.

3.2.1 Unmittelbare Wirksamkeit von Psychotherapien Nach mehreren Jahrzehnten intensiver Forschung liegt eine umfangreiche Literatur zur Wirksamkeit von Psychotherapien vor. Die bisher umfassendste Auswertung der vorliegenden Psychotherapiestudien stammt von der Berner Arbeitsgruppe um Grawe et al. (1994). Sie ist auch für die Schweiz und Deutschland von besonderer Bedeutung. Von unmit-

3

38

3

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

telbarer Bedeutung sind darüber hinaus die Ergebnisse der zuständigen »Task Forces« der American Psychological Association (APA) zu den so genannten »empirically supported treatments« (ursprünglich als »empirically validated treatments« bezeichnet; Chambless & Ollendick 2001), die praxisorientierte Literaturauswertung von Roth & Fonagy (1996, vgl. Fonagy & Roth 2004), die aktuelle 5. Auflage von »Bergin and Garfield’s Handbook of Psychotherapy and Behavior Change« (Lambert 2004), die Leitlinien zur Therapie von Kindern und Jugendlichen (Schneider & Döpfner 2004), die Literaturauswertung im Auftrag des britischen Gesundheitsministeriums (UK Department of Health 2001) sowie die Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie der deutschen Bundesärzte- und Bundespsychotherapeutenkammern (Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie 2000a, 2000b, 2001, 2002, 2004, 2005, vgl. www.wb-psychotherapie.de).

3.2.1.1 Allgemeine Wirksamkeit von Psychotherapie Für die nachfolgenden Ausführungen können die wesentlichen Befunde der wissenschaftlichen Literatur wie folgt zusammengefasst werden: 4 Betrachtet man psychotherapeutische Heilmethoden gesamthaft, so lässt sich grundsätzlich eine klinisch und statistisch signifikante Wirksamkeit bei den in der ICD unterschiedenen F-Störungen feststellen. Trotz unterschiedlicher Konzeptualisierungen des Placebokonstruktes im Bereich der Psychotherapie kann zudem festgehalten werden, dass in psychotherapeutische Verfahren im Durchschnitt wirksamer sind als Placebobehandlungen bzw. Behandlungen, die allein auf die so genannten »non-spezifischen« Wirkfaktoren setzen. Diese zeigen ihrerseits wieder bessere Ergebnisse als reine Wartelistenkontrollbedingungen (vgl. Lipsey & Wilson 1993, Grissom 1996, Lambert & Ogles 2004). Das Ausmaß der erzielten Therapieerfolge wie auch die Wahrscheinlichkeit eines positiven Ergebnisses sind dabei auch im Vergleich mit gängigen medizinischen Maßnahmen für somatische Probleme als gut zu bezeichnen, wie aus Tabelle 12 hervorgeht. So ergaben meta-analytische Auswertungen zur Therapie der Panikstörung durchschnittliche Effektstärken von .68 bei kognitiver Verhaltenstherapie und .47 bei medikamentöser Behandlung sowie Abbrecherquoten von 5.6% bei kognitiver Verhaltenstherapie im Vergleich zu 19.8% und 22% bei medikamentöser bzw. Kombinationstherapie (Gould et al. 1995, vgl. auch Ruhmland 2001 bei Generalisierter Angststörung). In ähnlicher Weise fanden Gloaguen et al. (1998) in 17 direkten Vergleichsstudien bei Depressionen im Durchschnitt eine um .38 höhere Effektstärke bei kognitiver Verhaltenstherapie als bei medikamentöser Therapie. Aufgrund der besseren Stabilität der Therapieerfolge bei Psychotherapien verstärkte sich dieser Effekt bei Betrachtung der Ein-Jahres-Katamnesen noch weiter.

39 3.2 · Wirksamkeit der Psychotherapie

4 Problematisch ist, dass in vielen älteren Studien die untersuchten Patientenpopulationen nicht hinreichend genau beschrieben wurden. Zudem wurden manche Verfahren nur für einzelne Störungen bzw. nicht für alle wichtigen Störungen überprüft. 4 Problematisch ist weiterhin, dass die unterschiedlichen psychotherapeutischen Verfahren in sehr unterschiedlichem Ausmaß auf ihre Wirksamkeit hin untersucht wurden. Im Gegensatz zur vielerorts aufgestellten Behauptung, alle Verfahren seien gleich, belegen die Ergebnisse deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Psychotherapieformen. Dies betrifft sowohl die Häufigkeit von Wirksamkeitsstudien, als auch deren durchschnittliche Ergebnisse. Während auf der einen Seite für eine Vielzahl von Verfahren überhaupt keine Wirksamkeitsnachweise vorliegen, gibt es andere Verfahren, deren Wirksamkeit über jeden vernünftigen Zweifel hinaus wissenschaftlich belegt ist. Unwirksame oder fragwürdige Verfahren sollten selbstverständlich nicht als Basis einer postgradualen Ausbildung dienen. 4 Es gibt Hinweise auf einen nicht unerheblichen »publication bias« bei Psychotherapie (ebenso wie bei Pharmakotherapie). So fanden Lipsey & Wilson (1993) bei publizierten Studien eine durchschnittliche Effektstärke von .53, bei unpublizierten dagegen von .39. In die gleiche Richtung deutet ein aktueller Vergleich von unpublizierten Studien aus den Dissertation Abstracts mit publizierten Arbeiten (MacLeod & Weisz 2004). Allerdings waren auch in den unpublizierten Studien immer noch bedeutsame und auch klinisch relevante Therapieeffekte zu beobachten. Von besonderem Interesse ist hier der Vergleich mit den Befunden zum »publication bias« bei Psychopharmaka. Kirsch et

. Tab. 3.7. Die Wirksamkeit von Behandlungen: Durchschnittliche Effektstärken verschiedener Behandlungsmaßnahmen und die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines positiven Therapieeffektes (nach Lipsey & Wilson 1993, Grawe et al. 1994, Howard et al. 1994 und Lutz 2003)

Maßnahme

Effektstärke des Therapieerfolges

Wahrscheinlichkeit eines besseren Ergebnisses bei behandelten im Vergleich zu unbehandelten Patienten

Psychotherapie im Allgemeinen

.88

.73

Nur kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren

1.23

.80

Bypass-Operation bei Angina pectoris

.70

.71

Medikamentöse Therapie der Arthritis

.61

.67

Antikoagulanzien

.30

.58

Chemotherapie bei Brustkrebs

.11

.53

Aspirin zur Prävention von Herzinfarkten

.07

.52

3

40

3

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

al. (2002) analysierten auf der Basis der bei der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) vorliegenden Daten die Wirksamkeit von SSRI’s, den derzeit relevantesten antidepressiven Medikamenten. Nach den publizierten Studien wirkten alle 6 auf dem amerikanischen Markt befindlichen SSRI’s bei Depressionen signifikant besser als Placebo. Unter Berücksichtigung der nicht publizierten Daten zeigte sich jedoch, dass fünf der 6 Medikamente keine statistisch signifikanten Vorteile gegenüber Placebo aufwiesen. Eine klinische Relevanz der beobachteten Unterschiede war in keinem Fall mehr gegeben. Die Befunde zum Thema »Effectiveness« werden im Abschnitt 5 dargestellt, der gezielt der Frage nach der Übertragbarkeit der Forschungsbefunde auf die Routinepraxis gewidmet ist.

3.2.1.2 Spezifische Wirksamkeit von Psychotherapien Welche Verfahren sind nach dem derzeitigen Forschungsstand als hinreichend empirisch belegt einzustufen? Bei der Beurteilung der Wirksamkeit der Verfahren kann nicht einfach von Befunden für ein Störungsbild auf Wirkungen bei einer anderen Störung gefolgert werden. So kann beispielsweise aus einer wissenschaftlich einwandfrei nachgewiesenen Wirkung eines Therapieverfahrens bei spezifischen Phobien nicht auf eine Wirksamkeit bei Depressionen oder Alkoholabhängigkeit geschlossen werden. Die APA Task Force und andere Arbeitsgruppen in den USA und Großbritannien (Roth & Fonagy 1996, Chambless & Ollendick 2001, vgl. auch UK Department of Health 2001) haben versucht, für möglichst viele Indikationen jeweils spezifisch zu erfassen, ob bzw. welche therapeutischen Verfahren als empirisch bestätigt gelten können. Dabei wurde jeweils ein Mindestkriterium definiert, das als hinreichender Wirksamkeitsnachweis für eine gegebene Indikation akzeptiert wurde. Dieser Ansatz ist besonders nahe an der praktischen Indikationsstellung im Gesundheitswesen. Darüber hinaus berücksichtigen die APA-Kriterien neben den üblichen kontrollierten Studien auch Einzelfallstudien, sofern diese methodischen Mindestansprüchen genügen. Damit ist dieser Ansatz prinzipiell auch geeignet, um Langzeittherapien oder andere Verfahren zu beurteilen, deren Vertreter die Angemessenheit von kontrollierten Gruppenstudien in Frage stellen. Trotz der prinzipiell anderen Herangehensweise zeigen die bisher vorliegenden Auswertungen jedoch ein erstaunliches Ausmaß an Übereinstimmung mit den Ergebnissen von Grawe et al. (1984) sowie den meta-analytischen Studien. Bemerkenswert ist auch das Ausmaß an Übereinstimmung zwischen insgesamt acht verschiedenen Gruppen, die empirisch validierte Behandlungen untersuchten. . Tab. 3.8 fasst die Ergebnisse der verschiedenen Arbeitsgruppen für die Behandlung Erwachsener, . Tab. 3.9 diejenigen für die Behandlung

3

41 3.2 · Wirksamkeit der Psychotherapie

. Tab. 3.8. Empirisch validierte Behandlungen für Erwachsene: Eine Zusammenfassung über verschiedene Arbeitsgruppen (nach Chambless & Ollendick 2001)

Störung und Behandlung*

Kategorie der empirischen Bestätigung ** / *** I

II

A, E? F

E?

III

Angst + Stress Agoraphobie/Panikstörung mit Agoraphobie: KVT Paarkommunikationstraining als Zusatz zur Konfrontation Konfrontation

A, D

A, D, E?, F

Partner-unterstützte KVT

E? D, F

Blut- /Verletzungsphobie: Angewandte Anspannung (applied tension)

F

Exposition / Konfrontation

E E

Generalisierte Angststörung: Angewandte Entspannung

F

A, D, E

KVT

A, D, E?, F

E?

Geriatrische Angststörung: KVT

F, G

Entspannung

F

Zwangsstörung: Reizkonfrontation + Reaktionsverhinderung

A, D, E?, F

Kognitive Therapie

E? A, D

RET (Rational-Emotive Therapie) + Konfrontation

E E

Familienunterstützte Reizkonfrontation + Reaktionsverhinderung + Entspannung

D

Rückfallprävention

A

Panikstörung: Angewandte Entspannung

F

A, D, E

KVT

A, D, E?, F

E?

Emotionsfokussierte Therapie Konfrontation

F E?

D, E?

42

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

. Tab. 3.8 (Fortsetzung)

Störung und Behandlung*

Kategorie der empirischen Bestätigung ** / *** I

II

III

Posttraumatische Belastungsstörung:

3

EMDR

A (nur Zivilisten), D

Konfrontation

F

A, D

Stress-Impfungs-Training

F

A, D

Stress-Impfungs-Training in Kombination mit Kognitiver Therapie + Konfrontation

E?

E?, F

Strukturierte psychodynamische Behandlung

E

Angst vor Sprechen in der Öffentlichkeit: Systematische Desensibilisierung

A

Soziale Angst / Phobie: KVT

E?, F

A, D, E?

Konfrontation

E?

A, D, E?, F

Systematische Desensibilisierung

A

Spezifische Phobie: Konfrontation

A, E?, F

Systematische Desensibilisierung

E? A

Stress Stress-Impfungs-Training

A

Substanzmissbrauch und -abhängigkeit Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit: Community reinforcement

E?, F?

A, D, E?, F?

Reizkonfrontationsbehandlung

A, D

Reizkonfrontationsbehandlung + »urge-coping-skills«

D

Reizkonfrontationsbehandlung mit stationärer Therapie

A

Motivierdende Gespräche (motivational interviewing)

E?

E?

BPT und Disulfiram

E?, F?

A, D, E?, F?

Training sozialer Kompetenzen mit stationärer Therapie

E?, F?

A, D, E?, F?

Benzodiazepin-Absetzung für Panikstörung: KVT

A

3

43 3.2 · Wirksamkeit der Psychotherapie

. Tab. 3.8 (Fortsetzung)

Störung und Behandlung*

Kategorie der empirischen Bestätigung ** / *** I

II

III

Kokainmissbrauch: Verhaltenstherapie

A

KVT Rückfallprävention

A, D

Opiatabhängigkeit: Verhaltenstherapie (Verstärkung)

D

Psychodynamische Kurztherapie

A, D

Kognitive Therapie

A, D

Depression Bipolare Störung: Psychoeduktion

F

KVT zur Einhaltung der Medikation

F

Familientherapie

F

Altersdepression: Verhaltenstherapie

E?, F

E?, G

Psychodynamische Kurzttherapie

E?, F

E?, G

KVT

E?, F

A, E?, G

Interpersonelle Therapie

F

Problemlöse-Training

F, G

Psychoedukation

F

Reminiszenz-Therapie (mild-moderat)

F

A, G

Verhaltenstherapie

A, F

D

BPT (für jene mit Eheproblemen)

F

D

Major Depression:

Psychodynamische Kurztherapie

A

KVT

A, D, E?, F

E?

Interpersonelle Therapie

A, E?, F

D, E?

Selbstkontroll-Therapie

A, F

Soziales Problemlöse-Training

A, D

E

44

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

. Tab. 3.8 (Fortsetzung)

Störung und Behandlung*

Kategorie der empirischen Bestätigung ** / *** I

II

A, F

D

III

Gesundheitliche Probleme

3

Anorexia nervosa: Verhaltenstherapie Behaviorale Familien-Systemtherapie Kognitive Therapie

F E?

E?

Familientherapie

F

Binge Eating Disorder: Behaviorale Gewichtskontrolle KVT

F F

Interpersonelle Therapie

A A, F

Bulimia nervosa: KVT

A, E?, F

D, E?

Interpersonelle Therapie

E?

A, D, E?, F

Schmerzen aufgrund von Krebs: KVT

H

Nebenwirkungen von Chemotherapie (für Krebspatienten und -patientinnen): Progressive Muskelrelaxation mit oder ohne geleitete Imagination

D

Chronische Schmerzen (heterogen): KVT mit Physiotherapie

A, D, H

EMG Biofeedback

A

Operante Verhaltenstherapie

A, D

Chronische Schmerzen (Rücken): KVT

H

Operante Verhaltenstherapie

A, D D

Kopfschmerzen: Verhaltenstherapie

A

Idiopathischer Schmerz: KVT

H

3

45 3.2 · Wirksamkeit der Psychotherapie

. Tab. 3.8 (Fortsetzung)

Störung und Behandlung*

Kategorie der empirischen Bestätigung ** / *** I

II

Reizdarm (IBS): Kognitive Therapie

A, D

Hypnotherapie

D

Multikomponente KVT

A, D

Migräne: EMG-Biofeedback + Entspannung

D

Thermales Biofeedback + Entspannungstraining

A, D

Adipositas: Hypnose mit KVT

A

Raynaud’sche Krankheit: Thermales Biofeedback

A

Rheumaschmerzen: Multikomponente KVT

A, D, H

Schmerz bei Sichelzellen-Krankheit: Multikomponenten KVT

A, D, H

Raucherentwöhnung: Gruppen-KVT Multikomponente KVT mit Rückfallprävention

D A, D

Geplante Reduktion des Rauches mit multimodaler Verhaltenstherapie

A, D

Somatoforme Schmerzstörung: KVT

F

Eheprobleme BPT

A, D

KVT

D

Kognitive Therapie

D

Emotionsfokusierte Paartherapie

A (nicht mehr als moderat belastet), D

Einsichtsorientierte Paartherapie

A, D

Systemische Therapie

D

III

46

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

. Tab. 3.8 (Fortsetzung)

Störung und Behandlung*

Kategorie der empirischen Bestätigung ** / *** I

II

Verhaltenstherapie gezielt auf Reduktion der sexuellen Ängstlichkeit + verbesserte Kommunikation

E?

E?

KVT gezielt auf Reduktion der sexuellen Ängstlichkeit + verbesserte Kommunikation

E?

E?

III

Sexuelle Funktionsstörungen

3

Erektile Dysfunktion:

Unteraktivität des weiblichen sexuellen Verlangens: Hurlbert’s Kombinationstherapie

A, D

Zimmer’s kombinierte Sexual- und Paartherapie

A, D

Störung/Dysfunktion der weiblichen Orgasmusfähigkeit: BPT mit Masters & Johnson’s Sexual-Therapie

D

Masters & Johnson’s Sexual-Therapie

A, D

Training sexueller Fähigkeiten

D

Verfrühte Ejakulation: Verhaltenstherapie

E

Vaginismus: Expositions-/konfrontations-basierte Verhaltenstherapie

E?

E?

Andere Vermeidende Persönlichkeitsstörung: Konfrontation Training sozialer Fähigkeiten Körperdysmorphe Störungen: KVT

F

Borderline-Persönlichkeitsstörungen: Dialektische Verhaltenstherapie

E?

A, E?,F F

Psychodynamische Therapie Demenz: Verhaltensinterventionen auf Umgebungsniveau

G

Gedächntnis- und kognitives Training zur Verlangsamung der kognitiven Verminderung

G

Realitätsorientierung

G

Belastung von geriatrisch Pflegenden: Psychoedukation Psychosoziale Intervention

G E?

E?

E

3

47 3.2 · Wirksamkeit der Psychotherapie

. Tab. 3.8 (Fortsetzung)

Störung und Behandlung*

Kategorie der empirischen Bestätigung ** / *** I

II

III

Hypochondrie: KVT

F

Paraphilie / Sexualstraftäter: Verhaltenstherapie

A

KVT

F

Schizophrenie: F

Assertive case management Verhaltenstherapie und soziales Lernen/»token economy«-Programme

F

Clinical case management Kognitive Therapie (bei Wahn) Verhaltens-Familien-Therapie

D, E?, F

A, E? D

Systemische Familien-Therapie Programme für Soziales lernen

F

Training sozialer Kompetenzen

F

A, D F

Unterstützende Gruppentherapie Unterstützende Langzeit-Familientherapie

D

Training in »community living« Programm

F

Schwer Geisteskranke: Unterstützende Beschäftigung

A, F

Schlafstörungen: Verhaltenstherapie KVT (für geriatrische Schlafstörungen)

F G

Unerwünschte Gewohnheiten: Habit Reversal Training und Kontroll-Techniken

A

* KVT: Kognitive Verhaltenstherapie, BPT: Behaviorale Paartherapie; EMDR. Eye Movement Desensitization and Reprocessing; EMG: Elektromyographie. ** Kategorie 1: gut etabliert/wirksam und spezifisch/2 Typ-I Studien; Kategorie II: wahrscheinlich wirksam / wirksam / oder möglicherweise wirksam / 1 Typ-1 Studie; Kategorie III: viel versprechend / Typ-2 oder -3 Studien. Nur die Arbeitsgruppen B, E und F verzeichneten Kategorie III Behandlungen. *** Arbeitsgruppen: A: Task Force (Chambless et al., 1998); B: Special section des Journals of Pediatric Psychology (Sprito, 1999); C: Spezial-Abteilung des Journals of clinical Child Psychology (1998); E: What works for whom? (Roth & Fonagy, 1996); F: A guide to Treatments That work (Nathan & Gorman, 1998); G: Gatz et al. (1998); H: Wilson & Gil (1996). ?: unklar aus der Beschreibung der Autoren, ob die Behandlung in Kategorie I oder II gehört.

48

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

. Tab. 3.9. Empirisch validierte Behandlungen für Kinder und Jugendliche: Eine Zusammenfassung über verschiedene Arbeitsgruppen * (nach Chambless & Ollendick 2001)

Bedingung und Behandlung **

Kategorie der empirischen Validierung I (++)

3

II (+)

III (+/–)

ADHS: Verhaltenstraining für Eltern

C

Verhaltensmodifikation im Klassenzimmer

C

F

Langzeit-multimodale Therapie

E

Angststörungen (Trennungsangst, Vermeidungsstörung, Störung mit übermäßiger Ängstlichkeit): Kognitive Verhaltenstherapie

A, C

Kognitive Verhaltenstherapie & familiäres AMT

A, C

Psychodynamische Psychotherapie

E

E

Chronischer Schmerz (Skelettmuskelkrankheiten): Kognitive Verhaltenstherapie

B

Verhaltensstörungen (Oppositionelles Trotzverhalten): Ärgerkontrolltraining mit Stressimpfungs-Training (Jugendliche)

C

Ärger-Bewältigungstherapie (Kinder)

C

Training des Selbstbewusstsein

C

Kognitive Verhaltenstherapie

E?

Kognitive Problemlösefertigkeiten

F

Präventionsprogramm für Delinquenz

E?

C

Funktionale Familientherapie

F

Multisystemische Therapie

F

Therapie der Eltern-Kind Interaktion

C C

Elterntraining basierend auf das Zusammenleben mit Kindern (Kinder)

A, E?, F

Elterntraining basierend auf das Zusammenleben mit Kindern (Jugendliche)

C

Training der Problemlösefähigkeiten

C

C, E?

Rational-Emotive Therapie

C

Auszeit plus »Signalstuhl«-Behandlung

C

Elterntraining mit videobandgestütztem Modelllernen

C

Depression: Bewältigungskurs für Depression mit Fertigkeitstraining (Jugendliche)

C

Kognitive Verhaltenstherapie (Kinder)

C

3

49 3.2 · Wirksamkeit der Psychotherapie

. Tab. 3.9 (Fortsetzung)

Bedingung und Behandlung **

Kategorie der empirischen Validierung I (++)

II (+)

III (+/–)

Störung des Sozialverhaltens: Strukturelle Familientherapie

E

Belastung aufgrund medizinischer Maßnahmen (hauptsächlich für Krebserkrankungen): Kognitive Verhaltenstherapie

B

Enkopresis: Verhaltensmodifikation

E?

A, E?

Fettleibigkeit: Verhaltenstherapie

A

Zwangsstörung: Konfrontation mit Reaktionsverhinderung

E

Phobien: Kognitive Verhaltenstherapie

C

Videogestütztes Modelllernen

C

Imaginäre Desensibilisierung

C

In-vivo-Desensibilisierung

C

In-vivo-Modelllernen

C

Teilnehmendes Modelllernen

C

Schnelle Konfrontation (Schulphobie)

E?

E?

Verstärkte Praxis

C

A

E?

E?

Psychophysiologische Störungen Familientherapie Psychodynamische Psychotherapie

E

Tiefgreifende Entwicklungsstörungen: Kontingenzmanagement

E?

E?

Rezidivierende Bauchschmerzen: Kognitive Verhaltenstherapie

D, F

Rezidivierende Kopfschmerzen: Biofeedback mit Selbsthypnose Entspannung / Selbsthypnose Thermales Biofeedback

B B B

* Siehe Fußnoten in Tabelle 3.8 für Erläuterungen der Kategorien und Auflistung der Arbeitsgruppen. ** ADHS: Auf merksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung; AMT: Angstmanagementtraining.

50

3

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

von Kindern und Jugendlichen zusammen. Ähnliche Ergebnisse erbrachte darüber hinaus eine systematische Auswertung im Auftrag des britischen Gesundheitsministeriums (UK Department of Health 2001). Es sind im wesentlichen kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren, die als »empirically supported« gelten können (Chambless & Ollendick 2001). Es liegt demnach nahe, diesen Verfahren einen besonderen Stellenwert für die Ausbildung von Psychotherapeuten zuzuweisen. Die Prüfung auf der Ebene einzelner Störungsbilder ist jedoch insofern problematisch, als die Gesamtzahl aller Störungsbilder im Indikationsbereich der Psychotherapie zu groß ist, um wirklich jeweils Einzelnachweise zu verlangen. Es muss daher eine Kategorisierung in größere Klassen von Störungen erfolgen, wobei sinnvollerweise neben der möglichen nosologischen und phänomenologischen Nähe auch die Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung, ihr Vorkommen in der psychotherapeutischen Praxis und ihre Bedeutung als Gegenstand der Psychotherapieforschung berücksichtigt werden sollten. Eine vollständige Gleichwertigkeit der Klassen kann dabei nicht erreicht werden. In Deutschland hat der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie in dieser Weise die Wirksamkeitsnachweise für jeden Anwendungsbereich der wichtigsten psychotherapeutischen Verfahren überprüft. Studien, die eine Übertragung der Wirksamkeitsnachweise auf die Versorgungspraxis erlauben, wurden bei der Bewertung des Wissenschaftlichen Beirates besonders gewichtet. Dabei galten folgende Grundsätze: 1. Der Wirksamkeitsnachweis für einen Anwendungsbereich kann in der Regel dann als gegeben gelten, wenn in mindestens drei unabhängigen, methodisch adäquaten Studien die Wirksamkeit für Störungen aus diesem Bereich nachgewiesen ist. 2. Die Anzahl von drei erforderlichen Studien für einen einzelnen Anwendungsbereich kann teilweise reduziert werden, wenn - in der Regel ältere - methodisch adäquate Wirksamkeitsstudien ohne Angabe eines spezifischen Störungsbereichs oder mit Vermischung mehrerer klar definierter Störungsgruppen vorliegen. Dies gilt allerdings nur für die Anwendungsbereiche 1 bis 8 der in . Tab. 2.1 aufgeführten Liste. Liegen in der Regel mindestens 8 solche allgemeinen, ansonsten methodisch adäquate Studien vor, kann die Wirksamkeit für einen Anwendungsbereich aus dieser Gruppe bereits dann als hinreichend nachgewiesen gelten, wenn lediglich zwei für diesen Anwendungsbereich spezifische Studien vorliegen. Die Wirksamkeit für die Anwendungsbereiche 9 bis 12 der Anwendungsbereichsliste kann lediglich durch spezielle Wirksamkeitsnachweise im Sinne von 1. nachgewiesen werden. Die Ergebnisse der Auswertungen sind in . Tab. 3.10 zusammengefasst. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der deutsche Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie grundsätzlich dann tätig wird, wenn er Anfragen

3

51 3.2 · Wirksamkeit der Psychotherapie

. Tab. 3.10. Ergebnisse des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie zur wissenschaftlichen Anerkennung psychotherapeutischer Verfahren: Hinreichender Nachweis der Wirksamkeit für die verschiedenen Anwendungsbereiche der Psychotherapie

Anwendungsbereiche

Kognitive / Verhaltenstherapien

Psychodynamische Therapien **

Gesprächspsychotherapie

Systemische Therapien

Psychodrama

Neuropsychologie ***

Affektive Störungen (F3)

Ja

Ja

Ja

Nein

Nein

Nicht beansprucht

Angststörungen

Ja

Ja

Ja

Nein

Nein

Nicht beansprucht

Belastungsstörungen (F 43)

Ja

Ja

Ja

Nein

Nein

Nicht beansprucht

Dissoziative, Konversionsund somatoforme Störungen

Ja

Ja

Nein

Nein

Nein

Nicht beansprucht

Essstörungen (F 50)

Ja

Ja

Nein

Nein

Nein

Nicht beansprucht

Andere Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (F5)

Ja

Nein

Nein

Nein

Nein

Nicht beansprucht

Psychische und soziale Faktoren bei somatischen Erkrankungen (F 54)

Ja

Ja

Ja

Nein

Nein

Nicht beansprucht

Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen (F6)

Ja

Ja

Ja

Nein

Nein

Nicht beansprucht

Abhängigkeiten und Missbrauch (F 1; F 55)

Ja

Ja

Ja

Nein

Nein

Nicht beansprucht

Schizophrenie und wahnhafte Störungen (F 2)

Ja

Ja

Ja

Nein

Nein

Nicht beansprucht

52

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

. Tab. 3.10 (Fortsetzung)

3

Anwendungsbereiche

Kognitive / Verhaltenstherapien

Psychodynamische Therapien **

Gesprächspsychotherapie

Systemische Therapien

Psychodrama

Neuropsychologie ***

Psychische und soziale Faktoren bei Intelligenzminderung (F 7)

Nicht geprüft

Nicht geprüft

Nein

Nein

Nein

Nicht beansprucht

Hirnorganische Störungen

Nein

Nicht geprüft

Nein

Nein

Nein

Ja

*

Die Anwendungsbereiche »Anpassungsstörungen, psychische und soziale Faktoren bei Intelligenzminderung« bei Erwachsenen sowie »Intelligenzminderung (F 7), hirnorganische Störungen (F 0) und Entwicklungsstörungen (F 80 – F 83 sowie F 88 und F 89)« bei Kindern und Jugendlichen der Störung blieben unberücksichtigt, da diese Bereiche besondere Forschungsfragen aufwerfen, die in einer gesonderten Stellungnahme berücksichtigt werden sollen. ** In Deutschland wurde in der Vergangenheit zwischen tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie als zwei getrennten Verfahren unterschieden. Es gibt jedoch keine wissenschaftliche Grundlage für diese Unterscheidung, die lediglich eine sozialrechtlich bedinge Besonderheit der Bundesrepublik Deutschland ist. Wir verwenden daher Psychodynamische Psychotherapie als Oberbegriff. Bei der Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie zur Psychodynamischen Psychotherapie wurden Langzeitbehandlungen von mehr als 100 Stunden nicht berücksichtigt, da diese Behandlungsform besondere Forschungsfragen aufwirft, die in einer gesonderten Stellungnahme berücksichtigt werden sollen. Für die Anwendungsbereiche »Psychische und soziale Faktoren bei Intelligenzminderung (F7)« sowie »Hirnorganische Störungen« wurden keine Belege eingereicht, deshalb wurden diese Bereiche nicht hinsichtlich der Wirksamkeit von Psychodynamischer Therapie geprüft. *** Für die Neuropsychologie wurde lediglich der Bereich der hirnorganischen Störungen geprüft, da auch nur für diesen Bereich eine Wirksamkeit beansprucht wurde.

der zuständigen Landesgesundheitsbehörden erhält. Dies war der Fall zu den Verfahren Gesprächspsychotherapie, systemische Therapien, Psychodrama und Neuropsychologie. Zu den psychodynamischen und kognitiv-verhaltenstherapeutischen Verfahren stellten die Landesbehörden keine Anfrage, da diese bereits nach den so genannten PsychotherapieRichtlinien sozialrechtlich zugelassen waren. Aus Gründen der Gleichbehandlung forderte der Beirat die zuständigen Fachgesellschaften auf, freiwillig eine Stellungnahme des Beirates einzuholen. Dieser Aufforderung kamen die Fachverbände nach. Dies erklärt die Auswahl der geprüften Verfahren. Weitere Gutachten sind derzeit in Bearbeitung (z.B. Hypnotherapie). Gegenüber dem Erwachsenenbereich ist die Evidenzsituation für die Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen nach den Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie (WBP ) ungünstiger. Bisher konnte der WBP lediglich für die Verhaltenstherapie einen hinreichenden Nachweis der Wirksamkeit feststellen. Dies steht im Einklang mit den publizierten Meta-Analysen sowie die APA Tank Force on Empirically

53 3.2 · Wirksamkeit der Psychotherapie

Supported Therapies, die ebenfalls lediglich für kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren eine hinreichend nachgewiesene Wirksamkeit erbrachten (Weisz et al. 1995, Hoagwood & Olin 2002, Beelmann & Schneider 2003, Chambless & Ollendick 2001, Schneider & Döpfner 2004, In-Albon & Schneider 2007). Aber auch bei dieser bisher am besten untersuchten Gruppe von Verfahren basieren einige der Studien auf sehr kleinen Stichproben, so dass die Generalisierbarkeit der Ergebnisse in einzelnen Anwendungsbereichen eingeschränkt ist. Für die Gesprächspsychotherapie, die systemischen Therapie und das Psychodrama liegen nach dem Urteil des Wissenschaftlichen Beirates keine hinreichenden Wirksamkeitsnachweise vor. Darüber hinaus wurden dem Beirat für die psychodynamischen Psychotherapien nicht hinreichend Studien vorgelegt, um zu einem Urteil zu kommen. Allgemein gilt, dass für die meisten psychotherapeutischen Verfahren mit Ausnahme der kognitiv-verhaltenstherapeutischen fast keine Wirksamkeitsstudien bei Kindern und Jugendlichen vorliegen (vgl. Casey & Berman 1985, Weisz et al. 1987 und 1995, Beelmann & Schneider 2003, In-Albon & Schneider 2007). Die vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie vorgenommene Prüfung auf der Ebene von größeren Kategorien von Störungen macht es eher möglich, dass Verfahren, für die nur wenig Wirksamkeitsstudien vorliegen, Mindestanforderungen für empirische Wirksamkeit erfüllen. Dies hat wesentlich dazu beigetragen, dass im Unterschied zu den APAErgebnissen hier auch kürzere psychodynamische Therapien und Gesprächspsychotherapien als wissenschaftlich anerkannt eingestuft werden konnten. Allerdings beruht dieses Vorgehen auf der Annahme der Übertragbarkeit der Befunde zwischen den Störungen innerhalb einer Kategorie. Während dies etwa für Schlüsse von einer Form von Depression auf eine andere eher möglich sein dürfte, ist es keineswegs ausgemacht, dass von der Wirkung bei Phobien auf die Wirkung bei Zwangsstörungen geschlossen werden kann. Gerade hier wurde etwa nachgewiesen, dass die bei Phobien gut wirksame Systematische Desensibilisierung bei Zwangsstörungen suboptimale Ergebnisse erzielt. Diesem Problem trägt das Vorgehen des Wissenschaftlichen Beirates keine Rechnung. Darüber hinaus werden hier auch keine Aussagen zur vergleichenden Wirksamkeit gemacht. Es bleibt also unberücksichtigt, ob ein psychotherapeutisches Verfahren besser oder schlechter wirkt als ein anderes. Es wird lediglich festgestellt, ob überhaupt ein Wirksamkeitsnachweis vorliegt. Generell sind die Kriterien des Beirates eher als Minimalanforderungen zu verstehen, die explizit auch der aktuellen Versorgungsrealität Rechnung tragen. Zur Spezifität der Wirkungen von Psychotherapie finden sich immer wieder kontroverse Äußerungen (vgl. Roth & Fonagy 1996, Chambless & Ollendick 2001, Wampold 2001, Lambert 2004). Dabei wird wie bereits weiter oben kurz bemerkt z.T. die Position vertreten, alle psychotherapeutischen Verfahren seien gleichwertig und ihre Effekte im Wesentlichen

3

54

3

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

auf allgemeine bzw. non-spezifische Wirkfaktoren zurückzuführen (z.B. Luborsky et al. 1975, Wampold 2001, Lambert & Ogles 2004). Diese Aussagen berufen sich im Wesentlichen auf zwei Quellen. Zum einen Studien, die verschiedene Therapien direkt verglichen und zum anderen auf MetaAnalysen zur Frage, ob die Unterschiede zwischen den publizierten Effektstärken der verschiedenen Therapieformen signifikant von Null abweichen. Die Ergebnisse aus beiden Ansätzen sind jedoch problematisch. Die meisten direkten Vergleichsstudien hatten aufgrund zu geringer Stichprobengrößen keine hinreichende statistische Power, um überhaupt Unterschiede mit genügender Wahrscheinlichkeit aufdecken zu können. Zudem wurde in älteren Studien häufig die Störungsdimension vernachlässigt, so dass der Geltungsbereich der Ergebnisse unklar blieb. Dies lässt Ergebnisse unberücksichtigt, wonach manche Störungsbilder wie etwa Depressionen von vielen verschiedenen Behandlungsformen profitieren, andere dagegen wie Zwangsstörungen oder Phobien sehr spezifisch auf einzelne Therapien ansprechen. Studien mit hinreichender statistischer Power und methodischer Qualität zeigen deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen verhaltenstherapeutischen Maßnahmen (bei Zwangsstörungen: Fals-Stewart et al. 1993, Lindsay et al. 1997) sowie zwischen Verhaltenstherapien und nondirektiven Gesprächstherapien (bei Generalisierter Angst: Borkovec & Costello 1993). Dabei wurde sichergestellt, dass die beobachteten Effekte nicht durch Unterschiede in der therapeutischen Beziehung, der Glaubwürdigkeit der Behandlung oder den Erwartungen der Patienten erklärt werden konnten. Meta-Analysen wie die von Wampold et al. (1997) hingegen erfassten vor allem Studien mit eingeschränkten Stichproben, darunter eine Vielzahl von Studentengruppen oder anderen Personen aus Beratungseinrichtungen. Diese sind nicht aussagekräftig für klinische Patientengruppen mit schwereren psychischen oder Entwicklungsstörungen. Darüber hinaus wurden in der Regel Kinder und Jugendliche nicht berücksichtigt. So erfassten etwa Wampold et al. (1997) nicht die einschlägigen Zeitschriften (u.a. Journal of Clinical Child Psychology, Journal of Abnormal Child Psychology, Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry). Es sind jedoch gerade für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Psychotherapieformen gezeigt worden: Sowohl Casey und Berman (1985, Meta-Analyse von Kindertherapien 1952–1982) als auch Weisz et al. (1995, Meta-Analyse 1967–1993) zeigten eine deutliche Überlegenheit von behavioralen gegenüber anderen Therapien. Im Unterschied zum Erwachsenenalter gilt dies auch für die Behandlung von Depressionen im Kindesalter (Stark et al. 1991, Brent et al. 1997). Insgesamt legen die Ergebnisse zur Spezifität verschiedener psychotherapeutischer Interventionen nahe, dass neben non-spezifischen auch spezifische Wirkfaktoren operieren. Als Beispiel für einen gut belegten spezifischen Wirkfaktor kann die Reizkonfrontation bei Phobien oder

55 3.2 · Wirksamkeit der Psychotherapie

Zwängen aufgeführt werden (Marks 1987). Hier zeigt sich regelmäßig, dass Therapien ohne Konfrontationskomponente solchen mit Konfrontation unterlegen sind. Als Beispiel für einen gut belegten non-spezifischen Wirkfaktor kann die therapeutische Beziehung gelten, die nach der Meta-Analyse von Horvath & Symonds (1991) für 9% der Ergebnisvarianz verantwortlich ist (vgl. auch Martin et al. 2000).

3.2.1.3 Negative Effekte von Psychotherapie Über Risiken und Nebenwirkungen wird in der Psychotherapie kaum gesprochen. Eine Literaturrecherche in den gebräuchlichsten Datenbanken (Deutsch und Englisch) ergab nur wenige Treffer, von denen zudem die meisten nicht relevant waren (Margraf & Schneider 2002). Der Grund für dieses Schweigen könnte möglicherweise in zwei alternativen Voreinstellungen liegen:

1. Psychotherapie ist generell unwirksam (hat also auch keine negativen Effekte). 2. Psychotherapie kann nur Gutes tun (und hat daher keine unerwünschten Wirkungen).

Die erste Meinung dürfte außerhalb der Psychotherapie weiter verbreitet sein als innerhalb. Wie steht es mit der zweiten? In der hier genannten pointierten Form wird kaum jemand zustimmen, aber könnte es nicht doch sein, dass wir insgeheim dieser Richtung zuneigen? Natürlich gibt es auch Abstufungen und Varianten, beispielsweise »vielleicht gibt es das, aber nur ganz selten«. Woher wissen wir das? Und wie steht es mit der Annahme, dass Probleme nur bei »den Anderen«, nicht aber bei dem eigenen Therapieverfahren vorliegen? Während seit Jahren intensiv über die Wirksamkeit der Psychotherapie diskutiert, geforscht und gestritten wird, bleibt das Thema Unbedenklichkeit ein Stiefkind der »großen Psychotherapiedebatte«. Nachdem jedoch die Wirksamkeit psychotherapeutischer Maßnahmen über jeden Zweifel hinaus belegt werden konnte (vgl. die vorangegangenen Abschnitte), stellt sich die Frage unerwünschter Wirkungen in aller Schärfe. Und wie oft beobachtet, so auch hier: Kaum wird hingeschaut, da wird auch etwas gesehen. Inzwischen gibt es Befunde zu Risiken der Psychotherapie, die in der Schärfe denjenigen in der somatischen Medizin nicht nachstehen (z.B. Weiss et al. 1999, 2000 zur Kindertherapie; Steil & Straube 2002 zum Debriefing nach Traumata). In Deutschland hat sich vor allem die Hamburger Arbeitsgruppe mit dem Themenkomplex Misserfolge und negative Effekte befasst (Fischer-Klepsch et al. 2000). Dabei geht es nicht nur um unsachgemäße Anwendung durch unzureichend Ausgebildete oder moralisches Fehlverhalten Einzelner. Auch

3

56

3

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

wenn Verfahren lege artis angewandt werden, sind dennoch Probleme möglich. Diese reichen vom Offenkundigen (Suizidalität, sexuelle Übergriffe) bis zum – manchmal gar nicht so – Subtilen (unrealistische Ziele, Bevormundung, schleichende Abhängigkeit, Aufoktroyieren falscher Normen, Partnerprobleme, Demoralisierung). Auch psychotische Dekompensationen und Therapie-«Sucht« werden diskutiert. Eine Systematik von Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapien hat unlängst Hoffmann (2002) vorgelegt. Er unterscheidet die folgenden drei Typen: 1. Erfolglosigkeit oder Nebenwirkung angemessener Therapie (Begleiterscheinungen der Störung an sich, die auch beim besten Verlauf nicht zu vermeiden sind wie z.B. Stimmungstiefs, Angstzustände; aversive Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung, die nicht zu umgehen sind wie z.B. Angst bei Konfrontationstherapien) 2. Schädigung durch Behandlungsfehler (unangemessene Durchführung bei Diagnostik, Indikation oder Therapie im engeren Sinne; mangelhafte Koordination zwischen Behandlern etc.) 3. Schädigung durch unethisches Verhalten Eine besondere Risikogruppe für Therapieschäden stellen nach weit verbreiteter Meinung sexuell missbrauchte und traumatisierte Patientinnen dar (vgl. Amann & Wipplinger 1997). Nur wenn die Probleme bekannt sind, können auch tragfähige Lösungen gefunden werden. Es geht um Prävention und Therapie, sozusagen die Therapie der Therapie. Bereits 1983 veröffentlichten Foa & Emmelkamp die erste Monographie zum Thema Misserfolge (»Failures in Behavior Therapy«). Dennoch bleibt festzustellen, dass wir bei der Erforschung negativer Wirkungen von Psychotherapien erst am Anfang stehen. Löhr und Schmidtke (2002) fragten erfahrene und unerfahrene Verhaltenstherapeuten danach, ob sie im Gefolge ihrer Therapien vermehrt Partnerschaftsprobleme beobachteten. Immerhin ein Drittel gab an, dass über 10% der Patienten, die nicht primär wegen Partnerschaftsproblemen in die Therapie kamen, sich während oder nach der Behandlung von ihrem Partner trennten. Kohls et al. (2002) befassen sich u.a. mit Prädiktoren für Misserfolg der stationären Verhaltenstherapie von Zwangspatienten. Für die Zukunft ist es dringend erforderlich, unerwünschte Wirkungen in Psychotherapiestudien sorgfältig und systematisch zu dokumentieren. ! Da aber Therapiestudien immer nur einen Teil der Realität abbilden, ist darüber hinaus die Einrichtung von Melderegistern für die Routinepraxis sinnvoll.

Auch wenn ein solches »Critical Incident Reporting System« keine repräsentativen Aussagen ermöglicht, so sollte es doch zur Verbreiterung der Datenbasis beitragen. Um eine möglichst niedrige Schwelle zu erreichen, sollten Einträge auf Wunsch anonym vorgenommen werden können.

57 3.2 · Wirksamkeit der Psychotherapie

Denkbar ist darüber hinaus ein Hilfsangebot auf der Basis der kumulativen Datenbank.

3.2.1.4 Abschließende Bemerkungen zur Wirksamkeit Zusammenfassend können wir daher zu den einzelnen Verfahren festhalten, dass bisher hinreichende Wirksamkeitsnachweise im Wesentlichen für drei therapeutischen Verfahren vorliegen: die (kognitive) Verhaltenstherapie, die Gesprächspsychotherapie und die psychodynamischen Therapien kurzer oder mittlerer Dauer (unter 30 bzw. unter 100 Sitzungen). Die Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer und kognitiver Verfahren wie Systematische Desensibilisierung, Reizkonfrontation oder RationalEmotive Therapie ist dabei für das ganze Spektrum psychischer Störungen am häufigsten untersucht und am besten belegt. Neben diesen umfassenden Therapieansätzen ist als ein körperorientiertes Einzelverfahren, dessen Wirksamkeit für einzelne Störungsbereiche gut belegt ist, schließlich die »Progressive Muskelrelaxation« (nach Jacobson) zu erwähnen. In jüngster Zeit sind darüber hinaus eine hinreichende Zahl von Wirksamkeitsnachweisen für die Interpersonelle Psychotherapie (IPT) bei affektiven und Essstörungen erschienen. Abschließend sind für die korrekte Interpretation der Ergebnisse drei einschränkende Bemerkung am Platz: 4 Der Therapieerfolg hängt nicht nur von der Wahl der Therapiemethode ab. Vielmehr spielen auch methodenunabhängige Faktoren eine wichtige Rolle (Haltung der Therapeut/innen, Haltung der Patient/innen, Dauer der Therapie etc.). Je spezifischer allerdings die untersuchte Störung und je spezifischer die angewandte Therapie ist, desto weniger bedeutsam sind methodenunabhängige Faktoren. So weist Lutz (2003) darauf hin, dass die punktbiseriale Korrelation zwischen Verfahren und Ergebnis bei kognitiv-verhaltenstherapeutischen Verfahren .52 (aufgeklärte Varianz r2: .27), bei psychotherapeutischen Verfahren im Allgemeinen dagegen nur .39 (aufgeklärte Varianz r2: .15) beträgt. 4 Die publizierten hohen Erfolgswahrscheinlichkeiten gelten nicht für alle Patienten gleichermaßen. Es müssen zudem Therapieabbrecher, Therapieverweigerer, mögliche Differenzen zwischen den in der Forschung verwendeten Erfolgsmassen und klinisch relevanten Erfolgsdefinitionen sowie die Frage der Dauerhaftigkeit der Therapiewirkung in Katamnesestudien berücksichtigt werden. Diese Einschränkungen gelten jedoch auch für die publizierten Ergebnisse zur pharmakologischen oder anderen medizinischen Behandlungsverfahren. Sie stellen daher keine grundsätzliche Beeinträchtigung für Quervergleiche zwischen diesen Behandlungsmodalitäten dar. Allerdings müssen bei derartigen Vergleichen empirisch beobachtete Differenzen berücksichtigt werden. So sind etwa Therapieabbrüche, Therapieverweigerungen und Non-Compliance bei psychopharmakologischen

3

58

3

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

Behandlungen regelmäßig deutlich höher als bei psychotherapeutischen Maßnahmen (Gould et al. 1995, Barlow 2004, Lambert & Ogles 2004). Darüber hinaus weist Barlow (2004) darauf hin, dass in einer Vielzahl von Studien immer wieder festgestellt wurde, dass – sofern dies zur Wahl gestellt wird – die Bevölkerung psychologische Interventionen gegenüber pharmakologischen bevorzugt; dieser Zusammenhang gilt selbst für Zentren, die vor allem für pharmakologische Kompetenz bekannt sind (z.B. Hazlett-Stevens et al. 2002, Hofmann et al. 1998, Mitchell et al. 1990, Wilson & Fairburn 2002, Zoellner et al. 2003). 4 Es gibt sehr viel mehr Untersuchungen zu kürzeren Therapien als zu Langzeittherapien. Angesichts methodischer Probleme, für die noch keine allgemein akzeptierten Lösungen existieren und des großen Aufwandes, den die Untersuchung von Langzeittherapien unweigerlich mit sich bringt, ist es wenig wahrscheinlich, dass ein wissenschaftlich allgemein akzeptierter Nachweis der Wirksamkeit von Langzeittherapien in naher Zukunft erfolgen wird. Da die Therapiedauer ebenso wie die Dauerhaftigkeit der Therapiewirkungen Themen von großer Bedeutung für Versorgung und Kosten-Wirkungs-Analysen sind, haben wir diesen Punkten im Folgenden eigene Abschnitte (vgl. 3.2.2. und 3.2.3.) gewidmet. Fazit Unmittelbare Wirksamkeit von Psychotherapie: 4 Die allgemeine Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren ist über jeden vernünftigen Zweifel hinaus belegt. Die Therapieerfolge sind vergleichbar oder größer als diejenigen für eine Vielzahl etablierter medizinischer Verfahren. 4 Die Wirksamkeit ist besser für Erwachsene als für Kinderpopulationen belegt. Zudem gibt es Hinweise auf eine verzerrte Publikationspraxis. 4 Wie bei medikamentösen Therapien scheinen positive Ergebnisse mit größerer Wahrscheinlichkeit publiziert zu werden als negative. Quantitative Analysen zeigen jedoch, auch nach Abzug derartiger Verzerrungseffekte ein signifikanter positiver Therapieeffekt erhalten bleibt. 4 Nicht alle praktizierten Formen von Psychotherapie sind gleich gut untersucht bzw. in ihrer Wirksamkeit belegt. 4 Gute Belege liegen für verhaltenstherapeutische Verfahren bei allen relevanten Indikationen vor. In geringerem Umfang und für weniger Indikationen liegen gute Belege auch für psychodynamische Kurztherapien, IPT und gesprächspsychotherapeutische Verfahren vor.

59 3.2 · Wirksamkeit der Psychotherapie

3.2.2 Dauerhaftigkeit der Therapieerfolge Auch in diesem Bereich sind zwei Stadien der Forschung festzustellen. In einem ersten Stadium wurden undifferenziert allgemeine Stichproben von Patienten nachuntersucht, die mit mehr oder minder genau spezifizierten Formen von Psychotherapie behandelt worden waren. Im heute aktuellen zweiten Stadium wurde dann gezielt für genauer definierte Gruppen von Störungen und Behandlungen die langfristige Wirksamkeit mit Hilfe systematischer Katamnesestudien erforscht. Heute gilt es als allgemein anerkannt, dass Wirksamkeitsstudien auch über einen hinreichend lange Katamnese verfügen sollten, da die wichtigsten psychischen Störungen in der Regel chronische bzw. phasisch wiederkehrende Verläufe aufweisen. Bei Störungen wie Depressionen, Alkoholismus, Rauchen oder Adipositas sind Rückfälle so häufig, dass sie ohne Katamnesen von mindestens einem Jahr nicht ausreichend untersucht sind. Allerdings wird dieser Anspruch von den meisten Studien noch immer nicht eingelöst. So fanden Ruhmland und Margraf (2001a–c) bei dem eigentlich besonders gut beforschten Angststörungen, dass nur eine Minderheit der Studien Katamnesen aufwies und diese in der Regel nur von geringer Dauer waren. Angesichts der sehr großen Zahl an Studien zur Psychotherapieforschung liegen aber dennoch hinreichend Katamnesedaten vor, um solide Aussagen zu machen. Zudem übersteigt das Ausmaß an Studien bei weitem dasjenige für die wichtigste konkurrierende Therapiemethode: für medikamentöse Therapie liegen deutlich weniger und zumindest methodisch hoch fragwürdige Studien vor (so waren etwa in der Meta-Analyse von Bakker et al. 1998 zum Katamnesezeitpunkt nur noch 15% der Patienten aus den Medikamentenbedingungen untersuchbar!). Die Ergebnisse unserer Literatursuche sind in den . Tab.3.11 und 3.12 zusammengefasst. Sie zeigen, dass in den letzten 10 Jahren zu den wichtigsten Anwendungsbereichen der Psychotherapie Studien vorliegen. Die frühere Forschung hatte bereits deutliche Hinweise auf eine im Durchschnitt gute Dauerhaftigkeit der Therapieerfolge bei Psychotherapie erbracht. Auch wenn es keinen Anlass für die Annahme gibt, eine einzelne psychotherapeutische Behandlung könnte Patienten dauerhaft gegen psychische Beschwerden oder Symptome »impfen«, erreichen doch viele Patienten langfristig psychische Gesundheit und ein adäquates Funktionsniveau (Lambert & Ogles 2004). Dies gilt auch bei langen vorangegangenen Krankheitsgeschichten, wie sie für Psychotherapiepatienten typisch sind. Eine detaillierte Übersicht über die Ergebnisse der Literaturauswertung geben die in den Anhängen 3 und 4 (Originalarbeiten und Reviews zur Langzeiteffektivität) aufgeführten tabellarischen Zusammenfassungen der Publikationen. Zusammengefasst zeigen sowohl die Reviews wie auch die Originalarbeiten eine gute Dauerhaftigkeit der Therapieerfolge. Bei Angststörungen kam es teilweise sogar zu weiteren Verbesserungen während des Katamnesezeitraumes. Dies war vor allem bei Reiz-

3

60

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

. Tab. 3.11. Übersicht über die bei der Literatursuche gefundenen Studien zur Langzeiteffektivität

3

Themenbereich

Anzahl insgesamt gefundener Studien

Anzahl relevanter Studien*

Essstörungen*

11

8

Persönlichkeitsstörungen**

2

1

Schizophrenie***

3

1

Zwangsstörung

2

2

Schlafstörungen

6

5

Abhängigkeitsstörungen

11

8

Somatoforme Störungen

3

1

Angststörungen

8

8

Affektive Störungen

8

7

Depression und Angststörung

1

1

Psychotherapie allgemein

9

2

Kinder und Jugendliche

17

4

Diverse

14

1

* Aus den folgenden Gründen waren Studien nicht für unsere Auswertung relevant: nur medizinische Behandlung (keine Psychotherapie), nur Langzeitbehandlungen ohne langfristige Katamnese, generell keine Katamnese, fehlende konkrete Angaben.

. Tab. 3.12. Übersicht über die bei der Literatursuche gefundenen Übersichtsarbeiten zur Langzeiteffektivität

Themenbereich

Anzahl insgesamt gefundener Arbeiten

Anzahl relevanter Arbeiten

Essstörungen

4

4

Persönlichkeitsstörungen

1

1

Schizophrenie

1

1

Abhängigkeitsstörungen

3

2

19

18

6

3

Angststörungen Affektive Störungen

61 3.2 · Wirksamkeit der Psychotherapie

konfrontationstherapien der Fall (Ruhmland & Margraf 2001a–c). Bei Betrachtung der Ergebnisse zu einzelnen Störungsbildern zeigte sich erneut, dass die weitaus meisten Daten zu kognitiv-verhaltenstherapeutischen Interventionen vorliegen. Bei einer ganzen Reihe von Störungen wurden andere Psychotherapien überhaupt nicht langfristig untersucht. 4 Bei Störungen, die generell schlechte langfristige Therapieverläufe aufweisen wie der Adipositas zeigten sich bessere langfristige Ergebnisse, wenn medizinische oder diätetische Maßnahmen mit verhaltenstherapeutischen Interventionen ergänzt wurden (Nord-Rüdiger 2002, McTigue et al. 2003). Ausnahmen von diesem generell positiven Bild zeigten sich für die Behandlung des Chronic Fatigue Syndroms (Huibers et al. 2004), multisystemische Therapie bei Kokainabhängigkeit (Henggeler et al. 2002), psychodynamischer Therapie der Generalisierten Angststörung (Ruhmland & Margraf 2001b, Durham et al. 2003), psychodynamischer Kurztherapie nach Sifneos (Blay et al. 2002) und post-partum Depression (Cooper et al. 2003). Interessant sind auch die Ergebnisse von Rufer & Peter (2001) zur Kombinationstherapie von Medikamenten und Verhaltenstherapie bei Angststörungen. Diese wurden am besten bei Agoraphobie und Panikstörung untersucht. Insgesamt zeigte sich kein überzeugender kurzfristiger Additions- oder Potenzierungseffekt bei der zeitlich parallelen Kombination von Verhaltenstherapie und Psychopharmakotherapie. Mittel- bis langfristige Katamnesen erbrachten ebenfalls keine Unterschiede zw. alleiniger Verhaltenstherapie und der Kombination mit Antidepressiva. Teilweise zeigten sich sogar eher schlechtere Resultate bei der Kombination. Alleinige Psychopharmakabehandlung ist einer Mono-Verhaltenstherapie oder der Kombinationstherapie langfristig deutlich unterlegen, bis zu 80% erleiden Rückfälle nach Absetzen der Medikation. Diese hohe Rückfallrate lässt sich durch eine sequentielle Kombination mit einer Verhaltenstherapie vermindern. Bei der Sozialen Phobie ist die Kombinationstherapie insgesamt nicht ausreichend untersucht. Die vorliegenden Befunde sind jedoch eher enttäuschend und nicht vorteilhaft im Vergleich zu Mono-Verhaltenstherapie. Fazit Dauerhaftigkeit der Wirkungen von Psychotherapie: 4 Die Wirkungen psychotherapeutischer Verfahren weisen im allgemeinen eine gute Dauerhaftigkeit auf. 4 Die Dauerhaftigkeit der Therapieerfolge ist deutlich besser belegt als bei medikamentösen Behandlungen mit Anxiolytika oder Antidepressiva. 4 Darüber hinaus können psychotherapeutische Zusatzinterventionen die Rückfallraten psychiatrischer Therapieprogramme positiv beeinflussen.

3

62

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

3.2.3 Zusammenhang zwischen Wirksamkeit

und Dauer der Psychotherapie Die Zusammenhänge zwischen Therapiedauer und Wirksamkeit sind fast ausschließlich in Form von post-hoc-Analysen und nicht mittels experimenteller Manipulation untersucht worden (UK Department of Health 2001). Dies beeinträchtigt die kausale Interpretation der beobachteten Zusammenhänge. Sofern signifikante Zusammenhänge beobachtet wurden, waren diese positiv, stießen jedoch an eine Obergrenze (»Deckeneffekt«). In ihren Pionierarbeiten zum »Dosis-Wirkungs-Effekt« bei Psychotherapien konnten Howard und Mitarbeiter zeigen, dass zwischen der Therapiedauer und dem Therapieerfolg im Allgemeinen ein kurvilinearer Zusammenhang besteht. Dabei wächst der Therapieerfolg zu Beginn einer Behandlung am schnellsten, flacht dann jedoch rasch ab und erreicht bei rund 60 Sitzungen asymptotisch den durchschnittlichen maximalen Effekt (. Abb. 3.4). Über verschiedene Therapieformen und Patientenpopulationen hinweg erreichen durchschnittlich 50% der Patienten nach rund 8 Sitzungen eine bedeutsame Verbesserung. Um auf ein Erfolgniveau von 75% der Patienten zu gelangen, sind durchschnittlich 26 Sitzungen erforderlich, für 85% Erfolg braucht es 65 Sitzungen. Danach ist kein nennenswerter Anstieg mehr festzustellen. Allerdings gibt es Abweichungen von diesen Durchschnittswerten, die mit der Art der verwandten Therapie und vor allem der Art der behandelten Probleme zusammenhängen. . Abb. 3.5 zeigt, dass sowohl der initiale als auch der endgültige Erfolg bei Angststörungen deutlich größer, bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen dagegen deutlich geringer sind. Der ursprünglich von Howard und Mitarbeitern berichtete Zusammenhang wurde inzwischen von anderen Autoren bestätigt (z.B. Lambert et al. 2001, vgl. Lambert 2004). Dabei sind insbesondere die Arbeiten von Lutz (2003, Lutz et al. 2001) von Interesse. Diese Gruppe erstellte in einem

3

. Abb. 3.4. Zusammenhang zwischen Therapiedauer und Therapieerfolg bei verschiedenen psychischen Störungen nach Howard et al. 1986, 1999

63 3.2 · Wirksamkeit der Psychotherapie

. Abb. 3.5. Zusammenhang zwischen Therapiedauer und Therapieerfolg bei verschiedenen psychischen Störungen nach Howard et al. 1986, 1999

mehrstufigen Verfahren ein Modell zur Beschreibung und Vorhersage von Aufwand-Wirkungsbeziehungen bei Psychotherapien, das in empirischen Prüfungen eindrucksvoll bestätigt werden konnte. Zunächst wurden anhand von 160 sorgfältig diagnostizierten Patienten einer universitären Psychotherapie-Ambulanz (69 mit affektiven Störungen, 18 mit Angststörungen, 33 mit weiteren Achse-I-Diagnosen nach DSM-III-R, 40 ohne Achse-I-Diagnose, Lueger et al. 2000) durchschnittliche Verlaufsmodelle der verschiedenen Störungskategorien erarbeitet. Dann wurden mit Hilfe von sieben Ausgangsmerkmalen der Patienten Vorhersagen für die Therapieverläufe aufgestellt und anhand der realen Verläufe überprüft. Danach wurde das Modell an einer weiteren Patientenstichprobe von 890 Patienten getestet, die wiederum zum Zweck der Kreuzvalidierung in zwei Teilstichproben aufgespalten wurden. Die klinische Repräsentativität dieser Stichproben für die ambulante Psychotherapie in den USA wurde durch den Vergleich mit einer dritten Stichprobe von 11’002 Patienten aus der Datenbank einer Krankenversicherung sichergestellt. . Abb. 3.6 zeigt die Ergebnisse zu den vorhergesagten und empirisch beobachteten Therapieverläufen. Die Ergebnisse bestätigen nicht nur erneut die ursprünglichen Befunde von Howard und Mitarbeitern, sie zeigen darüber hinaus, dass eine hinreichend genaue Vorhersage aufgrund einiger weniger Patientencharakteristika möglich ist, die zudem mit wenig Aufwand vor Therapiebeginn erhoben werden können. Weitere, hier nicht ausführlich dargestellte Befunde bestätigten zudem unterschiedliche Geschwindigkeiten und Maximalstärken des Therapieerfolgs bei verschieden Störungsbildern. So erreichten Patienten mit einer affektiven Störung im Durchschnitt ihre maximale Effektstärke von 1.2, Patienten mit Angststörungen sogar 1.4 und Patienten mit anderen Störungen lediglich Effektstärken von .75 (Lueger et al. 2000).

3

64

Kapitel 3 · Zum Stand der Forschung

3

. Abb. 3.6. Vorhergesagte und empirisch beobachtete Aufwand-Wirkungsbeziehungen für subjektives Wohlbefinden, aktuelle Symptomatik und aktuelle Lebensbewältigung/Funktionsfähigkeit nach den Daten von Lutz et al. 2001 und Lutz 2003

Fazit Zusammenhang zwischen Wirksamkeit und Therapiedauer: 4 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die größten Therapieeffekte (auch unter Effectiveness-Bedingungen wie bei Lueger et al. 2000, Lutz et al. 2001 und Lutz 2003) in den ersten 30 Therapiesitzungen erzielt werden. 4 Zwischen der dreißigsten und sechzigsten Sitzung kommen im Durchschnitt noch kleinere Effekte hinzu, jenseits der sechzigsten Sitzung zeigt sich im Durchschnitt kein nennenswerter Zuwachs an Therapieerfolg. 4 Bei einer Differenzierung nach Störungsbildern zeigen sich langsamere Verläufe bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Aber auch hier werden die wesentlichen Verbesserungen in den ersten 60 Sitzungen beobachtet. Es ist darüber hinaus möglich, dass neuere Studien zu einer eher noch kritischeren Einschätzung längerer Therapien auch in diesem Bereich führen. 4 Die vorliegende Auswertung kann nur die Ergebnisse der bisherigen Studien abbilden. In diesen wurden vorwiegend längere Therapien untersucht. Inzwischen stehen neuere Therapiestudien (v.a. in den Niederlanden sowie multizentrisch in Europa und den USA) vor dem Abschluss, die auf sehr gute Wirksamkeit bei strukturierten kürzeren Therapien auch bei Persönlichkeitsstörungen hinweisen (persönliche Mitteilung A. Arntz, Rijksuniversiteit Maastricht, 2005).

4 4 Ergebnisse zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie 4.1

Angaben zur gefundenen Literatur – 66

4.2

Frühere Literaturübersichten zu Kosten und Nutzen – 69

4.2.1 Cost Offset – 72 4.2.2 Kontrolle von Publikationsverzerrungen – 74 4.2.3 Kosten-Effektivität – 76

4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4

Originalarbeiten zu Kosten und Nutzen – 83

Angst- und Affektive Störungen – 84 Abhängigkeiten und Essstörungen – 93 Somatoforme, psychosomatische und gemischte Störungsbilder – 98 Schizophrenie, Borderline-Persönlichkeitsstörung und Verhaltensauffälligkeiten – 104 4.3.5 Psychodynamische Therapien – 107 4.3.6 Zusammenfassende Auswertungen – 112

66

Kapitel 4 · Ergebnisse zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie

4.1

4

Angaben zur gefundenen Literatur

Die Sichtung der Literaturhinweise aus der elektronischen Recherche zeigte, dass die meisten angegebenen Literaturstellen für unsere Fragestellung irrelevant waren. Auch nach Berücksichtigung der Ergebnisse der anderen beiden Suchstrategien (Expertenbefragung, Literaturverzeichnisse) ergab sich eine deutlich geringere Anzahl an relevanten Arbeiten. Diese sind in . Tab. 4.1 nach Störungs- bzw. Themenbereichen aufgeschlüsselt. Wie aus . Tab. 4.2 ersichtlich, handelt es sich bei den erfassten Studien zu Kosten und Nutzen in jeweils knapp der Hälfte der Fälle um Kosten-

. Tab. 4.1. Anzahl als einschlägig identifizierter Studien zu Kosten-Nutzen bzw. Kosten-Effektivität von Psychotherapie (Publikationen 1995–2004: Englisch, Deutsch und Französisch)

Themenbereich

Anzahl Studien

Angst- und Affektive Störungen

17

Abhängigkeiten und Essstörungen

13

Somatoforme, psychosomatische und gemischte Störungsgruppen

10

Schizophrenien, Borderline-Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten

6

Psychodynamische Therapien

8 54

Summe aller Studien

. Tab. 4.2. Aufschlüsselung der Publikationen nach Art der Analyse (Publikationen 1995–2004, Englisch, Deutsch, Französisch)

Anzahl Analyse-Typen:

Originalbarbeiten

Kosten-Nutzen-Analysen:

23*

Kosten-Effektivitäts-Analysen:

28**

Kosten-Nutzwert-Analysen (QALYs)

1

nicht zuordenbar: (nur Nutzen, keine Kosten)

2

Summe:

54

* Studie: »Intensive Short-Term Dynamic Psychotherapy in a Private Psychiatric Office: Clinical and Cost-Effectiveness« (Abbass 2002) wird vom Autor zwar als Kosten-Effektivitäts-Studie bezeichnet, stellt aber eine Kosten-Nutzen-Analyse dar. ** Studie: »Empirically supported treatments for Panic Disorder: Costs, Benefits, and Stepped Care« (Otto et al. 2000) wird von den Autoren zwar als »cost-benefit analysis« bezeichnet, ist aber eine Kosten-Effektivitäts-Analyse.

67 4.1 · Angaben zur gefundenen Literatur

4

. Abb. 4.1. Die drei häufigsten Typen von Designs in Kosten-Nutzen bzw. Kosten-Effektivitätsstudien zur Psychotherapie. Bei Design 1 werden die Krankheitskosten vor bzw. nach einer Psychotherapie berechnet. Bei Design 2 werden die Krankheitskosten nach zwei (oder mehr) verschiedenen Arten von Psychotherapie verglichen. Bei Design 3 wird ähnlich vorgegangen, wobei jedoch Psychotherapie mit einer Kontrollbedingung verglichen wird (z.B. keine Behandlung, lediglich Hausarztkontakt, »Treatment as usual« etc.).

68

4

Kapitel 4 · Ergebnisse zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie

Nutzen-Analysen und um Kosten-Effektivitäts-Analysen. Lediglich eine einzige Studie war vom Typus der Kosten-Nutzwert-Analyse und verwendete QALYs. Betrachtet man die Designs der erfassten Studien, so lassen sich drei Typen unterscheiden. Diese sind in . Abb. 4.1 graphisch veranschaulicht. Bei Designtyp 1 handelt es sich um ein einfaches Prä-Post-Design: Zur Beurteilung der Relation zwischen Kosten und Nutzen bzw. Kosten und Effektivität wird hier die Differenz der Krankheitskosten vor bzw. nach Therapie berechnet. Dabei wird angenommen, dass allfällig beobachtete Veränderungen auf die Therapie zurückgehen, ohne dass dies jedoch wirklich nachgewiesen wird. Die Aussagekraft dieses Studientyps ist damit begrenzt. Bei Design 2 werden dagegen zwei verschiedene Psychotherapien (in der Abbildung mit »A« und »B« bezeichnet) verglichen. Dabei wird die Differenz der Krankheitskosten nach den beiden Psychotherapien berechnet (Krankheitskosten A – B). Bei ungleichen Therapiekosten muss hier auch die Differenz zwischen Therapiekosten A und B berücksichtigt werden. Allerdings liegt auch hier die Annahme zugrunde, dass beobachtete Effekte auf die Therapien zurückgehen, da eine unbehandelte Kontrollgruppe fehlt. Diese Kontrollbedingung ist der wesentliche Vorzug von Designtyp 3. In ähnlicher Weise wie bei Design 2, wird bei Typ 3 die Differenz von der Krankheitskosten nach Psychotherapie bzw. nach Kontrollbedingung berechnet (Krankheitskosten P – K). Auch hier müssen eventuelle Unterschiede zwischen Therapiekosten und Kontrollkosten berücksichtigt werden. Dennoch ist dieses Design aussagekräftiger als die Designs 1 und 2, da die Berücksichtigung einer Kontrollgruppe eine klarere Unterscheidung zwischen Therapie- und anderen Effekten ermöglicht. Bei den Designs 2 und 3 bleiben demnach die Krankheitskosten vor Therapie/Kontrollbedingung unberücksichtigt. Grundsätzlich sind andere Designs bzw. Kombinationen dieser Designs denkbar, sie wurden

. Tab. 4.3. Häufigkeit der Designtypen zur Untersuchung von Kosten, Nutzen und Effektivität von Psychotherapie in der empirischen Literatur 1995–2004

Designtyp

Anzahl Studien

1: »Prä-Post-Vergleich« Erhebung der Krankheitskosten vor und nach Psychotherapie

20

2: »Direkter Therapievergleich« Vergleich der Krankheitskosten nach zwei oder mehr verschiedenen Psychotherapien

20

3: »Kontrollierte Studie« Vergleich der Krankheitskosten nach Psychotherapie und einer anderen Kontrollbedingung

14

69 4.2 · Frühere Literaturübersichten zu Kosten und Nutzen

jedoch in der Literatur nicht angetroffen. Die Häufigkeit der drei Designtypen in der erfassten Literatur ist in . Tab. 4.3 dargestellt (dabei konnten die 7 nicht zuordenbaren Studien nicht berücksichtigt werden).

4.2

Frühere Literaturübersichten zu Kosten und Nutzen

Drei Entwicklungen haben in der jüngeren Vergangenheit dazu beigetragen, dass die Frage nach Kosten und Nutzen psychologischer bzw. psychotherapeutischer Interventionen immer stärkere Aufmerksamkeit erhielt: 4 wachsendes Kostenbewusstsein im Gesundheitswesen 4 zunehmende Erkenntnis der Relevanz psychischer Störungen 4 wachsende Bedeutung psychologischer Interventionen im Gesundheitswesen Obwohl lange ein einheitliches Forschungsparadigma fehlte und empirische Befunde disparat über die unterschiedlichsten (Teil-)Disziplinen von Medizin, Psychologie und Ökonomie verstreut waren, unternahmen daher seit den 80er Jahren immer mehr Autorinnen und Autoren den Versuch, die Ergebnisse auszuwerten . Tab. 4.4. Stellungnahmen legten

. Tab. 4.4. Überblicksarbeiten zum Thema »Kostenanalysen von Psychotherapie

Autoren

Methodik der Sekundäranalyse

Schlesinger et al. 1980

Meta-Analyse

11

Mumford et al. 1984

Meta-Analyse

58

Bühringer & Hahlweg 1986

Überblicksartikel

14

Berufsverband Deutscher Psychologen 1988

Überblicksartikel

33

Davidson 1996

Überblicksartikel

12

Candilis & Pollack 1997

Überblicksartikel

18

Gabbard et al. 1997

Überblicksartikel

18

Chiles et al. 1999

Überblicksartikel

91

Hofmann & Barlow 1999

Überblicksartikel

20

Frasch & Neumann 1999

Überblicksartikel

21

Baltensperger & Grawe 2001

Meta-Analyse

Abbas 2003

Überblicksartikel

Anzahl erfasster Kostenstudien

124 7

4

70

4

Kapitel 4 · Ergebnisse zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie

zudem die Canadian Psychological Association (2002, vgl. Hunsley 2003) und das UK Department of Health (2001) vor. Diese Publikationen stellen zwar keine Überblicksartikel bzw. Meta-Analysen im eigentlichen Sinn dar, enthalten jedoch eine Vielzahl relevanter Hinweise und Fakten. Dies gilt insbesondere auch für die Sammelwerke von Miller & Magruder (1999) sowie Vogel & Wasem (2004). Zu den einflussreichsten Übersichtsarbeiten gehören Mumford et al. (1984), Gabbard et al. (1997) und Chiles et al. (1999) sowie aus dem deutschen Sprachraum Frasch & Neumann (1999) und Baltensperger & Grawe (2001). Im vorliegenden Abschnitt fassen wir die zentralen Befunde der früheren Übersichtsarbeiten zusammen, bevor wir dann im Abschnitt 4.3. die Ergebnisse der von uns identifizierten Originalarbeiten auswerten. In einer frühen Pionierarbeit legten bereits 1962 Dührssen und Jorswieck eine 5-Jahres-Katamnese bei 1004 Patienten in psychoanalytischer Langzeitbehandlung vor (vgl. auch Dührssen 1962). Bei einer Subgruppe ihrer Patienten verfügten sie über genaue Angaben der Krankenversicherung zu Krankenhausaufenthalten. Dührssen und Jorswieck vergleichen nun die Krankenhaustage für die 5 Jahre vor und nach psychoanalytischer Therapie bei 125 behandelten Patienten mit denjenigen von 100 unbehandelten Patienten (hier war es nach Anamnese nicht zur Behandlung gekommen) und mit 100 Versicherten, die keinerlei Kontakt zu ihrer psychotherapeutischen Einrichtung gehabt hatten. Sie fanden eine durchschnittliche Reduktion der stationären Behandlungstage von 85% (von 26 auf 6 Tage über 5 Jahre) nach psychodynamischer Behandlung. Für die unbehandelten Patienten ergaben sich Werte von 26 bzw. 24 Spitaltagen, für die allgemeine Kontrollgruppe 10 und 12 Tage. Wie bei einer Pionierarbeit zu erwarten, ist die Methodik dieser Studie aus heutiger Sicht als ungenügend zu kritisieren. So wurden die Patienten und Therapien nicht aussagekräftig beschrieben (fehlende Diagnosen, Geschlecht, Alter etc.), die Erhebung erfolgte rein retrospektiv, es fehlten Angaben zu den Therapiekosten oder zum Therapieerfolg etc. Dennoch war diese Studie maßgeblich für die Aufnahme psychotherapeutischer Leistungen in die deutsche gesetzliche Krankenversicherung verantwortlich. Aufgrund ihres Pioniercharakters und weil sie in den Übersichtsarbeiten z.T. nicht enthalten ist (z.B. Baltensperger & Grawe 2001), haben wir sie an dieser Stelle exemplarisch dargestellt. Im englischen Sprachraum spielte 15 Jahre später die Arbeit von Cummings (1977) eine ähnliche, wenngleich nicht so weit reichende Pionierrolle. Dieser Autor untersuchte Mitglieder der Kaiser Permanente Organisation. Mitglieder, die eine Psychotherapie (mit 1–20 Sitzungen/ Jahr, durchschnittlich 48 Sitzungen) erhalten hatten, zeigten im auf die Psychotherapie folgenden Jahr weniger Arztbesuche und eine generelle Einsparung bei den Gesundheitskosten. Allerdings galt dies nur für kürzere Therapien. Bei längeren Therapien traten dagegen ein negativer Ef-

71 4.2 · Frühere Literaturübersichten zu Kosten und Nutzen

fekt und höhere Kosten auf. Eine chronologische Übersicht über weitere frühe Studien geben die . Tab. 4.5 (Cost Offset) und . Tab. 4.6 (KostenNutzen-Analysen).

. Tab. 4.5. Chronologische Übersicht über frühe Studien zur Reduktion von Kostenfaktoren durch Psychotherapie bei psychischen Erkrankungen (modifiziert nach Jacobi 2001)

Autoren

Diagnose

Gruppen

Datenbasis

KostenFaktoren

Ergebnisse

Follette & Cummings (1967)

versch. Psychische Störungen

diagn. Interview kurze PT lange PT ohne Bhdlg.

insgesamt N = 304, Patienten des psychiatr.- psychol. Dienstes, Erhebung für 1 Jahr vor und 5 Jahre nach Therapiebeginn

Nutzung medizinischer Einrichtungen

4 psychol. Behandelte beanspruchten seltener Leistungen nach PT als Unbehandelte 4 stationäre Tage verringerten sich um 52% 4 diagn. Maßnahmen sanken um 71%

Goldberg et al. (1970)

Neurosen, Psychosen

a) kurze PT b) ohne Bhdlg.

insgesamt N = 256, Erhebung für 1 Jahr vor und 1 Jahr nach der Therapie

Nutzung medizinischer Einrichtungen

4 60% der Pat. sign. weniger Arztbesuche 4 Arztkontakte verringerten sich um 31% 4 diagn. Maßnahmen sanken um 30%

Ginsberg & Marks (1977)

Neurosen

Verhaltenstherapie

N = 42 , Erhbg. für 3 Monate vor und nach der Therapie, keine Kontrollgruppe

Arztkontakte, stationäre Aufenthalte, Arbeitsunfähigkeit

4 86% weniger Psychiatrie-Aufenthalte 4 50% weniger Arztbesuche 4 56% weniger Krankschreibungen

Rosen & Wiens (1979)

versch. Psychische Störungen

a) Diagnostik + PT b) nur Diagnostik c) ohne Bhdlg.

insgesamt N = 468, alle Patienten einer medizin.psychol. Ambulanz von ’70 – ’75

Nutzung medizinischer Einrichtungen

4 a) und b) sign. weniger Leistungen als c) 4 stationäre Tage verringerten sich um 35% 4 Ambulanzbesuche sanken um 41% 4 diagn. Maßnahmen wurden um 40% weniger

Longobardi (1981)

Neurosen

VT + RET ohne Bhdlg.

insgesamt N = 34, Erhebung für 6 Monate vor & nach PT

Nutzung medizinischer Leistungen

4 Nutzung medizinischer Leistungen sank bei a) um 64%, bei b) leichter Anstieg

4

72

Kapitel 4 · Ergebnisse zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie

. Tab. 4.6. Chronologische Übersicht über frühere Kosten-Nutzen-Analysen von Psychotherapie bei psychischen Erkrankungen (Angaben in DM zu den Wechselkursen 1999, modifiziert nach Jacobi 2001)

Autoren

Diagnose

Therapie

Datenbasis

Kostenfaktoren

Ergebnisse (pro Patient)

Ginsberg et al. (1984)

Neurosen

Verhaltenstherapie, durch geschulte Pfleger

insgesamt N = 46, VG und KG (randomisierte Zuweisung), Erhebung für 1 Jahr vor und 1 Jahr nach Therapie

ambulante und stat. Behandlungen, Arbeitsunfähigkeit, weitere (z.B. Reisekosten)

4 durchschnittl. Therapiekosten bei 40 Pat.: 289 engl. Pfund 4 durchschnittl. Nutzen: £ 152 => PT-Kosten nach 1,9 Jahren aufgewogen

Gathmann (1990)

Psychosom. Störungen

Stationäre Behandlung

N = 110, retrospektive Erhebung 4 Jahre nach Therapieende

ambulante und stat. Behandlungen, Medikamente, Arbeitsunfhgkt.

4 durchschnittl. Nutzen: ca. DM 28’000 4 Nettonutzen je Patient: ca. DM 11’100

SalvadorCarulla et al. (1995)

Panik

ambulante Psychotherapie

N = 61, Erhebung für 1 Jahr vor und das Jahr während der Therapie

medizin. und psycholog. Behandlungen, stat. Aufenthalte, Laboruntersuchungen, Arbeitsunf.

4 psychol. Behandlungskosten stiegen 4 alle anderen Kosten sanken 4 insgesamt Verringerung d. Kosten p.P. im Jahr nach Diagnose: $ 569

4

4.2.1 Cost Offset Die Arbeitsgruppe von Mumford führte als erste Meta-Analysen zum Cost Offset-Effekt aufgrund von Psychotherapien durch. Bereits 1980 hatten Schlesinger und Mumford elf retrospektive, kontrollierte Studien zu verschiedenen Psychotherapien bei unterschiedlichen Störungsbildern ausgewertet. Es zeigte sich, dass psychotherapeutisch behandelte Patienten medizinische Einrichtungen in den zwei Jahren nach Therapie seltener aufsuchten. Die Nutzung sank im Durchschnitt um 25%. Mumford et al. (1984) analysierten die Ergebnisse von 58 Studien zum Einfluss psychologischer Interventionen auf Gesundheitskosten. 26 Studien waren naturalistische Evaluationen entsprechend dem Design 1 in Abbildung 8, 32 Studien hatten ein experimentelles Design mit Kontrollbedingungen (Designs 2 und 3 in Abb. 7), davon 22 Studien mit Zufallszuweisung. Insgesamt zeigten sich in 85% der erfassten Studien ein »Cost Offset« Effekt nach psychologischer Intervention (im Wesentlichen durch Verringerung stationärer Leistungen). Dieser Effekt betrug rund 20% der Ausgangskosten und war besonders stark bei älteren Patienten (über 55 Jahre). Die 22 methodisch strengeren Studien mit Zufallszuweisung zu

73 4.2 · Frühere Literaturübersichten zu Kosten und Nutzen

den experimentellen Bedingungen zeigten im Durchschnitt eine Reduktion der stationären Behandlungstage um 1.5 Tage unter das Niveau der Kontrollgruppe (8.5 Tage). Die Befunde von Mumford et al. können jedoch nicht ohne weiteres auf die heutige Situation oder auf andere Länder übertragen werden. Seit 1984 hat sich das Gesundheitssystem in vielen Ländern stark verändert, darüber hinaus ist die Bedeutung psychischer Störungen in den Industriestaaten noch gewachsen. Mumford et al. (1984) hatten zudem nicht zwischen Psychotherapie und anderen Formen psychologischer Intervention differenziert (z.B. war psychologische Operationsvorbereitung mit eingeschlossen). Gabbard et al. (1997) wiederholten daher die Analyse für die Jahre 1984–1994. Sie beschränkten sich jedoch ausschließlich auf Psychotherapie-Studien bei Patienten mit schweren psychischen Störungen und Sucht (Operationsvorbereitung war explizit nicht mit eingeschlossen). Zugleich erweiterten sie die Auswertung durch Berücksichtigung der Arbeitsausfallkosten zu einer umfassenderen Analyse der ökonomischen Auswirkungen von Psychotherapie. Von den insgesamt 18 Studien, die ihren klar definierten Ein- und Ausschlusskriterien genügten, waren 10 experimentell mit Zufallszuweisung (Designtypen 2 und 3), 8 ohne Zufallszuweisung (Designtyp 1). In 88% der Studien folgte auf Psychotherapie eine globale Kosteneinsparung durch Reduktion von Hospitalisierungen, Medikamenten und Produktivitätsverlusten (80% der randomisierten und 100% der nicht randomisierten Studien). Chiles et al. (1999) führten eine weitere Metaanalyse zum Cost Offset bei medizinischen Leistungen in der Nachfolge von Mumford et al. (1984) durch. Anders als Gabbard et al. (1997) beschränkten sich nicht auf Psychotherapie im engeren Sinne, sondern untersuchten generell psychologische Interventionen bei Patienten mit psychischen Störungen einschließlich Sucht, mit chirurgischen Eingriffen oder hoher Inanspruchnahme des Versorgungssystems. Ihre Fragestellung lautete »Können psychologische Interventionen medizinische Kosten senken bzw. ihre eigenen Kosten decken? Sie werteten 91 Studien aus den Jahren 1967–1997 aus, wobei sie u.a. Behandlungssettings, behandelnde Personen, Behandlungsmethoden und die Art der Outcome-Messung berücksichtigten. Die Ergebnisse replizierten Mumford et al. (1984) und zeigten eine durchschnittliche Einsparung von 25% aufgrund der psychologischen Interventionen. 90% aller Studien zeigten einen Cost Offset-Effekt, bei etwa einem Drittel der Studien wurden auch nach Abzug der Kosten der psychologischen Intervention substantielle Einsparungen festgestellt. Nur 7% der Studien mit entsprechenden Angaben fanden, dass die Kosten der psychologischen Maßnahmen die Einsparungen überstiegen. Während bei den Therapiegruppen eine mittlere Reduktion der Gesundheitskosten um 15.7% auftrat, stiegen in den Kontrollbedingungen die Kosten um 12.3%. Es ergaben sich größere Effektstärken für Patienten im stationären als im ambulanten Setting. Die mittlere Reduktion der Spitaltage betrug

4

74

Kapitel 4 · Ergebnisse zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie

2.5 Tage. Unabhängig vom Setting waren die Effekte bei Psychoedukation signifikant größer. Größere Effekte zeigten sich auch bei Patienten mit chirurgischen Eingriffen im Vergleich zu Patienten mit diversen medizinischen Problemen (Krebserkrankung, kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes).

4

! Insgesamt kamen die Autoren zu dem Schluss, dass psychologische Maßnahmen (Gesundheitspsychologie, Verhaltensmedizin, psychiatrisch-psychologische Beratung) bei der Mehrheit der Patienten zum Kostenausgleich bzw. zu Netto-Einsparungen führten.

Der größte Effekt zeigte sich bei der psychologischen Operationsvorbereitung von Patienten vor chirurgischen Eingriffen (vgl. hierzu auch die Übersicht von Frei & Greiner 2001 sowie Frei 2004 aus der Schweiz). Kritisch anzumerken sind die Heterogenität der Stichproben (diverse Komorbiditäten, Unterschiede im Schweregrad) und die unklaren Operationalisierungen der Therapieformen. Dies unterstreicht erneut, wie wichtig differenzierte und gut kontrollierte Studien für genauere Aussagen zur Effektivität sind. Fazit Literaturübersichten zum Cost Offset-Effekt: 4 Systematische Übersichtsarbeiten belegen übereinstimmend einen Cost Offset-Effekt psychotherapeutischer Behandlungen bei 85–90% aller Primärstudien. 4 Dies gilt auch, wenn wie bei Gabbard et al. (1997) nur klassische Psychotherapiestudien (d.h. z.B. keine psychologische Operationsvorbereitung) betrachtet werden. 4 Bei Kontrollbedingungen kommt es dagegen häufig zu Kostenanstiegen während des Untersuchungszeitraumes. 4 Die Reduktion macht 20–25% der Ausgangskosten aus, wobei in älteren Studien jedoch mit Arbeitsausfällen und z.T. stationären Behandlungen wichtige Kostenfaktoren fehlen. Wenn erhoben, zeigt sich hier in der Regel eine besonders ausgeprägte Kostenreduktion.

4.2.2 Kontrolle von Publikationsverzerrungen Im Abschnitt zur Wirksamkeit hatten wir auf den »publication bias« bei negativen oder nicht signifikanten Effekten verwiesen. Dieses Problem wird auch unter der Bezeichnung »file drawer effect« diskutiert. In seinem Standardwerk zu meta-analytischen Verfahren für die Sozialwissenschaften hat Rosenthal (1984) Methoden zur Kontrolle des File Drawer-

75 4.2 · Frühere Literaturübersichten zu Kosten und Nutzen

Effektes beschrieben. Diese basieren auf der Berechnung der Anzahl unpublizierter nicht signifikanter Ergebnisse, die benötigt würden, um die Ergebnisse einer Meta-Analyse publizierter Arbeiten auf eine Effektstärke von Null zu reduzieren. Hunsley (2003) legte eine derartige Analyse für die Arbeit von Chiles et al. (1999) zum Cost Offset-Effekt psychologischer Interventionen vor. Unter Verwendung der von Chiles et al. ermittelten gewichteten Effektstärke für 40 kontrollierte Studien und der Gleichungen 2.2 und 5.17 von Rosenthal (1984) berechnete der Autor die für eine Nullreduktion der Effektstärke erforderliche Zahl an unpublizierten Studien. Je nach angenommener Größe der durchschnittlichen Stichprobe ergaben sich die in . Tab. 4.7 aufgeführten Werte. Nimmt die durchschnittliche Stichprobengröße mit N=40 an, so wären demnach 2‘694 unpublizierte Studien mit Nullergebnissen erforderlich, um die von Chiles et al. (1999) in 40 Studien ermittelte durchschnittliche Effektstärke auf Null zu senken – ein sehr unwahrscheinlicher Zustand. Rosenthal (1984) schlug als konventionelle Toleranzgrenze zur Kontrolle des File Drawer-Effektes vor, die Zahl der erfassten publizierten Studien mit 5 zu multiplizieren und das Ergebnis um 10 zu erhöhen (das heißt, es wird angenommen, dass für jede publizierte Studie mehr als fünf nicht publizierte Studien mit Nullergebnissen vorliegen – eine sehr konservative Annahme). Dies ergibt bei Chiles et al. (1999) 5 × 40 + 10 = 210. Damit liegen die von Hunsley ermittelten Werte für alle drei angenommenen Stichprobengrößen weit höher. Trotz des in Abschnitt 3 erwähnten »publication bias« ist es also äußerst unwahrscheinlich, dass die empirisch beobachteten Kosteneinsparungen aufgrund psychologischer Interventionen artifizieller Natur sind.

. Tab. 4.7. Ergebnisse der Berechnungen von Hunsley (2003) zur Kontrolle des »File Drawer«-Effektes (»publication bias«) bei der Meta-Analyse von Chiles et al. (1999) zur Kosteneinsparung medizinischer Maßnahmen aufgrund psychologischer Interventionen nach der Methode von Rosenthal (1984). Dargestellt sind die Berechnungen für drei verschiedene Stichprobengrößen (jeweils Gesamtzahl aller in einer Studie untersuchten Patienten)

Angenommene durchschnittliche Stichprobengröße in Studien zu psychologischen Interventionen

Anzahl unpublizierter Studien mit nicht signifikanten Ergebnissen, die für eine Reduktion der Effektstärke auf Null erforderlich wären

N = 20

1’327

N = 40

2’694

N = 60

4’081

4

76

Kapitel 4 · Ergebnisse zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie

Fazit Kontrolle möglicher Publikationsverzerrungen: Die Kontrolle des »File Drawer«-Effektes mithilfe der Methode von Rosenthal (1984) zeigt, dass die beobachteten Kostenreduktionen nach Psychotherapie nicht plausibel durch mögliche Publikationsverzerrungen erklärt werden können.

4

4.2.3 Kosten-Effektivität Die oben besprochene Cost Offset-Literatur wurde auch in den anderen erfassten Übersichtsarbeiten prominent berücksichtigt (vgl. Miller & Magruder 1999, Baltensperger & Grawe 2001, UK Department of Health 2001, Canadian Psychological Association 2002, Lambert 2004). Darüber hinaus erfasste die Literaturauswertung der Canadian Psychological Association (2002, vgl. auch Hunsley 2003) vor allem die Kosten-Effektivitäts-Analysen von Gould et al. (1995) und Antonucci et al. (1997) zu Angststörungen und Depressionen, zwei der wichtigsten Indikationen der Psychotherapie. Da diese für unser Thema unmittelbar relevanten Arbeiten in der Schweizer Literaturübersicht von Baltensperger und Grawe (2001) nicht enthalten sind, werden sie hier ausführlich zusammengefasst. Gould et al. (1995) verglichen die Behandlung der Panikstörung mit kognitiver Verhaltenstherapie oder Psychopharmaka über einen Zeitraum von zwei Jahren. In einem ersten Schritt belegten sie vergleichbare kurzfristige Effektivität für beide Behandlungsansätze mittels einer MetaAnalyse von 43 randomisierten kontrollierten Studien (1974–1994, durchschnittliche Effektstärke Antidepressiva und hochpotente Benzodiazepine: .53, kognitive Verhaltenstherapie: .55). Sie fanden keine signifikanten Unterschiede zwischen Antidepressiva und Benzodiazepinen und keine Hinweise auf bessere Therapieergebnisse bei Kombination von Medikamenten und Verhaltenstherapie. Im zweiten Schritt schätzten die Autoren die Kosten der verschiedenen Behandlungsmodalitäten in den USA. Für kognitive Verhaltenstherapie setzten sie $ 90/Sitzung Einzeltherapie, $ 40/Sitzung Gruppentherapie, $ 60 für individuelle »booster sessions« (Auffrischungssitzungen). Für eine Sitzung medikamentöser Behandlung setzten sie $ 60 an, $ .60 für 1 mg generisches Alprazolam, $ .09 für 50 mg generisches Imipramin, $ 1.93 für 20 mg Marken-Fluoxetin (Prozac). Für alle Behandlungsmodalitäten wurde eine diagnostische Sitzung zu Beginn angenommen (mit gleichen Kosten). Für kognitive Verhaltenstherapie wurden 15 Sitzungen sowie eine zusätzliche Sitzung im ersten Jahr der Behandlung und vier zusätzliche Sitzungen im zweiten Behandlungsjahr berechnet. Für medikamentöse Therapie wurden zwei Sitzungen im ersten Monat, monatliche Sitzungen in den nächsten drei

77 4.2 · Frühere Literaturübersichten zu Kosten und Nutzen

Monaten, drei weitere Sitzungen im ersten Jahr und vier zusätzliche Sitzungen im zweiten Jahr angenommen. Die Dosierung der Medikamente entsprach den Werten aus klinischen Studien. Es wurden keine Kosten für Transport, Arbeitsausfall oder Verwaltung eingesetzt. Auf der Basis dieser Werte, die evidenzbasierten Richtlinien für die Therapie entsprechen, berechneten die Autoren dann die folgenden Kosten für eine Behandlung von zwei Jahren:

. Tab. 4.8. Behandlungskosten der Panikstörung über zwei Jahre für kognitive Verhaltenstherapie und Psychopharmaka in den USA (Gould et al. 1995)

Behandlungstyp

Therapiekosten in US $

Kognitive Verhaltenstherapie (Einzeltherapie)

1650

Kognitive Verhaltenstherapie (Gruppentherapie)

840

Alprazolam (niedrige Dosis)

1800

Alprazolam (hohe Dosis)

3312

Imipramin

912

Fluoxetin

3504

Da der Endpunkt der Therapie (Therapieerfolg) nach den Ergebnissen der vorangegangenen Meta-Analyse vergleichbar war, zeigen diese Ergebnisse, dass kognitive Verhaltenstherapie bei gleicher Effektivität kostengünstiger ist als die meisten gebräuchlichen Medikamente. Die Kostenanalyse war allerdings unvollständig (indirekte Kosten und ein Teil der direkten Kosten nicht erfasst), sie berücksichtigte zudem nicht die bei medikamentösen Behandlungen sehr viel höheren Abbrecher- und Rückfallraten. Antonucci et al. (1997) berichteten eine umfassende Kosten-Effektivitäts-Analyse zur Depressionsbehandlung auf der Basis früherer MetaAnalysen sowie Daten aus Fachzeitschriften mit Peer Review bzw. aus staatlichen ökonomischen Informationen. Als Ergebnis dieser Quellen konnte übereinstimmend festgestellt werden, dass (1) Psychotherapie (v.a. kognitive Verhaltenstherapie) und Antidepressiva bei unipolaren Depressionen vergleichbare Therapieeffekte aufweisen, (2) Kombinationsbehandlungen im Durchschnitt nicht bedeutsam bessere Ergebnisse liefern und (3) medikamentöse Behandlungen deutlich höhere Abbrecherraten aufweisen. Antonucci et al. (1997) berücksichtigten in ihrer Modellrechnung direkte Kosten für Patienten oder Kostenträger (Krankenversicherungsausgaben, Medikamente, verlorene Einkünfte, Reisekosten, Komorbiditätskosten), direkte Kosten der Gemeinschaft (ökonomischer Multiplikatoreneffekt verlorener Einkünfte, daraus resultierender

4

78

4

Kapitel 4 · Ergebnisse zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie

Steuerverluste und reduzierter Gemeinschaftsleistungen der Patienten) und indirekte Kosten der Gesellschaft (verlorene Arbeitsproduktivität während Behandlung, ökonomischer Multiplikatoreneffekt und Steuerausfall aufgrund der Produktivitätsverluste, verlorenes Einkommenspotential durch Suizid). Sie berücksichtigten Kosten für eine zweijährige Behandlung einschließlich Schätzungen für Rückfälle, Therapieabbrecher und Folgebehandlungen. Obwohl Antonucci et al. die Bedeutung der Kosten von Therapie-Nebenwirkungen betonten, waren sie außerstande genügend Daten zur Bezifferung dieses Kostentyps zu erhalten. Sie mussten Nebenwirkungskosten daher unberücksichtigt lassen. Auf dieser Basis berechneten die Autoren dann die Kosten für eine zweijährige kognitive Verhaltenstherapie (20 Sitzungen Einzeltherapie) sowie für eine gleichlange medikamentöse Therapie mit dem SSRI Fluoxetin (Prozac, 40 mg/Tag und psychiatrische Managementtermine alle 6 Wochen). Im Unterschied zu Gould et al. (1995) präsentierten sie damit nicht eine Palette verschiedener Optionen, sondern beschränkten sich auf die beiden nach der Fachliteratur aktuell wichtigsten Behandlungstypen. Die Ergebnisse sind in . Tab. 4.9 zusammengefasst. Sie zeigen eine größere Kosten-Effektivität für die kognitive Verhaltenstherapie, die rund 30% günstiger war als die medikamentöse Therapie. Bei den direkten Therapiekosten betrug die Differenz zugunsten der Psychotherapie sogar 75% ($ 5’470), bei direkten Gemeinschaftskosten hingegen ergab sich ein Vorteil für die Pharmakotherapie von $ 307 (25%). Für die Kombination beider Behandlungsarten berechneten Antonucci et al. Kosten von $ 31’245 unter der Voraussetzung, dass beide Behandlungen von einer Person durchgeführt werden. Wie bereits bei Gould et al. (1995) wurden hier die langfristigen Verläufe nach Therapieende und die Kosten möglicher Nebenwirkungen nicht berücksichtigt. In dem Ausmaß, in dem Psychotherapie bessere langfristige Aufrechterhaltung

. Tab. 4.9. Behandlungskosten der unipolaren Depression über zwei Jahre für kognitive Verhaltenstherapie und Antidepressiva (Fluoxetin) in den USA (Antonucci et al. 1997)

Kostenart

Therapiekosten in US Dollars Kognitive Verhaltenstherapie

Fluoxetin

23’696

30’733

Direkte Kosten für Patienten/Kostenträger

7’268

12’738

Direkte Kosten für Gemeinschaft

1’253

946

Indirekte Kosten für Gesellschaft

15’174

17’049

Gesamtkosten

79 4.2 · Frühere Literaturübersichten zu Kosten und Nutzen

der Therapieerfolge und geringere Nebenwirkungen aufweist, erhöht sich der Kosten-Effektivitäts-Vorteil weiter. Frasch & Neumann (1999) fanden mit einer Literatursuche in 8 Datenbanken zu 17 fachspezifischen und 14 ökonomischen Stichwörtern für den Zeitraum 1987–1995 insgesamt 21 Originalarbeiten zu Kostenfragen der Psychotherapie bei Erwachsenen (16 Kosten-Nutzen-Analysen, 4 Kosten-Effektivitäts-Analysen und eine Kosten-Nutzwert-Analyse). Die methodische Qualität der Studien wurde im Durchschnitt als gut eingestuft. 14 der 16 Kosten-Nutzen-Analysen (88%) erbrachten ein positives Ergebnis, d.h. die Einsparungen durch die Therapie waren größer als die Kosten der Therapie. Die Autoren bemängeln jedoch in einer Reihe von Studien ungenügende Angaben zu den Therapiekosten. Die bisher umfassendste Sekundäranalyse stammt aus der Schweiz. Baltensperger & Grawe (2001) erfassten insgesamt 124 bis 1995 publizierte Kosten-Nutzen-Studien. Dabei werteten sie Datenmaterial zu rund 80’000 Patienten mit einer großen Breite von Diagnosen aus (Alkoholismus, psychophysiologische Störungen wie Asthma bronchiale oder chronische Schmerzen, Angststörungen, affektive Störungen, Schizophrenien und körperliche Störungen z.B. bei Operationsvorbereitungen). Die meisten Studien stammten aus den USA, einige auch aus England und Deutschland. . Tab. 4.10 zeigt, welche therapeutischen Vorgehensweisen untersucht wurden (basierend auf den 80 Studien, für die diese Information verfügbar war). 91% aller Studien betreffen Einzeltherapien. Erneut zeigte sich, dass der weitaus größte Teil der Studien kognitivverhaltenstherapeutische oder andere störungsspezifische Verfahren untersuchte. Da der Fokus der Auswertung auf Psychotherapie lag, wurden die insgesamt 53 Arbeiten zur psychologischen Operationsvorbereitung

. Tab. 4.10. Relative Häufigkeit verschiedener therapeutischer Verfahren in Kosten-Wirkungsstudien psychologischer Interventionen (Baltensperger & Grawe 2001)

Therapeutisches Verfahren

Anteil an allen Kosten-WirkungsAnalysen (% von 80 Studien mit entsprechender Information)

(Kognitive) Verhaltenstherapie

45%

Kurzintervention in Health Maintenance Organizations

24%

Andere störungsspezifische Ansätze

18%

Psychodynamische Therapie

8%

Hypnose

4%

Humanistische Therapien

1%

4

80

Kapitel 4 · Ergebnisse zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie

als eine einzige Studie gewertet. Die Bandbreite der erfassten Therapiedauern beträgt 2–118 Therapiesitzungen mit einem Durchschnitt von 22 Sitzungen (Standardabweichung: 20). Der Spitzenwert von 118 Sitzungen stellt einen Ausreißer dar, der aufgrund der Selektion der 1.4% Patienten mit besonders hohen Sitzungszahlen in der betreffenden Studie zustande kam (Follette & Cummings 1967). Kosten-Nutzen-Belege lagen vor allem für Therapiedauern unter 25 Sitzungen vor (53%), Belege für Therapiedauern über 70 Sitzungen fehlten gänzlich. Auch in dieser Sekundäranalyse zeigte sich ein deutlicher Cost Offset-Effekt psychologischer Interventionen für medizinische Maßnahmen, wie aus . Tab. 4.11 ersichtlich. Erneut kam die größte Einsparung durch die Reduktion stationärer Leistungen zustande. Die beobachtete Reduktion der Arztbesuche mit diagnostischen Abklärungen betrug 26%, diejenige der Spitaltage 54%. In allen acht Studien, in denen dies untersucht wurde, erwiesen sich diese Reduktionen als stabil oder vergrößerten sich weiter während der erfassten 2–5 Jahre nach Therapieende. Aufbauend auf Mumford et al. (1984) berechneten Baltensperger & Grawe (2001) die durchschnittliche Einsparung von 0.9 Spitaltagen aufgrund psychologischer Operationsvorbereitung mit CHF 829 pro Patient (Kostenansatz von 1994). Dies ist rund sechsmal mehr als die Kosten einer Psychotherapiesitzung, so dass ein sehr gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis gegeben ist. Weiterhin war die Operationsvorbereitung effektiver, wenn sie von einer psychologischen Fachperson mit spezifischen psychotherapeutischen Techniken durchgeführt wurde, als wenn sie von nicht entsprechend ausgebildetem Personal vorgenommen wurde (Reduktion der Spitaltage um 2 bzw. 0.8 Tage). Die Mehreinsparung durch Verwendung psychologischer Fachpersonen betrug demnach CHF 1‘093 (Kostenansatz 1994) und damit ein Vielfaches allfälliger Lohnunterschiede. Die stationären Einsparungen überstiegen bereits im ersten Jahr nach Therapiebeginn die Kosten für die Psychotherapie, bei den ambulanten Einsparungen war dies in der Regel im zweiten Jahr der Fall. In drei Stu-

4

. Tab. 4.11. Durchschnittliche Reduktion pro Patient der Inanspruchnahme medizinischer Maßnahmen nach psychologischer Intervention (Vergleich 1 Jahr vor und nach Therapie, nach Baltensperger & Grawe 2001)

Medizinischer Sektor

Mittelwertsdifferenz (Standardabweichung)

Anzahl Studien

Signifikanz (t-Test)

alle

–3.2 (4.9)

26

p Med + Kontrolle bei Therapieende und Katamnese

Burgio et al. 1998, Goode et al. 2003

Insomnie

PT > Med, Plazebo bei Therapieende und Katamnese

Morin et al. 1999

Depression, körperliche Gesundheit bei Alzheimer-Patienten

PT > medizinische Routineversorgung

Teri et al. 2003

Golfkriegs-Syndrom

PT > Routine- oder Alternativbehandlungen bei Katamnese (kleine Effekte)

Donta et al. 2003

Depression

PT allein = Med allein, Kombination PT + Med > als Monotherapie bei Katamnese

Keller et al. 2000

Panikstörung

Therapieende: PT = Med; PT oder Med > Plazebo Katamnese: PT > Med; PT > Kombination PT + Med

Barlow et al. 2000

Depression bei armen jungen Frauen aus Minderheiten

PT oder Med > Gemeindeversorgung (Therapieende, keine Katamnese)

Miranda et al. 2003

Fazit Originalarbeiten zu Kosten und Nutzen von Psychotherapie: 4 Insgesamt konnten 54 Studien mit über 13‘000 Patienten aus den letzten 10 Jahren identifiziert werden. Die Studien deckten die wichtigsten Indikationsfelder ab und hatten in 71% der Fälle den Cost Offset-Effekt, in 65% Kosten-Nutzen-Effekte zum Gegenstand. 4 In 95% der einschlägigen Studien wurde eine bedeutsame Kostenreduktion durch Psychotherapie gefunden (Cost Offset-Effekt), in 86% der entsprechenden Studien zeigte sich zudem eine Netto-Einsparung (positives Kosten-Nutzen-Verhältnis nach Abzug der Psychotherapiekosten). In 76% der diesbezüglichen Studien war Psychotherapie gegenüber medikamentösen Strategien überlegen bzw. erbrachte einen signifikanten Zusatznutzen. 4 Psychotherapie ist demnach nicht nur wirksamer, sondern auch billiger als keine Therapie bzw. eine Vielzahl von Vergleichbedingungen. Es darf jedoch nicht über verschiedenen Formen von Psychotherapie hinweg verallgemeinert werden. Diese positiven Befunde betreffen v.a. kognitiv-behaviorale Therapien, in geringerem Um6

117 4.3 · Originalarbeiten zu Kosten und Nutzen

fang auch andere störungsspezifische Kurzinterventionen und psychodynamische Kurztherapien. 4 Für psychodynamische Langzeittherapien liegen nur wenige Studien vor. Diese führten entweder keine Kosten-Nutzen-Analysen durch oder erbrachten trotz eines Cost Offset-Effektes ein negatives Kosten-Nutzen-Verhältnis. Gleichzeitig liegen kosten-effektivere psychotherapeutische Alternativen mit zumindest gleicher klinischer Wirksamkeit vor.

4

5 5 Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse auf die Routinepraxis 5.1

Wirksamkeitsergebnisse – Effectiveness – 120

5.2

Kosten-Nutzen-Ergebnisse – 122

120

Kapitel 5 · Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse auf die Routinepraxis

Inwieweit sind die unter Forschungsbedingungen erzielten Ergebnisse zur Psychotherapie auf die Routineversorgung übertragbar? Die Beurteilung der Aussagekraft und der Reichweite empirischer Untersuchungen hängt wesentlich von der Verallgemeinerbarkeit der Befunde und damit von der externen Validität der Studien ab. Wir erörtern im Folgenden diese Problematik für die Wirksamkeit und die Kosten-Nutzen-Aspekte der Psychotherapie.

5.1

5

Wirksamkeitsergebnisse – Effectiveness

Bei den in Abschnitt 3 referierten Wirksamkeitsdaten handelt es sich um Ergebnisse systematischer und möglichst kontrollierter Forschung, d.h. um Aussagen zur Efficacy. Die Ergebnisse dieser Wirksamkeitsstudien können aus verschiedenen Gründen nicht Eins-zu-Eins auf die alltägliche Therapiesituation übertragen werden. Zum einen könnten in Forschungsumgebungen und Routinepraxis unterschiedliche Selektionsmechanismen operieren und dadurch eine mangelnde Vergleichbarkeit der Patientenpopulationen bewirken. So wurden in vielen Studien Komorbiditäten so weit als möglich ausgeschlossen. Bis heute ist nicht abschließend geklärt, ob in der Praxis oder in der Forschung im Durchschnitt schwerer gestörte Patienten behandelt werden und in welchem Ausmaß die Patienten mit unterschiedlichen Erwartungen an Therapiesettings herantreten. Zum anderen existiert auch eine Publikationsverzerrung: Es gibt Hinweise darauf, dass bevorzugt diejenigen Studien veröffentlicht werden, die über eine erfolgreiche Anwendung der Therapien berichten. Dadurch würde die Erfolgsquote der Therapien überschätzt. Unklar ist jedoch, ob nicht gegenläufige Mechanismen wie etwa die Behandlung schwerer gestörter Patienten, die Begrenzung der Therapiedauer oder die häufigere Verwendung jüngerer Therapeuten und Therapeutinnen diesen Effekt wieder aufheben. Letzten Endes handelt es sich dabei um empirische Fragen, die nur durch entsprechende Forschung beantwortet werden können. Dabei müssen die Efficacy-Studien durch die Ergebnisse von Evaluationen unter Routinebedingungen ergänzt werden, d.h. durch Angaben zur Effectiveness. Inzwischen liegen eine ganze Reihe derartiger Studien vor. Bei der Therapie von Erwachsenen zeigen Effectiveness-Studien im Allgemeinen gute Ergebnisse (Shadish et al. 1997, 2000, Hahlweg et al. 2001, Kirk 1983, Lueger et al. 2000). Bei der Therapie von Kindern ergaben sich dagegen kaum positive Effekte (Weisz et al. 1992, 1995, Weiss et al. 1999, 2000). Weisz (1998, vgl. auch Weiss et al. 2000) hat darauf hingewiesen, dass in den kontrollierten Wirksamkeitsstudien vor allem verhaltenstherapeutische Verfahren (mit durchschnittlich positivem Ergebnis) verwendet wurden, in den Effectiveness-Studien im klinischen Alltag dagegen vorwiegend andere Therapieverfahren (mit durchschnittlich le-

121 5.1 · Wirksamkeitsergebnisse – Effectiveness

5

diglich minimalen Erfolgen). Werden jedoch in kontrollierter Forschung und unter klinischen Alltagsbedingungen die gleichen Therapieverfahren eingesetzt, so ergeben sich auch durchaus vergleichbare Therapieeffekte wie die Effectiveness-Studien zu Erwachsenen belegen (z.B. zu kognitiver Verhaltenstherapie bei Panikstörungen: Sanderson et al. 1998, Wade et al. 1998; bei Depressionen: Organista et al. 1994, Peterson & Halstead 1998, Persons et al. 1988 und 1999; bei Zwangsstörungen: Kirk 1983; allgemein bei Angststörungen: Hahlweg et al. 2001; bei oppositionellem Trotzverhalten im Kindesalter: Taylor et al. 1998, Tynan et al. 1999; siehe auch die sog. Consumer-Reports-Studie zur Patientenzufriedenheit aus den USA, Seligman 1995, und deren deutsche Replikation (Hartmann & Zepf 2003), aber auch die Kritik daran von Paulus). Selbstverständlich stellt sich immer die Frage, inwieweit die Ergebnisse über verschiedene Länder hinweg mit z.T. recht unterschiedlichen Gesundheitssystemen und Kulturen generalisiert werden können. Eine aktuelle, noch nicht veröffentliche Effectiveness-Studie zu Schweizer Situation wurde vom Autor des vorliegenden Buches durchgeführt. Dabei wurde eine repräsentative Bevölkerungsstichprobe von 1000 Personen aus der Deutsch- und der Westschweiz in den Sprachen Deutsch und Französisch untersucht (Alter 18–65 Jahre). In einem ersten Schritt wurde festgestellt, ob Beschwerden aus den Bereichen Angst und Depression (den häufigsten Indikationen für Psychotherapie) vorlagen. Dann wurde erfasst, ob die Betroffenen für diese Probleme jemals Behandlungen oder Beratungen irgendeiner Art erhalten hatten. Im Anschluss wurde nach

. Abb. 5.1. »Effectiveness« verschiedener Therapieformen in der Schweiz. Repräsentative Bevölkerungsstudie des Instituts für Psychologie der Universität Basel bei 1000 Erwachsenen (Deutsch- und Westschweiz). Ausgangsbasis sind alle Personen, die jemals eine Behandlung für Ängste oder Depressionen erhalten hatten. Dargestellt ist, bei welchem Anteil der damit behande lten Patienten die jeweilige Intervention zu einem dauerhaften Erfolg geführt hatte und bei wie viel Prozent aller behandelten Personen die verschiedenen Typen von Behandlung oder Beratung angewandt wurden.

122

5

Kapitel 5 · Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse auf die Routinepraxis

den Arten der Behandlung und dem langfristigen Behandlungserfolg gefragt. Die Ergebnisse zu diesen beiden letzten Fragen sind in . Abb. 5.1 zusammengefasst. Sie zeigen, dass psychotherapeutische Verfahren zwar seltener angewandt werden als Medikamente oder (v.a. ärztliche) Beratung, aber deutlich höhere Werte für langfristigen Erfolg erreichen. Den höchsten Wert für dauerhaften Erfolg erzielten die kognitiven und Verhaltenstherapien. Diese wurden bemerkenswerterweise jedoch am seltensten eingesetzt. Diese Ergebnisse decken sich im Wesentlichen mit denjenigen, die Margraf & Poldrack (2000) für Deutschland in einer weiteren Repräsentativstudie ermittelt hatten. Es sei darauf hingewiesen, dass die medikamentöse Therapie die niedrigsten Werte für langfristige Wirksamkeit erreichte und die zweitniedrigsten Werte für stationäre Behandlungen (die teuerste Behandlungsform) angegeben wurden.

5.2

Kosten-Nutzen-Ergebnisse

Bei den Kosten-Nutzen-Ergebnissen kann die Frage nach der Übertragbarkeit der Forschungsbefunde auf die Routinepraxis noch eindeutiger beantwortet werden als bei den Ergebnissen zur Wirksamkeit der Therapien, da die große Mehrheit der publizierten Studien unter Praxisbedingungen durchgeführt wurde. Zwar dürfte dies mit dafür verantwortlich sein, dass viele der Studien Probleme mit ihrer internen Validität aufwiesen (z.B. häufige Verwendung unkontrollierter Prä-Post-Designs bzw. mangelhafte Randomisierung bei Studien mit Vergleichsgruppen). Andererseits weisen dadurch aber viele Studien eher den Charakter von Praxisevaluationen mit hoher externer Validität als von kontrollierten Experimenten auf. Diese können daher gut auf die klinische Alltagspraxis, unter deren Bedingungen sie ja durchgeführt wurden, verallgemeinert werden. Da die Einordnung einer Studie in die Kategorien »Efficacy« und »Effectiveness« nicht immer eindeutig möglich ist, wurde bei den erfassten Originalarbeiten jeweils festgelegt, ob die Psychotherapien unter Forschungsbedingungen bzw. in einer dafür spezialisierten Einrichtung erhoben wurden, oder sie unter klinischen Alltagsbedingungen erhoben wurden. Für alle 5 der oben referierten inhaltlichen Bereiche wurde jeweils die große Mehrheit der Studien unter Praxisbedingungen durchgeführt. Insgesamt traf dies auf 37 Studien zu (73% aller identifizierten Originalarbeiten), während nur 10 Studien eindeutig Forschungssettings zugeordnet werden konnten. Weitere vier Studien konnten nicht eindeutig eingeordnet werden. Es gab keinen Trend zu systematischen Unterschieden in Kosten-Nutzen-Ergebnissen zwischen Studien unter Forschungs- und unter Praxisbedingungen. Insgesamt können daher die Ergebnisse der publizierten Kosten-Nutzen-Studien gut auf die Routi-

123 5.2 · Kosten-Nutzen-Ergebnisse

nepraxis übertragen werden. Allerdings müssen für die korrekte Interpretation der Befunde zwei wichtige Fragen geklärt werden:

1. Können die positiven Kosten-Nutzen-Ergebnisse von Psychotherapie durch einen »publication bias« erklärt werden? 2. Wie repräsentativ sind die Studien im Hinblick auf die verwendeten Therapien und kann über verschieden Therapieformen hinweg generalisiert werden?

Ad 1: Den »publication bias« hatten wir bereits bei der Besprechung der Literaturübersichten erörtert (Abschnitt 4.2.). Dort hatten wir die Analyse von Hunsley (2003) zur Kontrolle des »File Drawer«-Effekts bei den Ergebnissen zum Cost Offset durch psychologische Interventionen nach der Methode von Rosenthal (1984) vorgelegt. Bei einer beobachteten durchschnittlichen Effektstärke von .34 und einer angenommenen Stichprobengröße von durchschnittlich 20 Patienten pro Bedingung errechnete Hunsley (2003), dass für jede publizierte Studie rund 67 unpublizierte Studien (Bandbreite je nach durchschnittlicher Stichprobengröße 33102) mit negativen Nullergebnissen vorliegen müssten, um die publizierten Befunde zu neutralisieren. Die von Rosenthal (1984) vorgeschlagene Toleranzschwelle von 5 Studien war damit weit überschritten, d.h. die Ergebnisse konnten nicht plausibel auf eine verzerrte Publikationspraxis zurückgeführt werden. Die von uns referierten 51 Originalstudien verfügten im Durchschnitt über deutlich größere Stichproben als N=20 pro Bedingung. Leider wurden in den meisten Studien keine Effektstärken berechnet, so dass eine analoge Analyse hier nicht durchgeführt werden kann. Unter der Annahme gleicher Effektstärke wäre jedoch aufgrund der viel größeren Stichproben ein noch größeres Missverhältnis zwischen publizierten und unpublizierten Studien zu erwarten. Bei einer durchschnittlichen Stichprobengröße von N=60 müssten für die 51 publizierten Studien 5’203 unpublizierte Studien mit Nullergebnissen vorliegen, um die durchschnittliche Effektstärke auf Null zu reduzieren. Setzt man den von uns als Median festgestellten Wert von N=150 ein, so steigt die Zahl der erforderlichen »Null-Studien« gar auf rund 13‘000. Diese Zahlen liegen weit jenseits der von Rosenthal als unterste Toleranzgrenze definierten Zahl von 265 »Null-Studien«. Es ist in keiner Weise realistisch, dass eine derartige Forschungsaktivität unbemerkt durchgeführt und in den Schubladen schlummern könnte. Auch bei geringeren Effektstärken würden sich noch immer Zahlen weit über der Toleranzgrenze von Rosenthal (1984) ergeben. Damit kann festgehalten werden, dass die in der neueren Originalliteratur berichteten positiven Kosten-Nutzen-Ergebnisse psychotherapeutischer Maßnahmen nicht plausibel durch Publikationsverzerrungen erklärt werden können.

5

124

Kapitel 5 · Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse auf die Routinepraxis

Ad 2: Die Verteilung der Therapieformen in der Forschung entspricht

5

nicht derjenigen im klinischen Alltag. Die Studien hatten vor allem kurze kognitiv-behaviorale Therapien und andere störungsspezifische Interventionen zum Gegenstand. Für diese wurden insgesamt sehr positive Kosten-Nutzen-Relationen festgestellt. In geringerem Umfang wurden auch psychodynamische Therapien untersucht. Dabei zeigte sich für individuelle psychodynamische Langzeittherapien nach wie vor ein großer Mangel an Daten. Die wenigen vorliegenden Kosten-Nutzen-Analysen erbrachten negative Kosten-Nutzen-Relationen und keine Hinweise auf eine spezifische klinische Wirksamkeit. Positive Kosten-Nutzen-Relationen konnten nur für psychodynamische Kurz- oder Gruppentherapien ermittelt werden. Grundsätzlich kann nicht von einer Form von Psychotherapie auf eine andere verallgemeinert werden. Die Generalisierung darf nur innerhalb der untersuchten Therapiemodalitäten erfolgen. Sofern diese Voraussetzung erfüllt ist, kann jedoch von den Studienergebnissen auf die Ergebnisse der Routinepraxis geschlossen werden, wie die obigen Ausführungen zu Frage 1 belegen. Darüber hinaus gibt es empirische Arbeiten, die dieses Thema direkt untersuchten. In einer randomisierten Studie zeigten Robson et al. (1984), dass die in Meta-Analysen berechneten Kosteneinsparungen nicht nur theoretisch erschlossen, sondern auch tatsächlich realisiert werden können. Sie untersuchten 429 Patienten mit psychischen Störungen, die sich an Allgemeinärzte wandten. Allgemeinärzte sind auch in Deutschland und der Schweiz regelmäßig die erste Anlaufstelle und haben einen höheren Anteil an den Psychopharmaka-Verordnungen als Psychiater. Die Hälfte der Patienten wurde routinemäßig medizinisch-medikamentös behandelt, die andere Hälfte nach dem Zufallsprinzip einer Psychotherapie bei Klinischen Psychologen zugewiesen. Die Psychotherapien waren meist kurz, 81% der Patienten erhielten 5 oder weniger Sitzungen. Die beiden Patientengruppen unterschieden sich nicht nach in allen erhobenen relevanten Patientencharakteristika. Die psychotherapeutisch behandelte Gruppe schnitt bei der Verbesserung der Symptomatik, der Anzahl Arztbesuche und den Psychopharmaka-Verordnungen besser ab. Insgesamt ergab sich ein Kostenverhältnis von 1 : 1.7 zugunsten der Psychotherapie. Inzwischen liegen mehrere Arbeiten zu der Frage vor, welche Ergebnisse die Anwendung optimaler evidenz-basierter Therapien in der Praxis hätten. So zeigten Issakidis et al. (2004) in Australien, dass bei die optimale Therapie bei Angststörungen (kognitive Verhaltenstherapie, Medikation, beides) effektiver und kostengünstiger wäre als die aktuell durchgeführte Therapie. Ähnliche Ergebnisse legte dieselbe Arbeitsgruppe die Therapie der Schizophrenie vor (Andrews et al. 2003). Andere Modellrechnungen mit grundsätzlich vergleichbaren Ergebnissen liegen zudem für stationäre Verhaltenstherapie in Deutschland (Zielke 2004), die emotionale Belastung bei Melanom-Patienten in den USA (Bares et al. 2002) und verschiedene Indikationsbereiche in der Schweiz vor (Frei

125 5.2 · Kosten-Nutzen-Ergebnisse

& Greiner 2001, Frei 2004). Zusammengenommen zeigen diese Arbeiten ein erhebliches Nutzenpotential bei optimaler Verwendung von Psychotherapie. Allerdings berücksichtigen sie nicht Störfaktoren wie etwa Ausweichreaktionen der somatischen Versorger, die Trägheit des praktischen Psychotherapiesektors oder Widerstände gegen die Umsetzung evidenzbasierter Therapien. Diese Punkte sind Gegenstand eines eigenen Gutachtens von Spycher et al. (2005). Bei realistischen volkswirtschaftlichen Hochrechnungen müssen sie trotz aller Schwierigkeiten einer exakten Quantifizierung beachtet werden. Fazit Übertragbarkeit auf die Routinepraxis: 4 Aufgrund des hohen Anteils an Studien unter Praxisbedingungen bzw. des Vorliegens einer hinreichenden Zahl an »Effectiveness-Studien« können die Ergebnisse zu Wirksamkeit und Kosten-Effektivität gut auf die klinische Routinepraxis übertragen werden. 4 Dabei darf nicht über verschiedene Psychotherapieformen hinweg generalisiert werden. Positive Kosten-Nutzen-Relationen wurden nur für Kurzzeit- und Gruppentherapien gefunden. 4 Die Ergebnisse können nicht plausibel durch Publikationsverzerrungen erklärt werden. Sie sind insgesamt von hoher Relevanz für Gesundheitswesen und Gesellschaft.

5

6 6 Diskussion 6.1

Diskussion der referierten Befunde

– 128

6.2

Stellenwert von Kosten-Effektivitäts-Analysen – 137

6.2.1 Problematische Verwendung von Kostenberechnungen – 137 6.2.2 Die Kosten-Effektivitätsperspektive darf nicht den Blick auf andere Entscheidungskriterien verstellen – 138 6.2.3 Ethische Aspekte der Kosten-Nutzen-Thematik – 139

6.3

Hinweise für die Steigerung der Kosten-Effektivität bei Psychotherapien – 140

6.4

Abschliessendes Fazit – 143

128

6

Kapitel 6 · Diskussion

Psychotherapie wird vor allem bei psychischen Störungen eingesetzt. Diese gehören zu den grössten Kostenverursachern im Gesundheitswesen (vgl. Kapitel 3). Zudem lässt sich in Deutschland und der Schweiz ebenso wie in anderen Industriestaaten ein Trend zur Zunahme psychischer Störungen und der von ihnen verursachten Kosten beobachten. Allgemein ist die Bedeutung psychischer Störungen in den Industriestaaten fast doppelt so gross wie im Gesamtdurchschnitt der Welt (Weltgesundheitsbereicht 2001). In Deutschland ist ein drastischer Anstieg der Arbeitsausfallkosten durch psychische Störunge zu beobachten, während in der Schweiz die grössten Kostensteigerungen in jüngster Zeit bei der stationären Versorgung und den IV-Renten auftreten. Die Aufwendungen für Psychotherapeuten steigen dagegen unterproportional. Die Daten zu Epidemiologie, Versorgungstypen und Kostenentwicklung zeigen zusammengenommen, dass psychische Störungen in Deutschland und der Schweiz nicht früh, ambulant und kostengünstig, sondern spät, stationär und teuer behandelt werden (vgl. Kapitel 3.1.). Vor diesem Hintergrund war es dringend erforderlich, eine genaue Analyse der Datengrundlage zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie vorzunehmen.

6.1

Diskussion der referierten Befunde

Die Ergebnisse in den vorangegangenen Abschnitten haben gezeigt, dass Psychotherapie

1. insgesamt betrachtet eine gute und dauerhafte Wirkung besitzt, die gleich gut oder größer ist als diejenige vieler etablierter medizinischer Verfahren, und 2. in den weitaus meisten Untersuchungen zu Kostenreduktionen führt, die bereits innerhalb der ersten zwei Jahre nach Therapieende die Kosten der Psychotherapie übersteigen (Netto-Einsparungen).

Darüber hinaus zeigte sich, dass die Forschungsbefunde zu Kosten und Nutzen der Psychotherapie

3. innerhalb der betrachteten Therapiemodalitäten auf die klinische Routinepraxis übertragen werden können, 4. bei ihrer Interpretation jedoch methodische und konzeptuelle Probleme berücksichtigt werden müssen.

129 6.1 · Diskussion der referierten Befunde

Abschließend kann festgehalten werden, dass den Forschungsergebnissen.

5. eine hohe gesundheitspolitische und gesamtgesellschaftliche Relevanz zukommt

Sobald aus den Ergebnissen praktische Konsequenzen für das Gesundheitswesen gezogen werden sollen, müssen zudem in der vorliegenden Arbeit bisher nicht behandelte ethische Fragen beantwortet werden (vgl. Abschnitt 6.2.3.). Die Diskussion soll diese Punkte erörtern, auch wenn vor allem die ethischen Fragen hier nicht umfassend behandelt werden können. Als Abschluss der Diskussion wird ein Fazit der Befunde gezogen und es werden beispielhaft Ansatzpunkte zur Steigerung der Kosten-Effektivität psychotherapeutischer Maßnahmen benannt. ! Ad 1: Insgesamt besitzt Psychotherapie eine gute und dauerhafte Wirkung, die gleich oder größer ist als diejenige vieler etablierter medizinischer Verfahren.

Psychotherapeutische Maßnahmen haben eine über jeden vernünftigen Zweifel hinaus belegte, statistisch und klinisch signifikante Wirksamkeit. Über alle untersuchten Störungen und Therapiemodalitäten hinweg ist der Durchschnittspatient nach Psychotherapie gesünder als 80% der unbehandelten Patienten (Grawe et al. 1994, Lutz 2003, Lambert & Ogles 2004). Der Therapieeffekt liegt damit in einer Größenordnung, die den Abbruch einer Placebo-kontrollierten Studie rechtfertigen würde, da es unethisch wäre, Patienten eine solch effektive Therapie vorzuenthalten (Ursano & Silberman 1994, Gabbard et al. 1997). Die Effektstärken kognitiv-verhaltenstherapeutischer Maßnahmen bei psychischen Störungen übersteigen deutlich diejenigen für Bypass-Operationen bei Angina Pectoris oder für medikamentöse Therapie bei Arthritis sowie vieler anderer etablierter medizinischer Verfahren. Bei differenzierter Betrachtung aller wichtigen Indikationsbereiche von Psychotherapie sind rund 100 psychotherapeutische Maßnahmen identifiziert worden, die die Standards für empirisch validierte Therapien erfüllen (Chambless & Ollendick 2001, vgl. die Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie in Deutschland und die Webseite der American Psychological Association zum Thema »empirically supported treatments«1). Darüber hinaus können psychologische Interventionen in vielen Fällen die Wirkungen medizinischer Maßnahmen und 1

http://www.wbpsychotherapie.de sowie http://www.apa.org/divisions/div12/est/ est.html

6

130

6

Kapitel 6 · Diskussion

die Lebensqualität bei somatischen Krankheitsbildern positiv beeinflussen (z.B. Operationsvorbereitung, Compliance, Rückfallprophylaxe). Die umfassendsten Belege liegen für kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren vor, daneben können auch psychodynamische Therapien kurzer und mittlerer Dauer, Gesprächspsychotherapie und Spezialverfahren wie die Interpersonelle Psychotherapie als hinreichend belegt betrachtet werden. Die Dauerhaftigkeit psychotherapeutischer Wirkungen ist generell gut nachgewiesen. Sie ist insgesamt deutlich besser belegt als diejenige der wichtigsten konkurrierenden Behandlungsmodalität, der Therapie mit psychotropen Medikamenten. Während die Rückfallraten der medikamentösen Therapie bei Depressionen oder Angststörungen bereits nach kurzer Zeit bei 60–80% liegen, betragen diese Werte bei kognitiver Verhaltenstherapie maximal 20–30%. Bei schweren Phobien oder Panikstörungen sind die Rückfallraten der Verhaltenstherapie sogar noch deutlich tiefer. Darüber hinaus können psychotherapeutische Zusatzinterventionen die Rückfallraten psychiatrischer Routineversorgung positiv beeinflussen. ! Ad 2: In den weitaus meisten Untersuchungen führt Psychotherapie zu Kostenreduktionen, die bereits innerhalb der ersten zwei Jahre nach Therapieende die Kosten der Psychotherapie übersteigen.

Psychotherapie reduziert Kosten. In rund 85% der früheren Studien trug Psychotherapie durch Reduktion von Hospitalisierungen, Medikamenten und Produktivitätsverlusten zu Kosteneinsparungen bei, wenn sie bei Patienten mit schweren psychischen Störungen und Sucht eingesetzt wurde (Gabbard et al. 1997, Baltensperger & Grawe 2001). Die Auswertung der Originalarbeiten der letzten 10 Jahre in Kapitel 4.3. (insgesamt über 13‘000 Patienten) verstärkte die früheren Aussagen noch. Sie zeigte einen signifikanten Cost Offset-Effekte in 95% der einschlägigen Studien. Zudem ergaben sich in 86% der entsprechenden Studien Netto-Einsparungen, d.h. die Kosten der Psychotherapie wurden durch die Einsparungen mehr als aufgewogen. Eine Netto-Einsparung ergab sich in der Regel bereits in den ersten beiden Jahren nach Psychotherapie. Selbst bei schweren chronischen Störungen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung folgen auf Psychotherapie (2 Sitzungen pro Woche über ein Jahr) durchschnittliche Einsparungen von $ 10.000/Jahr durch Reduktion von Hospitalisierungen, Notaufnahmen, Arztbesuchen und Produktivitätsverlusten (Linehan et al. 1991, Gabbard et al. 1997, Stevenson & Meares 1999). Zwar wies ein erheblicher Teil der Originalarbeiten methodische Mängel auf (v.a. unkontrollierte Prä-Post-Designs und Selektionseffekte). Dennoch werden die Schlussfolgerungen dadurch nur relativiert, nicht jedoch aufgehoben, da auch methodisch bessere Studien ähnliche Ergebnisse erbrachten (vgl. hierzu die Diskussion zu Punkt 4 weiter unten).

131 6.1 · Diskussion der referierten Befunde

Auch der Vergleich mit alternativen Behandlungen erbrachte positive Ergebnisse für die Psychotherapie: Beim Vergleich mit der wichtigsten Alternativbehandlung (Psychopharmaka) war Psychotherapie in 76% der Studien signifikant kosten-effektiver bzw. erbrachte einen signifikanten Zusatznutzen. Insbesondere bei zwei der wichtigsten Indikationen, Angststörungen und Depressionen, sind kognitive Verhaltenstherapien weniger teuer und kosten-effektiver (Gould et al. 1995, Antonucci et al. 1997). Zudem zeigen empirische Befunde, dass Psychotherapie nicht missbräuchlich konsumiert wird: Selbst wenn psychotherapeutische Behandlungen ohne Zusatzkosten zur Verfügung standen, nahmen in den USA nur 4.3% der Bevölkerung ambulante Psychotherapie in Anspruch, wobei die mittlere Therapiedauer 11 Sitzungen betrug (Manning et al. 1986, vgl. dazu auch die Schweizer Zahlen von Meyer et al. sowie die in Abschnitt 5 referierte Basler Repräsentativstudie). Die Ausweitung der Kostenübernahmen für Psychotherapie bei US Militärs (verbunden mit »utilization review«) führte zu einer Netto-Einsparung von 200 Millionen Dollar über drei Jahre (durch reduzierte Hospitalisierungen). Jeder für Psychotherapie ausgegebene Dollar ging mit Einsparungen von 4 Dollar einher (Zients 1993). ! Ad 3: Die Forschungsbefunde können innerhalb der betrachteten Therapiemodalitäten auf die klinische Routinepraxis übertragen werden.

Da eine hinreichende Zahl von Effectiveness-Studien vorliegt und die meisten Kosten-Nutzen-Studien unter Praxisbedingungen durchgeführt wurden, können die Forschungsergebnisse zu Wirksamkeit und KostenEffektivität von Psychotherapie gut auf klinische Routinebedingungen übertragen werden. Dabei darf jedoch nicht über verschiedene Psychotherapieformen hinweg verallgemeinert werden. Aus der Tatsache, dass einige Formen von Psychotherapie zu dauerhaften Therapieerfolgen und Netto-Einsparungen führen, folgt nicht zwingend, dass alle Formen von Psychotherapie diese Wirkungen haben. Das hier gelegentlich vorgebrachte Argument, Psychotherapiewirkungen seien im Wesentlichen non-spezifischer Natur, ist nicht im Einklang mit der Forschungslage (vgl. Abschnitt 3.2.1.2.). Verschiedene Formen von Psychotherapie haben bei verschiedenen Störungen unterschiedliche Wirkungen. Dabei sind teilweise sogar negative Wirkungen nachgewiesen worden (vgl. Abschnitt 3.1.2.3.) Die Form der Intervention, Art und Krankheitsstadium der behandelten Störung, Alter und andere Patientenmerkmale sowie strukturelle Charakteristika des Gesundheitswesens können allesamt die Ergebnisse beeinflussen (vgl. auch die Diskussion zu Punkt 5 weiter unten). Obwohl also Cost Offset-Effekte und Netto-Einsparungen nach Psychotherapie insgesamt ein robustes Phänomen darstellen, darf die Wahrscheinlichkeit von tatsächlich realisierten Einsparungen auf der Ebene

6

132

6

Kapitel 6 · Diskussion

eines ganzen Gesundheitssystems daher nicht zu leichtfertig als gegeben angenommen werden. Die positiven Befunde stammen im Wesentlichen aus Studien zu Kurztherapien. Dabei wurden vor allem kognitiv-behavioralen Verfahren untersucht, in geringerem Umfang auch andere störungsspezifische Kurzinterventionen und psychodynamische Kurztherapien. Für psychodynamische Langzeittherapien liegen dagegen nur wenige Studien vor. Immerhin konnten in der vorliegenden Literaturübersicht erstmals derartige Studien ausgewertet werden. Diese führten jedoch entweder keine Kosten-Nutzen-Analysen durch oder erbrachten trotz eines Cost OffsetEffektes ein negatives Kosten-Nutzen-Verhältnis. Zugleich stehen kosteneffektive kürzere Alternativen von zumindest vergleichbarer Wirksamkeit zur Verfügung. Allgemein werden die größten Therapieeffekte bei den meisten Indikationen in den ersten 30 Therapiesitzungen erzielt, zwischen der dreißigsten und sechzigsten Sitzung kommen im Durchschnitt noch kleine Effekte hinzu, jenseits der sechzigsten Sitzung zeigt sich in der Regel kein bedeutsamer Anstieg des Therapieerfolgs. Auch wenn die Therapiedauer nach Störungsbildern differenziert werden muss und Sonderfälle wie stützende Begleitung chronisch Kranker extra betrachtet werden müssen, so lassen sich höhere Therapiedauern nicht durch größere Wirksamkeit rechtfertigen. Sofern Langzeittherapien nicht ganz erheblich bessere Erfolge nachweisen können als Kurzzeittherapien, müssen längere Therapiedauern lediglich als Kostenfaktor ohne zusätzlichen Nutzwert angesehen werden. Bisher jedoch deutet nichts auf eine solch höhere Erfolgsrate jenseits einer allgemeinen Konsumentenzufriedenheit hin. Die Forschung ist grösstenteils im angelsächsischen Ausland durchgeführt worden. Die Ergebnisse können nicht eins-zu-eins auf den deutschsprachigen Raum übertragen werden. Insbesondere in der Schweiz fehlen einschlägige Studien fast vollständig. Zudem befinden sich die Gesundheitssysteme in den meisten Industriestaaten in einem tief greifenden Wandel. Dadurch wird die Verallgemeinerung früherer Befunde auf die heutige Situation weiter eingeschränkt. Aus diesen Gründen sollte über spezifische Initiativen zur Durchführung entsprechender Forschungen in Deutschland und der Schweiz nachgedacht werden. Dabei kommen durchaus nicht nur die klassischen Instrumente der wissenschaftlichen Forschungsförderung in Frage, sondern es könnten auch neue Wege in Zusammenarbeit von Kostenträgern, Politik und Wissenschaft beschritten werden. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen können die robusten positiven Befunde zur dauerhaften Wirksamkeit und guten KostenEffektivität der meisten untersuchten Psychotherapien jedoch gut auf die Alltagspraxis übertragen werden, da eine große Anzahl von Studien mit hoher externer Validität und damit Generalisierbarkeit vorliegt. Die Ergebnisse zur Kontrolle des »File Drawer«-Effektes nach Rosenthal (1984) zeigen zudem, dass die beobachteten Kostenreduktionen nach Psycho-

133 6.1 · Diskussion der referierten Befunde

therapie nicht plausibel durch mögliche Publikationsverzerrungen erklärt werden können. Weitere Analysen belegen, dass auch bei Berücksichtigung unpublizierter Studien eine bedeutsame Wirksamkeit von Psychotherapie nachgewiesen ist. ! Ad 4: Bei der Interpretation der Forschungsbefunde müssen ihre inhärenten methodischen und konzeptuellen Probleme berücksichtigt werden.

Die Interpretation von Kosten-Nutzen-Analysen erscheint auf den ersten Blick einfacher als sie bei näherem Hinsehen wirklich ist. Die kosten-effektivste Behandlung muss nicht die wirksamste Therapie sein, die wirksamste Therapie nicht unbedingt das für die Breitenanwendung sinnvollste Verfahren etc. Vor allem aber hängt die Interpretation der Ergebnisse vielleicht noch mehr als in anderen Gebieten von der verwendeten Methodik ab. So haben etwa der Zeitpunkt der Datenerhebung und die Art der Erfolgsmessung (z.B. Symptomreduktion vs. Lebensqualität oder Erfüllung sozialer Rollenanforderungen, vgl. z.B. Koran et al. 1995) einen starken Einfluss auf die Ergebnisse zur Kosten-Effektivität. Die Ergebnisse können weiterhin von Variablen wie Krankheitsstadium bei Therapiebeginn, Alter, Behandlungsvorgeschichte, sozialer Unterstützung etc. beeinflusst werden (vgl. Frank et al. 1990, Thase 1990, Sotsky et al. 1991). Darüber hinaus kann die Kosten-Effektivität für ein gegebenes Individuum deutlich von den Durchschnittswerten für eine Gruppe abweichen. Zudem wird der direkte Vergleich zwischen Kosten-Nutzen und KostenEffektivitätsanalysen durch die unterschiedliche Operationalisierung der Kosten erschwert. Hauptkritikpunkt dürfte jedoch die nach wie vor dominierende Verwendung einfacher prä-post-Designs sein, dessen inhärente Begrenzung in Abschnitt 4.1. besprochen wurde. Dies kann z.B. für die Bewertung des nahezu flächendeckend festgestellten Cost-Offset-Effekts von Bedeutung sein. So wiesen Kashner & Rush (1999) darauf hin, dass die nicht-experimentelle Natur vieler Studien die Ergebnisse auf den Status von Korrelationen beschränkt. Korrelationen können ohne zusätzliche Informationen nicht kausal interpretiert werden. Es könnte sich z.B. eine negative Korrelation zwischen Psychotherapie und den Aufwendungen für Allgemeinmediziner ergeben, wenn Patienten vermehrt Spezialisten aufsuchen. Ein prä-post Design ohne Kontrollgruppe kann auch nicht erkennen, ob Kostenreduktionen nach Therapie dadurch vorgetäuscht werden, dass vor Therapiebeginn die Suche nach dem richtigem Spezialisten kurzzeitig zu mehr Arztbesuchen geführt hatte. Ein empirisches Beispiel lieferte die Reanalyse von Jones & Vischi (1979) der Daten von Patterson & Bise (1978, zitiert nach Kashner & Rush 1999): hier wurde aus 5% Reduktion ein Anstieg von 1%. Umgekehrt könnte Psychotherapie auch durch ein besseres Erkennen medizinischer Probleme zumindest kurzfristig zu

6

134

6

Kapitel 6 · Diskussion

mehr medizinischen Kosten führen (vgl. hierzu Donabedian bereits 1976: mehr Kostendeckung kann zu mehr Kosten führen). Bis heute fehlt ein verbindlicher Methodenkanon zur Durchführung kostenrelevanter Studien. Zwar hatten Autoren wie etwa Drummond et al. bereits 1987 einen Leitfaden zur kritischen Bewertung gesundheitsökonomischer Evaluationen vorgelegt. Aber obwohl dieser mittlerweile zum Standardwerk avancierte Leitfaden sehr praxisbezogen und ausgewogen abgefasst ist (inzwischen 16 mal nachgedruckt, die zweite Auflage von 1997 wurde zuletzt 2004 neu gedruckt), zeigte unsere Analyse der Literatur der letzten 10 Jahre, das auch heute keine Studie alle 10 Qualitätskriterien erfüllt und noch immer die Mehrheit der Studien selbst zentrale Teilkriterien verfehlen (vgl. Abschnitt 2.2., dort sind auch die Fragen zur Qualitätsbeurteilung aufgeführt). Nun ist klar, dass auch Kosten-Nutzen-Analysen ihrerseits einer Beurteilung im Hinblick auf Kosten und Nutzen unterliegen und daher perfekte »Superlativ-Studien«, die allen Ansprüchen genügen, wohl immer die Ausnahme bleiben werden. Wie also sollen wir bei der Interpretation der Befunde mit dem Problem methodischer Mängel umgehen? Zunächst sollten Kosten-Effektivitäts-Analysen ihrem Stellenwert entsprechend interpretiert werden. Ausführungen zu diesem Punkt finden sich im folgenden Abschnitt 6.2. Darüber hinaus muss geprüft werden, ob methodisch bessere Studien systematisch andere Ergebnisse erbringen als methodisch schwächere Arbeiten. Bemerkenswerterweise zeigt sich hier jedoch, dass die insgesamt positiven Ergebnisse zur Kosten-Effektivität von Psychotherapie gerade auch bei methodisch anspruchsvolleren Arbeiten deutlich festgestellt wurden. Dies hatten bereits Mumford et al. (1984) in ihrer inzwischen klassischen Arbeit festgestellt, die Auswertung der Literatur der letzten 10 Jahre bestätigt diesen Effekt. Zu den größten methodischen Problemen der in der vorliegenden Arbeit ausgewerteten Studien gehört eine ungenügende Operationalisierung der Krankheits- und der Behandlungsvariablen. In einigen Studien wurden unzureichend ausgebildete Behandler mit ungenügenden Behandlungsdosierungen auf ungenau definierte Störungen angesetzt. Es sind genau diese Studien, die im Gegensatz zur großen Mehrheit der Untersuchungen keine nennenswerten Einsparungseffekte feststellen konnten (vgl. Abschnitt 4.3.1.). Insgesamt kann also festgehalten werden, dass die im vorliegenden Buch referierten Befunde zur Kosten-Effektivität von Psychotherapie robust sind und gerade auch in methodisch strengeren Arbeiten deutlich zutage treten. ! Ad 5: Den Forschungsbefunden kommt eine hohe gesundheitspolitische und gesamtgesellschaftliche Relevanz zu.

Der Stellenwert des Problemfeldes »Psychische Gesundheit« wurde zu Beginn der Diskussion hervorgehoben. Die in Abschnitt 3.1. dargestellten Befunde unterstreichen die gesellschaftliche Relevanz und die hohen

135 6.1 · Diskussion der referierten Befunde

Kosten psychischer Störungen. Es dürfte daher von großem Interesse sein, dass hoch wirksame und zugleich kosten-effektive Psychotherapien zur Verfügung stehen, die jedoch in der Praxis nur vereinzelt zur Anwendung gelangen. Es erscheint lohnenswert, gerade auch die Ergebnisse zum Vergleich von Psychotherapie und Psychopharmaka stärker zu berücksichtigen. In der Schweiz wird ein Teil der Psychotherapie von der Grundversicherung getragen. Dies ist nur ein mögliches Modell. In anderen Ländern gehören psychotherapeutische Leistungen nicht zu den Grundleistungen bzw. werden stark begrenzt (z.B. Neuseeland) oder es bestehen keine obligatorischen Grundversicherungen (z.B. USA). Weitere Länder dagegen übernehmen psychologische und medizinische Psychotherapie als Teil der Grundversicherung (z.B. Deutschland, Australien). Welche Folgen könnte eine Integration psychologischer Psychotherapie in die Schweizer Grundversicherung haben? Diese Frage kann hier nicht erschöpfend behandelt werden (vgl. dazu Spycher et al. 2005). Es lohnt sich aber, einen Vergleich zwischen zwei benachbarten Ländern von enger kultureller und wirtschaftlicher Verbundenheit anzustellen, die die Kostenerstattung von Psychotherapie unterschiedlich handhaben. Im australischen Gesundheitssystem wird ambulante Psychotherapie unbegrenzt bezahlt, im neuseeländischen dagegen nur begrenzt. Dennoch sind die Kosten für die Behandlung psychischer Störungen in Neuseeland um 44% höher (Andrews 1989). Dafür ist im Wesentlichen die höhere Inanspruchnahme psychiatrischer Hospitalisierungen verantwortlich. Dieser Befund ist besonders im Kontext der hohen stationären Behandlungskosten in der Schweiz beachtenswert und sollte auch in Deutschland berücksichtigt werden. Die Integration psychologischer Psychotherapie in die Grundleistungen würde mit Sicherheit zu einer Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung führen. Kürzere Wartezeiten, eine niedrigere Schwelle für die Aufnahme von Therapien, eine bessere Integration in das Gesundheitswesen, ein größeres Angebot an effektiven Verfahren und ähnliche Wirkungen wären die Folge. Darüber hinaus dürften positive Wirkungen auch auf andere Bereiche der Gesundheitsversorgung erreicht werden (z.B. psychologische Operationsvorbereitung, Compliance-Steigerung, Rückfallprophylaxe, Vermeidung von iatrogener Chronifizierung bei somatisierenden Patienten etc.). Ob diese positiven Effekte sich jedoch auch in einer größeren Kosten-Effektivität niederschlagen würden, hängt unter anderem von der Art der zu integrierenden Psychotherapien, von den Reaktionen der anderen Akteure im Versorgungssystem sowie von strukturellen Merkmalen des Gesundheitssystems ab. Psychotherapien können sowohl bei den direkten Kosten (Dauer der Spitalaufenthalte, Anzahl somatische Konsultationen etc.) wie auch bei den indirekten Kosten (Arbeitsabwesenheiten etc.) zu gewichtigen Einsparungen führen, die die Kosten der Psychotherapie selbst überwiegen.

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136

6

Kapitel 6 · Diskussion

Dies gilt jedoch nur für kürzere Therapiedauern. Die in der Schweiz praktizierte Psychotherapie weicht von diesen kurzen Dauern deutlich nach oben ab (vgl. Schweizer 2002, Beeler et al. 2003), obwohl ein Zusatznutzen längerer Therapien nicht nachgewiesen ist. Nur wenn es gelingt, die empirisch validierten Therapien in die Praxis zu transportieren, kann eine deutliche Steigerung der Kosten-Effizienz (und der Wirksamkeit!) erwartet werden. Dies haben Modellrechnungen zu wichtigen Indikationen wie Angststörungen, Depressionen, Schizophrenien und somatischen bzw. psychosomatischen Beschwerden übereinstimmend gezeigt (vgl. Gould et al. 1995, Antonucci et al. 1997, Bares et al. 2002, Andrews et al. 2003, Frei 2004, Issakidis et al. 2004, Zielke 2004). In wichtigen Bereichen gilt dabei, dass die optimale evidenz-basierte Therapie sowohl effektiver als auch kostengünstiger als die aktuell durchgeführte Therapie ist. Darüber hinaus gilt in vielen Fällen sogar, dass die optimale Therapie bezogen auf die gesamten Gesundheitskosten günstiger ist als keine Therapie. Von großer Bedeutung dürften in diesem Kontext Anreizsysteme sein, die Versorgungsakteure dazu motivieren, kosten-effektive Therapien in der Praxis anzuwenden und Ausweichreaktionen (z.B. vermehrte somatische Diagnostik, technisch-apparative Maßnahmen, andere Begründungen für stationäre Maßnahmen) zu unterlassen. Aufschlussreich ist zudem ein Vergleich mit den Kosten, die die Gesellschaft in andere lebensrettende Maßnahmen investiert. Tengs et al. (1995) untersuchten die Kosten-Effektivität von über 500 lebensrettenden Maßnahmen. Lebensrettende Maßnahmen wurden definiert als jegliche behaviorale oder technologische Strategie, die die Wahrscheinlichkeit vorzeitiger Sterblichkeit in spezifischen Zielpopulationen reduziert. Die Autoren fanden eine außerordentlich große Streubreite der Kosten pro gerettetem Lebensjahr (YOL: »year of life saved«). Die teuersten Interventionen verursachten Kosten von mehreren Milliarden Dollar pro gerettetem Lebensjahr (zumeist Umweltbereich: Benzolkontrolle bei der Gummiproduktion, Chloroformkontrolle in Papiermühlen, Radionukleidkontrolle bei der Uranproduktion; aber auch Screening für Sichelzellanämie bei Nicht-Risikopersonen). Der Median der Kosten pro YOL lag für die untersuchten medizinischen Maßnahmen vergleichsweise günstig ($ 19‘000), für Unfallvermeidung bereits deutlich höher ($ 48‘000), für die Kontrolle toxischer Substanzen jedoch bei $ 2‘800‘000 2. Es gab auch einige wenige Interventionen, die mehr Geld sparten, als sie kosteten (Prävention venöser Embolien, Anti-Raucher-Beratung bei Schwangeren, Schilddrüsenscreenings bei Neugeborenen, diverse Impfprogramme, HIV-Sreening bei weiblichen Drogenabhängigen, Methadon-Ersatzthe2

Da die untersuchten Massnahmen nicht repräsentativ für diese Kategorien sind, können die Ergebnisse nicht auf die jeweilige Gesamtheit einer Kategorie verallgemeinert werden. Es ist also keine repräsentative Aussage für alle medizinischen oder alle Unfallvermeidungsstrategien möglich.

137 6.2 · Stellenwert von Kosten-Effektivitäts-Analysen

rapie bei Heroinhängigen). Leider wurden psychotherapeutische Maßnahmen nicht erfasst. Die im vorliegenden Bericht referierten Ergebnisse zeigen jedoch, dass sie auch in diesem globalen Vergleich über ein außerordentlich günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis verfügen. Generell sind auch in der Medizin Maßnahmen, die mehr einsparen als sie kosten, die Ausnahme und nicht die Regel. Gesundheit ist für die meisten Menschen das höchste Gut. Im Zusammenhang mit medizinischen und insbesondere potentiell lebensrettenden Maßnahmen werden daher in der Regel Mehrkosten nicht a priori ausgeschlossen, sondern es wird z.B. mit Akzeptanzkurven für Kosten und Nutzen operiert. Es gibt keinen Grund, die Behandlung psychischer Krankheiten – sei es durch Psychotherapie oder durch alternative Maßnahmen – an anderen Standards zu messen. Auch hier dürfen nicht nur Einsparungen als Kriterium dienen, sondern es müssen ebenso Wirksamkeit, Qualität und Solidarität (keine Sonderbehandlung der psychisch Kranken bzgl. Kosten-Effektivität) angemessen berücksichtigt werden.

6.2

Stellenwert von Kosten-EffektivitätsAnalysen

Kosten-Effektivitäts-Analysen erweitern die Bewertung von Behandlungen um eine wichtige Dimension. Die Berücksichtigung der KostenEffektivität liefert eine transparentere und differenziertere Entscheidungsgrundlage für Ressourcenallokationen im Gesundheitswesen als bisherige eindimensionale Ansätze (alleinige Betrachtung der Kostenoder der Ergebnisseite). Damit können Therapiealternativen sinnvoller vergleichend bewertet werden: eine »günstige« Variante benötigt nur eine geringere Erfolgsrate, um eine so gute Kosten-Effektivität zu erzielen wie eine »teure« Behandlung, die sehr hohe Erfolgsraten aufweist. Hierbei sollten neben dem reinen Vergleich der Kosten-Effektivitäten Ober- und Untergrenzen für Kosten und Effektivität festgelegt werden. Denn eine sehr billige Behandlung, die nur bei einem kleinen Teil der Patienten Erfolg verspricht kann unter Umständen auch bei guter Kosten-Effektivität für den Einsatz in der Versorgung ebenso wenig attraktiv sein wie eine sehr erfolgreiche Behandlung, die fast jeden heilt, deren Kosten aber den tragbaren Rahmen sprengen.

6.2.1 Problematische Verwendung

von Kostenberechnungen Nachteile entstehen, wenn die Beurteilung von Behandlungsalternativen nach nur einem Kriterium erfolgt. Die effektivste Therapie muss nicht notwendigerweise auch die kosteneffektivste sein. Wenn beispielsweise

6

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Kapitel 6 · Diskussion

eine Therapieform nur wenig effektiver, aber deutlich teurer als eine Alternative ist, wird die alleinige Betrachtung der Effektivität in die Irre führen. Eine Lösungsmöglichkeit für dieses Problem besteht der Festlegung von Kostenobergrenzen oder Effektivitätsuntergrenzen. Analog dazu können auch bei der Nutzen-Berechnung Grenzen festgelegt werden. Bei der indirekten Berechnung des Nutzens ist zu beachten, dass die pauschale Übertragung auf die einzelnen Patienten problematisch sein kann. So wird der positive monetäre Nutzen etwa bei der Behandlung des Alkoholismus bei jemandem mit hohem Einkommen größer sein als bei jemanden, der von einer IV-Rente lebt, auch wenn beide Personen gleich krank und behandlungsbedürftig sind. Neben dem Grundsatz der Gleichbehandlung wird hier eine spezielle Problematik von Kosten-Nutzen-Überlegungen angesprochen. Derartige Berechnungen dürfen nicht zur Anwendung von Selektionsmechanismen dienen, etwa dergestalt, dass nur Patienten eine Therapie erhalten, bei denen auf der volkswirtschaftlichen Ebene ein besonders hoher monetärer Nutzen zu erwarten ist. Ohnehin lässt sich nur ein Teil des Nutzens in monetären Einheiten ausdrücken. Darüber hinaus ist auch nur ein Teil des Nutzens volkswirtschaftlich relevant, die mikro- und die makroökonomische Ebene können nicht gleichgesetzt werden. Nutzen ist immer auch individuell und subjektiv. Der monetäre gesellschaftliche Nutzen darf also nicht allein Kriterium für die Entscheidung über die Durchführung einer Behandlung sein. Kosten-Nutzen-Überlegungen dürfen nur zur Steigerung der Effizienz oder zur Entscheidung über die beste Behandlungsmethode im Sinne einer summativen Evaluation herangezogen werden (Neumer & Margraf 1996).

6.2.2 Die Kosten-Effektivitäts-Perspektive darf nicht

den Blick auf andere Entscheidungskriterien verstellen Das in Psychotherapiekreisen gelegentlich vorgebrachte Argument einer unzulässigen Reduktion der Therapieergebnisse aufgrund einer einseitigen monetären Bewertung ist unzutreffend, wenn der Therapieeffekt durch eine möglichst breite Erfassung der abhängigen Variablen operationalisiert wird. Die breite Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren ist vielfach empirisch belegt worden (vgl. Grawe et al. 1994, Lambert 2004). Grundsätzlich sind Kosten-Wirkungs-Analysen als eine von mehreren Bewertungsgrundlagen für die Evaluationsforschung zu verstehen. Dabei müssen immer Überlegungen zur Validität der zugrunde liegenden Informationen vorangestellt werden, wenn Kosten-Wirkungs-Analysen als rationale Entscheidungshilfe den Wert eines Programms in monetären Einheiten ausdrücken helfen sollen (vgl. Drummond et al. 2004, Vogel &

139 6.2 · Stellenwert von Kosten-Effektivitäts-Analysen

Wasem 2004). So müssen die Kosten für die Therapie letztendlich immer mit der Qualität der therapeutischen Maßnahme in Bezug gesetzt werden können. Bedenklich stimmen in diesem Zusammenhang die Entwicklungen hin zu extrem verkürzten Therapien wie beispielsweise im Gesundheitssystem der USA. Auch der Einsatz von Selbsthilfesystemen (Literatur, computerunterstützte Therapie, Telefon- oder Brief-Interventionen etc.) ist zwar vergleichsweise kostengünstig und zu begrüßen, wenn die entsprechenden Patienten etwa aufgrund regionaler Besonderheiten keinen Zugang zu professionellen Psychotherapeuten hätten. Dennoch darf dabei nicht vernachlässigt werden, dass damit nur für einen bedeutend geringeren Teil der Patienten eine nachhaltig klinisch bedeutsame Verbesserung erreicht wird als mit wissenschaftlich fundierter Psychotherapie durch voll ausgebildete Fachleute (vgl. McNamee et al., 1989).

6.2.3 Ethische Aspekte der Kosten-Nutzen-Thematik Kosten-Nutzen-Analysen sind gerade im Gesundheitswesen nicht unumstritten, wobei die Diskussion leider manchmal polemisch geführt wird. Die Positionen reichen vom Primat ökonomischer Überlegungen auf dem einen Extrem bis zur fundamentalen Ablehnung jeglicher Kostenüberlegungen beim Thema Gesundheit auf dem anderen Extrem. Die erste Extremposition (vorrangige oder gar ausschließliche Berücksichtigung ökonomischer Aspekte) wurde bereits in den beiden vorangegangenen Abschnitten zurückgewiesen. Wie steht es nun mit dem anderen Ende des Spektrums: Darf man bei einem so hohen Gut wie der Gesundheit oder gar Leben und Tod an Geld denken? Die Antwort lautet: Selbstverständlich müssen die monetären Aspekte berücksichtigt werden, aber sie dürfen bei der gesellschaftlich-politischen Entscheidungsfindung nicht als einzige Bewertungsdimensionen herangezogen werden. Ressourcen sind immer begrenzt, Verteilungs-entscheidungen daher unausweichlich. Oft werden derartige Entscheidungen implizit, ad hoc oder gar unbewusst getroffen. Es leuchtet ein, dass eine explizite und wissensbasierte Entscheidungsfindung vorzuziehen ist. Letzten Endes ermöglicht nur sie eine adäquate kritische Auseinandersetzung mit den Entscheidungsgrundlagen. Tengs & Graham (1996) haben eindrucksvoll gezeigt, zu welchen massiven Schäden planlose ad hoc Investitionen in lebensrettende Maßnahmen führen. Sie untersuchten 185 verschiedene lebensrettende Maßnahmen. Die mangelnde Berücksichtigung von Kosten-Effektivitätsaspekten führt allein in den USA dazu, dass jährlich rund 31 Milliarden US Dollar vergeudet werden und 636‘000 Lebensjahre verloren gehen. Dies entspricht 60‘200 Leben, die gerettet werden würden, wenn die gleichen Mittel sinnvoller verwendet werden würden. Gesellschaften bezahlen also einen hohen Preis für ihr planloses Muster an nicht wissensba-

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140

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Kapitel 6 · Diskussion

sierter Entscheidungsfindung. Die gute Absicht (Lebensrettung!) darf daher nicht zur Vernachlässigung einer nüchternen Auseinandersetzung mit den vorhandenen Ressourcen, den wissenschaftlichen Fakten und den ethischen Maximen des Handelns führen. Wenn es um die praktischen Konsequenzen aus Kosten-EffektivitätsAnalysen geht, stellen sich Fragen wie die folgenden: 4 Was, wenn eine Behandlung teurer, aber eben auch effektiver ist als eine bereits etablierte? Ab welchem Preis ist es legitim, eine innovative und wirksame Behandlung nicht anzuwenden? 4 In welchem Ausmaß sollen individuelle Präferenzen berücksichtigt werden? Barlow (2004) hat darauf hingewiesen, dass eine Vielzahl von Studien belegt, dass die meisten Patienten mit psychischen Störungen grundsätzlich Psychotherapie gegenüber medikamentösen Behandlungen bevorzugen. Was bedeutet dies für die differentielle Indikation bei Krankheiten wie der Depression? Diese Fragen können hier nicht geklärt werden. Ihre Beantwortung muss letzten Endes auf gesellschaftlicher und damit politischer Ebene ausgehandelt werden. Dabei unterliegt auch die gesellschaftliche Gewichtung verschiedener ethischer Aspekte Wandlungen, die nicht mit hinreichender Sicherheit vorausgesehen werden können. In diesem Sinne wird die ethische Diskussion eine fortlaufende Aufgabe von Wissenschaft, Gesundheitswesen und Gesellschaft bleiben. Kosten-Effektivitäts-Analysen stellen nur eine Grundlage für Entscheidungen über Ressourcenallokationen, sind aber nicht die Entscheidung selbst. Sie dürfen nur im Sinne einer summativen Evaluation herangezogen werden (Neumer & Margraf 1996).

6.3

Hinweise für die Steigerung der KostenEffektivität bei Psychotherapien

In diesem Abschnitt sollen beispielhaft Hinweise für die Steigerung der Kosten-Effektivität im Bereich der Psychotherapie gegeben werden. Auf Hinweise zur differentiellen Indikation zwischen Psychotherapie und konkurrierenden Therapieangeboten wird bewusst verzichtet. Ebenso sollte klar sein, dass es sich nicht um eine erschöpfende Aufzählung handelt, sondern um Beispiel, die zum Weiterdenken anregen sollen. Ausgangspunkt der Empfehlungen ist die Betrachtung von »DosisWirkungs-Beziehungen« bei Psychotherapien. Unter dem Aspekt der Kosten-Effektivität ist sowohl die Möglichkeit einer zu hohen Therapiedosis (»Verschwendung«) als auch die einer zu geringen Therapiedosis (therapeutisch nicht indizierter Abbruch trotz realistischer Erfolgschancen) von Bedeutung (Jacobi & Margraf 2002). Als Analogon könnte hier die Unterdosierung oder ein zu frühes Absetzen eines Serotonin-Wieder-

141 6.3 · Hinweise für die Steigerung der Kosten-Effektivität bei Psychotherapien

aufnahme-Hemmers dienen. Dies ist von therapeutischer Seite aus im Rahmen einer selbstkorrigierenden Therapieplanung, bei der hinsichtlich des Therapieumfangs eine gewisse Flexibilität herrscht, zu berücksichtigen. Mit Hilfe dieser Systematik können die folgenden Empfehlungen für die Optimierung der Kosten-Effektivität einer definierten Behandlung gegeben werden: Anstreben erfolgreicher minimaler Intervention: Wenn erfolgreiche

Therapien frühzeitig beendet werden (bzw. bereits zu Therapiebeginn als Minimalintervention konzipiert wurden), wird die Kostenseite minimiert. Therapien müssen nicht immer lang sein, denkbar ist sogar eine Schmälerung des Therapieerfolgs bei zu umfangreichen Interventionen (z.B. durch Hemmung von Selbstwirksamkeit und Selbstmanagement). Materielle Hintergrundeinflüsse (»den bewilligten Rahmen voll ausschöpfen«) oder der verständliche Patientenwunsch nach weiterführender therapeutischer Begleitung können mögliche minimale Interventionen vereiteln. Frühzeitige Beendigung der Therapie bei niedrigen Erfolgschancen:

Wenn erfolglose Therapien frühzeitig identifiziert und beendet werden können, führt dies zur Minimierung der durchschnittlichen Behandlungskosten. Zudem werden intangible Kosten erfolgloser Behandlungen (z.B. Frustration, Verhinderung von Therapieerfolgen durch sinnvollere Alternativbehandlungen) eingespart. Problematisch ist hier, dass in der Regel gute Prädiktoren für den Therapiemisserfolg fehlen. Zudem können selbst bei Vorliegen solcher Prädiktoren menschlich durchaus nachvollziehbarer naiver Optimismus sowie die bereits erwähnten materielle Erwägungen ein therapeutisch gerechtfertigtes frühzeitiges Therapieende verhindern. Richtige Indikation zu einer hohen Therapiedosis: Wenn aussichtsreiche

Therapien innerhalb ihres (indizierten) Langzeitumfangs erfolgreich abgeschlossen werden, wird so die Besserungsrate maximiert, was die erhöhten Kosten zumindest ausgleicht. Erfolglose Behandlungen aufgrund zu früher Beendigung nützten weder Patienten oder Therapeuten noch Kostenträgern, die u.U. in der Folge für andere Behandlungen aufkommen müssen, obwohl zur klinisch signifikanten Besserung durch die erste Behandlung nur noch wenig gefehlt hätte. Zudem könnten Patient unnötig demoralisiert werden. Unangemessene Kosten-Obergrenzen können somit indizierte Langzeitbehandlungen verhindern und zu einer schlechteren Kosten-Effektivität führen. Neben diesen spezifischen Psychotherapiebezogenen Empfehlungen darf jedoch ein Thema von übergeordneter Bedeutung nicht vernachlässigt werden: Die Stigmatisierung psychischer Krankheiten. Das Problem der Stigmatisierung ist bei psychischen Störungen noch viel wichtiger als

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142

Kapitel 6 · Diskussion

im somatischen Bereich. Daher soll als letzte Empfehlung dieser Punkt direkt behandelt werden, bevor auf die praktische Umsetzung der Maßnahmen eingegangen wird. Entstigmatisierung im Bereich psychischer Gesundheit/Krankheit: So-

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zialwissenschaftlich wird Stigma als Verknüpfung eines Personenmerkmals (»psychisch krank«) mit einem negativen sozialen Stereotyp oder Vorurteil (»ist gefährlich«) bezeichnet (Link & Phelan 2001). Damit verbunden ist ein Statusverlust, der bei einem einfachen Stereotyp nicht notwendigerweise eintreten muss. Aufgrund ihres Stigmas werden Betroffene diskriminiert. Die Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch Kranker und ihrer Angehöriger ist vielfach belegt worden (Gaebel et al. 2004). Weitreichende Skepsis ist selbst bei Ärzten gut belegt und betrifft auch die an der Versorgung psychisch Kranker beteiligten Fachpersonen (Psychiater, Psychologen etc.). Die mangelnde Erkennung psychischer Störungen führt in der Regel zu Fehlbehandlungen, die sich als außerordentlich kostenträchtig erwiesen haben. Nur wenn es gelingt, psychische Krankheiten zu entstigmatisieren, können die bereits verfügbaren sinnvollen Behandlungen optimal und kosten-effektiv eingesetzt werden. Ein niedrig schwelliges und früh im Krankheitsprozess greifendes Angebot ist gerade bei psychischen Störungen dringend geboten. Höhere Zuzahlungen für Psychotherapie führen häufiger dazu, dass Psychotherapie gerade für die Bedürftigsten außer Reichweite gelangt (Landennan et al. 1994, Simon et al. 1995). Grundsätzlich muss es genau so einfach möglich sein, für einen psychischen »Beinbruch« adäquate Hilfe zu bekommen wie bei einer somatischen Krankheit. Praktische Umsetzung: Die Möglichkeiten einer optimal kosten-effek-

tiven Versorgung sind aufgrund der Rahmenbedingungen psychologischer Psychotherapie begrenzt, wenn empirisch fundierte effektive Behandlungen, deren Wirksamkeit auch bei kurzer Therapiedauer nachgewiesen wurde, gar nicht erst den Weg in die klinische Praxis finden (vgl. Margraf & Poldrack 2000 zur Angstbehandlung mit Verhaltenstherapie). Der Praxistransfer muss daher als eigenständiger Aspekt der (Weiter-) Entwicklung einer Behandlungsform angesehen werden (vgl. Kosfelder, Poldrack & Jacobi, 1999). Neben der Verbreitung von Therapiemethoden spielt auch die Erreichbarkeit von Versorgern eine Rolle. Nach den Zahlen des Bundesamtes für Statistik kam in der Schweiz im Jahr 2002 ein Arzt mit Praxistätigkeit auf 510 Einwohner (nach Region schwankend, BS und GE 2–3 mal höher als Zentralschweiz). Für Allgemeinärzte lag dieser Wert bei 2‘472, für Psychotherapeuten bei 2‘987 (Achtung: viele Teilzeiterwerbende), für Psychiater bei 4‘864. Bessere Erreichbarkeit heißt jedoch nicht automatisch bessere Versorgung. So fanden Young et al. (2001) in einer amerikanischen Studie, dass die Wahrscheinlichkeit, eine angemessene

143 6.4 · Abschliessendes Fazit

Behandlung für Depressionen oder Angststörungen zu erhalten, beim Aufsuchen eines »mental health« Spezialisten viermal höher war, als wenn ein medizinischer Primärversorger aufgesucht wurde.

6.4

Abschließendes Fazit

Bei der Beurteilung von Kosten, Effektivität und Nutzen medizinischer oder psychologischer Therapien ist es grundsätzlich wichtig, dass nicht allein monetäre Gesichtspunkte oder Sparüberlegungen einfließen. Seit vielen Jahren ergeben alle diesbezüglichen Meinungsumfragen, dass der Bevölkerung Gesundheit als höchstes Gut gilt. Die meisten Menschen wären im Zweifelsfall bereit, sehr viel Geld für dieses Gut auszugeben, und viele tun dies über den Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus. Angesichts begrenzter Ressourcen können auch KostenEffektivitäts-Analysen dabei helfen, Fehlallokationen abzubauen und rationale Entscheidungen zu ermöglichen. Dies gilt vor allem dann, wenn die methodischen Grundlagen derartiger Studien angemessen berücksichtigt werden. Die vorliegende Auswertung der empirischen Literatur zeigt, dass 4 psychische Störungen zu den größten Kostenverursachen unseres Gesundheitswesens gehören, 4 Psychotherapie bei geeigneten Indikationen im Durchschnitt zu dauerhaften und klinisch relevanten Verbesserungen führt, 4 Die aktuelle Forschung der letzten 10 Jahre die Ergebnisse früherer Arbeiten in eindrucksvoller Weise bestätigt. 4 Psychotherapie führt demnach in der großen Mehrheit der Fälle zu Kosteneinsparungen bei medizinischen Maßnahmen, die in der Regel bereits in den ersten zwei Jahren nach Therapieende die Therapiekosten wieder ausgleichen. Kontrollanalysen zeigen, dass diese Ergebnisse nicht durch Publikationsverzerrungen erklärt werden können. 4 Im Vergleich zu medikamentösen Alternativbehandlungen führt vor allem die bessere Dauerhaftigkeit der Psychotherapiewirkungen zu einem günstigeren Kosten-Effektivitäts-Grad. 4 Durch eine hohe Zahl von Studien unter Praxisbedingungen bzw. so genannter Effectiveness-Studien können die Forschungsbefunde gut auf die klinische Routinepraxis übertragen werden. Diese Befunde dürfen nicht unbesehen auf alle Arten von Psychotherapien und alle Indikationen übertragen werden. Insbesondere Langzeittherapien müssen eine deutlich bessere Wirksamkeit als kürzere Therapien aufweisen, um noch kosten-effektiv zu sein. Auch wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass andere Prozesse wie Ausweichreaktionen ineffektiver Versorgungseinrichtungen dazu führen können, dass das KostenEffektivitätspotential psychotherapeutischer Maßnahmen selbst bei brei-

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Kapitel 6 · Diskussion

terer Anwendung nicht in vollem Umfang zur Geltung kommt. Zudem bleibt die ethische Gewichtung der verschiedenen Entscheidungskriterien eine kontinuierliche Aufgabe unserer Gesellschaft. Insgesamt stellt sich angesichts der Klarheit der Ergebnisse die grundsätzliche Frage, wie lange sich unser Gesundheitswesen noch den Luxus leisten kann, die eindeutigen Forschungsbefunde nicht angemessen zur Kenntnis zu nehmen. Richtig angewandte Psychotherapie kann unter vernünftigen Rahmenbedingungen einen wertvollen Beitrag zu einer effektiven und kostengünstigen Versorgung leisten. Es bleibt zu hoffen, dass der zunehmende Kostendruck im Gesundheitswesen einen heilsamen Einfluss auch auf eine angemessene Verwendung der Psychotherapie haben wird.

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7 7 Zusammenfassung

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Kapitel 7 · Zusammenfassung

Psychische Störungen gehören zu den größten Kostenverursachern im Gesundheitswesen. Dabei lässt sich in den Industriestaaten einschliesslich Deutschland und der Schweiz ein Trend zur Zunahme der Kosten aufgrund psychischer Störungen beobachten. Insgesamt sind die Folgekosten psychischer Störungen in den Industriestaaten fast doppelt so groß wie im Gesamtdurchschnitt der Welt (Murray & Lopez 1996a+b, WHO 2001). Auch wenn die größten Kostenfaktoren stationäre Behandlungen und Arbeitsausfälle sind, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Kosten und Nutzen auch für ambulante Psychotherapien. Im Auftrag des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan wurde eine aktuelle Literaturauswertung zu Kosten und Nutzen der ambulanten Psychotherapie unter Berücksichtigung methodischer und epidemiologischer Hintergründe durchgeführt. Nach einer kurzen Diskussion der Ausgangslage (Kapitel 1) wurde zunächst die Methodik detailliert dargestellt (Kapitel 2). Dabei wurden die wichtigsten verwendeten Begriffe aus den Themenbereichen Psychotherapie und ihre Indikationen, Validität, Effektivität, Kosten, Nutzen und Ermittlung der Relation zwischen Kosten und Nutzen bestimmt. Danach wurde das Vorgehen bei der Literatursuche konkret geschildert und begründet. Eine adäquate Interpretation der Befunde zu Kosten und Nutzen von Psychotherapie setzt eine hinreichende Kenntnis der Befundlage zur gesellschaftlichen Relevanz und den Kosten psychischer Störungen sowie zur Wirksamkeit der Psychotherapie voraus. Der aktuelle Stand der Forschung zu diesen Themen wurde in Kapitel 3 aufgearbeitet. Obwohl in der Schweiz ein Anwachsen der Zahl der Leistungserbringer im Bereich der psychischen Gesundheit festzustellen ist, ist die Dichte der Versorgungsangebote im internationalen Vergleich nach wie vor nicht sehr hoch (Meyer & Hell 2004). Hinsichtlich der psychologischen Psychotherapeuten handelt es sich im Wesentlichen um ein Nachholen einer Entwicklung, die in Deutschland und anderen Nachbarstaaten bereits länger vollzogen wurde. Die allgemeine Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren ist über jeden vernünftigen Zweifel hinaus belegt. Die Therapieerfolge sind vergleichbar oder größer als diejenigen für eine Vielzahl etablierter medizinischer Verfahren, wobei deutlich mehr Daten für Erwachsene als für Kinderpopulationen vorliegen. Wie bei medikamentösen Therapien scheinen positive Ergebnisse mit größerer Wahrscheinlichkeit publiziert zu werden als negative. Quantitative Analysen zeigen jedoch, dass auch nach Abzug derartiger Verzerrungseffekte ein signifikanter positiver Therapieeffekt erhalten bleibt. Nicht alle praktizierten Formen von Psychotherapie sind gleich gut untersucht bzw. in ihrer Wirksamkeit belegt. Gute Belege liegen für verhaltenstherapeutische Verfahren bei allen relevanten Indikationen vor. In geringerem Umfang und für weniger Indikationen liegen gute Belege auch für psychodynamische Kurztherapien, IPT und

147 Kapitel 7 · Zusammenfassung

gesprächspsycho-therapeutische Verfahren vor. Insgesamt weisen die Wirkungen psychotherapeutischer Verfahren eine gute Stabilität auf, die zudem deutlich besser belegt ist als denjenigen medikamentösen Behandlungen. Betrachtet man die epidemiologischen Daten v.a. der Angststörungen und Depressionen zusammen mit den Kostendaten in Deutschland und der Schweiz, so kann man die Ergebnisse mit dem Merksatz zusammenfassen: ! »Statt früh, ambulant und kostengünstig werden psychische Störungen spät, stationär und teuer behandelt.«

Kapitel 4 enthält zunächst eine Darstellung früherer Literaturübersichten zu Kosten und Nutzen von ambulanter Psychotherapie, bevor dann eine detaillierte Auswertung aller Originalarbeiten der letzten 10 Jahre vorgelegt wird. Dabei konnten für das vergangene Jahrzehnt 54 Studien mit über 13‘000 Patienten identifiziert werden. Die Studien deckten die wichtigsten Indikationsfelder ab und hatten in 71% der Fälle den Cost OffsetEffekt, in 65% Kosten-Nutzen-Effekte zum Gegenstand. In 95% der einschlägigen Studien wurde eine bedeutsame Kostenreduktion durch Psychotherapie gefunden (Cost Offset-Effekt), in 86% der entsprechenden Studien zeigte sich zudem eine Netto-Einsparung (positives Kosten-Nutzen-Verhältnis nach Abzug der Psychotherapiekosten). Dieser Effekt wird in der Regel bereits nach ein bis zwei Jahren erreicht und beruht vor allem auf zeitlich stabilen Kostenreduktionen bei den stationären Leistungen und den Arbeitsausfallkosten. In 76% der diesbezüglichen Studien war Psychotherapie gegenüber medikamentösen Strategien überlegen bzw. erbrachte einen signifikanten Zusatznutzen. Psychotherapie ist demnach nicht nur wirksamer, sondern auch billiger als keine Therapie bzw. eine Vielzahl von Vergleichbedingungen. Es darf jedoch nicht über verschiedenen Formen von Psychotherapie hinweg verallgemeinert werden. Diese positiven Befunde betreffen v.a. kognitiv-behaviorale Therapien (87% aller Studien), in geringerem Umfang auch andere störungsspezifische Kurzinterventionen und psychodynamische Kurztherapien. Für psychodynamische Langzeittherapien liegen dagegen nur wenige Studien vor. Diese führten entweder keine Kosten-Nutzen-Analysen durch oder erbrachten trotz eines Cost Offset-Effektes ein negatives Kosten-Nutzen-Verhältnis. Gleichzeitig liegen kosten-effektivere psychotherapeutische Alternativen mit zumindest gleicher klinischer Wirksamkeit vor. Allgemein zeigen Analysen des «Dosis-Wirkungs-Effektes» bei Psychotherapien, dass zwischen der Therapiedauer und dem Therapieerfolg ein kurvilinearer Zusammenhang besteht (Howard et al. 1986, 1999). Dabei wächst der Therapieerfolg zu Beginn einer Behandlung am schnellsten, flacht dann jedoch rasch ab und erreicht bei rund 60 Sitzungen asymptotisch den durchschnittlichen maximalen Effekt. Allerdings gibt es Abweichungen von diesen Durchschnittswerten, die mit der

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Kapitel 7 · Zusammenfassung

Art der verwandten Therapie und vor allem der Art der behandelten Probleme zusammenhängen. Die Ergebnisse der aktuellen Studien bestätigen die Befunde der früheren Literaturübersichten und schließen einige wichtige Kenntnislücken. Aufgrund des hohen Anteils an Studien unter Praxisbedingungen können die Ergebnisse zu Kosten und Nutzen gut auf die klinische Routinepraxis übertragen werden (Shadish et al. 1997, 2000, Hahlweg et al. 2001, Lueger et al. 2000). Es gibt es Hinweise auf eine verzerrte Publikationspraxis (vgl. Hunsley 2003). Wie bei medikamentösen Therapien scheinen positive Ergebnisse mit größerer Wahrscheinlichkeit publiziert zu werden als negative. Quantitative Analysen zeigen jedoch, dass auch nach Abzug derartiger Verzerrungseffekte ein signifikanter positiver Therapieeffekt erhalten bleibt. In der Diskussion wurden über die Kosten-Nutzen-Ergebnisse hinaus die methodischen, konzeptuellen und ethischen Fragen behandelt, die bei der Interpretation berücksichtigt werden müssen. Angesichts der Unausweichlichkeit von Verteilungsentscheidungen bei begrenzten Ressourcen ist eine explizite und wissensbasierte Entscheidungsfindung von besonderem Wert. Dabei stellen Kosten-Wirkungs-Analysen nur eine von mehreren Bewertungsgrundlagen für die Evaluationsforschung und die gesellschaftliche Entscheidungsfindung dar. Zudem muss immer die Validität der zugrunde liegenden Informationen berücksichtigt werden. Nach einer kurzen Erörterung der gesundheitspolitischen und gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Befunde wurden beispielhaft die folgenden Ansatzpunkte zur Steigerung der Kosten-Effektivität psychotherapeutischer Maßnahmen benannt: der verstärkte Einsatz erfolgreicher Minimalinterventionen, die frühzeitige Beendigung von Therapien mit geringen Erfolgschancen, die korrekte Indikation zu hohen Therapiedosierungen, die Entstigmatisierung psychischer Krankheit und die Frage des Praxistransfers. Die empirische Literatur belegt, dass die Nicht-Durchführung bzw. der Nicht-Einschluss von Psychotherapie im Versorgungssystem teuer sein kann. Den Milliardenkosten, die in der Schweiz von psychischen Störungen jährlich verursacht werden, stehen Aufwendungen für Psychotherapie von 161 Millionen Franken (im Jahr 2002 nach Bundesamt für Statistik 2005) gegenüber. Auch in Deutschland besteht ein ähnliches Missverhältnis zwischen hohen krankheitsbedingten Kosten und vergleichsweise geringen Ausgaben für Psychotherapien. Berücksichtigt man die außerordentlich konsistenten Belege für die Wirksamkeit psychologischer Interventionen bei Störungen wie Angstkrankheiten und Depressionen und die größere Kosten-Effektivität der Psychotherapie (v.a. kürzerer Behandlungsformen) gegenüber etwa antidepressiven Medikamenten, so kann man nur von einem Missverhältnis zwischen Krankheitskosten und Psychotherapieaufwendungen sprechen. Die mangelnde psychotherapeutische Versorgung muss daher als eine schwerwiegende

149 Kapitel 7 · Zusammenfassung

und ausgesprochen kostenträchtige Fehlversorgung für das Gesundheitswesen in Deutschland und der Schweiz angesehen werden. Umgekehrt darf allerdings auch nicht einfach davon ausgegangen werden, dass die alleinige Mehrinvestition in Psychotherapie automatisch zu verringerten Kosten führen würde. In gesundheitsökonomischen Modellen wird oft davon ausgegangen, dass Ressourcen, die durch bessere Behandlungen freigesetzt werden, nicht einfach verschwendet werden, sondern in alternative sinnvolle Maßnahmen fließen werden. Wenn freigesetzte Ressourcen jedoch in andere ineffektive oder nicht evaluierte Maßnahmen investiert werden, dann ergibt sich kein Einspareffekt bzw. es kann sogar zu einem Anstieg der Kosten kommen, ohne dass der Gesundheitsstatus der Bevölkerung verbessert wird. Auf diese Weise würde die Effektivität des Gesundheitswesens sinken. Die Verhinderung von Ausweichreaktionen ineffektiver Versorger ist daher von großer volkswirtschaftlicher und gesundheitspolitischer Bedeutung.

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8 8 Literatur

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Kapitel 8 · Literatur

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Anhang: Liste der zur Literatursuche kontaktierten Experten

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Anhang · Liste der zur Literatursuche kontaktierten Experten

Prof. Dr. Urs Baumann, Institut für Psychologie der Universität Salzburg Prof. Dr. Gerhard Bühringer, IFT Institut für Therapieforschung, München Prof. Dr. Franz Caspar, Institut für Psychologie der Universität Bern Prof. Dr. Klaus Grawe, Institut für Psychologie der Universität Bern Prof. Dr. Kurt Hahlweg, Abt. für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Diagnostik, Institut für Psychologie der TU Braunschweig Prof. Dr. Viktor Hobi, Fakultät für Psychologie der Universität Basel Prof. Dr. Siegfried Höfling, Hanns-Seidel-Stiftung, München Prof. Dr. Sven-Olaf Hoffmann, vormals Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Mainz Prof. Dr. Stefan G. Hofmann, Department of Psychology, Boston University Dr. Frank Jacobi, Klinische Psychologie und Psychotherapie, TU Dresden Prof. Dr. med. Horst Kaechele, Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universität Ulm Prof. Dr. Dr. Uwe Koch, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Eppendorf, Hamburg Detlev Kommer, Präsident, Bundespsychotherapeutenkammer Deutschland, Berlin Dr. Hans Kordy, Forschungsstelle für Psychotherapie Stuttgart Dr. Simon-Peter Neumer, Forsker Regions for Barne- og Ungdomspsykiatri (R.BUP), Oslo Prof. Dr. Meinrad Perrez, Institut für Psychologie, Universität Fribourg Prof. Dr. Silvia Schneider, Abt. für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, Fakultät für Psychologie der Universität Basel Prof. Dr. Dietmar Schulte, Arbeitseinheit Klinische Psychologie und Psychotherapie, Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität Bochum Lic. phil. Peter Schulthess, SPV Schweizerischer Psychotherapeutenverband Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen, Klinische Psychologie und Psychotherapie, TU Dresden Prof. Dr. phil. Manfred Zielke, Klinische Psychologie an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim

Druck: Krips bv, Meppel, Niederlande Verarbeitung: Stürtz, Würzburg, Deutschland