Konzepte des Hochdeutschen: Der Sprachnormierungsdiskurs im 18. Jahrhundert (Studia Linguistica Germanica) (German Edition) [1 ed.] 3110203650, 9783110203653 [PDF]

This study in the history of language and culture is concerned with the discourse on the German Standard language in the

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German Pages 591 Year 2009

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Frontmatter
......Page 2
Vorwort
......Page 6
Inhaltsverzeichnis......Page 8
1. Zum Gegenstand und zur Konzeption der Untersuchung......Page 14
2. Theorie und Methode......Page 37
3. Der sprachgeographische Diskursbereich......Page 70
4. Der sprachsoziologische Diskursbereich......Page 324
5. Der sprachideologische Diskursbereich......Page 402
6. Der stilistische Diskursbereich......Page 476
7. Zusammenfassung und Ausblick......Page 543
8. Literaturverzeichnis
......Page 554
9. Namenregister
......Page 588
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Konzepte des Hochdeutschen: Der Sprachnormierungsdiskurs im 18. Jahrhundert (Studia Linguistica Germanica) (German Edition) [1 ed.]
 3110203650, 9783110203653 [PDF]

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Zitiervorschau

Konzepte des Hochdeutschen: Der Sprachnormierungsdiskurs im 18. Jahrhundert

Katja Faulstich

Walter de Gruyter

Katja Faulstich Konzepte des Hochdeutschen



Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Christa Dürscheid Andreas Gardt Oskar Reichmann Stefan Sonderegger

91

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Katja Faulstich

Konzepte des Hochdeutschen Der Sprachnormierungsdiskurs im 18. Jahrhundert

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Dissertation an der Universität Kassel, Fachbereich 02 Sprach- und Literaturwissenschaften, Tag der Disputation: 18. 04. 2007

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020365-3 ISSN 1861-5651 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen

Vorwort Mein herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater und akademischen Lehrer Prof. Dr. Andreas Gardt, der stets Zeit fand, die Fragestellungen und Schwierigkeiten der Arbeit zu diskutieren, und der mir wertvolle Hinweise und Ratschläge gegeben hat. Seine inspirierende Art und seine Zuversicht haben mich immer wieder in meiner Arbeit bestärkt. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Ingo H. Warnke, der meinen akademischen Werdegang frühzeitig unterstützt hat. Die anregende und lebhafte Diskussionskultur im Fachbereich 02 Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Kassel hat meinen wissenschaftlichen Horizont erweitert, besonders Dr. Mathilde Hennig sei für die vielfältige Hilfe und stets konstruktive Kritik gedankt. Für die großzügige Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses durch den Fachbereich möchte ich mich – insbesondere als Empfängerin des Arthur-Fandrey-Preises des Jahres 2007 – ebenfalls ausdrücklich bedanken. Besonders gedankt sei auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bereichsbibliothek 2 der Universitätsbibliothek Kassel. In jeder Phase dieser Arbeit standen mir mein Partner Marcel Christ, mein Bruder Jörg und viele Freunde tatkräftig und hilfreich zur Seite. Namentlich bedanken möchte ich mich bei Nina und Hans Sturm, Jennifer Villarama, Gerrit Schäfer, Klaus Rode, Kathrin Donskoi, Christine Jahn und Inken Waßmuth. Dank ihrer Hilfe, ihres nie versiegenden Zuspruchs, aber auch ihrer ehrlichen Kritik und stetigen Bereitschaft zum (nicht-)wissenschaftlichen Diskurs habe ich die Höhen und Tiefen der Promotionszeit glücklich überstanden. Marcel hat maßgeblichen Anteil an der gelungenen Gestaltung der Graphiken in dieser Arbeit. Nicht zuletzt möchte ich mich bei meinen Eltern für ihre großzügige Unterstützung und ihr Vertrauen in meinen akademischen Werdegang bedanken. Sie haben mich stets ermutigt, meinen Weg zu gehen. Die mühevolle Korrektur der umfangreichen Arbeit hat in weiten Teilen Marlies Krieger übernommen, der ich hierfür aufrichtigen Dank schulde. Für die Vorbereitung der Drucklegung und umsichtige Gestaltung des Buchmanuskriptes möchte ich mich bei Dr. Anette Nagel und Petra Oerke und den mit dem Buch befassten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des de Gruyter Verlags bedanken. Sollten sich im Zuge der letz-

VI

Vorwort

ten Arbeitsphase Verstöße gegen die Rechtschreibung und Zeichensetzung eingeschlichen haben, sind sie allein mir anzulasten. Zuletzt möchte ich den Herausgebern für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Studia Linguistica, inbesondere Prof. Dr. Oskar Reichmann und Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Stefan Sonderegger, danken. Kassel, im September 2008

Katja Faulstich

Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................. V 1. Zum Gegenstand und zur Konzeption der Untersuchung.......................................................................... 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Einleitung ...........................................................................................1 Hochdeutsch und Sprachreflexion.................................................4 Hochdeutsch und nationale Identität ............................................9 Korpus und Akteure...................................................................... 15 Aufbau der Untersuchung ............................................................ 22

2.

Theorie und Methode .......................................................... 24

2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4 2.5 2.6

Zum Diskursbegriff Michel Foucaults ....................................... 24 Diskursanalyse und Linguistik ..................................................... 30 Diskurslexik und Diskurslexikographie...................................... 34 Schlüsselwörter, Bezeichnungskonkurrenz, Bedeutungskonkurrenz, Deontik ................................................ 38 Wortartikel als Bausteine eines Diskurswörterbuchs .............. 40 Diskursive Argumentationsmuster.............................................. 47 Diskurssemantische Grundfiguren ............................................. 50 Diskursbereiche.............................................................................. 51

3.

Der sprachgeographische Diskursbereich ........................ 57

3.1

Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen ........................................................... 57 Exkurs: Die Diskussion um das Hochdeutsche im 17. Jahrhundert............................................................................... 63 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen in der Zeit von 1700 bis 1748............................................................................................ 65 Das Konzept einer Leitvarietät in sprachreflexiven Schriften ostmitteldeutscher Sprachkundler.............................. 65 Hochdeutsch in der Orthographielehre Freyers ....................... 65 Hochdeutsch in der Rhetorik Hallbauers................................... 70 Zum Konzept einer Leitvarietät in sprachreflexiven Schriften unterschiedlicher Schwerpunktsetzung ..................... 72 Fazit: Konzeptionen einer Leitvarietät in sprachreflexiven Schriften von Diskursakteuren des ostmitteldeutschen Sprachgebiets bis zur Jahrhundertmitte ............................................................................ 77 Stigmatisierung des Oberdeutschen............................................ 79

3.2 3.3 3.3.1 3.3.1.1 3.3.1.2 3.3.1.3 3.3.1.4

3.3.2

VIII

3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.2.3 3.3.3 3.3.3.1 3.3.3.2 3.3.3.3 3.3.3.4 3.3.4 3.3.4.1 3.3.4.2 3.3.5 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.3.1 3.4.3.2 3.4.3.3 3.4.3.4 3.4.4 3.4.4.1 3.4.4.2 3.4.5 3.4.5.1 3.4.5.2 3.4.5.3 3.4.5.4 3.4.5.5 3.4.5.6 3.4.5.7

Inhaltsverzeichnis

Historischer Kontext..................................................................... 79 Exemplarische Analyse: „Der Undeutsche Catholik“.............. 80 Zur Bewertung des Oberdeutschen und der Sprachkultivierung in Süddeutschland........................................ 85 Anzeichen eines Sprachbewusstseins der Oberdeutschen ............................................................................... 86 Historischer Kontext..................................................................... 86 Heräus’ Plan einer „Carolinischen“ Akademie.......................... 87 Hochdeutsch in den Beiträgen des „Parnassus Boicus“.......... 89 Von Antespergs Konzept der Gleichwertigkeit der Varietäten ........................................................................................ 93 Hochdeutsch und Sprachbewusstsein in der Schweiz ............. 96 Historischer Kontext..................................................................... 96 Hochdeutsch und schweizerisches Sprachbewusstsein ........... 97 Zusammenfassung: Die sprachgeographische Bestimmung des Hochdeutschen bis 1748.............................. 105 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748................................ 107 Zur Konzeption einer Leitvarietät bei Johann Christoph Gottsched................................................................... 107 Zur Leitvarietät in der Grammatik Johann Heinrich Fabers............................................................................................. 112 Hochdeutsch und Oberdeutsch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts .................................................................... 115 Historischer Kontext................................................................... 115 Zur Ablehnung des Meißnisch-Obersächsischen................... 119 Zur Akzeptanz der Vorbildlichkeit des Obersächsischen ..... 129 Die Stigmatisierung des Oberdeutschen bei Adelung............ 143 Zusammenfassung und Auswertung ........................................ 146 Adelungs Dogmatisierung des Vorbildanspruchs des Obersächsischen........................................................................... 154 Pluralisierung regionaler Leitvarietäten .................................... 166 Zur Bewertung von Niederdeutsch und Hochdeutsch ......... 184 Zum historischen Kontext ......................................................... 184 Frühe Kritik an der Verachtung des Niederdeutschen .......... 186 Forderung nach Kultivierung und Normierung des Niederdeutschen .......................................................................... 192 „as’t de lüde hier verstahn“ – Niederdeutsch als Sprache der Kirche und als Rechtssprache.............................. 194 Friedliche Koexistenz des Hoch- und Niederdeutschen....... 202 Bewertungen der Sprachsituation in Westfalen ...................... 204 Stigmatisierung des Niederdeutschen ....................................... 207

Inhaltsverzeichnis

3.4.5.8

IX

3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4

Positive Bewertungen des Niederdeutschen am Ende des 18. Jahrhunderts .................................................................... 215 Fazit: Verehrung und Verachtung des Niederdeutschen....... 219 Hochdeutsch und Dialekt in den Idiotismensammlungen und Mundartwörterbüchern des 18. Jahrhunderts ........................................................................... 222 Die Infragestellung des obersächsischen Sprachvorbilds durch Publizisten und Literaten im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ........................................................................... 235 Zusammenfassung und Auswertung: Dogmatisierung und Pluralisierung der sprachgeographischen Legitimierung des Hochdeutschen............................................ 259 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter.............. 264 ‚Hochdeutsch‘............................................................................... 264 ‚Meißnisch‘/,Obersächsisch‘ ...................................................... 283 ‚Niederdeutsch‘/‚Plattdeutsch‘ .................................................. 292 ‚Oberdeutsch‘................................................................................ 303

4.

Der sprachsoziologische Diskursbereich........................ 311

4.1

Die Leitdifferenz ›Stigmasoziolekt vs. Prestigesoziolekt‹ als diskurssemantische Grundfigur ........................................... 311 Diskursives Argumentationsmuster I: Stigmatisierung der Sprache der niederen Schichten.......................................... 316 Diskursives Argumentationsmuster II: Stilisierung des Sprachgebrauchs der Bildungseliten und der Oberschichten als ‚Prestigesoziolekt‘........................................ 321 Diskursives Argumentationsmuster III: Ambivalente Bewertung des Sprachgebrauchs des Adels ............................. 325 Gegenentwürfe sprachsoziologischer Sprachvorbilder.......... 327 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen ................................................................................. 331 Sprachsoziologische Bestimmungen der Leitvarietät im Kontext von Rhetoriken und Stillehren ................................... 331 Wörterbücher und Mundartwörterbücher ............................... 340 Grammatiken, Orthographielehren und übersetzungstheoretische Schriften........................................... 350 Sprachreflexive Schriften mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten .................................................... 355 Hochdeutsch als überkonfessionelle Leitvarietät.................... 356 Hochdeutsch als Sprache der oberen Schichten Obersachsens................................................................................ 357

3.4.5.9 3.4.6 3.4.7 3.4.8

4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.4.1 4.2.4.2

X

4.2.4.3 4.2.4.4 4.2.4.5 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.4

Inhaltsverzeichnis

Hochdeutsch als Sprache der Schriftsteller.............................. 359 Hochdeutsch als Sprache der Bildungseliten und der Oberschichten .............................................................................. 362 Hochdeutsch als gesprochene Sprache der Bildungseliten Deutschlands ...................................................... 363 Diskurslexik: Sprachsoziologische Schlüsselwörter................ 367 ‚Bauer‘ ........................................................................................... 367 ‚Gelehrte‘...................................................................................... 370 ‚Hof‘ .............................................................................................. 378 ‚Pöbel‘ ........................................................................................... 382 Fazit: Hochdeutsch im Kontext bürgerlicher Ordnungsvorstellungen und Emanzipation ............................ 386

5.

Der sprachideologische Diskursbereich.......................... 389

5.1

5.5

Diskurssemantische Grundfiguren des sprachideologischen Diskursbereichs ....................................... 390 Aus Liebe zum Vaterland: Sprachnormierung und Sprachpatriotismus ...................................................................... 394 ‚Unifizierung‘ der Kommunikationsgemeinschaft.................. 402 Zur Semantik identitätsstiftender Kollektivbezeichnungen im Sprachnormierungsdiskurs ...... 402 Diskurslexik: Sprachideologische Schlüsselwörter ................ 410 ‚Sprachgeist‘ und ‚Nationalgeist‘............................................... 432 Der Klima-Topos......................................................................... 438 Die identitätsstiftende Funktion der Literatur ........................ 443 ‚Historisierung‘ und ‚Ethnisierung‘ der Kommunikationsgemeinschaft .................................................. 447 Fazit: Die Konstruktion einer ‚Sprachnation‘ ......................... 458

6.

Der stilistische Diskursbereich......................................... 463

6.1

Stilistische Kategorien zur Beschreibung und Bewertung von Sprache .............................................................. 463 ‚Deutlich‘ – ‚verständlich‘ – ‚klar‘: Der Erfolg rationalistischer Stilprinzipien .................................................... 467 Das stilistische Schlüsselwort ‚deutlich‘ .................................. 468 Das stilistische Schlüsselwort ‚verständlich‘ ........................... 482 Das stilistische Schlüsselwort ‚klar‘ .......................................... 486 Diskurslexik: Das stilistische Schlüsselwort ‚verständlich‘ ................................................................................. 491 Der Eindeutigkeits-Topos im Spannungsfeld von Sprache und Denken ................................................................... 502 Zu den stilistischen Schlüsselwörtern ‚rein‘ und ‚richtig‘ ..... 505

5.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.4

6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.3

Inhaltsverzeichnis

6.4 6.5 6.6

XI

Der ‚natürliche Stil‘ ...................................................................... 520 Exkurs: Aufbegehren gegen die Verabsolutierung aufklärerischer Stilprinzipien...................................................... 524 Stil im Kontext aufklärerischer Kommunikationsbedingungen................................................... 527

7. 8.

Zusammenfassung und Ausblick ..................................... 530 Literaturverzeichnis............................................................ 541

8.1 8.2

Quellen........................................................................................... 541 Forschungsliteratur ...................................................................... 558

9.

Namensregister ................................................................... 575

1. Zum Gegenstand und zur Konzeption der Untersuchung

1. Zum Gegenstand und zur Konzeption der Untersuchung 1.1 Einleitung

1.1 Einleitung

Kaum eine Frage wird in den deutschsprachigen Gebieten des 18. Jahrhunderts intensiver in den zeitgenössischen Wörterbüchern, Grammatiken, Stillehren, Rhetoriken und anderen sprachbezogenen Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften reflektiert und diskutiert als die Frage, was das ‚gute‘ und ‚richtige‘ Deutsch sei. Für dieses Deutsch ist seit dem 16. Jahrhundert die Bezeichnung ‚Hochdeutsch‘ im Gebrauch. Allerdings sind sich die zahlreichen Lexikographen, Grammatiker, Sprachphilosophen, Literaten, Publizisten und andere mit Sprache befasste Personen, die hier als ‚Sprachkundler‘ bezeichnet werden, keineswegs einig über die Gestalt und die Legitimation des Hochdeutschen.1 Die bürgerlichen Sprachkundler in den deutschsprachigen Gebieten sind mit Nachdruck bemüht, eine funktional leistungsfähige, in den Bereichen Lexik und Grammatik, insbesondere der Orthographie und Orthoëpie, normierte (Standard-)Sprache zu schaffen, die als Gemeinsprache im eigentlichen Sinne allen Sprechern und Sprecherinnen zur Verfügung steht und deren Verwendung gleichzeitig verpflichtend ist und die darüber hinaus eine international anerkannte Prestigesprache darstellt. Die Ausgangsbedingungen für die Entstehung einer solchen Standardsprache sind im 18. Jahrhundert mehr als schwierig (vgl. Gessinger 1995): − In den deutschsprachigen Territorien konkurrieren verschiedene politisch-kulturelle Zentren. Damit verbunden fehlen überregionale Institutionen, etwa eine der Académie française vergleichbare „Deutsche Akademie“. Dieser Mangel wird von den Sprachkundlern des 18. Jahrhunderts nicht selten beklagt (vgl. beispielsweise [Kandler] ATS 1736, 72f.).

1

Die Sprachkundler sind in unterschiedlichen Berufsfeldern tätig, etwa als Bibliothekare, Universitätslehrer, Schullehrer, Fremdsprachenlehrer, Publizisten oder Schriftsteller. Viele stehen als Theologen im Dienste der Kirche.

2



1. Zum Gegenstand und zur Konzeption der Untersuchung

Auf Seiten der gesprochenen Sprache existiert eine ausgeprägte dialektale Vielfalt. Zwischen gesprochenem Dialekt und standardsprachlicher Schriftsprache besteht darüber hinaus eine fundamentale Diglossie. − Wenngleich sich über die Größe der alphabetisierten Teile der Bevölkerung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts keine verlässlichen, flächendeckenden Zahlen erheben lassen, ist von einem hohen Anteil nicht-alphabetisierter Bevölkerungsgruppen auszugehen. − In den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen konkurrieren verschiedene Sprachen: Während das Latein immer noch eine bedeutende Rolle im Bildungssektor einnimmt, orientiert sich der Adel vor allem an den Kultursprachen Französisch und Italienisch. − Bis in das 19. Jahrhundert hinein bleibt die konzeptionelle wie administrative Verantwortung für die elementare und zum Teil auch höhere Schulbildung bei den Kirchen, dies ist besonders in katholischen Territorien von Bedeutung, in denen zum Teil bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Zensurmaßnahmen die Rezeption aufklärerischer Schriften erschweren. − Immerhin sind die Drucker und Verleger an einem überregionalen Absatz neuer Produkte interessiert, was dem sprachlichen Ausgleich zuträglich ist. Diesen problematischen Ausgangsbedingungen stehen eine Reihe von vielschichtigen Modernisierungsprozessen entgegen, die vor allem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Entwicklung einer modernen, arbeitsteilig organisierten Gesellschaft begünstigen. So entsteht im Zuge dieser Modernisierung ein Bildungs-, Beamten und Handelsbürgertum sowie ein neuer Typus des Schriftstellers, der marktbezogen und überregional publiziert und im literarischen Diskurs eine neue Subjektposition beansprucht (Genieästhetik). Gleichzeitig wandeln sich die Kommunikationsverhältnisse grundlegend: Es entstehen Zeitungen, Zeitschriften und andere Textsorten, die sich einer stetig wachsenden Leserschaft erfreuen. Während sich in der Wissenschaft eine zunehmende Professionalisierung konstatieren lässt, schreitet im ökonomischen Bereich die Kapitalisierung voran. Kristallisationspunkt dieser Entwicklung ist die Entstehung des Bürgertums. Diese Entstehung einer überregionalen Kommunikationskultur mit einem wachsenden Kreis an Akteuren erhöht in den einzelnen deutschsprachigen Gebieten das Bedürfnis und die Notwendigkeit, auf eine gemeinsame Standardsprache zurückgreifen zu können. Mit diesen Entwicklungen einher geht außerdem das Nachdenken über die Gemeinsamkeiten

1.1 Einleitung

3

und Unterschiede der Sprecher des Deutschen im Sinne einer ‚nationalen deutschen Identität‘. Allerdings sind sich die Sprachkundler keineswegs darüber einig, wie eine solche Standardsprache angesichts der Vielzahl konkurrierender Sprachlandschaften im Detail beschaffen sein sollte. Ebenso umstritten ist die Frage, wie die zur Norm erhobene Sprache legitimiert werden könnte. Eine Möglichkeit der Legitimation der Standardsprache besteht darin, ein bestimmtes Sprachgebiet als Vorbild zu wählen. Diese Position wurde im 18. Jahrhundert besonders prominent vertreten von Johann Christoph Adelung. In einem Aufsatz mit dem Titel „Was ist Hochdeutsch?“ im „Magazin für die deutsche Sprache“ (Adelung 1MDS/I 1782) erklärt Adelung – wie bereits in vielen Publikationen zuvor – das Obersächsische der Oberschichten zum Vorbild für die hochdeutsche Standardsprache. Dies begründet er vor allem mit der einzigartigen kulturellen Blüte Kursachsens, die dieses Gebiet vor allen anderen Sprachlandschaften auszeichne. Mit der Aufwertung des Obersächsischen geht eine massive Abwertung anderer Sprachgebiete einher. So kennzeichnet er das Oberdeutsche als eine „hauchende“ und „zischende“ Sprache und wertet das Niederdeutsche als „schlüpfrige“ Sprache ab (vgl. Adelung GKW/1 1774, IX). Damit schreibt er eine Abwertung des Ober- und Niederdeutschen fort, die bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts bei Vertretern des obersächsischen Leitbildes zu beobachten ist. Diese Abwertung anderer Sprachlandschaften hat von Beginn an Widerspruch von Gebildeten aus dem nord- und oberdeutschen Sprachraum provoziert. Gegen Adelungs Argumentation wehrt sich beispielsweise Johann Erich Biester, der in der „Berlinischen Monatsschrift“ einen Beitrag mit dem vielsagenden Titel „Ist Kursachsen das Tribunal der Sprache und Litteratur für die übrigen Provinzen Deutschlands?“ (Biester KT 1783) veröffentlicht. Den Vorbildanspruch des Obersächsischen lehnt er entschieden ab. Besonders kritisiert er Adelungs Behauptung, die obersächsische Literatur in der Zeit von 1740 bis 1760 sei der kulturelle Höheund Endpunkt deutscher Literaturgeschichte (ebd., 196). Die vorliegende Arbeit untersucht diese unterschiedlichen Konzepte des Hochdeutschen der Sprachkundler in den deutschsprachigen Territorien des 18. Jahrhunderts. Berücksichtigt werden Konzepte und Legitimationen des Hochdeutschen, wie sie beispielsweise in den oben skizzierten, unterschiedlichen Argumentationen zum Ausdruck kommen. Die sprachsystematische Fragestellung, ob und warum sich eine bestimmte regionale Variante durchgesetzt hat oder nicht, bleibt dabei unberücksichtigt. Eine Behandlung sprachstruktureller Phänomene erfolgt nur dann, wenn sie für

4

1. Zum Gegenstand und zur Konzeption der Untersuchung

den Argumentationsgang der Arbeit wichtig ist.2 Der Kommunikationszusammenhang, in dem sich die Sprachkundler in den deutschsprachigen Territorien des 18. Jahrhunderts zur Frage des Hochdeutschen äußern, wird als ‚Sprachnormierungsdiskurs‘ verstanden. Diese Definition des Diskurses verweist auf eine Richtung der Diskurslinguistik, die sich auf den französischen Philosophen Michel Foucault beruft (vgl. Warnke 2007). Die theoretischen und methodischen Implikationen dieser Definition werden in Kapitel 2 ausführlich dargelegt. Vorab wird der Forschungsstand zum Hochdeutschen skizziert, wobei zwei Schwerpunkte gesetzt werden. Zunächst werden Arbeiten vorgestellt und diskutiert, die sich mit der Frage der Herausbildung der hochdeutschen Standardsprache im 18. Jahrhundert beschäftigen. Die Darstellung zeigt, dass die bisherigen Forschungsarbeiten vorrangig die Frage der Konkurrenz unterschiedlicher Sprachlandschaften untersucht haben. Daran anknüpfend soll der Zusammenhang zwischen der Entstehung einer Standardsprache und der im 18. Jahrhundert sich konstituierenden nationalen deutschen Identität herausgearbeitet werden.

1.2 Hochdeutsch und Sprachreflexion 1.2 Hochdeutsch und Sprachreflexion

Die Diskussion um die Gestalt und die Legitimation des Hochdeutschen ist eines der Kernthemen der Sprachreflexion in den deutschsprachigen Gebieten des 18. Jahrhunderts. Unter ‚Sprachreflexion‘ wird in dieser Arbeit in Anlehnung an Bär die bewusste Reflexion von Sprechenden und Schreibenden über die volle Bandbreite sprachlicher Phänomene verstanden (vgl. Bär 1999a, 58 sowie Gardt et al. 1991, 17), z. B. über: − die Funktionen der Sprache als individuelles und gesellschaftliches Phänomen, − den Ursprung der Sprache bzw. der menschlichen Sprachfähigkeit überhaupt sowie die Herkunft des Deutschen im Besonderen, − sprachsystematische Aspekte wie den Wortschatz sowie die Wortbildungsmöglichkeiten des Deutschen etc. und die Problematik fremdsprachlicher Einflüsse,

2

Untersuchungen der Normierung des Deutschen in den Grammatiken des 18. Jahrhunderts, die die Diskussion um die Leitvarietät berücksichtigen, liegen vor von Konopka (1996) und Langer (2001).

1.2 Hochdeutsch und Sprachreflexion

5



die Eignung des Deutschen als Literatursprache und seine Aufwertung als europäische Kultursprache3, − die Formulierung von „Handlungsanleitungen“ für die Verwendung des Deutschen in verschiedenen situativen Kontexten, beispielsweise in Form von Epistolographien, − den muttersprachlichen Unterricht und seine Didaktisierung. Das Nachdenken über eine hochdeutsche Standardsprache ist bereits für das 16. Jahrhundert belegt. Die Bezeichnung ‚Hochdeutsch‘ wird allerdings zunächst nur zur geographischen Abgrenzung des hochdeutschen vom niederdeutschen Sprachgebiet verwendet. Ein entscheidender Bedeutungswandel erfolgt mit der „Orthographia“ des Schlesiers Fabian Frangk von 1531, in der zum ersten Mal das Ziel einer überregionalen Einheitssprache formuliert wird (vgl. Frangk OD 1531). Der Ausdruck ‚Hochdeutsch‘ ersetzt schließlich die seit dem 14. Jahrhundert für die überregionale Sprachform gebräuchliche Bezeichnung ‚gemein Teutsch‘.4 Die in den sprachreflexiven Texten zur Diskussion stehende Standardsprache ist Teil eines umfassenden sprach- und kulturpatriotischen Projekts, dessen Ziel eine einheitliche, alle Varietäten übergreifende, deutsche Sprache mit hohem Prestige ist. Das Prestige dieser Sprachform ist eine ganz entscheidende Größe. Der sprachpolitischen Bewegung des 17. und 18. Jahrhunderts geht es nicht allein um das Erreichen einer überregionalen Verständlichkeit und eines differenzierten sprachlichen Ausdruckpotenzials, sondern vielmehr um eine kultivierte und kunstmäßige Handhabung der Sprache (vgl. Reichmann 1990, 154). Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die zahlreichen existierenden Varianten anhand einer normstiftenden Sprachform beurteilt werden. Dabei stehen sich oftmals verschiedene Varietäten gegenüber: gesprochene Sprache vs. Schriftsprache, regionale Varietät vs. überregionales Substrat aller Dialekte, Umgangssprache vs. Sprache öffentlicher Kommuni3 4

Zu den Kriterien, die eine moderne Kultursprache auszeichnen, insbesondere deren Polyfunktionalität, vgl. Warnke (2001). Ein Indiz für das Entstehen eines überregionalen Sprachvorbilds sind die seit dem 14. Jahrhundert belegten Bezeichnungen ‚gemein Teutsch‘ und ‚communis linguae Germaniae‘. Die Bedeutungen der Ausdrücke sind eher vage. Von Polenz (1994, 145f.) verweist auf folgende Bedeutungen: 1. das ‚Deutsche‘ in Abgrenzung zum Latein bzw. zur Fremdsprache überhaupt, 2. das ‚Deutsche‘ als allgemein verständliche Sprache (‚lingua vernacula‘) im Gegensatz zum hochstilisierten Kanzlei- oder Humanistendeutsch, 3. eine überregionale, prestigereiche deutsche Sprache im Gegensatz zum Dialekt, teils ‚Hochdeutsch‘ im Gegensatz zu Niederdeutsch, Niederländisch, Schweizerdeutsch bzw. das Deutsche angesehener Institutionen (Kanzleien, Gerichte, Kaiserhof) und/oder die deutsche Schrift- und Drucksprache im oberdeutschen Sprachraum mit den Zentren Augsburg, Nürnberg und Regensburg.

6

1. Zum Gegenstand und zur Konzeption der Untersuchung

kationsbereiche (Gelehrtensprache), süddeutsche Kanzleisprache vs. nordund mitteldeutsche Fachprosa und Literatur. Reichmann (2000) hat den Prozess, in dem einzelne Varietäten eine Vorbildfunktion zugewiesen bekommen, die die Auswahl bestimmter Varianten legitimiert, als ‚Vertikalisierung‘ beschrieben. Die von den Sprachkundlern jeweils als Vorbild charakterisierte Sprachform bezeichnet er als ‚Leitvarietät‘.5 Im Verlauf der Vertikalisierung wird eine Leitvarietät etabliert, die für alle Sprecher und Sprecherinnen gleichermaßen verbindlich sein soll. Die Vorbildlichkeit bestimmter Varietäten ist in der Regel außersprachlichen Faktoren geschuldet. So werden bestimmte Varianten als ‚richtig‘ bzw. als Norm deklariert, weil sie ein besonderes Prestige besitzen.6 Die Konstituierung und Konsolidierung der als ,Hochdeutsch‘ bezeichneten Leitvarietät ist das Ergebnis einer umfassenden Sprachkultivierung, die sich über mehrere Jahrhunderte erstreckt (von Polenz 1994, 135ff.), wobei die Konsolidierung der neuhochdeutschen Standardsprache gemeinhin am Ende des 18. Jahrhunderts als abgeschlossen gilt.7 Diese Sprachkultivierung und -normierung wurzelt geistesgeschichtlich in der Frühen Neuzeit und setzt bekanntlich mit dem Humanismus ein. Sie erreicht ihren ersten Höhepunkt in Form der umfassenden sprach- und kulturpflegerischen Bemühungen der barocken Sprachgesellschaften, für die eine Verschränkung der Pflege der Muttersprache mit moralischsittlichen Anliegen kennzeichnend ist (vgl. Gardt 1998). Im deutschen Sprachraum setzt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine breite Rezeption der englischen und französischen Aufklärung 5 6

7

In der Forschungsliteratur wird eine Vielfalt partieller Synonyme verwendet: Standardsprache, Nationalsprache (vgl. Guchmann 1969), Hochsprache, Literatursprache etc. Ein Modell von Standardvarietäten hat Ammon (1987, 1992) vorgelegt und weiterentwickelt. Die sprachgeschichtliche Forschung geht seit etwa den 1960er Jahren davon aus, dass die neuhochdeutsche Schriftsprache als das Ergebnis eines schreiblandschaftlichen Ausgleichs zu betrachten ist. Im Verlauf dieses Prozesses, der im 16. Jahrhundert einsetzt, setzt sich jeweils eine regionale Variante, beispielsweise des Wortschatzes, durch. In Anlehnung an Besch lassen sich vier Wirkungsprinzipien unterscheiden: Geltungsareal (Verbreitungsradius), Geltungsgrad (Verwendungshäufigkeit), strukturelle Disponiertheit (Integration in das Sprachsystem) sowie Landschaftskombinatorik (Vorkommen im ostoberdeutschostmitteldeutschen Raum) (vgl. Besch 1979, 1985). Seit den 1980er Jahren hat insbesondere Mattheier auf die soziolinguistische Dimension sprachlichen Wandels hingewiesen. Sprachwandel ist für Mattheier immer ein Resultat außersprachlicher Bedingungen. Er benennt deshalb das Sprachprestige als zusätzlichen Faktor, der Sprachwandel auslösen und steuern kann (vgl. u. a. Mattheier 1981). Für die Standardisierung der syntaktischen Regeln der neuhochdeutschen Schriftsprache wird für das 18. Jahrhundert heute eine skeptischere Haltung vertreten (vgl. beispielsweise Konopka 1996, zur ausführlichen Kritik siehe Ágel 2000, 1855ff., zum Beispiel der Wortstellung siehe Konopka 2003). Zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Grammatikschreibung und Sprachwirklichkeit vgl. den Ansatz einer Sprachgeschichte „von unten“ von Elspaß (2005).

1.2 Hochdeutsch und Sprachreflexion

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ein. Die europäische Aufklärungsbewegung sowie die Tradition der barocken Sprachgesellschaften sind die beiden spannungsreichen Pole, auf die sich die Sprachkundler des 18. Jahrhunderts immer wieder berufen. Allerdings wird die aufklärerische englische und französische Sprachkultivierung in Deutschland nicht gleichermaßen rezipiert. Während sie im aufstrebenden, bildungsorientierten Bürgertum des protestantischen Nord- und Mitteldeutschlands große Verbreitung findet, verhindert das Bildungsmonopol der Jesuiten im katholischen Süden Deutschlands eine ähnliche Entwicklung (vgl. Grimminger 1980, Jørgensen et al. 1990, 81ff.). Trotz einiger frühaufklärerischer Reformbemühungen bleibt die Dominanz der Jesuiten im südostdeutschen Raum bis zur Auflösung des Ordens im Jahre 1773 durch Papst Klemens XIV. bestehen (vgl. Müller 1993). Zu verweisen ist auf die Sprachkultivierung im Umfeld der süddeutschen Zeitschrift „Parnassus Boicus“ sowie das Bildungsprogramm des bayerischen Aufklärers Heinrich Braun (vgl. Keck 1998, insbesondere 51-65, 206-281). Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzen umfassende Sprachreformen und ein Anschluss der „katholischen“ oberdeutschen Schriftsprache an die „protestantisch“ ostmitteldeutschnorddeutsche Schriftsprache in den Gebieten Österreich, Bayern, Württemberg und Baden ein (vgl. Besch 1988). Die Durchsetzung einer einheitlichen Orthographie bleibt bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts erfolglos. Weder ist dieses Unterfangen aufgrund der politischen und konfessionellen Gegensätze des Reichs politisch durchsetzbar oder gar von den staatlichen Obrigkeiten gewünscht, noch gibt es eine entsprechende Institution, die ein solches Vorhaben durchsetzen könnte. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert und besonders zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird in den sprachreflexiven Schriften der Status des Deutschen als Wissenschaftssprache und Literatursprache besonders betont und auf seine Gleichwertigkeit mit allen anderen europäischen Hauptsprachen und den drei heiligen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein hingewiesen. Die im Zuge der Aufklärung entstehenden Sprachgesellschaften, Akademien, Lesegesellschaften, patriotischen Gesellschaften sowie einzelne Gebildete bemühen sich um eine umfassende Sprachkultivierung. Das Latein behält jedoch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts seine Funktion als Wissenschaftssprache, während das Französische, trotz aller Sprachkritik und Gegenbemühungen der Sprachkundler, die Prestigesprache des Adels bleibt. Träger dieser umfassenden Bemühungen um Sprachnormierung und -kultivierung ist das sich im Zuge der Aufklärung konstituierende Bürgertum. Das frühe Bürgertum ist auf die Entwicklung und Etablierung einer deutschsprachigen Kommunikationskultur in zweifacher Hinsicht ange-

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1. Zum Gegenstand und zur Konzeption der Untersuchung

wiesen: Das Bürgertum kann sich erstens eine partielle Teilhabe an der Herrschaft sichern, indem es staatliche Funktionen im Bildungsbereich besetzt, z. B. als Pfarrer, Lehrer und Beamte. Zweitens kann sich das Bürgertum gegenüber der feudalen Oberschicht abgrenzen, die ihre kulturelle Vorrangstellung seit dem 17. Jahrhundert auf die Prestigesprachen Latein und Französisch gründet (vgl. Gessinger 1980, von Polenz 1986, 193). In diesen kultur- und sozialgeschichtlichen Kontext ist der Streit um das Hochdeutsche im 18. Jahrhundert eingebettet. In der sprachgeschichtlichen Forschung ist die Diskussion um das Hochdeutsche in einigen Einzelstudien berücksichtigt worden. An dieser Stelle kann nur summarisch auf einige Arbeiten hingewiesen werden, allerdings werden wichtige Forschungsergebnisse und weitere Einzelstudien und Aufsätze in die weitere Darstellung einbezogen. Für die Untersuchung aufschlussreich sind: Die Studie von Blackall (1966), der die Entstehung einer deutschen Standard- bzw. Literatursprache in der Zeit von 1700 bis 1755 und besonders die zeitgenössische poetologische Diskussion berücksichtigt. Die Arbeit von Nerius (1967) zielt in eine ähnliche Richtung, zieht aber stärker die Auseinandersetzung zwischen den Grammatikern der unterschiedlichen Sprachlandschaften heran. Eichler und Bergmann (1967) dokumentieren die Vorbildfunktion des MeißnischObersächsischen seit der Lutherzeit und beziehen dabei eine Vielzahl von Sprachkundlern des 18. Jahrhunderts mit ein. Eine ausführliche Darstellung der Hochdeutsch-Konzeption Johann Christoph Adelungs und einiger seiner Kontrahenten findet sich bei Henne (1968), während Eichinger (1983) die Konfrontation zwischen dem Oberpfälzer Karl Friedrich Aichinger und Johann Christoph Gottsched dargestellt hat. Die im 17. Jahrhundert verbreiteten und im 18. Jahrhundert zum Teil noch nachwirkenden Vorbilder des Hochdeutschen hat Josten (1976) untersucht und zusammen mit einer reichhaltigen Belegsammlung präsentiert. Das 18. Jahrhundert hat außerdem Gessinger (1980) hinsichtlich seiner kultur- und sozialgeschichtlichen Bedingungen und Entwicklungen dargestellt, und zwar im Hinblick auf Sprachbewusstsein, Sprachpolitik und Sprachnormvorstellungen. Besonderen Aufschluss über die Sprachnormierung in den oberdeutschen bzw. alemannischen Gebieten bieten Tauber (1993), Reiffenstein (1995, 2000), Wiesinger (1995) sowie Roessler (1997). Für den niederdeutschen Sprachraum sei verwiesen auf die Beiträge von Herrmann-Winter (1990, 1992, 1995). Zur Sprachgeschichte der deutschen Schweiz und die Entwicklung eines schweizerischen Sprachbewusstseins siehe Sonderegger (1995, 2003). In den bisherigen Untersuchungen dominiert der Blick auf die Vorbildlichkeit des Meißnisch-Obersächsischen und die Frage der Normie-

1.3 Hochdeutsch und nationale Identität

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rung der deutschen Literatursprache, während der Beitrag der Sprachkundler zur Konstruktion einer nationalen Identität kaum Berücksichtigung findet.8 Eine stärkere Gewichtung sprachideologischer Aspekte findet sich aber bei von Polenz (1986, 1994, 166ff.) sowie Gardt (2000a). Darüber hinaus hat Scharloth (2005a) in einer Analyse des Sprachnormierungsdiskurses in den Jahren von 1765 bis 1780 die mentalitätsgeschichtlichen Aspekte der Diskussion um das Hochdeutsche dargestellt. Die vorliegende Untersuchung zielt zum einen, wie bereits dargestellt, auf die unterschiedlichen Konzepte der als Hochdeutsch bezeichneten Leitvarietät im deutschsprachigen Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts. Zum anderen geht die Untersuchung davon aus, dass die Sprachkundler des untersuchten Diskurses in ganz entscheidender Weise an der Konstruktion nationaler Identität beteiligt sind, beispielsweise, indem sie einen Ursprungsmythos der deutschen Sprachgemeinschaft konstruieren. Diese Überlegung sei zunächst skizziert, und zwar vor dem Hintergrund des dieser Arbeit zu Grunde liegenden Nationenverständnisses. Im Anschluss daran wird der Aufbau der Untersuchung dargelegt.

1.3 Hochdeutsch und nationale Identität 1.3 Hochdeutsch und nationale Identität

Dass Nationen keine quasi natürlich gegebenen Einheiten darstellen, sondern „vorgestellte Gemeinschaften“ im Sinne von politisch-intellektuellen Projektionen, ist der Kerngedanke des Kulturanthropologen Benedict Anderson, dessen konstruktivistisches sowie modernisierungstheoretisches Verständnis von Nation diese Arbeit teilt (vgl. Anderson 1988).9 Anderson geht davon aus, dass Nationen und Nationalismus kulturelle Produkte besonderer Art sind: Nationen werden erfunden, wo es sie vorher nicht gab. Er charakterisiert Nationen als imaginierte Gemeinschaften, 8

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Vgl. darüber hinaus Jellinek (1913/1914), der in den beiden Bänden zur Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik einige der hier behandelten Sprachkundler berücksichtigt hat. Zur Diskussion der Leitvarietät in Poetiken des 17. und 18. Jahrhunderts siehe Schletter (1983). Aufgrund der unübersichtlichen Forschungslage innerhalb der Nation-/NationalismusForschung sowie der Patriotismusforschung beschränkt sich die Darstellung im Wesentlichen auf die Diskussion des in der Arbeit favorisierten Konzepts der Konstruktion nationaler Identität. Eine Darstellung der Nation- und Nationalismustheorien seit den Anfängen der Soziologie bis hin zu neueren Ansätzen findet sich bei Richter (1996, 13-67), eine Typologie neuerer Nationenkonzepte hat Estel (1994, 25f.) zusammengestellt, vgl. auch Estel (2002). Zum Konzept des (nationalen) kollektiven Gedächtnisses vgl. die Ausführungen und Literaturangaben bei Wodak et al. (1998, 34-37). Zur „Nation als Stereotyp“ siehe den von Florack (2000) herausgegebenen Tagungsband.

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1. Zum Gegenstand und zur Konzeption der Untersuchung

eine Eigenschaft, die für alle Gemeinschaften zutrifft, deren Kontakt über die face-to-face-Kommunikation hinausgeht (ebd., 16). Die moderne Nation entsteht der historisch-soziologischen Erklärung Andersons zufolge Ende des 18. Jahrhunderts als ein kulturelles System, das an die Stelle von Dynastien und religiösen Denkmustern sowie der damit verbundenen ahistorischen kosmologischen Zeitvorstellung tritt. Als Bedingungen der Entstehung der Nationen in Europa nennt er den Prestigeverfall des Lateins und die Ablösung durch die „Nationalsprachen“ (ebd., 23) sowie die Verbindung von kapitalistischer Produktionsweise und Buchdruck im 16. Jahrhundert. Zur Etablierung einer „Nationalsprache“ gehören nach Reichmann (2000) typischerweise Zuschreibungen von Eigenschaften an die Sprache. In Frage kommen hier vor allem das Alter, ein aufgrund der Zeichenrelation vermuteter qualitativ direkterer Zugang zur Welt (im 17. Jahrhundert), die kognitive Leistung einer Sprache (im 18. Jahrhundert), der Reichtum des Wortschatzes, die Wortbildungsmöglichkeiten, die innere Systematizität (‚Grundrichtigkeit‘, ‚Analogie‘).10 Die Nation als neu entstandene Form politisch-gesellschaftlicher Integration und Sinnstiftung für den Einzelnen ist demnach an die entstehende nationale Leitvarietät sowie neue Leserschaften einer nationalen Literatur gebunden. Die Schriftsprache als Ausgleichsprodukt unterschiedlicher Varietäten erreicht zunehmend neue Leserkreise, die seit der Reformation Adressat religiöser Zwecke und in der Folgezeit auch politisch-nationaler Motive sind (vgl. ebd., 43). Die Etablierung eines Normbewusstseins im Sinne von „Hochsprache als eine Art neuer Machtsprache“ (ebd., 52) und die nationalsprachliche Literatur sind für die Nationsbildungsprozesse von entscheidender Bedeutung (ebd., 134). Voraussetzung für die Nation als eine bestimmte Form des modernen Territorialstaats, den Nationalstaat,

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Vgl. zur Reflexion über ‚Vaterland‘ und ‚Muttersprache‘ auch Ahlzweig (1994) sowie Ivo (1994), zur Nationalsprachen-Ideologie Joseph (1990) sowie Muhr (2005).

1.3 Hochdeutsch und nationale Identität

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ist darüber hinaus die Entstehung moderner politischer und gesellschaftlicher Organisation.11 Diese Entwicklungen machen es notwendig, der Nation eine Identität zu geben, „die gerade deswegen, weil sie nicht ‚erinnert‘ werden kann, erzählt werden muß“ (ebd., 206). Die Nation wird von Anderson deshalb als eine imaginierte Gemeinschaft konzipiert. Sie ist: […] eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist sie deswegen, weil auch die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen, oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert. (ebd., 15)

Konstruktivistische Argumentationen teilen mit voluntaristischen Legitimationsdiskursen die Annahme, dass bei der Entstehung der Nation ein politischer Wille wirksam wird. Der zweite wissenschaftliche Argumentationstyp, der dem naturalistischen Legitimationsdiskurs über die Nation entspricht, richtet sich auf die „natürlichen“ Ursprünge der Nation wie eine gemeinsame Geschichte, Sprache, Kultur und Ethnie. Während der konstruktivistische Argumentationstypus vor allem aus der Soziologie und der Politikwissenschaft stammt, dominiert die zweite, ontologisierende

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Die Auffassung von Nation als kulturelles Produkt der Moderne teilt auch Eric J. Hobsbawm, der die Konstruktionsprozesse nationaler Erinnerungen seit der Industrialisierung als Erfindung von Traditionen beschreibt (Hobsbawm 1996). Die neokonstruktivistische Kritik hingegen betont vor allem, dass konstruktivistische Modelle keine Erklärung für die Verbreitung und den „Erfolg“ der Nationalstaaten vorgelegt hätten. Der Soziologe Anthony D. Smith legt deshalb ein größeres Gewicht auf die vormodernen Ursprünge der Nationen sowie langfristige Kontinuitäten im Wandel von Identitätsmerkmalen (vgl. hierzu Bock 2000, 30). Er geht von konstruierten und historisch variablen strukturierenden Prinzipien aus. Als leitendes strukturierendes Prinzip dient ihm der nicht unproblematische Begriff der ‚Ethnie‘, der wiederum unterschiedliche Elemente umfasst wie einen gemeinsamen Kollektivnamen, einen gemeinsamen Herkunftsmythos, übereinstimmende historische Gedächtnisinhalte, kulturelle Merkmale, die Verbindung zu einem gemeinsamen Territorium und einen Solidaritätssinn in wesentlichen Teilen der Bevölkerung (vgl. Smith 1992, 21). In der kontinentaleuropäischen Forschung wird die Bezeichnung ‚Identität‘ der der ‚Ethnie‘ vorgezogen, da letztere mit dem älteren Konzept von ‚Rasse‘ verwandt ist. Siehe zur Sprachreflexion im Kontext von Rassenideologie die Untersuchung von Römer (1985). Eine behauptete ethnische Kontinuität im Sinne einer Abstammungsgemeinschaft ist aufgrund des in dieser Arbeit favorisierten konstruktivistischen Ansatzes ein Ergebnis von Zuschreibungen – was ihre Funktion hinsichtlich der Inklusion bzw. Exklusion von Individuen in bzw. aus einer Gesellschaft nicht minder wirksam macht.

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1. Zum Gegenstand und zur Konzeption der Untersuchung

Variante lange Zeit in den historisch-philologischen Disziplinen (vgl. Bock 2000, 11f.).12 Um eine Unterscheidung zwischen der ‚materiellen‘ Seite der Nation, d. h. ihrer Verfasstheit als ein politisch-historisches Staatsgebilde und ihrer Existenz als eine artifizielle Gemeinschaft zu betonen, deren spezifische konstitutiven Merkmale kulturelle Erfindungen oder gesellschaftliche Konstrukte sind, wird der konzeptionelle Aspekt als nationale Identität bezeichnet, die selbstverständlich in Relation zur „materiellen“ Komponente steht. Die Konstituierung der Nation ist anhand der Genese der spezifischen, in historischen Diskursen konstituierten Merkmale erklärbar – oder wie Bock (2000, 29) zusammenfasst: „Nation und nationale Identität sind abhängige Variablen.“ Der diskurslinguistische Ansatz der Untersuchung trägt der Bedeutung kommunikativer Prozesse für die Entstehung nationaler Identität im 18. Jahrhundert Rechnung. Diskurse sind soziale Praktiken, „die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1981, 74). Von verschiedener Seite ist allerdings auf die Gefahr einer Ontologisierung des Diskurses hingewiesen worden, der selbst zum Akteur wird und die handelnden Subjekte als Objekte von diskursiven Machtstrukturen entlastet.13 Zusätzlich zur Charakterisierung des Diskurses als Menge von Texten zu einem spezifischen Thema in einem bestimmten soziohistorischen Kontext ist der Diskurs bei Wodak et al. deshalb als eine Form sozialer Praxis definiert, wobei das Verhältnis zwischen Diskurs und sozialer Wirklichkeit als dialektisch erachtet wird: Einerseits formt und prägt der situationale, institutionelle und soziale Kontext den Diskurs, andererseits wirkt der Diskurs auf die soziale Wirklichkeit formend 12

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Entscheidend für die voluntative Auffassung von Nation ist das subjektive Merkmal des Zusammengehörigkeitswillens oder Gemeinschaftsgefühls. Nach Ernest Renan (1995) konstituiert sich die Nation aufgrund der freien Artikulation des Willens ihrer Mitglieder, so seine bekannte Formulierung von der Nation als ein tägliches Plebiszit. Auf frühere, richtungsweisende Konzeptionen der Nationalismusforschung, die wichtige Überlegungen des konstruktivistischen Ansatzes bereits vorwegnehmen, kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden, etwa auf den modernisierungstheoretischen Ansatz von Karl W. Deutsch, der in seinem Standardwerk „Nationalism and social communication“ (1953) die Nation als eine regionale Grenzen überwindende Kommunikationsgemeinschaft beschreibt (siehe hierzu Weiser 1994, 127-143). Deutsch greift wiederum die ältere soziologische Diskussion in Deutschland auf, die in ihrer Bedeutung bisher nicht ausreichend gewürdigt wird, im Gegensatz zur Darstellung bei Bock (2000). Vgl. die instruktive Kritik in Wodak et al. (1998, 42f.), siehe auch Frank (1984). Die Annahme, dass das Subjekt durch Diskurse in totalitärer Weise in seinem Denken und Handeln determiniert wird, wird aber weder in der linguistischen Modizifierung des Foucault’schen Diskursbegriffs durch Dietrich Busse (1987) oder in Arbeiten der so genannten Düsseldorfer Schule (z. B. Wengeler 1992, 1997, 2003) oder in den Analysen Warnkes (vgl. z. B. Warnke 1999, 2000) vertreten.

1.3 Hochdeutsch und nationale Identität

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zurück. Anders gesagt: Der Diskurs ist sowohl sozial konstitutiv als auch sozial bestimmt. (Wodak et al. 1998, 42)14

Dabei darf nicht übersehen werden, dass es Diskursakteure – das bedeutet konkrete historische Individuen – sind, die als Konstrukteure nationaler Identität in Erscheinung treten.15 Ein weiterer problematischer Aspekt des dargelegten Nationenverständnisses stellt die Frage dar, welche Merkmale zur Konstruktion nationaler Identität herangezogen werden. Um sich selbst als eigenständige, abgegrenzte und in Bezug auf die Gruppenmitglieder verbundene Einheit zu definieren, greifen die Konstrukteure nationaler Identität auf unterschiedliche Merkmale zurück. In der Forschungsliteratur zum Komplex Nation/Nationalismus immer wieder genannt werden die Merkmale Territorium, Kultur, Sprache, Ethnie (vgl. Esbach 2000, 63ff.).16 Die gemeinsame, überregionale Sprache kann als nationales Symbol und als Mittel zum nationalen Bekenntnis eingesetzt werden (vgl. ebd., 65). Als „Nationalsprache“ besitzt sie ein enormes Identifizierungspotenzial (vgl. Reichmann 2000). Um zu erschließen, welche konstitutiven Merkmale der nationalen Identität im Sprachnormierungsdiskurs zugeschrieben werden, soll die Semantik der sprachideologischen Schlüsselwörter Nation und Volk untersucht werden. Die semasiologische und onomasiologische Vernetzung der Schlüsselwörter wird in der vorliegenden Arbeit in Form von Wortartikeln dokumentiert, die in konzentrierter Form die Untersuchungsergebnisse abbilden. Zumindest verwiesen sei an dieser Stelle darauf, dass gerade das Merkmal einer gemeinsamen Sprache zeigt, dass es sich hier nicht um eine vorgegebene Größe der sozialen Wirklichkeit handelt, sondern um ein 14

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Die Frage nach der wirklichkeits- und handlungsorientierenden Funktion von Diskursen bleibt aber eine jeweils nur graduell beantwortbare Fragestellung, die lediglich in Bezug auf konkrete, historisch-geographisch und sozio-kulturell determinierte Einzeldiskurse beantwortet werden kann. Die ersten Protagonisten nationaler Identität zur Zeit des Humanismus werden gemeinhin als „Kulturpatrioten“ bezeichnet (vgl. Huber 1984), deren Bemühungen durch sprachpatriotische Gebildete im 17. Jahrhundert in Deutschland fortgesetzt werden, erstmals institutionalisiert durch die Sprachgesellschaften (vgl. Gardt 1998). Das sprachlich-kulturelle Selbstverständnis der gebildeten Deutschen erfährt mit der Wiederentdeckung der „Germania“ des Tacitus eine entscheidende Intensivierung. Die Gleichsetzung von Deutschen und Germanen im Humanismus ist wohl das sichtbarste Zeugnis dieser Entwicklung. Der Reichsbegriff der Humanisten ist im Gegensatz zur mittelalterlich-universalen Reichsvorstellung somit auch ethnisch und kulturell begründet. Der barocke Sprach- und Kulturpatriotismus ist dabei nur in einem „mittelbaren“ Sinn als politisch einzustufen, insofern er nicht auf das Reich als politische Größe per se gerichtet ist, sondern auf die nicht näher bestimmte Gemeinschaft der Deutschen (vgl. Gardt 2004). Die Merkmale nationaler Identität sind kontingent. Sie sind aber eingebunden in eine diskursive wie soziale Praxis und damit nicht beliebig austauschbar.

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1. Zum Gegenstand und zur Konzeption der Untersuchung

Produkt von Zuschreibungen in einem spezifischen Diskurs.17 Ein wesentliches Ziel der aufklärerisch-rationalistischen Grammatiker und Lexikographen und anderer Sprachkundler des 18. Jahrhunderts in den deutschsprachigen Territorien ist es, aus der Vielfalt an Varietäten eine Leitvarietät zu bestimmen, an der sich die Sprecher und Sprecherinnen des deutschen Sprachgebiets orientieren sollen.18 Gleichzeitig ist ein fester Topos der Vorrede der Grammatiken, Wörterbücher und anderer sprachreflexiver Schriften, dass eine gemeinsame homogene Sprachform in Form des Hochdeutschen bereits allgemein üblich und verbreitet sei. Indem die Sprachkundler des 18. Jahrhunderts die Existenz einer gemeinsamen, überregionalen Sprache voraussetzen und behaupten, weisen sie die Sprache als konstitutives Element nationaler Identität aus. Hochdeutsch (bzw. allgemein die deutsche Sprache) im Sinne einer überregionalen, allgemein verständlichen Standardsprache wird somit zum identitätsstiftenden Merkmal der Nation bzw. des Volkes. Auf der Grundlage der ‚festgestellten‘ gemeinsamen Merkmale kann eine staatliche Einigung gefordert werden. So stellt die prestigereiche Leitvarietät als „einigendes Band“ der Nation eine wesentliche Komponente nationaler Argumentationsmuster des 19. Jahrhunderts dar, wenngleich die Argumentationsmuster der Sprachkundler des 18. Jahrhunderts hier unter ganz anderen Vorzeichen aufgegriffen werden.19 17

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Die Indienstnahme der Sprache als Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist allerdings kein modernes Phänomen. Frühe Belege für diese Ideologisierung von Sprache finden sich bereits im Mittelalter, hier dient sie neben der Herkunft, den Sitten und dem Rechtssystem zur Etablierung einer kulturellen Identität. Vgl. zu einem frühen (europäischen) Versuch der Bestimmung identitätsstiftender Merkmale der Gemeinschaft die Enzyklopädie „Etymologiae“ von Isidor von Sevilla aus dem 7. Jahrhundert (Isidor von Sevilla 1911). So betont auch Hobsbawm (1992, 67f.), dass Nationalsprachen in den meisten Fällen Kunstprodukte sind, welche aus dem Versuch heraus entstehen, aus einer großen Anzahl verschiedener Idiome ein einheitliches Idiom zu formen. Das Problem liegt darin, dass es zu entscheiden gilt, welches Idiom die Grundlage für die einheitliche Sprache bilden soll. Die Ethnisierung nationaler Identität im 19. Jahrhundert erklärt von Polenz mit der durch die Besetzung Deutschlands durch französische Truppen blockierten Verwendung des Konzepts einer ‚Staatsnation‘. Die verzögerte Staatsgründung habe zur ausschließlichen Bezugnahme auf abstrakte, vorpolitische Größen einer Abstammungs-, Sprach- und Kulturgemeinschaft geführt. Der Wandel zum aggressiven bis rassistisch motivierten Nationalismus des 19. Jahrhunderts sei schon um 1800 massiv vorbereitet worden durch ein explizites ethnozentrisches Sendungsbewusstsein, die Germanophilie sowie eine ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit (vgl. von Polenz 1998, 64). Die Band-Metapher im nationalsprachlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts hat Ziegler (2002) untersucht. Vgl. zur Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung auch Flood et al. (1993), Jabłkowska/Półrola (1998), Lasatorwicz/Joachimsthaler (1998), Bär (2000a) sowie insbesondere Stukenbrock (2005). Den Wandel der Zuschreibungen an das Deutsche dokumentiert auch Straßner (1995).

1.4 Korpus und Akteure

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1.4 Korpus und Akteure 1.4 Korpus und Akteure

Um Aufschluss über die Konzeptionen der Leitvarietät zu erhalten, die Gegenstand des Sprachnormierungsdiskurses sind, wird eine Vielfalt unterschiedlicher sprachreflexiver Texte herangezogen. Ziel der diskurslinguistischen Herangehensweise ist es, heterogene Textkorpora anhand vorab festgelegter Forschungsfragen zu untersuchen und das Denken bzw. das Sprechen und Schreiben über einen Gegenstand in einer historisch-konkreten Gesellschaft oder einzelnen sozialen Gruppen zu erschließen. Die Analyse des Sprachnormierungsdiskurses stellt somit einen Beitrag zur Geschichte der Sprachreflexion dar. Aus forschungspraktischen Gründen kann aber nur ein quantitativ begrenzter Ausschnitt des Sprachnormierungsdiskurses berücksichtigt werden, wobei die Textauswahl im Wesentlichen den nachstehenden Kriterien geschuldet ist: a. Semantisch-thematisches Kriterium Untersucht werden sprachreflexive Texte, die sich mit der Frage der als Hochdeutsch bezeichneten Leitvarietät befassen. Zum einen werden sprachreflexive Texte herangezogen, die explizit das Schlüsselwort ‚Hochdeutsch‘ enthalten. Zum anderen werden aber auch Texte herangezogen, die allgemein die Beschreibung und Bewertung der sozialen, historischen oder beispielsweise regionalen Varietäten des Deutschen zum Gegenstand haben bzw. einen anderen der oben genannten Gegenstände der Sprachreflexion. Die Texte stehen in semantischen Relationen und sind in spezifische sozialhistorische, kulturgeschichtliche und politische Kontexte eingebunden (vgl. Busse/Teubert 1994, 14).20 b. Erfassung der im Diskurs dominierenden Texte Nach Wolfgang Teubert werden solche Texte herangezogen, „die zitiert werden und mit denen man vertraut sein muß, wenn man sich erfolgreich am politisch-gesellschaftlichen Diskurs beteiligen will.“ (Teubert 1998, 90) Als Indikator für die Relevanz der Texte dienen vor allem Selbstthematisierungen in Form von expliziten Verweisen. 20

Insofern die Diskursakteure dem sich herausbildenden Bürgertum zuzuordnen sind und in der Untersuchung namhafte Vertreter der Sprachreflexion des 18. Jahrhunderts berücksichtigt werden, stellt das Untersuchungskorpus zum Teil einen Ausschnitt der zeitgenössischen „Höhenkamm-Literatur“ dar, allerdings wird zum einen versucht, die ,Diskursperipherie‘ beispielsweise in Form von unbekannteren Diskursakteuren zu erfassen, zum anderen legitimiert sich die Textauswahl durch die Fragestellung der Untersuchung.

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1. Zum Gegenstand und zur Konzeption der Untersuchung

c. Berücksichtigung der ‚Diskursperipherie‘ Eine Beschränkung auf diskursdominierende Texte läuft allerdings Gefahr, die gegenläufigen Strömungen und Tendenzen aus dem Blick zu verlieren. Deshalb werden auch weniger bekannte Diskursakteure berücksichtigt, die im Gegensatz zu den diskursdominierenden Sprachkundlern, allen voran Johann Christoph Gottsched und Johann Christoph Adelung, die ,Diskursperipherie‘ der Sprachnormierungsdebatte darstellen, insofern ihre Argumentationen oder Konzeptionen einer Leitvarietät sich nicht durchgesetzt haben. d. Regionale Streuung Um ein möglichst breites Meinungsspektrum zu erfassen, wird ferner die regionale Zugehörigkeit der Sprachkundler berücksichtigt. So ist davon auszugehen, dass ein protestantischer Sprachkundler im mittel- und norddeutschen Raum des frühen 18. Jahrhunderts eine andere Konzeption des Hochdeutschen bzw. der Leitvarietät vertritt, als sein katholischer Kollege im süddeutschen Sprachgebiet. e. Textsortenspezifisches Kriterium Die Reflexion über die als Hochdeutsch bezeichnete Leitvarietät ist keineswegs auf die Grammatiken und Wörterbücher beschränkt, sondern umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Textsorten, die unter die Sammelbezeichnung Sprachreflexion gefasst werden. Ziel der Textauswahl ist eine möglichst breite Streuung in Bezug auf die Textsorten. f. Zeitliche Einschränkung Die Korpustexte stammen aus der Zeit von 1700 bis 1809, wobei „Das herrlich Grosse Teutsch Italiaenische Dictionarium […]“ von Matthias Kramer aus dem Jahre 1700 den Anfangspunkt des Korpus und die mehrbändige sprachhistorische Studie „Mithridates“ (Adelung Mith2 1809) von Johann Christoph Adelung den zeitlichen Endpunkt des Korpus markiert. Geistesgeschichtlich ist der Untersuchungszeitraum vorrangig der Aufklärung zuzuordnen. 21 Die Texte des Korpus lassen sich im Hinblick auf die jeweils behandelten Gegenstände und Fragestellungen differenzieren, wobei ein Text auch verschiedene thematische Aspekte aufgreifen kann: − varietätenbezogene Texte, die beispielsweise eine regionale Varietät wie das Niederdeutsche behandeln, so etwa Bernhard Raupachs 21

Zur Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung vgl. Gardt (1994).

1.4 Korpus und Akteure

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Schrift: „Von der unbilligen Verachtung der Niederdeutschen Sprache“ (Raupach LSI 1704)22 oder der Aufsatz von Johann E. Biester „Ist Kursachsen das Tribunal der Sprache und Litteratur für die übrigen Provinzen Deutschlands?“ (Biester KT 1783), − Wörterbücher und lexikographische Schriften: z. B. die Vorrede zum „Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart“ von Johann Christoph Adelung (Adelung GKW/1 1774); Michael Richey: „Idioticon Hamburgense oder Wörterbuch zur Erklärung der eigenen in und um Hamburg gebräuchlichen Nieder=Sächsischen Mund-Art“ (Richey IH 1755), − Grammatiken bzw. grammatikographische Texte: z. B. Johann Christoph Gottsched: „Deutsche Sprachkunst“ (Gottsched DS 1762); Karl Friedrich Aichinger: „Versuch einer teutschen Sprachlehre“ (Aichinger VTS 1754), − sprachhistorische Texte, beispielsweise Johann Augustin Egenolff: „Historie der Teutschen Sprache“ (Egenolff HTS 1720/1735), − rhetorische Texte, beispielsweise die Rhetorik „Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie“ von Friedrich Andreas Hallbauer (Hallbauer VTO 1725); Epistolographien, z. B. Christian Fürchtegott Gellerts „Briefe nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“ (Gellert Brf 1751); Schreiblehren: „Anweisung zur guten Schreibart überhaupt“ (Lindner AGS 1755); Predigtlehren, z. B. Rudolph Graser: „Vollständige Lehrart zu Predigen“ (Graser VLP 1766), − sprachpflegerische oder sprachkritische Texte: z. B. „Die Discourse der Mahlern“ (Bodmer/Breitinger DM 1721-1723); Wezel: „Appellation der Vokalen an das Publikum“ (Wezel AV 1778), − übersetzungstheoretische Schriften: beispielsweise Augustin Dornblüth: Observationes oder Gründliche Anmerckungen über die Art und Weise eine gute Übersetzung besonders in die teutsche Sprach zu machen“ (Dornblüth Obs 1755). Bei Zitaten aus Quellentexten wird darauf verzichtet, auffallende oder fehlerhafte Schreibungen mit Hervorhebungen wie ‚sic‘ zu markieren, da dies den Lesefluss erheblich stören wurde. Auf eine Verwendung des in 22

Die Schrift ist ursprünglich lateinisch erschienen und trägt den Titel „De linguae inferioris neglectu atque contemtu injusto“. Für die Untersuchung herangezogen wird die Übersetzung des Bremer Instituts für niederdeutsche Sprache (vgl. Raupach LSI 1704). Die Aufnahme des Textes in das ansonsten Deutschsprachige ist dadurch begründet, dass das Plädoyer Raupachs für die Erhaltung des Niederdeutschen im Sprachnormierungsdiskurs eine ganz zentrale Bedeutung einnimmt, insofern er immer wieder von den ‚Verachtern‘ und ‚Verehrern‘ des Niederdeutschen genannt wird.

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1. Zum Gegenstand und zur Konzeption der Untersuchung

den Quellen üblichen übergeschriebenen ‚e‘ zur Umlautkennzeichnung wurde deshalb ebenfalls verzichtet; die beiden s-Grapheme werden als s wiedergegeben. Ligaturen wurden ebenfalls zu Gunsten der besseren Lesbarkeit aufgelöst. Hervorhebungen in den Quellen (z. B. Antiqua, Fettdruck) werden einheitlich in Kursivschrift wiedergegeben. Dieser kurzen Beschreibung des Korpus seien ergänzend einige Anmerkungen zu den Diskursakteuren hinzugefügt. Die Sprachkundler, die sich über das Hochdeutsche bzw. über andere regionale und soziale Varietäten und ihre jeweiligen Eigenschaften und ihr Prestige äußern, gehören zum gebildeten Bürgertum in den deutschsprachigen Territorien. Sie sind in einer Vielzahl von Professionen tätig und Teil des wachsenden Publikationsnetzes der Aufklärung. Diese „diskursive Explosion“, die als eine der wichtigen Signaturen der Epoche gelten kann, hat Otto Dann (1991, 66) ausführlich beschrieben. In diesem Zusammenhang ist von einer Verdichtung der Kommunikation innerhalb der bürgerlichen Schichten und Führungseliten in der zweiten Hälfte 18. Jahrhunderts auszugehen. Der Sprachnormierungsdiskurs ist ein elitärer Diskurs, insofern er sich auf Angehörige der Bildungseliten beschränkt, die eine umfassende schulische und universitäre Ausbildung durchlaufen haben. Wie die nachstehende Übersicht zeigt, ist die Mehrheit von ihnen im Schulwesen oder an den Universitäten beschäftigt, zum Teil wirken sie als Bildungsreformer in den jeweiligen Territorien. Insofern sind die berücksichtigten Sprachkundler als Multiplikatoren der Leitvarietät zu bestimmen, die nachhaltig das Denken über das Hochdeutsche prägen. Und – dies zeigt nicht zuletzt die Auswertung der Deontik des Schlüsselwortes Hochdeutsch – sie beeinflussen in entscheidender Weise die Volitionen der Kommunikationsgemeinschaft in Bezug auf die Leitvarietät. Dieser Beobachtung ist noch eine zweite hinzuzufügen: Die Reflexion über die Leitvarietät ist immer auch ein Nachdenken über die Spezifik der Kommunikationsgemeinschaft(en), insbesondere ihrer Geschichte.23 Die nachstehende Tabelle gibt einen Überblick über die Berufsgruppen einiger wichtiger Sprachkundler:24 23 24

Vgl. ebenso Giesen (1991, 264ff.) sowie Blitz (2000, 16). Zu der besonderen Rolle der Schriftsteller in diesem Konstruktionsprozess vgl. den von Scheuer (1993) herausgegebenen Sammelband „Dichter und ihre Nation“. In der Darstellung der Leitvarietätkonzeption der jeweiligen Sprachkundler werden jeweils die Monographien genannt, aus denen Informationen zu Wirkungsort und -feld der Diskursakteure entnommen wurden. Darüber hinaus sei auf die Allgemeine deutsche Biographie (1875-1912), das Biographisch-Bibliographische Kirchenlexikon (1990-2006), die von Killy und Vierhaus herausgegebene Deutsche Biographische Enzyklopädie (1995-1999) sowie das von Brekle (Brekle 1992-2005) herausgegebene bio-bibliographische Handbuch verwiesen.

1.4 Korpus und Akteure

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Übersicht: Wirkungsorte und Biographien ausgewählter Sprachkundler des Sprachnormierungsdiskurses Sprachkundler

Wirkungsort

Biographisches

Adelung, Johann Christoph (17321806)

ostmitteldeutsches Sprachgebiet (Leipzig, Dresden)

Sohn eines Pfarrers in Spantekow bei Anklam, ab 1752 Studium der Theologie in Halle, ab 1758 Lehrer in Erfurt, Übersetzungstätigkeiten, seit 1765 in Leipzig, ab 1787 Oberbibliothekar an der Kurfürstlichen Bibliothek in Weimar

Aichinger, Carl Friedrich (17171782)

Süddeutschland, Oberpfalz

Sohn eines Weisgerbers, Studium der Theologie und alter und orientalischer Sprachen in Altdorf, in Sulzbach (Oberpfalz) tätig als Rektor in der Lateinschule (1741-1750), Stadtprediger (1750-1777), Inspektor der evangelischen Kirchen in der Region Sulzbach

Biester, Johann Erich (17491816)

Berlin

Sohn eines Kaufmanns, 1767-1771 Studium an der Universität in Göttingen, ab 1773 Lehrer in Bützkow, ab 1777 im Dienste Staatsministers von Zedlitz in Berlin, seit 1784 Direktor der öffentlichen Bibliotheken Berlins

Bodmer, Johann Jakob (16981782)

Schweiz (Zürich)

kurze Zeit Studium der Theologie, Tätigkeit als Kaufmann u. a. in Italien, 1719 Eintritt in die Züricher Staatskanzlei, seit 1725 Lehrer für helvetische Geschichte am Carolinum, 1731-1775 Professor in Zürich

Braun, Heinrich (1732-1792)

Süddeutschland (Bayern)

Sohn eines Bäckers in Trostberg (Oberbayern), schulische und universitäre Ausbildung bei den Augustinern in Salzburg, ab 1750 Mitglied des Ordens, Promotion zum Doktor der Theologie 1756, ab 1768 Schulkommissar in Kurbayern, seit 1777 Direktor über das gesamte Schulwesen

Breitinger, Johann Jakob (1701-1776)

Schweiz (Zürich)

Besuch des Collegium Humanitas ab 1713, ab 1715 am Collegium Carolinum, ab 1731 dort Professor für Hebräisch und Griechisch, ab 1740 auch für Logik und Rhetorik, ab 1745 Professor für Griechisch am Carolinum und damit Kanonikus des Stiftkapitels

20

1. Zum Gegenstand und zur Konzeption der Untersuchung

Sprachkundler

Wirkungsort

Biographisches

Dornblüth, Augustin (16801755/1768)

Süddeutschland

Sohn eines Notars, Studium der Jurisprudenz an der Universität Freiburg 1707-1708, Mitglied des Benediktinerordens, ab 1715 im Kloster Gengenbach

Fabricius, Johann Andreas (16961769)

ostmitteldeutsches Sprachgebiet

Studium der Theologie an den Universitäten Helmstedt und Leipzig, ab 1734 Adjunkt der Philosophischen Fakultät der Universität Jena und ab 1740 Rektor der Katharinenschule in Braunschweig, seit 1745 lehrt er zusätzlich als Professor am Collegium Carolinum, nach Entlassung 1753 Rektor des Gymnasiums in Nordhausen

Felbiger, Johann Ignaz von (17241788)

Schlesien, Bildungsreformen in Österreich

geboren in Glogau (Schlesien) als Sohn eines Postmeisters, Augustiner-Chorherr und seit 1758 Abt des Augustinerchorherrenstifts Sagan, dort Reformierung des Schulwesens, später auch in Schlesien, 1774 von Kaiserin Maria Theresia nach Wien berufen und mit Reformierung des Schulwesens beauftragt

Freyer, Hieronymus (16571747)

Ostmitteldeutsches Sprachgebiet (Halle)

Sohn eines Predigers, Studium der Theologie an der Universität Halle, seit 1698 Lehrer in den Franckeschen Erziehungsanstalten zu Halle, 1705 Inspektor

Fulda, Friedrich Karl (1724-1788)

Süddeutschland

Studium in Tübingen und Göttingen, 174850 Feldprediger, 1751 Garnisonsprediger auf der Feste Hohenasperg, 1758 Pfarrer in Mühlhausen/Enz, 1787 in Enzigen

Gottsched, Johann Christoph (1700-

ostmitteldeutsches Sprachgebiet (Leipzig)

Sohn eines Pfarrers in Königsberg, Studium der Theologie und Philosophie 1714-1723 in Königsberg, seit 1724 in Leipzig, ab 1730 Professor für Poesie und Philosophie an der Leipziger Universität

Hallbauer, Friedrich Andreas (1692-1750)

ostmitteldeutsches Sprachgebiet (Thüringen)

ab 1712 Studium der Philosophie und Theologie in Halle und Jena, 1715 Magister in Jena, 1731 Professur für Eloquenz

Hemmer, Johann Jakob (17331790)

Kurpfalz (Mannheim)

Sohn eines Landwirts, Besuch des JesuitenCollegiums in Köln, Studium der Philosophie, Mathematik und Theologie, kurzzeitig im Jesuitenorden, dann Hauslehrer, ab 1760 kurpfälzischer Hofkaplan und 1776 geistlicher Rat

1.4 Korpus und Akteure

21

Sprachkundler

Wirkungsort

Biographisches

Hieber, Gelasius (1671-1731)

Süddeutschland, Bayern (München)

ab 1688 Besuch der Lateinschule bei den Augustinereremiten in München, 1691 Eintritt in den Konvent, Studium an der Universität in Ingolstadt 1692-1695, dann Priester, seit 1706 am Konvent in München

von Justi, Johann Heinrich Gottlob (1720-1771)

Österreich

geboren 1720 in Thüringen als Kind einer Beamtenfamilie, Studium an den Universitäten in Wittenberg, Jena, Leipzig, ab 1750 Professur für deutsche Beredsamkeit am Theresianum in Wien, ab 1755 Bergrat und Polizeidirektor in Göttingen, Aufenthalte u. a. in Hamburg und Berlin

Longolius, Johann Daniel (1677-1740)

ostmitteldeutsches Sprachgebiet (Lausitz)

geboren in Rückersdorf bei Meißen, Studium der Philosophie, später der Medizin in Leipzig und Halle, 1699 Magister, 1704 Habilitation, Arzt

Raupach, Bernhard (1682-1745)

Norddeutschland

geboren in Tondern (Nordschleswig), Sohn eines Organisten, 1704 Vorlage einer Exercitatio academica, seit 1705 Hauslehrer, ab 1710 in Kiel, Vorlesungen an der philosophischen Fakultät, 1724 Diakoniestelle in Hamburg

Richey, Michael (1678-1761)

Norddeutschland

ab 1696 Studium am Akademischen Gymnasium in Hamburg, Wechsel 1699 zur Theologie, Naturlehre, Mathematik, Geschichte, Magister 1699, 1704 Rektor des Gymnasiums in Stade, 1717 Lehrstuhl für Geschichte und Griechisch am Akademischen Gymnasium

von Sonnenfels, Joseph (1731/1732)

Österreich

Sohn jüdischer Familie des Bildungsbürgertums, die aus Norddeutschland nach Österreich auswandert, 1754 Studium der Jurisprudenz in Wien, 1762 Professor an der Wiener Universität für Polizeiwissenschaft und Kameralistik

Die Zugehörigkeit der berücksichtigten Diskursakteure zum Bildungsbürgertum ist unverkennbar. Der Sprachnormierungsdiskurs lässt sich somit als ein „Expertendiskurs“ kennzeichnen. Über die Einstellungen der Bevölkerungsmehrheit bzw. der niederen Schichten zum Hochdeutschen bzw. zur Leitvarietät lassen sich hingegen kaum Aussagen treffen. Allerdings finden sich in den untersuchten Schriften Beschreibungen und Be-

22

1. Zum Gegenstand und zur Konzeption der Untersuchung

wertungen verschiedener sozialer Gruppen durch die Sprachkundler, die über die jeweilige sprachliche Situation in ihrer Heimatregion sowie in anderen Sprachlandschaften reflektieren.

1.5 Aufbau der Untersuchung 1.5 Aufbau der Untersuchung

Nach dieser Einführung in den Untersuchungsgegenstand und den Forschungsstand soll der Aufbau der vorliegenden Untersuchung kurz erläutert werden: In Kapitel 2 Theorie und Methode wird ausgehend von dem Diskursbegriff Michel Foucaults ein linguistisches Modell zur Analyse des Sprachnormierungsdiskurses entwickelt. Für die Untersuchung des Diskurses muss aus der Vielzahl potenzieller sprachlicher Untersuchungsgrößen eine – durch den Gegenstand wie die Fragestellung – begründete Auswahl getroffen werden. Zur Analyse des Sprachnormierungsdiskurses werden drei methodische Zugänge gewählt: a. eine Analyse von diskursspezifischen Schlüsselwörtern, b. eine Analyse von Argumentationsmustern sowie c. eine Untersuchung diskurssemantischer Grundfiguren. Die nachfolgenden vier Kapitel sind vier thematischen Aspekten des Diskurses gewidmet: In Kapitel 3 Der sprachgeographische Diskursbereich werden Argumentationen dargelegt, die ein sprachgeographisches Vorbild benennen oder eine andere Sprachlandschaft abwerten. Schlüsselwörter des sprachgeographischen Diskursbereichs sind: ‚Hochdeutsch‘, ‚Meißnisch‘ bzw. ‚Obersächsisch‘, ‚Oberdeutsch‘ sowie ‚Niederdeutsch‘ bzw. ‚Plattdeutsch‘. Wie die Diskussion des Forschungsstandes gezeigt hat, wurde der Diskurs über das Hochdeutsche im 18. Jahrhundert bislang vorrangig unter regionalem Aspekt untersucht. Dieser Aspekt spielt auch in der vorliegenden Arbeit eine besonders wichtige Rolle, da im gesamten Untersuchungszeitraum verschiedene Sprachgebiete um die Leitbildfunktion konkurrieren. Kapitel 4 Der sprachsoziologische Diskursbereich untersucht, inwiefern die Sprachkundler des 18. Jahrhunderts schichtspezifische Sprechergruppen als Sprachvorbilder aufwerten – so etwa die ‚Sprache der Gelehrten‘ – oder den Sprachgebrauch bestimmter sozialer Gruppen stigmatisieren, wie im Fall des Sprachgebrauchs der niederen Schichten. Gegenstand von Kapitel 5 Der sprachideologische Diskursbereich ist die Analyse des Zusammenhangs von Hochdeutsch und nationaler Identität. Beispielsweise wird die

1.5 Aufbau der Untersuchung

23

deutsche Nation im 18. Jahrhundert vorrangig als Kommunikationsgemeinschaft bestimmt, wobei die Sprachkundler davon ausgehen, dass es bereits eine von allen Sprechern des Deutschen geteilte Standardsprache gibt. In Kapitel 6 Der stilistische Diskursbereich werden schließlich die von den Sprachkundlern angeführten stilistischen Eigenschaften des Hochdeutschen bzw. der Leitvarietät untersucht. Als Schlüsselwörter werden behandelt: ‚deutlich‘, ‚klar‘, ‚verständlich‘, ‚rein‘, ‚richtig‘ und ‚natürlich‘. Das abschließende Kapitel 7 bietet eine Zusammenfassung der Ergebnisse und gibt einen Ausblick.

2. Theorie und Methode

2. Theorie und Methode

Die Arbeit ist als Beitrag zur Geschichte der Sprachreflexion eingebunden in das Programm einer „Sprachgeschichte als Kulturgeschichte“, wie es in den Beiträgen in dem von Gardt, Haß-Zumkehr und Roelcke herausgegebenen Sammelband formuliert wird (Gardt/Haß-Zumkehr/Roelcke 1999) und an das Bär (1999a) und Stukenbrock (2005) anschließen. Das dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis von Diskurs knüpft an das neuere Konzept der linguistischen Diskursanalyse als „sozial- und kulturhistorisch unmittelbar relevantes Teilgebiet der Sprachgeschichtsforschung“ (Jung 1994, 13) an. Dieses basiert wiederum auf dem Versuch einer sprachtheoretischen Fundierung der historischen Semantik in Form der historischen Diskurssemantik (Busse 1987). Allerdings hat sich den letzten 20 Jahren eine Vielfalt unterschiedlicher theoretischer und methodischer Zugriffsweisen der Diskurslinguistik etabliert (vgl. hierzu insbesondere den von Warnke 2007 herausgegebenen Sammelband). Wenngleich eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Schulen der linguistischen Diskursanalyse an dieser Stelle aus Raumgründen unterbleiben muss, sollen im Folgenden die Grundlagen der Diskursanalyse Michel Foucaults kurz erläutert werden, auf den sich der von der Verfasserin favorisierte Ansatz der linguistischen Diskursanalyse beruft. Daran schließt sich eine Darstellung der methodischen Operationalisierung dieses Diskursbegriffs an.

2.1 Zum Diskursbegriff Michel Foucaults 2.1 Zum Diskursbegriff Michel Foucaults

Wenngleich hier zentrale Thesen und Begriffe der Diskursanalyse Foucaults dargelegt werden, sind diese begrifflichen Verständigungs- und Klärungsversuche eine zwangsläufige Reduktion, da Foucault den Diskursbegriff selbst programmatisch uneinheitlich verwendet und keine systematische Theoriebildung beabsichtigt.25 Die Foucault’sche Diskurs25

Umfassende Auslegungs- und Ordnungsversuche finden sich u. a. bei Fink-Eitel (1997), Kögler (1994) sowie Visker (1991). In diesem Sinne stellt auch die Rede von „der“ Diskursanalyse Foucaults eine Vereinfachung dar.

2.1 Zum Diskursbegriff Michel Foucaults

25

analyse wird gemeinhin zum Poststrukturalismus gezählt, wobei unter die Bezeichnung so unterschiedliche Autoren wie Jacques Derrida, Jacques Lacan, Julia Kristeva, (der späte) Roland Barthes sowie Paul de Man subsumiert werden. Trotz aller Divergenzen kann als Gemeinsamkeit der Poststrukturalisten die fundamentale Negation und Erschütterung philosophischer wie sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse benannt werden, wie die traditionelle Subjektphilosophie, die Begriffe einer geschlossenen Struktur, die hermeneutische Trias der Sinnzuschreibungsinstanzen Autor – Werk – Leser (vgl. Bogdal 1997). Ausgangspunkt ist die Infragestellung bzw. Radikalisierung der Sprachtheorie de Saussures. Foucault entfaltet in der „Archäologie des Wissens“ (1981) das Konzept einer alternativen Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Gegenstandsbereich seiner Analyse ist die Konstituierung der Gegenstände in den Wissenschaften und damit die Produktion von Wissen. Foucaults zentrale Kritik lautet, dass die Existenz und Entwicklung von Untersuchungsgegenständen in der zeitgenössischen Wissenschaftsgeschichte nicht problematisiert werden.26 Aufgrund der radikalen Aufkündigung subjektphilosophischer Prämissen lehnt Foucault eine hermeneutische Deutung historischer „Dokumente“ als Ausdrucksform autonomer Subjekte grundsätzlich ab. Texte sollen als „Monumente“, das bedeutet als stumme Analyseblöcke der historischen Strukturen, nicht mehr im Hinblick auf einen epochenspezifischen Sinn, die Intention des Autors als Garanten eines dem Text vorgängigen Sinns oder eine absolute Wahrheit befragt werden. Die Fragestellung richtet sich auf die Voraussetzungen und Bedingungen ihrer Existenz überhaupt: „Wie kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?“ (ebd., 42f.) Die Verabschiedung der Vorstellung eines schöpferischen, seine Intentionen im Text realisierenden Autors sowie der Autonomie des verstehenden Subjekts lässt sich zusammenfassend als „De-Ontologisierung“ beschreiben (vgl. Spree 1995, 157). Der Autor als Aussagesubjekt wird erst durch bestimmte historisch rekonstruierbare, konkrete Praktiken als Subjekt konstituiert. Das begründende Subjekt aller Erkenntnis ist nach Foucault nicht unabhängig von seiner Eingebundenheit in Diskurse zu betrachten, Erkenntnis und Sprache vollziehen sich stets in einer Ordnung des Diskurses (vgl. Kammler 1997, 33). Der Diskurs wird in der „Archäologie des Wissens“ bestimmt als „eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zuge-

26

Foucault kritisiert vor allem die Grundannahmen der Ideen- und Begriffsgeschichte und beruft sich hierbei auf Bachelard sowie Canguilhem.

26

2. Theorie und Methode

hören“ (vgl. Foucault 1981, 156).27 Die Entität der Aussage ist linguistisch nicht greifbar: Foucault grenzt sie zu bisherigen wissenschaftlichen und sprachwissenschaftlichen Termini ab wie etwa die Proposition der formalen Logik oder den Sprechakt (vgl. Searle 1969). Positiv definiert wird die Aussage als die kleinste isolierbare Einheit des Diskurses, die zu anderen Aussagen in Relation steht (Foucault 1981, 116f.) und als eine tatsächlich geäußerte sprachliche Sequenz. Foucault unterscheidet vier Merkmale, die sich auf die Existenz der Aussage beziehen: die Subjektposition, das Korrelat der Aussage, das assoziierte Feld von Aussagen und die materielle Existenz der Aussage. Durch den Begriff der Subjektposition soll deutlich werden, dass das Subjekt, das eine Zeichenfolge produziert und damit zu ihrem Autor wird, nicht zwangsläufig mit dem Subjekt der Aussage identisch ist. Die zweite Funktion der Aussage besteht darin, zu dem Korrelat der Aussage einen Bezug herzustellen (ebd., 132). Diesen Bezug stellt sie her, indem sie die Stelle anzugeben erlaubt, die eine Zeichenfolge in einem Beziehungsgeflecht von Wissen haben kann. Unter dem Korrelat der Aussage sind nun keine Gegenstände zu verstehen, sondern „eine Menge von Gebieten, wo solche Objekte erscheinen können“ (ebd., 133). Dieses Korrelat besteht aus Möglichkeitsgesetzen, aus Existenzregeln für die Gegenstände, die darin genannt, bezeichnet oder beschrieben werden. Die KorrelatFunktion der Aussage ist nur erfüllbar, weil sie drittens zugleich angibt, welche Beziehungen die Aussage zu einem assoziierten Feld von Aussagen einnimmt. Dieses assoziierte Feld wird durch die Menge der Formulierungen gebildet (ebd., 139ff.), in die sich die Aussage einschreibt und wovon sie selbst ein Element darstellt. Eine Aussage besitzt viertens eine spezifische Materialität, die nicht mit einer sprachlichen Äußerung innerhalb einer zeitlich und örtlich bestimmten Kommunikationssituation gleichzusetzen ist. Die materielle Existenz der Aussage verweist auf ihre potenzielle Wiederholbarkeit, während eine sprachliche Äußerung ein einzigartiges Ereignis darstellt, da sie nur von einem Subjekt, an einem Ort, zu einem bestimmten Zeitpunkt formuliert wird und über eine spezifische phonetische, graphische oder sonstige Materialität verfügt. Die Diskurse als geregelte Formationen von Aussagen bzw. als Serien von Aussagen formieren sich ihrerseits zu einem Archiv, einer Art Gesamt-Diskurs (vgl. Fink-Eitel 1997, 59). Die Aussagen unterliegen einer diskursiven Formation, d. h. einer Regelmäßigkeit, die sie als Aussagen eines Diskurses bestimmbar macht. 27

Da Foucault in der „Archäologie des Wissens“ wiederholt Modifizierungen und neue Begriffsbestimmungen vornimmt, ist nicht von einer „strengen Definition“ zu sprechen.

2.1 Zum Diskursbegriff Michel Foucaults

27

Die diskursive Formation ist das Resultat einer spezifischen in Raum und Zeit determinierten „diskursiven Praxis“, die nach Foucault definiert ist als: [...] eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets in Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben. (Foucault 1981, 171)

Eine diskursive Praxis ist demnach nicht als Tätigkeit eines Subjektes zu verstehen, sondern als ein Ensemble von Regeln, welche die Möglichkeitsbedingungen für das Erscheinen von Aussagen bezeichnen.28 In der „Archäologie des Wissens“ wird die Formation des Diskurses in vier Analyseebenen aufgegliedert:

Eine Kernthese Foucaults lautet, dass die Gegenstände den Diskursen nicht vorausgehen bzw. losgelöst von einer diskursiven Ordnung erfahrbar sind. So beschreibt er das „Auftauchen“ der Gegenstände der Erkenntnis bzw. der Wissenschaften im Hinblick auf Kontinuitäten und Brüche (vgl. ebd., 62), wobei die „Instanzen der Abgrenzung“ (ebd., 63), 28

Bublitz verweist in Anlehnung an den französischen Kultursoziologen Pierre Bourdieu zu Recht auf den Doppelcharakter der diskursiven Praxis als ‚strukturierte‘ und ‚strukturierende‘ Praxis (vgl. Bublitz 1999, 7).

28

2. Theorie und Methode

also beispielsweise die Institutionen, die Individuen, das Wissen und die Praxis der Justiz, Kirche usw. zu berücksichtigen sind. So gleichen sich beispielsweise seiner Ansicht nach die Psychopathologie des 19. Jahrhunderts und die Erforschung des „Wahnsinns“ im 18. Jahrhundert, insofern sie die Ausschließung von Kranken auf der Grundlage der Differenzierung ‚normal vs. anormal‘ leisten. Sie teilen somit ein historisch-variables Spezifikationsraster (vgl. ebd., 64).29 Die Formation der Äußerungsmodalitäten, die vor allem den institutionellen Rahmen von Aussagen aufgreift (vgl. ebd., 75ff.), ist u. a. erschließbar durch die Fragen: Wer spricht bzw. darf sprechen? Von welchem institutionellen Ort aus wird geredet? Welche Subjektpositionen können eingenommen werden? Die Formation der Begriffe regelt hingegen die Abfolge und Anordnung der Aussagen, beispielsweise die onomasiologische Vernetzung der Aussagen. Die Formation der Strategien zielt auf die Vernetzung der Diskurse untereinander sowie auf spezifische Inkompatibilitäten. Die Formationsbereiche oder Analyseebenen stehen ihrerseits in vielfältigen Wechselbeziehungen. Der Verbindung zwischen den Diskursen und den Praktiken, dem Wissen und der Macht gilt spätestens seit der Inauguralvorlesung am Collège de France im Jahre 1970 Foucaults verstärktes Interesse. Schwerpunkt seiner Studien ist nunmehr „[d]ie Ordnung des Diskurses“ (Foucault 1998). Damit rücken die Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung in den Blick: Ich setzte voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen. (ebd., 10f.)

Die Macht ist charakterisiert als eine ordnungsstiftende Kraft. Sie manifestiert sich in denjenigen Ausschlussverfahren, mit denen ein Diskurs sich nach außen etwa durch Verbote abgrenzt, und in den Kontrollmechanismen, die ihn intern regulieren, so beispielsweise durch die Regeln wissenschaftlicher Disziplinen. Diskurse können nach Plumpe (1988, 331) somit als institutionalisierte Aussagemengen verstanden werden, die im Hinblick auf das Sagbare stets eine Auswahl oder Verknappung der Aussagemöglichkeiten darstellen. Die Kontroll- und Reglementierungsmechanismen 29

In Bezug auf die zuvor dargelegte Kritik lässt sich somit festhalten, dass Foucault rekonstruieren will, wie die jeweilige diskursive Formation Gegenstände hervorbringt. Die Frage lautet also: Wie wird in einem historisch-spezifischen Diskurs über einen Gegenstand gesprochen, welche Instanzen regeln die Art und Weise, wie über ihn gesprochen, geschrieben, geforscht wird, wer ist berechtigt, Aussagen über Gegenstände zu machen etc.

2.1 Zum Diskursbegriff Michel Foucaults

29

strukturieren das Gesamtfeld des kulturellen Wissens und legen fest (vgl. Kammler 1997, 33): − welche Objekte in einem Diskurs zugelassen sind, beispielsweise über welche Gegenstände in einer wissenschaftlichen Disziplin Aussagen gemacht werden und über welche nicht, − wie diese Gegenstände, die in einem Diskurs zur Sprache kommen, miteinander verknüpft werden, − in welcher Art und Weise (Modus) über diese Gegenstände gesprochen wird, beispielsweise in Form einer wissenschaftlichen Abhandlung oder eines schriftlichen Protokolls, − welche theoretischen Annahmen als Voraussetzungen dienen bzw. mit welchen Theorien oder Strategien „Wahrheit(en)“ produziert werden, − welche Subjektpositionen in einem Diskurs eingenommen werden können, − wer im Diskurs reden darf und wer nicht. Foucaults Ansicht zur Relation von Macht und Wissen lässt sich vereinfacht so zusammenfassen: Die Produktion von Wissen ist unausweichlich in Relation zur Macht zu sehen. Im Gegensatz zu marxistischen Positionen ist Macht bei Foucault aber nicht als an eine Institution oder eine Einzelperson gebunden gedacht, sondern stellt ein komplexes Beziehungsgeflecht dar (vgl. Foucault 1976). Komplexe, in denen Wissen und Macht als zielgerichtete Konstellationen zusammenwirken, bezeichnet Foucault als Dispositive. Sie lassen sich nach Fink-Eitel beschreiben als „machtstrategische Verknüpfungen von Diskursen und Praktiken“ (1997, 80), die Netze bilden aus so heterogenen Elementen wie Institutionen, Techniken, Gesetzen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen und moralischen Aussagen. Die Archäologie oder historische Diskursanalyse ist somit als ein Verfahren zu bestimmen, dass auf das streng analytische „Ausgraben“ diskursiver Formationen gerichtet ist. Hierzu gehört eine Analyse von Aussagen, ihrer Formationen und ihrer historischen Möglichkeitsbedingungen (vgl. Winko 1997, 465f.).30 Ziel der Diskursanalyse ist es, „eine den Individuen nicht einsichtige Regelmäßigkeit (die der Formationsregeln) innerhalb einer diskursiven Praxis für eine analysierende Praxis intelligibel zu machen, d. h. rekonstruierend zu verstehen“ (Diaz-Bone 1999, 126f.). Foucault formuliert für das methodische Vorgehen vier strategische Um30

Die späteren Arbeiten Foucaults, die sich verstärkt der Bedingtheit der Diskurse durch Machtverhältnisse, d. h. den nicht-diskursiven Praktiken zuwenden, werden als ‚Genealogie‘ bezeichnet (vgl. Fink-Eitel 1997, 9).

30

2. Theorie und Methode

kehrungen der vier zentralen Begriffe der klassischen Bewusstseinsphilosophie: Schöpfung, evolutionäre Einheit, Ursprünglichkeit und Bedeutung. An die Stelle der Schöpfung tritt die Materialität des (sprachlichen) Ereignisses, das Prinzip evolutionärer Einheiten wird kontrastiert durch diskontinuierliche Serien (von Texten), Ursprünglichkeit steht der Regelhaftigkeit entgegen und das Prinzip der Bedeutung kontrastiert mit den Möglichkeitsbedingungen der Diskurse (vgl. Fink-Eitel 1997, 66). Mit der Gewichtung der vier Gegenprinzipien ist eine analytische Dimension angezeigt, die über die Erforschung interner Textstrukturen weit hinausgreift. Die in Texten zirkulierenden tatsächlich geäußerten Aussagen als sprachliche Handlungen sind hinsichtlich der Möglichkeiten ihrer Existenz zu hinterfragen. Der Blick richtet sich auf die wissenschaftlichen Disziplinen, innerhalb derer sie Geltung beanspruchen und deren Disziplinierungspraktiken sie unterliegen. Ferner widmet sich die Analyse den gesellschaftlichen Bereichen, in denen sie zirkulieren, und den gesellschaftlichen Gruppen, die sie verwenden und tradieren, die sie modifizieren oder ausgrenzen. Die reine Sprach- oder Textanalyse wird erweitert um die Dimension der gesellschaftlichen Praxis, der Institutionen und historischen Prozesse (vgl. Bublitz 1999, 78-82).

2.2 Diskursanalyse und Linguistik 2.2 Diskursanalyse und Linguistik

Im Programm der historischen Diskurssemantik setzt sich Busse (1987) kritisch mit dem Foucault’schen Diskursbegriff auseinander. Busses Interesse an der Diskursanalyse nach Foucault resultiert nicht zuletzt aus dem konstatierten theoretischen (linguistischen) Ungenügen der tradierten Ideen- und Begriffsgeschichte als Teilgebiet der Geschichtswissenschaft, wie sie etwa in Form der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ vorliegt (vgl. Brunner/Conze/Koselleck 1972-1997).31 Die Frage nach der Konstituierung historischer Erfahrung kann nach Busse nicht durch die alleinige Fixierung auf ihre Resultate, d. h. die Begriffe, beantwortet werden. Nur die Analyse der sprachlichen Kommunikation, in der sie entstehen und in denen sich Bedeutungen zu „Komplexen geordneter Verarbeitung von Erfahrung“ verfestigen, kann Bezugspunkt der Analyse sein (vgl. Busse 1987, 109). Busse bindet die semantische Analyse von Begriffen in ein 31

In der deutschen, anglo-amerikanischen und französischen Geschichtswissenschaft lassen sich jeweils unterschiedliche Zugriffsweisen aufzeigen. Für den deutschen Forschungsraum bedeutsam ist ein begriffsgeschichtlicher Ansatz, während in Frankreich die „analyse du discours“ eine zentrale Stellung einnimmt (vgl. Ehlich 1994).

2.2 Diskursanalyse und Linguistik

31

Modell sprachlichen Handelns ein (ebd., 111). In Anlehnung an Ludwig Wittgenstein kritisiert er die Annahme feststehender Wortbedeutungen. Diese Vorstellung stelle „eine Verkürzung der Perspektive dar, indem sie einem einzelnen Aspekt die Sinn-Leistung zuschreibt, die erst vom Gesamten der Voraussetzungen erbracht wird.“ (ebd., 72) In Anlehnung an die Formulierung von Ludwig Wittgenstein, die Bedeutung eines Wortes sei sein Gebrauch in der Sprache (Wittgenstein 1988, 262), geht Busse davon aus, dass die Bedeutungshaftigkeit sprachlicher Zeichen genuin mit dem Vorgang des Kommunizierens verknüpft ist. Busses Interesse gilt den Bedingungen kommunikativer Handlungen, auf deren Eingebundenheit in situative, epistemische und diskursive Bezüge er nachdrücklich verweist. Die Rekonstruktion dieser kommunikativen Handlungen bzw. der in die Bedeutungskonstitutierung einfließenden Faktoren soll sowohl Aufschluss über die Verarbeitung von Erfahrung als auch der Konstituierung von Wirklichkeit(en) bzw. die Bewusstseinslage einer Epoche geben. In Anlehnung an Foucault sind die epistemologischen Rahmenbedingungen sprachlicher Bedeutungsproduktion, die das zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt Sagbare überhaupt erst ermöglichen, genuiner Gegenstand linguistischer Analyse. Ort des Sprachwandels ist der Diskurs (vgl. Busse 1987, 233f.). Ziel der Historischen Semantik ist es, „Texte des politisch-gesellschaftlichen Diskurses hermeneutisch vor dem Hintergrund der Geschichte, und Geschichte auf der Folie des Diskurses zu deuten“ (Teubert 1998, 188). Die Diskursanalyse ist in diesem Sinne eine genuin historische Methode. Indem sie das Auftreten von Wissenseinheiten in verschiedenen thematischen Bereichen untersucht sowie die Wiederholung bzw. Häufung bestimmter Wissenseinheiten auf ihre Regelmäßigkeit durchleuchtet, beschreibt sie das diachrone Entstehen und den Wandel des sprachlich manifesten Wissens. Dass Texte und die in ihnen enthaltenen sprachlichen Größen nur vor dem Hintergrund des Diskurses adäquat zu analysieren und zu verstehen sind, ist 20 Jahre nach dem Erscheinen der „Historischen Semantik“ von Busse, in der ein umfassendes Programm zur Erforschung historischer Diskurse vorgestellt wird (vgl. Busse 1987), in der Linguistik allgemein sowie in der Textlinguistik insbesondere weitgehend anerkannt. Die Etablierung einer Diskurslinguistik als linguistischer Teildisziplin kann mithin

32

2. Theorie und Methode

als abgeschlossen gelten.32 Die Diskursivität von Texten (vgl. Warnke 2002a und 2002b) wird allerdings in den verschiedenen Ausprägungen diskursanalytischer Forschungszweige, wie etwa der Düsseldorfer Schule um Stötzel und Wengeler (vgl. Wengeler 1992, 1997, 2003), der Kritischen Wiener Diskursanalyse um Wodak (vgl. Wodak et al. 1998, Wodak 2002) oder der diskurslexikologischen Arbeiten von Busch (vgl. Busch/Wichter 2000 und Busch 2004) sowie von Kämper (2005) sehr unterschiedlich perspektiviert. Und auch die „Mitbegründer“ der Diskurslinguistik, Busse und Teubert, die in einem gemeinsamen Aufsatz von 1994 noch eine linguistische Operationalisierung des Foucault’schen Diskursbegriffs vorgestellt haben, konzeptionieren in neueren Arbeiten Diskursanalyse überaus unterschiedlich (vgl. Busse/Teubert 1994).33 Gemeinsam ist den referierten Ansätzen aber, dass sie eine linguistische Operationalisierung des Foucault’schen Diskursbegriffs teilen, die die sprachliche Seite der Diskurse in den Blick rückt. Dabei geht es nicht um das sprachliche Einzelphänomen als solches, also eine einzelne diskursive Leitvokabel oder den Einzeltext, sondern die linguistische Diskursanalyse ist um die Rekonstruktion des Musterhaften sprachlicher Äußerungen bemüht, beispielsweise der Serialität des Auftretens von Leitvokabeln, Argumentationsmustern usw. Im Gegensatz zu Foucault avanciert damit die Semantik historischer Diskurse zum Leitgegenstand der Forschung. Diskurse lassen sich nach Busse (1997, 18) verstehen als ein Korpus von Texten, dessen Textteile und Teiltexte thematisch miteinander verbunden sind, wobei „Thema“ hier weiter gefasst wird als im textlinguistischen Sinne: Gemeint sein können damit eben auch bestimmte Teilbedeutungen, Konnotationslinien, analytisch-tiefensemantisch bestimmbare Bedeutungsmerkmale oder epistemische Möglichkeitsbedingungen für solche Teilbedeutungen, Konnotationen oder Bedeutungsmerkmale, so daß der Begriff der „Diskurssemantik“ in ge32

33

Das Methodenrepertoire, die verschiedenen Konzeptualisierungen sowie neue und etablierte Forschungsgegenstände der Diskurslinguistik führte die von Warnke und Spitzmüller geleitete „Sektion 9: Methoden der Diskurslinguistik nach Foucault“ im Rahmen des 41. Linguistischen Kolloquiums „Die Ordnung des Standard und die Differenzierung der Diskurse“ zusammen (vgl. Faulstich 2007). Das Kolloquium fand vom 6.-8. September 2006 in Mannheim statt. Einen aktuellen Forschungsüberblick bietet der von Warnke herausgegebene Sammelband „Diskurslinguistik nach Foucault. Theorien und Gegenstände.“ (Warnke 2007). Ein Überblick zur linguistischen Diskursanalyse liegt vor von Bluhm et al. (2000). In neueren Aufsätzen formuliert Busse das Konzept einer „Diskurslinguistik als Epistemologie“, die die Erforschung von verstehensrelevantem Wissen zum Inhalt hat, das beispielsweise in Form von semantischen Merkmalen, Präsuppositionen oder auf der Textoberfläche in Form von Wörtern oder Begriffen auftreten kann. Vgl. beispielsweise Busse (2003).

2.2 Diskursanalyse und Linguistik

33

wisser Weise die Grenzen des linguistischen (z. B. lexikalischen) Bedeutungsbegriffs transzendiert. (ebd.)

Das durch den Forschenden zusammengestellte Textkorpus ist nicht mit dem Diskurs identisch. Es stellt eine Auswahl „möglicher Texte“ des Diskurses dar. Konstituiert wird das Textkorpus durch alle Texte, die − sich mit einem als Forschungsgegenstand gewählten Gegenstand, Thema, Wissenskomplex oder Konzept befassen, untereinander semantische Beziehungen aufweisen und/oder in einem gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang stehen, − den als Forschungsprogramm vorgegebenen Eingrenzungen in Hinblick auf Zeitraum/Zeitausschnitte, Areal, Gesellschaftsausschnitt, Kommunikationsbereich, Texttypik und andere Parameter genügen, − und durch explizite oder implizite (text- oder kontextsemantisch erschließbare) Verweisungen aufeinander Bezug nehmen bzw. einen intertextuellen Zusammenhang bilden. (Busse/Teubert 1994, 14) Die Untersuchung sprachlicher Einheiten in Texten geht über die Textgrenzen hinaus und löst sich außerdem von einer streng lexemgebundenen Analyse. Die Betrachtung von isolierten Texten als linguistischer Forschungsgegenstand wird eingebettet in eine Untersuchung der Relationen von Texten untereinander. Die Erstellung eines konkreten Textkorpus als Teilmenge des untersuchten Diskurses wird durch die Gewichtung praktischer und inhaltlicher Relevanzkriterien geleistet und ist Resultat der Interpretationsleistung des Forschers (vgl. ebd., 14f.). Allerdings wird hier nicht der Beliebigkeit subjektiver semantischer Verknüpfungen Tür und Tor geöffnet: „Die Diskursanalyse muß daher die Rechtfertigung für die getroffene Wahl des Gegenstandes [...] erst durch die Ergebnisse ihrer Analyse erbringen. [...] Sie bedarf daher immer eines Kredits auf noch zu Leistendes.“ (vgl. ebd., 15) Aus der Vielfalt potenzieller linguistischer Untersuchungsgegenstände kann eine diskurslinguistische Untersuchung aus forschungspraktischen Gründen immer nur Einzelaspekte herausgreifen.34 In der vorliegenden Arbeit werden drei Untersuchungsgrößen herangezogen: Schlüsselwörter, Argumentationsmuster und diskurssemantische Grundfiguren des Sprachnormierungsdiskurses.

34

Zur Vielfalt methodischer Zugänge vgl. Gardt (2007).

34

2. Theorie und Methode

2.3 Diskurslexik und Diskurslexikographie 2.3 Diskurslexik und Diskurslexikographie

Die lexikologische Analyse und lexikographische Dokumentation der Schlüsselwörter des Sprachnormierungsdiskurses ist der historischen Bedeutungslexikographie verpflichtet, wie sie dem von Anderson, Goebel und Reichmann herausgegebenen „Frühneuhochdeutschen Wörterbuch“ (1989f.) zu Grunde liegt und wie sie in neueren Arbeiten und Projekten realisiert wird.35 Dass die historische Bedeutungslexikographie ein besonders geeignetes Instrument zur Erfassung und Beschreibung von Kulturgeschichte darstellt, zeigt Reichmann (1986). Seiner Argumentation zufolge kann die Bedeutungserläuterung eines Ausdrucks als Kern der lexikographischen Tätigkeit durch die Beschreibung des Bezugsgegenstandes erfolgen, und zwar indem man beschreibt, wie in einer historisch konkreten Gesellschaft über diesen Bezugsgegenstand gesprochen bzw. geschrieben wird.36 Die erstellten Wortartikel sind das Ergebnis einer ‚Textlexikographie‘, wie sie Reichmann (1986) ausführlich beschrieben hat. Seine Argumentation soll an dieser Stelle deshalb nicht im Ganzen wiedergegeben werden, sondern nur im Hinblick auf für diese Untersuchung relevante Aspekte. Von besonderer Bedeutung ist der zu Grunde liegende Bedeutungsbegriff. Dieser grenzt sich von dem Bedeutungsbegriff der strukturalistischen Sprachwissenschaft ab, der auf dem Oppositionsgedanken der Phonologie basiert und der für die Lexik minimale Bedeutungseinheiten bzw. Seme annimmt, mit denen sich Wortbedeutungen wechselseitig voneinander abgrenzen.37 Eine Lexikographie, die Relevanz für die Kulturgeschichte anstrebt, muss diesen Oppositionsgedanken ersetzen „durch den Begriff der Unterscheidung, die Sprecher bzw. Schreiber im Hinblick auf kom35

36

37

Vgl. die „Lexikographische Einleitung“ des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs von Reichmann (1989, 10-164) sowie Bär (1999b). Vgl. außerdem den autorenlexikographischen Ansatz bei Warnke (1993) und Lobenstein-Reichmann (1998), die Vorschläge von Bär (1998) zur lexikographischen Beschreibung des frühromantischen Diskurses sowie deren Realisierung in Bär (1999a, 343-364) sowie Gardt et al. (1991) bzw. Gardt (1996). Der in dieser Untersuchung vorgelegte Aufbau der Wortartikel basiert ganz wesentlich auf den Überlegungen bei Bär (1998) und Lobenstein-Reichmann (1998, 12-54). Als Instrument der Kulturgeschichtsschreibung dient das Wörterbuch dabei in zweifacher Hinsicht (vgl. Bär 1999b, 267-293): Zum einen ist es ein Werkzeug, mit dem der Lexikograph seine Sicht der Kulturgeschichte vermittelt: „Er wählt kulturhistorische Daten und Fakten in einer bestimmten Weise aus, ordnet sie an und kommentiert sie.“ (ebd., 268) Zum anderen dienen Wörterbücher aber auch als „kulturgeschichtliche Fundgrube“ (ebd.), die kulturhistorische Daten in einer übersichtlichen und komprimierten Form zugänglich machen. Aus Raumgründen muss auf eine ausführliche Darstellung der strukturalistischen Merkmalsemantik verzichtet werden. Vgl. beispielsweise Agricola (1982).

2.3 Diskurslexik und Diskurslexikographie

35

munikative Bezugsgegenstände machen. Solche Unterscheidungen hängen vom vollen Katalog der pragmatischen Bedingungsfaktoren sprachlicher Handlungen ab“ (Reichmann 1986, 244).38 Die auf den von Reichmann formulierten Thesen basierenden Wörterbücher leisten eine Beschreibung der Art und Weise, wie einzelne Sprecher oder Sprechergruppen durch die Sprache auf die Gegenstände der Welt Bezug nehmen und welche Zuschreibungen oder Charakterisierungen sie dabei vollziehen (vgl. ebd., 247). Bedeutung wird somit „in einem weiteren, die Pragmatik einschließenden Sinne“ (Reichmann 1989, 62) verstanden und als eine durch die Wortumgebung konstituierte Größe (vgl. Bär 1998, 180). Auf der Grundlage des für diese Arbeit maßgeblichen Bedeutungsbegriffs bilden die Wortartikel Bausteine eines „Diskurswörterbuchs“ (Bär 1998, 160).39 Im Unterschied zur Autorenlexikographie (selbst wenn diese die Texte mehrerer Autoren umfasst) erfasst die „Diskurslexikographie“ (ebd.) nur diejenigen Texte, die für die Analyse des interessierenden Diskurses relevant sind. Durch das Erschließen und Beschreiben des lexikalisch-semantischen Potenzials ausgewählter Schlüsselwörter des Sprachnormierungsdiskurses sollen die aus dem Textkorpus gewonnenen Einsichten intersubjektiv nachvollziehbar werden. Die vorliegenden Wortartikel stellen die diskurstypische Semantik der Schlüsselwörter des Sprachnormierungsdiskurses in verdichteter Form dar und geben Aufschluss über typische Referenzialisierungen und Prädizierungen. Darüber hinaus berücksichtigt der lexikographische bzw. diskursive Kommentar auch typische Argumentationsmuster sowie Sprechereinstellungen. Durch diese Form der Analyse und Beschreibung der Diskurslexik wird gezeigt, wer welche lexikalischen Einheiten wie verwendet und welche Bezeichnungs- und Bedeutungskonkurrenzen es gibt. Die Wortartikel stellen damit in konzentrierter Form die „diskursive Ordnung“ des Sprachnormierungsdiskurses dar. Die lexikologische Analyse und die lexikographische Dokumentation erfolgen aus Raumgründen nur für ausge38

39

Diese Auffassung entspricht dem von Wittgenstein aufgestellten Diktum: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ (Wittgenstein 1988, 262) Bedeutung ist demnach an den bedeutungskonstituierenden Kontext (bzw. Kotext) lexikalischer Einheiten gebunden. Eine so verstandene Diskurslexikographie entspricht ebenfalls der historischen Diskurssemantik Busses (1987). Der von Bär vertretene Diskursbegriff ist deckungsgleich mit dem dieser Arbeit zu Grunde liegenden Ansatz, so versteht er unter Diskurs „eine bestimmte, räumlich und zeitlich situierte (d. h. natürlich personengebundene) Art und Weise [...], bestimmte Themen oder Gegenstände zu behandeln, mit anderen Worten: sie in topische Zusammenhänge mit bestimmten anderen Themen oder Gegenständen zu bringen und bestimmte Methoden, Darstellungsweisen, stereotype Denk- und Bewertungsmuster auf sie anzuwenden.“ (Bär 1998, 160)

36

2. Theorie und Methode

wählte Schlüsselwörter, und zwar nur dann, wenn das jeweilige Erkenntnisinteresse eine genauere Bedeutungsdifferenzierung notwendig macht. Allerdings muss an dieser Stelle betont werden, dass die Auswahl diskursdominierender Schlüsselwörter ein (intersubjektiv nachvollziehbar zu machender) Akt der Zuschreibung des Analysierenden ist, der auf das Engste mit den in dieser Arbeit untersuchten Fragestellungen und den eingangs dargelegten Zielsetzungen verbunden ist. Zweitens ist auf die grundsätzliche Schwierigkeit der Bedeutungserschließung in den ausgesuchten sprachreflexiven Texten hinzuweisen. So zeigt die Analyse von Ausdrücken wie ‚Nation‘ oder ‚Hochdeutsch‘ deutlich, dass die Schlüsselwörter weder im Sinne einer einheitlichen Terminologie verwendet werden, noch in Schriften eines einzelnen Autors in einer einzigen Bedeutung auftreten. Die lexikologische Analyse zieht Textexzerpte heran, in denen die relevanten Schlüsselwörter bzw. ausdrucksseitige Entsprechungen auftreten. Dabei wird zum Teil auf eine Belegsammlung zurückgegriffen, die im Rahmen eines von Reichmann, Gardt und Roelcke geleiteten Projekts zur Sprachtheorie in Barock und Frühaufklärung angelegt wurde (vgl. Gardt 1996).40 Für die semasiologisch-onomasiologische Analyse der Schlüsselwörter können deshalb weitaus mehr Schriften berücksichtigt werden als in der Darstellung der einzelnen Diskursbereiche. Für die Erschließung und Beschreibung der Schlüsselwörter stellt die Einzelwortsemantik den Ausgangspunkt dar. Die Analyse geht dabei vom Einzelbeleg aus, in dem ein Wort ‚a‘ in einer bestimmten Bedeutung (›a1‹ bis ›an‹) verwendet wird. Wie in den Ausführungen zum Erkenntnisinteresse und den theoretischen Prämissen bereits erläutert, wird Bedeutung als eine durch den (unmittelbaren) Kotext determinierte Größe verstanden. In Anlehnung an Reichmann gilt für den Ansatz einer Einzelbedeutung, dass sich für ein Wort entweder besondere onomasiologische Feldzusammenhänge und/oder spezifische Gegensatzwörter und/oder bestimmte syntagmatische Verbindungen und/oder Wortbildungsparallelen und/oder Entsprechungen im semasiologischen Feld anderer Wörter 40

Eine Dokumentation des Verfahrens findet sich bei Gardt (1996) und soll nur kurz resümiert werden: Bei der Durchsicht der Korpustexte werden Textstellen, die einen interessierenden Ausdruck wie etwa ‚Oberdeutsch‘, ‚Nation‘ oder ‚Verständlichkeit‘ enthalten, markiert und kopiert. Das kopierte Textexzerpt stellt eine in sich geschlossene Sinneinheit dar. Die Exzerpte werden mit einem Stichwortzeichen (zum Beispiel ‚verständlich‘) und einer Angabe der Belegstelle versehen. Den einzelnen Stichwörtern (‚verständlich‘, ‚Verständlichkeit‘) werden Lemmazeichen zugeordnet (Verständlichkeit). Je nach Anzahl der Stichwörter, die ein Beleg enthält, werden Vervielfältigungen angefertigt und eingescannt. Die zugehörige Datenbank leistet einen Zugriff über das Stichwort, das Lemma sowie die Quelle.

2.3 Diskurslexik und Diskurslexikographie

37

nachweisen lassen müssen (vgl. Reichmann 1986). Die sukzessive Durchsicht des Belegmaterials führt somit zum Zusammenfassen von Belegbedeutungen zu einer Einzelbedeutung; bei polysemen Wörtern entstehen im Zuge der Analyse mehrere semantisch zusammenhängende Belegblöcke. Die jeweiligen Belegbedeutungen können aufgrund der Erschließung der bei Reichmann genannten Größen zu einer Einzelbedeutung zusammengefasst werden, die als (einzelwortspezifisches) Bedeutungsspektrum bezeichnet wird.41 Die Strukturierung des Bedeutungsspektrums und das Ansetzen jeder einzelnen Belegbedeutung ist, um einen oft vorgebrachten Einwand vorwegzunehmen, eine Konstruktionsleistung des Lexikographen, die nur vor dem Hintergrund der systematischen Auswertung der in den Einzelbelegen auftretenden Synonyme, Gegensatzwörter, Paraphrasen, Prädikationen usw. begründet werden kann (vgl. auch Reichmann 1989, 156).42 Die Rekonstruktion von Einzelwortsemantiken sowie von Wort- und Begriffsfeldern ist somit Teil einer linguistisch fundierten Hermeneutik.43 Die das Bedeutungsspektrum konstituierenden Einzelbedeutungen werden (alpha)nummerisch gegliedert. Das Bedeutungsspektrum ›a‹ ist somit darstellbar als Gesamtheit von Einzelbedeutungen ›a1‹ bis ›an‹. Durch das Ermitteln bedeutungsverwandter Wörter, die zu jeder Einzelbedeutung festgehalten werden, werden zusätzlich zur semasiologischen 41

42

43

In diesem Verständnis ist die Bezeichnung synonym zu ‚Bedeutungsfeld‘, ‚Gesamtbedeutung‘ oder ‚Signifikat‘. ‚Einzelbedeutungen‘ eines Wortes lassen sich im Sinne Bärs (2000b, 32) als ‚Semem‘ bezeichnen, die eine „beschreibungssprachliche Fassung aller auf einen gemeinsamen semantischen Nenner zu bringenden (d. h.: übereinstimmende Seme aufweisenden) Belegbedeutungen“ (ebd.) darstellen. Zum Verständnis von ‚Prädikation‘ vgl. Reichmann (1986, 247): „Das Wort Prädikation […] ist dabei nicht mit den grammatischen Termini Prädikat oder Prädikatsaussage gleichzusetzen. Aussagen grammatischer Prädikate bilden lediglich einen Teil der Prädikationen eines Textes. Prädikationen im hier gemeinten, sehr umfassenden Sinne eines Wortes stecken allgemein in der bloßen Kompatibilität der in einem Text begegnenden Wörter, im Gebrauch von Metaphern, in den Generalisierungen, Spezifizierungen, Nuancierungen, Wertungen, Gegensatzbildungen, die man schon durch die Fixierung der Referenz mittels eines gewählten Wortes vornimmt, im Stellenwert eines Wortes innerhalb des onomasiologischen Feldes, schließlich selbstverständlich auch in den Symptomwerten eines Wortes, nur mit dem Unterschied, daß die Symptomwertprädikationen den Sprachträger, alle übrigen die im Text behandelten Bezugsgegenstände betreffen.“ Die Bedeutungsstruktur eines Wortes lässt sich deshalb als „lexikographische Verarbeitung von Prädikationen originaler Texte“ (ebd., 252) verstehen. So auch Haß (1991, 232): „Lexikographisches Handeln läßt sich tendenziell eher mithilfe des hermeneutischen Modells verstehen, in dem die verschiedenen methodischen Schritte der praktischen Lexikologie (Korpusanalyse) und der Lexikographie (Darstellung im Wörterbuch) als ‚Verstehen‘ und ‚Auslegen‘ notwendig aufeinander bezogen werden.“ Zum Programm einer Linguistischen Hermeneutik vgl. Hermanns/Holly (2007).

38

2. Theorie und Methode

Vernetzung onomasiologische Zusammenhänge deutlich. Ausgehend vom Schlüsselwort ‚Hochdeutsch‘ werden auch andere Wörter bestimmt, mit denen die Leitvarietät bezeichnet wird (beispielsweise ‚Obersächsisch‘ oder ‚Büchersprache‘). Die Ausdrücke sind mit mindestens einer ihrer Bedeutungen synonym zu mindestens einer der angesetzten Bedeutungen von Hochdeutsch. 2.3.1 Schlüsselwörter, Bezeichnungskonkurrenz, Bedeutungskonkurrenz, Deontik Als Zugriffsgröße für das diskurslexikologische Verfahren dieser Untersuchung werden Schlüsselwörter herangezogen, und zwar in der bei Hermanns (1994a) dargelegten Bedeutung:44 »Schlüsselwort« ist offensichtlich – anders noch als »Schlagwort«, »Fahnenwort« und »Stigmawort – ein Terminus aus der Betrachterperspektive. Er benennt das Wort, das er bezeichnet, nicht hinsichtlich der Funktion, die es für die Beteiligten, die dieses Wort verwenden, hat; sondern hinsichtlich der Funktion, die es für die Betrachter der Verwendung hat, z. B. für Historiker und Linguisten. Denn ein »Schlüsselwort« – sei es nun ein Schlüssel eines Textes, eines Dialoges, einer Auseinandersetzung, einer Politik, Ideologie, Gesellschaft oder auch historischen Epoche – ist jedes Wort, das ein Verständnis »aufschließt« und »erschließt«.

Die im Rahmen der Untersuchung analysierten Schlüsselwörter stellen als Einzelwörter des Sprachnormierungsdiskurses einen Teil des zeitgenössischen gesamtgesellschaftlichen Wortschatzes dar. In den Schlüsselwörtern konzentrieren sich die semantischen Kämpfe einer Gruppe oder Epoche, wobei ihre Semantik quasi den „Schlüssel“ zum Verständnis dieser Größen darstellt. Im Gegensatz zu Termini der politischen Semantik wie etwa ‚Schlagwort‘ oder ‚Stigmawort‘ bezeichnen Schlüsselwörter somit die den Untersuchenden interessierenden Leitkonzepte bzw. Gegenstände und Sachverhalte.45 Ihre semasiologisch-onomasiologische Analyse ermöglicht

44 45

Vgl. darüber hinaus auch Kämper (2005, insbesondere 97-99) sowie Liebert grundlegend (1994) und Teubert (1998). Vgl. auch das Plädoyer für ein dynamisches Konzept von Schlüsselwörtern von Liebert (2003) mit ausführlichen Literaturhinweisen. Auf eine Diskussion der in der politischen Semantik entwickelten Terminologie muss im Rahmen dieser Arbeit verzichtet werden, vgl. hierzu etwa Diekmannshenke/Klein (1996) bzw. Klein (1989). Eine Verwendung der Termini der politischen Semantik ist aufgrund der fehlenden aktiven und politischen Gruppenbildung der Diskursteilnehmer ausgeschlossen. Berührungspunkte ergeben sich aufgrund des dargestellten Verständnisses von Schlüsselwörtern etwa zu dem Lexikon der „Brisante[n] Wörter von Agitation bis Zeitgeist“ von Strauß/Haß/Harras (1989) oder der von Böke (1996) vorgelegten Untersuchung politischer Leitvokabeln.

2.3 Diskurslexik und Diskurslexikographie

39

einen schnellen Zugriff auf größere Textkorpora und zeigt die tendenziellen Zuschreibungen der Diskursakteure auf. Für die lexikologische Analyse der Schlüsselwörter haben sich drei Kategorien als besonders nützlich erwiesen: das Konzept der deontischen Bedeutung, wie es von Hermanns (1995b, 2002a/b) vorgelegt wird, sowie die Unterscheidung von Bezeichnungskonkurrenz und Bedeutungskonkurrenz, wie sie Klein (1989) im Rahmen der politischen Semantik entwickelt. Diese drei analytischen Kategorien sollen kurz bestimmt werden: Das Konzept der deontischen Bedeutung bzw. auch Sollensbedeutung oder präskriptiven Bedeutung hat Hermanns (1995b, 2002a/b) vorgestellt. Ausgehend von den drei Bedeutungen des sprachlichen Zeichens bzw. den drei Sprachfunktionen bei Bühler (1934), beschreibt Hermanns (2002a) die kognitive und volitive Dimension sowie die emotive Dimension (vgl. Hermanns 2002b) der lexikalischen Bedeutung eines Lexems. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass Wörter nicht nur einen Sachverhalt oder Gegenstand „darstellen“, sondern auch appellative oder emotive Bedeutungen zum Ausdruck bringen, wobei dies bislang ein Gegenstand der Pragmatik, nicht aber der Lexikologie darstellt. Anhand von Substantiven wie ‚Unkraut‘ und ‚Ungeziefer‘, aber auch Adjektiven wie ‚lesenswert‘ und ‚lobenswert‘, zeigt Hermanns auf, dass in diesen Ausdrücken auch Volitionen, das bedeutet Aspekte des Wollens und Sollens, lexikalisiert sind. Beispielsweise hat ‚Unkraut‘ nicht nur eine deskriptive Bedeutung (etwa: ›Pflanzen, die zwischen angebauten Pflanzen wild wachsen‹), sondern auch eine deontische Bedeutung: ›etwas, das vernichtet werden soll‹. Deontische Bedeutungsdimensionen von Lexemen bringen somit zum Ausdruck, was die Sprecher und Sprecherinnen wollen, welche Handlungen sie in Bezug auf einen Gegenstand oder Sachverhalt vollziehen oder unterlassen sollen (vgl. Hermanns 2002a, 347). Dass im Sprachnormierungsdiskurs die Bezeichnung der Leitvarietät umstritten ist, zeigen die Schlüsselwörter Hochdeutsch und Meißnisch/Obersächsisch. Aber auch die Semantik eines einzelnen Schlüsselwortes ist in der Regel hochgradig polysem und variiert je nach Gebrauch durch bestimmte Diskursteilnehmer.46 Jeder Unterschied im Gebrauch eines Schlüsselwortes kann nach Hermanns (1994a, 83) als Indikator für einen Unterschied im „Denkgebrauch“ erachtet werden. Die unterschiedlichen Verwendungsweisen der Schlüsselwörter etablieren oder verfestigen dabei bestimmte Bedeutungsvarianten und konkurrieren mit anderen Verwendungsweisen. Die Phänomene der Bezeichnungskonkurrenz sowie 46

Im Kontext der politischen Semantik ist hierfür die Bezeichnung „ideologische Polysemie“ (Dieckmann 1969, 70ff.) üblich.

40

2. Theorie und Methode

der Bedeutungskonkurrenz hat Josef Klein im Umfeld der politischen Semantik untersucht (vgl. Klein 1989). Mit Bedeutungskonkurrenz ist im Rahmen der Arbeit gemeint, a) dass ein Schlüsselwort in einer Diskursgemeinschaft polysem ist, sowie b) dass die einzelnen Bedeutungsdimensionen spezifische Einstellungen der Diskursteilnehmer zum Ausdruck bringen bzw., insofern sie von mehreren Diskursteilnehmern in identischer Bedeutung verwendet werden, dass sie Ausdruck bestimmter Strategien der Legitimierung der Leitvarietät darstellen. Einzelne Diskursteilnehmer versuchen, jeweils ihre eigene Bedeutungsvariante bzw. ihre spezifische Kombination an Einzelbedeutungen im Diskurs durchzusetzen, „so daß hier die Wortbedeutungsvarianten nicht – wie sonst – gewissermaßen friedlich miteinander bloß koexistieren, sondern miteinander konkurrieren.“ (Hermanns 1994a, 33) Während im Falle der Bedeutungskonkurrenz die Semantik eines Einzelwortes umstritten ist (semasiologische Perspektive), ist im Falle der Bezeichnungskonkurrenz somit die „richtige“ Bezeichnung eines Ausdrucks strittig. Für die Bedeutungskonkurrenz lassen sich zwei Subtypen differenzieren, die deskriptive und die deontische Bedeutungskonkurrenz (vgl. Klein 1989, 17). Bei der deskriptiven Bedeutungskonkurrenz ist in der Regel die deontische Bedeutungsdimension unstrittig, deshalb wird um die inhaltliche Präzisierung relevanter Einheiten gestritten. Deontische Bedeutungskonkurrenz meint hingegen, dass um die deontische Bedeutung eines Ausdrucks gerungen wird. In diesem Fall ist umstritten, was in Bezug auf einen Gegenstand getan bzw. vermieden werden soll. 2.3.2 Wortartikel als Bausteine eines Diskurswörterbuchs Die gewählte lexikographische Dokumentation ist sehr eng angelehnt an das Verfahren, das Bär in verschiedenen Publikationen entwickelt und vorstellt (vgl. Bär 1998, 1999a und 1999b). Die Wortartikel bilden die diskursdominierenden Schlüsselwörter in ihren syntagmatischen wie paradigmatischen Relationen ab. Indem sie alle Einzelbedeutungen eines Lemmazeichens erläutern, die angesetzten Bedeutungen darstellen, und zwar in ihrer semasiologischen wie onomasiologischen Vernetzung, geben sie Aufschluss über die Verwendung diskursdominierender Schlüsselwörter des deutschsprachigen Sprachnormierungsdiskurses des 18. Jahrhunderts. Die Wortartikel ermöglichen einen schnellen Zugriff auf die Semantik der zentralen Schlüsselwörter. In den einzelnen Kapiteln sollen darüber hinaus Querverweise zu den Wortartikeln oder zu einzelnen Bedeutungspositionen die Verwendung des jeweiligen Schlüsselwortes im Diskurs

2.3 Diskurslexik und Diskurslexikographie

41

einsichtig machen. Ergänzt werden diese Daten durch einen lexikographischen Kommentar, der insbesondere eine diskursive Kommentierung einschließt. Die Artikel gliedern sich in zwei Teile: Der erste Teil bezieht sich auf das Wort als Ganzes und dokumentiert sein Bedeutungsspektrum. Im zweiten Teil werden die Einzelbedeutungen erläutert. Dabei wird zwischen obligatorischen und fakultativen Informationen unterschieden (vgl. Bär 1998, 169): Während die Position der obligatorischen Informationen im Artikel genau festgelegt und ihr Fehlen zu kennzeichnen ist, kann die Position der fakultativen Informationen festgelegt sein, aber auch variieren. Im allgemeinen Teil sind folgende feststehenden Informationspositionen vorgesehen: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Lemma Angaben zur Wortart und Flexionsmorphologie Angaben zu Wortvarianten Angaben zur Wortbildung Anmerkungen zur Wortverwendung und zum Bedeutungsspektrum Überblicksartige Zusammenstellung der Einzelbedeutungen

Im besonderen Teil sind nachstehende Informationspositionen zu berücksichtigen: 7. Bedeutungserläuterung 8. Angaben von bedeutungsverwandten Wörtern und des Gegensatzbereichs 9. Angabe typischer Syntagmen 10. Angabe kontextcharakteristischer Wörter und Syntagmen 11. Angabe typischer Wortbildungen 12. Belege 13. Belegstellen Variabel positionierbar sind die verschiedenen Formen des lexikographischen Kommentars, d. h. die Angaben zu den Symptomwerten, der diskursive und der semantische Kommentar, der Minimalkommentar sowie Belegtextergänzungen und Verweise.

42

2. Theorie und Methode

Aufbau der Wortartikel Erläuterung

Graphische Markierung bzw. Sigle Fettdruck und Kursivierung des Lemmas (z. B. Hochdeutsch)

Variabel positionierbare Informationen

Allgemeiner Teil 1.

Lemma (obligatorisch)

Das einleitende Kennwort oder Stichwort eines Wörterbuchartikels. Wenn es Stichwortvarianten gibt (wie etwa ‚Hochteutsch‘ und ‚Hochdeutsch‘), wird die heute übliche Schreibung gewählt.

2.

Wortart und Flexionsmorphologie (obligatorisch)

Bei Substantiven wird im Anschluss Beispiel: an die Wortvarianten (bzw. wenn Volk, das; diese fehlen im Anschluss an das -(e)s/-er+Uml. Lemma) und durch Komma abgetrennt die Angabe des Artikels ergänzt. Durch Semikolon abgetrennt erfolgt dann die Angabe der Flexionsendungen im Genitiv Singular und Nominativ Plural. Das Nullmorphem wird durch das Angabesymbol Ø bezeichnet.

Symptomwerte, Anm. zur Häufigkeit von Wörtern und zu Worteigenschaften, lexikographischer Kommentar, Artikelverweise

3.

Wortvarianten (obligatorisch)

Verzeichnis aller Stichwortvarianten

eingeleitet durch ‚auch:‘

Symptomwerte, Anm. zur Häufigkeit von Wörtern und zu Worteigenschaften, lexikographischer Kommentar, Artikelverweise

4.

Wortbildung (obligatorisch)

Da Wortbildungen auch Aufschluss über semantische Zusammenhänge geben können, werden sie in den Wortartikel aufgenommen, und zwar in Form einer alphabetischen Auflistung der Derivata und Komposita und der Angabe der Wortart.

Wortbildungen werden kursiv gesetzt; Angabe der Wortart recte, zum Beispiel: Adj. hochdeutsch; Subst. Hochdeutsch, […]

Symptomwerte, Anm. zur Häufigkeit von Wörtern und zu Worteigenschaften, lexikographischer Kommentar, Artikelverweise

2.3 Diskurslexik und Diskurslexikographie

43

Erläuterung

Graphische Markierung bzw. Sigle

Variabel positionierbare Informationen

durch Leerzeile und Absatz von den Positionen 1-4 getrennt, recte gesetzt

Symptomwerte, Anm. zur Häufigkeit von Wörtern und zu Worteigenschaften, lexikographischer Kommentar, Artikelverweise

5.

Wortverwendung und Angaben zum Bedeutungsspektrum (obligatorisch)

Die jeweiligen Schlüsselwörter werden in Bezug auf ihre Situierung im Diskurs erläutert. Dies geschieht, indem der spezifische kulturhistorische sowie sozialgeschichtliche Kontext, diskurstypische Argumentationsmuster und Diskurspositionierungen einzelner Sprecher bzw. Sprechergruppen sowie diskurssemantische Grundfiguren in die Darstellung einbezogen werden. Die Angaben zum Bedeutungsspektrum orientieren kurz über die ermittelten Bedeutungspositionen des Artikels.

6.

Überblicksartige Zusammenstellung der Einzelbedeutungen (obligatorisch)

Das Bedeutungsspektrum eines Rahmen Schlüsselwortes kann im Einzelfall hochgradig polysem sein. Deshalb wird zur besseren Lesbarkeit der Wortartikel der Erläuterung der Einzelbedeutungen eine (alpha)nummerische Liste der Bedeutungspositionen vorangestellt.

Besonderer Teil 7.

Bedeutungserläuterung (obligatorisch)

Die Bedeutungserläuterung stellt den Kern des Wortartikels dar (vgl. Reichmann 1989, 84). Sie ist ein Versuch, das Schlüsselwort in einer beschreibungssprachlichen Paraphrase wiederzugeben. Maßgeblich ist das Kriterium der Substituierbarkeit: Die Bedeutungsangabe muss in den entsprechenden Bedeutungsbeleg einsetzbar sein, ohne dass sich dadurch der Sinn des Belegs verändert. Die lineare Zählung der Einzelbedeutungen bildet tendenziell die Häufigkeit der ermittelten Belegbedeutungen ab. Die Bedeutungserläuterung wird ergänzt um einen lexikographischen Kommentar.

einfache französische Anführungszeichen: ›…‹

Symptomwerte, Anm. zur Häufigkeit von Wörtern und zu Worteigenschaften, lexikographischer Kommentar, Verweise

44

2. Theorie und Methode

Erläuterung

Graphische Markierung bzw. Sigle

Variabel positionierbare Informationen

Da die onomasiologische Vernetzung Bdv.: bzw. Aufschluss über das Bedeutungsspek- Ggb.: trum eines Wortes gibt, wird ihr große Bedeutung beigemessen. Als Kriterium für Bedeutungsverwandtschaft gilt die kontextuelle Substituierbarkeit. Die (partiell) synonym angesetzte Einheit muss an die Stelle des Wortes einsetzbar sein, ohne dass sich der Sinn des Satzes ändert. Besonders häufig handelt es sich um Wörter in Mehrfachformeln und Aufzählungen sowie stilistische Varianten (vgl. Bär 1998, 180). Die Angabe von Gegensatzwörtern ist fakultativ. Sie folgt nach der Auflistung bedeutungsverwandter Wörter.

Symptomwerte, Anm. zur Häufigkeit von Wörtern und zu Worteigenschaften, lexikographischer Kommentar, Verweise

8.

Bedeutungsverwandte Wörter (obligatorisch), Gegensatzbereich (fakultativ)

9.

Syntagmen Als Syntagmen gelten in Anlehnung Synt.: an Bär (1998, 181) „Fügungen, in denen das zu untersuchende Wort in grammatisch-syntaktischen Zusammenhängen mit anderen, unter semantischem Aspekt aufschlußreichen Wörtern steht […].“ Im Sinne Reichmanns handelt es sich demnach nicht um beschreibungssprachliche Abstraktionen, sondern um Worteinheiten mit Belegstatus, die Aufschluss über typische Prädikationen und damit über konkrete Aspekte der Wortbedeutung geben (vgl. Reichmann 1989, 133).

Symptomwerte, Anm. zur Häufigkeit von Wörtern und zu Worteigenschaften, lexikographischer Kommentar, Verweise

10.

kontextcharakteristische Wörter und Syntagmen

Symptomwerte, Anm. zur Häufigkeit von Wörtern und zu Worteigenschaften, lexikographischer Kommentar

Kontextcharakteristische Wörter und Syntagmen sollen die paradigmatischen Relationen erhellen, in denen das betreffende Wort steht. Sie werden nicht durch unmittelbare (d. h. syntagmatische) Relationen gefordert, sondern sind in einem bestimmten Kontext assoziierbar.

Ktx. = kontextcharakteristische Wörter und Syntagmen

45

2.3 Diskurslexik und Diskurslexikographie

Erläuterung

Graphische Markierung bzw. Sigle

Variabel positionierbare Informationen

typische Wortbildungen

Je Bedeutungsposition werden zugehörige Wortbildungen aufgelistet.

Wbg.:

Symptomwerte, Anm. zur Häufigkeit von Wörtern und zu Worteigenschaften, lexikographischer Kommentar, Verweise

12.

Belege

eingeleitet Lexikogradurch ‚Belege phischer Kommentar, zu Wort1:‘ Verweise

13.

Belegstellen

Die Angabe von Belegen und Belegstellen soll die angesetzten Einzelbedeutungen als „lexikographisches Konstrukt“ für den Leser nachvollziehbar machen, z. B. durch enthaltene Bezugsgrößen wie bedeutungsverwandte Wörter, Syntagmen etc. Außerdem sollen die Belege und Belegstellen einen Eindruck von den diskurstypischen Verwendungsweisen der Wörter geben, etwa im Hinblick auf einzelne Sprachkundler. Da aus Raumgründen nur eine begrenzte Anzahl an Belegstellen zitiert werden kann, werden weitere Belege am Ende des Wortartikels genannt. Zusätzlich werden im Einzelfall interessante Belegstellen zu bedeutungsverwandten Ausdrücken ergänzt, etwa zu ‚Niederländisch‘ im Wortartikel ‚Niederdeutsch‘.

11.

eingeleitet durch ‚Weitere Belege zu Wort1:‘ bzw. durch ‚Vgl. auch:‘

Lexikographischer Kommentar

Variabel positionierbare Informationen: Formen des lexikographischen Kommentars Erläuterung Symptomwerte

Mitunter erfolgt die Kennzeichnung des Sprechers bzw. Schreibers im Hinblick auf Zeit, Raum, Sprechergruppe, Schicht, Kommunikationsdomäne.

Graphische Markierung

46

2. Theorie und Methode

Erläuterung

Graphische Markierung bzw. Sigle

Variabel positionierbare Informationen

Diskursiver Als eine Form des lexikographischen Kommen- Kommentars stellt der diskursive Kommentar Zusammenhänge dar tar zwischen Einzelwortsemantik und diskurstypischen Argumentationsmustern, diskurssemantischen Grundfiguren, Positionierungen von Diskursteilnehmern oder -gruppen innerhalb des Diskurses. Die Wortartikel als Bausteine eines Diskurswörterbuchs geben somit Auskunft über die Einbettung der Schlüsselwörter in das Gesamt des Diskurses. Semantischer Kommentar

Als wichtige Form des lexikographischen Kommentars gibt der semantische Kommentar Erläuterungen zur Verwendung eines Wortes, die Wortverwendung und Gliederung des Bedeutungsspektrums, im engeren Sinne Angaben zur semantischen Offenheit von Einzelbedeutungen zueinander.

MinimalDer Minimalkommentar als eine kommentar Form des lexikographischen Kommentars zeigt die Zuordnung eines Wortes zu weiteren Einzelbedeutungen eines Wortes bzw. zeigt die Zuordnung eines anderen Wortes in einem zitierten Beleg zur Einzelbedeutung eines anderen Wortes.

→ 5, gemeint ist: ebenfalls der Bedeutungsposition 5 zuzuordnen bzw. Hochdeutsch3/5 meint: Hochdeutsch in der Einzelbedeutung 3 und 5

Belegtextergänzung

Form des lexikographischen Kommentars: kann zur Erklärung von Einheiten herangezogen werden, die als erläuterungsbedürftig eingestuft werden, z. B. bei im Zitat vorkommenden Abkürzungen.

erfolgt in eckigen Klammern, an die Belegtextergänzung wird Anm. KF [für Anmerkung Katja Faulstich] angefügt

Verweise

Form des lexikographischen Kommentars: Hinweis auf andere Einzelbedeutungen desselben Wortartikels oder auf Einzelbedeutungen anderer Wörter.

→ 5, → Hochdeutsch3

2.4 Diskursive Argumentationsmuster

47

2.4 Diskursive Argumentationsmuster 2.4 Diskursive Argumentationsmuster

Die Argumentationstheorie ist neben der Stil- und Figurenlehre wesentlicher Bestandteil der Rhetorik. Der seit der Antike aus verschiedenen theoretischen Perspektiven jeweils unterschiedlich bestimmte Argumentationsbegriff kann im Rahmen dieser Arbeit nicht umfassend diskutiert werden. Unerlässlich bleibt jedoch eine Bestimmung dessen, was in der vorliegenden Analyse unter Argumentation verstanden wird. Als ein tragfähiges Modell der Argumentationsanalyse wird hier auf das von Toulmin 1958 vorgelegte zurückgegriffen, auf dem auch neuere Argumentationsmodelle basieren (vgl. Kienpointner 1983,1992).47 Bei der Entwicklung und Begründung seiner Argumentationstheorie gibt Toulmin zunächst folgendes bekanntes Beispiel: „Harry hat die britische Staatsangehörigkeit.“ (vgl. Toulmin 1974, 90ff.). Wird der Geltungsanspruch dieser Behauptung oder Konklusion (K) in Frage gestellt, wird derjenige, der diese geäußert hat, in der Regel Tatsachen anführen, die die Gültigkeit seiner Behauptung stützen sollen. Diese zur Erläuterung herangezogenen Fakten werden von Toulmin als Daten (D) bezeichnet (ebd., 89). In dem genannten Beispiel lauten sie: „Harry wurde auf den Bermudas geboren.“ Den Übergang von den Daten auf die Konklusion bezeichnet er als Schlussregel (SR). Im Gegensatz zu den Daten wird auf sie in der Regel nur implizit Bezug genommen. Die Schlussregeln sind eher allgemein gefasst und stellen die Korrektheit aller Argumentationen des betreffenden Typs fest. In dem Beispiel lautet die Schlussregel deshalb: „Wer auf den Bermudas geboren wurde, bekommt die britische Staatsangehörigkeit.“ Häufig treten jedoch, so Toulmin, weitere Problemstellungen auf. Er ergänzt deshalb sein Modell um drei weitere Komponenten, die er zwischen Schlussregel und Konklusion einfügt. Erstens zeigen modale Operatoren (O) die Stringenz der Konklusion an („vermutlich ist Harry britischer Staatsangehöriger“), zweitens können Ausnahmebedingungen (AB) die durch die Schlussregel gerechtfertigte Konklusion anfechten („wenn Harry nicht durch Einbürgerung Amerikaner wurde“). Neben der Frage, ob bzw. unter welchen Bedingungen eine Schlussregel im Einzelfall überhaupt anwendbar ist, kann drittens die Frage auftreten, warum die Schlussregel allgemein als zulässig akzeptiert werden sollte. Die Schlussregeln können durch allgemeine Grundsätze bestärkt werden, die in der deutschen Übersetzung als Stützung (S) bezeichnet werden. Während die Form einer Argumentation in allen gesellschaftlichen Bereichen eingesetzt 47

Im Folgenden wird auf die deutsche Übersetzung aus dem Jahre 1974 Bezug genommen.

48

2. Theorie und Methode

werden kann, ist die Stützung bereichsspezifisch. So kann die Schlussregel: „Ein Bewohner der Bermudas ist ein Brite.“ beispielsweise durch den Bezug auf gesetzliche Bestimmungen gestützt werden. Die Schlussregel: „Ein Saudi-Araber ist ein Moslem.“ kann hingegen nur durch den Bezug auf Statistiken untermauert werden, welche die Verteilung der Religionszugehörigkeit bestimmter Nationen belegen. Das Toulmin’sche Schema der Argumentation weist somit folgende konstitutiven Elemente auf (ebd., 95): D

Deshalb, O, K Wegen SR

Wenn nicht AB

Aufgrund von S Um das von Toulmin entwickelte idealtypische Modell auf die konkrete Text- und Diskursanalyse übertragen zu können, sind einige Modifizierungen unumgänglich bzw. der Praktikabilität der Analyse zuträglich. Diese sollen kurz erläutert werden: Das von Toulmin vorgelegte Schema ist stärker auf den Satz, als auf den Text bezogen und berücksichtigt keine diskursiven Zusammenhänge. Die vorliegende Analyse richtet sich weniger auf die logische Dimension von Argumentationen, als vielmehr auf die semantische, einzeltextübergreifende Dimension von Argumentationen. Das bedeutet, dass die hier vorgeschlagene Analyse diskurstypischer Argumentationsmuster zum einen die Argumente einzelner Texte eines Sprachkundlers in ein Argumentationsmuster zusammenführt, ohne – wie dies nach dem Schema Toulmins notwendig wäre – jeweils ein einzelnes Argumentationsmuster zu präsentieren. Dieses Zusammenführen der Einzelargumente dient vorrangig dazu, die in verschiedenen Texten und Textteilen vorgetragenen Argumente in einem Argumentationsmuster kognitiv greifbar zu haben. Damit wird insbesondere die Positionierung der Diskursteilnehmer im Sprachnormierungsdiskurs deutlich. Zum anderen bilden die Argumentationsmuster die von mehreren Sprachkundlern vorgebrachten Einzelargumente ab. Diese Zusammenfassung zeigt in besonders konzentrierter Form gruppenspezifische bzw. mentalitätsgeschichtlich relevante Argumentationsmuster auf.

2.4 Diskursive Argumentationsmuster

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In beiden oben geschilderten Fällen stellen die dargelegten Argumentationsmuster das Ergebnis eines textinterpretativen Verfahrens dar, das nur mit dem Verweis auf die zu Grunde liegenden Textstellen plausibel und nachvollziehbar gemacht werden kann. Im Gegensatz zu der von Wengeler (1992, 1997, 2003) vorgelegten Argumentationsanalyse sind die hier vorgelegten Argumentationsmuster stärker kontextspezifisch und berücksichtigen inhaltlich konkrete Argumente. Wengelers Analyse von Argumentationsmustern schlägt wie die dargelegte Analyse einen Mittelweg ein zwischen der Analyse kontextabstrakter Analyse formaler Strukturen von Argumentationen und der Analyse inhaltlich voll ausgefüllter Argumentationsmuster. Während Argumente und Konklusionen kontextspezifisch und daher prinzipiell in unendlicher Zahl vorhanden sind, ist die Anzahl der Schlussregeln bzw. Topoi begrenzt. Sie können in mehr oder weniger kontextabstrakter Form formuliert und daher in thematisch verschiedenen Argumentationen rekonstruiert werden (vgl. Wengeler 1997, 125, Kienpointner 1992, 43ff.). In der vorliegenden Arbeit ist aber eine Berücksichtigung inhaltlich konkreter Argumente sinnvoll, um Aufschluss über spezifische mentalitätsgeschichtliche Zusammenhänge zu erhalten. Beispielsweise unterscheiden sich die Argumentationsmuster von Vertretern des Vorbildanspruchs des Meißnisch-Obersächsischen von denen ihrer in der Regel süddeutschen Gegner gerade in Bezug auf die vorgebrachten Einzelargumente. Da die vorgeschlagene Analyse Einzelargumentationen verschiedener Diskursakteure in einem Modell abstrahierend zusammenführt bzw. die in verschiedenen Texten eines Sprachkundlers vorgebrachten Einzelargumente in einem Argumentationsmuster präsentiert, kommt eine Verbindung aus materialer und formaler Argumentationsanalyse zum Tragen, wie sie Kopperschmidt im Kontext seiner mikrostrukturellen Analyse beschreibt (vgl. Kopperschmidt 1989, 123-142, 178-205). Es handelt sich also um eine Untersuchung sowohl formaler als auch inhaltlicher Strukturelemente von Argumentationen. Kienpointner (1992) bezeichnet die Topoi als Argumentationsmuster, in der vorliegenden Untersuchung werden die beiden Bezeichnungen synonym gebraucht. Für den vorliegenden Diskurs sollen Typen von Topoi unterschieden werden. Aus forschungspraktischen Gründen erfolgt eine Beschränkung auf eine Auswahl von Argumentationsmustern. Darüber hinaus wird die Bezeichnung Argument bei Toulmin im Rahmen dieser Arbeit ersetzt durch Feststellung, für die Bezeichnung These wird

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2. Theorie und Methode

die Bezeichnung Folgerung verwendet.48 Die Grundstruktur der Argumentationsmuster lässt sich in Anlehnung an die referierte Forschungsliteratur wie folgt abbilden:

2.5 Diskurssemantische Grundfiguren 2.5 Diskurssemantische Grundfiguren

Neben der Analyse diskursdominierender Schlüsselwörter und der Analyse diskurstypischer Argumentationsmuster wird als dritte Untersuchungsgröße die von Busse eingeführte Kategorie der diskurssemantischen Grundfigur herangezogen (vgl. Busse 1997, 2000). Diskurssemantische Grundfiguren sind der Inhaltsebene von Texten zuzuordnen, allerdings nicht der Ebene der Textoberfläche, sondern der „Tiefenebene“ (Busse 1997, 29) der Textsemantik. Dieser ersten Begriffsbestimmung fügt Busse zwei entscheidende Präzisierungen hinzu (ebd., 28ff.): In Bezug auf die Textproduzenten sind die diskurssemantischen Grundfiguren keine intentional verwendeten Größen. Sie sind vielmehr als Ausdruck der Sprechermentalitäten im Sinne Hermanns (1995a) zu lesen, 48

Die im Modell von Toulmin außerdem vorgesehenen Elemente, wie beispielsweise die Ausnahmebedingungen, werden nur dann berücksichtigt, wenn sie in den Argumentationen eine Rolle spielen.

2.6 Diskursbereiche

51

die quasi in den Texten „mittransportiert“ werden. Da die diskurssemantischen Grundfiguren keine Phänomene der Textoberfläche darstellen, müssen sie rekonstruktiv erschlossen werden. Insofern ist das Ansetzen einer bestimmten diskurssemantischen Grundfigur das Ergebnis des interpretativen Vorgehens des Forschenden, der für die jeweilige Grundfigur einen beschreibungssprachlichen Ausdruck ansetzt, der in konzentrierter Form das Gemeinte wiedergeben soll. Wichtig zu betonen ist, dass diskurssemantische Grundfiguren nicht mit der Intention der Diskursteilnehmenden gleichzusetzen sind. Ihre Realisation auf der Textoberfläche ist hochgradig polymorph. Busse verweist auf semantische Merkmale, historische Isotopieketten, Stützungselemente einer textbasierenden Schlussregel, Präsuppositionen. Sie können ferner in Relation stehen zu Namen, angesprochenen Personen, Sachen, Sachverhalten und Gedankenkomplexen. Darüber hinaus können sie auch zur lexikalischen Oberflächenbedeutung von Wörtern, Begriffen und Texten gehören, in denen sie bemerkt oder unbemerkt wirksam werden (vgl. Busse 1997, 30). Die Funktion diskurssemantischer Grundfiguren ist im Wesentlichen die Strukturierung inhaltlicher Elemente des Textes und das Steuern ihres Auftretens im Diskurs (vgl. ebd., 29f.). Sie geben dem Diskurs damit eine spezifische Struktur, wobei diese als Grundstruktur diskursübergreifender epistemischer Zusammenhänge wirksam werden kann. Diskurssemantische Grundfiguren können in unterschiedlichen Diskursen präsent sein. Die in dieser Arbeit untersuchten diskurssemantischen Grundfiguren stellen in verdichteter Weise diskurstypische Bewertungsmuster sprachlicher und nicht-sprachlicher Bezugsgrößen dar. Sie werden mit beschreibungssprachlichen Ausdrücken belegt, die das Ergebnis der diskurssemantischen Analyse darstellen. Die diskurssemantischen Grundfiguren zeigen an, welche Zusammenhänge die Sprecher in Bezug auf die verhandelten Bezugsgrößen konstruieren bzw. welche Bewertungen und damit Zuschreibungen sie vornehmen. Sie stehen in Relation zu den Schlüsselwörtern und Argumentationsmustern.

2.6 Diskursbereiche 2.6 Diskursbereiche

Die unterschiedlichen Hochdeutsch-Konzeptionen der Sprachkundler werden in der Regel durch verschiedene Argumentationsmuster legitimiert, in deren Kontext verschiedene Schlüsselwörter (Bezeichnungskonkurrenz) oder spezifische Bedeutungspositionen einzelner Ausdrücke wie Hochdeutsch eine Rolle spielen (Bedeutungskonkurrenz). In der Regel

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2. Theorie und Methode

wird nicht ein einzelnes Sprachvorbild zur Legitimation der Leitvarietät herangezogen, sondern es werden verschiedene Vorbilder miteinander kombiniert. So wird beispielsweise von Johann Christoph Adelung das Obersächsische zum Leitbild erhoben. Gleichzeitig grenzt er seine regional bestimmte Leitvarietät gruppenspezifisch auf die oberen Schichten und Bildungseliten ein. Der Diskurs lässt sich anhand der diskursiven Argumentationsmuster, der als zentral erachteten Schlüsselwörter und der spezifischen diskurssemantischen Grundfiguren in thematische Subeinheiten gliedern, die als Diskursbereiche bezeichnet werden. Diese idealtypische Klassifizierung besitzt vorrangig heuristischen Wert. Sie soll die thematische Gliederung des Diskurses und seine spezifische Formation analytisch zugänglich machen.49 Mit der Konzentration der Untersuchung auf thematisch bestimmbare Teilbereiche des Sprachnormierungsdiskurses wird die Bestimmung des Diskurses als „Zoom-Begriff“ (Hermanns 1995a, 89) praktisch umgesetzt.50 Die Analyse der jeweiligen sprachreflexiven Texte zielt vorrangig auf die genannten Fragestellungen und kann aus forschungspraktischen Gründen nicht alle möglicherweise interessanten Fragen aufgreifen.51 Untersucht werden: a. Der sprachgeographische Diskursbereich Unter den sprachgeographischen Diskursbereich werden Schlüsselwörter, Argumentationsmuster und diskurssemantische Grundfiguren subsumiert, 49

50

51

Aufschluss über typische Legitimationskriterien von Sprachnormen gibt Gloy (1998, 397399). Auf einen weiteren thematischen Teilbereich des Sprachnormierungsdiskurses, der aus Raumgründen unberücksichtigt bleiben muss, sei an dieser Stelle kurz hingewiesen: der sprachpädagogische Diskursbereich. Hierunter sind beispielsweise solche Argumentationsmuster zu subsumieren, die eine konsequente Anwendung des Hochdeutschen in der privaten Kommunikation fordern: „Gewöhnte man sich nun dabei, in dem Umgange mit gelehrten, und solchen Leuten welche sich gewöhnlich der Hochdeutschen Mundart bedienen, allezeit rein Hochdeutsch, ohne Vermischung der Provinzialeigenheiten zu reden, so könnte dadurch die gute Mundart, auch in dem gemeinen Umgange allgemeiner gemacht werden.“ (Stosch KB/3 1782, 197) Vgl. Hermanns (1995a, 89): „Filmtechnisch-metaphorisch ausgedrückt ist der Begriff Diskurs ein Zoom: geeignet größte wie auch kleinste Mengen, Obermengen oder Untermengen von thematisch-dialogisch-intertextuell verknüpften Texten zu bezeichnen.“ In diesem Sinne ist der Fokus jeweils nur auf die interessierenden Teilausschnitte der Sprachreflexion im 18. Jahrhundert gerichtet, d. h. die jeweiligen Hochdeutsch-Konzeptionen. Beispielsweise ist für die Frage der Konzeption einer Leitvarietät bei Johann Christoph Gottsched nicht entscheidend, welches poetologische Programm er im Einzelnen verfolgt. Berücksichtigt werden allerdings Abgrenzungsbemühungen wie etwa die gegenüber den Sprachkundlern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, da sie explizit auch das Hochdeutsche als Leitvarietät betreffen.

2.6 Diskursbereiche

53

die im Kontext regionaler Sprachvorbilder relevant sind. Im Sprachnormierungsdiskurs wird die Identifizierung des Hochdeutschen mit dem Obersächsischen bzw. Meißnischen besonders deutlich von Johann Christoph Gottsched und Johann Christoph Adelung vertreten, wobei diese mit der behaupteten wirtschaftlichen wie kulturellen Blüte im Gefolge der Reformation begründet wird (vgl. Adelung 1MDS/I 1782, 18ff.).52 Widerspruch gegen diese Festlegung des Hochdeutschen wird vor allem von Sprachkundlern aus Süddeutschland erhoben, wie etwa dem oberpfälzischen Sprachkundler Carl Friedrich Aichinger (VTS 1754).53 Wie die Darstellung zeigen wird, bleibt aber auch in Norddeutschland die fortschreitende Ausbreitung des Hochdeutschen nicht unumstritten (vgl. Raupach LSI 1704). Außerdem äußerten sich die Schweizer Sprachforscher Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger sehr kritisch über Gottscheds einseitige Privilegierung des Meißnisch-Obersächsischen. Aller Kritik zum Trotz wird Gottscheds „Grundlegung einer deutschen Sprachkunst“ (Gottsched GS 1748) die normsetzende Grammatik und Grundlage der Vereinheitlichung der Schriftsprache (vgl. Jakob 1999, Roessler 1997). b. Der sprachsoziologische Diskursbereich Der sprachsoziologische Diskursbereich umfasst solche Argumentationsmuster, Schlüsselwörter und diskurssemantische Grundfiguren, die eine soziale Sprechergruppe zum Gegenstand haben. Konsensual wird die Sprache der Bildungseliten bzw. allgemein der oberen Schichten als ‚Prestigesoziolekt‘ konzipiert.54 Indem der vorbildliche Sprachgebrauch mit dem Usus des sich formierenden Bürgertums identifiziert wird, erhält die Sprache eine wichtige sozial distinktive Funktion: Sie dient fortan zur Abgrenzung „nach oben“ zum Französisch sprechenden Adel und „nach unten“ zu den niederen sozialen Schichten. Die Sprache der unteren Schichten wird als „Pöbelsprache“ geradezu zum Antityp des regelhaften 52

53 54

Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts kann zwar von einer überaus positiven wirtschaftlichen wie kulturellen Entwicklung in dem Gebiet um Leipzig und Dresden gesprochen werden, die mit einem hohen Selbstbewusstsein der Bewohner der Region einher geht (vgl. von Polenz 1986, 195f.). Bereits vor dem Ende des Siebenjährigen Krieges zeichnet sich aber bereits eine Verschiebung des kulturellen Zentrums in den Raum Berlin/Preußen ab. Das meißnisch-obersächsische Sprachvorbild wird darüber hinaus durch das Vorbild der schriftnahen Aussprache des Niederdeutschen abgelöst. Vgl. zum „Kampf um das Hochdeutsche“ zwischen Gottsched und Aichinger den Aufsatz von Eichinger (1983). Vgl. zu den Termini ‚Stigmasoziolekt‘ und ‚Prestigesoziolekt‘ Steinig (1980, 106). Vgl. auch Strasser (1987). Die Stigmatisierung von schichtspezifischen Sprechergruppen ist Gegenstand von Kapitel 4.

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2. Theorie und Methode

und vorbildlichen Hochdeutschen, v.a. aufgrund der behaupteten Dialektnähe sowie des Gebrauchs von Archaismen und Grobianismen. Sie stellt im Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts ein ‚Stigmasoziolekt‘ dar. Die Beherrschung des normierten und regelhaften Hochdeutschen wird zur notwendigen Voraussetzung des gesellschaftlichen Aufstiegs.55 c. Der sprachideologische Diskursbereich In der im Jahre 1730 veröffentlichten Schrift des protestantischen Philologen Georg Litzel mit dem Titel „Der Undeutsche Catholik […]“ heißt es: Unsre Sprache ist eine Stammsprache und Mutter der lateinischen und andrer jungen Sprachen. Unsre Buchstaben sind eigen, und mit der Sprache selbsten hervorkommen. […] Zwar wissen die Ausländer nicht genug abentheurliche Worte auf zu treiben, womit sie unsre Sprache abscheulich zu machen gedenken. Sie halten davor, es sey keine ungestaltere und gröbere Zunge in Europa, als die deutsche. Sie urtheilen aber hierinnen, wie ein Blinder von der Farbe. Gemeiniglich sind es diejenigen, welche nicht einmal einen deutschen Buchstaben kennen, vielweniger die ganze Sprache aus dem Grunde verstehen. Es ist gewiß; daß unsre Sprache in ihrem Wesen gut ist, und unverbesserlich; aber es ist auch nicht zu leugnen, daß sie noch viele zufällige Gebrechen an sich hat, die doch mit leichter Mühe können geändert werden. (Litzel UC 1730, 91f.)

Litzel behauptet überaus selbstbewusst eine Grundrichtigkeit und ein besonderes Prestige des Deutschen. Zur Begründung führt er das hohe Alter der deutschen Sprache an. Der protestantische Verfasser räumt zwar ein, dass das Deutsche einige Mängel aufweist, dies trifft aber seiner Meinung nach vorrangig auf das in den katholischen Gebieten gesprochene und geschriebene Deutsch zu. Das Zitat soll zwei konstitutive Elemente des Sprachnormierungsdiskurses illustrieren: Erstens ist die Reflexion über die Leitvarietät untrennbar mit dem Prozess der Konstituierung einer nationalen Identität verbunden, wobei als Bezeichnungen für die Kommunikationsgemeinschaft vor allem die Ausdrücke ‚Deutsche‘, ‚Nation‘ und ‚Volk‘ verwendet werden. Zweitens wird als das zentrale Merkmal der nationalen Identität die Sprache herangezogen. Dass die Sprache ein wichtiges Mittel zur Konstituierung einer nationalen Identität darstellt, ist Konsens der neueren sprachwissenschaftlichen Forschungsliteratur (vgl. die Beiträge in Gardt 2000b). Die Sprache drängt sich als Bestimmungsmerkmal einer ‚Nation‘ 55

Die von den Sprachkundlern geforderte Kenntnis und Praxis der Leitvarietät in mündlicher wie schriftlicher Kommunikation kann im Sinne Foucaults als soziale Disziplinierung verstanden werden, da sie sowohl einen Bewertungsmaßstab für den Sprachgebrauch des Einzelnen liefert als auch entsprechende Sanktionen und Belohnungen legitimiert (vgl. Foucault 1976).

2.6 Diskursbereiche

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bzw. eines ‚Volkes‘ geradezu auf, da sie ein vermeintlich objektives und leicht überprüfbares Merkmal gesellschaftlicher Zugehörigkeit darstellt. Als sprachideologisch werden alle Argumentationen bezeichnet, die die Eigenschaften des Deutschen bzw. des Hochdeutschen als abstraktes sprachliches Gesamtsystem mit den Eigenschaften der Kommunikationsgemeinschaft oder einer Gruppe in Beziehung setzen.56 Unter Ideologie wird im Rahmen der Untersuchung ein Bündel von Ideen bzw. Konzepten verstanden, das die Wirklichkeitswahrnehmung und die Verhaltensmuster einer Gruppe bzw. einer Person strukturiert. Der Ideologiebegriff ist somit abzuheben von seiner umgangssprachlichen pejorativen Verwendung. Unter den sprachideologischen Diskursbereich fallen somit entsprechend solche semantischen Elemente bzw. Argumentationsmuster, die die Sprechergemeinschaft mit der Sprache in Bezug setzen. Insbesondere soll der Beitrag der Sprachkundler zur Konstruktion einer nationalen Identität untersucht werden. d. Der stilistische Diskursbereich Das Hochdeutsche wird von vielen Sprachkundlern mit der ‚Schriftsprache‘ bzw. der ‚Büchersprache‘ identifiziert. Johann Christian Christoph Rüdiger schreibt beispielsweise: Hingegen nach dem allgemeinern Sprachgebrauche verstehet man unter dem Hochteutschen die verfeinerte und ausgebildete Büchersprache, wie sie seit der neuesten Aufklärung, besonders nach der Erfindung der Buchdruckerey und der Reformation überall durch ganz Teutschland in Schriften und öffentlichen Geschäften, im Gottesdienst und mündlich im Umgange der Gelehrten und Vornehmern gebraucht wurde. (Rüdiger VHS 1783, 3)

Aus den einzelnen Belegen lässt sich allerdings in der Regel nicht erschließen, ob die Schriftsprache im Sinne vorbildlicher Texte gemeint ist (z. B. in Form wissenschaftlicher Fachprosa) oder die Literatursprache im engeren Sinne.57 Welche Texte jeweils als Vorbild benannt werden, hängt 56

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Nach Gardt (1999a) lassen sich zwei Typen sprachideologischer Argumentationen unterscheiden, sprachpatriotische und sprachnationalistische. Beiden gemeinsam ist das emphatische Lob der eigenen Sprache und eine damit verbundene Vergegenständlichung von Sprache sowie die dargelegte Identifizierung einer Sprachnatur mit einem Volks- oder Nationalcharakter. Sprachnationalistische Argumentationen postulieren darüber hinaus eine Überlegenheit der eigenen Sprache und behaupten oftmals die Gefährdung der Identität der eigenen Sprach-, Volks- und Kulturgemeinschaft durch fremde Sprachen, Völker, Rassen, Nationen und Kulturen. Damit einher geht die Abwertung des sprachlich (und zugleich kulturell, ethnisch, anthropologisch und politisch) Fremden. Eine derartige Trennung erfolgt erst mit der Entstehung des literarischen Marktes und der Durchsetzung eines neuen Autorbildes (Genieästhetik).

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2. Theorie und Methode

besonders von der regionalen Zugehörigkeit des jeweiligen Sprachkundlers ab. Süddeutsche Sprachkundler, die das meißnisch-obersächsische Sprachvorbild ablehnen, verweisen häufig auf die Kanzleisprache (vgl. zum Beispiel Dornblüth Obs 1755, 354ff.), während die Vertreter der Vorbildlichkeit des ostmitteldeutschen Sprachraums vor allem auf die Schriften Luthers, wissenschaftliche Texte und vorbildliche literarische Werke dieser Region verweisen. Für die Analyse des stilistischen Diskursbereichs werden folgende diskursdominierende Schlüsselwörter herangezogen: ‚deutlich‘, ‚verständlich‘, ‚klar‘, ‚natürlich‘, ‚rein‘ und ‚richtig‘, allerdings kann aus Raumgründen nur das Schlüsselwort ,verständlich‘ in einem Wortartikel dargestellt werden. Insgesamt werden folgende Diskursbereiche mit den jeweils zugehörigen Schlüsselwörtern untersucht:

3. Der sprachgeographische Diskursbereich

3. Der sprachgeographische Diskursbereich 3.1 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen

3.1 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen

In Bezug auf die Bestimmung des Hochdeutschen als Sprachform einer bestimmten Landschaft lässt sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Konfrontation zwischen den protestantischen Sprachkundlern Nordund Mitteldeutschlands und den katholischen, süddeutschen Sprachkundlern beobachten. Während die Sprachkundler des protestantischen Raums vorrangig das Meißnisch-Obersächsische als sprachgeographisch determinierte Leitvarietät propagieren, wird von den katholischen Gebildeten die Auffassung einer überregional gültigen Schriftsprache vertreten, wie sie schon Justus Georg Schottelius im 17. Jahrhundert behauptet hat. Die Konstituierung eines Sprachbewusstseins von Teilen der oberdeutschen Bildungselite, die im „Parnassus Boicus“ deutlich wird, zeigt, dass diese nicht ohne weiteres gewillt ist, den Gegnern in Nord- und Mitteldeutschland einen Führungsanspruch im Sprachnormierungsdiskurs zuzugestehen. Das oberdeutsche „katholische“ Sprachvorbild Süddeutschlands und Österreichs wird maßgeblich durch das Vorbild der Kanzleisprache Maximilians I. (1493-1519) repräsentiert. Diese konfessionell bedingte Konfliktlinie, die vor allem in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch für spitze Polemik auf beiden Seiten sorgt und im Zuge der Aufklärung allmählich verschwindet, wird von einer zweiten sprachgeographisch bedingten Konfliktlinie überlagert. So sind auch die protestantischen Sprachkundler Norddeutschlands keinesfalls kompromisslos bereit, das Niederdeutsche durch das Hochdeutsche meißnisch-obersächsischer Prägung zu ersetzen. Ihr regionalpatriotisches Beharren auf der Ebenbürtigkeit des Niederdeutschen mit dem Hochdeutschen, das als Sprache der Seelsorge und der Alltagskommunikation erhalten werden soll, wird in der nachfolgenden Darstellung ebenso zu berücksichtigen sein wie die konfessionellen Gegensätze des oberdeutschen und ostmitteldeutschen Sprachraums. Ebenso wie im Falle Süddeutschlands und Bayerns, ist die Sprachnormierung in der reformierten Schweiz und in der katholischen österrei-

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

chischen Monarchie in einem besonderen kulturgeschichtlichen Horizont zu verorten. Während die beiden Züricher Sprachforscher Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger mit ihrer Auflehnung gegen das Konzept einer Leitvarietät von Johann Christoph Gottsched in der Folgezeit eine schweizerische nationale Identität mitkonstituiert haben, die wesentlich auf der identitätsstiftenden Funktion der Sprache beruht, steht die Sprachnormierung und -kultivierung in Österreich in einem anderen Spannungsfeld. Der Prozess der Vereinheitlichung des Hochdeutschen stößt in Österreich wegen der Einseitigkeit, mit der Gottsched und seine Anhänger den Alleinanspruch auf die Sprachnormierung behaupten, zum Teil auf heftigen Widerspruch. Der aus dem slowenischen Raum stammende Johann Siegmund Valentin Popowitsch (1705-1774), der als erster Professor für deutsche Sprache an die Universität Wien berufen wird, sowie der vielseitig publizistisch tätige Nationalökonom Joseph von Sonnenfels (1733-1817), stellen dem meißnisch-obersächsischen Sprachvorbild eine Betonung der eigenen regionalen Varietäten entgegen. Die regionalen Varietäten werden als identitätsstiftendes Merkmal gegenüber dem meißnisch-obersächsischen Normierungsanspruch verteidigt. Ein deutliches Anzeichen für dieses sprachliche Bewusstsein sind die zahlreichen Idiotiken, die seit 1750 entstehen und die eine Dokumentation des regionalen Wortschatzes anstreben. Um dem in diesem Kapitel im Vordergrund stehenden sprachgeographischen Sprachvorbild Rechnung zu tragen, wird die Diskussion über das Hochdeutsche bzw. die Leitvarietät in unterschiedlichen Sprachlandschaften berücksichtigt sowie vorrangig die Frage verfolgt, welche regionalen Varietäten zum Vorbild ernannt werden. Die Darstellung gliedert sich in drei Zeitabschnitte. Diese Gliederung lässt sich durch den Gegenstand selbst begründen: Die drei Abschnitte spiegeln drei zentrale Phasen des Sprachnormierungsdiskurses: 1. Vertikalisierung des Hochdeutschen von 1700 bis 1748 im Kontext konfessioneller Konfliktlinien In dieser ersten Phase fällt die Bestimmung des Hochdeutschen in Bezug auf die verschiedenen Sprachareale und die jeweiligen Sprachkundler sehr unterschiedlich aus und ist stark der barocken Tradition verpflichtet. Zweitens ist für diese Zeit eine konfessionelle Konfliktlinie kennzeichnend, so stigmatisieren die protestantischen Sprachkundler des obersächsischen Raums das Oberdeutsche und erheben ihre eigene regionale Varietät zum Sprachvorbild, während die mehrheitlich katholischen Sprachkundler das Obersächsische als ‚protestantische‘ Varietät ablehnen und die oberdeutsche Kanzleisprache als Leitvarietät favorisieren. Kon-

3.1 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen

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sensual wird das Hochdeutsche bestimmt als die Sprache der Bildungseliten und als überregional verbreitete, bestimmten stilistischen Kriterien genügende Schriftsprache. Der Einschnitt um 1748 lässt sich im Hinblick auf die Grammatikographie legitimieren: 1748 erscheint Gottscheds „Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst“ (GS 1748), die im Hinblick auf das sprachnormierende Potenzial sowie die umfangreiche Rezeption und Verbreitung als Unterrichtswerk im gesamten deutschsprachigen Raum einen Wendepunkt darstellt. Der Sprachnormierungsdiskurs ist im frühen 18. Jahrhundert aufgrund der Quellenlage schwieriger zu erschließen als die Diskussion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, da das umfassende Publikationsnetz der Spätaufklärung sich erst allmählich konstituiert. Entscheidend ist deshalb der Blick in die Verlautbarungen bedeutsamer zeitgenössischer sprachreflexiver Zeitschriften, im oberdeutschen Sprachraum etwa die Münchner Frühaufklärungszeitschrift „Parnassus Boicus“ sowie die im Umfeld Gottscheds und der Leipziger „Deutschen Gesellschaft“ herausgegebenen „Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit“ (BCH 1732ff.). Außerdem werden alle für drei Zeitabschnitte bedeutende Grammatiken und Orthographielehren, Rhetoriken und schulpädagogische Schriften herangezogen.58 Die jeweiligen Sprachkundler verwenden zwar nicht immer explizit die Bezeichnung Hochdeutsch, begründen aber in den jeweiligen Vorreden oftmals ihre Auffassung von einer vorbildlichen deutschen Sprache bzw. explizieren ihr Konzept einer Leitvarietät in Bezug auf die grammatikalischen, orthographischen und lexikalischen Fragestellungen. 2. Das Primat des Sprachvorbilds des Meißnisch-Obersächsischen und alternative Konzeptionen zwischen 1748 bis 1781 Der zweite diachrone Schnitt trägt zum einen der Wirkung der Gottsched’schen „Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst“ (GS 1748) Rechnung, die von der Mitte des 18. Jahrhunderts an bis 1780 die norm-

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Aus forschungspraktischen Gründen muss zwangsweise eine Beschränkung auf besonders zentrale Schriften erfolgen. In der Regel handelt es sich um Werke, die im Diskurs häufig zitiert werden und mit denen die Diskursteilnehmer vertraut sein müssen, um überhaupt am Diskurs zu partizipieren. Um eine Einseitigkeit der Positionen zu vermeiden, werden auch Grammatiken, Wörterbücher, Stillehren usw. betrachtet, die an der ,Diskursperipherie‘ anzusiedeln sind, d. h. Alternativkonzeptionen darstellen.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

setzende Grammatik darstellt.59 Zum anderen wird das Jahr 1781 als Einschnitt markiert, insofern mit der „Deutsche[n] Sprachlehre“ Johann Christoph Adelungs eine weitgehende Einheitlichkeit der deutschen Schriftsprache erreicht ist (vgl. Adelung ÜGDS 1781). Die Auseinandersetzung um das Hochdeutsche obersächsischer Prägung und ihre Infragestellung wird exemplarisch anhand einiger sprachreflexiver Schriften der Opponenten und Befürworter Gottscheds in Süddeutschland, Bayern, Österreich und der Schweiz aufgezeigt. Die Entwicklung in den verschiedenen Spracharealen kann nur exemplarisch anhand ausgewählter Schriften erfolgen und soll sowohl grammatikographische wie auch lexikographische Problemstellungen aufgreifen. 3. Dogmatisierung des Meißnisch-Obersächsischen als Leitvarietät sowie Gegenkonzeptionen Ende des 18. Jahrhunderts Die Ablösung des meißnisch-obersächsischen Sprachvorbilds beginnt bereits im 17. Jahrhundert und wird durch die Hegemonie Preußens nach dem Siebenjährigen Krieg maßgeblich verstärkt. Schon den Zeitgenossen ist die deutliche Verlagerung des kulturellen Zentrums von Leipzig/Dresden nach Berlin bewusst.60 Johann Christoph Adelungs Abhandlung „Was ist Hochdeutsch?“, die 1782 im „Magazin für die Deutsche Sprache“ erscheint, löst gerade durch ihren einseitigen sprachgeographischen Standpunkt und den rigoros in Anspruch genommenen Normierungsanspruch eine Fülle von ablehnenden Stellungnahmen aus (vgl. Adelung 1MDS/I 1782). Die von ihm in zahlreichen Schriften wiederholt aufgegriffene Bestimmung des Hochdeutschen als Sprache der Oberschichten und Bildungseliten in Obersachsen provoziert eine nahezu beispiellose publizistische Fehde. Die in der Diskussion deutlich werdende endgültige Ablösung der bis Ende des 18. Jahrhunderts dominierenden sprachgeographischen Gleichsetzung des Hochdeutschen mit dem Meißnisch-Obersächsischen und die damit ver59

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Karlheinz Jakob (1999) hat auf der Grundlage verschiedener Auflagen von Nachschlagewerken aus der Zeit von 1721-1780 überprüft, inwiefern Gottscheds „Grundlegung einer deutschen Sprachkunst“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts präskriptiv wirkt und die Vereinheitlichung der Schriftsprache auch in wissenschaftsferneren Gebrauchstexten vorantreibt. Seine vergleichenden Analysen zu exemplarischen Phänomenen aus Orthographie, Flexion und Syntax zeigen, dass die Sprachnormierungen Gottscheds sich innerhalb kurzer Zeit (ca. 1765-1780) einheitlich und endgültig durchsetzen. Auf diese kulturelle Schwerpunktverlagerung ist in der einschlägigen Literatur wiederholt hingewiesen worden (vgl. Nerius 1967, 63ff., Eichler/Bergmann 1967, 33ff., Henne 1968). Ergänzend hinzuzufügen ist die Genese eines neuen Autorbildes, d. h. des genialen Schöpfersubjekts. Mit diesem neuen Autorkonzept einher geht eine vehemente Ablehnung des von Adelung vertretenen Alleinanspruchs der meißnisch-obersächsischen Sprachkundler in allen Sprachfragen.

3.1 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen

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bundene Pluralisierung der Hochdeutsch-Konzeptionen wird ebenfalls in unterschiedlichen Spracharealen aufgegriffen.61 Die Analyse der Korpustexte zeigt, dass die Sprachkundler bei der Bestimmung der regionalen Prestigevarietät bestimmte Zuschreibungen vollziehen, wie etwa, dass die Lautung der betreffenden Varietät qualitativ besonders hochwertig, der Wortschatz besonders ausgebaut oder die Varietät polyfunktional sei, d. h. in verschiedenen Kommunikationsdomänen Verwendung finde. Diese Befunde sprachlicher Phänomene sind offen für ideologische Wertungen, etwa dass die ‚Reinheit‘ einer bestimmten Varietät die ,Reinheit‘ der Sprecher und Sprecherinnen als moralisch-sittliche Größe ausdrücke. Zweitens zeichnen sich die Argumentationen dadurch aus, dass sie häufig auf einer Abgrenzung von verschiedenen Varietäten beruhen. Damit ist gemeint, dass eine Leitvarietät relational zu einer oder mehreren anderen Varietäten definiert wird. Dies ist dadurch zu erklären, dass die Frage der Leitvarietät ein Ergebnis vielfältiger Sprachkontakte ist, die zum Teil als überaus konfliktreich gewertet werden, so etwa die Verdrängung des Niederdeutschen in Norddeutschland. Der LeitvarietätTopos soll vorab anhand des Schemas von Toulmin (1974) präzisiert werden, wobei die einzelnen Positionen semantisch „leer“ bleiben und erst in einem zweiten Schritt durch die Feststellungen und Folgerungen der Diskursakteure inhaltlich konkretisiert werden. Die schematische Darstellung lässt vor allem einen direkten Vergleich der jeweiligen Argumentationen zu. Der Leitvarietät-Topos lässt sich im Hinblick auf das zu Grunde liegende Argumentationsmuster wie folgt darstellen:

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Zur Bestimmung des Hochdeutschen durch Adelung vgl. die Ausführungen in der Vorrede zu seinem „Grammatisch-Kritische[n] Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart“ (vgl. Adelung GKW/1 1774, VIIIff.), in seinen „Grundsätze[n] für die deutsche Orthographie“ (vgl. Adelung GDO 1782, 73f.), in seinem „Umständliche[n] Lehrgebäude“ (vgl. Adelung UL/1 1782, 106ff.), in seiner Stillehre (vgl. Adelung ÜDS/1 1785, 50f.) sowie in seiner „Sprachlehre für die Schulen“ (vgl. Adelung ADSS 1800, ELMff., Adelung DSS 1806, VIIIf.).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Um einen schnellen Zugriff auf die Semantik der sprachgeographischen Schlüsselwörter Hochdeutsch, Meißnisch-Obersächsisch, Niederdeutsch und Oberdeutsch zu erhalten, werden sie am Ende des Kapitels in Wortartikeln dargestellt (siehe Kapitel 3.5). Die Wortartikel erfassen die Bedeutungsdimensionen der Schlüsselwörter und zeigen ihre onomasiologische Vernetzung auf. In dem vorliegenden Kapitel geben Verweise jeweils an, welche Bedeutungsdimension des jeweiligen Schlüsselworts gemeint ist. Wird beispielsweise die Konzeption der Leitvarietät Adelungs erörtert, der unter Hochdeutsch die Sprache der oberen Schichten und Bildungseliten Obersachsens versteht, finden sich im Kontext der Erläuterungen die Verweise: → Hochdeutsch1/3, Obersächsisch2/3. Mit diesem Hinweis kann die jeweilige Bedeutungsexplikation des Wortartikels aufgesucht und die Verwendung des Schlüsselworts im Sprachnormierungsdiskurs ermittelt werden. Der nachstehende Exkurs soll die Auseinandersetzung über das Hochdeutsche im 17. Jahrhundert skizzieren, da sie von den Sprachkundlern des 18. Jahrhunderts rezipiert und aufgegriffen wird. Vor diesem Hintergrund werden die drei genannten Zeitabschnitte analysiert.

3.2 Exkurs: Die Diskussion um das Hochdeutsche im 17. Jahrhundert

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3.2 Exkurs: Die Diskussion um das Hochdeutsche im 17. Jahrhundert 3.2 Exkurs: Die Diskussion um das Hochdeutsche im 17. Jahrhundert

Die Normierung und Kodifizierung der Grammatik und der Orthographie als einer ihrer Kernbereiche sowie die Normierung und praktische Anleitung der mündlichen Kommunikation stellen neben der Lexikographie wichtige Ziele der kulturpatriotisch, bildungspolitisch und sprachpädagogisch motivierten Sprachkultivierung des 18. Jahrhunderts dar.62 Grundlage jeder sprachlichen Normierung, sei es im Bereich der Grammatik, Orthographie, Rhetorik oder im Hinblick auf den (zum Teil in den Grammatiken mitbehandelten) Wortschatz ist eine Verständigung über die angestrebte Leitvarietät. Im 17. Jahrhundert findet eine erste große Auseinandersetzung über das Hochdeutsche zwischen den Sprachkundlern der barocken Sprachgesellschaften statt (vgl. Gardt 1998), die bereits zentrale Bausteine der Argumentationsmuster des Sprachnormierungsdiskurses des 18. Jahrhunderts vorwegnimmt und deshalb kurz skizziert werden soll. In der Diskussion lassen sich zwei gegensätzliche Argumentationsmuster differenzieren, zum einen eine anomalistische Position, wie sie von dem Grammatiker Christian Gueintz (1592-1650), Fürst Ludwig von AnhaltKöthen (1579-1650) und Philipp von Zesen (1619-1689) vertreten wird, und zum anderen die von Justus Georg Schottelius (1612-1676) und Georg Philipp Harsdörffer (1607-1658) vertretene analogistische Position (vgl. Gardt 1999b, 128-135 sowie Gardt 2000). Von Zesen und Gueintz verstehen unter Hochdeutsch den aktuellen Sprachgebrauch der gebildeten Stände in Meißen (vgl. von Zesen Ros 1651, 226ff.).63 Ihre so genannte anomalistische Position ist am Sprachgebrauch orientiert. Das Hochdeutsche ist schichtspezifisch an eine bestimmte Sprechergruppe und sprachgeographisch an eine vorbildliche Sprachlandschaft gebunden sowie schriftsprachlich repräsentiert durch die „besten Autoren“. Sie orientieren sich bei der Beurteilung von Varianten einer Form (beispielsweise von lexikalischen Varianten wie ‚Metzger‘ oder ‚Fleischer‘) am MeißnischObersächsischen sowie am Gebrauch vorbildlicher Autoritäten (‚usus auctoritas‘). Aufgrund der Präferenz des meißnisch-obersächsischen Sprachgebrauchs führt ihre Normierungspraxis zur Durchsetzung einer regional verankerten Leitvarietät. Die Vertreter dieser Leitvarietät legiti62 63

Vgl. zur Geschichte der frühen deutschen Grammatiker Jellinek (1913/1914), Ising (1959), Josten (1976), Huber (1984), Gardt (1994, 1999b). Vgl. zur „Spracharbeit“ des 17. Jahrhunderts, besonders bei Gueintz, die Untersuchung von Hundt (2000).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

mieren damit ihren eigenen schichtspezifisch und regional gefärbten Sprachgebrauch (→ Hochdeutsch1/2/3, Meißnisch-Obersächsisch2/3). Ganz anders konzipiert Justus Georg Schottelius in seinem Hauptwerk, der „Ausführliche[n] Arbeit Von der Teutschen Haubtsprache“ (Schottelius AA 1663), seine Leitvorstellung des Hochdeutschen, der „Lingua ipsa Germanica“ (ebd., 174).64 Entgegen der anomalistischen Position orientiert sich Schottelius bei der Bildung von Wörtern vorrangig am Analogieprinzip.65 Analogie meint die Orientierung an einer inneren Systematizität der Sprache, die über die regelhafte Bildung von Wörtern entscheidet.66 Bei der Beurteilung von Wortbildungen beispielsweise erfolgt eine Orientierung an der Mehrheit schon vorhandener Formen, so ist z. B. ‚Hauseingang‘ eine analoge Wortbildung zu ‚Haustür‘ und ‚Hausflur‘. Diese innere Systematizität der Sprache bezeichnet Schottelius als Grundrichtigkeit (ebd., 144). Die Behauptung und Hervorhebung der Regelhaftigkeit und inneren Stimmigkeit des Deutschen, die von Sprachkundlern anderer Länder lange bestritten wurde, wertet von Polenz insgesamt als bedeutsamer als die in dem Werk Schottelius’ angelegte Deskription des Sprachgebrauchs. Das Prinzip der Analogie wird beispielsweise von Leibniz, Harsdörffer und Bödiker vertreten (vgl. von Polenz 1994, 154f.). Allerdings findet sich bei Schottelius auch eine Orientierung am Sprachgebrauch. Das Kriterium des Sprachgebrauchs wird insgesamt sehr kritisch beurteilt. Er verweist auf den Sprachgebrauch höherer und gebildeter Kreise (Gebildete, Fürsten, Adel → Hochdeutsch1, Gelehrte1/2, Hof1/2). In Abgrenzung zum Niederdeutschen schreibt Schottelius: Aber weil die hochteutsche Mundart communis Germaniæ Mercurius ist / auch numehr eine durchgehende Kunstrichtigkeit darin hervor bricht / und im ganzen Teutschem Reiche / in Canzeleien / dem Justizwesen und anderen hohen negotiis publicis von Jahren zu Jahren man zu dieser Mundart / mit Hinterlassung der Landrede / sich angeschicket / und also die rechte Kraft dieselbst verhanden seyn wil / ja die Teutsche Natur ihre lieblichste Vollkommenheit gleichsam darin 64

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Die Grammatik von Schottelius ist eine der bedeutendsten Grammatiken der Barockzeit. Das nahezu 1500 Seiten umfassende Werk enthält eine über 170 Seiten lange Lobrede über die deutsche Sprache. Die Vielschichtigkeit dieses umfassenden Kompendiums des Sprachwissens seiner Zeit und seine Diskussion sprachpolitischer, sprachkritischer und sprachtheoretischer Fragen kann hier nicht ansatzweise geleistet werden, vgl. hierzu Takada (1985), Cherubim (1995), Gardt (1999b, 119-135) und Cherubim/Walsdorf (2004, 53-62). Gloy (1998, 397-399) geht davon aus, dass das Kriterium der inneren Regelhaftigkeit seit Schottelius das prominenteste Kriterium der Sprachnormierung ist: „Zumeist im Rahmen einer Homogenitätsthese, als Reduktion einer Normenpluralität mithilfe sprachstruktureller Argumente zugunsten der einen Standardsprache gebraucht; histor. Schlagworte: Analogie, (Grund-)Richtigkeit bzw. innere Struktur der Sprache.“ Vgl. zur Analogie in der antiken Grammatik Christmann (1980, 520).

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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ersehen / richten wir uns numehr in ganz Teutschland darnach […]. (Schottelius AA 1663, 174)

Stilistisch wird das Hochdeutsche somit an vorbildliche Textsorten wie bestimmte Fachtexte (Jurisprudenz, Verwaltung), die Kanzleisprache und an die in der Schule gelehrte Sprache angelehnt, dies entspricht dem antiken Kriterium des ‚usus auctoritas‘ (→ Hochdeutsch2/7). Gemeinsames Ziel der barocken Sprachkultivierungsbemühungen ist es, das Hochdeutsche im europäischen Wettstreit um die vorbildlichste Sprache als polyfunktionale Kultursprache auszubauen. Diese Sprache ist nur kunstmäßig erlernbar (vgl. ebd., 168) und bedarf deshalb der angemessenen Unterweisung in den Schulen. Dieses Anliegen wird von den Sprach- und Kulturreformern des 18. Jahrhunderts fortgeführt. Zur Begründung der Vorbildlichkeit des Meißnisch-Obersächsischen wird in der zeitgenössischen Diskussion oftmals auf die kulturelle und wirtschaftliche Blüte dieser Region seit der Reformation verwiesen. Im Zuge der frühen Aufklärung sind Leipzig und Dresden sowie die ostmitteldeutsche Region überhaupt zum kulturellen Zentrum Deutschlands geworden. Für das analogistische Normierungsprinzip spricht vor allem die rein sprachimmanente Argumentation, die für Vertreter aller Sprachregionen akzeptabel ist (→ Hochdeutsch6). Problematisch bleibt allerdings, dass die veranschlagte ,Grundrichtigkeit‘ oder sprachsystematische Regelhaftigkeit noch nicht ausreichend erforscht ist, aber gleichzeitig zur Sprachnormierung herangezogen werden soll, obwohl das Prinzip im Fall verschiedener regionaler Varianten keine wirkliche Entscheidungshilfe bietet. Stehen zwei regionale Varianten gegenüber, muss auf soziolinguistische Faktoren wie das soziale Prestige einer bestimmten Varietät zurückgegriffen werden.

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen in der Zeit von 1700 bis 1748 3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

3.3.1 Das Konzept einer Leitvarietät in sprachreflexiven Schriften ostmitteldeutscher Sprachkundler 3.3.1.1 Hochdeutsch in der Orthographielehre Freyers Im Jahre 1722 veröffentlicht Hieronymus Freyer (1675-1747) in Halle die „Anweisung zur teutschen Orthographie“ (ATO 1722). Eine Normierung und Kodifizierung der Rechtschreibung im 18. Jahrhundert setzt zwangs-

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

läufig eine Leitvarietät voraus, die Freyer ausführlich begründet. In der Vorrede bezieht er sich zunächst auf Johann Bödikers Differenzierung des Deutschen in das „Niedersächsische“, „Oberländische“ und „Hochdeutsche“ (ebd., 6f.): Sprachbezeichnung

Definition

„Niedersächsisch“

Das Niedersächsische oder Niederdeutsche umfasst extensional das Brandenburgische, Anhaltinische, Harzländische, Braunschweigische, Lüneburgische, Westphälische, NiederRheinländische, die Städte Jülich, Cleve, Oldenburg, außerdem das Friesische, die Region Bremen, die Nieder-Elbe, das Holsteinische, Mecklenburgische sowie die Gebiete Pommern, Preußen, Liestland u. a.

„Oberländisch“

Unter das Oberländische werden subsumiert: das Obersächsische, Meißnische, die Lausitz, Schlesien, Mähren, Österreichische, die deutschen Ungarn und Siebenbürger, die Tiroler, die Steyer, Kärnten, Bayern, Schwaben, die Schweiz, das Elsass, das Ober-Rheinland, Franken und Hessen, das Vogtland, Thüringen, die deutschen Böhmen u. a.

„Hochdeutsch“

Mehrfach bestimmte Leitvarietät: Hochdeutsch ist sprachsoziologisch bestimmt als eine durch die „Gelehrten“ ausgebildete Sprache (→ Hochdeutsch1). Im sprachsoziologischen Sinne ist damit die Sprache der Bildungseliten gemeint. Gleichzeitig – und nur in diesem doppelten Verständnis ist Hochdeutsch adäquat zu verstehen – entspricht es in sprachgeographischer Hinsicht wegen der vorbildlichen Aussprache in Halle, Leipzig, Wittenberg, Dresden u. a. Städte dem Meißnisch-Obersächsischen (→ Hochdeutsch3, Meißnisch/Obersächsisch2/3). In medialer bzw. stilistischer Hinsicht handelt es sich um die überregionale Schriftsprache (vgl. ebd., 8 → Hochdeutsch2).

Als Norminstanzen für die Orthographie benennt Freyer vier Kriterien, an erster Stelle die Aussprache (ebd., 3). Da die Aussprache in den Sprachlandschaften sehr stark voneinander abweicht, wird als Leitvarietät diejenige Sprachlandschaft legitimiert, in der die ‚reinste‘ und ‚beste‘ Aussprache herrsche, dies sind für Freyer im Wesentlichen die Städte Halle und Leipzig, wobei er die Aussprache des Besitz- und Bildungsbürgertums von der der einfachen Bevölkerung abhebt (vgl. ebd., 8). Als weitere Normie-

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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rungsprinzipien nennt er die Derivation, die Analogie und den ‚usus scribendi‘ (schriftsprachlicher Gebrauch).67 Da Freyer seine Orthographienormen sowohl an den Schulen seiner Region durchsetzen will als auch eine allgemeine deutsche Orthographielehre beabsichtigt, begründet er die zu Grunde gelegte Leitvarietät ausführlich (vgl. ebd. 8f.). In der nachstehenden Aufzählung wird besonders deutlich, dass es sich bei seinem Hochdeutsch-Konzept nicht um eine allein sprachgeographisch begründete Leitvarietät handelt, sondern dass verschiedene Legitimierungsstrategien miteinander kombiniert werden. Die aufgelisteten Erläuterungen sollen belegen, warum das Hochdeutsche zur Leitvarietät erhoben wird: Und dieses kann darum von allen und ieden gleichfalls so viel füglicher geschehen, weil I) diese Sprache eben so wol eine von den in Teutschland üblichen dialectis oder Mundarten ist; als irgend eine andere, zur Regel und Richtschnur genommen werden könte. 2) weil sie eine reine, deutliche und anmuthige Aussprache hat. 3) weil sie zwischen der Oberländischen und Nieder-=Sächsischen gleichsam in der Mitte steht, und also nicht zu hoch und auch nicht zu niedrig ist. 4) weil sie von den geschicktesten Leuten in allen Ständen durch ganz Teutschland excoliret wird. 5) weil sie ordentlicher weise in allen Canzeleyen, Rathhäusern und Gerichten gebrauchet wird. 6) weil ordentlicher weise alle Teutsche Bücher und Briefe darin geschrieben werden. 7) weil insonderheit die heilige Schrift von dem seligen Luthero in dieselbe übersetzet ist: 8) weil darin fast allen Orten insonderheit aber auch in Nieder-Sachsen geprediget wird. 9) weil sie um dieser Ursachen willen fast von iedermann, wenigstens besser und leichter als alle andere Teutsche Mundarten, verstanden werden kann; und daher in Teutschland eine allgemeine und vor andern nützliche Sprache ist. (Freyer ATO 1722, 8f.)

In Ergänzung zu den bisherigen Ausführungen bleibt festzuhalten: − Das Meißnisch-Obersächsische wird charakterisiert als ein deutscher Dialekt. Seine besonderen Eigenschaften werden in der nachfolgen67

Dem allgemeinen Schreibgebrauch gemäß sei beispielsweise ,und‘ statt ,vnt‘, ,bei‘ statt ,bey‘ und ,Gefahr‘ statt ,Gefar‘ zu schreiben (ebd.). Freyer plädiert somit für eine differenzierte Trennung von Vokalen und Konsonanten und eine Verwendung des Dehnungs-h (vgl. ebd., 11).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

den Aufzählung genannt, um die Einzigartigkeit und Vorzüglichkeit dieser Varietät zu belegen. Punkt 2 der Aufzählung: Die Aussprache in den vorher als vorbildlich genannten Städten des ostmitteldeutschen Sprachgebiets wird mit den Eigenschaften rein, deutlich und anmutig gekennzeichnet und aufgewertet, wobei sich Freyer auf die Oberschichten und Bildungseliten der Städte bezieht. Im Sprachnormierungsdiskurs wird die Vorbildlichkeit der Lautung auch als ‚Wohlklang‘ bezeichnet. Trotz der Einschränkung auf einen ‚Prestigesoziolekt‘ wird diese regional konzipierte Leitvarietät von Vertretern anderer Sprachlandschaften abgelehnt, wobei insbesondere die lautlichen Qualitäten des MeißnischObersächsischen angeführt werden. Als zusätzliche Stützung der Vorbildlichkeit wird angeführt, dass das Meißnisch-Obersächsische eine sprachliche Ausgleichsform zwischen Ober- und Niederdeutsch darstelle (siehe Punkt 3). Die Eigenschaften ‚hoch‘ und ‚niedrig‘ lassen sich zum einen als Hinweis auf die Regionen werten (das Oberdeutsche in den höher gelegenen Gebieten bzw. das Niederdeutsche in den „flachen“ Gebieten → Niederdeutsch1, Oberdeutsch1), gemeint sein kann zum anderen auch eine soziolinguistische Wertung. Im Sprachnormierungsdiskurs wird das Niederdeutsche von den Vertretern des meißnisch-obersächsischen Vorbildanspruchs häufig als „Sprache der Bauern“, d. h. als ‚Stigmasoziolekt‘, und als wenig ausgebaute, nicht polyfunktionale Sprachform abgewertet (→ Niederdeutsch2). Die Leitvarietät wird somit als soziales wie geographisches Ausgleichsprodukt charakterisiert. Für das Hochdeutsche als Leitvarietät spreche auch ihr Status als Kirchensprache, insbesondere in Norddeutschland (siehe Punkt 8). Dieses Argument ist eng vernetzt mit der sprachideologischen Anbindung der Leitvarietät an die Person Martin Luthers, dessen Sprachform mit dem Obersächsischen identifiziert wird (siehe Punkt 7). Das mit Luther verbundene Prestige wird auf das Hochdeutsche obersächsischer Grundlage übertragen. Interessant ist darüber hinaus Freyers Charakterisierung des Hochdeutschen als bereits überregional verbreitete Schriftsprache, neben der Jurisprudenz nennt er auch die Kanzleien als Vorbild. Das Ideal der Kanzleisprachen ist ein Sprachvorbild, das vor allem im 17. Jahrhundert von Bedeutung ist (vgl. Josten 1976), im 18. Jahrhundert aber in den untersuchten Texten eine marginale Rolle spielt. Insgesamt betont er die Polyfunktionalität des Hochdeutschen, das be-

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)



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deutet seine Verwendung in einer Vielzahl von Kommunikationsdomänen. Als letztes angeführt wird eine Feststellung, die als Ausdruck der aufklärerischen Grundhaltung Freyers gewertet werden kann: Aufgrund seiner Ausführungen betrachtet er es als erwiesen, dass das Hochdeutsche für alle Sprecher und Sprecherinnen in den deutschsprachigen Gebieten leichter zu verstehen ist und deshalb von besonderer Nützlichkeit für die bürgerliche Kommunikationsgemeinschaft ist.

Abschließend seien die von Freyer aufgeführten einzelnen Elemente seiner Argumentation in das eingangs vorgestellte Argumentationsmuster des Leitvarietät-Topos überführt:

Eine sprachpatriotische Zielsetzung ist in seiner Forderung nach staatlicher Sprachnormierung zu sehen. So beklagt der Verfasser explizit den Mangel an einer zentralen und verbindlichen Normierungsinstanz, wie sie in Frankreich in Form der Académie française bereits etabliert ist (ebd., 22f.). Freyer betont die Notwendigkeit eines umfassenden sprachpflegerischen Programms. Sein sprachpatriotisches Ziel ist die Vereinheitlichung der deutschen Orthographie und die Schaffung einer Leitvarietät in der öffentlichen Kommunikation und den Verwaltungen, den Kirchen

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

und den Schulen. Dieser in den Vorreden der Grammatiken, Orthographielehren und Wörterbüchern und in sprachreflexiven Schriften unterschiedlichster Thematik fest etablierte Topos nimmt Bezug auf den europäischen Sprachen- und Kulturwettkampf (vgl. auch Töllner DUO 1718). Gemeinsam ist den Verfassern die Klage über die Vernachlässigung der Muttersprache, insbesondere durch die Gebildeten und die Dominanz der drei heiligen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein, die dem weiteren Ausbau des Deutschen als polyfunktionale Sprache hinderlich ist. Freyers Werk ist neben einer Reihe anderer auf Deutsch verfasster Grammatiken und Orthographielehren ein deutliches Anzeichen für die Abkehr vom Primat des Lateins als Kernbestand humanistischer Bildung und für die Hinwendung zum muttersprachlichen Unterricht. Diese Entwicklung bleibt allerdings auf den nord- und mitteldeutschen Sprachraum beschränkt, in den Jesuitenkollegien in den katholischen Ländern wird der muttersprachliche Unterricht in den höheren Lehranstalten erst durch die Reformen der katholischen Landesfürsten seit den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts erzwungen. 3.3.1.2 Hochdeutsch in der Rhetorik Hallbauers Im Jahre 1725 hat Friedrich Andreas Hallbauer eine Rhetorik veröffentlicht. Sie trägt den Titel „Anweisung zur verbesserten Teutschen Oratorie“ (Hallbauer VTO 1725). Die Rhetorik Hallbauers ist nicht auf Anweisungen für Lob- und Festreden beschränkt, sondern weitet ihren Gegenstandsbereich aus auf die private Kommunikation im alltäglichen Leben. Hallbauers Rhetorik basiert auf der Arbeit Töllners und weicht in der Frage der sprachgeographischen Bestimmung des Hochdeutschen von seinem Vorgänger ab. Als gängiger Topos findet sich zunächst das nahezu obligatorische Sprachlob: Das Deutsche wird charakterisiert als „rechte männliche und Helden=Sprache“ (ebd., 22f.), der selbst von den Ausländern „etwas Majestätisches und Göttliches“ zugestanden werde. Hallbauer setzt an dieser Stelle das Deutsche als Prestigesprache mit dem Hochdeutschen gleich und schreibt ihm folgende Eigenschaften zu: Die Wörter geben einen nachdrücklichen und kräftigen Thon, und der Lauf der Rede ist so majestätisch, daß die Ausländischen zu sagen pflegten, die Teutschen donnerten, wenn sie redeten. Mit diesem Ansehen verknüpfet die hochteutsche Mund=Art zugleich so viel Lieblichkeit und Zierde, daß sie auch hierinne andern Sprachen nichts nachgibt. Wie solches die Schriften neuer Zeiten, zumal geschickter Redner, zur Gnüge an Tag legen. (ebd., 23)

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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Hallbauer positioniert sich somit im europäischen Wettstreit um die vorzüglichste Sprache, seine Arbeit ist im Kontext der frühaufklärerischen Sprachkultivierung zu verorten. Der Sprachkundler beruft sich wie Freyer auf die von Bödiker vorgelegte Einteilung der deutschen Sprache und unterscheidet zwischen „Niedersächsisch“, „Oberländisch“ und „Hochdeutsch“ (ebd., 119f.). Auch er subsumiert die bairisch-oberdeutschen Dialekte neben den ost- und mitteldeutschen Dialekten unter der Bezeichnung „Oberländisch“. Das Hochdeutsche selbst wird nun sowohl schichtspezifisch wie auch sprachgeographisch präzisiert, hier entspricht seine Bestimmung ebenfalls derjenigen Freyers. So wird das Hochdeutsche definiert als die Sprache, „welche von gelehrten und galanten Leuten an allen Orten, sonderlich in Meissen und Sachsen, auf Academien, bey Hofe, in Canzeleyen, und Gerichten, in vornehmen Städten, als Dresden, Leipzig, ec. in Reden und Schreiben gebraucht wird.“ (ebd., 120, vgl. auch 143) Hallbauer geht wie Freyer davon aus, dass das Hochdeutsche bereits überregional verbreitet sei und dass es auch in den norddeutschen Gebieten verstanden werde (ebd.). Während die Vorbildlichkeit der Sprache der Bildungseliten und Oberschichten ein konsensuales Vorbild der Sprachkundler ist, das im Rahmen der Untersuchung als ‚Prestigesoziolekt‘ bezeichnet wird, ist der Verweis auf die gesprochene Sprache der Höfe seltener anzutreffen.68 Die Vorbildlichkeit des Adels widerspricht der tatsächlichen Präferenz des Französischen durch diese Schicht; deshalb kann die Nennung des Adels als eine Art Dienstbeflissenheit gegenüber den adligen Oberschichten gewertet werden.69 In dem obigen Beleg wird als Vorbild für die Schriftsprache neben dem Leitbild des Meißnisch-Obersächsischen auch die Verwaltungs- und Rechtssprache sowie die Sprache der Akademien genannt. Während Hallbauer für den mündlichen Gebrauch die dialektgeprägte Aussprache prinzipiell legitimiert sieht, muss seiner Ansicht nach die Schriftsprache frei von landschaftlichen Merkmalen sein. Die Schreibung solle sich aber nach dem Sprachgebrauch der Bildungseliten und Oberschichten richten (ebd., 120). Als Richtschnur solle die hochdeutsche Aussprache dienen, da diese die anderen an „Reinheit“, „Deutlichkeit“ und „Annehmlichkeit“ weit übertreffe und da sie fast von jedermann leichter verstanden werde (ebd.). Auch an dieser Stelle entspricht seine Argumentation der von Freyer. 68 69

Die Bezeichnungen ‚Prestigesoziolekt‘ und ‚Stigmasoziolekt‘ werden in Anlehnung an Steinig (1980) verwendet. So ist die Schrift „Friedr. Gotthilff Marschall Greiff“ gewidmet, dem Assessor des hochfürstlichen sächsischen Hofgerichts in Jena.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

3.3.1.3 Zum Konzept einer Leitvarietät in sprachreflexiven Schriften unterschiedlicher Schwerpunktsetzung In der zweiten Auflage der „Einleitung zur Teutschen Oratorie“ (Hunold ETO 1715) positioniert sich Hunold im europäischen Sprachenwettstreit und begrüßt die zu seiner Zeit zu beobachtende Vielfalt an neueren rhetorischen Schriften und Brieflehren (ebd., A2v). Explizit fordert er die Verwaltungseliten dazu auf, sich von Jugend auf in der Muttersprache zu üben und landschaftliche Merkmale abzulegen (vgl. ebd.). Die gründliche Kenntnis der Grammatik und der Lexik des Deutschen als einer über den Dialekten stehenden Leitvarietät sei für die Beamten höherer und niederer Ämter unerlässlich. Im Gegensatz zu der als besonders hochwertig erachteten überregionalen Leitvarietät, die er in der „Einleitung zur Oratorie“ als die „reine Meißnische Schreibart“ (ebd., 6) sprachgeographisch bestimmt, gelten die Dialekte als etwas Unvollkommenes bzw. „Unreines“ (ebd., A3r): Indessen weil keine sichere Anweisung zur Teutschen Sprache vorhanden / und man in den meisten Provinzien mit der Mutter=Milch oder Muttersprache viel unreines einsauget / will ich andern einen wohl=gemeinten Rath ertheilen / welchen ich vor gut befunden. Es ist keine Sprache / welche nicht ihre Grund=Sätze habe. Keine unter allen aber wird weniger von uns verstanden / als die bey uns im Schwange gehet: weil sie mehrentheils ohne studiren und kopfbrechen erlernet wird.

Als Vorbild nennt er den Gebrauch der „erfahrenen Männer“ (A3r). Damit ist der Sprachgebrauch der Bildungseliten gemeint. Darüber hinaus wird auf anerkannte, vorbildliche Textmuster hingewiesen (vgl. ebd., → Hochdeutsch1/2). Im Jahre 1715 verfasst der in der Lausitz lebende Arzt und Mathematiker Johann Daniel Longolius (1677-1740) eine Schrift mit dem Titel „Einleitung zu gründlicher Erkäntniß einer ieden insonderheit aber Der Teutschen Sprache“ (Longolius EtS 1715), die neben grammatikographischen Aspekten weitere sprachbezogene Themen abhandelt, wie etwa die Frage der Leitvarietät.70 Wie für die meisten Sprachkundler ist auch für Longolius ein sprachpatriotisches Bemühen um das Deutsche kennzeichnend: Aus diesen allen kan ein jeder leicht schlüssen / was für eine weitläuffige und tieffsinnige Sprache die Teutsche seyn muß / und wie prächtig sie sich der ganzen Welt für Augen stellen sollte / wenn sie in allen Provinzen genau untersuchet

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Insofern sein übergeordnetes Ziel die Beschreibung der „Natur aller Sprachen“ darstellt, liegt eine universalistische Sprachkonzeption vor.

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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/ in ein rechtes philologisches Reallexicon gebracht / und in einer curiösen Grammatica nach allen Dialectis wohl untersuchet würde. (ebd., 540)

Die Forderung nach der Erstellung eines deutschen Wörterbuchs ist schon Ende des 17. Jahrhunderts von Gottfried Wilhelm Leibniz erhoben worden und wird bis Ende des 18. Jahrhunderts immer wieder gestellt. Der Verfasser konkretisiert seine Auffassung des Hochdeutschen im Kontext der Anweisungen für den „guten Teutschen Redner“ (ebd., 105f.). Grundlegend für seine Konzeption des Hochdeutschen als Leitvarietät ist die Einsicht in die Unabänderlichkeit sprachlichen Wandels (ebd.). Um die Verständlichkeit jeglicher sprachlichen Äußerung zu gewährleisten, die in den früh- und spätaufklärerischen Schriften ein zentrales Anliegen darstellt, müsse sich der Redner bzw. Schreiber an dem anerkanntesten Dialekt des Deutschen orientieren: Die völlige Einrichtung eines Periodi nach der Eigenschaft seiner Sprache kömmet hauptsächlich darauf an, daß alles ungewöhnliche im Pronunciren / Schreiben / Wörtern / und Distinguiren vermieden; Der Gangbarste Dialectus vor andern unbeliebrigern Mundarten erwehlet; und im übrigen iede verständliche und bey erbaren Leuten übliche Expreßion allen Unbekannten und einiger Maßen verächtlichen oder geringeren Redensarten vorgezogen werde. (ebd., 105)

Longolius unterscheidet acht Hauptmundarten der deutschen Sprache: das „Sächsische“, „Pommerische“ bzw. „Burgundische“, „Polnische“ bzw. „Wandalische“, „Thüringische“, „Fränkische“, „Schwäbische“ bzw. „Suevische“, „Bayerische“, „Schweizerische“ bzw. „Alemannische“ (vgl. ebd., 538). Welcher deutsche Dialekt der „gangbarste“ unter allen Dialekten ist, erläutert Longolius in seinem sprachhistorischen Kapitel. Durch die Reformation und die Mischung der Dialekte in Obersachsen sei eine neue Sprachform entstanden, die durch vorbildliche Schriften repräsentiert werde (ebd., 539 → Hochdeutsch2/3, Obersächsisch2/3).71 Das Vorbild des Obersächsischen wird gegenüber dem Niederdeutschen abgegrenzt, das im Gegensatz zur Leitvarietät keine Ausführungen wert sei. In diesem Sinne wird das Niederdeutsche deutlich abgewertet (vgl. ebd., 539 → Niederdeutsch2). Ebenso stigmatisiert wird die als künstlich charakterisierte, mit Latein vermischte Sprache der katholischen Gebildeten und Geistlichen, die er als „kauderwelsch Teutsch“ (ebd.) bezeichnet. Diese Abwertung des Oberdeutschen und Niederdeutschen ist für die Vertreter der meißnischobersächsischen Prestigevarietät kennzeichnend und wird mit der beson71

Das von Longolius in Anspruch genommene sprachgeographische Kriterium wird aber nicht sehr vehement vertreten. So heißt es an anderer Stelle, dass die regionalen Eigenheiten der Schweizer und anderer „Halbdeutscher“ in Bezug auf die Aussprache und andere „Zierlichkeiten“ nicht kritisiert werden sollten (ebd., 105ff.).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

deren kulturellen und wirtschaftlichen Blüte Kursachsens begründet. Die Wertschätzung des Meißnisch-Obersächsischen reicht zurück bis in das 16. Jahrhundert und wird im 17. Jahrhundert besonders wirksam von Philipp von Zesen vertreten.72 Die Orthographielehre von Justinus Töllner (DUO 1718), die neben den Orthographielehren von Frangk, Gueintz und Bödiker der Arbeit Freyers maßgeblich zu Grunde liegt, weicht gerade in der Frage der Orientierung am Sprachgebrauch von Freyers und Hallbauers Thesen ab. In den einleitenden Bemerkungen zum Hochdeutschen heißt es in der „Vorrede an den Leser“: Es ist zwar die hochteutsche Sprache eine sehr schöne und herrliche Sprache / die eben / als wie andere Sprachen / ihre sonderbare Art und richtigen Grund hat; dennoch muß man sich verwundern / daß dieselbe nicht / wie andere Sprachen / auch von den Teutschen selbst / bisher hoch æstimieret / noch recht excoliret worden. (ebd., Vorrede 1v)

Als Ursache für die bisher kaum erfolgte Kultivierung und Kodifizierung des Hochdeutschen verweist Töllner auf das größere Prestige der drei heiligen Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch sowie anderer Fremdsprachen. Der Wertschätzung der Fremdsprachen stehe eine Vernachlässigung der Muttersprache durch die Bildungseliten gegenüber. Töllner spricht sich bei der Normierung der Leitvarietät für eine Orientierung am „rechten Grund“ (ebd., Vorrede, 2r) der Sprache aus und lehnt eine Herleitung von Sprachnormen aus dem Gebrauch ab, da dieser immer schwankend sei (ebd.): Denn ich habe eigendlich werder auf die Autorität / noch auf den gemeinen üblen Gebrauch gesehen / sondern / was ich nach den Grund = Regeln per Inductionem firm / fest und recht befunden / das habe ich erwählet / ob ich gleich vormals manche Wörter selbsten anders geschrieben / und gedacht […] (ebd., Vorrede, 6v).

Er steht somit in der Tradition der Hochdeutsch-Konzeption Schottelius’, der die Regeln für die Sprache aus einer vorausgesetzten ‚Richtigkeit‘ der Sprache herleiten will. Gemäß dieser analogistischen Position, die von einer Systematizität der Sprache ausgeht (auch „Genius“ oder „Art der Sprache“, ebd., 2v), werden die Regeln induktiv hergeleitet. Als Normierungsprinzipien der Orthographie werden vor allem Etymologie und Derivation hervorgehoben (vgl. ebd., 2r, 2v, 3r). Fabricius unterscheidet in seiner Rhetorik zwischen dem galanten Gebrauch eines Teils der Nation und dem universellen Gebrauch der gesamten Nation. Während der „galante Gebrauch“ der gebildeten und höheren 72

Vgl. die Belegstellen und Literaturhinweise bei Eichler/Bergmann (1968, 6f., 12f.).

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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Schichten normstiftend ist, kann der universelle Gebrauch nicht als Sprachvorbild gelten (vgl. Fabricius PhO 1724, 179, 299 → Hochdeutsch1). Das Deutsch der ländlichen Bevölkerung wird als ‚Stigmasoziolekt‘ gekennzeichnet (ebd., 10). Den „Grundregeln der Hoch-Deutschen Sprache“ von Salomon Hentschel aus dem Jahre 1729 ist ein Plädoyer für den muttersprachlichen Unterricht vorangestellt, die der Vorrede des Mainzer Hofrates Johann Heinrich Fabers ähnelt (vgl. Hentschel GHS 1729, Vorrede).73 Ausführlich begründet der Verfasser die Notwendigkeit, das Deutsche durch Grammatikunterricht, Erwerb der Orthographienormen usw. genauso zu erlernen, wie das Lateinische oder Französische (vgl. ebd., 2r, 2v). Allerdings wird in der Vorrede nicht deutlich, welches Hochdeutsch-Konzept Hentschel vertritt, da eine explizite Verortung im Sprachnormierungsdiskurs fehlt. Hentschel benennt als Vorbilder u. a. Klaj, Schottelius, Bödiker, Freyer und Steinbach, ohne die jeweiligen Bezüge in seinen weiteren Ausführungen zur Grammatik des Deutschen hinreichend deutlich zu machen (ebd., 4v). Der Verfasser hofft, dass die „Deutsche Gesellschaft“ in Leipzig sein Werk kritisch zur Kenntnis nehme (ebd.). In den untersuchten Abschnitten seiner Schrift finden sich Erörterungen landschaftlicher Varianten. Hentschel vertritt wie die Mehrheit der zeitgenössischen Sprachkundler in sprachsoziologischer Perspektive das Ideal des Usus der oberen Schichten (→ Gelehrte2). So wird seine Definition von Interjektion ergänzt um den Zusatz: Man trifft eine grosse Anzahl [Interjektionen, Anm. KF] derselben in den Reden des Pöbels an. z. E. Haha, ätsch, potstausend, ienu ec. Wie aber im Lateinischen dergleichen Worte nur bey den Comicis, welche gemeine Leute redend einführen, vorzu kommen pflegen; so muß auch in der Deutschen Sprache ein Redner und Poet sich ihrer enthalten, und sie vielmehr Knechten und Mägden zu ihrem Gespräche überlassen. (ebd., 74)

Abschließend sollen die „Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit“ untersucht werden. Diese werden von Mitgliedern der „Deutschen Gesellschaft“ in Leipzig herausgegeben und sind damit dem Umfeld Gottscheds zuzuordnen.74 Das Anliegen der Monatsschrift ist ein sprachpatriotisches: Ziel der „Beyträge“ ist die Normierung des Deutschen und seine Etablierung als Sprache der Literatur, der Wissenschaften und der öffentlichen Kommunikation. Um dieses Ziel zu 73 74

Berücksichtigt werden die Vorrede sowie die einführenden Abschnitte zur Grammatik bis einschließlich seiner Ausführungen zu den Interjektionen (ebd., 74). Die einzelnen Beiträge sind anonym verfasst, nur bei der Wiedergabe von bereits erschienenen Schriften, Gedichten u. ä. ist eine eindeutige Zuweisung möglich. Die Beiträge werden deshalb mit dem Kürzel BCH zitiert.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

erreichen, werden Auszüge vorbildlicher Schriften präsentiert und sprachreflexive bzw. sprachkritische Beiträge zur Sprache und Literatur versammelt. Damit eng verbunden ist das sprachpädagogische Ziel des muttersprachlichen Unterrichts. Für die Untersuchung werden für eine genauere Textanalyse herangezogen: − Die Einleitung bzw. Vorrede, die dem ersten Stück aus dem Jahr 1732 vorangestellt ist, da hier die Zielsetzungen der Monatsschrift kurz benannt werden (Anonymus BCH1 1732, 2r bis 4v). − Der Abdruck einer Schrift von Carl Gustav Heräus im zweiten Stück von 1732 mit dem Titel „Unvorgreifliche Gedanken, über die Aufund Einrichtung einer deutschen Sprachgesellschaft [...]“ (Heräus BCH2 1732, 267-280). Da die Schrift unkommentiert abgedruckt wird und dem aus Wien stammenden kaiserlichen Rat Carl Gustav Heräus zugeordnet werden kann, wird diese Schrift aber im Rahmen der Darstellung des oberdeutschen Sprachbewusstseins zu Beginn des 18. Jahrhunderts mitbehandelt. − Eine Rezension der Verteidigungsschrift des Niederdeutschen im zweiten Stück von 1732 von Raupach mit dem Titel „De linguae Saxoniae inferioris neglectu atque contemtu injusto d. i. Von unbilliger Verachtung der plattdeutschen Sprache“ (Anonymus BCH2 1732, 304-323; vgl. Raupach LSI 1704). − Eine Rezension des „Parnassus Boicus“ (genauer der vier Bände von 1722-1727) XIV. Stück der „Beyträge [...]“ von 1736, die eine Bewertung der sprachnormierenden und -kultivierenden Aktivitäten in Bayern zum Ausdruck bringt (vgl. Anonymus BCH4 1736, 264-292). Da diese explizit eine Stigmatisierung des Oberdeutschen formuliert, wird sie weiter unten im Kontext der Ausführungen zur Abwertung des Oberdeutschen dargestellt. Gleich im ersten Stück des ersten Bandes der „Beyträge“ wird das sprachpatriotische und -kultivierende Anliegen der Zeitschrift hervorgehoben: Die Beiträge der Monatsschrift sollen die Sprachkultivierung des Deutschen vorantreiben und damit das Prestige des Deutschen im europäischen Sprachenwettkampf stärken (vgl. Anonymus BCH1 1732, 2r). Der Verfasser, der sich selbst auf das Wirken von Martin Opitz beruft, konstatiert die in Frankreich und Italien bereits vollzogene, erfolgreiche Sprachkultivierung (vgl. ebd., 3r). Im Gegensatz zu den dortigen Bemühungen fehle es an vorweisbaren vorbildlichen Werken in deutscher Sprache, vor allem in den neueren Gattungsformen wie dem Roman (vgl. ebd., 3r, 3v). Die Kunst der deutschen „Beredsamkeit“ (ebd., 3v), das bedeutet die prak-

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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tische Vortragskunst, sei noch nicht voll entwickelt und auch die Produktion wissenschaftlicher Texte in deutscher Sprache müsse noch verbessert und ausgebaut werden (ebd.).75 Zur Erreichung des sprachpatriotischen und -kultivierenden Anliegens werden in der Monatsschrift Auszüge vorbildlicher Schriften präsentiert und sprachreflexive bzw. sprachkritische Beiträge zur Sprache und Literatur veröffentlicht (vgl. ebd., 4r). 3.3.1.4 Fazit: Konzeptionen einer Leitvarietät in sprachreflexiven Schriften von Diskursakteuren des ostmitteldeutschen Sprachgebiets bis zur Jahrhundertmitte Gemeinsam ist den Sprachkundlern zunächst einmal die Inanspruchnahme einer spezifischen Diskursposition: Das Bemühen um die Sprache, ihre Verbesserung, Normierung und Kodifizierung wird als Teil eines „gesamtdeutschen“ Projekts vorgestellt, dass das Ansehen des Deutschen und damit auch der deutschen Kommunikationsgemeinschaft im europäischen Sprachen- und Kulturvergleich entscheidend befördern soll. Zusammenfassend lässt sich für die ostmitteldeutsche Grammatikographie, Orthographie und Rhetorik des frühen 18. Jahrhunderts feststellen, dass die Verfasser der genannten Arbeiten ein Konzept der Leitvarietät vorlegen und es auch ausführlich begründen. Von den genannten Vertretern des protestantischen Mittel- und Norddeutschlands wird mehrheitlich ihre eigene Sprachform, d. h. das Meißnisch-Obersächsische, als Leitvarietät legitimiert. Diese Sprachform ist bereits seit dem 16. Jahrhundert als Prestigesprache nachzuweisen (vgl. Josten 1976). Insofern eine Auswahl aus der Varietätenvielfalt vorliegt, das bedeutet zum einen das Meißnisch-Obersächsische im Gegensatz zum Nieder- und Oberdeutschen, sowie zum anderen der Sprachgebrauch der Gebildeten und oberen Schichten im Gegensatz zur allgemeinen Bevölkerung und zum Adel, kann in Anlehnung an Reichmann von einer ‚Vertikalisierung‘ des Deutschen gesprochen werden (vgl. Reichmann 2000). Neben der sprachgeographischen und sprachsoziologischen Bestimmung der Leitvarietät werden in medialer bzw. stilistischer Perspektive vorbildliche Texte genannt. Die ostmitteldeutschen Sprachkundler präferieren hier eindeutig ihre eigene Sprachregion.

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Im nachfolgenden Beitrag „Von der Schönheit der Deutschen Sprache in Absicht auf ihre Bedeutung“ (Anonymus BCH1b 1732, 55-69) wird beispielsweise die Einrichtung eines vollständigen deutschen Wörterbuchs gefordert, wie dies schon Leibniz Ende des 17. Jahrhunderts vorgeschlagen hat (ebd., 65).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Die sprachliche Vorrangstellung des meißnisch-obersächsischen Sprachgebiets ist an die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung in dieser Region gebunden, eine Rolle, die Meißen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts behaupten kann. Die Universitäten von Leipzig, Halle und Dresden besitzen ein hohes Ansehen im gesamten deutschen Sprachgebiet und zum Teil darüber hinaus. Des Weiteren ist der obersächsische Sprachraum bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein ein Zentrum der Aufklärung und der Buchproduktion. Von Polenz (1986, 195) erklärt die Vorbildlichkeit der Region unter Rückgriff auf mentalitätsgeschichtliche Faktoren. Neben dem sozialdistinktiven Wert der Leitvarietät für die aufstrebenden Schichten verweist er auf ein besonders starkes Selbstbewusstsein der Sachsen aufgrund des besonders raschen und expansiven Erfolgs der kurfürstlichen Politik in der Renaissance- und Barockzeit. Die Kanzlei Kursachsen gilt bereits im 16. Jahrhundert als Vorbild (vgl. Josten 1976, 152ff.). Im 18. Jahrhundert spielen die Kanzleien als Sprachvorbild keine nennenswerte Rolle mehr. Sie werden vor allem in Nord- und Mitteldeutschland durch das Vorbild der wissenschaftlichen Zeitungen und der Fachprosa sowie der Literatursprache im engeren Sinne abgelöst. Die axiologische Aufladung des Ausdrucks ,Meißnisch‘ bzw. ,Obersächsisch‘ zur Bezeichnung der Leitvarietät durch die Sprachkundler des obersächsischen Sprachgebiets sowie Vertreter dieses Sprachvorbilds anderer Sprachlandschaften geht einher mit einer Ablehnung und teilweisen Stigmatisierung anderer Sprachlandschaften, die in den folgenden Abschnitten zum Thema werden. Während das Niederdeutsche zu Beginn des 18. Jahrhunderts bereits faktisch als Schriftsprache weitgehend verdrängt ist, existiert im bairisch-oberdeutschen Sprachraum noch eine eigenständige Schreibsprachtradition. Diese wird allerdings weder in Form der oberdeutschen Kanzleisprache noch in Form oberdeutscher Literatur im engeren Sinne als Vorbild anerkannt.

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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3.3.2 Stigmatisierung des Oberdeutschen 3.3.2.1 Historischer Kontext Im deutschsprachigen Gebiet ist im 18. Jahrhundert von einem Nord-SüdGefälle der Aufklärung auszugehen (vgl. Durchhardt 1989, 124f.). In den katholischen Gebieten Deutschlands und den österreichischen Gebieten setzt die Aufklärung ein bis zwei Generationen später ein als in den protestantischen Territorien (vgl. Möller 1986, 87) und ist hinsichtlich ihrer Themen und Problemstellungen von der protestantischen Aufklärungsbewegung zu unterscheiden. Ziele der katholischen Aufklärungsbewegung sind Reformen im Bereich der Seelsorge und Liturgie, die Durchsetzung der Muttersprache als Sprache der Seelsorge, der Anschluss an die Entstehung moderner Wissenschaften in den protestantischen Territorien. Aufgrund des Bildungsmonopols des jesuitischen Ordens bleibt sowohl die Rezeption protestantischer Schriften als auch die Reform des Schulwesens in den katholischen Gebieten zunächst aus und erfolgt erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Den protestantischen Gebildeten in Nord- und Mitteldeutschland gilt der katholische Süden des Reichs als Inbegriff kultureller Rückständigkeit (vgl. Hartmann 2001, 437ff.). Die zentralen Kritikpunkte der protestantischen Aufklärer sind die relativ geschlossene und einheitliche katholische Kirche mit ihrer länderübergreifenden Hierarchie, das Papsttum, die Jesuiten und der Wunderglaube (vgl. ebd., 407). Die Stigmatisierung des Oberdeutschen ist allerdings kein Phänomen des 18. Jahrhunderts, sondern zeichnet sich bereits in sprachreflexiven Schriften seit dem 16. Jahrhundert ab.76 Verwiesen sei an dieser Stellen exemplarisch auf die sprachvergleichende Darstellung „Mithridates“ Conrad Gesners aus dem Jahr 1555 (vgl. Gesner 1555), der das Bairische als die gröbste, das Meißnische hingegen als die beste Mundart charakterisiert (vgl. Tauber 1993, 5f.). Wie der Wortartikel Oberdeutsch belegt, ist diese Stigmatisierung selbst in den Schriften Adelungs am Ende des 18. Jahrhunderts noch ein fester Topos des Sprachnormierungsdiskurses (→ Oberdeutsch). Die von den Sprachkundlern geforderte Vereinheitlichung und Kodifizierung des Hochdeutschen erfolgt – zumindest in schriftsprachlicher Perspektive – in Bayern und Süddeutschland erst ab etwa 1765, nicht zuletzt da der Widerstand der Jesuiten zu stark ist. Die Verwendung grundsätzlich verschiedener schriftsprachlicher Varietäten ist allerdings bereits 76

Vgl. den kurzen Abriss negativer Bewertungen des Oberdeutschen bei Tauber (1993, 5f.).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

durch die unterschiedlichen Entwicklungen im Gefolge des Augsburger Religionsfriedens von 1555 eingeleitet worden (vgl. Wiesinger 1997, 723). Die Sprachkundler in Österreich und Bayern favorisieren gegenüber der als „protestantisch“ empfundenen ostmitteldeutsch-norddeutschen Varietät eine auf die kaiserliche Kanzleisprache besonders von Kaiser Maximilian I. zurückgehende Form der Schriftsprache mit zahlreichen bairischen Formen (vgl. ebd.). Erst die staatliche Unterstützung der Sprachkultivierung und der Reformanliegen etwa in Form der Gründung der Bayerischen Akademie im Jahre 1759 bringt die entscheidende Wende und die Durchsetzung des Hochdeutschen mit deutlichen ostmitteldeutschen Akzenten. Die konstatierte Rückständigkeit des katholischen Schulwesens muss heute allerdings differenziert betrachtet werden. So verweist Wolfgang Neugebauer auf die Diskrepanz zwischen staatlichem Schulreglement in Preußen (wie etwa die oft zitierte frühe Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1717) und der schulischen Realität (Neugebauer 1985, 625ff.).77 Für die Schuldichte (vgl. ebd., 227) und das Elementarschulwesen lässt sich kein eklatanter Unterschied zwischen den katholischen und protestantischen Territorien und Städten festmachen. Die Kritik an der Vernachlässigung der Muttersprache und die Ausrichtung des schulischen Unterrichts auf das Latein in den höheren Schulen der katholischen Gebiete ist durchaus berechtigt: Oberstes Ziel der deutschen Schulen ist die religiöse Bildung. Ebenso trifft die Kritik am Mangel an deutscher Literatur im katholischen Kulturraum insofern zu, als hier noch die französische wie italienische Literatur an den Höfen dominiert und die lateinische und oberdeutsche Literatur vor allem in den Klöstern gepflegt werden (vgl. Hartmann 2001, 371). Die nachfolgende Darstellung zeigt anhand verschiedener Texte, wie das Oberdeutsche durch Sprachkundler und Gebildete des protestantischen Nord- und Mitteldeutschlands bewertet wird. Insbesondere soll die Analyse deutlich machen, inwiefern sprachliche Entwicklungen und Phänomene sprachideologisch interpretiert werden. 3.3.2.2 Exemplarische Analyse: „Der Undeutsche Catholik“ Litzels polemische Auseinandersetzung mit dem oberdeutschen Sprachgebiet aus dem Jahre 1730 trägt den vielsagenden Titel „Der Undeutsche Catholik Oder Historischer Bericht von der allzu grosse[n] Nachläßigkeit 77

Die Finanzierung des Schulwesens, insbesondere die Rekrutierung, Besoldung und Ausbildung der Lehrer, bleibt bis Ende des 18. Jahrhunderts in Brandenburg-Preußen ein enormes Problem (vgl. Neugebauer 1985, 135, 170-187, 306-309, 332-345).

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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der Römisch-Catholischen, insonderheit der Clerisey“ (Litzel UC 1730) und ist unter dem Pseudonym „Megalissus“ erschienen.78 Litzel orientiert sich bei seiner Darstellung an der Abfolge der Monarchien und Königshäuser. Sein historischer Bericht ist auf historische Einzelpersonen fixiert. Er beginnt bei Karl dem Großen und führt über Ludwig den Frommen, Friedrich den I. und II. hin zur Reformation und zu Martin Luther (vgl. ebd., 3f.). Die Darstellung des jeweiligen Herrschers und seines Bemühens um die Volkssprache wird unterbrochen von Passagen, in denen Litzel verschiedene Versäumnisse und Fehler der römisch-katholischen Länder kritisiert. Als Grund für die Behauptung, dass die Sprache zur Zeit Karls des Großen in einem schlechten Zustand gewesen sei, wird beispielsweise pauschal und ohne weitere Beweise auf die Sorglosigkeit „der Pfaffen“ (ebd., 5) verwiesen. In gleicher Art und Weise werden auch die zeitgenössischen Theologen und ihre Bemühungen um die deutsche Sprache in den süddeutschen Gebieten pauschalisierend abgewertet. Seiner langen Auflistung der Verbesserung der deutschen Sprache und Poesie soll zwar im vierzehnten Paragraphen die Darstellung der Bemühungen durch die römisch-katholischen Länder folgen (ebd., 39), de facto zählt er in den folgenden Textabschnitten aber nur behauptete Versäumnisse der katholischen Länder auf und relativiert vorhandene Anzeichen eines sprachpflegerischen Bemühens. Das in Form der frühaufklärerischen Zeitschrift „Parnassus Boicus“ bereits um 1720 deutlich werdende oberdeutsche Sprachbewusstsein wird nicht zur Kenntnis genommen. Seine Argumentation behandelt folgende wesentliche Aspekte: a. Protestantische Sprachgesellschaften: Ein wichtiger Movens der sprachlichen Vereinheitlichung stellen nach Litzel die protestantischen Sprachgesellschaften dar, die sich egalitär an Vertreter aller „Nationen aus Deutschland“ (ebd., 40) gewandt hätten. Die katholischen Gebildeten hätten aber eine Zusammenarbeit mit den Protestanten aufgrund religiöser Motive abgelehnt (ebd.).79 Der einzige Ansatz zur Gründung einer Sprachgesellschaft im Umfeld des bayrischen 78

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Litzel hat in den Jahren 1720 bis 1734 an allen protestantischen Universitäten Süd- und Ostmitteldeutschlands studiert und sich ein umfassendes geistes- und kulturgeschichtliches Wissen angeeignet. Er ist außerdem mit den Alltagsverhältnissen der deutschen Territorialstaaten vertraut. Diese Kritik ist insofern berechtigt, als die Dominanz der Jesuiten einen tatsächlichen Austausch zwischen den Gebildeten erfolgreich verhindert. So wird beispielsweise von den protestantischen Gebildeten aus Nord- und Mitteldeutschland gefordert, dass sie zur Wahrnehmung eines Rufs an die Universität von Wien vorher zum katholischen Glauben konvertieren müssen. In den katholischen Ländern bleibt das gesamte höhere Unterrichtswesen bis zur Auflösung des Ordens im Jahr 1773 unter der Leitung der Jesuiten.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Dichters Jacob Balde (1604-1668) wird von ihm aufgrund der geringen Zahl von fünf Mitgliedern verspottet, ebenso wird dessen Werk als „erbarmungswürdige Poesie“ herabgesetzt (ebd., 42). b. Normierung des Deutschen durch Grammatiken, Orthographielehren, etymologische Werke, Rhetoriken und vorbildliche Poesie: Litzel zählt eine Reihe von sprachtheoretischen und sprachreflexiven Schriften auf, deren Verfasser ausnahmslos Protestanten seien, etwa die Grammatiker Schottelius, Bödiker und Steinbach, die Orthographen Freyer und Töllner, Poeten wie Opitz, Gryphius, Brockes und von Lohenstein (ebd., 45). Gerade in der Poesie, die er verächtlich als „Jesuiten-Poesie“ (ebd., 52) bezeichnet, lässt sich nach Litzel kein einziger vorbildlicher oberdeutscher Autor finden (ebd., 46).80 c. Wissenschaften, schulische Bildung und Universitäten: Die Situation der Wissenschaft und die schulische Ausbildung in den katholischen Gebieten wird als völlig unzulänglich charakterisiert. In den Jesuitenschulen erwerben die Schüler nur Lateinkenntnisse, während die Muttersprache nicht unterrichtet werde. Das Latein der Jesuiten wird als „schlechtes Latein“ (ebd., 64) stigmatisiert. Litzel kritisiert das gesamte Erziehungs- und Bildungswesen in den katholischen Ländern, insbesondere die Organisation des Schulwesens und den Unterricht, die Unterrichtsmethoden und die Lehrinhalte, aber auch die Lehrbücher, das Verlagswesen und die ungenügend qualifizierten und ausgebildeten Lehrer (vgl. ebd., 61ff.). Seine Kritik betrifft aber nicht allein die Umstände des Schulwesens, sondern schwenkt in eine umfassende moralisch-sittliche Kritik um. Er unterstellt den Jesuiten, dass sie „die Kinder zum Ungehorsam gegen die Eltern, die Schüler zu Verrätherey, zum Mordn, und zu allerdhand Bubenstüken und Schandthaten aufmuntern“ (ebd., 65). Diese sprachideologisch motivierte Diffamierung der Jesuiten mündet in eine Anklage, die die Jesuiten für die Glaubenskriege verantwortlich macht.81 80

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So heißt es da wiederum überaus pauschal und polemisch: „Wenn ich alle Fehler, so die Catholiken in ihren Reimen begehen, aufzeichnen sollte, würde es mir so wol an der Zeit als am Papier fehlen.“ (ebd., 48) Dass Reime beispielsweise durch die Verschiedenheit der regionalen Aussprache „unrein“ werden, wird nicht berücksichtigt. Litzels gesteigerte Polemik zeigt sich an dieser Stelle besonders deutlich: „Sie sind es, welche die Potentaten an einander hezen, daß Länder und Städte verwüstet und viel tausend unschuldige Christen auf die Schlachtbanke geführet worden. Sie sind es welche das Fette des Landes wie die Heuschrecken auffressen, und die Güter der Reiche an sich ziehen.“ (ebd., 66)

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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d. Erziehung durch die Eltern: Während die bisherige Kritik vor allem an die Jesuiten gerichtet ist, spricht Litzel als Adressaten ab dem 21. Paragraphen explizit alle Katholiken an, und zwar Geistliche und Laien (vgl. ebd., 68ff.) sowie die staatlichen Autoritäten (ebd., 84). Er beklagt, dass die Sprache in den katholischen Gebieten sowohl in mündlicher wie auch schriftlicher Kommunikation völlig unzulänglich sei. Als Ursache hierfür nennt er ein mangelndes Bemühen um gutes Deutsch sowie die ungenügende Erziehung. An dieser Stelle gleitet seine Darstellung erneut ins Sprachideologische über, die Katholiken sprächen per se eine raue Sprache. Damit ist eine qualitativ schlechte, nicht normierte und kultivierte sowie lautlichen Kriterien nicht genügende Sprache gemeint. Der Fehler der Sprecher und Sprecherinnen in den katholischen Gebieten bestehe überspitzt formuliert darin, in der „falschen“ Sprachlandschaft geboren worden zu sein. Seine Kritik betrifft die Sprache in den katholischen Gebieten insgesamt. Er differenziert nicht zwischen einem soziolektalen und dialektalen Gebrauch der oberdeutschen Sprache: Die Catholiken sind darinnen unglüklich, daß sie meistentheils in solchen Landschaften gezeuget werden, worinnen eine rauhe Sprache im Gebrauch ist. Doch wohnen in jeder Landschaft Leute, davon einige nach der rauhen Mund-Art besser reden, einige schlechter. Da pflegen nun die Eltern gemeiniglich nicht darauf zu sehen, welchen von beyden sie ihre Kinder untergeben. Es gilt ihnen gleich, Mägde an zu nehmen, sie mögen eine Sprache haben, wie sie wollen. Sie lassen es geschehen, daß ihre Kinder unter dem Gesinde herum lauffen, und mit andern Kindern spielen, von welchen sie sich keine gute Mund-Art angewöhnen. Ja öfters reden vorneme und gelehrte Eltern selbsten wie die groben Bauren […]. (ebd., 69)

Das als ‚Jesuitendeutsch‘ stigmatisierte Bairisch-Oberdeutsche ist seiner Argumentation zufolge geradezu der Antityp des Hochdeutschen. Dies ist für die zeitgenössische Diskussion ein durchaus typischer Stereotyp. Die Leitvarietät wird attribuiert mit den Eigenschaften „majestätisch“, „wörterreich“, „zierlich“, „schön“ und „einzigartig“ (ebd., Vorrede, 7f. → Hochdeutsch7). Sprachgeographisch setzt er das Hochdeutsche mit dem Meißnischen gleich (ebd., 103 → Hochdeutsch3, Meißnisch2/3). Der Verweis auf Martin Luther kann als sprachideologisch motiviertes Legitimationskriterium gewertet werden: Luther wird als Werkzeug Gottes bezeichnet (ebd., 22), dessen einzigartige und göttlich inspirierte Sprache (ebd., 23) sich schließlich in ganz Deutschland ausgebreitet habe. Insgesamt sei seine

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Wirkung sogar nachhaltiger und stärker als die jeder Grammatik gewesen (vgl. ebd., 26).82 Litzel verfolgt ein gesamtdeutsches, überkonfessionelles Projekt: die Durchsetzung einer überregional verbreiteten und anerkannten Leitvarietät in Gestalt des Hochdeutschen ostmitteldeutscher Grundlage. Seine durchaus progressiven Vorschläge, um die genannten Missstände zu beseitigen, lauten: − Erziehung der Kinder durch öffentliche Institutionen (ebd., 103), − Verbesserung der Lehrerausbildung und des Lehrmaterials, z. B. durch eine Kontrolle in Form von „Deutschen Gesellschaften“ (ebd., 102), − Dominanz des muttersprachlichen Unterrichts gegenüber dem Lateinunterricht (ebd., 101), − Erlernung des Meißnisch-Obersächsischen als Leitvarietät durch Lektüre vorbildlicher Schriften und Sprachkontakte (ebd., 103 → Meißnisch/Obersächsisch2/3, Hochdeutsch1/2/3), − Einrichtung einer allgemeinen „Deutschen Gesellschaft“, die nach dem Vorbild der französischen Akademie der Wissenschaften organisiert sein soll. Ziel ist die Normierung und Kodifizierung der Leitvarietät in Grammatiken, Wörterbüchern, Orthographielehren usw. (vgl. ebd., 104). Diesen Plan hat bereits der in Wien als kaiserlicher Rat tätige Carl Gustav Heräus, der mit Leibniz in Kontakt stand, in einer programmatischen Schrift einem Minister des Kaisers unterbreitet. Neben dem Appell an die katholischen Gebiete, die deutsche Muttersprache in den Schulen angemessen zu unterrichten und eine vehementere Sprachpflege zu betreiben, verfolgt die Schrift ein zweites Ziel: die Verbesserung und Aufwertung des Deutschen im europäischen Sprachenwettkampf (vgl. ebd., 5). Die textanalytischen Befunde lassen sich in dem bereits vorgestellten Schema des Leitvarietät-Topos zusammenführen:

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Litzel schreibt: „So hat auch D. Luther, da er die H. Schrift ins Deutsche gebracht, unsrer Muttersprache aufgeholffen. Unsre deutsche Bibel ist besser als tausend Grammatiken: Du findest darinnen mehr, als tausend Sprachmeister dir nicht sagen können: Sie zeiget dir, wie du gut Deutsch reden und schreiben solst: du trifst darinnen lauter Worte und Redensarten an, die das Wesen der Sprache selbsten vorstellen, und mit einer so naturlichen Zierlichkeit ausdrüken, als du in allen andern Büchern vergebens suchen wirst.“ (ebd., 26)

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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3.3.2.3 Zur Bewertung des Oberdeutschen und der Sprachkultivierung in Süddeutschland In der Rezension des „Parnassus Boicus“ (genauer der vier Bände von 1722-1727) in den „Beyträge[n] zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit“ (vgl. Anonymus BCH4 1736, 264-292) wird gleich zu Beginn deutlich, dass die ostmitteldeutschen Sprachkundler und Bildungseliten von einer Rückständigkeit des katholischen Südens ausgehen, die sowohl die Wissenschaften im Allgemeinen als auch die Poetik, Rhetorik und die Sprachkultivierung überhaupt betrifft: DJe Bayerischen Gelehrten haben ihre Bemühungen in der Gelehrsamkeit, und besonders in den genannten schönen Wissenschaften bisher so heimlich gehalten, daß man sie mit allem Rechte unter die lebendigtodten Bürger der gelehrten Welt hat zählen können. Am allerwenigsten hat man von ihnen vermuthet, daß sie sich um die deutsche Sprache, oder um die deutsche Rede= und Dichtkunst bekümmern sollen. Dieser Theil der Gelehrsamkeit, wenn uns unsere strengen Mitbrüder nur erlauben, Gelehrsamkeit und Deutsch mit einander zu verbinden! hat so gar in denen Landen, wo die Wissenschaften mit aller Freyheit, Munterkeit, um mit gutem Fortgange immer höher getrieben werden, noch wenige Beförderer, und unter den Gelehrten wenige Libhaber gefunden. Man hätte also an solchen Orten, wo dieselben in einer gewissen Sclaverey stehen, oder doch in sehr enge Grenzen eingeschlossen sind, eher alles andere, als eine kunstmäßige Erkenntniß

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

unserer Muttersprache, so geringe sie auch seyn könnte, gesuchet. Wir hoffen daher, es werde unsern Lesern nicht unangenehm seyn, wenn wir ihnen von so vielen Seltenheiten auf einmal, nemlich von einer Art eines gelehrten Tagebuches, das in Bayern, in deutscher Sprache geschrieben, und noch darzu einige Untersuchungen in der deutschen Sprache=Rede=und Dichtkunst in sich hält, eine nähere Nachricht geben. (ebd., 264f.)

Der Verfasser präsentiert summarisch einige der Schriften und Überlegungen aus den Beiträgen des „Parnassus Boicus“ und lässt diese in der Regel unkommentiert. Kommentiert werden allerdings diejenigen Stellen des „Parnassus Boicus“, in denen es um die Leitvarietät geht. So wird die weiter unten dargestellte Konzeption des Hochdeutschen in dem Beitrag „Wie die deutsche Sprache in gegenwärtig 18ten Saeculo in ihrer Zierde und Reinigkeit mehr ab=als zugenommen“ kommentiert, und zwar in Bezug auf die dort geäußerte Polemik gegenüber Luther. Zu der Kritik an Luther, der seiner obersächsischen Sprache nach Meinung des süddeutschen Autors die „Universal-Monarchie“ habe einräumen wollen, schreibt der mitteldeutsche Rezensent: „Lutherus war auch in der deutschen Sprachwissenschaft groß, und seine Verdienste um dieselbe liegen so klar am Tage, daß der alberne Einwurf des Bayerischen unförmlichen Tadlers durch seine bloße Anführung schon wiederleget ist.“ (ebd., 274) Ebenfalls kritisiert wird die in dem Beitrag des „Parnassus Boicus“ getroffene Behauptung, dass das Hochdeutsche nicht mit einer regionalen Varietät (bzw. der Sprache einer Nation) gleichzusetzen sei. Dass das Hochdeutsche auf eine regionale Varietät zurückzuführen sei, entspreche ganz der allgemeinen Erfahrung. Bestätigt wird von dem Verfasser in den „Beyträgen“ aber explizit die im „Parnassus Boicus“ geübte Selbstkritik in Bezug auf den Zustand der oberdeutschen Literatursprache: „Was die deutsche Poeterey betrifft, so urtheilet der Verfasser ganz recht, daß sie bey den Catholischen gänzlich darnieder liege […]. Welche klägliche Wahrheit er auch mit seinem eigenen Exempel bestätiget.“ (ebd., 282) Die Abwertung der oberdeutschen Schriftsprache fällt somit überaus drastisch und polemisch aus. 3.3.3 Anzeichen eines Sprachbewusstseins der Oberdeutschen 3.3.3.1 Historischer Kontext Für den süddeutschen Sprachraum kann bereits seit dem 16. Jahrhundert von einem Sprachnormbewusstsein ausgegangen werden, das pauschal als „süddeutsche Reichssprache“ (vgl. Mattheier 1989, 161) bezeichnet wird.

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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Im 18. Jahrhundert stehen sich eine oberdeutsche Literatursprache als Leitvarietät in den katholischen Gebieten (neben Bayern auch im Schwäbischen, Ostmittelfränkischen und Westmitteldeutschen) und eine ostmitteldeutsche schriftsprachliche Leitvarietät gegenüber. Die Durchsetzung der ostmitteldeutschen Schriftsprache erfolgt in Süddeutschland erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, wobei Österreich aufgrund der staatlich geförderten Sprach- und Kulturreform deutlich vor Bayern liegt.83 Die Diskussion über das Hochdeutsche verläuft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entlang der konfessionellen Demarkationslinien. Der konfessionelle Gegensatz wird durch die Vorherrschaft der Jesuiten im katholischen Bildungswesen entscheidend verstärkt.84 Das frühe Selbstbewusstsein der Sprachkundler aus dem oberdeutschen Sprachraum wird in den nachfolgenden Abschnitten anhand der frühaufklärerischen Münchner Zeitschrift „Parnassus Boicus“ aufgezeigt sowie am Beispiel der Konzeption der Leitvarietät von Antesperg in Österreich. Zu Beginn wird ein Vorschlag zur Einrichtung einer Akademie von Carl Gustav Heräus aus dem Jahre 1721 vorgestellt, die unter dem Vorsitz des Kaisers eine einheitliche, überregionale Schriftsprache befördern solle. Die sprachliche Entwicklung ist zwar in Süddeutschland, Bayern und Österreich im Detail unterschiedlich verlaufen, allerdings ist das von den ostmitteldeutschen Sprachkundlern vertretene sprachgeographische Vorbild des Hochdeutschen aus den gleichen Gründen abgelehnt worden. 3.3.3.2 Heräus’ Plan einer „Carolinischen“ Akademie Die 1721 erstmals erschienenen „Unvorgreifliche[n] Gedanken, über die Auf= und Einrichtung einer deutschen Sprachgesellschaft [...]“ (vgl. Heräus BCH2 1732, 267-280) dokumentieren ein Anliegen, dass von einigen Sprachkundlern dieser Zeit artikuliert wird: die Notwendigkeit einer staatlich geförderten Sprachnormierung und -kultivierung. Der kaiserliche Antiquitäten- und Medailleninspektor Carl Gustav Heräus aus Wien ist 83

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Über die Sprachnormierung in Bayern in der Zeit von 1450 und 1800 liegt eine umfassende Untersuchung von Tauber (1993) vor. Darüber hinaus ist vor allem auf die Arbeiten von Reiffenstein (1989, 1995, 2000) sowie Wiesinger (1983, siehe auch 1993, 1995) zu verweisen. In den reformierten Gebieten der Schweiz setzt die Durchsetzung der hochdeutschen Schriftsprache bereits mit der Verbreitung aufklärerischer Konzepte um 1730 ein, da hier keine konfessionellen Barrieren bestehen (vgl. Sonderegger 2003, Gessinger 1980, 104106). Eine genauere Analyse der protestantischen Gebiete in den katholischen Ländern würde allerdings den Rahmen dieser Untersuchung sprengen.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

von Leibniz selbst über dessen Pläne der Gründung einer Akademie informiert und beeinflusst worden. Heräus berichtet zu Beginn seiner Abhandlung von diesen Aktivitäten um die Gründung einer Akademie, die auch einem Minister des Kaisers unterbreitet worden seien (ebd., 269). In seiner Abhandlung verweist er zunächst auf die sprachkultivierenden Aktivitäten in Frankreich und knüpft auch an die Tradition der deutschen Sprachgesellschaften an, die bereits im 17. Jahrhundert um eine überregionale, deutsche Standardsprache gerungen haben. Die institutionelle Konzeption und die Arbeit der Sprachgesellschaften wird von Heräus durchaus kritisch gewürdigt. Eine wichtige Folgerung, die Heräus aus dieser Betrachtung zieht, ist, dass die Wahl der Mitglieder ungeachtet ihrer Standeszugehörigkeit erfolgen muss, und zwar auf der Grundlage ihrer sprachlichen bzw. sprachkundlichen Kompetenzen (ebd., 270f.). Die eigentliche Autorität solle die Gesellschaft oder Akademie aber dadurch erhalten, dass der Kaiser den Vorsitz dieser „Carolinische[n]“ (ebd., 274) Akademie erhalte, wenngleich auch in Vertretung durch einen Minister. Die Vorzüge des Deutschen sind nach Ansicht des Verfassers offensichtlich, so habe das Deutsche auch andere Sprachen wie das Niederländische, Schwedische und Dänische bereichert. Es sei keineswegs eine im lexikalischen Sinne „arme“ Sprache. Das Programm der Verbesserung bzw. Kultivierung des Deutschen, das Heräus vorschlägt, bezieht sich explizit auf das gesamte deutschsprachige Territorium: Ich bin nur bedacht, zu zeigen, wie die Besserung, so in der deutschen Sprache zu suchen ist, darinn bestehe: daß, weil sie höher steigen kann, sie sich aller ihrer Vortheile bediene. Zum andern, daß diese Vortheile durch alle Kreise des deutschen Kaiserthums gleich gemein werden, und nicht etwan von den Hochdeutschen allein erkannt, von denen Ober= und Niederländern aber, nach Unterscheid der wankenden, oder von dem gemeinen Gebrauch gar abgehenden Gewohnheiten, zweifelhaftig gelassen werden dürfen. (ebd., 272)

Diese Äußerung ist überaus bemerkenswert: Heräus fordert nicht nur die Einrichtung einer deutschen Sprachgesellschaft, die alle Territorien des deutschsprachigen Gebiets über alle konfessionellen Grenzen hinweg repräsentiert, sondern auch einen Anschluss an das Hochdeutsche als Leitvarietät, d. h. hier an den ostmitteldeutschen Sprachraum. Er räumt eine gewisse Vorbildlichkeit des Hochdeutschen ein, da in dieser Region bereits ein deutliches Bemühen um Sprachpflege zu erkennen sei (vgl. ebd., 275). Die Akademie solle aber Vertreter aller Sprachlandschaften aufnehmen, um dem Vorwurf einer Parteilichkeit zu entgehen. Allerdings, so die anschließende Einschränkung, beziehen sich seine Äußerungen nur auf eine überregionale Schriftsprache als Leitvarietät, die

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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mündliche Sprache bleibt von den Einigungsbemühungen ausgenommen (ebd., 272f.).85 Neben einigen praktischen Vorschlägen zur Einrichtung der Akademie nennt Heräus als ihre Aufgaben: − Untersuchung und Vergleich vorhandener Grammatiken, allen voran die Schottelius’, um eine durch die staatliche Autorität abgesicherte „deutsche Recht=Rede= und Schreibekunst“ (ebd., 277) herauszugeben. − Untersuchung des Wortschatzes und damit verbunden die Aussonderung von Fremdwörtern und ihre Ersetzung durch Neubildungen wie etwa „Botschafter“ für „Ambassadeur“ (ebd.), wobei Heräus keinen übertriebenen Purismus propagiert. − Die Einrichtung eines vollständigen deutschen Wörterbuchs (ebd., 278). − Die Erstellung einer allgemein gültigen Stillehre, um die „Zierlichkeit im Schreiben“ (ebd., 278) zu befördern.86 3.3.3.3 Hochdeutsch in den Beiträgen des „Parnassus Boicus“ Die frühaufklärerische Monatsschrift „Parnassus Boicus oder Neueröffneter Musenberg“ erscheint zu Beginn der 20er Jahre des 18. Jahrhunderts in München und ist ein frühes Signal der katholischen Aufklärung und der europäischen Akademiebewegung, die im protestantischen Norden bereits im 17. Jahrhundert zur Gründung zahlreicher Akademien und Sozietäten führt (vgl. Reiffenstein 1995, 308ff.). Als Herausgeber sind die Augustiner des Stiftes Polling in Bayern zu nennen (vgl. Reiffenstein 1995). Im Folgenden werden Beiträge von katholischen Gebildeten herausgegriffen, die sich mit der Bestimmung des Hochdeutschen und seinen Eigenschaften beschäftigen. Zum einen handelt es sich um fünf Abhandlungen von Gelasius Hieber (1671-1731), die in den Jahren 1723 bis 1725 erscheinen 85

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Heräus glaubt, dass die Verschiedenheit in der Aussprache durch weitere Sprachkontakte und Normierung der Aussprache in entsprechenden Lehrwerken beseitigt werde: „Die veränderlichen Mundarten und Aussprachen werden sich, nach einmal bestätigten gewissen Lehrsätzen, von selbsten schon verlieren, daß man nicht mehr den Unterschied eines B und P, D oder T vergessen und fragen dürfe, ob ein D weich oder hart sey?“ (ebd., 273) Die stilistischen Forderungen, die Heräus in Anlehnung an die Forderungen der Französischen Akademie formuliert, entsprechen den zeitgenössischen Forderungen, wie sie im Verständlichkeits-Dogma zum Ausdruck kommen: Vermeidung langer Sätze, unnötiger Parenthesen, „überflüssiger Beywörter“, zweideutiger Konstruktionen, einer zu sehr gekünstelten oder zu „platten“ Schreibart (ebd., 279).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

(vgl. [Hieber] PB 1723-25).87 Zweitens wird ein von dem Augustinermönch Agnellus Kandler (1692-1745) anonym veröffentlichter Beitrag herangezogen (vgl. [Kandler] ATS 1736). Kandler reflektiert in der Fortsetzung des „Parnassus Boicus“ von 1736 ebenfalls das Problem der Legitimation einer Leitvarietät. Der Augustinereremit Gelasius Hieber, einer der Gründer der Zeitschrift, diskutiert die Frage der Leitvarietät in einem anonymen Beitrag im „Parnassus Boicus“. Er geht davon aus, dass das Hochdeutsche um 1650 bereits den höchsten Stand an „Zierde“, „Vollkommenheit“, „Mannhaftigkeit“ und „Reinigkeit“ erreicht und im 18. Jahrhundert an „Zierde“ und „Reinigkeit“ abgenommen habe ([Hieber] PB 1723-25, 193). Hieber beruft sich auf die Kultivierung und Normierung des Deutschen durch geistliche und weltliche Instanzen wie Karl der Große, Kaiser Rudolph I. und Kaiser Maximilian sowie die Bischöfe. Die Kanzleien des Kurfürsten Maximilian I. werden als schriftsprachliches Vorbild charakterisiert. Das Ideal der Kanzleisprache ist als Gegentypus zu den vorbildlichen Textmustern der ostmitteldeutschen Sprachkundler zu verstehen, die vor allem auf fachwissenschaftliche Prosa und literarische Texte von Schriftstellern der Region verweisen. Hieber führt für den angeblichen Niedergang des Hochdeutschen im 18. Jahrhundert folgende Ursachen an: a. Einfluss der Fremdsprachen Hieber beurteilt den Einfluss der Fremdsprachen ganz ähnlich wie die Sprachkundler im ostmitteldeutschen Sprachraum. Eine übertriebene Vermischung des Deutschen mit Fremdwörtern wird zwar kritisiert (ebd., 194f.), insgesamt ist seine Position aber gemäßigt. Er toleriert Fremdwörter, die schon lange im Gebrauch sind (ebd., 293f.). b. „Die gezwungene Red- und Schreibart“ (ebd., 199ff.) Der Verfasser richtet sich gegen eine gekünstelte bzw. erzwungene Schreibung, etwa von f statt v (,Fatter‘ statt ,Vatter‘), gegen bestimmte Verbbildungen (wie ‚klügeln‘ nach ‚Klugheit‘, ‚bandeln‘ nach ‚Band‘) oder die Bildung von Neologismen, insbesondere von mehrgliedrigen Zusammensetzungen.

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Die Abhandlungen Hiebers werden mit dem Kürzel [Hieber] PB 1723-25 versehen. Es handelt sich um nachstehende Abschnitte des 2. Bandes: VII. Unterredung, 47. Bericht, 328 (1723), IX/65, 192-209 (1724), X/71, 287-309 (1724), XI/78, 383-409 (1725), XII/84, 479-492 (1725). In der Darstellung werden nur die Seitenzahlen zitiert.

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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c. Illegitimer Einfluss der Dialekte auf das Hochdeutsche (ebd., 203ff.) Der Verfasser lehnt die Identifizierung der Leitvarietät mit einer Sprachlandschaft ab (→ Hochdeutsch3). Seine Bestimmung des Hochdeutschen lehnt sich an die von Schottelius vertretene Hochdeutsch-Konzeption an. Damit richtet sich Hieber vor allem gegen die Vertreter des Sprachvorbild des Meißnisch-Obersächsischen. Der erreichte Sprachzustand soll quasi konserviert werden, da die Berücksichtigung aller regionalen Eigenheiten bei der Normierung der Sprache unweigerlich zu einer babylonischen Sprachverwirrung führe. Hiebers Ablehnung resultiert vor allem aus seiner Wertschätzung der oberdeutschen Schriftsprache. Als Vorbilder werden die Reichserlasse, die Schriften des Kaiserlichen Kammergerichts und die Reichskanzlei Maximilians I. (1571-1651) explizit genannt (ebd., 193f.). Die Aufwertung dieser Leitvarietät kommt insbesondere durch den Vergleich des Deutschen mit dem Griechischen zum Ausdruck: Ebenso wie im Fall des Deutschen habe das Griechische zwar eine Vielzahl von Dialekten besessen, als Vorbild der Schriftsprache habe aber die Sprache der Bildungseliten gedient (vgl. ebd., 207f.). Als Gegensatz zu diesem Sprachgebrauch gilt auch im oberdeutschen Sprachraum die Sprache der niederen Schichten, in seiner Abhandlung bezeichnet als das „pöbel-flüchtige Teutsch“ (ebd., 206f.). Wenngleich die konfessionellen Differenzen nicht in den Vordergrund gestellt werden, spricht Hieber doch von einem „katholischen“ und „protestantischen“ Dialekt und verknüpft sprachgeographische mit sprachideologischen Aspekten (ebd.). Diese Kritik auf die Spitze treibend, behauptet er, dass Martin Luther dem Obersächsischen die „universal Monarchi“ im Hochdeutschen zugestanden habe (ebd., 204f.). Das Hochdeutsche auf obersächsischer Basis wird somit als eine Art „Lutherdeutsch“ identifiziert und als „protestantischer“ Dialekt abgelehnt. Hieber fasst die „Lehrmeinung“ des „Parnassus Boicus“ zur Bestimmung des Hochdeutschen wie folgt zusammen: […] so sezet dann unser Parnassus Boicus das wahre Hochteutsche in keiner einzigen landlläuffigen Sprach nit / welche Sie auch seyn möge / dergestalten, daß dermahlen weder in Bayren / noch in Schwaben / noch in Francken / noch Sachsen / noch Main- noch Rheinstrom das wahre Hochteutsche nicht wird geredet / eben darumb / weil jede landläuffige Sprach sowohl in Aussprechung der Vocalen als Consonanten ihre Unförmbe / ja auch ihre eigene bey ihnen allein geltende Terminos und Wort heget […]. (ebd., 206f.)

An dieser Stelle zeigt sich eine deutliche Anlehnung an die Konzeption des Hochdeutschen von Justus Georg Schottelius. Die Sprachkundler, die eine Dominanz des Meißnisch-Obersächsischen bei der Sprachnormierung ablehnen, berufen sich in der Regel auf die analogistische Position.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Ausgehend von der ‚Grundrichtigkeit‘ oder inneren Regelmäßigkeit der Sprache soll bei sprachlichen Zweifelsfällen (etwa bei der Flexion) gemäß der Mehrheit ähnlicher Fälle entschieden werden. Die Ausführungen von Kandler im „Neu fortgesetzte[n] Parnassus Boicus“ wenige Jahre später zeigen, dass sich die Konfrontationslinien zwischen den protestantischen Sprachkundlern im Norden und in der Mitte Deutschlands und dem katholischen Süden im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts verhärten (vgl. [Kandler] ATS 1736). Kandler, ein Ordensbruder von Hieber, beharrt auf der Bestimmung des Hochdeutschen, das mit den Attributen „zierlich“, „gut“ und „rein“ attribuiert wird, als eine nicht durch eine einzelne Sprachlandschaft repräsentierte „Red- und Schreibart der Gelehrten“ (ebd., 68f.). Das Fehlen einer einheitlichen Hochsprache, und zwar im Sinne der gesprochenen wie geschriebenen Sprache, führt er darauf zurück, dass die Sprachkundler bei der Sprachnormierung vor allem lokalpatriotische Motive verfolgen und ihre eigene Sprachregion zum Vorbild erheben (ebd., 70f.). Die Vorbildfunktion des Obersächsischen lehnt Kandler ab, da es für ihn nur eine regionale Varietät ohne besonderes Prestige darstellt. Er gesteht dem Obersächsischen zwar eine besondere „Lieblichkeit“ und „Zärtlichkeit“ (ebd., 75f.) zu und bestätigt, dass es in einer Vielzahl von Textsorten verschriftlicht sei. Allerdings könne das Kriterium der Lieblichkeit der Lautung nicht als ein „Merkmal der wahren deutschen Sprache“ (ebd.) gelten. Die lautlichen Qualitäten des Deutschen charakterisiert er als „Donnergrollen Gottes“ (ebd.), das eher dem Oberdeutschen nahekomme, während das Obersächsische dem Schmeicheln Evas durch die Schlange gleichkomme (ebd.). An dieser Stelle zeigt sich eine deutliche Stigmatisierung der Leitvarietät der protestantischen Sprachkundler des ostmitteldeutschen Sprachgebiets. Auch andere Sprachkundler wie etwa der norddeutsche Sprachkundler und Theologe Raupach unterstellen dem Obersächsischen ein „Zischen“ (Raupach LSI 1704, 74f.), das bedeutet eine negative Qualität der Lautung. Dass Johann Christoph Adelung dem Oberdeutschen ebenfalls ein „Zischen“ (Adelung GKW/1 1774, IX) als Aussprachequalität zuschreibt, zeigt aber, dass es sich hier jeweils um die Stigmatisierung der Gegengruppe handelt. Die sprachlichen Befunde (wie hier bestimmte Eigenschaften der Aussprache) werden je nach Argumentationsziel bewertet. Eine Vereinheitlichung des Deutschen lehnt Kandler zwar nicht grundsätzlich ab. Er glaubt allerdings, dass diese Normierung nur durch staatliche Instanzen wie den Kaiser durchgesetzt werden kann, und plädiert für die Einrichtung einer Akademie mit entsprechenden Machtbefugnissen (ebd., 72f.). Diese moderne Forderung nach einer staatlichen

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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Normierungsinstanz ist durchaus bemerkenswert und in ähnlicher Form bereits von Gottfried Wilhelm Leibniz und Carl Gustav Heräus erhoben worden. Die selbstbewusste und lokalpatriotische Schlussfolgerung Kandlers lautet, dass „ein Patriot von seiner angebohrenen Mund-Art nicht so leichtsinnig abweichen und seine Zung und Feder ohne Noth in fremdes Geschirr zwingen solle.“ (ebd., 75f.) Die Bemühungen der katholischen Gebildeten im Umfeld des „Parnassus Boicus“ bleiben in Bezug auf die Infragestellung des ostmitteldeutschen Führungsanspruchs allerdings wirkungslos. Wenngleich die katholischen Frühaufklärer auf Konfrontationskurs mit den Jesuiten gehen und in Form der dargestellten Überlegungen sowohl ein starkes volksaufklärerisches Anliegen vertreten als auch von sprachpatriotischen Motiven geleitet werden, ist ihre Anbindung an die Schreibtradition der oberdeutschen kaiserlichen und kurfürstlich-bayerischen Kanzleisprache doch anachronistisch. 3.3.3.4 Von Antespergs Konzept der Gleichwertigkeit der Varietäten In Österreich setzt sich der aus Niederbayern stammende Kaiserliche Rat Johann Balthasar von Antesperg (1682-1765) als einer der ersten österreichischen Grammatiker mit der von Gottsched vertretenen ostmitteldeutschen Leitvarietät auseinander. Seine „Kayserliche Deutsche Grammatik“ erscheint bereits zwei Jahre vor Gottscheds „Sprachkunst“ im Jahre 1747 und ist damit die einzige in Österreich erschienene Grammatik vor derjenigen Gottscheds (vgl. Wiesinger 1997, 724ff.).88 Die zweite Auflage wird 1749 veröffentlicht. Er steht mit Gottsched in einem regen Briefaustausch und hat diesem und der „Deutschen Gesellschaft“ in Leipzig vorab Entwürfe seines Lehrbuchs zugesandt. Im Briefkontakt mit Gottsched bittet er um Prüfung seiner „Kayserlichen deutschen Sprachtabelle zur Verbesserung der deutschen Sprache“, die eine für den schulischen Gebrauch angefertigte Kurzdarstellung der Orthographie und Grammatik darstellt (vgl. Wiesinger 1995, 324). Gottsched rät dem Wiener Kaiserlichen Rat, seine Sprachnormen dem ostmitteldeutsch-norddeutschen Gebrauch anzupassen (vgl. Roessler 1997, 35). An dieser Stelle wird seine „Kayserliche Deutsche Grammatik“ berücksichtigt. In der Vorrede zu seiner Grammatik wird bereits in den Paragraphen I. bis IV. deutlich, dass es ihm um die Verbesserung der ober88

Bereits 1734 hat er eine kurze Darstellung der deutschen Orthographie und Grammatik veröffentlicht. Berücksichtigt wird im Rahmen der Untersuchung die Widmung an den Kaiser sowie die Vorrede (Antesperg KSGD 1747).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

deutschen Sprache geht. Da diese Absätze für seine sprachkultivierenden Absichten geradezu programmatisch sind, seien sie vollständig zitiert: §. I. Der Nutzen, die Ehre und der Ruhm wird dich hoffentlich aufmuntern, daß du eines kleinen Aufenthaltes und einer patriotischen Bemühung in deiner alleredlesten und wortreichesten Muttersprache dich nicht gereuen lassest: Dann es ist §. II. Nicht wenig zu betauren: daß unsere schöne und herrliche Sprache, welche der Himmel allein würdig geschätzt hat, die unüberwindliche deutsche Welt zu bewohnen, nicht wie andere von uns Deutschen hochgeschätzet, verbessert und ausgeübet worden. §. III. Daß die meisten vom Adel, auch lateinischgelehrte Männer in Deutschland auf fremde Sprachen so viel Zeit und Geld; hingegen aber auch auf die allerprächtigste hochdeutsche Grundsprache den allerwenigsten Fleiß anwenden. §. IV. Daß sie sich um derselben Reinigkeit und Richtigkeit nicht bekümmern, sondern in solcher öfters mit groben Schnitzern nur nach Gutdünken daher lallen, und ohne Wissenschaft dahin sudlen, und vermeynen, es sey schon genug, wann man sie zu unseren Zeiten mit harter Mühe verstehet. (von Antesperg KDG 1747, Vorrede A5r)

Somit beklagt von Antesperg die schlechte sprachliche Ausgangssituation in seinem Land.89 Gleichzeitig positioniert er sich wie seine mittel- und norddeutschen Kollegen im europäischen Wettstreit um die vorbildlichste Sprache. Darüber hinaus betont er, dass die Sprachkultivierung und der Fortschritt der Wissenschaften auch dem Gemeinwohl dienten, und vertritt damit dezidiert aufklärerische Positionen (ebd., A4r). Von Antesperg ist somit wie der „Parnassus Boicus“ der Augustiner in Süddeutschland in den Kontext der katholischen Aufklärungsbewegung zu verorten. Er beklagt wie die Sprachkundler aus dem Ostmitteldeutschen, dass es an einer deutschen Grammatik und einem deutschen Wörterbuch fehle (ebd., A3r). Sein erklärtes Ziel ist es, die Deutsche Sprache den anderen europäischen Prestigesprachen oder ‚Leitsprachen‘ an die Seite zu stellen.90 An dem vorangestellten Zitat sind zwei weitere Aspekte von Interesse: Erstens die deutliche Spitze gegen den Adel und die Gebildeten, deren Wertschätzung der Fremdsprachen er kritisiert. Dabei stilisiert er im 10. Paragraphen die Liebe zur Sprache zur patriotischen Pflicht, der alle Stände gleichermaßen nachkommen müssen: „Und dahero einjeder Deutscher, der sein Vaterland aufrecht liebet, sich in allen Ständen derselben

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Wiesinger schließt aus sehr ähnlichen Gedankengängen und Formulierungen, dass Antesperg mit der umfassenden Kritik Litzels am katholischen Schul- und Bildungssystem vertraut ist (Wiesinger 1995, 324). So heißt es da: „So wird aller Zweifel, Streit und Finsternuß in der deutschen Literatur sich von selbst verlieren. So werden wir Deutsche andern Völkern, die ihre Sprachen in höchsten Flor gebracht, und zu allen guten Künsten und Wissenschaften tauglich gemacht haben, ein Gleiches in der unsrigen nachthuen, und dieselbe wohl gar übertreffen. So wird der Deutsche Musenchor empor kommen […].“ (ebd., A4r, A4v)

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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vor andern billig recht befleissigen und sie nicht vernachläßigen sollte […]“ (ebd., A6). Im 21. Paragraphen stellt von Antesperg seine Konzeption einer Leitvarietät vor, die an diejenige von Schottelius erinnert, den er selbst als Vorbild erwähnt: Betreffend nun die Sprache selbst, so habe ich mich hierinne nach keiner Mundart, deren in Deutschland wenigstens 37 gezehlet werden, gerichtet, sondern nur auf den Grund und auf die von den Gelehrten angenommene deutsche Sprache gesehen: Dann man findet ganz gründlich, daß man weder in Griechenland, weder in Latio, weder in Italien, weder in Spanien, weder in Frankreich jemals also geredet habe, als die von den Gelehrten angenommene Sprache eingerichtet gewesen. (ebd., A7v)

Eine sprachgeographische Bestimmung der Leitvarietät lehnt von Antesperg somit ab. Die regionalen Schriftsprachen sind prinzipiell gleichwertig, zumindest kann keine einen eindeutigen Vorbildanspruch erheben. Er beruft sich bildungssoziologisch auf den Schriftsprachgebrauch der Gebildeten. Er spart auch nicht mit einer scharfen Kritik an den oberdeutschen Territorien, in denen ein „gar zu tief eingewurzelte[r] üble[r] Geschmack in der deutschen Schreibart, Poesie und Beredsamkeit“ bestehe (ebd., A8r). Antespergs Sprachnormpraxis ist – so Roessler (1997) – überaus tolerant, es werden häufig Doppelformen genannt, ohne jedoch eindeutig eine regionale Variante zu favorisieren.91 Die sprachgeographische Bestimmung der Leitvarietät durch Gottsched ist für ihn inakzeptabel. Seine Bestimmung des Hochdeutschen erinnert an Schottelius Definition einer überregionalen Ausgleichssprache. Die zum Teil vertretene Anlehnung an die meißnisch-obersächsische Leitvarietät ist vor allem aus von Antespergs Zielsetzung heraus zu erklären, die Schriftsprache in Österreich zu vereinheitlichen und eine normierte Schriftsprache für die öffentliche Verwendung zu etablieren. Eine normierte, kodifizierte und allgemein verständliche Sprache ist für ihn Grundlage des wissenschaftlichen wie kulturellen 91

Als Beispiel sei hier auf die Genusbildung der Substantive im Deutschen verwiesen. Antesperg schwankt zwischen dem Weglassen und Beibehalten des Endungs-e bei schwachen Feminina (vgl. Roessler 1997, 129ff.). Während bei Substantiven wie ‚Salb‘, ‚Schwalb‘, ‚Herd‘ usw. (Antesperg KDG 1747, 51) das Endungs-e getilgt werden soll, schlägt er vor, es bei schwachen Feminina wie ‚Ehe‘, ‚Ehre‘, ‚Erde‘ usw. beizubehalten (ebd., 52). Zusätzlich zählt er eine Reihe von Substantiven auf, bei denen beide Varianten zulässig sind: die ‚Farb(e)‘, ‚Gab(e)‘, ‚Garb(e)‘ usw. (ebd., 51). Die Vorschläge der Beibehaltung des Endungs-e bei den genannten Feminina widerspricht dem ostmitteldeutschen Sprachgebrauch und damit der Gottsched’schen Normsetzung. In den nachfolgenden Grammatiken im oberdeutschen Sprachraum setzen sich die Normen Gottscheds durch (vgl. Roessler 1997, 316).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Fortschritts.92 Diese Einschätzung teilt von Antesperg mit den Sprachkundlern Nord- und Mitteldeutschlands. 3.3.4 Hochdeutsch und Sprachbewusstsein in der Schweiz 3.3.4.1 Historischer Kontext Die Ausgangslage für die Durchsetzung einer einheitlichen Schriftsprache in der Schweiz, die seit 1648 staatsrechtlich nicht mehr zum Reich gehört, sind grundsätzlich verschieden von den Bedingungen in den anderen deutschsprachigen Arealen. Beispielsweise gibt es im Gegensatz zu Norddeutschland keine vergleichbare länderübergreifende Schriftsprachkultur. Ebenso formiert sich in der Schweiz kein konfessionell motivierter Widerstand gegen die Leitvarietät der protestantischen Sprachkundler aus Nordund Mitteldeutschland. Die Übernahme der neuhochdeutschen Schriftsprache vollzieht sich besonders in den Jahren von 1580 und 1650 (vgl. Sonderegger 2003, 2854). Im 17. und 18. Jahrhundert entsteht schließlich eine schweizerhochdeutsche Literatur-, Bibel- und Kanzleisprache als schriftsprachliche Form im Gegensatz zu den gesprochenen Dialekten. Bei der Übernahme der hochdeutschen Schriftsprache stehen sich im 18. Jahrhundert eine einheimische gesprochene Sprache und die fremde schriftsprachliche Leitvarietät konkurrenzlos gegenüber. Von Polenz spricht von einem scharfen Diglossieverhältnis zwischen dem fast nichtregionalen Schriftdeutsch, dem deutlich regional gebundenen „Schweizerhochdeutsch“ als kultivierte Hochsprache und dem stark lokal orientierten Dialekt als national-symbolische Volkssprache (vgl. von Polenz 1994, 171, 218ff.). Von einem schweizerischen Sprachbewusstsein kann aber schon seit dem 16. Jahrhundert gesprochen werden. Es kommt in Bezeichnungen wie ‚Eydgenössische Sprach‘, der ‚Helvetier Tütsch‘, ‚Schweizerisch‘, ‚Helvetisch‘, ‚Schwytzerisch‘, ‚unsere (eydtgenoßische) Landtsprach‘ zum Ausdruck (vgl. Sonderegger 2003, 2852). Die Sprachkundler aus Nord- und Mitteldeutschland subsumieren die schweizerische Kanzleisprache und die gesprochenen Dialekte in der Regel als das Schweizerische unter die oberdeutschen Dialekte (vgl. beispielsweise Freyer ATO 1722, 6f.). Der Konflikt zwischen der schweizerischen hochsprachlichen Schriftsprache und der gesprochenen dialektnahen Form auf der einen Seite und 92

Vgl. zu weiteren Ansätzen wie etwa von Friedrich Wilhelm Gerlach (1728-1802) oder Christian Gottlob Klemm (1736-1802) die Darstellung bei Wiesinger (1995, 329ff.).

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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dem Hochdeutschen meißnisch-obersächsischer Prägung auf der anderen Seite wird beispielhaft anhand von Schriften der Züricher Gebildeten Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger dargestellt. Allerdings geht es an dieser Stelle vorrangig um die Ablehnung des Vorbilds des Meißnisch-Obersächsischen, während in Kapitel 5 zum sprachideologischen Diskursbereich die ideologische Basis dieser Position näher erläutert wird. 3.3.4.2 Hochdeutsch und schweizerisches Sprachbewusstsein Gegenstand der folgenden Darstellung ist nicht das literatur- bzw. poetologische Konzept, das die Züricher Bodmer und Breitinger seit 1740 in Konfrontation zu der rationalistischen Position Johann Christoph Gottscheds bringt, sondern ihre Aussagen zum meißnisch-obersächsischen Sprachvorbild sowie ihre Konzeption einer Leitvarietät. Diese forschungspraktische Einschränkung auf bestimmte thematische Aspekte ihrer Schriften, die auch für die anderen behandelten Sprachkundler, Literaten und Philosophen gilt, ist unabdingbar, um das breite Spektrum an untersuchten Texten handhabbar zu machen. Sie ist insofern legitim, als die kontextuelle Einbindung ihrer Überlegungen in die jeweilig übergreifenden Fragestellungen ihrer Schriften immer dann berücksichtigt wird, wenn dies zur Erklärung und Beantwortung der hier relevanten Fragestellung beiträgt. Der Schweizer Philologen und Schriftsteller Johann Jakob Breitinger (1701-1776) und der Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber Johann Jakob Bodmer (1698-1783) arbeiten in der 1720 gegründeten „Gesellschaft der Maler“ und der „Helvetischen Gesellschaft“ eng zusammen. Ziel dieser Gesellschaft ist die Erforschung der schweizerischen Geschichte (vgl. Rohner 1984, 15). In verschiedenen Beiträgen des „Discourse der Mahlern“ (Bodmer/Breitinger DM 1721ff.) wird das Thema Sprache und Leitvarietät aufgegriffen. Sprache wird definiert als der „Gebrauch der in einer Societet regiert / ihre Begriffe mit bestimmten Worten zu bemercken / und denselben Worten eine gewisse Construction oder Ordnung zu geben.“ (Bodmer/Breitinger DM/1 1721, F3v) Sprache ist also an eine historisch-kulturelle Sprechergemeinschaft gebunden. Im sechsten Discours des ersten Teils findet sich eine ausführliche Darstellung grammatikalischer Grundbegriffe, angefangen von der Ebene der Buchstaben bis zur Verknüpfung von Wörtern im Satz (DM/1 1721). Die Kenntnis der exakten Wortbedeutungen und der Grammatik der Sprache sei unabdingbar für denjenigen Sprecher, der „deutlich reden

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

will“ (ebd., F2r). Als Prestigevarietät wird der Sprachgebrauch der Bildungseliten und oberen Schichten scharf von der Sprache der niederen Schichten abgegrenzt. Das ‚richtige‘ Deutsch lasse sich durch vorbildliche Bücher erlernen. Kritisiert wird die Orientierung am Latein als Wissenschaftssprache, die dazu geführt habe, dass der fachsprachliche Wortschatz nicht voll entwickelt sei. Blackall hat nachgewiesen, dass die „Discourse der Mahlern“ das selbst aufgestellte stilistische Ideal nicht einlösen (vgl. Blackall 1966, 53ff.). Zu den Verbesserungen des Stils, die sich in den späteren Beiträgen zeigen lassen, gehören vor allem die Ersetzung von Fremdwörtern und eine schlichtere Syntax (vgl. Rohner 1984, 45ff.). Mit der Gliederung des Deutschen in Dialekte und der Rolle des Meißnischen befasst sich Bodmer in der Vorrede zu Breitingers erstem Band der „Critischen Dichtkunst“ aus dem Jahr 1740 (Bodmer CD/1 1740).93 Die Unterschiede der Dialekte werden klimatheoretisch begründet. Ähnlich der politisch-gesellschaftlichen Verfassung, in der die Herrschaft auf begründeten Gesetzen beruhen sowie dem Guten und Nützlichen dienen solle, fordert Bodmer die Einrichtung der Sprachregeln aufgrund vernünftiger, rational hergeleiteter Normen. Insofern sind für seine Konzeption der Leitvarietät durchaus aufklärerisch-rationalistische Prinzipien maßgeblich (vgl. ebd., 4). Die Vorherrschaft des Meißnischen sieht er hier noch als durchaus berechtigt an, wenngleich er eine genauere Prüfung fordert. Die Konfrontation mit Gottsched tritt deutlich in der verbesserten und erweiterten Auflage der „Discourse der Mahlern“ zu Tage, der Zeitschrift „Mahler der Sitten“ (Bodmer/Breitinger MS/1 und MS/2 1746). In vielen einzelnen Stellungnahmen wird der „Tyrann“ in Leipzig herausgefordert und die meißnisch-obersächsische Leitvarietät in Frage gestellt. So wird die Frage aufgeworfen, warum nicht andere Sprachlandschaften dem Vorbild Meißens folgen könnten, und ihre eigene Sprachform kultivieren und verbessern sollten, anstatt den „Meißner-Dialekt“ (Bodmer/Breitinger MS/2 1746, 619f.) als Leitvarietät zu übernehmen. Bodmer und Breitinger sprechen dem Obersächsischen damit jene vorbildlichen Qualitäten ab, die die Vertreter dieser Leitvarietät zu seiner Legitimierung heranziehen, wie etwa die Kultivierung des MeißnischObersächsischen, sein Reichtum an Wörtern oder seine Kürze. Die sprachliche Vereinheitlichung auf der Basis des Ostmitteldeutschen wird von den Sprachforschern aus verschiedenen Gründen abgelehnt: 93

Die unvollständige Paginierung des Originaltextes wird durch eine Seitenzählung in arabischen Ziffern ersetzt.

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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a. Infragestellung des Sprachvorbilds des Meißnisch-Obersächsischen Die bereits erfolgte Normierung und Kodifizierung des Obersächsischen als Schriftsprache reiche nicht aus, seine Vorbildlichkeit zu legitimieren, diese Vereinheitlichung sei für alle anderen Regionen ebenso unproblematisch zu erreichen: Ich habe mit allen meinem Nachsinnen noch keinen tüchtigen Grund ausfinden können, warum eben der Meißner-Dialekt die Herrschaft haben sollte; warum andere Provinzen nicht eben so viel Recht haben sollten, ihre eigene Mundart auszubessern? Sagte man, andere Dialekte wären in keine Grammatick gebracht: Aber der sächsische eben so wenig; denn dergleichen Sprachlehren, wie die Sachsen haben, kan man vierzehn Tagen für eine jede Mundart der Deutschen machen. (ebd., 619)

Die Schweizer Sprachforscher stigmatisieren das Meißnisch-Obersächsische ebenso, wie das Schweizerisch-Alemannische bzw. das Oberdeutsche von den Sprachkundlern des ostmitteldeutschen Raums abgewertet wird. Sie charakterisieren das Obersächsische als „weitläufig“ (ebd., 561) und „langsam“ (ebd.). Ebenso beanstanden die beiden Sprachkundler, dass das Obersächsische im Vergleich zu anderen regionalen Varietäten keinen besonderen Wortreichtum und keine besondere Kürze aufweise (ebd., 619f.) und dass die tatsächlich realisierten Schriften aus dem obersächsischen Sprachraum keineswegs fehlerfrei seien. Als fehlerhaft gekennzeichnet wird die Verwendung von lateinischen und französischen Fremdwörtern (ebd., 491f.) sowie die Einführung von semantisch inadäquaten Verdeutschungen (ebd., 618f.). Die „Lieblichkeit in der Aussprache“ (ebd., 621) wird dem Meißnisch-Obersächsischen zwar zugestanden, sie sei allerdings eine zu vernachlässigende Größe (ebd., 399f., 400ff., 561). Im Gegensatz dazu wird die schweizerische Aussprache gelobt, etwa im Hinblick auf die Aussprache der Diphthonge (ebd., 622). b. Sprachqualitäten des Schweizerischen Das Schweizerische wird als Leitvarietät aufgewertet, neben der vorbildlichen Aussprache auch wegen seines Wortreichtums und seiner Kürze: Auch weder die Kürze noch der Reichthum geben der sächsischen Sprache einen besondern Vorzug. In Ansehen der Kürze wird man vieln andern Dialekten weit größere Vortheil wahrnehmen. In unserer schweizerischen Mundart offenbaret sich eine sehr merckliche Neigung für dieselbe. Wir können fast alle Ausdrücke; wozu die Sachsen das Hülfs-Wort werden nöthig haben, mit nur einem Wort geben; anstatt schön werden / starck werden / weiß werden, sagen wir schönen / starcken, weissen. (ebd., 619f.)

Außerdem reflektieren sie den Streit um die Leitvarietät als Konflikt widerstrebender regionaler Interessen. Die Konfrontationslinie verläuft ihrer

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Meinung nach zwischen den Schweizern und allen deutschen Völkern auf der einen Seite und den Vertretern des meißnisch-obersächsischen Sprachvorbilds auf der anderen Seite (ebd., 624). c. Das Schweizerische als überständisches Kommunikationsmedium Von besonderer Bedeutung ist die in den Schriften Bodmers und Breitingers häufig artikulierte Kritik an der Gottsched’schen Sprachnormierung wegen ihres politischen Gehalts. So artikulieren sie eine eindeutige Präferenz der schweizerischen Gesellschafts- und Verfassungsordnung, die für die anderen Länder als Vorbild gelten kann: Man kan nicht sagen, daß die deutsche Sprache in Deutschland, oder nur in einigen Provinzen Deutschlandes allgemein sey; denn wie kan sie da allgemein seyn, wo unter den verschiedenen Ständen und Classen der Einwohner keine Gemeinschaft ist; wo der hohe Adel nichts mit dem geringeren, der geringere nichts mit den neuern, dieser nichts mit den Bürgern, die Bürger mit den Bauern nichts gemeinschaftliches haben, wo einer den andern ausschliesset, vermeidet, wo jeder einen Stand für sich ausmacht, und in seinem Kreise bleibt. Wie kan unter ihnen die Sprache cirkulieren, wie können die Wörter und Redensarten der einen zu den andern überkommen, und von ihnen genuzet werden? (ebd., 625f.)

Bodmer und Breitinger kritisieren die strenge ständische Ordnung und Hierarchie in Deutschland als eine unüberwindbare Barriere bei der Genese einer die sozialen und regionalen Sprachformen überdachenden Leitvarietät. Ihre Kritik an der ständischen Verfasstheit wird an dieser Stelle überaus deutlich. Das Ideal einer allgemeinen, verständlichen Sprache impliziert somit eine liberale gesellschaftliche Ordnung, die eine Form des sozialen Austauschs ermöglicht, den die beiden Gebildeten in vorbildlicher Weise in der Schweiz realisiert sehen. Die Besinnung auf ihre eigene regionale Sprachvariante ist darüber hinaus sprachpolitisch motiviert und entspricht ihrem bürgerlichen Freiheitsverständnis: Das schlimmste ist, daß sie denselben [gemeint sind hier semantisch unadäquate Verdeutschungen] allen übrigen Kreisen und Provinzen Deutschlands aufdringen wollen. Wie weit sich eine Provinz in Ansehung der Sprache nach einer anderen, der sie nicht unterthänig ist, zu richten habe, ist nach meinem Erachten eine Frage, die überaus würdig wäre, von einem geschickten Manne untersuchet zu werden; denn das ist wahrhaftig wiederum nichts geringes für ein Volck, das diesfalls unter eines andern Herrschaft leben soll. Man zieht zu Felde ein Stück Landes zu beschützen, dessen sich der Feind bemächtigen will: und sollte man sich gegen die nicht wehren dürfen, welche uns die Freyheit unsere angebohrene Sprache zu reden rauben wollen? (ebd., 618f., vgl. auch ebd., 626f.)

Als positives Gegenbild ziehen sie die (idealisierten) Verhältnisse in Frankreich heran, dort sei die Schriftsprache die Sprache der „Standespersonen und der Gelehrten im gemeinen Umgange“ (ebd., 625). Er geht somit

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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davon aus, dass dort die gesprochene und geschriebene Sprache eng miteinander verbunden seien. d. (Regionale) Sprache als Ausdruck des Nationalcharakters Besonders wichtig ist die sprachideologische Argumentation: Das Schweizerische sei wie alle Sprachen und Dialekte Ausdruck eines spezifischen Nationalcharakters. Ein Sprecher, der das Hochdeutsche wie das Lateinische als Fremdsprache erlernen müsse, könne sich unmöglich in der fremden Sprache so ausdrücken, wie in der Muttersprache (ebd.). Nur diese Landessprache kann als identitätsstiftendes Medium dienen, deshalb kommt die Übernahme einer anderen Sprachform als Leitvarietät der Aufgabe der eigenen Sprache und Identität gleich. e. Die „schwäbischen Minnesinger“ In seinem Aufsatz „Die Gränzen der Sprachlehre“ (Bodmer GS 1779) plädiert Bodmer vehement für den sprachlichen Eigenwert der mittelhochdeutschen Literatur.94 Zu dieser Zeit hat Bodmer bereits eine Vielzahl mittelhochdeutscher Texte gesammelt und zum Teil auch publiziert (vgl. Rohner 1984 sowie Sonderegger 1995). Im Gegensatz zu Gottsched und zu vielen zeitgenössischen Sprachkundlern und Gebildeten, die den Beginn der deutschen Literatur mit Luther und Opitz ansetzen und in den Vorstufen keine besondere sprachlich-kulturelle Eigenleistung entdecken, erläutert er, warum die Texte mittelalterlicher Zeit als die erste Blüte der deutschen Literatur zu betrachten seien. Die Rolle Luthers als „Schöpfer“ des Deutschen wird von ihm überaus kritisch beurteilt. Er setzt Luthers Verwerfen bestimmter sprachlicher Formen mit der seiner Ansicht nach zu restriktiven Normierungspraxis Gottscheds gleich. Wichtig ist ihm die Feststellung, dass der Sprachkundler oder „Kunstrichter“ (ebd., 73) zwar durchaus Einwände gegen bestimmte sprachliche Wörter und Syntagmen älterer Sprachstufen erheben könne, dass diese aber nicht „gegen die Natur der deutschen Sprache“ (ebd.) verstoßen hätten. Luther habe zwar die Sprache ausgebildet und verändert, wobei er aber „sie in ihrem Grunde“ (ebd., 74) zerstört habe: Er legte den Grund dazu durch die Schreibart, die er sich in seinem Kopf entwarf, und durch die Wahl seiner Ausdrücke. Seitdem hat man die Sprache nach seinen gelegten Grundsätzen immer mehr ausgepuzt; man hat die verlornen Wör94

Der Aufsatz ist anonym in einem Band mit dem Titel „Literarische Denkmale von verschiedenen Verfassern“ (vgl. ebd.) erschienen. Die Verteidigung der mittelhochdeutschen Sprache gegen den Vorwurf, dass es sich um eine unentwickelte, barbarische Sprache handele, sowie ihre Attribuierung mit Stärke und Urtümlichkeit, wird bereits um die Jahrhundertmitte bei Bodmer artikuliert, vgl. hierzu Rohner (1984, 72ff. sowie 86ff.).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

ter durch andere ersetzt, wiewohl immer viele zu Grunde gegangen sind; man hat neue erfunden oder angenommen, welche die neuen Sitten, die neue Denkungsart, die Philosophie, Physik, Mechanik in die Sprache gebracht haben; vornehmlich der ausgebreitete Umgang mit Nationen von andern Sprachen. Diesen neuen Reichthum in die Sprache zu bringen, war in Wahrheit nicht nöthig, daß sie in ihrer Grundverfassung zerstört wurde. (ebd., 76)

Somit muss der Leser auch für die von ihm wenig später präsentierten Auszüge mittelhochdeutscher Texte den sprachlichen Eigenwert anerkennen. Die Verschiedenheit des Stils selbst erklärt Bodmer als eine Folge der historisch bedingten unterschiedlichen „Gemütsart“ und „Denkungsart“. Er verweist somit an dieser Stelle auf die unterschiedlichen kognitivmentalitären Eigenheiten der Literaten zu einer bestimmten historischen Stufe (ebd., 79). Vor der Präsentation dieser Auszüge bestimmt Bodmer allerdings die mittelhochdeutsche Zeit als erste klassische Epoche der deutschen Literatur vor Luther: Das Lob, das man Luthern freywillig mitgetheilet hat, ist ein wenig zweydeutig; daß unter keinem Volke ein Mann soviel an seiner Sprache gebildet habe. Wahr ist, daß er sie umgebildet, umgeschaffen hat. Lange vor ihm war eine Sprache, die ihre klaßische Schriftsteller hatte, welche es an Bestimmtheit in Absicht auf die Bedeutung der einzelnen Wörter und ihrer Verbindungen nicht hatten fehlen lassen; die auch für den Wohlklang gesorget, und den Reichthum der Sprache bis zur Bezeichnung kleiner Schattierungen und Abziehungen sehr abstrakter Begriffe vermehret haten. Selbst in dem Nachdruck und der Bequemlichkeit, den der Gedanke und die Empfindung von der Kürze empfängt, war sie nichts weniger als verwahrloset. (ebd., 73)

Die somit zum Vorbild stilisierte ältere Sprachstufe sei Luther allerdings in ihrer Ausprägung durch Wolfram von Eschenbach, Hartmann von der Aue oder Walther von der Vogelweide nicht bekannt gewesen (ebd., 75). Im Vergleich der Schriften Luthers und der der „schwäbischen Minnesinger“ (ebd., 77) müsse man erkennen, dass sie Meisterwerke ihrer Zeit seien und dass auch Luther die dort vorgetragenen Gedanken nicht besser hätte vortragen können (ebd., 77f.). Seine Argumentation zielt somit ganz wesentlich darauf, den Eigenwert und die Einzigartigkeit der älteren mittelhochdeutschen Literatur zu belegen. Das Alter des Schweizerischen gilt dabei als besonderer Wert, da im Sprachnormierungsdiskurs das hohe Alter einer Sprache ein besonderes Prestige genießt. Die in diesem Beitrag deutlich zu Tage tretende Wertschätzung der „schwäbischen Minnesinger“ als erste Klassiker der deutschen Literaturgeschichte vertieft Bodmer in einem weiteren Aufsatz mit dem Titel „Kühnheit der altschwäbischen Dichter, die Sprache und die Poesie zu bereichern“ (Bodmer KDS 1779), den er mit den Worten einleitet:

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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Es ist auffallend, daß die altschwäbische Sprache viel eigenthümliches hat, was der Nation, die es erfunden hat, Ehre machet. Die Menge schallender Selbstlaute, mit welchen sie unsere itzige Sprache übertrift, zeuget von einem Ohre, welches Wohlklang empfand und verstand. Sie hatte kleine Füllwörter, die allein zu diesem Ende dienten; sie ballete Wörter zusammen, ohne daß Härtigkeit daher entstand. Es fehlte ihr nicht an Partikeln, Vorwörtchen, an Ellipsen, an einem bedeutungsreichen Zeugefalle und andern Dingen, durch welche Kürze und Kraft in die Rede kam; ein starker Beweis, daß die Leute, die so redeten, mit Munterkeit sprachen, und mit Fertigkeit begriffen. (ebd., 81)

Dieser positiven Charakterisierung von sprachlichen Merkmalen, die Bodmer durch die Beschäftigung mit mittelhochdeutschen Texten gewonnen hat, folgt eine Diskussion sprachlicher Merkmale des „Altschwäbischen“ (ebd., 81). In Bezug auf die Diskussion um die Leitvarietät sind an dieser Stelle zwei Aspekte von Bedeutung: Zum einen zeichnet Bodmer eine Linie von der als Vorbild dargestellten mittelhochdeutschen Literatur der altschwäbischen Zeit in die Gegenwart, womit er das Oberdeutsche bzw. das Alemannische im Sprachnormierungsdiskurs aufwerten kann, da es sich nunmehr um die Sprachform handelt, in der zum ersten Mal eine literarische Hochkultur vorliegt. Zum anderen können einzelne Formen dieser Werke zum Vorbild für die Gegenwart erhoben werden, wodurch Bodmer seine Sprach- und Literaturkonzeption gegenüber Gottsched absichert. Zum Beispiel heißt es in Bezug auf die Metaphern: Ist es Furcht vor den Sprachlehrern, daß unsere Dichter sich die Redensarten von dieser metaphorischen Form nur selten erlauben, welche doch dem Gebiete des Grammatikers unterwürfig sind; oder steht man noch in der alten gottschedischen Meinung, daß neue Metaphern, wiewol in dem Verhältnisse der Dinge mit dem Begriffe gegründet, undeutsche Barbarismen seyn? (ebd., 86)

Der entscheidende Grund für die Ablehnung des MeißnischObersächsischen ist die vollzogene Besinnung auf die eigene Sprache, die den Beginn der Konstituierung einer schweizerischen Identität darstellt. Dabei geht es Bodmer und Breitinger wie den norddeutschen Verteidigern des Niederdeutschen nicht darum, ihre eigene Sprachform zur „gesamtdeutschen“ Leitvarietät zu erheben, sondern ihre Eigenständigkeit zu bewahren:

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Trotz ihrer Wertschätzung des Alemannischen und Mittelhochdeutschen und trotz ihrer sprachhistorischen Erkenntnisse schließen sich Bodmer und Breitinger mit ihren eigenen Schriften weitgehend an die hochdeutsche Schriftsprache an.95 Diese überaus signifikante Widersprüchlichkeit erklärt Schlosser in einem Aufsatz zu den Leitvarietätkonzeptionen Gottscheds und der „Schweizer“ als Ergebnis einer „[…] »kognitiven Dissonanz« zwischen dem patriotischen Wunsch nach einer alemannischen Literatursprache und der Einsicht, daß Sachsen, d. h. die obersächsischmeißnische Literatursprache in orthographischer wie phonologischer Hinsicht bereits obsiegt hatte.“ (Schlosser 1985, 64) Insofern der Diskurs über das Hochdeutsche in einer überregionalen, von regionalen Sprachformen weitgehend befreiten Leitvarietät stattfindet, an dem die Diskursakteure nur partizipieren können, indem sie diese „diskursiven Spielregel“ beachten, ist dieser Einschätzung voll und ganz zuzustimmen. Von besonderer Bedeutung ist darüber hinaus, dass Bodmer und Breitinger ihre Auffassungen zum Nationalcharakter und ihr sprachpatriotisches Bemühen um die Rekonstruktion der Geschichte der Schweiz

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So resümiert Schlosser, dass Breitinger trotz einiger weniger Helvetizismen seine theoretischen Überlegungen nicht praktisch umsetzt (vgl. Schlosser 1985, 64).

3.3 Regionale Prestigevarietäten und Stigmatisierungstendenzen (1700 bis 1748)

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„praktisch“ umgesetzt haben (vgl. Sonderegger 1995).96 Bodmers kommentierte Auswahlausgabe von Liedern aus der Manessischen Handschrift von 1748 hat zu einer Vielzahl ähnlicher Ausgaben von Texten älterer Sprachstufen geführt.97 Das Interesse Bodmers und Breitingers gilt aber nicht nur den alten Schriften an sich, sondern ist eingebunden in ein umfassenderes Forschungsprogramm, das die Geschichte, die Kultur und die Mentalität zum Gegenstand hat, in der zeitgenössischen Terminologie der „Gemüts- und Gedenkensarten“ (Breitinger CD/2 1740, 143f.) der Schweizer bzw. der Nationalcharaktere überhaupt zu Tage bringen soll. Insbesondere ist dieses „archäologische Projekt“ der Erforschung der eigenen Geschichte dazu geeignet, Koordinaten für die kulturelle Identität zu stiften, trotz der politischen Fragmentierung des deutschen Reichs in eine Vielzahl von absolutistischen Kleinstaaten, der Dominanz französischer Sprache in Literatur und Kultur sowie des Lateins in den Wissenschaften und Künsten. 3.3.5 Zusammenfassung: Die sprachgeographische Bestimmung des Hochdeutschen bis 1748 Die in den Grammatiken, Wörterbüchern, Stillehren, Lehrbüchern und anderen sprachreflexiven Schriften vorgestellten Konzeptionen einer Leitvarietät sind Ausdruck der bereits seit dem 17. Jahrhundert vollzogenen Vertikalisierung des Varietätenspektrums (vgl. Reichmann 2000). Die Konzeption einer Leitvarietät, die von den jeweiligen Diskursakteuren vertreten wird, ist abhängig von verschiedenen Faktoren. Besonders wichtig sind die Präferenzen der jeweiligen regionalen Varietäten, wobei diese in der Regel als eine komplexe Kombination von Schriftsprache und sprachsoziologisch der gesprochenen und geschriebenen Oberschichtensprache betrachtet werden. Neben den sprachbezogenen Aspekten spielt auch die Konfession und der Wirkungsort sowie die Positionierung im europäischen Wettstreit um die ‚Leitsprache‘ eine Rolle für die jeweils vertretene Hochdeutsch-Konzeption. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts trägt der Sprachnormierungsdiskurs eine signifikante konfessionelle Signatur, so wird im überwiegend protestantischen Nord- und Mitteldeutschland eine Leitvarietät vertreten, die sprachgeographisch auf das Meißnisch-Obersächsische festgelegt ist. Im überwiegend katholischen oberdeutschen Sprachraum wird 96 97

Vgl. hierzu Rohner (1984, 16f.), der u. a. auf die „Bibliotheca Scriptorum Historiae Helvetica universalis“ und den 1735 erschienenen „Thesaurus Historiae Helveticae“ verweist. Vgl. außerdem Rohner (1984) sowie Debrunner (1996).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

hingegen die Leitvarietät vorrangig an die kanzleisprachliche Tradition (vor allem Maximilian I.) angelehnt, das bedeutet eine oberdeutsch geprägte schriftsprachliche Varietät. Insofern die Mehrheit der Sprachkundler eine Orientierung an der Sprache der Bildungseliten und Oberschichten fordert, wird zum Teil eine Orientierung am mündlichen Gebrauch bestimmter sozialer Schichten verlangt. Das konfessionelle Moment schwächt sich allerdings im Zuge der durch die Aufklärung vorangetriebenen Säkularisierung allmählich ab, eine letzte deutlich konfessionell motivierte Ablehnung der meißnisch-obersächsischen Leitvarietät stammt aus dem süddeutschen Raum: die „Observationes“ des Mönchs Augustin Dornblüth (vgl. Dornblüth Obs 1755). Die Sprachkundler des ostmitteldeutschen Sprachraums etablieren seit dem 17. Jahrhundert erfolgreich ein Hochdeutsch-Konzept, das sich maßgeblich aus folgenden Komponenten zusammensetzt, die ihre Wirkungsmacht wesentlich aus ihrem Zusammenspiel beziehen: − Sprachgeographisches Kriterium: Hochdeutsch ist mit dem Meißnisch-Obersächsischen gleichzusetzen (→ Hochdeutsch3, Meißnisch/Obersächsisch2/3). − Sprachsoziologisches Kriterium: Hochdeutsch ist die Sprache der oberen Schichten und der Bildungseliten (→ Hochdeutsch1). − Stilistisches Kriterium: Hochdeutsch ist die Sprache vorbildlicher Textsorten, womit allgemein Fachprosa verschiedener Wissenschaftsdisziplinen und im engeren Sinne die (vor allem ostmitteldeutsche) Literatursprache gemeint sind (→ Hochdeutsch2). Die Schriftsprache muss wiederum bestimmte Kriterien erfüllen (vgl. Kapitel 6). − Sprachideologisches Kriterium: Hochdeutsch ist die Sprache der Reformation und Martin Luthers. Das Leitbild Luthers spielt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den untersuchten Texten nur noch eine marginale Rolle. Abschließend ist auf die sprachideologische Ineinssetzung seiner Sprachform mit dem Meißnisch-Obersächsischen hinzuweisen. So hat Peter von Polenz gezeigt, dass Luther zwar in dem bekannten Zitat in den Tischreden von 1532 von der „Sächsischen Kanzlei“ spricht, allerdings meint Luther damit die Wittenberger Kanzlei seines Landes und nicht den im obersächsischen Dresden residierenden Fürsten (vgl. von Polenz 1986). Die Bezeichnung ‚Sachsen‘ referiert zu dieser Zeit auf den Raum Wittenberg, Torgau und Sangershausen und nicht den Meißner Raum. Luther habe sich als Sachse in diesem älteren Sinne verstanden. Die Inanspruchnahme Luthers als Repräsentant einer meißnisch-obersächsischen Sprachform, die bereits im 16. Jahrhundert nachzuweisen ist, überdeckt diese sprach-

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geographische Differenz. Konstruiert werde ein Kausalzusammenhang zwischen dem Sprachprestige des Meißnischen und Luthers Ansehen als Reformator, Bibelübersetzer und Schriftsteller.

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

3.4.1 Zur Konzeption einer Leitvarietät bei Johann Christoph Gottsched Johann Christoph Gottscheds „Grundlegung einer deutschen Sprachkunst“ erscheint erstmals im Jahre 1748. Zur Analyse wird die fünfte Auflage seiner Grammatik von 1762 herangezogen, wobei seine Konzeption einer Leitvarietät im Mittelpunkt steht.98 Gottscheds „Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst“ enthält vier Bereiche: Rechtschreibung, Etymologie, Syntax und Prosodie. Gleich in der Einleitung wird die „Sprachkunst“ definiert: „Eine Sprachkunst überhaupt ist eine gegründete Anweisung, wie man die Sprache eines gewissen Volkes, nach der besten Mundart desselben, und nach der Einstimmung seiner besten Schriftsteller, richtig und zierlich, sowohl reden, als schreiben solle.“ (Gottsched DS 1762, 1)99 Die Sprachkunst ist somit eine Anweisung, die beste Mundart eines Volkes „richtig“ und „zierlich“ in der Schriftsprache wie in der gesprochenen Sprache zu beherrschen (vgl. ebd.). Die beiden Kategorien ‚richtig‘ und ‚zierlich‘ sind der antiken Tradition der Rhetorik entlehnt und werden ergänzt um die stilistische Forderung, dass die Leitvarietät den Texten der besten Schriftsteller entsprechen müsse.100 Die Kategorie der ‚(Sprach-) Richtigkeit‘ bezieht sich auf die Übereinstimmung mit lexikalischen und grammatischen Normen des Sprachgebrauchs, während ‚Zierlichkeit‘ eine angemessene Verwendung von Tropen und Figuren meint. Die zentrale Aufgabe seiner Sprachkunst ist die Verbreitung des Hochdeutschen in den Sprachlandschaften der Peripheriegebiete (ebd., 2). Diese normative Grundhaltung entspricht dem im zweiten Abschnitt der 98

Die ersten drei Auflagen erscheinen unter dem Titel „Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst“. Ab der 4. Auflage von 1757 erscheint die Grammatik unter dem Titel „Vollständigere und Neuerläuterte Deutsche Sprachkunst“. 99 Die Fußnoten, auf die im Original verwiesen wird, werden hier und in den folgenden Zitaten nicht berücksichtigt. 100 Gottscheds Konzeption einer Leitvarietät basiert ganz wesentlich auf den Kategorien der antiken Rhetorik, wie etwa ‚Vollkommenheit‘ der Sprache, die an Kriterien wie ‚Reichtum‘, ‚Deutlichkeit‘, ‚Kürze‘ oder ‚Nachdruck‘ sowie ‚Wohlklang‘ geknüpft wird (ebd., 15f.). Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 6.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Sprachkunst ausführlich vorgestellten aufklärerischen Ideal einer deutlichen, klaren und allgemein verständlichen Sprache. Für Gottsched hat die Darstellungsfunktion der Sprache das größte Gewicht. Die Sprache selbst wird definiert als „das Mittel, wodurch man seine Gedanken, und zwar in der Absicht ausdrückt, daß sie von andern verstanden werden sollen.“ (ebd., 41) Um dieses Ziel zu gewährleisten, ist seiner Ansicht nach die Befolgung der aufgestellten Sprachnormen zwingend notwendig. Die von Gottsched anvisierte Leitvarietät ist eine bestimmten stilistischen Kriterien genügende, den grammatischen und lexikalischen Normen entsprechende Sprache, die sowohl schriftsprachlich als auch mündlich realisiert wird. Eine sprachgeographische Determinierung erfolgt aber zunächst nicht (vgl. ebd., 2). Die in Deutschland überregional bereits realisierte „Hauptsprache“ (ebd.) wird als „hochdeutsche Mundart“ (ebd., 69) definiert. Geographisch werden vier wichtige Mundarten des Hochdeutschen unterschieden und vom Niederdeutschen abgegrenzt: das Österreichische, das Schwäbische, das Fränkische und das Meißnische (ebd.). Der Begriff „Mundart“ ist in Gottscheds Schriften polysem, gemeint sein kann im sprachgeographischen Sinne eine regionale Varietät, im sprachsoziologischen Verständnis die „Mundart der Gelehrten“ als bildungsbürgerlicher Ausschnitt der Gesellschaft oder in medialer Hinsicht die Schriftsprache. Die Schriftsprache gilt ihm als Vorbild, da sie mehr Regelhaftigkeit aufweise, als die mündliche Sprache (vgl. ebd., 3f.). Die zum Vorbild erhobenen Schriftsteller sollten zwar unterschiedlichen Regionen angehören, aus seiner Aufzählung von Schriftstellern geht aber bereits ein Übergewicht des nord- und mitteldeutschen Sprachgebiets hervor (vgl. ebd., 4).101 Welche Mundart Deutschlands als die beste deklariert werden kann, bleibt zunächst unbeantwortet. In einer Fußnote schreibt Gottsched: Doch ist noch zu merken, daß man auch eine gewisse eklektische, oder ausgesuchte und auserlesene Mundart zu reden, die in keiner Provinz völlig im Schwange geht, die Mundart der Gelehrten, oder auch wohl der Höfe zu nennen pflegt. Diese hat jederzeit den rechten Kern einer Sprache ausgemacht. In Griechenland hieß sie der Atticismus, in Rom Urbanitas. In Deutschland kann man sie das wahre Hochdeutsche nennen. (Gottsched DS 1762, 2f.)

Die Bestimmung des Hochdeutschen als eine Sprache, die das Beste aller anderen Mundarten in sich vereint und dennoch keiner regionalen Varietät in toto gleichkommt, entspricht der Bestimmung des Hochdeutschen durch Justus Schottelius (siehe Kapitel 3.2). Gleichzeitig wird die Leitvarietät sprachsoziologisch an die „Gelehrten“ und die Fürstenhäuser ange101 Gottsched bezieht sich auf diejenigen Schriftsteller, die „den Vorzug der wahren hochdeutschen Mundart“ längst anerkannt haben (vgl. ebd., 12).

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

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bunden. Das sprachsoziologische Vorbild der ‚Höfe‘, das in der „Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst“ wiederholt auftritt (vgl. auch ebd., 3), ist allerdings eher als ein Zeichen für das Umwerben des eigenen Fürstenhauses zu bewerten, denn als Beschreibung der sprachlichen Wirklichkeit seiner Zeit.102 Durch den Sprachvergleich mit dem Griechischen und Lateinischen kommt eine axiologische Aufladung des Hochdeutschen zum Ausdruck; die Leitvarietät ist konzipiert als eine prestigereiche Hochsprache. Die Anlehnung an die nicht-regionalistische Hochdeutsch-Konzeption Schottelius’ und seiner Anhänger wird zusätzlich verstärkt durch die explizite Inanspruchnahme des Kriteriums der Analogie. So schlägt Gottsched angesichts der regionalen Differenzierung des Deutschen und des kritisierten Gebrauchs von Fremdwörtern vor, die Analogie zur Entscheidung über die Regelhaftigkeit einer Sprachform heranzuziehen (vgl. ebd., 5). Analogie wird definiert als die aus der Mehrheit der übereinstimmenden Beispiele in der Wortbildung oder Flexionsmorphologie ermittelte Regel (vgl. ebd.). Das Verfahren erläutert Gottsched am Beispiel der Konjugationsformen starker Verben. Wenn die Mehrheit dieser Verben gebildet wird nach dem Muster: ‚gebe‘, ‚gab‘, ‚gegeben‘; ‚gehe‘, ‚ging‘, ‚gegangen‘; ‚sehe‘, ‚sah‘, ‚gesehen‘, dann müsse ‚gewest‘ als die oberdeutsch-bairische PartizipPerfekt-Form von ‚sein‘ als regelwidrig klassifiziert werden. Diese regionale Variante müsse deshalb ausgeschlossen werden, während die Form ‚gewesen‘ als regelkonform gelten könne (vgl. ebd., 6). Weil die Analogie in sprachlichen Zweifelsfällen als Entscheidungskriterium allein nicht ausreicht, greift Gottsched neben der Analogie auf die „Gewohnheit“ (ebd.) zurück, womit er den tatsächlichen Sprachgebrauch in der Region mit dem größten Prestige meint. Dies sei an folgenden Konjugationsformen erläutert:

102 Der Sprachgebrauch der „Ungelehrten“ und des „Pöbels“ (ebd., 3) gilt als negative Kontrastfolie; die Abwertung dieser Sprechergruppen zieht sich wie ein roter Faden durch seine Grammatik, vgl. die Ausführungen zum sprachsoziologischen Diskursbereich.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

1. Pers. Sg. Ind. Präs.

1. Pers. Sg. Ind. Prät.

a. analog gebildete Formen, die keiner Sprachregion zugeordnet werden

‚ich schlage‘, ‚ich trage‘

‚ich schlug‘, ‚ich trug‘

b. niedersächsische Formen, die analog zu I. gebildet sind

‚ich frage‘, ‚ich jage‘

‚ich frug‘, ‚ich jug‘

c. oberdeutsche Formen

‚ich frage‘, ‚ich jage‘

‚ich fragete‘, ‚ich jagete‘

Die unter a. genannten Formen klassifiziert Gottsched als regelkonform, da sie der Analogie gemäß gebildet seien. Wenn der Gebrauch in unterschiedlichen Sprachregionen Abweichungen aufweist (vgl. die PräteritumVarianten unter b. und c.), muss nach Gottsched der übereinstimmende Gebrauch der Mehrheit zur Beurteilung herangezogen werden. Als Beurteilungsgrundlage reicht aber der Sprachgebrauch in einer bestimmten Region nicht aus. Schließlich ist die Präteritumform ‚frug‘ in Analogie zur Präteritumform von ‚tragen‘ gebildet. Zur Normfindung dient deshalb das Prestige der Varianten: Da die oberdeutschen Varianten (c.) prestigeträchtiger seien, müssen sie den niedersächsischen Formen (b.) vorgezogen werden. Anders formuliert, muss der Sprachkundler zur Entscheidung, welche der konkurrierenden Varianten als richtig zu klassifizieren ist, die allgemein im Gebrauch befindliche und prestigeträchtigste Form bestimmen (vgl. ebd., 7). Dieser Sprachgebrauch wird in der Regel mit dem obersächsischen Sprachgebrauch identifiziert, wenngleich das Beispiel belegt, dass Gottsched nicht alle oberdeutschen Formen verwirft. Die Autorität des Meißnisch-Obersächsischen zeigt sich in seiner Grammatik in einzelnen Fragen der Syntax und der Orthographie. Beispielsweise muss die Rechtschreibung nach der Aussprache der besten Mundart eingerichtet werden (vgl. ebd., 67). Wenngleich durchaus Varianten innerhalb des Obersächsischen eingeräumt werden, sei das Obersächsische bereits als Leitvarietät in Deutschland anerkannt: Ganz Deutschland ist schon längst stillschweigend darüber eins worden. Ganz Ober- und Niederdeutschland hat bereits den Ausspruch gethan: daß das mittelländische, oder obersächsische Deutsch, die beste hochdeutsche Mundart sey; indem es dasselbe überall, von Bern in der Schweiz, bis nach Reval in Liestland, und von Schleswig bis nach Trident in Thyrol, ja von Brüssel bis Ungarn und Siebenbürgen, auch im Schreiben nachzuahmen und zu erreichen suchet. (Gottsched DS 1762, 69)

Für die Bestimmung, welche Sprachlandschaft das größte Prestige besitzt, führt Gottsched eine Reihe von Bedingungen an: Sie muss die „besten

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

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Schriftsteller“ aufweisen, ihr Schulwesen muss besonders ausdifferenziert und ausgebaut sein, der Buchdruck und -handel und die gesamte Kommunikationskultur und Wissenschaft muss hoch entwickelt und darüber hinaus muss die sozietäre Sprachpflege in dieser Region besonders etabliert sein (vgl. ebd., 67f.). Dieser langen Liste von Bedingungen genügt nach Gottsched nur eine Region: Kursachsen. Die Vorbildlichkeit des Obersächsischen beruht auf der behaupteten kulturellen und wirtschaftlichen Blüte der Region. In der sechsten Auflage der „Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst“ macht Gottsched explizit deutlich, welche geographische Extension das Obersächsische in seiner Sprachkonzeption erfahren hat. Es reicht über die kursächsischen Gebiete weit hinaus und umfasst das Vogtland, Thüringen, Mansfeld und Anhalt, die Lausitz und Niederschlesien (ebd., 68). Die sprachgeographische Leitvarietät wird flankiert von der sprachsoziologischen Einschränkung, dass nur der Sprachgebrauch der Oberschichten in den Städten als Leitvarietät gelten kann (vgl. ebd., 68, 403). Verstärkt wird seine Leitvarietätkonzeption durch die sprachideologische Überhöhung der literarischen Entwicklung im ostmitteldeutschen Raum. Gottsched spricht bekanntermaßen von dem goldenen Zeitalter des Deutschen zur Regierungszeit der Kurfürsten Friedrich Christian August (1722-1763) und Friedrich August (1750-1827). Damit versichert sich Gottsched vor allem des Zuspruchs des Kursächsischen Hofes.103 Die These einer erreichten absoluten Vollkommenheit der Sprache kann außerdem als Ausdruck seines aufklärerischen Fortschrittsoptimismus gewertet werden. Die Forderung, das erreichte vollkommene Entwicklungsniveau des Deutschen zu bewahren, widerspricht allerdings seiner selbst aufgestellten Forderung, den stetigen Wandel des Sprachgebrauchs zu berücksichtigen (vgl. ebd., 19). Die von Gottsched konzipierte Leitvarietät wird zusätzlich abgegrenzt von konkurrierenden (potenziellen) Leitvarietäten. In sprachgeographischer Perspektive wird eine Vorbildlichkeit des Oberdeutschen abgelehnt, begründet wird diese Position mit der erfolgten Verschiebung des kulturellen Zentrums vom Rhein und dem schwäbischen Sprachgebiet hin zum obersächsischen Sprachraum, die Gottsched mit der Reformation datiert (ebd., 105). Außerdem wendet sich Gottsched gegen das Vorbild der Kanzleisprache (ebd., 540). Eine Wertschätzung und Privilegierung des Mittelhochdeutschen bzw. des Alemannischen durch Bodmer und Breitinger lehnt er ebenfalls entschieden ab (vgl. ebd., 17). 103 Gottsched spricht sich selbst von jeder lokalpatriotischen Parteilichkeit frei, da er selbst kein gebürtiger Meißner sei (vgl. ebd., 403).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

In der Mitte des 18. Jahrhunderts ist Johann Christoph Gottsched die Autorität im Sprachnormierungsdiskurs und findet zahlreiche Anhänger, nicht nur im protestantischen Nord- und Mitteldeutschland, sondern auch in Süddeutschland, Österreich und in der Schweiz, ebenso wie er in allen Sprachregionen heftige Kritik auf sich zieht. Seine diskursdominierende Position beruht weniger auf seinen grammatikographischen Leistungen, sondern ist vielmehr das Ergebnis seiner sprachpolitisch überaus geschickten Positionierung und Durchsetzung in Sprachnormfragen.104 Gottscheds Sprachnormierungsvorschläge setzen sich in den Jahren 1765 bis 1780 als schriftsprachliche Norm durch (vgl. Jakob 1999).105 Der enorme Erfolg seiner Grammatik zeigt sich nicht zuletzt auch in den rasch aufeinander folgenden Auflagen sowie Übersetzungen seiner „Deutschen Sprachkunst“ (vgl. Roessler 1997, 30). Darüber hinaus haben seine grammatikographischen Schriften großen Einfluss auf die Grammatiken und Schullehrbücher im oberdeutschen Sprachraum (vgl. Jahreiß 1990, 250f.). Ein deutliches Zeichen für die Wirkung der Gottsched’schen Sprachnormierung ist seine Akzeptanz bei den Jesuiten wie etwa dem Innsbrucker Ignaz Freiherr von Weitenauer. Letztendlich kommt niemand, der sich nach dem Erscheinen Grammatik Gottscheds mit der Grundlegung einer Leitvarietät bzw. allgemeiner mit Sprachnormierungsfragen befasst, an seiner Grammatik vorbei. 3.4.2 Zur Leitvarietät in der Grammatik Johann Heinrich Fabers Der kurfürstliche Mainzer Hofrat Johann Heinrich Faber hat seiner Schrift „Anfangsgründe der Schönen Wissenschaften“ eine kurze Behandlung der Grammatik vorangestellt, die 1768 als Auszug mit dem Titel „Erste Grundsätze der Deutschen Sprachkunst […]“ erscheint (Faber EG 1768).106 Wie der vollständige Titel deutlich macht, soll die Grammatik in seinen akademischen Vorlesungen eingesetzt werden. Faber positioniert sich wie die Mehrheit der Sprachkundler im 18. Jahrhundert in seiner Vorrede in dem europäischen Sprachenwettstreit um die vorbildlichste Spra104 Zu Gottscheds Rolle im Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts vgl. u. a. Jellinek (1913, 229), Blackall (1966), Nerius (1967, 45ff.), Roessler (1997), Jakob (1999) und Gardt (1999b, 180ff.). 105 Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass es sich bei den von Jakob (1999) untersuchten Texten um einen hoch standardisierten Teilausschnitt bildungsbürgerlicher Kommunikation handelt, und die Aussagen für die Schriftsprache der „einfacheren Bevölkerung“ somit nur stark eingeschränkt – und für die mündliche Kommunikation so gut wie gar nicht – gelten können. 106 Nach der Vorrede werden die behandelten Themen auf 55 Seiten abgehandelt.

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che. Sein patriotisches Sprachlob kennzeichnet das Deutsche als eine überaus entwickelte, stilistisch hochwertige Sprache mit besonderen Qualitäten, die fast schon das Entwicklungsniveau der anderen vorbildlichen Sprachen erreicht habe: Allein wer mercket, aller dieser scheinbaren Mängel ungeachtet in den Schriften unserer guten Bücherschreiber wohl, daß der Sprache etwas fehle? Findet man nicht bey ihnen einen reichen Überfluß an nachdrücklichen Wörtern, eine edle Veränderung in den Redensarten, eine ungezwungene Kürze des Ausdrucks, einen lieblichen Wohlklang der Sätze, der gar nichts rauhes und wildes an sich hat, und alle andere Annehmlichkeiten, deren nur eine Sprache fähig ist? Sie kann majestätisch, ernsthaft, nachdrücklich und durchdringend, aber auch wieder zärtlich, liebreich, scherzhaft und beweglich, und zwar jedes […] mit einem besondern Klange reden. (ebd., 6v, 7r)

In der Vorrede begründet Faber sehr ausführlich, wie das Erlernen der deutschen Sprache, deren Beherrschung hinsichtlich der Grammatik, der Orthographie, der Aussprache, der Textproduktion für ihn noch vor der Kenntnis der Fremdsprachen eine zentrale Kulturtechnik darstellt. Der sprachliche Unterricht, das betont Faber, muss bei den Schülern unbedingt mit der Muttersprache beginnen, diese fördere nicht zuletzt den Erwerb der Fremdsprachen (Faber EG 1768, Vorrede, 3r). Der Mainzer Hofrat nennt vier Möglichkeiten, die Sprachkenntnisse zu schulen: Das Studium der Grammatik, das Lesen deutscher Literatur, das Anfertigen von Übersetzungen und die eigene Textproduktion (ebd.). Seiner Vorrede sowie dem ersten Paragraphen „Von der deutschen Sprachkunst überhaupt“ (Faber EG 1768) fehlt allerdings eine Reflexion der Sprachnormierungsdebatte. Dass die von ihm anvisierte Leitvarietät eine überregionale Sprachform sein soll, zeigt sich zumindest in der Vorrede, in der er die Lehrer anweist, die dialektal gefärbte Aussprache seiner Schüler zu korrigieren (ebd., 3v). Allerdings stellt er in seiner Vorrede dar, auf welche Autoritäten bzw. Schriften er sich beruft, dies sind vor allem Popowitsch und Gottsched (vgl. ebd., 4v).107 Eine Diskussion der stark voneinander abweichenden Hochdeutsch-Konzepte der beiden Sprachkundler findet sich allerdings nicht in seiner Arbeit. Die einzelnen Bereiche wie Wortartenlehre, Wortbildungslehre, Orthographie sowie Angaben zur Poetik werden in den Paragraphen überaus kurz dargestellt und ohne weitere Erläuterungen und häufig ohne Beispiele abgehandelt, indem sie kurz und bündig definiert werden. Sicherlich mag dieses Vorgehen dem praktischen Zweck seiner Schrift geschuldet sein, einen eigenständigen 107 Als weitere Autoritäten, auf denen seine kurze Grammatik basiert, werden u.a. genannt: Frisch, Freyer, die „Beyträge“ (BCH 1732ff.), Morhof, Bödiker (vgl. ebd., 4v, 5r) sowie Schottelius.

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Beitrag zum Streit über das Hochdeutsche oder zur Grammatik hat Faber aber nicht vorgelegt. So liest sich auch der erste Abschnitt des ersten Paragraphen als eine Kompilation der Definitionen der Sprachkunst der von ihm eingangs genannten Werke: Eine Sprachkunst überhaupt ist eine gegründete Anweisung, wie man die Sprache eines gewissen Volks, nach der besten Mundart desselben, und nach der Einstimmung seiner besten Schriftsteller, richtig und zierlich, so wohl reden, als schreiben solle. Eine Mundart ist diejenige Art zu reden die der andern Provinzen abgeht, die einerley Hauptsprache mit ihr haben. Es giebt dabey eine gewisse ausgesuchte Mundart, welche in keiner Provinz herrschet, aber aus jeder das beste zieht; diese ist die Mundart der Gelehrten; sie entspringt aus dem Gebrauche der besten Schriftsteller […] (ebd., A)

Faber schlägt somit vor, als Leitvarietät den Usus der Bildungseliten, wie er in vorbildlichen Schriften vorliege, heranzuziehen und ergänzt, dass in sprachlichen Zweifelsfällen die Analogie entscheiden solle (ebd.).108 Dabei spricht er sich im VI. Paragraphen, der sich mit der Orthographie befasst, gegen die Verwendung ungebräuchlicher Wörter aus. Damit sind vorrangig Neologismen und landschaftliche Varianten gemeint (vgl. Faber EG 1768, 7). Maßstab solle der allgemeine Gebrauch sein (vgl. ebd.). Dabei benennt er weder Schottelius als einen Vertreter dieser analogistischen Position, noch setzt er sich mit anderen Bestimmungen des Hochdeutschen auseinander. Zumindest hätte an dieser Stelle eine Diskussion der sprachgeographischen Leitvarietät des Meißnisch-Obersächsischen erfolgen müssen, die sein in der Vorrede benannter Gewährsmann Gottsched entschieden vertreten hat.109

108 Als Antityp des Prestigesoziolekts der Bildungseliten dient auch hier der Sprachgebrauch der niederen Schichten: „Jede Syllbe muß mit solchen Buchstaben geschrieben werden, die man in der guten Aussprache höret. Hier muß aber weder die Mundart des Pöbels, noch die Neuerung eines Sonderlings, sondern die Aussprache der Gelehrten und der gemeine Gebrauch zum Richter gesetzet werden.“ (ebd., A3r) 109 Auch die Umsetzung seiner eigenen Forderung, dass der Sprachlehrer „nebst der besten Mundart seiner Muttersprache auch die davon abweichenden schlechtern, auch die ältern Schriften derselben, und endlich die übrigen mit ihr verwandten Sprachen kennen“ (ebd., Av) muss, wird in den weiteren Ausführungen nicht eingelöst.

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3.4.3 Hochdeutsch und Oberdeutsch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 3.4.3.1 Historischer Kontext In Süddeutschland hat sich zwischen 1720 und 1740 in Form der Münchner Gelehrtenzeitschrift „Parnassus Boicus“ bereits ein frühes sprachliches Selbstbewusstsein artikuliert. Das Vorbild der oberdeutschen Kanzleisprache des 17. Jahrhunderts wird von den Sprachkundlern des ostmitteldeutschen Gebiets missbilligt und geradezu verspottet, wie die Rezension in den „Beyträgen zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit“ zeigt (vgl. Anonymus BCH4 1736, 264292). Gottscheds „Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst“ stellt zwar für die Sprachkundler des oberdeutschen Raums eine Provokation dar, insofern das Meißnisch-Obersächsische der als rückständig charakterisierten oberdeutschen Schriftsprache gegenübergestellt wird, sie entfaltet aber gleichzeitig eine positive Wirkung, da sie eine Reihe von grammatikographischen Arbeiten in Süddeutschland und Österreich motiviert.110 In Kurbayern, das aufgrund seiner politisch-kulturellen Vorrangstellung in Süddeutschland an dieser Stelle besondere Berücksichtigung findet, erfolgt die Durchsetzung einer hochdeutschen Schriftsprache ostmitteldeutscher Prägung zögerlicher als in anderen süddeutschen Gebieten und als in Österreich. Die Vereinheitlichung der Sprache wird maßgeblich von der Kontrolle des Bildungswesens durch die Jesuiten und die allgegenwärtige Zensur sowie das Verbot nord- und mitteldeutscher aufklärerischer Literatur verhindert. Die allmähliche Ablösung von der oberdeutschen Schreibsprachtradition erfolgt zum Teil aufgrund der Bemühungen einzelner Anhänger Gottscheds und der gottschednahen Sprachgesellschaften, die nun auch in Süddeutschland gegründet werden, so etwa in Nürnberg, München, Augsburg und Tübingen. Der Übergang zur hochdeutschen Schriftsprache ostmitteldeutscher Grundlage ist aber im Wesentlichen ein Ergebnis der staatlich forcierten Bildungspolitik. Für die oberdeutschen Gebiete Österreich, Bayern, Württemberg und Baden sowie die Schweiz konstatiert Wiesinger (1997, 733), dass in der Zeit von 1730 bis 1765 eine weitgehende Vereinheitlichung der Schriftsprache stattfindet, wobei

110 Zur Entwicklung in Bayern siehe Matzel/Penzl (1982, 120ff.), Wiesinger (1983), Tauber (1993, 221-264), Keck (1998, 39-82), zur Entwicklung in Österreich vgl. die detaillierte Darstellung bei von Polenz (1994, 174ff.), Wiesinger (1993, 1995) und den Vergleich österreichischer Grammatiker mit Gottsched bei Roessler (1996, 1997).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

[...] die heimischen Formen der Schriftsprache zugunsten der ostmitteldeutschnorddeutschen Varietät durch herrschaftliche Anordnung wie in Österreich und Bayern oder durch freie Willensentscheidungen führender Gebildeter wie in der Schweiz aufgegeben wurden. (ebd.)

In Österreich fällt die Reform der Schriftsprache in die Regierungszeit von Kaiserin Maria Theresia (1740-1780) und in die Amtszeit ihres Mitregenten und Nachfolgers Kaiser Josephs II. (1780-1790) und umfasst damit fast noch die gesamte zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts (vgl. ebd., 725). Dieser erzwungene Schriftsprachwandel „von oben“ ist in Bayern eng verbunden mit der Gründung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Jahre 1759 durch Kurfürst Max III. Joseph (1745-1777) und ihrem Gründungspräsidenten Johann Georg Lori.111 Von besonderer Bedeutung ist darüber hinaus der Einfluss der Grammatik Heinrich Brauns von 1765, die als Lehrbuch in den süddeutschen Schulen eingeführt wird. Gegen die Einführung der Grammatik Brauns regt sich noch der vehemente Widerstand der Jesuiten, die befürchten, dass das Luthertum durch seine Arbeit Verbreitung findet (vgl. Gessinger 1980, 105). Die von Max III. Joseph verordnete Modernisierungspolitik basiert ganz wesentlich auf einer umfassenden Sprach- und Kulturpflege, wobei das zu Beginn des Jahrhunderts vertretene Bewusstsein sprachlicher Gleichwertigkeit des Oberdeutschen und des Meißnisch-Obersächsischen der Auffassung einer gewissen Rückständigkeit gewichen ist (vgl. Keck 1998, 57). Ab dem Jahre 1768 wird im Zuge der katholischen Aufklärung das jesuitische Schulwesen reformiert, 1773 wird der Orden der Jesuiten schließlich ganz aufgehoben. Die Durchsetzung des Ostmitteldeutschen 111 Die Akademie ist überkonfessionell und zählt neben zahlreichen protestantischen Mitgliedern vor allem gelehrte hohe Beamte in kurfürstlichen Diensten zu ihren Mitgliedern. Die Anbindung der Akademie an die frühaufklärerische Zeitschrift „Parnassus Boicus“ zeigt sich u. a. in der Person Johann Georg Loris, der engen Kontakt zu den Pollinger Chorherren und Geistlichen pflegt. Lori ist seit 1755 Mitglied der „Gesellschaft der freyen Künste und Wissenschaften“ und steht hinter dem sprachgeographischen Diktum der Vorbildlichkeit des Obersächsischen (vgl. Reiffenstein 1995, 312f., Keck 1998, 56f.). Die philosophische Klasse der Akademie gibt seit 1764 eine Monatsschrift mit dem Titel „Baierische Sammlungen“ heraus, die u. a. von Heinrich Braun betreut wird und die bis 1768 erscheint. Diese Monatsschrift, die beispielsweise Gedichte, Fabeln, Satiren und naturwissenschaftliche Texte versammelt, dient dem Beweis, dass das Deutsche als moderne Kultursprache geeignet sei. Aufgenommen werden auch Beiträge aus dem mittel- und norddeutschen Sprachraum, etwa von Gellert, Gleim, Hagedorn, Haller, Kleist und Lessing. Ein ähnliches sprachpflegerisches wie sprachpatriotisches Bemühen stellt die ebenfalls von Braun betreute, im Umfeld der Akademie erscheinende Wochenschrift „Der Patriot in Baiern“ dar (vgl. Tauber 1995, 240). Die bayerischen Reformbemühungen werden von Kurfürst Karl Theodor (1777-1799) fortgesetzt, der nur durch die Hilfe Friedrich II. von Preußen in den Bayerischen Erbfolgekriegen seinen Machtanspruch gegenüber Kaiser Joseph II. durchsetzen kann. Kern der Reformen der bayerischen Kurfürsten ist die Vereinfachung des Verwaltungsapparats und eine Stärkung der Position des Kurfürsten.

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bleibt in Bayern zunächst auf die Schriftsprache in öffentlichen Kommunikationsbereichen beschränkt, während das Oberdeutsche in der privaten Kommunikation länger vorherrscht (vgl. Reiffenstein 1995, 307). Reiffenstein betont, dass es sich hierbei nicht um einen sukzessiven Übergang von der oberdeutschen zur hochdeutschen Schriftsprache handelt, sondern dass die Texte beider Schreibsprachtypen zunächst unvermittelt nebeneinander stehen. Er bezeichnet den Wechsel von der oberdeutschen zur hochdeutschen Schreibsprachtradition deshalb als „Kodewechsel“ (Reiffenstein 1995, 307) und verweist auf die Radikalität dieses sprachlichen Ausgleichprozesses. In den habsburgisch-lothringischen Territorien werden die Reformen eingeleitet von Kaiser Karl VI. und von Kaiserin Maria Theresia fortgeführt. Neben einer Reform der Staatsverwaltung entstehen in den Folgejahren neue Bildungsstätten wie die Ritterakademien, an denen vorrangig der Adel unterrichtet wird. Von besonderer Bedeutung ist die Gründung des Theresianums in Wien im Jahre 1754. Den Einfluss der katholischen Kirche mäßigt die Kaiserin durch staatliche Kontrolle. Insbesondere wird 1751 die jesuitische Zensur aufgehoben, sodass sowohl wissenschaftliche wie auch belletristische Literatur aus dem protestantischen Nord- und Mitteldeutschland eingeführt werden kann. Im Zuge dieser Entwicklung entsteht ein frühes Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, für das gegen Ende des 18. Jahrhunderts neue Bildungseinrichtungen geschaffen werden. Die damit verbundene Alphabetisierung breiterer Bevölkerungsschichten soll die Ausbildung der Bürger als Verwaltungsexperten ermöglichen und die wirtschaftliche Prosperität des Staates sichern. Die hierfür notwendige Schaffung einer einheitlichen Schriftsprache ist ein Anliegen des Nationalökonoms, Justiz- und Verwaltungsreformers Joseph von Sonnenfels. Kern der Schulreform ist eine Abkehr vom humanistischen Bildungsmonopol, das im Wesentlichen auf die Unterrichtung der klassischen Sprachen und der antiken Kultur zielt. In den obersten Klassen der Gymnasien sind der Rolle des Lateins als Kirchensprache gemäß das Verständnis der Klassiker und die Beherrschung des Lateins in Wort und Schrift oberste Lernziele, während der muttersprachliche Unterricht kein eigenes Unterrichtsfach darstellt. Als Antwort auf die pädagogischen Ansätze in den protestantischen Gebieten Mittel- und Norddeutschlands, die einen realienorientierten Unterricht und vor allem eine ausreichende Erlernung der Muttersprache verlangen, fordern nun auch die weltlichen Herrscher der katholischen Gebiete ein Monopol im Bildungswesen und initiieren sprach- und kulturreformerische Programme. Im Zuge der geforderten Innovationen entstehen zahlreiche neue Grammatiken und

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Orthographielehren an den Jesuitenkollegien und -akademien in Süddeutschland, Österreich und Böhmen.112 Schon 1749 hat die Gottschedsche „Grundlegung einer deutschen Sprachkunst“ in Österreich eine breite Anerkennung erfahren. Auf Befehl der Kaiserin wird seine Grammatik am Theresianum in Wien als Lehrbuch eingeführt. Gottsched gilt zu dieser Zeit als der Sprachexperte schlechthin. Im gleichen Jahr unterbreitet er der Kaiserin den Plan der Gründung einer Deutschen Akademie der Wissenschaften. Wenngleich die Gründung aufgrund der konfessionellen Zugehörigkeiten scheitert, führen Gottscheds Bemühungen doch im Jahre 1750 zur Einrichtung einer Professur für Deutsche Beredsamkeit an der Theresianischen Akademie. Den Ruf lehnt Gottsched allerdings ab, da die Stellung seinem hohen gesellschaftlichen Ansehen nicht entspricht (vgl. Wiesinger 1995, 337). Die in Österreich schneller als in Bayern erfolgte Übernahme der hochdeutschen Schriftsprache ist aber nur zum Teil durch persönliche Beziehungen Gottscheds erklärbar. Österreich ist im Gegensatz zu Bayern durch die seit dem 17. Jahrhundert zu beobachtende Rezeption mitteldeutscher und norddeutscher Literatur, die sich trotz der habsburgischen Gegenreformation vollzieht, aufgeschlossener für das Ostmitteldeutsche (vgl. Wiesinger 1987).113 Nach Ende des Siebenjährigen Krieges 1763 besteht für das österreichische Kaiserreich angesichts der Erfolge und des Machtzuwachses Preußens die Notwendigkeit umfassender Reformen, die zu einer verstärkten Reflexion über den Zusammenhang zwischen Wissenschaft, Sprache und ökonomisch-politischer Verfassung des Staates führen, wie insbesondere die Schriften der Kameralisten und Publizisten von Justi und von Sonnenfels belegen. So ist auch der „Import“ des in Preußen erfolgreichen Schulreformers von Felbiger durch ein Gesuch der Kaiserin Maria Theresia als ein Versuch einzuschätzen, mit der Modernisierung der Großmacht Preußen Schritt zu halten. Von Justi und von Felbiger stehen für die Anerkennung der hochdeutschen Schriftsprache 112 Zu den Grammatiken und Orthographielehren aus dem Jesuitenorden und der Normierung der deutschen Schriftsprache in Unterrichtswerken des 18. Jahrhunderts vgl. Jahreiß (1990). 113 Wiesinger spricht für das Ende des 18. Jahrhunderts von einer komplementären Lösung in Österreich, da die Orthographie, Flexion und Syntax zwar einheitssprachlich geregelt werden, die Aussprache und der Wortschatz aber stärkere regionale bzw. österreichische Eigenheiten aufweisen (vgl. Wiesinger 1995). Die regionalen Varietäten werden damit zu Symbolen nationaler (österreichischer) Identität. Ein Sprachbewusstsein im Sinne eines „Österreichischen Hochdeutsch“ entsteht aber erst mit der Schaffung der ÖsterreichischUngarischen Doppelmonarchie 1867 und der Gründung des Deutschen Reiches unter der Führung von Preußen im Jahre 1871 (vgl. ebd., 356).

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ostmitteldeutscher Prägung (vgl. Wiesinger 1993). Im Jahre 1793/94 werden in Österreich schließlich die orthographischen und grammatischen Regelungen Johann Christoph Adelungs übernommen. Auf der Grundlage der prinzipiellen Akzeptanz der obersächsischen Leitvarietät, vor allem im Bereich der Orthographie, und einer enormen Konstanz der Schullehrbücher erfolgt bis 1848 die Durchsetzung der hochdeutschen Schriftsprache in allen Bevölkerungsschichten (Wiesinger 1995, 347). 3.4.3.2 Zur Ablehnung des Meißnisch-Obersächsischen Dornblüths Ablehnung des Meißnisch-Obersächsischen als ‚protestantische‘ Varietät Der aus dem schwäbischen Raum stammende Gengenbacher Benediktinerpater Augustin Dornblüth (um 1680 bis 1755/1768) legt mit den „Observationes“ im Jahre 1755 eine Anleitung für deutsche Übersetzungen vor (vgl. Dornblüth Obs 1755). Er formuliert verschiedene übersetzungstheoretische Einzelanweisungen, die bei einer Übersetzung von fremdsprachlichen Texten ins Deutsche beachtet werden müssen. Sein Vorgehen besteht darin, jeweils ein Übersetzungsbeispiel aus verschiedenen Arbeiten Gottscheds und anderer Autoren heranzuziehen und dieses mit einem eigenen Vorschlag zu kontrastieren.114 In der Vorrede spricht Dornblüth von der „greulichen Verkehrung der teutschen Sprach durch das spöttliche und nichts-heissende Rotwälsch der Sächsischen Übersetzungen“ (ebd. IV) und zählt zu den ‚Sachsen‘ die obersächsischen Übersetzer, Zeitschriftenbeiträger und alle, die die obersächsische Leitvarietät angenommen haben. Der obersächsische Sprachgebrauch gefährde das Ansehen des Deutschen. Dornblüths kultur- und sprachkritische Schrift ist an alle Schriftsteller und an alle Sprecher des Oberdeutschen gerichtet. Insbesondere richtet sich das Werk an die katholischen Geistlichen, die bereits die Gottsched’schen Sprachnormen akzeptiert haben (ebd., 10). Insofern sich Dornblüth nicht mit einer Grammatik oder poetologischen Schrift an die gelehrte Öffentlichkeit wendet, ist eine explizite Verortung im Sprachnormierungsdiskurs nicht unbedingt zu erwarten. Dennoch situiert sich Dornblüth bereits in der Vorrede im Sprachnormierungsdiskurs. Er verurteilt den Hang der Deutschen zum Modischen, da dieser für die Übernahme des Hochdeutschen durch die Oberdeutschen verantwortlich sei (ebd., IIIff.). Obwohl Dornblüth die als Hochdeutsch 114 Dornblüth bezieht sich vor allem auf Gottscheds „Grundlegung einer deutschen Sprachkunst“, die 1748 in der ersten Auflage erscheint.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

bezeichnete Leitvarietät nicht explizit definiert, liegt nahe, dass er darunter die Sprache der Sachsen versteht (vgl. ebd., III). Dornblüth will beweisen, dass das Obersächsische seinen Status keineswegs aufgrund gründlicher Untersuchungen oder wegen der besonders gelungenen Übersetzungen erlangt hat (ebd.). Seine Schrift dient dem Nachweis, dass die Gottschedsche Übersetzungspraxis ebenso wie das Obersächsische fehlerhaft ist. In der Vorrede verweist Dornblüth auf folgende potenzielle Gefahren der obersächsischen Übersetzungen: Die obersächsischen Übersetzungen sind für Rezipienten anderer Sprachregionen nicht „klar“ und „deutlich“ (ebd., IV), sondern „dunckel, verwirrt, schwehr“ (ebd.) und gar nicht zu verstehen. Er reflektiert an dieser Stelle die Problematik des von Reiffenstein als „Kodewechsel“ (Reiffenstein 1995, 307) bezeichneten Übergangs vom Oberdeutschen zum Hochdeutschen, der für die Sprecherinnen und Sprecher nicht ohne Weiteres zu leisten ist. Obwohl die Übersetzungen ihrem Ziel der ‚Verständlichkeit‘ nicht gerecht werden (→ verständlich), gelten sie aufgrund der obersächsischen Sprachformen als „gut“, „schön“, „zierlich“ und „hochteutsch“ (ebd.). Dornblüth befürchtet aber, dass die obersächsischen Übersetzungen eine angemessene Rezeption der Originale verhindern könnten. Dornblüths Argumentation bezieht sich auf eine Vielzahl syntaktischer wie lexikalischer Beobachtungen, wobei jeweils obersächsische bzw. Gottschedsche Formen verworfen werden. Seine Ablehnung des Obersächsischen soll an dieser Stelle anhand einiger wesentlicher Aspekte gebündelt wiedergegeben werden: Entscheidend ist die Gleichsetzung des Obersächsischen mit einer konfessionell definierten Sprachform: Das Obersächsische stellt für Dornblüth in erster Linie eine Art „protestantische Varietät“ dar (vgl. ebd., 121). Ein Sprachvorbild wie die Luther-Bibel kann Dornblüth aufgrund seiner Ideologisierung der regionalen Varietät nicht akzeptieren (ebd., 338, 357f.). Die Ausdehnung des „Sächsischen Jargons“ (ebd., 48) in allen Kommunikationsbereichen, besonders in der allgemeinen Schrift- und Kanzleisprache, der Sprache der Geistlichen und der Zeitungen, wird entschieden kritisiert (ebd., 10, 326). Die Charakterisierung des Obersächsischen als eine mit Fremdwörtern angereicherte Sprache ist ebenfalls als sprachideologisch einzuordnen und Ausdruck der zum Teil sehr polemischen Angriffe gegenüber Gottsched. So werden Gottscheds Übersetzungsfehler auf die devote Haltung Gottscheds gegenüber dem Französischen zurückgeführt (ebd., 82). Die Sprache Gottscheds sei in Wahrheit „französelt“ (ebd.). Besonders deutlich wird Dornblüths sprachideologische Haltung gegenüber dem ‚protestantischen‘ Obersächsischen in seiner scharfen Ablehnung des „e Saxonum“ (ebd., 265). Mit diesem Ausdruck bezeichnet er die nicht

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apokopierten ostmitteldeutschen Formen, die er als Inbegriff der affektierten und gekünstelten „Rede und Schreib-Art“ der Obersachsen stigmatisiert (ebd., 265f.). Die e-Apokope wird als ein Kennzeichen der fränkischen, bairischen und zum größten Teil der alemannischen Mundarten als Symbol für die eigene regionale Zugehörigkeit wahrgenommen, die die Sprecherinnen und Sprecher von den Regionen Nordhessen, Thüringen, Obersachsen (mit Ausnahme des Südwestens) und Schlesien abhebt. Insofern decken sich hier weitgehend regionale, konfessionelle und sprachliche Grenzen. Dornblüths Ablehnung der Leitvarietät Gottscheds zeigt sich darüber hinaus im Bereich der Orthographie. Da jede Provinz ihre eigene Aussprache besitze, führe eine Orientierung an der Maxime „Schreib, wie du sprichst!“ zwangsläufig zu regionalen Abweichungen in der Orthographie (ebd., 376f.). Eine Vereinheitlichung der Orthographie auf obersächsischer Grundlage lehnt er aber ab (vgl. u. a. ebd., 11, 48, 357f.). Dornblüth fordert eine Anerkennung der Eigenständigkeit der Dialekte bzw. der regionalen Schreibsprachen, so heißt es: „Man mus hierin auch schon jedem Volck das Seinige geltten lassen, die Sachsen aber sollen darum andere nicht foppen, noch eines Fehlers bezüchtigen, wie Meister Gottschedius es im Brauch hat.“ (ebd., 324) Das Primat einer Sprachlandschaft widerspreche dem allgemein in Deutschland üblichen Gebrauch (vgl. ebd., 322). Die zum Teil archaischen Formen, die Gottsched tradieren will, weist er ebenfalls zurück. Falls überhaupt das Alter ein Kriterium sein könne, sei nicht das Meißnisch-Obersächsische zu bevorzugen, sondern das Schweizerische – womit er sich implizit der Position Bodmers und Breitingers anschließt, die aber nicht namentlich genannt werden (ebd., 357f.). Die Leitvarietät Gottscheds wird aber auch aufgrund übersetzungstheoretischer Überlegungen verworfen. Eine ideale Übersetzung solle möglichst auch dem einfachen Leser verständlich sein, ohne zugleich bei den gebildeten Lesern Anstoß zu erregen (ebd., 92f.). Im Gegensatz zu diesem Übersetzungsideal seien die Übersetzungen von Gottsched und seinen Anhängern für die allgemeine Leserschaft unverständlich, da sie sich viel zu stark an der Ausgangssprache orientierten. Bloße Wort-fürWort-Übersetzungen werden als gekünstelt abgelehnt; in seiner Terminologie sind sie „gezwungen“ (ebd., 5). Dornblüth fordert eine sinngemäße Übersetzung, die am Sprachsystem der Zielsprache orientiert ist, und eine besondere Vorsicht bei der Übersetzung von Tropen und Figuren (vgl. ebd., 178f.). Die Ablehnung des obersächsischen Sprachvorbilds wirft die Frage auf, welches Konzept einer Leitvarietät Dornblüth vertritt. Er selbst nennt

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

an mehreren Stellen die Sprache der Kanzleien als stilistisches Vorbild. Gemeint sind im engeren Sinne die Kanzlei-, Gerichts- und Prozessschriften des 17. Jahrhunderts (ebd., 6, vgl. ebenso 354f.). Dieses schriftsprachliche Vorbild stellt quasi den Antityp des Gottsched’schen Konzepts einer Leitvarietät dar. Im Gegensatz zu der gekünstelten Sprache der obersächsischen Übersetzungen, die er als „französisiert“ stigmatisiert, zeichne die Kanzleisprache eine besondere Natürlichkeit aus (ebd., 7).115 Dass die süddeutsche Kanzleisprache längst ihr Prestige eingebüßt hat und nicht mehr den kommunikativen Erfordernissen der bürgerlichen Aufklärungsgesellschaft entspricht, erkennt Dornblüth nicht (vgl. auch Schlosser 1985, 59). Dornblüths Schrift erscheint zu einem Zeitpunkt, in der bereits ein grundsätzlicher geistes- wie kulturgeschichtlicher Wandel in Bayern zu beobachten ist, der maßgeblich die Verbreitung des Hochdeutschen ostmitteldeutscher Grundlage beeinflusst hat. Die kulturelle Dominanz des mittel- und norddeutschen Raums hat sich erheblich erhöht, während gleichzeitig die konfessionellen Gegensätze im Zuge der Aufklärung abnehmen. In Bayern zeichnen sich beispielsweise in Form der Gründung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Jahre 1759 und der Berufung von Heinrich Braun auf den neugegründeten Lehrstuhl für die deutsche Sprach- und Redekunst im Jahre 1765 umfassende Reformprozesse ab. Dornblüths Schrift kann vor diesem Hintergrund keine breitere Akzeptanz in der süddeutschen Gelehrtenwelt erfahren. Dornblüths Schrift darf dennoch nicht allein als konfessionell motivierte Ablehnung des meißnisch-obersächsischen Sprachnormierungsanspruchs gelesen werden. Er positioniert sich mit seiner Schrift nicht nur im Streit um das Hochdeutsche, sondern er reflektiert auch den europäischen „Sprachenwettkampf“ um die prestigeträchtigste Hochsprache und ist durchaus um den Ausbau des Deutschen bemüht. Die von den katholischen Sprachkundlern angeführten Kategorien wie „Klarheit“ (Dornblüth Obs 1755, 57f., 191f.), „Natürlichkeit“ (ebd., 357f.), „Reinheit“, „Männlichkeit“, „Nachdrücklichkeit“ (ebd., 61f.), sowie die Forderung, Barbarismen (ebd., 64, 346) und überflüssige Fremdwörter zu vermeiden, hätten so in jeder nord- oder mitteldeutschen sprachreflexiven Schrift auftreten 115 Die Vielzahl der im Einzelnen vorgeschlagenen syntaktischen und lexikalischen Varianten muss aus Raumgründen an dieser Stelle unterbleiben, deshalb sei an dieser Stelle auf die Untersuchung von Konopka hingewiesen, der bei Dornblüth eine „Verabsolutierung der Klammerstrukturen“ nachweist, die im Laufe des 18. Jahrhunderts zumindest außerhalb der Kanzlei weitgehend untergegangen ist (Konopka 2003). Wesentliche Gründe für den Rückgang der Klammerstrukturen sind nach Eichinger die neuen kommunikativen Bedürfnisse der sich erweiternden bürgerlichen Öffentlichkeit (vgl. Eichinger 1995, 318).

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können. Uneinigkeit besteht zwischen den Sprachkundlern also nicht darin, dass die Leitvarietät bestimmten stilistischen Kriterien genügen muss, sondern die Frage lautet, wie die Leitvarietät sprachgeographisch zu präzisieren sei, wobei Dornblüth das in allen Sprachregionen vorhandene Verlangen nach einer überregionalen Leitvarietät unterschätzt. Aichinger: Hochdeutsch und Dialekt in der Oberpfalz Im Jahre 1753 und in einem zweiten unveränderten Druck von 1754 erscheint die Grammatik des protestantischen oberpfälzischen Sprachkundlers Carl Friedrich Aichinger (VTS 1754). Aichinger (1717-1782) ist seit 1741 Rektor und ab 1750 Stadtprediger im oberpfälzischen Sulzbach. Im Jahre 1777 wird er Inspektor der evangelischen Kirchen und Schulen im Sulzbacher Land (vgl. Roessler 1996, 259). Aichinger macht in der Vorrede zu seinem „Versuch einer teutschen Sprachlehre“ deutlich, dass er keine Widerlegung der Gottsched’schen Grammatik beabsichtigt, sondern selbst sehr lange an einer deutschen Grammatik gearbeitet habe (Aichinger VTS 1754, XII).116 Zwischen Aichinger und Gottsched ist bereits einige Jahre zuvor eine publizistische Fehde entbrannt, nachdem Gottsched im Jahre 1749 eine Schrift mit dem Titel: „Klag-Lied des Herrn Professor Gottsched über das rauhe Pfälzer-Land in einer Abschieds-Ode“ veröffentlicht, in dem der Leipziger Professor die Landschaft und die Sprache der Oberpfälzer verspottet. Aichinger antwortet ihm 1750 mit einem Gedicht mit dem Titel: „Bemühungen der Obern Pfalz, den Zorn des Herrn Prof. Gottscheds zu besänfftigen“.117 Die Motive seiner Grammatik sind vor allem pragmatisch-didaktisch: Wegen seiner Erfahrung mit seinen Schülern als Rektor in Sulzbach, die das Latein umfassend erlernen, aber ihre eigene Muttersprache nur ungenügend beherrschen, beschließt er, eine eigene Grammatik zu verfassen (vgl. ebd., XII-XIII). Deshalb hat er vierzehn Jahre lang grammatische Phänomene gesammelt und geordnet und mit dem Griechischen und Lateinischen verglichen. Grundlage seiner Grammatik ist somit die eigene

116 Die nicht paginierte Vorrede Aichingers wird hier durch römische Ziffern wiedergegeben. Die Vorrede beginnt mit der Seite XI. 117 Den „Kampf um das Hochdeutsche“ zwischen Gottsched und Aichinger beschreibt Eichinger (vgl. Eichinger 1983), während Roessler (1996) die Parallelen und Differenzen zwischen Aichinger und Popowitsch aufarbeitet.

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Erfahrung. Seine Grammatik ist am Sprachgebrauch orientiert und basiert nicht wie die Grammatik Gottscheds auf einem Textkorpus.118 In der Vorrede erläutert Aichinger seine Auffassung des Hochdeutschen und nimmt explizit Bezug auf Johann Christoph Gottsched. Ein grundlegender Unterschied zwischen Aichinger und Gottsched besteht in der Legitimation des Hochdeutschen. Er hebt die Leistungen Gottscheds um die deutsche Sprache zwar mehrfach hervor und akzeptiert die schriftsprachliche Normierung der „gut teutsch geschriebene[n] Bücher“ (ebd., 4), widerspricht aber der sprachgeographischen Identifizierung des Hochdeutschen mit dem Meißnischen. Der Duktus seines Widerspruchs ist überaus sachlich, im Gegensatz zu der Polemik Dornblüths und zu Gottscheds deutlichen Angriffen auf das Vorbild der Kanzleisprache. Wenngleich dem Meißnischen eine gewisse Vorbildlichkeit zuzugestehen sei, könne es doch keine Vorrangstellung einnehmen (ebd., XVIIf.). Als Gründe für die besondere Rolle des Meißnischen nennt Aichinger insbesondere die durch die Bibelübersetzung Martin Luthers erfolgte Verbreitung des Sächsischen (ebd., XXIII). Allerdings erwachse dem Sächsischen hieraus kein Vorbildanspruch, da es beispielsweise im Hinblick auf die Bedeutung einzelner Ausdrücke oder die Analogie einzelner Wortbildungen vom Hochdeutschen abweiche (ebd., XXVIIIf.). Für seine eigene Grammatik kann Aichinger somit schlussfolgern: „Vielleicht ist derohalben meine Grammatik eben darum desto teutscher, weil sie weniger Meißnisch ist.“ (ebd., XXIV) Eine für ganz Deutschland gültige und somit „hochdeutsche Grammatik“ ist für Aichinger nur durch die Sammlung und Differenzierung der regionalen Eigenheiten in entsprechenden Grammatiken zu erreichen (ebd., XXIV). Nur auf dieser Grundlage könnten die regionalen Abweichungen in der Aussprache, der Morphologie usw. beseitigt werden (ebd., XVIIIf.). Das „reine Hochdeutsche“ (ebd., XVII) sei (wie dies Gottsched auch einräume) in keiner Provinz als mündliches Kommunikationsmedium zu verorten, sondern eine bereits in allen Provinzen angenommene Sprache (ebd., XVII). Insofern steht Aichinger in der Tradition der Bestimmung des Hochdeutschen durch Schottelius (vgl. Kapitel 3.2). Aichinger reflektiert durchaus die regionale Diversität des Deutschen, sieht aber im 118 Die Konzeption seiner Grammatik kann hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. Zur Bewertung vgl. beispielsweise die Einführung in dem reprographischen Nachdruck von Rössing-Hager (1972, VII-XLV). Sie hebt insbesondere die Ablösung Aichingers von der lateinischen Grammatik hervor sowie das hohe Reflexionsniveau grammatischer Phänomene, das sich deutlich von Gottsched abhebe (vgl. ebd., VIIf.). Aichinger kritisiert beispielsweise das an der lateinischen Grammatik orientierte Kasussystem Gottscheds, das sechs Kasus für das deutsche Deklinationssystem vorsieht (Aichinger VTS 1754, 128).

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

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Hochdeutschen eine bereits existierende, die einzelnen Dialekte überdachende schriftsprachliche Leitvarietät. Hochdeutsch ist für ihn ein Ausgleichsprodukt des besten aller Dialekte (ebd., VIII). Betrachtet man das methodische Vorgehen Aichingers, so lässt sich feststellen, dass er eine Vielzahl von einzelnen Regeln und Beispielen diskutiert und sehr häufig auf Gottscheds Normierungsvorschläge Bezug nimmt. Dabei schwankt Aichinger zwischen Anlehnung an den ostmitteldeutschen Sprachgebrauch und Ablehnung der von Gottsched vorgeschlagenen Normen. Ähnlich wie Gottsched und Hemmer plädiert er für eine durchaus progressive Schreibung von k in Wörtern wie „Carl“ oder „Conrad“ (ebd., 5). Seine vier Prinzipien der Orthographie sind an Gottsched angelehnt: Er nennt „Ableitung“, „Analogie“, „Gewohnheit“ und „Aussprache“ (ebd., 29ff.) als Regelungsprinzipien der Rechtschreibung. Gleichzeitig verwirft er aber einzelne von Gottsched vorgeschlagene Formen. Dass er eine viel tolerantere Haltung in Bezug auf die Sprachnormierung vertritt, zeigt sich in seinen Ausführungen zur Aussprache (ebd., 35). So heißt es: „Aber es muß uns übrigen Teutschen so wohl, als den Meißnern erlaubt seyn, in solchen einzelnen Wörtern uns nach unsrer Aussprache zu richten.“ (ebd.) Ein Beispiel für Aichingers Streben nach einer überregionalen schriftsprachlichen Ausgleichssprache ist seine Behandlung der Varianten der regional variierenden Genera (ebd., 188ff.). Aichinger präsentiert alle drei im Gebrauch befindlichen Genera, so werden beispielsweise die mitteldeutsche feminine Form „die Butter“, die oberdeutsche maskuline Form „der Butter“ und die sächliche Form „das Butter“ (vgl. ebd., 173, 188, 189) als gleichrangig nebeneinander gestellt.119 Gleichzeitig muss dieses Vorgehen als Ausdruck eines oberdeutschen Sprachbewusstseins gewertet werden und als Ablehnung einer bloßen Übernahme von Formen aus dem meißnisch-obersächsischen Sprachgebiet. Eine ebenso tolerante Haltung vertritt Aichinger in Bezug auf die e-Apokope, die er nicht konfessionell ideologisiert, d. h. weder besonders verteidigt noch mit aller Schärfe verurteilt. Die Apokope bei Verben oder Substantiven solle allein den Poeten vorbehalten bleiben (ebd., 571f.). Seine Normierung der Schriftsprache ist somit weitaus restriktiver als die der gesprochenen Sprache. Außerdem zeigt sich im Gegensatz zu Dornblüth eine deutliche Ablehnung der oberdeutschen Kanzleisprachentradition als normstiftende Instanz (ebd., 343, 400, 461f.). 119 Methodisch spiegelt sich seine Haltung auch in der Präsentation präferierter Varianten, die häufig mit der Kennzeichnung „An Statt […] brauchte man lieber“ (ebd., 258f.) versehen werden. Aichinger gibt somit Sollensvorschriften an, vermeidet hingegen zu strikte präskriptive Vorgaben.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Aichinger beansprucht insgesamt eine vermittelnde Rolle im Sprachnormierungsdiskurs, da er eine zweifach abgrenzbare Diskursposition einnimmt: Zum einen kritisiert er die Gottschedsche Gleichsetzung des Hochdeutschen mit einer Sprachlandschaft, zum anderen kritisiert er auch die Katholiken in Deutschland, bei denen das Latein eine dominante Position beanspruche, wenngleich er in Österreich und Bayern positive Veränderungen wahrnimmt (ebd., XX-XXII).120 In Bezug auf einzelne Phänomene, wie beispielsweise die Genera-Varianten von Substantiven, zeigt sich Aichinger toleranter als Gottsched und wertet damit die entsprechenden oberdeutschen Formen auf. Das von ihm anvisierte Hochdeutsch ist konzipiert als ein Ausgleichsprodukt verschiedener Dialekte. Popowitsch: Hochdeutsch und Dialekt in Österreich In der 1754 zuerst veröffentlichten Grammatik „Die notwendigsten Anfangsgründe der Teutschen Sprachkunst zum Gebrauche der österreichischen Schulen“ (Popowitsch NA 1754) widerspricht der slowenische Sprachforscher Johann Siegmund Valentin Popowitsch (1705-1774) der These, dass man „um Hochdeutsch schreiben zu können, ein gebohrner Sachs oder Schlesier“ sein müsse (ebd., 31f.). Popowitsch ist auf Betreiben des aufklärerischen Fürsterzbischofs von Wien, Graphen Trautson, an die Universität von Wien berufen worden und hat dort seit 1753 die neue Professur für deutsche Sprache und Beredsamkeit inne, gleichzeitig nimmt er eine Berufung für eine ähnliche Professur an der Savoyischen Akademie in Wien an, die er von 1753 bis 1766 inne hat. Er erhält von Kaiserin Maria Theresia den Auftrag, eine deutsche Schulgrammatik zu verfassen.121 Von den „Nothwendigsten

120 Sein Bemühen um Sprachnormierung und -kultivierung kommt nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck, dass er Mitglied der „Deutschen Gesellschaften“ in Mannheim, Jena und Altdorf wird. 121 Kurz nach seiner Berufung an die Universität von Wien erscheinen bereits die ersten zehn Bogen der Grammatik Popowitschs. Wenig später kursieren anonyme Schmähschriften der Wiener Anhänger Gottscheds, gegen die Popowitsch wiederum ausführlich in der Vorrede zu seiner einige Monate später veröffentlichten Grammatik Stellung nimmt (vgl. Roessler 1996, 261, siehe dort Fußnote 12).

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

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Anfangsgründe[n] der Teutschen Sprachkunst“ (1754) wird für den Schulunterricht eine Lang- und eine Kurzfassung herausgegeben.122 Die Grammatik enthält aber nur den ersten Teil der von ihm angekündigten Gesamtdarstellung. Der erste Teil trägt den Titel „Namen, Bedeutung, Eigenschaft, und Zufälle der neun Gattungen der Wörter, daraus eine Rede zusammen gesezet werden kann“ (vgl. hierzu Faninger 1996, 119f.). Die in der Grammatik deutlich zum Ausdruck kommende Infragestellung des meißnisch-obersächsischen Vorbildanspruchs geht aber nicht einher mit einer Aufwertung des Oberdeutschen zur Leitvarietät. Sein Anliegen ist es vielmehr, den Sprachzustand des Oberdeutschen zu verbessern, so wie es die österreichische Kaiserin, die ihn 1753 an die Savoyische Akademie berufen hat, von ihm fordert. Dies versucht er durch eine Kontrastierung des Oberdeutschen mit dem Hochdeutschen in seiner Grammatik zu bewerkstelligen. Seine Argumentation soll an dieser Stelle auf der Basis eines Auszugs aus seiner Orthographie-Vorlesung vertieft werden, in dem er seine Ablehnung des obersächsischen Vorbildanspruchs sehr ausführlich begründet.123 Popowitsch greift die Frage auf, welche Aussprache als die beste gelten könne. Er zitiert zwei Stellungnahmen Gottscheds, in der einen wird das Meißnische als vorbildliche Sprachlandschaft favorisiert, in der anderen bestimmt Gottsched das Hochdeutsche als ein nicht sprachlandschaftlich gebundenes Substrat aller oberdeutschen Mundarten. Der Widerspruch, der sich sowohl aus der zweiten als auch aus der Inbezugsetzung beider Aussagen ergibt, wird von Popowitsch als geradezu symptomatisch für die Arbeiten Gottscheds klassifiziert. Überaus zugespitzt heißt es da: „Herrn Gottscheds Feder ist mechanisch abgerichtet, sie schreibet immer fort, er aber denket nicht.“ (Popowitsch OV o.J., XX) Seine detaillierte und anhand zahlreicher Beispiele illustrierte Kritik, die insbesondere seine enorme Kenntnis der verschiedenen Dialekte do122 Popowitsch hat bereits in den 1730er Jahren mit den Vorarbeiten zu dieser Grammatik begonnen. Friedrich Heinrich von Seckendorf hat Gottsched im Jahre 1740 in einem Brief über Popowitschs Vorhaben informiert. Im Gegensatz zu Gottscheds Orientierung am lateinischen Kasussystem schlägt Popowitsch eine Einteilung von fünf Deklinationen der Substantive vor – für Gottsched „eine unliebsame Konkurrenz“ (Roessler 1996, 261). Gottsched selbst rät dem österreichischen Sprachkundler deshalb von seinem Vorhaben ab (ebd.). Popowitsch verzichtet auf eine Veröffentlichung seiner Grammatik. Der Erfolg der von Gottsched 1748 veröffentlichten Grammatik muss Popowitsch enttäuscht haben, zumal sein Deklinationssystem als weitaus fortschrittlicher zu kennzeichnen ist als das von Gottsched. Zur Grammatik Popowitschs vgl. Jellinek (1914), Faninger (1996) und Roessler (1996). 123 Zitiert wird nach einem Auszug der Fragmente der Orthographie-Vorlesung, der in der Einleitung zu dem von Reutner (2004a) nach der Abschrift von Anton Wasserthal herausgegebenen Wörterbuch „Vocabula Austriaca et Stiriaca“ abgedruckt ist.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

kumentiert, umfasst fünf Bereiche: 1. die fehlerhafte Aussprache des Meißnisch-Obersächsischen, 2. seine lexikalische Armut an notwendigen Wörtern, 3. unschickliche und „nach üblem Geschmacke“ (ebd., XXI) gebildete Wörter des Meißnisch-Obersächsischen, 4. Provinzialismen und 5. „Unrichtigkeiten“ (ebd., XXVI) im Sinne von grammatischen und orthographischen Fehlern des Meißnisch-Obersächsischen. Als Ursprung dieser „Unrichtigkeiten“ wird die Bibelübersetzung Martin Luthers benannt, wobei Popowitsch auch an dieser Stelle zahlreiche Abweichungen des Meißnischen von dem von ihm angestrebten Standard verwirft. Luthers Sprache wird mit dem Meißnischen gleichgesetzt. Sein Fazit lautet, dass aufgrund der diskutierten Unzulänglichkeiten des Meißnisch-Obersächsischen, die alle sprachlichen Bereiche betreffen, diese regionale Varietät nicht als „das einzige und ächte Muster der Hochteutschen Sprache“ (ebd., XXIX) anerkannt werden könne. Wenngleich keine einzelne Sprachlandschaft bzw. deren Aussprache mit dem Hochdeutschen gleichgesetzt werden könne, komme das Hallische dem Hochdeutschen am nächsten (ebd.). Für das Hochdeutsche gelte aber, dass seine Lexik und auch seine Aussprache aus allen Sprachlandschaften gleichermaßen eruiert werden müsse. Hochdeutsch ist für Popowitsch demnach ein Substrat, das aus allen Mundarten gewonnen werden muss. Abgesehen von einigen Abweichungen sei das Niedersächsische als Vorbild für die Rechtschreibung anzuerkennen. Für die Rechtschreibung selbst nennt Popowitsch in dem untersuchten Beitrag sechs Prinzipien: Etymologie, Schreibusus der Alten (antikes Rhetorikprinzip der ‚auctoritas‘), zeitgenössische Aussprache und aktueller Gebrauch, Analogie und ‚guter Geschmack‘. Popowitsch kann zwar seine Vorlesung im Jahr seiner Berufung mit einer eigenen Grammatik beginnen, hat aber Gottsched und seine Anhänger in Wien durch die Verwendung des Namens „Gottsched“ als Paradigma für die Deklination der maskulinen Nomina propria derart gegen sich aufgebracht, dass er in Wien fortan isoliert bleibt, zumal die Gottschedsche Grammatik durch Maria Theresia am Theresianum verbindlich gemacht wird (vgl. Faninger 1996). Das sich in den Arbeiten Popowitschs artikulierende frühe österreichische Sprachbewusstsein kollidiert mit den staatlichen Reformbemühungen um eine einheitliche Sprache, wobei die österreichische Kaiserin das Obersächsische favorisiert.

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

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3.4.3.3 Zur Akzeptanz der Vorbildlichkeit des Obersächsischen Hemmer: Hochdeutsch und Dialekt in der Pfalz Im Jahre 1769 erscheint die „Abhandlung über die deutsche Sprache zum Nutzen der Pfalz“ (Hemmer ADS 1769) des Mannheimer Naturwissenschaftlers, Sprachforschers und Mitglieds der „Kurpfälzischen Akademie der Wissenschaften“ sowie der „Kurpfälzischen Deutschen Gesellschaft“ (gegründet 1775), Johann Jakob Hemmer.124 Hemmers erklärtes Ziel ist nicht die Auflehnung gegenüber der obersächsischen Leitvarietät, sondern die Verbesserung der Muttersprache bzw. des Deutschen in der Pfalz: Aus allem dem, was wir bisher der Länge nach vorgetragen haben, ist es, meines Erachtens, unschwer zu schließen, in welchem elenden Zustande sich die deutsche Sprache in unserem Vatterlande befinde. Unsere Mundart ist von unzähligen ausländischen Wörtern, wie von einem reißenden Strome, überschwemmet. Die Rechtschreibung ist von höchster Verwirrung. Die Grundregeln der Sprachlehre liegen zu Boden. Die Tonmessung, sammt der ganzen Verskunst, giebt den erbärmlichen Anblick von sich. Und alles dieses hemmet, zum größten Schaden der Pfalz, den glücklichen Lauf der Künste und Wissenschaften […]. (ebd., 225)

Seine Arbeit ist sowohl lokalpatriotisch als auch im weiteren Sinne sprachpatriotisch motiviert (vgl. ebd., 10). Sein Bemühen um das Pfälzische steht im Zusammenhang mit den Arbeiten Fuldas, auf den er explizit verweist. Im Kontext des europäischen Sprachenwettkampfs sieht er die Notwendigkeit, die deutsche Sprache zu normieren und zu kodifizieren, das bedeutet für ihn zunächst die Verbesserung der in der Pfalz gesprochenen und geschriebenen Sprache. Für den seiner Ansicht nach desolaten Zustand des Pfälzischen macht er zwei Faktoren verantwortlich: Zum einen sei in der Pfalz kein Bewusstsein über den Zusammenhang von Aufklärung, Sprachkultivierung und der wissenschaftlich-kulturellen Entwicklung vorhanden, zum anderen seien die Pfälzer der Ansicht, die „in der Pfalz übliche Sprache“ (ebd., 10) sei bereits kultiviert und normiert. Hemmer sieht aber, dass der kulturelle wie wirtschaftliche Fortschritt an die Kultivierung und Normierung der Sprache gebunden ist. Die deutsche Sprache, insbesondere das Pfälzische, solle deshalb normiert, kodifiziert und kultiviert sein, um den Ansprüchen an eine Verwaltungssprache sowie an eine Wissenschafts- und Literatursprache gleichermaßen zu genügen (vgl. ebd., 11ff.).

124 Die nachfolgende Analyse bezieht sich im Wesentlichen auf diese Abhandlung, während die 1775 erschienene „Deutsche Sprachlehre“ (Hemmer DSL 1775) nur kursorisch behandelt wird. Aus Raumgründen bleiben seine weiteren sprachwissenschaftlichen Werke unberücksichtigt, vgl. hierzu die Untersuchung von Kamitake (1987).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Die Umsetzung dieses sprachpflegerischen Programms ist für Hemmer eine Aufgabe der staatlichen Institutionen und insbesondere des Landesfürsten. Eine vollständige Grammatik des Pfälzischen solle an allen Schulen eingeführt und für den Buchdruck verbindlich gemacht werden (ebd., 225f.). Das zentrale Mittel der Sprachkultivierung ist für Hemmer der muttersprachliche Unterricht und damit verbunden die Abkehr vom traditionell lateinischen Sprachunterricht. Diese Position teilt er mit dem Sprachkundler Heinrich Braun. Aus diesem Anliegen heraus lassen sich bereits die zentralen Inhalte seiner Abhandlung bestimmen: erstens die Darlegung des tatsächlichen Zustands der Schriftsprache und der gesprochenen Sprache in der Pfalz und ihrer Abweichungen vom angestrebten Standard und zweitens die Setzung eines entsprechenden einheitssprachlichen Standards. Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil befasst sich mit der „Nothwendigkeit der Ausarbeitung der Muttersprache im Reiche der Wissenschaften“ (ebd., 11-54), hier werden die Gründe für die Sprachkultivierung ausführlich erläutert. Der zweite Teil mit dem Titel „Schlechter Zustand der deutschen Sprache in der Pfalz“ (ebd., 56-226) umfasst neben einer Diskussion mundartlicher Eigenheiten des Pfälzischen die traditionellen Bestandteile einer Grammatik: Orthographie, Etymologie, Syntax und Prosodie (ebd., 79-226). Hemmer leitet seine kritische Beschreibung der sprachlichen Verhältnisse in der Pfalz mit einer Definition von Sprache ein, die an die rationalistische Sprachkonzeption Gottscheds erinnert und dessen zentrale Kategorien aufgreift. So heißt es: „Die Sprachen sind blos zu dem Ende erdacht: daß wir unsere Gedanken dadurch ausdrücken, und andern offenbaren. Je mehr Gedanken man allso in einer Sprache ausdrücken, und je deutlicher man sich darin erklären kann: für desto vollkommener muß dieselbe gehalten werden.“ (ebd., 54) Die Vollkommenheit der Sprache resultiere aus dem lexikalischen Reichtum einer Sprache und ihrer Deutlichkeit, die wiederum auf der Regelhaftigkeit der Sprache beruhe (vgl. ebd.). Damit sind die in der aufklärerisch-rationalistischen Sprachnormierungsdiskussion relevanten Kategorien benannt, deren stilistische und epistemologische Dimensionen im Kontext des stilistischen Diskursbereichs behandelt werden. Der pfälzische Sprachkundler konstatiert eine deutliche Kluft zwischen der anvisierten Leitvarietät und dem heimischen Dialekt (ebd., 56ff.). Seine Kritik betrifft dabei alle Schichten, vor allem aber den Adel. Da Hemmer selbst als Hofkaplan tätig war, muss diese Kritik zunächst erstaunen, seine Kritik bleibt aber auf die sprachlichen Verhältnisse

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

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beschränkt.125 Den Sprechern weist er in den nachfolgenden Abschnitten zahlreiche Abweichungen vom Hochdeutschen nach, die sich vor allem auf die Aussprache beziehen (vgl. ebd., 78ff.). Von zentraler Bedeutung sind seine Aussagen zur Orthographie. Hemmer diskutiert die häufig zitierte Formel: „Schreib, wie du sprichst.“ Er ist sich sehr wohl bewusst, dass eine Orientierung an der Aussprache durch die Sprachkundler der verschiedenen Sprachlandschaften zwangsläufig zu einer Vielzahl von Varianten führt (ebd., 96f.). Die Einrichtung der Orthographie solle sich deshalb nach der „besten Mundart“ richten, die er sprachsoziologisch als Sprachgebrauch der Bildungseliten bestimmt (vgl. ebd., 98, → Gelehrte2).126 Für die Orthographie nennt Hemmer vier Prinzipien: Erstens solle die Schreibung sich am ‚Prestigesoziolekt‘ der Bildungseliten orientieren bzw. an deren schriftsprachlichen Textzeugnissen. Das zweite Prinzip ist die Etymologie. Damit ist die Schreibung von Ableitungen und Zusammensetzungen gemäß des Stammworts gemeint (vgl. ebd., 101). Drittens wird auf die Analogie verwiesen. Viertes Prinzip ist die orthographische Differenzierung von Homonymie. Die Sprache solle gemäß dieser Prinzipien bereinigt werden. Insgesamt sind Hemmers Orthographienormen eng an Gottsched angelehnt. Verwiesen sei an dieser Stelle auf einige Aspekte seiner Orthographienormen, die die verschiedenen Abweichungen der Konsonanten betreffen: Phänomen

Aussprache in der Pfalz

Normierungsvorschlag

Verwechslung von b und p

‚Babst‘, ‚Bech‘ usw.

‚Papst‘, ‚Pech‘ usw.

nicht erfolgte Lautverschiebung von p zu pf

‚Perd‘, ‚Panne‘, ‚Pote‘. Allerdings sei diese Aussprache auf die niederen Schichten begrenzt.

‚Pferd‘, ‚Pfanne‘, ‚Pfote‘

Aussprache von s als schLaut, wenn es mit einem t verbunden ist und die Silbe schließt.

‚ischt‘, ‚Lischt‘ usw.

‚ist‘, ‚Licht‘ usw.

t:d-Opposition im Anlaut

‚Dod‘, ‚Dugend‘, ‚Dochter‘

‚Tod‘, ‚Tugend‘, ‚Tochter‘

125 Seine Kritik am expansiven Fremdwortgebrauch ist durchaus berechtigt, da zumindest in seinem engeren Wirkungsfeld, der Residenzstadt Mannheim, zu dieser Zeit eine außerordentliche Mehrsprachigkeit herrscht: „Deutsch als Umgangs- oder Alltagssprache, Französisch als Sprache des Hofes und Bildungsbürgertums, Latein als Wissenschaftssprache und Italienisch als Opernsprache“ (Kamitake 1987, 51). 126 Die Anlehnung an die ‚gute Aussprache‘ ist eines der orthographischen Leitprinzipien der zeitgenössischen Diskussion und wird bereits von Quintilian vertreten.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Hemmers Annäherung an die von Gottsched angestrebte Leitvarietät kommt auch in seiner gemäßigten Haltung gegenüber der Apokope des auslautenden e zum Ausdruck. Er plädiert für eine Schreibung des auslautenden e und weist den Vorwurf zurück, dass dies eine affektierte, „weibische“ oder „lutherische Redensart“ (ebd., 130) sei. Er verlangt ausdrücklich die Trennung von konfessionellen und sprachkundlichen Argumentationen. Insgesamt lässt sich für seine Normierungsvorschläge eine deutliche Nähe zu Gottsched konstatieren, wenngleich er das Pfälzische als Dialekt keineswegs beseitigen möchte, sondern eine Normierung und Vereinheitlichung der Schriftsprache anstrebt.127 Seine Grammatik ist ganz von dem Bemühen um eine einheitliche Schriftsprache geprägt. Seine im Jahre 1775 veröffentlichte „Deutsche Sprachlehre zum Gebrauch der kuhrpfälzischen Lande“ (DSL 1775) basiert im Wesentlichen auf der in der Abhandlung bereits erläuterten Konzeption des Hochdeutschen. Dort heißt es zunächst: So verschieden und streitend alle diese Mundarten sind: so gehet doch eine gewisse Art zu reden in Deutschland im Schwange, die überall verständlich, überall in Hochachtung ist: Diese bindet sich an keine besondere Mundart, sondern nimmt das Gewöhnlichste und Bäste aus allen Mundarten heraus. Das ist allso eine ausgesuchte Sprache, eine auserlesene Mundart, welche billig den erhabenen Namen der hochdeutschen führet; und blos nach dieser haben wir uns zu richten. (Hemmer DSL 1775, 7)128

Diese beste Mundart wird in expliziter Anlehnung an Quintilian und Schottelius als die „Sprache der Gelehrten“ bestimmt (ebd., 8f., ebenso 7f.). Hochdeutsch wird bildungssoziologisch aufgeladen als das „Attische“ (ebd.) Griechenlands. Eine Identifizierung mit einem einzelnen Dialekt sei aufgrund der mangelnden „Gleichförmigkeit“ (ebd., 5) der Dialekte untereinander ausgeschlossen. Diese explizite Inanspruchnahme der analogistischen Position steht unvermittelt neben der Anlehnung an die meißnischobersächsische Leitvarietät. Braun: Sprachnormierung im Rahmen der staatlichen Reformen in Kurbayern Der katholische Sprachkundler Heinrich Braun verfolgt ein umfassendes aufklärerisches Bildungs- und Akkulturationsprogramm, das eine neue gesellschaftliche Kultur in Bayern begründen und verbreiten soll. Er ist einer der wichtigsten Exponenten der katholischen Aufklärung in Süd127 Vgl. die ausführliche Diskussion von Hemmers „Abhandlung über die deutsche Sprache zum Nutzen der Pfalz“ (ADS 1769) bei Kamitake (1987, 46-144). 128 In dieser Form hat auch Gottsched das Hochdeutsche definiert (vgl. Gottsched DS 1762, 2f.).

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deutschland (vgl. ausführlich Keck 1998). Seit 1778 ist er als Leiter des gesamten Schulwesens in Bayern mit umfassenden Schulreformen betraut, die u. a. die allgemeine Schulpflicht, eine Einrichtung von Lehrplänen und die Regelung der Lehrerausbildung betrifft. Berücksichtigt wird seine im Jahre 1765 erschienene „Anleitung zur Deutschen Sprachkunst“, die als Lehrbuch in den süddeutschen Schulen eingeführt wird.129 Heinrich Brauns Definition von Sprachkunst erinnert an die rationalistische Sprachkonzeption Gottscheds: „Eine Sprachkunst ist eine gegründete und richtige Anweisung, wie man die Sprache eines Volkes in ihrem Zusammenhang gründlich einsehen, und nach diesen Gründen richtig reden und schreiben können […]“ (Braun ADS 1765, 1) solle. Grundlage der „Vollkommenheit“ und „Schönheit“ (ebd., 2) der Sprache, die durch die Grammatik gewährleistet und gefördert werden solle, ist die „Gleichförmigkeit aller Wörter und Redensarten“ (ebd., 3). Die Regeln zum Erreichen dieser grammatischen Richtigkeit sollten aus dem tatsächlichen Sprachgebrauch abgeleitet werden. Braun spricht sich entschieden gegen eine Normierung der Sprache anhand vorab festgelegter Normen aus (vgl. ebd., 3).130 In der Vorrede seiner Sprachlehre macht der katholische Aufklärer deutlich, dass es ihm keineswegs darum geht, die Eigenheiten seiner regionalen Sprachform zur Norm zu erheben, sondern dass er eine Angleichung der oberdeutschen Schriftsprache an die überregionale hochdeutsche Schriftsprache anstrebt (vgl. ebd., V). Das Oberdeutsche könne von der Angleichung an den Sprachgebrauch einer anderen Region ebenso profitieren wie sich ein sprachlicher Ausgleich für die deutsche Gesamtsprache als nützlich erweisen könne. Braun ist sich bewusst, dass die anderen europäischen Nationen bei der Sprachkultivierung erheblichen Vorsprung besitzen (ebd., IVff.). Insofern unterstützt er mit seiner für die bayerischen Schulen verbindlich gemachten Sprachlehre die von seinem Landesfürsten in die Wege geleitete Reform des Schulunterrichts als Teil eines sprach- und kulturreformerischen Programms. Die zur Normierung der Sprache notwendigen Regeln müssen nach Braun durch das Prinzip der Analogie ermittelt werden (vgl. ebd., 4f.). Das Kriterium der Analogie, das für Schottelius maßgeblich ist und das auch bei Gottsched eine wichtige Rolle spielt, dient damit als Entscheidungsgrundlage der Selektion normgerechter Varianten. Dies gilt für alle Berei129 Vgl. dazu Matzel/Penzl (1982, 120ff.), Wiesinger (1983), Keck (1998, 39-82). 130 Vgl. seine Anmerkung in der Fußnote f) (ebd., 4): „Ein Sprachlehrer ist ja kein monarchischer Gesetzgeber: er zieht die Regeln nicht aus seinem Kopfe, sondern aus der Übereinstimmung und Abweichung der Theile in der Sprache selbst. Die Sprache hat die Regeln schon in sich, der Sprachlehrer decket sie nur auf.“ (ebd., 4)

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che der Sprachlehre: Orthographie, Prosodie, Etymologie, Wortbildungslehre und Syntax. Die Regeln der Sprache sollten darüber hinaus von dem „Gebrauche der besten Schriftsteller“ (ebd., 6) hergeleitet werden. Die Ausführungen zur Deklination der Substantive, Artikel und Pronomen sowie zur Steigerung der Adjektive zeigen, dass er die von Dornblüth aufgestellten Normen verwirft (s. unten) und sich enger an Gottsched anlehnt, den er bereits in der Vorrede anerkennend erwähnt (ebd., 8). Braun bricht somit mit dem von Dornblüth noch verteidigten Vorbild der oberdeutschen Kanzleisprachentradition. Grundlage seiner Sprachnormierung ist die Vorstellung, dass es eine den Dialekten gemeinsame „wesentliche Gleichheit“ gibt (vgl. ebd., 6). Damit ist eine ihnen inhärente gemeinsame Regelmäßigkeit gemeint. Das Hochdeutsche ist somit bei Braun zu bestimmen als das durch Analogie definierte Substrat des besten aller deutschen Dialekte. Brauns Definition des Hochdeutschen ist dabei nahezu mit der Gottsched’schen Definition identisch, insofern sie das Hochdeutsche schichtspezifisch und stilistisch genau bestimmt und gleichzeitig an die Definition von Schottelius erinnert: […] sie [die Dialekte, Anm. KF] kommen doch in der Hauptsache zusammen: denn in allen diesen Ländern giebt es eine Mundart, welche wir die Hochdeutsche zu nennen pflegen: diese wird von klugen und über den Pöbel erhabenen Leute geredet: in dieser werden die meisten und besten Bücher geschrieben, diese versteht man in allen Ländern Deutschlands, von dieser weichet Niemand ab, den nicht entweder die Unwissenheit oder die Eigenliebe gegen die von Jugend auf angewöhnte Aussprache verleitet. (ebd., 7)

Wie in dem Zitat deutlich wird, handelt es sich bei seiner Leitvarietät um den mündlichen Sprachgebrauch einer soziolinguistisch genau festgelegten Sprechergruppe, so gilt etwa für die Normierung der Aussprache, dass sie sich nicht am Sprachgebrauch der niederen Schichten orientieren solle (ebd., 37). Seine schriftsprachliche Leitvarietät wird zusätzlich sprachgeographisch bestimmt, wobei er den norddeutsch-ostmitteldeutschen Raum als Vorbild anerkennt. Die Akzeptanz der meißnisch-obersächsischen Leitvarietät zeigt sich beispielsweise in seiner sachlichen Darstellung der „Feindschaft“ der Süddeutschen gegenüber dem „angehängten e“ bzw. der „lutherischen Schreib- und Redensart“ (ebd., 78). In seinem umfangreichen Kapitel „Von dem E“ schlägt Braun in seiner „Anleitung zur deutschen Sprachkunst“ vor, drei Typen zu unterscheiden: „ein überflüssiges, ein nothwendiges, und ein zierliches e“ (ebd., 63). Die genannten Formen der letztgenannten Kategorie werden in den beigefügten Wortlisten den apokopierten Formen gegenübergestellt (ebd., 72ff.). Die als ‚zierlicher‘

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gekennzeichneten Formen des Ostmitteldeutsch-Niederdeutschen genießen zwar einen gewissen Vorzug, allerdings steht es dem Sprecher frei zu wählen, welche Variante er präferiert (ebd., 79).131 Zum Beweis seiner Argumentation und zur Widerlegung, dass es sich bei dem auslautenden e um eine „konfessionelle Variante“ handelt, zitiert Braun Zitate aus Bibeln, die bereits vor Luther entstanden sind (ebd., 62).132 Von Justi: Anerkennung des meißnisch-obersächsischen Sprachvorbilds in Österreich Der aus Thüringen stammende Johann Heinrich Gottlob von Justi (17201771) hat 1755 die „Anweisung zu einer guten Deutschen Schreibart“ (von Justi ADS 1755) verfasst, die er für seine Vorlesungen am Theresanium konzipiert hat. Von Justi hat dort seit 1750 die Professur für deutsche Beredsamkeit inne, die erste Professur dieser Denomination in Österreich, die von der Kaiserin Maria Theresia selbst eingerichtet worden ist. In der Vorrede seiner Schrift wird die Notwendigkeit der Sprachverbesserung und -normierung ausführlich begründet. Im Vergleich zu den Sprachkultivierungsbemühungen Italiens und Frankreichs bestehe in den deutschsprachigen Gebieten immer noch enormer Nachholbedarf, da sich hier erst nach 1700 entscheidende Aktivitäten entfaltet hätten (ebd., 7). Außerdem habe, so seine sprachkritische Diagnose, die sich schon bei von Antesperg findet, das Französische immer mehr Prestige als das Deutsche besessen. Für den Bereich der Stillehren für den Verwaltungssektor sieht er die dringliche Notwendigkeit eines Kompendiums (ebd., A3r). Den ersten Teil seiner Stillehre widmet er der Grammatik, wobei die ersten Kapitel die Einzelwortsemantik, Morphologie, Figurenlehre u. a. behandeln. Der erste Abschnitt dieser theoretischen Einleitung beginnt mit einem für den zeitgenössischen Sprachnormierungsdiskurs typischen Sprachlob: „Unsre deutsche Sprache hat so viel Vorzüge, als irgend eine andre lebendige Sprache unsers Welttheils.“ (ebd., 3) Die Gültigkeit dieser Feststellung versucht er in den folgenden Paragraphen zu belegen, indem er sich mit der „Regelmäßigkeit“ (ebd., 4), der Euphonie (ebd., 5), der

131 Besondere Freiheit gesteht Braun den Dichtern zu (ebd., 81). 132 Dass Brauns Bemühungen um die deutsche Sprache in Norddeutschland positiv aufgenommen werden, zeigt die Rezension der dritten Auflage seiner Sprachkunst von S. J. E. Stosch. Der Rezensent lobt ausdrücklich die Bemühungen um die Verbesserung des Hochdeutschen und hält die Mehrheit der aufgestellten Regeln für richtig (Stosch ADB 1776, 571).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Uneinheitlichkeit der Orthographie und der Grammatik des Deutschen im Hinblick auf seine regionalen Varietäten befasst.133 An dieser Stelle ist die Erörterung der bislang nicht erfolgten Normierung der Orthographie und Grammatik besonders interessant: Von Justi führt aus, dass die in den deutschsprachigen Gebieten ausgebliebene Normierung dieser Bereiche im Wesentlichen der politischen Verfassung des Reichs geschuldet sei, die eine Vereinheitlichung unmöglich gemacht habe: Diese Verschiedenheit in den Regeln hänget einigermassen von unserm Regierungszustande ab; und bey so vielen freyen Staaten ist kein anderes Mittel, etwas durchgängig einzuführen, als der gemeine Beyfall. Dazu haben aber unsere Großen und die Canzelleyen noch nicht Aufmerksamkeit genug auf die Richtigkeit der Sprache [gelegt]. (ebd., 9)

Von Justi sieht die Lösung in der Gründung einer kaiserlichen Akademie, die mit der erforderlichen staatlichen Autorität eine derartige umfassende Sprachreform erst möglich machen würde, insofern stimmt er mit früheren Bestrebungen Carl Gustav Heräus und auch den Überlegungen von Antespergs überein (siehe Kapitel 3.3.3.2 und Kapitel 3.3.3.4). Die von Gottsched betriebenen Pläne einer derartigen Akademie zerschlagen sich nach 1750 endgültig. Angesichts der Vielfalt der Sprachvorbilder schlägt von Justi die Orientierung an zwei Prinzipien vor: Man solle erstens nur diejenigen Neuerungen übernehmen, die zur Vollkommenheit der Sprache beitrügen und begründet seien (ebd., 10). Entscheidend sei zweitens die Häufigkeit der Verwendung einer Variante und die Verwendung durch berühmte Schriftsteller (ebd., 133). Als Sprachvorbild gilt somit der Usus der Bildungseliten. Für den Erwerb der Grammatikkenntnisse, die für die Schreibung und Stillehre vorausgesetzt werden müssen, empfiehlt von Justi Gottscheds „Deutsche Sprachkunst“ nachdrücklich. Dass der österreichische Kameralist und Sprachkundler allerdings kein „blinder“ Gefolgsmann Gottscheds ist, kommt in dem einleitenden theoretischen Teil mehrfach zum Ausdruck: − Von Justi schlägt im Gegensatz zu den fünf Deklinationsarten bei Gottsched fünfzehn vor (vgl. ebd., 4).

133 Den Vorwurf, dass das Deutsche keine ‚Regelmäßigkeit‘ aufweise, d. h. in der zeitgenössischen Terminologie keine ‚(Grund-) Richtigkeit‘, entkräftet von Justi mit einem bemerkenswerten Argument: Die früheren Sprachkundler hätten es verfehlt, die Regelhaftigkeit des Deutschen darzulegen, erst Gottsched habe einen ersten bedeutsamen Beleg für die Regelhaftigkeit des Deutschen vorgelegt (ebd., 4).

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Gottsched habe die Schreibung von „schmäucheln“ für „schmeicheln“ und „häucheln“ für „heucheln“ empfohlen, da er die Grundformen „Schmauch“ und „Hauch“ angesetzt habe, diese Schreibung habe sich aber zu Recht nicht durchgesetzt, weil sie unbegründet sei (vgl. ebd.). − Von Justi reduziert die sechs Regeln der Orthographie auf drei Hauptregeln (vgl. ebd., 12): 1. Schreibung nach dem Stammwortprinzip, 2. Schreibung nach der guten Aussprache und 3. Schreibung nach dem bewährten Usus. Neben der in der Einleitung dargelegten Problematik einer fehlenden Einheitlichkeit in den Bereichen der Grammatik bzw. Orthographie und dem Fehlen einer staatlichen Normierungsinstanz wird im ersten Hauptstück besonders die Verwendung landschaftlicher Varianten problematisiert. So heißt es da: Zu der Güte und Gültigkeit der Wörter wird auch erfordert, daß man keine Provinzialwörter gebrauchet. Es giebt nämlich in allen Provinzen von Deutschland solche Wörter, die nur in demselbigen Lande den Gebrauch vor sich haben, von dem allgemeinen Gebrauch aber weder unterstützet noch überall verstanden werden. Man würde also wohl wider das Wesentliche der guten Worte, als wider den vornehmsten Endzweck der Schrift, nämlich die Verständlichkeit, handeln, wenn man sich derselben bedienen wollte. (von Justi ADS 1755, 35f.)

Wenngleich die Verwendung von landschaftlichen Varianten ein Problem aller Varietäten sei, auch des Meißnischen, so sei diese besonders in Niedersachsen und Österreich problematisch. Deshalb fügt von Justi seiner Schrift ein kurzes Verzeichnis von österreichischen Varianten bei (ebd., 36). Neben den Provinzialwörtern wird die Verwendung von „gemeinen und pöbelhaften Ausdrücke[n]“ (ebd., 36) sowie die Verwendung von Fremdwörtern (ebd., 37f.) stigmatisiert. Sprachpuristische Übertreibungen lehnt er aber wie die Mehrheit der Sprachkundler des 18. Jahrhunderts ab. Seine Haltung gegenüber den dialektalen oberdeutschen Varianten ist somit weitaus restriktiver als die Popowitschs. Seine Sprachreform strebt eine grundlegende Verbesserung der oberdeutschen schriftsprachlichen Varietät an, wobei er gewillt ist, den erfolgreichen Sprachkultivierungsbemühungen Nord- und Mitteldeutschlands zu folgen und die meißnischobersächsische Schriftsprache als Vorbild anzuerkennen. Von Felbiger: Akzeptanz des meißnisch-obersächsischen Sprachvorbilds Johann Ignaz von Felbiger (1724-1788), Abt des Augustiner-ChorherrenStiftes zu Sagan in Schlesien, wird vom preußischen Staat mit der Reform der katholischen niederen Schulen in Schlesien beauftragt (vgl. Stanzel

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

1976). Im Jahre 1765 erhält das von ihm vorgelegte Schulgesetz „Königlich-Preussisches General-Land-Schul-Reglement für die RömischCatholischen in Städten und Dörfern des souverainen Herzogthums Schlesien und der Grafschaft Glatz“ (GLR 1765) die königliche Approbation. Auf Bitten der Kaiserin Maria Theresias kommt von Felbiger nach Österreich und wird dort mit der Reform des Schulwesens betraut. Auf der Grundlage seiner „Allgemeine[n] Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen in sämmtlichen Kaiserl. Königl. Erbländern d.d. Wien den 6ten December 1774“ entwickeln sich die allgemeinbildenden Pflichtschulen und die Lehrerbildung in Österreich (vgl. Stanzel 1976, 55). Die von Felbiger’schen Reformen werden in zahlreichen katholischen Gebieten wahrgenommen und teilweise übernommen (vgl. ebd., 297-325), beispielsweise von dem Benediktiner Heinrich Braun in Bayern, im Hochstift Fulda, in Kurköln und Münster, darüber hinaus in Tirol und Russland (vgl. ebd.). Von Felbiger hat mit dem preußischen „General-Land-SchulReglement“ einen umfassenden Entwurf für das Schulwesen vorgelegt, der neben der Lehrerausbildung und dem muttersprachlichen Unterricht weitere Gebiete wie den Lateinunterricht, Geographieunterricht und den Katechismus behandelt. Bereits im „General-Land-Schul-Reglement“ wird deutlich, dass von Felbigers muttersprachlicher Unterricht die Bereiche Grammatik, insbesondere den Teilbereich der Orthographie, umfasst und auch die Anfertigung von Briefen und anderer Textsorten berücksichtigt. Als Autorität in allen Fragen der Grammatik wird Gottscheds „Kern der deutschen Sprachkunst“ (Gottsched KDS 1753) benannt, ein Auszug der „Deutschen Sprachkunst“ von 1748 (vgl. von Felbiger GLR 1765, 12). Von Felbiger folgt somit dem meißnisch-obersächsischen Sprachvorbild Gottscheds. Von Felbigers umfassendes Reformwerk kann an dieser Stelle nur unter dem Hinblick seines Konzepts einer Leitvarietät behandelt werden, wobei sein Methodenbuch von 1775 herangezogen wird (vgl. von Felbiger EBS 1775).134 Für den Orthographieunterricht der Anfänger empfiehlt er dem Lehrer, auf Vermittlung theoretischer Grundlagen zu verzichten und den Schülerinnen und Schülern als einfache Lehrformel folgenden Satz zu vermitteln, der seine Orientierung am schriftsprachlichen Usus der vorbildlichen Schriftsteller zum Ausdruck bringt: „Es ist wieder den richtigen 134 Herangezogen wird das sechste Hauptstück „Von der deutschen Rechtschreibung und Orthographie“ (von Felbiger EBS 1775, 190-193), das siebte Hauptstück „Von der deutschen Sprachlehre“ (ebd., 193-199) sowie das achte Hauptstück „Von den schriftlichen Aufsätzen und der Anleitung, Briefe zu schreiben“ (ebd., 199-202). Vgl. zu Felbigers Grammatik auch Wiesinger 1995 sowie Roessler 1996 und 1997.

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

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Gebrauch; die besten Schriftsteller unserer Zeit schreiben nicht so.“ (von Felbiger EBS 1775, 190) Das Methodenbuch verbindet kurze Anweisungen zur Sprachdidaktik mit knappen Bestimmungen des jeweiligen Gegenstandes und ist somit vor allem pragmatischen Zwecken des Unterrichts und der Lehrerausbildung verpflichtet. Eine ausführliche Diskussion der zeitgenössischen Hochdeutsch-Konzeptionen findet sich deshalb nicht. Das Werk enthält Kernbereiche der Grammatik, wie etwa Ausführungen zum Wort, zum Satz sowie orthographische Regeln (vgl. von Felbiger EBS 1775, 190-202). Zum Ziel der „Anleitung zur deutschen Sprache“ heißt es: Unsere Anleitung zur deutschen Sprache dient nicht allein dazu, daß die Jugend die deutschen Wörter richtig abzuändern und zu verbinden daraus erlerne, sie kann auch ein gutes Hilfsmittel zur Erlernung anderer Sprachen sein. Man hat sich bemühet, den deutlichsten Begriff von den Teilen einer Rede zu geben, welche meistenteils in allen Sprachen vorkommen. (ebd., 194)

Auch an dieser Stelle mutet die didaktische Konzeption seines Methodenbuchs überaus modern an, insofern er die These vertritt, dass die gründliche Kenntnis der eigenen Sprache und ihrer Grammatik eine wichtige Voraussetzung für das Erlernen der Fremdsprachen darstellt. Dabei betont von Felbiger, dass er sich „der Regeln und Anmerkungen der neuesten Sprachlehrbücher“ (ebd., 195) bedient habe. Um genaueren Aufschluss über die Grundlagen seiner Sprachreform in Österreich zu erhalten, wird an dieser Stelle die gedruckte Fassung seiner Vorlesung mit dem Titel „Die Beschaffenheit und Grösse der Wohlthat welche Maria Theresia durch die Verbesserung der deutschen Schulen ihren Unterthanen, dem Staate und der Kirche erwiesen hat“ (von Felbiger MT 1781) herangezogen.135 Im ersten Teil macht der Theologe deutlich, dass die Reformierung des Schulwesens den Kindern und Jugendlichen aller Stände zu Gute kommen solle (ebd., 7f.). Ziel des Unterrichts sei eine umfassende Bildung des Verstandes und der sprachlichen Fähigkeiten. Der Unterricht solle zentrale kognitive Kompetenzen ausbilden. Dabei geht von Felbiger davon aus, dass die Sprache und das Denken aufs Engste miteinander verbunden sind: Die Sprache mache die Welt begrifflich fassbar und Erkenntnis sei nur durch die an Sprache gebundenen Begriffe möglich. Deshalb kommt dem Erlernen der Buchstaben und der 135 Der Vortrag besteht aus fünf Teilen, der erste Teil lautet „Die Beschaffenheit der Verbesserung der deutschen Schulen“ (ebd., 6-18), der zweite „Nutzen der Schulverbesserung für alle Klassen der Unterthanen“ (ebd., 18-34), der dritte „Nutzen der Schulverbesserung für den Staat“ (ebd., 34-44), der vierte „Nutzen der Schulverbesserung für die Kirche durch Veranstaltung gründlicher und vollständiger Kenntnisse der Religion“ (ebd., 45-55). Den letzten Teil bildet ein „Beschluß“ (ebd., 56-58).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

richtigen Aussprache im sprachlichen Anfangsunterricht in seiner sprachdidaktischen Konzeption zentrales Gewicht zu. Zur Illustration seines Ansatzes sei eine Stelle aus der Vorlesung ausführlich wiedergegeben: Schon dabei [in den untersten Klassen, Anm. KF] legt man den Grund zu der für das ganze menschliche Leben so wichtigen Aufmerksamkeit, zum Unterscheiden ähnlicher Dinge, zur Beobachtung der Merkmale der Sachen, mit einem Worte zum Rechtsehen und Rechthören, und noch über dieses zum Rechtsprechen. Die Kinder müssen besonders, da der Lehrer durch das Verändern der auf die Tafel vorgeschriebenen Buchstaben erforschete, ob sie jeden richtig kennen, die Merkmale eines jeden wohl gesehen, den Namen desselben recht gehört, gemerkt, und das Unterscheidende genau beobachtet haben. Sie müssen den Laut, welchen sie bei einzelnen Buchstaben bei dem Buchstabiren, Vorsagen, oder Vorlesen von dem Unterweiser hörten, richtig wieder von sich hören lassen; die Werkzeuge der Sprache werden dadurch gewöhnt, die gehörigen Töne zu nehmen, und eben dadurch wird die schlechte oder falsche Aussprache verbessert, die Kinder werden dahin gebracht, daß sie die deutsche Sprache nun bis zur Verwunderung besser reden, als ihre Eltern. (ebd., 10)

Dass die zu diesem Zeitpunkt schon verstorbene Kaiserin Maria Theresia eine umfassende Bildungs- und Schulreform in den habsburgischösterreichischen Territorien eingeleitet hat, betont von Felbiger in den zwei folgenden Abschnitten, wobei er zunächst auf den Nutzen der Reformen für die Bevölkerung eingeht und dann den Nutzen derselben für den Staat erläutert. Zur Förderung der Wissenschaften habe die Kaiserin Universitäten, Akademien, Lyceen und Gymnasien teils ausgebaut und teils neu gestiftet (ebd., 18f.), wobei sie den Elementarschulen zentrale Aufmerksamkeit geschenkt habe, da diese den Grundstein legten für die nachfolgenden höheren Schulen. Adressat der Reformen sei nicht allein der Adel gewesen, sondern auch das Volk (ebd., 19f.), nicht zuletzt, da sie um den schlechten Zustand der Volksschulen gewusst habe. Im dritten Teil (ebd., 34-44) führt von Felbiger aus, welchen Nutzen der Staat von den Reformen gezogen hat. Dies sei zum einen die Erziehung der Bevölkerung „zum Gehorsam und zur Unterwürfigkeit“ (ebd., 36), womit erkennbar wird, dass von Felbigers Schulreform auch basalen Interessen des österreichischen Staates dient: „Ein folgsamer Schüler wird auch gewiß ein gehorsamer Unterhan des Staats werden.“ (ebd.) Die schulische Erziehung ist trotz aller modernen Ansätze und aufklärerischen Zielsetzungen auf die Einübung der ständischen Ordnung gerichtet (vgl. ebd., 41). Sein Programm steht darüber hinaus im Dienste einer umfassenden Modernisierung der katholischen Territorien, die nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen notwendig geworden ist. Von Felbiger selbst spricht von einer wirtschaftlichen Prosperität der protestantischen Gebiete, die er aus der guten schulischen Ausbildung der Kinder der Protestanten herlei-

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tet. Diesem Bereich aber hätten die Katholiken lange Zeit keine Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Klage teilt er mit dem protestantischen Gebildeten Georg Litzel (vgl. Litzel UC 1730, von Felbiger MT 1781, 37f.). Der vierte Teil präsentiert die positiven Folgen der Reformen für die Kirche (ebd., 45-58). In seiner „Anleitung zur deutschen Sprachlehre“ (von Felbiger ADS 1777), die nur die „Wortforschung und Wortänderung“ behandelt, findet sich eine deutliche Abgrenzung der von ihm anvisierten Leitvarietät von der Sprache der unteren Schichten: „Unrichtig sagt der Pöbel: die Schattener, Staner, Bämer, Bäner, Gebäuer […], anstatt die Schotten, die Steine, Bäume, Beine, Gebäude […].“ (ebd., B2v) Seine Leitvarietät entspricht somit dem Gebrauch der Bildungseliten und Oberschichten und hebt sich von den Dialekten ab. Weitenauer: Akzeptanz des meißnisch-obersächsischen Sprachvorbilds in den jesuitischen Grammatiken Eine weitgehende Akzeptanz der obersächsischen Schreibsprachnormen in den katholischen Gebieten wird ebenfalls in den „Zweifel[n] von der deutschen Sprache“ des Innsbrucker Orientalisten und Jesuiten Ignaz Weitenauer von 1764 deutlich (Weitenauer ZDS 1764). Weitenauer ist der erste jesuitische Sprachlehrer, der sich nicht mehr an die von dem Jesuiten Andreas Freyberger ins Lateinische übersetzte Grammatik von Matthias Kramer anlehnt, sondern mit der Veröffentlichung seiner bestehenden „Zweifel“ im Hinblick auf Normierung und Vereinheitlichung der Rechtschreibung weitgehend das von Gottsched präferierte Konzept einer Leitvarietät übernimmt. Sein Hochdeutsch-Konzep wird deshalb kurz dargestellt. Der enormen Differenzen der einzelnen deutschen Dialekte ist sich Weitenauer sehr wohl bewusst, dennoch ist die Vereinheitlichung des Deutschen zumindest im schriftsprachlichen Bereich der Rechtschreibung für ihn absolut notwendig und dringlich (ebd., VIIf.). Weitenauer geht von der Existenz eines gemeinsamen „Hauptwesens“ des Deutschen aus, das alle Dialekte miteinander teilen (ebd., VI). Eine Normierung und Vereinheitlichung der deutschen Schriftsprache sei auf dieser Grundlage also möglich. Zur Normierung der Schriftsprache schlägt Weitenauer ein sprachstrukturelles und ein am Gebrauch orientiertes Kriterium vor: Als erste Regel könne nach Weitenauer gelten, dass nur diejenigen Laute geschrieben werden, die tatsächlich zu hören sind. An dieser Stelle führt er somit ein phonemisches Prinzip ein. Durch diese Regel könne klar entschieden werden, dass die Schreibung „Meer“ der Schreibung von „Mer“ vorzuziehen sei (ebd., 11). Nun konstatiert der jesuitische Gebildete aber

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

eine Reihe von Fällen, in denen die Aussprache nicht regelleitend sein könne, beispielsweise bei der Schreibung von „Thor“ oder „Tor“. Hier führt Weitenauer nun neben dem sprachstrukturellen Kriterium ein sprachsoziologisches ein: Die Schreibung habe sich am Gebrauch der Gebildeten im Gegensatz zum „Gassendeutsch“ (ebd., 12f.) zu orientieren. Schließlich heißt es, dass diejenige Aussprache als Vorbild dienen könne, „welche in öffentlichen Reden gebrauchet wird, wenn sie durch ganz Deutschland geht, und in allen Provinzen gleich üblich ist“ (ebd., 14). Ganz ähnlich formuliert dies auch Gottsched in seiner Grammatik (vgl. Gottsched DS 1762, 38). Beide Sprachkundler treffen sich also in der Ansicht, dass die gesprochene Sprache der niederen Schichten kein Maßstab der Orthoëpie sein könne. Die Akzeptanz zahlreicher von Gottsched aufgestellter Einzelnormen lässt sich besonders gut an seinen Ausführungen zum Sprachnormierungsdiskurs verfolgen. Weitenauer unterscheidet zwei Gruppen im Sprachnormierungsdiskurs, die „Gelinden“, d. h. Vertreter des meißnischobersächsischen Vorbilds, und die „Strengen“ (ebd., 23ff.), d. h. Vertreter eines oberdeutschen Sprachvorbilds. Den Vertretern der meißnischobersächsischen Leitvarietät wird zugestanden, sich seit längerer Zeit besonders um die „Milderung“ (ebd., 24) der Muttersprache bemüht zu haben. Im Gegensatz zu den „Gelinden“ lehnen die „Strengen“ jegliche Veränderung des Oberdeutschen ab (ebd.). Im Folgenden wird ein sprachstrukturelles Beispiel, das die Diskussion um Ober- und Hochdeutsch zum Ausdruck bringt, erörtert. Zentraler Gegenstand seiner Darstellung ist die e-Apokope. Weitenauer weist die religiös motivierte Ablehnung bzw. den unversöhnlichen Hass gegenüber dem „unglücklichen e“ (ebd., 35) als völlig unbegründet zurück und delegitimiert damit die Position Dornblüths (vgl. Dornblüth Obs 1755). Ebenso lässt er den sprachideologischen Vorwurf einiger oberdeutscher Gebildeter nicht gelten, dass das „Lutherische e“ (vgl. Socin 1970, 437) in den Ohren schmerze und das „alte Heldendeutsch“ entkräfte (ebd., 25). Vielmehr würden die oberdeutschen Formen zu einer Einsilbigkeit der Wörter führen. Dies trage wiederum dazu bei, dass diese nicht länger „harmonisch klingen“ würden (ebd., 25). Weitenauer übt darüber hinaus auch Kritik an seinen Landsleuten, die das e in Wörtern verwenden, in denen es im Sprachgebrauch des Obersächsischen gar nicht vorgesehen sei. Diese Abweichung hat auch schon Gottsched kritisiert. Die Formen wie ‚Hochmueth‘, ‚Bluet‘ statt ‚Hochmuth‘, ‚Blut‘ ließen sich aber als hyperkorrekte Formen interpretieren. Seine Lösung stellt eine Art Kompromissvorschlag dar: Er teilt die e-Schreibung in drei Klassen ein, wobei die Endungen des weiblichen

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

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Artikels, des Possessivpronomens und bei den Verben in der ersten Person Indikativ und Konjunktiv Präsens sowie der ersten Person Präteritum Konjunktiv als „unanstößig“ (ebd., 29) gelten.136 3.4.3.4 Die Stigmatisierung des Oberdeutschen bei Adelung In Adelungs Darstellung der deutschen Mundarten in dem „Umständliche[n] Lehrgebäude der Deutschen Sprache“ (Adelung UL/1 1782) wird das Oberdeutsche abgewertet, und zwar in Bezug auf lautliche Eigenschaften und im Hinblick auf eine besondere „Weitschweifigkeit“: Die Oberdeutsche unterscheidet sich durch ihre hohe Sprache, durch ihren vollen Mund, durch ihren Hang zu hauchenden, blasenden und zischenden Mitlauten, zu den breiten und tiefen Selbstlauten und zu rauhen Doppellauten; durch ihre Härten, durch ein weitläufiges Wort= und Sylbengepränge, durch weitschweifige Ausdrücke, Überfüllungen und hohe Figuren. (ebd., 74)

Die einzelnen „Sprachfehler“ erläutert Adelung anhand verschiedener Beispiele, von denen einige an dieser Stelle tabellarisch wiedergegeben werden (ebd., 74f.): Übersicht: Adelungs Stigmatisierung des Oberdeutschen Zugeschriebene Eigenschaft

Beispiel

„Fülle des Mundes, daher die vorzügliche Liebe zu hauchenden und blasenden Lauten“ (ebd., 74)

‚Befelch‘ für ‚Befehl‘, ‚verhargen‘ für ‚verheeren‘, ‚trochchen‘ für ‚trocken‘ (vgl. ebd.) Kritisiert wird somit eine im Oberdeutschen im Gegensatz zum Hochdeutschen bzw. Obersächsischen auftretende Lautung.

„Hang zu breiten und vollen Doppellauten statt der verwandten wohlklingenden, oder auch statt der einfachen Selbstlaute“ (ebd.)

Kritisiert werden lautliche Eigenschaften, die das Oberdeutsche im Gegensatz zum Hochdeutschen und Obersächsischen nicht aufweist, z. B. eine nicht vollzogene Monophthongierung (‚Liecht‘, ‚Muetter‘, ‚Brueder‘ für ‚Licht‘, ‚Mutter‘, ‚Bruder‘) bzw. eine nicht erfolgte Senkung der Diphthonge /ou/ zu /au/ (‚hous‘ für ‚haus‘). Außerdem werden als Beispiele landschaftliche Varianten genannt wie ,ablainen‘ für ,heiter‘.

136 Vgl. ausführlich Jahreiß (1990, 188). Während Weitenauer der Terminologie Gottscheds weitgehend folgt, schlägt er im Gegensatz zu Gottsched allerdings ein Vier-Kasus-System für das Deutsche vor und ist damit weitaus progressiver.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Zugeschriebene Eigenschaft

Beispiel

e-Apokope

Die e-Apokopierung führe zur „Härte“ (ebd.) in der Aussprache, beispielsweise im Nominativ von Pluralformen wie ‚Räth‘, ‚Städt‘, ‚Täg‘ für ‚Räthe‘, ‚Städte‘, ‚Tage‘ oder im Nominativ Singular: ‚Bub‘, ‚Knab‘, ‚Gnad‘ statt ‚Bube‘, ‚Knabe‘, ‚Gnade‘.

„harte (ebd.)

Zusammenziehungen“

‚Eidgenoßschaft‘ für ‚Eidgenossenschaft‘ (ebd.)

„[u]nnöthige Verdoppelung und Verhärtung der Mitlaute“ (ebd., 75)

‚Botte‘ für ‚Bote‘, ‚nemmen‘ für ‚nehmen‘, ‚darum‘ für ‚darum‘ (ebd.)

„Verwechselung der harten Mitlaute mit den weichen und vorzügliche Neigung zu den ersten; ein Fehler, welchen man wohl gar den Obersächsischen Mundarten […] beygeleget hat, da er bey ihnen doch nur ein Überbleibsel der Oberdeutschen ist“ (ebd.)

Gemeint ist die mangelnde Differenzierung zwischen t:d sowie p:b; als Beispiele werden genannt ,tringen‘, ,trucken‘, ,Paum‘ (ebd.).

„Überfüllungen der Wörter“ sowie „tausend Bey= und Nebenwörter auf iglich“ (ebd.)

Kritik an Varianten: dieweilen, sämmtlichen, allfolglichen für folglich und an anderen sprachlichen Erscheinungen, die nach Adelung „einen entscheidenden Hang verrathen, mit einem vielsylbigen Geräusche im Grunde wenig zu sagen.“ (ebd.)

„[d]er schwerfällige Gebrauch der Participien“ (ebd.)

Adelung führt als Beispiel an: „die vorgeschützt werden dürfende Wichtigkeit, der angegeben werden wollende Unterschiede“ (ebd.)

Während in den letzten beiden Fällen syntaktische Eigenschaften des Oberdeutschen angesprochen werden, beziehen sich die zuvor genannten Eigenschaften auf die Lautung. Die Wertung von lautlichen Eigenschaften kann Adelung nur mit der Setzung eines alternativen regionalen Sprachvorbildes begründen. Dies stellt für ihn das Obersächsische der Bildungseliten und Oberschichten dar. Die Wertung von lautlichen Eigenschaften lässt sich somit nur in Bezug auf soziolinguistische Faktoren begründen und nicht mit sprachimmanenten Bedingungen. Die beiden zuletzt genannten Merkmale des Oberdeutschen stehen Adelungs stilistischepistemologischen Idealen der ‚Kürze‘, ‚Klarheit‘ und ‚Deutlichkeit‘ der Sprache entgegen und werden deshalb abgelehnt.

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

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Positiv wird aber der Wortreichtum des Oberdeutschen im Vergleich zum Hochdeutschen bewertet. Dies hat Adelung auch in seiner Einleitung zum „Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart“ betont (vgl. Adelung GKW/1 1774). Die Beispiele, die Adelung u. a. aufführt, zeigen, dass er sich nicht zuletzt eine Ersetzung von Fremdwörtern durch oberdeutsche Ausdrücke erhofft: ‚Hochboth‘ für ‚Ambassadeur‘, ‚Gezug‘ für ‚Appelation‘, ‚Fundbuch‘ und ‚Fundregister‘ für ‚Inventarium‘ (ebd., 76). Der lexikalische Reichtum sei ein Ergebnis des Alters und der erfolgten Ausbildung des Oberdeutschen. Dass aber im Fall einer möglichen Bereicherung des Hochdeutschen durch das Oberdeutsche sowohl die allgemeine Verständlichkeit als auch der ‚gute Geschmack‘ berücksichtigt werden müsse, betont Adelung entschieden (Adelung UL/1 1782, 88f.). Damit ist gemeint, dass die Bereicherung nur aufgrund der oberdeutschen Schriftsprache, nicht aber aufgrund der Dialekte geschehen könne: Die höhere Schreibart hat zwar das Recht, statt alltäglicher Ausdrücke und Wendungen, von der volltönigen und prächtigen Oberdeutschen Sprache zu borgen, aber das ist keine Provinzial=Sprache, sondern die ehemalige allgemeinen Schriftsprache, deren stolzer Gang für die gesellige Sprache des Umgangs zu feyerlich ist, aber für den höhern Ausdruck noch manche ungenützte Schätze hat, sollten sie ihren Werth auch nur dem so lange unterlassenen Gebrauche zu danken haben, der ihnen den Reitz der Neuheit mittheilet. (ebd., 90)

Die „Volltönigkeit“ (ebd.) des Oberdeutschen wird, sofern sie in gewissen Grenzen bleibt, ebenfalls positiv bewertet. Da Adelung wie die Mehrheit der Sprachkundler des ostmitteldeutschen Raums aber den Süddeutschen eine kulturelle Stagnation und Rückständigkeit unterstellt, wird das Oberdeutsche als rückständig kritisiert: Gereicht ihr dieser Reichthum, nebst ihrer Volltönigkeit und Pracht, wenn beyde in den gehörigen Gränzen bleiben, zum Ruhme, so kann sie doch den Fehler der Nachläßigkeit in ihrem Putze nicht entschuldigen. Es ist Reichthum ohne Geschmack, Verschwendung ohne Klugheit, und Aufwand ohne Feinheit. Oberdeutschland blieb in der Cultur zurück, als selbige in andern Provinzen sehr schnell fortschritt, daher behielt auch dessen Sprache alle die Härten und rauhen Eigenheiten, welche noch so sehr das Gepräge des fünfzehnten Jahrhunderts an sich tragen. (ebd., 76, vgl. ebenso ebd., 86)

Diese sprachliche und kulturelle Rückständigkeit sei ein Charakteristikum der oberdeutschen Sprachgebiete zwischen Franken und Italien, aber nicht der mitteldeutschen Gebiete. An dieser Stelle werden explizit genannt: der Ober- und Niederrhein, Franken, Thüringen und das südliche Ober- und Niedersachsen sowie Schlesien. Als Grund nennt er die Milderung der Aussprache dieser Regionen durch das Niedersächsische (ebd., 77). Oberdeutsch in dieser Bedeutung meint also wie im heutigen Verständnis die

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

oberdeutsch-bairischen Gebiete im Gegensatz zum Ost- und Westmitteldeutschen (→ Oberdeutsch1/4). In der kurzen Skizze der Entwicklung des Niederdeutschen, Oberdeutschen und Hochdeutschen, die Adelung in seinem Lehrbuch leistet, wird den Sprachkundlern aus dem süddeutschen Raum vorgeworfen, bislang keine ausreichende Erforschung der Dialekte geleistet zu haben, wie dies etwa Richey oder Strodtmann für den niederdeutschen Sprachraum erreicht hätten (ebd., 80). Wenngleich sich einige wenige Sprachkundler um das Oberdeutsche bemüht hätten, wie etwa von Sonnenfels und Braun, sei doch der Neid der „verblühte[n] ältere[n] Schwester“ (ebd., 82) angesichts der Entwicklung des Hochdeutschen meißnisch-obersächsischer Grundlage unverkennbar. Die von einigen süddeutschen Gebildeten erfolgte Infragestellung der meißnisch-obersächsischen Leitvarietät wird als illegitim dargestellt und ins Lächerliche gezogen (ebd., 82f.). Auch die Vorwürfe einiger Sprachkundler, dass die Bezeichnung Hochdeutsch eigentlich dem Oberdeutschen zukomme, wird von Adelung ausführlich diskutiert (ebd., 83ff.). Adelung kontert, dass das Oberdeutsche in Abgrenzung zum Niederdeutschen und auch zum Mitteldeutschen bestimmt und deshalb in der Bedeutung ›Sprache der südlichen Teile Deutschlands‹ zu verstehen sei. Das Hochdeutsche sei zwar insbesondere in Obersachsen ausgebildet worden, und zwar wegen der positiven kulturellen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung und werde dort „unter Personen von guter Lebensart und Erziehung häufiger gesprochen, als in andern Provinzen“ (ebd., 85), es sei aber nicht mit einer regionalen Varietät völlig gleichzusetzen. Da es sich beim Hochdeutschen um eine besonders kultivierte, normierte, ausgebildete Sprachform handele, könne diese nicht mit einer sprachgeographischen Bezeichnung wie Meißnisch oder Obersächsisch belegt werden (ebd.). 3.4.4 Zusammenfassung und Auswertung Johann Christoph Gottsched nimmt im Sprachnormierungsdiskurs in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine diskursdominierende Position ein, insofern die von ihm vertretene Konzeption einer Leitvarietät Ausgangspunkt einer Vielzahl weiterer sprachreflexiver Schriften ist, insbesondere der in Süddeutschland und Österreich veröffentlichten Grammatiken. Der Erfolg der „Grundlegung der Deutschen Sprachkunst“ (DS 1762) Gottscheds ist insbesondere dadurch zu erklären, dass sie sich als überaus anschlussfähig erweist. So wird zwar ein Vorbildanspruch des MeißnischObersächsischen formuliert, dieser steht aber neben anderen konsensfähi-

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gen Legitimationen der Leitvarietät. Somit scheint seine HochdeutschKonzeption im Hinblick auf seine sprachgeographische Bestimmung hin entschärft. Gottsched greift mindestens drei weitere konsensfähige Sprachvorbilder auf. Zu verweisen ist auf die soziolinguistische Bestimmung der Leitvarietät als Sprache der Bildungseliten, die in dieser Form von der Mehrheit der Sprachkundler seiner Zeit geteilt wird.137 Ebenso konsensfähig ist sein Verweis auf die vorbildlichen Schriften und Stilprinzipien wie ‚Reinheit‘, ‚Richtigkeit‘ und ‚Verständlichkeit‘ sowie die Inanspruchnahme des Kriteriums der Analogie. Dennoch provoziert seine Grammatik sowie seine weiteren Schriften in Süddeutschland und Österreich aufgrund des sprachgeographischen Vorbilds Widerspruch. Dass der meißnisch-obersächsische Vorbildanspruch auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht widerspruchslos hingenommen wird, zeigt insbesondere die Schrift „De Observationes“ des Benediktinermönchs Augustin Dornblüth von 1755, die für den letzten polemischen Widerstand gegen die von Gottsched vertretene Konzeption des Hochdeutschen steht (vgl. Dornblüth Obs 1755). Dass der übliche Sprachgebrauch des Deutschen in der Schriftsprache nicht mit dem Kanzleisprachenvorbild übereinstimmt, erkennt Dornblüth nicht (vgl. ebd., 322). Seine übersetzungstheoretischen Überlegungen, die die Verständlichkeit für alle Leser aller Regionen und aller sozialen Schichten zur obersten Norm erheben, stehen sogar im Widerspruch zu der von ihm verteidigten komplexen Klammerstruktur und den häufig aufgeführten oberdeutschen Varianten. Die von Aichinger fast gleichzeitig formulierte Zurückweisung des Obersächsischen ist weitaus vorsichtiger formuliert und nicht konfessionell-sprachideologisch motiviert (vgl. Aichinger VTS 1754). Aichingers Hochdeutsch-Konzeption geht in Anlehnung an die analogistische Position davon aus, dass die Leitvarietät das Substrat des besten aller Dialekte darstellt. Insofern ist er mehr um Ausgleich bemüht als Dornblüth, der im Grunde den Status quo der sprachlichen Entwicklung beibehalten will und das Vorbild der Kanzleisprachen verteidigt. Er teilt Gottscheds Bemühen um eine einheitliche Schriftsprache. Aichingers weitaus tolerantere Sprachnormierungspraxis drückt sich in der Vielfalt von ihm aufgelisteter Varianten und in seiner Toleranz gegenüber grammatischen Formen aus. Da Grammatiker wie Aichinger und Hemmer öfter als Gottsched auch Variationsfälle berücksichtigen und ihre Bedingungen reflektieren, sind sie

137 Das Sprachvorbild des Adels muss hiervon ausgenommen werden.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

sprachwissenschaftlich gesehen als fortschrittlicher einzustufen (vgl. Konopka 1996, 221ff.).138 Durchgesetzt hat sich allerdings die Grammatik Gottscheds und sein Konzept einer hochdeutschen Leitvarietät mit meißnisch-obersächsischer Prägung (vgl. Jakob 1999). Gottscheds Erfolg beruht sicherlich auch auf der beschriebenen Anschlussfähigkeit seiner Konzeption der hochdeutschen Leitvarietät. Ein besonderer Fall, der die Verknüpfung von Sprachpolitik, Sprachgeographie und konkreter sprachstruktureller Norm aufzeigt, ist die Apokope des unbetonten e in den Nebensilben. Als regionales Phänomen der oberdeutschen Territorien gibt ihre Bewertung Aufschluss über die Position der Sprachkundler im Diskurs. Die „konfessionell“ gefärbte sprachideologische Wahrnehmung dieses Phänomens endet in den katholischen Gebieten aber bereits Mitte des 18. Jahrhunderts mit den „Observationes“ des Benediktinerpaters Dornblüth (vgl. Dornblüth Obs 1755). Neben dem protestantischen Oberpfälzer Aichinger und dem katholischen Pfälzer Hemmer ist der in Österreich lebende katholische Sprachkundler Popowitsch einer der entschiedensten Kontrahenten Gottscheds, zumindest im Hinblick auf seine sprachpolitische Position im Diskurs. Sowohl Popowitsch als auch Aichinger vertreten das Konzept einer mundartübergreifenden Ausgleichssprache in Anlehnung an Schottelius und Bödiker (siehe Kapitel 3.2).139 Gerade in den lexikographischen Bemühungen Popowitschs zeigt sich ein oberdeutsches Sprachbewusstsein, das ein Grund für die Ablehnung der obersächsischen Leitvarietät ist. Dieses oberdeutsche Sprachbewusstsein wird in der Folgezeit fortgeführt durch die in den 1770er Jahren im süddeutschen Raum wirkenden Sprachkundler Friedrich Karl Fulda und Johannes Nast. Diese fordern sehr selbstbewusst eine stärkere Gewichtung des Oberdeutschen bei der Normfindung, wie sie auch schon Bodmer und Breitinger für das Alemannische artikuliert haben.140 Die grundsätzliche Neubewertung der Dialekte zeigt sich in der Lexikographie in Form der Mundartwörterbücher und der in Zeitschriften veröffentlichten Idiotismensammlungen. Das fundierende Mo138 Hinzuweisen ist an dieser Stelle nochmals auf die Deklination der Substantive: Während Gottsched noch den Ablativ und Vokativ anführt, ist Aichingers Grammatik weitaus innovativer und verzichtet auf die vom Lateinischen übernommenen Kasus. 139 Ob Aichinger die Arbeiten Popowitschs bekannt waren und vice versa, ist schwierig zu beurteilen, zumindest erwähnen sie sich nicht explizit. Aichingers Grammatik befindet sich aber im Nachlass Popowitschs (vgl. Roessler 1996, 265). Roessler (ebd., 266) hat darauf hingewiesen, dass Aichinger in vielen Fragen der Grammatikographie von Gottsched abweicht, während Popowitschs Normvorschläge in viel größerem Maße mit denen Gottscheds übereinstimmen (vgl. Roessler 1996, 266). 140 Vgl. zu den oberdeutschen Sprachkundlern auch Poppe (1982, 41).

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ment der Mundartenforschung, das bereits zentrale Konzepte der Romantik vorwegnimmt, ist die Bewertung der Dialekte als ursprünglichere Sprachformen, die Aufschluss über den ‚Nationalgeist‘ der Deutschen geben sollen. Trotz der zum Teil überaus polemischen Auseinandersetzungen um die zur Leitvarietät erhobenen regionalen Varietäten und des von Gottsched eingeforderten Alleinvertretungsanspruchs teilen die Sprachkundler aller Regionen aber grundsätzlich den Wunsch nach einer einheitlichen, überregionalen und verständlichen Schriftsprache, die auch von den Gebildeten anderer Nationen als Prestigesprache wahrgenommen wird. Eine Verortung der einzelnen Diskursakteure und ihrer Arbeiten im Sprachnormierungsdiskurs ist nicht aufgrund einer einzelnen Bedingung wie etwa den soziobiographischen Daten (Konfession, Beruf, Wirkungsort), der Selbstpositionierung im Sprachnormierungsdiskurs, der Hochdeutsch-Konzeption, der Rezeptionsgeschichte oder der sprachtheoretischen Grundlagen der jeweiligen Werke möglich. So lässt sich die Durchsetzung der Gottsched’schen Sprachnormierung in den süddeutschen Gebieten und in Österreich im Gefolge der Sprachkundler Braun, von Felbiger und Weitenauer nur durch die Berücksichtigung der sozialund kulturgeschichtlichen Entwicklungen sowie vor dem Hintergrund des Sprachnormierungsdiskurses selbst angemessen verstehen und beurteilen. So ist der Übergang zur hochdeutschen Schriftsprache ostmitteldeutscher Basis sowohl in Bayern als auch in Österreich kulturpolitisch von den staatlichen Autoritäten gewollt, um den Anschluss an den wissenschaftlichen wie wirtschaftlichen Fortschritt in den ostmittel- und norddeutschen Territorien zu erreichen. Eine Beurteilung des einzelnen Diskursakteurs und seiner Hochdeutsch-Konzeption und damit die Verortung im Sprachnormierungsdiskurs ist nur aufgrund einer genauen Betrachtung mehrerer Faktoren möglich, die im Einzelfall stark voneinander abweichen können. Abschließend werden die Positionen einiger wichtiger der in diesem Teilkapitel behandelten Sprachkundler tabellarisch dargestellt, wobei eine Differenzierung hinsichtlich der regionalen und gruppenspezifischen Leitvarietät sowie der Schriftsprache als Sprachvorbild erfolgt:141

141 Der Buchstabe K steht für ‚Kanzleisprache‘ und soll anzeigen, dass es sich um ein besonderes stilistisches Sprachvorbild handelt.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Übersicht: Leitvarietätkonzeptionen um die Jahrhundertmitte Sprachkundler / Werk

Gruppenspezifische Einschränkung

Regionale Leitvarietät Meißnisch/ Ober- NiederOberdeutsch deutsch sächsisch

Gottsched DS 1762 Dornblüth Obs 1755 Aichinger VTS 1754 Hemmer ADS 1769 Popowitsch OV o.J. Braun ADS 1765 Von Justi ADS 1755 Weitenauer ZDS 1764

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Bildungseliten

Oberschichten

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Vorbildliche Schriftsprache

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+ (K)

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Dogmatisierung und Pluralisierung regionaler Leitvarietäten im späten 18. Jahrhundert Die weitgehende Gleichsetzung des Hochdeutschen mit dem MeißnischObersächsischen, wie sie von Gottsched und seinen Anhängern vertreten wird, wird einerseits sowohl von Sprachkundlern aus dem oberdeutschen als auch aus dem niederdeutschen Sprachraum akzeptiert (wie etwa von dem süddeutschen Sprachkundler Heinrich Braun), und andererseits gleichzeitig ganz oder in Teilaspekten in Frage gestellt wird (so etwa von Augustin Dornblüth oder Carl Friedrich Aichinger). Die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in allen Sprachlandschaften entstehenden Idiotismensammlungen und Mundartwörterbücher, die die lexikalischen Ausdrücke einer Region (von der Ebene der Stadt bis hin zu großräumigen Dialekten und Regionalsprachen) verzeichnen, zeigen an, dass eine weitreichende Neubewertung der regionalen Varietäten einsetzt. Werden sie zunächst vor allem als eine zu überwindende Hürde bei der Herstellung einer über-

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regional verständlichen Sprache und als ein Verfallsprodukt einer vormals einheitlichen deutschen Ursprungssprache bewertet, gelten sie nunmehr als wertvoller Ausdruck der Eigenheiten der Bevölkerung einer Region (etwa in Form des ‚Nationalgeists‘). Im Zuge dieser Neubewertung wird die obersächsische Basis der Leitvarietät zunehmend in Frage gestellt, und zwar sowohl von Sprachkundlern aus dem niederdeutschen Sprachraum als auch aus dem oberdeutschen.142 Am Ende des 18. Jahrhunderts entzündet sich schließlich eine für die Geschichte der Sprachreflexion nahezu beispiellose publizistische Fehde um das Hochdeutsche, die durch Adelungs Aufsatz „Was ist Hochdeutsch?“ im „Magazin für die deutsche Sprache“ (Adelung 1MDS/I 1782) ausgelöst wird.143 Die Diskussion über das Hochdeutsche am Ende des 18. Jahrhunderts zeigt zum einen eine Kontinuität zur Debatte des 17. Jahrhunderts, zum anderen ist die Gegenüberstellung zwischen Anomalisten und Analogisten zu schematisch, um die jeweiligen Hochdeutsch-Konzepte einzufangen:

142 Die Sammlung landschaftlicher Ausdrücke setzt bereits mit Johann Ludwig Prasch ein und wird auch schon von Leibniz gefordert. 143 Henne (1968, 110) spricht von einem „Sprachenstreit erster Ordnung“ und erläutert die Rezeption und wissenschaftshistorische Bewertung der Diskussion. Zur Konzeption einer Leitvarietät bei Adelung vgl. insbesondere Jellinek (1913, 329-385), Sickel (1933, insbesondere 67-80), Nerius (1967), die Beiträge in Bahner (1984) sowie Eichler/Bergmann (1986). Vgl. insbesondere die umfassende Darstellung seiner Sprachkonzeption in der Dissertation von Dengler (2003), der auch einen Überblick über die Bewertungen in der Forschungsliteratur bietet (ebd., 257-290).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Anomalistische Position

Analogistische Position

Hochdeutsch ist: – sprachgeographisch gleichzusetzen mit dem Meißnisch-Obersächsischen. – sprachsoziologisch an die Sprache der Gebildeten und oberen sozialen Schichten gebunden. – stilistisch durch vorbildliche Texte repräsentiert. – die Sprache, die Martin Luther zur Übersetzung der Bibel gewählt hat (sprachideologische Argumentation). Im 17. Jahrhundert wird diese Position beispielsweise von Christian Gueintz und Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen vertreten, die beide aus dem meißnischobersächsischen Sprachraum stammen (vgl. Gueintz DSE 1641).

Hochdeutsch ist: – ein Substrat aus den besten Eigenschaften aller Mundarten und wird bestimmt durch das Kriterium der Analogie. Damit ist gemeint, dass aus der Mehrheit ähnlicher Beispiele eine Regel abgeleitet wird, die in Zweifelsfällen die Norm vorgibt. – Beispiel: Die Wortbildung ‚Hausflur‘ ist analog gebildet zu ‚Haustür‘, ‚Hausdach‘ und somit regelkonform (vs. *‚Hausesflur‘). Diese Position wird im 17. Jahrhundert beispielsweise von dem aus dem niederdeutschen Sprachraum stammenden Justus Georg Schottelius vertreten, der aber gleichzeitig (wie die Mehrheit der Sprachkundler des 17. und 18. Jahrhunderts) auch davon ausgeht, dass Hochdeutsch mit der Sprache der Bildungseliten und der sozialen Oberschichten sowie stilistisch mit vorbildlichen Schriften (‚usus scribendi‘) gleichzusetzen ist.

Wie die Gegenüberstellung zeigt, teilen die beiden Positionen die These, dass das Hochdeutsche durch vorbildliche Texte repräsentiert werde, die bestimmte stilistische Prinzipien erfüllen, sowie die These, dass es dem Sprachgebrauch der Bildungseliten und Oberschichten entspricht. Die epistemologischen Bedingungen des Sprachnormierungsdiskurses haben sich allerdings im Übergang vom 17. auf das 18. Jahrhundert fundamental gewandelt, zu verweisen ist auf mindestens drei Umbrüche: a. Die Expansion des literarischen Marktes seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und die damit einhergehende Konstituierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit, wobei diese Prozesse ihrerseits mit einer Vielzahl sozial- und mediengeschichtlicher Entwicklungen verbunden sind wie dem Anstieg der Druckerzeugnisse, der Entfaltung des Zeitschriftenwesens, der Reformierung des Bildungswesens etc. b. Darüber hinaus ist eine im engeren Sinne literaturgeschichtliche Entwicklung von Interesse. Vor dem Hintergrund der mediengeschichtlichen Umbrüche, die mit der Etablierung eines neuen Autortyps einhergehen, der mit den Kategorien ‚Originalität‘ und ‚Genie‘ beschreib-

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bar ist, fordern die Literaten und Publizisten explizit die Definitionsmacht über die Leitvarietät ein. Sie geraten damit in Konfrontation zu den Sprachkundlern im engeren Sinne, d. h. den Grammatikern und Lexikographen. Die Literaten und Publizisten erheben Anspruch auf die Normierungsautorität in Bezug auf die Literatursprache, die dem restriktiven Zugriff der Grammatiker und Lexikographen entzogen werden soll. c. Die weitaus vehementere Rückführung nationaler Identität auf die Sprache, die zu einer stärkeren Gewichtung des symptomfunktionalen Aspekts (im Bühlerschen Sinne) der Leitvarietät führt: Die Sprachkultivierung und -normierung ist auch ein sprachpatriotisches Projekt. Die Sprachkundler positionieren sich nicht nur in der Auseinandersetzung um die Leitvarietät, sondern auch im europäischen Wettkampf um die ‚Leitsprache‘. Dass die Argumentationen des Sprachnormierungsdiskurses und der Diskussion um die europäischen Prestigesprachen starke Parallelen aufweisen, zeigt sich bei der Analyse der einzelnen Konzeptionen der als Hochdeutsch bezeichneten Leitvarietät überaus deutlich. Gleichzeitig partizipieren die Sprachkundler an der Konstruktion einer nationalen Identität. Dies wird in Kapitel 5 zum Gegenstand der Darstellung. Die nachfolgende Darstellung widmet sich dem Sprachnormierungsdiskurs im späten 18. Jahrhundert, und zwar vorrangig unter dem in diesem Kapitel dominierenden sprachgeographischen Aspekt. Im Vordergrund steht deshalb die Frage, inwiefern in den Leitvarietätkonzeptionen eine sprachgeographische Präferenz zum Ausdruck kommt und wie diese begründet wird. Die Konfrontation zwischen den Literaten und Publizisten im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wird dabei gesondert berücksichtigt, um die Vielschichtigkeit und Interdependenz der diskursiven Argumentationsmuster aufzuzeigen. Die Analyse gliedert sich in zwei Hauptteile: Erstens wird die Adelung’sche Konzeption des Hochdeutschen zum Gegenstand der Darstellung, zweitens werden die von seinen Gegnern vorgebrachten Argumentationsmuster untersucht. Da die vorliegende Arbeit den gesamten Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts zum Gegenstand hat, kann an dieser Stelle nicht auf alle einzelnen Entgegnungen eingegangen werden. Vielmehr werden die zentralen Kritikpunkte der Adelung’schen Argumentation anhand ausgewählter Beiträge zusammengefasst, ohne den chronologischen Verlauf der Debatte detailliert zu skizzieren.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

3.4.4.1 Adelungs Dogmatisierung des Vorbildanspruchs des Obersächsischen Das Festhalten am Hochdeutschen obersächsischer Grundlage als regional bestimmte Leitvarietät im späten 18. Jahrhundert ist untrennbar verbunden mit dem Namen Johann Christoph Adelung. Wie die Darstellung zeigen wird, zieht er zur Legitimation des Hochdeutschen durchaus verschiedene Normierungskriterien heran, allerdings hat er keines so vehement verteidigt, wie die sprachgeographische Identifizierung des Hochdeutschen mit dem Obersächsischen, insofern kann von einer ‚Dogmatisierung‘ des meißnisch-obersächsischen Vorbildanspruchs gesprochen werden. Ausgangspunkt der Darstellung ist zunächst das in der Vorrede zum „Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart“ (Adelung GKW/1 1774). Neben den Aussagen zum Hochdeutschen in seinen grammatischen Werken werden in einem zweiten Schritt seine Beiträge im „Magazin für die Deutsche Sprache“ (1MDS/I-III 1782) herangezogen sowie Aussagen über das Hochdeutsche in seinen Lehrbüchern: „Umständliche[s] Lehrgebäude der Deutschen Sprache […]“ (Adelung UL/1 und UL/2 1782), „Über den Deutschen Stil“ (Adelung ÜDS/1 und ÜDS/2 1785) und „Deutsche Sprachlehre für Schulen“ (Adelung DSS 1806). Der Verleger Bernhard C. Breitkopf hat Johann Christoph Gottsched mit der Anfertigung eines gesamtdeutschen Wörterbuchs beauftragt. Nach dessen Tod im Jahre 1766 tritt Breitkopf mit Gottscheds Entwurf eines deutschen Wörterbuchs an Adelung heran. Wie Adelung in der Vorrede zur ersten Auflage seines Wörterbuchs betont, kann er Gottscheds Fragment nicht sinnvoll nutzen und fasst den Entschluss, einen eigenen Entwurf vorzulegen (vgl. Adelung GKW/1 1774, IIIff.).144 Adelungs Wörterbuch umfasst insgesamt fünf Bände, die erste Auflage des ersten Bandes des „Versuch[s] eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart“, so der vollständige Titel, erscheint im Jahre 1774. In der Vorrede zu diesem ersten Band begründet Adelung sehr ausführlich, was er unter Hochdeutsch versteht (Adelung GKW/1 1774, IIIXVI). Zu seiner Argumentation im Einzelnen:

144 Adelung ist seit 1763 in Leipzig als Redakteur und Herausgeber mehrerer Zeitschriften tätig. Mit der Einwilligung des Verlegers erreicht Adelung die lang ersehnte finanzielle Absicherung.

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a. Sprachgeographische Bestimmung Im weiteren Sinne ist Hochdeutsch nach Adelung zu bestimmen als Synonym zu Oberdeutsch, d. h. als Sprache der südlichen, gebirgigen Gegenden Deutschlands im Gegensatz zum Niederdeutschen als Sprache der Küstengebiete und flachen Regionen (ebd., VI). Gleichzeitig wird das Oberdeutsche als historisch ältere Sprachstufe beschrieben, die vor dem Hochdeutschen die „herrschende Hof- und Büchersprache“ (Adelung GKW/1 1774, VIII) gewesen sei. Sowohl das Nieder- als auch das Oberdeutsche werden in seinem Exkurs zur Entstehung des Hochdeutschen als Sprachvorbilder abgelehnt, wobei Adelungs Charakterisierung überaus polemisch ausfällt: Aus diesem Gesichtspuncte nun muß man auch die hochdeutsche Mundart betrachten, welche von der fränkischen abstammet. Sie hält das Mittel zwischen der stolzen, rauhen, weitschweifigen, mit lauter eingebildeten Nachdrücken überladenen Sprache des hauchenden und zischenden Oberdeutschen, und der gar zu weichen, schlüpfrigen und kurzen Sprache des Niederdeutschen. (Adelung GKW/1 1774, IX)145

Das Präfix ‚hoch-‘ indiziere darüber hinaus eine sittlich-moralische Überlegenheit der Ober- und Hochdeutschen, deren Sprache im Gegensatz zum Niederdeutschen „erhaben“ (ebd., VI) sei. Insofern hier Eigenschaften der Sprache mit den jeweiligen Sprechergemeinschaften übereinander geblendet werden, liegt eine sprachideologische Argumentation vor. Ziel ist die Stigmatisierung des Niederdeutschen. Im engeren Sinne sei unter Hochdeutsch die „meißnisch oder obersächsische Mundart“ (ebd., VI) zu verstehen, die regional begrenzte Sprache seiner Heimatregion. An dieser Stelle erklärt sich die Bezeichnung „Hochdeutsche Mundart“ im Titel des Wörterbuchs: Es handelt sich um eine tatsächlich gesprochene Variante des Deutschen. Die Bezeichnung „Mundart“ ist allerdings bei Adelung, wie schon bei Gottsched, polysem und entspricht in etwa dem Verständnis verschiedener regionaler und sozialer Varietäten.146 Die Existenz verschiedener regionaler wie sozialer 145 Die in dem Zitat darüber hinaus zum Ausdruck kommende deutliche Stigmatisierung des Oberdeutschen wird weiter unten ausführlich dargestellt. 146 Adelung spricht von zwei „Hauptmundarten“ (ebd., VI): dem Ober- und Niederdeutschen. Darüber hinaus besitze aber auch jede Gesellschaft, jedes Dorf, jede Familie und fast jeder Mensch eine eigene Mundart (vgl. ebd.). Problematisch bleibt die schon von seinen Zeitgenossen beklagte fehlende begriffliche Trennschärfe, so wird nicht immer klar differenziert zwischen gesprochener Sprache und geschriebener Sprache, zwischen gehobener Umgangssprache, Gesellschaftssprache und Schriftsprache, zwischen Literatursprache im engeren Sinne und fachsprachlicher Schriftsprache (vgl. auch Henne 1986, 120ff.). Allerdings zeigt sich an dieser Stelle eine fehlende terminologische Präzisierung sprachlicher Phänomene, insbesondere im Hinblick auf Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die auch in den anderen untersuchten sprachreflexiven Schriften zu beobachten ist.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Varietäten wird (neben anderen bedingenden Faktoren) klimatheoretisch begründet (ebd., VI). Der Hinweis auf einen engen Zusammenhang zwischen Landschaft, Klima und Sprachwerkzeugen ist seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein gängiges Argumentationsmuster sprachreflexiver Schriften (vgl. die Ausführungen zum Klima-Topos in Kapitel 5.3.4). Adelung verweist auf die sprachhistorische Bedeutung Luthers und der Reformation für das ‚neuere Hochdeutsch‘. Die Inanspruchnahme Luthers als Sprachvorbild ist für die Sprachkundler des nord- und mitteldeutschen Sprachraums nicht ungewöhnlich und bereits im 16. Jahrhundert üblich. Das neuere Hochdeutsch sei aus dem Fränkischen hervorgegangen, das dem Oberdeutschen nahe komme, und dem Thüringischen, das wiederum dem Niederdeutschen nahe stehe. Deshalb charakterisiert Adelung das Obersächsische als ein Ausgleichsprodukt des Ober- und Niederdeutschen, das von beiden Mundarten nur die jeweils besten Merkmale geerbt habe. In diesem Sinne wird Hochdeutsch bei Adelung als mitteldeutscher Dialekt charakterisiert. Insofern Adelung anmerkt, dass das Hochdeutsche nach der Reformation durch die Schriftsteller aller Mundarten bereichert worden sei (ebd.), behauptet er zwar eine gewisse Einflussnahme anderer Sprachregionen, diese wird aber nicht weiter vertieft. Adelung greift das Kriterium der Analogie auf und bestätigt zunächst eine analogistische Vorgehensweise bei der Sprachnormierung: „Die erste und vornehmste Pflicht eines Sprachlehrers ist, alle oder die meisten Fälle einer Art zu sammeln und aus diesen Regeln zu entwerfen und nach diesen zu entscheiden.“ (ebd., XII) Allerdings ist mit der „Mehrheit der Fälle“ ein regionalspezifischer Gebrauch gemeint. Das bedeutet, dass nur aus dem Hochdeutschen Regeln für das Hochdeutsche abgeleitet werden können, aus dem Oberdeutschen nur Regeln für das Oberdeutsche etc. Das Hochdeutsche wird aber sprachgeographisch identifiziert mit dem Obersächsischen, sodass quasi durch die Hintertür das Meißnisch-Obersächsische zur Leitvarietät erklärt wird.147 b. Soziolinguistische Bestimmung Adelung schreibt, dass Hochdeutsch „die Hoffsprache der Gelehrsamkeit“ (ebd., VI) sei. An dieser Stelle ist nicht eindeutig, ob er in medialer 147 Die von süddeutschen Sprachkundlern wie dem Oberpfälzer Jakob Hemmer behauptete Herausbildung des Hochdeutschen als Konstrukt aus dem Besten aller Mundarten wird eine deutliche Absage erteilt: „Diese [klimatheoretisch begründete, Anm. KF] Verschiedenheit der Mundarten ist in dem Wesen der menschlichen Natur gegründet, daher es Thorheit, wenigstens Unkunde der menschlichen Natur ist, alle Mundarten eines Volkes vereinigen und dessen Art zu sprechen einschränken zu wollen.“ (ebd., VII)

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Hinsicht die wissenschaftlichen Texte der Bildungseliten meint oder bildungssoziologisch die (gesprochene) Sprache dieser Gruppe. In seinen späteren Schriften spricht Adelung eindeutig von der gesprochenen Sprache der oberen, städtischen Schichten Obersachsens (→ Hochdeutsch2, Gelehrte2). c. Sprachideologische Bestimmung Die historische Herleitung des Hochdeutschen orientiert sich zum einen an dem damaligen Erkenntnisstand der historischen Sprachenverwandtschaft, wird aber auch von sprachideologischen Argumentationen begleitet. So wird die Entwicklung des Hochdeutschen an die Reformation gebunden (ebd., VI), wenngleich Adelung in einer später folgenden Fußnote die von einigen Schriftstellern immer noch behauptete Vorbildlichkeit der Sprache Luthers ablehnt. d. Hochdeutsch als vorbildliche Schriftsprache Da aufgrund der regionalen Zugehörigkeit und der divergierenden literarischen Programmatiken für Adelung nicht jeder Schriftsteller eine Vorbildlichkeit für das Hochdeutsche besitzt, grenzt er den Kreis vorbildlicher Literaten enorm ein, sein Leitbild ist Christian Fürchtegott Gellert (17151769). Das von Adelung definierte Hochdeutsch weist seiner Ansicht nach immer noch einige eklatante Fehler bzw. Mängel auf (ebd., Xf.), die seine Leistungsfähigkeit als überregionale und für alle Stände gültige Leitvarietät einschränken: − Das Hochdeutsche sei im Gegensatz zum Ober- und Niederdeutschen weniger regelhaft, da es sprachstrukturelle Merkmale beider Dialekte aufgenommen habe. − Es sei jünger als das Ober- und Niederdeutsche, daraus resultiere eine „Armut des Hochdeutschen“ hinsichtlich bestimmter sprachstruktureller Qualitäten (ebd., X). − Das Hochdeutsche weise eine Armut in verschiedenen sprachlichen Bereichen auf. In der Lexik ist damit der Mangel an Ausdrücken, an lexikalischen Differenzierungsmöglichkeiten mit dem vorhandenen Zeichenmaterial und eine Vielzahl veralteter Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke gemeint, im syntaktischen Bereich wird ein Mangel an Wortfügungen (Syntagmen), Ableitungen und Zusammensetzungen konstatiert (ebd.). Diese Armut habe zu einem beklagenswerten Überfluss an fremdsprachlichen Bezeichnungen geführt. − Das Hochdeutsche sei unbeständig. Im Gegensatz zur Sprache der Landbevölkerung, die Adelung positiv hervorhebt, sei die Sprache der

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

städtischen Bevölkerung ebenso wie die der Bildungseliten den Moden unterworfen.148 Dies zeige sich insbesondere in Form der Neuerungssucht der Schriftsteller, die – anstatt auf den Reichtum des Oberdeutschen zurückzugreifen – überflüssige Neologismen einführten. Schon an dieser Stelle zeigt sich, dass Adelung den neueren literarischen Strömungen seiner Zeit, allen voran dem Sturm und Drang, sehr ablehnend gegenübersteht. Aus den bisherigen Äußerungen wird bereits eine sprachgeographische wie sprachsoziologische Einschränkung des Hochdeutschen, das in seinem Wörterbuch dokumentiert werden soll, deutlich. Eine zu starke Normierung der Sprache lehnt Adelung aber ab, da eine Beschränkung sprachlicher Gestaltungsmöglichkeiten zu einer Einschränkung der geistigen Beweglichkeit führen könne (ebd., XI). Deshalb betont Adelung in seinen methodischen Ausführungen, dass er sich im Gegensatz zu seinen Vorgängern nicht auf ein kleineres Textkorpus beschränkt und nicht lediglich die Stichwörter seiner Vorgänger übernommen habe. Er habe sich vielmehr zum Ziel gesetzt, „Wörter aus tausend Schriften allerley Art, aus den verschiedenen Lebensarten und dem täglichen Umgange selbst aufzusuchen“ (ebd., VI) und den Reichtum des Deutschen möglichst vollständig darzustellen. Ziel ist die Dokumentation des Wortschatzes mit regionalen, sozialen und stilistischen Varianten. Seine Normierungsvorschläge für die Auswahl der Stichwörter des „Versuch[s] eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart“ werden um weitere Aspekte ergänzt (vgl. Adelung GKW/1 1774, XIIIf.). Aufgenommen werden sollen folgende lexikalischen Elemente: − im Gebrauch befindliche hochdeutsche Wörter im Gegensatz zu veralteten Wörtern (Kriterium der Synchronie), − „Kunstwörter“, das bedeutet Fachwörter unterschiedlicher Lebensbereiche wie Handwerk, Jurisprudenz usw. (semantisches und varietätenspezifisches Kriterium), 148 Die konservierende Funktion der Mundarten wird auch an anderer Stelle betont: „Ich habe vorhin gesagt, daß die heutigen deutschen Mundarten wahrscheinlicher Weise noch eben dasjenige sind, was sie schon vor zwey tausend und mehr Jahren waren; oder mit andern Worten, daß die deutschen Mundarten sich seit der Bevölkerung Deutschlandes nicht sonderlich verändert haben. Dieser Satz gilt vornehmlich von dem Landvolke, welches seinen Stamm reiner und unvermischter erhält, und der Tyrannin der Mode nicht so unterworfen ist, als der Städter.“ (Adelung GKW/1 1774, VIII) In den Schriften Adelungs wird die Sprache der niederen Schichten aber in der Regel als Stigmasoziolekt charakterisiert (→ Pöbel2, Bauer2).

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Zusammensetzungen, falls deren Bedeutung nicht aus den Einzelwörtern gewonnen werden kann (morphologisches Kriterium), − Fremdwörter, die schon lange im Gebrauch sind bzw. in zeitgenössischer Terminologie das „deutsche Bürgerrecht“ (ebd., XIII) haben (sprachstrukturelles Kriterium), − veraltete und provinzielle Wörter (ebd., XIII), um den Leser vor ihrem Gebrauch zu warnen (sprachgeographisches und stilistisches Kriterium) und um die Bedeutung lexikalischer Einheiten zu erklären (semantisches Kriterium). Ergänzt werden die vorgestellten Kriterien durch ein Klassifikationsschema, das die „Würde der Wörter“ (ebd., XIV) abbilden solle. Gemeint sind fünf stilistische Markierungen der im Wörterbuch verzeichneten Ausdrücke: „1. die höhere oder erhabene Schreibart; 2. die edle; 3. die Sprechart des gemeinen Lebens und vertraulichen Umganges; 4. die niedrige, und 5. die ganz pöbelhafte.“ (ebd., XIV) Wörter, die der fünften Klasse zugehören, schließt Adelung kategorisch aus seinem Wörterbuch aus. Die fünf Klassen sind sowohl im stilistischen Sinne zu verstehen als sie auch soziolinguistische Präferenzen implizieren, nämlich den Sprachgebrauch der sozialen Oberschichten und Gebildeten favorisieren. Der Titel seines Wörterbuchs ist insofern Programm, als er seine Normen auf Regeln gründet und kritisch prüft. Außerdem werden die Worterläuterungen mit einer Reihe grammatischer Angaben (Genus, Flexion u. ä.) versehen. Sein Wörterbuch stellt somit zugleich nicht nur eine Normierung der Lexik, sondern auch der Lautung und Morphologie dar. Adelungs leitendes Ziel ist die Dokumentation des tatsächlichen Sprachgebrauchs, deshalb verfährt er im Gegensatz zu Gottsched weitaus deskriptiver.149 149 Adelungs lexikographische Leistung wird in der Forschungsliteratur besonders betont. Haß-Zumkehr charakterisiert Adelungs Wörterbuch als „Meilenstein, an dem sich alle späteren Wörterbücher messen lassen mussten“ (2001, 106). Diese Einschätzung bezieht sich auf seine Abwendung von der Stammworttheorie, seine Dokumentation des Wortgebrauchs in einem „gewissen sozialen Rahmen“ (ebd.), die Berücksichtigung der Sprachregeln, der Vielzahl der selbst gebildeten Beispiele, die Orientierung an der Rhetorik sowie die klare Struktur seiner Artikel. Tauchmann (1992, 191f.) weist in ihrer Untersuchung nach, dass Adelung zahlreiche landschaftliche Wörter und Bedeutungen mit diatopischer Markierung auflistet und alle deutschen Sprachlandschaften und Sprachlandschaftskombinationen berücksichtigt. Ob diese dialektalen Einheiten aber zur Bereicherung der Hochsprache oder zur Abgrenzung von der Leitvarietät genannt werden, sei in der Regel nicht zu entscheiden (ebd.). Hochsprachlich seien für die Lexikographen der Aufklärungszeit zumeist diejenigen Einheiten, die in mehreren Sprachräumen vorkämen, außerdem lasse sich eine Präferenz der Sprachlandschaftskombination oberdeutsch/mitteldeutsch sowie der Kombination oberdeutsch/mitteldeutsch/niederdeutsch belegen (ebd., 218).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Adelungs „Magazin für die Deutsche Sprache“ setzt mit einer ausführlichen Erörterung der Frage der Legitimation des Hochdeutschen ein, die in vier weiteren Beiträgen des ersten Bandes fortgeführt wird (Adelung 1MDS/I 1782), die auf die Argumentationen seiner Opponenten wie z. B. Biester und Wieland Bezug nehmen. In seinen einleitenden Ausführungen zur Entstehung der allgemeinen Schriftsprache grenzt er sich explizit von der von Jakob Hemmer vertretenen Hochdeutsch-Konzeption ab (vgl. Hemmer DSL 1775, 14f.). Um die von Hemmer und anderen Sprachkundlern vorgeschlagene „Aushebung“ des Deutschen aus allen Dialekten argumentatorisch auszuhebeln, greift Adelung auf eine umfassende kultur- und sprachhistorische Herleitung des Hochdeutschen zurück, die zum Teil an die Vorrede seines Wörterbuchs (vgl. Adelung GKW/1 1774) anschließt. Diese Bestimmung des Hochdeutschen hat Adelung in zahlreichen Schriften wiederholt formuliert. Seine Argumentation basiert auf folgenden zentralen Eckpfeilern: a. Delegitimierung der ‚Aushubtheorie‘ Die von den Vertretern der ‚Aushubtheorie‘ vorgebrachten Behauptungen für die Entstehung des Hochdeutschen lassen sich nach Adelung sprachhistorisch nicht belegen (vgl. Adelung 1MDS/I 1782, 3ff.). Diese Annahme impliziere, dass sich zu irgendeinem Zeitpunkt der Sprachentwicklung eine Art sprachwissenschaftliches Expertengremium zusammengefunden habe, das in genauer Kenntnis der Eigenarten aller regionalen Varietäten das Hochdeutsche aus den Dialekten ausgehoben bzw. extrahiert habe. Er verweist darauf, dass in der zeitgenössischen Diskussion selbst in Fragen der Orthographie immer noch keine Einheitlichkeit erreicht sei (ebd., 3). Mit dem Dualismus ‚Analogie vs. Sprachgebrauch‘ befasst sich Adelung in seiner Rhetorik in dem Kapitel „Sprachrichtigkeit“ (Adelung ÜDS/1 1785, 64f.) ausführlich. „Sprachrichtig“ ist definiert als das, was den Regeln der Sprache gemäß ist (ebd., 64). Diese Regeln müssen sowohl der Analogie als auch dem Sprachgebrauch (der für Adelung sprachgeographisch wie soziolinguistisch genau definiert ist) entsprechen. Da verschiedene regionale Varietäten jeweils verschiedene und ihrerseits wiederum „richtige“ Analogien aufwiesen, die nur eine bloße Klasse von ähnlichen Fällen darstellten, müsse zur Sprachnormierung der Sprachgebrauch herangezogen werden (ebd., 66). Damit sind außersprachliche, soziolinguistische Faktoren für die Normsetzung relevant. Ein allgemeiner, in ganz Deutschland gültiger Sprachgebrauch, der sich in der hochdeutschen Schriftsprache widerspiegelt, ist für Adelung noch in weiter Ferne. Dies stellt eine klare Absage an Hochdeutsch-Konzeptionen dar

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wie sie von den süddeutschen Sprachkundlern Fulda und Nast vertreten werden. b. Kontrastiver Vergleich mit der Sprachentwicklung anderer Nationen Da in der deutschen Sprachgeschichte kein Aufschluss über die Entstehung des Hochdeutschen als Substrat „des Besten aller Mundarten“ zu finden sei, zieht Adelung die Entwicklung der Schriftsprache in anderen Sprachen heran (vgl. Adelung 1MDS/I 1782, 4ff.) und verallgemeinert die aus dem Vergleich mit dem Griechischen und Italienischen gewonnenen Einsichten in Bezug auf das Deutsche (vgl. ebd., 12). Ausgangspunkt der sprachlichen Entwicklung seien die Dialekte, die als Resultat der territorialen Ausdehnung einer Kommunikationsgemeinschaft erklärt werden (vgl. Adelung ÜDS/1 1785, 41). Erst im Laufe eines von ihm skizzierten Sprachkultivierungsprozesses erfolge der Übergang von dem „kümmerlichen“ (Adelung 1MDS/I 1782, 5) Zustand der Dialekte zur Schriftsprache mit überregionalem Geltungsanspruch (ebd.). Der historischinterkulturelle Vergleich mit der Sprachentwicklung in anderen europäischen Nationen zeige aber, dass sich in diesem Prozess immer eine bestimmte Provinz durch eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte auszeichne (vgl. ebd., 6). Die gebildeten und wohlhabenden Schichten dieser Region, deren Sprachgebrauch durch die Kategorie des „guten Geschmacks“ (ebd., 7) hervorgehoben wird, sei demnach maßgeblich für die Entwicklung einer einheitlichen Schriftsprache verantwortlich (vgl. Adelung ÜDS/1 1785, 42). Entscheidend für die Sprachkonzeption Adelungs ist dieser Hinweis auf den engen gesellschaftlichen Zusammenhang in einer bestimmten Gruppe, der die Voraussetzung der Entstehung einer Hoch- und Schriftsprache darstellt. Nur in diesem Rahmen, als Ausstrahlen eines sprachgeographisch sowie gruppenspezifisch klar umrissenen Zentrums (und eben nicht als abstrakter Ausgleichsprozess regionaler Sprachen) kann sich Adelung den sprachlichen Vereinheitlichungsprozess vorstellen (vgl. ebd., 57). Eine Hochsprache als tote Schriftsprache ist für ihn nicht denkbar, das Hochdeutsche ist eine lebendige, tatsächlich gesprochene Sprache (vgl. ebd., 52ff.).150 Allerdings räumt Adelung den Schriftstellern durchaus Verdienste um die Sprache ein und betont ihre Funktion als Verfasser vorbildlicher Textmuster (ebd., 60ff.).

150 Zu diesem Ergebnis kommen Kühn/Püschel (1990, 2055). Jellinek (1913, 363) und Tauchmann (1992, 49) interpretieren die Bezeichnung als traditionellen Sprachgebrauch, der sich allein auf die Schriftsprache beziehe.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

c. Identifizierung des Hochdeutschen mit dem Obersächsischen Adelung konstatiert, in diesem Sinne stimmt er mit den schwäbischen Sprachkundlern Fulda und Nast überein, drei Entwicklungsstufen des Hochdeutschen: die Sprache des fränkischen Hofes, das ‚ältere Hochdeutsche‘ im südöstlichen Deutschland (das Schwäbische) sowie das nach der Reformation entstandene ‚neuere Hochdeutsch‘ in Obersachsen (das Obersächsische). Untermauert wird diese Herleitung durch Hinweise auf den in Obersachsen erfolgten wirtschaftlichen Aufstieg (vgl. ebd. 17) sowie an einen damit eng verbundenen, enormen kulturellen Fortschritt (vgl. ebd.). Insbesondere bindet Adelung die kulturelle Entwicklung in Obersachsen an die Reformation, die eine Voraussetzung für die Entfaltung der Wissenschaften darstelle (vgl. ebd., 20).151 Die Verbreitung des Obersächsischen als Leitvarietät beschreibt Adelung als einen eher friedlichen Prozess. Die Übernahme vollzieht sich seinen Ausführungen gemäß aufgrund der Anerkennung der Vorzüge des Hochdeutschen (vgl. ebd.). Die Bezugnahme auf eine Sprachregion als Leitvarietät ergibt sich für Adelung nicht zuletzt aufgrund des Mangels eines politischen und kulturellen Zentrums in Deutschland (vgl. Adelung ÜDS/2 1785, 388). Eine genauere Beschreibung der Ausdehnung der regional gebundenen obersächsischen Sprachform auf die anderen Provinzen bleibt Adelung aber schuldig, ebenso wie er keine Beweise für die vorbildliche hochdeutsche Aussprache der Obersachsen liefert. Er verweist lediglich auf seine eigene Erfahrung und untermauert seine Gleichsetzung des Hochdeutschen mit dem Obersächsischen sogar mit der Behauptung, dass in Obersachsen selbst die niederen sozialen Schichten „rein“ und „richtig“ Hochdeutsch sprächen (ebd., 24), eine Behauptung, die der sprachlichen Wirklichkeit seiner Zeit widerspricht und die die Kritik seiner Zeitgenossen provoziert. Gleichsam stößt seine These der Vermischung des Obersächsischen mit dem Slawischen sowie mit der Sprache der eingewanderten Siedler aus Niedersachsen, Franken und anderen Gebieten (vgl. Adelung ÜDS/1 1785, 50), die zu einer Verfeinerung bzw. Milderung des Obersächsischen geführt habe, auf Ablehnung. Wie schon in der Vorrede zu seinem Wörterbuch (vgl. Adelung GKW/1 1774, XIIf.) behauptet Adelung eine Autonomie der regionalen Sprachen, so heißt es, jede Mundart könne nur aus sich selbst beurteilt werden. Da Adelung das Hochdeutsche mit dem Obersächsischen gleichsetzt, schließt er kurzerhand die nicht-obersächsischen Sprachkundler aus der Normierungsdiskussion aus: 151 Die Bedeutung Martin Luthers für die Entstehung einer Standardsprache wird aber relativiert (vgl. Adelung 1MDS/I 1782, 20f.).

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Da das Hochdeutsche keine aus den übrigen Mundarten ausgehobene Sprache, sondern die Mundart der südlichen Chursächsischen Lande ist, so kann auch das, was gut hochdeutsch ist, d. i. was ihr, als einem ausgebildeten Ganzen, angemessen ist, nicht aus und nach den übrigen Mundarten, sondern muß allein aus und nach ihr selbst, d. i. nach ihrem eigenen Sprachgebrauche beurtheilet werden. (Adelung 1MDS/I 1782, 30)

Der in der Vorrede noch behauptete Wille zur argumentativen Auseinandersetzung wird somit letztlich vollständig sabotiert. d. Hochdeutsch als Nationalsprache In seiner Stillehre von 1785 knüpft Adelung im ersten Abschnitt weitgehend an seine bisherigen Aussagen über das Hochdeutsche an (vgl. Adelung ÜDS/1 1785, 40-63). Eine stärkere Betonung erhält nun aber die Symptomfunktion der Sprache, die als genuiner Ausdruck der „Nation“ (vgl. ebd., 41) mehrfach hervorgehoben und als „Nationalsprache“ einen besonderen Status zugewiesen bekommt (ebd., 43f.). Das Hochdeutsche als Synonym zu „Nationalsprache“ ist definiert als die „verfeinerte und höhere Mundart“ (ebd., 43) der oberen sozialen Schichten mit höherem Bildungsniveau sowie als Schriftsprache (ebd., vgl. auch Adelung UL/1 1782, 102, Adelung DSS 1806, 5f.). e. Ausgrenzung regionaler und sozialer Varianten Seinen normativen Standpunkt in Bezug auf regionale und soziale Varianten wiederholt Adelung an verschiedenen Stellen seiner Werke, obwohl er in seiner lexikographischen Praxis weitaus liberaler verfährt (vgl. Tauchmann 1992). Die Dogmatisierung seiner Hochdeutsch-Konzeption resultiert zum einen aus seiner völligen Missbilligung der literarischen Entwicklungen nach 1760, zum anderen sieht Adelung das Ziel der überregionalen Verständlichkeit als genuin aufklärerisches Sprachideal durch die Literaten des Sturm und Drang gefährdet. So heißt es etwa, Provinzialwörter bedrohen die „Reinigkeit“ (Adelung ÜDS/1 1785, 29), deshalb seien regionale Wörter wie auch Flexionsund Wortbildungsarten (ebd., 101) ebenso wie Archaismen (ebd., 29) sowie Barbarismen und Solöcismen (ebd., 82) zu vermeiden. Diese sprachlichen Phänomene werden als „verwerflich“ (ebd., 102) eingestuft, weil sie provinzielle Eigenheiten der Sprache darstellten, die nicht „der ganzen Nation gemein“ (ebd., 102) seien, weil sie die Verständlichkeit der Schriftsprache gefährdeten und ihre Einheitlichkeit bedrohten und dem Kriterium der ‚(Sprach-) Richtigkeit‘ von anderen stilistischen Kriterien („edel“, „wohlklingend“) abweichen würden (ebd., 103).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Die gesprochene Sprache der niederen Schichten wird darüber hinaus deutlich vom Hochdeutschen abgegrenzt; die „Volkssprache“ (ebd., 73) wird zum ‚Stigmasoziolekt‘ (vgl. Adelung DSS 1806, 8f.). Neben der soziolinguistischen Einschränkung der Leitvarietät wird sein sprachgeographisches Leitbild im Zuge der Konfrontation mit den süddeutschen Sprachkundlern wie Fulda und Nast von einer starken Abwertung des Oberdeutschen flankiert. Hat Adelung in der Vorrede seines Wörterbuches noch von einer möglichen Bereicherung des Hochdeutschen durch das Oberdeutsche gesprochen (vgl. Adelung GKW/1 1774), schlägt er in seinem „Umständliche[n] Lehrgebäude der Deutschen Sprache“ einen weitaus schärferen Ton an. Er behauptet, dass das „alte Oberdeutsche“ immer noch die gültige Umgangs- und Schriftsprache im Süden Deutschlands sei, was die kulturelle Rückständigkeit des Südens beweise (vgl. Adelung UL/1 1782, 86). f. Normierung der Literatursprache Die Ablehnung gegenüber der literarischen Entwicklung seit 1760 hat Adelung mehrfach wiederholt, als Vorbilder nennt er beispielsweise Gellert, Ramler, für das 17. Jahrhundert Günther, Hofmannswaldau, Lohenstein und Gryphius.152 Sein Urteil über die zeitgenössische Literatur fällt kompromisslos aus: Die „schöne Literatur“ (Adelung ÜDS/1 1785, 62) sei weiter vom Ziel einer „schönen National-Litteratur“ entfernt als jemals zuvor. Grund hierfür sei die von den Literaten missachtete Einheit der Sprache und die damit verbundene Gefahr der Zerstörung und des Verlusts des Hochdeutschen (ebd., 63), das für Adelung ein noch allzu fragiles Gebilde darstellt. Die zeitgenössischen ästhetischen Konzepte stehen der von ihm als primär angesetzten Darstellungs- und Kommunikationsfunktion von Sprache entgegen. Die Schriftsteller sollen seiner Sprachkonzeption zufolge regionale, soziale und stilistische Varianten vermeiden (vgl. Adelung ÜDS/1 1785, 61). Die Qualität literarischer bzw. schriftsprachlicher Texte überhaupt ist für Adelung an das „Angemessene“ und das „Schöne“ sowie die Angleichung an musterhafte Vorbilder gebunden und nicht an ästheti152 In dem Aufsatz „Auch etwas von dem Zustande der deutschen Litteratur“ im „Magazin für die deutsche Sprache“ (vgl. Adelung 1MDS/I 1782, 84-100) hat er zunächst die ostmitteldeutsche Literatur von 1740 bis zum Siebenjährigen Krieg als absoluten Höhepunkt der literarischen Entwicklung bestimmt (ebd., 94), in dem siebten Stück des gleichen Bandes räumt er aber aufgrund der zahlreichen Entgegnungen zumindest ein, dass es auch gute Schriftsteller in anderen Provinzen gebe. Deren Anzahl sei aber verschwindend gering und werde von der Anzahl schlechter Schriftsteller (gemeint sind vermutlich vor allem Literaten des Sturm und Drang) weit übertroffen.

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sche Konzepte wie ‚Genie‘ und ‚Originalität‘ und eine entsprechende sprachliche Experimentierfreudigkeit: Ist eine Nation so weit in der Cultur gekommen, daß der größte Theil der obersten und edelsten Classen diesen guten Geschmack in einem beträchtlichen Grade besizet, alsdann legt man einer Nation mit Recht einen guten Geschmack bey, und dieser äußert sich denn, in Ansehung der Werke des Geistes, in der National=Litteratur. Schon der Begriff des guten Geschmacks erfordert es, daß weder die Gesetze des conventionellen noch des relativen Schönen verlezet werden müssen. Werden diese Gesetze, wo nicht von allen, doch von den meisten und beliebtesten Schriftstellern einer Nation befolgt, alsdann hat ihr Geschmack und ihre Litteratur die gehörige Einheit. (Adelung ÜD/2 1785, 388)

Der von ihm aufgeführte Katalog zehn konstituierender Merkmale des schönen Stils ist ganz von seiner Hochdeutsch-Konzeption geprägt, so fordert er die Anlehnung an die musterhaften schriftsprachlichen Texte des Hochdeutschen und eine Orientierung an den stilistischen Idealen: „Sprachrichtigkeit“, „Reinheit“, „Klarheit“ und „Deutlichkeit“, „Angemessenheit“ und „Üblichkeit“, „Präzision“ und „Kürze“, „Würde“, „Wohlklang“, „Lebhaftigkeit“ und „Einheit“ (Adelung ÜDS/1 1785, 37f.). Dieser eng an die rhetorische Tradition angelehnte Regelkatalog, der die allgemeine „Verständlichkeit“ der Sprache gewährleisten soll (→ verständlich), wird von vielen Literaten und Publizisten als ein „Regelkorsett“ abgelehnt, das bestenfalls noch für wissenschaftliche Texte Gültigkeit beanspruchen könne. Insbesondere sind die Sprachnormen mit dem Geniegedanken unvereinbar. Die Literaten, die bereits eine Abkehr von den Normvorgaben der poetologischen Regelwerke vollzogen haben, waren nicht bereit, weitere Normierungsvorhaben der Grammatiker und Lexikographen strikt zu befolgen. Wenngleich Adelung wegen des allgemeinen Widerspruchs die neueren literarischen Bewegungen positiv bewertet, hält er doch an dem Ziel einer einheitlichen Schriftsprache fest.

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Zusammenfassend lassen sich die textanalytischen Befunde in ein Argumentationsmuster integrieren:

3.4.4.2 Pluralisierung regionaler Leitvarietäten Das Schwäbische als Sprachvorbild bei Fulda und Nast Fuldas Preisschrift „Über die beiden Hauptdialecte der Teutschen Sprache“ (Fulda HTS 1774), mit der er eine entsprechende Preisaufgabe der Göttingischen Akademie der Wissenschaften gewann, ist der Erstauflage des Adelung’schen Wörterbuchs beigebunden, sie fehlt aber in der zweiten Auflage. Ein wesentlicher Grund für die Ablehnung Fuldas durch Adelung ist dessen Hochdeutsch-Konzept. In seiner Preisschrift skizziert Fulda die Entstehung des Deutschen und die Verwandtschaft der germanischen Sprachen.153 Für ihn stellt die Erkenntnis der Wurzelwörter als historische Grundeinheiten aller Spra153 Den umfangreichen genealogischen Ausführungen, die die Sprachverwandtschaftsverhältnisse der germanischen Sprachen sowie lautliche und grammatische Entwicklungen berücksichtigen, ist abschließend ein Stammbaum beigefügt, der von der Ursprache (lingua mater) bis hin zu den Dialekten des Deutschen führt (ebd., 60).

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chen die Basis für eine Erforschung und Beurteilung des Alters der Dialekte des Deutschen dar (ebd., 1). Sie belegten die Verwandtschaft der germanischen (bzw. hier „nordischen“) Sprachen und das hohe Alter des Deutschen. Die Wurzelwörter sind in seiner Schrift hauptsächlich Substantive (vgl. ebd. 21), zum Teil aber auch Suffixe wie ‚-tum‘, ‚-heit‘ und ‚-keit‘, zum Teil handelt es sich um Lautkombinationen, die Fulda als typisch für die jeweilige Sprache charakterisiert (ebd., 2f.). Der Nachweis des Altertums des Deutschen und der Historizität seiner Eigenschaften in der Gegenwart dient nicht zuletzt dem Beweis seiner Ebenbürtigkeit im europäischen Wettstreit um die vorbildlichste Sprache: „Man tadelt an ihr [der deutschen Sprache, Anm. KF] die Tracht ihrer Mutter, und die Kraft ihres Ausdrucks. Gedehnte hohe rauhe Vocale, viel Rasselns und Zischens, Härte beisammenstehender Consonanten, und große Liebe zur ursprünglichen Einsilbigkeit.“ (ebd., 36) Um den Reichtum des Deutschen zu dokumentieren, fehle ein Wörterbuch, das die älteren Sprachstufen umfasse, wobei Fulda vor allem den Wortschatz der niederen Schichten erschließen will, da er dort einen besonderen Reichtum an Wurzelwörtern vermutet. Den historischen Entwicklungsstand einer Sprache, das bedeutet beispielsweise ihre Anzahl an Wurzelwörtern und ihre Veränderungen, erachtet Fulda als natürliches Produkt des Sprachwandels, der wiederum ein Resultat von Sprachkontakten und kulturellem Wandel ist. Auch die Existenz unterschiedlicher regionaler wie sozialer Varietäten betrachtet Fulda deshalb als eine natürliche Gegebenheit: Was im Grossen vorgeht, geschieht alles auch im Kleinern, und dem Allerkleinsten. Es kommen Württemberger zusammen, die einander ungewohnter Worte, Endungen, Beugungen, Fügungen und Aussprache halber belachen. Wie vielmehr die Zürcher und Leipziger, der Wiener und Nürnberger -; der Pommer und Holländer, der Clever und Holsteiner –. Der Holländer hat eine Menge T.[eutscher, Anm. KF] Wörter, die ihn andern unverständlich machen; so wenig er hinwieder im Stande ist, andere NT. [niederdeutsche, Anm. KF] Wörter entfernter Gegend zu verstehen. Jede Profeßion, iede Wissenschaft, iede engste Gesellschaft hat ihre eigenen Wörter und Metaphern. (ebd., 37)

Das Niederdeutsche und Hochdeutsche werden als die beiden Hauptdialekte des Deutschen charakterisiert (ebd., 38). Sie werden anhand der unterschiedlichen Lautung voneinander abgegrenzt, wobei die Beschreibung der lautlichen Qualitäten auch einen Rückschluss auf die Bewertung beider Sprachformen zulässt: Der HochTeutsche zeichnet sich vornemlich vom NiederTeutschen darinn aus, daß er immer sein ganzes Maul voll haben; fast iedem Wort besondere Kraft und Nachdruk geben; und allenthalben zischen und rasseln mus. Er entfaltet die Ein-

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falt und natürliche Regelmäßigkeit der Teutschen Sprache, nach dem allgemeinen Schiksal der Sprachenverbesserung, indem er sie poliren will. (ebd., 38)

Das Hochdeutsche sei eine Sprachform, die von dem ursprünglichen Sprachzustand weiter entfernt sei als das Niederdeutsche, sodass es weniger „Einfalt“ und ein geringeres Maß natürlicher Regelmäßigkeit aufweise. Es stelle eine „polierte Sprache“ dar, das bedeutet eine ausgebildete, gekünstelte Sprachform, deren Artikulation von Fulda mit den Ausdrücken „Zischen“, „Rasseln“ und „Schnarren“ abgewertet wird (vgl. ebd., 38, 40). Die in den folgenden Abschnitten diskutierten lautlichen Unterschiede zeigen, dass Fulda verschiedene Lautentwicklungen der zweiten Lautverschiebung, die das Hochdeutsche im Gegensatz zum Niederdeutschen vollzogen hat, untersucht, wobei die Veränderungen des Hochdeutschen negativ bewertet werden (ebd., 38). Hierunter fällt beispielsweise die lautliche Differenzierung von d:t, die im Niederdeutschen eher vollzogen werde als im Hochdeutschen.154 Den Sprechern und Sprecherinnen des Niederdeutschen gesteht Fulda eine stärke Differenzierung einzelner Laute zu als den Hochdeutschen (ebd.). Die „Sammlung und Abstammung germanischer Wurzelwörter“ (GWW 1776) ist als Fortsetzung seiner Preisschrift einzustufen.155 Da Fulda die Entwicklung des Deutschen und seine Verwandtschaft mit anderen Sprachen durch die Jahrhunderte genau verfolgt, zeichnet er eine Entstehungsgeschichte des Niederdeutschen und Hochdeutschen: Die Germanischen Völker teilen sich in die hohen und die niedern. Die ober= und niederSachsen können nicht verlangen, daß in dieser uralten, und von beiden Teilen selbst anerkannten und gewönlichen Einteilung eine Veränderung geschehe. Dann das Hochteutsche im engern Verstand genommen, als die Sprache der Gelehrten, das schriftmäßige, das mandarinen Teutschen, ist unlaugbar nichts anders, als das gemeine Hohe in seiner Feinheit und Verbesserung; und hat nicht nöthig, in einem gewisen Lande zu residiren und gesprochen zu werden. Wer in der, von alten Zeiten angenommenen höhern Teutschen Mundart fein und regelmäßig schreibt und spricht, der ist ein Bürger und Innsas des hochTeutschen

154 „Der HT. [= der Hochdeutsche, Anm. KF] verirrt sich oft unter d und t: zerscheitern von schid; hinten von hind; geld gegolten; Leid gelitten. Seltener wird man diesen Feler am NT. [= Niderdeutschen, Anm. KF] sehen. Er macht in der Aussprache bessern Unterschied.“ (ebd., 38) 155 In der Subskribentenliste finden sich neben Adelung, Heynatz, Nast, Tidensee auch Lavater, Uhland und Wieland. Nach einer auf den antiken Quellen basierenden Argumentation (ebd., 1-19) zählt Fulda die Dialekte des Hochdeutschen auf. Er nennt die „Schweizer“, „Elsässer“, „Schwaben“, „Thüringer“, „Baiern“, „Österreicher“, „Lothringer“, „Pfälzer“, „Hessen“, „Franken“, „Meissner“, „Märker“ und „Schlesier“ (ebd., 7).

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Gemeinwesens, er lebe übrigens, wo er wolle. Gründe siegen, und nicht Drukercorrecturen. (ebd., 3f.)156

Fulda lehnt sich damit an die nicht-regionalistische Position an, wie sie bereits im 17. Jahrhundert von Schottelius formuliert wird: Hochdeutsch sei nicht mit einer regionalen Varietät gleichzusetzen, sondern medial bzw. stilistisch bestimmt als die Schriftsprache und sprachsoziologisch mit der Sprache der Bildungseliten gleichzusetzen.157 Gleichwohl zeigt der letzte Satz an, dass sich bereits eine Durchsetzung der hochdeutschen Schriftsprache ostmitteldeutscher Prägung anbahnt, die Fulda den Eingriffen der Drucker zuschreibt. Zweitens kennzeichnet er das MeißnischObersächsische, das nunmehr die Bezeichnung „Hochdeutsche Gelehrtensprache“ (→ Hochdeutsch1) beanspruche, als das Produkt einer Sprachmischung der Slawen mit den Obersachsen (ebd., 7). Aufgrund seiner sprachhistorischen Erkenntnisse lehnt er den Vormachtanspruch des Obersächsischen ab, das viel jünger als das Schwäbisch-Alemannische sei. Eine Aussonderung von landschaftlichen Varianten aus dem Hochdeutschen sei deshalb illegitim. Solange die Vertreter des meißnisch-obersächsischen Sprachvorbilds ohne Mitsprache von Sprachkundlern anderer Regionen die Leitvarietät bestimmten, sei eine angemessene Beurteilung der süddeutschen Dialekte ausgeschlossen (ebd., 1). Auf der Grundlage der sprachhistorisch begründeten Gleichwertigkeit der Dialekte kann der Autoritätsanspruch des Obersächsischen ebenso abgelehnt werden, wie Fulda dadurch die Sammlung und Dokumentation des landschaftlichen Wortschatzes legitimiert. Aus seiner Erforschung der älteren Sprachstufen des Deutschen und der Entstehung des Hoch- und Niederdeutschen hat Fulda die Einsicht gewonnen, dass zur Bestimmung der genaueren Sprachverwandtschaften die Sammlung und Erforschung aller regionalen Varietäten notwendig sei. Die einzelnen landschaftlichen Varianten seien dabei im Hinblick auf ihren Status als Wurzelwort zu überprüfen und nicht im Hinblick auf ihr Prestige zu werten. Die Dialekte erachtet er als prinzipiell gleichwertig: So lang noch Vorurteile und Streit verschiedener Gegenden herrschen, wodurch der eine dem andern sein Wort verachtet und ausstreicht, oder abstreitet und ableugnet: das Wort ist nicht Meißnisch; es ist Schwäbisch, ist Österreichisch, u. s. w. […] Ohne zu untersuchen, ob es auch nie ie vormals daselbst gewesen sei, oder gewesen sein könne, oder müse; ob es nicht wenigstens in seiner wahren 156 Da die zahlreichen Hervorhebungen in dieser Schrift den Lesefluss deutlich stören, werden sie nicht übernommen. 157 Die Bezeichnung Hochdeutsch wird auch synonym zu Oberdeutsch verwendet: „Und die lebende Hoch= oder sogenannte OberTeutsche Sprache. Ihr Umfang ist in iedes gute Schullexicon eingeschlossen. Und die Summe der lebenden, doch untechnischen, Wörter kann für eine uneigentliche Allgemeinheit gelten.“ (ebd., 27; → Hochdeutsch4)

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Wurzel da; ob es nicht gleichwol selbst Teutsch, gut alt und gemein Teutsch, und wurzelhaft; ob es kräftig, anpassend, schnittfähig, edel […]. (ebd., 21)158

Da Fulda sich nicht mit der von Adelung vertretenen Ausschließung landschaftlicher Varianten zufrieden geben kann, legt er im Jahre 1788 einen „Versuch einer allgemeinen teutschen Idiotikensammlung“ (Fulda VIS 1788) vor, in dem er einen umfassenden Vergleich der Varianten aller deutschen Dialekte anstrebt. Damit hat er die von ihm in der Einleitung zur „Sammlung und Vorrede Germanischer Wurzelwörter“ (Fulda GWW 1776) erhobene Forderung eingelöst. Fuldas Sprachkonzeption ist Ausdruck der historischen Orientierung seiner sprachwissenschaftlichen Arbeiten und der Historisierung wissenschaftlicher Gegenstände im Rahmen der Aufklärungszeit. Sein sprachgeschichtliches Interesse kommt besonders in der Vorbereitung von Editionen und durch eigene Übersetzungen zum Ausdruck (z. B. Ulfilas gotische Bibel, Otfrieds Evangelienharmonie, Minnesängertexte u. a.).159 Sein Eintreten für das Oberdeutsche ist nur vor dem Hintergrund seiner umfangreichen sprachhistorischen Studien angemessen zu verstehen und Ausdruck eines bemerkenswerten regionalen Sprachbewusstseins. Einen Verbündeten im Kampf gegen die Vormachtstellung des Obersächsischen findet Fulda in dem schwäbischen Sprachkundler Johannes Nast. Dieser setzt sich in den Einleitungen zu den beiden Bänden des „Teutschen Sprachforschers“ (TSF/1 1777, TSF/2 1778)160 mit dem Streit um das Hochdeutsche und den Bewertungen der regionalen Varietäten auseinander. Schon seine einleitende Behauptung, dass es noch immer kein vollständiges deutsches Wörterbuch gebe – und zwar drei Jahre nach dem Erscheinen des Adelung’schen Wörterbuchs –, macht seine Position im Sprachnormierungsdiskurs deutlich: Er lehnt Adelungs HochdeutschKonzept ab. Ein vollständiges deutsches Wörterbuch müsse die von Fulda dargelegten Wurzelwörter und damit die Verwandtschaft der regionalen Varietäten und ihre historischen Zusammenhänge aufzeigen (vgl. Nast TSF/1 1777, III-V). Dem Oberdeutschen weist Nast ein besonderes Prestige zu. Es stellt für ihn eine ursprünglichere, reinere Sprache dar (vgl. ebd., IX). Das Oberdeutsche entspreche am ehesten einem von ihm behaupteten sprachlichen Urzustande. 158 Das Zitat belegt auch die besondere Wertschätzung der Wurzelwörter bei Fulda und in ähnlichen Ansätzen, da sie als Grundeinheiten der Sprachen angesehen werden, die quasi den Ursprungszustand einer Sprache greifbar machen. 159 Die Texte sind jedoch zu seinen Lebzeiten ungedruckt geblieben und nur teilweise erhalten. 160 Die Angabe der Seitenzahlen erfolgt in Abweichung vom Original durch die Angabe römischer Ziffern.

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Die in Sachsen erfolgte Sprachkultivierung nach Luther räumt er durchaus ein, ebenso wie eine Vorbildlichkeit der obersächsischen Aussprache (Nast TSF/1 1777, XIIIf.).161 Nast beklagt aber die nach der Reformation erfolgte Spaltung Deutschlands und erhofft sich für die Zukunft eine Annäherung des Nordens und des Südens, die aber nur erfolgen könne, wenn der Status quo des Oberdeutschen bei der Sprachnormierung durch die Sprachkundler des ostmitteldeutschen Raums aufgehoben werde. In der zukünftigen Erforschung der Dialekte müsse man die Schätze des Oberdeutschen stärker berücksichtigen, da es die Grundlage des Hochdeutschen darstelle: Noch zur Zeit aber kennen wir Teütschen weder unsere Schätze, noch uns selber einander genugsam. Wir Südlichen sind vielleicht bisher zu träg, und die Nördlichen zu stolz gewesen, um sich nur den Gedanken kommen zu lassen, daß man auch von uns etwas lernen könne. Sollte aber alles in Saxen so unhistorisch sein, und nicht wissen, daß sie von den alten Schwaben, den Vorvättern der heütigen, daß Hochteütsche empfangen haben? Sollen sie, (ich nemme einzelne Männer aus) die sich zu unsern und des ganzen Teütschlandes Lerern in der Sprache aufgeworfen, und ihre Vorschriften nur von der aufs höchste seit einem Jarhundert unter inen lebenden Sprache abgezogen haben – sollten sie nicht oft genug fülen, daß das Feld, so sie bearbeiten und übersehen, für sich allein nicht genug Stoff genug darbiete, daraus der Dichter, der Weltweise, der Geschichtschreiber, der Arzt, der Kräuterkenner, der Naturkundiger, der Jurist, der Mathematiker, der Soldat, der Künstler, der Handwerker schöpfn kan? (Nast TSF/1 1777, X)

Die Sprachkundler des ostmitteldeutschen Sprachgebiets müssten einsehen, dass die von ihnen aufgestellten Normen nicht akzeptabel seien, da sie nicht aus einem Vergleich aller Dialekte gewonnen und somit nicht rational begründet seien. Deshalb fordert er eine stärkere Berücksichtigung des Oberdeutschen in der Lexikographie und bei der Normierung des Hochdeutschen insgesamt (vgl. auch die Vorrede zum zweiten Band, Nast TSF/2 1778, IV).162 Nast räumt aber ein, dass in den oberdeutschen Territorien im Gegensatz zu den südlichen Gebieten eine umfassende Sprachkultivierung stattgefunden habe (vgl. Nast TSF/1 1777, XIV). Dennoch sei vor der durch Luther eingeleiteten positiven Sprachentwicklung der Süden Deutschlands als die Sprachregion hervorgetreten, in der man sich am meisten um das Deutsche verdient gemacht habe, wenn161 Nast ist sich darüber im Klaren, dass eine derartige Sprachkultivierung etwa in Form der barocken Sprachgesellschaften im katholischen Süden nicht stattgefunden hat. Selbstkritisch hält er fest, dass die katholischen Gebildeten der Ansicht gewesen seien, „Sprache cultiviren und Lutherisch sein stehen beisammen“ (ebd., XIV). 162 Nast kontrastiert das Obersächsische als Sprachvorbild des Nordens mit „Schwaben“, „Baiern“ und „Österreich“ (ebd., XII).

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gleich dieser Verdienst selbst bei den Schwaben in Vergessenheit geraten sei: Wir Schwaben selbst müssen aus unserm Schlaf aufwachen, und die unsrer Provinz angeborne Vorzüge und Schätze erkennen und geltend machen. Von der Minnesinger Zeit kein Wort zu gedenken, welche Provinzen Teütschlands haben sich vor Luthern und bis in die Mitte des sechzehnten Jarhunderts um die Sprache am verdientesten gemacht? Sinds nicht die südlichen Teutschen. Sie haben fast alle lateinische und grichische Klassiker übersezt. So gar ir Canzlei= und Urkundenstil, besonders in Schwaben und am Oberrhein, war besser als bei den übrigen Provinzen [...]. (ebd., XVI)

An dieser Stelle kommt ein besonderer Lokalpatriotismus zum Ausdruck, der sich auf das hohe Alter des Schwäbischen und die Blüte oberdeutscher Literatur zur Zeit des Mittelhochdeutschen und die kaiserliche Kanzleisprache beruft. Die Einzigartigkeit der mittelhochdeutschen „Klassiker“ haben um die Jahrhundertmitte bereits die Züricher Sprachforscher Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger aufgrund ihrer umfassenden Sammlung und Aufarbeitung älterer Textzeugnisse betont. Angesichts der von den nord- und mitteldeutschen Sprachkundlern in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vehement betriebenen Stigmatisierung des Oberdeutschen und Alemannischen ist dies ein bemerkenswertes Indiz für einen schwäbischen Sprachpatriotismus. Ein Ergebnis dieses erwachenden Sprachpatriotismus stellt Nast in dem ersten Beitrag des „Teutschen Sprachforschers“ selbst vor, der die „echte Lehre von der teütschen Declination und Conjugation“ (ebd., 1-136) zum Gegenstand hat.163 Eine Stigmatisierung des Obersächsischen zeigt sich bei Nast, da er das Obersächsische als eine Mischsprache abwertet, und zwar als eine Mischform von Slawisch und Niederdeutsch. Diese Vermischung hat Adelung hingegen als eine Verfeinerung des Obersächsischen interpretiert.164 Die vorher konstatierte kulturelle und sprachliche Spaltung wird nunmehr als Vorteil des Südens interpretiert, da hier keine sprachliche Vermischung stattgefunden habe. Anders herum formuliert wird das Oberdeutsche als eine „reinere“ Sprache als das von Adelung vertretene obersächsische Sprachvorbild charakterisiert. Ein weiterer Nachteil des Obersächsischen resultiere aus der nach der Reformation erfolgten Ab163 Aus Raumgründen kann an dieser Stelle nur auf diesen Beitrag verwiesen werden, der in der Einleitung bereits einen bekannten Streitpunkt der grammatikographischen Diskussion thematisiert: die Anzahl der Deklinationen. Hier folgt Nast den sechs Deklinationsarten Fuldas und setzt diese vor allem in Gegensatz zu Gottscheds fünf Deklinationsarten (ebd., Einleitung). 164 Vgl. ausführlich zu den Vorwürfen gegenüber der obersächsischen Aussprache und Flexion Jellinek (1913, 306f.).

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trennung von der sprachlichen Urquelle, die für ihn das „alte Schwäbische“ im Sinne mittelhochdeutscher Literatur mit starker oberdeutscher Basis darstellt. Das ‚Niederhochdeutsche‘ als Sprachvorbild Der Professor für deutsche Beredsamkeit an der Universität Frankfurt an der Oder, Johann Friedrich Heynatz, verortet sich selbst in der Vorrede zum ersten Brief der „Briefe die Deutsche Sprache betreffend“ in den Sprachnormierungsdiskurs. Er möchte an die sprachkritische Tätigkeit der Leipziger „Deutschen Gesellschaft“ und der „Deutschen Gesellschaft“ in Greifswald anschließen. In den einzelnen Briefen präsentiert er deshalb Auszüge aus verschiedenen Büchern zum Thema Sprachkultivierung (Heynatz BDS/1 1771, Vorrede, 4). Der erste Brief setzt mit einer scharfen und polemischen Kritik an Gottsched ein. Heynatz gesteht ihm nur einen gewissen Eifer und eine außerordentliche Belesenheit zu, ansonsten bezeichnet er ihn als „Stümper“ (Heynatz BDS/1 1771, 6, 9) in sprachkundlichen wie poetologischen Fragen.165 Dass die Schriftsprache für Heynatz bereits relativ einheitlich und normiert ist und damit als Muster des Sprachgebrauchs dienen kann, kommt in dem folgenden Beleg zum Ausdruck: Die Hochdeutsche Sprache, so wie sie in Schriften lebt, ist das allgemeine Muster, nach welchem sich alle, so lange der Gebrauch nicht wankt, zu richten schuldig sind. Der Sprachlehrer, er sei Sachse oder Märker, kann wenig oder nichts entscheiden, wenn er den Gebrauch guter Schriftsteller gegen sich hat. Kann er selbst Schriften verfertigen, die ein klassisches Ansehen erhalten, so ist es für seine Grundsätze desto besser. (ebd., 34)

Heynatz gesteht zwar dem Obersächsischen eine Vorbildfunktion zu, diese teile es aber mit dem Brandenburgischen, da in beiden Regionen zuerst musterhafte Texte erschienen seien (ebd., 24). Insgesamt spricht sich der norddeutsche Grammatiker für eine Orientierung am aktuellen Sprachgebrauch aus und plädiert für eine Zurückhaltung bei der Normierung des Sprachgebrauchs (ebd., 37). Die Vorbildlichkeit der meißnischen Aussprache wird in Frage gestellt, so präsentiert er einige Beispiele für die seiner Ansicht nach fehlerhafte Aussprache, wie etwa die Aussprache von 165 Dennoch offenbart seine im 39. Brief skizzierte Geschichte der „Sprachverbesserung“, dass er Gottsched einen enormen Einfluss auf die deutsche Sprachgeschichte zugesteht (BDS/3 1772, 127f.): Die erste Phase reicht von der Erfindung der Buchdruckkunst bis auf das Jahr 1748, das Jahr, in dem die erste Auflage der Gottsched’schen „Deutschen Sprachkunst“ erscheint. Die zweite Phase erstreckt sich bis ins Jahr 1766, d. h. bis zum Tod Gottscheds. Die dritte Phase der Sprachkultivierung schließlich datiert von 1766 bis in seine Gegenwart.

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ai statt ei und die nicht deutliche Trennung von p und b sowie t und d (ebd., 14). Um die meißnische Aussprache zu delegitimieren, werden zudem Aussprachemerkmale des Märkischen als qualitativ hochwertiger charakterisiert und Mängel in der Flexion und im Satzbau des Meißnischen aufgezeigt (ebd., 25ff.). Gleichzeitig erhebt er den Anspruch, auch als „Märker“ (ebd., 14) eine deutsche Grammatik schreiben zu können, zumal er in seiner Grammatik die Aussprachefehler des Märkischen angezeigt habe. Wenngleich er sich nicht der eindeutigen Parteinahme schuldig machen will, bekennt sich Heynatz ausdrücklich zu einem gewissen „Provinzialstolz“ (ebd., 28). Seine Darstellung der Abweichungen zwischen der sächsischen und märkischen Aussprache belegt, dass er den Führungsanspruch Gottscheds in Sprachnormfragen abweist und sich für eine Orientierung der Schriftsprache und der mündlichen Sprache am Märkischen ausspricht.166 Dass beide Sprachkundler aber eine Tendenz zur Monosemierung von Wortschatzeinheiten vertreten, belegt ihre Übereinstimmungen in sprachtheoretischen Grundpositionen (vgl. Heynatz BDS/2 1772, 243). Heynatz betont die besondere Vorbildlichkeit des Niederdeutschen, genauer gesagt des Märkischen bzw. Brandenburgischen (vgl. Heynatz BDS/1 1771, 28f., Heynatz DSL 1770).167 Diesen Führungsanspruch des Märkischen im Hinblick auf die Aussprache des Hochdeutschen sichert er nicht zuletzt am Ende des Briefes durch die Nennung von Autoritäten ab. Genannt werden Gebildete des märkischen Raums, die ihrerseits zur Sprachverbesserung beigetragen hätten: Pöllmann, Pudor, Bödiker, Grüwel, Jablonsky, Frisch und Wippel (ebd., 36). Die Ausführungen von Heynatz gleich zu Beginn des zweiten Briefes zeigen, dass er die Normen für die Leitvarietät anhand des tatsächlichen Sprachgebrauchs, vorrangig des schriftsprachlichen Usus, festsetzen möchte (Heynatz BDS/1 1771, 37). Im Falle von Abweichungen zwischen schriftsprachlichem Gebrauch von den Regeln der Grammatiken sowie „der Analogie andrer Sprachen“ (ebd.) müsse sich der Grammatiker zwischen den verschiedenen Norminstanzen entscheiden.168 In Zweifelsfällen empfiehlt er eine Orientierung am Ober- und Niedersächsischen (Heynatz BDS/4 1774, 21). Die selbstbewusste Forderung nach einem Vorbildan166 Heynatz unterscheidet auch zwischen der Aussprache des Märkischen bzw. Sächsischen in den jeweiligen Städten, d. h. den regionalen Dialekten und den jeweiligen Stadtsprachen (ebd., 34). 167 Seine Grammatik (Heynatz DSL 1770) wird von Jellinek als „beste norddeutsche des ganzen Zeitraumes zwischen Gottsched und Adelung“ bezeichnet (vgl. Jellinek 1913, 269f.). 168 An dieser Stelle wird nicht deutlich, was Heynatz unter „andrer Sprache“ versteht: eine andere Einzelsprache oder eine andere regionale Varietät des Deutschen.

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spruch des Märkischen als Grundlage der Schriftsprache ist ein deutliches Indiz für die Verschiebung des kulturellen Zentrums von Leipzig hin nach Berlin bzw. Preußen nach dem Siebenjährigen Krieg. Insofern Heynatz aber die Vorbildlichkeit des Obersächsischen nicht grundsätzlich hinterfragt, ist seine Haltung im Gegensatz zu den Schwaben Nast und Fulda eher gemäßigt. Heynatz begründet den von ihm erhobenen Anspruch, dass das Märkische neben dem Sächsischen einen Führungsanspruch erheben könne, mit dem schriftsprachlichen Übergewicht beider Regionen in den deutschsprachigen Gebieten. Sachsen hätte „die meisten und ersten guten Schriften in Deutscher Sprache geliefert“ (ebd., 24). Als problematisch erachtet er die Orthoëpie des Hochdeutschen. Die Vorbildlichkeit des Märkischen für die hochdeutsche Schriftsprache begründet er damit, dass die Abweichungen des Märkischen in Aussprache, Flexion und Satzbau weitaus weniger Eingang in die Schriftsprache fänden als im Falle des Obersächsischen. Die Grammatiker und Lexikographen sollten darüber hinaus den tatsächlichen Sprachgebrauch kodifizieren. Im Kontext von Heynatz’ didaktischen Überlegungen zum Erlernen des Deutschen im schulischen Unterricht im fünften Brief werden einige Schriften genannt, die als Vorbilder dienen könnten. So hebt er Lessing als denjenigen deutschen Schriftsteller hervor, „der der grammatischen Reinigkeit am nächsten kömmt“ (ebd., 97f.), wenngleich er nicht völlig fehlerfrei schreibe. Außerdem nennt er Ramler und Gellert (ebd., 67f.). Theologische und juristische Schriften hält Heynatz als Textmuster für ungeeignet. Er scheint eher belletristischen Texten den Vorzug zu geben (Heynatz BDS/1 1771, 98). Insgesamt schätzt Heynatz den Einfluss der Grammatiker auf die Normierung der Schriftsprache im Vergleich zu den Schriftstellern als eher gering ein. Das norddeutsche Schriftlautungsprinzip vertritt der aus der Neumark stammende Berliner Oberkonsistorialrat Johann Friedrich Zöllner in seiner Vorlesung vor der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin „Über die Deutsche Aussprache“ aus dem Jahre 1791 (Zöllner ÜDA 1796). Zöllner verweist auf den engen Zusammenhang zwischen der Ausbildung einer Schriftsprache und der mündlichen Sprache (ebd., 204). Nach Zöllner wirkt die Schriftsprache auf die Entwicklung der Aussprache ein: „Die Schriftsteller haben unsere Sprache veredelt, biegsamer gemacht, verfeinert, bereichert; aber von allen diesen Vorzügen sind noch zu wenige in den mündlichen Vortrag, zumal in die Sprache des Umgangs, übertragen worden.“ (ebd., 206) Außerdem konstatiert er die Existenz einer schriftnahen Aussprache der oberen sozialen Schichten in Norddeutschland (ebd., 213), damit meint er die norddeutsche schriftnahe Lau-

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tung im Gegensatz zum ‚Plattdeutschen‘ als Dialekt. Eine Orientierung der Aussprache an einer einzigen Sprachregion ist für Zöllner nicht zu legitimieren (ebd., 209), da es weder eine Hauptstadt, noch vorbildliche Höfe oder Gesellschaften gebe, die als Vorbild fungieren könnten (ebd., 201). Die in Deutschland angenommene Rechtschreibung solle deshalb zugleich die Regel für die hochdeutsche Aussprache darstellen. Er spricht sich somit für eine schriftnahe Aussprache aus. Joseph von Sonnenfels’ Konzept einer Leitvarietät Joseph von Sonnenfels hat seit 1763 eine Professor für Kameralistik inne und ist von der österreichischen Kaiserin mit der Verbesserung der Rechts- und Verwaltungssprache beauftragt worden (vgl. Wiesinger 1997, 749). Von Sonnenfels ist von Kaiser Joseph II. in die Studienhofkommission berufen und beauftragt worden, die Rechtssprache der Gesetze und Regierungserlässe zu reformieren (vgl. Wiesinger 1987, 749). Er stellt neben von Justi und von Felbiger eine der zentralen Größen der Wiener Sprachreformen dar, die die Akzeptanz der ostmitteldeutschen Schriftsprache wesentlich befördert haben. Von seiner vielfältigen publizistischen Tätigkeit können an dieser Stelle nur wenige Beiträge herangezogen werden, die das sprachreformerische Anliegen des Kameralistik-Professors und seine Konzeption einer Leitvarietät verdeutlichen sollen. Zunächst wird seine 1761 vorgetragene „Ankündigung einer deutschen Gesellschaft in Wien“ (von Sonnenfels ADG 1761), deren Mitbegründer er ist, vorgestellt. Zweitens wird sein Lehrbuch für den Geschäftsstil aus dem Jahre 1784 kurz charakterisiert, das bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein Grundlage der österreichischen Rechts- und Verwaltungssprache bleibt. Seine Arbeit mit dem Titel „Über den Geschäftsstil. Die ersten Grundlinien für angehende österreichische Kanzleybeamte“ (von Sonnenfels ÜG 1784) erscheint in dem Jahr, in dem der österreichische Kaiser Joseph II. das Deutsche als Amtssprache und als Unterrichtssprache einführt.169 In seiner laut Titelblatt am „2. Jänner 1761“ vorgetragenen Rede benennt von Sonnenfels die Ziele der Wiener „Deutschen Gesellschaft“ und erläutert die Gründe, die ihre Gründung notwendig machen (von Sonnenfels ADG 1761). Die Darstellung seiner Ansprache an die Mitglieder der Gesellschaft, die auch Aufschluss über antizipierte Gegner derselben gibt, soll drei Fragen beantworten: 169 Sein Lehrbuch wird für die zweite Auflage gründlich überarbeitet und in der Folgezeit mehrfach nachgedruckt. Es bleibt an den juridischen Fakultäten der österreichischen Universitäten bis 1848 im Gebrauch (vgl. Wiesinger 1987).

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a. Wie begründet von Sonnenfels die Notwendigkeit der Gründung einer „Deutschen Gesellschaft“ in Wien und welche Ziele verfolgt er? b. Wie beurteilt er die Sprachsituation in Österreich? c. Welches Konzept einer Leitvarietät vertritt er? a. Wie begründet von Sonnenfels die Notwendigkeit der Gründung einer „Deutschen Gesellschaft“ in Wien und welche Ziele verfolgt er? Von Sonnenfels macht seiner Zuhörerschaft deutlich, dass in allen deutschen Sprachlandschaften bereits eine umfassende Pflege und Kultivierung des Deutschen eingeleitet wurde und warnt vor den negativen Folgen einer Vernachlässigung der Muttersprache (ebd., 3). Dass der protestantische Norden Deutschlands schon lange um die Verbesserung der Muttersprache bemüht ist, wird besonders betont (ebd., 23). Doch geht es von Sonnenfels um mehr, als um die Kultivierung und Normierung der oberdeutschen Schriftsprache: Die Sprachverbesserung ist seiner Ansicht nach die Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlichen Fortschritts. Sie solle außerdem die staatliche Autorität und das Ansehen der Regierung stärken und der Bevölkerung insgesamt dienen, darüber hinaus solle sie die Religion und die Tugend (ebd., 14) bzw. die Sitten (ebd., 10) stärken und durch die Verbesserung der Rechtssprache auch die Gerechtigkeit befördern (ebd., 15f.). Die Sprachnormierung, die von Sonnenfels beabsichtigt, ist somit eingebunden in ein umfassendes moralisch-sittliches und gesellschaftspolitisches Programm. Von Sonnenfels’ Motive sind wie die der Sprachkundler in den nordund mitteldeutschen Territorien patriotischer Natur, darüber hinaus zeigen sich auch starke staatsaffirmative Tendenzen: Wir nehmen hier die Sprache in ihrem weitesten Umfange: die Sprache, in welcher der Fürst Gesetze giebt, durch die er dem Unrechte wehret; in welcher er die klugen Verordnungen abfasset, welche die innere Aufnahme seines Staates befördern; die Wissenschaften, die Handkünste, den Handel emporbringen; in welcher er durch Frieden, durch Bündnisse die äußerliche Sicherheit seines Reiches befestiget: die Sprache, in welcher der Priester die heiligen Pflichten der Religion vorträgt; das Abscheuungswürdige des Lasters, den göttlichen Reiz der Tugend zeiget: die Sprache, in welcher der Waise den Eigennutz des Vormundes vor den Richterstuhl zieht; in welcher die bedrängte Witwe, der hinterführte Bürger wider den Großen, wider seinen Mitbürger das Recht erstehet; in welcher die den Bösen schreckbare Gerechtigkeit verwaltet wird: die Sprache, in welcher der Vater seinem Vaterlande einen getreuen Bürger, die Mutter dem künftigen Gemahle eine gesittete, liebreiche Gattinn erzieht: die Sprache verstehen wir, und erinneren uns zugleich, daß wir im Herzen Deutschlandes, in einem dessen blühendsten Staaten, daß wir in Wien sind. (ebd., 11)

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Der Fürst selbst solle in allen sprachlichen Belangen ein leuchtendes Vorbild sein (ebd.). Ziel der „Deutschen Gesellschaft“ ist, den ‚guten Geschmack‘ (ebd., 8) der Sprecher auszubauen, insbesondere die Jugend solle den besonders hohen Wert der Muttersprache schätzen lernen (ebd., 8) und weitere vorbildliche Schriften als „Muster“ (ebd., 8) der neuen Sprachform verfassen und verbreiten. Joseph von Sonnenfels will wie die nord- und mitteldeutschen Sprachkundler das Deutsche im europäischen Wettstreit um die ‚Leitsprache‘ aufwerten, deshalb werden nicht nur die Schriften Klopstocks, Gottscheds, Gellerts, Kleists beschworen, sondern auch die besonderen Eigenschaften des Deutschen: „Unsere Sprache hat Richtigkeit, Geschmeidigkeit, Pracht, Anmuth, Edles, Fliessendes; sie ist lebhafter Wendungen, eines erhabenen Schwunges, sie ist aller Einkleidungen, [...] des Natürlichen, des Naifen fähig […]“ (ebd., 13). b. Wie beurteilt er die Sprachsituation in Österreich? Wenngleich von Sonnenfels keine Kritik an der Sprachverwendung bzw. der Vernachlässigung der Sprache durch einzelne Institutionen oder Einzelpersonen übt, lässt sich aus seinen Aussagen dennoch schließen, welche sprachlichen Bedingungen in Österreich er als problematisch erachtet. So wird deutliche Kritik an den Bildungseliten geübt, die als einzige Sprache das Latein beherrschen und die das Deutsche aufgrund vermeintlicher Mängel nicht als Sprache der Wissenschaft akzeptieren (ebd., 9). Die zweite Gruppe, die scharfe Kritik auf sich zieht, sind die Oberschichten, denen er eine Bevorzugung des Französischen anlastet (ebd., 13, → Hof1/3). Das Problem, dass die Sprecher und Sprecherinnen die Fremdsprachen überaus gut beherrschen, aber kaum Kenntnisse der Grammatik, des Wortschatzes oder der kommunikativen Verwendungsweisen und Textsorten ihrer eigenen Muttersprache besitzen, betrifft die schriftsprachliche wie mündliche Kommunikation aller bürgerlichen Schichten wie die Führungseliten Österreichs: Diese Nothwendigkeit verbreitet sich beynahe über alle Stände; und begleitet uns so gar in unsere häuslichen Geschäffte. Ein Handelsmann, ein Bürger, ein Soldat, ein Vater, ein Sohn, ein Gemahl, ein Fürst, ein Untergebener, ein Freund, jeder wird sie empfinden; jedem werden Fälle aufstossen, in welchen er schriftliche Aufsätze nicht entbehren kann. Und soll es uns gleichviel seyn, wie und was wir niederschreiben? (ebd., 19)

Für von Sonnenfels ist die Sprache der Ausdruck der Empfindungen und der kognitiven Fähigkeiten der Sprecher. Im Sinne Bühlers weist die Sprache eine Symbolfunktion auf, die Rückschlüsse auf den Sender eines

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sprachlichen Zeichens zulässt: „Unsere Reden sind das Ebenbild unsers Charakters; sie entwerfen unsere Empfindungen, und drücken gleichsam unsre ganze Denkungsart ab.“ (ebd.) Während von Sonnenfels um die Verbesserung der Sprache der Bildungseliten und Oberschichten bemüht ist, stigmatisiert er die Sprache der niederen Schichten, die er als nicht hochwertig genug erachtet, Gegenstand von Sprachkultivierungsbemühungen zu werden: Ich rede hier nicht vom Pöbel, der gegen die Reizungen der Ehre fühllos ist. Von denen rede ich, welche über ihren Umgang, ihre Sitten, über alle Geschäffte, durch den Anstand, mit welchem sie solche berichten, einen gewissen Geschmack, und etwas reizendes herrschen lassen wollen, wodurch sie sich vom Pöbel unterscheiden suchen. (ebd., 19)170

Dass von Sonnenfels nicht mit einer scharfen Kritik am Adel und den Offizieren spart, zeigt sich in zwei Beiträgen der verfassten Wochenschrift „Der Mann ohne Vorurtheil“ aus dem Jahr 1765 (von Sonnenfels MV 1765).171 In einem fingierten Brief eines österreichischen Offiziers, der die ersten erschienenen Beiträge der Wochenschrift kommentiert und rezensiert, und dem nachfolgenden Antwortschreiben, wird deutlich, dass sich die Offiziere als Führungselite am Französischen orientieren und die von von Sonnenfels vertretene Leitvarietät obersächsischer Prägung gar nicht beherrschen (ebd., 71). Noch heftiger fällt die in einem anderen Beitrag geäußerte Spitze gegen den Adel aus, die auf der These beruht, dass der Adel hinter dem Französischen lediglich seine mangelnde Kenntnis und Beherrschung der Muttersprache verstecken wolle: Noch hat es ihr [gemeint ist die deutsche Muttersprache, Anm. KF] nicht gelungen, sich den Eintritt in die Gesellschaften des hohen Adels zu öffnen. Sie ist, habe ich oft hören müssen, nicht reich, nicht geschmeidig genug, die Sprache der feinern Welt zu seyn. – Ein Mensch, der fähig ist, Vergleichungen zwischen Sprachen anzustellen, weis das Gegentheil. Er weis, daß die deutsche mehr eigenthümliche Wörter, als beynahe jede andre hat. Er weis, wie sie sich unter den Händen eines geschickten Schriftstellers schmiege. Bey ihm also wird dieser Vorwand nie gelten. Er wird vielmehr so zu sich selbst sprechen: O! Sie schämen sich, zu gestehen, daß sie ihre Landessprache zu wenig kennen, um sie zur Sprache des Umgangs zu machen, und sie

170 Diese scharfe Kritik bezieht sich allein auf die Sprache der niederen Schichten. In der sozialkritischen Zeitschrift von Sonnenfels’ mit dem Titel „Der Mann ohne Vorurtheile“ werden beispielsweise die Armut und die Lebensumstände der ländlichen Bevölkerung angeklagt. 171 Die Zeitschrift erscheint in den Jahren 1764 bis 1766 in losen Folgeblättern ohne Unterbrechung und ist ein überaus beliebtes Periodikum, das von der Herausgeberin der Neuedition von 1994, die hier als Textgrundlage dient, als ganz besonders bedeutsames aufklärerisches Publikationsorgan charakterisiert wird (vgl. Kremers 1994, 31).

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bemänteln ihr schwaches Kenntniß durch die Verachtung. – Aber wer ist dreiste genug, es ihnen zu sagen. (ebd., 86)

Während der Adel durch die schulische und private Ausbildung die modernen wie antiken Fremdsprachen beherrscht, schreibt der Verfasser des XIX. Beitrags, sei aus dem „Munde unsrer jungen adelichen Schönen“ (ebd., 107) nur die „pöbelhafteste Aussprache“ (ebd.) zu hören. Schuld an der prekären Sprachsituation haben seiner Ansicht zufolge die Eltern der Adligen: Zürnet über die Wärterinnen eurer Kindheit! Sie sind es, die daran Schuld tragen: oder vielmehr die, die es den gemeinsten Dirnen überlassen, eure ersten nachahmenden Töne zu bilden. Diese Hände, diese Züge, dieser Wuchs und ganze Bau des Körpers ist edel: aber die Sprache, die ist Pöbel. Auch so geht es mit dem Knaben der doch künftig sich mit einem gewissen Anstand ausdrücken, der vielleicht in einem Amte öffentlich sprechen soll: seine Sprachwerkzeuge werden von einem Weibe geübet, das die Sprache des Dorfes spricht: ihr Zögling nimmt die ihrige an; und nun, wenn wir den Vortrag eines Mannes im Amte mit festzugedrückten Augen anhören, werden wir denken, wir haben einen Winzer oder Mayer gehört […]. (ebd., 108)

Für die österreichische Rechts- und Verwaltungssprache gelte insbesondere die Notwendigkeit der Sprachkultivierung. Von Sonnenfels fordert im Grunde in seinen Schriften eine Reformierung der Ausbildung der Beamten, die eine gründliche Kenntnis der Grammatik, des Wortschatzes und der Textsorten des Verwaltungsbereichs im Studium erwerben sollen. Eben dieses Ziel versucht von Sonnenfels nach seiner Berufung auf eine Professur für Kameralistik in den 1780er Jahren zu verwirklichen. c. Welches Konzept einer Leitvarietät vertritt er? Von Sonnenfels’ sprachreformerisches Bemühen zielt auf die Konstituierung und Konsolidierung einer Leitvarietät als überständisches Kommunikationsmedium in allen Verwendungsbereichen, wie das unter Abschnitt a präsentierte Zitat belegt: Es geht ihm um die Sprachnormierung und -kultivierung der Verwaltungs- und Rechtssprache, aber auch der Sprache der bürgerlichen Öffentlichkeit und Privatheit (ebd., 11). Von Sonnenfels beruft sich im Hinblick auf potenzielle Vorbilder auf die „rechtmässigen Vorgänger“ (ebd., 5) und anerkannte Sprachlehrer, womit implizit die barocken Sprachgesellschaften und die „Deutschen Gesellschaften“ Gottscheds und seiner Anhänger gemeint sein dürften. Darüber hinaus solle der „festgesetzte Gebrauch“ der Prüfstein der Bemühungen der Wiener „Deutschen Gesellschaft“ sein, deren Aufgabe er nicht in der Verfassung eigenständiger Grammatiken sieht, sondern in der Fortsetzung der in Nord- und Mitteldeutschland begonnenen Sprachkultivierung. Die von ihm als vorbildliche Textmuster ausgewiesenen Autoren entsprechen

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ganz dieser Anlehnung an die norddeutsch-ostmitteldeutsche Leitvarietät, darunter: Martin Opitz und der preußische Dichter Rudolf Freiherr von Canitz für das 17. Jahrhundert, darüber hinaus aber auch zeitgenössische Autoren wie Friedrich Gottlieb Klopstock, Friedrich von Hagedorn, Johann Christoph Gottsched, Christian Fürchtegott Gellert, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Heinrich von Kleist, Christoph Martin Wieland und „Bodmer“ (ebd., 14). Dass von Sonnenfels in sprachregionaler Hinsicht die obersächsische Leitvarietät bevorzugt, kommt in dem oben bereits erwähnten fingierten Beitrag seiner Wochenschrift „Der Mann ohne Vorurtheil“ zum Ausdruck, in dem sich ein österreichischer Offizier über die Sprachform und die sozialkritischen Inhalte der Wochenschrift auslässt: Das Lesen war nie meine Sache, und ich bin mit ihren sächsischen Sprüchelchen gar nicht bekannt. Wir Offiziere hatten in Dreßden ein anders Stück Arbeit vor uns, als deutsch zu lernen; und aufrichtig zu reden, verstehe von ihrem Gewäsche den T.f.l. [= Teufel, Anm. KF] nicht. […] Wissen sie statt all des undeutschen Zeugs nicht lieber eine Geschichte zu erzählen. Geschichtgen, wie die Sachsen reden, Geschichtgen wollen wir haben, je anzüglicher, desto besser. Das wird ihnen Leser verschaffen. (von Sonnenfels MV 1765, 71)

Ziel der Arbeit über den Geschäftsstil ist die Vereinheitlichung der Verwaltungssprache, die die Grundlage eines funktionierenden Verwaltungssystems darstellt sowie im übergeordneten Sinne das Staatswohl (vgl. ebd., 25, ebenso von Sonnenfels ADG 1761, 18ff.). Der Duktus seiner Darstellung ist überaus sachlich und rationalisierend, da die Normen ausführlich begründet werden. Die drei leitenden Kriterien zur Abfassung eines gelungenen Geschäftsaufsatzes sind nach von Sonnenfels: 1. „Sprachrichtigkeit“, 2. „Deutlichkeit“ und 3. „Kürze“ (vgl. von Sonnenfels ÜG 1784, 23f.). Diese drei aufklärerischen Kriterien, die ihrerseits auf die antike Rhetorik verweisen, werden aber nicht kritiklos übernommen, sondern hinsichtlich ihrer Semantik und ihres Geltungshorizontes hinterfragt. Seine Grundhaltung ist vorrangig pragmatisch: Die Geschäftsbriefe sollen seiner Konzeption gemäß adressatenorientiert und für alle sozialen Schichten verständlich sein und keinem hochgestochenen Stilideal entsprechen (vgl. ebd., 50). Insofern befreit von Sonnenfels die Leitvarietät von den Vorgaben des Kanzleistils wie von ästhetischen Kategorien. Ein sprachliches Selbstbewusstsein drückt sich in der Behandlung von regional abweichenden Einheiten des Wortschatzes aus. So kritisiert er beispielsweise Johann Christoph Adelung, der in seinem Wörterbuch die Verwendung der oberdeutschen (österreichischen) Variante „Stelle“ für das im deutschen Sprachraum übliche „Kollegium“ bzw. „Department“ kritisiert habe. Von Sonnenfels wirft die Frage auf, warum ein Fremdwort

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dem indigenen „deutschen“ Wort, das in Österreich im Gebrauch sei, vorgezogen werden müsse (von Sonnenfels ÜG 1784, 4). „Provinzialausdrücke“ werden definiert als Wörter oder Redensarten, die nur in bestimmten Landschaften gebräuchlich sind und die in der „allgemeinen Sprache“ (ebd., 48) durch andere Bezeichnungen wiedergegeben werden können. In der zugehörigen Fußnote erläutert von Sonnenfels seine Haltung in sprachgeographischen Fragen. Den regionalistischen Führungsanspruch in Bezug auf die Aussprache, den fast jede kleine Stadt in Ober- und Niedersachsen erhebe, weist er ebenso entschieden zurück, wie die in den literarischen Zeitschriften aller Ortens erhobenen Autoritätsansprüche in Fragen der Sprachnormierung (ebd., 48f.). Von Sonnenfels fordert eine Aufnahme von landschaftlichen Varianten in den Fällen, in denen sie Wortschatzlücken schließen bzw. den Wortschatz bereichern. Leitendes Kriterium der Auswahl solle nicht die Überregionalität eines Wortes sein, sondern seine potenzielle Verständlichkeit.172 Der „österreichische[n] Provinzialsprache“ (ebd., 49) weist er einen exponierten Status im Rahmen einer derartigen Wortschatzbereicherung zu, allerdings beklagt er das Fehlen eines entsprechenden Idiotikons. Die Ablehnung von regionalen Varianten, vor allem die Ausschließung oberdeutscher Varianten durch die Sprachkundler des obersächsischen Sprachraums, ist für von Sonnenfels nicht zu rechtfertigen. Sie verhindere eine volle Entfaltung des Potenzials des Deutschen im Allgemeinen und die allgemeine Verständlichkeit der österreichischen Schriftsprache im Besonderen (ebd., 51f.). Die Frage der Verwendung dialektaler Ausdrücke beantwortet von Sonnenfels sehr pragmatisch und differenziert nach Kommunikationsdomänen und Textsorten: So sollten einerseits in Institutionen verbreitete Texte bzw. Texte mit überregionaler Reichweite keine Provinzialismen aufweisen (ebd.). Auf der anderen Seite sollten „Provinzialverordnungen“, deren Adressatenkreis regional begrenzt ist, „hochdeutsche Ausdrücke“ (ebd., 51) vermeiden. Zur Bekanntmachung von Wortformen des Hochdeutschen schlägt von Sonnenfels die Nennung der Varianten in Klammern vor. Dieses Verfahren ist bereits in Schriften des 17. Jahrhunderts bei der Verwendung von lateinischen Fachwörtern zur Anwendung gekommen. Er lehnt demzufolge eine allzu enge Anlehnung an die von Gottsched und Adelung propagierte obersächsisch-meißnische Leitvarietät ab, wie überhaupt der Ausschließlichkeitsanspruch des Sprachgebrauchs einer 172 Als Beispiel listet von Sonnenfels an dieser Stelle zwei partielle Synonyme auf, ‚Rauchfang‘ und ‚Schornstein‘ bzw. ‚Tischler‘ und ‚Schreiner‘. Insofern die sprachlichen Ausdrücke semantisch äquivalent und regelhaft (sprachrichtig) gebildet sind, müssen sie für von Sonnenfels als gleichberechtigte Varianten anerkannt werden (ebd., 52f.).

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Region hinterfragt wird (vgl. ebd.). Selbstbewusst behauptet er eine Eigenständigkeit des Österreichischen und fordert die Einrichtung eines österreichischen Idiotikons. Im Gegensatz zu Gottsched und Adelung ist er um eine Integration dialektaler, insbesondere österreichisch-bairischer Varianten, bemüht. Sein Lehrbuch kann somit als eine entscheidende Etappe zur Etablierung der österreichischen Standardvarietät gewertet werden. Kritik aus Norddeutschland Eine umfassende Diskussion des von Gottsched für den Schulunterricht herausgegebenen „Kern[s] der Deutschen Sprachkunst“ wird von dem Pädagogen und Mitglied der „Deutschen Gesellschaft“ in Göttingen, Johann Michael Heinze, im Jahre 1759 veröffentlicht. Heinze ist seit 1753 Rektor in Lüneburg und hat zunächst Gottscheds „Kern“ im schulischen Unterricht eingesetzt. Die von ihm konstatierten Fehler und die mangelnde Kürze und Konsistenz der Darstellung bewegen ihn dazu, Gottscheds Schulgrammatik einer detaillierten Kritik zu unterziehen, die in Form der „Anmerkungen über des Herrn Professor Gottscheds Deutsche Sprachlehre“ (Heinze AGDS 1759) erscheint. Seine Kritik ist nicht lokalpatriotisch motiviert, da sie keineswegs eine Verteidigungsschrift des Niederdeutschen darstellt, wie sie etwa Bernhard Raupach zu Beginn des 18. Jahrhunderts vorlegt (vgl. Raupach LSI 1704). Die in seinem Werk genannten Schriften belegen vielmehr, dass er Arbeiten von Bödiker, Frisch, Richey und Popowitsch zur Kenntnis genommen hat. Gottscheds Schullehrbuch zieht deshalb seine Kritik auf sich, weil er es für den schulischen Unterricht als ungenügend erachtet, da es zum Teil fehlerhafte Darstellungen enthält, wie etwa die von Heinze kritisierte Ableitung von „Vater“ von „Futter“, „füttern“ (vgl. Heinze AGDS 1759, 17). Und schließlich hält er das Niveau des Schulbuchs zwar für das Universitätsstudium angemessen, aber nicht für die Unterrichtung von Schülern und Schülerinnen (ebd., 3).173 Die Leitvarietät ist bei Heinze bestimmt als eine dialektferne, grammatisch und stilistisch ausgebildete Sprache, die dem Gebrauch der Oberschichten entspricht und von den „Nachlässigkeiten der gemeinen Sprache des Umganges“ (ebd., 7) weit entfernt ist. Darüber hinaus zeigen seine Ausführungen zu den Buchstaben (vgl. ebd., 10-22) und zur Orthographie (vgl. ebd., 23-34), dass Heinze die von Gottsched aufgestellten Regeln für unhaltbar und ungenügend hält. 173 Dass Heinzes Grammatik in Ansätzen innovativer als Gottscheds Grammatik ist, zeigt seine Beschränkung auf vier Deklinationsklassen. Scharf kritisiert er die unreflektierte Übernahme der sechs Deklinationsklassen aus der lateinischen Grammatik bei Gottsched (ebd., 58).

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Beispielsweise zitiert er Gottsched mit den Worten: „Man schreibe so, wie es der allgemeine Gebrauch eines Volkes, seit undenklichen Zeiten eingeführet hat.“ (ebd., 25) Heinze moniert, dass es keinen „allgemeinen Gebrauch“ gebe. Er sieht das technische Problem, dass dieser ohnehin für die Schüler nicht feststellbar sei, da dies einen Vergleich aller Schriftsteller voraussetzen würde. Ebenso habe Gottsched keine vorbildlichen Schriftsteller benannt. Und auch das Kriterium des Alters bestimmter Normen sei angesichts der stetigen Verbesserung der Rechtschreibung ungültig. Heinzes Gegenvorschlag lautet, dass die Schreibenden in Zweifelsfällen ein gutes Wörterbuch heranziehen sollen (ebd., 26). Allerdings ist diese Empfehlung ähnlich problematisch wie die kritisierten Vorgaben Gottscheds, da noch kein allgemein verbindliches, gesamtdeutsches Wörterbuch existiert, in dem neben der Lexik auch die Orthographie kodifiziert wäre. 3.4.5 Zur Bewertung von Niederdeutsch und Hochdeutsch 3.4.5.1 Zum historischen Kontext Die Durchsetzung der hochdeutschen Schriftsprache ostmitteldeutscher Prägung erfolgt im niederdeutschen Sprachraum bereits seit dem 15. Jahrhundert, wenngleich dies kein einheitlicher, von zentralen Instanzen gesteuerter Prozess ist.174 Von besonderer Bedeutung für diesen Prozess ist, dass die kirchliche Schulaufsicht die Vermittlung des Hochdeutschen im Schulwesen fordert und die Mehrheit der Theologen diesen Bildungsauftrag in den Schulen umsetzt (vgl. Kröger 1996, 26). Die in den untersuchten Texten häufig auftretende Klage zahlreicher norddeutscher Gebildeter und Pastoren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über die fehlenden Kenntnisse des Hochdeutschen der niederen Schichten, besonders auf dem Land (vgl. beispielsweise Ackermann MM 1794), zeigt aber, dass die schulische Vermittlung der Leitvarietät nur bedingt „erfolgreich“ verlief und dass die Problematik der Diglossie-Situation von norddeutschen Geistlichen und Gebildeten überaus kritisch reflektiert wird.

174 Zur geschichtlichen Entwicklung des Niederdeutschen vgl. u. a. die Beiträge in Cordes/Möhn (1983) sowie Peters (2003), Roesler (2003) und Scheuermann (2003). Die von Kröger vorgelegte Untersuchung „Plattdüüdsch in de Kark“ )1996) informiert ausführlich über die umstrittene Rolle des Niederdeutschen als Kirchensprache, zur Bewertung des Niederdeutschen vgl. Herrmann-Winter (1990, 1992). Siehe auch die Darstellung bei Lasch (1979).

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Die Übernahme des Hochdeutschen verläuft in Bezug auf die unterschiedlichen sozialen Schichten, Schultypen und Regionen Norddeutschlands sehr unterschiedlich. Um 1650 ist bereits eine Diglossie zwischen schriftsprachlichem Standard ostmitteldeutscher Prägung und gesprochenem Niederdeutsch anzusetzen. Des Weiteren ist von einem Bilingualismus auszugehen, der allerdings nur für die Oberschichten und Bildungseliten zutrifft, die sich bereits an der hochdeutschen Schriftsprache orientieren.175 Die Verdrängung des Niederdeutschen und seine gleichzeitige Abwertung und Stigmatisierung lässt sich nur im Kontext der Vertikalisierung der Varietäten des Deutschen und des damit verbundenen Sprachprestiges des Hochdeutschen ostmitteldeutscher Prägung verstehen (vgl. Reichmann 2000). Die Debatte über Vorzüge und Mängel der niederdeutschen Sprache setzt bereits durch den verstärkten Sprachkontakt mit dem Hochdeutschen im 16. Jahrhundert ein. Wenngleich der aus dem niederdeutschen Sprachraum stammende Sprachkundler Justus Georg Schottelius in seiner „Ausführliche[n] Arbeit Von der Teutschen Haubtsprache“ im Jahr 1663 das Niederdeutsche als die ältere Sprache gegenüber dem Hochdeutschen charakterisiert und dessen Wortreichtum und seine lautlichen Qualitäten lobt (vgl. Schottelius AA 1663, 174)176, sprechen seiner Ansicht nach zwei Gründe für das Hochdeutsche als Leitvarietät: Erstens sei es eine in allen Regionen Deutschlands gebrauchte, polyfunktionale Schriftsprache. Zweitens weise das Hochdeutsche eine besondere „Kunstrichtigkeit“, das bedeutet in heutiger Terminologie eine besondere grammatische Systematizität, die in der zeitgenössischen Diskussion auch als ‚(Sprach-) Richtigkeit‘ bezeichnet wird. Für Schottelius ist die hochdeutsche Sprache bereits ein Ergebnis erfolgreicher Sprachnormierung und -kultivierung und muss deshalb gegenüber dem Niederdeutschen als Leitvarietät anerkannt werden. Wie die nachstehende Analyse von Aussagen der Sprachkundler, Pastoren und anderer Angehöriger der Bildungseliten belegt, äußern sich im 18. Jahrhundert dennoch zahlreiche Diskursakteure kritisch zur Verdrängung des Niederdeutschen. Die Darstellung zielt sowohl auf die Argumentationen derjenigen, die das Hochdeutsche obersächsischer Grundlage als 175 Für Ostfriesland ist außerdem zwischen 1650 und 1850 eine Dreisprachigkeit anzusetzen: Während im Westen Niederländisch als Predigtsprache im Gebrauch ist, etabliert sich im lutherischen Osten das Hochdeutsche als Sprache des Unterrichts und der Seelsorge, allerdings bleibt als gesprochene Sprache der Mehrheit der Bevölkerung beider Sprachgebiete das Niederdeutsche im Gebrauch. 176 So heißt es: „Die Niedersächsische / wie auch die Niederländische Mundart / kommt dem rechten Grunde / und Uhrsprünglichem Wesen oft näher / als das Hochteutsche / ist auch fast an Wörteren reicher und nicht weniger lieblich.“ (Schottelius AA 1663, 174)

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Leitvarietät in allen Kommunikationsbereichen durchsetzen wollen, als auch auf die Argumentationen derjenigen, die gegen die Stigmatisierung des Niederdeutschen kämpfen und seinen Status als Leitvarietät in Norddeutschland wiederbeleben wollen. 3.4.5.2 Frühe Kritik an der Verachtung des Niederdeutschen Im Jahre 1704 erscheint die Druckfassung einer akademischen Übung des Rostocker Theologie-Studenten Bernhard Raupach (1682-1745), in der er die Verdrängung des Niederdeutschen aus allen Kommunikationsdomänen in Norddeutschland beklagt (vgl. Raupach LSI 1704).177 Das Thema der Arbeit ist von dem Theologen Franz Albrecht Aepinius (1673-1750) gestellt worden. Raupachs Arbeit ist in einzelne Paragraphen untergliedert, die zum Teil die vorgebrachten Argumente wiederholen. Deshalb wird seine Argumentation hier im Hinblick auf die für diese Untersuchung wesentlichen Aspekte zusammengefasst: a. Verortung im europäischen Streit um die ‚Leitsprache‘ In seiner Vorrede berichtet Raupach von der erfolgreichen Sprachkultivierung in Frankreich und in anderen europäischen Ländern (vgl. ebd., 59). Auch das Bemühen um die deutsche Sprache durch die von Fürst Ludwig von Anhalt gegründete Fruchtbringende Gesellschaft wird lobend erwähnt (vgl. ebd., 65). Diese Verortung im europäischen Wettstreit um die beste und vorbildlichste Sprache ist typisch für die Diskursgemeinschaft und findet sich im gesamten Untersuchungszeitraum. Der Streit um die ‚Leitsprache‘ ähnelt im Hinblick auf die diskutierten sprachlichen Phänomene, und zwar Lautung, Lexik, Grammatik und Polyfunktionalität, der 177 Die ursprünglich lateinische Schrift mit dem Titel „De linguae inferioris neglectu atque contemtu injusto“ liegt in einer zweisprachigen Übersetzung durch das Bremer Institut für niederdeutsche Sprache von 1984 vor, die hier herangezogen wird. Die ursprünglich lateinische Schrift wird in das ansonsten deutschsprachige Korpus aufgenommen, da das Plädoyer Raupachs für die Erhaltung des Niederdeutschen im Sprachnormierungsdiskurs in zahlreichen sprachreflexiven Schriften thematisiert wird und somit eine besonders wichtige Position im Sprachnormierungsdiskurs einnimmt. So greift eine Abhandlung in den „Beyträgen zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit“ (vgl. Anonymus BCH2 1732, 304-323), die von der „Deutschen Gesellschaft“ in Leipzig herausgegeben wird, diese Arbeit ebenso auf wie ein norddeutscher Autor in den „Critischen Versuchen“, einem Publikationsorgan der „Deutschen Gesellschaft“ in Leipzig (vgl. Anonymus AGDS 1742). Darüber hinaus stellt die Schrift Raupachs eine argumentative Anschlussstelle für zahlreiche Anhänger des Niederdeutschen als norddeutsche Leitvarietät dar.

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Diskussion um die als Hochdeutsch bezeichnete Leitvarietät. Während in anderen Ländern die Kultivierung der jeweiligen Sprache voranschreite, werde das Niederdeutsche verachtet und vernachlässigt, und zwar sowohl durch Vertreter anderer Sprachlandschaften als auch durch die eigene Kommunikationsgemeinschaft: Nirgends wird sie im feierlichen Gottesdienst, nirgends in bürgerlicher Zusammenkunft gelehrter Männer, nirgends heutzutage im privaten Gespräch der angesehenen Bürger gebraucht. Man kann allenfalls vielleicht hören, wie ihre angeblich allzu hart klingenden Worte herangezogen werden, um einen Scherz zu machen. Schriften der Vorfahren, die in dieser Sprache verfaßt sind, überläßt man den Mäusen zum Nagen und, sind sie von solcher Gefahr befreit, geschäftstüchtigen Kaufleuten zu Tüten für Weihrauch- und Pfefferkörner und Apothekern, damit sie zum Einwickeln schmutziger Salben dienen. (ebd., 19)

Als besonders kritisch erachtet er den Umstand, dass das Niederdeutsche als Sprache der Bibel, der Predigt und der Seelsorge durch das Hochdeutsche nahezu völlig verdrängt worden sei und damit die Vermittlung der Glaubensinhalte zumindest für die einfache, ländliche Bevölkerung nicht mehr möglich sei (vgl. ebd., 101ff., 143). Die niederen sozialen Schichten sprächen eine unvollkommene Mischform von Nieder- und Hochdeutsch. Seine Kritik gilt aber besonders dem Adel und den höheren Schichten Norddeutschlands als den politischen und kulturellen Eliten, da diese das Hochdeutsche als Leitvarietät akzeptierten, was Raupach als Indiz für mangelnden Patriotismus wertet (vgl. ebd., 199). Die vormals blühende Hof- und Kultursprache befinde sich nunmehr in einem „Todeskampf“ (ebd., 89). b. Zur Erklärung des Sprachwandels Zur Erklärung des Sprachwandels zieht er Überlegungen des Staatstheoretikers Jean Bodin (1529-1596) heran, der drei Ursachen für die Veränderung von Sprachen nenne: 1. die durch den Verlauf der Geschichte selbst bedingte Veränderung; 2. die „Vermischung der Völker“ bzw. Sprachkontakte und 3. die natürliche Beschaffenheit der Landschaft, womit zeitgenössische klimatheoretische Erklärungen gemeint sind (ebd., 91ff.). Für ihn hat nur der zweite Aspekt eine besondere Relevanz. Er führt hier an: die Modeverliebtheit der Menschen, der Sprachkontakt nach der Reformation, die Verbreitung des Hochdeutschen obersächsischer Grundlage durch die Prediger aus dem obersächsischen Raum, durch den Handel und Reisen sowie durch die Studienaufenthalte der Norddeutschen an den Universitäten im obersächsischen Sprachgebiet. Während dem Niederdeutschen eine besondere „Schlichtheit“ (ebd., 121) zugeschrieben wird, die er als Ausdruck der Aufrichtigkeit der

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einfachen norddeutschen Bevölkerung wertet, charakterisiert er das Hochdeutsche als unaufrichtige, trügerische Sprache: […] das wird man aber doch bestätigen dürfen, daß die alte Zuverlässigkeit und angeborene Geradlinigkeit noch heute in unserer niederdeutschen Sprache überall da, wo sie ungeschmälert erhalten bleibt, verborgen ist. Geh doch bitte zu den Hütten der Armen und Bauern bei uns, und du wirst nicht ohne größtes Vergnügen hören, wie sie ohne Falsch miteinander sprechen und erzählen. Wirst du nicht glauben, daß man das zum großen Teil der angeborenen Schlichtheit zuschreiben darf, deren sich unsere Sprache erfreut? (ebd., 123)

An dieser Stelle lässt sich eine Übereinanderblendung von Zuschreibungen an die Sprache mit der Charakterisierung der Kommunikationsgemeinschaft beobachten: Während die Sprecher des Niederdeutschen mit den Attributen Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit charakterisiert werden, ist das Hochdeutsche die Sprache der Schmeichelei, womit gleichzeitig seine Sprecher als Heuchler abgewertet werden. c. Aufwertung des Niederdeutschen und Kampf gegen seine Stigmatisierung Raupach wehrt sich gegen die Behauptung, dass das Niederdeutsche eine Sprache der Bauern und einfachen Leute sei: So sehr nämlich schwindet der alte Ruhm unserer Sprache von Tag zu Tag, so sehr wandelt sich ihr Vorzug zum Nachteil, so sehr wird ihr Glanz immer mehr verdunkelt, daß nicht nur ihre Sprecher als dumm, unhöflich, ungebildet, bäurisch, fast verächtlich und als Inbegriff des Hinterwäldlertums gelten; man muß sogar geradezu fürchten, daß schließlich ihre Geltung und Würde mit der der Sprache der Hottentotten und anderen solchen Drecksprachen auf eine Stufe gestellt wird. (ebd., 73)

Dass das Niederdeutsche im Vergleich zum Hochdeutschen eine Prestigevarietät sei, versucht Raupach anhand verschiedener sprachlicher Befunde zu belegen, die sich auf das Alter, die Lexik, die Lautung und die Polyfunktionalität des Niederdeutschen beziehen: Raupach zitiert aus der Schrift „Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, dehren Uhrsprung, Fortgang und Lehrsätzen“ von Daniel Georg Morhof (1639-1691), einem Literaturhistoriker und Professor für Beredsamkeit in Rostock und Kiel, die Behauptung, dass eine Sprache um so älter und unvermischter sei, je mehr sie sich durch Einfältigkeit und

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Grobheit auszeichne (vgl. ebd., 113).178 Als Merkmal für das Alter gilt Raupach die Einsilbigkeit der Wörter. Da das Niederdeutsche mehr einsilbige Wörter aufweise als das Hochdeutsche obersächsischer Grundlage, sei es die ältere Sprache. Das Alter einer Sprache gilt im Sprachnormierungsdiskurs als besonderer Wert. Die Ausführungen zur Lautebene sollen die klarere, exaktere und deutlichere Aussprache des Niederdeutschen im Vergleich zum Hochdeutschen obersächsischer Grundlage belegen. An mehreren Stellen wird beispielsweise behauptet, dass das Oberdeutsche bzw. Obersächsische durch ein „Zischen“ gekennzeichnet sei (ebd., 74f.), wobei er auf die Häufung von s- und z-Lauten verweist.179 Die angeführten Beispiele beziehen sich auf die Opposition von t:s, etwa in ‚dat‘ : ‚das‘, ‚water‘ : ‚wasser‘. Als weiterer lautlicher Vorzug des Niederdeutschen wird das seltenere Auftreten von Diphthongen benannt, wie etwa ‚ok‘ statt ‚auch‘, ‚Uhl‘ statt ‚Eule‘ (vgl. ebd., 117). Ebenso gilt die nicht erfolgte Lautverschiebung von p zu pf als Vorzug (wie etwa in ,pund‘ statt ,pfund‘). Und Raupach lobt die Niederdeutschen wegen einer behaupteten exakten Unterscheidung von b und p sowie d und t (vgl. ebd., 135). Insgesamt erhält das Niederdeutsche positive, das Hochdeutsche negative Attribute: Das Niederdeutsche wird mit Attributen wie ‚Männlichkeit‘, ‚Härte‘, ‚Rauheit‘, ‚Reinheit‘ gekennzeichnet (ebd., 90f., 127) und steht im Gegensatz zum „schmeichelnde[n] und zischende[n] Hochdeutsch[en]“ (ebd., 93) und der „gezierte[n] und weniger reine[n] Redeweise“ (ebd., 127). Raupach selbst weiß um die unterschiedlichen landschaftlichen Varianten des Hoch- und Niederdeutschen, von denen er einige präsentiert, wie etwa ‚Adebar‘ für ‚Storch‘ oder ‚achter‘ für ‚hinten‘ (ebd., 179). Der Wortschatz des Niederdeutschen zeichne sich aber besonders durch sei178 Der Kieler Literaturhistoriker Daniel Georg Morhof befasst sich in seiner 1682 zuerst veröffentlichten poetologischen Schrift mit der Frage der hochdeutschen Leitvarietät (vgl. Morhof UTP 1700). Morhof reflektiert den Verdrängungsprozess der niederdeutschen Dialekte durch das Hochdeutsche ostmitteldeutscher Grundlage (ebd., 18f.). Die Gleichsetzung des Hochdeutschen mit dem Meißnischen lehnt er ab. Die meißnische Aussprache wird zwar als „zierlich“ bestimmt, der Literaturhistoriker konstatiert aber auch Fehlerhaftes. Im Grunde sei die anzustrebende hochdeutsche Orthographie durch eine „Meißnische“ substituiert worden. Es sei deshalb dringend nötig, eine vollständige und richtige, nicht regionalistisch an die Aussprache und den Wortschatz Meißens gebundene Orthographie zu erstellen (vgl. ebd., 18f.). Des Weiteren lassen sich bereits Tendenzen zur Aufwertung des Niederdeutschen finden, das als reinere, ursprünglichere Sprache charakterisiert wird. So seien viele der alten Wörter des Hochdeutschen auf die alten sächsischen Dialekte sowie auf das alte Mecklenburgische, Pommerische und andere alte Sprachen zurückzuführen (vgl. ebd., 43). 179 Renate Herrmann-Winter (1992, 28) konstatiert in ihrer Darstellung der Bewertungen des Niederdeutschen in der Geschichte, dass dieses „Zischen“ bereits zur Zeit Raupachs ein tradiertes Argument für die negative Wertung des Hochdeutschen ist.

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nen Reichtum an Termini der Seefahrt aus (vgl. ebd., 141). Diese dargelegten Befunde versucht er durch Vergleiche von hoch- und niederdeutschen Wörtern, Vergleiche von Bibelübersetzungen und durch klimatheoretische Befunde zu untermauern (vgl. ebd., 85ff., 93, 105).180 d. Polyfunktionalität Raupach versucht, die im Vergleich zum obersächsischen Raum geringere Anzahl von Publikationen in niederdeutscher Sprache mit dem Hinweis auf das reiche niederdeutsche Schrifttum zu entkräften, wobei diese Behauptung seiner eigenen Darstellung zu Beginn der Schrift widerspricht (vgl. ebd., 105). So verweist er auf eine Vielzahl theologischer Schriften und auf den „Reineke Fuchs“ (vgl. ebd., 173). Von besonderer Bedeutung ist aber die Verwendung des Niederdeutschen als Sprache der Seelsorge, Glaubensvermittlung und des Gottesdienstes. Der Theologe Raupach hat sich das reformatorische Grundanliegen einer allen verständlichen Sprache angeeignet und vertritt diese Forderung vehement: „Denn was der einfachen Volksmenge vorgelegt werden soll, muß in Worten gefaßt sein, die mitten aus dem Volk herausgenommen sind, damit sie ihren Sinn erfassen kann.“ (ebd., 163) Eine üppige rhetorische Ausschmückung von Predigten wird ebenfalls kritisiert, da es allein auf die Inhalte ankomme (ebd., 124f.): Denn, wenn der Diener der Kirche eine andere Sprache spricht als der Laie, wie will er ihn von der Kanzel in der himmlischen Wahrheit unterrichten, wie die Sünden der Beichtenden erkennen, wie einen in Anfechtung, Krankheiten, Todesnot Gefallenen aufrichten oder trösten? (ebd., 147)

Seine Entscheidung für das Niederdeutsche orientiert sich also an den tatsächlichen Sprachkenntnissen der Bevölkerung und zielt auf die Vermittlung des Glaubens durch die Sprache. Seine pietistische Grundhaltung ist unverkennbar: Es wird also das sicherste sein, wenn dem Volk gepredigt werden muß, sich in der Sprache dem Volk anzupassen. Denn nicht mit gebildeten, sondern ungelernten, schlichten, derben, keinen Schimmer von Weisheit besitzenden muß Gottesdienst gehalten werden. Deren Erbauung ist zu suchen, was eine nur unvollkommen beherrschte Sprache nicht schaffen kann. (ebd., 151)

Raupachs Schlussappell ist eindeutig: Er fordert alle Norddeutschen auf, das Niederdeutsche als einzige Leitvarietät in Norddeutschland anzu-

180 Als Autoritäten aus Norddeutschland werden u. a. zitiert: Albertus Cranzius, Nathan Chyträsus, Daniel Georg Morhof. Ebenso wird die berühmte Beschreibung der Dialekte von Hugo von Trimberg zitiert. In der vorliegenden Übersetzung von 1984 sind die intertextuellen Bezüge sorgfältig nachgewiesen (vgl. Raupach LSI 1704).

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erkennen und anzunehmen (ebd., 203). Seine Argumentation sei abschließend zusammengefasst:

Neben diesem ersten deutlichen Anzeichen eines frühen Sprachbewusstseins im niederdeutschen Sprachraum sei auf zwei weitere frühe Schriften verwiesen, die das Niederdeutsche positiv bewerten: Zum einen das Wörterbuch des aus Köln stammenden und in Nürnberg und Heidelberg unterrichtenden Matthias Kramer (vgl. Kramer NHD 1719) sowie zum anderen eine Sprachenharmonie des Braunschweigers Georg L. Ponatus (vgl. Ponatus AHS 1713). Das deutsch-niederländische Wörterbuch von Matthias Kramer (1640–1729) soll sowohl den Norddeutschen und Niederländern beim Fremdspracherwerb helfen als auch den Sprechern des Hochdeutschen beim Studium alter Schriften und bei der Konversation hilfreich sein (vgl. Kramer NHD 1719, B2v). Der Verfasser spricht sich explizit gegen die Verachtung des Niederdeutschen aus. Kramer fordert die Sprachkundler und Schriftsteller dazu auf, die alten Entlehnungen aus dem Niederdeutschen bzw. Niederländischen wieder in das Hochdeutsche einzuführen. Hierbei solle eine Angleichung der Wortformen durch die Analogie der deutschen Sprache erfolgen, um die Orthographie zu vereinheitlichen (vgl. ebd., B2v). Kramer bestimmt das Hochdeutsche nicht explizit. In seinen Überlegungen zur Lexikographie wird aber deutlich, dass Hoch-

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deutsch zum einen negativ definiert wird als Gegensatz zum Niederdeutschen und zum anderen zu den Regionalsprachen in Bayern, Franken, Schwaben, in der Schweiz und am Rhein, in Hessen und in Schlesien (vgl. ebd., F2v). Hochdeutsch ist deshalb bei Kramer als obersächsische Leitvarietät zu kennzeichnen. Bairische Formen werden in den von ihm genannten Beispielen als Abweichungen vom Wortschatz des Hochdeutschen ausgewiesen (vgl. ebd.). In der Sprachenharmonie von Ponatus, 1713 in Braunschweig veröffentlicht, werden das Niederdeutsche und das Westfälische explizit gegen die als weitverbreitet gekennzeichnete Meinung einiger Sprachkundler verteidigt, dass sie „hart“, „grob“, „barbarisch“ und „bäurisch“ (Ponatus AHS 1713, 115f.) klängen. Obwohl diese regionalen Sprachen von Ponatus als weniger kultiviert und weniger ‚zierlich‘ eingestuft werden, zeigt sich in seiner Schrift bereits eine Tendenz zur Aufwertung des Niederdeutschen. Dies drückt sich beispielsweise in der Zuschreibung einer besonderen Ursprünglichkeit aus, die das Niederdeutsche im Gegensatz zur Hochsprache besitze. Allerdings bezieht sich diese Feststellung auf die Umgangssprache der niederen ländlichen Schichten (vgl. ebd. → Niederdeutsch3). 3.4.5.3 Forderung nach Kultivierung und Normierung des Niederdeutschen Der Verfasser mit dem Namen J. P. C. Decker, der sich im 42. Stück der „Braunschweigischen Anzeigen“ mit dem Titel „Beweis, daß die kritischen Bemühungen und Verbesserungen, auch in der plattdeutschen Sprache, nützlich und nöthig sind“ (vgl. Decker BA 1748) zum Niederdeutschen äußert, beansprucht nicht die Autorschaft für die vorgestellte Abhandlung, sondern berichtet von einem Gebildeten, der ihm diese Schrift anvertraut habe.181 Er stellt vier Argumente vor, die für eine Kultivierung und Normierung des Niederdeutschen sprechen: − Die Kenntnis des Niederdeutschen als Sprache der Historiographie und der Diplomatie sei eine unabdingbare Voraussetzung für das Verstehen entsprechender Texte (ebd., 839). − Das Niederdeutsche sei als Kirchensprache in den ländlichen Regionen notwendig, weil man sonst weite Bevölkerungskreise nicht erreichen und nicht verstehen könne. Verständlichkeit bezieht sich hier somit nicht allein auf eine Sprache, die frei von stilistischen Auffällig181 Er verwendet die Bezeichnungen ,Niedersächsisch‘ und ,Plattdeutsch‘ synonym.

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keiten ist, sondern das Verstehen ist hier religiös konnotiert: Nur die niederdeutsche Muttersprache kann bestimmte Bevölkerungskreise erreichen und „erbauen“.182 So heißt es da: Eine Rede, welche die Menschen von den allerwichtigsten und unentbehrlichsten Wahrheiten unterrichten und erbauen soll, muß in der Sprache und in derjenigen Mundart gehalten werden, welche von den Zuhörern am besten verstanden wird. Niemand wird diesen sonnenklaren Grundsatz der Beredsamkeit leugnen. Wie viele Örter finden wir in Niedersachsen, wo der Landmann, nebst vielen Stadtienten, nur in soweit das Hochdeutsche verstehet, als es mit dem Platdeutschen übereinkömmt, und es nicht begreift, sobald es von demselben abgehet. (ebd., 839)



Das Niederdeutsche könne zur Kultivierung und Normierung des Hochdeutschen herangezogen werden, da es die ältere Sprache sei. − Das Niederdeutsche müsse ferner für bestimmte Figuren in literarischen Texten verwendet werden, für die das Obersächsische unangemessen sei (ebd., 840). Deckers Einsatz für einen Ausbau des Niederdeutschen zu einer modernen Kultursprache entspricht im Ansatz den sprachkultivierenden und -normierenden Bemühungen der aufklärerischen Sprachkundler, die das Hochdeutsche obersächsischer Grundlage zur Leitvarietät erklärt haben. Der anonyme Beiträger in der „Monatsschrift von und für Mecklenburg“ aus dem Jahre 1789 geht davon aus, dass das Niederdeutsche durch entsprechenden Gebrauch als Wissenschafts- und Literatursprache sowie durch Normierung und Kultivierung zur Leitvarietät in Norddeutschland werden könnte (Anonymus MM 1789). Die Irrealität dieser Hoffnung räumt er selbst aber ein: Ich und alle, die mit mir einer Meinung sind, werden mit unseren Klagen und Wünschen und Projekten nichts ausrichten. Die plattdeutsche Sprache ist einmal exilirt worden aus den Gerichtsstuben, von den Kanzeln, aus den Büchern, aus den Gesellschaften, und sie wird nie in ihre Rechte wieder eingesetzt werden, so gegründet dieselben auch sind […]. (ebd., 953)

Trotz der offenkundigen Wertschätzung des Niederdeutschen und seiner Befürwortung als Kirchensprache resigniert der Verfasser angesichts der bereits erfolgten Verdrängung des Niederdeutschen aus allen Kommunikationsbereichen. Falls die Norddeutschen nunmehr das Hochdeutsche zur Leitvarietät erhöben, müsse es den Kriterien der ‚Reinheit‘ genügen, hierin stimmt seine sprachpädagogische Haltung mit den aufklärerischen Sprachkundlern im ostmitteldeutschen Sprachraum überein. So übt er 182 Lexeme wie ‚erbauen‘ oder ‚Erbauung‘, die auch in anderen Korpustexten zu finden sind, verweisen auf eine pietistische Haltung der Diskursakteure, die aber nur im Hinblick auf die sprachbezogene Argumentation berücksichtigt werden kann.

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scharfe Kritik an der Vermischung von Nieder- und Hochdeutsch in Form des „Mecklenburgisch-Hochdeutschen“ (ebd., 954) sowie an der Verwendung von Fremdwörtern, landschaftlichen Varianten, Idiotismen (vgl. ebd.). Der Verfasser des „Schreiben[s] eines alten Pächters vom Lande“ benennt wie Raupach als Vorzüge des Niederdeutschen dessen Alter und seine lautlichen Qualitäten (Anonymus SPL 1770, 27), für die er einige Wörter als Beispiele anführt. Ebenso wird ein besonderer Reichtum des Niederdeutschen an maritimer Lexik hervorgehoben. Unter Berufung auf Johann Lauremberg (1590-1658) und andere Autoren betont er die Eignung des Niederdeutschen als Literatursprache, insbesondere seine Eignung für die Lyrik (ebd., 29). Die „Zierlichkeit“ des Niederdeutschen und die „Grobheit“ (ebd.) des Hochdeutschen versucht er anhand verschiedener Wortbeispiele zu belegen wie etwa ‚up de sticken stede‘, ‚stehendes fusses‘, ‚Tweelichten‘ statt ‚Abenddämmerung‘. Die Verschiedenheiten der Lautung und der Lexik des Hoch- und Niederdeutschen werden durchaus zutreffend konstatiert, allerdings werden diese gleichzeitig zur Aufwertung des Niederdeutschen instrumentalisiert. Und so lautet seine Schlussfolgerung: Hieruth kant een jeder seen, dat dat platdüdsche nich gröwer ist, ’t is dwerst veel nadrücklicher un, as de Franzos seggt, naiver. De dat seggt, dat unsre Spraacke unbögsam is un tor Poesie nicht döcht, de krigt et mit my un mit mynen ollen ehriken Laurenberg to doon. (ebd., 29 → Niederdeutsch/Plattdeutsch3)

3.4.5.4 „as’t de lüde hier verstahn“ – Niederdeutsch als Sprache der Kirche und als Rechtssprache Die niederdeutsche Sprache erfüllt als Sprache der Kirche unterschiedliche Aufgaben, zu differenzieren ist etwa eine Verwendung als Predigtsprache, Sprache der Seelsorge und Sprache der Kirchenordnungen (vgl. Kröger 1996).183 Wie oben bereits dargelegt, liegt in Form der Schrift Raupachs schon frühzeitig ein Plädoyer für die Erhaltung der niederdeutschen Sprache als Kirchensprache, insbesondere als Sprache der Seelsorge vor (vgl. Raupach LSI 1704). An dieser Stelle soll ein weiteres prominentes Eintreten für das Niederdeutsche aufgegriffen werden, und zwar die Antrittsvorlesung des Orientalisten, Theologen und Polyhistors Johann Da-

183 Wenngleich diese Differenzierung bei den verschiedenen Diskursakteuren berücksichtigt wird, erfolgt aus Raumgründen keine systematische Trennung der Verwendungsweisen des Niederdeutschen als Kirchensprache.

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vid Michaelis, der 1717 in Meißen geboren und in Halle aufgewachsen ist. Er gilt als einer der berühmtesten Lehrer der Göttinger Universität. Er äußert sich am 12. September 1750 in seiner Antrittsvorlesung mit dem Titel „Oratio de ea Germaniae dialecto, qua in sacris faciundis et libris scribendis utimur“184 vor einem gelehrten und bürgerlichen Publikum über die Entstehung einer Leitvarietät und die Entwicklung der deutschen Dialekte. Die als Sprache des Gottesdienstes und als Büchersprache bereits allgemein anerkannte Leitvarietät sei der „Meißner Dialekt“ (Michaelis RG 1750, 21). Regional verortet wird das Meißnische in den Raum Leipzig und Umgebung (vgl. ebd., 21). Dass das Meißnische allerdings zur Leitvarietät geworden sei, sei nicht das Ergebnis einer planvollen, teleologischen Entwicklung, sondern ein Zufall (vgl. ebd.). Deshalb gilt seine Rede der Erkundung der Frage, wie das Meißnische zur einer Leitvarietät wurde. In seinen einleitenden Bemerkungen über die Entstehung und Entwicklung des Meißnischen zeigt sich, dass er es als eine Art Mischprodukt der deutschen Kolonisten mit der slawischen Bevölkerung einstuft. Dieser konstatierte Sprachkontakt der Deutschen mit den Slawen, denen er ein „barbarisches Zischen“ (ebd.) zuschreibt, ist für ihn besonders problematisch: „[…] trotzdem wird man sich fragen dürfen, wie es kommt, daß die deutschen Kolonien, die sich mit den Slawen, einem völlig fremden Volk, vermengt haben, richtiger und eleganter deutsch sprechen als das eigentliche und echte Deutschland“ (ebd.). Wenngleich er den gegenwärtigen Status des Meißnischen als Leitvarietät nicht in Frage stellt, geht es ihm doch um die Feststellung, dass die dem Meißnischen zugeschriebenen positiven Eigenschaften nicht zuträfen bzw. dass das Niederdeutsche einige positive Eigenschaften zumindest im Ansatz besitze (ebd., 22, besonders Fußnote 2).185 184 Als Textgrundlage dient die Übersetzung ins Deutsche: „Über den deutschen Dialekt, dessen wir uns beim Gottesdienst und beim Bücherschreiben bedienen“ nach Wilhelm Ebel (1978, 20-32). Wie im Fall der Schrift Raupachs soll die Übersetzung des ursprünglich lateinischen Textes deshalb herangezogen werden, weil die Rede von Michaelis ein wichtiges Zeugnis für die Verteidigung des Niederdeutschen darstellt. Die später veröffentliche Antrittsrede weist einen ausführlichen Fußnotenapparat auf, der vor allem das reiche Schrifttum des Niederdeutschen dokumentiert und zahlreiche Befürworter des Niederdeutschen als norddeutsche Leitvarietät anführt. 185 Dass das Meißnische eine normierte und kultivierte Sprache darstellt, die in der Gegenwart Kommunikationsmedium der Kirche und Grundlage der Schriftsprache ist, stellt er nicht in Abrede: „Sprachen sind scheußlich und vulgär, bis sie durch Stil und Redekunst geschliffen werden, und diese Eleganz ist der Meißener Sprache nicht eigentümlich, sondern hängt von eben diesem, ihrem glücklichen Schicksal ab, daß in ihr Reden gehalten werden, daß in ihr die eleganteren Bücher verfaßt sind, daß in ihr die göttlichen Seher ihre Lieder gesungen haben.“ (ebd., 22)

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Dabei behandelt er die folgenden Eigenschaften: a. Eleganz Die „Eleganz“, die das gegenwärtige Meißnische aufweise, sei das Produkt von über 200 Jahren Sprachnormierung und -kultivierung, die das Meißnische wegen der zufälligen positiven Umstände in der Sprachregion besitze. b. Alter Aufgrund der dargelegten historischen Entwicklung des Meißnischen sei es im Gegensatz zum Niederdeutschen eine junge Sprache (vgl. ebd., 24). Das Alter einer Sprache stellt für Michaelis, wie für viele der Sprachkundler des 18. Jahrhunderts, einen Wert an sich dar. c. Lautliche Merkmale Im Kontext der Beschreibung der lautlichen Eigenschaften des Meißnischen spricht Michaelis nun von dem Gegensatz zwischen Hoch- und Niederdeutsch, wobei beide Ausdrücke hier zunächst als Bezeichnungen für die Gesamtheit der Dialekte in Süd- und Mitteldeutschland bzw. Norddeutschland verwendet werden (ebd.). Den Sprechern des Niederdeutschen werden bestimmte Besonderheiten der Aussprache zugeschrieben, die er lobend hervorhebt. Sie sprächen die „Laute weicher und klarer“ (ebd., 23) aus und unterschieden deutlich zwischen b und p, d und t. Darüber hinaus weise das Niederdeutsche weniger Häufungen an Konsonanten auf. Die Häufung von Konsonanten werde wiederum von vielen europäischen Gebildeten als negative Eigenschaft des Deutschen kritisiert. Damit weist Michaelis dem Niederdeutschen im europäischen Sprachenwettstreit eine wertvolle Eigenschaft zu. Bei dieser Hervorhebung der Vorzüge des Niederdeutschen verweist Michaelis auch auf die Schrift Raupachs, die aber seinem akademischen Lehrer, Franz Aepinus, zugewiesen wird. Im Unterschied zu Raupach charakterisiert Michaelis aber die gleichen konstatierten lautlichen Eigenschaften nicht als Kennzeichen von „Rauheit“ und „Männlichkeit“, sondern er spricht von einer „weichen“ Aussprache. An dieser Stelle zeigt sich somit, dass die konstatierten sprachlichen Befunde je nach Argumentationsziel ganz unterschiedlich bewertet werden können. Eben durch diese Verknüpfung von sprachstrukturellen Befunden durch außersprachliche Größen, wie hier in Form der ästhetischen Kategorien ‚weich‘ und ‚rau‘ bzw. der anthropologisierenden Kategorien ‚männlich‘ und ‚weib-

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lich‘, kann erst eine Vertikalisierung des Varietätenspektrums erfolgen (vgl. Reichmann 2000).186 d. Grammatik Eine weitere Eigenschaft, die das Hochdeutsche vom Niederdeutschen abgrenze, sei die im Niederdeutschen fehlende Differenzierung von Dativ und Akkusativ. e. Lexik: Das Hochdeutsche, zu dem Michaelis das Meißnische zählt, weise im Gegensatz zum Niederdeutschen lautliche Mängel auf: Die Artikulation ist rauh, die Konsonanten sind häufig, kein oder sehr wenig Unterschied besteht zwischen den Lauten, die unsere Sachsen [d. h. die Niedersachsen, Anm. KF], wie gesagt, unterschieden; ihr Klang ist so wenig weich, daß man entweder die Sprachwerkzeuge anklagen muß, so sprachfähig zu sein, daß sie keine weicheren Laute oder voller tönenden Klänge hervorbringen kann, oder daß man die Sprache männlich und kriegerisch nennen muß. (ebd., 24)

Und das Hochdeutsche wird im Hinblick auf seine Entstehung, Lautung und lexikalische Armut abgewertet: Ich klage die Armut, ja; Dürftigkeit der Sprache an. Meißen fehlen so viele Wörter, die in Franken, Schwaben, Bayern und der Schweiz gebraucht werden, die, wenn sie uns auch nicht fein zu sein scheinen, immerhin alt und deutsch sind; auch hat Meißen an deren Stelle nicht etwa andere Wörter, die dem hochdeutschen Sprachraum fehlen. (ebd., 26)

Demgegenüber zeichne sich das Niederdeutsche durch einen besonderen Reichtum an Ausdrücken aus dem „nautischen“ (ebd., 27) Bereich aus. Und als weiteres lexikalisches Phänomen, das zur Stigmatisierung des Meißnischen dient, wird ihm ein besonderer Reichtum an Entlehnungen aus Fremdsprachen zugeschrieben. Michaelis blendet puristische Bemühungen, die sich in Form der Sprachgesellschaften in den ostmitteldeutschen Territorien im 17. Jahrhundert konstituieren, einfach aus, diese müssen ihm aber aufgrund seiner Belesenheit bekannt gewesen sein.187 Eine Aufwertung des Niederdeutschen kommt ferner dadurch zum Ausdruck, dass er den Norddeutschen eine im Vergleich zu den Sprechenden des Hochdeutschen geringere Affinität zum Fremdwortgebrauch zuschreibt (ebd., 27). Deshalb habe sich vor allem in den ländlichen Ge186 Während Michaelis an dieser Stelle bereits die lautlichen Vorzüge des Niederdeutschen betont hat, ergänzt er außerdem, dass seine Sprecher und Sprecherinnen Vorteile beim Erlernen von Fremdsprachen haben (ebd., 24). 187 Auch in der von ihm erwähnten Schrift von Aepenius bzw. Raupach werden die Aktivitäten der Sprachgesellschaften lobend erwähnt.

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bieten und bei der einfachen Bevölkerung die „Redlichkeit“ sowie der Reichtum und die „unverfälschte Echtheit“ (ebd.) des Niederdeutschen bewahrt. Allerdings könnten die fehlenden Entlehnungen im Niederdeutschen als eine ausgebliebene Polyfunktionalisierung gewertet werden bzw. auch als fehlender Sprach- und Kulturkontakt, dies wird von Michaelis aber nicht thematisiert. Als Ursache, warum das Meißnische trotz der skizzierten Mängel die Leitvarietät darstellt und das Niederdeutsche trotz der dargelegten Vorzüge nicht zur Leitvarietät erhoben wird, verweist Michaelis im zweiten Teil seiner Rede auf Martin Luther und die Folgen der Reformation (ebd., 27ff.). Aus religiöser Ehrfurcht vor der Person und dem Wirken Luthers müsse letztlich auch die Verdrängung des Niederdeutschen durch die Sprache Luthers, die für Michaelis das Meißnische ist, akzeptiert werden. Allerdings ist die Haltung, die Michaelis am Ende seiner Rede einnimmt, von einem tiefen Zwiespalt gekennzeichnet, der geradezu symptomatisch für die Beurteilung des Status’ des Niederdeutschen als Kirchensprache ist: Auf der einen Seite verurteilt er diejenigen Pastoren, die zu den Norddeutschen in einer ihnen unverständlichen Sprache predigen, zumal es keine gesetzliche Grundlage gebe, die das Hochdeutsche obersächsischer Grundlage verbindlich mache (ebd., 31, Fußnote 22). Auf der anderen Seite will er aber keineswegs für eine Ersetzung des Hochdeutschen durch das Niederdeutsche plädieren, da die meisten Schriften im Hochdeutschen verfasst seien und er die Existenz einer zumindest den Bildungseliten gemeinsamen überregionalen Leitvarietät begrüßt (ebd., 31). So spricht er sich am Ende seiner Antrittsvorlesung zumindest dafür aus, dass niederdeutsche Varianten nicht per se aus dem hochdeutschen Wortschatz ausgeschlossen werden sollen und dass das Niederdeutsche bei der weiteren Normierung und Kultivierung des Deutschen eine wichtige Rolle spielen soll, besonders im Hinblick auf die Aussprache (ebd., 32): Eure Aufgabe aber ist es, Sachsen, die Ihr hierzulande geboren und erzogen worden seid, Eure Sprache nicht zu verachten, sondern alle Kunst, alle Geisteskräfte darauf zu verwenden, sie zu schmücken und zu verschönen. Jene werden uns neue Geisteskinder schenken, da sie älter und fruchtbarer geworden ist. Und da sie den knatternden Meißner Dialekt mit weicher Sanftheit leicht überwindet, so sorgt, daß Ihr diese Sanftheit durch Stil und Dichtung mehrt! (ebd., 32)

In der „Neuen Monatsschrift von und für Mecklenburg“ erscheint 1794 ein Beitrag mit dem Titel „Über die Sprache des gemeinen Mannes in Mecklenburg, mit Hinsicht auf Kanzelvortrag“ (Ackermann MM 1794). Der Verfasser Ackermann übt scharfe Kritik an den Geistlichen, die von

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ihrer Kanzel in einer Sprache predigten, die den niederen Schichten völlig unverständlich sei. Dabei weist Ackermann entschieden auf die Unterschiedlichkeit der sozialen Varietäten hin. Die Sprache des „gemeinen Mannes“, das bedeutet der niederen Schichten, besitze weniger abstrakte Begriffe, da diese im Leben der einfachen Bevölkerung keine Rolle spielten. Die Sprache ist dieser Sprachauffassung zufolge (spiegelbildlich) Ausdruck der Lebensverhältnisse der Sprecher und Sprecherinnen. Im Gegensatz dazu sei die Sprache der niederen Schichten reich an sinnlichen Ausdrücken. Diese These versucht er mit einer Vielzahl an Beispielen zu belegen: Daher denn auch so unzälige Ausdrüke, wo das Sinliche, das Bildliche die Stelle des Abstrakten vertritt, die im gemeinen Leben so gang und gäbe geworden sind, als Wind machen, statt: unnütze, leere Worte, u. m. Daher auch so viele seltsame, oft höchst lustige Sünonüme, als Bilder von Sachen die unser gemeine Man vorzüglich liebt, oder die ihm am häufigsten vorkommen. So z. B. sagt er, statt: ein Pfeifchen rauchen: eens dörchtrekken; (eins durchziehen) […]. (ebd., 27)

Um den niederen Schichten überhaupt verständlich zu sein, müsse der Vortragende eine sinnliche Sprache wählen. Diese Tugend der Angemessenheit der Rede entspricht dem antiken ‚aptum‘ und wird hier konsequent auf die Sprache der Kirche bzw. im engeren Sinne des „Kanzelvortrags“ sowie auf die öffentliche Sprache überhaupt übertragen (ebd., 27). Der Verfasser schildert, dass die niederen Schichten im schulischen Unterricht nur ein mangelhaftes Hochdeutsch hörten und nur mangelhafte schriftsprachliche Kompetenzen erwürben (ebd., 27). Wenngleich sie beispielsweise im Katechismusunterricht religiöse Inhalte auf Hochdeutsch lernten, sei es ihnen doch eine fremde Sprache. Zur Glaubensvermittlung reiche aber diese ungenügende Kenntnis des Hochdeutschen nicht aus (vgl. ebd., 28). Um seiner Leserschaft – vor allem den Predigern – einen Eindruck von den lexikalischen Eigenheiten des Niederdeutschen zu geben, fügt er seinem Beitrag eine Liste mit Ausdrücken bei, deren Bedeutung im Niederdeutschen vom Hochdeutschen abweiche (vgl. ebd., 28f.). Der Rektor des Domgymnasiums von Verden (bei Bremen), Johann Georg Schilling, greift in seinem Beitrag in dem Leipziger „Allgemeinen Litterarischen Anzeiger“ das Thema des Niederdeutschen als Predigtsprache auf (vgl. Schilling ALA 1800).188 Er lobt ausdrücklich die Entscheidung eines Pastors aus dem Harz, in plattdeutscher Sprache zu predigen, von der ein Beiträger ein Jahr zuvor in derselben Zeitschrift berichtet hat (vgl. Anonymus ALA 1799). Der genannte Beiträger behauptet, dass im 188 Vgl. die Ausführungen bei Kröger (1996, 113-115).

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Harz selbst in den Kreisen der Oberschichten „sämmtlich und immer Plattteutsch“ (ebd., 1537) gesprochen werde. Er berichtet darüber hinaus von einem Pastor, der immer Niederdeutsch gesprochen habe, weil es eine allen Schichten verständliche Sprache sei. So zitiert er ihn mit den Worten: „Ik spräke as mi de Snabel wussen is, […] und as’t de lüde hier verstahn.“ (ebd., 1537) Eine von dem Pastor gehaltene niederdeutsche Predigt fügt er seinem Beitrag bei. Schilling geht ebenfalls davon aus, dass die Prediger in den ländlichen Gebieten wegen ihrer hochdeutschen Sprache der allgemeinen Bevölkerung unverständlich blieben: Ich bin nämlich der festen Überzeugung, die auf wiederholte Erfahrungen gegründet ist, dass unsere Prediger in Niedersachsen und Westphalen, namentlich aber und vorzüglich unsere LandPrediger durch ihre Hochteutschen Predigten wenig Nutzen stiften, dass sie oft gar nicht verstanden, oft missverstanden werden. Der gemeine Mann in Niedersachsen […] versteht im gemeinen Leben nur selten denjenigen ganz, der Hochteutsch mit ihm spricht, wie sollte er eine zusammenhängende, fortlaufende – vielleicht gar einen abstrakten, von dem ihm geläufigen IdeenKreise ganz entlegenen Gegenstand, nach den Formeln und gelehrten Bestimmungen der Dogmatik abhandelnde Hochteutsche Rede fassen und ihr folgen können? (ebd., 202)

In seinen weiteren Ausführungen, die eine pietistische Grundhaltung offenbaren, zeigt sich, dass er davon ausgeht, dass das Hochdeutsche der einfachen Bevölkerung fremd und unverständlich sei. Dadurch ergibt sich seiner Ansicht nach eine prekäre Situation: Das Niederdeutsche könne als Sprache der Predigt seine Funktion nicht erfüllen, sowohl rational auf den Verstand als auch emotional auf das „Herz“ der Gläubigen einzuwirken. Religion werde somit zum „Gedächtniskram“ (ebd., 202): Die Gläubigen sprächen zwar Hochdeutsch und memorierten entsprechende Wörter und Sätze, der Inhalt des Gesagten bleibe ihnen aber verschlossen. Die Schlussfolgerung, die Schilling zieht, ist aber nicht, dass das Niederdeutsche als Kirchensprache bzw. Predigtsprache und als Unterrichtssprache wieder eingeführt werden solle. Im Gegensatz dazu fordert er eine umfassende Reformierung des Bildungswesens, und zwar sowohl eine bessere Ausbildung als auch eine angemessenere Bezahlung der Landschullehrer (vgl. ebd., 204f.). Er gibt somit eine pragmatische Antwort auf die Diglossie-Situation in Norddeutschland: Das Niederdeutsche könne und solle als Sprache der Seelsorge im Gebrauch bleiben, während das Hochdeutsche als Leitvarietät anerkannt werden solle. Er schließt sich damit den Forderungen anderer norddeutscher, aufklärerischer Sprachkundler und Gebildeter an, die einen Anschluss an die hochdeutsche Schriftsprache und Sprachkultur als notwendig erachten. Entscheidend für die weitere sprachliche Entwicklung ist dieser Haltung gemäß die Refor-

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mierung des Schul- und Bildungswesens und die allgemeine Akzeptanz des Hochdeutschen als Leitvarietät. Dass das Niederdeutsche als Sprache der kirchlichen Verkündigung für die niederen Schichten in Norddeutschland besser geeignet sei als das Hochdeutsche, ist auch die Ansicht eines anonymen Verfassers in der „Berlinischen Monatsschrift“ aus dem Jahr 1783 (vgl. Anonymus BM 1783). Der Verfasser berichtet von einem Pastor aus dem mecklenburgischen Zapel bei Schwerin, von dem er eine niederdeutsche Predigt anfügt. Als Grund für die Verwendung des Niederdeutschen nennt der Verfasser die größere Verständlichkeit für die Norddeutschen, insbesondere in Bezug auf die Metaphorik: Er predigte immer plattdeutsch; und das war schon Eins, wodurch er allgemein verständlich ward. Und dann sprach er gern in Bildern und Gleichnissen, die aber alle von der Lebensart und den Verrichtungen der Bauren hergenommen waren; alles in seinem Vortrage war so sinnlich, so individuell, so lokal als möglich; und daher griff es so tief in Herz und Verstand und Gedächtnis ein. (ebd., 152)

Seiner Probe einer niederdeutschen Predigt folgt eine Klage über den schlechten Zustand des Unterrichts in manchen niederdeutschen Gebieten. Der Verfasser ist davon überzeugt, dass die Verwendung des Niederdeutschen als Kirchensprache durchaus positive Wirkung auf den Glauben der Bevölkerung in Norddeutschland habe. Er schreibt, dass in einigen niederdeutschen Gebieten durchaus Niederdeutsch als Predigtsprache verwendet werde, allerdings müsse dies vor dem Superintendenten geheim gehalten werden (vgl. ebd., 158). Zur Beförderung der Aufklärung fordert er eine den jeweiligen Schichten verständliche und angemessene Sprache und eine – im volksaufklärerischen Sinne – Unterrichtung der niederen Schichten (vgl. ebd., 157). Der anonyme Beiträger des „Schreibens eines alten Pächters vom Lande“ (Anonymus SPL 1770) spricht sich entschieden für eine stärkere Gewichtung des Niederdeutschen als Kirchensprache aus, wobei seine Argumentation an die Raupachs erinnert und theologisch motiviert ist. So müsse ein Pastor des Niederdeutschen mächtig sein, um überhaupt die Beichte abnehmen zu können. Und nur die allen verständliche Muttersprache könne die allgemeine Bevölkerung erreichen. Auch an dieser Stelle deckt sich das reformatorisch-pietistische Anliegen mit dem Raupachs (vgl. ebd., 30). In dem Vorbericht zum „Schreiben eines alten Pächters vom Lande“ (Anonymus SPL 1770) heißt es, dass das Schreiben handschriftlich verbreitet und schließlich im „Herzoglich Mecklenburg-Schwerinischen Genealogie-Kalender“ gedruckt worden sei. Das vierseitige Blatt nimmt den Titel Raupachs in aktualisierter Form auf: „Über die unbillige Verachtung

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und den heutigen Werth der plattdeutschen Sprache“, wobei die Schrift allerdings Aepinius zugeordnet wird. In dem fingierten Schreiben wird die Argumentation Raupachs aufgegriffen, der Verfasser äußert ebenfalls sein Bedauern über die Verachtung und Vernachlässigung des Niederdeutschen. Statt die eigene Muttersprache zu pflegen, sei man um das Erlernen fremder Sprachen bemüht (ebd., 25).189 Diejenigen, die das Hochdeutsche nicht beherrschten, würden zu Unrecht als „plump“ und „ungeschickt“ (ebd.) stigmatisiert. Das Niederdeutsche sei aus allen öffentlichen Kommunikationsbereichen verdrängt worden, insbesondere habe es seinen Status als Verwaltungs- und Rechtssprache und als Kirchensprache verloren. Ein anonymer mecklenburgischer Verfasser in der „Monatsschrift von und für Mecklenburg“ (Anonymus MM 1791) spricht ebenfalls den Bereich der Rechtssprechung an, den er im Kontext der Differenz zwischen Hoch- und Niederdeutsch als besonders problematisch erachtet (vgl. ebd., 124). Da die Richter Hochdeutsch sprächen und beherrschten, die niederen Schichten aber Niederdeutsch, sei ein gegenseitiges Missverstehen möglich, das zu falschen Urteilen führen könne (vgl. ebd.). Sein Lösungsvorschlag ist überaus adressatenorientiert, aber unpraktikabel: Die Verhöre und Protokolle sollen zunächst in niederdeutscher Sprache verschriftlicht werden. In einem zweiten Schritt sollen die Richter diese anschließend mit einem Wörterbuch ins Hochdeutsche übersetzen. Und drittens sollen die Urteile für die niederen Schichten in niederdeutscher Sprache publiziert werden. 3.4.5.5 Friedliche Koexistenz des Hoch- und Niederdeutschen Die in der „Monatsschrift von und für Mecklenburg“ im Jahre 1791 erscheinende Abhandlung „Verdient die plattdeutsche Sprache in Mecklenburg beibehalten, oder abgeschafft zu werden?“, die Carl Friedrich Evers zuzuordnen ist, greift die doppelte Figur der Aufwertung der eigenen Leitvarietät und die Stigmatisierung der konkurrierenden Leitvarietät auf (vgl. [Evers] MM 1791). Das Niederdeutsche wird als die reinere Sprache sowie als eine „gutmütige“ und „gesunde“ Sprache gekennzeichnet, die durch die Vermischung mit dem Obersächsischen „verdorben“ und „verunstaltet“ worden sei, wobei der Verfasser als Ursache Fehler der Lehrer 189 So beruft sich der Verfasser auch auf die von Raupach rezipierten Schriften, etwa von Albert Kranz (1448-1517), Nathan Chyträus (1543-1598) oder von Daniel Georg Morhof (1638-1691).

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und Geistlichen sowie die „Nachahmungssucht“ der Sprecher und Sprecherinnen benennt: Wahr ist es, sie ist nicht mehr dieselbige, welche sie vor einigen Jahrhunderten gewesen, bei weiten nicht so kraftvoll und treffend im Ausdruck. In den, zumahl größern Städten hört und kennet man sie kaum mehr, ist mit der obersächsischen so sehr vermischt und verdorben, daß man sie eher für einen groben Dialect der hochdeutschen, als die wahre plattdeutsche Sprache halten sollte. Freilich hat sie noch auf dem Lande und besonders in den von den Städten am weitesten gelegenen Dörfern so ziemlich in ihrer alten ungeschminkten Schönheit erhalten, aber auch dort wird sie am Ende durch den mündlichen Vortrag der Schul- und Kirchenlehrer und Vorgesetzten in der hochdeutschen Sprache, durch die nur in selbiger geschriebenen Bücher, durch [...] Verkehr mit den Bewohnern der Städte, mithin durch die Nachahmungssucht, verunstaltet, wo nicht gar vertrieben werden. (ebd., 39)

Das Hochdeutsche, das Evers mit dem Obersächsischen gleichsetzt, sei eine „verzärtelte“ und „geschminkte Tochter“ des Niederdeutschen (ebd., 41). Das Niederdeutsche wird somit als die ‚reine‘, ‚natürliche‘ Sprache charakterisiert im Gegensatz zum ‚künstlichen‘ Hochdeutsch. Es handelt sich um sprachideologische Setzungen, die zur Legitimation der eigenen Leitvarietät dienen. Evers vergleicht das Verschwinden des Niederdeutschen mit dem „Wendischen“, d. h. dem Slawischen, das die erste Muttersprache der Bevölkerung Norddeutschlands gewesen sei. Falls das Niederdeutsche völlig durch das Hochdeutsche verdrängt werde, könne das reiche niederdeutsche Schrifttum, besonders das der Diplomatie, in wenigen Generationen nicht mehr verstanden werden. Schon jetzt sei das Verstehen älterer Ausdrücke des Niederdeutschen problematisch. Außerdem sei das Niederdeutsche mit dem Englischen und Holländischen eng verwandt, sodass mit seinem Aussterben zahlreiche Stammwörter verloren gingen (ebd., 41). Evers beansprucht allerdings wie der anonyme Verfasser des „Schreiben[s] eines alten Pächters“ (vgl. Anonymus SPL 1770) für das Niederdeutsche nicht den Status einer überregionalen Leitvarietät, die in allen deutschsprachigen Gebieten anerkannt wird, sondern er fordert, dass das Niederdeutsche das Kommunikationsmedium des privaten Raums bleiben solle, – er spricht an dieser Stelle von „National-Sprache“ (ebd., 41), während das Obersächsische „in den Gerichten, Landes-Geschäften, bei Hofe, Prunkgesellschaften“ (ebd., 41) den Vorrang habe. Die Verwendung des Niederdeutschen wird also auf spezifische Kommunikationsdomänen beschränkt. In den ländlichen Gebieten müssten die Geistlichen stärker auf das Niederdeutsche zurückgreifen. Damit tritt er für eine friedliche

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Koexistenz des Nieder- und Hochdeutschen ein: Die Sprachformen sollen in jeweils unterschiedlichen Kommunikationsdomänen gültig bleiben. Damit das Niederdeutsche erhalten bleibe und nicht endgültig mit dem Obersächsischen vermischt werde, solle insbesondere die Jugend niederdeutsche Schriften lesen. Zur Erhaltung der zahlreichen Dialekte des Niederdeutschen fordert er die Erstellung weiterer Idiotismensammlungen bzw. Mundartwörterbücher. So könne auch der besonders reiche Wortschatz der Kunst-, Handwerks-, Schifffahrts-, Fischerei- und JagdTerminologie bewahrt werden (ebd., 42). Seine an dieser Stelle zum Ausdruck kommende Haltung gegenüber dem Niederdeutschen lässt sich als sprachpflegerisch kennzeichnen. Er ist bemüht, das hochdeutsche Schrifttum für die nachfolgenden Generationen zu bewahren. Ein Mecklenburger äußert sich in der „Monatsschrift von und für Mecklenburg“ überaus positiv zu dem von Evers vorgestellten Vorhaben (vgl. Anonymus MM 1791). In seiner Stellungnahme kommt insbesondere zum Ausdruck, dass in den Oberschichten und Bildungseliten eine sprachliche Disziplinierung190 stattgefunden hat, da das Niederdeutsche in der Kirche und Schule als Kommunikationsmedium ebenso verboten ist, wie in der privaten Kommunikation: Aus einem solchen Buche [das von Evers 1791 vorgeschlagene niederdeutsche Wörterbuch, Anm. KF] würde ich, der ich als Kind nie Erlaubnis hatte, ein plattdeutsches Wort zu sprechen, auch als Schüler, Student, Candidat mich immer in einem Cirkel befand, worin nur hochdeutsch geredet ward, mir oft selbst helfen können. (ebd., 122)

3.4.5.6 Bewertungen der Sprachsituation in Westfalen In einigen Beiträgen, die im „Hannoverischen Magazin“ bzw. später im „Neuen Hannöverischen Magazin“ erscheinen, wird insbesondere auf die sprachliche Situation in Westfalen eingegangen. Der anonyme Verfasser im „Hannoverischen Magazin“ fordert in seinem Beitrag „Etwas zur Verbesserung unserer Dorfschulen“ eine allgemeine Volksbildung, wobei er sich vor allem mit den Dorfschulen befasst (vgl. Anonymus HM 1764). Er äußert sich, wie viele andere Pastoren und Gebildete, die sich mit der Frage des Niederdeutschen als Sprache des Unterrichts und der kirchlichen Verkündigung auseinandersetzen, kritisch über die Verwendung des Hochdeutschen als Kirchensprache: Dahin rechne ich vorjetzo besonders, daß die hochdeutsche Sprache den Bauernkindern nicht genug bekannt ist. Sie lesen und lernen Bibel und Catechis190 Vgl. zur Theorie der Disziplinierung beispielsweise Foucault (1976).

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mus, in einer Sprache, die sie nicht verstehen. Wie kan ihr Verstand dadurch erleuchtet, und ihr Herz gerühret und gebessert werden? Und dies sind doch gewiß die Hauptabsichten, die man zu erreichen suchen soll. (ebd., 282)

Problematisch sei, dass die Kinder in einer Diglossie-Situation aufwüchsen und sich die Sprachbarrieren auch als Hindernisse für das Lernen erwiesen. Seine Schlussfolgerung lautet, dass die Prediger sich nicht den Kindern anpassen dürften, außer in Ausnahmen (etwa bei der Erläuterung eines Einzelwortes). Darüber hinaus fordert er einen besseren Sprachunterricht für die Jugend sowie eine bessere Ausbildung der Lehrenden: Das natürlichste und leichteste Mittel nun, diesem Übel abzuhelfen, ist, daß die Kinder von Jugend auf an die Mundart gewöhnet werden, worin sie nachher so vieles zu ihrem Nutzen lesen und hören sollen. Da solches in dem Umgange mit ihren Eltern nicht zu bewerkstelligen ist, so könte es füglich in der Schule geschehen. Alle Schulmeister müsten beständig Hochdeutsch sprechen. (ebd., 285)

Für die Schulen Westfalens solle der hochdeutsche Sprachunterricht verbindlich werden (ebd., 285), insofern kommt hier eine klare bildungspolitische Forderung zum Ausdruck. Ganz ähnlich äußert sich ein Beiträger im „Neuen Hannöverischen Magazin“ am Ende des 18. Jahrhunderts (Anonymus HM 1793). Der anonyme Verfasser setzt sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Niederdeutsch und Hochdeutsch auseinander. Im schulischen Unterricht sowie in den Kirchen in Westfalen und Niedersachsen werde eine Sprache gesprochen bzw. als Unterrichtsmedium genutzt, die den Schülern nicht verständlich sei. Der Sprachwechsel von Nieder- zu Hochdeutsch wird nicht zuletzt damit legitimiert, dass das Niederdeutsche als Sprache der niederen Schichten charakterisiert wird, die als ‚Stigmasoziolekt‘ nicht den Status einer schriftsprachlichen Leitvarietät beanspruchen könne (ebd., 1513f.). Wie der Beiträger zum „Hannoverischen Magazin“ aus dem Jahre 1764 (vgl. Anonymus HM 1764) fordert er einen umfassenden und gründlichen Unterricht des Hochdeutschen, dazu gehöre neben der Lektüre hochdeutscher Bücher auch die Schreib- und Redepraxis. Insbesondere hofft der Verfasser des Beitrags, dass sich das Hochdeutsche als Leitvarietät in privater wie öffentlicher Kommunikation durchsetze: Wäre denn der große Zweck erreichet, daß die Landjugend so gut und so leicht hochdeutsch wie plattdeutsch spräche, so wäre zu hoffen, daß nach mehreren Jahren sich auch Ältern fänden, welche aus Überzeugung von dem Vortheil, oder aus Ehrbegierde und Neigung sich hervorzuthun, ihre Kinder anhielten, in ihren Häusern, und unter sich hochdeutsch zu sprechen. Gehört es doch zur guten Erziehung in etwas angesehenen Bürgerhäusern, daß man den Kindern nicht erlaubet, platt zu sprechen. Warum sollten Landleute, welche dem gesitteten Bürger, besonders wo ihr Wohlstand zunimt, gern näher kommen, ihnen darin nicht auch

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suchen ähnlich zu werden. Und wie viele Mühe würde dadurch bei den Schulkindern ersparet, wie sehr der gute Erfolg des ganzen Unterrichts befördert werden! (ebd., 291)

Die „Nothwendigkeit und Mittel, die hochdeutsche Sprache dem großen Haufen bekannter zu machen“ diskutiert ein Beiträger im „Neuen Hannöverischen Magazin“ (Anonymus HM 1794). Hochdeutsch ist für ihn ein Transportmedium der Aufklärung als umfassendes gesellschaftliches Modernisierungs- und Fortschrittsversprechen. Er stellt fest, dass der größte Teil der Bürger, Handwerker, Bauern und niederen Schichten in Niedersachsen, Westfalen und Teilen der Mark Brandenburg das Hochdeutsche weder schriftsprachlich noch mündlich beherrsche. Seine Argumentation erhält dadurch besonderes Gewicht, dass er die Kenntnis des Hochdeutschen zur Bedingung der Möglichkeit gesellschaftlicher Aufklärung und individueller Moral stilisiert: Allein die Unwissenheit der hochdeutschen Sprache verhindert die Mittheilung der Gedanken der höhern und gebildeten Klassen bei den niedrigen. Diese würden mehrers Unterrichts fähig seyn, also auch mehr Erkenntniß, mehr moralisches Gefühl erlangen können. Wir würden also auch nicht so viele Klagen über Untreue des Gesindes und der Tagelöhner, über Betrug, Dieberei, unordentlichen Haushalt, Faulheit, u. s. w. hören. Denn wäre eine größere Kenntniß der hochdeutschen Sprache unter den niedern Klassen zu finden, so würde der Unterricht in Schulen und Kirchen weit nützlicher und fruchtbarer für sie seyn; sie würden auch auf manche andere Art mehrerer Belehrung fähig werden. (ebd., 292)

Ursache sei nicht zuletzt, dass die moralische Erziehung durch die Kirchen an der Sprachbarriere scheitere, da die Norddeutschen die hochdeutschen Predigten nicht verstünden (ebd., 293). Das Niederdeutsche sei eine „undurchdringliche Scheidewand“ (ebd.) zwischen den niederen, ungebildeten Schichten und den höheren Bildungsschichten. Idealisiert dargestellt werden hingegen die Verhältnisse in Obersachsen, England, Frankreich. Dort gebe es eine Sprache, die allen verständlich sei und die alle beherrschten, sodass selbst „das niedrigste Volk seine klassischen Nationalschriftsteller“ lese (ebd., 292).191

191 Zustimmung erntet der Verfasser in einem Beitrag, der 1795 im „Neue[n] Hannoverische[n] Magazin“ erscheint (Anonymus HM 1795). Der Verfasser benennt Mängel der ländlichen Schulbildung, etwa dass nicht alle Kinder der ländlichen Bevölkerung unterrichtet würden oder dass die Schulen einen sehr großen Einzugsbereich hätten. Darüber hinaus wird die mangelnde Ausbildung der Lehrer und das Fehlen von Lehrmaterial beklagt. Und auch der Verfasser des Beitrages „Ist denn wirklich der niedersächsische Dialect ein Hinderniß der Aufklärung?“ (Anonymus HM2 1795) teilt die dargestellte These, dass nur eine umfassende Unterrichtung des Hochdeutschen in den Landschulen die Aufklärung vorantreiben werde (ebd., 303).

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3.4.5.7 Stigmatisierung des Niederdeutschen In den „Beyträge[n] zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit“ erscheint eine Rezension einer fälschlicherweise Franz Albert Aepinus (1673-1750), Professor für Logik in der philosophischen Fakultät der Universität Rostock, zugeordneten Schrift mit dem Titel „De linguae Saxoniae inferioris neglectu atque contemtu injusto d. i. Von unbilliger der Verachtung der plattdeutschen Sprache“ (Anonymus BCH2 1732, 304-323) aus dem Jahre 1704 (vgl. Raupach LSI 1704). Diese in Kapitel 3.4.5.2 ausführlich erörterte Schrift stellt eine Druckfassung der „Exercitatio academica“ dar, die Bernhard Raupach, ein protestantischer Theologe, am 4.10.1704 unter Vorsitz von Aepinus vorgetragen hat. Der Verfasser stellt die von Raupach dargelegten, vermeintlichen Vorzüge des Niederdeutschen dar und kommentiert die Legitimität und die Plausibilität der Argumentation. In den einleitenden Bemerkungen wird dargelegt, dass es sich um eine zum Teil sehr pathetische, aber auch sehr patriotische Schrift handele. Übertreibungen in der Darstellung des Originalbeitrags werden, da sie dem patriotischen Anliegen des Verfassers geschuldet seien, durchaus legitimiert (vgl. ebd., 305). Die Kritik und Entgegnungen des Verfassers der „Beyträge“ lassen dezidiert Rückschlüsse auf sein Konzept einer Leitvarietät zu und werden im Folgenden deshalb kontrastiv den Behauptungen Raupachs gegenübergestellt. Der Verfasser in den „Beyträgen“ lehnt die Klassifizierung des Schwäbischen, Fränkischen usw. als Einzelsprachen ab und bestimmt sie als Mundarten. Lediglich dem Meißnischen wird der Status einer Einzelsprache zugestanden, denn ihm komme im Gegensatz zu den regionalen Varietäten eine Vorbildfunktion zu. Das „Schlesische“ wird nicht als Vorbild anerkannt (vgl. ebd., 308). Das Alter des Niederdeutschen wird zwar nicht bestritten, allerdings werden die genannten Argumente kritisch diskutiert. Der Verfasser kommt zu dem Schluss, dass keine der von Raupach angeführten Begründungen der Vorbildlichkeit des Niederdeutschen haltbar sei. Der Verfasser verweist hinsichtlich der lautlichen Qualitäten von Sprachen wie etwa der Anzahl von Vokalen bzw. der Einsilbigkeit sowie Mehrsilbigkeit von Sprachen darauf, dass diese Eigenschaften lediglich Ausdruck der Verschiedenheit der Sprachen seien, die keine Bevorzugung derselben rechtfertige (vgl. ebd., 316). Eine ausführliche Auseinandersetzung erfolgt mit der These des norddeutschen Diskursakteurs, dass aus der Veränderung von lautlichen Gegebenheiten des Meißnischen ein Verfall der Sitten zu folgern sei

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(vgl. ebd., 316f.). Der mitteldeutsche Rezensent argumentiert zeichentheoretisch: Wörter seien Zeichen der Sachen. Die Sachen seien also vor der Sprache schon vorhanden. Schmeichelnde Worte seien somit durchaus ein Zeichen dafür, dass „die guten einfältigen Sitten“ (ebd., 317) verdorben seien. Dies lasse aber – quasi aus argumentationslogischen Gründen – nicht den Umkehrschluss zu, dass ein möglicher Sittenverfall mit Sprachverfall gleichzusetzen sei. Der dritte, von Raupach vorgebrachte Vorzug ist die im Vergleich zum Meißnischen größere „Reinheit“ des Plattdeutschen. Hiermit ist die Abwesenheit fremdsprachlicher Ausdrücke gemeint sowie das Vorhandensein bestimmter lautlicher Phänomene im Meißnischen, die als französische Lautmerkmale eingestuft werden. Der norddeutsche Verfasser beruft sich außerdem auf eine im Meißnischen häufiger zu beobachtende Verwendung von so genannten „Zischlauten“ und charakterisiert das Meißnische als ‚weibisch‘, das Plattdeutsche hingegen als ‚männlich‘. Der Verfasser weist diese sprachideologische und anthropologisierende Wertung lautlicher Eigenschaften des Meißnischen und des Niederdeutschen als unbewiesen zurück. Als Fazit der Rezension lässt sich festhalten, dass der Verfasser die vermeintliche Vorbildlichkeit des Niederdeutschen nicht anerkennt und sich zum Teil detailliert mit der Argumentation des norddeutschen Verfassers auseinandersetzt. Dieser befindet sich argumentativ in einer denkbar schlechten Position: Während die Vertreter des meißnischobersächsischen Sprachraums zu dieser Zeit auf eine Vielfalt an sprachkultivierenden und -normierenden Aktivitäten verweisen können und auch eine Vielzahl an literarischen wie wissenschaftlichen Publikationen im ostmitteldeutschen Sprachraum erscheint, ist das Niederdeutsche, wie Raupach selbst eingesteht, in der schriftsprachlichen Produktion stetig zurückgegangen. Eine direkte Gegenrede auf die Verteidigungsschrift des Niederdeutschen von Raupach erscheint in den „Critischen Versuchen“, einem Publikationsorgan der „Deutschen Gesellschaft“ in Greifswald. In dieser frühaufklärerischen Zeitschrift finden sich Beiträge etwa zur Grammatik wie die Kompositabildung oder zur Semantik, beispielsweise zur Synonymie. Der anonyme Autor des Beitrags mit dem Titel „Allgemeine Gedanken von der deutschen Sprache die bey der Verbesserung derselben vorauszusetzen sind“, gibt sich als Norddeutscher zu erkennen (vgl. Anonymus AGDS 1742). Seiner aufklärerischen Sprachauffassung gemäß ist die Sprache das entscheidende Instrument zur Mitteilung der Gedanken (vgl. ebd., 242). Er vertritt, wie viele Sprachkundler dieser Zeit die Ansicht, dass die Vielfalt der Sprache und Dialekte aus der Veränderung der einen Ursprache entstanden sei. Die zeitgenössischen Auffassun-

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gen der sprachgeschichtlichen Entwicklung laufen also sozusagen ‚top down‘; angenommen wird eine ursprüngliche Einheit, die im Laufe der Geschichte verloren gegangen ist.192 Die aufgrund heutiger sprachhistorischer Einsichten gewonnene Erkenntnis, dass durch die Sprachnormierung und -kultivierung erst eine überdachende Leitvarietät über den Dialekten, Funktiolekten und Soziolekten entsteht, also quasi ‚bottom up‘, ist den Sprachkundlern dieser Zeit fremd. Seine Argumentation sei an dieser Stelle kurz skizziert: a. Obersächsisch als Leitvarietät Der Verfasser setzt das Hochdeutsche mit dem Obersächsischen gleich, das für ihn zweifelsfrei dem Niederdeutschen vorzuziehen ist (vgl. ebd., 241). Für die Übernahme dieser Sprachform spreche ihr überregionaler Verbreitungs- und Geltungsgrad und ihre schriftsprachliche Verbreitung (ebd., 246f.)..Außerdem stellt das Hochdeutsche obersächsischer Grundlage eine „verbesserte“, „vollkommenere“ und „regelmäßigere“ Sprache dar (vgl. ebd., 246, 248). Mit den genannten Merkmalen „Vollkommenheit“ und „Regelmäßigkeit“ ist die „Richtigkeit“ der Sprache bzw. das rhetorische Prinzip der ‚latinitas‘ gemeint, die auch Raupach für das Niederdeutsche veranschlagt (vgl. Raupach LSI 1704). Der norddeutsche Verfasser hält fest, dass die Normierung und Kultivierung des Hochdeutschen durch Arbeiten von Schottelius, Harsdörffer und Bödiker und die Sprachgesellschaften vorangetrieben worden sei und dass das Zentrum sprachkultivierender Aktivitäten nunmehr in Leipzig und Jena liege (ebd., 248). Die Übernahme des Hochdeutschen in Norddeutschland erachtet er nicht zuletzt deswegen als unproblematisch, weil er davon ausgeht, dass die Sprache ebenso wie der Dialekt nicht Ausdruck der Eigenheiten bzw. des Charakters einer Kommunikationsgemeinschaft sind: „Keine Sprache und Mundart führet eine natürliche Verbindung mit sich. Man kann durch

192 So schreibt Johann Ernst Stutz in seiner Grammatik: „Die deutsche Sprache ist nicht in allen Provinzen ganz dieselbe, so wenig sie das bei fortgehender Kultur der deutschen Nation durch alle Zeitläufe bleiben konnte. Jede Provinz hat ihre besondere Mundart; vorzüglich aber unterscheiden sich die oberdeutsche in den südlichen, und die niederdeutsche in den nördlichen Provinzen Deutschlandes. Von beiden muß die hochdeutsche Sprache unterschieden werden; die so gut wie eine nach richtigen Regeln gelehret und gelernet zu werden verdienet.“ (Stutz DSL 1790, 9) Er geht von einer ursprünglichen deutschen Sprache aus, die sich in der Folgezeit in die Dialekte aufgespalten hat.

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die eine seine Gedanken genau so gut als durch die andere zu erkennen geben.“ (ebd., 243)193 b. ‚Prestigesoziolekt‘ der Sprache der Oberschichten Die Bildungseliten und Oberschichten in ganz Deutschland seien bereits zum Hochdeutschen übergegangen. Diese Varietät stellt für ihn, wie für die Mehrheit der zeitgenössischen Sprachkundler, ein ‚Prestigesoziolekt‘ dar. Er geht davon aus, dass selbst die niederen Schichten Norddeutschlands bereits diese Sprachform in der Alltagskommunikation verwendeten: Wir Niederdeutsche verstehen ziemlich ich will nicht sage völlig das Hochdeutsche. Wir hören es täglich in unsern Predigten, Gerichten und in dem Umgange mit einem nur etwas vornehmen und hohen. Wir verstehen auch selbige Art zu reden nicht allein, sondern sind auch im Stande uns verständlich auszudrucken. Wir gebrauchen fast gar keine oder doch gar wenige Mühe diese Sprache zu lernen, zu reden und zu schreiben. (ebd., 245)

Dieser Beschreibung der damaligen Sprachsituation kann aufgrund heutiger Erkenntnisse nicht zugestimmt werden. Sie steht ebenfalls im Widerspruch zu einer Vielzahl von Äußerungen nord- und ostmitteldeutscher Sprachkundler und Gebildeter, die beispielsweise auf die enormen sprachlichen Differenzen der städtischen Oberschichten und der ländlichen Bevölkerung hinweisen. c. Stigmatisierung des Niederdeutschen Das Niederdeutsche stellt für den Verfasser quasi den Antityp einer normierten, allgemein verständlichen Sprache dar (vgl. ebd., 247f.). Als wichtiges Argument gegen das Niederdeutsche als Leitvarietät wird angeführt, dass es im Gegensatz zum Obersächsischen nicht normiert und kultiviert sei (vgl. ebd., 247ff.). Beispielsweise sei keine Ausbildung des Niederdeutschen als Schriftsprache oder Wissenschaftssprache erfolgt (ebd., 254). Sein Fazit lautet, dass das Niederdeutsche im Vergleich zum Hochdeutschen die „unverbesserte“, „unvollkommenere“, kurzum die „schlechteste“ Sprache sei (ebd., 248). Die von Raupach vorgetragenen Argumente werden entweder mit Gegenargumenten quittiert oder als unhaltbar zurückgewiesen. Dabei werden verschiedene sprachliche Phänomene diskutiert, beispielsweise die Lautebene: Die Einsilbigkeit des Niederdeutschen sei kein Vorzug, da sie gegen die ‚Deutlichkeit‘ als die wichtigste Eigenschaft einer Sprache ver193 Eine ganz andere Argumentation, die unter Rückgriff auf den Zusammenhang von Sprache und Identität den Vormachtanspruch des Obersächsischen zurückweist, stellt die Inbezugsetzung der Sprache mit dem ‚Nationalgeist‘, vgl. hierzu die Ausführungen zum sprachideologischen Diskursbereich.

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stoße. Ebenso werden die als Kennzeichen der ‚Reinigkeit‘ des Niederdeutschen dargelegten Lauteigenschaften hinterfragt, zum Beispiel das Fehlen von „Zischlauten“ wie s und z sowie die nicht erfolgte Lautverschiebung von p zu pf.194 Für die Folgerung, dass diese Eigenschaften das Niederdeutsche als „männlich“ und „rein“, das Hochdeutsche hingegen als „weiblich“ und „unrein“ kennzeichnen, sieht er keinen hinreichenden Beweis erbracht (ebd., 252). Überhaupt weiche die Aussprache von Dialekten von der vorbildlichen Sprache der Oberschichten oftmals ab, dies gelte auch für das Niederdeutsche: „Ob aber sonst einer etwas annehmliches daran finden wird, wenn er einen Hinterpommer mit vollem Maule reden höret, daran zweifele ich gar sehr.“ (ebd., 253) Eben diesen vermeintlichen Sprachfehler wirft der Schwabe Friedrich Karl Fulda in seiner Schrift „Über die deutschen Hauptdialekte“ (HTS 1774) den Hochdeutschen vor (vgl. ebd., 38). An dieser Stelle zeigt sich ganz deutlich, dass sprachliche Phänomene je nach Argumentationsziel ideologisch aufgeladen und eingesetzt werden. Der Schlussappell des Verfassers an alle Niederdeutschen lautet: „Wir sind demnach verbunden, uns nach die meisten zu richten; wir sind verpflichtet, die hochdeutsche Sprache als die bekannteste, auch als die wahre und einzige Sprache Deutschlands anzunehmen, zu gebrauchen und zu verbessern.“ (ebd., 246) Das Ziel seiner Argumentation ist die Durchsetzung des Hochdeutschen meißnisch-obersächsischer Prägung. Die einzelnen Argumente lassen sich schematisch diesem Hauptziel der Argumentation unterordnen, sodass sich das Argumentationsmuster zusammenfassend wie folgt darstellt:

194 Darüber hinaus sei beispielweise die häufige Entlehnung von Fremdwörtern im Meißnischen durchaus problematisch, allerdings sei der Mangel von Fremdwörtern im Niederdeutschen ein Zeichen dafür, dass es nicht kultiviert worden sei (ebd., 250).

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Vereinzelt wird sogar gefordert, das Niederdeutsche ganz abzuschaffen. Der anonyme Verfasser, der sich selbst als Oldenburger zu erkennen gibt (ebd., 398), befasst sich in seiner Schrift „Daß es nützlich und möglich sey, die niedersächsische Sprache allmählich gar abzuschaffen“ (Anonymus LNA 1743) mit dem Konflikt zwischen Hoch- und Niederdeutsch. Er verweist auf die unterschiedliche Anzahl an Bibeldrucken, so sei beispielsweise eine klare Überzahl an „hochdeutschen Bibeln“ zu verzeichnen, während niederdeutsche Bibeln kaum erhalten geblieben und auch kaum noch im Gebrauch seien. Die Mehrheit der theologischen Publikationen sei auf Hochdeutsch erschienen, das bereits die Sprache der Kirche in Norddeutschland sei, wobei er das Hochdeutsche mit dem Obersächsischen identifiziert. Das Hochdeutsche obersächsischer Grundlage gilt uneingeschränkt als Leitvarietät und soll frühzeitig in den Schulen und Kirchen erlernt werden. Der Verfasser nimmt gleich im ersten Satz auf die Normierung und Kultivierung des Hochdeutschen obersächsischer Grundlage Bezug, die er als sehr nützlich und notwendig einstuft, nicht zuletzt, um den Anspruch des Deutschen, eine der „Hauptsprachen“ (ebd., 384) zu sein, zu stüt-

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zen.195 Aufgrund der Parteilichkeit der Sprachkundler für die jeweils eigene regionale Varietät hält er es allerdings für unwahrscheinlich, dass eine solche einheitliche Sprache entstehen könne. Seine Schrift solle allerdings dazu beitragen, diese Einheitlichkeit, die für ihn auch Motor einer kulturellen Einheit ist, zu stiften (vgl. ebd., 385). Er selbst bezeichnet sich als ein „Niedersachse“ (ebd.), der sich nicht scheue, folgende Behauptung aufzustellen: „Es wäre gut die platdeutsche Sprache ganz abzuschaffen, und das Hochdeutsche überall einzuführen.“ (ebd.) Unter der „hochdeutschen Mundart“ versteht der Verfasser zum einen die süd- und mitteldeutschen Dialekte im Gegensatz zum niederdeutschen Dialektgebiet, wobei er folgende Regionen nennt: Österreich, Schlesien, Meißen, Thüringen, Hessen, Franken, Bayern, Schwaben und die Schweiz (ebd., 386). Zum anderen bestimmt er das Hochdeutsche als eine besonders regelhafte Art des Redens und Schreibens, die frei von landschaftlichen Varianten und die Sprache der besten Schriftsteller sei: Doch diese letztere [die hochdeutsche Sprache, Anm. KF] nennet man auch noch in einer etwas eingeschränkten Bedeutung. Man verstehet dadurch öfters nur die reineste und regelmäßigste Art zu reden und zu schreiben, welche aus allen nur gedachten besondern Mundarten ausgelesen, und von den Fehlern einer jeden einzeln Provinz sorgfältig gesäubert ist, und deren sich die besten deutschen Schriftsteller, die geschicktesten Redner und Poeten in ihren Werken gebrauchen. (ebd., 386)

Außerdem setzt der niedersächsische Verfasser das Hochdeutsche mit dem Obersächsischen gleich (vgl. ebd., 387). Der vom Verfasser geforderte Sprachwechsel von Niederdeutsch und Hochdeutsch wird als allmählicher Prozess charakterisiert, der ohne Zwang erfolgen solle. Zur Legitimation seines Vorhabens, das er als gesamtgesellschaftlich von besonderem Nutzen erachtet, führt der anonyme Verfasser verschiedene Behauptungen an: − Das Hochdeutsche obersächsischer Grundlage ist für den Verfasser die „reinere“, regelhaftere und kultiviertere Sprachform. Die niederdeutsche Sprache weise hingegen mehr falsche Wörter und unrichtige Wortgruppen auf (vgl. ebd.). Er verweist an dieser Stelle auf Unter195 Der Leitsprachen-Topos wird an dieser Stelle in diskurstypischer Weise formuliert: „Es könnte auch vielleicht gezeiget werden, daß heut zu Tage die deutsche Sprache diese Ehre vor andern verdiene. Sie ist eine von den ältesten Hauptsprachen. Sie hat Wörter genug, alle Sachen und Gedanken auszudrücken, und bedarf nicht so, wie etwa die englische und französische, von fremden zu borgen. Sie ist schon wirklich in unterschiedlichen fremden Ländern bekannt, und in großem Ansehen; es fehlet ihr auch itzo nicht an guten Schriften, die auch den Ausländern als Muster vorgestellt werden können. Der Einwurf von ihrer Rauhigkeit, ist durch den wirklichen Beweis des Gegentheils schon längst aufgehoben. Es gestehen dieses auch verständige Ausländer selbst.“ (ebd., 384)

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

schiede der Grammatik zwischen Hoch- und Niederdeutsch, beispielsweise der Verwendung von Personalpronomen. − Die Übernahme des Hochdeutschen sei für alle Schichten Norddeutschlands vorteilhaft, da ihre Sprache „reiner“ und „richtiger“ werde, dies gelte auch für die Oberschichten und Bildungseliten (vgl. ebd., 387f.). − In soziokultureller Hinsicht sei eine bessere Verständigung aller Territorien möglich. Anders formuliert, soll die sprachliche Einigung auch eine Einigung der Kommunikationsgemeinschaft befördern (vgl. ebd., 388). − Außerdem führt der Verfasser ein ökonomisches Argument an, das für alle Deutschen gleichermaßen gelte: So könne der Handel der Deutschen untereinander verbessert werden. − Ebenso spreche für die Einführung des Hochdeutschen der Umstand, dass die Mehrheit der theologischen und aufklärerischen bzw. wissenschaftlichen Schriften in obersächsischer Sprache erschienen sei (vgl. ebd., 390). Darüber hinaus sei das Obersächsische die Sprache, in der die Lehrer und Prediger ausgebildet werden. Sowohl in dem Bestreben um eine einheitliche Verständigung, die der „Endzweck aller Sprache“ (ebd., 388) sei, als auch in dem kulturellen wie ökonomischen Fortschrittsdenken kommt die aufklärerisch-rationalistische Haltung des Verfassers zum Ausdruck. Zweitens ist das Argument von besonderer Bedeutung, dass die Sprecher des Niederdeutschen die hochdeutsche Bibel und Predigt nicht verstünden. Für die Einführung des Niederdeutschen als Sprache des Gottesdienstes und als Kirchensprache votiert der Verfasser allerdings nicht, sondern er argumentiert auch hier, dass die einzige Lösung darin bestehe, „die einzige reine obersächsische Sprache allmählich überall einzuführen“ (ebd., 391). Über das Niederdeutsche äußert er sich am Ende seines Artikels, wobei er zu einigen Punkten Stellung bezieht, die häufiger in der Diskussion um das Niederdeutsche genannt werden: − Er erkennt zwar das höhere Alter des Niederdeutschen an und fordert, dass es sprachkundlich untersucht werden solle, allerdings sei es bereits eine tote Sprache (ebd., 396). − Das Niederdeutsche sei im Gegensatz zur deutschen Sprache nur eine Mundart. − Das Hochdeutsche habe sich längst als Sprache der Oberschichten und Bildungseliten in ganz Deutschland etabliert und einen größeren Geltungsgrad als das Niederdeutsche.

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Das Niederdeutsche sei keine polyfunktionale Sprache und werde selbst von den norddeutschen Sprechern und Sprecherinnen kaum noch beherrscht (ebd., 398). − Das Niederdeutsche sei wegen der erfolgten Sprachvermischung mit dem Hochdeutschen eine korrumpierte Mundart: „Ja, auch bey uns fängt man immer mehr an, durch eine gezwungene Vermischung mit der hochdeutschen, auch zum Theil mit der französischen, die alte niedersächsische Muttersprache zu verfälschen.“ (ebd., 399) Der geforderte Sprachwechsel vom Nieder- zum Hochdeutschen könne vor allem durch die Schulen befördert werden. 3.4.5.8 Positive Bewertungen des Niederdeutschen am Ende des 18. Jahrhunderts Der aus Pommern stammende Lexikograph Johann Christoph Adelung thematisiert das Niederdeutsche in einigen seiner Schriften in der Regel immer in Abgrenzung zum Hochdeutschen und zu anderen regionalen Varietäten. In seinem „Umständliche[n] Lehrgebäude der Deutschen Sprache“ (UL/1 1782) werden im dritten Kapitel der Einleitung die „Deutschen Mundarten“ behandelt (ebd., 72-90). Als Hauptmundarten benennt Adelung die „südliche oder Oberdeutsche“ und die „nördliche oder Niederdeutsche“ (ebd., 72), wobei er betont, dass das Niederdeutsche eigentlich eher eine eigene Sprache als ein Dialekt des Deutschen sei, wobei er es aber sprachtypologisch als deutschen Dialekt klassifiziert. Die kurze Skizze der kulturellen und sprachlichen Entwicklung des Niederdeutschen fällt eindeutig negativ aus. Während er in einer ersten Phase bis zur Zeit Luthers eine kulturelle Rückständigkeit diagnostiziert, sei das Niederdeutsche in der zweiten Phase im Zuge der Reformation aus allen öffentlichen Kommunikationsdomänen verdrängt und zur Sprache der niederen Schichten geworden (ebd., 78f.). An dieser Stelle verweist Adelung auf eine sprachliche Mischform zwischen Niederdeutsch und Hochdeutsch, das er als „Messingische Sprache“ (ebd., 79) bezeichnet. Es folgt ein Lob der Aussprachequalitäten des Niederdeutschen: Denn sie ist gerade das Gegentheil der Oberdeutschen Sprache, und unter allen Deutschen Mundarten in der Wahl und Aussprache der Töne die wohlklingendste, gefälligste und angenehmste, eine Feindin aller hauchenden und zischenden, und der meisten blasenden Laute, und des unnützen Aufwandes eines vollen mit vielen hochtönenden Lauten wenig sagenden Mundes, aber dagegen reich an einer kernhaften Kürze, an treffenden Ausdrücken und naiven Bildern. Es fehlt ihr weiter nichts, als eine sorgfältige und verständige Cultur, um sie zu der reichs-

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ten, angenehmsten und blühendsten Sprache zu machen. (ebd., vgl. auch Adelung DSS 1806, 5)

Als Ursache für diese besonderen lautlichen Eigenschaften des Niederdeutschen benennt er das besondere Gehör der Norddeutschen und die besondere Anlage ihrer Artikulationsorgane, die es ihnen erleichtere, Fremdsprachen zu erlernen (ebd., 79). Als letzte Besonderheit des niederdeutschen Sprachraumes verweist Adelung auf die hier verfassten Idiotismensammlungen, beispielsweise von Strodtmann und Richey, die Adelung zu dem Urteil veranlassen, dass die Niederdeutschen nach den Hochdeutschen am meisten um die Kultivierung und Normierung der Sprache bemüht seien. Friedrich Gedike behandelt in einer Vorlesung mit dem Titel „Über deutsche Dialekte“, die 1794 in den „Beiträgen zur Deutschen Sprachkunde“ erscheint, das Hoch- und Niederdeutsche (Gedike DD 1794). Die Entstehung von Dialekten ist für Gedike eine natürliche Gegebenheit (ebd., 292), die klimatheoretisch und mit dem Verweis auf Wanderungsbewegungen und kulturelle Entwicklungen begründet wird (vgl. ebd., 292, 299). Jede Sprache bilde mit der Zeit einen „Hauptdialekt“ (ebd., 293) aus, der zunächst definiert wird als die Sprache der „feineren Welt“ (ebd., 293) und als Sprache der Hauptstadt und der Schriftsteller. Die Leitvarietät lässt sich somit bestimmen als die Sprache der Oberschichten, der Schriftsteller und des kulturellen bzw. politischen Zentrums (ebd.). Gedike vergleicht die Sprachlandschaften Deutschlands mit dem Griechischen. Das Hochdeutsche entspreche ganz dem „Attischen“, das zwar der jüngste Dialekt des Griechischen, aber gleichzeitig der zur Schriftsprache ausgebildete Dialekt gewesen sei (ebd.). Das Oberdeutsche hingegen wird gleichgesetzt mit dem „Dorischen“, das mit den Attributen „breit“, „hochtönend“, „ernst“, „feierlich“ ausgestattet wird (ebd.). Das Plattdeutsche entspreche hingegen dem „ionischen Dialekt“ und sei „sanft“, „weich“, „zart“ und „unperiodisch“ (ebd., 295). Die im zeitgenössischen Diskurs über das Hochdeutsche verwendeten Bezeichnungen für das in Norddeutschland gesprochene Deutsch werden von Gedike kritisch kommentiert: Die Bezeichnung „Niedersächsisch“ lasse nach Gedike den falschen Schluss zu, dass diese Sprachform nur im niedersächsischen Gebiet zu lokalisieren sei (ebd., 301), wenngleich er die dortige Aussprache als die „reinste“ und „wohlklingendste“ charakterisiert. Die Bezeichnung Niederdeutsch hält er für besonders geeignet, da sie die Abgrenzung zum Oberdeutschen deutlich mache. Als dritten Ausdruck verweist er auf die Bezeichnung Plattdeutsch und dessen negative Bedeutungsdimension, wobei er vermutet, dass es sich bei dieser Bezeich-

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nung zunächst um eine wertfreie, sprachgeographisch motivierte gehandelt habe: An die Benennung Plattdeutsch schliest sich gemeiniglich ein verächtlicher Nebenbegriff an, insofern das Platte dem Erhabenen entgegengesetzt ist, und Plattdeutsch demnach so viel seyn würde, als gemeines, niedriges, unedles Deutsch. Ich glaube indessen, dass diese Benennung ursprünglich keine Verachtung bezeichnen sollen, sondern ebenfalls im geographischen Sinn zu nehmen ist, insofern es die Sprache des niedern, flachen, nordlichen Deutschlands war, im Gegensatz des in dem höhern, gebirgern, südlichern Deutschlande herrschenden oberdeutschen Dialekts. (ebd., 302)

Der kurze historische Abriss der Geschichte des Niederdeutschen entspricht der oben dargestellten Beschreibung Adelungs (vgl. Adelung UL/1 1782). Auch Gedike setzt als Zäsur die Zeit der Reformation, die Zeit, in der das Obersächsische „Lehrerin für das gesammte, besonders das nordliche Deutschland“ (ebd., 304) und die allgemeine Schriftsprache geworden sei. In der Folgezeit sei das Niederdeutsche aus den öffentlichen Kommunikationsdomänen, insbesondere den Kirchen, verdrängt worden. An dieser Stelle kritisiert Gedike überaus scharf, dass die hochdeutsche Kirchensprache in der Regel dem „gemeine[n] Mann“ (ebd., 306) in den ländlichen Gebieten unverständlich sei, und fordert deshalb zumindest für den Bereich der Kirchensprache eine Verwendung des Niederdeutschen. Des Weiteren beschreibt Gedike, dass die aufstiegsorientierten Bildungseliten das Hochdeutsche bevorzugen und das Niederdeutsche allenfalls noch im privaten häuslichen Bereich Verwendung finde (vgl. ebd., 306). Mit Nachdruck plädiert er deshalb für eine gründliche Sammlung und Erforschung der niederdeutschen Dialekte, da sonst ein völliges Verschwinden des Niederdeutschen drohe. Wie Adelung verweist er auf Sprachkundler wie Richey und Strodtmann (ebd., 307). In seinem Aufsatz setzt Gedike das Hochdeutsche zwar mit dem Obersächsischen gleich, er begründet allerdings ausführlich, warum das Niederdeutsche als Leitvarietät gelten könne. Die damit vollzogene Aufwertung des Niederdeutschen wird im Hinblick auf drei sprachliche Bereiche diskutiert: die Aussprache, die Reinheit des Niederdeutschen von Fremdwörtern sowie den Reichtum an Fachwörtern, Sprichwörtern und Redensarten. Da Gedike durchaus topische Bewertungen des Niederdeutschen präsentiert, werden diese kurz dargestellt: a. Aussprache Das Plattdeutsche sei „sanfter“, „weicher“ und „melodischer“ (Gedike DD 1794, 310) als das Oberdeutsche und das Hochdeutsche, wobei die Aussprache der Oberschichten als Maßstab gilt. Zur Begründung heißt es:

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

„Der plattdeutsche Dialekt ist ein Feind aller rauher Diphthongen, der Aspirationen, der Gurgeltöne und Zischlaute, und diese sind es gerade, die unsere Sprache für Zunge und Ohr eines Ausländers so schwierig machen.“ (ebd., 311) In den folgenden Abschnitten beschreibt Gedike einige lautliche Phänomene, die das Niederdeutsche vom Hochdeutschen unterscheiden, zum Beispiel die nicht erfolgte Diphthongierung, etwa von u zu au wie in „Muul“ statt „Maul“ (ebd., 311); langes o statt Diphthong z. B. „Oge“ statt „Auge“ (ebd.) oder langes i statt Diphthong wie in „myn“ statt „mein“ (ebd., 312). Positiv bewertet wird auch die nicht erfolgte Lautverschiebung von k zu c wie in „Saken“ statt „Sachen“; ferner die im Niederdeutschen fehlenden so genannten „Zischlaute“ (s, ss, sch) (vgl. ebd., 314) und die nicht erfolgte Lautverschiebung von p zu pf, z. B. „Pund“ statt „Pfund“ (ebd.). b. Reinheit von Fremdwörtern Im Gegensatz zum Hochdeutschen, das eine Vielzahl an Fremdwörtern aufweise, sei das Niederdeutsche eine „reine“ Sprache, wenngleich Gedike einräumt, dass diese Reinheit ein Ergebnis der nicht erfolgten Polyfunktionalisierung des Niederdeutschen sei (ebd., 318). c. Reichtum an Fachwörtern, Sprichwörtern und Redensarten Wenngleich im Niederdeutschen zwar philosophische Begriffe fehlten, besitze es doch eine Vielzahl von Begriffen im technologischen Bereich, insbesondere der Schifffahrt und Botanik (ebd., 318f.). Besonders die Umgangssprache weise einen besonderen Reichtum auf (ebd., 319): Am meisten zeigt sich jedoch der Reichthum des Plattdeutschen in der Umgangssprache. Wenn das Hochdeutsche sich für die höhere Poësie, für die Beredsamkeit, für den Geschäfts- und Lehrstil noch sehr aus dem Oberdeutschen bereichern kann: so kann es auf der andern Seite für die Umgangssprache, für die Sprache des Witzes und der Laune, für die niedern Gattungen der Poësie, besonders für die Komödie, für die Satyre, für die Erzählung sehr viel von der plattdeutschen Mundart borgen. (ebd., 319f.)

An dieser Stelle positioniert sich Gedike implizit im Sprachnormierungsdiskurs. Er konstatiert Mängel des Hochdeutschen im lexikalischen Bereich wie auch im Hinblick auf andere Spracheigenschaften und fordert explizit die Bereicherung des Hochdeutschen durch das Niederdeutsche: Unsere hochdeutsche Umgangssprache ist in der That noch zu wenig geschmeidig. Sie hat etwas Schwerfälliges, Steifes, und, so zu sagen, Periodisches. Aber das Periodische fehlt gerade dem Plattdeutschen, das aber eben dadurch für die Umgangssprache desto geschmeidiger ist. Überhaupt hat es einen unerschöpflichen Reichthum an zärtlichen, muntern, launigen, naïven, leidenschaftlichen Ausdrücken und Wendungen. Sie ist eben dadurch recht gemacht zur Sprache der

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Leidenschaften, von ihren feinsten Schattirungen bis zu den stärksten Pinselstrichen, zur Sprache der Mimik, zur Sprache der Charakteristik. (Gedike DD 1794, 320)

Die Aufwertung des Niederdeutschen, die sich hier anhand seiner behaupteten lexikalischen Fülle in Bezug auf den emotiven Wortschatz vollzieht, steht im eklatanten Gegensatz zur Abwertung des Niederdeutschen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dem Niederdeutschen, das alle Schattierungen des menschlichen Lebens farbenfroh zum Ausdruck bringen könne, wird ein Hochdeutsch gegenübergestellt, das im Hinblick auf die Literatursprache geradezu blass und farblos wirke (vgl. ebd., 320). So lautet das Fazit Gedikes: „Es wäre auch in der That zu bedauren, wenn der große Reichthum des Hochdeutschen für das Plattdeutsche ganz verloren ginge.“ (vgl. ebd., 322) Sein Plädoyer für die Bereicherung des Hochdeutschen durch die Aufnahme von Wörtern und Phraseologismen aus dem Niederdeutschen betrifft besonders die Literatursprache, dies wird aus der dargelegten Eigenschaft des Niederdeutschen, alle Merkmale des menschlichen Charakters wiedergeben zu können, besonders deutlich. Gedike lobt in diesem Kontext Lessing, der als einer der ersten bei der Darstellung der „Sprache des gemeinen Lebens“ (ebd., 323) landschaftliche Ausdrücke in die Schriftsprache aufgenommen habe. Er selbst fügt seinem Beitrag ein Verzeichnis einiger niederdeutscher Ausdrücke bei (ebd., 323ff.). 3.4.5.9 Fazit: Verehrung und Verachtung des Niederdeutschen Im 18. Jahrhundert lassen sich sowohl zahlreiche positive Bewertungen des Niederdeutschen durch norddeutsche Gebildete und Sprachkundler nachweisen (vgl. u. a. Raupach LSI 1704, Michaelis RG 1750)196 als auch kritische Stellungnahmen und negative Bewertungen (vgl. beispielsweise Anonymus AGDS 1742, Anonymus LNA 1743). Allerdings geht es den Verteidigern des Niederdeutschen nicht darum, das Niederdeutsche als Leitvarietät für die schriftsprachliche, überregionale Kommunikation in den deutschen Territorien oder den niederdeutschen Gebieten einzuführen. Problematisiert werden vielmehr bestimmte Kommunikationsdomänen, in denen die Diglossie-Situation als konfliktreich erachtet wird; beispielsweise greifen einige Verfasser die Situation des Niederdeutschen als 196 An dieser Stelle sei auf die in den Jahren 1721-1738 erschienene, mehrbändige Ausgabe der „Poesie der Niedersachsen“ von Christian Friedrich Weichmann hingewiesen, die ebenfalls als ein Zeichen der Wertschätzung des Niederdeutschen zu werten ist, die aber aus Raumgründen nicht berücksichtigt werden kann.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Kirchensprache auf. Daneben wird insbesondere die Bildungssituation reflektiert, insbesondere die schulische Vermittlung des Hochdeutschen als Leitvarietät, die konsensual als ungenügend charakterisiert wird, insbesondere wird die mangelhafte Ausbildung der Lehrenden angeführt. Dabei zeigt gerade das Bemühen der Theologen um das Niederdeutsche als Predigtsprache und Sprache der Seelsorge, dass die Verdrängung des Niederdeutschen kein unumstrittener Prozess ist. Problematisiert wird von Raupach (LSI 1704) und anderen Theologen wie Michaelis (RG 1750) oder Ackermann (MM 1794), dass das Hochdeutsche als Sprache der Glaubensvermittlung und Seelsorge die Mehrheit der Bevölkerung gar nicht erreichen könne. An dieser Stelle kommt eine pietistische Haltung zum Ausdruck. Der muttersprachliche Gottesdienst bzw. die muttersprachliche Seelsorge ist eines der zentralen reformatorischen Anliegen. Wie die Schrift Raupachs ebenfalls zeigt, werden Beobachtungen lautlicher Phänomene mit sprachideologischen Zuschreibungen verquickt, sodass beispielsweise Phänomene der zweiten Lautverschiebung als Qualitätsbeweis des „reinen“, „schlichten“ Niederdeutschen im Gegensatz zum korrumpierten, „zischenden“ Hochdeutschen gelten. Eine positive Wertung des Niederdeutschen lässt sich auch im Programm der Idiotismensammlungen und Mundartwörterbücher erkennen. Die in den einzelnen Texten herausgearbeiteten Beschreibungen der Eigenschaften des Niederdeutschen, die seinen Status als Leitvarietät in Norddeutschland legitimieren, seien abschließend in einem Argumentationsmuster zusammengeführt, das im Vergleich mit dem Argumentationsmuster der Vertreter des Hochdeutschen obersächsischer Grundlage (→ Hochdeutsch1/2/3/7) Aufschluss über die jeweiligen Eigenschaften bietet, die zur Legitimation der Leitvarietät herangezogen werden:

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

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Wie die Zusammenfassung zeigt, sind in der Schrift Raupachs bereits die zentralen Behauptungen versammelt, die zur Aufwertung des Niederdeutschen im Sprachnormierungsdiskurs immer wieder genannt werden (vgl. Raupach LSI 1704). In den nachfolgenden Beiträgen der Verteidiger des Niederdeutschen werden zumeist nur einzelne Anregungen und Problematisierungen des Spannungsverhältnisses zwischen Nieder- und Hochdeutsch gegeben. Gleichzeitig ist festzustellen, dass die von den Befürwortern der niederdeutschen Sprache eingenommene, regionalpatriotische Position nicht mehr zu halten ist. Die bürgerliche Kommunikationsgesellschaft beruht ganz wesentlich auf einem überregional verständlichen Kommunikationsmedium, das in Form des Hochdeutschen verstärkt zur Projektion einer über den Einzelstaat hinausgehenden nationalen Identität wird. Nachstehend sind die einzelnen Argumentationen der Vertreter des Hochdeutschen obersächsischer Prägung als Leitvarietät in einem Argumentationsmuster zusammengeführt. Während das Alter und die fehlenden so genannten „Zischlaute“ zwei wichtige Eigenschaften sind, die zur Aufwertung des Niederdeutschen dienen, ist für das Hochdeutsche der Verweis auf die erfolgte Normierung und Kultivierung eine wichtige Feststellung. Der überregionale Geltungsgrad und die schriftsprachliche Verbreitung des Hochdeutschen im Gegensatz zum Niederdeutschen sind zwei überaus bedeutsame Faktoren, da auch die Befürworter des Nieder-

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deutschen letztlich keine Isolation des norddeutschen Sprachgebiets intendieren. Einige der Befürworter des Hochdeutschen als Leitvarietät betonen nicht zuletzt die Möglichkeit des wirtschaftlichen bzw. kulturellen Fortschritts durch Handel, Sprachkontakt und Kulturaustausch. Ferner wird die Konsolidierung einer überregionalen Leitvarietät als Bedingung der Möglichkeit der Aufklärung charakterisiert. Darüber hinaus verweisen sie auf das Prestige des Hochdeutschen als Sprache der Oberschichten, wobei gleichzeitig das Niederdeutsche als Sprache der unteren Schichten stigmatisiert wird.

3.4.6 Hochdeutsch und Dialekt in den Idiotismensammlungen und Mundartwörterbüchern des 18. Jahrhunderts In der Lexikographie ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Hochdeutsch und Dialekt von besonderer Bedeutung.197 Die Lexikographie der Aufklärungszeit hat sich zum Ziel gesetzt, den gesamten Wortschatz des Deutschen zu erfassen, mit samt seinen regionalen wie sozialen Varianten 197 Vgl. zur (mundartbezogenen) Lexikographie des 18. Jahrhunderts: Henne (1975), Kühn/Püschel (1983), Tauchmann (1992), Haas (1994), Wiegand (1998) und HaßZumkehr (2001).

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

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und der Fremdwörter und Fachwörter (vgl. Haß-Zumkehr 2001, 89118).198 Das Programm der Dokumentation des deutschen Gesamtwortschatzes wird bereits von Gottfried Wilhelm von Leibniz in seinen „Unvorgreifflichen Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache“ formuliert (vgl. Leibniz 1717). Während Leibniz allerdings noch an eine Einrichtung verschiedener Wörterbücher denkt, die den gesamten Wortschatz abdecken sollen (ein Wörterbuch für den Allgemeinwortschatz, ein Fachwörterbuch sowie ein etymologisches Wörterbuch), ist die Leitidee der frühaufklärerischen Lexikographen, ein einziges gesamtsprachbezogenes Wörterbuch zu erstellen (vgl. HaßZumkehr 2001, 92).199 Die Identifizierung des Hochdeutschen mit der Sprache der Region Meißen-Obersachsen, wie sie von Johann Christoph Gottsched und seinen Anhängern und später auch von Johann Christoph Adelung vertreten wird, hat in der Lexikographie zwangsläufig eine Dominanz ostmitteldeutscher Wortschatzelemente und eine Ausschließung nicht-ostmitteldeutscher Varianten bzw. deren Kennzeichnung als von der Leitvarietät abweichende Varianten zur Folge. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts vollzieht sich vor dem Hintergrund der Konsolidierung der hochdeutschen Schriftsprache meißnisch-obersächsischer Grundlage, die mit einer Abwertung des Niederdeutschen und Oberdeutschen einhergeht, allerdings eine Neubewertung regionaler Varietäten.200 Werden die räumlich begrenzten Varietäten zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch vorrangig als Hindernis bei der Vereinheitlichung der deutschen Sprache betrachtet, werden sie von den Verfassern der ersten mundartbezogenen Wörterbücher und Wortsammlungen als eine Bereicherung des hochdeutschen Gesamtwortschatzes eingestuft. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts entstehen deshalb rund 140 Mundartwörterbücher (vgl. Haas 1994, XXV) und

198 Die Lexikographen der Aufklärung lösen sich von den im 17. Jahrhundert dominierenden Fragen nach dem Status des Deutschen als Hauptsprache sowie der Anzahl der Stammwörter im Deutschen (vgl. Haß-Zumkehr 2001, 66-88), die den kulturpatriotischen Rahmen für die Lexikographie des 17. Jahrhunderts darstellen. 199 Dies erfordert, wie in der heutigen lexikographischen Praxis üblich, eine Kennzeichnung der Varianten mit stilistischen Angaben (,hoch‘ vs. ,niedrig‘, ,mundartlich‘ vs. ,allgemein gebräuchlich‘ usw.). 200 Das elfseitige „Glossarium Bavaricum“ von J. L. Prasch, das er als Anhang zu seiner „Dissertation altera de origine Germanica linguae Latinae“ herausgibt, markiert den Beginn dieses planmäßigen Sammelns der Mundartwörter (vgl. Prasch 1689). Im Jahre 1705 folgt das „Silesa loquens“ von Christian Meisner (vgl. Meisnerus 1705). Dieses kann als das erste echte Idiotikon bezeichnet werden, da seine Wörtersammlung bewusst nur den von der Gemeinsprache abweichenden Bereich des Wortschatzes erfasst.

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weniger umfangreiche Idiotismensammlungen, die in Zeitschriften publiziert werden.201 Die frühe Mundartforschung setzt zunächst in Norddeutschland ein, so verfasst Richey ein Idiotikon für den Raum Hamburg (IH 1755), Strodtmann legt eines für den Raum Osnabrück vor (IO 1756), Tilling erarbeitet eines im Auftrag der Deutschen Gesellschaft in Bremen für das Gebiet Bremen und Niedersachsen (BNW 1767ff.), Bock legt eines für Preußen (IP 1759) und Dähnert eines für die Region Pommern und Rügen (PDW 1781) vor. Im oberdeutschen Sprachraum erscheinen die ersten Mundartwörterbücher einige Jahrzehnte später; im Korpus vertreten ist das Idiotikon des bayerischen Aufklärers Andreas Zaupser (BOI 1789). Obwohl die Vorreden im Hinblick auf ihre Komplexität und ihren Umfang sehr unterschiedlich ausfallen, werden nachfolgend die zentralen Argumentationsmuster der mundartbezogenen Wörterbücher dargestellt. Dabei stehen zwei Fragen im Vordergrund: 1. Wie wird das Verhältnis von Dialekt und Hochdeutsch in den zeitgenössischen Mundartwörterbüchern konzipiert? 2. Welche Behauptungen bzw. Zuschreibungen dienen zur Aufwertung der Dialekte? Eine Analyse der Vorreden der Mundartwörterbücher zeigt, dass die verwendete Terminologie keineswegs einheitlich ist. Unter ‚Idiotismen‘ sind im allgemeinen Sinne Wortschatzelemente zu verstehen, die einer bestimmten Mundart angehören und die in der Regel nicht in der Schriftsprache verwendet werden.202 Allerdings werden unter den Terminus auch mundartliche Ausdrücke der Schriftsprache subsumiert, die regional begrenzt sind, die aber als schriftsprachliche Provinzialismen eigentlich nicht mündlich realisierten Dialekten zugeordnet werden können. Teilweise synonym gebraucht werden die Bezeichnungen „Volkswort“ (Reinwald 201 Während Mundartwörterbücher den gesamten Wortbestand einer Mundart behandeln, beziehen sich Idiotiken, die oftmals als Idiotismensammlungen in den zeitgenössischen Gelehrtenzeitschriften erscheinen, ausschließlich auf den landschaftlich speziellen Teil des Wortschatzes (vgl. Haß-Zumkehr 2001, 97). Allerdings stehen die Verfasser der untersuchten Wortsammlungen vor dem praktischen Problem, dass aufgrund der fehlenden übergreifenden Dialektkenntnisse oftmals nicht eindeutig zu entscheiden ist, ob ein bestimmter Ausdruck in anderen Dialekten vorhanden ist oder nur einer einzigen Region zugehörig ist. 202 Nach Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald bezeichnen „Idiotismen“ im „[...] allgemeinen Verstande solche Volkswörter, die durch den ganzen Germanischen Sprachenstamm ausgebreitet sind, und gewisse Eigenschaften, physische und moralische Nüancirungen [...], die der Schriftsprache entweder ganz, oder in der gehörigen Stärke, abgehen; z. B. der Ausdruck eines launichten, satyrischen, gehäßigen, verächtlichen, oder sonst leidenschaftlichen Blicks auf eine Sache; die Bezeichnung eines kleinen Fehlers, einer sonderbaren Bewegung, Farbe, Empfindung; eines ganzen Geschmacks, Schalles, kurz (nach Fulda’s Vorb.[ericht] zum Wurzel-Lexik.[on]) ‚alle Wörter, die die gewöhnliche gute Schriftsprache nicht hat‘ (oder aus Eigensinn verschmäht).“ (Reinwald HI 1793, IIIf.)

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HI 1793, VII) und „Provinzialwort“ (Fulda VIS 1788, IV). Neben der terminologischen Unschärfe erweist sich die nicht klar vollzogene Trennung zwischen Phraseologismus und einzelwortbezogenem Idiotismus als Problem. Darüber hinaus muss das Kriterium der regionalen Begrenztheit eines Idiotismus in Anbetracht des dialektologischen Erkenntnisstandes der Zeit relativiert werden, da es den frühen Mundartforschern in der Regel nicht möglich ist, überregional kontrastiv zu verfahren.203 Die Mundartwörterbücher und Idiotismensammlungen des 18. Jahrhunderts verfolgen neben dem übergeordneten Ziel der Sammlung und Dokumentation des mundartlichen Wortschatzes im Allgemeinen durchaus unterschiedliche Zielsetzungen: − Abbau von Verständnisbarrieren für Sprecher anderer regionaler Varietäten oder anderer Sprachen, beispielsweise will Dähnert (PDW 1781) den Kaufleuten und den in Pommern lebenden Schweden eine Verständigung mit den einheimischen Dialektsprechern ermöglichen. − Verständnis von Texten älterer Sprachstufen, vor allem Urkunden und anderer juridischer Texte: Tilling (BNW 1767) strebt beispielsweise an, veraltete Wörter und ältere juristische Fachtermini aus gedruckten und ungedruckten Urkunden und Chroniken aufzuführen. − Darstellen der Sitten und Gebräuche eines Landes. Dieses ethnographische Ziel wird oftmals durch die Anführung von Sprichwörtern und Redensarten sowie durch Bemerkungen zu kulturellen Phänomenen eingelöst (vgl. Bock IP 1759). Hochdeutsch wird nicht in allen untersuchten Mundartwörterbüchern explizit definiert. Eine Akzeptanz des meißnisch-obersächsischen Vorbildanspruchs bringen Richey (IH 1755, IV)204, Tilling (BNW 1767, 5), Berndt (VSI 1787, XXIV) und Fulda (VIS 1788, VIII) zum Ausdruck, konsensual ist das Hochdeutsche darüber hinaus definiert als Antonym zum Niederdeutschen als Sprache Norddeutschlands (vgl. die nachstehende Tabelle: „Hochdeutsch in Mundartwörterbüchern“). Die grundsätzliche Akzeptanz des meißnisch-obersächsischen Vorbilds ist aber nicht gleichzusetzen mit der Anerkennung eines Normierungsanspruchs der Vertreter des Meißnisch-Obersächsischen, sondern schließt eine kritische Haltung der frühen Mundartlexikographen mit ein.

203 Eine Ausnahme stellen die Arbeiten von Fulda (VIS 1788) dar. 204 In einer Fußnote (ebd., VIf., Fußnote f) lehnt Richey die allzu harsche Kritik Popowitschs an den Leipziger Vertretern des meißnisch-obersächsischen Führungsanspruchs ab, ohne Gottsched namentlich zu erwähnen. Popowitschs Forderung nach einer Sammlung und Tradierung der regionalen Sprachen wird unterstützt.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Das Verhältnis zwischen Hochdeutsch und Dialekt wird in den mundartbezogenen Wortsammlungen und Wörterbüchern neu definiert. Dialekte gelten nicht länger als eine Barriere bei der Verwirklichung einer einheitlichen Sprache. Michael Richey (1678-1761), der Verfasser des ersten niederdeutschen Mundartwörterbuchs, des „Idioticon Hamburgense“ (IH 1755), begründet in seiner Vorrede das Programm der Sammlung und Dokumentation der Dialekte sehr ausführlich. Dialekte sind nach Richey ein quasi natürliches Phänomen, wobei ihre Existenz klimatheoretisch begründet wird (ebd., IIf.; vgl. zum Klima-Topos die Ausführungen in Kapitel 5.3.4 zum sprachideologischen Diskursbereich). Ebenso gehören Sprachwandelphänomene wie Neologismen, Entlehnungen oder Veränderungen der Aussprache und der Orthographie zu einer natürlichen Entwicklung der Sprache (ebd., II). Damit unterscheidet sich Richeys Konzeption einer Leitvarietät von solchen, die einen einmalig erreichten Sprachzustand konservieren wollen, sei dies in Form der meißnischobersächsischen Schriftsprache und Sprache der sozialen Oberschichten Obersachsens durch Gottsched oder in Form der oberdeutschen Kanzleisprache durch die Initiatoren der frühaufklärerischen Zeitschrift „Parnassus Boicus“. Inwiefern sich die Verfasser der mundartbezogenen Wörterbücher und Wortsammlungen im Sprachnormierungsdiskurs verorten und welche Hochdeutsch-Konzeption sie vertreten, zeigt folgende Übersicht: Übersicht: Konzepte des Hochdeutschen in Mundartwörterbüchern: Quelle

Positionierung im Sprachnormierungsdiskurs

Hochdeutsch-Konzeption

Richey IH 1755

– explizite Anerkennung des meißnisch-obersächsischen Sprachvorbilds, Aufwertung des Niederdeutschen.

– Hochdeutsch ist a) sprachgeographisch bestimmt als das Meißnisch-Obersächsische, b) stilistisch eine ausgebildete und verfeinerte Sprache, die c) in unterschiedlichen Textsorten realisiert wird (Vorbild der Kanzleisprache und wissenschaftlichen Fachprosa) (ebd., IV).

Strodt− Strodtmann positioniert sich implizit − Hochdeutsch wird implizit mann IO im Sprachnormierungsdiskurs, indem bestimmt als Antonym zu 1756 er die Aufwertung des Niederdeut„Plattdeutsch“ (ebd., XI, schen durch Raupach und Richey XIII). zum Vorbild erhebt (ebd., VIII).

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

227

Quelle

Positionierung im Sprachnormierungsdiskurs

Hochdeutsch-Konzeption

Bock IP 1759

− Ablehnung eines vorab festgelegten Primats einer Sprachregion (ebd., III),

− Hochdeutsch als Antonym zu „Plattdeutsch“ (ebd., V),

− Entscheidung über Vorbildlichkeit einer regionalen Varietät könne nur auf der Grundlage eines gesamtdeutschen Wörterbuchs erfolgen (ebd., III).

− Hochdeutsch sei das akzeptierte Sprachvorbild in Preußen und wird bestimmt als gesprochene Sprache der sozialen Oberschichten (ebd., V).

Tilling BNW 1767

− Anerkennung des meißnischobersächsischen Sprachvorbilds, gleichzeitig Kritik an „unnöthige[n] Künsteleien“ (ebd., 5f.) der hochdeutschen und oberdeutschen Orthographie; fordert beispielsweise einen Verzicht auf das Dehnungs-h (ebd., 7).

Dähnert PDW 1781

− keine explizite Positionierung im − Hochdeutsch ist implizit Sprachnormierungsdiskurs, aber imbestimmt als Antonym zu plizit Bemühen um die niederdeut„Plattdeutsch“ (ebd., IV). schen Dialekte der Region Pommern und Rügen.

Wiarda AFW 1786

− keine explizite Verortung im Sprachnormierungsdiskurs. − Definition des Hochdeutschen legt eine Akzeptanz des mitteldeutschen Vorbildanspruchs nahe.

− Hochdeutsch wird sprachgeographisch mit dem Obersächsischen identifiziert (ebd., 5).

− Hochdeutsch wird sprachgeographisch bestimmt als die Sprache im Süden Deutschlands (ebd., XX), die aus dem Alemannischen und Fränkischen hervorgegangen sei.

− Das Meißnisch-Obersächsische sei nur zufällig zur Leitvarietät geworden − Medial bzw. stilistisch sei das Hochdeutsche eine „ausgebil(ebd., XX). dete Schriftsprache“ (ebd.). Berndt − Ablehnung eines Vorbildanspruchs VSI 1787 einer einzelnen Sprachregion (ebd., VII), − Kritik an den Rezensenten der Allgemeinen Deutschen Bibliothek (ebd., IX), die die Autorität in Sprachnormfragen beanspruchen. − Berndt fordert Toleranz gegenüber landschaftlichen Varianten (ebd.).

− Hochdeutsch ist a) stilistisch bestimmt als die Schriftsprache, die b) sprachgeographisch nahezu mit dem (gesprochenen) Obersächsischen identisch sei (ebd., XXIV). − Hochdeutsch wird sprachgeographisch abgegrenzt vom Oberdeutschen und anderen Dialekten (ebd., V).

228 Quelle

3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Positionierung im Sprachnormierungsdiskurs

Hochdeutsch-Konzeption

Fulda − explizite Positionierung im Sprach− Hochdeutsch wird stilistisch VIS 1788 normierungsdiskurs (vgl. ebd., III), definiert als die allgemein verscharfe Ablehnung der Gleichsetzung ständliche Schriftsprache sodes Hochdeutschen mit dem Oberwie sprachsoziologisch besächsischen. stimmt als Sprache der Bildungseliten und wird − Fulda kritisiert, dass einige (namentgleichzeitig zur Leitvarietät für lich nicht genannte) Sprachkundler die Gesamtbevölkerung ernur Wörter in die Schriftsprache aufklärt. nehmen wollen, die dem Obersächsischen entsprechen (ebd.). Dies führe zu einer unnötigen Verarmung der Sprache und zu einer ebenso kritikwürdigen Bereicherung des Deutschen durch Fremdsprachen, durch das Oberdeutsche und das Niederdeutsche (vgl. ebd.).

− Fulda spricht sich gegen die Identifizierung des Hochdeutschen mit dem Obersächsischen aus.

− Er grenzt sich scharf von denjenigen ab, die einen zu rigorosen Ausschluss von Wörtern aus dem hochdeutschen Wortschatz betreiben (Synonyme, Provinzialwörter, mehrdeutige Wörter usw.) (vgl. ebd., IV). Zaupser BOI 1789

− Aufwertung des Bairischen

− Bairisch wird bestimmt als die Sprache in Bayern und der − Zaupser merkt an, dass in den Oberpfalz im Gegensatz zu Grammatiken nur die Leitvarietät, Hochdeutsch als Schriftspranicht aber die Dialekte berücksichtigt che in ganz Deutschland worden seien. (vgl. ebd., Xff.).

Reinwald − Anbindung an Leibniz, Richey, FulHI 1793 da, Adelung als Vorbilder, − Bereicherung der Schriftsprache (vgl. ebd., VI). Schütze HI 1800

− keine explizite Verortung im Sprachnormierungsdiskurs, − rechtfertigt Aufnahme von Varianten, die von sozial niedrigen Schichten gebraucht werden.

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

229

Die nachstehende Darstellung fasst die wichtigsten Elemente der Argumentationen der untersuchten Programmatiken zusammen: a. Dialekte als Repräsentanten älterer Sprachstufen Ein wesentlicher Grund für die Aufwertung der Dialekte ist ihr im Vergleich zum Hochdeutschen höheres Alter. Während das Hochdeutsche im Bewusstsein der Zeitgenossen eine frühestens mit der Reformation und den Schriften Martin Luthers entstandene Sprachform ist, wird die Entstehung der Dialekte weit in die Vergangenheit zurück verlagert. Das hohe Alter der Dialekte gilt zunächst als ein Wert an sich. Gleichzeitig ist das Alter der Dialekte aber ein Indikator für ihren Reichtum an Stammwörtern (vgl. Richey IH 1755, IX). Diesen wird im Gegensatz zur Hochsprache ein hohes Maß an „Ursprünglichkeit“ zugewiesen. Die Stammwörter gelten wiederum seit der kultur- und sprachpatriotischen Debatte des 17. Jahrhunderts als ein Ausdruck der Reinheit des Deutschen.205 Die Sprachkundler konstatieren damit eine „konservierende“ Funktion der Dialekte, in denen die in der Leitvarietät als veraltet oder unangemessen geltenden Ausdrücke bewahrt bleiben. Eine Vielzahl der Verfasser bemüht sich deshalb um eine exakte Herleitung der Dialekte aus den historischen Varietäten des Deutschen und ergänzt die Idiotismensammlungen um etymologische Angaben. Zaupser differenziert zum Beispiel zwei regionale Varietäten des Bairischen und reflektiert damit die Entstehung einer Umgangssprache, so ist von einer städtischen Umgangssprache in Bayern und der Oberpfalz auf der einen Seite und einer ländlichen Regionalsprache auf der anderen Seite die Rede (vgl. Zaupser BOI 1789, XIIS). In der Stadtsprache sei nach Zaupser im Gegensatz zu den ländlichen Dialekten eine höhere Anzahl von Fremdwörtern zu beobachten, außerdem gleiche sich die Aussprache an das Hochdeutsche an. Dadurch werde die Stadtsprache „sanfter“ und „gefälliger“ (ebd.). Die regionalen Sprachen der ländlichen Bevölkerung werden somit zum Inbegriff einer „reineren“ und „ursprünglicheren“ Sprachform im Gegensatz zu den Stadtsprachen, die den Moden unterworfen seien. Zaupser versucht, die im protestantischen Norden weit 205 Schottelius etwa geht davon aus, dass Japhet, ein Nachkomme Noahs, nach der babylonischen Sprachverwirrung das Deutsche nach Europa gebracht hat. Die ersten Wörter dieser Ursprache sind nach Meinung der barocken Sprachkundler ebenso wie nach Ansicht der aufklärerischen Lexikographen und Grammatiker in der Regel einsilbig und weisen zeichentheoretisch gesprochen eine 1:1-Relation zwischen Zeichen und Wirklichkeit auf. Erst durch die Verfahren der Wortbildung entwickelt sich aufgrund der Stammwörter die Komplexität einer Einzelsprache (vgl. Schottelius AA 1663, 51).

230

3. Der sprachgeographische Diskursbereich

verbreitete These, das Bairische wäre – ebenso wie seine Sprecher bzw. die katholischen Gebiete – ein Inbegriff für kulturelle Rückständigkeit, mit dem Hinweis zu entkräften, dass das Festhalten an der Sprache, den Sitten und Gebräuchen ein besonderer Vorzug der Sprecher des Bairischen sei (ebd., XVII). Indem die frühen Mundartlexikographen wie Richey (IH 1755) und Wiarda (AFW 1786, III, XIII, XXVIII) das Niederdeutsche als besonders alte Sprache würdigen, hebeln sie das im Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts durch die Sprachkundler des ostmitteldeutschen Raumes häufig gefällte Werturteil aus, dass sich das Niederdeutsche auf einem niedrigeren Entwicklungsniveau als das Hochdeutsche befinde. Wiarda stellt sogar die These auf, dass das Friesische als niederdeutscher Dialekt der älteste Dialekt Deutschlands sei: Unter den friesischen Altertümern nimt die nunmehr völlig ausgestorbene, vor wenigen Jahrhunderten noch blühende friesische Sprache den ersten Platz ein. Der Friese, der so feste den Sitten und Gebräuchen seiner Vorfahren anhieng, hat auch die alte Volks-Sprache des nördlichen Deutschlandes bei sich aufgehoben und sie immerhin auf Kindern und Enkeln, bis zur Trennung seiner Republik fortgepflanzet. (Wiarda AFW 1786, XIII)

Aufgrund der dargelegten Aufwertung der Dialekte beurteilen die Verfasser der mundartbezogenen Wörterbücher in allen Sprachregionen das Verschwinden der Dialekte als einen unwiederbringlichen Verlust für die Kommunikationsgemeinschaft. Ihre Sammlung und Dokumentation ist deshalb ein dringliches Anliegen der frühen Mundartforscher. So schreibt Reinwald: Doch nicht nur nützlich und nöthig sind diese Sammlungen, sondern sie leiden auch keinen Aufschub. Jedes Menschenalter verliert eine Anzahl alter Volkswörter, die durch Kultur oder Vermischung, oder Verderbung der Sprache verdrängt werden, sonderlich wo Residenzen oder andere Sammelplätze von Menschen aus höheren Ständen sind. (Reinwald HI 1793, VII)

Richey fordert eine Sammlung und Dokumentation des Niederdeutschen, dass durch die allmähliche Durchsetzung des Hochdeutschen auch in den niedrigen sozialen Schichten verdrängt werde (vgl. Richey IH 1755, XLIV). b. Dialekte als Ausdruck eines ‚Nationalgeists‘ Die Dialekte werden schon in den Schriften der Züricher Sprachforscher Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger als Ausdruck eines nationalspezifischen Charakters gewertet, dies ist Gegenstand des Kapitels 5 zum sprachideologischen Diskursbereich. Diese Argumentation wird auch zur Legitimation der mundartbezogenen Wörterbücher und Wort-

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

231

sammlungen herangezogen. Die Sprecher der einzelnen Sprachregionen gelten in der Regel als ein Volk oder eine Nation. Eine Auseinandersetzung mit den Dialekten als Ausdruck des Nationalcharakters findet sich bei Johann G. Berndt, der auf Nicolais Reisebeschreibungen Bezug nimmt (Berndt VSI 1787, XVf.), sowie in der Vorrede zum Mundartwörterbuch von Andreas Zaupser (BOI 1789, IV). Berndt kritisiert Nicolais Herleitung des Nationalcharakters aus der Sprache, da er die daraus abgeleitete These, dass der Obersachse, da er unter allen deutschen Völkern am besten spreche, der „sanftmütigste“ und „aufrichtigste“ (ebd., XVf.) Deutsche sei, ablehnt. Er fordert bei der Bewertung des Nationalcharakters, sittlich-moralische Größen wie „Gesinnung“ und „Handlung“ zu berücksichtigen (vgl. ebd., XVI).206 Zaupser schließt sich der These Nicolais an, dass man von der Sprache eines Volkes auf seinen Charakter schließen könne (Zaupser BOI 1789, IV). Deshalb ist er zur Aufwertung des Bairischen zunächst gezwungen, dessen Entwicklungsniveau zu belegen. Er versucht dies, indem er erstens die „Rangliste“ der Dialekte in Frage stellt. Das Bairische sei zwar durchaus ein ‚rauer Dialekt‘, allerdings müsse man an erster Stelle das „Schweizerische“ und an zweiter das „Tirolische“ nennen (vgl. ebd., IX).207 Zweitens macht er deutlich, dass das Attribut ‚rau‘ nicht gleichzusetzen sei mit einem niedrigen Entwicklungsniveau eines Dialekts. Drittens wird das Bairische als kernig und ausdrucksstark charakterisiert und seine Geringschätzung deshalb zurückgewiesen (ebd., XIII). Da die Dialekte als besonders originärer Ausdruck der Kommunikationsgemeinschaft bewertet werden, verfolgen viele Mundartwörterbücher ein ethnographisches Ziel: Sie sollen die Sitten und Gebräuche der jeweiligen Region abbilden. Schütze etwa will mit seinem Idiotikon eine hollsteinische „Volks-Sitten-Geschichte“ erstellen (ebd., 50).208 Seine angefügte Probe zeigt, dass die jeweiligen Provinzialismen um ausführliche Be206 Der Berliner Publizist Friedrich Nicolai hat in seinem in zwölf Bänden erschienenen Reisebericht „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz“ (Nicolai 1783) den Charakter einer Nation in Relation zu ihrer Sprache beschrieben. 207 Vgl. zur Abwertung des Oberdeutschen als ,raue‘ Sprache den protestantischen Gebildeten Litzel (UC 1730). 208 „Ich hätte hier die beste Gelegenheit, dem Leser dieser Ankündigung darzuthun, daß die Kenntnis alter, mehrentheils nur noch dem gemeinen Manne gangbarer Landessprachen zur Bereicherung der Sprache überhaupt viel nüzze, daß man durch die Kunde derselben manchen harten Knoten in der Geschichte wie in alten auf die Enkel fortgesetzten Prozessen zu lösen [...] im Stande seyn dürfte, ja daß man die provinziellen und örtlichen bürgerlichen Lebensweisen, Sitten und Gebräuche besser aus meinem Idiotikon als aus dem Umgange mit lebendigen Idiotizis oder aus Büchern, die blos erzählen ohne zu erklären, erlernen könne und möge.“ (ebd., 52)

232

3. Der sprachgeographische Diskursbereich

schreibungen der soziokulturellen Gegebenheiten und historische Kommentare ergänzt werden, um das gesetzte Ziel zu erreichen.209 c. Bereicherung des Wortschatzes durch die Dialekte Die in der normativ ausgerichteten Konzeption des Hochdeutschen Gottscheds und später auch Adelungs begründete Ausschließung nichtostmitteldeutscher Varianten in der Lexik wird besonders von Berndt, Fulda und Reinwald beklagt. Die Sprachkundler befürchten eine Verarmung des Gesamtwortschatzes des Hochdeutschen und einen dadurch bedingten Verlust der lexikalischen Differenzierungsmöglichkeiten. Die Provinzialismen werden als Möglichkeit beurteilt, bestehende Wortschatzlücken zu schließen (vgl. Reinwald HI 1793, VII). Sehr deutlich wird die Kritik an der „Verarmung“ der Schriftsprache bei Friedrich Karl Fulda (VIS 1788), der mit seinem „Versuch einer allgemeinen teutschen Idiotikensammlung“ von 1788 neben Popowitsch den einzigen interregionalkontrastiven Vergleich von Wortvarianten anstrebt. Fulda wendet sich entschieden gegen die Identifizierung des Dialektes mit der „Pöbelsprache“: „Provinzial zu seyn, hört als ein Vorwurf endlich auf, und erhält sein Recht wieder, nicht mit dem Pöbelhaften für einerlei zu gelten.“ (ebd., IV) Fulda kritisiert außerdem, dass einige (von ihm nicht namentlich genannte) Sprachkundler nur Wörter in die Schriftsprache aufnehmen wollen, die dem Obersächsischen entsprechen (VIS 1788, IIIf.) und grenzt sich damit deutlich von den Vertretern des meißnisch-obersächsischen Sprachvorbilds ab. Eine zu restriktive Normierungspraxis führe zu einer unnötigen Verarmung der Sprache und zu einer ebenso kritikwürdigen Bereicherung des Deutschen durch Fremdsprachen, aber auch zu einer voreiligen Bereicherung durch das Oberdeutsche und Niederdeutsche (ebd.). Er grenzt sich scharf von den „Hütern der keuschesten Reinheitslehre der hochdeutschen Sprache“ (ebd., IV) ab. Mit dieser überspitzten Formulierung sind diejenigen gemeint, die einen zu rigorosen Ausschluss von Wörtern aus dem hochdeutschen Wortschatz betreiben, wovon neben den landschaftlichen Varianten auch Synonyme und mehrdeutige Wörter betroffen seien (ebd.). Die frühen Mundartforscher lehnen in der Regel die Vorstellung ab, dass die Verwendung von Dialektausdrücken per se ein Merkmal niedriger sozialer Schichten ist und in der Schriftsprache grundsätzlich abgelehnt 209 So heißt es etwa: „Pulterabend heist bei den Holsteinischen Land- und Stadtleuten, wann und wo am Abend vor der Hochzeit die Nachbarinnen in der Brautkammer die Mitgift besehen, das auf Tische gelegte Haus- und Leinengeräth u. a. Sachen mit Geräusch und Gepolter um und durch einander werfen, Scherz und Spas damit treiben. Daher Polter- ursprünglich Pulterabend, von pultern, poltern.“ (ebd., 55)

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

233

werden sollte. So verweist Richey auf den Fehlschluss, das Niederdeutsche mit einer sozial und stilistisch niedrigen Sprache gleichzusetzen: „Allein ich besorge, daß man in dem Worte platt die Begriffe des wörtlichen und sittlichen durch einander wirfft und mit der eigentlichen Sprache eine grobe Art zu dencken und sich auszudrücken vermenget.“ (ebd., XXXI) Plattdeutsch soll im rein sprachgeographischen Sinne verstanden werden als Sprache der flacheren Gebiete Deutschlands. Dass am Ende des 18. Jahrhunderts die Forderung nach Bereicherung des Hochdeutschen durch die Dialekte einhergeht mit der Forderung nach Öffnung der Leitvarietät gegenüber den sozialen Varietäten, zeigt sich in der Ankündigung eines holsteinischen Idiotikons durch Schütze im „Deutschen Magazin“. Er will laut Selbstbekundung einen Großteil seiner Provinzialismen von dem „gemeinen und gemeinsten Manne“ (Schütze HI 1800, 50) nehmen. Er nimmt somit explizit alle Register des Niederdeutschen in seine Wortsammlung mit auf, ohne sich für die Ausdrücke niederer sozialer Schichten zu entschuldigen, wie dies in den bisherigen Idiotika oftmals praktiziert wird. In sein Wörterbuch soll die gesamte stilistische Breite des Wortschatzes eingehen, einen Verzicht auf Grobianismen bzw. derbe Redensarten lehnt er ab: „Je natürlicher, je reichhaltiger, und je reicher je besser!“ (ebd., 52)210 Die Verfasser der mundartspezifischen Wörterbücher und Wortsammlungen verfolgen das übergeordnete Ziel, durch ihr Werk einen Beitrag zur Erstellung eines gesamtdeutschen Wörterbuchs zu leisten, in dem zunächst einmal alle regionalen Sprachen den gleichen Status besitzen. Eine Selektion von landschaftlichen Varianten solle erst vor dem Hintergrund eines solchen gesamtsprachbezogenen Wörterbuchs erfolgen. So heißt es bei Richey: „[...] eine richtige Urtheils=Kunst würde unterscheiden, was man als gut Teutsch in die beste Mundart aufzunehmen, und was man, als gar zu eigen, oder verdorben, in seine Heimat wieder zurück zu weisen hätte.“ (IH 1755, V) Damit wird der sprachgeographischen Gleichsetzung des Hochdeutschen mit dem MeißnischObersächsischen eine Absage erteilt, das Hochdeutsche solle aus allen regionalen Sprachen zusammenfließen. Kennzeichnend für diese Vorstellung ist die Metapher des Sprachbaumes: „Die deutsche Sprache ist [...] wie ein ausgebreiteter Baum anzusehen, der einen weiten Schatten um sich wirft, und dessen Wurzeln aus jeder Provinz Nahrung ziehen.“ (Berndt VSI 1787, XXIV)

210 Vgl. folgende Be- bzw. Umschreibung: „Rambosten, gemeine Benennung der männlichen Liebespflege, von rammen: pfählen und Bost [= Brust, Busen, Anm. KF] (ebd., 58).

234

3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Die Normierungspraxis der aufklärerischen Lexikographen, die mit den Grammatikern das Ziel der Konstituierung einer allgemein verständlichen, überregionalen Leitvarietät teilen, wird im Programm der Mundartwörterbücher hinterfragt. Die Forderung nach Selektion nichtostmitteldeutscher Varianten weicht der Forderung, das Hochdeutsche durch die stammwortreichen Dialekte, die einen ursprünglicheren, älteren und reineren Sprachzustand verkörpern, zu bereichern. Das Programm der Mundartwörterbücher ist dem argumentativen Ziel verpflichtet, die Dialekte vor ihrem behaupteten drohenden Verschwinden zu bewahren. Anstatt die Dialekte als Verfallserscheinungen einer vormals einheitlichen Sprache oder als Pöbelsprache bzw. ‚Stigmasoziolekt‘ einseitig negativ zu beurteilen, werden sie nunmehr als Möglichkeit der Bereicherung des Hochdeutschen bewertet. Die neue Bewertung der Dialekte ist erst möglich geworden vor dem Hintergrund einer bereits weit fortgeschrittenen Durchsetzung einer Leitvarietät, die wesentlich auf dem Ostmitteldeutschen basiert und konkurrierende regionale Sprachformen an Sprachprestige weit übertrifft. Als Schriftsprache und als gesprochene Sprache hat sich diese Leitvarietät im öffentlichen Kommunikationsbereich in Mittel- und Norddeutschland bereits weitgehend etabliert, während in der privaten Kommunikation Dialekte vorherrschen. In Süddeutschland und Österreich setzt eine ähnliche Entwicklung ein, die von den staatlichen Instanzen wesentlich befördert wird. Die Verfasser der mundartbezogenen Wörterbücher positionieren sich mit ihren Arbeiten aber nicht nur im deutschen Sprachnormierungsdiskurs, sondern artikulieren auch ihre Mitarbeit an einem kulturpatriotischen Projekt, das die gesamtdeutsche Sprache im europäischen Sprachenwettkampf aufwerten will. Der von vielen Sprachkundlern empfundene „Entwicklungsrückstand“ gegenüber den anderen europäischen Kulturnationen soll so schnell wie möglich durch eine umfassende Sprachkultivierung aufgeholt werden. Dieses sprachpatriotische Bemühen um die deutsche Sprache wird auch in der sozietären Anbindung der Sprachkundler deutlich. Der Verfasser des „Idioticon Hamburgense“, Michael Richey (16781761), gehört der „Teutsch-übenden Gesellschaft“ in Hamburg an und ist seit 1724 Redakteur des Hamburger „Patrioten“. Tilling schließlich ist Mitglied der „Deutschen Gesellschaft“ in Bremen. Dass die frühe Erforschung der Dialekte zunächst in Norddeutschland einsetzt, ist der dort seit dem 16. Jahrhundert erfolgten und im 18. Jahrhundert vollendeten Verdrängung der niederdeutschen Schriftsprache geschuldet. In den katholischen Gebieten besteht bis zu den staatlichen Reformen des Bildungswesens ein absolutes Primat des Lateins als

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

235

Bildungs- und Wissenschaftssprache, während die regionalen Sprachen bzw. Dialekte im nicht-offiziellen Bereich vorherrschen. Erst mit der Ablösung vom stilistischen Vorbild der Kanzleisprache und dem muttersprachlichen Unterricht in den Schulen wird es notwendig, über den Status der Dialekte im gesteigerten Maße zu reflektieren. Die Aufwertung der Dialekte und ihre ideologische Instrumentalisierung als Ausdrucksformen der nationalen Identität wird in der Romantik fortgesetzt (vgl. Reichmann 2000, 455ff.). 3.4.7 Die Infragestellung des obersächsischen Sprachvorbilds durch Publizisten und Literaten im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Nach dem Literaturstreit zwischen Gottsched und den Schweizern Bodmer und Breitinger zur Jahrhundertmitte ereignet sich am Ende des 18. Jahrhunderts eine letzte heftige Diskussion um das Hochdeutsche. Auf der einen Seite verteidigt Johann Christoph Adelung in seinen Schriften seine Identifizierung des Hochdeutschen mit dem Obersächsischen, auf der anderen Seite wird diese Gleichsetzung von einer Vielzahl von Literaten, Publizisten und anderen Sprachkundlern in Frage gestellt.211 Allerdings sind die sozial- und kulturgeschichtlichen Bedingungen Ende des 18. Jahrhunderts völlig andere. Vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Alphabetisierung ist ein breiter und vielfältiger literarischer Markt entstanden, mit einer stetig wachsenden Zahl an literarischen und wissenschaftlichen Zeitungen und Zeitschriften. Adelungs „spätes Beharren“ (vgl. von Polenz 1994, 143) auf dem meißnisch-obersächsischen Sprachvorbild wird somit in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert. Die verschärfte Polemik, wie sie beispielsweise aus den Schriften Rüdigers und Voß hervorgeht, deutet an, dass es in dem Disput nicht allein um die Leitvarietät geht, sondern vielmehr um die Frage, ob sich die Literaten der Sprachnormierung durch Grammatiker und Lexikographen unterwerfen müssen oder ob sie selbst einen Anspruch auf Normierungsautorität besitzen. Adelungs Gegner zweifeln trotz ihrer zum Teil heftigen Kritik nicht an seinen sprachwissenschaftlichen Leistungen, etwa in Form seines Wörterbuchs (vgl. beispielsweise Wieland WH1 1782, 146). Sie formulieren aber vor dem Hintergrund ihrer Autor- und Literaturkonzepte ein ganz 211 Zu verweisen ist neben den behandelten Autoren u. a. auf den bekannten spöttischen Vers Schillers und Goethes in den „Xenien“. Gleichwohl haben beide bekanntermaßen auf „den Adelung“ als lexikographisches Nachschlagewerk zurückgegriffen.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

anderes Verständnis von Hochdeutsch. Die zentralen Bausteine ihrer Argumentation werden in der Darstellung zusammengeführt. Berücksichtigt werden folgende Beiträge: − Zwei Artikel eines anonymen Verfassers, die im „Deutschen Museum“ publiziert werden (Anonymus DM/I 1782, Anonymus DM/II 1783). − Ein in der „Berlinischen Monatsschrift“ veröffentlichter Aufsatz, der sich vor allem mit dem Problem der Partizipialkonstruktionen in der Sprachlehre Adelungs auseinander setzt (Anonymus ADS 1783). In der Fortsetzung seiner Abhandlung (Anonymus ADS 1783, 580-595) bespricht der Autor die Konzeption des Hochdeutschen bei Adelung und stellt sein eigenes Konzept einer Leitvarietät vor (Anonymus ADS 1783, 588ff.). − Ein Artikel des Literaturhistorikers und Publizisten Johann Erich Biester mit dem Titel „Ist Kursachsen das Tribunal der Sprache und Literatur für die übrigen Provinzen Deutschlands“, der ebenfalls in der „Berlinischen Monatsschrift“ erscheint (Biester KT 1783), die Biester und Friedrich Gedike gemeinsam herausgeben. − Ein Aufsatz von Joachim Heinrich Campe mit dem Titel „Was ist Hochdeutsch […]?“ (Campe WH 1795). Dieser erscheint in einer Sammelpublikation mit dem Titel „Beiträge zur weiteren Ausbildung der deutschen Sprache“ (1795-1797). Diese Schrift ist ein Versuch Campes, mehr Aufmerksamkeit für seine sprachpuristischen Ziele zu gewinnen (von Polenz 1994, 129). An dieser Schrift beteiligen sich u. a. Eschenburg, Kinderling, Rüdiger und Heynatz, die seine sprachpuristischen Bemühungen weitgehend unterstützen. In den drei Jahrgängen werden Schriften bekannter Literaten wie Wieland, Herder, Voß und Goethe „sprachkritisch durchforstet“ (ebd.). Der Erfolg ist allerdings mäßig, die Sprachpuristen ziehen zahlreiche Satiren und Spottverse auf sich (ebd.).212 − Der Hildesheimer Superintendent Hermann Heimart Cludius (17541835) hat in Campes „Beiträgen zur weitern Ausbildung der Deutschen“ (Cludius VS 1795) in sechs Aufsätzen zur Frage der Leitvarietät Stellung genommen. Herangezogen wird ein Beitrag, in dem Cludius einige Thesen aus Adelungs „Umständliche[n] Lehrgebäude“ (Adelung UL/1 und UL/2 1782) kommentiert.213 212 Von Polenz (1994, 126ff.) hat auf die starken volksaufklärerischen Absichten Campes hingewiesen, die über einen sprachpuristischen Ansatz weit hinausgehen. 213 Cludius gehört neben Löwe, Mackensen, Petersen und Winterfeld zu dem engeren Kreis der externen Mitarbeiter an Campes Zeitschrift.

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748



237

Friedrich Gedike diskutiert in den „Beiträgen zur Deutschen Sprachkunde“ (Gedike DD 1794), die von dem preußischen Minister Graf Ewald Friedrich von Herzberg herausgegeben werden, die Frage der Leitvarietät. Gedike hat mit Biester die „Berlinische Monatsschrift“ (1783-1791) herausgegeben. − Im „Deutschen Museum“ findet sich ein Aufsatz von C. S. Krause (Krause DM/III 1783), der sich mit den von Adelung im „Magazin für die deutsche Sprache“ aufgestellten Thesen befasst (ebd., 205). − Der erste Beitrag von insgesamt sieben thematisch ähnlichen Beiträgen über die „Herleitung deutscher Wörter aus fremden Sprachen, sonderlich aus der Italiänischen, in Adelung’s Wörterbuch; nebst einigen Anmerkungen über Hrn Campe’s Neues Wörterbuch der deutschen Sprache“ (so der Titel) von Friedrich Nicolai (Nicolai ZH 1808, 193-219), der in der „Neuen Berlinischen Monatsschrift“ erscheint. − Johann Gottfried Richter setzt sich in einer Schrift aus dem Jahre 1784 dezidiert mit Adelungs Sprachlehre auseinander, in dem er jeweils Thesen Adelungs mit seinen Entgegnungen kontrastiert (Richter KA 1784). − Johann Christian Christoph Rüdigers Beitrag in der Zeitschrift „Neuester Zuwachs der Teutschen, Fremden und allgemeinen Sprachkunde“ mit dem Titel: „Über das Verhältnis der Hochdeutschen Sprache und der obersächsischen Mundart“ (Rüdiger VHS 1783, 1-140). − J. C. Schmohl diskutiert die Frage der Leitvarietät im „Deutschen Magazin“ (Schmohl DM 1780). − Der Hofprediger, Inspektor und Konsistorialrat Samuel Johann Ernst Stosch hat sich ebenfalls mit dem Hochdeutschen auseinander gesetzt Stosch KB/1 1778, KB/2 1780, KB/3 1782, NB 1789). − Die in der „Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung“ abgedruckte „Deutsche Sprachkunde“ des Pädagogen, Dichters, Übersetzers und Publizisten Johann Heinrich Voß (Voß DSK 1804). − Zwei von Christoph Martin Wieland in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Der Teutsche Merkur“ veröffentlichte Aufsätze, die unter dem Pseudonym „Philomusos“ und „Musophilus“ erscheinen (WH1 1782). Die Ablehnung der Adelung’schen Leitvarietät durch die Literaten und Publizisten wird in den nachstehenden Überlegungen anhand bestimmter thematischer Schwerpunkte zusammengefasst.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

a. Zur Ablehnung des obersächsischen Sprachvorbilds Das Beharren Adelungs auf dem Vorbildanspruch des Obersächsischen provoziert eine Vielzahl von Stellungnahmen von Literaten, Publizisten und anderen Sprachkundlern. Wenngleich Adelungs lexikographische Praxis weitaus gemäßigter ausfällt, als seine entsprechenden Äußerungen (vgl. Tauchmann 1992), nimmt die Mehrheit seiner Kritiker Stellung zu seiner Identifizierung des Hochdeutschen mit dem Obersächsischen. So etwa der Dichter Johann Heinrich Voß: Sein Hochdeutsch ist die baare obersächsische Mundart, oder (was ihm deutlicher dünkt) Sprechart, die aus dem Gespräch und Gespreche der vornehmen Obersachsen, nach Gottscheds Anleitung (nicht Beyspiele), zwischen 1740 und 1760 in die Schriften, vorzüglich obersächsischer Schriftsteller von zeitgemässigem Gesprächston, überfloß. (Voß DSK 1804, 305)

Wenngleich der Schwerpunkt der Beiträge von Voß in der „Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung“ die „Grammatische[n] Gespräche“ Klopstocks darstellen, beschäftigt sich Voß wiederholt mit dem Wörterbuch Adelungs. Die in den einzelnen Beiträgen hervortretende Kritik ist eindeutig: Die von Gottsched und Adelung verfochtene Sprachnormierung behindere die Entwicklung der Literatur. Voß räumt wie sein großes Vorbild Klopstock Martin Luther eine besonders große Bedeutung für die deutsche Sprachgeschichte ein (ebd., 194), wobei das Zentrum der deutschen Schriftsprache im 17. Jahrhundert in Schlesien gewesen sei. Als Vorbilder dieser Zeit nennt er Opitz und Günther. Im weiteren Verlauf der Sprachgeschichte sei schließlich Meißen zum Zentrum der schriftsprachlichen Produktion geworden; als vorbildliche Autoritäten zählt er die Sprachkundler von Zesen, Gottsched und Adelung auf. Das obersächsische Sprachvorbild wird in der Debatte allerdings strikt zurückgewiesen. Das von Adelung beschworene „Goldene Zeitalter“ der Literatur in Obersachsen in der Zeit von 1740 bis 1760 lehnt er mit dem Hinweis ab, dass es auch in anderen Regionen gute Schriftsteller gegeben habe, beispielsweise in Schlesien (ebd., 192). Wenngleich Adelung in seinem Wörterbuch noch Belege von Michaelis und Goethe aufgenommen habe, seien in der vierten Auflage seines Wörterbuchs eine Vielzahl von Schriftstellern der Zeit nach 1760 verschwunden. Und Lessings sprachgewaltiger „Nathan der Weise“ werde von Adelung gar als „unreines Hochdeutsch“ verunglimpft, sodass Voß zu dem Schluss kommt: Diese Alleinherrschaft der neumeißnischen, oder (um uns nicht an den edlen Meißsner zu versündigen) der ausgemerzten plattmeißnischen Mundart, behauptet der Grammatiker Adelung gegen alle die trefflichsten Schriftsteller Deutschlands, Er der Eine! (ebd., 315f.)

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Wenngleich Wieland der sprach- bzw. kulturbezogenen Argumentation Adelungs in Teilaspekten zustimmt, sieht er in der Sprach- und Kulturgeschichte keine teleologische Entwicklung. Er betont deshalb die Zufälligkeit, mit der die eine oder die andere Provinz zum jeweils kulturellen Anziehungspunkt werde (WH1 1782, 198f.). Ebenso sei der Sprachgebrauch der Oberschichten nicht das Ergebnis einer teleologischen Entwicklung und unterliege einem stetigen Wandel (ebd., 201). Scharf kritisiert wird ferner die Mehrdeutigkeit der Bezeichnung „obere Klassen“ in den Schriften Adelungs. Wieland konstatiert eine große Kluft zwischen Hochdeutsch und dem in Obersachsen tatsächlich gesprochenen Deutsch (ebd., 204). Seine Argumentation wird an dieser Stelle mit sprachideologischen bzw. sprachsoziologischen Behauptungen untermauert: Die gesprochene Sprache der Oberschichten Obersachsens sei aufgrund der Vorliebe dieser Gruppe für das Französische völlig unzulänglich. Adelungs Konzept des Hochdeutschen wird somit sprachkritisch kommentiert und wegen der behaupteten Präferenz des Französischen durch die Sprecher des Obersächsischen abgelehnt. Joachim Heinrich Campe sieht sich aufgrund der Kritik durch Johann Christoph Adelung in der Pflicht, seinen Einspruch gegenüber dessen Bestimmung des Hochdeutschen zu erläutern. Seine Antwort hat er in den „Beiträgen zur weiteren Ausbildung der deutschen Sprache“ veröffentlicht (vgl. Campe WH 1794). Campes Antwort auf den Einspruch Adelungs ist zweigeteilt: Zum einen stimmt er Adelung in einzelnen Aspekten zu, zum anderen widerspricht er ihm aber in wesentlichen Fragen (ebd., 148ff.): Wie Adelung geht auch Campe davon aus, dass die Herausbildung einer Standardsprache nur in einem engen gesellschaftlichen Verbund erfolgen kann (ebd., 148). Außerdem teilen beide die Einschätzung, dass der Einfluss der Schriftsteller auf die Herausbildung einer Leitvarietät begrenzt sei. Campe stimmt mit Adelung darin überein, dass die Genese der Schriftsprache und ihre spezifische Gestalt in Relation zur gesprochenen Sprache steht, die er als „Umgangssprache der Deutschen“ (ebd.) bezeichnet. Mit Adelung stimmt er ferner in der Ablehnung der ‚Aushubtheorie‘ überein, also der Annahme, dass das Hochdeutsche ein Ausgleichsprodukt aller Mundarten sei. Und schließlich teilen beide Autoren die Ansicht, dass der Anteil des Obersächsischen an der hochdeutschen Schriftsprache signifikant sei, wenngleich Campe diesen Anteil in seinem Beitrag dann relativiert (ebd., 150). Für den besonderen Status des Obersächsischen nennt Campe zwei Gründe: Erstens sei es eine „Mittelsprechart“ (ebd., 151), womit er eine regionale Ausgleichssprache meint, in die zahlreiche andere Dialekte eingeflossen sind. Damit verweist Campe auf die mittlere Position des Ober-

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sächsischen im deutschen Sprachgebiet. Zweitens betont Campe aber die weitgehende Übereinstimmung des Obersächsischen mit dem vorher als schriftsprachliche Leitvarietät etablierten „Fränkischen“ und „Schwäbischen“ (ebd.). Da für ihn die Leitvarietät aber in erster Linie eine schriftsprachliche Varietät darstellt, lehnt er die Gleichsetzung des Hochdeutschen mit dem mündlich realisierten Obersächsischen ab. Insbesondere weist er verschiedene Abweichungen des Obersächsischen vom Hochdeutschen nach (ebd., 156ff.) und konstatiert Unterschiede in der Aussprache, der Flexion und Wortbildung sowie lexikalische Lücken des Obersächsischen. Insbesondere wird das Kriterium der Analogie problematisiert.214 An Campes Ablehnung des Obersächsischen kann auch die von Adelung vorgenommene bildungssoziologische Einschränkung nichts ändern, wobei sich Campe explizit gegen eine mögliche Vorbildlichkeit des Adels ausspricht. Darüber hinaus reflektiert Campe den Übergang zum Vorbild der „norddeutschen“ Aussprache am Ende des 18. Jahrhunderts, das bedeutet den Übergang zu einer schriftnahen Lautung im niederdeutschen Sprachraum (ebd., 153). Für Campe ist Hochdeutsch das von den Bildungseliten und oberen sozialen Schichten gesprochene Schriftdeutsch (ebd., 155), das auf dem Oberdeutschen beruhe, das durch das Obersächsische und partiell dem Niederdeutschen beeinflusst worden sei (ebd., 166ff.). Die Vorbildlichkeit des Obersächsischen wird ebenfalls von Biester in Frage gestellt (Biester KT 1783, 191). Wenngleich er durchaus gewisse Vorzüge des Obersächsischen einräumt, spricht er doch stark abwertend von einem „unangenehm ins Jüdische fallende[n] Singen“ der Oberschichten (ebd., 192). Diese pauschalisierende und antisemitische Äußerung wird aber im Laufe seines Textes nicht wieder aufgegriffen. Die obersächsische Grundlage der allgemeinen Schriftsprache sowie der gesprochenen Sprache der oberen Schichten wird zwar anerkannt, Biester verweist aber auf die Dynamik des Sprachwandels (ebd., 193). Diese habe dazu geführt, dass in Obersachsen nicht länger „richtig deutsch“ (ebd.) gesprochen werde. Er begründet seine Ablehnung mit dem Hinweis auf die Entwicklung der Literatur. Während in Obersachsen in der Gegenwart keine vorbildlichen Autoren mehr zu finden seien (ebd.), weise der gesamtdeutsche Sprachraum so anerkannte Autoren auf wie Möser, Wieland, Gesner, Mendelssohn, Spalding, Jerusalem, Lessing, Klopstock, Ramler, Goethe, Lavater, 214 Campe weiß sehr wohl, dass das Obersächsische als regionale Sprache ein eigenes Sprachsystem darstellt, das demzufolge eigene Analogien aufweist. Da das Obersächsische aber nicht einfach mit dem Hochdeutschen gleichgesetzt werden könne, seien auch seine Analogien nicht als Sprachnorm anzuerkennen (ebd., 164f.).

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Herder, Bürger u. a. (ebd., 195). Diesen seien als Sprachvorbilder anzuerkennen. Die bei den neueren Literaten zu beobachtenden Abweichungen vom Hochdeutsch Adelung’scher Provenienz sind für Biester genuiner Ausdruck eines neuen Schriftstellertypus, dem sprachliche Gestaltungsfreiheit eingeräumt werden müsse: „Wohl uns, daß diese letztern [gemeint sind Dichter wie Klopstock, Anm. KF] sich des Rechts original zu sein bedienten, und kein Non plus ultra in Sachen der Aufklärung und des Genies kannten.“ (ebd., 198) Die Forderung, das Korpus musterhafter Texte um weitere Schriften aus dem deutschen Sprachgebiet zu erweitern, wird im nächsten Teilkapitel ausführlicher behandelt, da sie in ähnlicher Form von zahlreichen Autoren gestellt wird. Dass Adelungs Kritiker dessen zum Teil inkonsistente Terminologie bemerken, zeigt insbesondere der Diskussionsbeitrag von Johann C. C. Rüdiger (VHS 1783), der die Verwendung des Begriffs ‚Mundart‘ für das Hochdeutsche ablehnt (ebd., 21f.). Hochdeutsch ist für Rüdiger synonym zu ›Büchersprache‹ bzw. ›Schriftsprache der oberen sozialen Schichten‹ und kann nicht als ›gesprochene Sprache einer Region‹ gedacht werden. In seinem Beitrag, der seine Vertrautheit mit den einzelnen Positionen im Sprachnormierungsdiskurs belegt und sprachkundlich überaus fundiert ist, identifiziert Rüdiger drei auseinander fallende Positionen des Sprachnormierungsdiskurses.215 Er selbst nimmt eine vermittelnde Haltung ein, insofern er für die Berücksichtigung aller Dialekte bei der Normierung der Leitvarietät eintritt; das Oberdeutsche und das Meißnische genießen aber einen Sonderstatus (vgl. ebd., 10). Diesen Sonderstatus begründet Rüdiger mit sprach- und kulturgeschichtlichen Faktoren. So zeige die Entwicklung des Deutschen, dass es seit der Reformation ein Übergewicht obersächsischer Schriftsteller gegeben habe, die die Leitbildfunktion der schwäbischfränkischen Literatursprache abgelöst hätten (vgl. ebd., 41). Das Obersächsische sei aber in der Folgezeit nicht schlechthin „die“ Schriftsprache geworden, sondern es habe im Vergleich zu den anderen regionalen Varietäten lediglich ein Übergewicht erhalten (ebd., 44). Damit aber ist gemeint, dass sowohl das Niederdeutsche als auch das Oberdeutsche neben dem Obersächsischen einen entscheidenden Einfluss auf die Entstehung der hochdeutschen Schriftsprache hatte (ebd., 46f.). Die Bezeichnung des Hochdeutschen als Mundart lehnt Rüdiger gerade deshalb ab, weil die 215 Erstens werde das Hochdeutsche direkt vom Oberdeutschen hergeleitet, zweitens werde es von anderen Autoren mit dem Obersächsischen gleichgesetzt und drittens verweist Rüdiger auf Bestimmungen des Hochdeutschen als ein Substrat des Besten aller Mundarten (ebd., 5ff.).

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Überdachung der deutschen Dialekte durch eine schriftsprachliche Varietät zeige, dass es keine Mundart sei (ebd., 18). Richter führt ebenfalls verschiedene Faktoren an, die die Gleichsetzung des Obersächsischen mit dem Hochdeutschen in Frage stellen: Für Richter kann das Hochdeutsche nur eine schriftsprachliche Varietät sein, da die Aussprache in allen Regionen stark voneinander abweiche. Gleichzeitig wird die „schulgerechte hochdeutsche Aussprache“ (Richter KA 1784, 22) als eine „hölzerne hochdeutsche Aussprache“ (ebd.) abgelehnt. Falls eine Sprachlandschaft zum Vorbild erhoben werden könne, so sei dies das „Märkische“. Hierunter versteht er die regionale Sprache im Raum Brandenburg, und zwar sprachsoziologisch determiniert als Sprache der oberen sozialen Schichten (ebd., 164f.). Richters zentrales Anliegen ist die Rechtschreibung, die er im Gegensatz zu Adelung und dessen Anhängern nicht gemäß dem Sprachgebrauch der oberen sozialen Schichten Obersachsens normieren will. Aus seiner Geringschätzung der Adelung’schen Grammatik macht Richter keinen Hehl. Seine zugespitzte Kritik lautet, dass Adelung durch seine Normierungsvorgaben den Fortschritt der Sprache und damit der Gesellschaft behindere (ebd., 4).216 Im „Deutschen Museum“ stellt ein anonymer Verfasser die von Adelung vertretene Bestimmung des Hochdeutschen in Frage. Wenngleich er die obersächsische Basis des Hochdeutschen prinzipiell anerkennt, geht er davon aus, dass das Niederdeutsche dem Obersächsischen längst den Rang als Sprachvorbild abgelaufen habe. Gemeint ist aber nicht das Niederdeutsche an sich, sondern eine neu entstandene Sprache, die er in Abgrenzung zu den Bezeichnungen Niederdeutsch, Plattdeutsch und Niedersächsisch als „niederhochdeutsche Mundart“ bezeichnet (vgl. Anonymus DM/I 1782, 277). Mit dieser Bezeichnung kennzeichnet der anonyme Verfasser die in Norddeutschland im Gebrauch befindliche mündliche Sprache und Schriftsprache (vgl. ebd., 280), die wegen der schriftgebundenen Aussprache dem Hochdeutschen am ähnlichsten sei (vgl. ebd., 277ff.). Die schriftnahe Lautung des „Niederhochdeutschen“ wird deutlich von den Aussprachefehlern der Sprecher des Obersächsischen abge-

216 Wenngleich er kritisiert, dass weder Adelung noch ein anderer Grammatiker bisher eine angemessene Definition von Sprache vorgelegt hätten, liest sich seine Bestimmung durchaus traditionell, insofern er den darstellungsfunktionalen Aspekt betont: „Sprache ist die Verbindung von willkürlichen Zeichen, vermittelst welcher man seine Gedanken mitteilt, das ist: wodurch man bewirkt, daß in der Seele des andern (dessen, zu welchem man spricht) die richtigen oder die Vorstellungen und Begriffe entstehen, welche man will, das sie in ihr entstehen.“ (ebd., 8)

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grenzt (vgl. ebd., 284).217 In sprachsoziologischer Hinsicht ist die Leitvarietät an die gesamte norddeutsche Bevölkerung gebunden, ausgegrenzt werden nur die ganz niederen Schichten und die Landbevölkerung (vgl. ebd., 280).218 Niederhochdeutsch und Plattdeutsch sind somit als zwei Sprachen innerhalb desselben Territoriums zu unterscheiden, das adjektivische Präfix ‚hoch-‘ verweist auf den hochsprachlichen Charakter des Niederhochdeutschen als Sprache der Bildungseliten und allgemein der bürgerlichen Schichten (vgl. ebd., 280).219 Das Niederhochdeutsche wird als ein Ausgleichsprodukt des Obersächsischen und Niedersächsischen beschrieben, das durch die Sprachkontakte von Sprechern beider Dialektgebiete entstanden sei, sowie durch den Einfluss vorbildlicher Schriften, insbesondere die Schriften und die Bibelübersetzung Martin Luthers (vgl. ebd., 279). Außerdem verweist er auf die sozialdisziplinierende Funktion der neuen sprachlichen Norm: So würden in manchen Gebieten Norddeutschlands selbst die niederen Bediensteten gezwungen, sich des Hochdeutschen zu bedienen (vgl. ebd.). Insgesamt wird der niederhochdeutsche Wortschatz im Gegensatz zum obersächsischen Wortschatz als der allgemein verbreitetere eingestuft, ebenso wie die Grammatik des Niederhochdeutschen der obersächsischen Grammatik vorgezogen wird (ebd.). Der Autor diskutiert neben der Frage der Vorbildlichkeit einer bestimmten Sprachlandschaft auch die Frage der Bezeichnung der Leitvarietät. Den Ausdruck Hochdeutsch selbst sieht er als eine Gattungsbezeichnung an, während Oberdeutsch und Obersächsisch Arten des Hochdeutschen darstellten (vgl. ebd., 276). Für die Leitvarietät schlägt er vor, die Bezeichnung „deutsche Sprache“ (ebd.) zu verwenden und von der Bezeichnung Hochdeutsch abzusehen. J. C. Schmohl, der sich selbst als Kursachse zu erkennen gibt, schaltet sich in einer Abhandlung im „Deutschen Museum“ (DM 1780) in den Sprachnormierungsdiskurs ein. Er thematisiert die von Klopstock vorge217 Neben der Relativierung der obersächsischen Vorbildlichkeit findet sich eine eindeutige Abwertung des Oberdeutschen. Das Oberdeutsche besitze zu viele kraftvolle Ausdrücke (vgl. ebd., 277). Außerdem habe im süddeutschen Sprachraum keine Etablierung einer hochdeutschen Leitvarietät stattgefunden. Das Hochdeutsche als überregionale Sprachform sei den Oberdeutschen fremd: „Da vermischen sich Sprache und Mundart in jeder Rücksicht.“ (vgl. ebd., 281) 218 Allerdings räumt er wenig später ein, dass selbst Personen „mittlern Bürgerstands“ (vgl. ebd., 281) bis hin zu den oberen Schichten in privater Kommunikation Plattdeutsch sprächen (vgl. ebd., 282). 219 In territorialer Hinsicht ist das Niederhochdeutsche in folgenden Gebieten angesiedelt: dem gesamten niedersächsischen Sprachraum; in Westfalen, Teilen des obersächsischen Gebiets, der Mark Brandenburg und Pommern sowie in „Kurland“, „Liestland“ und „Preußen“ (vgl. ebd., 278).

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stellte Orthographie und setzt sich mit der Bestimmung des Hochdeutschen auseinander. Er formuliert explizit ein sprachpatriotisches Anliegen, das bereits in den Diskussionen in den Vorreden zu den zeitgenössischen Mundartwörterbüchern zum Gegenstand wird und das besonders von Johann Gottfried Herder aufgegriffen wird: die Suche nach einem deutschen „Nationalcharakter“.220 Die Existenz eines „Nationalcharakters“, der sich in der Sprache ausdrückt, wird zunächst vorausgesetzt: Eine Sache, die gleich bekant ist, deucht mir, als daß der Karakter der deutschen Nazion, wenn man wirklich nazionalen und nicht provinzialen dafür halten will, in allen Provinzen Deutschlands unter allen seinen Stämmen und nicht blos in Sachsen studirt werden müsse; daß unsere Dichter und überhaupt jeder grosse Schriftsteller, der am kräftigsten auf die Nazion wirken will, hauptsächlich aber der deutsche Sprachlehrer, die ganze Nazionalsprache verstehn lernen müsse; welches ohne Kenntnis des Nazionalcharakters, der Neigung, Reizbarkeit, Sinnes, der Denkungsart und ganzen Kapazität des Volkes nicht wol geschehen kan, sondern eins durchs andre aufgeholfen werden muß […]. (ebd., 157)

Das „ächte Stammvolk der Deutschen“ (ebd., 158) sei keineswegs in Obersachsen zu finden, da sich hier erstens eine ethnische Vermischung mit „undeutschen Völkern“ (ebd.) ereignet habe (so auch Nast und Fulda) und sich zweitens die Verbreitung der Völker und Sprachen viel eher als ein Wanderungsprozess von Süd nach Nord erklären lasse. Somit sei aber die Sprache am Rhein weitaus älter als das Obersächsische. Da das Obersächsische aber weder die alte, ursprüngliche deutsche Sprache sei noch eine Nationalsprache auf eine einzelne Sprachregion zurückgeführt werden könne, habe man das Obersächsisch-Hochdeutsche fälschlicherweise für die Nationalsprache gehalten (ebd., 159). Das ObersächsischHochdeutsche ist für Schmohl lediglich eine „Leipziger Schreibart“ (ebd., 161), d. h. eine regionale schriftsprachliche Varietät. Seine kritische Kultur- und Sprachdiagnose schließt mit dem Fazit, dass das Deutsche noch längst nicht den Status einer europäischen Kultursprache erreicht habe. Hierzu sei eine Vervollkommnung der Literatursprache notwendig sowie in politischer Hinsicht ein enormer Machtzuwachs Preußens erforderlich (ebd., 162). Wenngleich das Obersächsische nunmehr als Grundlage des Hochdeutschen anerkannt werden müsse, fordert Schmohl einen sprachlichen Ausgleichsprozess, der allen Mundarten des Deutschen gerecht werden solle (vgl. ebd., 163). Erst durch die Zusammenführung aller Dialekte könne eine Nationalsprache entstehen, während bislang allenfalls regionale Umgangssprachen der oberen sozialen Schichten und regional gebundene Schriftsprachen 220 Die Debatte um das ‚Wesen‘ der Nation in Form des Konzepts eines ‚Nationalgeists‘ wird in Kapitel 5.3.3 skizziert.

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existiert hätten, so seine Einschätzung (vgl. ebd.). Für die Rechtschreibung wird aus diesen Thesen allgemein gefolgert, dass die bisherige Rechtschreibung eine obersächsische, und damit eine regional gebundene, gewesen sei. Eine Verbesserung der Orthographie müsse die Aussprache aller Provinzen berücksichtigen und solle deshalb durch die Sprachkundler aller Provinzen erreicht werden. Abschließend sei an dieser Stelle auf eine weitere sprachideologisch motivierte Ablehnung des Obersächsischen der oberen sozialen Schichten hingewiesen. C. S. Krause, der sich selbst als Kursachse bezeichnet (Krause DM/III 1783, 205), behauptet, dass die gebildeten und wohlhabenden Schichten in Obersachsen nicht insgesamt als Basis des Hochdeutschen bezeichnet werden könnten. Eine Vorbildlichkeit der gesprochenen Sprache treffe allenfalls auf die „Gelehrten“ zu (ebd., 209). Dem Adel wirft er eine „jämmerliche Sprachenmengerei“ (ebd., 210) vor, ebenso spreche das gewerbetreibende Bürgertum in Obersachsen, insbesondere in Leipzig, „ein französisches Deutsch“ (ebd., 211). Diese sozialen Gruppen können somit aufgrund ihrer Sprachvermischung nicht als Vorbilder anerkannt werden. Insofern stimmt er mit der oben dargestellten Argumentation Wielands überein.221 Die Darstellung zeigt, dass die behauptete Differenz zwischen Obersächsisch und Hochdeutsch sehr unterschiedlich begründet wird: − Als alternatives regionales Vorbild nennt Voß Schlesien, das im 17. Jahrhundert bereits ein Sprachvorbild darstellte (vgl. Josten 1976). Biester lobt hingegen die schriftsprachlichen Produktionen aller Regionen. Rüdigers Position ist als eine vermittelnde zu kennzeichnen, da er auf den gleichrangigen Einfluss des Obersächsischen, Oberdeutschen und Niederdeutschen auf das Hochdeutsche verweist. Als weiteres regionales Sprachvorbild bestimmt der anonyme Autor im „Deutschen Museum“ das „Niederhochdeutsche“, das er als schriftnah ausgesprochene niederdeutsche Sprachform obersächsischer Grundlage bestimmt. − Die von den Diskursakteuren genannten Mängel des Obersächsischen, die ebenfalls zur Ablehnung des obersächsischen Vorbilds angeführt werden, sind sowohl sprachstruktureller als auch sprachideologischer Natur. So beklagen Wieland, Biester und Campe lautliche und grammatische Abweichungen des Obersächsischen vom Hochdeutschen. Sprachideologischer bzw. sprachkritischer Natur sind aber die Vorwürfe, dass die Sprecher des Obersächsischen sich einseitig an 221 Vgl. zu weiteren Aspekten des „Deutschfranzosen“ Scharloth (2003).

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der französischen Sprache und Kultur orientierten und das Obersächsische de facto „französisiert“ sei. Ebenfalls sprachideologisch motiviert ist das Argument, das Schmohl anführt: Das Obersächsische sei keine ‚reine‘ deutsche Sprache, sondern eine mit dem Slawischen vermischte Sprache. Diese Argumentation, die an Fuldas Kritik am Obersächsischen erinnert, zielt aber in eine andere Richtung: die Behauptung der Gleichwertigkeit der Dialekte als Repräsentationen der deutschen Sprache.

b. Zur Pluralität schriftsprachlicher Vorbilder Mit der Ablehnung der obersächsischen Leitvarietät eng verbunden ist die Kritik der Literaten und Publizisten an Adelungs regional wie historisch stark eingeschränktem Kanon vorbildlicher Schriftsteller. Unabhängig von den Differenzen der Literaturkonzepte, die die Literaten und Publizisten im Einzelnen vertreten, stimmen sie doch in der Forderung nach einer Ausweitung der schriftsprachlichen Vorbilder überein. Exemplarisch sei auf Wieland verwiesen, dessen „literarischer Kanon“ einen weitaus größeren Zeitraum als die von Adelung genannte Zeitspanne umfasst. Wieland vertritt in Anlehnung an Bodmer und Breitinger das Leitbild der süddeutschen Literatursprache zur Zeit der Hohenstaufer, repräsentiert durch Minnesang, Wolfram von Eschenbach und Heinrich von Ofterdingen und für Wieland vorbildlich dokumentiert in Form der von Bodmer und Breitinger herausgegebenen Manessischen Liederhandschrift. Gründe für diese Privilegierung älterer Sprachstufen sind die Qualitäten, die Wieland den mittelhochdeutschen Texten zuschreibt: Grammatikalität, Vielfalt an Flexionsformen sowie Euphonie, die in zeitgenössischer Terminologie als „Regelmäßigkeit“, „Biegsamkeit“ und „Wohlklang“ (Wieland WH1 1782, 156) bezeichnet werden. Diese Eigenschaften zeichnen die mittelhochdeutsche Literatur im Gegensatz zu Texten des 15., 16. und auch des 18. Jahrhunderts aus (ebd.). Während Wieland der mittelhochdeutschen Dichtersprache ein besonders hohes Entwicklungsniveau zugesteht, räumt er ein, dass es nach dem 13. Jahrhundert zu einem Abbruch der literarischen Tradition gekommen sei.222 Außerdem fordert er Adelung auf, andere, nicht-obersächsische Literaten des 16. und 17. Jahrhunderts als musterhafte Texte zu berücksichtigen (ebd., 169). Die Schriftsteller der Gegenwart, die Adelung durch die Eingrenzung der Blütezeit der Literatur auf die Jahre 1740 bis 1760 ausblende, seien für den kulturellen und wirtschaftlichen Aufstieg Obersachsens 222 Insbesondere betont Wieland die Bedeutung der norddeutschen Sprachkultivierung (Wieland WH1 1782, 152).

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und für seine Vorrangstellung als Schriftsprache verantwortlich (ebd., 164) und die deutsche Literatursprache sei noch nicht voll ausgebildet (ebd., 166). Eine Eingrenzung der Blütezeit der deutschen Literatur auf die Zeit um die Jahrhundertmitte stelle nicht zuletzt im Kontext des europäischen Wettkampfs um kulturelle Dominanz eine unzumutbare Einschränkung dar (ebd., 167f.). Voß stellt das von Hagedorn, Lessing, Klopstock u. a. Literaten vertretene Literaturkonzept dem normativen Anliegen der Sprachkundler gegenüber: Beide, sowohl Klopstock als Lessing, erforschten in den Schriften der Vorfahren die Uranlage und den Umfang unserer Sprache, und erweiterten sie mit unwiderstehlicher Gewalt über den Bezirk des alltäglichen Gesprächs, in welchem, als dem gelobten Sitze des Planen und Natürlichen, die immer nachwachsenden Gottschede sie eingeengt zu erhalten sich beeiferten. (Voß DSK 1804, 186)

Das Zitat zeigt insbesondere die deutliche Ablehnung einer zu restriktiven Normierungspraxis der Grammatiker. Letztendlich kollidieren im Streit um das Hochdeutsche zwischen den Literaten und Publizisten auf der einen Seite und Johann Christoph Adelung und seinen Anhängern auf der anderen Seite völlig konträre Bewertungen der Sprachfunktionen. Für Adelung stellt die Darstellungsfunktion die primäre Aufgabe von Sprache dar, sei sie schriftlich oder mündlich realisiert (→ verständlich). Um eine überregionale Kommunikation zu gewährleisten, sieht Adelung die Notwendigkeit klarer Normierungskriterien. Wenngleich seine Normierungspraxis deutlich toleranter ausfällt, als seine theoretischen Vorgaben, favorisiert er doch eindeutig das Obersächsische als Sprachvorbild und bleibt gegenüber der literatursprachlichen Entwicklung nach 1760 reserviert. Als Vertreter der Literaten kann Wieland der Ausgrenzung der gegenwartssprachlichen Literatur nicht zustimmen. Er fordert Autonomie für die Literatur und räumt den verschiedenen gesellschaftlichen Kommunikationsbereichen eine gewisse eigene Gesetzmäßigkeit ein: Jeder dieser Sprach-Distrikte (wenn ich so sagen darf) hat wieder sein eignes Gebiet, seine eigne Verfassung, Gesetze, und Gerechtsame, so wie seine eignen Grenzen: und nur aus ihnen allen zusammengenommen besteht die Schriftsprache einer durch Künste und Wissenschaften gebildeten Nation. (Wieland WH1 1782, 211)

Die von Adelung anvisierte Kodifizierung des Hochdeutschen, das er in der „Gesellschaftssprache“ der Oberschichten Obersachsens vorbildlich repräsentiert glaubt, bedroht in den Augen der Literaten und Publizisten das gestalterische Potenzial der Sprache. In diesem Sinne äußert sich etwa Friedrich Nicolai (ZH 1808, 193-219), der sich in einer Reihe von Beiträ-

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

gen in der „Berlinischen Monatsschrift“ mit Adelungs und Campes Wörterbuch auseinander setzt. Obwohl er die individuelle Leistung Adelungs hoch einschätzt und sein Wörterbuch insgesamt für einen wichtigen Meilenstein der Lexikographie hält, verweist er auf den fundamentalen Unterschied zwischen „prosaischer“ und „poetischer“ bzw. „genialer“ Schreibart (ebd., 195). Die poetische Literatur nach 1770 sei in Adelungs Wörterbuch völlig unterrepräsentiert. Darüber hinaus schätzt Nicolai Adelungs Beurteilung der Literatursprache bzw. der verschiedenen stilistischen wie sozialen Varietäten als unangemessen ein (ebd.). Rüdiger greift ebenfalls die Frage auf, welche Schriftsteller als Sprachvorbilder anerkannt werden sollten (vgl. Rüdiger WSW 1794, 49). Adelungs Festsetzung der Blütezeit der deutschen Schriftsprache auf die Zeit zwischen 1740 und 1760 kann er nicht zustimmen, ebenso ist der bei Adelung aufgestellte Kanon vorbildlicher Schriftsteller (z. B. Gellert, Rabner, Weiße, Geßner, Kramer, Spalding, Gleim und Kästner) für ihn zu eng gefasst. So wirft er die Frage auf, ob nicht Autoren wie Lessing, Wieland, Herder, Goethe, Bürger, Voß und Schiller unbedingt zum Kanon vorbildlicher hochdeutscher Schriften gehörten (ebd., 51). Für Rüdiger gelten im Gegensatz zu Adelung alle vorbildlichen Schriftsteller aus allen Regionen als Sprachvorbilder (vgl. auch Rüdiger NLTS 1785, 95f.). Sein Literaturkonzept ist dabei weniger überregionalistisch als kulturpatriotisch ausgerichtet, so spricht er von der „vaterländischen Literatur“, die alle deutschen Provinzen umfasse (Rüdiger VHS 1783, 37). Es zeigt sich, dass das von Adelung und seinen Anhängern benannte Korpus an vorbildlichen Texten von den Vertretern der Gegendiskurse in Frage gestellt wird. Als konsensual für die Mehrheit der Literaten und Publizisten kann die Forderung gelten, Texte von Vertretern zeitgenössischer Literatur einzubeziehen. Darüber hinaus werden auch Texte älterer Sprachstufen als Muster für das Hochdeutsche ausgewiesen, zum Beispiel die mittelhochdeutsche Literatur (Wieland). Ebenso wird gefordert, Texte von Autoren aufzunehmen, die nicht dem obersächsischen Sprachraum angehören. Diese Forderung leitet sich von der Infragestellung des obersächsischen Vorbildanspruchs ab. Letztlich sehen die Literaten und Publizisten in einem zu eng gefassten Korpus vorbildlicher Texte eine Gefahr für das Ausdruckspotenzial der hochdeutschen Schriftsprache im Allgemeinen und der Literatursprache im Besonderen. c. Inanspruchnahme der Normierungsautorität Mit der Frage, welche Gestalt die als Vorbild anzuerkennende Literatur aufweisen solle, ist die Frage nach der Definitionsmacht verbunden. Wieland fordert die oberste Autorität in Sprachnormfragen für die Literaten

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ein (Wieland WH1 1782). Die Entwicklung des Französischen dient Wieland als empirischer Beweis für seine Forderung. So beruhe das Prestige des Französischen nicht auf dem Ansehen des Königs bzw. des Adels als sozialer Gruppe oder auf den kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Frankreich, sondern sei das Ergebnis der Vervollkommnung des Französischen durch Literaten wie Arnaud, Pascal u. a. (ebd., 161). Die französischen Schriftsteller orientieren sich nach Ansicht Wielands an den vorbildlichen alten Texten als Muster und tragen zur stetigen Verbesserung des Französischen bei (ebd., 163). Aus diesem Vergleich mit der Entwicklung des Französischen schließt er, dass auch in Deutschland die Literaten die zentrale Rolle bei der Ausbildung der hochdeutschen Schriftsprache spielen müssen.223 Er räumt ihnen somit im Gegensatz zu Adelung eine Vorbildfunktion für das Hochdeutsche ein, die sie gegenüber der gesprochenen Sprache der Oberschichten als Norminstanz privilegiert. In der Abhandlung Wielands wird letztlich ein spezifisches Literaturverständnis expliziert, dessen Gegenpol das Literaturkonzept Gottscheds darstellt, den er als „despotischen Richelieu“ abwertet (Wieland WH1 1782, 164). Ebenso lehnt Wieland Adelungs Diktum ab, dass die zentrale Aufgabe der Sprache ihre Verständlichkeit darstelle (Wieland WH1 1782, 215). Er tritt für eine Autonomie der Literatursprache ein, da sie im Gegensatz zur Alltagssprache eine Eigengesetzlichkeit aufweise (ebd.). Wenngleich der von Wieland als Ideal aufgestellte Literat den „Stempel des Genies“ (ebd., 164) trägt, sind den Schriftstellern in Bezug auf ihre sprachliche Gestaltungsfreiheit Grenzen gesetzt, insofern ist die Position Wielands von den progressiveren Literaten des Sturm und Drang abzuheben.224 Die dichterische Freiheit finde in Form der Regelhaftigkeit der Sprache, den allgemeinen Grundsätzen der Logik und der Ästhetik ihre Grenzen (vgl. ebd., 165, 169). Eine Anbindung der Leitvarietät an eine bestimmte regional oder sozial bestimmte Gruppe einer kulturell dominierenden Provinz lehnt er ab, da sich diese Vorbilder im Laufe der Geschichte immer wieder wandeln (ebd., 165). Die Schriftsteller können hingegen eine Vervollkommnung der Sprache erreichen, indem sie die sprachliche Gestaltungsfreiheit nutzen und Neologismen, neue Redensar223 Auch der anonyme Autor in der „Berlinischen Monatsschrift“ geht davon aus, dass den Schriftstellern bei der „wirkliche[n] Verbesserung“ (Anonymus ADS 1783, 593) der Sprache eine Hauptrolle zukomme, da sie im Vergleich zum Alltagssprecher um die kunstvolle Gestaltung der Sprache, d. h. die „Schönheit und Richtigkeit des Ausdrucks“ (Anonymus ADS 1783, 593), bemüht seien. 224 In seinem zweiten Beitrag kritisiert Wieland die Schriften der jungen Literaten in Oberdeutschland und Ober- und Niedersachsen, die eklatant gegen Sprachnormen verstoßen und beispielsweise Grobianismen verwenden, gegen grammatische Normen verstoßen oder Dialekte vermischen (ebd., 195ff.).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

ten und rhetorische Stilmittel wie Metaphern einführen (ebd.). Diese Zugeständnisse an die Schriftsteller lassen Wielands Konzeption einer Leitvarietät deutlich werden: Die Leitvarietät ist konzipiert als wandelbares Zeichensystem, das den jeweiligen historisch-sozialen Verhältnissen angepasst werden muss. Wieland will explizit das „noch immer schwankende königliche Vorrecht der Dichter“ (ebd., 197) verteidigen. Die den Literaten zugestandene Einflussnahme auf die Sprache findet allerdings in Form des „guten Geschmacks“ ihre Grenzen, der durch Vorbilder der Antike geschult und ausgebildet werden müsse. Die Argumentation Wielands behandelt vier zentrale Aspekte: − Nicht der Sprachgebrauch der oberen Klassen einer kulturell dominierenden Region sei die Leitvarietät, sondern die Schriftsprache. Gemeint sind im engeren Sinne musterhafte Texte der besten Schriftsteller (ebd., 169). − Die Schriftsteller des 16. und 17. Jahrhunderts müssen als Vorbild berücksichtigt werden (vgl. ebd.). − Die Anzahl der für den Sprachgebrauch vorbildlichen deutschen Schriftsteller könne noch nicht abschließend bestimmt werden. − Die Dialekte werden als Mittel zum Ausbau des deutschen Wortschatzes betrachtet und damit aufgewertet (ebd., 170). Campe wirft insbesondere die Frage auf, wie sich das Hochdeutsche, das für ihn im Wesentlichen die vorbildliche Schriftsprache ist, herausgebildet hat. Seiner Ansicht nach orientieren sich die Sprecher an der vorbildlichen überregionalen Schriftsprache, wenngleich Campe einräumt, dass es letztendlich unklar sei, wie dieser Prozess im Einzelnen verlaufe (ebd., 150). Die „Exklusivfunktion“ bei der weiteren Ausbildung des Hochdeutschen wird den Schriftstellern zugewiesen (ebd., 99). Campe weist ihnen folgende Aufgaben zu: − Bereicherung des Wortschatzes, insbesondere durch analoge Wortbildungen, durch Wiedereinführung zufällig aus dem Gebrauch gekommener Wörter (Archaismen), durch eine mäßige und wohlüberlegte Einführung von Mundartwörtern und fremdsprachlichen Ausdrücken (ebd., 100ff.), − Bestimmung der Bedeutung von Wörtern sowie von Bedeutungsrelationen, − Berichtigung unrechtmäßiger Analogien (ebd., 109ff.), − Normierung der Orthographie (ebd., 116f.), − Selektion von Wörtern und Phraseologismen, die bestimmten stilistischen Kriterien nicht genügen (ebd., 119).

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Hier zeigt sich Campes sprachpuristisches Anliegen, das sich deutlich von den Literaturkonzepten Lessings, Klopstocks und Wielands abhebt.225 Adelungs Konzeption des Hochdeutschen basiert auf der Vorstellung eines engen gesellschaftlichen Zusammenhangs als Möglichkeitsbedingung. In ganz ähnlicher Weise argumentiert Campe, um den Anspruch der Schriftsteller zu legitimieren, die oberste Normierungsautorität innezuhaben: Die Natur der Sache; denn wenn gleich die Schriftsteller und Leser, dem Körper nach, oft auf hundert und mehr Meilen weit voneinander entfernt sind: so stehen sie doch, der Seele nach, – vorausgesetzt, daß beide rechter sind, und daß beide, der Eine beim Schreiben, der Andere beim Lesen, ihre Schuldigkeit thun – in einem so engen Verhältnisse, als man im gesellschaftlichen Leben nur immer stehen kann, indem der Schriftsteller alle seine Kräfte aufbietet, um Vorstellungen und Gedanken, und zwar auf die lichtvollste und angenehmste Weise, in der Seele des Lesers zu erwecken, und dieser seine ganze Aufmerksamkeit zusammen nimmt, um die Vorstellungen und Gedanken des Schriftstellers gehörig aufzufassen und sie zu den seinigen zu machen. Wie können Personen, die im gesellschaftlichen Leben sich mündlich unterhalten, stärker auf einander wirken! (Campe WH 1795, 125)

Campe behauptet somit einen viel größeren Einfluss der Schriftsteller auf den Sprachgebrauch des Einzelnen, als er von dem bei Adelung beschriebenen engen gesellschaftlichen Zusammenhang ausgeht. Cludius bemängelt, dass Adelung nicht klar beschrieben habe, wie die oberen sozialen Schichten auf das Sprachsystem bzw. die Grammatik einer Sprache Einfluss nehmen. Er zielt in seinem Beitrag vor allem darauf, Unstimmigkeiten in der Argumentation Adelungs nachzuweisen. So konstatiert er, dass der „Geschmack“ (Cludius VS 1795, 144) sich durchaus positiv auf den „Wohlklang“ (ebd.) einer Sprache auswirken könne. Ein Einfluss auf das Sprachsystem sei damit aber nicht erklärbar. Eine direkte Beeinflussung des Sprachgebrauchs könne nur durch die Grammatiker bzw. Schriftsteller in Form vorbildlicher Textmuster erfolgen. Damit soll die bei Adelung absolut gesetzte Leitvarietät des sprachgeographisch wie sprachsoziologisch bestimmten Gebrauchs ausgehebelt werden. Das vorbildliche Textkorpus müsse beispielsweise Schriftsteller wie Abbt, Lessing, Wieland und Kant umfassen (Cludius VS 1795, 145f.). Johann C. C. Rüdigers Ablehnung der geographischen Bestimmung der Leitvarietät als das Meißnisch-Obersächsische erklärt sich aus seinem Verständnis des Sprachnormierungsprozesses. So geht er davon aus, dass

225 In ähnlicher Absicht mahnt auch Stosch zur Vorsicht bei der Integration dialektalen Wortguts (vgl. Stosch KDS/3 1782, 195f.).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

sich dieser Prozess in erster Linie als ein schriftsprachlicher Prozess darstelle, an dem vorrangig die Schriftsteller beteiligt seien: Denn was auch die Verehrer und Beschützer der sogenannten Hochteutschen Mundart, Herr Adelung und seine Nachfolger, dazu sagen mögen, so bleibe ich doch immer noch aus Gründen überzeugt, daß die Hochteutsche Sprache vielmehr unsere Büchersprache ist. Denn eben die Bildung, welche sie durch gute Schriftsteller erhält, ist es, was sie über alle Mundarten emporhebt. Darum heißt sie Hochteutsche Sprache, weil sie aus allen Mundarten abgezogen (destiliret, abstrahirt) und empor getrieben (sublimirt) wird. (Rüdiger WSW 1794, 47)

Er versucht seine These durch einen Vergleich der deutschen Sprachgeschichte mit der Geschichte des Griechischen und Lateinischen zu untermauern. Diese Sprachen zeigen seiner Ansicht nach, dass der Prozess der Sprachkultivierung immer zur Entstehung einer Schriftsprache führe, die ein ‚Prestigesoziolekt‘ und eine besondere regionale Sprachform darstelle (ebd., 48f.). Eine besondere Funktion bei der Herausbildung einer Leitvarietät weist er den Schriftstellern zu, da sie die besten Varianten auswählten und in die Schriftsprache einführten (Rüdiger VHS 1783, 38). Darüber hinaus ist auf eine Konfrontation zwischen den Vertretern des Sturm und Drang und den Aufklärern hinzuweisen, die in verschiedenen sprachreflexiven Schriften thematisiert wird. Johann Carl Wezel beispielsweise betont einerseits, dass der Grammatiker sich in grammatischen Zweifelsfällen an den klassischen Schriftstellern als „Kodex des Sprachlehrers“ (Wezel SWG 1781, 66f.) zu orientieren habe und betont somit die Vorbildlichkeit der Literaten. Andererseits ist seine Schrift „Appellation der Vokalen an das Publikum“ (Wezel AV 1778) als polemische Streitschrift gegen die Schriften der Vertreter des Sturm und Drang und die Werke der Bardendichtung zu werten. Angriffspunkt ist der Vokalausfall in den genannten Schriften. In Form einer juristischen Beschwerde („Appellation“) klagen die Vokale in dieser Schrift öffentlich ihre Tilgung aus der deutschen Sprache an. Bereits in der Einleitung wird deutlich, dass Wezel die von ihm kritisierten Schriftsteller vor allem in Süddeutschland beheimatet sieht. So lässt er die Vokale feststellen, dass „den Leuten am Rhein, Mayn und Neckar die Eroberungssucht in den Kopf“ (ebd., 6f.) gefahren sei. Diese Eroberer stürzten sich wie wilde germanische Stämme auf die Vokale, obwohl diese doch die Rauigkeit des Deutschen gemildert hätten. Somit gründet seine Ablehnung der Vokalelision auf der Behauptung, dass diese den Wohlklang des Deutschen gefährde. Insofern ist seine Position durchaus normbewahrend und der Haltung Adelungs nicht unähnlich, der selbst in seiner Stillehre vor „harte[n] Zusammenziehungen“ gewarnt hat (Adelung ÜDS/I 1785, 234). Die Vokalelision, die Wezel den Schriftstellern der Bardendichtung und den Vertretern des Sturm und

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

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Drang vorwirft, äußere sich vor allem in der Schriftsprache, in der die „Vokalwürger“ überall Apostrophe als „Leichensteine“ hinterließen. Eine zweite Stoßrichtung seiner Kritik ist die Gefahr der sozialen Nivellierung des Deutschen, die Wezel in der „Apostrophensprache“ sieht: […] so werden die Götterlippen der deutschen Dichter bald allgemein in der lieblichen Sprache des Schuhflickermädchens zu Sachsenhausen am Mayn, oder der Darmstädter Schornsteinfeger ertönen, deutsche Redner mit der nervösen angenehmen Beredtsamkeit einer löblichen Schneiderzunft in Schwaben peroriren [...] (ebd., 10f.)

Und wenn die Schriftsprache zur „Pöbelsprache“ werde, dann bestehe auch die Leserschaft der deutschen Literatur nur noch aus „Handwerksburschen und Obstkrämerinnen“, während die Bildungseliten und Oberschichten „Zuflucht zur fremden Litteratur“ nehmen müssten (Wezel AV 1778, 10f.). Auch in dieser Verteidigung der Leitvarietät als ‚Prestigesoziolekt‘, die eben nicht dem regionalen süddeutschen Sprachgebrauch oder dem Usus der niederen Schichten entsprechen darf, ist die Argumentation Wezels mit der Adelungs identisch. Wezel ist wie Adelung nicht bereit, die normierte Leitvarietät, die als Literatursprache den anderen europäischen Ländern ebenbürtig geworden ist, den Radikalisierungstendenzen einiger weniger Schriftsteller zu opfern. Wie aus den Ausführungen hervorgeht, ist im stilistischen Diskursbereich nicht nur die Gestalt des Hochdeutschen umstritten, sondern auch die Normierungsautorität selbst. Die Literaten und Publizisten schlagen die Normierungsautorität den Schriftstellern – und damit ihrer eigenen Statusgruppe – zu. Zur Begründung wird angeführt, dass die Schriftsteller diejenigen seien, die die Vervollkommnung der Sprache geleistet hätten. Diese Vervollkommnung wird in zeitgenössischen Kategorien als ‚Ausbildung‘ oder ‚Verfeinerung‘ des Hochdeutschen bezeichnet. Der Anspruch auf Normierungsautorität wird unterschiedlich begründet: Wieland führt einen empirischen Beweis an, insofern er auf die Sprach- und Literaturentwicklung Frankreichs verweist. Diese belege eindeutig, dass die Literaten die Schriftsprache ausbilden. Während Wieland wie andere Vertreter spätaufklärerischer Literaturkonzepte dem Schriftsteller noch Grenzen in der sprachlichen Gestaltungsfreiheit setzen, zeigt die polemische Schrift gegen die Literatur der Bardendichtung und der Stürmer und Dränger von Wezel, dass selbst diese Grenzen im literarischen Diskurs hinterfragt werden (vgl. Wezel AV 1778). Ein weiterer Grund für den Normierungsanspruch der Schriftsteller sieht etwa Rüdiger in der besonderen sprachlichen Kompetenz der Schriftsteller. Campe

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

behauptet, dass die Schriftsteller in engster Verbindung zu den Rezipienten stünden und ihr Einfluss auf die Leser am stärksten sei. d. Forderung nach Bereicherung des Hochdeutschen In verschiedenen Beiträgen wird die Forderung erhoben, den Wortschatz des Hochdeutschen zu erweitern. Die von Adelung und anderen Sprachkundlern geforderte Variantenreduktion wird von der Mehrheit der Literaten und Publizisten als Gefahr für das Ausdruckspotenzial des Hochdeutschen gewertet. Sie treten daher für eine Variantenvielfalt ein, die durch verschiedene Vorschläge hergestellt werden soll: Aufnahme regionaler und soziolektaler Varianten Wieland bewertet die Dialekte nicht als notwendiges Übel moderner Sprachen, sondern als ein „gemeines Gut und Eigenthum der ächten teutschen Sprache“ (WH1 1782). Sie stellen seiner Ansicht gemäß eine „Fundgrube“ (ebd.) zur Bereicherung des Deutschen dar (ebd., 170). Die Normierungspraxis Adelungs geht nach Ansicht Wielands zulasten des Reichtums des deutschen Wortschatzes. Wieland nimmt aber eine gemäßigte Haltung in Bezug auf veraltete Wörter und Provinzialausdrücke ein und plädiert für eine genaue Abwägung im Einzelfall (ebd., 212). Besonders scharf fällt das Urteil des Homer-Übersetzers und Dichters Johann Heinrich Voß aus, der das Adelung’sche Wörterbuch der hochdeutschen Mundart kurzerhand zu einem Wörterbuch des Meißnischen erklärt und die von Gottsched konzipierte Leitvarietät als „reingewässerte[s] Hochdeutsch“ charakterisiert. Die von Adelung (zumindest theoretisch) geforderte Ausschließung von regionalen und sozialen Varianten sowie der älteren wie neueren Literatur sei für das Hochdeutsche im Allgemeinen wie für die Literatursprache insbesondere inakzeptabel: Denn welches Deutsch doch verlangt Deutschland in einem Wörterbuche geordnet und erklärt zu sehn? Natürlich den ganzen Umfang seiner gemeinsamen Sprache, worin der gute Schriftsteller, vom leichtesten Tone bis zu den kühnsten der Poesie, nicht weniger als der Reisende von Erziehung, den Gebildeten aller Landschaften verständlich ist. Natürlich jenes aus den vereinigten Sprachschätzen des Volks allmählich ausgehobene, und nach innerem Gehalt und dem Verdienste der Redenden gewürdigte, überall gangbare Hochdeutsch, welches man sonst reines Deutsch, in dunkleren Gegenden auch wohl Lutherisches mit einem nicht unrichtigen Ausdrucke, zu nennen pflegt. (Voß DSK 1804, 192, vgl. auch ebd., 205f.)

Die Bereicherung des Hochdeutschen durch die Dialekte wird vor allem mit ihrer grundsätzlichen Gleichwertigkeit legitimiert. Campe hebt beispielsweise den Anteil des Oberdeutschen, des Niederdeutschen sowie aller anderen deutschen Dialekte an der Entstehung und Entwicklung der

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hochdeutschen Schriftsprache hervor (Campe WH 1795, 164f.). Deshalb wird den Dialekten gleichermaßen das Recht zugesprochen, zu der weiteren Ausbildung des Hochdeutschen beizutragen, falls die entsprechenden Varianten der hochdeutschen Analogie entsprechen (ebd., 165).226 Deutlich wird, dass Campe die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache als einen Ausgleichs- und Mischungsprozess konzipiert, in dessen Verlauf eine Bereicherung der Leitvarietät durch die Dialekte stattfindet (Campe ebd., 167). Den Einfluss der regionalen Sprachen auf die Leitvarietät charakterisiert er als einen natürlichen sprachlichen Prozess.227 Als weiterer Beleg für die Forderung nach einer Bereicherung des Hochdeutschen soll an dieser Stelle Friedrich Gedike zitiert werden, da er explizit für die Vorbildfunktion des Niederdeutschen plädiert, das er mit den Eigenschaften „Reinheit“ und „Reichtum“ kennzeichnet und das „sanfter“, „weicher“ und „melodischer“ als das Oberdeutsche und Hochdeutsche sei (Gedike DD 1794, 310f.). Gedike empfiehlt insbesondere eine Bereicherung des Hochdeutschen durch das Niederdeutsche. Die hochdeutsche Schriftsprache könne durch die niederdeutsche „Umgangssprache“ (ebd., 319) bereichert werden, dies gelte insbesondere für die niederen Gattungen der Poesie wie für die Komödie und Satire (ebd., 319f.). Bei Richter finden sich Tendenzen, die Sprache der unteren Schichten aufzuwerten. So charakterisiert er ihre Sprache als lebendig im Gegensatz zu den „schleppenden“, „erhabenen“ Ausdrücken der Oberschichten (vgl. Richter KA 1784, 87ff.). Diese Toleranz gegenüber dem Sprachgebrauch der unteren Schichten wird mehrfach hervorgehoben (ebd., 17ff.): „Viele gemeine Volksausdrükke und Provinzialwörter sind ausdrükkender und darum besser als die der deutschen Gelehrten- oder Büchersprache, und es ist schon schade, daß man diese nicht mit jenen vertauschen […]“ soll (ebd., 87) Seine Toleranz gegenüber sozialen und dialektalen Varianten resultiert aus einer starken Gewichtung der pragmatischen Dimension von Sprache. Die Sprache solle in Bezug auf unterschiedliche Verwendungssituationen unterschiedlich bewertet und normiert werden. Sprachpuristischen Bemühungen wird deshalb eine klare Absage erteilt. Die Mehrheit der Literaten und Publizisten fordert, dass das Hochdeutsche durch regionale und/oder soziolektale Varianten bereichert werden solle, wobei als Argument angeführt wird, dass die Ausdrucksfähigkeit 226 Zur Beweisführung zieht Campe die Geschichte der Schriftsprache, einzelne Äußerungen Adelungs und einige Beispiele von Wörtern, Wortformen und Wortbestimmungen, die aus dem Ober- und Niederdeutschen stammen, heran (Campe WH 1795, 165f.). 227 Die Forderung, das Hochdeutsche durch die Dialekte zu bereichern, erhebt auch Rüdiger (VHS 1783, 26f.).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

der hochdeutschen Schriftsprache begrenzt sei. Eine Leitvarietät müsse aber eine höchstmögliche Ausdrucksfähigkeit besitzen. Anders formuliert, muss die Schriftsprache zur Realisierung aller kommunikativen Zwecke der bürgerlichen Oberschichten, Bildungseliten und Literaten geeignet sein. Die Argumentationen variieren allerdings: Eine besondere Wertschätzung der Dialekte als unermeßliche Fundgrube des Deutschen belegt die Argumentation Wielands. Auch Campe und Gedike verweisen auf die Vorbildfunktion von Dialekten, die für die Konzeption einer Leitvarietät bei Adelung keine besondere Rolle spielen, d. h. das Ober- und Niederdeutsche. In der Argumentation Richters wird besonders deutlich, welche Gründe für eine Integration soziolektaler und dialektaler Varianten gesehen werden. Neben dem eher pragmatischen Argument, dass die Leitvarietät ein überständisches und überregionales Kommunikationsmedium sein müsse, unterscheidet er zwischen dem lebendigen Ausdruck der Provinzialwörter und der Sprache des Volkes im Gegensatz zu der schwerfälligen Sprache der Oberschichten (vgl. Richter KA 1784, 87ff.). Verwendung von Metaphern, Fremdwörtern und Neologismen Friedrich Gedikes Überlegungen zur Sprachentwicklung in seinem Aufsatz „Gedanken über Purismus und Sprachbereicherung“ (Gedike GPS 1779) basieren wie diejenigen Adelungs auf einer kulturbezogenen Argumentation. Die Sprache einer Kommunikationsgemeinschaft sei zu Beginn der Sprachentwicklung ein Mittel, um die nötigsten Bedürfnisse mitzuteilen. Erst mit der Entwicklung der Kultur schreite auch die Entwicklung der Sprache weiter voran, wobei dieser Prozess potenziell unabschließbar sei (ebd., 388). Gedike warnt eindringlich vor einer endgültigen Normierung der Sprache durch eine Festschreibung des Wortschatzes: Ein Volk, das auf Sprachbereicherung Verzicht thut, seine Wörter alle samt und sonders, wie eine Heerde, in akademische Wörterbücher zusammentreibt und zählt, und ein schief Maul macht, sobald ein Schriftsteller ein neues analogisch gebildetes Wort wagt, wahrlich ein solches Volk muß entweder zu bequem sein, um weiter auf der unbegrenzten Leiter der Volkskultur hinanzusteigen, oder aber es träumt sich schon auf die oberste Stufe hinauf, und sieht mit mitleidigem Stolz alle andre Völker mühsam zu sich hinanklettern. Der Deutsche ist weder demütig noch stolz genug, um sich selbst und seiner Sprache einen unüberschreitbaren Grenzapfel zu stecken. (ebd.)

Zu seinen Vorschlägen zur Bereicherung des Hochdeutschen: Ein Argument für die Notwendigkeit der Bereicherung der Sprache ist die fortschreitende kulturelle Entwicklung. Bezeichnungslücken, die beispielsweise durch neue Gegenstände der außersprachlichen Wirklichkeit entstünden, müssten durch Neologismen geschlossen werden (ebd., 389).

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

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In der ausführlichen Diskussion semantischer Fragestellungen, die Gedike diesem Vorschlag anschließt, plädiert er für eine Entsprechung der Anzahl der Vorstellungen mit der Anzahl der Bezeichnungen, eine typische aufklärerische Forderung der Lexikographie. Allerdings reicht seine Forderung weiter: Synonyme seien nicht als semantischer Problemfall zu bewerten, sondern ein Ausdruck für die Leistungsfähigkeit der Sprache zur Differenzierung (ebd., 392). Er räumt allerdings eine Textsortenspezifik ein: Während poetische Texte von der Synonymie profitieren würden, sei sie für wissenschaftliche Texte problematisch. Dem Literaten, der seiner Ansicht nach schon immer den größten Einfluss auf die Entwicklung der Sprache gehabt habe, stehe deshalb die größte Freiheit bei der Verwendung von Synonymen zu (ebd., 393). Für die Bereicherung des Hochdeutschen selbst unterscheidet er zwischen der Integration von Entlehnungen und der Bereicherung durch indigenes Wortgut. Er befürwortet die Aufnahme komplexerer fremdsprachlicher Wortfügungen oder Redensarten, wenn diese nicht gegen den „Genius“ des Deutschen verstoßen (ebd., 404). Den sprachpuristischen Vorwurf, „Sprachenmengerei“ zu vermeiden, nimmt er vorweg und entkräftet ihn mit einigen Hinweisen zur Verwandtschaft der europäischen Sprachen untereinander. Er kommt zu dem Schluss: „Warlich, völlige Reinheit irgend einer Sprache ist – Traum.“ (ebd., 394) Damit redet Gedike aber keinesfalls der unüberlegten Wortschatzbereicherung durch fremdsprachliche Ausdrücke das Wort. Notwendig bleibe die Überprüfung, ob nicht für den entsprechenden Ausdruck ein deutsches Wort existiere (ebd., 398): „Weg also mit allen ausländischen Wörtern, die nicht Bedürfnis entweder der Nothdurft oder der Schönheit rief.“ (ebd., 400) Für die fremdsprachlichen Ausdrücke, besonders aus dem Lateinischen, fordert er eine Angleichung an das Flexionssystem des Deutschen und an die deutsche Orthographie. In die gleiche Richtung, die Gedike in seinem Aufsatz vorzeichnet, gehen die Äußerungen eines anonymen Autors in der „Berlinischen Monatsschrift“ (Anonymus ADS 1783). Er plädiert explizit dafür, fremde Wörter in den Wortschatz zu integrieren, um lexikalische Lücken zu schließen und dafür, bereits etablierte „Verdeutschungen“ von Fremdwörtern beizubehalten (vgl. ebd., 588). Er befürchtet wie die anderen Literaten und Publizisten vor allem eine Verarmung des Ausdruckpotenzials des Hochdeutschen. Zur Begründung führt er an, dass der „gute Geschmack“ in Obersachsen bereits Provinzialwörter aus dem oberdeutschen Sprachraum und auch Fremdwörter aufgenommen habe (vgl. ebd., 589). Rüdiger bekundet im ersten Stück seines „Neuesten Zuwachses“ (AÜ 1782), dass die Bereicherung der Schriftsprache vor allem eine Aufgabe

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

der Schriftsteller sei, und nennt als Quellen dieser Bereicherung: die Dialekte, die Analogie als sprachstrukturelles Entscheidungskriterium, gelungene Übersetzungen antiker Schriften sowie ausländischer Schriften. Ziel ist der Ausbau des Ausdruckpotenzials der deutschen Sprache (vgl. ebd., 23). Im Gegensatz zu Adelung sieht Rüdiger in der Aufnahme von Fremdwörtern und fremden Redensarten sowie von Neologismen keine Gefahr für den Bestand des Hochdeutschen. Rüdiger legitimiert eine (wenn auch im Einzelfall wohl abzuwägende) Verwendung von Neologismen. Eine sprachnationalistische Verehrung älterer Sprachstufen lehnt er ab und favorisiert im Gegensatz dazu einen friedlichen Kosmopolitismus: Aber eben seit dieser Zeit, wird unsere Literatur auch den Ausländern wichtiger, bekannter und angenehmer. Sie lassen uns Gerechtigkeit wiederfahren, da also wäre es auch billig, daß wir uns damit begnügten. Der Nationalstolz und die Verachtung anderer geht, wie Zimmermann lehrt, desto weiter, je weniger Grund dazu ist. Der beste ist der gemeine Weltbürger. Mögten doch dieses auch in der Litteratur, alle die beherzigen, welche teutsche Urbilder und Kraftsinn allein bis zur Abgötterey verehren. Mögten sie dafür stille, fleißige Mitarbeiter werden, die deutsche Literatur vollends auf den Gipfel empor zu bringen, dem sie nahe ist. An der Gleichheit mit den Ausländern fehlt uns nicht viel mehr, in manchen Stücken sind wir ihnen gleich, oder zuvorgekommen, in allen müssen wir weiter mit ihnen um die Wette das Ideal zu erreichen suchen. (Rüdiger AÜ 1782, 19f.)

Die von den Literaten und Publizisten erhobene Forderung nach Bereicherung des Hochdeutschen durch Metaphern, Fremdwörter und/oder Neologismen wird mit dem Argument begründet, dass die Ausdrucksfähigkeit der hochdeutschen Schriftsprache begrenzt bzw. in Zukunft gefährdet sei. Archaismen als kraftvolle Ausdrücke Gedike nennt drei Möglichkeiten, das Deutsche aus sich selbst heraus zu erweitern: „Prägung wirklich neuer Wörter, Hervorsuchung alter Kernausdrücke, die unverdienter Weise abgesetzte Münze geworden, und endlich Borgung guter und der Schriftstellersprache fehlender Wörter aus den Dialekten.“ (Gedike GPS 1779, 407) In Bezug auf die Wiederentdeckung der „Kernausdrücke“ lobt Gedike explizit die Arbeit Lessings und Ramlers (vgl. ebd., 412). Die Texte, auf die Gedike zielt, dürfen aber – hier nennt er als Autorität Quintilian – nicht aus der ältesten Vorstufe des Deutschen stammen, das bedeutet aus der althochdeutschen Sprachstufe. Die „Minnesinger“ (ebd., 413) werden aber explizit als Vorbild genannt neben Luther. Die Archaismen in der Bibelübersetzung Luthers charakterisiert er als kraftvolle Ausdrücke (vgl. ebd.). Sie sollten ausnahmslos erhalten werden, da ihre Ersetzung durch Übersetzungen der Exegeten den

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

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ursprünglichen Bibeltext unverständlich machen würden. Für alle anderen Archaismen gilt, dass ihre Notwendigkeit und ihr Nutzen anhand von entsprechenden Belegstellen gezeigt werden solle. Die „Wiederbelebung“ dieser als ursprünglich, volkstümlich und kraftvoll gekennzeichneten Ausdrücke bleibt aber der Schriftsprache vorbehalten: Überall, vornehmlich in der Umgangssprache, sich mit alten Wörtern behängen, ist Narrheit, oder wenigstens Ziererei. Ich selber würde lachen, wenn mir jemand von Schmerzen im Ferch (Eingeweide) oder von seinem Schwerd= und Spillmagen (väterlichen und mütterlichen Verwandten) vorreden wolte. (ebd.)

Der Dichter Johann Heinrich Voß verurteilt in seiner Rezension der „Grammatischen Gespräche“ Klopstocks in der „Jenaischen Allgemeinen Zeitung“ die von Adelung in seinem Wörterbuch vorgenommene Kennzeichnung von Varianten. Adelung hat in seinem Wörterbuch beispielsweise sozialschichtig markierte, veraltende bzw. veraltete Ausdrücke und regionale Varianten zur Warnung vor ihrer Verwendung angeführt (vgl. Adelung GKW/1 1774, ebd., XIII). Voß bezeichnet es aber als die zentrale Aufgabe eines Wörterbuchs, solche Ausdrücke sowohl für den Schriftsteller als Experten zu bewahren als auch für den Laien zu erklären. 3.4.8 Zusammenfassung und Auswertung: Dogmatisierung und Pluralisierung der sprachgeographischen Legitimierung des Hochdeutschen Die Textflut, die Adelungs Beharren auf der Gleichsetzung des Hochdeutschen mit dem Obersächsischen hervorruft, zeigt, dass die Sprachkundler am Ende des 18. Jahrhunderts eine Vielzahl im Detail variierender Konzepte der Leitvarietät vertreten. Die von den Literaten und Publizisten vorgebrachten Argumentationen werden in der nachstehenden Tabelle zusammengefasst, die als Interpretationsfolie dienen soll.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Übersicht: Sprachvorbilder im späten 18. Jahrhundert228 Quelle

Sprachgeographisches Vorbild MO

Adelung GKW/1 1774 Adelung 1MDS/I Adelung ÜDS/1 1785 Anonymus DM/I 1782, DM/II 1783 Anonymus ADS 1783 Biester KT 1783 Campe WH 1795

OBD

ND

+

Gruppenspezifisches Schriftsprache Vorbild Bildungseliten

Oberschichten

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+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

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+

+

+

+

+

+

+

+

Cludius VS 1795

+

Fulda GWW 1776 Gedike DD 1795 Heynatz BDS/1 1771 Krause DM/III 1783 Nicolai ZH 1808 Rüdiger VHS 1783 Schmohl DM 1780 von Sonnenfels ÜG 1784 Stosch KB/3 1782 Wieland WH1 1782 Zöllner ÜDA 1796

+

+

+

+ +

+ +

+

+

+

+

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+

+

+ +

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+ +

+

+

+

+ +

+

+

+

228 MO steht für Meißnisch-Obersächsisch, OB für Oberdeutsch sowie ND für Niederdeutsch.

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

261

Aus der Übersicht geht hervor, dass Ende des 18. Jahrhunderts ein breiter Konsens darüber besteht, dass das Hochdeutsche in medialer Hinsicht die Schriftsprache ist, an die spezifische stilistische Forderungen geknüpft werden, die in Kapitel 6 zum Gegenstand werden. Ebenso wird der Sprachgebrauch der niederen sozialen Schichten als ‚Stigmasoziolekt‘ der Sprache der oberen Schichten bzw. der Bildungseliten als ‚Prestigesoziolekt‘ gegenübergestellt, dies ist Gegenstand des sprachsoziologischen Diskursbereichs. Während viele der Literaten, Publizisten und Sprachkundler eine Vorbildlichkeit des Obersächsischen einräumen, sind sie sich gleichzeitig darüber einig, dass das (mündlich realisierte) Obersächsische nicht als Leitvarietät dienen soll. Zweitens plädieren sie in der Regel für eine tolerantere Haltung gegenüber landschaftlichen Varianten. Anhand der vorgebrachten Argumentationen lassen sich folgende Gruppierungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts im Sprachnormierungsdiskurs ermitteln: a. Vertreter eines oberdeutschen Sprachvorbilds Wieland fordert wie die schwäbischen Sprachkundler Fulda (GWW 1776) und Nast (TSF/1 1777 und TSF/2 1778) eine stärkere Berücksichtigung des oberdeutschen Sprachvorbilds ein und verweist auf die Vorbildlichkeit der mittelhochdeutschen Literatur (Wieland WH1 1782). Diese Betonung des schwäbisch-alemannischen Sprachvorbilds ist bereits durch Bodmer und Breitinger Mitte des 18. Jahrhunderts vorweggenommen worden (siehe Kapitel 3.3.4).229 Campe fordert ebenfalls eine Berücksichtigung des Oberdeutschen bei der Normierung der deutschen Sprache, geht aber von einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit der Dialekte aus (vgl. Campe WH 1795). b. Vertreter eines „niederhochdeutschen“ Sprachvorbilds Für eine stärkere Gewichtung der niederdeutschen Aussprache des Hochdeutschen in Form des „Niederhochdeutschen“ sprechen sich ebenfalls verschiedene Autoren aus, zu verweisen ist auf Richter, Gedike, Zöllner, Stosch, Biester, Campe und einen anonymen Autor im „Deutschen Magazin“ (vgl. Anonymus DM/I 1782 und DM/II 1783). Eine wesentliche Motivation für die Nennung des Niederdeutschen als Sprachvorbild ist die von den Sprachkundlern wahrgenommene schriftnahe Lautung der sozialen Oberschichten in Norddeutschland. Der Wandel der Aussprachenormen kündigt sich bereits in sprachreflexiven Schriften des 17. Jahrhunderts an (vgl. von Polenz 1994, 143f.). Im Zuge dieser Entwicklung 229 Wieland selbst ist zur Jahrhundertmitte ein Schüler Bodmers in Zürich.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

verliert das Obersächsische endgültig sein hohes Sprachprestige zu Gunsten einer niederhochdeutschen Lautung.230 Als Grund für die Ablösung des obersächsischen Sprachvorbilds wird schon in der zeitgenössischen Diskussion die Verschiebung des kulturellen Zentrums von Kursachsen nach Preußen genannt. So schreibt der anonyme Autor im „Deutschen Magazin“, dass Berlin längst die kulturelle Vorrangstellung eingenommen habe, die Adelung für das Gebiet Kursachsen veranschlagen will (vgl. Anonymus DM/II 1783, 145). In Anlehnung an die bereits dargestellte Aufwertung der Dialekte im Rahmen der Idiotiken ist aber auch auf die grundsätzliche Neubewertung der Dialekte hinzuweisen. Diese gelten nicht länger per se als Hindernis auf dem Weg zur Errichtung einer einheitlichen Sprache, sondern als deren notwendige Basis. c. Normierungsanspruch der Literaten und Publizisten Die Literaten und Publizisten gehen mehrheitlich davon aus, dass das Hochdeutsche mit der Schriftsprache bzw. bestimmten vorbildlichen Textmustern im engeren Sinne gleichzusetzen ist. Adelung hat in seinen Schriften mehrfach darauf verwiesen, dass das Hochdeutsche die gesprochene und geschriebene Sprache der oberen Schichten Obersachsens sei. Einer derartigen Bestimmung der Leitvarietät stehen die Literaten und Publizisten überaus kritisch gegenüber, dies betrifft zum einen die konstatierte Verarmung des Wortschatzes der Leitvarietät, falls im Sinne Adelungs alle Ausdrücke aus dem Hochdeutschen ausgeschlossen werden, die im Obersächsischen nicht üblich sind. Sie fordern die Aufnahme landschaftlicher Ausdrücke, um das Ausdruckspotenzial der Schriftsprache zu erweitern. Darüber hinaus beanspruchen sie eine Normierungsautorität, insofern sie die Einflussnahme der Grammatiker und Lexikographen gegenüber der Schriftsprache im Allgemeinen und der Literatursprache im Besonderen als illegitim zurückweisen. Für Wieland (WH1 1783, 161, 208f.) beispielsweise sind die Dichter, Schriftsteller und Populärphilosophen nationale Symbole. Diese Größen stiften seiner Ansicht nach einen nationalen bürgerlichen Zusammenhang. Ihnen solle bei der Entwicklung der Sprache eine absolute Normierungsautorität zugestanden werden. Auch Biester verweist ausdrücklich auf die Rolle der Schriftsprache als nationalitätsstiftendes Symbol (vgl. Biester KT 1783, 189). Die Sprache solle zudem nicht in das „Regelkorsett“ der aufklärerischen Sprachnor230 In Norddeutschland wird die ostmitteldeutsche Schriftsprache in den Schulen in Form von Lautierübungen erlernt. Diese Aussprache ist überaus schriftnah, ganz im Gegensatz zur Aussprache des obersächsischen Dialekts.

3.4 Konzeptionen der Leitvarietät nach 1748

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mierer gezwängt werden. Deshalb eint die Literaten und Publizisten das Plädoyer für eine Bereicherung des Hochdeutschen durch stilistische, soziale bzw. auch landschaftliche Varianten. Die von Adelung provozierte Textflut und die Heftigkeit, mit der die Debatte geführt wird, legt den Schluss nahe, dass der Streit um das Hochdeutsche am Ende des 18. Jahrhunderts Ausdruck einer neuen „Qualität metasprachlich-nationalsprachlicher Kompetenz“ (Lerchner 1984, 111) ist. Aufgrund der vielfältigen Begründungsversuche alternativer Hochdeutsch-Konzeptionen kann im späten 18. Jahrhundert von einer ‚Pluralisierung‘ der sprachgeographischen Vorbilder gesprochen werden. An dieser Stelle ist ein Spezifikum des Sprachnormierungsdiskurses der Adelung’schen Ära zu betonen, das für die Auseinandersetzung zwischen Gottsched und seinen Opponenten so noch nicht zutrifft: die Rezeption der Diskussion durch eine bürgerliche Öffentlichkeit. Die Literaten und Publizisten, die in den zahlreichen aufklärerischen Zeitschriften über die Leitvarietät schreiben, wenden sich an eben diese bürgerliche Öffentlichkeit, als deren Sprachrohr sie sich verstehen. Trotz der in den zeitgenössischen literarischen Zeitschriften offenkundigen Pluralität der Konzepte einer Leitvarietät beharrt Adelung eindeutig auf seiner Identifizierung des Hochdeutschen mit dem MeißnischObersächsischen der oberen sozialen Schichten, insofern kann von einer ‚Dogmatisierung‘ gesprochen werden, die die tatsächliche Ablösung der kulturellen und politischen Vormachtstellung Kursachsens durch Preußen ignoriert. Adelungs obersächsisches Sprachvorbild kann als Resultat seiner eigenen sprach- und kulturhistorischen Studien gewertet werden und ist Ausdruck seiner Konzeption einer Leitvarietät, die das Hochdeutsche an ein konkretes gesellschaftliches Kommunikationssystem anbindet. Seine kulturbezogene Argumentation legt den Schluss nahe, dass er sich die Vereinheitlichung des Deutschen nur als eine Art Ausstrahlen eines kulturellen und wirtschaftlichen Zentrums vorstellen kann.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

3.5.1 ‚Hochdeutsch‘

Hochdeutsch, das; -en/en; auch: Hochteutsch. Wbg.: Adj.: halb-hoch-

deutsch, obersächsischhochdeutsch. Subst.: Allein-Hochdeutsch, Hochdeutscher, Hochdeutschheit. Die Bedeutung der Bezeichnung ‚Hochdeutsch‘ ist im 18. Jahrhundert heftig umstritten. Die am deutschsprachigen Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts beteiligten Grammatiker, Lexikographen, Orthographen etc. sowie Publizisten und Literaten definieren die als Hochdeutsch bezeichnete Leitvarietät sehr unterschiedlich.231 Konsens besteht weitgehend in der Bestimmung des Hochdeutschen als Sprache der oberen Schichten der bürgerlichen, städtischen Bevölkerung und der Bildungseliten (→ Hochdeutsch1, Gelehrte1/2) sowie als die in Deutschland verbreitete Schriftsprache (→ Hochdeutsch2). Gemäß des aufklärerisch-rationalistischen Eindeutigkeits-Topos soll die Sprache die Gegenstände und Sachverhalte der außersprachlichen Wirklichkeit möglichst in einem 1:1-Entsprechungsverhältnis abbilden. Die zentralen zeitgenössischen stilistischen Schlüsselwörter des Sprachnormierungsdiskurses, die deshalb von der Leitvarietät gefordert werden, sind ‚Verständlichkeit‘ (→ verständlich), ‚Klarheit‘ und ‚Deutlichkeit‘, ‚Reinheit‘ und ‚Richtigkeit‘ sowie ‚Natürlichkeit‘ (→ Hochdeutsch7). Die im Zuge der Normierung der als Hochdeutsch bezeichneten Leitvarietät erfolgte Aussonderung von landschaftlichen, soziolektalen und stilistischen Varianten wird im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bereits von einigen Sprachkundlern beklagt. Die Bedeutungen 3 und 4 sind der regionalen Bestimmung des Hochdeutschen geschuldet. In der dritten Bedeutung ist das Hochdeutsche gleichgesetzt mit dem Obersächsischen bzw. dem Meißnischen. Diese Identifizierung wird maßgeblich von Johann Christoph Gottsched und Johann Christoph Adelung vertreten (→ Hochdeutsch3, Meißnisch/Obersächsisch2/3). Vor allem vor dem 17. Jahrhundert wird Hochdeutsch als Sprachbezeichnung für den südlichen Teil Deutschlands verwendet. In der Bedeutung 4 bezeichnet der Ausdruck somit die höher gelegenen Ge231 Wenngleich das Hochdeutsche nicht nur sprachgeographisch bestimmt wird, sondern beispielsweise auch sprachsoziologisch als Sprache der Oberschichten und Bildungseliten, und deshalb auch in Kapitel 4 angeführt werden könnte, wird d a s Schlüsselwort des Sprachnormierungsdiskurses an dieser Stelle aufgenommen, da gerade die sprachgeographische Identifizierung des Hochdeutschen mit dem Obersächsischen besonders umstritten ist.

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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biete im Gegensatz zum Niederdeutschen in den tiefer gelegenen, nördlichen Gebieten Deutschlands (→ Hochdeutsch4, antonym zu Niederdeutsch1). Gemeint ist an dieser Stelle sowohl der südliche Teil Deutschlands als auch die ostmitteldeutschen Gebiete. Diejenigen, die eine Vorbildlichkeit des Obersächsischen vertreten (→ Hochdeutsch3, Obersächsisch2/3), nehmen eine anomalistische Position ein. Sie erklären den Sprachgebrauch einer bestimmten Region zur Leitvarietät. Tatsächlich ist für die Leitvarietätkonzeption der Sprachkundler wie etwa Hallbauer (vgl. Hallbauer VTO 1725), Gottsched (vgl. Gottsched DS 1762) und Adelung (vgl. Adelung GKW/1 1774) eine Kombination der Bedeutungen 1, 2, 3 und 7 kennzeichnend. Aus der Darstellung folgt, dass Hochdeutsch zugleich definiert ist als die Sprache der Bildungseliten und Oberschichten (→ Bedeutung 1) des obersächsischen Sprachgebiets (→ Bedeutung 3), die im Sinne einer mündlich gesprochenen Sprache zu verstehen ist. Zweitens handelt es sich aber auch um eine als relativ homogen betrachtete Schriftsprache (→ Bedeutung 2). Darüber hinaus meint Hochdeutsch hier eine qualitativ hoch entwickelte Sprachform (→ Bedeutung 7). Diese gruppenspezifische Verwendungsweise des Schlüsselwortes steht in Konkurrenz zu einer zweiten, ebenfalls gruppenspezifischen Semantik. Für diese ist die Einzelbedeutung 6 zentral: Hochdeutsch in der Bedeutung 6 ist eine Sprache, die durch einen Vergleich aller Mundarten bzw. regionalen Varietäten „ausgehoben“ werden soll. Diese Position wird deshalb an dieser Stelle als ‚Aushubtheorie‘ bezeichnet. Leitendes Kriterium ist die Analogie sprachlicher Formen, deshalb spricht man auch von einer analogistischen Position.232 Doch auch die Vertreter dieser Leitvarietätkonzeption, wie etwa der süddeutsche Theologe Gelasius Hieber (vgl. [Hieber] PB 1723-1725), der Oberpfälzer Jakob Hemmer (vgl. Hemmer DSL 1775) oder der Schwabe Friedrich Karl Fulda (vgl. Fulda GWW 1776, Fulda VIS 1788), verwenden das Schlüsselwort Hochdeutsch darüber hinaus in der Bedeutung 1, 2 und 7. Sie teilen somit die Bestimmung von Hochdeutsch als ›Sprache der Bildungseliten und Oberschichten‹, ›Schriftsprache‹ und ›ausgebildete, normierte Sprache‹. Die Konkurrenz der beiden Verwendungsweisen des Schlüsselwortes Hochdeutsch kann als deskriptive Bedeutungskonkurrenz klassifiziert 232 Analogie meint die Orientierung an einer inneren Systematizität der Sprache, die über die regelhafte Bildung von Wörtern entscheidet. Bei der Beurteilung von Wortbildungen beispielsweise erfolgt eine Orientierung an der Mehrheit schon vorhandener Formen, so ist z. B. „Hauseingang“ eine analoge Wortbildung zu ‚Haustür‘ und ‚Hausflur‘. Diese innere Systematizität der Sprache bezeichnet Schottelius als „Grundrichtigkeit“ (vgl. Schottelius AA 1663, 144).

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

werden (vgl. Klein 1989, 17). Für diese ist neben der Polysemie des betreffenden Ausdrucks kennzeichnend, dass die Diskursteilnehmer versuchen, jeweils ihre eigene Bedeutungsvariante durchzusetzen. Die nachstehende Übersicht verdeutlicht die deskriptive Bedeutungskonkurrenz, wobei die jeweils relevanten Bedeutungspositionen gegenübergestellt werden: Zur Semantik des Schlüsselwortes ,Hochdeutsch‘

1. 2. 3. 7.

Vertreter der obersächsischen Leitvarietät ›Sprache der Bildungseliten und oberen sozialen Schichten‹ ›Schriftsprache bzw. die Literatursprache im engeren Sinne‹ ›Sprache, die in Obersachsen bzw. Meißen gesprochen/ beschrieben wird‹ ›Sprache, die im Gegensatz zu anderen ein besonders hohes Entwicklungsniveau erreicht hat und bestimmte qualitative Eigenschaften aufweist‹

Vertreter der ‚Aushubtheorie‘ 1. ›Sprache der Bildungseliten und oberen sozialen Schichten‹ 2. ›Schriftsprache bzw. die Literatursprache im engeren Sinne‹ 6. ›aus den Dialekten gewonnenes Substrat‹ 7. ›Sprache, die im Gegensatz zu anderen ein besonders hohes Entwicklungsniveau erreicht hat und bestimmte qualitative Eigenschaften aufweist‹

Widerstand gegen die Vertreter des obersächsischen Vorbildanspruchs regt sich vereinzelt zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Nord- und Süddeutschland und in der Schweiz. Die Durchsetzung der ostmitteldeutschen Schriftsprache erfolgt in der Schweiz seit den 1730er Jahren, setzt ab 1750 in Österreich und ab den 1760er Jahren schließlich in Bayern ein. Dass die Bedeutungsdimension 4 im Sprachnormierungsdiskurs sehr selten belegt ist, bringt die erfolgte Durchsetzung der konkurrierenden Bedeutungsdimension 3 zum Ausdruck. Die Vertreter der obersächsischen Leitvarietät setzen ihre Bestimmung des Hochdeutschen weitgehend durch. Das Hochdeutsche ist in der Bedeutung 5 definiert als die Sprache der Deutschen, die Sprache der Nation bzw. des Volkes (→ Hochdeutsch5, Nation/Volk1). In der Bedeutung 7 ist das Hochdeutsche zu verstehen als eine Sprache bzw. Varietät, die im Gegensatz zu anderen Sprachen bzw.

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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Varietäten ein besonders hohes Entwicklungsniveau erreicht hat. Beispielsweise werden dem Hochdeutschen die Eigenschaften ‚Vollkommenheit‘ und ‚Schönheit‘ zugeschrieben (→ Hochdeutsch7). Das Schlüsselwort Hochdeutsch weist darüber hinaus eine deontische Bedeutungsdimension auf. Beispielsweise ist in die Aussagen über die Leitvarietät eingeschrieben, welche Handlungen die Sprecher in Bezug auf das Hochdeutsche zu vollziehen haben. So soll die Leitvarietät von allen Sprechern und Sprecherinnen erlernt und beherrscht werden (→ deontische Bedeutungsdimension). Die deontische Bedeutungsdimension ist jeweils gebunden an eine der genannten Bedeutungsdimensionen, deshalb wird sie in der Darstellung nicht alphanummerisch aufgelistet, sondern weist einen Sonderstatus auf. Im Einzelnen lassen sich sieben Bedeutungsdimensionen unterscheiden sowie eine zusätzliche deontische Bedeutungsdimension:233 1. ›Sprache der Bildungseliten und oberen sozialen Schichten‹ 2. ›Schriftsprache bzw. Literatursprache im engeren Sinne‹ 3. ›Sprache, die in Meißen bzw. Obersachsen gesprochen/geschrieben wird‹ 4. ›Sprache, die in Süd- und Mitteldeutschland gesprochen wird‹ 5. ›Sprache der Deutschen, der Nation oder des Volkes‹ 6. ›aus den Dialekten gewonnenes Substrat‹ 7. ›Sprache, die im Gegensatz zu anderen ein besonders hohes Entwicklungsniveau erreicht hat‹ ›deontische Bedeutungsdimension‹ 1. ›Sprache der Bildungseliten und oberen sozialen Schichten‹ Konsensual wird die Leitvarietät mit dem Sprachgebrauch bestimmter sozialer Schichten gleichgesetzt. Als Vorbild werden zum einen die Oberschichten ausgewiesen, zum anderen wird eine bildungssoziologische Einschränkung auf den Sprachgebrauch der ‚Gelehrten‘ bzw. Schriftsteller

233 Die Bedeutungsparaphrasen sind insofern eine Abstraktion und Vereinfachung, als mit Sprache an dieser Stelle sowohl eine Einzelsprache als auch eine Varietät gemeint sein kann, allerdings wird diese Differenzierung im Sprachnormierungsdiskurs in der Regel nicht berücksichtigt. Die deontische Bedeutungsdimension wird nicht alphanummerisch mitgezählt, da sie jeweils an eine der anderen Bedeutungsdimensionen gebunden ist.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

vorgenommen (→ Gelehrte1/2).234 Diese sprachsoziologische Bestimmung des Hochdeutschen findet sich bei Sprachkundlern aus allen Sprachlandschaften. Wenngleich die Bezeichnung ‚Gemeinsprache‘ in der zeitgenössischen Diskussion noch nicht etabliert ist, ist diese Bestimmung des Hochdeutschen ein deutlicher Indikator für die Differenzierung eines ‚Prestigesoziolekts‘ der Oberschichten und Bildungseliten (→ Gelehrte1/2) und eines ‚Stigmasoziolekts‘ der niederen Schichten (→ Bauer1/2, Pöbel1/2). Die Sprache der unteren Schichten wird als Pöbelsprache geradezu zum Antityp des regelhaften und vorbildlichen Hochdeutschen, v.a. aufgrund der behaupteten Dialektnähe sowie des Gebrauchs von Archaismen und Grobianismen. Die kulturbezogene Argumentation Johann Christoph Adelungs begründet die Vorbildfunktion des Meißnisch/Obersächsischen mit der besonderen kulturellen und wirtschaftlichen Blüte Obersachsens und dem dort angeblich besonders ausgebildeten und verbreiteten ‚guten Geschmack‘ der oberen sozialen Schichten (vgl. Adelung 1MDS/I 1782, 25f. → Meißnisch/Obersächsisch2/3). Außerdem setzt er das Obersächsische in direkte Kontinuität mit der Prestigesprache Luthers, die seit dem 16. Jahrhundert bereits ein Sprachvorbild darstellt. Die sprachsoziologische Einschränkung der Leitvarietät auf den Sprachgebrauch bestimmter Gruppen resultiert nicht zuletzt aus dem aufklärerischen Ziel der Etablierung einer polyfunktionalen Sprache, die über die regionalen Grenzen hinweg verständlich sein soll (→ verständlich1/2/3). So schreibt Friedrich Andreas Hallbauer in seiner „Anweisung zur Verbesserten Teutschen Oratorie“ (Hallbauer VTO 1725), dass die Sprache der Bildungseliten anderen Varietäten der Sprache an „Reinheit“, „Deutlichkeit“ und „Annehmlichkeit“ weit überlegen und damit allgemein verständlicher sei (ebd., 120ff.). Indem der vorbildliche Sprachgebrauch an den Usus des sich formierenden Bürgertums gekoppelt wird, erhält die Sprache eine wichtige sozial distinktive Funktion. Sie dient fortan zur Abgrenzung „nach oben“ zum französischsprachigen Adel und „nach unten“ zu den niederen sozialen Schichten. Das Hochdeutsche wird zur Leitvarietät des frühen Bürgertums. Die Beherrschung des normierten 234 Da bis Ende des 18. Jahrhunderts eine genaue Differenzierung zwischen der schriftlich fixierten Sprache der Gebildeten (im Sinne fachwissenschaftlicher Texte) und mündlicher Sprache der Gebildeten (im Sinne von öffentlichen Vorträgen oder Reden in einem nichtprivaten Raum) von den zeitgenössischen Sprachkundlern nicht oder nur sehr selten vollzogen wird, werden die entsprechenden Belege unter Hochdeutsch1 subsumiert. Dies lässt sich erstens forschungspraktisch begründen, zweitens wird damit aber auch deutlich, dass es sich bei den Sprachkundlern um eine bestimmte soziale Gruppe handelt, die in der Regel ihre eigene Sprachpraxis als Vorbild legitimiert. Dadurch sichern sich die Sprachkundler eine exklusive gesellschaftliche Position.

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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und regelhaften Hochdeutschen wird gleichzeitig zur notwendigen Voraussetzung des gesellschaftlichen Aufstiegs und zur überständischen Leitvarietät erklärt. Die von den Sprachkundlern geforderte Kenntnis und Beherrschung der Leitvarietät in der mündlichen sowie schriftlichen Kommunikation kann im Sinne Foucaults als soziale Disziplinierung verstanden werden, da sie einen Bewertungsmaßstab für den Sprachgebrauch des Einzelnen etabliert sowie zu entsprechenden Sanktionen führt (vgl. Foucault 1976). Bdv.: Gelehrtensprache bzw. Sprache der Gelehrten, Hochdeutsch2/3. Ggb.: Dialekt, Pöbelsprache (→ Pöbel1/2, Bauer1/2). Synt.: Hochdeutsche Mundart, Hochdeutsche Sprache. Hochdeutsch in dieser Bedeutung wird bestimmt als die Sprache des feinern Umgangs bzw. des höheren und des gebildeten Umgangs, als die gesellschaftliche Sprache der obern Klassen, als höhere Gesellschaftssprache für ganz Niedersachsen, die Mundart der Gelehrten bzw. als Sprache der gelehrten und galanten Leute. In dieser Bedeutung ist H. ein Dialectus communis des feinen und gelehrten Deutschlands. Die Hochdeutsche Sprache soll sich nach dem allgemeinen Gebrauch richten. Man kann eine Sprache in Ansehung der Pöbelsprache Hochdeutsch nennen. Ktx.: Gelehrte, Gebildete, obere Klassen, Regel und Richtschnur.

Belege zu Hochdeutsch1: Dieser höhere Entscheidungsgrund [über das, was gutes und richtiges Hochdeutsch ist, Anm. KF] ist denn nun eben der, nach welchem der mündliche Ausdruck eines jeden einzelnen Gliedes der Gesellschaft beurtheilet wird, nehmlich der allgemeine oder übereinstimmige Sprachgebrauch der obern Classen derjenigen Provinz, welcher die Hochdeutsche Mundart ihr Daseyn zu danken hat, welcher aus guten Schriftstellern wieder am reinsten und zuverlässigsten erkannt wird. (Adelung ÜDS/1 1785, 75f. → 2) Ich schlüsse mit eben solcher Gewißheit: man ist verbunden, in Deutschland die hochdeutsche Sprache für die einzige und rechte Sprache dieses Landes zu halten und anzunehmen. Die Geschichte lehret uns, daß selbige in vielen Örtern dieses Landes schon herrsche. Die Erfahrung überzeuget uns, daß auch selbige unter den hohen und gelehrten in den Ländern und Reichen bekannt sey und im Schwange gehe, wo sonsten, annoch unter den gemeinen Leuten die plattdeutsche derselben Muttersprache ausmachet. Die Verbindung den hohen und gelehrten in Ansehung der Sprache zu folgen ist zur genüge bewiesen worden. Müssen wir also nicht eine eben so starke Verbindung dazu erkennen, daß wir die hochdeutsche Sprache als die wahre und rechte der Deutschen annehmen sollen und als diejenige, worauf die Verbesserung abzielen soll? Wer ohne Partheiligkeit die Sachen ansiehet und beurtheilet, wird allerdings meiner Meynung sein. (Anonymus AGDS 1742, 244 → 1/3, Gelehrte1/2, Plattdeutsch1/2) Aus allen Land-läuffigen Mund-Arten erschwinget sich das wahre und zierliche Hochdeutsche und ist keiner Nation oder Land eigenthümlich und angebohren, wie bereits in dem ehemals eröffneten Parnasso Boico der nunmehr zu GOtt ruhende Verfasser des fünff und sechzigisten Berichtes / §. 4. Grund- und Vernunfftmäßig angemercket hat, sondern es bestehet selbes in der Red- und Schreib-Art der Gelehrten welche Kenner / Meister / und Besizer seyn diser mannhafften körnig- und zierlich-klingenden Teutschen Mutter- Zungen: Da nun aber eben die Gelehrte / welche im Stand seynd / von der Sprach zu urtheilen, sich in verschidnen Theilen unsers Teutschlands zerstreuet befinden, und jeder etwas von seiner angebohrnen Mutter-Sprach unterlauffen lasset, kann es freylich nicht anderst seyn / als daß gute und reine Hochteutsche annoch aus keinen vesten und unbeweglichen Fuß gesezet, noch selben seine unstrittige Gränzen ausgestecket seyen. ([Kandler] ATS 1736, 68f. → 6, Gelehrte1/2, Nation1/3) Wir wollen also, um unsere Jugend doch einigermaßen auf etwas gewißes zu führen, diejenige Pronuntiation, die man in Leipzig, Halle und andern vorbenannten Städten für die reineste und beste halten möchte; doch so, wie sie von gelehrten und

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

andern geschickten und gereiseten Leuten fast in ganz Teutschland excoliret und im reden und schreiben richtig gebrauchet wird, unter dem gebräuchlichen Namen der hochTeutschen Sprache dergestalt zur Regel- und Richtschnur annehmen: daß wir uns dieser unserer Anweisung darnach beständig richten, wenigstens ohne gültige und hinlängliche Ursache davon niemals abgehen. (Freyer ATO 1722, 8 → 1/3) Es hat sich in solchen Schrifften [z. B. „Historien“ oder „Chroniken“ vor der Reformation, Anm. KF] ein jeder in die damahlige Zeit gerichtet, in welchen man sich des Dialectes seines Volkes, und der gemeinsten Leute unter demselben, bedienet, und das bis zur Zeit der grossen Kirchen-Reformation, da unter uns das jetzt in Schrifften gebräuchliche Teutsche, welches man in Ansehen der Pöbel-Sprach, Hochteutsch nennet, noch nicht zum Stand gebracht gewesen: daher sind viel Wörter und Ausdrückungen in solchen Büchern, die man nicht mehr verstehet, dann je pöbelhaffter einer damahls geredet und geschrieben, je angenehmer ist er gewesen. (Frisch TLW 1741, 2V → 1, Pöbel1/2) Die hochteutsche Sprache, welche von der feinen und gelehrten Welt öffentlich geschrieben und gedrukt, und nach diesen Schriften in Gesellschaften gesprochen, und auf diese Weise von dem Hörer und Leser verstanden und gelernt und geübet wird, ist an sich in ihrem Umfang unermeßlich, und ungleich reicher, als alle andere Europäischen Sprachen. (Fulda VIS 1788, A2r → 2/6/7, Gelehrte1/2) So waren vor Zeiten, in Griechenland vier Hauptmundarten gewöhnlich, die man Dialekte nennete: der attische, dorische, äolische und ionische. Der toscanische Dialekt ist heute zu Tage in Wälschland, vom neapolitanischen, lombardischen und venetianischen sehr unterschieden. Und so ist es in Frankreich mit dem parisischen, gasconischen, niederbrittanischen und provenzialischen ebenfalls. In Deutschland hat gleichfalls fast jede größere Landschaft ihre eigene Mundart: doch konnte man die hochdeutsche Sprache hauptsächlich in die österreichische, schwäbische, fränkische und meißnische abtheilen. Die plattdeutsche, oder eigentliche sächsische Sprache, theilet sich abermal in viele Mundarten, worunter die preußischbrandenburgische, braunschweigische, hollsteinische und westphälische leicht die ansehnlichsten seyn werden. Doch ist noch zu merken, daß man auch eine gewisse eklektische, oder ausgesuchte und auserlesene Art zu reden, die in keiner Provinz völlig im Schwange geht, die Mundart der Gelehrten, oder auch wohl der Höfe zu nennen pflegt. Diese hat jederzeit den rechten Kern einer Sprache ausgemacht. In Griechenland ‹3› hieß sie der ATTICISMUS, in Rom URBANITAS. In Deutschland kann man sie die wahre Hochdeutsche nennen. (Gottsched DS 1762, 38 → 1/2, Meißnisch/Obersächsisch1, Niederdeutsch/Plattdeutsch1, Gelehrte1/2, Hof1/2). Wollte nun z. E. ein NiederSachse oder Schwabe so schreiben, wie er nach seiner Mundart-Art ausspricht, so wäre es an sich nicht unrecht. Jedoch, weil es zu vieler Verwirrung in der Sprache Anlaß geben würde, wenn ieder schreiben wollte, wie man an dem Orte redet, wo er schreibet; so ist es weit besser gethan daß man hierinne sich nach gelehrten, galanten und angesehenen Männern richtet, und also die hochteutsche Aussprache sich zur Richtschnur im Schreiben vorsetzet. Denn da diese an Reinligkeit, Deutlichkeit und Annehmlichkeit die andern Mund-Arten weit übertrift; so ist es ja billig, daß man sie auch denselben vorziehe. In einer Sprache muß man sich das beste und artigste angewöhnen. (Hallbauer VTO 1725, 120f. → 1/7, Gelehrte1/2) Also bedienet er [der Redner, Anm. KF] sich der reinen hochteutschen Sprache, wie sie heutiges Tages bey den galanten und gelehrten Leuten im Reden und Schreiben gebräuchlich ist. Man vermeidet fremde Wörter, die das Bürgerrecht in der hochteutschen Sprache nicht erhalten, ingleichen, verältete, neugebackene, an einigen Orten nur übliche und von der hochteutschen Mund-Art abweichende. (Hallbauer VTO 1725, 496f. → Gelehrte1/2) Wer wird uns aber diesen Kern der Sprache, das wahre und ächte Hochdeutsche bestimmen? Man sieht ohne mein Erinern, daß dies kein geringes Geschäft ist. Wer sich daran machen will, der muß die Natur unserer Sprache durchgründen, ihr Gebieth übersetzen, und das Gute von dem Falschen zu unterscheiden wissen. Hierzu wird eine Kenntnis erfordert, die man vergebens anderswo als bei den Gelehrten, das ist, bei denjenigen suchet, die sich mit Fleiße und Ernste auf ihre Muttersprache geleget haben; und eben darumb wird die oben beschriebene hochdeutsche Mundart auch die Mundart der Gelehrten genannt. (Hemmer DSL 1775, 7f. → Gelehrte1/2) Allso erwehlet ein galanter Teutscher Redner die hochteutsche Mundart zu seiner Richtschur in Reden und Schreiben; lasset den Schweizern und andern Halbteutschen ihre Pronunciation und andere eigenthümliche Zierligkeit ungetadelt

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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und unaffectiret; nimmet sich für neuen Spanischen und Französischen Wörtern so sehr in acht / als für alten verlegnen Sächsischen oder Schwäbischen Redensarten; Und spricht lieber mit klugen Leuten / einen bevortheilen / übern Stock stoßen / hintergehen / und dergleichen / als mit dem gemeinen Manne / einen betrügen [...]. (Longolius EtS 1715, 105 → Niederdeutsch1/2) Weitere Belege zu Hochdeutsch1: Adelung (1MDS/I 1782, 1, 18, 19f., 25f., 27f.) Anonymus (MM 1789, 952) Braun (ADS 1765, 7 → 2) Campe WH (1798, 155, 184) Gottsched (DS 1762, 461 → 3) Gedike (DD 1794, 306) Hallbauer (VTO 1725, 142f., 496f.) Hemmer (DSL 1775, 7f.) [Hieber] PB (1723-25, 207, 297) Fulda (GWW 1776, 3f.) Fulda (HTS 1771, 44) [Kandler] (ATS 1736, 68f.) Moritz/Vollbeding (GW/IV 1800, 22) Richey (IH 1755, IV, 26) Stosch (KDS/3 1782, 193f., 197) Stosch (NBKD 1798, 140f. → 2, 197) Wieland (WH1 1782, 157ff., 161, 167, 169, 170)

2. ›Schriftsprache bzw. Literatursprache im engeren Sinne‹ In dieser Bedeutung ist das Hochdeutsche die allgemein verständliche, regelhafte und damit vorbildliche „Büchersprache“ bzw. „Schriftsprache“ Deutschlands (→ verständlich1/2). Über die Gestalt der Literatursprache im engeren Sinne wird im Sprachnormierungsdiskurs heftig gestritten. In der Mitte des 18. Jahrhunderts entbrennt ein Streit zwischen Johann Christoph Gottsched und den beiden Schweizer Sprachkundlern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger. Ende des 18. Jahrhunderts wird eine zum Teil stark polemische publizistische Fehde zwischen Johann Christoph Adelung und Christoph Martin Wieland sowie weiteren Sprachkundlern, Literaten und Publizisten ausgetragen. Die Gleichsetzung des Hochdeutschen mit der Schriftsprache wird sowohl von den Vertretern wie von den Gegnern einer Orientierung am Meißnisch/Obersächsischen vertreten (→ Meißnisch/Obersächsisch2/3). Ein Unterschied lässt sich im Hinblick auf die als musterhaft erachteten Texte erkennen. Als vorbildliche Texte werden von den Sprachkundlern aus Nord- und Mitteldeutschland in der Regel wissenschaftliche Fachprosa sowie literarische Texte von als vorbildlich erachteten Autoren genannt, die in der Regel dem ostmitteldeutschen Sprachgebiet zuzurechnen sind. Die katholischen Gebildeten, wie beispielsweise die Verfasser der frühaufklärerischen Münchner Zeitschrift „Parnassus Boicus“, verweisen hingegen auf musterhafte Texte der oberdeutschen Kanzleien, die in Nord- und Mitteldeutschland längst nicht mehr als Muster anerkannt werden. Die oberdeutsche Schreibsprachtradition steht der ostmitteldeutschen Schriftsprache im 18. Jahrhundert unvermittelt gegenüber. Die Entwicklung der hochdeutschen Schriftsprache macht beispielsweise Adelung an drei Stationen fest: Zunächst sei das Fränkische (das „ältere Hochdeutsche“), dann das Oberdeutsche (das „Südlich-Deutsche“) und schließlich das Hochdeutsche zur Schriftsprache geworden (Adelung 1MDS/I 1782, 14). Im „Magazin für die deutsche Sprache“ beschreibt er die Entstehung des „neueren Hochdeutschen“, das durch die Übernahme

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

und Verfeinerung der fränkischen Schriftsprache durch die oberen Klassen Obersachsens entstanden sei (Adelung 1MDS/I 1782, 18 → Hochdeutsch1/3/7). Diese mündlich realisierte Sprache oder „Gesellschaftssprache“ (ebd.) sei durch den wachsenden „guten Geschmack“ der Oberschichten und aufgrund des wirtschaftlichen wie kulturellen Fortschritts der Region besonders ausgebildet und schließlich die Schriftsprache aller anderen Provinzen geworden (ebd.). Bdv.: Büchersprache, Schriftsprache, Schriftmäßige. Synt.: Im Kotext der Bestimmung von Hochdeutsch als Schriftsprache ist die Rede von hochdeutschen Kanzleien, hochdeutscher Schriftart, der hochdeutschen Übersetzung der Bibel und hochdeutschen Schriftstellern. H. ist die allgemeine deutsche Schriftsprache bzw. die jüngere Schriftsprache und eine Richtschnur im Schreiben. Im H. besteht der Sprachgebrauch in der Übereinstimmung der besten Schriftsteller. Ktx.: Geschmack, Schriftsteller, Sprachgebrauch. Wbg.: Subst. Allein-Hochdeutsch.

Belege zu Hochdeutsch2: Gut, sagt man etwa wohl, der Sprachgebrauch soll die Analogie leiten, aber nicht der Sprachgebrauch dieser oder jener Provinz, sondern der allgemeine Sprachgebrauch. – Ein allgemeiner Sprachgebrauch! Ich weiß nicht, was man für einen Begriff mit diesem Ausdruck verbindet, denn wie ich auch das Ding drehe und wende, so ist es ein Unding und bleibt es ein Unding. Die Deutsche Sprache ist in eine Menge Mundarten getheilet, welche, so viel wir wissen, gleich alt sind. Eine allgemeine Deutsche Sprache, von welcher jene ausgegangen wäre, gibt es nicht, und hat es vielleicht nicht nie gegeben. Die Hochdeutsche Schriftsprache ist keine allgemeine Deutsche Sprache in diesem Verstande, sondern bloß eine durch Geschmack mehr als andere verfeinerte Mundart. In so fern ist ein allgemeiner Sprachgebrauch ein Hirngespinst. (Adelung 1MDS/II 1782, 99 → 7) Nachdem ferner die Hochteusche Sprache in der Theologie sonderlich beliebt worden, ist sie auch darinnen durch viel Schrifften so in den Flor gekommen, daß man meinen sollte, es wäre kein Wortlein mehr in der Teutschen Übersetzung der H. Schrifft in seiner rechten Bedeutung jemand unbekannt. (Frisch TLW 1741, 2r) Die deutsche Sprache, die überhaupt so manche Ähnlichkeiten mit der Griechischen hat, ist ihr auch in Ansehung der Dialekte zur Bewunderung ähnlich. Nicht nur ist die Zahl der Hauptdialekte bei beiden gleich, sondern diese Dialekte selbst haben eine so bewunderswürdige Übereinstimmung untereinander. Der breite, hochtönende ernste und feierliche, dorische Dialekt entspricht ganz dem Oberdeutschen. Der sanfte, weiche, zarte, unperiodische jonische Dialekt entspricht ganz unserm Plattdeutschen; und der am spätesten aber auch am meisten ausgebildete und daher seine älteren Brüder aus der Büchersprache verdrängende attische Dialekt entspricht in Ansehung seines Ursprungs und in Ansehung seiner Beschaffenheit genau unserm Hochdeutschen. (Gedike DD 1794, 295 → Niederdeutsch/Plattdeutsch1, Oberdeutsch1) Unsere Mund-Art [das Niedersächsische, Anm. KF] geräth ja von Tag zu Tage in Abnahme, indem das Hoch-Teutsche schon längst nicht allein in öffentlichen Handlungen und Schriften, sondern auch im gemeinen Umgange dergestalt Besitz genommen, daß auch der Bauer selbst mit einem halb-Hoch-Teutschen Wörter sich schon vornehmer düncket; folglich zu vermuthen ist, daß die wahre und eigentliche Landes-Sprache, in welcher niemand mehr öffentlich redet oder schreibet, mit der Zeit sich nicht allein vermischen und verstellen, sondern allmählig gar verlieren werde. (Richey IH 1755, 43f. → Bauer1/2, Niederdeutsch/Plattdeutsch1) Hingegen nach der allgemeinern Sprach verstehet man unter dem Hochteutschen die verfeinerte und ausgebildete Büchersprache, wie sie seit der neuesten Aufklärung, besonders nach der Erfindung der Buchdruckerey und der Reformation überall durch ganz Teutschland in Schriften und öffentlichen Geschäften, im Gottesdienst und mündlich im Umgange der Gelehrten und Vonehmern gebraucht wurde. (Rüdiger VHS 1783, 3 → 1/5, Gelehrte1/2) Der blühende Stand einzelner Provinzen ist eine sehr zufällige und wandelbare Sache. Vor sechzig Jahren war Hamburg das teutsche Athen; dreißig Jahre später war es

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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Leipzig; warum sollte die Reihe nicht auch noch an Wien, München, Mannheim, Frankfurt, Nürnberg, Stuttgard u. s. w. kommen können? Und werden die obern Classen in den verschiednen Provinzen, worinn diese Städte Hauptstädte sind, alsdann nicht eben das Recht haben, die Schrift-Sprache oder das wahre, reine Hochteutsche, festzusetzen, welches Hr. A. [- Adelung, Anm. KF] dem teutschen Athen von 1740 – 60 eingeräumt wissen will? (Wieland WH1 1782, 165 → 1, Meißnisch/Obersächsisch2/3) Weitere Belege zu Hochdeutsch2: Adelung (1MDS/I 1782, 1, 19f., 25f., 27f.) Adelung (1MDS/II 1782, 101) Adelung (ÜDS/1 1785, 37f., 50f., 72f., 74, 75) Adelung (DSS 1806, 5f.) Adelung (Mith2 1809, 270, 282f.) Anonymus (AGDS 1742, 241, 246) Braun (ADS 1765, 7 → 1) Campe (WH 1798, 151, 155, 161, 165, 174, 183) Fulda (VIS 1788, A2v) Gottsched (DS 1762, 104f.) Hallbauer (APB 1736, 148f.) Moritz/Vollbeding (GW/IV 1800, 22 → 1) Kinderling (RDS 1795, 82) Richey (IH 1755, 43f.) Rüdiger (NLTS 1785, 95f.) Rüdiger (VHS 1783 5f., 21f.) Stosch (NBKD 1798, 140f., 166) Voß (DSK 1804, 192) Wieland (WH1 1782, 157ff., 161, 169, 170, 210f.)

3. ›Sprache, die in Meißen bzw. Obersachsen gesprochen/geschrieben wird‹ Die protestantischen Sprachkundler des ostmitteldeutschen Sprachgebiets setzen in der Regel das Hochdeutsche sprachgeographisch mit dem „Obersächsischen“ bzw. „Meißnischen“ gleich (→ Meißnisch/Obersächsisch2/3). Sehr häufig wird das sprachgeographische Vorbild an ein sprachsoziologisches geknüpft (→ Hochdeutsch1). Die maßgeblichen Vertreter dieser Konzeption des Hochdeutschen sind Johann Christoph Gottsched und Johann Christoph Adelung. Die Begründung dieser Gleichsetzung ist sprachideologisch motiviert. Zum einen verweisen die Vertreter dieser Leitvarietätkonzeption auf die besondere kulturelle Blüte und das wirtschaftliche Wachstum Obersachsens, zum anderen wird das Meißnisch-Obersächsische als Leistung einer Einzelperson ausgewiesen, und zwar als die durch die Bibelübersetzung und die Schriften Martin Luthers entstandene Schriftsprache. Johann Christoph Adelung differenziert in diachroner Perspektive ein „älteres Hochdeutsch“ von einem „neueren Hochdeutsch“ (vgl. Adelung 1MDS/I 1782, 19f.). Das „ältere Hochdeutsch“ ist bestimmt als die zunächst entstandene oberdeutsche Sprache (ebd. → Oberdeutsch1/3). Mit der Reformation habe sich ein umfassender Fortschritt der Wissenschaften, der Vernunft und des Geschmacks ereignet, der die weitere Entwicklung der Sprache ganz entscheidend geprägt habe. Die nach der Reformation entstandene Leitvarietät obersächsischer Grundlage ist bestimmt als das „neuere Hochdeutsch“ (vgl. ebd.). Die maßgeblich von den diskursdominierenden Sprachkundlern Gottsched und Adelung vertretene Konzeption des Hochdeutschen wird in den zeitgenössischen Grammatiken, Orthographielehren, Rhetoriken, poetologischen und allgemein sprachreflexiven Schriften ausführlich diskutiert (→ Meißnisch/Obersächsisch2/3, Niederdeutsch/Plattdeutsch2). Aller Kritik zum Trotz wird Gottscheds „Grundlegung einer deutschen Sprachkunst“

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

(zuerst 1748, vgl. Gottsched DS 1762) die normsetzende Grammatik und Grundlage der Vereinheitlichung der Schriftsprache ab 1730 in der Schweiz, ab 1750 in Österreich und ab den 1760er Jahren schließlich in Bayern (vgl. u. a. Jakob 1999). Gegen die Gottschedsche Sprachkonzeption in poetologischer Hinsicht und seit 1740 auch gegen seine einseitige Privilegierung des Meißnisch-Obersächsischen lehnen sich insbesondere die Züricher Sprachforscher Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger und der Oberpfälzer Carl Friedrich Aichinger auf (vgl. Aichinger VTS 1754). Schon in den frühen 20er Jahren des 18. Jahrhunderts wehren sich darüber hinaus katholische Gebildete in der frühaufklärerischen Zeitschrift „Parnassus Boicus“ gegen die Verbreitung der ostmitteldeutschen Schreibvarianten in oberdeutschen Texten. Der Augustinermönch Gelasius Hieber lehnt beispielsweise in einem Beitrag des „Parnassus Boicus“ die seiner Ansicht nach von Luther eingeforderte „universal Monarchie“ des Obersächsischen entschieden ab (vgl. [Hieber] 1723-25, 204f.). Der Streit um das Hochdeutsche präsentiert sich an dieser Stelle als ein sprachideologischer Streit zwischen den protestantischen Vertretern des ostmitteldeutschen Sprachgebiets und den katholischen Sprachkundlern im Süden. Ein weiterer Konflikt besteht zwischen den norddeutschen Sprachkundlern, die die Verdrängung des Niederdeutschen beklagen, und den Vertretern der obersächsisch-meißnischen Leitvarietät (→ Meißnisch/Obersächsisch2/3, Niederdeutsch2/3) Die Gegner der sprachgeographischen Gleichsetzung der Leitvarietät mit dem Obersächsisch-Meißnischen definieren Hochdeutsch in Anlehnung an Justus Georg Schottelius als ein Substrat des Besten aller Mundarten (→ Hochdeutsch6) sowie medial als allgemeine Schriftsprache (→ Hochdeutsch2) und bzw. oder sprachsoziologisch als Sprache der Bildungseliten und Oberschichten (→ Hochdeutsch1, Gelehrte1/2). Hochdeutsch ist in dieser Bedeutung einer Formulierung Stoschs zufolge bereits „in allen Provinzen des deutschen Reichs einstimmig angenommen“ worden (Stosch NBKD 1798, 140f., vgl. auch Rüdiger VHS 1783, 37). Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts provoziert Johann Christoph Adelung eine Vielzahl von Stellungnahmen gegen die von ihm vertretene Identifizierung der Leitvarietät mit dem Meißnisch-Obersächsischen. Zum einen hat sich die Aussprachenorm mehr nach Norddeutschland verschoben, zum anderen wird vor dem Hintergrund der bereits konsolidierten einheitlichen Schriftsprache mehr Varianz für die Literatursprache gefordert, etwa in Bezug auf die Verwendung von Provinzialismen und Archaismen. Die Folge ist eine publizistische Fehde, die nicht nur in den Einleitungen der Grammatiken, Orthographielehren, Schulbücher, Wör-

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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terbücher und Idiotika geführt wird, sondern auch in den aufklärerischen Zeitschriften breiten Raum einnimmt. Unter den Gegnern Adelungs sind u. a. Joachim Heinrich Campe und Christoph Martin Wieland. Bdv.: Hauptmundart, Meißnisch/Obersächsisch2/3, obersächsische Provinzialzung, Meißen, Meißnisch, Mundart der südlichen Chursächsischen Lande, Sachsen, Sächsisch. Synt.: Hochdeutsche Mundart, Hochdeutsche Sprache. Die Leitvarietät wird bestimmt als das neue in Obersachsen entstandene Hochdeutsch bzw. als ein Fragment des Oberdeutschen. Das Niedersächsische hat sich hochdeutschen Befehlen unterzogen. Es liegen Obersächsischhochdeutsche Bücher vor. Ktx.: Dresden, (Ober-) Sachsen, Meißen, Leipzig, Reformation, Schriftsteller, Schriftsprache. Wbg.: Adj.: halbhochdeutsch, obersächsischhochdeutsch.

Belege zu Hochdeutsch3: Diese [die hochdeutsche Sprache, Anm. KF] ist, wie im vorigen gezeigt worden, weder die allgemeine Stammsprache Deutschlandes, von welcher alle übrige Mundarten durch Abweichung oder Verschlimmerung ausgestossen sind, noch ist sie durch Aushebung des besten und allgemeinsten aus allen Mundarten entstanden, sondern sie ist eine eigene Mundart, welche sich in dem südlichen Sachsen, so wie eine jede andere Mundart in ihrer Provinz, gebildet hat, und durch den vorzüglichen Geschmack der obern Classen zu der reichsten, wohlklingendsten und besten Deutschen Mundart ist ausgebildet worden, so daß sie dieser ihrer innern Vorzüge wegen Deutschlands Schrift- und höhere Gesellschaftssprache werden können, und werden müssen. (Adelung ÜDS/1 1785, 71f. → 1/2/6/7, Meißnisch/Obersächsisch2/3) Alle Nordliche Schwabensize längst der Elb; welchen die nachbarliche Slaven besetzt, fielen bei ruhigern Zeiten den Sachsen anheim. Schwäbische uralte gemeine Innsasen; slavische vormals Herrn, nun Knechte; ein Zulauf aus allen Gegenden Teutschlands; und das regierende Niedersächsische, welches sich HochTeutschen Befelen unterzog, so weit es darzu gezwungen war; erichteten endlich im zehenden Jahrhundert eine neue HochTeutsche Mundart; die Meißnische, welche um ihres leichteren Mundes willen das Glük hat, durch ganz Ober-Sachsen, die Mark, und den größten Teil von Schlesien gesprochen zu werden; und sich berechtiget, nunmehr im engern Verstand die HochDeutsche GelehrtenSprache zu heißen. (Fulda GWW 1776, 7 → 1, Meißnisch/Obersächsisch2/3) Dialekte hat jede Sprache, muß jede haben, wenn’s gleich besser wäre, sie hätte sie nicht. Unsre Muttersprache hat deren eine ganze Menge. Aber sie lassen sich alle auf drei Hauptdialekte bringen, das Oberdeutsche, Niederdeutsche und das Hochdeutsche oder Obersächsische, das zwischen beiden in der Mitte liegt, wie es sich auch wirklich aus beiden, wenn gleich vornehmlich aus dem Oberdeutschen gebildet hat. (Gedike GPS 1779, 413f. → Meißnisch/Obersächsisch2/3, Niederdeutsch1, Oberdeutsch1) Was ich hier von der obersächsischen Aussprache sage, will ich keineswegs auf das einzige Meißen gedeutet haben: wie ein gelehrter Mann zu Göttingen unlängst dafür gehalten hat, der dieser Landschaft die Gränzen zwischen der Elbe und Saale angewiesen; ohne doch zu bestimmen, wie hoch hinauf diese beyden Ströme genommen werden sollten. Wir können sicher auch das ganze Voigtland, Thüringen, Mansfeld und Anhalt, nebst der Lausitz und Niederschlesien dazu rechnen. In allen diesen Landschaften wird in Städten, unter vornehmen, gelehrten und wohlgesitteten Leuten ein recht gutes Hochdeutsch gesprochen: welches man a potiorie, nach dem Sitz des vornehmsten Hofes, das Obersächsische zu nennen pflegt. Was oberhalb des Gebirges liegt, ist theils böhmisch, theils fränkisch; und was tiefer nach der See unter Mansfeld, dem Anhältischen, dem Churkreise, der Lausitz und Schlesien liegt, das spricht schon niedersächsisch, und hat auch, selbst im Hochdeutschen, einen fremden Ton, der hochdeutschen Ohren sehr ausländisch klingt. (Gottsched DS 1762, 106 → 1, Meißnisch/Obersächsisch2/3) Ich weiß wohl, daß einige andere Residenzen und Universitäten diese Ehre unserem Meißen nicht gönnen wollen, und sich wohl gar einbilden: sie hätten eben soviel Recht und Ansehen in der Sprache. Allein, ich bin kein Meißner von Geburt und Auferziehung, sondern in männlichen Jahren erst hierher gekommen: und also muß wenigstens mein Zeugniß von der Parteylichkeit frey seyn. (Gottsched

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

DS 1762, 461 → Meißnisch/Obersächsisch2/3) [...] Bödiker, und andre mit ihm theilet die deutsche Sprache ein a) In die Nieder-Sächsische […]. b) In die Oberländische […]. c) In die Hochteutsche, welche von den gelehrten und galanten Leuten an allen Orten, sonderlich in Meissen und Sachsen, auf Akademien, bey Hofe, in Canzeleyen, und Gerichten, in vornehmen Städten, als Dresden, Leipzig ec. in Reden und Schreiben gebraucht wird. (Hallbauer VTO 1725, 119f. → 1/2, Gelehrte1/2, Meißnisch/Obersächsisch2/3) Aus der obersächsischen und niedersächsischen Mundart, besonders aus der ersten, entwickelt sich die sogenannte hochdeutsche, oder die eigentliche deutsche Sprache, welche seit der Lehrverbesserung Luthers die Büchersprache aller Schriftsteller und die Sprache des feinern Umgangs geworden ist. (Moritz/Vollbeding GW/IV 1800, 22 → 1/2, Meißnisch/Obersächsisch2/3) So finde ich sie auch hier in der Meinung von dem Ursprung des Hochteutschen aus allen Mundarten mit einem Übergewicht der oberteutschen und vorzüglich der meißnischen. Hierin fließen alle drey Meinungen zusammen und ich glaube dadurch einer jeden Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen. (Rüdiger VHS 1783, 10 → Oberdeutsch1, Meißnisch1/2/3) Weitere Belege zu Hochdeutsch3: Adelung (GKW/1 1774, X) Adelung (GDO 1782, 73f.) Adelung (1MDS/I 1782, 30) Adelung (ÜDS/2 1785, 50f.) Adelung (DSS 1806, VIIIf., 5f. → 1/2, 484f.) Adelung (Mith2 1809, 179, 258, 270) Anonymus (ADS 1783, 588) Anonymus (AGDS 1742, 239f.) Anonymus BCH2 (1732, 312, 322) Dinkler (SM 1785, 38) Fulda (HTS 1771, 38) Gedike (GPS 1779, 413f.) Gedike (DD 1794, 306, 307, 310f., 320 → Niederdeutsch/Plattdeutsch2, 332) Gottsched (GM 1758, 41) Gottsched (DS 1762, 44) Hallbauer (VTO 1725, 148f.) Kinderling (RDS 1795, 81, 97f.) Longolius (EtS 1715, 539) Moritz/Vollbeding (GKW/IV 1800, 22f.) Richey (IH 1755, IV, 43f.) Rüdiger (VHS 1783 5, 10) Voß (DSK 1804, 194) Wack ATS (1713, 41) Wismayr (GHS/2 1805, 44)

4. ›Sprache, die in Süd- und Mitteldeutschland gesprochen wird‹ Hochdeutsch wird in dieser sehr allgemeinen Bedeutung gekennzeichnet als die Sprache, die in Nord- und Mitteldeutschland gesprochen wird. Hochdeutsch findet sich in dieser Bedeutung selten in den Schriften der Sprachkundler, Lexikographen, Grammatiker und Literaten des 18. Jahrhunderts. Konsensual durchgesetzt hat sich die Bedeutung von Hochdeutsch als die in Deutschland im Gebrauch befindliche Schriftsprache (→ Hochdeutsch2) und als die Sprache der Oberschichten und Bildungseliten (→ Hochdeutsch1), außerdem wird das Hochdeutsche von den Sprachkundlern in Nord- und Mitteldeutschland mit dem Meißnischen bzw. Obersächsischen identifiziert (→ Hochdeutsch3, Meißnisch-Obersächsisch2/3). Antonym zu Hochdeutsch in der Bedeutung 4 werden die Bezeichnungen Niederdeutsch und Niedersächsisch verwendet (→ Niederdeutsch1), partielle Synonyme sind die Bezeichnungen „Oberländisch“ und Oberdeutsch (→ Oberdeutsch4). Das Präfix ‚hoch-‘ bezieht sich in dieser allgemeinen Verwendung auf die topographischen Gegebenheiten des Landes. Hochdeutsch ist somit die Sprache, die in den höher gelegenen Gebieten gesprochen wird im Gegensatz zum Niederdeutschen im flachen Norden. Das Präfix kann aber auch eine Wertigkeit zwischen Hochdeutsch und Niederdeutsch indizieren: Hochdeutsch ist dann eine qualitativ höherwertige Sprache als das im Norden gesprochene Deutsch (→ Hochdeutsch7, Niederdeutsch2).

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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Bdv.: Oberländisch, Oberdeutsch. Ggb.: Niederdeutsch1, Niedersächsisch. Ktx.: Niederdeutsch, Niedersächsisch. Synt.: Hochdeutsche Mundart, Hochdeutsche Sprache. Für Sprecher anderer Dialekte bzw. Sprachen muss eine hochdeutsche Verdolmetschung angefertigt werden. Wbg.: Subst.: Hochdeutschheit, Hochdeutscher.

Belege zu Hochdeutsch4: Das Wort Hochdeutsch (→ 4) stammet von den Niederdeutschen her, welche diejenigen deutschen Völker, welche sonst auch unter dem Namen der Oberdeutschen (→ Oberdeutsch4) bekannt sind, gemeiniglich Hochdeutsche zu nennen pflegen; eine Benennung, welche ihren physischen sittlichen Zustande sehr angemessen ist, indem die so genannten Hochdeutschen nicht nur höhere Gegenden des Erdbodens bewohnen, als die an den flachen Seeküsten befindlichen Niederdeutschen, sondern auch eine Mundart reden, welche in Vergleichung mit der platten niederdeutschen (→ Niederdeutsch/Plattdeutsch1/2) hoch, d.i. erhaben, oder wenn man lieber will, rauh und schwülstig klinget. Je weiter man sich von dem flachen Lande nach den Alpen zu entfernet, desto höher, rauher und unbiegsamer wird die deutsche Sprache, bis sie endlich auf und an den Alpen den höchsten Grad ihrer Höhe und Härte erreicht. Und dieß ist eine mit von den Ursachen, welche von Thüringen an bis nach Graubünden, und von dem Ufer des Rheines bis an die ungarische Grenze, die oberdeutsche Mundart in eine große Menge besonderer Mundarthen abtheilet. In dieser weitesten Bedeutung ist also hochdeutsch (→ 4), so viel als oberdeutsch (→ Oberdeutsch4). (Adelung GKW/1 1774, VI) Überhaupt unterscheidet sich unsere Hamburgische, ja fast die gesammte Nieder-Sächsische Mund-Art, von der Hoch-Teutschen darin, daß wir die weichen Mit-Lauter, so wie sie mehrentheils in der Angel-Sächsischen und andern Ursprachen befindlich sind, ungeändert lassen. Dahingegen die Hoch-Teutschen dieses, als ein wesentliches Kennzeichen ihres Idiotismi haben, daß bey ihnen die weichen Buchstaben b, d und v, gemeiniglich in p, t und f oder b, imgleichen die gelinden gutturales in schärffere sich verwandeln, wie solches bey einem ieden Mit-Lauter insonderheit wird gewiesen werden. Die vernünftigen Herren Ober-Sachsen bescheiden sich gern, daß ihre Land-Sprache in der Härte gar zu weit gehe, und in ein reiches Hoch-Teutsch, dem sie sonst am nähesten kommen, sich nicht einflechten müsse. (Richey IH 1755, 388f. → 3) Weitere Belege zu Hochdeutsch4: Anonymus (MM 1789, 952)

5. ›Sprache der Deutschen, der Nation oder des Volkes‹ Hochdeutsch ist in dieser Bedeutung im Sinne einer Einzelsprache zu verstehen, beispielsweise als Sprache eines Volkes, einer Nation oder der Deutschen (→ Nation/Volk1/3), und zwar in Abgrenzung zum Französischen, Italienischen und anderen Sprachen. Trotz der Fragmentierung des deutschen Sprachgebiets in eine Vielzahl von einzelnen Territorien soll Hochdeutsch in der Bedeutung 5 eine in allen Teilen des deutschen Sprachraums gültige Leitvarietät sein (→ deontische Bedeutungsdimension), wenngleich die Frage des sprachgeographischen Vorbilds besonders umstritten ist (→ Hochdeutsch3, Obersächsisch2/3, Oberdeutsch2/3/4, Niederdeutsch2/3). Bdv.: Deutsch, Deutsche Sprache, Muttersprache, Nationalsprache, unsere deutsche Mutterzunge, Haupt- und Heldensprache, die Hochdeutschen. Gbg.: Dialekt, Landschaftssprache. Synt.: Hochdeutsch ist die gemeine Sprache Deutschlands, die wahre und rechte Sprache der Deutschen bzw. die wahre und einzige Sprache Deutschlands. H. wird in hochdeutschen Ländern gesprochen und muss für hoch-

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

deutsche Ohren verständlich sein, die Kommunikationsgemeinschaft wird als hochdeutsches Gemeinwesen bezeichnet. Ktx.: Nation, Volk. Wbg.: Subst. Hochdeutscher.

Belege zu Hochdeutsch5: Sprachregeln, welche die allgemeine Sprache eines ganzen Volkes umfassen und darstellen sollen, müssen aus dessen allgemeinen Schriftsprache, folglich im Deutschen aus der Hochdeutschen Mundart, gesammelt werden. Mundarten können hier keine Regeln geben, ob sie gleich zur Erläuterung und Begreifflichkeit mancher Regeln gebrauchet werden können. (Adelung UL/1 1782, 113 → 2, Volk2) Daher rühret es denn, daß eine solche Mundart in allen Provinzen gleich verständlich ist, wenigstens mit leichterer Mühe erlernet werden kann, als eine der übrigen Mundarten, folglich auch zur Schrift- und Büchersprache am schicklichsten ist. Der Ober-Schwabe und der Hamburger, der Tyroler und der Mecklenburger, der Graubündner und der Pommer verstehen einander gewiß nicht; aber sie alle verstehen Hochdeutsch, oder lernen es wenigstens sehr bald und mit leichter Mühe verstehen. (Adelung ÜDS/1 1785, 44f. → 1) Die Germanischen Völker teilen sich in die hohen und die niedern. Die ober- und niederSachsen können nicht verlangen, daß in dieser uralten, und von beiden Teilen selbst anerkannten und gewönlichen Einteilung eine Veränderung geschehe. Dann das HochTeutsche im engern Verstand genommen, als die Sprache der Gelehrten, das Schriftmäßige, das mandarinen Teutsche, ist unlaugbar nichts anders, als das gemeine Hohe in seiner Feinheit und Verbesserung; und hat nicht nötig, in einem gewissen Lande zu residiren und gesprochen zu werden. Wer in der, von alten Zeiten angenommen höhern Teutschen Mundart fein und regelmäßig schreibt und spricht, der ist ein Bürger und Innsas des hochTeutschen Gemeinwesens, er lebe übrigens, wo er wolle. Gründe siegen, und nicht Druckercorrecturen. (Fulda GWW 1776, 3f. → 1/2/7, Gelehrte2, Niederdeutsch/Plattdeutsch1, Obersächsisch1, Volk1/4) Endlich werden auch die an den Gränzen von Deutschland liegenden Landschaften, deren gemeine Mundart von der guten hochdeutschen mehr oder weniger abweicht, in den meisten Fällen eine Anweisung finden: wie sie reden und schreiben müssen, wenn sie sich der besten Mundart, so viel ihnen möglich ist, nähern wollen. [...] Denn obgleich ein jedes Volk, zumal in Deutschland, Herr in seinem Landes; und also der be-‹12›sondern Mundart seines Hofes folgen könnte: so wird doch niemand es für rathsam halten, sich um etlicher Kleinigkeiten willen, mit Fleiß von dem übrigen Theile der Nation, zu trennen r); zumal, da schon die besten Schriftsteller in allen Landschaften, den Vorzug der wahren hochdeutschen Mundart eingesehen, und stillschweigen zugestanden haben. (Gottsched 1762 DS, 47 → 1/2, Nation/Volk1/6) Der gelehrte und feinere Theil der Nation, ist durchgehends gewissermaßen, schon stillschweigend darin übereingekommen, einerlei Mundart zu gebrauchen, nehmlich die Hochdeutsche, oder die Büchersprache, so wie sie in den besten Schriften gefunden wird, und durch den Fleiß verschiedener Sprachforscher, verfeinert und berichtiget ist. In dieser schreibt man nicht nur durchgängig in ganz Deutschland, sondern jeder der eine gute Erziehung und Lebensart hat, bemühet sich auch dieselbe zu sprechen. Allein jede Provinz, mischet noch immer gar zu viel von demjenigen mit unter, was ihr besonders eigen ist, und wodurch sie sich von anderen unterscheidet. (Stosch KDS/3 1782, 193f. → 1/2) Jede Provinz hat ihre besondere Mundart, vorzüglich aber unterscheiden sich die oberdeutsche in den südlichen, und die niederdeutsche in den nördlichen Provinzen Deutschlands. Von beiden muß die hochdeutsche Sprache unterschieden werden, die so gut wie eine nach richtigen Regeln gelehret und gelernet zu werden verdienet. Der Beste Theil der Nation hat mit seinem Fortgange in Geschmack, Sitten und Künsten sie zugleich ausgebildet; die Schriftsteller bedienen sich derselben in ihren Schriften; sie findet Achtung an den Höfen und wird täglich mehr die Sprache des gesitteten und verfeinerten Umgangs. Deutsche Sprache lehren und lernen gibt Verdienst. (Stutz DSL 1790, 9 → 1/2, Nation1/6, Niederdeutsch1, Oberdeutsch1/4) Weitere Belege zu Hochdeutsch5: Dinkler (SM 1785, 38) Gottsched (DS 1762, 10) Rüdiger VHS 1783, Stosch (KDS/3 1782, 195f.) Wieland (WH1 1782, 161, 167)

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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6. ›aus den Dialekten gewonnenes Substrat‹ Ein Teil der Sprachkundler geht davon aus, dass das Hochdeutsche bereits eine überregional realisierte Sprache darstellt. Damit ist zum einen eine schriftsprachliche Leitvarietät gemeint (→ Hochdeutsch2), zum anderen auch eine abstrakte, nicht tatsächlich greifbare Leitvarietät. Hochdeutsch ist in diesem Zusammenhang quasi das Produkt der noch nicht erreichten Aushebung oder Auslese aus allen regionalen Varietäten (‚Aushubtheorie‘). Eine Normfindung und -setzung soll im Gegensatz zu der anomalistischen Orientierung am regionalen oder soziolektalen Gebrauch anhand des Prinzips der ‚Analogie‘ erfolgen. Die Leitvarietät muss demgemäß aus einem Vergleich der Varianten mit einer der Sprache zugeschriebenen inneren Systematizität, einer inneren Regelhaftigkeit bzw. ‚(Grund-) Richtigkeit‘ ermittelt werden. Diese Eigenschaft weist das Hochdeutsche als eine Hauptsprache aus, die wie alle europäischen Kultursprachen eine grammatische Systematizität besitzt. Zeitgenössische Bezeichnungen für diese innere Regelhaftigkeit sind ‚Analogie‘, ‚Grundförmigkeit‘, ‚Richtigkeit‘, ‚(Sprach-) Ähnlichkeit‘. Bdv.: Deutsch, Deutsche Sprache. Synt.: Hochdeutsche Mundart, Hochdeutsche Sprache. Das H. ist in ganz Deutschland im Schwange. Ktx.: Analogie, Grundförmigkeit, Richtigkeit.

Belege zu Hochdeutsch6: Doch billige ich freylich nicht alles, was man in Meißen täglich spricht. Der Pöbel hat überall seine Fehler, so wie er sie in Rom, Paris und London auch hat. Es ist aber gar keine Landschaft in Deutschland, die recht rein hochdeutsch redet: die Übereinstimmung der Gelehrten aus den besten Landschaften, und die Beobachtungen der Sprachforscher müssen auch in Betracht gezogen werden. (Gottsched DS 1762, 461 → 1/2/3, Gelehrte1/2, Meißnisch1, Pöbel1/2) So verschieden und streitend alle diese Mundarten sind: so gehet doch eine gewisse Art zu reden in Deutschland im Schwange, die überall verständlich, überall in Hochachtung ist: Diese bindet sich an keine besondere Mundart, sondern nimmt das Gewöhnlichste und Bäste aus allen Mundarten heraus. Das ist allso eine ausgesuchte Sprache, eine auserlesene Mundart, welche billig den erhabenen Namen der hochdeutschen führet; und blos nach dieser haben wir uns zu richten. (Hemmer DSL 1775, 7 → verständlich1/2) Ich behaupte nämlich, 2., daß außer der O.Sächsischen [= Obersächsischen, Anm. KF], auch die übrigen Deutschen SprechArten, namentlich die O.D. [= Oberdeutsche, Anm. KF] und die N.D. [= Niederdeutsche, Anm. KF] besonders die erste, zur Bildung unserer H.D. [Hochdeutschen, Anm. KF] Schriftsprache sehr vieles hergegeben haben, also auch zur fernern Bereicherung und Ausbildung derselben noch jetzt alles dasjenige hergeben dürfen, was mit der H.D. [= Hochdeutschen, Anm. KF] Sprachähnlichkeit bestehen kann. (Campe WH 1798, 164f. → Meißnisch/Obersächsisch3, Niederdeutsch/Plattdeutsch1, Oberdeutsch1) Weitere Belege zu Hochdeutsch6: Adelung (ÜDS/1 1785, 60) Freyer (ATO 1722, 8) [Hieber] PB (1723-25, 206, 207) Rüdiger (VHS 1783, 3)

7. ›Sprache, die im Gegensatz zu anderen ein besonders hohes Entwicklungsniveau erreicht hat‹ Das Hochdeutsche gilt als besonders ‚auserlesene‘, ‚schöne‘, ‚herrliche‘, ‚verfeinerte‘, ‚gereinigte‘, ‚verbessserte‘, ‚kunstrichtige‘ oder ‚ausgebildete‘

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Sprache. Das Präfix ‚hoch-‘ indiziert an dieser Stelle die erfolgte axiologische Aufladung des Hochdeutschen. Die Vorbildlichkeit der Leitvarietät, aber auch ihr sozialer Distinktionswert kommt in dem Vergleich mit dem Attischen als der Prestigesprache Griechenlands zum Ausdruck. Zahlreiche Sprachkundler betonen durch die Nennung bzw. Zuschreibung der oben genannten Eigenschaften, dass der Leitvarietät nicht nur im Vergleich mit den regionalen, sozialen, schriftsprachlichen deutschen Varietäten ein besonderes Prestige zukommt, sondern verweisen explizit auf den europäischen Wettstreit um die vorbildlichste Sprache im Sinne einer europäischen ‚Leitsprache‘. Die diskutierten Eigenschaften der Leitvarietät sowie die damit verbundenen Argumentationsmuster sind zum Teil mit der Diskussion um die europäische ‚Leitsprache‘ identisch. Zum Vergleich herangezogen werden Eigenschaften der Lautung, der Lexik (Wortreichtum, ‚copia verborum‘) sowie Merkmale der Grammatik sowie insbesondere die Polyfunktionalität und Philologisierung (vgl. Warnke 2001). Bdv.: Bücher- und Schriftsprache, Mandarin-Teutsch, Heldensprache, Hauptsprache, Hochdeutsch1/2/3/5, Stammsprache. Gegensatzbereich: Dialekt, Mundart, Pöbelsprache. Synt.: Hochdeutsche Mundart, Hochdeutsche Sprache. In diesem eher abstrakten Verständnis ist die hochdeutsche Sprache die wahre und rechte der Deutschen, die einzige und rechte Sprache dieses Landes. Dem Hochdeutschen wird außerdem ein besonders hohes Entwicklungsniveau attestiert, es ist eine rechte, männliche, mannhafte Haupt- und Heldensprache sowie eine auserlesene Mundart. Die Leitvarietät wird idealisiert als wahres und reines Hochdeutsch, als reine hochdeutsche Mundart, als eine sehr schöne und herrliche Sprache, als eine verbesserte und vollkommene Mundart und reinste, wohlklingendste, beste deutsche Mundart. Die Vorzüge der reinen hochdeutschen Mundart müssen ins rechte Licht gesetzt werden. Ktx.: Annehmlichkeit, Ansehen, Lieblichkeit, Reichtum, Reinigkeit, Schönheit, Verständlichkeit, Zierlichkeit/Zierde. Wbg.: Adj. halbhochdeutsch, Subst. Hochdeutschheit.

Belege zu Hochdeutsch7: Diese allgemeine Landessprache ist für Deutschland die Hochdeutsche Mundart, welche, mit Übergehung aller Eigenheiten der Provinzen, bloß das Allgemeinste enthält, und daher in Süden und Norden gleich verständlich ist. Von ihr gilt, was von allen höhern Classen gilt; diese enthalten immer weniger individuelle Merkmahle, je höher sie steigen; die Hochdeutsche Mundart ist in Ansehung der provinziellen Bedürfnisse am ärmsten, ob sie gleich auf der andern Seite an Ausdrücken für allgemeine Begriffe die reichste ist. Sie mit den Eigenheiten der Provinzen bereichern wollen, würde nicht anders heissen; als ihre allgemeine Verständlichkeit vernichten und sie von einer höhern Classe zu einer niedern Gattung herab setzen. (Adelung UL/1 1782, 106f. → verständlich1/2/3) Außer der hochteutschen und hochlateinischen Sprache wird nicht leicht eine Sprache auf dieser Welt seyn, die sich völlig zur Hochsprache aus ihrer eigenen platten erhoben hätte. (Dinkler SM 1785, 40 → Niederdeutsch1/2) Wie viel Völker, wie viel Mundarten sind in einer so großen Strecke des Erdbodens nicht enthalten? Und wie schwer muß es seyn, in allen diesen Abänderungen die wahre hochdeutsche Mundart, den rechten Stamm und die Schönheit dieser europäischen Hauptsprache fest zu setzen; sie in wahre und leichte Regeln zu bringen, und ihre Zierde auf eine so leichte und

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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faßliche, als gegründete Weise fest zu setzen? (Gottsched DS 1762, 10 → 5, Nation/Volk1) Sie [die hochdeutsche bzw. allgemein die deutsche Sprache, Anm. KF] ist eine rechte männliche und Helden-Sprache. Daher ihr auch selbst von Auswärtigen etwas Majestätisches und Göttliches beygeleget wird. […] Die Wörter geben einen nachdrücklichen und kräftigen Thone und der Lauf der Rede ist so majestätisch, daß die Ausländischen zu sagen pflegten, die Teutschen donnerten, wenn sie redeten. Mit diesem Ansehen verknüpfet die hochdeutsche Mundart zugleich so viel Lieblichkeit und Zierde, daß sie auch hierinne andern Sprachen nichts nachgibt. Wie solches die Schriftsprache neuer Zeiten, zumal geschickter Redner, zur Gnüge an Tag legen. (Hallbauer VTO 1725, 22f. → 1/2) Es ist zwar die hochteutsche Sprache eine sehr schöne und herrliche Sprache / die eben / als wie andere Sprachen / ihre sonderbare Art und richtigen Grund hat; dennoch muß man sich verwundern / daß dieselbe nicht / wie andere Sprachen / auch von den Teutschen selbst / bisher hoch astimieret / noch recht excolieret worden. (Töllner DUO 1718, 1r, 1v) Weitere Belege zu Hochdeutsch7: Fulda ( GWW 1776, 3f. → 1/2)

›deontische Bedeutungsdimension‹ Dass das Schlüsselwort Hochdeutsch auch eine deontische Bedeutungsdimension aufweist, zeigt sich in vielen einzelnen Aussagen über die Leitvarietät. Die Aussagen über das Hochdeutsche haben somit nicht nur darstellungsfunktionalen Charakter im Sinne Bühlers (vgl. Bühler 1934), sondern sie schreiben gleichzeitig fest, was das Hochdeutsche sein soll und was die Sprecherinnen und Sprecher in Bezug auf diese Leitvarietät tun bzw. was sie unterlassen sollen. Einige wesentliche Aspekte der Deontik des Schlüsselwortes Hochdeutsch kommen in dem nachstehenden Beleg zum Ausdruck: Gewöhnte man sich nun dabei in dem Umgange mit gelehrten, und solchen Leuten welche sich gewöhnlich der Hochdeutschen Mundart bedienen, allezeit rein hochdeutsch, ohne Vermischung der Provinzialeigenheiten zu reden, so könnte dadurch die gute Mundart, auch in dem gemeinen Umgange allgemeiner gemacht werden. An der Aussprache würde man zwar mehrentheils immer hören können, aus welcher Provinz jemand sey, eben wie man im Französischen, dem Gasconier, Picarder und andere, ob sie gleich rein Französisch sprechen, dennoch leicht unterscheiden kann. Indessen würden doch alle, rein hochdeutsch reden, und niemand würde, durch die Eigenheiten seiner Provinz, einem anderen zuweilen unverständlich werden, oder so etwas sagen, was ihm auffallend seyn müsste. (Stosch KB/3 1782, 197 → Hochdeutsch1/2/7)

Die Sprecher und Sprecherinnen sollen sich demnach in der Kommunikation mit Gebildeten und anderen Personen, die Hochdeutsch sprechen, ebenfalls des Hochdeutschen bedienen. Zweitens ist gesagt, wie dieses Hochdeutsch beschaffen sein soll: Es soll „rein“ bzw. frei von landschaftlichen Merkmalen sein, wobei vermutlich grammatische oder lexikalische Abweichungen vom Hochdeutschen gemeint sind, da die Aussprache explizit ausgenommen wird. Die deontische Bedeutungsdimension variiert je nach Zuschreibungsgröße und soll an dieser Stelle in der Formulierung: ‚x muss bzw. soll ge-

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

tan werden‘ wiedergegeben werden. Die Deontik des Schlüsselwortes lässt sich nur metasprachlich formulieren, deshalb stellen die nachstehenden Sätze in der Regel keine Zitate dar, sondern sind metasprachliche Explikationen der Deontik in Bezug auf spezifische Bedeutungsdimensionen des Hochdeutschen. Die Explikationen der deontischen Bedeutungsdimension werden in einfache Anführungszeichen gesetzt und mit Belegangaben versehen. So lässt sich dem vorangestellten Zitat folgende Explikation der deontischen Bedeutungsdimension zur Seite stellen: ‚Hochdeutsch soll im Umgang mit Gebildeten verwendet werden und frei von landschaftlichen Merkmalen sein.‘ (vgl. Stosch KB/3 1782, 197) Als zweites Beispiel sei ein Zitat von Johann Christian Christoph Rüdiger angeführt: Dieses Hochdeutsche im engeren Verstande nun, diese ausgebildete, gereinigte, verfeinerte und kunstrichtige Bücher-Gelehrten- und Hoffsprache Teutschlands ist überhaupt das vornehmste Ziel des Sprachlehrers [...]. (Rüdiger VHS 1783, 5 → Hochdeutsch1/2/4)

Erstens ist als deontische Bedeutungsdimension festzuhalten, dass die Sprachkundler, insbesondere die Grammatiker und Lexikographen, das Hochdeutsche normieren und kultivieren sollen (und keine andere Sprache bzw. Varietät). Zweitens sind die Aussagen über das Hochdeutsche nicht rein deskriptiv zu verstehen, sondern es wird gleichzeitig gesagt, wie die Leitvarietät beschaffen sein soll: normiert, kultiviert, polyfunktional, ‚kunstrichtig‘, das bedeutet bestimmten stilistischen Kriterien genügend. Die Deontik des Schlüsselwortes lässt sich anhand des Belegs so formulieren: 1. ‚Die Sprachkundler sollen das Hochdeutsche (als Leitvarietät) normieren und kultivieren.‘ (vgl. Rüdiger VHS 1783, 5) 2. ‚Hochdeutsch soll eine polyfunktionale, normierte, kodifizierte, kultivierte, bestimmten stilistischen Kriterien genügende Leitvarietät der Bildungseliten und Oberschichten sein.‘ (vgl. Rüdiger VHS 1783, 5) Im Folgenden werden exemplarisch einige Explikationen der deontischen Bedeutungsdimension angeführt. In Bezug auf das Verhalten der Sprecher: ‚Hochdeutsch soll als ‚einzige‘ und ‚rechte‘ Sprache anerkannt und verwendet werden.‘ (vgl. Anonymus AGDS 1742, 244, Freyer ATO 1722, 8) ‚Hochdeutsch soll als Schriftsprache sowie als Wissenschaftssprache von den Oberschichten erlernt und beherrscht werden.‘ (vgl. Fulda VIS 1788, A2r)

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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‚Hochdeutsch soll die Leitvarietät der öffentlichen Kommunikation sein.‘ (Hallbauer VTO 1725, 496f., Longolius EtS 1715, 105) ‚Hochdeutsch soll die Sprache der Bildungseliten und Oberschichten sein.‘ (vgl. Adelung ÜDS/1 1785, 71f.) ‚Hochdeutsch soll von allen Sprechern, auch des niederdeutschen und oberdeutschen Sprachraums, erlernt werden.‘ (vgl. Adelung ÜDS/1 1785, 44f.) ‚Hochdeutsch soll gelehrt und gelernt werden.‘ (vgl. Stutz DSL 1790, 9) In Bezug auf die Eigenschaften des Hochdeutschen: ‚Hochdeutsch soll eine ‚ausgesuchte‘ und ‚auserlesene Art zu reden‘ sein.‘ (vgl. Gottsched DS 1762, 38) ‚Hochdeutsch soll die Eigenschaften ‚Reinheit‘, ‚Deutlichkeit‘, ‚Zierlichkeit‘ aufweisen.‘ (vgl. Hallbauer VTO 1725, 120f.) ‚Hochdeutsch soll keine veralteten Ausdrücke, Neologismen und landschaftlichen Varianten aufweisen.‘ (vgl. Hallbauer VTO 1725, 496f.) ‚Hochdeutsch soll eine durch den ‚guten Geschmack‘ ‚verfeinerte Mundart‘ sein.‘ (vgl. Adelung 1MDS/II 1782, 99) ‚Hochdeutsch soll die ‚verfeinerte‘ und ‚ausgebildete‘ ‚Büchersprache‘ sein.‘ (vgl. Rüdiger VHS 1783, 3) ‚Hochdeutsch soll ‚reich‘, ‚wohlklingend‘, ‚ausgebildet‘ sein. (vgl. Adelung ÜDS/1 1785, 71f.) ‚Hochdeutsch soll die Schriftsprache Deutschlands sein.‘ (vgl. Adelung ÜDS/1 1785, 71f., Moritz/Vollbeding GW/IV 1800, 22) ‚Hochdeutsch soll die Sprachregeln für die Normierung des Deutschen vorgeben.‘ (vgl. Adelung UL/1 1782, 113) 3.5.2 ‚Meißnisch‘/,Obersächsisch‘

Meißnisch, das; -en/-en. Wbg.: Obersächsisch, das; -en/-en. Selten:

Adj. meißnisch, Subst.: Meißen, Meiß- Sächsisch. Wbg.: Adj.: obersächsisch, isch (1 Beleg), Meißner. obersächsischhoch-deutsch. Subst.: Obersachse, Obersachsen. Die sprachgeographischen Schlüsselwörter Meißnisch und Obersächsisch sind im deutschsprachigen Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts partielle Synonyme, wobei allerdings der Ausdruck Obersächsisch weitaus häufiger zur Bezeichnung der sprachgeographisch definierten Leitvarietät herangezogen wird. Dies ist sicherlich der regionalen Begrenztheit der Region Meißen geschuldet, wenngleich deren territoriale Ausdehnung in den sprachreflexiven Schriften nicht expliziert wird. Auch

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

im Fall des Obersächsischen sind territoriale Charakterisierungen der Ausnahmefall. Um einen Vergleich der diskurstypischen Verwendungen zu erleichtern, werden die beiden Schlüsselwörter kontrastiv in Spalten dargestellt. In der Bedeutung 1 ist Meißnisch/Obersächsisch ein Dialektverbund des Ostmitteldeutschen, der als relativ homogene Einheit wahrgenommen wird. Insofern die Sprachkundler des Sprachnormierungsdiskurses in der Regel nicht systematisch zwischen gesprochenen Dialekten und landschaftlich geprägten Schreibsprachen unterscheiden, ist sowohl das mündlich realisierte Meißnisch/Obersächsische als auch eine landschaftlich geprägte Schriftsprache gemeint. Von den Sprachkundlern des ostmitteldeutschen Raums wird eine Vorbildlichkeit des Meißnischen bzw. Obersächsischen behauptet (→ 2/3). In dieser engeren Bedeutung ist unter Meißnisch/Obersächsisch eine sprachgeographisch bestimmte Leitvarietät zu verstehen. In der Bedeutung 2 und 3 ist der Ausdruck somit partiell synonym zu Hochdeutsch3. Die Sprachkundler des ostmitteldeutschen Sprachraums wie Johann Christoph Gottsched und Johann Christoph Adelung behaupten zum einen eine Vorbildlichkeit der obersächsischen Schriftsprache (→ Meißnisch/Obersächsisch2), zum anderen eine Vorbildlichkeit der Aussprache des Meißnisch/Obersächsischen3, und zwar der oberen sozialen Schichten und der Bildungseliten (→ Hochdeutsch1). Sie knüpfen an eine Bestimmung des Hochdeutschen an, wie sie im 17. Jahrhundert von Christian Gueintz und Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen vertreten wird (vgl. u. a. Gueintz DSE 1641). In Norddeutschland und auch im oberdeutschen Sprachraum wehren sich zahlreiche Sprachkundler gegen die Gleichsetzung der Leitvarietät mit dem Meißnischen bzw. Obersächsischen (→ 2/3), so etwa der Norddeutsche Bernhard Raupach (LSI 1704), die Züricher Sprachkundler Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger (vgl. Bodmer/Breitinger MS/2 1746) sowie die Pfälzer Carl Friedrich Aichinger (vgl. Aichinger VTS 1754) und Jakob Hemmer (vgl. Hemmer ADS 1769).

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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Insgesamt lassen sich drei Bedeutungsdimensionen unterscheiden: 1. ›Dialektverbund des Ostmitteldeutschen, der im Norden an das Niederdeutsche und im Süden an das Oberdeutsche grenzt‹ 2. ›Vorbild für die Schriftsprache‹ 3. ›Vorbild für die gesprochene Sprache‹

1. ›Dialektverbund des Ostmitteldeutschen, der im Norden an das Niederdeutsche und im Süden an das Oberdeutsche grenzt‹ Meißnisch/Obersächsisch ist in dieser allgemeineren Bedeutung ein Dialektverbund des Ostmitteldeutschen, der trotz seiner Differenziertheit als eine relativ homogene Einheit wahrgenommen wird. Tendenziell sind die Bezeichnung Meißnisch und entsprechende Syntagmen wie ‚Meißner Dialekt‘ im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts häufiger belegt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird die Bezeichnung Meißnisch seltener verwendet, nicht zuletzt, da sie eine geringere territoriale Ausdehnung indiziert. Sehr selten lässt sich die Bezeichnung Sächsisch in dieser Bedeutung nachweisen. Die territoriale Ausdehnung des Obersächsischen wird selten explizit gemacht, dies gilt ebenso für die Bezeichnungen ‚Meißnisch‘, ‚Meißner Dialekt‘ und ‚Meißnische Sprache‘, die sich auch auf die gesamte Region Kursachsen beziehen können. Das Obersächsische grenzt im Norden an das Niederdeutsche (→ Niederdeutsch1), im Süden an das Oberdeutsche (→ Oberdeutsch1). Im Kotext der Erörterung des Meißnischen bzw. Obersächsischen finden sich häufig die Sprecherbezeichnungen die Sachsen bzw. die Obersachsen. So ist zum Beispiel in der Schrift des katholischen Sprachkundlers Augustin Dornblüth, der das Obersächsische als Leitvarietät entschieden ablehnt, fast ausschließlich die Rede von den Sachsen (vgl. Dornblüth Obs 1755, 150, 322, 324, 326, 611). Bdv.: Kursachsen. Ggb.: Niederdeutsch1, Oberdeutsch1. Ktx.: Aussprache, Mundart. Wbg.: Meißisch, Meißner.

Belege zu Meißnisch1: Und mit welchem Recht fordern die Sachsen, daß wir uns ihrem Sprachgebrauche unterwerfen sollen? Ist unser Gebrauch nicht von so grossem Ansehen, als der ihrige, da doch gewiß ist, daß er älter ist, und der ursprünglicheren Verfassung der deutschen Sprache getreuer geblieben ist; welches Goldast mehrmals

Bdv.: Kursachsen. Ggb.: Niederdeutsch1, Oberdeutsch1. Synt.: obersächsische Landschaftssprache. Ktx.: Aussprache, Mundart. Wbg.: Obersachsen.

Belege zu Obersächsisch1: Nun reden aber die gebildeten Menschen in allen Abtheilungen Deutschlandes, mithin auch in OberSachsen, nicht die Landschaftssprache oder Sprech-art ihrer Gegend, sondern Deutschlands allgemeine Schriftsprache; nur freilich nicht so rein und lauter, wie gute Schriftsteller sie zu schreiben pflegen. Wollte also Hr. A.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

angemerckt hat, und all diejenigen wissen, die in den deutschen Schriften der mittlern Zeiten belesen sind? Ich habe mit allem meinem Nachsinnen noch keinen tüchtigen Grund ausfinden können, warum eben der Meißner-Dialekt die Herrschaft haben sollte; warum andere Provinzen nicht eben so viel Recht haben sollten, ihre eigene Mundart auszubessern? Sagte man, andere Dialekte wären in keine Grammatick gebracht: Aber der sächsische ebenso wenig; den dergleichen Sprachlehren, wie die Sachsen haben kann man in vierzehn Tagen für eine jede Mundart der Deutschen machen. Auch weder die Kürze noch der Reichthum geben der sächsischen Sprache einen besonderen Vorzug. Im Ansehen der Kürze wird man in vielen andern Dialekten weit größere Vortheile wahrnehmen. In unserer schweizerischen Mundart offenbaret sich eine sehr merckliche Neigung für dieselbe. Wir können fast alle Ausdrücke, wozu die Sachsen das Hülfs-Wort werden nöthig haben, mit nur einem Worte geben; anstatt schön werden / starck werden / weiß werden, sagen wir schönen / starcken / weißen. (Bodmer/Breitinger MS/2 1746, 619f. → Meißnisch/Obersächsisch2/3) In Deutschland hat gleichfalls fast jede größere Landschaft ihre eigene Mundart: doch konnte man die hochdeutsche Sprache hauptsächlich in die österreichische, schwäbische, fränkische und meißnische abtheilen. (Gottsched DS 1762, 38 → Hochdeutsch4) Es theilet aber der witzige Sciopius ietzmahlige Teutsche Sprach in sechserley Dialectos oder MundArten / als da ist zum ersten die Meissische / zum Anderten die Rheinische/ zum dritten die Schwäbische / zum vierdten die Schweizerische / zum fünfften die Sächsische/ zum sechsten die Bayrische. ([Hieber] PB 17231725, 296) Die obersächsische, besonders die meißnische Aussprache ist wol nichts weniger als die beste Aussprache, obschon sie der gewönlich geschriebenen mehr als die übrigen Mundarten nahe kömt. Sie hat für einen, der ihrer nicht gewohnt ist, immer eine unangenehme Härte. (Richter KA 1784, 164f.) Gottsched wollte den gesamten Sprachschatz, nicht bloss die Scheidemünze des täglichen Verkehrs, die jetzo unter den Meissnern umlaufen mag, in einem deutschen grammatischen Wörterbuche nach dem Alfabet aufstellen. Als ihn am Ende des Jahres 1766 der Tod abrief,

[= Adelung, Anm. KF] seinen Satz: daß das H.D. [= Hochdeutsch, Anm. KF] nichts anders, als die O.Sächsische [= Obersächsische, Anm. KF] Landschaftssprache oder Mund-art sei, wirklich gültig machen: so müßte er uns nicht auf die gebildeten, sondern vielmehr gerade umgekehrt auf die ungebildeten Sachsen in den untersten Ständen, verweisen, weil nur diese, nicht jene, es sind, welche die eigenthümliche Landschaftssprache Sachsens reden. (Campe WH 1795, 153 → Meißnisch/Obersächsisch2/3, Hochdeutsch3) Es giebt Leute, welche alle Wörter, die der Gebrauch in Sachsen nicht gestempelt hat, von hochteutschen Schriften gänzlich ausgemerzet haben wollen. (Fulda VIS 1788, A2v → Hochdeutsch1). Die obersächsische, besonders die meißnische Aussprache ist wol nichts weniger als die beste Aussprache, obschon sie der gewönlich geschriebenen mehr als die übrigen Mundarten nahe kömt. Sie hat für einen, der ihrer nicht gewohnt ist, immer eine unangenehme Härte. (Richter KA 1784, 164f.) Aber daß das, was die Obersachsen bisher in der Litteratur geleistet haben, (denn izt scheinen sie etwas auf den Lorbern ihrer Vorfahren und auf ihren eignen auszuruhen), uns nicht nur Regel und Richtschnur, sondern auch Gränze und Ziel seyn soll: das halte ich für ein neues Joch, dessen Abschüttelung man keinem verargen kann. (Richter KA 1784, 194) Weitere Belege zu Obersächsisch1: Adelung (GKW/1 1774, XII) Adelung (1MDS/I 1782, 35, 37, 39, 40, 92f.) Adelung (ÜDS/1 1785, 48f.) Adelung (DSS 1806, 5f.) Adelung (Mith2 1809, 272) Berndt (VSI 1787, XXIV) Biester (KT 1783, 192, 193, 195, 196) Bodmer/Breitinger (MS/2 1746, 400, 401, 402, 404, 560, 561, 558ff., 612f., 619, 620, 621, 622, 624, 628) Campe (WH 1795, 150 → Meißnisch/Obersächsisch2; 153, 156-161, 163168, 177, 183) Dornblüth (Obs 1755, 4, 10, 52, 72, 150, 322, 324, 326, 611) Hallbauer (VTO 1725, 26, 30f.) Hemmer (DSL 1775, 5) Heynatz (BDS/1 1771, 28f.) Longolius (1715 Ets, 538) Nast (TSF/1 1777, X, XI, XII, XII → Meißnisch/Obersächsisch2) Ponatus (AHS 1713, 8f.) Richter (1784, 12) Schmohl (DM 1780, 156, 157, 158, 165) von Sonnenfels (ÜG 1784, 48, 53 → 2/3) Voß (DSK 1804, 305, 310) Wack (ATS 1713, 8)

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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übertrug sein Verleger Breitkopf die Ausarbeitung eines so nützlichen Werkes dem Hn. Adelung, der sich als unverdrossenen Sammler, obgleich nicht eben als Sprachforscher von Geist und Erfahrung, gezeigt hatte. In den sechs Jahren, die der fleissige Mann bis zum Drucke des ersten Bandes sich nahm, und noch mit Nebengeschäften einschränkte, leistete er in der That alles, was möglich war, weit mehr, als Gottscheds ärmliche Probe erwarten liess. Dieses Mehr war desto verdienstlicher, da Hr. A. nicht, wie Gottsched, ein Wörterbuch der deutschen Sprache, sondern allein der meißnischen Mundart, so weit sie jetzo im Verkehr der Gebildeten üblich sey, oder ein Idiotikon des galanten Obersachsens, auszuarbeiten unternahm. (Voß DSK 1794, 205 → Obersächsisch1/2/3) Weitere Belege zu Meißnisch1: Aichinger (VTS 1754, XVIII, XIX, XXIII, XXIV, [räumt Vorbildlichkeit des Meißnischen ein]) Anonymus (BCH2 1732, 308, 309, 310, 311, 314, 318, 319, 320) Anonymus (BCH1b 1732, 59) Bodmer/Breitinger (MS/2 1746, 619, 621, 624) Fabricius (PhO 1724, 18) Fulda (VIS 1788, A2v) Gedike (DD 1794, 308, 310) Gottsched (DS 1762, 38, 106) Litzel (UC 1730, 102, 103)

2. ›Vorbild für die Schriftsprache‹ Das Meißnische bzw. Obersächsische ist im Sprachnormierungsdiskurs das dominierende sprachgeographische Vorbild für die Leitvarietät. Einerseits ist die Schriftsprache gemeint (→ Bedeutung 2), andererseits auch die gesprochene Sprache (→ Bedeutung 3). Meißnisch/Obersächsisch ist in der Bedeutung 2/3 partiell synonym zu Hochdeutsch3. In diesen Bedeutungen sind die Ausdrücke partiell synonym. Die Gleichsetzung des Hochdeutschen mit der Schriftsprache der Region Meißen bzw. Kursachsen und der gesprochenen Sprache der gehobenen Bildungsschichten hat Auswirkungen auf alle Bereiche der Sprachnormierung, etwa der Normierung des Wortschatzes, der Aussprache und der Orthographie. Die Durchsetzung dieser regional gebundenen Leitvarietät ist deshalb im zeitgenössischen Diskurs heftig umstritten. Die Vertreter des meißnisch-obersächsischen Sprachvorbilds sind vorrangig Sprachkundler des ostmitteldeutschen und norddeutschen Sprachraums, insbesondere Johann Christoph Gottsched und Johann Christoph Adelung. Sie fordern die Annahme des Hochdeutschen meißnischobersächsischer Grundlage in allen anderen Sprachregionen.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Das Meißnische ist in Form der meißnischen Kanzleisprache bereits seit dem 15. Jahrhundert ein wichtiges Sprachvorbild (vgl. Gessinger 1980, 111f.), allerdings spielt das kanzleisprachliche Vorbild für die Sprachkundler im ostmitteldeutschen bzw. auch norddeutschen Sprachgebiet nur noch eine marginale Rolle. Wichtiger ist im Kontext der Aufwertung des Meißnischen bzw. Obersächsischen der Verweis auf die Reformation und die Schriften Martin Luthers. Luthers Sprache wird mit dem Meißnischen bzw. Obersächsischen identifiziert. Die Reformation habe dieser Argumentation zu Folge zu einer besonderen kulturellen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Blüte geführt, die den Vorbildanspruch dieser Region rechtfertige. Insbesondere sei der Geschmack der oberen Klassen Obersachsens auf einem sehr hohen Entwicklungsniveau angelangt. Diese sprachideologische Argumentation hat besonders im oberdeutschen Raum zur Ablehnung des Meißnisch/Obersächsischen2/3 durch die katholischen Gebildeten, insbesondere durch die Jesuiten, geführt. Diese sehen im Meißnisch/Obersächsischen eine „protestantische“ Varietät (vgl. beispielsweise [Hieber] PB 1723-25, 297). Bdv.: Obersächsisch1/3, Hochdeutsch3, Kursachsen. Synt.: meißnische Schreibart. Ktx.: Aussprache, Büchersprache, Deutschland, Dialekt, Geschmack, Hochdeutsch, Luther, Mundart, Oberdeutsch, Reformation, Schriftsprache. Wbg.: Meißen, Meißner.

Belege zu Meißnisch2: In dieser weitesten Bedeutung ist als hochdeutsch, so viel als oberdeutsch (→ Oberdeutsch4, Hochdeutsch4). Allein im engern und gewöhnlichsten Verstande bezeichnet dieses Wort die meißnische oder obersächsische Mundart, so fern sie seit der Reformation die Hoffsprache der Gelehrsamkeit geworden ist, und durch die Schriftsteller aller Mundarten theils viele Erweiterungen, theils aber auch Einschränkungen erfahren hat. (Adelung GKW/1 1774, VI → Hochdeutsch1/2/3) Die Sprache muß rein seyn. Wir haben vor dem viel anders geredet / als anjetzo / und es ist eben nicht gar zu lange / daß man angefangen hat / das alte Teutsche zu verbessern / und die reine Meißnische Schreib-Art einzuführen. In dieser Verbesserung wurden gewisse Societäten auffgerichtet / als die Fruchtbringende Gesellschafft / die Teutsch-Genossenschafft / und der berühmte Pegniz Orden. (Hunold

Bdv.: Meißnisch1/3, Hochdeutsch3, Kursachsen. Synt.: Das Obersächsische ist die beste deutsche Mundart und die allgemeine Schriftsprache der feinern Welt. Ktx.: Aussprache, Büchersprache, Dialekt, Deutschland Geschmack, Hochdeutsch, Luther, Mundart, Oberdeutsch, Reformation, Schriftsprache. Wbg.: Obersachse, Obersachsen.

Belege zu Obersächsisch2: Allein zu den Zeiten der Reformation bekamen die Sachen einen ganz andern Schwung. Luther war der Mundart nach ein Niedersachse. Hätten er und seine Gehülfen sich eine niederdeutsche hohe Schule zu ihrem Aufenthalte gewälet, so würde die niedersächsische Mundart vermuthlich eben das geworden seyn, was jetzt die Hochdeutsche ist (→ Niederdeutsch1/2). Allein da sie sich nach Obersachsen wandten, sich nach und nach die dortige Mundart eigen machten, ihre Schriften in derselben ausfertigten, und dadurch Gelegenheit gaben, daß auch alle ihre Zuhörer, die aus allen Provinzen Deutschlandes nach Obersachsen eileten, sich diese Mundart angewöhneten, so ward solche nach und nach die herrschende Sprache der Got-

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter ETO 1715, 6) Es ist genug / Wenn ich sage / daß der Meisnische Dialectus der beste und der annehmlichste unter allen ist. Und alle Gelehrte Teutsch-verständige werden diesem Ausspruche beystimmen. [...] Unsern Nationalismus vermehren die Thüringer / NiederSachsen / Märcker / Preussen / Lausnitzer und Schlesier/ welche sich mit der Feder insgemein nach unserm Idiomate zu accommiren pflegen. [...] Zwar ausgebreitet ist die sächsische Mundart nun einmal wol zu sehr, als daß sie nicht immer sollte der Grund der Schrift- oder Nationalsprache bleiben. Denn die Höfe, die Gelehrten und alle sich etwas weiser dünkende Leute in den andern Provinzen haben schon zu viel Werth darauf gesezt, wenn einer gut hochdeutsch aussprechen kan. Aber durch die Mundarten der andern Provinzen bereichert, verändert, verbessert muß und wird sie werden, daß sie noch ein ganz anderes Ansehn gewinnt. Denn sie ist nicht Mutter von Töchtern, sondern Schwester von Schwestern; und wenn wir den ganzen Reichthum und alles Vermögen, alle Güter der Mutter besitzen wollen, müssen wir alles das zusammennehmen, was sie jeder einzelnen Tochter besonders vermacht hat. (Schmohl DSK 1780, 163 → Gelehrte1/2) Weitere Belege zu Meißnisch2: Aichinger (VTS 1754, XXIII, XVIIf., 4[räumt lediglich Vorbildlichkeit des Meißnischen ein]), Freyer (ATO 1722, 6f.) Gottsched (DS 1762, 106, 648) Hunold (ETO 1715, 6) Richey (IH 1755, IV)

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tesgelehrten. Weil nun mit der Reformation die Künste und Wissenschaften sich auszubreiten anfiengen, und Obersachsen zugleich der Sitz der übrigen Gelehrsamkeit wurde, so kam es, daß diese Mundart, welche von den Niederdeutschen die Hochdeutsche in engerer Bedeutung genannt wurde, nach und nach die Hoffsprache der Gelehrsamkeit wurde, welches sie auch bisher geblieben ist, ob sie gleich in diesem Zeitraume allerley Veränderungen erfahren hat […]. (Adelung GKW/1 1774, VIIIf. → Meißnisch/Obersächsisch1/3, Niederdeutsch1) So standen die Sachen, als im sechzehnten Jahrhundert aus der Mitte Deutschlandes, aus einer ehedem von Wenden bewohnten Provinz, die aber nach und nach durch den Bergbau, durch Handlung und Künste zu einem beträchtlichen Flor, und zugleich zu einem nicht minder beträchtlichen Grade der Kultur gekommen war, kurz aus Kur-Sachsen ein wohlthätiges Gestirn über den Horizont emporstiege, das zwar unmittelbar in dem Gebiete der Religion neues Licht verbreitete, aber zugleich in der Sprache Deutschlands eine unerwartete Veränderung veranlassete. Kur-Sachsen war in dieser Periode Lehrerin für das gesammte, besonders das nordliche Deutschland. Des grossen Luthers Schriften verbreiteten den nun durch den häufigen Gebrauch immer mehr sich bildenden und reinigenden Oberdeutschen Dialekt durch ganz Deutschland (→ Oberdeutsch1/3). Die Reformation fand gerade am meisten im nordlichen Deutschlande Eingang. Aber es erhielt seine Lehrer aus Sachsen, oder wenigstens hatten sie sich auf den Sächsischen hohen Schulen gebildet. So war allmählig die Obersächsische Mundart allgemeine Schriftsprache. (Gedike DD 1794, 304f. → 1/3) Ganz Deutschland ist schon längst stillschweigend darüber eins worden. Ganz Ober- und Niederdeutschland hat bereits den Ausspruch gethan: daß das mittelländische, oder obersächsische Deutsch, die beste hochdeutsche Mundart sey; indem es dasselbe überall, von Bern in der Schweiz, bis nach Reval in Liestland, und von Schleswig bis nach Trident in Thyrol, ja von Brüssel bis Ungarn und Siebenbürgen, auch im Schreiben nachzuahmen und zu erreichen suchet. (Gottsched DS 1762, 69 → Meißnisch/Obersächsisch1/3, Hochdeutsch3) Endlich fing zur Zeit der Reformation 1517, die

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich Obersächsische an in allen Schrifften und Büchern gebrauchet zu werden: Und weil solches von mancherley Landesleuten geschahe / kriegte sie untern den Gelehrten und auff dem Pappiere nach und nach eine ganz andre Gestalt /als im gemeinen Reden /und ward die Hochteutsche Sprache genannt. (Longolius Ets 1715, 539 → Hochdeutsch1/2/3, Meißnisch/Obersächsisch1, Niederdeutsch1) Weitere Belege zu Obersächsisch2: Adelung (GKW/1 1774, VI → Meißnisch/Obersächsisch3, VIII → Meißnisch/Obersächsisch3, IX) Adelung (1MDS/I 1782, 32, 33, 94f.) Adelung (UL/1 1782, 81, 84f.) Adelung (VGC 1782, 426, 427) Adelung (ÜDS/1 1785, 22f., 71f.) Anonymus (AGDS 1742, 241f. → Meißnisch/Obersächsisch3) Anonymus (ADS 1783, 588f.) Fulda (VIS 1788, VIII) Freyer (ATO 1722, 6f.) Gedike (GPS 1778, 413f.) Glaffey (ASA 1747, 20) Gottsched (DS 1762, 762) Gottsched (GM 1758, 43) Heynatz (BDS/1 1771, 24) Hunold (ETO 1715, 6) Litzel (UC 1730, 103) Richey (IH 1755, IV) Schmohl (DM 1780, 160) Tilling (BNW 1767, 5)

3. ›Vorbild für die gesprochene Sprache‹ Die Sprachkundler des ostmitteldeutschen Sprachraums gehen von einer besonderen Vorbildlichkeit des gesprochenen Meißnischen bzw. Obersächsischen aus, wobei in der Regel eine Einschränkung auf den Sprachgebrauch der Oberschichten bzw. der Bildungseliten erfolgt (→ Hochdeutsch1/3). Die Sprachkundler erheben somit ihre eigene Gemeinsprache zur Leitvarietät. Als vorbildliche Städte des obersächsischen Sprachraums gelten Halle, Leipzig, Wittenberg und Dresden (vgl. Freyer ATO 1722, 7). Bdv.: Hochdeutsch1/3, Obersächsisch1/2. Ktx.: Aussprache, Dialekt, Hochdeutsch, Mundart. Wbg.: Meißen, Meißner.

Belege zu Meißnisch3: Die Lieblichkeit in der Aussprache mögte vielleicht der Meißnischen Sprache ein würckliches Vorrecht ertheilen. Doch dieses wäre denn nur ein Vorrecht ihres mündlichen Vortrages, welches nicht bis auf die Schriften erstrecket werden müßte, gestalt die Orthographie in

Bdv.: Hochdeutsch1/3, Meißnisch1/2. Synt.: Das O. ist die beste deutsche Mundart und die allgemeine Umgangssprache der feinern Welt. Ktx.: Aussprache, Dialekt, Hochdeutsch, Mundart, obere Classen. Wbg.: Obersachse, Obersachsen.

Belege zu Obersächsisch3: Wenn noch einige Zweifel übrig bleiben sollten, daß unsere höhere Schrift- und Gesellschaftsspra-

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter Sachsen und in den übrigen Provinzen einerley ist, oder wenigstens von derselben nicht in wichtigern Stücken unterschieden ist, als sie es in den Schriften der Sachsen selber ist; also daß jedes Volk nach seiner eigenen Art aussprechen kan. Allein es ist etwas so zartes um die Ohren, sie sind so biegsam, und lassen sich so leicht gewöhnen, Anmuth von gewissen Arten Klanges zu empfinden, daß dieses vermeinte Vorrecht der Lieblichkeit der meißnischen Aussprache sich auf eine sehr streitige Kleinigkeit wird bringen lassen. (Bodmer/Breitinger MS/2 1746, 621 → Meißnisch/Obersächsisch2) Die HochTeutschen aber bindet er [= Bödiker, Anm. KF] an keinen gewissen Ort oder Landesstrich, eben wie Fabian Francke in seiner anno 1539 zu Wittenberg gedruckten Orthographie schon vorlängst gethan: sondern meldet davon, daß sie durch den Fleiß der gelehrten und aus den übrigen Arten zu einer sonderbaren Zierde erwachsen und zwar in ganz Teutschland üblich, doch der Meißnischen und Ober-Sächsischen Aussprache am ähnlichsten sey. Und dieses hat auch seinen guten Grund in der Erfahrung. (Freyer ATO 1722, 6f. → Hochdeutsch5, Meißnisch/Obersächsisch1) [Hochdeutsch wird] […] von gelehrten und galanten Leuten an allen Orten, sonderlich in Meissen und Sachsen, auf Academien, bey Hofe, in Canceleyen, und Gerichten, in vornehmen Städten, als Dresden, Leipzig etc. in Reden und Schreiben gebraucht. (Hallbauer ATO 1225, 120 → Gelehrte1/2, Meißnisch/Obersächsisch1/2) Weitere Belege zu Meißnisch3: Freyer (ATO 1722, 6f.)

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che in dem südlichen Chursachsen einheimisch ist, der komme und überzeuge sich durch den Augenschein. In keiner Provinz Deutschlandes wird sie so allgemein, und in den Städten selbst in den untersten Classen gesprochen, daher sie hier wohl nicht ein Fremdling sein kann. Man kann ohne Bedenken hinzu sezen, daß sie auch in keiner Provinz, im Ganzen genommen, so rein und so richtig gesprochen wird, als eben hier; beydes weil der gute Geschmack in keiner Provinz so allgemein verbreitet ist, als in dieser. (Adelung 1MDS/I 1782, 25 → Meißnisch/Obersächsisch1) Jeder Leser und deutsche Schriftsteller gewöhnte sich von Jugend auf an die sächsische Sprache, jeder glaubte ein guter Stylist zu seyn, und hatte auch nicht unrecht, wenn er sich nach Luthern und andern berühmten Sachsen bildete. Diese Umstände, nebst der allgemeinen Ausbreitung der Gelehrsamkeit durch hohe und viele mittlere Schulen, und die gleichsam angeborne Reinigkeit und Richtigkeit im Sprechen, berechtigten Sachsen unstreitig zuerst, sich des Richteramts über die deutsche Sprache anzumaßen. (Berndt VSI 1787, XXV → 1/2) Daß also endlich auch jetzt, vergleichungsweise und im Ganzen genommen, keine andere Sprech-art in Deutschland mit unserer H.D. [= Hochdeutschen, Anm. KF] Schriftsprache, in ihrer ganzen Beschaffenheit, wie diese jetzt ist [...], so viel Übereinstimmendes, als die Obersächsische, hat; theils weil in dieser, als einer Mittelsprech-art, alle andere Sprech-arten mehr oder weniger zusammenfließen, theils aber auch, weil dieser Sprech-art, außer dem, was sie zur Bildung des H.D. unmittelbar beigetragen hat, auch vieles von demjenigen nicht fremd war, was aus der vorher herrschenden Fränkischen und Schwäbischen Schriftsprache in unserem jetzt gebräuchlichen H.D. übrig geblieben ist. (Campe WH 1795, 151 → Hochdeutsch2) Was ich hier von der obersächsischen Aussprache sage, will ich keineswegs auf das einzige Meißen gedeutet haben: wie ein gelehrter Mann zu Göttingen unlängst dafür gehalten hat, der dieser Landschaft die Gränzen zwischen der Elben und der Saale angewiesen: ohne doch zu bestimmen, wie hoch hinauf diese beyden Ströme genommen werden sollten. Wir können sicher auch das ganze Voigtland, Thüringen, Mansfeld und Anhalt, nebst der Lausitz und

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich Niederschlesien dazu rechnen. In allen diesen Landschaften wird in Städten, unter vornehmen, gelehrten und wohlgesitteten Leuten ein recht gutes Hochdeutsch (→ Hochdeutsch1/7) gesprochen: welches man a potiori, nach dem Sitze des vornehmsten Hofes, das Obersächsische zu nennen pflegt. (Gottsched DS 1762, 68 → Meißnisch/Obersächsisch3) Weitere Belege zu Obersächsisch3: Adelung (UL/1 1782, 78) Freyer (ATO 1722, 6f.)

3.5.3 ‚Niederdeutsch‘/‚Plattdeutsch‘

Niederdeutsch, das; -en/-en. Auch: Plattdeutsch, das; -en/-en. Auch: Niederteutsch, Wbg.: Adj. hollsteinisch- Plattteutsch. niederdeutsch, Subst. Niederdeutscher, Subst. Niederdeutschland. Die sprachgeographischen Schlüsselwörter Niederdeutsch und Plattdeutsch sind im deutschsprachigen Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts partielle Synonyme.235 In der Regel werden Niederdeutsch und Plattdeutsch synonym verwendet. In einigen Belegen wird der Ausdruck Niederdeutsch allerdings gegenüber dem Ausdruck Plattdeutsch als die wertneutrale Bezeichnung eingestuft, so etwa bei Moritz/Vollbeding (GW/IV 1800, 22). Mit Niedersächsisch kann sowohl der nordniederdeutsche Dialektverbund gemeint sein (Niedersächsisch hyponym zu Niederdeutsch), als die Bezeichnung auch partiell synonym zu Niederdeutsch oder Plattdeutsch verwendet wird. Um einen Vergleich der Verwendungsmöglichkeiten zu erleichtern, werden die beiden Schlüsselwörter kontrastiv in Spalten dargestellt. Das Niederdeutsche oder Plattdeutsche meint in der Bedeutung 1 die Gesamtheit der Dialekte im nördlichen Teil Deutschlands. Partiell synonyme Bezeichnungen sind ,Platt‘, ,Niedersächsisch‘, sehr selten ,Niederländisch‘ im Gegensatz zu Oberländisch. Dieser als relativ homogene Einheit wahrgenommene Dialektverbund wird sowohl schriftsprachlich als auch münd235 Die Geschichte des Ausdrucks ‚Plattdeutsch‘ dokumentiert Agathe Lasch (1979, 337-359), deren Belege eine weitere Bedeutung von Plattdeutsch enthalten: „Diese Zusammenstellungen stützen die annahme, daß ‚plat‘ in der erwähnten verbindung in gleicher bedeutung aufzufassen ist, als verständliches, vertrautes, heimisches deutsch (lingua vernacula, popularis), etwa zur kennzeichnung gegenüber dem als literatursprache der zeit bedeutenderen hochdeutschen, vielleicht auch dem kölnischen deutsch, weniger wohl dem sächsischen deutsch.“ (ebd., 340f.) [Es wird unter Auslassung der Fußnotenzeichen der Quelle zitiert.]

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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lich konzipiert (→ Niederdeutsch1).236 Das Niederdeutsche wird selbst in einzelne Dialekte aufgegliedert, wobei die Differenzierungen unterschiedlich ausfallen. Von dieser Bedeutung ist Bedeutung 2 von Niederdeutsch zu unterscheiden, die relational zu Hochdeutsch in der Bedeutung von ›qualitativ höherwertigere Sprache‹ bestimmt ist (→ Hochdeutsch7). Niederdeutsch in der Bedeutung 2 ist ein Dialektverbund, der von Sprachkundlern des ostmitteldeutschen und zum Teil auch norddeutschen Sprachgebiets im Hinblick auf bestimmte Eigenschaften wie etwa Polyfunktionalität und Überregionalität dem Hochdeutschen gegenüber als weniger hochwertig stigmatisiert wird (→ Hochdeutsch3, Meißnisch/Obersächsisch2/3). Von den Vertretern des meißnisch-obersächsischen Sprachvorbilds wie Johann Christoph Gottsched und Johann Christoph Adelung und ihren Anhängern wird die Sprachbezeichnung Niederdeutsch bzw. Plattdeutsch in der Regel in der ersten und zweiten Bedeutung verwendet. Aber auch die Gegner der Vertreter der obersächsischen Leitvarietät verwenden Niederdeutsch in dieser Bedeutung, so etwa der Oberpfälzer Hemmer (vgl. Hemmer DSL 1775, 7). Spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ist eine zusätzliche Bedeutungsdimension von Niederdeutsch bzw. (seltener auch) Plattdeutsch zu konstatieren. Von einigen Sprachkundlern wie Biester, Gedike, Heynatz, Richey, Schütze, Stosch und Zöllner wird das Niederdeutsche als Sprache bzw. regionale Varietät charakterisiert, die hinsichtlich bestimmter Eigenschaften, vor allem der schriftnahen Aussprache, dem Hochdeutschen meißnisch-obersächsischer Grundlage vorzuziehen sei (→ Niederdeutsch3). Gegen die Stigmatisierung des Plattdeutschen bzw. Niederdeutschen wehren sich schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts zahlreiche norddeutsche Gebildete. Eine frühe Verteidigung des Niederdeutschen/Plattdeutschen gegenüber denjenigen Sprachkundlern, die es als ‚hart‘, ‚grob‘ und ‚barbarisch‘ sowie ‚bäurisch‘ stigmatisieren, findet sich bei Georg Leopold Ponatus (vgl. Ponatus AHS 1713, 115f.). Besonders häufig wird von den Verteidigern eines besonderen Prestiges des Niederdeutschen bzw. Plattdeutschen eine Schrift des norddeutschen Theologen Bernhard Raupach zitiert, die explizit die Vorbildlichkeit und die Hochwertigkeit des Niederdeutschen/Plattdeutschen gegenüber dem Hoch236 In den untersuchten Texten wird nicht systematisch zwischen Niederdeutsch als Gesamtheit der mündlich realisierten Dialekte und einer überregionalen niederdeutschen Schriftsprache unterschieden, deshalb werden zu Niederdeutsch in der Bedeutung 1 sowohl Belege gezählt, die die niederdeutsche Schriftsprache betreffen, als auch Eigenschaften des mündlich realisierten Niederdeutschen erörtern.

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

deutschen beweisen will (vgl. Raupach LSI 1704). Als Theologe geht es Raupach aber vor allem darum, das Niederdeutsche als Kirchensprache, insbesondere als Sprache der Glaubensvermittlung und Seelsorge, zu bewahren. Die nachstehende Übersicht zeigt, dass die sprachgeographischen Schlüsselwörter Plattdeutsch bzw. Niederdeutsch von den Vertretern der obersächsischen Leitvarietät in einer spezifischen Bedeutung (bzw. Kombination von Bedeutungspositionen) verwendet werden, ebenso wie die Vertreter der niederdeutschen Leitvarietät (für Norddeutschland) die Ausdrücke in einer spezifischen Weise verwenden. Die Vertreter der obersächsischen Grundlage des Hochdeutschen verwenden Niederdeutsch bzw. Plattdeutsch jeweils in der Bedeutung 1 und 2, während diejenigen Sprachkundler, die das Niederdeutsche als Leitvarietät in Norddeutschland bewahren wollen, die Bezeichnungen Niederdeutsch und Plattdeutsch in der Bedeutung 1 und 3 verwenden (vgl. beispielsweise Raupach LSI 1704). Die sprachgeographischen Schlüsselwörter Niederdeutsch und Plattdeutsch stehen somit in einer deskriptiven Bedeutungskonkurrenz (vgl. Klein 1989, 17). Weiterhin ist der Übersicht die gruppenspezifische Verwendungsweise der beiden sprachgeographischen Schlüsselwörter zu entnehmen, wobei nochmals zu betonen ist, dass die Vertreter einer niederdeutschen Leitvarietät das Niederdeutsche/Plattdeutsche nicht als überregionale Leitvarietät für ganz Deutschland betrachten oder gar etablieren wollen. Sie plädieren hingegen für einen Erhalt des Niederdeutschen bzw. Plattdeutschen als Leitvarietät in Norddeutschland und gegen einen völligen Sprachwechsel zum Hochdeutschen in allen Kommunikationsdomänen: Bedeutungskonkurrenz: Plattdeutsch versus Niederdeutsch Vertreter der obersächsischen Leitvarietät

Vertreter der niederdeutschen Leitvarietät

1. ›Gesamtheit der im Norden Deutschlands gesprochenen und geschriebenen deutschen Dialekte.‹ 2. ›Dialektverbund, der hinsichtlich spezifischer Eigenschaften weniger hochwertig ist als das Hochdeutsche meißnischobersächsischer Prägung.‹

1. ›Gesamtheit der im Norden Deutschlands gesprochenen und geschriebenen deutschen Dialekte.‹ 3. ›Dialektverbund, der hinsichtlich bestimmter Eigenschaften gegenüber dem Hochdeutschen meißnisch-obersächsischer Grundlage hochwertiger ist.‹

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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Aufgrund der lautlichen, lexikalischen und grammatischen Unterschiede zwischen dem Hochdeutschen (→ Hochdeutsch3/4) und dem niederdeutschen Dialektverbund wird Niederdeutsch in der Bedeutung 4 auch als eigenständige Sprachgruppe betrachtet, die deutlich von den Dialekten des hochdeutschen Sprachgebiets abweicht. Diese Bedeutung ist sehr selten belegt. Im Einzelnen lassen sich vier Bedeutungsdimensionen von Niederdeutsch bzw. Plattdeutsch belegen: 1. ›Gesamtheit der im Norden Deutschlands gesprochenen und geschriebenen deutschen Dialekte‹ 2. ›Dialektverbund, der hinsichtlich spezifischer Eigenschaften weniger hochwertig ist als das Hochdeutsche meißnisch-obersächsischer Prägung‹ 3. ›Dialektverbund, der hinsichtlich bestimmter Eigenschaften gegenüber dem Hochdeutschen meißnisch-obersächsischer Grundlage hochwertiger ist‹ 4. ›Verbund von Dialekten im Norden Deutschlands, der sich vom Deutschen unterscheidet‹ 1. ›Gesamtheit der im Norden Deutschlands gesprochenen und geschriebenen deutschen Dialekte‹ In dieser allgemeinen Bedeutung ist Niederdeutsch die Sammelbezeichnung für die im Norden gesprochenen Dialekte bzw. niederdeutschen Schreibsprachen. Eine systematische Differenzierung zwischen landschaftlich geprägten Schreibsprachen und den mündlich realisierten Dialekten ist im Sprachnormierungsdiskurs des 19. Jahrhunderts nicht zu beobachten. Das Präfix ‚nieder-‘ bzw. ‚platt-‘ ist an dieser Stelle rein sprachgeographisch zu verstehen. Gemeint ist die Sprache des Flachlands im Norden im Gegensatz zu der Sprache im höheren oder bergigen Süden Deutschlands. Niederdeutsch in der Bedeutung 1 wird charakterisiert als eine „(Haupt-) Mundart“ oder ein „Hauptdialekt“ bzw. auch ein Dialekt des Deutschen. Relational wird Niederdeutsch bzw. Plattdeutsch in der Bedeutung 1 bestimmt zu Deutsch, → Hochdeutsch3/4 und → Oberdeutsch1. Die beiden Bezeichnungen Niederdeutsch und Plattdeutsch werden in dieser Bedeutung somit sprachgeographisch definiert. Wenngleich für eine Differenzierung von Niederdeutsch bzw. Plattdeutsch in der Bedeutung 1 im Gegensatz zu Hochdeutsch3/4 sowie Oberdeutsch1 neben morphosyntaktischen Faktoren und lexikalischen Unterschieden oftmals auch zentrale

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

lautliche Unterschiede genannt werden, sind die Lautveränderungen der zweiten Lautverschiebung zu dieser Zeit noch nicht systematisch erforscht. Das Niederdeutsche selbst wird wiederum in unterschiedliche Dialekte aufgegliedert, wobei die Differenzierungen unterschiedlich ausfallen. Im „Parnassus Boicus“, einer Münchner frühaufklärerischen Zeitschrift, werden folgende Dialekte des Niederdeutschen unterschieden: das „Brandenburgische“, „Anhaltinische“, „Harzländische“, „Westphälische“, „Braunschweigische“, „Lüneburgische“, „Nieder-Rheinländische“, „Jülische“, „Clevische“, „Friesische“, „Oldenburgische“, „Bremische“, „NiederElbische“, „Hollsteinische“, „Mecklenburgische“, „Pommerische“ und „Preußische“ ([Hieber] PB 1723-25, 296f.). Neben der Verwandtschaft des Niederdeutschen mit dem Niederländischen wird vor allem auf die enge Verwandtschaft mit dem Englischen hingewiesen (vgl. Ponatus AHS 1713, 110, vgl. auch Wiarda AFW 1786, 24ff.). Bdv.: Plattdeutsch1, niedere Sprache, platte Sprache, platteste Mundart, Niedersachsen, Niedersächsisch. Ggb.: Hochdeutsch, Oberdeutsch1, Oberländisch. Synt.: Man unterscheidet eine niederdeutsche Aussprache im Gegensatz zu einer hoch- bzw. oberdeutschen Aussprache. Das Niederdeutsche bzw. die niederdeutsche Mundart besitzt niederdeutsche Wörter; hollsteinischniederdeutsche Worte und niederdeutsche Redensarten. N. wird an niedersächsischen Höfen gesprochen. Ktx.: Aussprache, Deutsch, Deutsche Sprache, Dialekt, Hauptdialekt, Hauptmundart, Hochdeutsch, Mundart, Norden, Norddeutschland, Oberdeutsch, Oberländisch, Niederländisch. Wbg.: Adj. hollsteinischniederdeutsch, Subst. Niederdeutscher, Niederdeutschland.

Belege zu Niederdeutsch1: Die heutige Deutsche Sprache bestehet aus den schon gedachten zwey Hauptmundarten der höheren oder dem Ober-Deutsch (→ Oberdeutsch1/4) in Süden, und der niedern oder dem Nieder-

Bdv.: Niederdeutsch1, platte Sprache, platteste Mundart, Niedersachsen, Niedersächsisch. Ggb.: Hochdeutsch, Oberdeutsch1, Oberländisch. Synt.: Die Sprecher dieser regionalen Varietät können platt sprechen oder recht plattdeutsch sprechen. Ktx.: Aussprache, Deutsch, Deutsche Sprache, Dialekt, Hauptdialekt, Hauptmundart, Hochdeutsch, Mundart, Norden, Norddeutschland, Oberdeutsch, Oberländisch, Niederländisch.

Belege zu Plattdeutsch1: Die vielen plattdeutschen Wörter die wir bey der englischen Sprache finden, sind fast alle eigenthümliche Wörter der platdeutschen Sprache, und werden, wenn man sie auch nicht immer auf die nemliche Art ausspricht, doch meistens so geschrieben. Besonders auffallend ist es aber, wenn man Holländisch mit dieser Sprache vergleicht, hier sind so viele übereinstimmende Wörter, besonders in der Aussprache, daß z.B. ein gebohrener Duderstädter in sehr kurzer Zeit mit Leichtigkeit Holländisch lernen kann. (Anonymus JD 1791, 880) Die Platdeutsche Sprache hat das Eigenthümliche vor der Hochdeutschen, daß sie nicht, wie diese, drey, sondern nur zwey

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter Deutsch in Norden, aus deren Vermischung in den mittlern Provinzen sehr frühe ein gewisses Mittel-Deutsch entstand, aus welchem bey der Reformation die heutige Schriftsprache oder das Hoch-Deutsch hervor ging. (Adelung Mith2 1809, 179 → Hochdeutsch3) Die Gleichförmigkeit der Sprach in so vil und weitschichtigen Staaten, als Teutschland in sich begreifft, ist eben so wenig zu vermuthen, als eine durchgängliche Gleichheit der Sitten und Gebräuch. Würklich seynd die Ober- und von denen Nider-Teutschen, der Sprach nach so weit unterschiden, daß ein Volk, das andere hart, und zuweilen gar nicht verstehet / welches dann die zwey Haupt-Dialectos oder Mund-Arten der Teutschen Sprach ausmachet. ([Kandler] ATS 1736, 67f. → Volk2) Dialekte hat jede Sprache, muß jede haben, wenn’s gleich besser wäre, sie hätte sie nicht. Unsere Muttersprache hat deren eine ganze Menge. Aber sie lassen sich alle auf drei Hauptdialekte bringen, das Oberdeutsche, Niederdeutsche, und das Hochdeutsche oder Obersächsische, das zwischen beiden in der Mitte liegt, wie es sich auch wirklich aus beiden, wenn gleich vornehmlich aus dem Oberdeutschen, gebildet hat. (Gedike GPS 1779, 413f. → Oberdeutsch1, Meißnisch/Obersächsisch2/3, Hochdeutsch3) Hochteutsch (→Hochdeutsch4) wird in einer doppelten Bedeutung genommen. Nach dem nächsten Wortverstande wird es dem Niederdeutschen entgegen gesezet. In so fern verstehet man darunter die Sprache der südlichen Gegenden Teutschlands, in Gegensatz der niederländischen sowohl als der in Niedersachsen und andern nördlichen teutschen Ländern üblichen. So sprechen bald Holländer bisweilen auch Engländer, Dänen und Schweden von der hochteutschen Sprache (→Hochdeutsch4) und unterscheiden sie dadurch von der niederländischen, welche wir insgemein, obgleich nicht gar richtig, die holländische nennen. Eben so nennt man bald in Westphalen, Niedersachsen u.s.w. hochteutsch (→Hochdeutsch4) alles was nicht platteutsch ist, weil dieses mit dem niederländischen nahe verwandt ist. (Rüdiger VHS 1783, 2f. → Oberdeutsch1/4) Sind nun doch itzo die heutige englische und niederdeutschen Sprachen unter sich einander so änlich, so können wir schon vorläuffig mit der größten Warscheinlichkeit schliessen, daß die angel-

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Geschlechter hat; nemlich nur dai und dat, so daß der und die unter dem dai begriffen wird. Bey den Wörtern einer, eine, eins, hat man nur en und enne, da en einer und eins ausdruckt. Überhaupt hat sie manche verschiedene Wendungen und Abänderungen, manche besondere grammaticalische Regeln [...]. (Anonymus JD 1791, 891 → Hochdeutsch3/4) Alle Hochteutsche haben anfänglich platt gesprochen; denn wie jedes Kind im Anfang, wenn ihm s, r, und andere Buchstaben noch zu schwer auszusprechen sind, platteutsch de, dat statt der, das noch spricht, so muß auch in der Kindheit der Sprache jedes teutsche Volk, weil die Schaffung sich immer gleich gliedert, nach seiner Art platt gesprochen haben. (Dinkler SM 1785, 38 → Hochdeutsch4, Volk1/3) Genug, das Plattdeutsche erstreckt sich durch das nordliche Deutschland von den Niederländischen Gränzen an bis an die Litauischen. Es herrscht daher mit mehr oder minder Abweichungen in dem Westfälischen und Niedersächsischen Kreise, ferner in einem grossen Theile des Obersächsischen Kreises, und hier selbst in solchen Provinzen, die ehedem ein Sitz Slavischer Stämme waren; ferner in Preussen, wo es jedoch eine neue Sprache ist, die an der Stelle der selbst durch obrigkeitliche Verordnungen ausgerotteten Ursprache Preussens getreten ist. Selbst noch in einigen Gegenden des Oberrheinischen Kreises findet sich das Plattdeutsche, wiewol es sich hier unvermerkt in das gemeine Oberdeutsche verliert (→ Oberdeutsch1). Die Scheidewand der beiden Dialekte scheint im Hessischen zu seyn; wenigstens findet man noch hie und da im Hessenkasselschen den plattdeutschen Dialekt, aber, so viel ich weiss, nicht mehr im Hessendarmstädtischen. Man pflegt diesem Dialekt mehrere Namen zu geben. Man nennt ihn den niedersächsischen, der aber leicht zu der Missdeutung Anlass geben kann, als sei bloss Niedersachsen der Sitz dieses Dialekts, obgleich nicht zu läugnen ist, dass er hier reiner und wohlklingender ist, als in andern Gegenden Deutschlands. Bestimmter also nennt man ihn den niederdeutschen Dialekt, im Gegensatz gegen den Oberdeutschen (→ Oberdeutsch1). An die Benennung Plattdeutsch schliest sich gemeiniglich ein verächtlicher Nebenbegriff an, insofern das Platte dem Erhabenen entgegegengesetzt ist, und Plattdeutsch demnach so viel seyn wür-

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

sächsische Sprache mit den Mundarten der alten niederdeutschen Sprache viel näher verbunden gewesen sey. Die älteste niederdeutsche Mundart, die wir in Deutschland kennen, ist die friesische. Diese ist würklich mit dem angelsächsischen so nahe verwant, daß wir sie für eine Sprache oder wenigstens für die volbürtige Geschwister halten müssen. (Wiarda AFW 1786, 24f. → Niederdeutsch4) Weitere Belege zu Niederdeutsch1: Adelung (GKW/1 1774, VII) Adelung (UL/1 1782, 72, 79f., 80, 78) Adelung (ÜDS/1 1785, 68, 71) Adelung (ÜDS/2 1785, 82) Adelung (DSS 1806, 4, 5) Anonymus (AGDS 1742, 239f., 242, 249f., 251) Berndt (VIS 1787, XXV) Campe (WH 1795, 150, 153, 159, 177, 178, 179, 181, 182) Dinkler (SM 1785, 42f.) Fulda (HTS 1774, 38) Fulda (VIS 1788, A2rf., IIIf.) Gedike (DD 1794, 303) Gottsched (DS 1762, 44, 60) Kramer (NHD 1719, B2v) Richey (IH 1755, XI, XVII, XXV, XLIV, 10, 31f.) Voß (DSK 1804, 206) Wiarda (AFW 1786, 19, 22, 23, 24)

de, als gemeines niedriges, unedles Deutsch (→ Niederdeutsch2). Ich glaube indessen, dass diese Benennung ursprünglich keine Verachtung bezeichnen sollen, sondern ebenfalls im geographischen Sinn zu nehmen ist, insofern es die Sprache des niedern, flachen, nordlichen Deutschlands war, im Gegensatz des in dem höhern, gebirgigern, südlichern Deutschlande herrschenden oberdeutschen Dialekts (→ Oberdeutsch1). (Gedike DD 1794, 302f.) Weitere Belege zu Plattdeutsch1: Bock (IP 1759, V) Campe (WH 1795, 150, 153, 159, 177, 178, 179, 181, 182) Dähnert (PDW 1781, IV) Gedike (DD 1794, 295, 306, 318) Raupach (LSI 1704, 85ff.) Strodtmann (IO 1756, XI, XIII)

2. ›Dialektverbund, der hinsichtlich spezifischer Eigenschaften weniger hochwertig ist als das Hochdeutsche meißnisch-obersächsischer Prägung‹ Im Zuge der Etablierung und Konsolidierung des Hochdeutschen als schriftsprachliche Leitvarietät in Norddeutschland kommt es bereits seit dem 16. Jahrhundert zu einer Abwertung des Niederdeutschen bzw. Plattdeutschen. Diese Stigmatisierung kommt in der Bedeutung 2 zum Ausdruck. In der Regel dominiert die Verwendung des Ausdrucks ‚Plattdeutsch‘ bzw. ‚Niederdeutsch‘ in der Bedeutung 2 bei den Sprachkundlern des ostmitteldeutschen und norddeutschen Sprachraums, die für das Obersächsische als Sprachvorbild eintreten (→ Meißnisch/Obersächsisch2/3, Hochdeutsch3). Die Präfixe ‚nieder-‘ und ‚platt-‘ indizieren in dieser Bedeutung eine dem Niederdeutschen bzw. dem Plattdeutschen zugeschriebene Mangelhaftigkeit in verschiedenen Aspekten gegenüber der Leitvarietät, beispielsweise der Aussprache oder im Hinblick auf seine fehlende Polyfunktionalität. Niederdeutsch ist in der Bedeutung 2 relational bestimmt zu → Oberdeutsch1/2/3, Hochdeutsch3/4 und Meißnisch/Obersächsisch2/3. Die Verdrängung der niederdeutschen Sprache aus dem öffentlichen wie privaten Kommunikationsraum und die damit einhergehende Abwertung des Plattdeutschen bzw. Niederdeutschen wird seit Beginn des 18. Jahrhunderts von norddeutschen Sprachkundlern kritisiert. Bernhard

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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Raupach beklagt in einer akademischen Arbeit mit dem Titel „Von unbilliger Verachtung der Plat-Teutschen Sprache“ (Raupach LSI 1704) die Abwertung des Niederdeutschen und seine Verdrängung als Sprache der Seelsorge. Von den Vertretern des Hochdeutschen obersächsischer Grundlage werden derartige Bemühungen, das Niederdeutsche gegenüber dem Obersächsischen bzw. Hochdeutschen aufzuwerten, als illegitim zurückgewiesen (vgl. Anonymus BCH2 1732, 312f., 322ff. → Meißnisch/Obersächsisch2/3, Hochdeutsch1/2/3/7). Ein Mitglied der Deutschen Gesellschaft zu Leipzig, der laut Selbstzeugnis Norddeutscher ist, plädiert ebenfalls für die Übernahme des Hochdeutschen auf obersächsischer Basis (vgl. Anonymus AGDS 1742 → Hochdeutsch3). Der anonyme Verfasser fordert, das Hochdeutsche als eine überregional verbreitete und qualitativ höherwertige Sprache in Norddeutschland anzunehmen. Hierfür spräche vor allem die Überregionalität und Polyfunktionalität des Hochdeutschen, außerdem werde es von Sprechern aller Schichten in den deutschen Gebieten verstanden. Niederdeutsch/Plattdeutsch wird in der Bedeutung 2 von der Mehrheit der Sprachkundler aus dem ostmitteldeutschen Raum als Sprache eines niedrigeren Entwicklungsniveaus charakterisiert und dem hohen bzw. erhabenen Hochdeutschen gegenübergestellt (vgl. Adelung GKW/1 1774, VI). Die Sprachqualitäten, die dem Niederdeutschen bzw. Plattdeutschen in Abrede gestellt werden, sind vor allem seine Polyfunktionalität, seine lautlichen Qualitäten sowie seine Überregionalität. Rivalitäten bestehen aber nicht nur zwischen den nord- und ostmitteldeutschen Sprachkundlern und ihrer jeweiligen Präferenz der eigenen Sprachregion, sondern auch zwischen Vertretern anderer Sprachgebiete. So wertet beispielsweise der oberpfälzische Sprachkundler Jakob Hemmer die Aussprache des Niederdeutschen als „kurz“, „weich“ und „schlüpfrig“ (Hemmer DSL 1775, 7) ab. Bdv.: Plattdeutsch2, niedere Mundart, Bdv.: Niederdeutsch2, niedere Mundart, Patois, platteste Mundart, Volkssprache Patois, platteste Mundart, Volkssprache in allen Provinzen. Ggb.: Hoch- in allen Provinzen. Ggb.: Hochdeutsch3/4, Meißnisch/Obersächsisch2/3, deutsch3/4, Meißnisch/Obersächsisch2/3, Oberdeutsch. Synt.: Niederdeutsch wird Oberdeutsch. Ktx.: Aussprache, bestimmt als die wahre und eigentliche Deutsch, Deutsche Sprache, Dialekt, Landes-Sprache, in welcher niemand Hochdeutsch, Mundart, Oberdeutsch. Belege zu Plattdeutsch2: Mein Schluß mehr öffentlich redet und schreibet. Es kann keineswegs mit Grunde getadelt werden: wird behauptet, dass N. klinge hart, daß man die Hochdeutsche als die beste nicht grob, barbarisch und bäurisch. Wörter aber die plattdeutsche, als die schlechteste, für im Hochdeutschen sollten kein nieder- die wahre Hauptsprache Deutschlandes deutsches Kleide tragen. Ktx.: Ausspra- anzunehmen und auf jener weitern Verbesse-

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

che, Deutsch, Deutsche Sprache, Dialekt, Hochdeutsch, Mundart, Oberdeutsch. Wbg.: Niederdeutscher.

Belege zu Niederdeutsch2: Wie weit es Nieder-Sachsen schon jetzt in der Cultur des Geistes und des Geschmacks gebracht hatte, erhellet unter andern auch daraus, daß sie die Reformation hier den ersten und schnellesten Fortgang machte. Nur der Landessprache ward sie nachtheilig, weil sich mit den neuen Religions-Lehrern und Schriften nach und nach auch die Hochdeutsche Mundart verbreitete, und die weniger gebildete Platte aus den Schriften, von den Lehrstühlen, und endlich auch aus den Gerichten, Schulen und feinern Gesellschaften verdrängte, so daß sie von der mühsam errungenen Höhe wieder zu der Tiefe einer niedern Volkssprache herab sank, in welcher jetzt nicht einmahl mehr die Religions-Formulare gebetet werden. Von der Mitte des 16ten Jahrhunderts an hörte die Platt-Deutsche Sprache allmählig auf in Urkunden gebraucht zu werden, und ganz außer Gebrauch dabey kam sie bald nach dem Anfang des 17. Jahrhunderts. (Adelung Mith2 1809, 258 → Hochdeutsch2/3) Wenn Anmuth und Lieblichkeit in der Aussprache nicht eine blose Frucht der Einbildung, sondern was wirkliches in der Natur sind: so kann unsere Mundart einen vorzüglichen Anspruch darauf machen. Sie hält das Mittel zwischen den zwo Hauptmundarten der deutschen Sprache, die Herr Fulda [...] neulich in ein schönes Licht gesezet hat, nämlich zwischen dem weitschweifigen, vollmündigen, hauchenden, zischenden und rasselnden Oberdeutschen (→ Oberdeutsch1/3), und dem gar zu kurzen, weichen und schlüpferigen Niederdeutschen. (Hemmer DSL 1775, 7 → Niederdeutsch1) Weitere Belege zu Niederdeutsch2: Adelung (GKW/1 1774, X) Anonymus (AGDS 1742, 241f., 246, 247f.) Gottsched (DS 1762, 60) Hallbauer (VTO 1725, 2) Richey (IH 1755, 31f.) Rüdiger (VHS 1783, 2f.) Wieland (WH1 1782, 195) Vgl. auch: Hallbauer (VTO 1725, 120f. → Hochdeutsch1/2/3) BCH2 (1732-33, 307)

rung zu gedenken verbunden sey. (Anonymus 1742 AGDS, 247f. → Hochdeutsch7) Das Plattdeutsche hat eben solche Veränderungen ausstehen müssen. Ehemals war es die Hoffsprache: man brauchte es bey geistlichen, weltlichen und privaten Handlungen, und die Überbleibsel von Schriften und Übersetzungen der Bibel, die wir der Bescheidenheit der Motten und Mäuse zu danken haben, zeigen den Werth an, worinn es ehedessen gestanden. Allein itzo ist es ganz herunter gekommen, und liegt in den letzten Zügen. (BCH2 1732, 309f.) Ich mag die Mühe nicht auf mich nehmen / verlange auch weder vom Holländischen noch Plattdeutschen / oder dem Stylo curiae zu reden: Sondern will meine Gedanken bloß auf das galante und hohe Teutsche richten. (Longolius EtS 1715, 540 → Hochdeutsch1/2/3/7) Weitere Belege zu Plattdeutsch2: BCH2 (1732-33, 308, 309, 314)

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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3. ›Dialektverbund, der hinsichtlich bestimmter Eigenschaften gegenüber dem Hochdeutschen meißnisch-obersächsischer Grundlage hochwertiger ist‹ Im Gegensatz zur Bedeutung 2 ist Niederdeutsch in der Bedeutung 3 definiert als ein sprachgeographisches Vorbild, das Ende des 18. Jahrhunderts in deutlicher Konkurrenz zu Obersächsisch2/3 als Leitvarietät steht. In Norddeutschland wird die ostmitteldeutsche Schriftsprache in den Schulen in Form von Lautierübungen erlernt, dabei handelt es sich um eine sehr schriftnahe Aussprache. Diese Entwicklung führt zu einer deutlichen Aufwertung der niederdeutschen Aussprache in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei gleichzeitigem Prestigeverlust der meißnischobersächsischen Lautung. Von besonderer Bedeutung sind die Aspekte der unterschiedlichen Lautung bei der Frage der Normierung und Kodifizierung der Orthographie des Hochdeutschen (vgl. Fulda VIS 1788, A2rff., der die Diskussion kurz thematisiert). Im ersten Band des „Deutschen Museums“, einer Berliner Aufklärungszeitschrift, setzt sich ein Autor in einer Abhandlung mit dem Niederdeutschen auseinander. Seine Argumentation kann als ein deutliches Anzeichen einer Umkehrung der Bewertung des Niederdeutschen gelten (vgl. Anonymus DM/I 1782, DM/II 1783). Für den Verfasser ist das Obersächsische als vorbildliche Sprachlandschaft durch das neu entstandene „Niederhochdeutsch“ abgelöst worden. Diese „niederhochdeutsche Mundart“ ist bestimmt als das Obersächsische mit niederdeutscher Aussprache (vgl. Anonymus DM/I 1782, 277, vgl. auch Heynatz BDS/1 1771 und Zöllner ÜDA 1796). Eine besondere Rolle bei der Aufwertung des Niederdeutschen spielen die zeitgenössischen Mundartwörterbücher (vgl. beispielsweise Richey IH 1755, Dähnert PDW 1781). Ein niederdeutsches Sprachbewusstsein ist aber bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts deutlich ausgeprägt. So wird das Niederdeutsche in der Sprachenharmonie von Ponatus aus dem Jahre 1713 gegen diejenigen Sprachkundler verteidigt, die dem Niederdeutschen und dem Westfälischen eine „harte“, „grobe“, „barbarische“ und „bäurische“ Aussprache zuschreiben (Ponatus AHS 1713, 115f. → Niederdeutsch3). Auch in dem von Matthias Kramer 1719 verfassten deutschniederländischen Lehrbuch kommt eine besondere Wertschätzung des Niederdeutschen zum Ausdruck, die mit dem ihm zugeschriebenen höheren Alter gerechtfertigt wird (vgl. Kramer NHD 1719, B2v → Niederdeutsch3).237

237 Vgl. auch Raupach (LSI 1704).

302

3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Bdv.: Plattdeutsch3, Niederhochdeutsch. Synt.: Das N. ist in der Wortbildung und Zusammensetzung glücklich; in vielen Büchern so rein als das Hochdeutsche realisiert. Ktx.: Aussprache, Deutsch, Deutsche Sprache, Dialekt, Hochdeutsch, Mundart.

Belege zu Niederdeutsch3: Die Niederdeutsche [Mundart, Anm. KF], von welcher die Niedersächsische eine der vornehmsten Unterarten ist, ist von ihr gerade das Gegenteil; eine Feindinn aller vollen Hauch-, Zisch- und Blaselaute, aller harten Doppellaute, des vollen Oberdeutschen Mundes (→ Oberdeutsch1/3) und des leeren Wortgepränges, und dagegen eine erklärte Freundinn aller sanften und leicht fließenden Töne, der höheren Töne, der höheren Vocale und einer viel sagenden, aber auch oft unperiodischen Kürze. Sie ist reich an Kunstwörtern für das Seewesen, hingegen arm an Ausdrücken für unsinnliche Gegenstände, weil sie weniger ausgebildet worden, daher sie in solchen Fällen immer genöthiget ist, von ihrer reichern und üppigen Schwester zu borgen. (Adelung DSS 1806, 5 → Niederdeutsch1/2) Nun fraget sichs, von welchem deutschen Volke soll man die Regeln erholen? Antwort: von demjenigen, welches sich auf die Auszierung und Bereicherung unserer deutschen Sprache am fleißigsten verleget, und die besten deutschen Schriftensteller auszuweisen hat. Und dies sind ganz unstreitig die Niederdeutschen [...]. (Braun ADS 1765, VIIf. → Niederdeutsch1, Volk1/3) Ich bin gewiß versichert, daß wenn die Niederdeutsche Mundart, so wäre bearbeitet und verfeinert worden, als es mit der Hochdeutschen geschehen ist, sie keiner Sprache in der Welt, an Annehmlichkeit den Vorzug lassen würde, und doch hat man sie so vernachlässiget, daß sich niemand die Mühe gegeben hat, ihre Regeln zu untersuchen, ich erinnere mich auch nicht, daß jemals eine Niedersächsische Grammatik sey geschrieben worden. Indessen dünkt mich doch, das Niedersächsische, habe auch darin einen Vorzug vor dem Hochdeutschen, daß es wirklich regelmäßiger ist, mehr die Analogie und dem Sprachgrunde folget, und von den allgemeinen Regeln weniger Ausnahmen macht. (Stosch KDS/3 1782, 65

Bdv.: Niederdeutsch3, Niederhochdeutsch. Synt.: Das ächte unvermischte Plattdeutsche finde sich bei der Landbevölkerung. In plattdeutschen städtischen und ländlichen Zirkeln gepflogene Unterhaltung, in der höhren plattdeutschen Welt. Ktx.: Aussprache, Deutsch, Deutsche Sprache, Dialekt, Hochdeutsch, Mundart.

Belege zu Plattdeutsch3: Zuförderst ist das Plattdeutsche schon in der Ansehung der Aussprache ungleich sanfter, weicher und melodischer als das Ober- und selbst das Hochdeutsch. Man muss freilich nicht die ganz rohe Aussprache des ungebildeten Natursohns zum Maassstabe nehmen. In dem Munde des Bauern wird die wohlklingendste Sprache für ein feines Ohr misstönend. (Gedike DD 1794, 311 → Obersächsisch1, Hochdeutsch7) Aber es ist nicht bloss der Wohlklang, der die plattdeutsche Mundart empfiehlt, und es bedauern lässt, dass nicht sie das Glück hatte, durch die Schriftsteller ausgebildet zu werden. Auch ihre Reinheit und ihr Reichthum empfehlen sie. Das Hochdeutsche hat eine Menge fremder Wörter aufgenommen, die theils unentbehrlich, theils durchaus unnöthig, oder leicht entbehrlich sind. Zwar hat sie sich von Zeit zu Zeit des unnöthigen Wustes zu entledigen gesucht; aber nur zu oft hat sie die Fremdlinge zu einer Thür hinaus, zur andern wieder hineingelassen. Es ist wahr, die Reinigkeit der plattdeutschen Mundart ist zugleich eine Folge ihrer Vernachlässigung. Wäre sie für die Wissenschaften bearbeitet worden, so würde sicherlich auch sie viele ausländische Münzen haben in Umlauf bringen müssen. (Gedike DD 1794, 318 → Hochdeutsch3/7) Lange war die plattdeutsche eine meiner Lieblingssprachen. Mich zog die Treuherzigkeit, Energie, Drolligkeit derselben in Worten, Redensarten, Volkswiz und Wizzeleien, Reimsprüchen, Wiegen u.a. Liedern an, die ich theils in Schriften theils in hohen und niedern – städtischen und ländlichen – plattdeutschen Zirkeln Hollsteins sammelte. (Schütze HI 1800, 49) Weitere Belege zu Plattdeutsch3: Anoymus (MM 1789, 953) Gedike (DD 1794,

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter → Hochdeutsch7) Weitere Belege zu Niederdeutsch3: Adelung (GKW/1 1774, X) Adelung (1MDS/I 1782, 33) Adelung (UL/1 1782, 79) Adelung (DSS 1806, 5) Anonymus (DM/I 1782, 277, 279, 280, 283, 284) Braun (ADS 1765, 4f.) Dinkler (SM 1785, 37, 42) Gedike (DD 1794, 310, 314, 315, 316, 319-321, 323, 329, 330, 3314) Moritz/Vollbeding (GW/IV 1800, 23) Richey (IH 1755, XXXI, XLIV) Stosch (KDS/3 1782, 5)

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295, 306, 318) Kinderling (RDS 1795, 81f.) Richey (IH 1755, XXXI, XLIV) Stosch (KDS/3 1782, 5)

4. ›Verbund von Dialekten im Norden Deutschlands, der sich vom Deutschen unterscheidet‹ In dieser Bedeutung ist Niederdeutsch nur vereinzelt belegt: Zwischen dem Niederdeutschen in der Bedeutung 4 und dem Deutsch der mittleren und südlichen Provinzen Deutschlands werden Abweichungen der Aussprache, der Flexion, der Etymologie und „dem ganzen Baue der Sprache und Gange der Ideen“ (Adelung USpr 1781, 68) festgestellt. Die Unterschiede auf lautlicher, morphosyntaktischer und grammatischer Ebene legen es für Adelung nahe, das Niederdeutsche nicht als eine regionale Varietät des Deutschen, sondern als eine dem Deutschen sehr verwandte Sprache zu bezeichnen (ebenso wie das Schwedische, Dänische und Holländische) (vgl. ebd.). Vgl. auch Adelung (UL/1 1782, 72, 73, 77, 79).

3.5.4 ‚Oberdeutsch‘

Oberdeutsch, das; -en/-en. Wbg.: Subst. Oberdeutschland.

In der allgemeineren Bedeutung ist Oberdeutsch die Gesamtheit der im Süden Deutschlands und in Teilen Österreichs und der Schweiz beheimateten Dialekte, denen eine relative Homogenität zugeschrieben wird (→ Bedeutung 1). Im Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts wird das Oberdeutsche von den Vertretern des Vorbildanspruchs des Meißnisch-Obersächsischen als Leitvarietät abgelehnt und hinsichtlich lexikalischer, syntaktischer und lautlicher Eigenschaften als dem Hochdeutschen gegenüber minderwertige Sprache gekennzeichnet (→ Bedeutung 2, Hochdeutsch1/2/3/7). Das Oberdeutsche wird von einigen Sprachkundlern als das ‚ältere Hochdeutsch‘ charakterisiert. Es wird demnach als die frühere Leitvarietät bestimmt, die vom Meißnisch-Obersächsischen abgelöst wurde (→ Bedeutung 3, Meißnisch-Obersächsisch1/2/3). In diesem Sinne wird das Ober-

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

deutsche aufgewertet. Vertreter dieser Gegenströmung zur Stigmatisierung des Oberdeutschen bzw. Alemannischen sind beispielsweise Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger. Sie betonen die oberdeutsche (alemannische) Basis der mittelhochdeutschen Literatur und loben deren Sprachqualitäten. Ganz ähnlich argumentieren die schwäbischen Sprachkundler Friedrich Karl Fulda und Johannes Nast, die wie die beiden Schweizer Gebildeten die hochdeutsche Leitvarietät obersächsischer Grundlage ablehnen. Oberdeutsch in der Bedeutung 4 wird als Gesamtheit der ober- und ostmitteldeutschen Dialekte dem Niederdeutschen bzw. Plattdeutschen (→ Niederdeutsch/Plattdeutsch1) gegenübergestellt und ist bedeutungsverwandt mit Hochdeutsch4. 1. ›Gesamtheit der im Süden Deutschlands sowie Teilen Österreichs und der Schweiz gesprochenen und geschriebenen Dialekte‹ 2. ›Verbund von Dialekten Süddeutschlands, Österreichs und der Schweiz, der in Bezug auf lexikalische, syntaktische und lautliche Merkmale weniger hochwertig und als Schriftsprache weniger geeignet ist als das Hochdeutsche obersächsischer Prägung‹ 3. ›die ältere schriftsprachliche Leitvarietät‹ 4. ›Gesamtheit der nicht-niederdeutschen Dialekte‹ 1. ›Gesamtheit der im Süden Deutschlands sowie Teilen Österreichs und der Schweiz gesprochenen und geschriebenen Dialekte‹ In dieser allgemeinen Bedeutung ist Oberdeutsch ein Verbund der Dialekte im südlichen Teil Deutschlands sowie in Teilen Österreichs und der Schweiz, der als relativ homogene Einheit wahrgenommen wird. Eine systematische Trennung zwischen Oberdeutsch als mündlich realisierte, regional gebundene Sprachform und als überregionale Schreibsprache lässt sich nicht feststellen, deshalb ist Oberdeutsch in dieser Bedeutung sowohl schriftsprachlich als auch mündlich konzipiert.238 Bdv.: alte baierische Muttersprache, Baiern, Oberländisch, südliche Mundart, die Südliche. Ggb.: Hochdeutsch3, Meißnisch/Obersächsisch2/3, Niederdeutsch1. Synt.: oberdeutscher Dialekt, oberdeutsche Formen verschiedener Zeitwörter, oberdeutsche Mundart, oberdeutsche Sprach-Eigenheiten, oberdeutsche Sprech-Art, oberdeutsche Schriftsprache, oberdeutsche Sprachlehrer, oberdeutsche Wörter, Wortformen und Wort-

238 Dies ändert sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts, vgl. das Mundartwörterbuch von Zaupser (BOI 1789).

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

305

fügungen. Ktx: Dialekt, Hochdeutsch, Mundart, Niederdeutsch, Süden, Südlich. Wbg.: Subst. Oberdeutschland.

Belege zu Oberdeutsch1: Selbst den Nahmen hat ihr [dem neueren Hochdeutschen, d. h. dem Obersächsischen, Anm. KF] Oberdeutschland in den Anfällen seiner bösen Laune streitig zu machen gesucht. Sie soll nicht Hochdeutsch (→ Hochdeutsch3) heissen, weil dieser Nahme nur der Sprache des südlichen Deutschlandes zukomme; der diesem beygelegte Nahme Oberdeutsch sey ein Unding; es gebe nur zwey Hauptmundartarten, die nördliche oder Niederdeutsche (→ Niederdeutsch1), und dieser stehe die südliche als die wahre Hochdeutsche (→ Hochdeutsch4) entgegen; die, welche sich diesen Nahmen anmaße, sey weiter nichts, als eine armselige Provinzial-Mundart, die Meißnische oder höchstens die Obersächsische […] (→ Meißnisch/Obersächsisch1). (Adelung UL/1 1782, 82f.) Die unter dem Nahmen des Hochdeutschen (→ Hochdeutsch3) bekannte jüngere Schriftsprache ist eine Tochter des Oberdeutschen, doch mehr der nördlichen als der südlichen Provinzen. Es ist die durch den Sächsischen Dialect gemilderte und verfeinerte Oberdeutsche Mundart. Sie hat nebst ihren ältern Schwestern, den Fränkischen, Thüringischen und Obersächsischen Dialecten von der weichen, schlüpfrigen und kurzen Sprache des Niederdeutschen nur gerade so viel angenommen, als zur Milderung der rauhen und schwülstigen Oberdeutschen (→ 2) nöthig war, und ist seit der Reformation nicht allein die Büchersprache aller Schriftsteller von Geschmack, sondern auch die Hoffsprache des gesittetern und verfeinerten Umganges geworden. (Adelung DSS 1806, 5f.) Ich behaupte nämlich, 2. daß, außer der O.Sächsischen [=Obersächsischen, Anm. KF] (→ Obersächsisch1) auch die übrigen Deutschen Sprech-arten, namentlich die O.D. [=Oberdeutsche, Anm. KF] und die N.D. [Niederdeutsche, Anm. KF] (→ Niederdeutsch1) besonders die erste, zur Bildung unserer H.D. [=Hochdeutschen, Anm. KF] Schriftsprache (→ Hochdeutsch2) sehr vieles hergegeben haben, also auch zur fernern Bereicherung und Ausbildung derselben noch jetzt alles dasjenige hergeben dürfen, was mit der H.D. Sprachähnlichkeit (→ Hochdeutsch5/7) bestehen kann. Den Beweis dieses zweiten Satzes will ich theils aus der Geschichte unserer Schriftsprache, theils aus Hrn. A. eigenen Geständnissen, theils endlich durch wirkliche Nachweisung einiger Beispiele von Ober- und Niederdeutschen (→ Niederdeutsch1), ins H.D. (→ Hochdeutsch5/7) aufgenommenen Wörtern, Wortformen und Wortbestimmungen führen. Erstlich aus der Geschichte unserer Schriftsprache. Bekanntlich entstand, was wir jetzt Hochdeutsch nennen, nicht auf einmahl; auch wurde es an die Stelle der bis dahin herrschenden O.D. Schriftsprache, nicht plötzlich, sondern nach und nach gesetzt. Wir können nur das Jahrhundert, allenfalls das Jahrzehend, nicht das Jahr angeben, in welchem der Anfang dazu gemacht wurde. Wir können nicht einmahl sagen: mit diesem Werke hörte das O.D. auf, mit jenem fing das H.D. (→ Hochdeutsch2) an, Schriftsprache zu sein. Und warum nicht? Weil der Übergang unmerklich geschah; weil die O.D. Schriftsprache nicht abgeschafft und eine ganz neue Sprache an ihre Stelle gesetzt wurde; sondern weil die ganze Veränderung, die man mit der bisdahin herrschenden Schriftsprache vornahm, bloß darin bestand, daß man ihre Härten und Rauhigkeiten durch Einmischung der weichern O.Sächsischen, nach und nach auch der noch viel weichern N.Sächsischen Sprech-art (→ Niederdeutsch1/3), milderte, indem man den Eigenthümlichkeiten dieser Sprech-arten gemäß, hier einen feinern Selbstlaut oder Doppellaut an die Stelle eines breitern setzte […]. (Campe WH 1795, 164-166 → 1) Die deutsche Sprache theilet sich in zwei Hauptmundarten; in die niederdeutsche, (diese Benennung ist schicklicher als plattdeutsche) (→ Niederdeutsch1) und oberdeutsche. Beide theilen sich wieder in unzählige Untermundarten: denn jede Landschaft, jede Stadt hat ihr Eigenes. (Moritz/Vollbeding GW/IV 1800, 22) Mehrere Sprachkundige nennen schon die südlichern gemeinen Mundarten Oberteutsch in Gegensatz des Niederdeutschen und Plattdeutschen (→ Niederdeutsch1), und es ist zu wünschen, daß dieses allgemein angenommen werde. (Rüdiger VHS 1783, 4) Jede Provinz hat ihre besondere Mundart, vorzüglich aber unterscheiden sich die oberdeutsche in den südlichen, und die niederdeutsche in den nördlichen Provinzen Deutschlands. Von beiden muß die hochdeutsche Sprache unterschieden werden, die so gut wie eine nach richtigen Regeln gelehret und gelernet zu werden verdienet [...]. (Stutz DSL 1790, 258 → Hochdeutsch3/7, Niederdeutsch1)

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Weitere Belege zu Oberdeutsch1: Adelung (GKW/1 1774, XII, X, XI, XIV) Adelung (UL/1 1782, 72, 75 → 2; 76, 77, 79, 80, 83, 84, 85, 87) Adelung (GKW/2 1782, 23) Adelung (1785 ÜDS/1, 50) Adelung (1806 DSS, 26) Adelung (Mith2 1809, 179, 180) Anonymus (AGDS 1742, 239f., 244f) Anonymus (ADS 1783, 588) Berndt (VSI 1787, XXVI) Campe (WH 1795, 164f., 174, 175, 177, 178, 179, 182) Eberhardt (VS 1795, L27B) Fulda (VIS 1788, A2r, A2v) Freyer (ATO 1722, 6) Gedike (DD 1794, 295, 302, 303, 310) Gedike (GPS 1779, 413f.) Hemmer (DSL 1775, 7) [Kandler] (ATS 1736, 67f.) Kinderling (RDS 1795, 97) [Hieber] PB (1723-25, 296) Rüdiger (VHS 1783, 4) Voß (DSK 1804, 193, 197, 198, 206, 308 → 4) Vgl. auch Braun (ADS 1765, IX) Nast (TSF/1 1777, XIII, XUV → 3)

2. ›Verbund von Dialekten Süddeutschlands, Österreichs und der Schweiz, der in Bezug auf lexikalische, syntaktische und lautliche Merkmale weniger hochwertig und als Schriftsprache weniger geeignet ist als das Hochdeutsche obersächsischer Prägung‹ Im Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts wird das im Süden gesprochene und geschriebene Deutsch von der Mehrheit der Sprachkundler des ostmitteldeutschen Raums als eine wenig entwickelte und dem Hochdeutschen gegenüber weniger hochwertige bzw. weniger polyfunktionale Sprachform charakterisiert (→ Hochdeutsch1/2/3/7, vgl. Litzel UC 1730). Der protestantische Gebildete Georg Litzel führt in seiner überaus polemischen Schrift die zeitgenössischen Argumentationen, die zur Stigmatisierung des Oberdeutschen führen, zusammen: Als (vermeintliche) Mängel des Oberdeutschen werden genannt: die fehlende Sprachnormierung und -kultivierung sowie Polyfunktionalität. Das Bildungssystem wird ebenso als rückständig gekennzeichnet wie überhaupt das kulturelle Leben in den katholischen Territorien (vgl. Litzel UC 1730). Deshalb wird die Frage, ob lautliche Formen, morphosyntaktische Varianten oder lexikalische Ausdrücke des Oberdeutschen auf die Leitvarietät Einfluss nehmen dürfen, in der Regel negativ beantwortet. Adelung erläutert zwar in der Vorrede des „Versuch[s] eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart“ (Adelung GKW/1 1774, Xf.) noch mögliche Fälle, in denen das Hochdeutsche obersächsischer Grundlage durch das Oberdeutsche bereichert werden könne. Angesichts des aufkeimenden Sprachbewusstseins der süddeutschen Sprachkundler und ihrer Angriffe auf seine Konzeption der Leitvarietät ist seine Haltung 1782 bereits weitaus ablehnender (vgl. Adelung UL/1 1782, 76); so ist vom Neid der „verblühete[n] ältere[n] Schwester“ (ebd., 82), womit das Oberdeutsche gemeint ist, auf das Obersächsische die Rede. Wie die Bewertungen zeigen, sind die Urteile über das Oberdeutsche oftmals stark wertend und ideologisch gefärbt. Eigenschaften der Sprache werden herangezogen, um die jeweils andere Sprechergruppe zu stigmatisieren. Ursachen für die sprachideologisch motivierte Abwertung des

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

307

Oberdeutschen sind die konfessionellen und kulturellen Gegensätze zwischen den vorwiegend protestantischen Gebieten Mittel- und Norddeutschlands und den überwiegend katholischen Gebieten im Süden Deutschlands und Österreichs. Das Bildungswesen und das kulturelle Leben insgesamt ist in den katholischen Gebieten unter Aufsicht der Jesuiten, die in Bayern die Rezeption von Schriften aus dem nord- und mitteldeutschen Raum untersagen. In den Schulen Bayerns und Österreichs liegt das Hauptgewicht auf dem Lateinunterricht, während der muttersprachliche Unterricht kaum eine Rolle spielt. Trotz der ablehnenden Haltung der ostmitteldeutschen, protestantischen Sprachkundler lässt sich bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Form der süddeutschen aufklärerischen Zeitschrift „Parnassus Boicus“ ein frühes süddeutsches Sprachbewusstsein konstatieren, das aber angesichts der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Dominanz des obersächsischen Sprachgebiets keine Wirkungsmacht entfalten kann. Ebenso ist an dieser Stelle auf die Schweizer Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger zu verweisen, die das Alemannische als eine dem ursprünglichen Deutsch am nächsten stehende Sprachform klassifizieren, das in Form der mittelhochdeutschen Literatur eine erste Blüte erreicht habe, und damit gegenüber dem Meißnisch-Obersächsischen2/3 aufwerten. Die von den Staatsoberhäuptern in Kurbayern, Österreich und anderen süddeutschen Sprachgebieten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchgeführten Reformen des Bildungswesens favorisieren das Hochdeutsche obersächsischer Grundlage, das beispielsweise durch die Grammatiken von Heinrich Braun in Bayern in den Schulen vermittelt werden soll. Gründe für die Reformen sind vor allem die politischkulturelle Dominanz des Nordens und die dort initiierten Bildungsreformen. In Form der Bemühungen des Sprachkundlers Johann Siegmund Valentin Popowitsch um das Bairisch-Österreichische und der Aufwertung des Schwäbisch-Alemannischen durch Friedrich Karl Fulda und Johannes Nast lässt sich am Ende des 18. Jahrhunderts eine Konsolidierung des oberdeutschen Sprachbewusstseins feststellen. Dieses regionalsprachliche Bewusstsein ist im 19. Jahrhundert ein notwendiger Definiens der österreichischen und schweizerischen nationalen Identität. Bdv.: Oberländisch, südliche Mundart. Ggb.: Hochdeutsch4. Ktx.: Dialekt, Hochdeutsch, Mundart, Niederdeutsch.

Belege zu Oberdeutsch2: Hat die hochdeutsche Mundart dadurch einen unstreitigen Vorzug vor ihren Schwestern; daß sie die Mittelstraße zwischen dem weitschweifigen Schwulste und rauhem Wortgepränge des Oberdeutschen und zwischen der schlüpfrigen Weichlichkeit und einförmigen unperiodischen Kürze des Niedersachsen hält: so hat sie doch dagegen auch viele Mängel, welche machen, daß sie ihren ältern Schwestern in manchen Stücken weit nach-

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

stehen muß. (Adelung GKW/1 1774, X → 1/3, Hochdeutsch3/7) Die Oberdeutsche unterscheidet sich durch ihre hohe Sprache, durch ihren vollen Mund, durch ihren Hang zu hauchenden, blasenden und zischenden Mitlauten, zu den breiten und tiefen Selbstlauten und zu rauhen Doppellauten; durch ihre Härten, durch ein weitläufiges Wort- und Sylbengepränge, durch weitschweifige Ausdrücke, Überfüllungen und hohe Figuren. (Adelung UL/1 1782, 74 → 1) Daß die alte Oberdeutsche Mundart bisher in dem südlichen Deutschlande noch immer die gewöhnliche Sprache der Schriftsteller und des gesellschaftlichen Umganges der obern Classen ist, ist ein Beweis, daß diese Hälfte des Reichs in der Cultur hinter der nördlichern zurück geblieben ist. (Adelung UL/1 1782, 86→ 1) Nach diesen [den Niederdeutschen, Anm. KF] richten sich schon die meisten übrigen deutschen Provinzen; dahingegen unsere bisherige oberdeutsche Schreibart nirgend anderswo das Glück gehabt hat, Eingang und Beyfall zu finden. Und wie könnte es seyn, da sie unter uns selbsten so verschieden ist, als es verschiedene Köpfe giebt, die schreiben wollen oder müssen? Welches nichts anderm, als der allzugeringen Sorgfalt beyzumessen ist, womit die deutsche Sprache in Schulen getrieben wird, die sich mit keiner andern Sprache, als der lateinischen beschäftigen, unsere deutsche aber so rohe und ungearbeitet lassen, wie sie von der Jugend, aus den verschiedenen oft elendsten deutschen Schulen dahin gebraucht wird. (Braun ADS 1765, VII → 1) Weitere Belege zu Oberdeutsch3: Adelung (GKW/1 1774, X, L9) Adelung (UL/1 1782, 79, 84) Adelung (DSS 1806, 5) Gottsched (DS 1762, 60) Hemmer (DSL 1775, VII [mit Bezug auf Fulda]) Litzel (UC 1730, 69) Wieland (WH1 1782, 195) Vgl. auch: Adelung (UL/1 1782, 82f.) Litzel (UC 1730, 69)

3. ›die ältere schriftsprachliche Leitvarietät‹ Einige Sprachkundler betonen besonders, dass der Ausdruck in der Bedeutung 3 die zunächst etablierte, prestigereiche Schriftsprache bezeichne (→ Hochdeutsch4), die im Zuge der Reformation durch das Obersächsische als sprachgeographisches Vorbild abgelöst wird (→ Meißnisch-Obersächsisch2/3). Ein wesentlicher Movens für die Beschäftigung mit den älteren Sprachstufen des oberdeutschen Sprachraums ist die „Wiederentdeckung“ der mittelhochdeutschen Literatur durch die Züricher Sprachkundler Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, die im Zuge der Historisierung der Wissenschaften am Ende des 18. Jahrhunderts weitergeführt wird und dem Oberdeutschen ein besonderes Gewicht verleiht (vgl. Wieland WH1 1782). Bdv.: Altdeutsch, ältere Hochdeutsch, die Alt Schwäbische Sprache, Fränkisch, Schwaben, Südlich-deutsch. Synt.: Oberdeutsch ist die ältere Schwester des H. obersächsischer Grundlage bzw. das ehemalige Hochteutsch. Ktx.: Dialekt, Hochdeutsch, Mundart, Niederdeutsch. Belege zu Oberdeutsch3: Unter diesen [deutschen, Anm. KF] Mundarten ist zu allen Zeiten eine die herrschende gewesen, nachdem die Kaiser aus dieser oder jener Provinz gebürtig waren, oder auch, nachdem die Künste und Wissenschaften in einem Theile Deutschlandes mehr blüheten, als in dem andern. Bis zu den Zeiten der Reformation war die oberdeutsche Mundart die herrschende Hof- und Büchersprache. Da die meisten Beherrscher Deutschlandes von Geburt Oberdeutsche waren, so bestand auch ihr ganzer Hof aus Oberdeutschen, und alle Verordnungen und Ausfertigungen geschahen in dieser Mundart. Hierzu kommt noch, daß als die Künste und Wissenschaften anfiengen, in Deutschland aufzublühen, sie ihren ersten Sitz in

3.5 Diskurslexik: Sprachgeographische Schlüsselwörter

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Oberdeutschland und besonders in Schwaben auffschlugen; daher diese Mundart auch zugleich die herrschende Büchersprache wurde. (Adelung GKW/1 1774, VIII → Oberdeutsch1) Da die in Obersachsen weiter ausgebildete Sprache (→ Obersächsisch2/3) ihre ältere Schwester, das ehemalige Hochdeutsch (→ Hochdeutsch4), so weit hinter sich zurück ließ, und die Schrift- und feinere Gesellschaftssprache für ganz Niederdeutschland, und selbst für einen großen Theil von Oberdeutschland ward, so ward sie nunmehr auch im engern Verstande Hochdeutsch genannt, und führte diesen Nahmen mit dem größten Rechte, wenn anders Hochdeutsch so viel bedeutet, als höheres, d.i. ausgebildetes Deutsch, Deutsch der oberen Classen (→ Hochdeutsch1/7). Ihre ältere Schwester, welche sich aus Religions-Gründen noch in dem größten Theile von OberDeutschland, und aus politischen Ursachen auch in den Gerichten und Kanzelleyen des mittlern und nördlichen Deutschlandes erhielt, nannte sich selbst zwar noch immer Hochdeutsch (→ Hochdeutsch4), so wie große Herren noch immer längst verlorne Ländern in ihren Titeln zu führen pflegen; allein in dem Gebiethe ihrer jüngern Schwester ward sie Altdeutsch, oder noch bestimmter Oberdeutsch (→ 1/4) genannt. (Adelung GKW/2 1782, 23f.) Vgl. auch: Adelung (GKW/1 1774, IX) Nast (TSF/1 1777, X, XVf.) Wieland (WH 1782, 150, 156, 157)

4. ›Gesamtheit der nicht-niederdeutschen Dialekte‹ Oberdeutsch in der Bedeutung 4 meint die Gesamtheit der nichtniederdeutschen Dialekte, zu denen sowohl die oberdeutschen Dialekte gezählt werden als auch die Dialekte des mitteldeutschen Sprachraums. Den Vertretern des Vorbildanspruchs des Meißnisch/Obersächsischen gelingt es, im Verlauf des 18. Jahrhunderts diese Bedeutungsdimension zu verdrängen, da sie das diskursdominierende Schlüsselwort Hochdeutsch erfolgreich semantisch besetzen und mit dem Meißnisch-Obersächsischen gleichsetzen (→ Hochdeutsch3, Meißnisch-Obersächsisch2/3). Einige Sprachkundler des oberdeutschen Sprachraums zählen das Mitteldeutsche zum Oberdeutschen, ohne explizit vom Hochdeutschen zu sprechen. Für sie kann Hochdeutsch gar keine regional gebundene Sprache darstellen (→ Hochdeutsch6). Ein Verfasser in der frühaufklärerischen süddeutschen Zeitschrift „Parnassus Boicus“ zählt beispielsweise folgende Dialektgebiete zum Oberdeutschen: Obersachsen, Meißen, Lausitz, Schlesien, deutschsprachiges Böhmen und Mähren, Österreich, deutschsprachiges Ungarn, Siebenbürgen, Tirol, Bayern, Staiermark, Kärnten, Schwaben, Schweiz, Elsass, Oberrhein-Länder, Franken, Hessen, Vogtland und Thüringen (vgl. [Hieber] PB 1723-25, 297). Bdv.: Hochdeutsch4, südliche Mundart, hohe Mundart. Ktx.: Dialekt, Hochdeutsch, Mundart, Niederdeutsch. Belege zu Oberdeutsch4: Das Wort Hochdeutsch (→ Hochdeutsch4) stammet von den Niederdeutschen her, welche diejenigen Völker, welche sonst auch unter dem Namen der Oberdeutschen bekannt sind, gemeiniglich Hochdeutsche zu nennen pflegen; eine Benennung, welche ihrem physischen und sittlichen Zustande sehr angemessen ist [...]. Je weiter man sich von den flachen Landen nach den Alpen zu entfernet, desto höher, rauher und unbiegsamer wird die deutsche Sprache, bis sie endlich auf und an den Alpen den höchsten Grad ihrer Höhe und Härte erreicht. Und dieß ist eine mit von den Ursachen, welche von Thüringen bis nach Graubünden, und von dem Ufer des Rheines bis an die ungarische Grenze, die oberdeutsche

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3. Der sprachgeographische Diskursbereich

Mundart in eine große Menge besonderer Mundarten abtheilet. In dieser weitesten Bedeutung ist also hochdeutsch (→ Hochdeutsch4), so viel als oberdeutsch. (Adelung GKW/1 1774, VI) Die deutsche Sprache, eine Mundart der germanischen, können wir, wie itzt, so auch in den Vorzeiten, in zwei Haupt-Mundarten, in die südliche und nördliche, oder in die hohe und niederdeutsche sondern. Die hochdeutsche Mundart (→ Hochdeutsch4) wurde in dem südlichen Deutschland geredet, und weil die mehresten dieser Völker zu dem nachher entstandenen allemannischen Bunde gehörten; so nante sie, mit einem Nahmen die allemannische. (Wiarda AFW 1786, 19 → Volk1) Weitere Belege zu Oberdeutsch4: Adelung (GKW/1 1774, VI, X) Fulda (GWW 1776, 26) Vgl. auch: Rüdiger (VHS 1783, 2f.)

4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

Gegenstand dieses Kapitels sind die Beschreibungen und Bewertungen der sozialen Varietäten. Damit sind zwei Fragen aufgeworfen: 1. Welche soziale Varietät wird zur Leitvarietät erhoben? 2. Welcher schichtspezifische Sprachgebrauch wird als Abweichung von der Leitvarietät charakterisiert? Ebenso soll in der Analyse berücksichtigt werden, welche soziale Schicht im Sprachnormierungsdiskurs die normsetzende Autorität ist und welche Sprachnormen für die Sprechenden bzw. Schreibenden benannt werden. Den einzelnen Fragen wird zum einen in exemplarischen Textanalysen nachgegangen, zum anderen werden die Ergebnisse in Form von tabellarischen Übersichten vorgestellt, die in einem begleitenden Kommentar diskutiert werden. Die im Kotext des Ausdrucks Hochdeutsch am häufigsten auftretenden schichtspezifischen Schlüsselwörter ‚Bauer‘, ‚Hof‘, ‚Gelehrte‘ und ‚Pöbel‘ werden in Form von Wortartikeln dargestellt. Aus Raumgründen sowie aufgrund der geringen Belegdichte wird auf einen Wortartikel ‚Bürger‘ verzichtet, in diesem Kapitel wird aber ausführlich auf die Sprachvorbilder der bürgerlichen Kreise eingegangen. Vorab sollen zusammenfassend die diskurssemantischen Grundfiguren der Bewertung des Sprachgebrauchs der sozialen Schichten vorgestellt werden.

4.1 Die Leitdifferenz ›Stigmasoziolekt vs. Prestigesoziolekt‹ als diskurssemantische Grundfigur 4.1 Die Leitdifferenz ›Stigmasoziolekt vs. Prestigesoziolekt‹

Im Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts spielt die Frage, welche soziale Schicht das vorbildliche, regelhafte und damit normkonstituierende Hochdeutsch repräsentiert, eine entscheidende Rolle. In der Mehrheit der Grammatiken, Wörterbücher, Rhetoriken und der sprachreflexiven Schriften mit anderen thematischen Schwerpunkten zeigt sich eine Differenzierung verschiedener Sprachschichten. So heißt es etwa bei Johann Christoph Adelung: Jede Sprache hängt in Ansehung ihres Reichthumes von dem Umfange der Kenntnisse, in Ansehung ihres Wohlklanges, ihrer Feinheit, ihrer Reinigkeit und

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Biegsamkeit aber, von dem Geschmacke derer ab, welche sie reden. OberSachsen hat so wie jede andere Provinz mehrere Classen von Einwohnern, welche bald mehr bald weniger mit einander verbunden sind. Da jede Classe, und in jeder Classe beynahe jeder Stand, seine eigenen individuellen Umstände hat, so hat das auch den gewöhnlichen Einfluß auf dessen Sprache. Das Volk ist hier zwar nicht so sehr Volk, als in andern Provinzen, aber gegen das Ganze ist es doch immer Volk, und seine Sprache muß daher immer ihr eigenes Rohes und Ungeschlachtes haben. Der Bürger in kleinen Städten, der Bürger in größern, u. s. s. haben wieder ihr Eigenes. (Adelung ÜDS/1 1785, 57)

Die schichtspezifischen Schlüsselwörter, auf die Adelung zurückgreift, sind zum einen die Klasse, zum anderen der Stand. Gemäß der zeitgenössischen Ständeordnung sind drei Stände zu differenzieren: An oberster Stelle der Gesellschaftshierarchie ist die Gruppe der Geistlichen zu nennen, die Angehörige der hohen Geistlichkeit und des niederen Klerus umfasst. Der zweite Stand wird durch den Adel konstituiert, der wiederum in einen höheren Adel bzw. Verwaltungsadel und einen Landadel unterschieden werden kann. Die Bevölkerungsmehrheit wird durch den dritten Stand repräsentiert, die Bauern und Bürger. Adelungs Gesellschaftsmodell ordnet diese drei Stände verschiedenen Klassen zu, die er an anderer Stelle die „niedere“, die „mittlere“ und die „obere“ Klasse nennt (vgl. Adelung GDO 1782, 412). Die Kategorie Klasse ist somit als Hyperonym zu Stand zu verstehen und meint im Sinne der heutigen soziologischen Terminologie so etwas wie ‚soziale Schicht‘. Das Sprachvorbild des Obersächsischen ist bei Adelung untrennbar verknüpft mit einer schichtspezifischen Einschränkung der Leitvarietät auf die Sprache der „oberen Klassen“ und der bürgerlichen Bildungseliten. Um diese kulturelle Leitfunktion des Bürgertums deutlich zu machen, greift Adelung im Kontext der Erörterung der Orthographie auf eine Lichtmetaphorik zurück und projiziert die Gegensatzpaare „unten vs. oben“ und „dunkel vs. hell“ aufeinander (vgl. ebd., 47). Adelung geht davon aus, dass die Entwicklung der Orthographie wie der Sprache überhaupt abhängig ist von dem Sprachbewusstsein der Sprachbenutzenden (ebd.). Dieses Bewusstsein stehe in Abhängigkeit zum Grad der Entwicklung der Kultur. Die Befolgung der Orthographienormen sei aber nicht nur historisch variabel, sondern zeichne sich auch synchron durch Diversität aus. Während das Sprachnormbewusstsein in den Zeiten ohne entwickelte Kultur noch relativ unausgeprägt sei, verfügten die niederen Schichten seiner Ansicht nach auch in der Gegenwart nicht über eine entsprechende Sprachkompetenz. Er unterscheidet drei soziale Schichten: eine „niedere“, „mittlere“ und „obere“ Klasse. Zwischen den „niederen Klassen“ ohne sprachliches Normbewusstsein und den „oberen Klassen“ mit einem ausgeprägten

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Normbewusstsein setzt er eine „mittlere Klasse“ an, deren Normbewusstsein als „weniger dunkel“ (ebd.) charakterisiert wird. Die Entwicklung der Sprache von ihrem ursprünglichen Zustand hin zu einer polyfunktionalen Kultursprache kann nach Adelung nur in den oberen Klassen erfolgen. Er führt begünstigende kulturelle Faktoren, den ökonomischen Fortschritt und den geistesgeschichtlichen Prozess der Aufklärung als Bedingungen an, die bei den Oberschichten zu einer Ausbildung des „guten Geschmacks“ (Adelung 1MDS/II 1782, 74) führen. ‚Geschmack‘ kann an dieser Stelle zum einen als eine ästhetisch-stilistische Kategorie interpretiert werden, zum anderen auch als Indikator eines ausgeprägten Normbewusstseins. Die Kategorie ‚guter Geschmack‘ meint bei Adelung sowohl ein Bewusstsein ästhetisch angemessener sprachlicher Formen als auch ein stilistisches sowie grammatisches Bewusstsein ihrer Regelkonformität. Um sein regionales Vorbild zu legitimieren, schreibt Adelung aber selbst den unteren Schichten Obersachsens ein besonders ausgebildetes Normbewusstsein zu: Bey allen Abweichungen einzeler Personen, welche der in jedem einzelen Gliede so verschiedene Grad des Geschmackes, und oft bloße Nachlässigkeit veranlassen, herrschet doch die gute hochdeutsche Mundart, so wie sie in den besten Schriften gebraucht wird, mit allen ihren Formen und Analogien in keiner andern Provinz, im Ganzen genommen, so rein, so allgemein, und so tief hinab bis auf die untern Classen, als in Ober-Sachsen, so daß sie hier wohl kein Fremdling seyn kann, sondern sich auf ihrem mütterlichen Grunde und Boden befinden muß. (Adelung ÜDS/1 1785, 60)

In den berücksichtigten sprachreflexiven Schriften findet sich eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer Ordnungskategorien. Eine Analyse der schichtspezifischen Diskurskategorien in den sprachreflexiven Texten wird besonders durch die begriffliche Vielfalt und die mangelnde terminologische Trennschärfe einzelner Kategorien erschwert.239 Wieland spricht beispielsweise von „Sprach-Distrikten“ (Wieland WH1 1782, 211) und beabsichtigt damit die Differenzierung der Sprache als Gesamtphänomen in verschiedene Erscheinungsformen bzw. in heutiger Terminologie in Varietäten. Den einzelnen Varietäten spricht er dabei ausdrücklich eine systeminhärente Gesetzmäßigkeit zu wie auch einen jeweils begrenzten kommunikativen Radius (ebd., 211). Wieland unterscheidet zwischen der allgemeinen, überregionalen Schriftsprache der oberen Schichten (ebd., 210) und den Dialekten der niederen Schichten. Inwiefern das 239 Siehe zu den sozialen Ordnungskategorien beispielsweise Bodmer/Breitinger (MS/2 1746, 514, 625f.) und Adelung (ÜDS/2 1785, 7f.). Das bei Adelung angelegte Konzept einer Umgangssprache der oberen Klassen (im Sinne von „Gesellschaftssprache“, vgl. Adelung 1MDS/I 1782, 18) ist bereits Ausdruck eines terminologischen Präzisierungsversuches.

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schriftsprachliche Vorbild eine tatsächlich gesprochene Sprache ist – wie die Dialekte – bleibt an dieser Stelle unklar. Auf die Vorbildlichkeit der Sprache der Bildungseliten und Oberschichten verweist auch ein anonymer Autor, der davon ausgeht, dass diese der Sprache der niederen Schichten vorzuziehen sei (Anonymus AGDS 1742, 242). Der Autor fordert vehement die Einführung des Hochdeutschen, das er als das Obersächsische der Oberschichten bestimmt, und führt als ein zentrales Argument den hohen Verbreitungsund Akzeptabilitätsgrad des Hochdeutschen in allen Regionen und Schichten an. Das Niederdeutsche hingegen sei den Sprechern des Hochdeutschen weitgehend unbekannt, insbesondere den oberen sozialen Schichten. Im Gegensatz dazu sei das Hochdeutsche bereits die Umgangssprache der weniger gebildeten, niederen Schichten des niederdeutschen Sprachraums (vgl. ebd.). Wie diese exemplarischen Lektüren belegen, wird in der Mehrheit der sprachreflexiven Schriften der Sprachgebrauch der verschiedenen sozialen Gruppen beschrieben und bewertet. Dadurch wird eine diskursspezifische Bewertungsstruktur etabliert, deren Leitdifferenz der Gegensatz zwischen ‚Norm‘ und ‚Abweichung‘ ist. Die Norm wird repräsentiert durch den Sprachgebrauch der oberen sozialen Schichten des städtischen Bürgertums und der Bildungseliten, in der zeitgenössischen Terminologie der ‚oberen Klassen‘ und ‚Gelehrten‘. Als Gegenpole dienen zwei soziale Gruppen, die quasi die beiden Enden der gesellschaftlichen Hierarchie abbilden, die unteren sozialen Schichten (‚Bauern‘, ‚Pöbel‘) und die Adligen bzw. der ‚Hof‘. Diese doppelte Abgrenzungsfigur wird im Sprachnormierungsdiskurs mit dem schichtspezifischen Sprachgebrauch legitimiert. Dem Adel wird von vielen Sprachkundlern vorgeworfen, sich vorrangig des Französischen als Kultursprache zu bedienen und die eigene Muttersprache zu verachten. Der Gebrauch des Französischen ist seit dem frühen 17. Jahrhundert am Hofe wie im gebildeten Bürgertum weit verbreitet, die Sprachkundler des 18. Jahrhunderts greifen an dieser Stelle deshalb auch auf Argumentationsfiguren des barocken Sprachpurismus zurück, z. B. die Kritik am ‚alamodischen‘ Sprachgebrauch. Der Vorbildfunktion des Adels, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch in einigen Rhetoriken artikuliert und die von Gottsched und Adelung noch dienstbeflissen bestätigt wird, besitzt am Ende des 18. Jahrhunderts keine Bedeutung mehr. In Bezug auf die niederen Schichten ist für das gesamte Jahrhundert von einer deutlichen Stigmatisierung ihres Sprachgebrauchs zu sprechen, die nur vereinzelt aufgehoben wird. Auf der Grundlage dieser Bewertung der sozialen Varietäten ist von einem ‚Prestigesoziolekt‘ in Form der Spra-

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che der Bildungseliten und oberen Schichten, sowie einem ‚Stigmasoziolekt‘ in Form des Sprachgebrauchs der niederen Schichten zu sprechen. In Anlehnung an Steinig, der die Termini im Kontext der Bewertung einer örtlichen Varietät einführt, werden im Rahmen der Untersuchung die Bezeichnung ‚Prestigesoziolekt‘ für die positiv bewertete soziale Varietät und der Ausdruck ‚Stigmasoziolekt‘ für die negativ beurteilte soziale Varietät verwendet (vgl. Steinig 1980, 106). Diskurssemantische Grundfiguren ordnen nach Busse in funktionaler Perspektive u. a. inhaltliche Elemente von Texten und bestimmen die innere Struktur des Diskurses (vgl. Busse 1997, 20). Die Opposition ›Abweichung vs. Norm‹, die in den Konzepten von ‚Prestigesoziolekt‘ und ‚Stigmasoziolekt‘ zum Ausdruck kommt, ist diskursübergreifend, kann also auch in anderen Diskursen zum Tragen kommen.240 Diese Eigenschaft, die Busse den diskurssemantischen Grundfiguren einräumt (vgl. ebd.), machen ihren heuristischen Status als grundlegende Wahrnehmungs- und Bewertungsstrukturen der am Diskurs beteiligten Subjekte deutlich. Damit ist die Etablierung der sozialen Leitdifferenz nicht als ein Produkt intendierter Handlungen von Sprechern (im Sinne von Illokutionen oder Textintentionen etwa) zu werten. Die im Theorieteil dargestellte linguistische Diskursanalyse teilt mit Foucault vielmehr die Einsicht, dass sich die Inhalte von Texten teilweise der Kontrolle ihrer Produzenten entziehen.241 Die durch den Sprachnormierungsdiskurs etablierte Grundopposition zwischen ‚Prestigesoziolekt‘ und ‚Stigmasoziolekt‘ ist aber insofern an der Konstituierung sozialer Wirklichkeit beteiligt, da mit der Etablierung einer entsprechenden Wahrnehmungs- und Bewertungsstruktur gleichzeitig der soziale Status der Individuen festgelegt wird. Die diskurssemantische Grundopposition lässt sich auf der Ebene der semantischen Merkmale der schichtspezifischen Schlüsselwörter (→ Bauer, Pöbel, Gelehrte, Hof) analysieren. Zum Beispiel ist die Bedeutung 2 von Bauer und Pöbel Ausdruck für die erfolgte Stigmatisierung des Sprachgebrauchs dieser Schichten. Die Bedeutungsdimension 3 der Schlüsselwörter ‚Gelehrte‘ und ‚Hof‘ zeigt außerdem, dass die positive Bedeutung des Sprachgebrauchs dieser Schichten nicht von allen Diskursakteuren einstimmig vertreten bzw. in Einzelaspekten auch zurückgenommen wird. Die diskurssemantische Grundfigur ›Prestigesoziolekt vs. Stigmasoziolekt‹ 240 Einige Arbeiten Foucaults gehen der Frage der Normalisierung der Gesellschaft nach. So untersucht er in „Wahnsinn und Gesellschaft“ die Etablierung einer Leitdifferenz zwischen Vernunft (Norm) und Wahnsinn (Abweichung) (vgl. Foucault 1969). 241 Busse klassifiziert die diskurssemantischen Grundfiguren deshalb zu Recht als epistemischkognitive Grundausstattung der Produzenten. Eine semiologische Perspektive auf diese zentrale Analyseeinheit entwickelt Scharloth (2005b).

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ist nicht zwangsläufig mit der thematischen Struktur der untersuchten Texte identisch. So zeigen die nachstehenden tabellarischen Übersichten, dass ein Autor nicht immer sowohl die ‚Norm‘ als auch die ‚Abweichung‘ thematisiert. Die diskurssemantische Grundfigur ist auf der textuellen Ebene aber nicht allein anhand der Semantik der sozialen Kategorien zu erschließen. Aufschluss über die Bewertung der einzelnen sozialen Varietäten geben insbesondere die argumentativen Argumentationsmuster, die in den nächsten Teilkapiteln kurz erläutert werden. 4.1.1 Diskursives Argumentationsmuster I: Stigmatisierung der Sprache der niederen Schichten Die schriftsprachlichen Kompetenzen wie auch die Kenntnisse des Hochdeutschen werden im 18. Jahrhundert vorrangig durch den Leseund Schreibunterricht vermittelt. Aufgrund der enormen Unterschiede im Umfang des Schriftspracherwerbs sind die erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse bei den einzelnen sozialen Schichtungen sehr unterschiedlich (vgl. Gessinger 1980, 35-91). Die bildungsbürgerlichen Schichten und das gewerbetreibende Bürgertum sowie zum Teil der Adel verfügen über ein schrift- und standardsprachliches Normenbewusstsein und entsprechende Kenntnisse; dieser schichtspezifische Unterschied wird gleichzeitig zur Grundlage einer sozialen Bewertung mündlicher und schriftlicher Sprache. Mit der Etablierung einer diskursdominierenden, konsensualen Bestimmung des Hochdeutschen als Sprache der Oberschichten und der Bildungseliten einher geht die Abwertung regional gebundener Varietäten als soziale Varietäten, und zwar genauer als unterschichtspezifische Varietäten.242 Den unteren Schichten (→ Pöbel1-3, Bauer1-3) spricht die Mehrheit der Diskursakteure sowohl einen „richtigen“ Gebrauch des Hochdeutschen ab als auch die Fähigkeit, dialektale Färbungen der Sprache abzulegen. So heißt es beispielsweise in der Grammatik des katholischen Grammatikers Heinrich Braun: Die verschiedenen Mundarten sind also eine Unvollkommenheit der Sprachen: weil sie die gänzliche Gleichförmigkeit, und das allgemeine Verständnis verhin242 Zu diesem Ergebnis kommt auch die sozialgeschichtlich angelegte Untersuchung von Gessinger (1980, 100), wobei Gessinger besonders auf die Kontinuität dieses Stigmatisierungsprozesses im Kontext der Entstehung einer standardsprachlichen Norm verweist. Bereits im 14. Jahrhundert, verstärkt aber im 16. und 17. Jahrhundert sei diese Tendenz bereits ausgeprägt (ebd.).

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dern. Man kennet einen Bayer, einen Schwaben, eine Schweizer, einen Niedersachsen ec. aus seiner Mundart: alle diese reden deutsch: und wenn ein Jeder seine Mundart genau beybehält, wie es bey dem Pöbel geschieht, so verstehen sie sich selbst kaum untereinander: sie kommen doch in der Hauptsache zusammen: denn in allen diesen Ländern giebt es eine Mundart, welche wir die Hochdeutsche zu nennen pflegen: diese wird von klugen und über den Pöbel erhabenen Leuten geredet: in dieser werden die meisten und besten Bücher geschrieben: diese versteht man in allen Ländern Deutschlands: von dieser weichet niemand ab, den nicht entweder die Unwissenheit oder die Eigenliebe gegen der von Jugend auf angewöhnten fehlerhaften Aussprache verleitet. (Braun ADS 1765, 7)

Die Sprache der niederen Schichten bzw. die „Pöbelsprache“ wird charakterisiert als eine dialektnahe, stilistisch weniger wertvolle und in der Regel von der Leitvarietät abweichende Sprache (vgl. hierzu die Belege zu Pöbel2, Bauer2). Den unteren sozialen Schichten schreibt man die Verwendung von Grobianismen und Verstöße gegen grammatische, lexikalische und stilistische Normen zu. Darüber hinaus gelten die dem Pöbel2 zugehörigen Personen als reine Dialektsprecher, die das überregional verständliche Hochdeutsch nicht beherrschen. Die Sprecher der unteren Schichten werden somit zum Stereotyp qualitativ weniger wertvollen Sprachgebrauchs (vgl. beispielsweise Männling ER 1718, 2, Fabricius PhO 1724, 144, Litzel UC 1730, 69, 80f., Meier ASW/3 1759, 346). Der Sprachgebrauch des „Pöbels“ kann nicht als Leitvarietät akzeptiert werden, so heißt es im VI. Discours der „Discours der Mahlern“: Aber wen ich dem Gebrauch das Recht zugebe / die Sprachen zumachen / so verstehet sich nicht / daß ich den Pöbel / welcher die meisten Stimmen hat / und also Meister ist / den Gebrauch einzuführen welchen wer will / zum Richter aufwerffe. Der Gebrauch kann gut und schlimm seyn. Das Thun der Verständigen ist das Modell / in welches sich diejenige stellen / welche wol leben wollen; Der wol reden will / nimmt zum Muster die Reden politer und witziger Männern / welche sich durch ihre Sprache von des gemeinen Pöbels seiner abgesondert haben. Diese überlassen zwar dem Gebrauche sein Recht Wörter zu machen / ungekräncket / aber sie bedienen sich der Freyheit / welche eine jede Privat=Person hat / unter denen welche schon im Gebrauch sind auszulesen / die schlimmen Redens=Arten zuverwerffen / und die guten in ihren Reden und Schrifften fortzupflanzen. Dahero kömmet der Unterscheid / welcher sich zwischen der Sprache der gemeinen Leute äussert / und zwischen derjenigen / welche die vornehme reden / die die Freyheit genommen haben von dem schlimmen Gebrauche abzutreten. Diese letztern muß man sich vornehmen nachzufolgen; Man muß acht haben was für einen Gang ihre Worte haben /was sie affectiren / und was sie ausweichen. (Bodmer/Breitinger DM/1 1721, F4r, F4v)

Eine Grundlage für diese Defizithypothese ist die von einzelnen Sprachkundlern formulierte Annahme, dass eine „einfache“ Sprache im Sinne einer stilistisch, lexikalisch und grammatisch variationsarmen oder fehler-

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hafte Sprache, gleichzusetzen sei mit einem „einfachen“ Verstand. Beide Merkmale der niederen Schichten werden auf ihre Lebensbedingungen zurückgeführt (vgl. z. B. Bodmer/Breitinger MS/2 1746, 514, Graser VLP 1766, 2f.). Für Johann Christoph Adelung und für die meisten Sprachkundler des Sprachnormierungsdiskurses stehen das Denken eines Volkes bzw. der Nation und seine Sprache in einem engen Zusammenhang (vgl. etwa Adelung DSS 1806, 3ff.). Kennzeichnend für die Entwicklung einer Sprache sei die Ausdifferenzierung verschiedener Varietäten. Adelung spricht an dieser Stelle von verschiedenen „Sprecharten“ (ebd., 4). Als Einflussfaktoren bei der Ausbildung verschiedener Varietäten nennt Adelung die „Kultur“, „Sitten“ und den „guten Geschmack“. Da allerdings nur in den oberen sozialen Schichten diese drei Kriterien erfüllt seien, könne nur dieser Sprachgebrauch als Leitvarietät anerkannt werden (ebd., 5f.). Bemerkenswert ist, dass die Stigmatisierung des Sprachgebrauchs der niederen Schichten eine Art Minimalkonsens der ansonsten aufgrund der unterschiedlichen regionalen, konfessionellen, sprachtheoretischen und ideologischen Hintergründe zum Teil stark divergierenden HochdeutschKonzeptionen darstellt. Es handelt sich an dieser Stelle somit um ein Argumentationsmuster mit hohem Geltungsareal und hoher Akzeptanz unter den Sprachkundlern, die sich auf die antike Tradition der Rhetorik berufen. Die Stigmatisierung der unteren Sprachschichten ist sowohl in den zeitgenössischen Rhetoriken als auch in den Grammatiken des 18. Jahrhunderts gängige Praxis. Die Grundstruktur der Argumentation, die aus den verschiedenen sprachreflexiven Schriften abstrahierend festzuhalten ist, lässt sich folgendermaßen abbilden:

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Die Sprachformen, die in den verschiedenen sprachreflexiven Schriften genannt werden, stellen in der Regel landschaftliche Sprachformen dar, die die jeweiligen Sprachkundler als Abweichung von der Grammatik oder Lexik des Hochdeutschen erachten, oder sie stellen stilistische Verstöße dar, so etwa die Verwendung von Grobianismen. Wie der Wortartikel zum schichtspezifischen Schlüsselwort → Bauer zeigt, werden den niederen Schichten darüber hinaus geringe kognitive Fähigkeiten zugeschrieben, die eine Vorbildlichkeit dieser Gruppe in Sprachnormfragen ausschließt. Demgemäß lässt sich der abstrakt formulierte Stigmasoziolekt-Topos semantisch präzisieren:

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Vor dem Hintergrund der Konstituierung einer trotz aller Divergenzen in Detailfragen diskursdominierenden Bestimmung des Hochdeutschen als Sprache des gebildeten und gehobenen Bürgertums bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts weitet sich das Bewertungsfeld des Sprachgebrauchs der niederen Schichten. Es handelt sich zum einen um eine Gegenströmung zur diskursdominierenden Abwertung des Sprachgebrauchs der unteren Schichten, die nicht mehr nur als Symbol mangelhafter Sprachkompetenz gesehen werden, sondern als genuines Archiv eines älteren und durch die Geschichte verloren gegangenen Wortschatzes. Zum anderen verlangen einige der Sprachkundler die Möglichkeit, zumindest in der Literatursprache den Sprachgebrauch der niederen Schichten darstellen zu können. Diese Gegenströmungen zur diskursdominierenden Tendenz zur Stigmatisierung des Sprachgebrauchs der unteren Schichten werden weiter unten erläutert. Während die bürgerlichen Grammatiker, Lexikographen und andere Sprachkundler im weitesten Sinne das Hochdeutsche als Mittel der Abgrenzung zu den niederen Schichten wie auch gegenüber dem Adel funktionalisieren, versuchen auch Sprecher der niederen Schichten durch den Gebrauch des Hochdeutschen bestehende Standesbarrieren zu nivellieren. So beklagt der Verfasser des „Idioticon Hamburgense“ sich darüber, dass im norddeutschen Sprachraum die Bauern durch den Gebrauch „halbHoch-Teutscher Worte“ (Richey IH 1755, 43f.) als vornehm gelten wol-

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len. Das bedeutet, dass Vertreter der niederen Schichten ihre gesellschaftliche Stellung durch den Gebrauch von vermeintlich hochdeutschen Wortvarianten aufzuwerten versuchen, wobei diese Bemühungen sogleich die Kritik der Sprachkundler auf sich ziehen.243 4.1.2 Diskursives Argumentationsmuster II: Stilisierung des Sprachgebrauchs der Bildungseliten und der Oberschichten als ‚Prestigesoziolekt‘ Die Verfasser der Grammatiken, Wörterbücher, Rhetoriken und der Vielzahl weiterer sprachreflexiver Schriften des 18. Jahrhunderts sind ein Teil der neuen Funktionseliten in den Territorialstaaten. Sie verfügen über ein Expertenwissen, das sowohl das Hochdeutsche als auch die europäischen Kultur- und Bildungssprachen umfasst. Den bürgerlichen Sprachkundlern gelingt es, ihre partikulare, schichtspezifische Varietät zur universellen, schichtenübergreifenden Leitvarietät zu erheben. Dieser ‚Prestigesoziolekt‘ wird im zeitgenössischen Diskurs durch verschiedene schichtspezifische Schlüsselwörter repräsentiert, besonders durch die Bezeichnungen ‚Gelehrte‘ und ‚obere Klassen‘. Die oberen sozialen Schichten werden im Sprachnormierungsdiskurs auch als ‚Bürger‘ bezeichnet (vgl. z. B. Bodmer/Breitinger MS/2 1746, 625f.), des Weiteren sind Paraphrasen zu finden wie ‚feinere Welt‘, ‚Teil der Deutschen von Stande und Erziehung‘ oder ‚Personen von guter Lebensart und Erziehung‘. Die Akzeptanz der diskursdominierenden Bestimmung des Hochdeutschen als Obersächsisch der oberen Klassen in den katholischen Sprachgebieten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigt außerdem, dass das Hochdeutsche als Oberschichtensprache zu einer überkonfessionellen Leitvarietät wird. Bereits im Jahre 1730 hat der protestantische Gebildete Georg Litzel in einer überaus polemischen Schrift von den katholischen Gebieten gefordert, das Sprachnormierungsprogramm der protestantischen Territorien – und damit auch deren HochdeutschKonzeption – zu übernehmen. Begründet wird dieses überkonfessionelle Sprachnormierungsprojekt vor allem mit patriotischen Motiven: Das Römische Reich deutscher Nation hat den Rang vor allen Europäischen Königreichen: Alle Ausländer erkennen den Römischen Kaiser für das Oberhaupt der ganzen Christenheit. Ey so machet denn eure Sprache, ihr Deutschen, zu keiner Sclavin, und gebet nicht zu, daß dieselbe den fremden nachgehe. Die spani243 Diese Kritik erinnert an die von vielen Mitgliedern der Sprachgesellschaften vorgetragene Polemik gegenüber den niederen Ständen, die den ‚alamodischen‘ Sprachgebrauch des Adels nachahmten, um gesellschaftlich anerkannt zu werden.

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sche, italiänische und andre Sprachen, streken das Haupt über die unsrige. Es wäre uns eine Schande, wenn wir diesem Übel länger zusehen wollten. Darum bemühet euch, ihr Catholische und Evangelische Stände mit allem Fleiß, und füget euch zusammen in freundlicher Einigkeit: alle rechtschaffene Deutschen, helffet, daß sich unsre Sprache über alle andre Europäischen Sprachen empor schwinge, und die höchste Majestät des deutschen Reichs auch dadurch offenbar werde. Lasset nicht nach, bis die Ausländer sich auch vor unsrer Sprache demüthigen, und ihr, als einer majestätischen Grundsprache, die längst gebührende Ehre und den gehörigen Vorrang unter allen Christlichen Sprachen glükwünschend einräumen. (Litzel UC 1730, 98)

In einigen Texten ist eine Selbststilisierung der Sprachkundler als normsetzende Instanz zu beobachten. So definiert beispielsweise Hemmer das Hochdeutsche als „Mundart der Gelehrten“ (Hemmer DSL 1775, 7f.). Die ‚Gelehrten‘ seien aber keineswegs unabhängige Gesetzgeber für die Sprache, sondern verfügten über eine Einsicht in das innere Sprachwesen der Leitvarietät. Sie werden bestimmt als „Dolmetscher und Sachverwalter, Beschützer ihrer Reinigkeit, Vermehrer ihres Reichthumes, Beförderer ihrer Vollkommenheit und Schönheit“ (ebd., 9). Wenngleich Hemmer eine ontologisierende Sprachauffassung vertritt, die von einem der Sprache inhärenten Wesen ausgeht, teilt er dieses bildungssoziologische Sprachvorbild mit den Vertretern anomalistischer Bestimmungen des Hochdeutschen wie Gottsched und Adelung. Selbst Johann Jakob Breitinger, der seit 1740 ein vehementer Gegner der Gottsched’schen Sprachund Literaturtheorie ist und der für einen sprachlichen Ausgleich der unterschiedlichen Gesellschaftsschichten plädiert (vgl. Bodmer/Breitinger MS/2 1746, 625f.), hebt in der „Critischen Dichtkunst“ die Normierungsautorität der Gebildeten hervor (vgl. Breitinger CD 1740, 350f.). Adressat der Sprachnormierungsbemühungen ist in erster Linie das Bildungs- und Besitzbürgertum sowie die Jugend: „Es kann nicht genug beklaget werden, daß man die Jugend in der Schule in den Grundsätzen der Mutter-Sprache so gar versäumet, und sie bloß ihrer verderbeten Willkühr oder dem unrichtigen Gebrauche des Pöbels überlässet.“ (Hallbauer VTO 1725, 324) Die Etablierung des Hochdeutschen als Leitvarietät hat für die bildungsbürgerlichen Schichten zwei Funktionen: Sie dient zur Abgrenzung gegenüber den niederen Schichten sowie gegenüber dem Adel, zweitens bedeutet sie einen ungeheuren Prestigegewinn, da die Bürger als normsetzende Schicht stilisiert werden, deren sprachnormierendes und -pflegerisches Handeln geradezu mit Patriotismus gleichgesetzt wird: Nur die untern Bürgerklassen und eigentliche Gelehrte haben sich hauptsächlich der Deutschen Sprache bedient. Trotz dieses ungünstigen Schicksals der Deutschen Literatur und Sprache, haben doch die Deutschen Gelehrten, durch ihre

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angestrengten Bemühungen, in allen Wissenschaften und zugleich in ihrer Sprache so glückliche Fortschritte gemacht, dass sie es jetzt mit allen Nationen Euro244 pas aufnehmen können. (Herzberg AV 1794, 8f.)

Die Bewertung des Sprachgebrauchs der an der Muttersprache orientierten Bildungseliten und der oberen sozialen Schichten als ‚Prestigesoziolekt‘ ist Ausdruck der Transformation des frühneuzeitlichen Gesellschaftssystems, in dem der Einzelne seinen Platz in der Gesellschaft durch Geburt zugewiesen bekommt. Die für den Bürger notwendigen Kenntnisse des Hochdeutschen sind über Leistung und eine entsprechende Bildung zu erwerben. Gleichzeitig ist die Leitvarietätkompetenz die Voraussetzung für gesellschaftlichen Aufstieg. Dies gilt vor allem für die Verwaltungsbeamten. Ein entscheidender Effekt des Sprachnormierungsdiskurses ist die Universalisierung dieser zunächst schichtspezifischen Varietät zur universellen, ständeübergreifenden Leitvarietät für alle Sprecher. Das Argumentationsmuster, das in den verschiedenen sprachreflexiven Texten präsentiert wird, lässt sich auf folgende Grundstruktur zurückführen:

244 Das Hochdeutsche bzw. die Sprache stellt aber nur einen – wenn auch besonders wichtigen – Aspekt der sich ausbildenden bürgerlichen Mentalität dar. Neben der durch Bildungsprozesse erwerbbaren Sprache sei zumindest verwiesen auf einen polysemen und hochstilisierten Bildungsbegriff, besondere kulturelle Praktiken und gemeinsame Wertvorstellungen.

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Wie die Wortartikel zu den schichtspezifischen Schlüsselwörtern → Hof und → Gelehrte zeigen, werden in den verschiedenen sprachreflexiven Schriften jeweils ganz bestimmte Eigenschaften genannt, die in dem nachstehenden, semantisch präzisierten Argumentationsmuster zusammengefasst werden:

Die Gebildeten gelten aber nicht per se als Sprachvorbild, da ein Teil der Bildungseliten am Latein als ‚lingua franca‘ festhält. Diesen Vertretern der Oberschicht wird die Vernachlässigung und die Verachtung der deutschen Muttersprache vorgeworfen (vgl. z. B. Litzel UC 1730, 81). Somit können als Sprachvorbilder nur diejenigen Teile der Bildungseliten gelten, die sich verstärkt um eine Normierung und Pflege des Hochdeutschen bemühen: Der beste Gebrauch in einer Sprache ist die Gewohnheit zu reden und zu schreiben, der sich vornehmlich zu Zeiten, da die Sprache im größten Flor ist, die HofLeute und Gelehrten, welche sich die Zierde der Sprachen haben angelegen seyn lassen, bedienen. [...] so ist es gewiß, daß man die bäßte Mundart bey den Gelehrten suchen müsse: denn diese allein durchgründen die Sprache, übersehen ihr Gebieth, erwägen ihren Werth, und wissen mithin das Gute von dem Falschen, das Reine von dem Unreinen zu unterscheiden. Und eben das ist die Meynung des großen Kunstrichters Quintilian, da er den Sprachgebrauch die Übereinstimmung der Gelehrten nennet [...]. Unter dem Namen der Gelehrten muß man hier aber jenen großen Haufen der Leute keineswegs verstehen, denen man in Ansehung der Schulen, die sie durchgangen sind, diesen Ehrentitel durchgehends

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beyleget; o nein, denn unter diesen giebt es, leider! nur gar zuviele, die ihre Muttersprache kaum um ein Haar bässer kennen, als der gemeine Pöbel sondern jene sind allein darunter begriffen; die sich mit Ernste auf diese Sprache geleget haben. (Hemmer ADS 1769, 98)

Die Abwertung der Gruppe der am Latein festhaltenden Gebildeten und derjenigen, die sich nicht intensiv mit der Leitvarietät befassen, dient somit zur Abgrenzung innerhalb der Gruppe der Bildungseliten. Damit stehen sich die patriotischen Sprachkundler, die die Kommunikationsdomänen des Hochdeutschen erweitern wollen und über ein entsprechendes Expertenwissen verfügen, und die am Latein orientierten Gebildeten gegenüber.245 Dieser Konfliktlinie zwischen den sich zur Normierungsautorität stilisierenden Sprachkundlern und den am Latein orientierten Gebildeten ist noch eine zweite hinzuzufügen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird von Diskursakteuren wie Christoph Martin Wieland und Johann Heinrich Voß eine Normierungsautorität der Dichter und Literaten eingefordert. Deren Einsicht in das Funktionieren der Sprache wird dem reinen Regelwissen der Sprachkundler gegenübergestellt, deren normativer Anspruch abgelehnt und als für die sprachliche Entwicklung geradezu kontraproduktiv charakterisiert wird. 4.1.3 Diskursives Argumentationsmuster III: Ambivalente Bewertung des Sprachgebrauchs des Adels Die Bewertung des Sprachgebrauchs des Adels bleibt im Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts ambivalent. In den sprachreflexiven Schriften sind Aussagen, die den Sprachgebrauch des Adels loben bzw. als Sprachvorbild für das Hochdeutsche anführen, zwar selten, aber durchaus zu finden. So lobt Hallbauer beispielsweise die am Hofe praktizierte Rhetorik (vgl. Hallbauer VTO 1725, 233), während Stutz allgemein den Sprachgebrauch des Adels als Vorbild einstuft (vgl. z. B. Stutz DSL 1790, 9). Die beiden prominentesten und diskursdominierenden Vertreter des Primats des Obersächsischen, Johann Christoph Gottsched und Johann Christoph Adelung, weisen beide den Hof als Sprachvorbild aus (vgl. Gottsched DS 1762, 38f., 106, 459, Adelung 1MDS/I 1782, 15). In den selben Schriften relativieren sie aber auch diese Vorbildfunktion

245 Vgl. außerdem Töllner (DUO 1718, IV), Antesperg (KDG 1747, IXf.) und Glaffey (ASA 1747, 16f.).

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(vgl. Gottsched DS 1762, 40, Adelung 1MDS/I 1782, 27).246 Der in Obersachsen konstatierte kulturelle wie ökonomische Fortschritt wird mit dem Hof in Verbindung gebracht, der als kulturelles Zentrum eine Vorbildfunktion aufweise, was die sprachliche Entwicklung positiv beeinflusse (Gottsched DS 1762, 47). Wenngleich Gottsched und Adelung sowie andere Sprachkundler gelegentlich den Adel als schichtenspezifische Norminstanz ausweisen, überwiegen im Sprachnormierungsdiskurs aber eindeutig die Nennungen der Bildungseliten und der Oberschichten als Sprachvorbilder. So lassen sich im Diskurs zahlreiche kritische Stellungnahmen gegenüber dem Sprachgebrauch des Adels aufzählen. Kritische Stimmen polemisieren vor allem gegen den Gebrauch des Französischen bzw. die „Vermischung“ des Deutschen mit Fremdwörtern durch den Adel.247 Die scharfe Kritik am deutschen Adel, der das Französische bevorzuge, ist als deutliche Akzentverschiebung gegenüber dem 17. Jahrhundert zu werten, wobei durchaus auf patriotische Argumentationen der sprachpuristischen Vorgänger zurückgegriffen wird.248 Besonders deutlich wendet sich der pfälzische Sprachforscher Hemmer gegen die adligen „Sprachflicker“ (Hemmer ADS 1765, 60f.). Er konstatiert in seiner Schrift eine deutliche Kluft zwischen der anvisierten standardsprachlichen Schreibnorm und dem heimischen Dialekt (ebd., 56ff.). Seine Kritik bezieht sich auf alle Schichten, vor allem aber auf den Adel, der insbesondere wegen seines inflationären Gebrauchs von Fremdwörtern Kritik erntet. Da Hemmer selbst als Hofkaplan tätig ist, muss diese Kritik zunächst erstaunen, allerdings bleibt deren Reichweite allein auf die sprachlichen Verhältnisse beschränkt.249 Seiner kritischen Gegenwartsdiagnose fügt Hemmer drei Wortlisten an, die 291 Fremdwörter (vor allem aus dem Französischen) umfasst (vgl. Kamitake 1987, 61).

246 Vgl. die kritische Stellungnahme von Voß (DSK 1804, 204): Gottsched habe das Hochdeutsche zwar als eine über den Dialekten angesiedelte Gelehrtensprache bestimmt, seinen obersächsischen Mäzenen und Gönnern zuliebe aber den kursächsischen Hof bzw. die Höfe Leipzigs zum Vorbild gemacht (ebd., 206). 247 Während für das Bürgertum die Identität als Nation zumeist auf den territorialstaatlichen Verbund begrenzt bleibt, fühlt sich der kosmopolitische Adel eher seinen Standesgenossen in Frankreich nahe als dem „gemeinen Volk“ seines Landes. 248 Vgl. zum umfassend erforschten Phänomen des Purismus beispielsweise Kirkness (1975, insbes. 54f.), Olt (1991, insbes. 28f.) und Gardt (1998). 249 Seine Kritik am expansiven Fremdwortgebrauch ist durchaus berechtigt, da zumindest in seinem engeren Wirkungsfeld, der Residenzstadt Mannheim, zu dieser Zeit eine außerordentliche Mehrsprachigkeit herrschte: „Deutsch als Umgangs- oder Alltagssprache, Französisch als Sprache des Hofes und Bildungsbürgertums, Latein als Wissenschaftssprache und Italienisch als Opernsprache“ (Kamitake 1987, 51).

4.1 Die Leitdifferenz ›Stigmasoziolekt vs. Prestigesoziolekt‹

327

Die Wortschatzbereiche umfassen das höfische Leben, die Wohnkultur und die Esskultur. Die Polemik der Bildungseliten gegenüber dem Adel ist von zwei Seiten zu betrachten. Zum einen erfüllt sie die Funktion der ‚Entthronisierung‘ des Adels, für den die Verwendung des Französischen bzw. der europäischen Bildungssprachen ein Herrschaftsinstrument darstellt, mit dem die sozialen Unterschiede perpetuiert werden. Während der Adel mit Standesgenossen auf Französisch kommuniziert, ist der Geltungsbereich des Deutschen eingeschränkt auf die Kommunikation mit den Untergebenen und den Dienstboten. In gleichem Maße wie der Adel die Standesgrenzen durch den Gebrauch des Französischen betont, können nunmehr die Bildungseliten die Verwendung des Hochdeutschen bzw. der Leitvarietät als prestigeträchtiges Sozialsymbol festlegen. Gleichzeitig gelingt es ihnen im Zuge der Etablierung einer konsensualen Bestimmung des Hochdeutschen, diese schichtspezifische Varietät als Stände übergreifende Leitvarietät zu universalisieren. Dieser Prozess ist zum anderen nicht losgelöst von der Konstruktion nationaler Identität zu verstehen, an der die hier versammelten Diskursakteure in großem Maße partizipieren. Durch die Auseinandersetzungen um die Leitvarietät, aber auch um eine nationalsprachliche Literatur und Rhetorik sowie um ein Nationaltheater entwickeln und verbreiten die Protagonisten des Sprachnormierungsdiskurses die sprachlichen und kulturellen Konstituenten der ‚Sprach- und Kulturnation‘. Die immer wieder geforderte Ausbildung der Muttersprache zu einer Leitvarietät, deren Kommunikationsdomänen sich bis in den privaten Raum erstrecken sollen, ist die Vorbedingung dieser ‚Nationenwerdung‘. 4.1.4 Gegenentwürfe sprachsoziologischer Sprachvorbilder Die diskursdominierende Bestimmung des Hochdeutschen als Sprachgebrauch der oberen Schichten und der Bildungseliten wird von den Sprachkundlern aller Regionen Deutschlands mehrheitlich geteilt. Dennoch lassen sich einige Bewertungen schichtspezifischen Sprachgebrauchs aufzeigen, die dieser konsensualen Definition des Hochdeutschen widersprechen bzw. die deutliche Akzentverschiebungen aufweisen. Zu verweisen ist auf eine Aufwertung der unteren Sprachschichten sowie auf die Inanspruchnahme einer Normierungsautorität für die Literaten und Publizisten. Vereinzelt wird eine Tendenz zur Aufwertung des Sprachgebrauchs der niederen sozialen Schichten deutlich (vgl. z. B. sehr früh bei Wack

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

ATS 1713, 21f., 231 oder bei Hallbauer VTO 1725, 10, 25). Das nachstehende Zitat zeigt sehr deutlich, warum im Kontext der frühen Dialektforschung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die unteren Sprachschichten eine andere, durchaus positive Bewertung erfahren: Der Pöbel hat gar zu grossen Antheil an der Mund-Art, insonderheit in grossen Kauff-Städten, allwo es eine gewaltige Anzahl Menschen giebt, deren Knochen mehr, als ihre Höflichkeiten, gebraucht werden; und die von ihren Dörffern, oder sonst von groben Eltern, die feinste Sprache nicht mitbringen. Dieses alles auszumerzen, wäre eben so viel, als die halbe Quelle verstopffen, woraus uns in der Wort-Forschung was nützliches zufliessen kann. (Richey IH 1755, L)

Eingebunden in das Programm der frühen Mundartwörterbücher und Idiotismensammlungen ist eine Bewertung der Sprache der unteren sozialen Schichten auf dem Lande und in der Stadt als eine Sprachquelle, die bei der Dokumentation des tatsächlichen Sprachgebrauchs keinesfalls außer acht gelassen werden darf (vgl. beispielsweise Weitenauer ZDS 1772, 70). In seinen „Kritische[n] Anmerkungen zu Adelungs Sprachlehre“ von 1784 betont Johann Gottfried Richter, dass die Grammatiker und Lexikographen den aktuellen Sprachgebrauch der Bevölkerung berücksichtigen müssen (vgl. Richter KA 1784, 17). Er widerspricht der Adelung’schen Hochdeutsch-Konzeption in zwei wesentlichen Punkten: Erstens zieht er das Märkische dem Obersächsischen als regionale Leitvarietät vor. Zweitens lobt er den „lebendigen“ Ausdruck der niederen Schichten im Gegensatz zu dem „schleppenden“ Ausdruck der Oberschichten. Diese Einschätzung stellt eine deutliche Privilegierung des Sprachgebrauchs der unteren Schichten dar, der gemeinhin als ‚derb‘, ‚grob‘ und normwidrig gilt. Ebenso wertet Richter die Aussprache der unteren Schichten, die er als dialektal kennzeichnet, auf, denn diese sei viel natürlicher als die „schulgerechte hochdeutsche Aussprache“ bzw. die „hölzerne hochdeutsche Aussprache“ (ebd., 22f.). Während Adelung die niederen Sprachschichten als Abweichung von der als Hochdeutsch bezeichneten Leitvarietät stigmatisiert, kommt Richter zu einer eher pragmatischen Bewertung der sozialen wie regionalen Varietäten (ebd., 87). Für die Verwendung einer Varietät sei einzig und allein entscheidend, ob sie einer bestimmten Kommunikationssituation angemessen sei. Er kritisiert puristische Sprachbewertungen und spricht sich für eine Aufnahme niederer Sprachschichten in den hochdeutschen Wortschatz aus: „Viele gemeine Volksausdrükke und Provinzialwörter sind ausdrükkender und darum besser als die der deutschen Gelehrten- oder Büchersprache, und es ist schon schade, daß man diese nicht mit jenen vertauschen […]“ soll (ebd.). Die „edle-

4.1 Die Leitdifferenz ›Stigmasoziolekt vs. Prestigesoziolekt‹

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re Schreibart“, die Adelung bevorzugt, entspricht nach Ansicht Richters nur kraftlosen, schleppenden Ausdrücken (ebd., 89). Die Grammatiker sollten die Sprache nicht in ein Regelkorsett zwängen, sondern „grammatische Toleranz“ (ebd., 18) üben und weniger stark normativ eingreifen. Grundlage seiner Forderung nach deskriptiver Grammatikschreibung bzw. einer toleranten Normierungspraxis ist seine Auffassung von Sprach- und Gesellschaftswandel. So stehe die Entwicklung des Menschen aufs Engste im Zusammenhang mit der Entwicklung der Sprache. Insofern stimmt er mit Adelung überein, der davon ausgeht, dass mit der Veränderung der kulturellen wie ökonomischen Bedingungen einer Gesellschaft sich auch die Sprache verändert. Als leitende Kriterien der Normierung der Sprache nennt Richter die Analogie, die Etymologie und den „Wohlklang“ (ebd., 19-21). Von der Bewertung des tatsächlichen Sprachgebrauchs der niederen Schichten zu unterscheiden sind solche Aussagen, die sich auf die Darstellung derselben in der Schriftsprache und auf die Literatursprache im engeren Sinne beziehen. Die bereits an anderer Stelle dargelegte konservative Auffassung vorbildlicher Literatur von Johann Christoph Adelung nimmt seine Haltung in dieser Frage bereits vorweg: Er sieht in der Verwendung niederer Sprachschichten in der Literatur einen Sprachverfall (Adelung UL/1 1782, 71). Die Gegenposition zu dieser ablehnenden Haltung findet sich beispielsweise bei Lindner (AGS 1755, 20), der den Schriftstellern eine Verwendung von niederen Sprachschichten zugesteht, aber gleichzeitig zur Vorsicht mahnt. Ergänzend ist auf die Bemühungen der Literaten (der Dichter im engeren Sinne) und Publizisten hinzuweisen, die die Normierungsautorität der Schriftsteller gegenüber den Sprachkundlern im engeren Sinne absichern wollen. Ein deutlicher Indikator für die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende Emanzipation der Literaten von den normativen Vorgaben der Grammatiker und Lexikographen ist die bereits in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts vollzogene Entmachtung Gottscheds durch Gotthold Ephraim Lessing in dem bekannten 17. Literaturbrief. Der grundlegende Wandel der epistemologischen Bedingungen der Literaturproduktion (Genieästhetik, Autonomie der Literatur etc.) führt zu einer Infragestellung der Verfasser von Grammatiken, Orthographielehren, Rhetoriken und Wörterbüchern etc. als oberste Normierungsautorität durch die Schriftsteller. Dass die ständische Ordnung und die bis ins 18. Jahrhundert erhalten gebliebene Trennung der Kommunikationssphären ein Problem für die Sprachentwicklung darstellt, problematisieren insbesondere die Züricher Sprachkundler Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, deren

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

Sprachkonzept deshalb als ‚demokratisch‘ bezeichnet werden kann. Sie gehen davon aus, dass die Trennung der unterschiedlichen sozialen Schichten in Deutschland einen sprachlichen Kontakt zwischen den einzelnen Gruppen ausschließt und damit auch die sprachliche Entwicklung maßgeblich behindert. Als libertäres Gegenmodell zu dieser Sprach- und Gesellschaftsordnung gilt den beiden Sprachforschern die Schweiz (Bodmer/Breitinger MS/2 1746, 625f.). Gottfried August Bürger hinterfragt in einer an Adelung gerichteten theoretischen Schrift mit dem Titel „Über die deutsche Sprache“ Adelungs sprachideologische Absicherung des Primats des Obersächsischen aufgrund des behaupteten kulturellen wie ökonomischen Fortschritts und die damit verbundene Ausbildung des Geschmacks bei den oberen sozialen Schichten, der für die Entstehung der Schriftsprache verantwortlich sei (Bürger ÜDS 1783). Einzig und allein die Gebildeten seien aufgrund ihrer schriftsprachlichen Kompetenzen und ihrem ausgeprägten Normbewusstsein in der Lage, eine standardsprachliche Norm hervorzubringen (ebd., 210f.). Besonders interessant ist Bürgers Hinweis auf die Tatsache der bestehenden Unterschiede im Bildungssystem, die für die Abwertung der Sprache der niederen Schichten verantwortlich gemacht werden. Bei entsprechender schulischer Bildung könnten die niederen Schichten ebenfalls Teilhaber an der Standardsprache werden: Sie haben jetzo gut sagen von der Schön- und Richtigsprecherei Ihrer obern Klassen. Wie kommt es denn, daß die obern Klassen richtiger und schöner sprechen. Von nichts sonst als von dem Unterrichte der Gelehrten, weil die obern Klassen Vermögen und Gelegenheit haben, sich diesen Unterricht zu verschaffen. Nehmen Sie doch einmal Ihren obern Klassen im südlichen Ober-Sachsen Bücher und Schulen weg, und kommen Sie nach ein paar hundert Jahren wieder, um das schöne Deutsch zu hören, was Ihre obern Klassen alsdann sprechen werden! Warum sprechen denn wohl die untern Klassen in Ober-Sachsen um so viel unrichtiger und schlechter, als die obern? Sie sind ja doch mit den obern in beständigem Umgang und Verkehr. Mithin müßte dieser Unterschied nicht Statt haben. Also lediglich daher, weil die untern Klassen keinen gelehrten Unterricht genießen. (ebd., 211f.)

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

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4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen 4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

4.2.1 Sprachsoziologische Bestimmungen der Leitvarietät im Kontext von Rhetoriken und Stillehren Die Bestimmungen von Rhetorik bzw. von ‚Beredsamkeit‘, die sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts bei Fabricius und Hallbauer finden, sind nahezu identisch. So heißt es gleich zu Beginn bei Fabricius: Die Oratorie a) ist eine vernünftige anweisung zur beredsamkeit, das ist, zu der geschicklichkeit, solche wörter zu gebrauchen, welche mit unsern gedancken genau überein kommen, b) und in solcher ordnung mit solcher art seine gedancken fürzustellen, daß in denen die unsere worte hören oder lesen, eben die gedancken und regungen entstehen, die wir ihnen beybringen wollen, damit die glückseeligkeit des menschlichen geschlechts befördert und der umgang unter ihnen angenehm gemacht werde. (Fabricius PhO 1724, 2)250

Sowohl für Fabricius als auch für Hallbauer hat die Rhetorik bzw. die Beredsamkeit zwei zentrale Funktionen: Einerseits dient sie ganz allgemein dem Gemein- oder Staatswohl, andererseits dient sie zum adäquaten Ausdruck der Gedanken in einer ästhetisch anspruchsvollen Form (Fabricius PhO 1724, 4f.), womit einerseits lautliche Qualitäten gemeint sind, andererseits die Beachtung der syntaktischen, semantischen und pragmatischen Verwendungsregeln von Zeichen.251 Beide Autoren vereint darüber hinaus ein sprachpatriotisches Anliegen: Sie wollen eine „deutsche Rhetorik“ schreiben und die Verwendung der Muttersprache in der privaten und besonders der öffentlichen Kommunikation fördern. Insofern finden sich in beiden Arbeiten polemische Spitzen gegen diejenigen Gebildeten, die immer noch am Primat des Lateins als Wissenschaftssprache festhalten. Während Fabricius der erweiterten Neuausgabe seiner 1724 publizierten philosophischen Oratorie einen Entwurf einer „Teutschen Sprachkunst“ beifügt, ist der Grammatik in dieser Erstauflage kein eigenes Kapitel gewidmet. Das Hochdeutsche wird somit nicht explizit zum Gegenstand der Darstellung. Für den „guten Redner „finden sich aller250 Vgl. auch die Definition von Rhetorik bei Gottsched als „vernünftige Anleitung zur wahren Beredsamkeit“ (AR, 86) und Braun (ADR 1765, 11). Während ‚Redekunst‘ allgemein als die Theorie oder Kunst des Redens und Überredens gilt, meint ‚Beredsamkeit‘ die praktische Ausübung der von der ‚Redekunst‘ aufgestellten Regeln (vgl. Gottsched AR, 88f.). 251 Der Funktionsbestimmung der Oratorie bei Hallbauer ist darüber hinaus zu entnehmen, dass sie dem Gemeinwohl dient und allen Ständen gleichermaßen nutzen soll (ebd., 207f.). Vgl. auch Braun (ADR 1765, 16f.).

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

dings eine Reihe von Vorgaben, die die Sprachverwendung betreffen. Diese sollen im Folgenden auch Berücksichtigung finden, da sie Aussagen über soziale Normvorstellungen des jeweiligen Sprachkundlers gestatten. Die Relation von Sprachverwendung und sozialer Schicht kommt bei Fabricius in der Lehre vom „universellen“ und „particularen Gebrauch“ (ebd., 172ff.) zum Ausdruck, wobei der letztere nochmals in einen „gelehrten“ und einen „galanten Gebrauch“ unterteilt wird (ebd.). Der „universelle Gebrauch“ wird definiert als Sprachgebrauch der gesamten Gesellschaft bzw. als Gesamtheit der sprachlichen Konventionen innerhalb derselben im Gegensatz zum partikularen Sprachgebrauch einer gesellschaftlichen Gruppe (z. B. einer Dialektgemeinschaft oder einer sozialen Gruppe wie den „Gelehrten“). Der „universelle Gebrauch“ bezieht sich im Wesentlichen auf Konkreta, während der „gelehrte Gebrauch“ vor allem die Verwendung von wissenschaftlichen Termini und Abstrakta einschließt (ebd., 175). Zu betonen ist an dieser Stelle, dass der Sprachgebrauch der aufstrebenden bürgerlichen Schichten zur Leitvarietät erklärt wird.252 Um sich von den anderen Schichten abzugrenzen, sollten sie Wörter vermeiden, die obszöne Bedeutungsanteile haben oder nur bei den unteren Schichten im Gebrauch seien. Des Weiteren sollten Flüche, Grobianismen usw. vermeiden werden (vgl. ebd., 180). Die Stillehre von Fabricius fordert somit einen der jeweiligen Kommunikationssituation und dem jeweiligen Sprachverwender und Rezipienten angepassten Stil (Fabricius PhO 1724, 203).253 Hallbauer behandelt in seiner „Anweisung zur verbesserten teutschen Oratorie“ ausführlich sprachwissenschaftliche Fragestellungen (vgl. Hallbauer VTO 1725). Seine Sprachkonzeption wird besonders zu Beginn des 252 Vgl. hierzu auch Hallbauers Anmerkung: „Unter polite leute verstehe ich alle dieienigen, welche nicht so wohl durch alle abstracte dinge (ohngeachtet ihnen diese treflich nutzen und zu statten kommen) als vielmehr durch erfahrung und erkänntniß der welt, und des staates, verstand und willen also gewöhnet haben, daß sie nach den regeln der klugheit durch den umgang im gemeinen leben, andern zu gefallen geschickt sind, und also ihren eigenen nutzen so wohl als den nutzen der republick zu befördern eine fertigkeit besitzen. Ihre academie ist, so zu reden, der hof, und ihre trivial-schulen sind eine freye und muntere (nicht aber freche) auferziehung, conversation mit fürnehmern leuten und frauen-zimmer, und verwaltung publiquer affairen, haben sie dazu noch eine gelehrte erkänntniß von denen sachen, so wächst ihnen dadurch noch einmahl so viel geschicklichkeit zu.“ (ebd., 179f.) 253 Adelung reflektiert im Kontext der Frage, ob es allgemeine Grundsätze „des Schönen“ geben könne, ebenfalls die unterschiedlichen historisch-kulturellen Bedingungen von Kommunikationsgemeinschaften (Adelung ÜDS/1 1785, 34f.). Je nach kulturellem Entwicklungsstand bzw. dem Grad an Geschmack innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft seien die Normen des Schönen variabel bzw. „conventionell“ (ebd., 36).

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

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2. Kapitels „Von den Grund-Sätzen der teutschen Sprache“ deutlich. Im ersten Paragraphen wird zunächst die Regelhaftigkeit des Deutschen – um die sich die Sprachkundler des 17. Jahrhunderts noch vehement stritten – wie selbstverständlich anerkannt (ebd., 60). Weniger einfach ist für Hallbauer allerdings die Frage zu beantworten, wie denn entsprechende Regeln und Grundsätze ermittelt und festgelegt werden sollten. Die Antwort des Thüringer Theologen fällt dennoch eindeutig aus, die Normen für das Hochdeutsche sollten anhand des tatsächlichen Gebrauchs ermittelt werden. An dieser Stelle hält Hallbauer allerdings eine Präzisierung für notwendig, wobei vorrangig die Bestimmungskriterien ‚Raum‘ und ‚soziale Schicht‘ eine Rolle spielen. Neben der Inanspruchnahme des meißnischobersächsischen Sprachvorbildes erhebt Hallbauer den mündlichen wie schriftsprachlichen Sprachgebrauch der „Gelehrten und Ungelehrten allerley Standes“ (ebd., 61) zur Leitvarietät, insbesondere der Bevölkerung der Städte in Abgrenzung zu den niederen Schichten. Darüber hinaus spricht er auch dem Hof eine Vorbildfunktion zu (vgl. auch ebd., 232). In der Differenzierung einer „wahren“ und „falschen“ bzw. „natürlichen“ und „affektierten“, „künstlichen“ Beredsamkeit bei Hallbauer (VTO 1725, 229) wird besonders deutlich, dass nicht der rhetorisch geschulte Gebildete an sich als Vorbild anerkannt wird. Hallbauer trennt scharf zwischen dem „Schulredner“, der pedantisch die traditionellen Vorgaben der antiken Rhetorik erfüllt und die kommunikativen Erfordernisse unberücksichtigt lässt und dem „Gelehrten“, der die wahre Beredsamkeit repräsentiere. Diese wird attribuiert mit Eigenschaften wie „nützlich“, „vernünftig“, „männlich“ und natürlich“ (ebd.). Es handelt sich um eine Rhetorik, die den historisch bedingten Kommunikationsverhältnissen gerecht werden will: Das ist aber eine gute oratorische Anweisung, welche aus der Philosophie geleitet, und nach dem heutigen Zustande der Republik und Kirche gerichtet ist, welche zu einer natürlichen, üblichen und nützlichen Beredsamkeit führet, und deshalb alle dazu dienliche Mittel und Regeln der Klugheit, vorschreibet, auch die Abwege, die gemeinen Fehler und Pedanterey allenthalben treulich und freymüthig entdecket. (Hallbauer VTO 1725, 233; ohne Berücksichtigung der Aufzählungszeichen)

In den Anmerkungen wird deutlich, dass nach Ansicht Hallbauers diese Form der Rhetorik vor allem von der adligen Hofkultur praktiziert wird, im Gegensatz zur „Schuloratorie“ der einfachen Gebildeten (ebd., 232). In der Stillehre Johann Christoph Adelungs spielen sprachsoziologische Überlegungen ebenfalls eine Rolle. So betont er im zweiten Teil seiner Stillehre die vielfältigen Kommunikationsleistungen der Sprache. Er

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

schreibt, dass „jede Sprache einer mannigfaltigen Modification fähig ist, je nachdem die gesellschaftlichen Verhältnisse jeder Classe von Einwohnern, und der darauf gegründete Grad von Erkenntnis und des Geschmacks, beschaffen sind.“ (Adelung ÜDS/2 1785, 7f.) Auf der Grundlage dieser präsupponierten Differenziertheit der Sprache beruhe die „Würde des Ausdrucks“, die er bestimmt als „dessen Verhältniß gegen die eigenthümliche Denkungs- und Empfindungsart jeder Classe von Einwohnern.“ (ebd.) Den unterschiedlichen Dispositionen der sozialen Schichten entspricht seine Unterscheidung von zwei Typen, dem „edlen“ und dem „unedlen“ Ausdruck. Da die Schriftsteller in der Regel den oberen Klassen angehören und für eben diese Texte produzieren, müsse ihre „Denkungs- und Empfindungsart“ diesen Klassen entsprechen. Der Stil der oberen Klassen wird als „edel“ (ebd.) gekennzeichnet. In den entsprechenden Texten ist somit das ‚Unedle‘ bzw. der Sprachgebrauch der niederen Klassen ausgeschlossen, ausgenommen bleibt nur das „Niedrigkomische“ (ebd., 7f.). Die besondere Rolle, die die Sprachkundler der sprachlichen Ausgestaltung der schriftlichen wie mündlichen Texte beimessen, kommt besonders in der Rhetorik des süddeutschen Sprachkundlers Heinrich Braun zum Ausdruck (vgl. Braun ADR 1765). Dieser sieht in der Existenz einer deutschen Grammatik und einer entsprechend vorangeschrittenen Sprachnormierung die Grundlage der Rhetorik. Mit Verweis auf die Rhetoriken von Weise, Fabricius, Gottsched und Hallbauer stellt er sogar ein goldenes Zeitalter der Rhetorik in Aussicht (ebd. 9f.). Die Rhetorik grenzt er folgendermaßen von der Sprachkunst ab: Die Sprachkunst lehret nur richtig und regelmäßig zu reden, die Redekunst aber lehret die Kunst Jemanden überreden zu können. Jene hält sich nur bey der Richtigkeit einzelner Worte und Redesätze auf, diese aber dringt auch auf Zierlichkeit und auf den Nachdruck derselben. Kurz, jene lehret Reden, diese aber wohl und zur Erreichung des Zieles, welches man sich vorgesetzet hat, Reden. (ebd.).

Neben der durch die „Sprachkunst“ oder Grammatik gewährleisteten ‚Sprachrichtigkeit‘ der Wörter und Redensarten gelten der Verstand und die Logik als Voraussetzungen guter Rhetoriken. Ohne Grammatik kann eine Rhetorik aber nicht bestehen: „Die Redekunst kann ohne die Sprachkunst so wenig, als ein Gebäude ohne Grund bestehen.“ (ebd., 22) Allen genannten Sprachkundlern ist darüber hinaus gemeinsam, dass sie die Symptomfunktion der Sprache hervorheben (vgl. Bühler 1934).254 254 Die besondere Rolle der Schrift- bzw. Standardsprache als bildungsbürgerliches Sozialsymbol betont auch Gessinger (1995, 292). Die Ausweitung des Prestiges der Leitvarietät lässt sich beispielsweise an den Arbeiterbildungsvereinen ablesen, gleichzeitig entstammen viele der Bildungslehrer und Privatlehrer selbst den niederen sozialen Schichten (ebd.).

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

335

Wenn die Sprache als ein Ausdruck der sozialen Zugehörigkeit gilt, muss der Bürger zwangsläufig einen Sprachgebrauch wählen, der als Distinktionszeichen gegenüber den niederen Schichten dient. Damit wird das Hochdeutsche zum Sozialsymbol schlechthin: Sprache und Vorstellungsart stehen mit dem Geschmack und den Sitten in dem genauesten Verhältnisse. Wer da, wo er edel denken sollte und könnte, die Sprache des Pöbels redet, verräth, daß er demselben auch an Geschmack, Sitten und Denkungsart ähnlich ist. (Adelung ÜDS/1 1775, 223)

Das Konzept einer vernünftigen bzw. aufklärerischen Rhetorik ist damit aber auch Ausdruck bürgerlicher Ordnungsvorstellungen. Das bedeutet, dass die Sprach- und Verhaltensnormen der Sprachkundler dem bürgerlichen Gesellschaftsmodell entsprechen: Auch darinnen pflegt ein großer Unterschied zu seyn, von was für Stände die Leute sind, die sich gewisser Wörter und Redensarten bedienen. Personen von gutem Herkommen und von edler Auferziehung, pflegen ganz anders zu sprechen, als gemeine Leute. Der Pöbel hat immer gewisse niederträchtige Ausdrückungen, deren sich Vornehmere nicht bedienen mögen, weil sie ihnen zu schlecht sind. Die guten Redensarten sind dessen ungeachtet, dem niedrigen Volke doch wohl verständlich, ob sie ihm gleich in seiner täglichen Sprache nicht geläufig sind: so wie die Edlen wohl die Ausdrückungen des Pöbels wissen, ob sie gleich selbige nicht brauchen. [...] Ein Redner indessen hat Ursache, sich allezeit zur Zahl der Vornehmern zu halten, und sich nur denen unter ihnen gebräuchlichen Wörter zu bedienen. Denn wollte er nach Art des untersten Pöbels sprechen, so würde er sich bey den Edlen verächtlich mache; und selbst des Volkes Gunst nicht einmal erwerben. (Gottsched AR, 302f.)

Gottsched stellt in seiner Rhetorik eine Dreistillehre vor und unterscheidet zwischen der ‚artigen‘, der ‚gelassenen‘ und der ‚beweglichen‘ oder ‚pathetischen‘ Schreibart. Der ‚artige‘ Stil entspricht der gehobenen Kommunikation der bürgerlichen Gesellschaft, wobei als Vorbild diejenige Art zu sprechen hervorgehoben wird, „die unter den artigsten Leuten itziger Zeit im Schwange geht“ (ebd., 394f.). Scharf kritisiert wird die ‚Galanterie‘ bzw. ‚Complimentierkunst‘, außerdem wendet sich der Leipziger Sprachforscher gegen die Nachahmung des Hofes und das Prestige des Französischen am Hofe. Allerdings grenzt er den ‚artigen‘ Stil auch gegenüber den niederen Schichten ab: „Denn die niedrige Sprache verräth auch niedrige Sitten, und eine schlechte Abkunft des Redners.“ (ebd., 399) In den Brieflehren des 18. Jahrhunderts zeigt sich eine Ablösung bzw. Transformation der ständischen Gesellschaftsordnung. Die Reform der Briefliteratur in der Zeit der Aufklärung und die Etablierung des neuen Briefstils sind insbesondere mit dem Namen Christian Fürchtegott Gellerts verbunden. In den „Grundsätze[n] wohleingerichteter Briefe, nach dem neuesten und bewährtesten Muster der Deutschen und Ausländer;

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

nebst beygefügten Erläuterungen und Exempeln“ von Johann Christoph Stockhausen (GWB 1753) lässt sich deutlich der besondere Charakter der Sprache als Ausdruck des sozialen Standes, des Charakters und der kognitiven Fähigkeiten ablesen (ebd., 12-14). Besonders die Personen „von Stand“ (ebd., 14) müssen die in der Brieflehre als notwendig erachteten sozialen wie sprachlichen Kompetenzen aufweisen. Diese Normen werden in seiner Einleitung der Brieflehre bereits deutlich. Der Brief wird zunächst als besonders mühevolle, aber umso lohnenswertere Arbeit charakterisiert (ebd., 8). Er wird stilisiert als genuines Medium, eine Freundschaft zu pflegen, und ist damit eine Konstituente gesellschaftlichen Lebens wie ein Mittel, Privatheit zu stiften. Ein weiterer Vorteil der schriftlichen Kommunikation sei die Möglichkeit, mangelnde Kompetenzen der Gesprächsführung auszugleichen (ebd., 11). Gleichzeitig dient die epistorale Praxis der Generierung von Öffentlichkeit, indem durch den beförderten Gedankenaustausch eine Kommunikation auf Distanz möglich ist. Stockhausen differenziert den jeweiligen Nutzen der Briefe nach dem sozialen Status und der beruflichen Praxis, so schaffe der Brief für die Gebildeten die Möglichkeit des wissenschaftlichen Austausches. Historiker seien beispielsweise in der Lage, von weit entfernten Ereignissen Berichte zu erhalten, während die politischen Führungskräfte sich über aktuelle Geschehnisse informieren und diese an den Fürsten weiterleiten könnten. In seiner Lehre für den österreichischen Geschäftsstil hält von Sonnenfels zunächst einleitend fest, dass der Geschäfts- oder Kanzleistil eine universelle Stillehre sei. Unterschiede in den einzelnen Lehrwerken seien einzig und allein den jeweiligen staatlichen und juristischen Gegebenheiten geschuldet (von Sonnenfels ÜG 1784, 4f.). Die drei leitenden Kriterien zur Abfassung eines gelungenen Geschäftsaufsatzes sind nach von Sonnenfels: 1. ‚Sprachrichtigkeit‘, 2. ‚Deutlichkeit‘ und 3. ‚Kürze‘ (vgl. ebd., 23ff.). Diese Kriterien werden im Hinblick auf ihre Semantik und in Bezug auf ihren Geltungshorizont hinterfragt. Der Duktus seiner Darstellung ist überaus sachlich und rationalisierend, insofern die aufgestellten Normen eingehend legitimiert werden. Seine Sprachkonzeption ist vorrangig pragmatisch: Die Geschäftsbriefe sollten adressatenorientiert und für alle sozialen Schichten verständlich sein und keinem hochgestochenen Stilideal entsprechen (vgl. ebd., 50). Insofern er die Leitvarietät von den Vorgaben des Kanzleistils wie von ästhetischen Kategorien. Die nachstehende tabellarische Übersicht gibt Auskunft über die schichtspezifische Bestimmung des Hochdeutschen in ausgewählten Rhetoriken und Stillehren und thematisiert konkrete Normformulierungen an bestimmte Sprechergruppen.

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

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Übersicht: Leitvarietät und Schicht in Rhetoriken und Stillehren Thematisierung der Leitvarietät

Sprachsoziologische Bestimmung der Leitvarietät

Aussagen über schichtspezifischen Sprachgebrauch

Männling ER 1718

Bereits in der Einleitung wird das Hochdeutsche als Leitvarietät für den „guten Redner“ charakterisiert (ebd., 3).

Hochdeutsch ist charakterisiert als Leitvarietät für alle Stände und Voraussetzung wissenschaftlicher Qualifikation und Anerkennung bzw. gesellschaftlichen Aufstiegs (ebd., 3).

Wie Hallbauer und Fabricius lehnt sich Männling explizit an Quintilian an (ebd., 8) und fordert als Eigenschaften eines geschickten Redners: logisches Verständnis, gutes Erinnerungsvermögen, sprachliche Ausdrucksfähigkeit, Sachkenntnis, einen angemessenen Gebrauch der Gestik. Kriterien: ‚Reinheit‘, ‚Zierlichkeit‘.

Fabricius PhO 1724

In der einleitenden Erörterung, was Rhetorik bzw. Beredsamkeit überhaupt sei, wird die Sprache des Redners nicht thematisiert. Es finden sich allerdings allgemeine Hinweise zu den kognitiven Fähigkeiten des Redners und seinen moralisch-sittlichen Eigenschaften. Thematisierung von Sprachnormfragen im Kontext des Kapitels „von dem ausdrucke der gedancken“ (ebd., 141f.), allerdings ist die Bezeichnung Hochdeutsch nicht belegt.

Wenngleich das Lexem Hochdeutsch nicht verwendet wird, kommt in der Rhetorik eine klare schichtspezifische Bestimmung der zu Grunde gelegten Leitvarietät zum Ausdruck. „Ein guter Redner“ orientiere sich am Sprachgebrauch der Oberschichten, da nur eine überregionale, überall verständliche Sprache das Erreichen der kommunikativen Ziele gewährleiste. Diese Erfolgsorientierung ist wiederum ein maßgeblicher Bestandteil der Rhetorikkonzeption von Fabricius.

Einen guten Redner zeichne eine besonders umfassende Sprachkenntnis aus, die alle Dimensionen der Sprache betrifft (syntaktisch, semantisch, pragmatisch) und auf alle sprachlichen Ebenen zu beziehen ist (vom Laut bis zum Text). Der Redner solle die Lautqualität der Buchstaben und die syntaktischen und pragmatischen Verwendungsregeln der Wörter beachten (ebd., 155f.) sowie eine besonders gute Kenntnis der Wortbedeutungen besitzen. Die Beherrschung der Muttersprache gehe über den alltäglichen Sprachgebrauch der unteren sozialen Schichten weit hinaus (ebd., 144ff., 153). Der gute Redner solle Provinzialismen und dialektgebundene Sprichwörter, unnötige Fremdwörter und falsche syntaktische Konstruktionen vermeiden (ebd., 208). Kriterien: ‚Reinheit‘, ‚Deutlichkeit‘, ‚Verständlichkeit‘, ‚Zierlichkeit‘.

Quelle

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

Thematisierung der Leitvarietät

Sprachsoziologische Bestimmung der Leitvarietät

Aussagen über schichtspezifischen Sprachgebrauch

Hallbauer VTO 1725

Ausführliche Thematisierung der Hochdeutschen im Kontext des 2. Kapitels „Von den Grund-Sätzen der teutschen Sprache“.

Als Leitvarietät gilt der mündliche wie schriftliche Sprachgebrauch der Stadtbevölkerung, vor allem der gebildeten Schichten, gleichzeitig erfolgt eine Stigmatisierung der Sprache der unteren Schichten.

Ein guter Redner müsse sich des Hochdeutschen bedienen, darunter versteht er a) im regionalen Sinne das Ober- und Mitteldeutsche, b) die Sprache der gebildeten, oberen Schichten, c) die Schriftsprache und d) eine regelhafte Sprache. Zur Erreichung der kommunikativen Zwecke solle der Redner die Kommunikationssituation bzw. -bedingungen berücksichtigen, dazu gehören auch die unterschiedlichen Bildungsniveaus der Rezipienten. Der Schreiber/Sprecher solle sich an der Aussprache des Hochdeutschen orientieren, da diese die anderen an ‚Reinigkeit‘, ‚Deutlichkeit‘ und ‚Annehmlichkeit‘ weit übertreffe, da die hochdeutsche Aussprache fast von jedermann verstanden werde und fast überall übliches Kommunikationsmedium in Predigten, Büchern und Briefen sei (Hallbauer VTO 1725, 120f.). Kriterien: ‚Reinheit‘, ‚Deutlichkeit‘, ‚Verständlichkeit‘.

Gottsched AR

Keine explizite Thematisierung des Hochdeutschen; Sprachnormen finden sich vor allem im 12. und 13. Hauptstück (ebd., 285ff.). Gottsched grenzt sich aber deutlich von den oberdeutschen Kanzleisprachen ab (ebd., 329).

Wenngleich Gottsched nicht das Hochdeutsche thematisiert, ist die seiner Rhetorik zu Grunde liegende schichtspezifische Leitvarietät der Sprachgebrauch der Oberschichten.

Ein guter Redner zeige durch seine Sprachkompetenz seinen gehobenen sozialen Status. Der vorbildliche Redner müsse eine besondere Sprachkenntnis besitzen. Dies betrifft beispielsweise einen differenzierten Wortschatz, das Beherrschen der Grammatik und der unterschiedlichen Stilarten. Eigenschaften des guten Stils: „deutlich“, „artig“, „ungezwungen“, „vernünftig“, „natürlich“, „edel“, „wohlgefasst“, „ausführlich“, „wohlverknüpft“, „wohlabgetheilet“ (ebd., 329).

Quelle

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

Sprachsoziologische Bestimmung der Leitvarietät

339

Quelle

Thematisierung der Leitvarietät

Lindner AGS 1755

Das Hochdeutsche Als Sprachvorbild gilt wird nicht explizit der Sprachgebrauch der als Leitvarietät Oberschichten. diskutiert.

In schriftlichen Texten solle das „Niedrige“ und „Gemeine“ vermieden werden. Damit sind Ausdrücke der niederen sozialen Schichten gemeint, denen beispielsweise die Verwendung von Schimpfwörtern nachgesagt wird (ebd., 20f.). Lehre von den drei Stilarten (hoher, mittelmäßiger und niedriger bzw. natürlicher Stil) wird modifiziert. Lindner unterscheidet einen klaren, einfachen und natürlichen Stil von einem pöbelhaften Stil, der mit Attributen wie „kriechend“, „trocken“ und „platt“ gekennzeichnet wird (ebd.). In Rückgriff auf die antike Tradition werden folgende Eigenschaften des guten Redners gefordert: ‚Tugendhaftigkeit‘, ‚Klugheit‘, ‚gutes Gedächtnis‘, ‚Scharfsinn‘, ‚Witz‘, ‚Sprachkompetenz‘, ‚Adressatenorientierung‘, ‚Empathie‘ (ebd., 6).

Braun ADR 1765

Das Hochdeutsche wird nur an einer Stelle thematisiert. Braun beklagt sich darüber, dass einige Sprecher sich durch die Verwendung unbekannter obersächsischer Varianten als Sprecher des Hochdeutschen ausweisen wollen (Braun ADR 1765, 120).

Braun fordert die Vermeidung von Archaismen, Neologismen, Provinzialwörtern, unbekannten Wörtern aus der Poesie sowie von Fremdwörtern, „pöbelhaften“ Wörtern, falschen Wortbildungen und Zusammensetzungen (Braun ADR 1765, 119ff.). 5 Kriterien der Wortwahl (ebd., 118f.): ‚Deutlichkeit‘, ‚Reinigkeit‘, ‚Anständigkeit‘, ‚Wohlklang‘, ‚Zierlichkeit‘

Da Braun explizit eine Vermeidung „pöbelhafter Wörter“ fordert, bestimmt er den Sprachgebrauch der Oberschichten als Leitvarietät.

Aussagen über schichtspezifischen Sprachgebrauch

340 Quelle Adelung ÜDS/ 1 und Adelung ÜDS/ 2 1785

4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

Thematisierung der Leitvarietät

Sprachsoziologische Bestimmung der Leitvarietät

Aussagen über schichtspezifischen Sprachgebrauch

Das erste Kapitel des ersten Teils ist einzig und allein dem Hochdeutschen als Leitvarietät gewidmet (ebd., 40-63).

Hochdeutsch wird definiert als a) Schriftsprache, b) als das Meißnisch-Obersächsische, c) Sprache der oberen sozialen Schichten (ebd., 49-58). Grundlage für die Entstehung des Hochdeutschen sei die kulturelle Entwicklung in einem engen bürgerlichen Zusammenhang in den Städten (vgl. ebd., 57, 211). Jede soziale Schicht habe eine Sprachform, die ihren kommunikativen Bedürfnissen gerecht werde. Wenngleich eine genaue Abgrenzung von niederen und oberen sozialen Schichten kaum möglich sei, könne der für eine Schrift- und Standardsprache notwendige kulturelle Entwicklungsgrad aber nur in den oberen Klassen einer Gesellschaft gefunden werden.

Adelung unterscheidet drei Stillagen: den vertraulichen Stil (vgl. ebd., 11-28), den mittleren Stil (vgl. ebd., 28-35) und den höheren Stil (vgl. ebd., 35-36). Für alle drei Stillagen gelten Kriterien wie „Sprachrichtigkeit“, „Reinigkeit“ und „Klarheit“ usw. Allerdings sei allein die „mittlere Schreibart“ für das bürgerliche Leben geeignet (ÜDS/2 1775, 28ff.). Als Eigenschaften des guten Stils werden genannt: „Sprachrichtigkeit“, „Reinigkeit“, „Klarheit“ und „Deutlichkeit“, „Üblichkeit“ und „Angemessenheit“, „Präzision“, „Würde des Stils“, „Wohlklang“, „Lebhaftigkeit“, „Einheit“ (ebd., ff). Zu den Stileigenschaften hat Adelung jeweils ein Kapitel verfasst. Seine Klassifikation unedler Wörter lautet: Grobianismen, Wörter, die vor allem in den niederen sozialen Schichten im Gebrauch sind, fehlerhafte Wortbildung und Phraseologismen (vgl. ebd., 216ff.).

4.2.2 Wörterbücher und Mundartwörterbücher In den gesamtwortschatzbezogenen Wörterbüchern und Mundartwörterbüchern der Aufklärungszeit wird in den Vorreden jeweils in unterschiedlichem Umfang und variierender Intensität erläutert, was der jeweilige Verfasser unter der zu dokumentierenden Sprache bzw. dem zu erfassenden Dialekt versteht.255 In den Vorreden der untersuchten Schriften, wie etwa bei Kramer (NHD 1719), Frisch (TLW 1741) und Adelung (GKW/1 1774), wird in der Regel nicht nur eine regionale Bestimmung der Leitva255 Zu den Wörterbüchern der Aufklärungszeit vgl. die Untersuchung von Tauchmann (1992) sowie Haß-Zumkehr (2001). Zu den Argumentationen der frühen Mundartforscher im 18. Jahrhundert vgl. die Ausführungen in Kapitel 3.4.6.

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

341

rietät vorgenommen, sondern es zeigt sich auch eine klare Präferenz bestimmter Sprachschichten. Die lexikographischen Werke sind allerdings aus sehr unterschiedlichen Bedürfnislagen hervorgegangen: Matthias Kramers „Teutsch-Italiänische[s] Dictionarium“ (TID 1700) ist um die Jahrhundertwende in Nürnberg entstanden, ebenso wie sein „Nider-Hoch-Teutsch / und Hoch-Nider-Teutsch DICTIONARIUM“ (Kramer NHD 1719). Das zweibändige deutsch-italienische Wörterbuch enthält die umfangreichste lexikalische Darstellung des deutschen Wortschatzes des ausgehenden 17. Jahrhunderts (vgl. Ising 1975, 64). Kramer selbst gehört den Bildungseliten an. Die in der Vorrede geäußerte Kritik an der mangelnden Unterstützung der Gebildeten durch Stiftungen oder Mäzene deutet seine eigene Situation an: Der Fremdsprachenunterricht ist seine eigentliche Einkommensquelle, während die lexikographische und wissenschaftliche Tätigkeit keinen wirtschaftlichen Gewinn bedeutet. Seinen Aufstieg zum Gebildeten und Fremdsprachenlehrer verdankt er in erster Linie seinen außerordentlichen Sprachkenntnissen, allerdings findet er bei den wissenschaftlichen Autoritäten seiner Zeit nicht die volle Beachtung und Anerkennung (ebd., 62). In der Vorrede zum deutsch-italienischen Wörterbuch kommt seine Einschätzung der Auswirkungen der sozialen, kulturellen und geistigen Umbrüche seiner Gegenwart auf die Sprache deutlich zum Ausdruck. Überaus scharf kritisiert er die Orientierung seiner Zeitgenossen an französischer Sprache und Kultur. Er stellt ironisch fest, dass die Franzosen keinen Krieg gegen die Deutschen führen müssen, da sie ihren potenziellen Gegner mit einem „Galanterie-Krieg“ (TID 1700, G4r) besiegen könnten. In der Vorrede kommt somit eine dezidiert sittlich-moralische Kritik zum Ausdruck.256 Kramers Wörterbuch verbindet sprachpatriotische und pragmatische Ziele. So dient die Dokumentation des deutschen Wortschatzes dem Einsatz im fremdsprachlichen Unterricht, da er selbst Italienisch, Französisch, 256 „Mich gedünckt an meinem Ort gänzlich/daß/nebenst der rasend-närrischen Nachäffung ihrer/von Christi Geist / Demut / Zucht / Einfalt / Aufrichtigkeit ec. ganz entfremdeten / und kaum ein par Monat beständigen Geld-fressende Kleider-trachten oder Prachten / und der Nachkünstlung aller ihrer Sitten und Geberden / all ihres Thuns und Lassens / all ihres Gemüts und Neigungen / und durchgehends all ihres leichtfertig-und-Welt-gesinnten Wesens / nur die Beschimpfung / die wir unserer so redlichen und so Wort-und Redenreichen / ur-alten teutschen Helden-Sprache / durch Verfranzösierung und ganz unnöthige Einplackung so vieler Französisch ec. Flicklappen / all unser Geld und Gut wenden […].“ (Kramer TID 1700, G3v) Kramers scharfe Polemik gegen die Franzosen resultiert vermutlich aus persönlichen Erfahrungen mit den französischen Besatzungstruppen, von denen er selbst in den einleitenden Bemerkungen berichtet.

342

4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

Spanisch, Holländisch und andere Sprachen unterrichtet.257 Auf der anderen Seite sollten die Franzosen und Italiener anhand seines vollständigen deutschen Wörterbuchs auch die Ebenbürtigkeit des Deutschen mit den europäischen Kultursprachen erkennen (vgl. Kramer TID 1700, F2v), ebenso wie die alamodischen Deutschen den besonderen Wert ihrer Muttersprache anerkennen und sich um einen regelhaften Sprachgebrauch bemühen sollten. Um den Reichtum des deutschen Wortschatzes aufzuzeigen, plädiert Kramer für die Aufnahme von lexikalischen Ausdrücken unterschiedlicher Gebrauchsdimensionen, auch wenn diese unteren Sprachschichten angehören oder anstößige semantische Merkmale aufweisen. Entsprechende Ausdrücke werden aber mit einer stilistischen Markierung versehen. Sein deskriptives Vorgehen wird in dem nachstehenden Beleg ausführlich legitimiert: Ich habe / wie die Heuchler und Mucken saugend und dabey Kamehl verschluckende Pharisäer zu thun pflegen / einige ganz natürliche Dinge andeutende Stamm-wörter / ie. die etwa dahin gehörige Red-arten darum nicht auslassen / abschneiden oder übergehen wollen noch sollen / weilen sie keusche Ohren verletzen / und vor ehrbar- und züchtigen Christen-Leuten wegen ihrer Schnodund Garstigkeit selten oder gar nicht gebraucht werden / als ex.gr. Arsch / Foß (Futt ie.) / Zersch / Scheissen ec. und dergleichen / dann (1) mein Zweck hier nicht ist eine Ethica oder Sitten-lehr / sondern ein vollständiges TeutschItaliänisch Wörterbuch zu schreiben; ich zieh in solchen Worten und Reden nur was Grammaticalisch / mit nichten aber was moralisch ist / in consideration. (2) Ein anders ist / wie etwas unzüchtiges Namen hat / ein anders aber es thun. (3) Hab ich allzeit die Censur der Unehrbarkeit darzu gesetzt. (4) Wer sich an denen Worten ärgern sollte / müßte es auch thun an den Worten fressen / huren / morden / sauffen / stelen / wuchern / zaubern ie. (ebd., E3r und E3v)

Von der Leitvarietät spricht Kramer als von der „allerreichesten / allerzierlichsten / und allerprächtigsten hochteutschen Grund-Sprache“ (ebd., A3v). Sie für ihn kein abstraktes und in der Zukunft erst zu verwirklichendes Ideal ist, sondern eine regelhafte, wortreiche, den anderen Sprachen gleichwertige Sprache. Ihre Dokumentation im Wörterbuch orientiert sich dabei an folgenden Leitlinien (vgl. ebd., E2r): Verzeichnet werden alle Stammwörter bzw. indigenen Lexeme und idiomatischen Redewendungen, Ableitungen und Zusammensetzungen. Diese müssen aber im allgemeinen Gebrauch sein, also bei den hohen, mittleren und niederen Schichten tatsächlich Verwendung finden. An dieser Stelle untermauert Kramer sein deskriptives Anliegen, alle Sprachschichten abzubilden. 257 Vgl. den biographischen Abriss und die Kurzdarstellung seines lexikographischen Ansatzes bei Ising (1975, 61-69).

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

343

Das letztgenannte Kriterium impliziert darüber hinaus, dass Regionalismen, die nicht der gesamten Kommunikationsgemeinschaft bekannt sind, mit einer entsprechenden Markierung versehen werden. Um den tatsächlichen Sprachgebrauch darzustellen, führt Kramer eine Vielzahl von Beispielen an und dokumentiert damit auch den aktuellen Sprachgebrauch, beispielsweise des Handwerks, der verschiedenen Verwaltungsbereiche und der sich allmählich ausbildenden Fachsprachen (vgl. Ising 1975, 67).258 Bei der Erfassung des Wortschatzes des Hochdeutschen im „NiderHoch-Teutsch[en]“ Wörterbuch gilt für Kramer die Maxime, dass das Wörterbuch [...] alle / und jede Nider- und Hoch- / wie auch Hoch- / und Nider-Teutsche Wörter / und dero hauptsächlichste Redensarten [...] die im allgemeinen Umgang mit allerhand ehrbaren Leuten / nicht zur Noht; son = auch zur Zier / und zum Schertz gang und gebe seynd [...]

aufnehmen solle (ebd., A2v). Insofern tritt in diesem Wörterbuch etwas deutlicher seine normative Absicht hervor, den Sprachgebrauch der oberen Schichten zu dokumentieren.259 Christoph Ernst Steinbach ist als Arzt in Breslau tätig und veröffentlicht 1734 das „Vollständige Deutsche Wörter-Buch“ (vgl. Steinbach VDW 1734). Sein Ziel einer objektiven Erfassung des gesamten Wortschatzes hat er nach der Wertung Schröters zwar objektiv nicht erreicht, dennoch ist sie sein angestrebtes lexikographisches Ideal (vgl. Schröter 1975, 81).260 Steinbach thematisiert die zu Grunde gelegte Leitvarietät nicht explizit. Sein Artikelaufbau zeigt allerdings den besonderen Wert an, den er dem Latein als Wissenschaftssprache beimisst. So werden die deutschen Lemmata häufig durch mehrere lateinische Entsprechungen paraphrasiert.261 258 Ising hebt die besondere lexikographische Leistung Kramers hervor und verweist darauf, dass Kramer zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Lexikographie Wortartikel präsentiert, die in sich gegliedert sind (ebd., 65). Ausgehend von der Grundbedeutung wird eine abgeleitete und eine übertragene Bedeutung expliziert und nach Möglichkeit in Gruppen zusammengefasst. Darüber hinaus sei es Kramer gelungen, die Bedeutung und den Gebrauch zahlreicher Wörter präzise zu erfassen (ebd., 67). 259 Tauchmann betont die Schwierigkeiten, die die Differenzierung der überregionalen standardsprachlichen Varianten und der landschaftlichen Varianten Kramer bereitet haben müssen (vgl. Tauchmann 1992, 91). 260 Schröter kommt zu dem Befund, dass Steinbachs Differenzierung zwischen Norm und Deskription gelungen sei und man somit von einer repräsentativen Vollständigkeit seines Wörterbuchs sprechen könne (vgl. Schröter 1975, 81). 261 Mit der Ablehnung der monolingualen Paraphrase befindet sich Steinbach aber durchaus im Konsens mit zeitgenössischen lexikographischen Konventionen (vgl. Schröter 1975, 78f.).

344

4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

Das ausgefeilte System diakritischer Zeichen der „Praefatio“ offenbart dennoch ein ausgeprägtes Sprachnormbewusstein. Steinbach strebt die Dokumentation einer überregionalen Leitvarietät an. So unterscheidet er zwischen nicht überall gebräuchlichen Wörtern, veralteten Wörtern, Wörtern, die nur wegen ihres Charakters als Ableitung notiert werden, nichtschriftsprachlichen Wörtern und Wörtern, von denen nur Restformen im Gebrauch sind. Gerade die Varianten, die aus der Schriftsprache ausgeschlossen werden, drücken ein markantes Normbewusstsein aus, da Steinbach diese Varianten nicht einfach unterschlägt, sondern mit einer sprachkritischen Warnung vor einem möglichen Gebrauch anführt.262 Gleichzeitig identifiziert er die Leitvarietät in medialer Hinsicht mit der Schriftsprache im Gegensatz zur gesprochenen Sprache.263 Johann Leonhard Frischs „Teutsch-Lateinisches-Wörter-Buch“ erscheint nur wenige Jahre nach Steinbachs Wörterbuch und reiht sich in das Bemühen seiner Vorgänger ein, den gesamten allgemeinen Wortschatz der Gegenwartssprache zu verzeichnen (vgl. Steinbach TLW 1741). Bereits im Titelblatt wird das umfassende Ziel seines Werkes deutlich. Frisch will das von Leibniz formulierte Wörterbuchprojekt vollenden und ein etymologisches, fachsprachliches und zugleich gesamtwortschatzbezogenes Wörterbuch vorlegen, und zwar unter Berücksichtigung einer Reihe alter Schriften wie Geschichtsdarstellungen, Übersetzungen, lyrischen Texten usw. Wie seine Vorgänger sieht Frisch die Notwendigkeit, in dem Vorbericht seines Wörterbuchs kurz sein Verständnis der Leitvarietät darzulegen, die er selbst als „Hochteutsch“ (ebd., V) bezeichnet. In einem kurzen historischen Abriss grenzt er sich von der vormalig regionalen Schreibung ab, wobei er die Dialekte als sozial niedere Sprachschicht markiert. Die Leitvarietät wird folgerichtig als Schriftsprache bestimmt, die dialektfern bzw. überregional ist und dem Sprachgebrauch der Oberschichten im Gegensatz zur „Pöbelsprache“ (ebd.) entspricht. Frisch dokumentiert in seinem Wörterbuch zwar landschaftliche (vor allem oberdeutsche) Ausdrücke, verweist aber explizit darauf, dass die 262 Schröter hat in seiner kurzen Einführung zur Wörterbuchkonzeption Steinbachs die Verwendung der einzelnen Zeichen quantitativ ausgewertet (Schröter 1975, 86f.). 263 Zumindest verwiesen sei auf seine Anlehnung an die schlesischen Dichter als regionale und schriftsprachliche Norm, die er in der Vorrede der 1738 unter dem Pseudonym Karl Ehrenfried Siebrand veröffentlichten Lebensbeschreibung Günthers vehement gegen seine Kritiker verteidigt (vgl. Henne 1968, Schröter 1975, Tauchmann 1992, 42-44). Sein Rekurrieren auf das Vorbild schlesischer Dichter kann mit Schröter eher als Anlehnen an eine hochdeutsche Leitvarietät beurteilt werden, als ein engstirniger Provinzialismus, zumal Kramer sein Werk ausdrücklich dem Kaiser, den Fürsten und Ständen widmet. Zur zeitgenössischen Kritik und Rezeption siehe Ising (1975, 89).

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

345

Kenntnis derselben das Studium alter Schriften erleichtere und nicht etwa im Sinne einer Bereicherung des Wortschatzes des Hochdeutschen zu verstehen sei (ebd., VIII). In sprachkritischer Absicht werden die Provinzialismen – wie schon bei Steinbach – mit diakritischen Zeichen versehen. Dass Johann Christoph Adelung mit seinem Wörterbuch auf die Kodifizierung des Wortschatzes des Hochdeutschen in Abgrenzung zu regionalen wie sozial niederen Varietäten zielt, wird in Kapitel 3 zum sprachgeographischen Diskursbereich erläutert. Unter den genannten Lexikographen ist er der erste, der explizit den Wortschatz der niedersten Schichten ausgrenzt und zumindest die niedrigste der von ihm unterschiedenen Stilebenen erst gar nicht in das Wörterbuch aufnimmt. Die Varianten, die er den unteren Schichten zurechnet, versieht er mit diakritischen Zeichen, die als Warnung für die Sprecher dienen sollen (vgl. Adelung GKW/1 1774, XIVff.).264 Adelungs normativer Hochdeutsch-Konzeption entsprechen die zahlreichen diatopischen und sozialschichtigen Kennzeichnungen in seinem Wörterbuch. Das Programm der Mundartwörterbücher und Idiotismensammlungen, das ausgehend vom norddeutschen Raum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf die Darstellung und Bewahrung des „Reichtums“ des Deutschen abzielt, geht mit einer deutlichen Aufwertung der Dialekte einher. Die Aufwertung der Dialekte im Umfeld der frühen Mundartforschung wird in Kapitel 3.4.6 thematisiert. Beispielhaft sei auf das von Johann Carl Dähnert im Jahre 1781 verfasste Mundartwörterbuch verwiesen, dass nach seinen Selbstbekundungen in der Vorrede aufgrund seiner langjährigen Beschäftigung mit alten Urkunden und Geschichtsdarstellungen entstanden ist (vgl. Dähnert PDW 1781, I). Dähnerts Wörterbuch soll eine Hilfestellung für das Verständnis alter Urkunden und Texte geben und die Erschließung historischer Quellen erleichtern (ebd., If.). Außerdem soll das Wörterbuch das Verständnis des Niederdeutschen ermöglichen, das er als „häusliche Sprache der Vornehmen, als die verständlichste in Handthierungen und Gewerben, und als die geläufigste des gemeinen Mannes“ (ebd.) schichtspezifisch definiert. Adressaten seines Werkes sind insbesondere bürgerliche Kaufleute, die niederdeutsche Sprachkenntnisse benötigen. Das Niederdeutsche dient nach Dähnert als Kommunikationsmittel der privaten Kommunikation der Oberschichten und als Umgangssprache der unteren Schichten und wird von der Sprache der sozial höheren 264 In der zweiten Auflage seines Wörterbuchs werden die veralteten Wörter (insbesondere der Bibelübersetzung Luthers) mit einem Zusatz versehen (*), ebenso wie die „niedrigen“ Wörter (mit + gekennzeichnet).

346

4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

Schichten abgegrenzt (vgl. ebd., II). In der Vorrede wird darüber hinaus zweierlei deutlich: Erstens werden nicht alle mundartlichen Wörter per se als sozialschichtig markierte Ausdrücke verworfen. Zweitens soll sein Wörterbuch durchaus auch sozialschichtige Varianten der niederen Schichten enthalten: Die unter dem gemeinen Mann, auch dem schlechtesten Pöbel gebräuchliche Ausdrücke, Formeln und Sprichwörter habe ich nicht aus der Acht lassen mögen. Sie müssen aus einem Buche dieser Art, wenn es einige Vollständigkeit haben soll, um des Wolstandes willen nicht wegbleiben. Können aber zärtliche Ohren es im gemeinen Leben nicht hindern, sie zu hören; so haben hier dergleichen Augen doch die Freyheit, darüber wegzusehen. (ebd., IV)

Unter dem Lemma ›A‹ findet sich seiner Ankündigung gemäß beispielsweise folgender Wörterbucheintrag: „Aas-Side. f. Eigentlich die innere Seite von Leder, die auf dem Fleisch gesessen. Beym Pöbel höret man: Stöt em in de Aas-side. Versetze ihm einen Stoß.“ (ebd., 2) Friedrich Karl Fulda hat in der Vorrede zu seinem „Versuch einer allgemeinen teutschen Idiotikensammlung“ (Fulda VIS 1788) ebenfalls auf den Unterschied zwischen Dialekt und Soziolekt hingewiesen: „Provinzial zu seyn, hört als ein Vorwurf endlich auf, und erhält sein Recht wieder, nicht mit dem Pöbelhaften für einerlei zu gelten.“ (ebd., A3) Seine Bestimmung des Hochdeutschen gleich zu Beginn der Vorrede kann nur in dem Sinne gewertet werden, dass er unter Hochdeutsch sowohl die überregional verbreitete Schriftsprache als auch die Sprache der Bildungseliten und Oberschichten versteht (ebd., A2r). Seine Idiotismensammlung dient, wie er ausführlich begründet, der lexikalischen Bereicherung des Hochdeutschen, so verweist er implizit auf Adelung, der in der Vorrede seines Wörterbuchs die lexikalische Armut des Hochdeutschen konstatiert und eine Wortschatzerweiterung durch das Oberdeutsche vorgeschlagen hat. Die zu konstituierende Leitvarietät solle durch die Berücksichtigung verschiedener Varietäten ihren Funktionen als Kultursprache gerecht werden, wobei Fulda auf die Aufnahme von veralteten Wörtern und mundartlichen Varianten abzielt: Die Archivare öffnen die Gewölber, und wekken verdienstvolle Wörter der Vorwelt wieder auf. Die Lieblingsdichter der Nation erheben viele aus dem Staub, worinn sie unverschuldeterweise bisher gekrochen waren. [...] Damit öffnen sich der hochteutschen Sprache reiche Quellen, woraus sie täglich und ins Unendliche hinein schöpfen kann, wie es dem öffentlichen Sprachgebrauche nach und nach belieben wird. (ebd., A2/A4)

Für die Aufnahme in sein Idiotikon sind zwei Kriterien maßgeblich. Erstens muss der entsprechende Ausdruck „der hochteutschen Sprache angemessen seyn“ (ebd., A4). Unter dieser Angemessenheit versteht Fulda

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

347

keine schichtspezifische Klausel. Er will ausdrücklich auch lexikalische Ausdrücke niederer Sprachschichten in seinem Wörterbuch verzeichnen. Als Aufnahmekriterien für die Wörter nennt er die Eigenschaften „edel“, „gewichtig“, eine „richtige“, „schöne“ Bedeutung sowie eine Nützlichkeit für die Öffentlichkeit (ebd.). Somit entscheidet nicht allein die schichtspezifische Zugehörigkeit eines Ausdrucks zum Wortschatz einer bestimmten sozialen Gruppe über seine Aufnahme oder seinen Ausschluss aus dem Wortschatz, sondern maßgeblich sind vielmehr pragmatische Kriterien. Wenn ein Ausdruck Bezeichnungslücken schließt bzw. etwas Wichtiges bezeichnet, das im öffentlichen Leben von Bedeutung ist, kann er in den Wortschatz des Hochdeutschen aufgenommen werden. Notwendig sei lediglich, seine Schreibung dem jeweiligen Dialekt anzugleichen. Auf keinen Fall solle die Schreibung der landschaftlichen Varianten der hochdeutschen Orthographie angepasst werden. Das zweite Kriterium, auf das Fulda verweist, bezieht sich auf die Vermeidung von Fremdwörtern. Er vertritt somit eine sehr tolerante Haltung gegenüber niederen Sprachschichten und gleichzeitig eine – wenn auch nicht sehr ausgeprägte – sprachpuristische Grundhaltung gegenüber nichtindigenen lexikalischen Ausdrücken. Die Tabelle zeigt die sprachsoziologischen Bestimmungen des Hochdeutschen in den berücksichtigten Wörterbüchern und Mundartwörterbüchern auf:

Quelle Kramer TID 1700

Thematisierung des Hochdeutschen bzw. der Leitvarietät Kramer spricht von der „allerreichesten / allerzierlichesten / und allerprächtigsten hochteutschen Grund-Sprache“ (ebd., A3v) und der „hoch-teutschen Derivation“ (ebd., Br) bzw. der „hochteutschen ReichsSprache“.

Sprachsoziologische Bestimmung des Hochdeutschen / der Leitvarietät Kramer beabsichtigt die Aufnahme von Ausdrücken aller Gebrauchsdimensionen bzw. Sprachschichten, allerdings mit stilistischen Markierungen.

Aussagen über schichtspezifischen Sprachgebrauch Kramer koppelt in der Vorrede die Verwendung anstößiger sprachlicher Zeichen von anstößigen Handlungen ab und schließt die entsprechenden Ausdrücke nicht von vornherein als ‚pöbelhaft‘ aus seinem Wörterbuch aus.

348

Quelle

4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

Thematisierung des Hochdeutschen bzw. der Leitvarietät

Sprachsoziologische Bestimmung des Hochdeutschen / der Leitvarietät

Aussagen über schichtspezifischen Sprachgebrauch

Kramer In der Vorrede wird Wenngleich er keine NHD 1719 das Hochdeutsche weiteren Angaben kurz thematisiert. zum schichtspezifischen Sprachgebrauch macht, so lässt sich doch folgern, dass er unter Hochdeutsch eine überregionale Sprache der oberen sozialen Schichten versteht.

Während die Wortschatzeinheiten, die bei den Oberschichten im Gebrauch sind, aufgenommen werden, verzichtet er auf eine Auflistung von Fachwörtern, von Wörtern, die ausschließlich in poetischen und lyrischen Texten verwendet werden, von Eigennamen, verdeutschten Fremdwörtern und solchen Ausdrücken, die zu stark stilistisch markiert sind.

Steinbach Steinbach verwenVDW 1734 det in der Vorrede seines Wörterbuchs die Bezeichnung „Muttersprache“ (ebd., **2), die er abgrenzt von „mancherley Aussprache der verschiedenen Völker in Deutschland“ (ebd.).

Steinbach beabsichtigt, landschaftliche, nichtschriftsprachliche und veraltete Wörter aufzunehmen, diese werden nicht per se als Wortschatzelemente aus dem Hochdeutschen ausgegrenzt.

Das ausgefeilte System an diakritischen Zeichen, das Steinbach in der „Praefatio“ präsentiert, legt nahe, dass er eine Dokumentation verschiedener Varietäten anstrebt.

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

Quelle

Thematisierung des Hochdeutschen bzw. der Leitvarietät

Frisch In dem Vorbericht TLW 1741 seines „TeutschLateinische[n] Wörterbuch[es]“, das auf die Erfassung von Wortschatzbereichen verschiedener Fachsprachen und die semantische Erläuterung sowie die Darstellung der Etymologie veralteter und mundartlicher Wörter zielt, wird das Hochdeutsche kurz thematisiert und als gehobene Umgangs- und Schriftsprache definiert (ebd., 2).

Sprachsoziologische Bestimmung des Hochdeutschen / der Leitvarietät

349

Aussagen über schichtspezifischen Sprachgebrauch

Explizit wird das Hochdeutsche in medialer Hinsicht als die in ganz Deutschland im Gebrauch befindliche Schriftsprache definiert und von der „Pöbelsprache“ (ebd., 2) abgegrenzt.

Lexikalische Ausdrücke niederer Sprachschichten werden vom bürgerlichen Sprachgebrauch ausgeschlossen.

Dähnert Das Hochdeutsche Hochdeutsch wird PDW 1781 wird in der Vorrede bestimmt als überrekurz charakterisiert. gionales Kommunikationsmedium der bürgerlichen Öffentlichkeit.

Lexikalische Ausdrücke niederer Sprachschichten werden vom bürgerlichen Sprachgebrauch ausgeschlossen.

Adelung GKW/1 1774

Während Wörter, die der „niedrigen Sprechart“ zugerechnet werden, Eingang in sein Wörterbuch finden (mit einer stilistischen Markierung versehen), schließt Adelung „ganz pöbelhafte“ (ebd., XIV) Wörter aus seinem Wörterbuch aus. Sie zählen nicht zur Leitvarietät.

In der Vorrede zu seinem Wörterbuch definiert Adelung sehr ausführlich, was er unter Hochdeutsch versteht (vgl. zur Konzeption seines Wörterbuchs die Ausführungen zum sprachgeographischen Diskursbereich).

Hochdeutsch sei „die Hoffsprache der Gelehrsamkeit“ (ebd., VI), dies kann bildungssoziologisch die Bildungseliten meinen, aber auch in medialer bzw. stilistischer Hinsicht Texte aus den wissenschaftlichen Disziplinen.

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

Quelle Fulda VIS 1788

Sprachsoziologische Bestimmung des Hochdeutschen / der Leitvarietät

Aussagen über schichtspezifischen Sprachgebrauch

Hochdeutsch wird bestimmt als überregional gültige, polyfunktionale Schriftsprache sowie als ‚Prestigesoziolekt‘ der Bildungseliten und Oberschichten.

Fulda verteidigt die Aufnahme von Wörtern aus niederen Sprachschichten (vgl. ebd., 50ff.)

Thematisierung des Hochdeutschen bzw. der Leitvarietät

4.2.3 Grammatiken, Orthographielehren und übersetzungstheoretische Schriften Wie die Analyse des sprachgeographischen Diskursbereichs gezeigt hat, ist insbesondere in den Grammatiken und Orthographielehren eine sprachgeographische Bestimmung der Leitvarietät zu beobachten. In den untersuchten Texten lässt sich bis in die 1760er Jahre von einer Zweiteilung der Hochdeutsch-Konzeptionen sprechen. Auf der einen Seite erklären die Vertreter eines anomalistischen Sprachkonzepts das Obersächsische als Leitvarietät, wobei diese entweder selbst aus dieser Region stammen oder im norddeutschen Raum beheimatet sind. Auf der anderen Seite betonen die Autoren des süddeutschen Raumes häufig das analogistische Normprinzip, das eine Normierung der Sprache aufgrund der Herleitung von Regeln aus einem der Sprache inhärenten Wesen vorsieht. Somit kann zumindest bis zur katholischen Aufklärung von einer konfessionell (mit)bedingten Konzeption einer Leitvarietät gesprochen werden. Während sich hier ein deutliches argumentatives „Nord-Süd-Gefälle“ abzeichnet, gilt dies nicht für die Beschreibung und Bewertung schichtspezifischen Sprachgebrauchs, die bei den Sprachkundlern aller Regionen im gesamten Untersuchungszeitraum relativ einheitlich ausfällt. Als Vorbild für das Hochdeutsche wird nur der Sprachgebrauch der Bildungseliten und der oberen Schichten anerkannt, während der Sprachgebrauch der niederen Schichten entweder als anstößig gilt, da er vulgär und/oder dialektnah bzw. den oberen Sprachschichten unangemessen ist und/oder gegen lexikalische, stilistische und grammatische Normen verstößt. Die Sprachkundler teilen das Ideal einer überregional verständlichen Sprache, deshalb wird in zahlreichen Texten das Provinzielle im Sinne von landschaftlichen Varianten im Wortschatz und der Grammatik verurteilt. So schreibt beispielsweise der katholische Autor Heinrich Braun: Ein Dialekt, oder eine Mundart besteht im eigentlichen Verstande nur in der Verschiedenheit der Aussprache, oder auch in der Verschiedenheit der Abänderun-

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

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gen. Die verschiedenen Mundarten sind also eine Unvollkommenheit der Sprachen: weil sie die gänzliche Gleichförmigkeit, und das allgemeine Verständnis verhindern. Man kennet einen Bayer, einen Schwaben, einen Schweizer, einen Niedersachsen ec. aus seiner Mundart: alle diese reden deutsch: und wenn ein Jeder seine Mundart genau beibehält, wie es bey dem Pöbel geschieht, so verstehen sie sich selbst kaum untereinander: sie kommen doch in der Hauptsache zusammen: denn in allen diesen Ländern giebt es eine Mundart, welche wir die Hochdeutsche zu nennen pflegen: diese wird von klugen und über den Pöbel erhabenen Leuten geredet: in dieser werden die meisten Bücher geschrieben: diese versteht man in allen Ländern Deutschlands: von dieser weichet Niemand ab, den nicht entweder die Unwissenheit oder die Eigenliebe gegen der von Jugend auf angewöhnten fehlerhaften Aussprache verleitet. (Braun ADS 1765, 7)

Trotz aller Differenzen in Detailfragen verortet sich die Mehrheit der Sprachkundler in die kultur- und sprachpatriotische Bewegung des 18. Jahrhunderts, deren Ziel die Sprachnormierung und -kultivierung ist. Das Hochdeutsche soll – durch entsprechende Normierung und Kodifizierung – den europäischen Kultursprachen als gleichwertig an die Seite gestellt werden. Der aus Niederbayern stammende Johann Balthasar von Antesperg (1682-1765), einer der ersten österreichischen Grammatiker, setzt in seiner „Kayserliche[n] Deutsche[n] Grammatik“ die Verwendung der Leitvarietät in allen Kommunikationssituationen, auch von allen Ständen, geradezu mit Patriotismus gleich: Und dahero einjeder Deutscher, der sein Vaterland aufrecht liebet, sich in allen Ständen derselben vor andern billig recht befleissigen und sie nicht vernachläßigen sollte […] Die Gewißheit der Sprache ist das Merkmahl eines klugen Volkes. Eine Zierde des Hofes. Ein tüchtiges Werkzeug, ja ein unerschöpflicher Nuzen in allen Geschäften, Künsten und Wissenschaften; und die Ungewißheit derselben ist das Widerspiel. (Antesperg KDG 1747, VII)

In der Grammatik von Johann Daniel Longolius (1677-1740) finden sich einige Anweisungen für den „guten Teutschen Redner“ (Longolius EtS 1715, 105f.). Grundlegend für seine Konzeption der Leitvarietät ist die Einsicht in die Unabänderlichkeit sprachlichen Wandels (ebd.). Longolius’ vermittelnder Rat an den Redner lautet deshalb, einen Mittelweg zwischen dem Festhalten an Bewährtem und der Vernachlässigung des Tradierten einzuschlagen.265 Diese Vorgabe kommt auch in den zahlreichen Vorschriften seiner Arbeit zum Ausdruck, die das soziale wie sprachliche Verhalten des Sprechers normieren. Als Leitvarietät für den „galanten Redner“ gilt die „hochdeutsche Mundart“, die regional zunächst als das 265 Die antike rhetorische Kategorie ‚aptum‘ als Lehre von der situativen Angemessenheit, die der Redner beachten muss, ist für die zeitgenössischen Rhetoriken typisch. Sie verweist bereits auf die aufklärerische Konzeption einer Rhetorik, die auf die vernunftmäßige und zielorientierte Ausübung stilistischer Regeln zielt.

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

Meißnisch-Obersächsische bestimmt wird. Das Hochdeutsche wird zweitens als die Sprache der oberen Schichten bzw. der „klugen Leute“ im Gegensatz zum „gemeinen Manne“ definiert (ebd., 105f.). Longolius trennt allerdings scharf zwischen der vorbildlichen Sprachschicht der gebildeten oberen Schichten Obersachsens und der künstlichen, mit Latein vermischten Sprache der katholischen Gebildeten und Geistlichen, die als „kauderwelsch Teutsch“ abgewertet wird. Insbesondere gelten diejenigen Sprecher der gehobenen Schichten als vorbildlich, die allzu deutliche Dialektmerkmale vermeiden (vgl. ebd., 512 → Hochdeutsch2). An dieser Stelle ist deshalb die Kategorie der ‚Reinheit‘ maßgeblich: Der Gebrauch von Fremdwörtern, Archaismen, landschaftlichen Varianten und Grobianismen sei unbedingt zu vermeiden (ebd., 105), notwendige Neologismen bleiben aber legitim (ebd., 495). Diese restriktive Haltung ist insofern aufklärerisch progressiv, als eine Vereinheitlichung der Sprache eine klare Normsetzung erfordert. Das Ziel der allgemeinen, überregionalen Verständlichkeit hat zunächst zwangsläufig die Selektion dialektaler und soziolektaler Varianten zur Folge. Die somit mehrfach bestimmte hochdeutsche Leitvarietät kann nur durch die Anleitung der Sprachkundler und durch stetige Übung gelernt werden (ebd., 495) und entspricht damit dem Schottel’schen Verständnis des Deutschen als einer kunstgemäßen Sprache. Die bedeutendste Grammatik der Jahrhundertmitte ist von Johann Christoph Gottsched vorgelegt worden, der eine klare Differenzierung der Soziolekte vornimmt. Das Hochdeutsche könne mit keiner Mundart gleichgesetzt werden und sei doch in allen Gebieten Deutschlands bereits verbreitet – und zwar in Form des Sprachgebrauchs der Gelehrten, der besten Schriftsteller und der Höfe (ebd., 38). Während er mit dem Verweis auf den Sprachgebrauch der Bildungseliten eine konsensuale Bestimmung der Leitvarietät vornimmt, verwundert seine mehrfach wiederholte Vorbildlichkeit der Höfe. Gleichzeitig mit der Anlehnung an die Oberschichten erfolgt in der Einleitung seiner Grammatik die Abwertung der Sprache der unteren Schichten, die grammatisch inkorrekt und unstetig sei: Dieses ist um desto gewisser: da alle Sprache unter eine Menge eines rohen Volkes zuerst entstanden; oft durch Vermischung fremder Sprachen verwirret, und durch allerley einschleichende Misbräuche, noch mehr verderbet worden. Sobald sich nun Gelehrte finden, die auch auf die Schreibart einigen Fleiß wenden; so fängt man an, die Sprachähnlichkeit besser zu beobachten, als der Pöbel zu thun pflegt: und die Sprache ver‹4›liert also etwas von ihrer Rauhigkeit. Je mehr fleißige und sorgfältige Schriftsteller sich nun finden, desto richtiger wird die Sprache: und daher entsteht die Pflicht, sich auch nach dem Gebrauch der besten Schriftsteller zu richten. (ebd., 39)

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

353

Diesem Verständnis von Sprachnormierung nach entsteht die Leitvarietät ganz wesentlich durch die Verbesserung durch die Schriftsteller. Nur in den Fällen, in denen der Gebrauch schwankt, solle der Grammatiker auf das Normierungsprinzip der Analogie zurückgreifen. Da Gottsched den tatsächlichen Sprachgebrauch der genannten Gruppen – zumindest im ostmitteldeutschen Raum – als Leitvarietät ausweist, zielt seine Grammatik darauf ab, den von ihm festgestellten Sprachgebrauch zu erhalten, da er seiner Ansicht nach ein absolutes Maß an Vollkommenheit erreicht habe (ebd., 55). Johann Christoph Adelung setzt in medialer Hinsicht in seinem „Umständliche[n] Lehrgebäude der Deutschen Sprache“ das Hochdeutsche mit der Schriftsprache gleich (vgl. Adelung UL/1 1782, 113). Die von ihm ebenfalls vertretene Identifizierung des Hochdeutschen mit dem gesprochenen Obersächsischen der oberen Klassen widerspricht dieser Annahme seiner Ansicht nach nicht, da er den Schriftgebrauch mit dem Sprachgebrauch gleichsetzt (ebd., 104f.). Das Hochdeutsche ist nach Adelung eine über den Dialekten angesiedelte, überregionale Sprache (ebd., 106f.). Der Schriftsteller müsse, um als Norminstanz anerkannt zu werden, drei Kriterien erfüllen, die ihn als „klassischen Schriftsteller“ ausweisen: Er müsse über eine ausreichende Sachkenntnis verfügen, sowie zweitens über eine fundierte Kenntnis seiner Muttersprache. Die dritte Eigenschaft ist der „gute Geschmack“ (ebd., 107f.). Dieses eher stilistisch-ästhetische Kriterium meint, dass er zwischen normgemäßen und nicht regelgemäßen Ausdrücken unterscheiden können muss. Als nicht normgerecht werden Ausdrücke der niederen Sprachschichten bestimmt. In seiner ausführlichen Beschreibung der Entstehung des Hochdeutschen in seiner Grammatik erläutert Adelung ausführlich seine sprachtheoretischen Grundlagen, die in Kapitel 3.4.4.1 thematisiert und deshalb an dieser Stelle nur zusammenfassend resümiert werden. Die sprachliche Entwicklung ist für Adelung untrennbar mit der kulturellen Entwicklung verbunden. Seinem Fortschrittsdenken gemäß kann nur auf der Basis einer hoch entwickelten und ausdifferenzierten Gesellschaft eine ausgebildete Sprache, d. h. eine polyfunktionale Kultursprache, entstehen (vgl. ebd., 82ff.). Da der Fortschritt der Wissenschaften, der Ökonomie und der Kultur aber schichtspezifisch beschränkt ist, entwickelt sich nur die Sprache der Oberschichten weiter (ebd., 85). Nur die Sprache der Oberschichten kann deshalb als Leitvarietät für die gesamte Gesellschaft angesetzt werden. Wenngleich die Sprachkundler sich selbst als normsetzende Instanz verstehen, finden sich auch Forderungen nach einer Grammatikschreibung, die den tatsächlichen Sprachgebrauch berücksichtigt und gegebe-

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

nenfalls aufgestellte Normen dem Sprachwandel angleicht. So heißt es bei Heynatz: Ein Sprachlehrer ist nicht berufen, eine neue Sprache zu schaffen. Seine Pflicht ist, auf den Gebrauch guter Schriftsteller sorgfältig zu merken, ihn mit der Analogie andrer Sprachen und den daraus abstrahirten Regeln der allgemeinen Sprachlehre zu vergleichen, wo dieser Gebrauch verschieden ist, für eine Partei den Ausspruch zu thun, und endlich wo sein Warnen nichts hilft, nachzugeben. (Heynatz BDS/1 1771, 37)

Die textanalytischen Befunde werden in der nachstehenden Tabelle zusammengeführt: Übersicht: Leitvarietät und Schicht in Grammatiken, Orthographielehren und übersetzungstheoretischen Schriften Quelle Longolius EtS 1715

Thematisierung der Sprachsoziologische Bestimmung des Hochdeutschen Leitvarietät +

Hochdeutsch wird bestimmt als Sprache der Oberschichten und der Bildungseliten.

+

Ablehnung einer anomalistisch begründeten Leitvarietät, deshalb wird der Sprachgebrauch der Autoritäten nicht als Leitvarietät anerkannt.

Freyer ATO 1722

+

Hochdeutsch ist eine durch die ‚Gelehrten‘ ausgebildete Sprache (→ Hochdeutsch1/2/7).

von Antesperg KDG 1747

+

Schichtspezifisch ist das Hochdeutsche definiert als die Sprache der Gelehrten (ebd., X).

+

Aichinger hebt in der Vorrede hervor, dass die Sprachkundler in Österreich und Bayern eine Verbreitung der „reinen deutschen Sprache“ geleistet haben (Aichinger VTS 1754, XX-XXII). Das bedeutet, dass die verbreitete hochdeutsche Leitvarietät im Wesentlichen durch Teile der Bildungseliten vermittelt ist.

+

Dornblüths schichtspezifische Leitvarietät lässt sich nur implizit erschließen. Sein Übersetzungsideal lautet: „[…] so mus eine gute Übersetzung so gestellt seyn, daß sie von jedem gemeinen Menschen ohne Anstand und ohne Not sich darüber zu bedencken, köne verstanden werden, und doch dem Gelehrten keinen Eckel verursache.“ (Dornblüth Obs 1755, 92f.) Während er also eine allgemein verständliche Übersetzung anstrebt, werden die Gebildeten zur Entscheidungsinstanz über die Qualität der Übersetzung.

Töllner DUO 1718

Aichinger VTS 1754

Dornblüth Obs 1755

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

355

Thematisierung der Sprachsoziologische Bestimmung des Hochdeutschen Leitvarietät

Quelle Gottsched DS 1762

+

Hochdeutsch wird definiert als Sprache der oberen Schichten und als Sprache der Höfe (ebd., 2f.), außerdem wird es mit der Schriftsprache gleichgesetzt. Das schichtenspezifische Vorbild der „Höfe“, das in der „Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst“ wiederholt auftritt (vgl. auch ebd., 3), ist allerdings eher als ein Zeichen für das Umwerben des eigenen Fürstenhauses zu bewerten, denn als Beschreibung der sprachlichen Wirklichkeit seiner Zeit. Der Sprachgebrauch der „Ungelehrten“ und des „Pöbels“ (ebd., 3) gilt als negative Kontrastfolie. Die Abwertung dieser Sprechergruppen zieht sich wie ein roter Faden durch seine Grammatik.

Braun ADS 1765

+

Das Hochdeutsche solle durch einen Vergleich der besten Schriften ermittelt werden, die durch die „Gelehrten“ bestimmt werden (ebd., 6). Außerdem ist das Hochdeutsche definiert als bildungsbürgerliche Sprachschicht (ebd., 7), deutliche Abgrenzung von der Sprache des ‚Pöbels‘ aufgrund dessen Dialektnähe.

Hemmer DSL 1775

+

Hochdeutsch wird definiert als „Mundart der Gelehrten“ (ebd., 7ff.), die aufgrund ihrer besonderen Einsicht in das Sprachwesen des Hochdeutschen allein als normsetzende Instanz anerkannt werden.

Stutz DSL 1790

+

Hochdeutsch wird bestimmt als die Sprache der oberen Schichten, der Schriftsteller und der Höfe (ebd., 9).

4.2.4 Sprachreflexive Schriften mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten Die diskurssemantische Grundfigur ›Stigmasoziolekt vs. Prestigesoziolekt‹ ist nicht nur konstitutiv für die Mehrheit der Grammatiken, Wörterbücher, Rhetoriken und Stillehren, sondern begegnet in vielen anderen sprachreflexiven Schriften. In der nachfolgenden Darstellung wird eine Auswahl sprachreflexiver Schriften mit unterschiedlicher thematischer Schwerpunktsetzung unter dem Gesichtspunkt untersucht, welcher Soziolekt als Leitvarietät charakterisiert wird und wie die anderen gruppen- bzw. schichtspezifischen Varietäten jeweils beurteilt werden.

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

4.2.4.1 Hochdeutsch als überkonfessionelle Leitvarietät Die Schrift des protestantischen Theologen Georg Litzel (vgl. Litzel UC 1730) dient dem vorrangigen Ziel, die Überlegenheit des Obersächsischen als „protestantischer“ Varietät gegenüber dem Oberdeutschen als „katholischer“ Varietät zu belegen. Wenngleich Litzel nicht die Bezeichnung Hochdeutsch verwendet, sondern von Muttersprache bzw. deutscher Sprache spricht, ist die in allen Gebieten Deutschlands zu etablierende Leitvarietät doch der zentrale Gegenstand seiner Darstellung. Während das Lob des ‚protestantischen Deutsch‘ sich wie ein roter Faden durch seine Darstellung zieht, sind Aussagen zum schichtspezifischen Sprachgebrauch nur vereinzelt zu finden. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: Bei Litzel findet sich eine schichtspezifische Konzeption der Leitvarietät. Er differenziert zwischen dem Sprachgebrauch des Adels, genauer des Fürsten und des Staatsmannes, und dem Sprachgebrauch der niederen Schichten, in seiner Terminologie des „gemeinen Mannes“ und „des Bauern“ (vgl. ebd., 80f.). Die Sprache der unteren Schichten wird als eine im Vergleich zur Sprache der Oberschichten „verderbtere“ und vulgäre Sprache charakterisiert (→ Pöbel2, Bauer2). Die von Litzel präferierte soziale Varietät ist somit die Sprache der Oberschichten inklusive des Adels. Diese partikulare Varietät erhebt Litzel zu einer alle Schichten übergreifenden universalen Leitvarietät: „Endlich hat ein jeder Deutscher, wes Standes er immer seyn mag, sich der Reinlichkeit seiner Sprache zu befleissen, und ist verpflichtet, das seine bey zu tragen, was zur allgemeinen Aufnahme derselben dienen mag.“ (ebd., 91) Die Kategorie der ‚Reinheit‘, die in den einzelnen sprachreflexiven Schriften sehr unterschiedlich konkretisiert wird, kann interpretiert werden als Forderung, als „pöbelhaft“ markierte Wortschatzbereiche in der Sprachverwendung zu vermeiden. Ebenso kann „Reinheit“ als grammatische Norm gelesen werden, zum Beispiel als Forderung nach regelgemäßen grammatischen Formen. Die „Gelehrten“ werden als eigene soziale Gruppe thematisiert und ihrerseits wiederum subklassifiziert in Theologen, Juristen, Mediziner und Philosophen. Wichtiger ist aber die Subdifferenzierung der „Gelehrten“ in die Gruppe der am Latein orientierten Gelehrten und solchen, die sich der Normierung und Kodifizierung der Muttersprache widmen. Litzel befürwortet die Funktion des Lateins als eine universale Gelehrtensprache und lobt ausdrücklich das Studium der Bildungssprachen. Er verurteilt aber, dass das Deutsche in den Wissenschaften und Schulen nur eine marginale Rolle spiele im Gegensatz zum Latein als ‚lingua franca‘ (ebd., 82f.). Somit zielt seine Kritik insbesondere auf die katholischen Bildungseliten und das kirchlich kontrollierte Bildungswesen in den katholischen Territorien.

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

357

Die Verwendung der Muttersprache begründet er allgemein mit besonderen, nicht näher spezifizierten Vorteilen des Deutschen gegenüber den Fremdsprachen sowie mit der besonderen Sprachkompetenz der Muttersprachler im Gegensatz zur mangelhaften Kenntnis der erlernten Sprachen. Ausdrücklich gelobt wird die zeichentheoretische Leistungsfähigkeit des Deutschen sowie die Möglichkeit, Gegenstände und Sachverhalte anderen Kommunikationsteilnehmern verständlich auszudrücken (ebd., 82f.). Eine fundierte Kenntnis des Deutschen im Sinne der zu konstituierenden Leitvarietät sowie entsprechende rhetorische Fähigkeiten und schriftsprachliche Kompetenzen sind nach Litzel eine unabdingliche Berufsqualifikation für die Bildungseliten (ebd., 84). Wenngleich die katholischen Sprachkundler Süddeutschlands bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts vehement die Bestimmung des Hochdeutschen als das Obersächsische ablehnen, so teilen sie doch mit den nord- und mitteldeutschen Autoren eine schichtenspezifische Definition des Hochdeutschen. So ist die in dem einzigen süddeutschen sprachreflexiven Periodikon des frühen 18. Jahrhunderts, dem „Parnassus Boicus“, vertretene Konzeption einer Leitvarietät eindeutig schichtspezifisch determiniert. Hochdeutsch wird bestimmt als die „Sprache der Gelehrten“ (vgl. [Hieber] PB 1723-25, 207, 297), gleichzeitig wird die Sprache der niederen Schichten, die als „pöbel-flüchtiges Teutsch“ (ebd., 206) bezeichnet wird, zum Stigmasoziolekt. Die Bestimmung des Hochdeutschen als Sprache der Oberschichten und als Sprache der Bildungseliten aller Regionen Deutschlands zeigt, dass es sich um eine überkonfessionelle Leitvarietät handelt (vgl. [Hieber] PB 1723-25, 297, 386f.). 4.2.4.2 Hochdeutsch als Sprache der oberen Schichten Obersachsens In seinen sprachgeschichtlichen Ausführungen zur Entstehung des Hochdeutschen im „Magazin für die deutsche Sprache“ bestimmt Adelung die Leitvarietät schichtenspezifisch als Sprache der „oberen Klassen“ (vgl. Adelung 1MDS/I 1782, 18). Nur diese soziale Schicht hat seiner Ansicht nach das für eine Vorbildfunktion erforderliche Niveau der kulturellen Entwicklung erreicht: Am reinsten und besten wird sie, im Ganzen genommen, in den obern Classen geschrieben und gesprochen, weil der Geschmack hier gemeiniglich am reinsten und richtigsten zu seyn pfleget. Die Hochdeutsche Mundart darf daher, so wenig als eine andere Mundart und Sprache, nach einzelnen Personen beurtheilet werden, sondern nach dem, was in den obern Classen das üblichste und allgemeinste ist. (ebd., 28)

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

Die klare schichtenspezifische Bestimmung des Hochdeutschen ist für Adelung notwendig, da er eine anomalistische Position vertritt. Er setzt den Sprachgebrauch als normstiftend an und vertritt gleichzeitig die These von der Vulgarität der Sprache der niederen Schichten. Diese Annahme führt beispielsweise zum Ausschluss als „pöbelhaft“ erachteter Ausdrücke aus seinem Wörterbuch, während niedere Sprachschichten nur mit einer stilistischen Markierung versehen Eingang in sein Wörterbuch finden. Fünf Stilarten sind nach Adelung zu unterscheiden (vgl. Adelung GKW/1 1774, XIV): ‚höhere oder erhabene Schreibart‘ ‚edle Schreibart‘

Diese beiden obersten Stufen des Sprachgebrauchs werden repräsentiert durch die vorbildliche hochdeutsche Schriftsprache.

‚Sprechart des gemeinen Lebens und des vertraulichen Umganges‘

‚Prestigesoziolekt‘ im Sinne von ‚gehobene Umgangssprache‘ der Oberschichten und Bildungseliten, die in der privaten face-toface-Kommunikation angemessen ist.

‚niedrige Sprechart‘

Sprachgebrauch der niederen Schichten, der in der Literatur oder im Theater nachgeahmt werden dürfe.

‚ganz pöbelhafte Sprechart‘

Dieser Sprachgebrauch der niederen Schichten wird völlig aus dem Forschungsbereich der Sprachwissenschaft ausgeschlossen.

Wegen der behaupteten Vorbildlichkeit der oberen Schichten Obersachsens hat Adelung von zahlreichen Sprachkundlern Kritik geerntet, so etwa von Wieland und Campe. Nicht zuletzt beklagen seine Gegner im Sprachnormierungsdiskurs die mangelnde begriffliche Präzision Adelungs, die keine klare Grenzziehung zwischen den einzelnen Begriffen wie ‚Schriftsprache‘, ‚Hochdeutsch‘ und ‚Gesellschaftssprache‘ ermögliche, ebenso wie die unterschiedlichen Sprachschichten schwer voneinander abzugrenzen seien (vgl. u. a. Wieland WH1 1782, 196). Wieland gesteht den Textproduzenten im Gegensatz zu Adelung mehr Entscheidungskompetenzen bei der Sprachverwendung zu. So entscheidet der Textproduzent jeweils in Bezug auf die spezifische Kommunikationsdomäne über die Verwendung bestimmter Varianten. Damit legitimiert er insbesondere die Verwendung von landschaftlichen Varianten und veralteten Ausdrücken in der Literatur (ebd., 212). Gleichzeitig fordert er mehr Spielraum in Bezug auf die Verwendung der bei Adelung als „unedel“ und „niedrig“ markierten Varianten (ebd., 27). Wieland teilt mit Adelung aber

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

359

das Ideal einer hoch entwickelten Schriftsprache, deren Repräsentanten ausgewählte Schriftsteller sind. Krause, der in einer Stellungnahme im „Deutschen Museum“ auf Adelungs Konzeption des Hochdeutschen Bezug nimmt (vgl. Krause DM/III 1783), verweist zu Recht auf den Kontrast zwischen der Schriftsprache bzw. der schriftsprachlichen Lautung und dem gesprochenen Obersächsischen der „oberen Klassen“ (vgl. ebd., 206). Der von Adelung vertretene ‚Prestigesoziolekt‘ wird hinsichtlich seines Geltungsanspruchs hinterfragt, wobei der Autor die Oberschichten Obersachsens durch eine überaus polemische sprachkritische Äußerung als potenzielle Normrepräsentanten disqualifiziert. So spreche der Adel entweder Französisch oder eine „jämmerliche Sprachenmengerei“ (ebd., 210), aber keinesfalls ein vorbildliches Deutsch, ebenso wie das gewerbetreibende Bürgertum entweder Französisch oder „ein französisches deutsch“ (ebd., 211) spreche. Mit diesem Vorwurf werden die obersächsischen Oberschichten als Vorbilder eindeutig desavouiert. Krause bestimmt den Sprachgebrauch der Bildungseliten als ‚Prestigesoziolekt‘. Krause betont insbesondere, dass der Prozess der Herausbildung einer einheitssprachlichen Norm sich zunächst auf der schriftsprachlichen Ebene vollziehe, während ein Dialekt gar keine sprachstrukturelle Regelmäßigkeit (‚Einförmigkeit‘) aufweise (ebd.). Insofern hebt Krause wie Wieland die besondere Normierungsfunktion der Schriftsteller hervor, wobei er besonders auf die Philosophen verweist, da ihre Schriften in allen Wissenschaftsbereichen eine normative Wirkung entfaltet hätten. 4.2.4.3 Hochdeutsch als Sprache der Schriftsteller Wenngleich die Bestimmung des Hochdeutschen als Schrift- oder Büchersprache zweifellos den medialen Aspekt der Schriftlichkeit im Gegensatz zur Mündlichkeit betont, legt die oben angeführte Argumentation Krauses, die in ähnlicher Form beispielsweise bei Wieland und Campe auftritt, den Schluss nahe, dass die Schriftsteller als soziale Gruppe eine besondere Normierungsautorität darstellen. Krause beendet seine Ausführungen etwa mit der Frage „Was bleibt nun noch für die obern Klassen übrig, als der gelehrte Stand? Und da dieser, besonders jetzt, größtentheils auch Schriftstellerstand ist, so kommen wir immer darauf zurück, das besonders die Schriftsteller es sind, welche die Sprache bilden.“ (ebd., 211) Für Wieland, der die Frage nach der hochdeutschen Leitvarietät als eine der entscheidenden Fragen der deutschen Sprache und Literatur kennzeichnet (Wieland WH1 1782, 146), ist das von Adelung vertretene

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

bildungssoziologische bzw. allgemein schichtenspezifische Vorbild ebenfalls nicht zu halten. Die Leitvarietät, die für Wieland in erster Linie schriftsprachlich realisiert ist, könne nicht mit dem Sprachgebrauch der oberen Schichten einer kulturell dominierenden Region identifiziert werden, da dies der Beliebigkeit Tür und Tor öffne (ebd., 201). Ebenso wie Krause hinterfragt Wieland aber auch die Vorbildlichkeit der gesprochenen Sprache in Obersachsen, da hier kaum ein Sprecher Hochdeutsch beherrsche (ebd., 204). Wieland geht davon aus, dass allein den Schriftstellern – im engeren Sinne den Literaten – eine Normierungsautorität zustehe, womit er wie Adelung von einer kulturellen Leitfunktion der Schriftsteller ausgeht.266 Die Entwicklung einer Leitvarietät, die für Wieland zunächst auf der schriftsprachlichen Ebene erfolgt, erfordert eine stetige Verbesserung, eine Perfektionierung des sprachlichen Materials, diese können seiner Ansicht nach nur die Schriftsteller als Kulturelite leisten (ebd., 163). Dadurch, dass Wieland die schichtenspezifische Definition des Hochdeutschen in Bezug auf die normkonstituierenden Gruppen spezifiziert, gelingt es ihm, die bei Adelung vehement vertretene Gleichsetzung des Hochdeutschen mit dem Obersächsischen der Oberschichten in Zweifel zu ziehen. Für ihn ist das Hochdeutsche eine durch die Bildungseliten in allen Teilen Deutschlands realisierte Schriftsprache (ebd., 210). Ein anonymer Autor setzt sich in der „Berlinischen Monatsschrift“ ebenfalls mit der Frage der Vorbildfunktion der Schriftsteller auseinander (vgl. Anonymus ADS 1783, 580-595), wenngleich das dominierende Thema des Aufsatzes die Partizipialkonstruktionen in der Sprachlehre Adelungs darstellt. Der zentrale Vorwurf des Verfassers an Adelung lautet, dass dieser den aktuellen Sprachgebrauch kaum berücksichtige. Der anonyme Verfasser verweist insbesondere auf die älteren und neueren poetischen Schriften (ebd., 392). In der Fortsetzung seiner Abhandlung (ebd., 580-595) bespricht der Autor die Konzeption des Hochdeutschen bei Adelung und stellt sein eigenes Konzept einer Leitvarietät vor (ebd., 588ff.). Der Autor, der sich selbst als Obersachse bezeichnet, stimmt Adelung in allen Fragen der Herleitung und Festlegung des Hochdeutschen zu. Die einzige Einschränkung, die er vornimmt, bezieht sich auf die Lexik. Der (zumindest theoretisch formulierten) restriktiven Haltung Adelungs in Fragen des Wortschatzes kann sich der anonyme Verfasser nicht anschließen. Er fordert die Integration derjenigen Wörter, die 266 Der Begriff des Schriftstellers ist bei Wieland allerdings hochgradig polysem und umfasst „Schriftsteller von Genie, Talenten und Geschmak, […] Dichter, Redner, Geschichtschreiber, und populare Philosophen“ (ebd., 209).

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

361

Bezeichnungslücken schließen, sowie den Erhalt oder die Wiedereinführung von Ausdrücken, die ein Fremdwort ersetzen (ebd., 588). Zur Begründung führt er an, dass das Obersächsische, das sich nur zufällig durch die Ausbildung des ‚guten Geschmacks‘ der Oberschichten in besonderem Maße entwickelt habe, keinen Vorzug gegenüber einer anderen regionalen Varietät besitze. Gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass der Ausschluss von ‚unedlen‘ und grammatisch unrichtigen Ausdrücken ohne gleichzeitige Einführung neuer Ausdrücke zu einer lexikalischen „Verarmung“ des Hochdeutschen führe. Seine These sieht der Verfasser durch den tatsächlichen Sprachgebrauch der obersächsischen Oberschichten bestätigt. So lasse sich beobachten, dass diese bereits oberdeutsche landschaftliche Varianten und Fremdwörter verwenden, um entsprechende Bezeichnungslücken zu schließen (ebd., 589). Wie Krause versucht der Autor somit, die von Adelung behauptete Vorbildfunktion der obersächsischen Oberschichten zu delegitimieren. Die eigentliche Grundlage seiner Konzeption einer Leitvarietät stellt aber der Sprachgebrauch der besten Schriftsteller der Gegenwart dar, die er als die „klassischen Schriftsteller“ bezeichnet (ebd., 591f.). Eben diese Position steht mit Adelungs Konzeption einer Leitvarietät in Konflikt. So betont Adelung, dass den Schriftstellern in Bezug auf die Sprachnormierung kein Vorzug einzuräumen sei. Für die Vorbildfunktion der Schriftsteller sprechen nach Ansicht des Verfassers die besonderen Eigenschaften schriftsprachlicher Texte (ebd., 592). Den klassischen Schriftstellern komme bei der „wirkliche[n] Verbesserung“ (ebd., 593) der Sprache eine Hauptrolle zu, da sie im Vergleich zum Alltagssprecher um die Ausgestaltung der Sprache, d. h. die „Schönheit und Richtigkeit des Ausdrucks“ (Anonymus ADS 1783, 593), besonders bemüht seien. Aufgrund der Vorbildlichkeit der Schriftsteller und ihrer kulturellen Leitfunktion sei es wahrscheinlich, dass sich neue Ausdrücke und grammatische Konstruktionen leichter durchsetzen, als durch die sprachnormierende Praxis der Grammatiker, Lexikographen und Orthographen (ebd.). Den klassischen Schriftstellern wird aufgrund ihrer Professionalität und ihrem hohen Maß an Sprachreflexion die Hauptrolle bei der Normierung der Sprache zugestanden (Anonymus ADS 1783, 593).

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

4.2.4.4 Hochdeutsch als Sprache der Bildungseliten und der Oberschichten Zahlreiche Autoren bestimmen das Hochdeutsche als Sprachgebrauch der Bildungseliten und allgemein der oberen sozialen Schichten, so etwa auch Samuel Johann Ernst Stosch in den „Beiträgen zur nähern Kenntniß der Deutschen Sprache“ (vgl. Stosch KB/1 1778, KB/2 1780, KB/3 1782). Die Schriftsteller werden in diesem Fall unter die Gruppe der „Gelehrten“ subsumiert. Diese Orientierung am Sprachgebrauch der Bildungseliten muss nicht zwangsläufig eine analogistische Konzeption der Leitvarietät ausschließen. So unterliegt nach Stosch die gestalterische Freiheit des Schriftstellers dem Prinzip der ‚(Sprach-)Richtigkeit‘. Damit ist gemeint, dass der Schriftsteller nicht gegen das Analogieprinzip verstoßen dürfe (vgl. ebd., 91f.). Ebenso dürfe der allgemeine Sprachgebrauch von der Schriftsprache abweichen, wenn er grammatikalisch regelhaft bleibe. Stosch vertritt an dieser Stelle ein ontologisches Sprachverständnis, da er von „wahren Regeln“ des Deutschen ausgeht (ebd.) und die Sprache als Entität mit einer ihr eigenen Wesenheit imaginiert. Während Hochdeutsch als verbindliche Leitvarietät der bürgerlichen Öffentlichkeit gilt und der Gebrauch regionaler Varianten in dieser Kommunikationssphäre prinzipiell abgelehnt wird (ebd., 194), darf der gebildete Textproduzent adressatenbezogen entscheiden, ob er landschaftliche Varianten verwendet. Um die Verständlichkeit von Texten zu gewährleisten, die sich an die unteren Schichten richten, solle er pragmatisch über die Verwendung von landschaftlichen Varianten entscheiden (ebd., 194). Allerdings müsse er in einem solchen Fall die Gründe für die Verwendung von Regionalismen offenlegen (vgl. ebd., 196). Zum Hochdeutschen gehören solche Wörter, die 1) in der allgemeinen Schriftsprache gebräuchlich sind, 2) die überregional verbreitet sind und/oder 3) die in den gebräuchlichen Wörterbüchern dokumentiert und 4) der „edlen Schreibart“ gemäß sind (vgl. ebd., 195f.). Dieses vierte Kriterium ist schichtspezifisch, insofern die „edle“ und „höhere“ Schreibart als Standard der Oberschichten angesehen wird. Im Gegensatz dazu stellt die „niedrige Schreibart“ bzw. der niedere Stil den Standard der allgemeinen Bevölkerung dar. Während beispielsweise die Verwendung von Phraseologismen und landschaftlichen Varianten in der „niedrigen Schreibart“ zu tolerieren sei, müsse sie in der „höheren Schreibart“ unbedingt vermieden werden (vgl. ebd.).

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

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4.2.4.5 Hochdeutsch als gesprochene Sprache der Bildungseliten Deutschlands Campe verwendet für die unterschiedlichen Existenzweisen der Sprache die Bezeichnung „Sprecharten“ (Campe WH 1795, 149). Er betont, dass das Hochdeutsche weder ein Ausgleichsprodukt der verschiedenen Varietäten sei (vgl. ebd.), noch ein Produkt der Normierungsbemühungen der Gebildeten. Hochdeutsch ist für Campe eine real existierende, bereits in allen Teilen Deutschlands gesprochene Sprache der gebildeten Schichten (vgl. ebd., 155). Die Charakterisierung des Hochdeutschen als Sprache der Oberschichten der Region Obersachsen lehnt er entschieden ab. Zum Beleg seiner These, dass die mündliche Sprache der oberen Schichten Obersachsens sehr stark von der hochdeutschen Schriftsprache abweiche, führt er einige Beispiele an, die die Lautung, die Flexionsmorphologie, die Verwendung von Pronomina und von einzelnen Wörtern betreffen. Eine Identität zwischen Hochdeutsch und der Sprache der oberen Schichten Obersachsens verneint Campe ausdrücklich (vgl. ebd., 156).267 Um seine Definition des Hochdeutschen zu untermauern, verweist Campe darauf, dass Adelung gelegentlich auch behaupte, dass die Schriftsprache „durch eine Aushebung des Allgemeinsten, Anständigsten, Schicklichsten und Würdigsten aus allen Mund-arten“ (ebd., 150) entstanden sei. Einig sind sich die beiden Sprachkundler in der Ablehnung des Sprachgebrauchs der unteren Schichten als normstiftende Instanz. Neben der Ablehnung der Vorbildfunktion der obersächsischen Oberschichten stellt Campe auch die von Adelung vertretene Vorbildlichkeit des obersächsischen Hofes in Frage (ebd., 154), die er als die „letzte unreinste Sprachquelle“ (ebd., 155) charakterisiert. An dieser Stelle zeigt sich, dass die noch vereinzelt vertretene Vorbildfunktion des Adels am Ende des 18. Jahrhunderts eine sehr umstrittene Position darstellt. Die schichtenspezifische Bestimmung des Hochdeutschen wird aber auch bei Campe mit einem regionalen Kriterium verknüpft. Als Vorbild fungieren die Oberschichten Norddeutschlands. So geht Campe davon aus, dass die „Gesellschaftssprache der gebildeten Menschen in Niedersachsen“ (ebd., 153) mit dem Hochdeutschen gleichzusetzen sei. Campe definiert Hochdeutsch somit als tatsächlich gesprochene Sprache, und zwar der höheren Schichten Norddeutschlands und als Sprache der Bildungsbürger im gesamten deutschen Sprachraum (vgl. ebd., 155). Der 267 Zum Beispiel die Aussprache des s-Lautes als sch-Laut (ebd., 158f.), die von der vorbildlichen Realisierung und Unterscheidung dieser Laute im Niederdeutschen abweiche (ebd., 159).

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

mündliche Sprachgebrauch der Bürger erreiche aber nicht die „Reinheit“ der Schriftsprache (ebd.). Im Gegensatz zu Adelung beansprucht Campe für die Schriftsteller eine exklusive Position bei der weiteren Ausbildung des Hochdeutschen, die sie seiner Meinung nach auch in der Vergangenheit ausgeübt haben (ebd., 99). Quelle [Hieber] PB (172325) Anonymus (PB 1726)

Litzel UC 1730

Anonymus AGDS 1742, 242

Bodmer/ Breitinger MS/2 1746

Weitenauer ZDS 1764

Thematisierung des Sprachsoziologische BestimAussagen über schichtenspezifiHochdeutschen /der mung des Hochdeutschen / der schen Sprachgebrauch Leitvarietät Leitvarietät Hochdeutsch wird definiert als die „Sprache der Gelehrten“ (vgl. [Hieber] PB 1723-25, 207, 297). Als Abweichung von der Leitvarietät gilt das „pöbel-flüchtige Teutsch“ ( ebd., 206). Vgl. auch Anonymus (PB 1726, 297, 386f.).

Hochdeutsch wird bestimmt als eine alle Schichten und Konfessionen übergreifende Leitvarietät, gefordert wird eine Vermeidung von Fremdwörtern und Neologismen (vgl. [Hieber] PB (1723-25, 202f.).

Stigmatisierung der Sprache der unteren Schichten sowie der Sprache der oberen Schichten in den katholischen Gebieten (ebd., 69)

Hochdeutsch wird bestimmt als eine alle Schichten und Konfessionen übergreifende Leitvarietät.

+

Hochdeutsch wird definiert als Sprache der Oberschichten und Bildungseliten (Anonymus AGDS 1742, 242).

Hochdeutsch solle als Leitvarietät von allen Ständen und Regionen Deutschlands anerkannt werden.

+

Die Leitvarietät sei in Deutschland weder ein überregionales noch ein in allen Ständen gleichermaßen verwendetes Kommunikationsmittel (ebd., 625f.).

„Demokratisches“ Sprachverständnis: Forderung nach sozialem wie sprachlichem Kontakt zwischen den unterschiedlichen sozialen Schichten in Deutschland (ebd., 625f).

„Gassendeutsch“ (ebd., 14) als ‚Stigmasoziolekt‘ der niederen Schichten.

Der öffentliche Sprachgebrauch gilt als Vorbild.

+

Hochdeutsch wird nicht explizit bestimmt, kann interpretativ als das Obersächsische der Oberschichten bestimmt werden.

-

4.2 Sprachnormierung und soziale Schicht – Exemplarische Textanalysen

Quelle

Thematisierung des Sprachsoziologische BestimAussagen über schichtenspezifiHochdeutschen /der mung des Hochdeutschen / der schen Sprachgebrauch Leitvarietät Leitvarietät

Stosch KB/1 1778, KB/2 1780, KB/3 1782

Hochdeutsch wird bestimmt als Sprache der Bildungseliten, der oberen sozialen Schichten und der besten Schriftsteller (ebd., 90f.). +

Adelung 1MDS/I 1782

Die Verwendung von regionalen Varianten wird anhand pragmatischer Faktoren beurteilt, so darf ein Autor landschaftliche Varianten verwenden, wenn dies die Verständlichkeit seiner Texte unterstützt. Als hochdeutsch gelten nur solche lexikalischen Einheiten, die der „edlen Schreibart“ zugerechnet werden können (ebd., 195f.). Damit ist der Sprachgebrauch der Oberschichten gemeint.

+

Hochdeutsch als tatsächlich gesprochene Sprache der Oberschichten („Gesellschaftssprache“, ebd., 18).

-

+

Hochdeutsch als Gegensatz zur ‚Pöbelsprache‘; Sprachvorbild sei der Sprachgebrauch der „klassischen Schriftsteller“ (ebd., 193).

-

+

Hochdeutsch wird bestimmt als das in Norddeutschland gesprochene Deutsch der mittleren und oberen Schichten.

-

(+)

Bildungssoziologisches Sprachvorbild und anerkannte Norminstanz: die klassischen Schriftsteller bzw. die „Gelehrten“ (ebd., 593). Den klassischen Schriftstellern wird die Hauptrolle bei der Normierung der Sprache zugestanden.

-

Biester KT 1782

Anonymus DM/I 1782 und DM/II 1783

365

Anonymus ADS 1783

366

Quelle

4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

Thematisierung des Sprachsoziologische BestimAussagen über schichtenspezifiHochdeutschen /der mung des Hochdeutschen / der schen Sprachgebrauch Leitvarietät Leitvarietät

Krause DM/III 1783

Rüdiger VHS 1783

+

Hochdeutsch wird definiert als die „Sprache der Gelehrten“ und als Sprache vorbildlicher Schriftsteller (ebd., 211), gleichzeitig wird die Vorbildfunktion des obersächsischen Adels (ebd., 210) und des gewerbetreibenden Bürgertums in Obersachsen hinterfragt (ebd., 211).

-

+

Hochdeutsch wird definiert als „Bücher-Gelehrten-Hoffsprache“ (ebd., 5).

-

+

Hochdeutsch wird bestimmt als Sprache der höheren Stände in der Mark Brandenburg (ebd., 164f.).

Lob des lebendigen Ausdrucks der niederen Schichten im Gegensatz zu dem ‚schleppenden‘, ‚erhabenen‘ Ausdruck der Oberschichten.

+

Hochdeutsch wird bestimmt als Sprache der Oberschichten (ebd., 293).

-

+

Forderung nach Normierungsautorität der Schriftsteller; Hochdeutsch als Sprache der oberen Schichten, aber Verlagerung der vorbildlichen Aussprache in den norddeutschen Sprachraum.

-

Richter KA 1784

Gedike DD 1795 Campe WH 1795

4.3 Diskurslexik: Sprachsoziologische Schlüsselwörter

367

4.3 Diskurslexik: Sprachsoziologische Schlüsselwörter 4.3 Diskurslexik: Sprachsoziologische Schlüsselwörter

4.3.1 ‚Bauer‘

Bauer, der, -n/-n. [Häufige Pluralbildung: Bauren]. Wbg.: Adj. bäurisch;

Subst.: Bauernreim, Bauernvolk, Bauersleute, V. verbauern. In der allgemeinen Bedeutung bezeichnet der Ausdruck Bauer ein Mitglied der Landbevölkerung bzw. der Ausdruck steht pars pro toto für die Landbevölkerung, die von anderen sozialen Schichten wie dem Adel (→ Hof1), den Bürgern oder den intellektuellen Bildungseliten (→ Gelehrte1) unterschieden wird (→ Bauer1). Die Bauern gehören zu den sozial niederen Schichten, deren Sprachgebrauch im Gegensatz zum Sprachgebrauch der sozialen Oberschichten nicht als Vorbild gilt (→ Bauer2). Die Sprache der unteren Schichten lässt sich im Sprachnormierungsdiskurs als ‚Stigmasoziolekt‘ kennzeichnen. Im Zuge der Aufwertung der Dialekte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird die Sprache der ländlichen Bevölkerung aber aufgrund des ihr zugeschriebenen ursprünglicheren Sprachzustands positiv bewertet, da einige Sprachkundler anerkennen, dass ihre Sprache so stark vom Sprachwandel betroffen sei, wie die Stadtsprachen (→ Bauer3). 1. ›Mitglied der Landbevölkerung bzw. die soziale Schicht der Landbevölkerung‹ 2. ›Person, deren Sprachgebrauch im Gegensatz zur Sprache der oberen sozialen Schichten nicht vorbildlich ist‹ 3. ›Person, deren Sprache im Gegensatz zur Sprache der Stadtbevölkerung einem ursprünglichen Sprachzustand entspricht‹ 1. ›Mitglied der Landbevölkerung bzw. die soziale Schicht der Landbevölkerung‹ In dieser Bedeutung bezeichnet der Ausdruck Bauer einen Angehörigen der Landbevölkerung, die als soziale Schicht von der städtischen Bevölkerung, den intellektuellen Bildungseliten und dem Adel unterschieden wird. Der Ausdruck dient somit zur Markierung einer sozialen Kategorie. Die Differenzierung der Gesellschaft in soziale Schichten fällt unterschiedlich aus, genannt werden neben den Bauern die ‚Bürger‘, ‚Philosophen‘, ‚Höflinge‘, ‚Soldaten‘ und ‚Kaufleute‘. Bdv.: Ackermann, gemeine Mann, Landvolk. Pöbel1. Ggb.: Hof1, Gelehrte1. Synt.: armer Bauer. Wbg.: Adj. bäurisch; Subst.: Bauernreim, Bauernvolk, Bauersleute, V. verbauern.

368

4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

Belege zu Bauer1: Bey hohen obiectis muß man hohe gedancken haben, also auch einen stilum sublimem, bey pathetischen sachen muß ich solche affecten annehmen, als das obiectum erfordert, also auch einen affectuösen und vehementen stilum. Bey kleinigkeiten hingegen ist es ungereimt viele hoheiten zu suchen, oder bey theoretischen dingen viel affecten spühren lassen. Dannenhero ist es einfältig, wann sich die leute nur an einem stilum gewöhnen und alle obiecta gleich durch damit fürbilden, eben so, wie es einfältig wann ein mahler Käyser und Könige, bürger und bauern, warum nicht auch affen und pfauen, in quarre perrüquen und im harnisch mahlen wollte. (Fabricius PhO 1724, 203) Der Bauer, dessen Haus nur zum Schirm eingerichtet, der Hausrath zur Nothwendigkeit, die Speisen den Hunger zu stillen, wird daher auch in seinen Reden wenig zierliches, noch geschmücktes hervor bringen; seine Redensarten werden von einfältigen Dingen, von dem, was ihn täglich beschäftiget, hergenommen seyn: Der Höfling hingegen, der alle Tage in prächtigen Pallästen herumspaziert, der nichts um sich her siehet, als Kunst und Köstlichkeit, dessen Speisen seltsam zugerichtet werden, seinen Appetit zu reizen, und dem fremde Weine seinen Magen, der von Anschauen des Überflusses kranck ist, verbessern müssen; wird ihm dieses wollüstige und eckle Wesen den Kopf nicht solchergestalt anfüllen, daß alles, was er redet, zärtlich und reich lassen muß, und alle seine Gedancken in gekünstelten Bildern auftreten werden? (Bodmer/Breitinger MS/2 1746, 514 → Hof1) Wer nicht durch genugsame Erfahrung gelernet hat, was für Finsterniß und Chaos, in dem Verstande eines Bauern liegt; so bald es auf geistliche Dinge ankömmt; der wird auch, mit der beßten Meynung, oft fehl schließen, und dem Kinde, das Brot begehret, einen Stein, und, für den Fisch, einen Scorpion reichen. (Graser VLP 1766, 2f.) Weitere Belege zu Bauer1: Bodmer/Breitinger (MS/2 1746, 514) Dornblüth (Obs 1755, 46, 92f., 125) Egenolff (HTS 1720/1735, VII, VIII, 140) Fabricius (PhO 1724, 52) Ponatus (AHS 1713, 115) Richey (IH 1755, XXXII) Stosch (KB/3 1782, 194) Vgl. auch: Männling (ER 1718, 54f.) Weitenauer (ZDS 1772, 63)

2. ›Person, deren Sprachgebrauch im Gegensatz zur Sprache der oberen sozialen Schichten nicht vorbildlich ist‹ Im Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts ist der Sprachgebrauch der Bauern in der Regel negativ konnotiert und dient als Kontrastfolie zum positiv bewerteten Sprachgebrauch der Bildungseliten (→ Gelehrte2) und der oberen sozialen Klassen und zum Teil auch des Adels (→ Hof2). Ursache für die Abwertung des Sprachgebrauchs der Bauern ist ihre fehlende schulische Bildung. Ihnen werden zahlreiche Verstöße gegen Normen der Leitvarietät zugeschrieben, beispielsweise Verstöße gegen den regelhaften Satzbau, die Verwendung von Grobianismen oder Provinzialismen. Bdv.: Ackermann, gemeine Mann, Pöbel1. Ggb.: Hof2, Gelehrte2. Synt.: grobe Bauern. Wbg.: Subst.: Bauernreim, Bauernvolk, V. verbauern.

Belege zu Bauer2: So redt in meinem Land das schlechteste Bauren-Volck, foderen für forderen, gleichwie föchten für förchten. (Dornblüth Obs 1755, 336 → 1, Volk6) Wer sich bloß damit begnügen will, daß er sich seiner fähigkeit seine gedancken und neigungen auszudrucken bedienen könne, es gerate wie es wolle, und also mit der vulgairen expreßion zufrieden seyn kann, dem rathe ich, daß er die Oratorischen Regeln, und also auch dieses Buch, ungelesen lasse. Er wird an mutter, ammen, mademoisellen, junge mägden, laquaien, handwercksleuten, bauern, dem ganzen pöbel, was seine mutter-sprache betrifft, die treflichsten sprachmeister finden, und zu den fremden, insbesondere denen todten sprachen, kan ihm ein fürchterlicher Grammaticus oder pedantischer Sprach-richter die sicherste anleitung geben. Gedenckt er durch nachahmung guter exempel, glücklich oder unglücklich, wie es kommt, zu empyrisiren, ohne daß er rasion

4.3 Diskurslexik: Sprachsoziologische Schlüsselwörter

369

von seinen reden angeben könne, so wird ihm zu solcher glückseligkeit, ohne eine vernünftige anleitung, der weg offen stehen. (Fabricius PhO 1724, 144f. → Pöbel1/2) Zuförderst ist das Plattdeutsche schon in der Ansehung der Aussprache ungleich sanfter, weicher und melodischer als das Ober- und selbst das Hochdeutsch. Man muss freilich nicht die ganz rohe Aussprache des ungebildeten Natursohns zum Maasstabe nehmen. In dem Munde des Bauern wird die wohlklingendste Sprache für ein feines Ohr misstönend. (Gedike DD 1794, 311 → Hochdeutsch1/2/3, Oberdeutsch1, Niederdeutsch/Plattdeutsch1/3) Die Catholiken sind darinnen unglüklich, daß sie meistentheils in solchen Landschaften gezeuget werden, worinnen eine rauhe Sprache im Gebrauch ist. Doch wohnen in jeder Landschaft Leute, davon einige nach der rauhen Mund=Art besser reden, einige schlechter. Da pflegen nun die Eltern gemeiniglich nicht darauf zu sehen, welchen von beyden sie ihre Kinder untergeben. Es gilt ihnen gleich, Mägde an zu nehmen, sie mögen eine Sprache haben, wie sie wollen. Sie lassen es geschehen, daß ihre Kinder unter dem Gesinde herum lauffen, und mit andern Kindern spielen, von welchen sie sich keine gute Mund=Art angewöhnen. Ja öfters reden und vorneme und gelehrte Eltern selbsten wie die groben Bauren […]. (Litzel UC 1730, 69) Es sollten demnach die Römisch-Catholischen so klug seyn, und viele triftige Ursachen von selbsten einsehen, die sie zu der Reinigkeit der deutschen Sprache und Poesie im Reden und Schreiben antreiben sollten. Vornehme Leute, Fürsten und Regenten, welche die Geburt und das Glük über andre gesetzet hat, solten wol die ersten seyn, darnach eifrigst zu trachten. Sie solten dazu den Weg bahnen, und ihren Leuten mit gutem Exempel vorgehen, Wie übel klingt es, wenn der Fürst und der Unterthan sich mit gleich rauher Stimme hören lassen? Wenn aber beyde in einer netten Mundart übereinstimmen, da lautet es wohl. Wie unanständig ist es, wenn der grosse Staats-Mann so verderbt, wie der gemeine Mann, und der Edelmann so grob, wie der Bauer redet? Das ist wahr, und den Vortheil geniessen beyde, daß, wann sie mit einander reden, sie auch einander desto besser verstehen können. Aber wie lautet dieses, wenn der Nidere besser redet, als der Höhere? (Litzel UC 1730, 80f. → Hof3) Nicht alle Worte dienen zu einer zierlichen und geschickten Rede, gleichwie nicht alle Personen und Diamanten zu einer Kayser-Krohne, sondern die auserlesensten und zierlichsten, und wie Lutherus redet, muß man nicht alle Lands-Knecht auf einmahl grüssen, also auch nicht alle Worte, so einfallen, hervorbringen, sondern allein die besten, wichtigsten, wohl polirtesten, und die sich dazu förmlich schicken. Denn hierin muß ein Redner wie der Perlenleser bey Bassora sich erweisen, der das beste vor die Majestäten aussondert, das kleine und geringe dem Apotheker-Mörser lässet. Denn Worte sind Worte, und deren bedienen sich Kinder, Bauren und Gelehrte, aber mit einem mercklichen Unterschiede, nehmlich einige ohne Geschick, andere mit ohne Zierlichkeit, die dritte aber mit Bedacht, zum Nutz. (Männling ER 1718, 2 → Gelehrte1/2) Allein ich besorge, daß man in dem Wort platt die Begriffe des wörtlichen und sittlichen durch einander wirfft und mit der eigentlichen Sprache eine grobe Art zu dencken und sich auszudrücken vermenget. Bauern und Pöbel giebt es aller Orten, bevorab in grossen Städten. Sie reden daselbst auf ihre Weise, ohne daß sich gesittete Einwohner mit ihren Redens-Arten behängen. Man höret also freilich in Hamburg viel plattes, das dem Land-Volck eigen ist, welches mehr als zu häuffig in die Stadt kommt, und daselbst Gegelegenheit suchet, mit grober Arbeit sein Brodt zu verdienen. Ich sollte aber meinen, diese Leute sprächen so wenig Hamburgisch, als ein Normandischer Bauer Parisisch, wenn er sich gleich in selbiger schönen Stadt niedergelassen. (Richey IH 1755, XXXI → Pöbel1/2, Niederdeutsch/Plattdeutsch1, Volk6) Weitere Belege zu Bauer2: Hallbauer (VTO 1725, 23 → 1) Richey (IH 1755, 43f.) Vgl. auch: Fabricius (PhO 1724, 180 → 1)

3. ›Person, deren Sprache im Gegensatz zur Sprache der Stadtbevölkerung einem ursprünglichen Sprachzustand entspricht‹ Einige der Sprachkundler betonen die besondere Ursprünglichkeit der Sprache der Landbevölkerung, da sie sich im Gegensatz zur Stadtsprache

370

4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

wenig verändert habe. In dieser Bedeutung wird die Sprache der Bauern deutlich positiv hervorgehoben. Bdv.: Ackermann, gemeine Mann, Pöbel1. Ktx.: Altertum, Hochdeutsch.

Belege zu Bauer3: Der Bauer behält das Alterthum am längsten, so wie in der Religion, so auch vorzüglich in der Sprache. (Berndt VSI 1787, XXIX →1) Die Stamm-Wörter der teutschen Sprache aber kan man besser aus den Dörfern und bey den Bauren holen, die der alten Einfalt mehr nachgehen, als man bey der Zierlichkeit der Hochteutschen Sprache gewahr wird. So kan man sie auch in Ost-Frießland, dem Oldenburgischen, Westphalischen, Hollsteinischen, Mecklenburgischen, Pommerischen, ec. ec. suchen. […] Je mehr rauher und übel lautender das Wort ist, ie näher ist es seinem Ursprunge. (Hallbauer VTO 1725, 10 → Hochdeutsch3/7) Weitere Belege zu Bauer3: Hallbauer (VTO 1725, 25 → 1) Wack (ATS 1713, 21f., 231 → 1) Richey IH (1755, XLII → 1) Vgl. auch: Weitenauer (ZDS 1772, 70)

4.3.2 ‚Gelehrte‘

Gelehrte, der, -en/-en. Wbg.: Adj.: gelehrt, grundgelehrt, lateinischgelehrt, unge-

lehrt; Subst.: Gelehrigkeit, Gelehrsamkeit, Gelehrtengeschichte, Gelehrtenmundart, Gelehrtensprache, Gelehrtheit, Gottesgelehrtheit, Gottesgelehrter, Halbgelehrter, Rechtsgelehrter, Schulgelehrter, Stubengelehrter, Ungelehrter, V. lehren. In der allgemeinen Bedeutung bezeichnet der Ausdruck eine soziale Schicht, die im Gegensatz zu den unteren sozialen Schichten wie den Bauern und Handwerkern (→ Bauer1, Pöbel1) oder dem Adel (→ Hof1) eine umfassende schulische und/oder universitäre Ausbildung erhalten hat (→ Gelehrte1). Der Sprachgebrauch dieser sozialen Schicht wird von Sprachkundlern aller Sprachlandschaften als Leitvarietät anerkannt (→ Gelehrte2). Die Sprache der Bildungseliten bildet zusammen mit der Sprache der oberen sozialen Schichten den ‚Prestigesoziolekt‘ im Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts. Allerdings wird der Sprachgebrauch der Gebildeten auch kritisiert, insofern sie beispielsweise in besonders hohem Maße Fremdwörter verwenden oder die Bildungssprachen Griechisch und Latein dem Deutschen als Wissenschaftssprache vorziehen, oder ihnen allgemein eine Vernachlässigung der Muttersprache zugeschrieben wird (→ Gelehrte3). Das sprachsoziologische Schlüsselwort weist darüber hinaus eine deontische Bedeutungsdimension auf, beispielsweise wird von den Sprechern gefordert, dass sie die Bildungseliten als Autorität im Sprachnormierungsdiskurs anerkennen (→ deontische Bedeutung).

4.3 Diskurslexik: Sprachsoziologische Schlüsselwörter

371

1. ›Bezeichnung für eine soziale Schicht, die eine umfassende schulische und/oder universitäre Ausbildung erhalten hat‹ 2. ›Personengruppe, deren Sprachgebrauch als Leitvarietät angesetzt wird‹ 3. ›Personengruppe, die ihre Muttersprache vernachlässigt‹ ›deontische Bedeutungsdimension‹ 1. ›Bezeichnung für eine soziale Schicht, die eine umfassende schulische und/oder universitäre Bildung erhalten hat‹ In dieser allgemeinen Bedeutung bezeichnet der Ausdruck eine soziale Schicht, die sich im Wesentlichen über Bildung definiert bzw. im Sinne des französischen Kultursoziologen Pierre Bourdieu ein hohes Maß an kulturellem Kapital besitzt (vgl. Bourdieu 1983). Als soziale Schicht sind die Bildungseliten zu unterscheiden von der allgemeinen Bevölkerung (→ Bauer1 oder Pöbel1), dem Adel (→ Hof1) und dem gewerbetätigen Bürgertum sowie dem Verwaltungsbürgertum. Die Bildungseliten gehören zum Bürgertum. Zu den Gelehrten zählen extensional die Lexikographen, Grammatiker und Sprachphilosophen, die Dichter und Publizisten, die in ihren Schriften über Sprache reflektieren sowie die Schul-, Haus- und Universitätslehrer. Mit der Bezeichnung ‚Gelehrter‘ ist allerdings kein konkretes Berufsbild verbunden. Bdv.: Gebildeter, gebildete Leute, kluge Leute, Schriftsteller, Schulmänner, Scribent, Weltweiser. Ggb.: Bauer1, Hof1, Pöbel1, Ungelehrte. Synt.: einzelne Gelehrte, unsere meisten Gelehrten, gelehrte Welt, Gelehrte aller gesitteten Nationen. Ktx.: Hochdeutsch, Hofleute, Latein, Pöbel, Städte, Ungelehrte. Wbg.: Adj.: gelehrt, grundgelehrt, lateinischgelehrt, ungelehrt; Subst.: Gelehrigkeit, Gelehrsamkeit, Gelehrtengeschichte, Gelehrtenmundart, Gelehrtensprache, Gelehrtheit, Gottesgelehrtheit, Gottesgelehrter, Halbgelehrter, Rechtsgelehrter, Schulgelehrter, Stubengelehrter, Ungelehrter, V. lehren. Belege zu Gelehrte1: Aber wenn man mir gleich zugibt, daß unter den Gelehrten der meisten teutschen Provinzen Sprachverständige seyn können, die das reine Teutsche recht schreiben und sprechen: so wird man doch vielleicht Österreich und Bayern ausnehmen wollen, von dessen Einwohner Herr D. Heumann in der oben gemeldeten Stelle sagen muß: sie schrieben, wie die Griechen, vielfältig nach ihrer eignen Aussprache, und wollen sich die lieblichere und reinere Art zu schreiben nicht aufdringen lassen; sondern berufen sich darauf, daß ihre Mundart die rechte alte fränkische Hofsprache sey. Nun gestehe ich gern, daß diese Ausrede eben so nichtig sey, als wenn sich unter Kaiser Augusts Regierung einer mit seinem rauhen Latein auf die Zeiten des Numa bezogen hätte; denn eine Sprache kann durch angewandten Fleiß mit der Zeit schöner werden, als sie vor Alters war; theils daß diejenigen Herren Catholicken in Teutschland, welche sich nur ums Latein bekümmern, schier von keiner Zierlichkeit im Teutschen etwas wissen wollen, die nicht nach den lateinischen Regeln erzwungen wäre. (Aichinger VTS 1754, XXI → 2) Weil nicht alle Köche sind, die lange messer tragen, und nicht alles gelehrte, die den nahmen führen, oder die Lateinisch können, und es doch hier auf gelehrte

372

4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

ankommt, so muß ich melden, daß ich unter gelehrte diejenigen verstehe, welche eine iudiciöse, gründliche, scharfsinnige, erkänntniß der abstracten dinge haben, und solche zum nutzen des menschlichen geschlechts anwenden. Z. E. Das Wort Philosophie hat Pythagoras erfunden, bedeutet damit die liebe zur gelehrsamkeit, die universelle gelehrsamkeit, dadurch man seinen verstand und willen zu erkennen zu bessern und zu den höhern Facultäten und besondern disciplinen anzuführen lernet. Mir deucht, daß alle einstimmig sind, die anderen grütz-köpfe nehmen Philosophie bald für eine kunst zu disputiren, oder grillen zu fangen, oder die Creuz und quere zu raisonniren, u. s. s. (Fabricius PhO 1724, 176 → 3) Ein gelehrter ist kein gelehrter, wann er sich von vorurtheilen und neigungen regieren läßt. (Fabricius PhO 1724, 187) Die Nechsten nach diesen sind die Gelehrten. Diese pflegen fast ihre meiste Geschiklichkeit in Sprachen kund zu geben. Sie erlernen todte Sprachen, die mit den Völkern, bey welchen sie ehemalen im Gebrauch gewesen, schon vor viel hundert Jahren abgestorben sind. Ich ziele hiermit fürnehmlich auf die lateinische Sprache, als welcher sich die Catholiken insonderheit befleissen, um nicht nur mit den Todten zu reden, und was diese ehemalen gesagt, zu verstehen, sondern auch unter sich selbsten ihre Gedanken einander mündlich oder schriftlich vor zu tragen. (Litzel UC 1730, 81) Weitere Belege zu Gelehrte1: Anonymus (AÜO 1777, 938) Anonymus (BCH1a 1732, 157) Biester (KT 1783, 189) Dornblüth (Obs 1755, 7) Egenolff (HTS 17120/1735, 10, 45, 46, 78) Garve (SEA 1802, 325f.) Gottsched (AR, 102, 103, 289) Gottsched (DS 1762, 101f., 226) Hemmer (ADS 1769, 19, 59) Herzberg (AV 1794, 8f.) Lindner (AGS 1775, 5, 7) Petri (RR 1771, 211) Weitenauer (ZDS 1772, 26, 70) Vgl. auch: Litzel (UC 1730, 2, 27) Longolius (EtS 1715, 105 → 2) Kinderling (RDS 1775, 5) Männling (ER 1718, 25) Richter (KA 1784, 10)

2. ›Personengruppe, deren Sprachgebrauch als Leitvarietät angesetzt wird‹ Im Sprachnormierungsdiskurs stellt der Sprachgebrauch der Gelehrten2 als bildungssoziologisch definierte Gruppe zusammen mit dem Sprachgebrauch der oberen sozialen Schichten den ‚Prestigesoziolekt‘ dar. Dies kommt insbesondere in der Bezeichnung „Gelehrtensprache“ als partielles Synonym für Hochdeutsch zum Ausdruck (→ Hochdeutsch1). In der Regel kombinieren die Vertreter einer anomalistischen Leitvarietätkonzeption die sprachgeographische Bestimmung mit einer sprachsoziologischen. Vertreter der analogistischen Position greifen aber ebenfalls auf den Sprachgebrauch der Gelehrten als Leitvarietät zurück (→ 2). Die Verfasser der sprachreflexiven Schriften, die mehrheitlich der sozialen Oberschicht zugehören, erheben ihren eigenen Sprachgebrauch zur Leitvarietät und grenzen sich damit zweifach ab: Zum einen nach „unten“ zu den niederen sozialen Schichten (→ Bauer1/2; Pöbel1/2) und zum anderen nach „oben“ zum Adel (→ Hof1/2). Da eine Vielzahl der Grammatiker, Lexikographen, Orthographen, Rhetoriker usw. auch als Haus-, Schul- oder Universitätslehrer beschäftigt ist, tragen sie nicht nur durch ihre Schriften zur Normierung und Kultivierung des Deutschen bei, sondern sind im Bildungsbereich die entscheidenden Multiplikatoren der Leitvarietät. Ob der vorbildliche Sprachgebrauch der Gelehrten sich auf die mündliche Kommunikation bezieht oder die schriftsprachlichen Texte der Gebildeten meint, ist in der Regel nicht eindeutig zu entscheiden. In der

4.3 Diskurslexik: Sprachsoziologische Schlüsselwörter

373

Mehrheit der Belege wird nicht zwischen mündlicher und schriftsprachlicher „Sprache der Gelehrten“ differenziert. Explizit auf den mündlichen und schriftlichen Gebrauch bezieht sich nur Hallbauer (VTO 1725, 61f. → 1), der den mündlichen Sprachgebrauch favorisiert (vgl. auch Richter KA 1784, 87f. → 1); während von Antesperg (KDG 1747, XIII) beispielsweise explizit darauf verweist, dass die „Sprache der Gelehrten“ in Griechenland, in Rom bzw. Italien, Spanien und in Frankreich niemals die mündlich gesprochene Sprache gewesen sei. Dies trifft seiner Ansicht nach auch auf Deutschland zu. Das bedeutet, dass die Sprache der Bildungseliten seiner Ansicht nach eine schriftsprachliche Leitvarietät ist. Bdv.: Gebildeter, Hof2, kluge Leute, Redner, Schriftsteller, Schulmänner, Scribent, verständige Leute, Weltweiser. Ggb.: Bauer2, Hof3, Pöbel2, Ungelehrte. Synt.: G., welche die Deutsche Sprache von so vielen rauen und von so vielen fremden Wörtern […] gereiniget haben. Ktx.: Deutsche Sprache, Gebrauch, Hochdeutsch, Hofleute, Hochdeutsche Mundart, Pöbel, Schreibart, Städte, Sprache, Ungelehrte. Wbg.: Adj.: gelehrt, grundgelehrt, lateinischgelehrt, ungelehrt; Subst.: Gelehrsamkeit, Gelehrtenmundart, Gelehrtensprache, Halbgelehrter.

Belege zu Gelehrte2: Betreffend nun die Sprache selbst, so habe ich mich hierinne nach keiner Mundart, deren in Deutschland wenigstens 37. gezehlet werden, gerichtet, sondern nur auf den Grund und auf die von den Gelehrten angenommene deutsche Sprache gesehen: Denn man findet ganz gründlich, daß man weder in Griechenland, weder in Latio, weder in Italien, weder in Spanien, weder in Frankreich jemals also geredet habe, als die von den Gelehrten angenommene Sprache eingerichtet gewesen. (von Antesperg KDG 1747, XIII →1) In dem Niedersächsischen redet der Pöbel meistentheils Plattdeutsch; die Gelehrten aber schreiben Hochdeutsch; warum soll nicht gleiches auch bey uns geschehen können? (Braun ADS 1775, 80 → Hochdeutsch1/2/3/7, Niederdeutsch/Plattdeutsch1/2) Weil aber der universelle Gebrauch sich mehr um den ausdruck sensueller dinge, und um die hauptidee der worte, also um abstracta und um die neben ideen bekümmert, so haben gelehrte und polite leute, von demselben abgehen, und einen particularen gebrauch unter sich einführen müssen, und daher ist der gelehrte und der galante gebrauch entstanden. Der gelehrte gebrauch a) ist also eine übereinstimmung der gelehrten, b) in dem ausdruck derer abstracten dinge, c) und zeiget sich entweder in erfindung neuer kunst-wörter d) oder in determinierung der bereits erfundenen, aber schwanckenden und unrichtigen wörter. e) Diesen zu erkennen und appliciren, muß man den universellen gebrauch und die meditation, doch diese mehr als ienen zu rate ziehen. (Fabricius PhO 1724, 175 → 1) Es ist aber gar keine Landschaft in Deutschland, die recht rein hochdeutsch redet: die Übereinstimmung der Gelehrten aus den besten Landschaften, und die Beobachtungen müssen auch in Betracht gezogen werden. (Gottsched DS 1762, 461 →1, Hochdeutsch1) Was würde man der Welt auch mit der größten Erkentniß nützen, wenn man sie nicht vortragen, und andern mittheilen könnte. Die Alten pflegten die Redner schlechterdings mit dem Namen der Gelehrten zu belegen. Und es ist an dem, daß von einem Gelehrten erfordert werde, daß Mund und Feder, was der Verstand gefasset, vorbringen könne; und folglich, daß der, welcher hierzu nicht geschickt, den Namen eines Gelehrten gar nicht verdiene, oder zum höchsten nur unter die Halbgelehrten zu zehlen sey. (Hallbauer VTO 1725, 207 → 1/6) In der lateinischen Sprache ist der beste Gebrauch von Cicero und seines gleichen zu finden: vor seinen Zeiten hatte man noch viel Rauhes in der Sprache, nach demselben wurden nach und nach viel barbarisimi und soloecismi eingeführet. So wurde auch ferner das Latein reiner und netter in Rom, als in den Provinzen, und auf dem Lande, so viel sonderlich den Pöbel anlanget, gesprochen. Wer wird uns aber diesen Kern der Sprache, das wahre und ächte Hochdeutsche bestimmen? Man sieht ohne mein

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

Erinern, daß dies kein geringes Geschäfft ist. Wer sich daran machen will, der muß die Natur unserer Sprache durchgründen, ihr Gebieth übersehen, und das Gute von dem Falschen zu unterscheiden wissen. Hierzu wird eine Kenntnis erfordert, die man vergebens anderswo als bei den Gelehrten, das ist, bei denjenigen suchet, die sich mit Fleise und Ernste auf ihre Muttersprache geleget haben; und eben darum wird die oben beschriebene hochdeutsche Mundart auch Mundart der Gelehrten genannt. (Hemmer DSL 1775, 7f. → 1, Pöbel1/2, Hochdeutsch1) Der Gelehrte, welcher oft nicht einmal die gemeine Volkssprache seines Landes sprechen kann, sondern allezeit Hochdeutsch spricht, ist doch zuweilen genöthiget, einige Provinzialwörter und gemeine Wortfügungen zu gebrauchen, wenn er von allen, besonders von den Bauern und Handwerksleuten will verstanden werden. Allein wenn man in anderen Ländern ebenso redet, wenn z. E. der Märker in der Schweiz, oder der Schweizer in der Mark, seine Provinzialwörter und Redensarten mit unter menget, so wird er oft unverständlich, und bei manchen lächerlich werden. Man sollte daher billig sich gewöhnen, wenigstens in dem Umgange mit gelehrten und feineren Leuten, allemal rein Hochdeutsch zu reden, und sich aller Provinzialeigenheiten zu enthalten. (Stosch KB/3 1782, 194 → 1, Bauer1) Die Sprache ist eine Tochter des Bedürfnisses und ein Pflegekind der Geselligkeit; ihre Bildung und Bereicherung das Werk der Zeit; ihre Verschönerung die Arbeit des Geschmacks, und zu ihrer höchsten Vervollkommnung müssen alle Musen vereinigt helfen. Die Schriftspache einer großen Nation, die aus dem Stande der rohen Natur durch alle Grade der Barbarey sich langsam, und bloß durch Nachahmung andrer, zu immer höhern Stufen von Cultur emporhebt, hat eine Reyhe von Jahrhunderten nöthig, bis sie nur zu einigem Grade und Vollkommenheit ausgearbeitet ist. Eine Menge günstiger Umstände, wie Hr. A sehr richtig behauptet, müssen sich hierzu vereinigen. Indessen sind und bleiben es doch ihre Gelehrten, und unter ihren Gelehrten, die Schriftsteller von Genie, Talenten und Geschmack, ihre Dichter, Redner, Geschichtschreiber, und populare Philosophen, die zu ihrer Bereicherung, Ausbildung und Polirung beytragen; und diese Männer finden sich durch alle Provinzen der Nation verstreut. (Wieland WH 1782, 208f. → 1, Nation1/3) Weitere Belege zu Gelehrte2: Adelung (KB/2 1780, 244 → 1) Bodmer/Breitinger (MS/2 1746, 625 → 1) Freyer (ATO 1722, 6f. → 1) Fulda (GWW 1776, 4, 7 → 1) Hallbauer (VTO 1725, 143) Hallbauer (APB 1736, 207 → 1) Hemmer (ADS 1769, 98 → 1, Pöbel1/2; Hof2; 99) Hemmer (DSL 1775, 8f. → 1) [Kandler] (ATS 1736, 68f., 70f. → 1) Männling (ER 1718, 7) Jenisch (SE 1796, 11 → 1) Richter (KA 1784, 87f. → 1) Rüdiger (AÜ 1782, 22) Stosch (NBKD 1798, 140f. → 1) Wack (ATS 1713, 22 → 1) Vgl. auch: Adelung (GKW/1 1774, VI) Faber (EG 1768, A3) Krause (DM/III 1783, 211) Meier (ASW/3 1759, 346) Rüdiger (VHS 1783, 5) Voß (DSK 1804, 204)

3. ›Personengruppe, die ihre Muttersprache vernachlässigt‹ Der Sprachgebrauch der Bildungseliten ist vereinzelt auch Gegenstand der Kritik. Grund hierfür ist vor allem die bis ins 18. Jahrhundert andauernde Dominanz des Lateins als Wissenschaftssprache und die damit verbundene Verwendung fremdsprachiger Fachwörter. Typisch für den Sprachnormierungsdiskurs ist eine Selbststilisierung derjenigen Sprachkundler, die sich um eine Sprachkultivierung und -normierung des Hochdeutschen bemühen, zu Patrioten, die um das Gemeinwohl bemüht sind. Als Kontrastfolie dienen diejenigen Gebildeten, die an der Rolle des Lateins als Wissenschaftssprache festhalten. Von Antesperg spricht beispielsweise in seiner Grammatik von 1747 von „lateinischgelehrten Männern“, die er beschuldigt, ihre Muttersprache zu vernachlässigen (vgl. von Antesperg KDG 1747, VI). Allerdings wird

4.3 Diskurslexik: Sprachsoziologische Schlüsselwörter

375

die Ersetzung fremdsprachiger Termini durch deutschsprachige Ausdrücke ebenfalls kritisiert, und zwar dann, wenn sie Fremdwörter betrifft, die als weit verbreitet und als allgemein verständlich gelten (→ verständlich1/2). Bdv.: Bauer2, Pöbel2, Hof3. Ggb.: Hof2. Ktx.: Deutsche Sprache, Gebrauch, Hochdeutsch, Hochdeutsche Mundart. Wbg.: Adj.: gelehrt, lateinischgelehrt, ungelehrt; Subst.: Gelehrtenmundart, Gelehrtensprache, Gelehrtheit, Gottesgelehrtheit.

Belege zu Gelehrte3: Was war es für ein Zeitpunkt, wo die Barbarey sich zuerst in Deutschland zu zerstreuen anfieng? Ein späterer allerdings, als bey den mittäglichen und westlichen Völkern. Italien ist das erste und fast das einzige Land, das zu eben dieser Zeit, wo es die Meisterstücke der alten Sprachen mit Mühe wieder kennen lernte, zugleich Meisterstücke in seiner eigenen schuf. Das Licht, das dort aufgegangen war, kam in nicht gar langer Zeit darauf auch zu uns; aber es war ein fremdes Feuer, das uns nur erleuchtete, ohne zugleich unser eigenes anzuzünden. Wir lasen und lernten, ja wir schrieben sogar lateinisch und griechisch; viele gut, einige sogar vortrefflich: aber doch konnte das noch lange keine Litteratur geben, keine uns eigene Litteratur, die ein treues Gemälde unsers besondern Geistes, unserer unterscheidenden Denkungsart gewesen wäre. Die Gelehrten machten in diesem Jahrhunderte gleichsam eine eigene, unter die andern zerstreute Nation aus, die allenthalben ungefähr dieselbige Denkungsart, denselbigen Ton hatte, und zwar deswegen, weil sie durchgängig auf einerley Art war gebildet worden. Da sie ihre eigene, dem übrigen Theile des Volks unverständliche Sprache redeten und schrieben, so hatten sie zwar unter sich selbst eine nähere, mehr unmittelbare Gemeinschaft, als die Gelehrten unsers Jahrhunderts; aber auf die Übrigen der Nation hatten sie wenig Einfluß; auch nahmen sie eben so wenig von der besondern Denkungsart derselben und der eigenthümlichen Wendung ihres Geistes an. Denn sie schreiben nicht allein, sondern sie faßten auch ihre Ideen in einer fremden Sprache. (Garve SEA 1802, 5f. → 1; Nation/Volk2/6) Nur eines und das andere allhier anzuführen, so wird ein Stylus erstlich durch neue und ganz ungewöhnliche Worte, Redens-Arten oder Constructionen unverständlich, in welchem Stücke die Fruchtbringende Gesellschaft, absonderlich aber diejenigen Leute, so in denen Wissenschaften die fremden Kunst-Wörter nicht leiden, sondern Teutsch gegeben wissen wollen, gewaltig verstoßen. Gleichergestalt vergehen sich diejenigen in diesem Stücke, welche im Teutschen Stylo von so grossem Ansehen unter den Gelehrten sich düncken, daß sie meynen, die übrigen alle müsten ihnen, wenn sie neue Worte und Redens-Arten ersinnen, mit einem blinden Gehorsam sogleich nachfolgen, da doch der gesunden Vernunft gemäß ist, daß man es mit der Nachahmung solcher Wörter, wie bey denen neuen Kleider-Trachten halte. Wer eine neue Mode zuerst trägt, oder ins Land bringt, erregt zwar im Anfange einiges Aufsehen, und ziehet derer andern Augen auf sich; es pflegt aber auch nicht selten zu geschehen, daß er keine Nachfolger findet, und darüber zum Gelächter wird. (Glaffey ASA 1747, 16f. → 1/3) In diesen vier Abtheilungen wird nun die ganze Sprachlehre bestehen, und dadurch wird ein Anfänger in den Stand gesetzet werden, mit Gewißheit zu reden und zu schreiben: da er sonst, nach Art der Ungelehrten, auf ein Gerathewohl sprechen muß; ohne zu wissen, ob er recht oder unrecht spricht […]. Wie viele, auch so gar unter den Gelehrten, die oft im Lateine und Griechischen sehr scharfe Beobachter der Regeln sind, reden nicht ihre Muttersprache so schlecht, als ob sie Ausländer wären; und begehen Fehler, die sie sich im Lateine nimmermehr vergeben würden […]. Vor allen solchen Fehlern wird man sich durch diese Sprachkunst hüten lernen. (Gottsched DS 1762, 61 → 1) Die meisten Gelehrten in Teutschland haben sich zwar auf die Lateinische / Griechische / Hebräische und andere fremde Sprachen geleget / und viel Zeit über derselben Excolirung zugebracht; aber auf ihre Mutter=Sprache haben die allerwenigsten rechten Fleis angewendet / noch sich um derselben Reinigkeit und Richtigkeit bekümmert. Daher kömmt es / daß / da in andern Sprachen sehr viele Grammatiken geschrieben und heraus gegeben worden sind / in der Teutschen Sprache (so viel mir wissend) nur die einige teutsche Grammatica des sel. Herrn Bödickers bekand ist. (Töllner DUO 1718, 2r, 2v → 1) Vgl. auch: Für was du gegenwärtiges Buch

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

ansehen solltest, zeiget dir das Titelblatt. […] §. III. Daß die meisten vom Adel, auch lateinischgelehrte Männer in Deutschland auf fremde Sprachen so viel Zeit und Geld; hingegen aber auf die allerprächtigste hochdeutsche Grundsprache den allerwenigsten Fleiß anwenden. / §. IV: Daß sie sich um derselben Reinigkeit und Richtigkeit nicht bekümmern, sondern in solcher öfters mit groben Schnitzern nur nach Gutdünken daher lallen, und ohne Wissenschaft dahin sudeln, und vermeynen, es sey schon genug, wann man sie zu unseren Zeiten mit harter Mühe verstehet. (von Antesperg KDG 1747, IXf. → Hof1/3, Hochdeutsch7) Weitere Belege zu Gelehrte3: Anonymus (BHB/1 1775, 60 → 1) Campe (APDW 1798, 16 → 1) Dornblüth (Obs 1755, 331 → 1) Gottsched (DS 1762, 40 → 1) Hemmer (ADS 1769, 70f., 114) [Hieber] Litzel (UC 1730, 1 → 1/3, 82 → 1) Männling (ER 1718, 21) Richter (KA 1784, 14)

Deontische Bedeutung Zusätzlich zu den festgestellten Bedeutungsdimensionen lässt sich eine Deontik des Schlüsselwortes belegen, die allerdings in Bezug auf die Einzelbelege bzw. die einzelnen Diskursakteure unterschiedlich zu formulieren ist. Einerseits wird gefordert, dass die ‚Gelehrten‘ von den Sprechern als absolute Autorität in Fragen anerkannt werden müssen. Die entsprechende deontische Bedeutung lautet metasprachlich expliziert: ‚Die Autorität der Gelehrten in Sprachnormierungsfragen muss anerkannt werden.‘ Beispielhaft seien hier folgende Zitate angefügt: Ist es aber möglich, daß Teütschland hierin [einer einheitlichen Rechtschreibung, Anm. KF] zu einer Übereinstimmung gelangen könne? Ich sage, ja. Aber nur durch fereinigten Betrib der Mächtigen und der Gelehrten. (Anonymus AÜR 1777, 156f. → 1)268 Aus den beiden angeführten Proben der alten Deutschen Sprache wird man zur Gnüge von der Rauigkeit und Härte derselben überzeugt. Wie natürlich, schön, fließend und rein ist im Gegentheil die Deutsche Sprache in unseren Zeiten! Die Deutsche Sprache hat sich so verändert, daß uns die Sprache unserer Vorfahren wegen ihrer Rauhigkeit und Härte unverständlich geworden ist. Nach aller angewendeten Sorgfalt und Aufmerksamkeit bleibt uns noch vieles von der Sprache unserer Vorfahren dunkel. Welchen Dank verdienen daher diejenigen Gelehrten, welche die Deutsche Sprache von so vielen rauhen und von so vielen fremden Wörtern, welche in den nachfolgenden Zeiten eingerissen sind, gereiniget haben! (Hecht RHDS 1771, 365f. → 1) Weitere Belege: Aichinger (VTS 1754, XX → 1) Anonymus (AÜO 1777, 941f., 945 → 1) von Antesperg (KDG 1747, X → 1) Braun (ADS 1765, 6 → 1/2) Breitinger (CD/2 1740, 44, 308 → 1) Dornblüth (Obs 1755, 92 → 1) Gottsched (DS 1762, 39 → 1/2) Hemmer (DSL 1775, 63 → 1) [Hieber] PB (1723-25, 207 → 1, 297) Voß (DSK 1804, 204 → 1) Weitenauer (ZDS 1772, 64)

Einige Sprachkundler weisen andererseits darauf hin, dass die Normierungsautorität der Gelehrten keine absolut zu setzende ist, sondern 268 Der anonyme Verfasser fordert aber auch, dass die Sprachkundler eine einheitliche Position in Fragen der Sprachnormierung entwickeln sollen und beklagt die großen Abweichungen der Orthographielehren.

4.3 Diskurslexik: Sprachsoziologische Schlüsselwörter

377

bestimmten Beschränkungen unterliegen soll. Eine Grenze der Normierungsautorität soll der allgemeine Sprachgebrauch darstellen. Die deontische Bedeutung lautet: ‚Die Autorität der Gelehrten in Sprachnormierungsfragen muss eingeschränkt werden.‘ Belegstellen zu dieser deontischen Bedeutung: Wenn irgend ein Theil der menschlichen Angelegenheiten unter einer demokratischen Verwaltung steht, so ist es die Sprache. In andern Sachen kann sich das Volk den Ansprüchen einiger Weisen unterwerfen; über die Sprache muß es selbst gebieten, wenn diese ihm verständlich und brauchbar seyn soll. Wenigstens müssen die Rathschläge der Gelehrten erst die Sanction der Volksstimme erhalten, ehe sie zu wirklichen Sprachgesetzen werden. Der, welcher für das große Publicum schreibt, wird sich immer hüten, Wörter in andern Bedeutungen zu brauchen, als in welchen sie von dem größern Theile verstanden werden; es wird sogar in kleinern Sachen dem, was er selbst billigt, entgegen handeln, um nur in den wichtigern den Zweck einer Rede nicht zu verfehlen. (Garve SEA 1802, 340 → 1, Nation/Volk1) Es darf sich aber deswegen Niemand einbilden, die Gelehrten sein unabhängige Gesetzgeber in der Sprache; nein, sie sind weiter nichts als ihre Dollmetscher und Sachverwalter, Beschützer ihrer Reinheit, Vernehmer ihres Reichthumes, Beförderer ihrer Vollkommenheit und Schönheit. Die Sprache, an der sie arbeiten, ist schon vor handen; sie erfinden sie nicht. Sie müssen sich allso selbst nach derselben richten, weit gefehlet, daß diese sich nach ihnen richten sollte. Sie haben die Macht nicht, etwas einzuführen, das mit der Natur der Sprache streitet, oder etwas abschaffen, das mit derselben überein stimmet. Überall müssen sie gewisse Grundsätze vor Augen haben, von denen sie eben so wenig, als Jemand anders, abweichen dürfen. (Hemmer DSL 1775, 9 → 1) Die Gelehrten die ihre eigene Sprache nicht zu schreiben wissen, sind doch wohl nur elende Scribenten; sie leben einen Ton, und verschwinden wieder, ohne daß in dem Gehirn ihrer Leser mehr Spuren von ihrem kurzen Daseyn zurükbleiben als in den Jahrbüchern der Litteratur. Ihre Sprachschnitzer, ihre grammatikalische Unreinlichkeit, ihr ekelhafter Mischmasch von Dialekten, wird schwehrlich jemand etwas gelegen seyn [...]. Aber Regeln, die einen Gelehrten von Ansehen und Einfluß zum Urheber haben, wenn sie auf eine willkührliche Beschränkung guter Schriftsteller und besonders eine mit der Natur der Dichtkunst unverträgliche Verengung der Dichter-Sprache abzielen, könnten in mehr als Einer Rüksicht von nachtheiligern Folgen seyn. (Wieland WH 1782, 195f. → 1/3)

Die Gelehrten gelten darüber hinaus nicht nur als ein bildungssoziologisch definiertes Sprachvorbild, sondern sind selbst Gegenstand der geforderten Sprachnormierung. So fordern einige Sprachkundler explizit einen normgerechten Sprachgebrauch von den Bildungseliten. Die Deontik des Schlüsselwortes, die an dieser Stelle zum Ausdruck kommt, lässt sich metasprachlich so festhalten: ‚Diejenigen, die den Gelehrten als bildungssoziologischer Schicht angehören, sollen um einen normgerechten und vorbildlichen Sprachgebrauch bemüht sein.‘ Belegstellen zu dieser deontischen Bedeutung:

Nachdem es auch bey denen Grossen dahin gekommen, daß sie vor eine Weltbrauchbare und nette Teutsche Schreib-Art eine ganz besondere Hochachtung tragen; Gestalten mir denn grosse Minister bekannt sind, welche von schlechtem herkommen, und mittelmäßiger Gelehr-

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

samkeit gewesen, vermittelst ihrer schönen Teutschen Feder und Natur-Gaben aber sich auf den Gipfel der Ehren geschwungen, und denen Königen und Fürsten an die Seite gesezt haben: So hat ein Gelehrter, wenn er von hohen Ministern in Ehren gehalten seyn, und mit seinem Schrifften bey der grossen Welt Beyfall erlangen will, auch dieserhalben, um eine gute Teutsche Schreib-Art sich zu bewerben, wohl Ursache, ob gleich sonst seine Absicht auf Hoff- und Canzley-Dienste nicht gerichtet seyn möchte. (Glaffey ASA 1747, 10f. → 1, Hof1) Aber ist es nicht ein Laster, eine todte Sprache zu lernen, und eine lebendige zu vergessen? Ist es nicht eine Schande, eine ausländische wohl, und eine einheimische übel zu reden? Ist es nicht eine Thorheit, auf eine fremde Sprache so viel Zeit und Mühe, und auf eine Muttersprache nicht eine Stunde zu verwenden? Ja ist es nicht eine Übelthat, eine todte Sprache lebendig zu machen, und eine lebendig zu machen, und eine lebendige zu tödten? Und dieses thun alle Gelehrten unter den Deutschen welche sich der lateinischen, und nicht ihrer Muttersprache befleissen. Ich will zwar nicht von allen fordern, daß sie grosse Critici in der alten und heutigen deutschen Sprache seyn sollten. Es wäre genug, wenn unter den Catholiken so viele wären, als wirklich unter uns sind. Sondern meine Meinung gehet dahin, daß alle Gelehrten mit eben der Sorgfalt sich dahin bemühen sollen, rein und zierlich Deutsch zu reden und zu schreiben, mit welcher sie gewohnt sind, sich um das Lateinische zu bemühen. (Litzel UC 1730, 82 → 1/3) Es ist nothwendig, daß sich ein Deutscher von den Pflichten überzeuge, die er seiner Muttersprache schuldig ist. Sie verdienet, daß er ihr seine Achtung, seine Aufmerksamkeit, seinen Fleiß widme, und man fordert mit Recht von ihm, daß er richtig und rein rede. Der Gelehrte, derjenige, der ein öffenlichtes Amt bekleidet, ist insonderheit dazu verpflichtet. Ich will nur einen Gottesgelehrten nennen, und ich hoffe, Sie meine Herren mit einem Gegenstande zu unterhalten, der Ihrer geneigten Aufmerksamkeit nicht unwürdig ist, wenn ich Ihnen in einer kurzen Rede die Gründe vorlege, die mich überzeugen, daß ein Gottesgelehrter verbunden seye, sich auf die Richtigkeit und Reinigkeit der Deutschen Sprache zu legen. (Petri RR 1771, 208 → 1) Weitere Belege: Glaffey (ASA 1747, 6, 9f. → 1) Litzel (UC 1730, 84, 88 102 → 1) Petri (RR 1771, 209, 215, 216 → 1) Weitenauer (ZDS 1772, 35 → 1)

4.3.3

‚Hof‘

Hof, der, -es/[Umlaut +]-e. Wbg.: Adj. höfisch, höflich; Subst.: Höflichkeit,

Höfling, Hofmann, Hofceremonienmeister, Hofleute, Hofdeutsch, Hofmundart, Hofkanzley, Hofsprache, Hofstil, Mittelhof, Oberhofdeutschmeister. Im Sprachnormierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts werden verschiedene soziale Schichten als Sprachvorbilder genannt. Eine dieser Gruppen ist der Hof, wobei der Ausdruck allgemein einen Fürsten und seinen Regierungs- und Wohnsitz und/oder die an den Hof gebundene adlige Bevölkerungsschicht bezeichnet (→ Hof1). Während ein Teil der Sprachkundler im Hof eine vorbildliche Sprechergruppe sieht und sie als Repräsentanten einer normierten und für alle anderen sozialen Gruppen vorbildlichen Sprache bestimmt (→ Hof2), wird die Leitbildfunktion des Adels auch sehr kritisch beurteilt (→ Hof3). Ein wesentlicher Grund für die Ablehnung des Hofes als Sprachvorbild ist die Präferierung des Französischen bzw. der europäischen Fremdsprachen im Allgemeinen und die damit verbundene Abwertung des Deutschen durch den Adel (→ Hof3).

4.3 Diskurslexik: Sprachsoziologische Schlüsselwörter

379

1. ›Bezeichnung für einen Fürsten und seinen Regierungs- und Wohnsitz und/oder die adlige Bevölkerungsschicht‹ 2. ›Personengruppe, deren Sprache besonders vorbildlich ist‹ 3. ›Personengruppe, deren Sprachgebrauch nicht vorbildlich ist‹ 1. ›Bezeichnung für einen Fürsten und seinen Regierungs- und Wohnsitz und/oder die adlige Bevölkerungsschicht‹ Die Bezeichnung Hof wird in der Mehrheit der Texte nicht konkretisiert. Insofern ist der Begriff semantisch vage und bezeichnet zunächst allgemein den Fürsten und seinen Regierungs- und Wohnsitz als politisches und kulturelles Zentrum einer Region bzw. eines Territorialstaates. Die Kollektivbezeichnung Adel wird in den untersuchten Texten sehr selten verwendet, dies legt den Schluss nahe, dass die Bezeichnung Hof in der Bedeutung 1 die adlige Bevölkerungsschicht miteinschließt. Der Hof ist in dieser Bedeutung relational definiert zum Bürgertum, den Bildungseliten (→ Gelehrten1) und den niederen sozialen Schichten (→ Pöbel1 bzw. Bauer1). Bdv.: Adel, Edelleute, Fürst, vornehme Leute. Ggb.: Bauer1, Gelehrte1, Pöbel1. Ktx.: Kultur, Sprache, Schriftsprache. Wbg.: Adj. höfisch, höflich; Subst.: Höflichkeit, Höfling, Hofmann, Hofzeremonienmeister, Hofleute, Hofdeutsch, Hofdienste, Hofmundart, Hofkanzley, Hofsprache, Hofstil, Mittelhof, Oberhofdeutschmeister. Belege zu Hof1: In der Art und Weise, wie sich eine solche höhere Mundart bildet, liegt zugleich der Grund, warum sie zur Schrift- und National-Sprache geschickter und bequemer ist, als eine jede andere, oder vielmehr, warum sie nur allein dazu tauglich ist. So bald sich eine Provinz, entweder durch den Aufenthalt des Hofes, oder auch durch vorzügliche Cultur des Nahrungsstandes, der Künste und der Wissenschaften, über andere erhebt, so bald lockt auch der dem Menschen so natürliche Trieb nach Macht, Ehre und Reichthum zahlreiche Schaaren aus allen übrigen Provinzen dahin, welche die Volksmenge und den Wohlstand vermehren, und dadurch zugleich die Erhöhung und Verfeinerung des Geschmacks beschleunigen. Die Cultur eines Landes macht nie eher eine einige Figur, als bis der Hof aufhöret, wandernd zu seyn, weil die Cultur erst mit dessen Stättigkeit einen festen Punct bekommt, um welchen sie sich drehen und versammeln kann. (Adelung ÜDS/1 1785, 43f. → 1/2/3) Die deutsche Sprache ist nicht in allen Provinzen ganz dieselbe, so wenig sie das bei fortgehender Kultur der deutschen Nation durch alle Zeitläufe bleiben konnte. Jede Provinz hat ihre besondere Mundart, vorzüglich aber unterscheiden sich die oberdeutsche in den südlichen, und die niederdeutsche in den nördlichen Provinzen Deutschlandes. Von beiden muß die hochdeutsche Sprache unterschieden werden, die so gut wie eine nach richtigen Regeln gelehret und gelernet zu werden verdienet. Der beste Teil der Nation hat mit seinem Fortgange in Geschmack, Sitten und Künsten sie zugleich ausgebildet; die Schriftsteller bedienen sich derselben in ihren Schriften; sie findet Achtung an den Höfen und wird täglich mehr die Sprache des gesitteten und verfeinerten Umganges. Deutsche Sprache lehren und lernen gibt Verdienst. (Stutz DSL 1790, 9 →2, Nation1/2, Oberdeutsch1, Niederdeutsch/Plattdeutsch1, Hochdeutsch1/2/7) Weitere Belege zu Hof1: Adelung (GKW/1 1774, XI, XVB) Braun (ADR 1765, 10) Litzel (UC 1730, 43) Männling (ER 1718, I) Ponatus (AHS 1713, H4) Vgl. auch: Litzel (UC 1730, II, 80f.)

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

2. ›Personengruppe, deren Sprache besonders vorbildlich ist‹ Vereinzelt wird der Hof2 als besonders vorbildliche Sprechergruppe genannt. Gründe für diese Stilisierung sind u. a. die Wahrnehmung des Hofes als politisches und kulturelles Zentrum sowie die den Adligen zugeschriebenen moralisch-sittlichen Qualitäten. Des Weiteren kommt in der zugeschriebenen Vorbildlichkeit der Sprache des Hofes auch eine Form der Dienstbeflissenheit einzelner Sprachkundler gegenüber den jeweiligen Fürstenhäusern zum Ausdruck. Die dem Hof in der Bedeutung 2 zugeschriebene Vorbildfunktion ist kritisch zu bewerten, da, wie dies in anderen Belegen zum Ausdruck kommt, der Sprachgebrauch des Adels auch Gegenstand scharfer Kritik und zum Teil von Polemik ist (→ Hof3). Bdv.: Adel, Fürst, Gelehrte2. Ggb.: Bauer2, Gelehrte3, Pöbel2. Synt.: hochdeutsche Höfe. Ktx.: Sprache, Mundart. Wbg.: Subst.: Hofleute, Hofdeutsch, Hofmundart, Hofkanzley, Hofsprache, Mittelhof.

Belege zu Hof2: Die Armuth der hochdeutschen Sprache macht alsdann, daß hochdeutsche Höfe und Kanzelleyen alsdann genöthiget werden, ihre Zuflucht zu der oberdeutschen Mundart zu nehmen, und sich dadurch dem Spott des kurzsichtigen Pedanten auszusetzten [...]. (Adelung GKW/1 1774, Xf. → Hochdeutsch2/3/7, Oberdeutsch1/2) Obschon andere Europäische Höfe ihre Sprachen ausgeübet und durch eigene Grammaticken und kostbare Lexika unter eine gewisse Regel und Ordnung ruhmwürdigst gebracht haben, so ist jedoch, so lange die Welt stehet, noch keiner fähig gewesen, eine kayserliche Deutsche Grammatick und ein kayserliches Wörterbuch zu verfassen: Ja es haben viele lateinischgelehrte Männer das ungegründete Vorurtheil geheget, die deutsche Sprache sei unter keine Regel und Ordnung zu bringen. (von Antesperg KDG 1747, VIf.→ Gelehrte3) Die Schul-Redner bewundern die Beredsamkeit der HofLeute: und die Hof-Leute verlachen die Beredsamkeit der Schul-Redner. Jene wissen nicht wie sie dran sind, wenn ein Lohenstein, ein Seckendorf, ein Fuchs, ec. solche vortreffliche Reden liefern, da sie doch in demselben keine Schul-Disposition, keine Schul-Realien, und mit einem Wort keine Gleichheit mit den Regeln der Schul-Oratorie antreffen. Daher haben sie einen neuen Namen erdacht, und nennen diese eine heroische Beredsamkeit, welche sich an die gemeinen Regeln nicht binde: diese könne man zwar bewundern, aber man dürfe sie nicht nachahmen. Und damit kommen sie durch und behalten ihre nichs taugende Lehren bey den Leichtgläubigen in Ehren. Kommt hingegen ein Schul-Redner nach Hof, ein Compliment oder Rede abzulegen, so hält man die Ohren vor dem Gewäsche zu. Jedermann, der frey und vernünftig erzogen ist, mercket gleich die Affektation, die schlechten Realien, das kindische Spielwerck, den pedantischen Vortrag, und hat vor dieser Schulfüchserey einen solchen Abscheu, daß er wünschet, der Redner möchte zu reden aufhören, da er kaum angefangen hat. (Hallbauer VTO 1725, 233) Die beste Mundart eines Volkes ist insgemein diejenige, die an dem Hofe, oder in der Hauptstadt eines Landes gesprochen wird. Hat aber ein Volk mehr als einen Hof, wie z. E. Wälschland, oder Deutschland: so ist die Sprache des größten Hofes, der in der Mitte des Landes liegt, für die beste Mundart zu halten. (Gottsched DS 1762, 38f. → Nation/Volk1) Weniger, als der eingeborene Leibniz, vermochte der meissnische Ansiedler Gottsched, ein auf der Ostsee geborener Preusse, der täuschenden Vorliebe für Leipzig, die Pflegerin seines Ruhms, zu widerstehn. Seine deutsche Sprachkunst lässt in der Einleitung jene verrufenen Ansprüche zuerst nur verschleiert mit einer fast ungottschedischen Blödigkeit auftreten. Die hochdeutsche Sprache, heisst es, habe ausser den verschiedenen, an eigenem Schiboleth kenntlichen Mundarten oder Dialecten, wozu die meissnische gehöre, noch eine eklektische oder auserlesene Art zu reden, die in keiner Provinz völlig einheimisch sey: nämlich die Mundart der Gelehrten, die er auch

4.3 Diskurslexik: Sprachsoziologische Schlüsselwörter

381

Mundart der Höfe zu nennen wünscht, das wahre kernhafte Hochdeutsch. In Ländern nun, wo mehrere Höfe seyn, enthalten diesen Kern von gelehrter Hofmundart, oder höfischer Gelehrtenmundart, der größte Hof in der Mitte, auch wohl eine benachbarte Stadt, nicht zu weit von der Residenz. Weil aber den rechten Punct in der Mitte nicht jeder herauszirkeln möchte; so giebt die Sprachkunst bey der orthographischen Regel, nach guter Aussprache zu schreiben, eine gewisse etwas umständlichere Nachweisung. Zwar hat sie im Vorigen die Aussprache Been, Freide, globen, kehen, jut und kut, schprechen, Schklave, Vegel, und die Verwechslung des b und d mit p und t , mitunter für meissnisch, aber nicht für sonderlich gut, erklärt. Dennoch werden wir jetzt, die beste Aussprache (und, was unter dem Worte Mundart mit durchschleicht, den richtigsten Sprachgebrauch) dort zu suchen, ermahnt, wo von einer Menge gelehrter und beredter Schriftsteller eine Menge wohlgeschriebener Bücher, wo eine Anzahl hoher und niedriger Schulen, wo die feine Lebensart (jene vom Mittelhofe verbreitete Höflichkeit!) und der angenehme Umgang des Landes so vieles zur Ausputzung der Mundart beygetragen; zumal, wenn sie noch durch fleissige Sprachlehrer und Kunstrichter geläutert werde. (Voß DSK 1804, 204 → Gelehrte1/2, Hochdeutsch1/3, Meißnisch/Obersächsisch1) Weitere Belege zu Hof2: von Antesperg (KDG 1747, XI) Gottsched (DS 1762, 106, 459→ 1) Hallbauer (VTO 1725, 61f., 119f. → 1) Hallbauer (APB 1736, 148f. → 1) Vgl. auch: Adelung (1MDS/I 1782, 15) Adelung (ÜDS/2 1785, 82) Adelung (DSS 1806, 5f.) Rüdiger (VHS 1783, 5, 21f.) Wiarda (AFW 1786, 20)

3. ›Personengruppe, deren Sprachgebrauch nicht vorbildlich ist‹ Im Sprachnormierungsdiskurs wird der Sprachgebrauch des Hofes unterschiedlich beurteilt. Neben der Bewertung als Sprachvorbild sind durchaus kritische Stellungnahmen zu finden. Die Kritik bezieht sich im Wesentlichen auf das beim Adel dominierende Prestige des Französischen und auf die Abwertung des Deutschen durch den Adel, der das Deutsche als eine unkultivierte Sprache betrachte. Bdv.: Adel, Bauer2, Fürst, Gelehrte3, Pöbel2. Ggb.: Gelehrte2. Ktx.: Sprache, Mundart. Wbg.: Hofleute.

Belege zu Hof3: Gelehrsamkeit ist allerdings ein Hülfsmittel des Geschmackes, allein sie macht denselben nicht allein aus, sonst gäbe es keine Pedanten. Es ist daher nicht nothwendig, daß diejenige Provinz, deren Mundart sich zur Schriftsprache erheben soll, gerade die gelehrteste sey. Das beweisen diejenigen Länder, wo die Herrschaftssprache zugleich die Schriftsprache des Landes ist; daß aber die Höfe gerade der gelehrteste Theil eines Landes seyn sollen, wird wohl niemand behaupten. Ober-Sachsen hat aber auch noch den Vortheil der Gelehrsamkeit für sich, weil seit der Reformation alle Wissenschaften, und besonders die zur Verfeinerung des Geschmacks so nothwendige gemeinnüzige Philosophie in diesem Lande geläutert und gereiniget worden, und sich von hier aus über das übrige Deutschland verbreitet haben. (Adelung 1MDS/I 1782, 27 → Meißnisch/Obersächsisch1/2/3) Wenn aber diese guten Scribenten dennoch in gewissen Stücken von einander abgehen: so muß die Analogie der Sprache den Ausschlag geben, wer von ihnen ‹5› am besten geschrieben hat. Oft hat das besondere Vaterland eines Schriftstellers an seinen Abweichungen Schuld f). Oft haben auch die fremden Sprachen, die er am meisten getrieben hat, ihn auf gewisse Abwege geleitet; so daß er sich in seiner eigen Muttersprache fremd und ausländisch ausdrücket g). […] [Die zugehörige Fußnote g) lautet:] Das wiederfährt vielen heutigen Schriftstellern bey uns, die uns mit englischen und französischen Redensarten, auch wohl mit lateinischen und griechischen, die Sprache verderben. Jenes ist ein Fehler der Hofleute, dieses aber insgemein der Gelehrten, sonderlich der Schulmänner. (Gottsched DS 1762, 40 → Gelehrte1/3) Sieht es so mit unsern Büchern und Schriften aus, worin man doch bedachtsam zu Werke gehen kann: Was wird man erst im Sprechen zu erwarten haben, wo die Zunge darüber hereilet; und dem Geiste oft kaum Zeit verstattet, dergleichen Fremdling [ge-

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

meint sind Fremdwörter, Anm. KF] auszuschließen? Und fürwahr, keine babylonische Verwirrung kann größer seyn, als die unserige in diesem Stücke ist. Man braucht keinen weiten Weg zu machen, um sich von dieser scheuslichen Wahrheit zu überzeugen. Man durchgehe nur unsere Stadt Mannheim; und höre die verschiedenen Stände, die sich darin aufhalten, einen nach dem andern sprechen: so wird man wenig Sinne wahrnehmen, wo nicht italienische, lateinische, oder französische Wörter in das Deutsche mit eingehaspelt werden. Unsere Hofleute werden mir es hoffentlich vergeben, wenn ich sie in die öberste Reihe dieser Sprachflicker sehe. Sie reden überhaupt von keinem einzigen Gegenstande, wo sie nicht eine ungeheuere Menge von fremden Wörtern einstreuen. (Hemmer ADS 1769, 60f.) Kommt ein Franzose an einen deutschen Hofe, so ist er Meister in seiner Sprache, und redet man mit ihm französisch, und so mit einem Spanier spanisch, mit einem Italiäner italiänisch; kommt aber ein Deutscher an den französischen Hofe, so ist er in seiner Sprache nicht Meister, er muß französisch reden, sonsten höret und siehet man ihn nicht an: und so gehet es auch einem Deutschen in Spanien, Italien und anderswo. Alle Ausländer bekümmern sich nicht um unsre, aber wir um ihre Sprache. Ich verwerfe es durchaus nicht, daß auch an deutschen Höfen Leute sind, welche fremde Sprachen verstehen: es ist nöthig und nützlich, wenn es nur nicht mit Verachtung und Hindansetzung unsrer Muttersprache geschiehet. (Litzel UC 1730, 96f.) Zwar ausgebreitet ist die sächsische Mundart nun einmal wol zu sehr, als daß sie nicht immer sollte der Grund der Schrift- oder Nationalsprache bleiben. Denn die Höfe, die Gelehrten und alle sich etwas weiser dünkende Leute in den andern Provinzen haben schon zu viel Werth darauf gesezt, wenn einer gut hochdeutsch aussprechen kan. Aber durch die Mundarten der andern Provinzen bereichert muß und wird sie werden, daß sie noch ganz anderes Ansehn gewinnt. (Schmohl DM 1780, 163 → Gelehrte1/2, Hochdeutsch1/3/7, Meißnisch/Obersächsisch1/2/3, Nation1)

4.3.4 ‚Pöbel‘

Pöbel, der, -s/-Ø. Wbg.: Adj.: pöbelhaft, pöbelsüchtig; Subst.: Pöbelsprache,

Pöbelhafte, Pöbelwort. In der allgemeinen Bedeutung bezeichnet der Ausdruck Pöbel eine soziale Schicht, die von anderen sozialen Schichten wie dem Adel (→ Hof1), den Bürgern oder den intellektuellen Bildungseliten (→ Gelehrte1) zu unterscheiden ist (→ 1). Die Sprache der unteren sozialen Schichten ist im Sprachnormierungsdiskurs als Stigmasoziolekt zu kennzeichnen, der von der Norm des ‚Prestigesoziolekts‘ abweicht. Der Sprachgebrauch des Pöbels wird in der Regel negativ bewertet und von der Leitvarietät scharf unterschieden (→ 2). Vereinzelt wird die Sprache des Pöbels positiv bewertet, insofern einige Sprachkundler davon ausgehen, dass die Sprache des Pöbels einem ursprünglicheren Sprachzustand nahe stehe (→ 3).

4.3 Diskurslexik: Sprachsoziologische Schlüsselwörter

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1. ›Bezeichnung für eine soziale Schicht, die unterhalb des Adels, des Bürgertums im Allgemeinen und der Bildungseliten im Besonderen steht‹ 2. ›Personengruppe, deren Sprachgebrauch nicht vorbildlich ist‹ 3. ›Personengruppe, deren Sprache im Gegensatz zur Sprache der Stadtbevölkerung einem ursprünglichen Sprachzustand nahe steht‹ 1. ›Bezeichnung für eine soziale Schicht, die unterhalb des Adels, des Bürgertums im Allgemeinen und der Bildungseliten im Besonderen steht‹ In dieser Bedeutung bezeichnet der Ausdruck eine soziale Schicht, die in der gesellschaftlichen hierarchischen Ordnung unterhalb der oberen sozialen Schichten steht, insbesondere den Bildungseliten (→ Gelehrte1) und dem Adel (→ Hof1). Diese gesellschaftliche Schicht stellt im 18. Jahrhundert die Bevölkerungsmehrheit dar. Die extensionale Bedeutung wird in den Belegen nicht eindeutig exemplifiziert, zum Pöbel lassen sich aufgrund der dargelegten Abgrenzung zu anderen sozialen Schichten aber die ländliche Bevölkerung, vor allem die Landarbeiter, die Handwerker und Tagelöhner sowie die unteren Schichten der städtischen Bevölkerung zählen. Die Lebensbedingungen dieser Schicht werden als einfach und bescheiden beschrieben. Bdv.: Bauer1, gemeine Mann, gemeine Volk, gemeiner Haufen, die niedrigen Stände, unteren Klassen. Ggb.: Hof1, Gelehrte1. Ktx.: Gelehrter. Wbg.: Adj.: pöbelhaft, pöbelsüchtig; Subst.: Pöbelsprache, Pöbelhafte, Pöbelwort.

Belege zu Pöbel1: Einige Wörter werden von gesitteten, andere von lasterhaften Leuten, einige von wohlerzogenen Personen, andre vom Pöbel gebraucht. Man sieht leicht, welche man zum Ausdruck zu wählen hat, wenn man schamhaft und artig seyn will. Gute Sitten und ein edler Umgang haben auch einen Einfluß auf Empfindungen und Sprache. Man darf weder kriechen noch auf Stelzen gehen. Auch Unstudirte lesen gute Tragödien, und verstehen sie. [...] 2. Anmerkung. Nicht alles Ungewöhnliche, nicht alle Redensarten des Pöbels sind deswegen niedrig, und das Nothwendige kann sich mit Wohlstand vertragen. (Lindner AGS 1755, 20 → 2/3) Die gute Aussprache gilt überhaupt mehr, als die Herleitung: Sie ist aber zweifelsohne gut, wenn sie den Gelehrten und dem Pöbel in allen Ländern miteinander gemein ist. (Weitenauer ZDS 1772, 49 → 2, Gelehrte1/2) Weitere Belege zu Pöbel1: Adelung (UL/1 1782, 85) Braun (ADS 1765, IV) Dornblüth (Obs 1755, 7) Gottsched (AR, 201) Hallbauer (VTO 1725, 62f.) Vgl. auch: Litzel (UC 1730, 4f.) Moritz/Vollbeding (GW/IV 1800, 25f.) Richey (IH 1755, 50) Tetens (GNE 1765-1766, 20) Weitenauer (ZDS 1772, 26, 64)

2. ›Personengruppe, deren Sprachgebrauch nicht vorbildlich ist‹ Im Sprachnormierungsdiskurs stellt die Sprache der bildungssoziologisch definierten Schicht der Gelehrten (→ Gelehrte1/2) und die Sprache der oberen sozialen Schichten der Bevölkerung ein ‚Prestigesoziolekt‘ dar, wobei primär die städtische Bevölkerung gemeint ist. Im Gegensatz dazu wird

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4. Der sprachsoziologische Diskursbereich

der Sprachgebrauch des Pöbels als Inbegriff des normwidrigen Sprachgebrauchs stilisiert (→ 2). Dieser ‚Stigmasoziolekt‘ bildet den Gegenpol zur hochdeutschen Leitvarietät. Als Gründe für die Ablehnung des Sprachgebrauchs der unteren sozialen Schichten werden u. a. der Gebrauch von Grobianismen und Verstöße gegen grammatische, lexikalische und stilistische Normen genannt. Darüber hinaus gelten die dem Pöbel zugehörigen Personen als reine Dialektsprecher, die das überregional verständliche Hochdeutsch nicht beherrschen (→ Hochdeutsch1/2/7). Bdv.: Bauer2, gemeine Mann, gemeine Volk, Gelehrte3. Ggb.: Gelehrte2, Hof2; Synt.: Sprache des Pöbels, pöbelhafter Stil. Man sollte nicht Schriften mit pöbelhaften Fehlern besudeln. Man sollte nicht dem tyrannischen Gebrauch des Pöbels nachgeben. Ktx.: Dialekt, Gelehrter, Mundart, Sprache. Wbg. Adj.: pöbelhaft, pöbelsüchtig; Subst.: Pöbelsprache, Pöbelhafte, Pöbelwort.

Belege zu Pöbel2: […] wenn man auf der andern Seite Sprache und Ausdruck zu arm findet, und, unter dem Vorwande, die Sprache zu bereichern, aus fremden Sprachen und Mundarten borgt, alltägliches Geschwätz, dunkle Vorstellungen, mit unter auch wohl Unsinn, zur Schau auszulegen, wenn der Geschmack so weit verfällt, daß die Musen nicht mehr erröthen, die Sprache des Pöbels zu reden, wenn das alles, sage ich, allgemeiner Geschmack wird, dann ist der Verfall der Sprache da. (Adelung UL/1 1782, 71 → 1) Eine jede Sprache hat ihren gewissen Genie / welcher sich in Regeln zeuhen läßt. Derjenige redet deutlich / der die Kunst weiß seine Wörter in die rechte Ordnung zubringen. Der niedrigste Pöbel kann villeicht alle Worte sammt derselben Begriffen im Kopffe haben; aber dieses will ich nicht sagen / daß er die Sprache deutlich reden könne / so wenig als man sagen kann daß derjenige ein Baumeister seye / der alle Materialien zu einem Pallast zwar zu seinem Dienste hat / aber die Kunst nicht kann / die Steine und das schon ausgezimmerte Holtz in eine proportionirte Form zurücken. (Bodmer/Breitinger DM/1 1721, F2v, F3r) Aber wenn ich dem Gebrauch das Recht zugebe / die Sprachen zumachen / so verstehet sich nicht / daß ich den Pöbel / welcher die meisten Stimmen hat / und also Meister ist / den Gebrauch einzuführen welchen er will / zum Richter aufwerffe. Der Gebrauch kan gut und schlimm seyn. Das Thun der Verständigen ist das Model / in welches sich diejenige stellen / welche wol leben wollen; Der wol reden will / nimmt zum Muster die Reden politer und wiztiger Männern / welche sich durch ihre Sprache von des gemeinen Pöbels feiner abgesondert haben. Es würde eben so unnöthig seyn, von dem Nutzen einer richtigen deutschen Sprachkunst zu handeln, als es vergebens seyn würde, zu behaupten, daß sich unsere Landsleute hierinnen bisher merklich hervorgethan hätten. Das erste wird von Niemanden mehr, der über den gemeinen Haufen des gelehrten und ungelehrten Pöbels auch nur ein wenig hinaus ist, in Zweifel gezogen; und das letzte können wir nicht widersprechen, ausser wir wollten die Menge von unsern Autoren in Druck gegebenen Schriften, kurzum weg läugnen. (Braun ADS 1765, VII → 1) Ein Dialekt; oder eine Mundart besteht im eigentlichen Verstande nur in der Verschiedenheit der Aussprache, oder auch in der Verschiedenheit ihrer Abänderungen. Also muß man nicht das Lateinische nach der Römischen bauren, das Französische nach des gemeinen volcks zu Pariß, das Teutsche nach des pöbels ausdruck, aussprache und manier zu reden beurtheilen. Man muß auch nicht, wann man eine sprache lernen will, selbige nach des pöbels art zu reden, sich angewöhnen, z. e. wer Teutsch lernet, muß nicht aussprechen: loffen, glauben, wo hammerschen, ec. an statt, lauffen, gläben, wo haben wir es denn ec. ohngeachtet freylich der universelle gebrauch nicht zu verabsäumen. (Fabricius PhO 1724, 180 → Bauer2, Volk6) So lange eine Sprache nur als ein nothwendiges Mittel gebraucht wird, den bürgerlichen und gemeinen Umgang unter den Menschen zu unterhalten, so lange bleibt sie auch in dem Kreise der gewöhnlichen und täglich vorfallenden Geschäfte eingeschlossen, und ist tausend Veränderungen unterworffen. So bald aber bey einer Nation die Liebe zu

4.3 Diskurslexik: Sprachsoziologische Schlüsselwörter

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nützlichen Künsten, und Wissenschaften, die Untersuchung der Wahrheit, und ein scharfes Nachdencken, höher steigen, so daß die Sprache nunmehr für eine Auslegerinn der Gelahrtheit und Weißheit dienen soll, so bald fängt mit dem Wachsthum der Erkenntniß und der Begriffe auch die Vermehrung der Zeichen und die Bereicherung der Sprache an, und dadurch bemächtigen sich die Gelehrten allmählig eines besondern Rechtes über den tyrannischen Gebrauch des Pöbels, der zuvor mit der Sprache nach seinem Eigensinne, und ohne jemandes Einreden gehandelt hatte. Dieses ist um desto gewisser: da alle Sprachen unter einer Menge eines rohen Volkes zuerst entstanden; oft durch Vermischungen fremder Sprachen verwirret, und durch allerley einschleichende Misbräuche, noch mehr verderbet worden. Sobald sich nun Gelehrte finden, die auch auf die Schreibart einigen Fleiß wenden; so fängt man an, die Sprachähnlichkeit besser zu beobachten, als der Pöbel zu thun pflegt: und die Sprache ver-(4)liert also etwas von ihrer Rauhigkeit. (Gottsched DS 1762, 39 → 1; Gelehrte1/2, Volk1) Allein was ist denn eigentlich der Gebrauch in einer Sprache? Gewiß nicht daß, was von dem Pöbel oder den meisten, sondern welches von mehrern Gelehrten und Ungelehrten allerley Standes öfters im Reden und Schreiben gebrauchet wurde; oder was man öfters in des seligen Luthers Übersetzung der Bibel, auch in anderer, die dafür gehalten worden, daß sie gut teutsch geschriben, Schriften antrifft, und von geschickten Leuten bey Hofe und in angesehenen Städten, im Reden gebraucht wird. (Hallbauer VTO 1725, 61f. → 1; Gelehrte1/3, Hof2) Man nehme sich inacht, wenn man mit dem Pöbel reden will, um den Pöbel lächerlich zu machen, wie in Komödien geschehen muß, daß man nicht encomia luti mache, oder den Wohlstand beleidige. Man setzt dies an Swifts großer Kunst (Ars magna) und an einigen Lustspielen des Hrn. B von Hollberg aus. Es ist eine Kunst, sich in dies Feld zu wagen, ohne zu verbauern, und es ist darum nicht jeder Witzling berechtigt, Bierbänke zu besuchen, weil Swift, […] der bekannte englische Satiricker, oft in Wirthshäuser gegangen, um dem Pöbel seine Art abzulernen, und ihn recht treffen zu können. (Lindner AGS 1765, 21 → 1) Diese Art und Weise zu reden ist, die Natur einer Sprache (genius linguæ). Diese Natur ist entweder vollkommener, oder unvollkommener, regelmäßiger, oder weniger regelmäßig. Jenes ist die verbesserte Natur einer Sprache (genius linguæ correćtior). Der Pöbel redet allemal auch seine Sprache, wie es die Natur derselben mit sich bringt, allein er redet sie lange nicht so regelmäßig und vollkommen, als etwa einige vornehme und gelehrte Leute. (Meier ASW/3 1759, 346 → 1, Gelehrte1/2) Aus dieser Beobachtung, so wie aus den oben festgestellten Grundsätzen schließe Ich, daß der Geist der deutschen Sprache, sogar in Rücksicht auf die Gestalt der Wörter, mit keinem einer andern verwandt ist, und daß Er, Sich weigert ein fremdes Wort für Sein zu erkennen, wenn Es noch so lange das Bürgerrecht genossen hat, und, so zu sagen, schon in den Mund des Pöbels übergegangen ist. (Mertian UN 1796, 123) Weitere Belege zu Pöbel2: Bodmer/Breitinger (DM/1 1721, F3) Braun (ADS 1765, 7 → 1) Fabricius (PhO 1724, 144, 180) Fulda (VIS 1788,