Konzept zur Entwicklung integrierter Beratung : Integration systemischer Elemente in die klassische Beratung
 9783835096400, 3835096400 [PDF]

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Zitiervorschau

Gregor Handler Konzept zur Entwicklung integrierter Beratung

Techno-ökonomische Forschung und Praxis Herausgeber: Prof. Dr. Ulrich Bauer, Prof. Dr. Hubert Biedermann, Prof. Dr. Josef W. Wohinz

Ausgewählte Arbeiten aus Forschung und Praxis bei der interdisziplinären Behandlung von ökonomischen und technologischen Fragestellungen bilden den Inhalt dieser Schriftenreihe. In theoretisch fundierter Modellbildung wie in konkreter Anwendung werden insbesondere die Themen Wissensmanagement, Innovationsmanagement, Technologiemarketing, Prozessmanagement und Controlling, Instandhaltung und Qualitätsmanagement behandelt. Die Beiträge richten sich gleichermaßen an MitarbeiterInnen in Wissenschaft und Praxis.

Gregor Handler

Konzept zur Entwicklung integrierter Beratung Integration systemischer Elemente in die klassische Beratung

Mit Geleitworten von Prof. Ulrich Bauer und Prof. Alfred Janes

Deutscher Universitäts-Verlag

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Dissertation Technische Universität Graz, 2006

D 17

flage Dezember 1997 1. Auflage Juli 2007 Alle Rechte vorbehalten © Deutscher Universitäts-Verlag | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frauke Schindler / Anita Wilke Der Deutsche Universitäts-Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.duv.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8350-0851-9

Geleitwort

V

Geleitwort Generell stehen Unternehmungen vor sehr komplexen neuen Herausforderungen, hervorgerufen durch eine Intensivierung des weltweiten Wettbewerbes und eine ständig fortschreitende technologische Weiterentwicklung. Um ebendiesen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen, ist ein entsprechendes Problemverständnis in den Unternehmungen, aber auch das Wissen damit umzugehen, eine der Grundvoraussetzungen für Erfolg. Gerade große Firmen haben auf diese Situation damit reagiert, einerseits internes Know-how aufzubauen und andererseits auch externe Hilfe in Anspruch zu nehmen. Mittlerweile macht die Globalisierung auch vor kleinen und mittleren Unternehmungen nicht mehr Halt, sodass auch diese Firmen z.B. Auslandstöchter in Ländern wie China etc. errichten. Gerade in solchen Unternehmungen ist es natürlich sehr schwierig, geeignete interne Ressourcen und entsprechendes Know-how aufzubauen, sodass auch für diese Unternehmungen eine externe Unterstützung unverzichtbar ist. Solch externe Hilfestellungen werden seit vielen Jahrzehnten von den klassischen großen Beratungsfirmen angeboten und sind meist sehr kostenintensiv. Gleichzeitig ist die Einbeziehung von externen Beratern noch kein Garant dafür, dass die erarbeiteten Konzepte auch entsprechend umgesetzt werden. Gerade hier wird die Kosten-Nutzen-Relation häufig in Frage gestellt. Aus der ernüchternden Feststellung, dass selbst klingende Beraternamen und ausgezeichnete Konzepte keine Umsetzung dieser Konzepte gewährleisten können, hat sich vor allem in den neunziger Jahren die systemische Beratung entwickelt, die die Einbeziehung der jeweiligen Organisation in die Erarbeitung der Beratungsansätze sowie in die anschließende Umsetzung in den Mittelpunkt stellt. Bei der systemischen Beratung wurde zwar der sozialwissenschaftliche und therapeutische Aspekt ausreichend berücksichtigt, aber gleichzeitig wird die Kritik laut, dass die inhaltliche Arbeit häufig zu kurz kommt. Dies hat wiederum zur Folge, dass auch die systemische Beratung nur unzureichende Hilfestellung bei der Bewältigung von neuen Herausforderungen für die Unternehmungen anbietet. Aus dieser Problematik des Spannungsfeldes zwischen klassischer und systemischer Beratung heraus hat der Autor sein Konzept für eine integrierte Beratung erarbeitet und im Detail dargestellt. Weiters entwickelte Herr Handler Ansätze für die diesbezügliche Weiterentwicklung in der klassischen Beratung, da gesamtwirtschaftlich betrachtet die klassische Beratung volumenmäßig die systemische Beratung um ein Vielfaches übertrifft, und deshalb in Summe einen höheren Handlungsbedarf aufweist. Gerade dieser Fokus macht die Arbeit für die klassische und für die systemische Beratung, aber auch für Unternehmungen, die mit Beratern intensiv zusammenarbeiten, besonders interessant. Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. techn. Ulrich Bauer

Geleitwort

VII

Geleitwort Wenn Gregor Handler in diesem Buch über integrierte Beratung schreibt, tauchen sofort drei Fragen auf. Erstens: was integrieren? Zweitens: und zwar vor allem wozu? Schließlich muss nicht alles, was sich unterscheidet, nur deswegen, weil es sich unterscheidet, auch schon unbedingt integriert werden. Und drittens, wenn wir nun beginnen darüber nachzudenken, ob sich das Integrieren wohl lohnen kann, stellt sich die Frage, ob – wenn wir es personenbezogen formulieren – die, die da integriert werden sollen, sich denn überhaupt integrieren lassen wollen. Dass Berater begonnen haben sich mit solchen Themen auseinanderzusetzen und sich dazu in einem wissenschaftlichen Kontext auch mitgeteilt haben, ist noch nicht allzu lange her. Das Thema ist an die 15 Jahre alt. Soweit ich das als Systemischer Organisationsberater, Angehöriger der "Wiener Schule der Organisationsberatung", überblicke, hat das Reflektieren darüber auf "unserer" Seite begonnen. Zu Beginn der 1990er Jahre. Bis dorthin hatten wir eigentlich noch gar nicht so richtig wahrgenommen, dass es so etwas wie Fachberater überhaupt gibt. Als "Systemiker" hatten wir die andere Seite der Welt schlicht nicht im Auge. Es war vor allem unser Kollege Rudi Wimmer, der erstmals 1992 systematisch begonnen hat, uns damit zu ärgern, darauf hinzuweisen, dass es diese andere Seite gibt. Eine andere Seite, die noch dazu sehr erfolgreich arbeitet. Nun inzwischen hat sich unser Weltbild verändert. David und Goliath? Damit die Metapher passt, unterstellen wir in unserem Zusammenhang einfach beiden friedliche Absichten! Aber was hat es denn nun wirklich auf sich mit diesen beiden Seiten, die Gregor Handler integrieren will? Insbesondere, wo er doch von der "Goliath-Seite" kommt ? Wo und bei wem liegt die Not, die es durch Integration zu wenden gilt? Nun, nüchtern betrachtet wandert der Autor mit seinem Buch auf einem Weg, auf dem es schon Wanderer gibt. Die oben adressierten Berater der "Wiener Schule" haben ihre ersten Lektionen gelernt und begonnen, Fachberatungsansätze und Fachberatungsinhalte vielfältig in ihre Beratungsarbeit zu integrieren. Einzelne Vorurteile gegenüber Fachberatern wurden dabei über Bord geworfen. Die Bereitschaft dazu war der Marktentwicklung geschuldet bzw. der Notwendigkeit, an diesem sich entwickelnden Markt erfolgreich zu sein. Das dabei entstandene Schrifttum liegt inzwischen vor. Der besondere Wert des vorliegenden Buches ergibt sich aus der Tatsache, dass sich zu dem auf obigen Wegen herumtreibenden Völkchen erstmals ein Wanderer gesellt, der aus der Tradition und der Schule einer der weltweit größten und marktmächtigsten Fachberaterfirmen kommt. Gerade weil sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht alle Fragen zu Sinnhaftigkeit und Realisierungschancen von

VIII

Geleitwort

Integrationskonzepten endgültig beantworten lassen, bringt dieses Buch eine neue Qualität und eine neue Bedeutung in die Diskussion um die Suche nach einer strategischen Orientierung für die Entwicklung der professionellen Organisationsberatung. Dort, wo der Autor konkrete Integrationsansätze vorstellt, beinhalten diese Ansätze – entsprechend seiner professionellen Herkunft – vor allem Lösungen, Konzepte und Hinweise für Fachberater. Dort, wo er aber liebevoll und sorgfältig die Wurzeln und bisherigen Integrationsbemühungen – und wohl auch Integrationsvermeidungen – der beiden untersuchten Beratungstraditionen nachzeichnet, erwartet jeden Berater – gleich welcher Provenienz – eine äußerst anregende, gleichermaßen interessante und vergnügliche Lektüre. Prof. Dipl.-Ing. Dr. techn. Alfred Janes

Danksagung

IX

Leitspruch "Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünscht für diese Welt."

Mahatma Gandhi

Danksagung Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle jenen Personen, die entscheidend zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben. Zuerst möchte ich mich bei meinem Doktorvater und Erstgutachter Herrn Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. techn. Ulrich Bauer aufrichtig bedanken. Durch seine Bereitschaft, die Betreuung einer externen Arbeit zu übernehmen, hat er mir das akademische Umfeld für die Durchführung der Dissertation eröffnet. In diesem hat er mir während des gesamten Forschungsvorhabens mit seiner vertrauensvollen Art und durch seine umsichtige Führung großzügige Freiräume geschaffen, in denen ich anhand von unterschiedlichen Aufgaben wachsen und so an der wissenschaftlichen Arbeit reifen konnte. Darüber hinaus hat er mich vor allem in der Abschlussphase der Arbeit bedacht gecoacht und zielführend unterstützt. Ein wertschätzendes Dankeschön gilt auch Herrn Prof. Dipl.-Ing. Dr. techn. Alfred Janes, der sich bereiterklärt hat, die Zweitbegutachtung der Arbeit zu übernehmen. In intensiven Diskussionen hat er durch seine konstruktive Kritik sowie wertvollen Anregungen entscheidende Impulse gesetzt, welche nicht nur die Konzeption des Forschungsvorhabens, sondern auch den Inhalt der Arbeit nachhaltig geprägt und qualitativ verfeinert haben. Ein besonderer Dank gebührt meinen 70 InterviewpartnerInnen, die mir durch ihre Bereitschaft an der empirischen Untersuchung teilzunehmen, erst das Erstellen der vorliegenden Arbeit ermöglicht haben. Aus den intensiven Gesprächen mit diesen erfahrenen Persönlichkeiten durfte ich nicht nur viel Inhaltliches erlernen, sondern vor allem für meinen persönlichen Entwicklungsprozess viel erfahren. Außerordentlich dankbar bin ich meinem großen Freundeskreis, der mir während der gesamten Promotionszeit stets Verständnis entgegengebracht und mich immer mit Aufmunterung unterstützt hat. Insbesondere möchte ich mich hier bei Jürgen Raith bedanken, der mir von Anfang bis Ende oft in stundenlangen Diskussionen sowohl geduldig als auch kritisch ein unermüdlicher Wegbegleiter gewesen ist. Als solchen

X

Danksagung

möchte ich auch Peter Steinbauer erwähnen, mit dem ich vor allem in schwierigen Phasen immer wieder ausführliche Telefonate geführt habe. Kritische Fragen sowie aufmunternde Worte verdanke ich jedoch auch Konrad Richter, der in intensiven Gesprächen immer wieder ein unterstützender Reflexionspartner gewesen ist. Dies trifft letztlich genauso auf Hannes Pichler und Wolfgang Scheikl zu, denen ich im Laufe der Arbeit aufgrund des gemeinsamen Interesses an der betrachteten Themenstellung so begegnen durfte, dass in kürzester Zeit eine enge Freundschaft entstehen konnte. Aus einer ähnlichen Begegnung ist während der Arbeit auch der wertschätzende Kontakt zu Frau Dr. Roswitha Königswieser und Herrn Dipl.-Psych. Martin Hillebrand entstanden, bei denen ich mich hier ebenfalls bedanken möchte. Sie haben sich mit ihrer umfangreichen Beratungserfahrung mehrmals bereiterklärt, in eine gemeinsame Reflexion einzusteigen und haben so einen offenen Gedankenaustausch in beide Richtungen unterstützt. Des Weiteren möchte ich noch meinem Arbeitgeber, McKinsey & Company, Inc., danken, der mit dem McKinsey-Fellow-Programm optimale Rahmenbedingungen für das Verfassen dieser wissenschaftlichen Arbeit geschaffen hat. Auf der persönlichen Ebene richtet sich mein aufrichtiger Dank hier vor allem an Oliver Triebel, der es mir ermöglicht hat, meine Beratungstätigkeit während meines Dissertationsabschlusses äußerst flexibel zu gestalten. Das größte Dankeschön möchte ich abschließend jedoch meinen beiden Eltern ausdrücken, die meinen persönlichen Entwicklungsprozess immer gefördert sowie meinen beruflichen Werdegang stets respektiert haben. Sie haben mir jederzeit das Vertrauen geschenkt, das Richtige zu tun, und mir dadurch den nötigen Rückhalt gegeben, um meinen eigenen Weg zu finden und zu gehen. Währenddessen war ihre Unterstützung immer ein Angebot, aber nie eine Verpflichtung, und ihre Nähe stets etwas Mögliches, jedoch nie eine Bedingung. Ihnen widme ich diese Arbeit.

Dipl.-Ing. Dr. techn. Gregor Handler

Anmerkung des Autors: Aus Gründen der leichteren Formulierbarkeit und besseren Lesbarkeit werden im Allgemeinen die maskulinen Formen verwendet. Die einzigen Ausnahmen zu dieser Konvention bilden die Begriffe 'InterviewpartnerInnen' und 'ExpertInnen', die bewusst gewählt wurden, um der Zusammensetzung des interviewten Personenkreises gerecht zu werden.

Kurzfassung

XI

Kurzfassung Diese Arbeit geht von der Grundhypothese aus, dass die klassische Beratung (z.B. McKinsey, BCG) und die systemische Beratung (z.B. CONECTA, Königswieser & Network) gegenwärtig inhaltliche Konzepte sowie deren nachhaltige Umsetzung nur punktuell, aber noch nicht institutionalisiert anbieten können, weil in beiden wichtige Aspekte vernachlässigt werden. Basierend darauf sucht sie die Grundfragestellung zu beantworten, wie Beratung derart konzipiert werden kann, dass in einer institutionalisierten Form sowohl inhaltliche Konzepte erarbeitet werden können als auch deren nachhaltige Umsetzung unterstützt wird. Die Vorbereitung für den Antwortversuch hierzu erfolgt, indem zuerst auf Beratung im Überblick eingegangen wird. Basierend darauf werden die beiden Idealtypen der betrachteten Beratungsformen aus deren historischen Wurzeln abgeleitet, um dann mittels einer empirischen Untersuchung die wahrgenommenen Unterschiede zu den gegenwärtigen Realtypen zu reflektieren. Daran anschließend werden zukünftige Perspektiven dahingehend diskutiert, was und wie die beiden Realtypen voneinander lernen können, ehe als Synthese der Arbeit ein mögliches Konzept für integrierte Beratung vorgestellt wird. Ergänzend dazu wird noch erläutert, welche systemischen Elemente in der klassischen Beratung angewendet werden können, womit ein praktischer Beitrag für deren konkrete Weiterentwicklung geleistet wird.

Abstract The thesis evolves around the core hypothesis that both classic consulting (e.g. McKinsey, BCG) and systemic consulting (e.g. CONECTA, Königswieser & Network) are currently only capable of delivering practical concepts as well as sustainable implementation at a selective, but not at an institutional level, because they each neglect important aspects. Based on that the thesis seeks to answer the core question of how to redesign consulting in such a way that practical concepts and sustainable implementation can be delivered at an institutional level. To derive an answer, the thesis first provides an overview of consulting in general and then discusses the historic roots of classic consulting and systemic consulting. An empiric survey helps then to reflect where these two consulting approaches are positioned today and, furthermore, to sketch future perspectives on what and how classic consulting and systemic consulting could learn from each other. Hereafter, one possible concept for integrated consulting is introduced as the synthesis of the thesis. Complementary, the integration of systemic elements into classic consulting is reviewed in order to concretely develop it further.

Inhaltsverzeichnis

XIII

Inhaltsverzeichnis 1

Einleitung ........................................................................................................ 1 1.1

Ausgangssituation ........................................................................................ 1

1.2

Zielsetzung der Arbeit................................................................................... 4

1.3

Abgrenzung des Themenfeldes .................................................................... 6

1.4

Hypothesen und Fragestellungen ................................................................. 9

1.5

Vorgehensweise der Arbeit......................................................................... 11

1.6

Aufbau der Arbeit........................................................................................ 13

2

Beratung im Überblick ................................................................................. 17 2.1

Begrifflicher Bezugsrahmen........................................................................ 17

2.1.1

2.1.1.1

Beratungsformen .......................................................................... 18

2.1.1.2

Beratungstypen ............................................................................ 21

2.1.2

2.2

Beratungsprojekt, Beratungssystem, Intervention ........................ 22

2.1.2.2

Klient, Klientensystem und Klientenunternehmen ........................ 24

2.1.2.3

Berater, Beratersystem und Beratungsunternehmen ................... 25

2.1.2.4

Inhaltliche, zeitliche, soziale und räumliche Dimension ................ 26

2.1.2.5

Diagnosephase, Konzeptphase und Umsetzungsphase .............. 28

Differenzierungslogik für Beratungsformen................................................. 31 Beratungsfokus.................................................................................... 32

2.2.1.1

Inhaltsorientierter Beratungsfokus ................................................ 34

2.2.1.2

Prozessorientierter Beratungsfokus.............................................. 37

2.2.2

3

Beratungskomponenten....................................................................... 22

2.1.2.1

2.2.1

2.3

Beratung .............................................................................................. 17

Beratungsparadigma ........................................................................... 40

2.2.2.1

Mechanistisches Beratungsparadigma......................................... 43

2.2.2.2

Systemisches Beratungsparadigma ............................................. 49

Schlussfolgerungen .................................................................................... 57 Historische Wurzeln der Beratungsformen................................................ 61

3.1

Historische Wurzeln der klassischen Beratung........................................... 61

XIV

Inhaltsverzeichnis 3.1.1

Arthur D. Little...................................................................................... 62

3.1.2

Booz Allen Hamilton ............................................................................ 65

3.1.3

McKinsey & Company ......................................................................... 68

3.1.4

A.T. Kearney........................................................................................ 75

3.1.5

The Boston Consulting Group ............................................................. 77

3.1.6

Roland Berger Strategy Consultants ................................................... 81

3.1.7

Fazit über historische Wurzeln der klassischen Beratung ................... 83

3.2

Historische Wurzeln der systemischen Beratung........................................ 85

3.2.1

Radikaler Konstruktivismus ................................................................. 87

3.2.2

Chaostheorie ....................................................................................... 90

3.2.3

Kybernetik............................................................................................ 91

3.2.4

Allgemeine Systemtheorie ................................................................... 94

3.2.5

Systemische Familientherapie ............................................................. 96

3.2.6

Systemische Kommunikationstheorie ................................................ 100

3.2.7

Autopoiesekonzept ............................................................................ 103

3.2.8

Soziologische Systemtheorie............................................................. 108

3.2.9

Fazit über historische Wurzeln der systemischen Beratung .............. 127

3.3 4

Schlussfolgerungen .................................................................................. 134 Systemische Elemente zur Integration..................................................... 141

4.1

Bezugsrahmen.......................................................................................... 141

4.2

Basiskomponenten ................................................................................... 149

4.3

Interventionsdesigns ................................................................................. 157

4.3.1

Diagnosedesigns ............................................................................... 159

4.3.2

Konferenzdesigns .............................................................................. 169

4.4

Interventionstechniken .............................................................................. 183

4.4.1

Elementare Fragetechniken............................................................... 186

4.4.2

Paradoxe Interventionen.................................................................... 195

4.4.3

Künstlerische Interventionen ............................................................. 202

4.4.4

Systemische Aufstellungen................................................................ 206

4.5

Schlussfolgerungen .................................................................................. 210

Inhaltsverzeichnis 5

XV

Empirische Untersuchung......................................................................... 213 5.1

Untersuchungsinteresse ........................................................................... 213

5.1.1

Untersuchungsziel ............................................................................. 213

5.1.2

Untersuchungsbereich....................................................................... 215

5.1.3

Untersuchungshypothesen ................................................................ 215

5.2

Untersuchungsdesign ............................................................................... 215

5.2.1

Forschungsansatz ............................................................................. 216

5.2.2

Untersuchungsmethode..................................................................... 219

5.2.3

Interviewstruktur ................................................................................ 223

5.3

Untersuchungsdurchführung..................................................................... 225

5.3.1

Durchführungsvorbereitung ............................................................... 226

5.3.2

Interviewdurchführung ....................................................................... 229

5.3.3

Datenauswertung .............................................................................. 232

5.3.4

Ergebnisreflexion............................................................................... 236

5.4

InterviewpartnerInnen ............................................................................... 237

5.4.1

Berufserfahrung................................................................................. 238

5.4.2

Projekterfahrung ................................................................................ 240

5.4.3

Unternehmen..................................................................................... 242

5.4.4

Standorte ........................................................................................... 243

6

Reflexionen über die Beratungsformen ................................................... 245 6.1

Selbstbilder und Fremdbilder der Beratungsformen ................................. 245

6.1.1

Selbstbilder und Fremdbilder der klassischen Beratung.................... 246

6.1.2

Selbstbilder und Fremdbilder der systemischen Beratung................. 247

6.1.3

Fazit über Selbstbilder und Fremdbilder der Beratungsformen ......... 249

6.2

Evolution der Beratungsformen ................................................................ 251

6.2.1

Evolution der klassischen Beratung................................................... 252

6.2.2

Evolution der systemischen Beratung ............................................... 255

6.2.3

Fazit über Evolution der Beratungsformen ........................................ 257

6.3

Charakteristika der Beratungsformen ....................................................... 258

6.3.1

Kompetenz über fachliche Themen ................................................... 259

XVI

Inhaltsverzeichnis 6.3.2

Unterstützung durch inhaltliche Beiträge ........................................... 262

6.3.3

Geschwindigkeit der Konzepterarbeitung .......................................... 265

6.3.4

Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse................................................... 269

6.3.5

Ressourcen der Beratungsunternehmen ........................................... 272

6.3.6

Implikationen für das Management.................................................... 275

6.3.7

Umgang mit Komplexität.................................................................... 277

6.3.8

Auftreten der Berater ......................................................................... 280

6.3.9

Qualität der Kommunikation .............................................................. 285

6.3.10

Reflexion der Problemstellung ........................................................... 289

6.3.11

Integration der Betroffenen ................................................................ 293

6.3.12

Unterstützung von verändernden Prozessen..................................... 299

6.3.13

Kompetenz über soziale Systeme ..................................................... 308

6.3.14

Fazit über Charakteristika der Beratungsformen ............................... 311

6.4

Themenstellungen für die Beratungsformen ............................................. 311

6.4.1

Themenstellungen für klassische Beratung ....................................... 312

6.4.2

Themenstellungen für systemische Beratung.................................... 316

6.4.3

Fazit über Themenstellungen für die Beratungsformen ..................... 321

6.5

Schlussfolgerungen .................................................................................. 323

6.5.1

Kriterien zur Wahl des passenden Realtyps ...................................... 323

6.5.2

Integrierte Beratung als Kombination der Realtypen ......................... 327

7

Perspektiven für die Beratungsformen .................................................... 331 7.1

Spannungsfeld zwischen den Beratungsformen....................................... 331

7.1.1

Fundamentale Ideologie .................................................................... 332

7.1.2

Differenzierende Charakteristika........................................................ 335

7.1.3

Bestehende Barrieren........................................................................ 338

7.1.4

Fehlende Impulse .............................................................................. 340

7.1.5

Fazit über das Spannungsfeld zwischen den Beratungsformen ........ 342

7.2

Entwicklungspotenziale für die Beratungsformen ..................................... 342

7.2.1

Entwicklungspotenziale für die klassische Beratung.......................... 343

7.2.2

Entwicklungspotenziale für die systemische Beratung ...................... 352

Inhaltsverzeichnis 7.2.3 7.3

XVII

Fazit über die Entwicklungspotenziale für die Beratungsformen ....... 360

Realisierungsoptionen für die Beratungsformen ....................................... 361

7.3.1

Realisierungsoptionen für die klassische Beratung ........................... 362

7.3.2

Realisierungsoptionen für die systemische Beratung ........................ 369

7.3.3

Fazit über die Realisierungsoptionen für die Beratungsformen ......... 373

7.4

Anforderungsprofil an einen Berater ......................................................... 376

7.4.1

Beratungsfundamente ....................................................................... 377

7.4.2

Beratungsintelligenz .......................................................................... 381

7.4.3

Beratungskompetenz......................................................................... 385

7.4.3.1

Teilkompetenzen ........................................................................ 387

7.4.3.2

Gesamtkompetenzen ................................................................. 394

7.4.4

Beratungswissen ............................................................................... 398

7.4.5

Fazit über Anforderungsprofil an einen Berater ................................. 401

7.5

Schlussfolgerungen .................................................................................. 403

7.5.1

Adressierung des Spannungsfeldes .................................................. 404

7.5.2

Dimensionen der Kompetenzentwicklung.......................................... 407

8

Konzept für integrierte Beratung .............................................................. 425 8.1

Rahmenbedingungen für integrierte Beratung .......................................... 425

8.1.1

Ansprüche an integrierte Beratung .................................................... 425

8.1.2

Voraussetzungen für integrierte Beratung ......................................... 430

8.1.3

Fazit über die Rahmenbedingungen für integrierte Beratung ............ 435

8.2

Strukturmodell für integrierte Beratung ..................................................... 435

8.2.1

Reflexionsebene für integrierten Beratung ........................................ 438

8.2.2

Aktionsebene für integrierte Beratung ............................................... 449

8.2.3

Fazit über das Strukturmodell für integrierte Beratung ...................... 462

8.3

Prozessmodell für integrierte Beratung..................................................... 465

8.3.1

Prozesskomponenten der integrierten Beratung ............................... 468

8.3.2

Projektmanagement der integrierten Beratung .................................. 483

8.3.3

Fazit über das Prozessmodell für integrierte Beratung ...................... 524

8.4

Schlussfolgerungen .................................................................................. 525

XVIII

Inhaltsverzeichnis

8.4.1

Mehrwert der integrierten Beratung ................................................... 527

8.4.2

Grenzen der integrierten Beratung .................................................... 531

9

Integration in die klassische Beratung..................................................... 537 9.1

Mängel in der klassischen Beratung ......................................................... 537

9.1.1

Basiskomponenten ............................................................................ 538

9.1.2

Diagnosedesigns ............................................................................... 539

9.1.3

Konferenzdesigns .............................................................................. 542

9.1.4

Interventionstechniken....................................................................... 545

9.1.5

Fazit über Mängel in der klassischen Beratung ................................. 547

9.2

Integration systemischer Elemente ........................................................... 547

9.2.1

Basiskomponenten ............................................................................ 549

9.2.2

Diagnosedesigns ............................................................................... 551

9.2.3

Konferenzdesigns .............................................................................. 552

9.2.4

Interventionstechniken....................................................................... 554

9.2.5

Fazit über Integration systemischer Elemente ................................... 556

9.3 10

Schlussfolgerungen .................................................................................. 558 Schlussbetrachtung ................................................................................... 559

10.1

Resümee .................................................................................................. 559

10.2

Ausblick .................................................................................................... 566

Interviewunterlagen .............................................................................................. 569 Literaturverzeichnis .............................................................................................. 573

Abbildungsverzeichnis

XIX

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1.1:

Grundhypothese und Grundfragestellung....................................... 5

Abbildung 1.2:

Zielsetzung der Arbeit..................................................................... 5

Abbildung 1.3:

Hypothesen und Fragestellungen................................................. 10

Abbildung 1.4:

Vorgehensweise der Arbeit .......................................................... 11

Abbildung 1.5:

Aufbau der Arbeit.......................................................................... 13

Abbildung 2.1:

Zusammenhang zwischen Beratungsform und Beratungstyp ...... 18

Abbildung 2.2:

Zusammenhang der Beratungsphasen ........................................ 29

Abbildung 2.3:

Differenzierungslogik für Beratungsformen .................................. 32

Abbildung 2.4:

Gegenüberstellung der idealtypischen Beratungsleistungen........ 33

Abbildung 2.5:

Gegensatzpaare der idealtypischen Beratungsparadigmen ......... 41

Abbildung 2.6:

Positionierung der Idealtypen ....................................................... 57

Abbildung 2.7:

Charakteristika der Idealtypen ...................................................... 60

Abbildung 3.1:

Historische Wurzeln der systemischen Beratung ......................... 86

Abbildung 3.2:

Kommunikation am Beispiel der Interaktion ............................... 120

Abbildung 4.1:

Zusammenhang zwischen den Begriffen der Intervention.......... 145

Abbildung 4.2:

Mögliche Elemente zur Gestaltung der Interventionsarchitektur 146

Abbildung 4.3:

Systemische Schleife ................................................................. 153

Abbildung 4.4:

Übersichtslogik für systemische Interventionsdesigns................ 158

Abbildung 4.5:

Systemische Interventionstechniken .......................................... 185

Abbildung 4.6:

Entwicklungsorientierte Hypothesen........................................... 211

Abbildung 5.1:

Datentypen für unterschiedliche Datenauswertungen ................ 233

Abbildung 5.2:

Matrix zur Auswertung der verbalen Formulierungen ................. 235

Abbildung 5.3:

Überblick InterviewpartnerInnen ................................................. 237

Abbildung 5.4:

Berufserfahrung der InterviewpartnerInnen ................................ 238

Abbildung 5.5:

Projekterfahrung der InterviewpartnerInnen ............................... 240

Abbildung 5.6:

Unternehmen der InterviewpartnerInnen .................................... 242

Abbildung 5.7:

Standorte der InterviewpartnerInnen .......................................... 243

Abbildung 6.1:

Selbstbilder und Fremdbilder der Beratungsformen ................... 245

XX

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 6.2:

Evolution der Beratungsformen .................................................. 252

Abbildung 6.3:

Charakteristika der Realtypen .................................................... 258

Abbildung 6.4:

Themenstellungen für die Beratungsformen............................... 312

Abbildung 6.5:

Kriterien zur Wahl des passenden Realtyps ............................... 324

Abbildung 6.6:

Integrierte Beratung als Kombination der Realtypen .................. 327

Abbildung 7.1:

Spannungserzeugende Aspekte................................................. 332

Abbildung 7.2:

Entwicklungspotenziale für die klassische Beratung .................. 343

Abbildung 7.3:

Entwicklungspotenziale für die systemische Beratung ............... 352

Abbildung 7.4:

Realisierungsoptionen für die Beratungsformen......................... 361

Abbildung 7.5:

Anforderungsprofil an einen Berater........................................... 377

Abbildung 7.6:

Dimensionen der Integration von Fachkompetenz ..................... 420

Abbildung 8.1:

Strukturmodell für integrierte Beratung....................................... 436

Abbildung 8.2:

Reflexionsfeld der integrierten Beratung .................................... 440

Abbildung 8.3:

Reflexionsmandala der integrierten Beratung............................. 442

Abbildung 8.4:

Aktionsbaum für integrierte Beratung ......................................... 451

Abbildung 8.5:

Prozessmodell für integrierte Beratung ...................................... 466

Abbildung 8.6:

Erfolgsfaktoren für integriertes Projektmanagement................... 484

Abbildung 8.7:

Projektorganisation der integrierten Beratung ............................ 486

Abbildung 8.8:

Mehrwert und Grenzen der integrierten Beratung ...................... 526

Abbildung 9.1:

Mängel in der klassischen Beratung........................................... 537

Abbildung 9.2:

Anwendbarkeit und Realisierbarkeit systemischer Elemente ..... 548

Einleitung

1

1 Einleitung Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den damals mitten in der Industrialisierung befindlichen USA das erste Mal eine Beratungsleistung angeboten wurde, die weder rechtlicher noch buchhalterischer, sondern wirtschaftlicher sowie technischer Natur gewesen ist, schlug die Geburtsstunde für die Beratung von Unternehmen und Organisationen in den unterschiedlichsten Dimensionen. Angefangen von Beratung für fachliche Inhalte in einer Branche oder für eine Funktion über Beratung für verändernde Prozesse in sozialen Systemen bis hin zum Coaching von Personen oder Gruppen entwickelte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts eine breite Palette an Beratungsleistungen, die mittlerweile in vielen Unternehmen und Organisationen einen integralen Bestandteil darstellen und damit aus der heutigen Wirtschaftswelt nicht mehr wegzudenken sind. Die vorliegende Arbeit widmet sich einem spezifischen Ausschnitt aus dieser Palette an Beratungsleistungen, nämlich der klassischen Beratung und der systemischen Beratung, und sucht zu ergründen, ob sich diese Beratungsformen vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Realität, in der kontinuierlich wachsende und immer umfassendere Anforderungen an Beratungsleistungen gestellt werden, ergänzen könnten. Für dieses Vorhaben soll in Folge der notwendige Gesamtrahmen skizziert werden, indem zuerst die Ausgangssituation (vgl. Kapitel 1.1) dargestellt wird, auf Basis derer die Zielsetzung der Arbeit (vgl. Kapitel 1.2) spezifiziert werden kann. Mit diesem Ziel vor Augen erfolgt im Anschluss die Abgrenzung des Themenfeldes (vgl. Kapitel 1.3) sowie die Formulierung der der Arbeit zugrunde liegenden Hypothesen und Fragestellungen (vgl. Kapitel 1.4), ehe darauf aufbauend die Vorgehensweise der Arbeit (vgl. Kapitel 1.5) beleuchtet und der Aufbau der Arbeit (vgl. Kapitel 1.6) erläutert wird.

1.1 Ausgangssituation Seit Anfang der 1990er Jahre werden die Stimmen der Umsetzungsschwäche von klassischen Unternehmensberatern immer lauter. Klienten beklagen immer öfter, dass gute inhaltliche Konzepte, die im Auftrag des Topmanagements um teures Geld von und mit externen Beratungsunternehmen erarbeitet wurden, in irgendwelchen Schubladen verschwinden und nicht umgesetzt werden. So schreibt etwa Groth, dass Unternehmensberater der klassischen Prägung immer mehr Schwierigkeiten mit der Realisierung ihrer Vorschläge haben, da es ihnen nicht gelingt, die zumeist in schriftlicher Form überbrachten Ergebnisse der Analysen beim Klienten umzusetzen.1 Auf der Suche nach den Gründen für dieses Problem führen Balzer 1

Vgl. Groth (1996), S. 49 f.

2

Einleitung

und Wilhelm Mitte der 1990er Jahre an, dass ein international renommiertes Beratungsunternehmen herausgefunden hat, dass zwei Drittel der von seinen Beratern empfohlenen Veränderungsprozesse nicht an der inhaltlichen Qualität, sondern an den mangelnden Fähigkeiten der Klienten bei der Umsetzung scheitern.2 Wenn das wirklich so ist, dann ist die Meinung von Groth, dass Berater zukünftig den Klienten das Lernen lehren müssen und dass die Selbstreflexionsfähigkeit der Betriebe gestärkt werden muss,3 nicht von der Hand zu weisen. Ein anderes Licht wirft wiederum Turner auf die Umsetzungsproblematik, der berichtet, dass sich einerseits fast alle von ihm über ihre Erfahrungen als Klienten befragten Manager über nicht praktikable Empfehlungen beklagen und andererseits viele Berater ihren Klienten vorwerfen, dass sie kein Verständnis für offensichtliche Erfordernisse hätten.4 Mit den Worten von Mingers kann dies auch derart ausgedrückt werden, dass es immer mehr Probleme gibt, für die sich gewisse Standardlösungen als unzureichend erweisen und Berater daher gefordert sind, über die Hutschnur eines technizistisch-mechanistischen Problemverständnisses hinauszuschauen.5 Nun kann man die grundsätzliche Frage stellen, wessen Aufgabe die Umsetzung der Ergebnisse von Beratungsprojekten ist. Geht man mit Berger so ist eine klare Trennung der Verantwortung zwischen Beratern und Management erforderlich: "Beratung ist Beratung und nicht Umsetzung, Umsetzung ist Managersache. Umsetzungsberatung dagegen ist Beratersache. [...] Immer dort dagegen, wo Berater sich als Umsetzer versuchen, werden sie entweder scheitern oder zu einem normalen Business degenerieren."6 Betrachtet man die Umsetzungsproblematik hingegen aus der Perspektive der Klienten, dann ist ein anderer Schluss nahe liegend. Diese erwarten gegenwärtig von Beratern nicht nur Konzepte, sondern auch immer mehr die damit verbundene Implementierung,7 was auch durch die Position von Block, dass die Umsetzung der vorgeschlagenen Änderungen ein wesentlicher Teil des Beratungsprozesses ist, untermauert werden kann. Hauptproblem dabei ist, dass der Berater meist nicht die organisatorischen Kompetenzen hat, um die vorgeschlagenen Änderungen selbst durchzusetzen. Andererseits besteht ohne sein Engagement aber auch keine Garantie dafür, dass sie umgesetzt werden, was dazu führt, dass er in Zukunft als 'erfolglos' nicht wieder herangezogen wird.8 Was aber, wenn das Problem eigentlich ein ganz anderes ist? Nämlich, dass die erarbeitete Lösung vom Topmanagement als gut erachtet wird, von der betroffenen 2 3 4 5 6 7 8

Vgl. Balzer/Wilhelm (1995), S. 52 f. Vgl. Groth (1996), S. 18 Vgl. Turner (1983), S. 130, zitiert in: Groth (1996), S. 50 Vgl. Mingers (1996), S. 104 Vgl. Wimmer/Kolbeck/Mohe (2003), S. 67 Vgl. N.N. (2000), sowie Ehren (2002) Vgl. http://de.wikipedia.org (28.06.2005)

Einleitung

3

Klientenorganisation jedoch nicht umgesetzt wird, weil sich ebendiese nicht damit identifizieren kann? Was ist, wenn die Umsetzung nicht erfolgt, weil von diesen klassischen Beratungsunternehmen die soziale Komponente im Beratungsprozess ungenügend oder gar nicht berücksichtigt worden ist und das Klientensystem daher das Gefühl hat, dass ihm die Lösung von außen 'übergestülpt' worden ist und ihm von Seiten des Beraters zu wenig oder gar keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde? Ein Indiz dafür liefern Exner, Königswieser und Titscher, die Ende der 1980er Jahre kritisieren, dass die Literatur zur klassischen Beratung sozialwissenschaftliche oder gar therapeutische Erkenntnisse völlig negiert.9 Diese Feststellung gewinnt vor allem vor der von Kolbeck aufgezeigten Entwicklung in Unternehmen, nämlich dass diese immer öfter vor Hersausforderungen stehen, die auch weiche Faktoren erfordern,10 zusätzlich an Bedeutung. Unter dieser Voraussetzung scheint das Nichtumsetzen von den in klassischen Beratungsprojekten erarbeiteten Konzepten eine fast logische Konsequenz zu sein und kann als natürliche Abwehrreaktion oder als einfacher Selbstschutzmechanismus des Klientensystems interpretiert werden. Genau diese Schwäche der klassischen Beratung füllte die systemische Beratung, in deren Fokus nicht die inhaltliche Lösung einer Themenstellung, sondern das soziale System der Organisation an sich steht, die das Problem hat. Nach dem Grundsatz 'Betroffene zu Beteiligten machen' ist das soziale System hierbei selber dafür verantwortlich, eine Lösung zu erarbeiten, weil es nur selber wissen kann, welche Lösung aus der eigenen Sicht die beste ist. Dieser Prozess der Lösungserarbeitung benötigt zwar mehr Zeit, dafür kann sich das Klientensystem aber auch wesentlich besser damit identifizieren, was sich im Endeffekt in einer nachhaltigen Umsetzung niederschlägt. Trotzdem hat die Kombination von einem höheren Zeitbedarf zur Erarbeitung des Konzeptes sowie äußerst begrenzt vorhandener inhaltlicher Arbeit den systemischen Beratern nach ihrem Höhenflug in den 90er Jahren ihre Grenzen aufgezeigt und dazu geführt, dass ihr Betätigungsfeld extrem eingeschränkt wurde. Zwar wird diese systemische Beratung heute auch immer stärker in komplexen Organisationen eingesetzt, aber gleichzeitig wird sie doch von vielen eher nur als eine Art zu Denken verstanden. Aus dieser Perspektive kann auch die gegenwärtige Entwicklung besser verstanden werden, dass nämlich unterschiedliche Berater die systemische Denkweise adaptieren sowie einzelne Interventionstechniken in ihren eigenen Beratungsansatz übernehmen.11 Dieser Trend ist vor dem Hintergrund der eigenen Umsetzungsprobleme auch bei den klassischen Beratern zu beobachten und hat dazu geführt, dass diese in ihren

9 10 11

Vgl. Exner/Königswieser/Titscher (1992), S. 205, sowie Groth (1996), S. 20 Vgl. Kolbeck (2001), S. 164 Vgl. Titscher (2001), S. 62

4

Einleitung

Projekten immer mehr auf die soziale Komponente achten. Als Konsequenz daraus steigt die Integration der Betroffenen kontinuierlich, was auch Wimmer bestätigt, als er Mitte der 1990er Jahre feststellt, dass sich klassische Unternehmensberater bemühen, dieses soziale Wissen zu integrieren.12 Gegenwärtig steht die klassische Beratung nun jedoch vor der Herausforderung den begonnen Entwicklungsprozess fortzusetzen und bei gleich bleibender Qualität des Inhalts sowie Geschwindigkeit der Konzepterarbeitung die von einer Veränderung Betroffenen besser zu integrieren und damit die soziale Komponente besser zu berücksichtigen. Dem entgegen sieht sich die systemische Beratung mit der Erwartung konfrontiert, ihre Erfolge in der Begleitung von Veränderungsprozessen, was letztlich mit einer nachhaltigen Umsetzung assoziiert werden kann, auch durch inhaltliches Wissen zu ergänzen. Dies geht unter anderem auch aus einem Workshop der Österreichischen Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsentwicklung (ÖGGO), in dem von 15 Teilnehmern ein Trend zur Kombination von systemischer Prozessberatung und sachlich-inhaltlicher Beratung wahrgenommen wurde,13 hervor, sodass also die systemische Beratung im Endeffekt vor einer Herausforderung steht, die sich invers zu jener der klassischen Beratung verhält. Vor dem dargestellten Hintergrund, dass sowohl die klassische Beratung als auch die systemische Beratung momentan vor gegengleichen Herausforderungen stehen, für deren Bewältigung die Unterstützung der jeweils anderen Beratungsform hilfreich wäre, kann nun die Zielsetzung der Arbeit formuliert werden.

1.2 Zielsetzung der Arbeit Die vorliegende Arbeit, die dem Bereich der angewandten Forschung zuzurechnen ist, baut auf dem Ansatz der systemorientierten Betriebswirtschaftslehre auf und ist somit auf die Ausarbeitung eines konkreten Gestaltungsmodells für praxisrelevante Problemstellungen ausgerichtet.14 Diesem übergeordneten Anspruch Folge leistend, soll vor der skizzierten Ausgangssituation (vgl. Kapitel 1.1) ein Beitrag dazu geleistet werden, wie Beratung in Zukunft gestaltet sein könnte, damit in dieser die Stärken der gegenwärtig bestehenden Beratungsformen15, sprich der klassischen Beratung und der systemischen Beratung, zusammenwirken können. Die in dieser Zielsetzung implizit enthaltene forschungsleitende Grundhypothese sowie die daraus abgeleitete wissenschaftliche Grundfragestellung kann damit wie folgt konkretisiert werden.

12 13 14 15

Wimmer (1995), S. 241 Vgl. Janes/u.a. (2002), S. 6 Vgl. Lechner/Egger/Schauer (2001), S. 54 Die bestehenden Beratungsformen werden in weiterer Folge auch als Realtypen (vgl. Kapitel 2.1.1.2) bezeichnet, weil sie, im Unterschied zu den Idealtypen, in der Gegenwart (Realität) existieren.

Einleitung

G

5

Die Realtypen klassischer Beratung sowie systemischer Beratung können gegenwärtig inhaltliche Konzepte sowie deren nachhaltige Umsetzung nur punktuell, aber noch nicht institutionalisiert anbieten, weil in beiden wichtige Aspekte vernachlässigt werden.

Wie kann auf Basis der bestehenden Realtypen Beratung derart konzipiert werden, dass in einer institutionalisierten Form sowohl inhaltliche Konzepte erarbeitet, als auch deren nachhaltige Umsetzung unterstützt werden können?

Abbildung 1.1: Grundhypothese und Grundfragestellung

Dass, so wie angedeutet, die Beauftragung eines Beratungsunternehmens mit einer bestimmten Themenstellung sowohl ein qualitativ hochwertiges inhaltliches Konzept erbringt als auch die nachhaltige Umsetzung desselben unterstützt,16 ist vor allem aus Sicht des Klienten wichtig. Unter Berücksichtigung dessen sowie der in Folge definierten Abgrenzung des Themenfeldes (siehe Kapitel 1.3) lässt sich nun die Zielsetzung der Arbeit auch graphisch entsprechend darstellen.

Nachhaltige Umsetzung Systemische Beratung

Systemische Kompetenz

Integrierte Beratung

Inhaltliche Kompetenz

Klassische Beratung

Inhaltliches Konzept

Abbildung 1.2: Zielsetzung der Arbeit

Als untergeordnetes Ziel soll auf Basis des allgemeinen Konzeptes zur Entwicklung integrierter Beratung spezifiziert werden, wie klassische Beratung weiterentwickelt werden kann, sodass die Anforderungen der Klienten nach nachhaltiger Umsetzung bei gleich bleibender Qualität der erarbeiteten inhaltlichen Konzepte erfüllt werden können. Dieser Fokus auf die Weiterentwicklung der klassischen Beratung wird 16

Überlegungen zur Weiterentwicklung von Beratung wurden unter anderem schon von Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), Moldaschl (2001), Höfler/Skribot (2003), Froschauer/ Lueger (2005) oder Königswieser/Sonuç/Gebhardt (2005) publiziert.

6

Einleitung

deshalb gelegt, weil deren jährliche Umsätze jene der systemischen Beratung um ein Vielfaches übertreffen und daher gesamtwirtschaftlich gesehen den klassischen Beratungsunternehmen eine höhere Relevanz einzuräumen ist, was im Rahmen der folgenden Abgrenzung des Themenfeldes genauer begründet werden soll.

1.3 Abgrenzung des Themenfeldes Die Entwicklung der Beratung, die mit der Gründung des weltweit ersten klassischen Beratungsunternehmens Arthur D. Little (vgl. Kapitel 3.1.1) 1886 in Gang gesetzt wurde, hat spätestens seit Mitte des 20. Jahrhundert zu einer Fülle von unterschiedlichen Beratungstheorien, -ansätzen sowie -methoden geführt, sodass das gesamte Feld der Beratung mittlerweile schon äußerst umfangreich ist. Es wird daher in der folgenden Arbeit – wie in den vorangegangenen Ausführungen bereits angedeutet – eine gezielte Abgrenzung auf zwei Beratungsformen vorgenommen, nämlich die klassische Beratung sowie die systemische Beratung, was durch einen kurzen Abriss der geschichtlichen Entwicklung im Bereich der Beratung begründet werden soll. Die Urform der klassischen Beratung ist, wie eingangs erwähnt, gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den damals von der Industrialisierung geprägten USA entstanden. Aufgrund dessen ist klassische Beratung in ihren Wurzeln stark von dem zu dieser Zeit in der Organisationstheorie vorherrschenden mechanistischen Paradigma (vgl. Kapitel 2.2.2.1) beeinflusst und fokussiert sich unter Verwendung der eigenen branchenspezifischen und funktionsspezifischen Expertise auf das Einbringen von inhaltlichen Konzepten in ein Unternehmen. Diese Beratungsform wird daher der übergeordneten Gruppe der Fachberatung zugerechnet, die auch inhaltsorientierte Beratung (vgl. Kapitel 2.2.1.1) bezeichnet werden kann. Als Gegenströmung zu dieser formiert sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts die so genannte prozessorientierte Beratung (vgl. Kapitel 2.2.1.2), deren Expertise sich auf die Gestaltung sowie Begleitung von Veränderungsprozessen bezieht und die dafür das Individuum in den Mittelpunkt stellt. Anfangs noch stark beeinflusst von der mechanistischen Auffassung des Menschen als Arbeitsfaktor, entwickelt sich um Persönlichkeiten wie Kurt Lewin, Eric Trist und Fred Emery die Gruppendynamik als erste Antwort auf die klassische Beratung. Daraus geht in Folge die klassische Organisationsentwicklung hervor, die wiederum in engem Zusammenhang mit der von Edgar H. Schein17 formulierten Prozessberatung steht. In dieser Entwicklung zeichnet sich, wenn auch tendenziell noch vor dem Hintergrund des mechanistischen Paradigma, eine immer intensivere Auseinandersetzung mit dem Menschen ab, wodurch teilweise implizit eine systemische Sichtweise der Organisation Einzug hält.

17

Schein (2003)

Einleitung

7

Parallel zur geschilderten Entwicklung bildet sich das systemische Paradigma (vgl. Kapitel 2.2.2.2) im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen durch intensive Beschäftigung mit disziplinspezifischen Systemen heraus. Dadurch wird systemisches Denken explizit gemacht und die Grundlage für einen Paradigmenwechsel vom Mechanistischen zum Systemischen gelegt, der unter anderem von Capra18 das erste Mal ausführlich formuliert wird. Die Vielzahl dieser theoretischen Wurzeln wird von einigen Vertretern der klassischen Organisationsentwicklung sowie der Prozessberatung aufgenommen und zur systemischen Organisationsentwicklung sowie in weiterer Folge zur systemischen Beratung zusammengeführt. Dieser Entstehungsprozess systemischer Beratung lässt sich aus der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Literaturquellen19 ableiten und deutet darauf hin, dass viele Pioniere der systemischen Beratung ihre individuellen Wurzeln in der klassischen Organisationsentwicklung und/oder in der Prozessberatung aufweisen. Es liegt somit der Schluss nahe, dass sinnvolle Elemente aus den beiden letztgenannten Beratungsformen durch die persönlichen Werdegänge vieler systemischer Berater in die systemische Beratung eingeflossen sind. Darüber hinaus kann aus der Literatur abgeleitet werden, dass die dargelegte Entwicklung auch deshalb erfolgt ist, weil die Prozessberatung als die Beratungsform der klassischen Organisationsentwicklung20 den gegenwärtigen Anforderungen in Organisationen zufolge der darin kontinuierlich steigenden Komplexität nicht mehr gewachsen ist.21 Als Konsequenz der geführten Argumentation kann für die weiterführende Diskussion daher festgehalten werden, dass die klassische Beratung sowie die systemische Beratung zwei Kontrapunkte der Fachberatung sowie der Prozessberatung sind, mit deren Betrachtung für die Entwicklung eines Konzeptes integrierter Beratung das Auslangen gefunden werden kann. Demzufolge werden in der weiteren Abhandlung ausschließlich die klassische Beratung sowie die systemische Beratung betrachtet und es wird auf alle anderen Beratungsformen nicht eingegangen. Eine zweite Abgrenzung der Arbeit bezieht sich darauf, dass deren Fokus primär auf das Beratungsgeschehen im deutschsprachigen Raum22 gerichtet ist. Primär deshalb, weil für die Betrachtung der klassischen Beratung weltweit agierende Beratungsunternehmen herangezogen werden, die durch deren globale Netzwerke den internationalen Wechselwirkungen innerhalb der eigenen Kulturen unterliegen

18 19 20

21 22

Capra (1992) Vgl. Wimmer (1991), S. 66 ff., Mingers (1996), S. 22, Wimmer (2004), S. 51, S. 300 f. Vgl. Posratschnig (1986), S. 15, Fatzer (1992), S. 115 ff., Simon (1995), S. 288, Groth (1996), S. 53 f., Schein (2003), S. 21, sowie Wimmer (2004), S. 224 f. Vgl. Schreyögg (1999), S. 79, sowie Wimmer (2004), S. 238 ff. Österreich und Deutschland, aber exkl. deutschsprachige Schweiz

8

Einleitung

und nicht als eigenständige Organisationen im deutschen Sprachraum betrachtet werden können. Dieser Implikation wird insofern Rechnung getragen, dass im Rahmen der empirischen Untersuchung ausschließlich Interviews mit Mitgliedern der deutschsprachigen Niederlassungen geführt werden. Natürlich unterliegen auch die systemischen Beratungsunternehmen solchen internationalen Einflüssen, was vor allem auf die Vielzahl der unterschiedlichen Wurzeln dieser Beratungsform zurückgeführt werden kann. Eine Abgrenzung ist hier allerdings einfacher, weil es unter den systemischen Beratungen keine globalen Vertreter, sondern nur regionale Schulen gibt. Dem Folge leistend wird aufgrund der im deutschen Sprachraum hohen Konzentration an systemischen Beratern der so genannte Wiener Schule der systemischen Organisationsberatung der Fokus auf diese Strömung gelegt. Aus dem Vergleich der beiden genannten Beratungsformen ergibt sich schließlich ein dritter Aspekt der Abgrenzung, durch den begründet werden kann, warum die untergeordnete Zielsetzung der Arbeit (vgl. Kapitel 1.2) lediglich die Integration systemischer Elemente in die klassische Beratung verfolgt und nicht auch die umgekehrte Variante andenkt. So entfallen laut der Marktstudie Facts & Figures zum Beratermarkt 200323 des Bundesverband Deutscher Unternehmensberater BDU e.V. von dem geschätzten Gesamtberatungsvolumen von 12,23 Mrd. € im Jahr 2003 fast 50 Prozent auf die Top 40 der insgesamt fast 14.200 Beratungsunternehmen in Deutschland. Filtert man aus diesen Top 40 noch einmal jene Managementberatungsunternehmen heraus, die nach der Lünendonk®-Liste III 200424 jeweils einen Jahresumsatz von mehr als 50 Mio. € in 2003 aufweisen – das entspricht den Top 10 zuzüglich Arthur D. Little, dem ältesten Beratungsunternehmen der Welt –, dann decken diese Top 11 fast 19 Prozent des Gesamtberatungsvolumens ab. Noch markanter wird deren Anteil, wenn man die 12,23 Mrd. € Gesamtberatungsvolumen um die nicht primär der Managementberatung zurechenbaren Anteile der IT-Beratung sowie der Personalberatung bereinigt, woraus sich ein Beratungsvolumen von 7,80 Mrd. € ergibt, aus dem sowohl die klassischen Berater als auch die systemischen Berater ihren Umsatz hauptsächlich lukrieren. Von diesem Beratungsvolumen kann nun etwas mehr als 29 Prozent den Top 11 zugerechnet werden, unter denen sich jedoch ausschließlich – so wie unter den gesamten Top 25 der Lünendonk®-Liste III 2004 – klassische Beratungsunternehmen der im Sinne dieser Arbeit gebräuchlichen Definition (vgl. Kapitel 2.1.1.1) befinden, jedoch kein einziges ursprünglich systemisches Beratungsunternehmen vertreten ist. Infolgedessen kann, da von den 23 24

http://www.bdu.de (28.06.2005) http://www.luenendonk.de (28.06.2005)

Einleitung

9

letztgenannten keine Umsatzzahlen vorhanden sind, angenommen werden, dass deren Jahresumsatz ein Bruchteil dessen ist, was klassische Beratungsunternehmen verbuchen können, was auch in Anbetracht der jeweiligen Mitarbeiterzahlen plausibel erscheint. Während die Top 11 jeweils mindestens 280 bis maximal 1.800 Mitarbeiter beschäftigen, weisen die systemischen Beratungsunternehmen in der Regel lediglich zwischen 30 und 40 Berater inklusive Netzwerkpartner auf, womit, unabhängig von wahrscheinlich unterschiedlichen Tagessätzen, nur ein Bruchteil des Jahresumsatzes der klassischen Berater realisiert werden kann. An dieser, für den deutschen Beratungsmarkt hergeleiteten Schlussfolgerung, kann im Endeffekt auch die Einbeziehung des österreichischen Pendants nichts ändern, da, abgesehen davon, dass für dieses ähnlich detaillierte Zahlen nicht vorhanden sind, dessen Gesamtberatungsvolumen nicht einmal ein Zwanzigstel dessen ausmacht, was in Deutschland umgesetzt wird. Demzufolge würde sich an der skizzierten Grundtendenz selbst unter der unwahrscheinlichen Prämisse, dass die in Österreich innerhalb eines Jahres erfolgenden Beratungsumsätze nur systemischen Beratungsunternehmen zugerechnet werden könnten, nichts ändern, sodass die einseitigen Überlegungen der Integration systemischer Elemente in die klassische Beratung im deutschsprachigen Raum als sinnvoll betrachtet werden kann. Als weitere Aspekte der Abgrenzung würde sich schließlich noch die Eingrenzung der Betrachtung auf ein bestimmte Themenstellung in einem Beratungsprojekt, auf eine gewisse Größe der beratenen Organisation sowie auf eine beliebige Industrie anbieten. Auf alle drei Aspekte wird jedoch verzichtet, weil die Arbeit darauf abzielt, ein möglichst umfassendes Konzept für integrierte Beratung zu erarbeiten. Abschließend ist noch anzumerken, dass auf die Vielzahl der unterschiedlichen Aspekte, die im Laufe der Arbeit adressiert werden, nur in jener Tiefe eingegangen wird, wie dies für das Ziel der Arbeit, nämlich die Entwicklung eines Konzeptes für integrierte Beratung, erforderlich und sinnvoll ist. Dem Folge leistend, werden vor allem die Ausführungen im theoretischen Teil der Arbeit – das sind die historischen Wurzeln der Beratungsformen (vgl. Kapitel 3) und die systemischen Elemente zur Integration (vgl. Kapitel 4) – knapp gehalten und nur jene Aspekte vertieft, die für die weiterführende Diskussion von Relevanz sind.

1.4 Hypothesen und Fragestellungen Mit der erfolgten Abgrenzung des Themenfeldes (vgl. Kapitel 1.3) können nun die in der Zielsetzung der Arbeit (vgl. Kapitel 1.2) formulierte zentrale forschungsleitende Grundhypothese und die daraus resultierende wissenschaftliche Grundfragestellung detailliert werden. Um die umfassende Adressierung der unterschiedlichen Aspekte zu gewährleisten, wird die zentrale forschungsleitende Grundhypothese in vier

10

Einleitung

forschungsleitende Hypothesen untergliedert, aus denen wiederum jeweils zwei wissenschaftliche Fragestellungen abgeleitet werden.

1

Die im Rahmen klassischer Beratungsprojekte erarbeiteten inhaltlichen Konzepte erzeugen durch eingeschränkte Einbindung des sozialen Systems oft Widerstand und werden daher mitunter unzureichend oder gar nicht umgesetzt.

Welcher Effekt wird bei der Umsetzung inhaltlich richtiger Konzepte der klassischen Beratung tatsächlich erzielt? Was müssen klassische Berater lernen, um eine nachhaltige Umsetzung sicherzustellen?

2

Die in systemischen Beratungsprojekten gewachsenen Veränderungen sind durch die aktive Einbeziehung des betroffenen sozialen Systems nachhaltig in der Umsetzung aber inhaltlich, wegen zu geringer oder fehlender Kompetenz, oft begrenzt.

Welche Elemente machen die Umsetzung der in systemischen Beratungsprojekten gewachsenen Veränderungen nachhaltig? Was müssen systemische Berater lernen, um inhaltliche Konzepte sicherzustellen?

3

Aufgrund der unterschiedlichen Ansichten und Haltungen von klassischen sowie systemischen Beratern existiert ein Spannungsfeld zwischen den beiden Beratungsformen, wodurch das Lernen voneinander be- oder sogar verhindert wird.

Welche Aspekte tragen zum Entstehen des Spannungsfeldes zwischen klassischer und systemischer Beratung maßgeblich bei? Wie kann dieses überbrückt oder konstruktiv genutzt werden, um Lernen zu ermöglichen?

4

Durch die Integration von klassischer und systemischer Beratung lassen sich die Schwächen der Realtypen großteils ausgleichen, sodass sowohl inhaltliche Konzepte als auch nachhaltige Umsetzung institutionalisiert angeboten werden können.

Was ist erforderlich, damit eine Integration von klassischer und systemischer Beratung funktionieren kann? Wie könnte ein mögliches Konzept für integrierte Beratung ausgestaltet sein?

Abbildung 1.3: Hypothesen und Fragestellungen

Die erste wissenschaftliche Fragestellung fokussiert sich auf die klassische Beratung und verfolgt ein zweigeteiltes Ziel. Mit der ersten Teilfrage soll ein StärkenSchwächen-Profil eruiert werden, das primär die Probleme bei der Umsetzung von Konzepten aus klassischen Beratungsprojekten in der Gegenwart widerspiegelt. Auf Basis dieses Profils adressiert die zweite Teilfrage die erforderliche Entwicklung, um die vorhandenen Schwächen in der Umsetzung zu beseitigen, wodurch ein Brückenschlag in die Zukunft ermöglicht werden soll. Die zweite wissenschaftliche Fragestellung betrachtet die systemische Beratung und lässt sich wieder in zwei Aspekte untergliedern. Die erste Teilfrage verfolgt das Ziel über ein in der Gegenwart bestehendes Stärken-Schwächen-Profil die für eine nachhaltige Umsetzung erfolgsrelevanten systemischen Elemente zu ermitteln. Darauf aufbauend richtet die zweite Teilfrage den Blick in die Zukunft, um zu erheben, welche Entwicklung notwendig ist, damit vorhandene inhaltliche Defizite behoben werden können. Die dritte wissenschaftliche Fragestellung beschäftigt sich mit jenen Differenzen, die im Falle einer möglichen gegenseitigen Ergänzung der beiden Realtypen das Lernen derselben voneinander behindern. Ihre erste Teilfrage zielt darauf ab, die das gegenwärtige Spannungsfeld erzeugenden Aspekte zu ermitteln. Als Konsequenz

Einleitung

11

daraus beleuchtet die zweite Teilfrage vor dem Hintergrund einer möglichen Unvereinbarkeit der einzelnen Aspekte eine realisierbare Überbrückung der Spannungen oder zumindest einen konstruktiven Umgang mit denselben in Zukunft. Die vierte wissenschaftliche Fragestellung baut schließlich auf die aus der Diskussion gewonnen Erkenntnisse auf und widmet sich der Entwicklung eines Konzeptes für integrierte Beratung. Die erste Teilfrage sucht dabei die Grundlagen für ein produktives Zusammenwirken von klassischer Beratung und systemischer Beratung in Zukunft zu ermitteln. Vor diesem Hintergrund zielt die zweite Teilfrage schließlich darauf ab, ein Konzept für integrierte Beratung zu entwerfen.

1.5 Vorgehensweise der Arbeit Aus der konsequenten Verbindung der Ausgangssituation (vgl. Kapitel 1.1) und der formulierten Zielsetzung (vgl. Kapitel 1.2) lässt sich nun die Vorgehensweise der Arbeit ableiten. Diese wird primär davon beeinflusst, welche Untersuchungsmethode (vgl. Kapitel 5.2.2) zur gezielten Abhandlung der forschungsleitenden Hypothesen und wissenschaftlichen Fragestellungen (vgl. Kapitel 1.4) gewählt wird. Es handelt sich demnach um eine Grundsatzentscheidung, die in der vorliegenden Arbeit für den methodischen Zugang des leitfadengestützten Experteninterviews ausfällt. Die Vorgehensweise wird dafür als Vierschritt konzipiert, der sich auch im Aufbau der Arbeit (vgl. Kapitel 1.6) widerspiegelt.

Arbeitsvorbereitung

• Recherche

Datenerhebung

• Kontaktierung

Literaturquellen

• Darstellung Ideal• •



typen durch Literaturstudium Erstellung Interviewleitfaden Identifikation von beratungserfahrenen Führungskräften Identifikation von klassischen und systemischen BeraternInnen

Grundlagen, Instrumente und Struktur zur Erschließung Datenbasis





InterviewpartnerInnen Durchführung Interviews mit beratungserfahrenen Führungskräften Durchführung Interviews mit klassischen und systemischen BeraterInnen

Datenbasis zur Beantwortung der wissenschaftlichen Fragestellungen

Analysetätigkeit

• Systematische •



Auswertung aller Interviews Verifizierung der Wahrnehmungen mittels Bilder und Charakteristika von Realtypen in der Gegenwart Verifizierung Herausforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten der Realtypen für die Zukunft

Grunderkenntnisse zur Entwicklung von integrierter Beratung

Abbildung 1.4: Vorgehensweise der Arbeit

Konzeptentwicklung

• Darstellung er-







folgsrelevanter Komponenten für integrierte Beratung Konzeption eines grundlegenden Modelles für integrierte Beratung Konzeption spezifischer Elemente für integriert Beratung Kritik an der integrierten Beratung

Konzept für integrierte Beratung

Dissertation

12

Einleitung

Die Arbeitsvorbereitung beinhaltet jene Teilschritte, die vor dem empirischen Teil der Arbeit erfolgen müssen. Den Ausgangpunkt dafür bildet die Recherche der für die Abhandlung des Themas relevanten Literaturquellen, aus deren Studium die grundlegende Darstellung der Idealtypen25 erarbeitet wird. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse über sowie abgeleiteten Differenzen zwischen Idealtypen erlauben die Gestaltung eines Interviewleitfadens, der die Basis für die Experteninterviews bildet. Die dafür möglichen InterviewpartnerInnen zu identifizieren, rundet schließlich die vorbereitenden Teilschritte ab. Der empirische Teil der Arbeit erfolgt im Rahmen der Datenerhebung. Hierfür werden zuerst die identifizierten InterviewpartnerInnen kontaktiert, um deren jeweilige Bereitschaft für ein Gespräch zu ermitteln und gegebenenfalls einen Termin für dasselbe zu vereinbaren. Danach werden die einzelnen Interviews durchgeführt und ergeben zusammen mit den bereits aus dem Literaturstudium hervorgehenden Informationen die Datenbasis, um die gezielte Beantwortung der forschungsleitenden Fragen zu ermöglichen. Der dritte Schritt, die Analysetätigkeit, fokussiert sich nun auf die strukturierte Aufbereitung der Datenbasis. Dazu werden alle Interviews nach einem bestimmten Schema ausgewertet, um darauf aufbauend zwei zeitlich aufeinander folgende Aspekte zu verifizieren. Zuerst gilt es jene Wahrnehmungen zu eruieren, mit denen die unterschiedlichen Beratungsformen in der Gegenwart identifiziert werden. Die daraus entstehenden Bilder, die als Realtypen bezeichnet werden, können dann mit den jeweiligen Idealtypen auf Übereinstimmungen verglichen und in Bezug auf Differenzen diskutiert werden, sodass ein Bewusstsein für die tatsächlichen StärkenSchwächen-Profile von klassischer Beratung und systemischer Beratung geschaffen werden kann. Hieraus folgt als zweiter Aspekt nun der logische Brückenschlag zur Weiterentwicklung der beiden Realtypen in der Zukunft. Dafür gilt es jene Punkte herauszufiltern, die es der klassischen Beratung sowie der systemischen Beratung erlauben, ihre jeweiligen Schwächen künftig zu adressieren und gegebenenfalls voneinander zu lernen. Die aus dieser Analyse gewonnenen Erkenntnisse bilden schließlich die Basis zur Entwicklung eines Konzeptes für integrierte Beratung. Im Rahmen der Konzeptentwicklung erfolgt die Synthese der Arbeit. Hier wird der Blick ausschließlich in die Zukunft gerichtet und das Augenmerk auf das Zusammenführen der beiden Realtypen zu einer integrierten Beratung gelegt. Ehe eine genauere Konzeption erfolgen kann, gilt es jene Komponenten zu definieren, die erfolgsrelevant für das grundlegende Gelingen von integrierter Beratung sind. Dann erst kann ein allgemeines Modell entwickelt, darauf aufbauend das Vorgehen in der

25

Grundtypen von Beratung, die im Unterschied zu Realtypen, in der Realität so nicht existieren

Einleitung

13

integrierten Beratung beleuchtet sowie die Konzeption spezifischer Elemente durchgeführt werden, ehe das Gesamtkonzept abschließend noch einmal kritisch hinterfragt werden kann.

1.6 Aufbau der Arbeit Wie bereits erwähnt, wird die Vorgehensweise der Arbeit (vgl. Kapitel 1.5) im Aufbau derselben widergespiegelt, womit auch die systematische Beantwortung der wissenschaftlichen Fragestellungen (vgl. Kapitel 1.4) ermöglicht wird.

2 Beratung im Überblick 1 Einleitung

3 Historische Wurzeln der Beratungsformen 4 Systemische Elemente zur Integration

5 Empirische Untersuchung

Vergangenheit

6 Reflexionen über die Beratungsformen

Gegenwart

7 Perspektiven für die Beratungsformen

8 Konzept für integrierte Beratung 9 Integration in die klassische Beratung

10 Schlussbetrachtung

Zukunft

Abbildung 1.5: Aufbau der Arbeit

Die vier Schritte aus der Vorgehensweise der Arbeit (vgl. Abbildung 1.4) lässt sich in vorliegenden Aufbau derselben wie folgt übersetzen. Die Arbeitsvorbereitung liefert den Inhalt für die Kapitel 2 bis 5. Die weiteren Kapitel setzen die Datenerhebung voraus, wobei zum einen die Analysetätigkeit die Daten dahingehend aufbereitet, dass diese in den Kapitel 6, 7 und 9 zusammengefasst werden können, und zum anderen die Konzeptentwicklung ausschließlich in das Kapitel 8 eingeht. Darüber hinaus ist zur übergeordneten Struktur der Kapitel anzumerken, dass diese nach einem zeitlichen Dreischritt gegliedert sind. Damit wird die Absicht verfolgt, dass ausgehend von einem klar definierten Aufsatzpunkt in der Vergangenheit, eine logisch nachvollziehbare Verbindung zur Gegenwart hergestellt werden kann, um von hieraus einen möglichen weiterführenden Weg in die Zukunft zu betrachten.26 Ebendiese Abfolge gewährleistet einen kontinuierlichen Diskussionsprozess vor dessen Hintergrund die Beantwortung der wissenschaftlichen Fragestellungen in den einzelnen Kapiteln strukturiert erfolgen kann. Die einleitende Diskussion in Kapitel 1 umreißt das Thema und Anliegen der Arbeit sowie die für die Durchführung notwendigen Rahmenbedingungen und Grundlagen.

26

Der Aufbau der Arbeit ist derart gestaltet, dass durch die sequenzielle Diskussion von Idealtypen und Realtypen ein kontinuierlicher Bewusstwerdungsprozess erfolgt.

14

Einleitung

Kapitel 2 spannt nun den Rahmen für die Abhandlung des Themas auf. Es werden zuerst einige zentrale Begriffe definiert und danach wird eine Differenzierungslogik eingeführt, die die Positionierung der unterschiedlichen Beratungsformen in Bezug zueinander ermöglicht. In Kapitel 3 werden nun die historischen Wurzeln der klassischen Beratung sowie der systemischen Beratung aufgearbeitet, um dadurch die vermeintlichen Idealtypen der beiden Beratungsformen beschreiben zu können. Es wird also der erste Teil des Aufsatzpunktes der Arbeit definiert. Der zweite Teil des Aufsatzpunktes geht aus der Diskussion systemischer Elemente in Kapitel 4 hervor. Darin wird vor dem Hintergrund einer durch die empirische Untersuchung zu überprüfenden Integrationsmöglichkeit dieser Elemente in die klassische Beratung eine Auswahl an Basiskomponenten, Interventionsdesigns und Interventionstechniken der systemischen Beratung vorgestellt. Die dann in Kapitel 5 beschriebene empirische Untersuchung bildet das Bindeglied zwischen dem Aufsatzpunkt in der Vergangenheit sowie der Realität der Gegenwart und erlaubt in weiterer Folge auch den Brückenschlag in die Zukunft. Der hierfür konzipierte Interviewleitfaden (vgl. Anhang) ermöglicht demnach nicht nur den Abgleich zwischen den Idealtypen und den Realtypen von klassischer Beratung und systemischer Beratung, sondern adressiert auch deren Entwicklungsmöglichkeiten. Für ebendiese Zwecke gilt es das Untersuchungsinteresse zu umreißen, das Untersuchungsdesign zu skizzieren, die Untersuchungsdurchführung zu erläutern und einen Überblick zu den InterviewpartnerInnen darzustellen. Im Rahmen von Kapitel 6 erfolgt nun der erste Teil der Auswertung, der die Wahrnehmungen über klassische und systemische Beratung in der Gegenwart, die so genannten Realtypen, darstellt. Die Reflexion der beiden Realtypen führt von den Selbstbildern und Fremdbildern über die Evolution der Beratungsformen hin zu den Charakteristika der klassischen Beratung und systemischen Beratung, mittels derer die ersten Teilfragen der ersten und zweiten wissenschaftlichen Fragestellung beantwortet werden können. In weiterer Folge werden noch die Themenstellungen, die mit den bestehenden Realtypen bearbeitet werden können, diskutiert, ehe zum Abschluss der in diesem Kapitel geführten Diskussion schließlich eine erste Synthese in den Schlussfolgerungen erfolgt. Der zweite Teil der Auswertung wird in Kapitel 7 zusammengefasst, das die bereits mehrfach angedeutete Perspektive Richtung Zukunft öffnet. Am Weg dorthin gilt es sich zuerst mit der ersten Teilfrage der dritten wissenschaftlichen Fragestellung auseinanderzusetzen und zu betrachten, welche Spannungen gegenwärtig bestehen und inwieweit diese den zukünftigen Entwicklungsprozess beeinflussen. Damit ist es in Bezug auf die Reflexionen über die Realtypen aus Kapitel 6 nun sinnvoll die

Einleitung

15

bestehenden Entwicklungspotenziale für klassische Beratung sowie systemische Beratung zu diskutieren, wodurch sich die zweiten Teilfragen der ersten und zweiten wissenschaftlichen Fragestellung adressieren lassen. Als die logische Konsequenz werden danach mögliche Realisierungsoptionen dargestellt sowie das notwendige Anforderungsprofil an einen Berater diskutiert, um schließlich über eine Synthese die zweite Teilfrage der dritten sowie die erste Teilfrage der vierten wissenschaftlichen Fragestellung in den Schlussfolgerungen zu beantworten. Die zweite Teilfrage der vierten wissenschaftlichen Fragestellung wird schließlich in Kapitel 8 betrachtet, das die übergreifende Synthese der Arbeit bildet. Das Konzept einer integrierten Beratung als eine mögliche Beratung der Zukunft beleuchtet zuerst die Rahmenbedingungen, die erforderlich sind, damit integrierte Beratung erfolgen kann. Mit diesen lässt sich ein grundlegendes Strukturmodell für integrierte Beratung beschreiben, das im nächsten Schritt in ein dynamisches Prozessmodell ausgebaut wird. Im Rahmen der zweigeteilten Diskussion des Modells werden auch spezifische Elemente beschrieben, ehe das vorgestellte Konzept zum Abschluss noch kritisch reflektiert wird. Kapitel 9 beinhaltet den dritten Teil der Auswertung und vertieft im Anschluss an die bis dahin allgemeine Diskussion die zweite Teilfrage der ersten wissenschaftlichen Fragestellung. Zuerst werden Mängel in der klassischen Beratung anhand von vier Aussagen beleuchtet, um darauf aufbauend zu überlegen, ob systemische Elemente, die die jeweiligen Mängel verbessern könnten, für eine Integration in die klassische Beratung prinzipiell geeignet sind. Zum Abschluss der Arbeit wird in Kapitel 10 einerseits ein allgemeines Resümee gezogen und andererseits ein weiterführender Ausblick formuliert. Generell ist zum Aufbau der Arbeit noch anzumerken, dass die einzelnen Kapiteln derart strukturiert sind, dass in der jeweiligen Einleitung einerseits die Verbindungen zu den jeweils relevanten Kapiteln der Arbeit aufgezeigt wird und andererseits die wichtigsten Aspekte der behandelten Thematik in einer Graphik dargestellt sind, um so dem Leser sowohl die grundsätzliche Orientierung zu erleichtern als auch ein zügiges Querlesen zu ermöglichen. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass in den einzelnen Kapiteln zuerst stets die klassische Beratung betrachtet und danach erst auf die systemische Beratung eingegangen wird. Diese Abfolge ergibt sich alleine aus der historischen Entwicklung der beiden Beratungsformen und enthält keinerlei Wertung.

Beratung im Überblick

17

2 Beratung im Überblick Um die generelle Zielsetzung der Arbeit (vgl. Kapitel 1.2) und die damit verbundenen Hypothesen und Fragestellungen (vgl. Kapitel 1.4) adressieren zu können, ist es unter Bezug auf die erfolgte Abgrenzung des Themenfeldes (vgl. Kapitel 1.3) zunächst erforderlich, sich einen allgemeinen Überblick zur Thematik zu verschaffen. Dazu wird zuerst, um eine eindeutiges Verständnis der verwendeten Terminologie sicherzustellen, der begriffliche Bezugsrahmen (vgl. Kapitel 2.1) aufgespannt, ehe eine Differenzierungslogik für Beratungsformen (vgl. Kapitel 2.2) eingeführt wird, die eine graphische Orientierungshilfe für die weitere Diskussion bilden soll. Entlang der die Differenzierungslogik bestimmenden Achsen werden die beiden betrachteten Beratungsformen näher ausgeführt, sodass diese in einer ersten Schlussfolgerung (vgl. Kapitel 2.3) konkret positioniert werden können.

2.1 Begrifflicher Bezugsrahmen Um möglichen Doppeldeutigkeiten in Bezug auf andere Literaturquellen vorzubeugen und eine eindeutige Verwendung zu ermöglichen, werden für die vorliegende Arbeit die relevanten Begriffe der Beratung (vgl. Kapitel 2.1.1) sowie die unterschiedlichen Beratungskomponenten (vgl. Kapitel 2.1.2) definiert. 2.1.1 Beratung Für den zentralen Begriff der Beratung gibt es je nach Beratungsverständnis und Beratungsphilosophie zunächst eine breite Vielfalt von einander ähnlichen aber auch durchaus abweichenden Definitionen27, von denen in der vorliegenden Arbeit auf die letztlich von Titscher nach umfassender Diskussion28 aufgestellte Minimaldefinition zurückgegriffen wird. In Anlehnung an diese kann jegliche Form von Beratung als professionelle, externe Dienstleistung eines Beraters (vgl. Kapitel 2.1.2.2) an einen Klienten (vgl. Kapitel 2.1.2.3) verstanden werden, die im Rahmen einer abgegrenzten Berater-Klienten-Beziehung erbracht wird,29 um dadurch eine gezielte Veränderung von einer bestehenden Ausgangssituation zu einem gewünschten Zielzustand zu bewirken. Je nach Beratungsform (vgl. Kapitel 2.1.1.1) werden dabei erstens unterschiedliche Beratungsfokusse (vgl. Kapitel 2.2.1) gesetzt und können zweitens spezifische Beratungsparadigmen (vgl. Kapitel 2.2.2) differenziert werden, woraus sich die breite Palette möglicher Beratungsleistungen ergibt. Da aber keine der

27

28 29

Vgl. dazu unter anderem die Diskussionen in Steyrer (1991), S. 7 ff., Walger (1995), S. V ff., Wohlgemuth (1995), S. 15 ff. und Harl (2004) sowie die Definitionen in Arentzen/Winter (1997), S. 462, Eschenbach/Nagy (1999), S. 16, Kailer/Merker (2000), S. 236, Fink (2003), S. 5 und Königswieser/Hillebrand (2004), S. 19 f. Vgl. Titscher (2001), S. 17 ff. Vgl. Titscher (2001), S. 33

18

Beratung im Überblick

bestehenden Beratungsformen artrein – also nur als explizite Kombination aus einem Beratungsfokus und einem Beratungsparadigma – existiert, ist es sinnvoll, für diese in der weiteren Diskussion zwei Beratungstypen (vgl. Kapitel 2.1.1.2) zu unterscheiden. Dieser bereits in der Einleitung angedeutete Zusammenhang erlaubt die folgende Darstellung, deren Logik auch eine zusätzliche Orientierungshilfe in Bezug auf den Aufbau der Arbeit (vgl. Kapitel 1.6) mit ihren Unterkapiteln zulässt. Beratungstypen Idealtyp

Beratungsformen Kapitel

2.2.1.1 2.2.2.1 3.1 3.3.1

Kapitel

2.2.1.2 2.2.2.2 3.2 3.3.2

Kapitel

8

Klassische Beratung

Systemische Beratung

Realtyp

4

Kapitel

6.1.1 6.2.1 6.3 6.4.1

7.2.1 7.3.1

Kapitel

6.1.2 6.2.2 6.3 6.4.2

7.2.2 7.3.2

Kapitel

9

Integrierte Beratung

Abbildung 2.1: Zusammenhang zwischen Beratungsform und Beratungstyp

Dieser Darstellung folgend, können für die drei diskutierten Beratungsformen – die klassische Beratung, die systemische Beratung und die integrierte Beratung – jeweils der Idealtyp und der Realtyp unterschieden werden, woraus sechs Felder resultieren, in denen die für die entsprechende Diskussion relevanten Kapitel zusammengefasst sind. Auf die einzelnen Begriffe soll nun näher eingegangen werden. 2.1.1.1

Beratungsformen

Der Begriff der Beratungsform umfasst in Bezug auf die in dieser Arbeit verwendete Minimaldefinition von Beratung alle möglichen Ausprägungsformen, in denen ein beliebiger Klient an einen von ihm ausgewählten Berater herantritt, um von diesem eine bestimmte Beratungsleistung in Bezug auf eine vorliegende Problemstellung in Anspruch zu nehmen. Sie ist abhängig einerseits vom Beratungsverständnis des einzelnen Beraters sowie andererseits von der Beratungsphilosophie des jeweiligen Beratungsunternehmens und infolgedessen kein homogenes Gut, sondern eine Dienstleistung, die sich im Wesentlichen aus dem jeweiligen Selbstverständnis der einzelnen Unternehmensberater bestimmt.30 Das breite Spektrum kann sich dabei

30

Vgl. Walger (1995), S. V

Beratung im Überblick

19

von Coaching oder Supervision auf der Personenebene über Moderation und Mediation auf der Teamebene bis hin zur Prozessberatung und Fachberatung auf der Organisationsebene erstrecken, um nur einige Formen sowie Ebenen, in denen Beratung erfolgen kann, aufzuzählen. Darin besteht jedoch sowohl zwischen den einzelnen Formen als auch zwischen den unterschiedlichen Ebenen oft ein fließender Übergang oder sogar eine teilweise Überlappung, sodass über weite Strecken eine trennscharfe Darstellung unmöglich ist. Eine mögliche Trennung auf der Organisationsebene ist jedoch die Unterscheidung von Fachberatung und Prozessberatung, die beide in weitere Unterformen gegliedert werden können. Zu diesen Unterformen zählen die betrachteten Beratungsformen der klassischen Beratung sowie der systemischen Beratung, durch deren gezielte Kombination die integrierte Beratung entwickelt und institutionalisiert werden soll. Unter klassischer Beratung wird in dieser Arbeit, wie in der einleitenden Diskussion um die Abgrenzung des Themenfeldes (vgl. Kapitel 1.3) bereits angeschnitten, die traditionelle Topmanagement-Beratung verstanden. Bei dieser handelt es sich nach Eschenbach um einen Tätigkeitsbereich, der von einer institutionell unabhängigen und fachlich durch entsprechende Ausbildung und praktische Erfahrung qualifizierten Personengruppe in enger Zusammenarbeit mit dem Topmanagement des jeweiligen Unternehmens ausgeübt wird. Die Hauptaufgabe der Topmanagement-Beratung ist es dabei, zur Lösung von Managementproblemen auf höchster Unternehmensebene beizutragen.31 Insgesamt geht aus dieser Beschreibung also hervor, dass klassische Beratung erstens umfassende Anforderungen an die ausübende Person stellt sowie zweitens eine explizite Spielform der übergreifenden Fachberatung ist. Genauer gesagt ist sie – wenn man von der rechtlichen Beratung durch einen Anwalt einmal absieht – die generelle Urform der betrieblichen Beratung überhaupt, da sie mit der Gründung von Arthur D. Little 1886 den allgemeinen Anfangspunkt zur imposanten Entwicklung der heute umfassenden Beratungsbranche setzt. Diesen historischen Wurzeln der klassischen Beratung (vgl. Kapitel 3.1) folgend, soll dieselbe in der vorliegenden Arbeit daher als jene Beratungsform abgegrenzt werden, die durch die globalen Beratungsunternehmen, wie McKinsey & Company, A.T. Kearney, The Boston Consulting Group oder Roland Berger Strategy Consultants, in Österreich und Deutschland vertreten wird. Im Gegensatz dazu wird die systemische Beratung in Anlehnung an Königswieser als eine im direkten Vergleich zur klassischen Beratung andere Vorgehensweise bei generellen Hilfestellungen für ein innerbetriebliches Problem verstanden. Das heißt, dass sich die externen Berater dabei auf die so genannte systemische Haltung sowie

31

Vgl. Eschenbach/Nagy (1999), S. 16

20

Beratung im Überblick

die systemische Sicht auf die betrachtete Problemsituation stützen und von einem systemischen Verständnis von Personen, Gruppen, Organisationen und Prozessen ausgehen.32 Aus dieser Definition lässt sich nun erkennen, dass die systemische Beratung erstens zur übergeordneten Gruppe der Prozessberatung gezählt werden kann, in der sie sich zweitens durch das systemische Paradigma (vgl. Kapitel 2.2.2.2) des Theoriehintergrundes differenziert. Dieses bildet seit Ende des 19. Jahrhunderts – also etwa seit jener Zeit, als sich die klassische Beratung zu entwickeln beginnt – den anregenden Nährboden für unterschiedliche Theoriestränge, die aus zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen hervorgehen und ein vielfältiges Theoriegebäude ergeben, auf dem die systemische Beratung aufbaut. Anders gesagt bilden die zahlreichen Theoriestränge die historischen Wurzeln der systemischen Beratung (vgl. Kapitel 3.2), wobei letztere zufolge des mannigfaltigen Theoriehintergrundes verschiedene Formen annimmt, von denen sich eine in Österreich entwickelt. Diese ist als Wiener Schule der systemischen Organisationsberatung bekannt, die rund um das Hernstein International Management Institute im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts entsteht und durch die systemischen Beratungsunternehmen CONECTA, Beratungsgruppe Neuwaldegg, osb und – die in den letzten Jahren neu gegründete – Königswieser & Network geprägt wird. Auf die Beratungsarbeit dieser Bratungsunternehmen in Österreich und Deutschland wird hauptsächlich Bezug genommen, wenn in weiterer Folge von systemischer Beratung gesprochen wird. Als dritte Beratungsform gilt es nun noch die integrierte Beratung zu definieren, zu deren weiterer Entwicklung die vorliegende Arbeit im Sinne ihrer Zielsetzung einen konstruktiven Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion beisteuern soll.33 Diese integrierte Beratung soll in den folgenden Ausführungen als situationsspezifische Kombination ausgewählter Elemente der klassischen Beratung sowie der systemischen Beratung verstanden werden, um dadurch sowohl die fachliche Unterstützung als auch die prozessuale Hilfestellung in expliziter Abstimmung auf das vorliegende Problem eines bestimmten Klienten gewährleisten zu können. Integrierte Beratung stellt also die umfassende Anforderung, die klassische Beratung und die systemische Beratung in konstruktiver Form derart zu integrieren, dass Fachberatung und Prozessberatung gemeinsam geleistet werden können. Sie erfordert dazu aber nicht nur die situative Veränderung des Beratungsfokus, sondern auch die kontinuierliche Anpassung des Beratungsparadigmas und setzt daher umfangreiches Wissen über die zwei anderen Beratungsformen voraus.

32 33

Vgl. Königswieser/Hillebrand (2004), S. 20 Überlegungen zur Weiterentwicklung von Beratung wurden unter anderem schon von Janes/ Prammer/Schulte-Derne (2001), Moldaschl (2001), Höfler/Skribot (2003), Froschauer/Lueger (2005) oder Königswieser/Sonuç/Gebhardt (2005) publiziert.

Beratung im Überblick

21

Auf Basis der erfolgten Abgrenzungen der drei Beratungsformen, können diese nun strukturiert aufgearbeitet werden, wozu sich innerhalb derselben jedoch die genauere Unterscheidung des Beratungstyps als hilfreich erweist. 2.1.1.2

Beratungstypen

Für die Abgrenzung des Beratungstyps bedarf es zunächst der Betrachtung des zweiten Begriffteils, der vom griechischen Wort 'Typus' abstammt. Darunter kann in der philosophischen Bedeutung zunächst ein grundlegendes Muster oder nach der psychologischen Auslegung eine bestimmte Ausprägung verstanden werden, die beide jeweils eine Reihe von gemeinsamen Merkmalen aufweisen,34 sodass sich eine übergeordnete Gruppe ergibt, der ein Gegenstand oder ein Mensch zugeordnet werden kann. In Anlehnung daran kann der Begriff Beratungstyp als eine spezifische Menge an grundlegenden Charakteristika umschrieben werden, die einer bestimmten Beratungsform zugeordnet werden können. Dieser Begriff kann nun in die beiden Kategorien des Idealtyps und des Realtyps unterteilt werden, die eine weiterführende Differenzierung und eine sinnvolle Strukturierung der betrachten Beratungsformen erlauben. Die grundlegende Einführung des Idealtyps geht auf den deutschen Soziologen und Sozialökonomen Max Weber35 zurück und beschreibt in der Soziologie in etwa das, was in anderen Wissenschaften als Modell bezeichnet wird, nämlich ein abstraktes, vereinfachtes und pragmatisch definiertes Abbild der Realität.36 Anders gesagt hebt ein Idealtyp aus der Fülle des Tatsächlichen einige Faktoren, die als grundlegend erscheinen, heraus und lässt weniger wichtige Merkmale außer Acht.37 Diesen zwei Umschreibungen folgend, lässt sich der Begriff des Idealtyps auf den betrachteten Untersuchungsgegenstand der Beratung übertragen und wird darin als theoretisches Abbild einer spezifischen Beratungsform definiert, wobei als zeitlicher Bezugspunkt die historischen Wurzeln der Beratungsformen (vgl. Kapitel 3) gewählt werden. Im Gegensatz dazu lässt sich der Begriff des Realtyps abgrenzen, der genauso wie sein Kontrapunkt des Idealtyps markante Charakteristika beschreibt, sich dabei aber nicht auf die theoretische Vergangenheit, sondern die praxisbezogene Gegenwart bezieht. Der Realtyp umfasst damit jene relevanten Eigenschaften einer bestimmten Beratungsform, die bei der umfassenden Reflexion des formspezifischen Auftretens von unterschiedlichen Beobachtern subjektiv wahrgenommen werden. Es lässt sich folglich festhalten, dass der fundamentale Idealtyp das theoretische Abbild der historischen Wurzeln einer spezifischen Beratungsform darstellt, während

34 35 36 37

Vgl. Duden (1990), S. 800 Weber (1922) Vgl. http://de.wikipedia.org (17.08.2005) Vgl. http://www.wissen.de (17.08.2005)

22

Beratung im Überblick

der kontrastierende Realtyp die praxisbezogene Reflexion über das gegenwärtige Auftreten der betrachteten Beratungsform beschreibt. Mittels dieses Begriffspaares lassen sich nun die Grundlagen der jeweiligen Beratungsform als Idealtyp skizzieren und es können davon ausgehend die Einflüsse der Beratungsformen aufeinander, die zu den Realtypen führen, leicht dargestellt werden. 2.1.2 Beratungskomponenten Unabhängig von der Beratungsform (vgl. Kapitel 2.1.1.1) und dem Beratungstyp (vgl. Kapitel 2.1.1.2) gibt es im weiten Untersuchungsfeld der Beratung noch einige andere Begriffe, die in der erfolgten Minimaldefinition von Beratung entweder direkt enthalten sind oder sich aus dieser unmittelbar ableiten lassen. Um auch für diese wichtigen Begriffe ein eindeutiges Verständnis in der weiterführenden Diskussion zu gewährleisten, sollen sie kurz erläutert werden. 2.1.2.1

Beratungsprojekt, Beratungssystem, Intervention

In Bezug auf die verwendete Minimaldefinition von Beratung (vgl. Kapitel 2.1.1) soll zunächst die Wortfolge 'einer abgegrenzten Berater-Klienten-Beziehung' genauer beleuchtet werden, aus der sich die nähere Beschäftigung mit den beiden Begriffen des Beratungsprojektes sowie des Beratungssystems ergibt, woraus wiederum eine der wichtigsten Begrifflichkeiten, nämlich die Intervention, hervorgeht. Um als Klient eine externe Hilfestellung zur gezielten Findung oder tatsächlichen Lösung eines spezifischen Problems zu erhalten, wird ein Berater mit der expliziten Durchführung eines Beratungsprojektes beauftragt. Dieses ist ein inhaltlich, zeitlich, sozial und räumlich begrenzter Projektauftrag, der die formalen Rahmenbedingungen zur effektiven Bearbeitung einer definierten Themenstellung in einem festgesetzten Zeitrahmen durch zwei soziale Systeme38 – das Klientensystem (vgl. Kapitel 2.1.2.2) und das Beratersystem (vgl. Kapitel 2.1.2.3) – bildet, die zur realen Durchführung der beabsichtigten Beratung ein gemeinsames Beratungssystem schaffen. Dieses Beratungssystem ist im Sinne der soziologische Systemtheorie (vgl. Kapitel 3.2.8) nach Luhmann ein soziales System und stellt die tatsächliche inhaltliche, zeitliche, soziale und räumliche Schnittmenge zweier anderer sozialen Systeme, des Klientensystems und des Beratersystems, dar, in der eine aufeinander bezogene und folgenreiche Kommunikation zumindest prinzipiell ermöglicht werden soll. Es wird demnach von zumindest zwei Kooperationspartnern mit asymmetrischer, jedoch komplementärer Aufgabenstellung und Funktion, nämlich sich beraten zu lassen sowie zu beraten, für eine bestimmte Zeit zur Findung oder zur Lösung eines oder mehrerer, genau spezifizierter oder noch offener Probleme des Klientensystems

38

Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 20

Beratung im Überblick

23

eingerichtet. Gemäß dem Projektauftrag ist das Beratungssystem dabei inhaltlich beschränkt auf die effektive Lösung der klientenspezifischen Fragestellungen, zeitlich befristet auf die vereinbarte Dauer des definierten Auftrages, sozial eingeschränkt auf bestimmte Vertreter der beteiligten Systeme sowie räumlich begrenzt auf die faktische Gestaltbarkeit der örtlichen Gegebenheiten.39 In dem eigens geschaffenen Beratungssystem werden verschiedene Interventionen gesetzt, die nach Titscher zunächst all das umfassen, was ein Berater in Gegenwart des Auftraggebers und/oder der Repräsentanten eines Klientensystems bewusst oder unbewusst tut oder unterlässt.40 Anders formuliert können unter Interventionen also alle Handlungen und Kommunikationen – mündliche wie schriftliche, aber auch Mimik wie Gestik – verstanden werden, die vom außenstehenden Beratersystem in das betroffene Klientensystem erfolgen oder eben nicht und demnach in irgendeiner Weise externes Eingreifen in interne Situationen bedeuten. Spricht man vor diesem Hintergrund nur von bewussten Interventionen, dann kommen diese dem gängigen Begriffsverständnis von Intervention im wörtlichen Sinne von 'Dazwischengehen'41 gleich, was letztlich bedeutet, dass das Beratersystem im Beratungssystem bewusst gezielte Handlungen ergreift oder ebensolche Kommunikationen setzt, um damit im Klientensystem eine beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Deren effektives Eintreten kann aber, wenn man wieder von der Luhmann'schen Systemtheorie ausgeht, nie sicher gewährleistet werden, sondern ist stets nur mehr oder weniger wahrscheinlich, erfordert jedoch ein Repertoire an bewährten Aktionsmustern und Reaktionsmustern, die einem Berater für das gezielte Eingreifen zur Verfügung stehen.42 In ebendiesem Sinne sind bewusste Interventionen folglich als Maßnahmen zu verstehen, mit denen das Beratersystem das Verhalten eines anderen Menschen, einer Gruppe oder einer Organisation nach einem bestimmten Konzept43 zu beeinflussen oder zu leiten versucht,44 um dadurch die Weiterentwicklung der Problembearbeitungskapazität des Klientensystems anzustoßen und zu fördern.45 Im Gegensatz dazu stellt aber auch schon die bloße Anwesenheit eines Beraters eine zumeist unbewusste Intervention dar, da es für jedes Individuum nach der systemischen Kommunikationstheorie (vgl. Kapitel 3.2.6) nicht möglich ist, nicht zu kommunizieren, weshalb ein Berater auch nicht nicht intervenieren kann. Diese unbewussten Interventionen, die beträchtliche Folgen haben können, werden in den anschließenden Ausführungen jedoch nicht 39 40 41 42 43

44 45

Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 26 Vgl. Titscher (2001), S. 152 f. Sinngemäße Übersetzung des lateinischen Wortes 'intervenire' Vgl. Wimmer (1992c), S. 82 Für systemische Beratung kann hier die Trias aus Interventionsarchitektur, Interventionsdesign und Interventionstechnik differenziert werden, die, wie im Bezugsrahmen (vgl. Kapitel 4.1) für Integration dargestellt, ineinandergreifen muss, um eine systemische Intervention zu setzen Vgl. König/Volmer (2000), S. 45 Vgl. Wimmer (1992c), S. 83

24

Beratung im Überblick

betrachtet. In diesen sind von all den zwischen einem Klienten und einem Berater stattfindenden Interaktionen, die letztlich ja alle Interventionen beinhalten, nur jene Diskussionsgegenstand, die von einem Berater auch bewusst gesetzt werden. In der erfolgten Erläuterung dieser drei Begriffe wurden, so wie in der grundlegenden Minimaldefinition, weitere Begrifflichkeiten verwendet, die für das bessere Verstehen der vorliegenden Arbeit wichtig sind und daher in weiterer Folge näher ausgeführt werden sollen. 2.1.2.2

Klient, Klientensystem und Klientenunternehmen

Eine genauere Betrachtung verdienen zunächst der zentrale Begriff des Klienten und die damit zusammenhängenden Begrifflichkeiten des Klientensystems sowie des Klientenunternehmens. Der Begriff des Klienten, um dessen Themenstellung sich ja Beratung überhaupt erst entwickeln kann, ist eigentlich vom Berufsstand der Anwälte entlehnt und von einem dieser, nämlich Marvin Bower46, in der Beratungsbranche etabliert worden. In dieser kann er als gleichbedeutend mit dem Begriff des Kunden verstanden werden, wie Klienten von vielen Beratern auch bezeichnet werden, was aber nichts daran ändert, dass in weiterer Folge – wörtliche Zitate ausgenommen – stets von Klienten die Rede sein soll. Als Klient, der eine spezifische Beratung in Anspruch nimmt, kann im engeren Sinne nun eine einzelne Führungskraft in sowie das Management von einem Unternehmen oder die gesamte Organisationen an sich – also juristisch gesehen eine natürliche Person oder eine rechtliche Person – als Auftraggeber agieren.47 Im weiteren Sinne können unter diesem Begriff auch alle direkt in die Beratung involvierten und von der Beratung betroffenen Mitarbeiter im Klientenunternehmen zusammengefasst werden. Diese Gesamtheit kann auch als Klientensystem48 bezeichnet werden, wodurch eine prinzipielle Unterscheidung zum einzelnen Individuum hin möglich wäre. Von dieser Möglichkeit wird in der weiteren Arbeit jedoch kein Gebrauch gemacht, weshalb die beiden Begriffe als Synonym verwendet werden. Das angesprochene Klientenunternehmen umfasst über das Klientensystem hinaus die gesamte Organisation des Unternehmens, das die Beratung in Anspruch nimmt. Dieser Begriff beinhaltet damit auch jene Mitarbeiter und Abteilungen die nicht oder nur indirekt in das Beratungsprojekt involviert oder davon betroffen sind. Ob es aber 46

47

48

Bower hat vor seinem Eintritt bei McKinsey & Company (vgl. Kapitel 3.1.3) unter anderem Jura studiert und in einer Anwaltskanzlei gearbeitet, was ihn nachhaltig prägte und letztlich dazu führte, dass er auch in der Beratung auf eine professionelle Geschäftssprache bestand, die sich stark an die Terminologie in einer Kanzlei anlehnte, sodass man Kunden beispielsweise Klienten nannte, wie Fink (2003), S. 84, ausführt. Einzelne Personen werden hier bewusst ausgenommen, da diese im allgemeinen nur in einer Therapie, die im Zusammenhang mit dieser Arbeit nicht betrachtet wird, als Klient auftreten Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 22, für nähere Ausführungen zum systemischen Verständnis des Klientensystems.

Beratung im Überblick

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überhaupt Mitarbeiter und Abteilungen gibt, die nicht von der Beratung betroffen sind, hängt immer von der tatsächlichen Unternehmensgröße sowie der betrachteten Themenstellung ab, sodass von umfassenden Beratungsprojekten letztlich auch das gesamte Klientenunternehmen betroffen sein kann, folglich zum Klientensystem und damit auch zum Klient wird. In diesem spezifischen Fall sind also alle drei Begriffe gleichbedeutend, was eine konsequente Unterscheidung und getrennte Verwendung erschwert. Da diese mögliche Differenzierung für die weitere Arbeit jedoch keinen unmittelbaren Mehrwert liefert, sondern nur eine unnötige Komplizierung bedeuten würde, wird auf die explizite Unterscheidung der drei Begriffe verzichtet und nur deren implizite Bedeutung aus dem jeweiligen Kontext als maßgebend betrachtet. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die prinzipielle Unterscheidung zwischen den drei diskutierten Begrifflichkeiten zwar möglich wäre und sich der Leser dessen auch bewusst sein sollte, dies für die weitere Diskussion aber keinen Mehrwert erbringen würde, weshalb Klient, Klientensystem und Klientenunternehmen fortan als Synonyme verstanden werden, es sei denn, dass sich aus dem jeweiligen Kontext ein spezifischer Unterschied implizit erkennen lässt. 2.1.2.3

Berater, Beratersystem und Beratungsunternehmen

Der Berater stellt im Rahmen des Beratungssystems den Gegenpart zum Klienten dar, an den dieser herantritt, um eine spezifische Unterstützung in einer bestimmten Themenstellung zu erhalten. Er ist für deren gezielte Bearbeitung nicht mehr und nicht weniger wichtig, als der Klient oder auch die Themenstellung selber, da eine Beratungsleistung nur erfolgen kann, wenn alle drei Aspekte erfüllt werden. Der die Beratung durchführende Berater kann entweder eine einzelne Persönlichkeit oder ein Team aus sowie ein Netzwerk von mehreren Personen sein, die aus einem oder aus mehreren Beratungsunternehmen stammen. Sobald es sich bei der Anzahl dieser Auftragnehmer, die juristisch gesehen entweder eine natürliche Person oder eine rechtliche Person sein müssen, um mehr als ein Individuum handelt, können diese auch als Beratersystem49 bezeichnet werden. Der Begriff des Beraters kann damit zwar eine einzelne beratende Person bezeichnen, aber genauso auch als Synonym für ein Beratersystem aufgefasst werden. Da Beratung in Bezug auf die in der vorliegenden Arbeit diskutierte Problemstellung im Regelfall aber von mehreren Personen durchgeführt wird, werden die beiden Begriffe fortan gleichgesetzt und als Synonyme verwendet. Die beratenden Personen können, wie bereits aufgezeigt, aus einem oder mehreren Beratungsunternehmen kommen. Dieser Begriff bezieht sich daher in der Regel auf

49

Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 23, für nähere Ausführungen zum systemischen Verständnis des Beratersystems

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Beratung im Überblick

eine Beratungsorganisation, die zum Erbringen einer Beratungsdienstleistung über eine bestimmte Anzahl sowie ein spezifisches Wissen von Mitarbeitern verfügt, und dadurch mehrere unterschiedliche Beratungsprojekte abwickeln kann. Im Grenzfall kann aber ein Beratungsunternehmen – auch wenn das eher unwahrscheinlich ist – alle seine Berater in einem großen Beratungsprojekt beschäftigen, sodass der Begriff deckungsgleich mit jenem des Beratersystems und folglich auch dem des Beraters wird. Zwar würde sich hier eine begriffliche Trennung wesentlich leichter realisieren lassen, als in Bezug auf die unterschiedlichen Begrifflichkeiten des Klienten, es wird aber, der gleichen Argumentation wie zuvor folgend, auch für die diskutierten Begriffe Berater, Beratersystem und Beratungsunternehmen keine explizite Differenzierung in der weitere Diskussion verfolgt, sondern auf die implizite Bedeutung im jeweiligen Kontext verwiesen. Es kann somit auch für diese drei Begrifflichkeiten zusammengefasst werden, dass die konsequente Unterscheidung prinzipiell möglich wäre, auf diese aber, weil durch sie kein zusätzlicher Mehrwert für die folgenden Ausführungen entstehen würde, zugunsten der besseren Lesbarkeit verzichtet wird. Berater, Beratersystem und Beratungsunternehmen können daher, aus dem jeweiligen Kontext hervorgehende Bedeutungen ausgenommen, weitgehend als Synonyme betrachtet werden. 2.1.2.4

Inhaltliche, zeitliche, soziale und räumliche Dimension

Auch wenn die vier Beratungsdimensionen – die inhaltliche, die zeitliche, die soziale sowie die räumliche Dimension –, die jeweils eine bestimmte Abgrenzung in den Begriffen Beratungsprojekt und Beratungssystem (vgl. Kapitel 2.1.2.1) erlauben, ausschließlich – so wie auch die Begriffe des Beratungssystems, Klientensystem und Beratersystem – in der systemischen Literatur50 beschrieben werden, sind sie doch von grundlegender Bedeutung für jede beliebige Beratungsform, selbst wenn sie darin nicht immer bewusst berücksichtigt und zweckdienlich gestaltet werden. Daher sollen sie, um den begrifflichen Bezugsrahmen letztlich zu vervollständigen, noch kurz erläutert werden. Wie bereits angedeutet, entwickelt sich ein Beratungsprojekt um eine bestimmte Themenstellung, für die ein gewünschtes Ziel angestrebt wird. Diese beiden Aspekte zählen zur inhaltlichen Dimension51, in der die grundlegende Weichenstellung für ein angestrebtes Beratungsprojekt erfolgt. Hier wird also zwischen Berater und Klient die grundlegende Themenstellung reflektiert, woraus die einzelnen inhaltlichen Schwerpunkte abgeleitet werden, und schließlich das angestrebte Ziel formuliert, das auch die generelle Verifizierung des eigentlichen Problems umfassen könnte und mit

50

51

Vgl. Königswieser/Exner/Pelikan (1995), S. 59 f. und Königswieser/Exner (1998), S. 63 ff. sowie S. 151 ff., für nähere Ausführungen zum systemischen Verständnis der Beratungsdimensionen. Diese kann auch als sachlich Dimension bezeichneten werden.

Beratung im Überblick

27

Hilfe des Beratungsprojektes erreicht werden soll. Dabei sind vor allem aus Sicht der systemischen Beratung noch zwei wichtige Aspekte zu bedenken. Zum einen ist die Unterscheidung zwischen Optimierung und Musterwechsel von zentraler Bedeutung. Während ersteres auf die gezielte Verbesserung von etwas Bestehendem zutrifft, so ist letzteres mit einem fundamentalen Umbruch auf etwas Neues gleichzusetzen, woraus sich zwei unterschiedliche Projektgestaltungen ergeben. Zum anderen ist bei der Wahl einer Themenstellung stets zu bedenken, dass aus der expliziten Fokussierung auf dieselbe auch weitreichende Wechselwirkungen auf andere Themen auftreten können. Ist der inhaltliche Fokus einmal formuliert, werden die weiteren Rahmenbedingungen für das Beratungsprojekt in der zeitlichen Dimension vereinbart. Ausgehend von der übergeordneten Festlegung eines klaren Anfangspunktes und eines eindeutigen Endpunktes, werden generelle Beratungsphasen – Diagnosephase, Konzeptphase, Umsetzungsphase (vgl. Kapitel 2.1.2.5) – unterschieden und dafür sowie darin markante Meilensteine definiert. Weiters wird primär von systemischen Beratern unter Berücksichtigung der bestehenden Unternehmenskultur ein bewusster Umgang mit Zeit und Rhythmus etabliert. An ebendiesen angepasst werden Arbeitsphasen und Pausenzeiten strukturiert, wodurch gezielte Belastungen sowie ebensolche Entlastungen des Klientensystems bewirkt werden. Schlussendlich ist der zeitlichen Dimension in beiden Beratungsformen auch noch die Festlegung jener Zeitdauer zuzurechnen, die einzelnen Aspekten der zentralen Themenstellung zur Bearbeitung eingeräumt wird. Darunter fällt über die spezifischen Inhalte hinaus generell bei der systemischen Beratung auch jenes Zeitbudget, das bewusst für die Aufarbeitung der Vergangenheit oder die Formulierung der Zukunft verwendet werden soll. Die soziale Dimension deckt sowohl die personelle Zusammensetzung der Teams als auch die generelle Art der Zusammenarbeit in und zwischen den Teams sowie im gesamten Projekt ab. Es wird dabei für alle drei sozialen Systemen – Beratersystem, Klientensystem und Beratungssystem – definiert, wie viele und welche Personen, in welchen Arbeitseinheiten, in welcher Zusammensetzung sowie in welcher Form arbeiten, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Entsprechend dieser fünfteiligen Reihenfolge, die bei systemischer Beratung nicht nur mehr Aufmerksamkeit erfährt, sondern auch eine höhere Detaillierung genießt, bedeutet das, dass erstens die Anzahl der notwendigen Personen sowie zweitens deren erforderliche Qualifikation und drittens die Größe der einzelnen Arbeitseinheiten bestimmt werden. Viertens wird die Konstellation in den Arbeitseinheiten – homogen oder heterogen in Bezug auf Fachwissen, Funktion, Hierarchie, etc. – und fünftens schließlich die Form der dabei angestrebten Interaktion – Interview, Workshop, Großveranstaltungen, etc. – festgelegt.

28

Beratung im Überblick

Die örtlichen Gegebenheiten, die bei der Durchführung des Beratungsprojektes zum Tragen kommen, werden schließlich in der räumliche Dimension berücksichtigt. Das umfasst die grundlegende Wahl aber auch die spezifische Gestaltung der Orte und der Räumlichkeiten, in denen die tatsächliche Beratung – im Sinne von Interaktion zwischen Berater und Klient – sowie alle damit verbundenen Arbeiten erfolgen. Auch in dieser Dimension wird von der systemischen Beratung wieder wesentlich mehr Wert auf Details gelegt, was sich primär in der gezielten Verwendung der räumlichen Dimension bei umfassenden Interaktionen im Beratungssystem niederschlägt. Dies beginnt bei der Wahl des generellen Veranstaltungsortes innerhalb oder außerhalb der Firma, reicht über die Wahl des verwendeten Raumes nach dessen Größe und Funktion, und erstreckt sich hin bis zur Gestaltung desselben durch die Anordnung der einzelnen Elemente wie etwa Tische, Sesseln oder Flipcharts. Es lässt sich damit festhalten, dass Beratung in all den in der vorliegenden Arbeit betrachteten Beratungsformen sowie den darin unterschiedenen Beratungstypen entlang von vier Dimensionen – inhaltlich, zeitlich, sozial und räumlich – begrenzt werden kann, sodass sich eine spezifisches Beratungsprojekt ergeben und ein daraus folgendes Beratungssystem konstituieren kann, in dem die vereinbarte Beratungsleistung durch eine zielgerichtete Interaktion zwischen Klient und Berater erfolgen kann. In jedem Beratungsprojekt können schließlich entlang der zeitlichen Dimension, wie angedeutet, noch einzelne Beratungsphasen unterschieden werden, die für das umfassende Verständnis für die weitere Diskussion von hoher Wichtigkeit sind und deshalb gesondert abgehandelt werden. 2.1.2.5

Diagnosephase, Konzeptphase und Umsetzungsphase

Bezug nehmend auf die übergeordnete Definition von Beratung können in Reflexion der zeitlichen Dimension in einem beliebigen Beratungsprojekt, in dem durch eine spezifische Beratungsleistung von einer bestehenden Ausgangssituation aus eine angestrebte Veränderung hin zu einem gewünschten Zielzustand unterstützt werden soll, drei generelle Beratungsphasen voneinander unterschieden werden. Diese sind in chronologischer Reihenfolge die Diagnosephase, die Konzeptphase sowie die Umsetzungsphase und weisen, wie die jeweiligen Begriffe bereits implizieren, einen unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkt auf. In der Praxis sind diese durch mehr oder weniger intensive Wechselwirkungen meist eng miteinander verknüpft, sodass sich zwischen den einzelnen Beratungsphasen ein fließender Übergang ergibt und keine eindeutige Abgrenzung möglich ist. Letztere soll zunächst jedoch zugunsten einer vereinfachten Darstellung, mit der für die prinzipielle Erläuterung der drei Begriffe das Auslangen gefunden wird, unterstellt werden, sodass sich folgender Zusammenhang skizzieren lässt.

Beratung im Überblick

Ausgangssituation

Diagnosephase

29

Konzeptphase

Umsetzungsphase

Zielzustand

Veränderung

Abbildung 2.2: Zusammenhang der Beratungsphasen

Betrachtet man Beratung gemäß der eingangs erfolgten Minimaldefinition als externe Dienstleistung, so kann die erste Kontaktaufnahme zwischen dem Klienten und dem Berater als frühest möglicher Anfangszeitpunkt für ein spezifisches Beratungsprojekt gesehen und damit als theoretischer Beginn der unumgänglichen Diagnosephase verstanden werden. Selbige beginnt deshalb theoretisch an dieser Stelle, weil vom ersten Wortwechsel an durch jede beliebige Interaktion zwischen dem Klienten und dem Berater beiderseitige Informationen entstehen, zufolge derer der Erstere seine individuelle Wahrnehmung der Ausgangssituation mitunter zu variieren, während der Zweitere sein subjektives Bild derselben meist erst zu konstruieren beginnt. Kommt es aus diesem ersten oder weiteren folgenden Gesprächen zum expliziten Auftrag des Klienten an den Berater ein spezifisches Beratungsprojekt durchzuführen, dann beginnt die einleitende Diagnosephase, an deren vermeintlichem Ende ein möglichst umfassendes Verständnis der tatsächlichen Ausgangssituation vorhanden sein soll, nun spätestens praktisch, sodass sowohl das betroffene Klientensystem und das beauftragte Beratersystem in dem entstehenden Beratungssystem gezielt versuchen, die vorliegende Themenstellung für sich zu erschließen. Damit zusammenhängend oder darauf aufbauend ist der zweite wichtige Aspekt der Diagnosephase, eine mehr oder weniger spezifische Vorstellung des angestrebten Zielzustandes aufzubauen, der seitens des Klienten mitunter schon von Beginn an vorgegeben werden kann, dessen gemeinsames Verständnis jedoch wichtig ist, um eine generelle Orientierung für die folgenden Arbeitsschritte zu erhalten. Diese zwei grundlegenden Bestreben sind beiden betrachteten Beratungsformen gemein, das was die jeweiligen Berater tun und wie sie es letztlich tun, hängt jedoch vom jeweiligen Beratungsfokus (vgl. Kapitel 2.2.1) ab, sodass für die erste der drei Beratungsphasen grundsätzlich nur festgehalten werden kann, dass darin ein möglichst gutes Verständnis sowie ebenso klares Bild von sowohl der bestehenden Ausgangslage als auch dem angestrebten Zielzustandes aufgebaut werden soll. Dieses umfassende Verständnis stellt die notwendige Basis für die weiterführende Projektarbeit in der nachfolgenden Konzeptphase dar, in der die aus dem jeweiligen Beratungsfokus hervorgehenden Unterschiede im prinzipiellen Handeln einerseits der klassischen Berater sowie andererseits der systemischen Berater zwar bestehen bleiben, sich aber trotzdem ein größster gemeinsamer Nenner beschreiben lässt. Dieser ist unabhängig von der Beratungsform das gezielte Erarbeiten von zumindest

30

Beratung im Überblick

einem wie auch immer gearteten Lösungsweg, der aus einem ganzen Konzept und/ oder nur einzelne Maßnahmen bestehen kann, um über diesen von der vorliegenden Ausgangssituation zum angestrebten Zielzustand zu kommen. Für den Fall, dass bei diesem konzeptionellen Unterfangen im zentralen Beratungssystem grundlegende Erkenntnisse entstehen, die in irgendeiner Weise das prinzipielle Verständnis der spezifischen Ausgangssituation verändern, muss die meist schon abgeschlossene Diagnosephase in der laufenden Konzeptphase noch einmal ergänzt und mitunter auch der angestrebte Zielzustand ein zusätzliches Mal überdacht werden, sodass eine explizite Wechselwirkung zwischen den beiden Beratungsphasen stattfindet. Wenn hingegen noch während der laufenden Konzeptphase erste Schritte hin zum angestrebten Zielzustand nicht nur theoretische angedacht, sondern auch praktisch durchgeführt werden, so sind diese als generelle Vorläufer der abschließenden Umsetzungsphase zu verstehen und es resultiert zwischen diesen letzten beiden Beratungsphasen eine offensichtliche Wechselwirkung. Das zentrale Hauptaugenmerk der angesprochenen Umsetzungsphase, die als dritte Beratungsphase das tatsächliche Erreichen des angestrebten Zielzustandes ergeben soll, ist unabhängig vom jeweiligen Beratungsfokus die schrittweise Realisierung des ausgearbeiteten Lösungsweges. Anders formuliert geht es darum, die entworfenen Konzepte sowie die angedachten Maßnahmen nach und nach mit Leben zu erfüllen und in die Praxis zu überführen, um auch tatsächlich zum spezifizierten Zielzustand zu gelangen. Im Unterschied zu den ersten beiden Beratungsphasen steht also nicht das diagnostizierende Verstehen sowie das konzipierende Denken, sondern das umsetzende Handeln im Vordergrund, wobei diese drei Aspekte über das gesamte Beratungsprojekt hinweg ohnehin in kontinuierlicher Wechselwirkung zueinander stehen. Wenn nun einzelne Maßnahmen einerseits mitunter gleich aus der Diagnose heraus in die Umsetzung gelangen können und daher die Konzeption umgehen oder andererseits nach deren Konzeption in der Umsetzung Problem entstehen, sodass eine weitere Diagnose fällig wird, kann ein direkter Zusammenhang zwischen der ersten sowie der letzten Beratungsphase entstehen. Es versteht sich von selbst, dass ebendieser zwischen Konzeptphase und der Umsetzungsphase deutlich intensiver ist und mehr oder weniger große Wechselwirkungen bestehen, wenn bei der abschließenden Realisierung einzelne Aspekte auftauchen, welche bei der vorangegangen Konzeption ungenügend bedacht worden sind, sodass letztere noch einmal verbessert werden muss. Abschließend kann rekapituliert werden, dass diese für die drei Beratungsphasen beschriebenen Bestreben der klassischen Beratung und der systemischen Beratung gemein sind, das was die jeweiligen Berater tun und wie sie es vor allem tun, also die Art und Weise der gesetzten Interventionen, aber vom spezifischen Beratungsfokus abhängen, auf den in Folge näher eingegangen wird. Genau dieser ist ein zentraler

Beratung im Überblick

31

Bestandteil der grundlegenden Differenzierung der betrachteten Beratungsformen, welche auf Basis des nun definierten begrifflichen Bezugsrahmens näher ausgeführt werden soll.

2.2 Differenzierungslogik für Beratungsformen Aufbauend auf den begrifflichen Bezugsrahmen (vgl. Kapitel 2.1), der allgemeine Gültigkeit für den generellen Begriff der Beratung aufweist, sollen nun die betrachten Beratungsformen genauer differenziert werden. Dazu kann in unterschiedlichsten Literaturquellen eine breite Vielfalt grundlegender Charakteristika identifiziert werden, die bei näherer Betrachtung zwei übergeordnete Differenzierungskriterien erkennen lassen. Dabei handelt es sich erstens um das tatsächliche Hauptaugenmerk in und zweitens das grundlegende Verständnis von Beratung oder, anders formuliert, den zentralen Beratungsfokus und das fundamentale Beratungsparadigma, die beide zusammen eine Beratungsform prägen. Während der Beratungsfokus bereits explizit im übergeordneten Begriff der jeweiligen Beratungsform, also in der Fachberatung sowie in der Prozessberatung,52 angedeutet wird, fließt das Beratungsparadigma implizit durch die historischen Wurzeln der Beratungsformen (vgl. Kapitel 3) in dieselben, nämlich die klassische Beratung sowie die systemische Beratung, ein. Dieser Argumentation folgend erlaubt der Begriff des Beratungsfokus die prinzipielle Unterscheidung von Beratung nach fachlichen Inhalten sowie sozialen Prozessen, was durch die beiden Begrifflichkeiten der inhaltsorientierten Beratung sowie der prozessorientierten Beratung erfasst werden kann. Für das Beratungsparadigma ergibt sich hingegen die fundamentale Differenzierung von Beratung nach dem mechanistischen Paradigma sowie dem systemischen Paradigma,53 sodass sich aus den beiden übergeordneten Differenzierungskriterien eine zweidimensionale Matrix mit je einem Begriffspaar pro Achse konzipieren lässt. Diese beiden Begriffspaare – inhaltsorientierte Beratung vs. prozessorientierte Beratung sowie mechanistisches Paradigma vs. systemisches Paradigma – werden nun in der genannten Reihenfolge entlang der beiden Achsen von rechts unten beginnend aufgetragen, sodass die entstehende zweidimensionale Matrix, die fortan als Differenzierungslogik bezeichnet werden soll, wie folgt dargestellt werden kann.54

52

53

54

Vgl. Mingers (1996), S. 19 ff., König/Volmer (2000), S. 47 ff., Nagel (2001), S. 20 f., SchröerPetranovskaja (2001), S. 9, Froschauer/Lueger (2003), S. 1, Boos/Heitger/Hummer (2004), S. 71 ff. sowie Froschauer/Lueger (2005), S. 2 ff., für nähere Ausführungen zu den grundlegenden Charakteristika von Fachberatung und Prozessberatung Vgl. Capra (1992), S. 51 ff., Königswieser (1992), S. 2, Groth (1996), S. 30, sowie Moldaschl (2001), S. 138 ff., für nähere Ausführungen zum mechanistischen Paradigma sowie zum systemischen Paradigma Die gewählte Reihenfolge in der grafischen Darstellung dient ausschließlich dazu, um durch die gesamte Arbeit hindurch in unterschiedlichen Abbildungen (vgl. Abbildung 1.2, Abbildung 2.6, Abbildung 7.6) idente Positionierungen der beiden Beratungsformen zu ermöglichen und dadurch die Lesbarkeit zu verbessern, impliziert jedoch in keiner Weise wertende Aspekte.

32

Beratung im Überblick

Systemisches Mechanistisches

Beratungsparadigma

Prozessorientierter

Inhaltsorientierter Beratungsfokus

Abbildung 2.3: Differenzierungslogik für Beratungsformen

Diese Differenzierungslogik stellt nun für die weiteren Ausführungen gleichsam das ergänzende Pendant zum begrifflichen Beziehungsrahmen, nämlich eine graphische Orientierungshilfe dar und erlaubt zum einen eine klare Darstellung der theoretischen Positionierung der Idealtypen (vgl. Abbildung 2.6) und basierend darauf zum anderen die realistische Abbildung der erfolgten Evolution der Realtypen (vgl. Abbildung 6.2). Da die dargestellte Matrix von zentraler Bedeutung für die gesamte Arbeit ist, sollen die beiden Achsen mit ihren jeweiligen Begriffspaaren genauer beschrieben werden. 2.2.1 Beratungsfokus Die Differenzierung von inhaltsorientierter Beratung und prozessorientierter Beratung auf der Achse des Beratungsfokus lässt sich unter neuerlichem Bezug auf die sozilogische Systemtheorie (vgl. Kapitel 3.2.8) fundieren. Analytisch unterscheidet Luhmann in dieser drei Sinndimensionen, die Sachdimension, die Zeitdimension und die Sozialdimension,55 die folgendermaßen in die Differenzierungslogik übersetzt werden können. Während die Sachdimension in der inhaltsorientierten Beratung erfasst wird, lässt sich die Sozialdimension in der prozessorientierten Beratung abbilden, wobei der Übergang zwischen diesen beiden Beratungsfokussen fließend ist, da es bei der Beratung keinen fachlichen Inhalt ohne sozialen Prozess sowie vice versa keinen sozialen Prozess ohne fachlichen Inhalt geben kann. Die Bewegung im entstehenden Kontinuum bringt schließlich die Zeitdimension über die Matrixfläche ein, sodass alle drei Luhmann'schen Sinndimensionen in die Differenzierungslogik 55

Vgl. Berghaus (2003), S. 112

Beratung im Überblick

33

eingehen. Bezieht man diese drei Sinndimensionen nun auf die Beratungsleistung, die von einem Berater erbracht wird, so arbeitet dieser primär inhaltsorientiert, wenn er sich auf das Einbringen von fachspezifischem Wissen konzentriert. Zu diesem zählen sowohl Branchenwissen als auch Funktionswissen, wobei zu letzterem etwa auch jenes über betriebliche Ablaufprozesse gehört. Dieselben sind wiederum ein Bestandteil der inhaltlichen Prozesse in einem Unternehmen, die es grundsätzlich von den sozialen Prozessen in demselben zu unterscheiden gilt. Befasst sich ein Berater nämlich mit dieser zweiten Prozessart, so arbeitet er prozessorientiert und unterstützt die Entstehung eines Lösungsweges, indem er sich auf Kommunikations-, Veränderungs- und Entwicklungsprozesse sowie deren Gestaltung fokussiert. Reflektiert man diese zwei Arbeitsschwerpunkte nun auf die beiden betrachteten Beratungsformen, die ja entweder zur Fachberatung oder zur Prozessberatung zählen, so ergibt sich, dass die klassische Beratung eher inhaltsorientiert und die systemische Beratung eher prozessorientiert ist.56 Für die generelle Diskussion lässt sich somit unter Verwendung des begrifflichen Bezugsrahmens (vgl. Kapitel 2.1) eine zweckmäßige Gegenüberstellung der idealtypischen Beratungsleistungen skizzieren.

Beratungsleistung

Klassische Beratung

Diagnosephase

Konzeptphase

Umsetzungsphase

Ausgangssituation

Zielzustand

Konzeptphase Systemische Beratung

Diagnosephase

Umsetzungsphase

Beratungsleistung Veränderung Inhalt (Was?)

Prozess (Wie?)

Intervention

Systemische Schleife

Abbildung 2.4: Gegenüberstellung der idealtypischen Beratungsleistungen

56

Vgl. Mingers (1996), S. 23

34

Beratung im Überblick

Ausgehend vom zweiten Teil der erfolgten Minimaldefinition von Beratung, wonach diese die gezielte Veränderung von einer bestehenden Ausgangssituation zu einem gewünschten Zielzustand ist, leisten die klassische Beratung sowie die systemische Beratung in den drei Beratungsphasen unterschiedliche Interventionen. Während klassische Berater ihre Interventionen auf den fachlichen Inhalt, sprich auf die Frage danach, 'was' verändert werden soll, beziehen, richten systemische Berater ihre Interventionen auf den sozialen Prozess, also auf die Frage danach, 'wie' verändert werden soll. Bei der gezielten Verfolgung dieser unterschiedlichen Fragestellungen, erbringen die betrachteten Beratungsformen ihre idealtypische Beratungsleistung in verschiedenen Beratungsphasen, sodass die inhaltsorientierte Beratung und die prozessorientierte Beratung auch in Zeitdauer sowie Zeitintensität differieren. Die detailliertere Reflexion dieser beiden Beratungsfokusse soll zunächst generell und dann so weit als möglich unabhängig vom entsprechenden Beratungsparadigma (vgl. Kapitel 2.2.2) anhand der klassischen Beratung sowie der systemischen Beratung erfolgen. 2.2.1.1

Inhaltsorientierter Beratungsfokus

Unter dem Begriff der inhaltsorientierten Beratung, der ja, wie einleitend erwähnt, als Synonym für Fachberatung verstanden wird, lassen sich zunächst eine Vielfalt von unterschiedlichen Beratungsformen oder verwandten Dienstleistungen subsumieren. Im weitesten Sinne zählen dazu beispielsweise die Beratung durch Gutachter oder Experten, aber auch durch Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer, und letztlich durch Anwälte oder Agenturen. Zweifelsohne gehören der bisherigen Diskussion folgend zu diesen Fachberatern auch die Managementberater, deren Beratungsform in der vorliegenden Arbeit als klassische Beratung bezeichnet wird, wobei sich an letzterer zweckmäßiger Weise auch die folgenden Ausführungen orientieren. Inhaltsorientierte Beratung konzentriert sich generell auf die sachliche Bearbeitung einer meist vom jeweiligen Auftraggeber definierten inhaltlichen Problemstellung und beschränkt sich dabei, wie das Wort 'sachlich' bereits andeutet, auf die detaillierte Betrachtung von harten Fakten und auf exakte Analysen von umfangreichen Daten. Vom auftraggebenden Management wird zu diesem Zweck ein betriebswirtschaftlich oder technisch ausgebildeter Berater als Fachmann geholt, weil diesem eine höhere Kompetenz zugeschrieben wird, als den mit dem benannten Problem befassten Mitarbeitern des eigenen Unternehmens, woraus eine asymmetrische Beziehung zum beratenen Klienten resultiert. Demzufolge hat dieser externe Berater aus der Perspektive des beauftragenden Managements die 'richtige' Lösung zu dem vorhandenen Problem zu wissen und ein entsprechendes Lösungskonzept zur

Beratung im Überblick

35

gezielten Problembehebung zu entwickeln.57 Anders formuliert delegiert der Klient ein spezifisches Problem an den beauftragten Berater und erwartet sich für dieses eine sachgemäße Lösung, welcher er in kontinuierlichen Abstimmungsgesprächen zwischen beiden Parteien entscheidende Impulse geben kann, sodass de facto eine gemeinsame Problemlösung durch die Berater und die Führungskräfte erfolgt.58 Das Beratersystem unterbreitet dazu stetig konkreter werdende Lösungsvorschläge, die immer wieder neue Anregungen für das Klientensystem darstellen, wobei dasselbe entscheidet, inwieweit diese angenommen werden und wie diese weiterentwickelt werden sollen.59 Inhaltsorientierte Beratung hat demnach die spezifische Funktion zufolge der gegebenen unternehmensinternen Bedingungen sowie der vorhandenen organisationsexternen Gegebenheiten zur gezielten Problembewältigung detaillierte Empfehlungen zu erarbeiten, die, wenn sie umgesetzt werden, die gewünschten Effekte erbringen sollen. Dabei dominiert meist ein rationales Vorgehen und es wird überwiegend davon ausgegangen, dass das betrachtete Problem durch umfassende Maßnahmen gelöst werden kann.60 Besonders sinnvoll ist inhaltsorientierte Beratung dann, wenn es um die Mithilfe bei der Lösung eng begrenzter, sachlicher, einmaliger – im Unterschied zu immer wieder auftretenden Fragstellungen – Probleme geht, für die in der Organisation kein eigenes Know-how vorhanden ist und auch nicht aufgebaut werden soll. Der Berater muss dafür als Fachexperte auf dem relevanten Gebiet angesehen werden, wozu er entsprechendes inhaltliches Fachwissen benötigt, das dieser zufolge spezifischer Ausbildungen sowie durchgeführter Beratungsprojekte entweder über eine Branche (z.B. Automobil, Pharma, Energie, etc.) oder über eine Funktion (z.B. Strategie, Organisation, Marketing, etc.) besitzt. Dieses fachspezifische Wissen bildet – ganz egal ob für Klienten oder Berater – die generelle Grundlage, um überhaupt inhaltliche Beiträge leisten oder ganze fachliche Konzepte erarbeiten zu können. Bei dieser intendierten Übertragung von inhaltlichem Expertenwissen wird jedoch oft zu wenig beachtet, ob das ratsuchende Klientenunternehmen als ganzes mit den gezielten Empfehlungen unterfordert oder überbeansprucht ist, weil, dem inhaltsorientierten Beratungsfokus entsprechend, prozessuale Veränderungsaspekte zu wenig beachtet oder überhaupt ausgeklammert werden. Daher bleibt auch oft die Frage ausgespart, warum in der betrachteten Organisation die nachgefragte Kompetenz fehlt und welche Bedeutung beziehungsweise Funktion dieses explizite Defizit eigentlich hat. Es wird dem entgegen gezielt an der umfassenden Beseitigung der bestehenden

57 58 59 60

Vgl. Titscher (2001), S. 43 Vgl. Walger (1995), S. 5 Vgl. König/Volmer (2000), S. 48 f. Vgl. Froschauer/Lueger (2005), S. 2

36

Beratung im Überblick

Schwächen gearbeitet, sodass inhaltsorientierte Berater leicht in die Rolle kommen können, auf eine Veränderung zu drängen.61 Werden die beschriebenen Charakteristika nun auf die erfolgte Gegenüberstellung der idealtypischen Beratungsleistungen (vgl. Abbildung 2.4) reflektiert, dann kann für inhaltsorientierte Beratung anhand ihrer spezifischen Beratungsform der klassischen Beratung das idealtypische Vorgehen wie folgt beschreiben werden. Geprägt vom mechanistischen Paradigma (vgl. Kapitel 2.2.2.1) werden, um von der bestehenden Ausgangssituation aus eine gezielte Veränderung zum angestrebten Zielzustand hin zu bewirken, die drei Beratungsphasen idealtypischer Weise als strikt voneinander getrennt und daher als chronologisch aufeinander folgend betrachtet. Die explizite Beratungsleistung durch inhaltliche Interventionen in Form von vorhandenem Fachwissen, durchgeführten Analysen, erarbeiteten Maßnahmen sowie erstellten Konzepten erfolgt dabei nur in der Diagnosephase sowie in der Konzeptphase. Dazu wird in diesen ersten beiden Beratungsphasen von den lösungssuchenden Beratern unter Verwendung von klientenspezifischen Informationen sowie externe Daten für relativ kurze Zeit sehr intensiv an umfassenden Empfehlungen gearbeitet, die in den umfassenden Veränderungsprozess eingebracht werden. Weitere Unterstützung in der Umsetzungsphase erfolgt idealtypischer Weise aber nicht, weil die klassische Beratung von der allgemeinen Grundannahme ausgeht, dass einerseits die von den klassischen Beratern geleistete Arbeit die inhaltlichen Komplikationen löst und damit den eigentlichen Mehrwert darstellt und andererseits die prozessuale Realisierung leicht im betroffenen Klientenunternehmen selber geleistet werden kann und dafür keine gesonderte Unterstützung und schon gar nicht in inhaltlicher Form erforderlich ist. Sollte die idealtypische Beratungsleistung dennoch auf die Umsetzungsphase ausgedehnt werden, so lässt sich festhalten, dass spezifische Aspekte in derselben zwar als konkrete Adaptierung der generellen Vorgehensweise unter der Rubrik 'Anpassungswiderstände' behandelt werden, jedoch nicht integraler Bestandteil der inhaltlichen Lösungskonzepte für explizite Businessprobleme sind.62 Insgesamt lässt sich für klassische Beratung und damit auch für inhaltsorientierte Beratung zusammenfassen, dass in deren explizitem Beratungsfokus die primäre Frage steht, was inhaltlich zu tun ist, damit ein angestrebter Zielzustand erreicht werden kann, und der auftraggebende Klient eigentlich eine inhaltliche Lösung kauft. Die nicht minder wichtige Frage, wie prozessual vorgegangen werden muss, damit die intendierte Veränderung auch tatsächlich erreicht wird, wird aber vernachlässigt und steht vielmehr im Beratungsfokus der prozessorientierten Beratung.

61 62

Vgl. Titscher (2001), S. 44 Vgl. Walger (1995), S. 142

Beratung im Überblick 2.2.1.2

37

Prozessorientierter Beratungsfokus

Die prozessorientierte Beratung oder auch Prozessberatung umfasst ein Spektrum an unterschiedlichen Beratungsformen oder verwandten Dienstleistungen, die sich ausgehend von Moderation sowie Mediation über Coaching sowie Supervision bis hin zu Personalentwicklung sowie Organisationsentwicklung erstrecken. Zwischen diesen besteht ein fließender Übergang oder auch eine teilweise Überlappung, was auch auf die prozessorientierte Beratungsform der systemischen Beratung zutrifft. Anhand dieser sollen zweckmäßiger Weise die grundlegenden Charakteristika von prozessorientierter Beratung näher erläutert werden. Die prozessorientierte Beratung ist von ihrer Idee her rein auf die soziale Dimension des innerbetrieblichen Geschehens abgestellt und zielt demnach ausschließlich auf Interaktionen und Handlungsmuster der in die Beratung einbezogenen Teilnehmer.63 Ihr explizites Hauptaugenmerk liegt dabei insgesamt darin, den jeweiligen Klienten bei der eingeständigen Lösung einer vorhandenen Problemstellung zu helfen, sodass die alleinige Verantwortung für alle inhaltlichen Aspekte beim betroffenen Klienten bleibt. Der prozessorientierte Berater, der das System im Finden eigener Lösungen unterstützt,64 ist hingegen nicht nur für die grundsätzliche Gestaltung des sozialen Prozesses an sich, sondern auch für die effektive Nutzung der verfügbaren Ressourcen verantwortlich, und darüber hinaus zusätzlich dafür, dass Informationen und Lösungsmöglichkeiten nicht vorschnell ausgeblendet, sondern eingehend betrachtet werden. Dazu gilt es unter anderem kontinuierlich abzuklären, wieweit allgemeine Übereinstimmungen und gravierende Unterschiede im Klientensystem vorhanden sind oder auch fortlaufend zu erfragen, welche spezifischen Lösungen das Klientensystem selbst sieht.65 Prozessorientierte Berater können darüber hinaus aber genauso gut für eine bestimmte Gruppierung entweder die grundlegende Konstituierung unterstützen oder auch die generelle Zusammenarbeit fördern sowie bei länger andauernden Spannungen zwischen einzelnen Stelleninhabern oder ganzen Abteilungen helfen, durch gezielte Konflikttrainings die grundsätzliche Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen.66 Anders formuliert bestehen also innerhalb des ratsuchenden Klientensystems spezifische Probleme, zu deren angestrebter Lösung eine derartige Beratungsleistung beansprucht wird, die die betroffenen Mitarbeiter befähigt, selber passende Lösungswege zu erarbeiten. Der auftraggebende Klient behält folglich das betrachtete Problem während der gesamten Beratung und kann dessen spezifische Lösung nicht an den externen Berater delegieren, weshalb auch zwischen den beiden Parteien eine symmetrische Beziehung besteht. Es wird also

63 64 65 66

Vgl. Titscher (2001), S. 47 Vgl. Groth (1996), S. 24 Vgl. König/Volmer (2000), S. 48 ff. Vgl. Titscher (2001), S. 47

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Beratung im Überblick

kein inhaltlicher Lösungsvorschlag von außen eingebracht, sondern vielmehr das grundsätzliche Ziel verfolgt, dass das betroffene Klientensystem eben selbst zur entsprechenden Lösung findet.67 An dieser Stelle gilt es nun zur eindeutigen Differenzierung zwischen den beiden Beratungsfokussen den vielschichtigen Begriff des Prozesses noch einmal explizit zu reflektieren. Im bestehenden Kontext der prozessorientierten Beratung werden unter Prozessen stets soziale Prozesse verstanden, die es grundsätzlich von inhaltlichen Prozessen zu unterscheiden gilt. Während letztere als allgemeiner Überbegriff der wirtschaftlichen, technischen, rechtlichen oder sonstigen Abläufe in einem beliebigen Unternehmen betrachtet werden können oder, anders gesagt, dessen spezifische Ablauforganisation darstellen und damit ein definitiver Bestandteil inhaltsorientierter Beratung sind, werden unter ersteren alle jene typischen Abläufe subsumiert, die in sozialen Systemen stattfinden können. Dazu gehören vor allem Kommunikations-, Veränderungs- sowie Entwicklungsprozesse, deren eingehende Betrachtung den spezifischen Beratungsfokus prozessorientierter Berater umreißen. Dieser ist als traditionelle Antwort aus der grundlegenden Kritik an der inhaltsorientierten Beratung entstanden, in der ebendiese prozessualen Aspekte nicht berücksichtigt werden,68 sodass prozessorientierte Berater konsequenter Weise umgekehrt auch nicht für die generelle Unterstützung bei der intendierten Bewältigung bestimmter inhaltlichsachlicher Agenden zuständig sind.69 Sie treten dementsprechend als Experten für soziale Prozesse auf und nicht wie inhaltsorientierte Berater als Spezialisten für fachliche Inhalte, was man auch damit umschreiben kann, dass prozessorientierte Berater den von ihnen unterstützten Klienten eine prozessuale Hilfe zur inhaltlichen Selbsthilfe zukommen lassen. Es besteht dadurch eine klare Differenzierung zu inhaltsorientierten Beratern, die nur die gezielte Weitergabe des inhaltlichen Wissens an den jeweiligen Klienten als wertstiftende Beratungsleistung ansehen. Dieses ist jedoch, da es in der wirtschaftlichen Realität ohne fachliche Inhalte keine sozialen Prozesse geben kann, in geringem Umfang auch für prozessorientierte Berater notwendig, um dadurch sinnvolle Interventionen, die die wertvolle Befähigung des jeweiligen Klienten zur eigenständigen Problemlösung bewirken können, zu setzen. Betrachtet man vor diesem generellen Hintergrund der ausgeführten Charakteristika noch einmal die erfolgte Gegenüberstellung der idealtypischen Beratungsleistungen (vgl. Abbildung 2.4) so kann für prozessorientierte Beratung anhand ihrer jüngsten Beratungsform, der systemischen Beratung, folgender Sachverhalt skizziert werden. In dieser können, um von der bestehenden Ausgangssituation zum gewünschten

67 68 69

Vgl. König/Volmer (2000), S. 48 Vgl. Kolbeck (2001), S. 54 ff. Vgl. Titscher (2001), S. 47

Beratung im Überblick

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Zielzustand zu gelangen, zwar auch die drei Beratungsphasen grob unterschieden werden, erfahren dabei aber nicht zuletzt wegen des systemischen Paradigmas (vgl. Kapitel 2.2.2.2) keine klare Trennung untereinander. Der tatsächliche Übergang ist idealtypischer Weise vielmehr fließender Natur, wobei nicht nur die Diagnosephase deutlich länger dauert, sondern parallel dazu auch von Beginn an die Konzeptphase sowie die Umsetzungsphase einsetzen, sodass bestehenden Wechselwirkungen sehr bewusst Rechnung getragen wird. Diese drei Beratungsphasen werden von der generellen Ausgangssituation aus durch eine der zentralen Basiskomponenten der systemischen Beratung (vgl. Kapitel 4.2), die systemische Schleife, beständig miteinander verbunden, aus der wiederum gezielte Interventionen auf den sozialen Prozess der angestrebten Veränderung erfolgen. Diese werden aber nicht nur in der Diagnosephase sowie in der Konzeptphase, sondern auch in der Umsetzungsphase gesetzt, sodass sich die prozessorientierte Beratungsleistung über den vollständigen Zeitraum der gesamten Veränderung erstreckt bis die systemische Schleife letztlich in einen zufriedenstellenden Zielzustand mündet. Infolgedessen dauert systemische Beratung deutlich länger, ist gleichzeitig für den systemischen Berater aber auch weniger zeitintensiv, weil dieser den betroffenen Klienten auch die notwendige Zeit einräumen muss, um die für sie passende Veränderung zu vollziehen und die dafür notwendigen Inhalte zu erarbeiten. All das fußt auf der generellen Grundannahme, dass die betroffenen Mitglieder der beratenen Organisation grundsätzlich über ein hinreichendes Wissen zur sinnvollen Lösung des bestehenden Problems verfügen, dieses aber nicht abrufen können. Der systemische Berater fokussiert sich daher in seiner Rolle als prozessorientierter Berater auf die umsichtige Moderation und hilft dem jeweiligen Klienten dadurch, die prozesshaften Ereignisse seiner Umwelt wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und ihnen angemessen zu begegnen.70 Er unterwandert damit gleichsam die möglichen Umsetzungsprobleme, indem er mit irritierenden Interventionen die zentralen Selbststeuerungsprozesse des beratenen Klientensystems anregt, kann dabei aber oft auch auf intensive Ablehnung stoßen, weil dieses andersartige Denken mit der bestehenden Denktradition bricht.71 Zusammenfassend kann für systemische Beratung und damit letztlich auch für prozessorientierte Beratung resümiert werden, dass der existierende Beratungsfokus darin auf die zentrale Frage abstellt, wie prozessual vorgegangen werden muss, damit eine angestrebte Veränderung erfolgen kann. Genauer gesagt geht im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe darum, die beratene Organisation zu befähigen, die eigenen Potenziale sowie die internen Ressourcen umfassend zu aktivieren und möglichst

70 71

Vgl. Groth (1996), S. 53 Vgl. Groth (1996), S. 50

40

Beratung im Überblick

gut zu nutzen.72 Dabei wird jedoch die ebenso wichtige Frage danach, was inhaltlich getan werden muss, damit der intendierte Zielzustand erreicht wird, vernachlässigt, sodass letztendlich zwei unterschiedliche Beratungsfokusse entstehen, die aber in konstanter Wechselwirkung miteinander stehen. In beiden Fällen werden ebendiese spezifischen Beratungsfokusse, wie aus der erfolgten Diskussion bereits ersichtlich ist, auch stark vom jeweils vorherrschenden Beratungsparadigma beeinflusst, auf die nun näher eingegangen werden soll. 2.2.2 Beratungsparadigma Das zentrale Beratungsparadigma ist in der eingeführten Differenzierungslogik für Beratungsformen (vgl. Abbildung 2.3) entlang der vertikalen Matrixachse das zweite übergeordnete Differenzierungskriterium und beschreibt die individuelle Sichtweise, die ein bestimmter Berater auf fachliche Inhalte oder soziale Prozesse, also den jeweiligen Beratungsfokus (vgl. Kapitel 2.2.1), aufweist. Der allgemeine Begriff des Paradigmas, das auch als Weltbild bezeichnet werden kann, bezieht sich dabei im allgemeinen Sinne auf die in einer bestimmten Geschichtsepoche bestehenden Vorstellungen über die universalen Grundlagen des menschlichen Daseins, woraus sich eine nachhaltige Prägung der zeitgenössischen Kultur ergibt. Meist eingeleitet durch gravierende religiöse Neubesinnungen oder revolutionäre wissenschaftliche Erkenntnisgewinne, vermischen sich in solch einem Paradigma einerseits die allgemeinen Tatsachen, die über die Umwelt und die Gesellschaft anerkannt werden, mit andererseits den individuellen Zielen, die ein einzelner Mensch oder eine ganze Gruppe erreichen wollen. Das Paradigma kann demnach als die Summe aller Begriffe und Bezeichnungen, aller Vorstellungen und Einschätzungen, allen Wissens und Glaubens, aller Erkenntnisse und Erfahrungen einer Zeitepoche interpretiert werden und bildet als solches die Basis, auf der ein bestimmter Mensch die Welt um sich herum begreift und die er seinen Handlungen zugrunde legt.73 Reflektiert man diese allgemeine Bedeutung des beschriebenen Begriffes nun auf die betrachtete Materie der Beratung und stellt dabei die zeitliche Relation zu den historischen Wurzeln der Beratungsformen (vgl. Kapitel 3) her, so lassen sich seit der grundlegenden Entwicklung dieser vergleichsweise jungen Dienstleistung zwei relevante Paradigmen eruieren, die den jeweiligen Zeitgeist prägen oder geprägt haben. Diese sind in chronologischer Reihenfolge das mechanistische Paradigma sowie das systemische Paradigma, die zusammen eben das zweite übergeordnete Begriffspaar in der erstellten Differenzierungslogik bilden und in diesem spezifischen Zusammenhang aussagen, welches grundlegende Verständnis der jeweilige Berater von Menschen, Organisationen und Beratung hat. Anders formuliert zeigen diese 72 73

Vgl. Froschauer/Lueger (2005), S. 3 Vgl. http://www.net-lexikon.de (30.05.2004) sowie http://www.cpw-online.de (01.06.2004)

Beratung im Überblick

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beiden Paradigmen zwei grundlegend unterschiedliche Auffassungen auf, um eine spezifische Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt zu betrachten, sodass ein Betrachter folglich zu jedem Zeitpunkt entlang der Zeitachse der Beobachtung eines der beiden, aber nicht gleichzeitig auch das andere Paradigma einnehmen kann. Es entsteht dadurch gleichsam eine zeitpunktbezogene Unvereinbarkeit der beiden Paradigmen, wodurch die zeitliche Dimension von Luhmann eine wesentlich stärkere Bedeutung gewinnt, als in der erfolgten Diskussion um die sich mehr oder weniger wechselseitig bedingenden Beratungsfokusse. Dieser spezifischen Unvereinbarkeit wird in der graphischen Darstellung nun dadurch Rechnung getragen, dass zwischen dem mechanistischen Paradigma und dem systemischem Paradigma eine strichlierte Trennlinie eingezogen wird, die eine Art Membran darstellt. Diese Membran wird entlang der für die Beobachtung gewählten Zeitachse durchlässig, sodass es für den jeweiligen Berater möglich ist, bewusst oder unbewusst, einen Paradigmenwechsel durchzuführen und so vom jeweils anderen Paradigma aus für sich neue Sichtweisen zu eröffnen. Dabei bauen dieselben auf den unterschiedlichen Grundprinzipien der beiden Paradigmen auf, die auch ein entsprechendes Menschbild implizieren, und werden durch die charakteristischen Organisationsverständnisse und die markanten Beratungsverständnisse verstärkt. Entlang dieser drei Kategorien lassen sich aus der gängigen Literatur entsprechend für das mechanistische Beratungsparadigma sowie das systemische Beratungsparadigma einzelne Gegensatzpaare verifizieren, die in der folgenden Darstellung zusammengefasst werden können.

Mechanistisches Beratungsparadigma

• Veränderung von außen • Geplanter Wandel bzw. gezielte Veränderung

• Struktur vor Prozess • Primär inhaltliche Lösung

Systemisches Beratungsparadigma

• Unternehmen hat • Führungskraft: • • •

eine Organisation Hierarchie Fixe Planung Beurteilung nach Gegensätzen

• Linearität • Kausalität • Rationale Logik

• • • •

• Objektivität • Berechenbarkeit •



– Wegbereiter – Antreiber – Macher Druck ausüben

Fremdsteuerung Fremdreferenz Fremdorganisation Subjekt-ObjektSpaltung Gegenstände

• Veränderung von innen • Balance zwischen

Beratungsverständnis

Bewahren & Verändern

• Prozess vor Struktur • Primär prozessuale Hilfe • Unternehmen ist

Organisationsverständnis

Grundprinzipien

• • •

• Führungskraft:

eine Organisation Heterarchie Inspirierende Vision Beurteilung nach • Funktionen

• Zirkularität • Interdependenz • Emotionales Verhalten

• • • •

• Subjektivität • Unberechenbarkeit •

– Wegbegleiter – Impulsgeber – Entwickler Energien freisetzen

Selbststeuerung Selbstreferenz Selbstorganisation Rückkoppelungsmechanismen Beziehungen

Vorsilbe ‚Selbst‘ deutet Zirkularität an

Abbildung 2.5: Gegensatzpaare der idealtypischen Beratungsparadigmen

42

Beratung im Überblick

Zur allgemeinen Illustration dieser gegensätzlichen Paradigmen kann zunächst der praktische Vergleich zwischen einer mechanistischen Maschine und einem lebenden Organismus herangezogen werden. Dabei lässt sich als gravierendster Unterschied zuerst feststellen, dass Maschinen gebaut werden, während Organismen wachsen. Verfolgt man diese veranschaulichende Gegenüberstellung weiter, wird ersichtlich, dass alle Aktivitäten einer solchen Maschine, also die von derselben ausgeführten Prozesse, von den vorgegeben Strukturen bestimmt werden, sich umgekehrt aber bei einem beliebigen Organismus die spezifischen Strukturen aus den ablaufenden Prozessen ergeben. Maschinen funktionieren demzufolge nach einer linearen Kette von Ursache und Wirkung, während das Funktionieren eines Organismus durch nichtlineare Verbundenheit der Elemente geschieht.74 Mit anderen Worten basiert das mechanistische Paradigma auf der Annahme, dass einzelne Ereignisse durch lineare Ursache-Wirkungs-Beziehungen zusammenhängen und die resultierenden Kausalitäten durch eine rationale Logik abbildbar sind. Das ist allerdings nur dann möglich, wenn eine eindeutige Subjekt-Objekt-Spaltung besteht, die wiederum die zentrale Grundlage für explizite Objektivität bildet. Es besteht folglich die generelle Auffassung der grundlegenden Berechenbarkeit von Ereignissen und Prozessen sowie der möglichen Steuerbarkeit von Menschen und Organisationen, sodass auf Basis dessen Beratung nach dem mechanistischen Paradigma eine gezielte Veränderung primär durch inhaltliche Lösungen von außen bewirken kann. Dem entgegen geht das systemische Paradigma von zirkulären Wechselwirkungen zwischen einzelnen Ereignissen aus und sieht ebendiese über vielschichtige Rückkoppelungsmechanismen als miteinander verbunden an. Generelle Objektivität wird folglich durch individuelle Subjektivität ersetzt und rationale Logik wird durch emotionales Verhalten abgelöst. Die daraus resultierenden Konsequenzen sind die prinzipielle Unberechenbarkeit von Ereignissen und Prozessen sowie die dezidierte Selbststeuerung von Menschen und Organisationen, weshalb sich Beratung nach dem systemischen Paradigma primär auf prozessuale Hilfe für eine Veränderung von Innen fokussiert, wobei eine Balance zwischen Bewahren und Verändern besteht. Um ein besseres Verständnis dieser in groben Zügen dargestellten Unterschiede für die spezifische Beratung nach einerseits dem mechanistischen Beratungsparadigma sowie andererseits dem systemischen Beratungsparadigma zu erhalten, sollen die fundamentalen Grundprinzipien vor dem historischen Hintergrund des jeweiligen Weltbildes aufgearbeitet und die entsprechenden Organisationsverständnisse sowie die idealtypischen Beratungsverständnisse reflektiert, ehe dann die damit jeweils einhergehenden Menschenbilder betrachtet werden.

74

Vgl. Capra (1986), S. 296 f.

Beratung im Überblick 2.2.2.1

43

Mechanistisches Beratungsparadigma

Das heute nach wie vor weit verbreitete mechanistische Paradigma hat die letzten Jahrhunderte dominiert und unter anderem nicht nur zur grundsätzlichen Entstehung von sowie kontinuierlichen Weiterentwicklung in zahlreichen Naturwissenschaften beigetragen, sondern in diesen auch die fundamentale Grundlage für bahnbrechende Erkenntnisse geliefert. In diesem langen Zeitraum entspringen auch die historischen Wurzeln der klassischen Beratung (vgl. Kapitel 3.1), die gleichzeitig den generellen Ausgangspunkt zur allgemeinen Entwicklung dieser jungen Dienstleistung an sich bilden, sodass eine eingehende Beschäftigung mit dem mechanistischen Paradigma für eine konstruktive Auseinandersetzung mit jeglicher Beratungsform unumgänglich ist. Die Basis zur Entstehung des mechanistischen Paradigmas und seiner generellen Grundprinzipien wird Anfang des 16. Jahrhunderts gelegt, als Nikolaus Kopernikus (1473-1543) mit der These des heliozentrischen Weltbildes die alten kirchlichen Dogmen erschüttert und somit eine revolutionäre Entwicklung in der Physik und Astronomie einleitet. Nachdem diese These um die Jahrhundertwende von Galileo Galilei (1564-1642) durch die Himmelsbeobachtung der Jupitermonde untermauert werden kann, kommt das geozentrische Weltbild der Kirche endgültig ins Wanken und der Umbruch in der Wirklichkeitsvorstellung ist nicht mehr aufzuhalten. Mit Galileis experimenteller Physik und den aus den astronomischen Beobachtungen von Johannes Kepler (1571-1630) resultierenden Kepler'schen Gesetzen, ist nun die Basis für das mechanistische Naturverständnis geschaffen und der Grundstein für die Entwicklung der Naturwissenschaften gelegt.75 Das somit im 17. Jahrhundert entstehende mechanistische Weltbild und die damit verbundene Denkweise werden dann grundlegend vom französischen Philosophen und Mathematiker René Decartes (1596-1650) geprägt. Dieser erkennt nur das an, was mit dem Verstand – ratio – erfasst werden kann und lässt Denken als das einzige Erkenntnismittel gelten, was er mit seinem bekannten Ausspruch 'Ich denke, daher bin ich' – 'cogito ergo sum' – auf den Punkt bringt und ihn letztlich zum Begründer des modernen Rationalismus werden lässt.76 Decartes war davon überzeugt, dass alle Phänomene allein durch Nachdenken erklärt und folglich alle absolut gültigen Naturgesetze mittels Deduktion mathematisch und mechanisch erfasst werden können.77 So ist das Universum der materiellen Welt nach seiner Auffassung eine große, perfekte Maschine, die nach exakten mathematischen und mechanischen Gesetzen funktioniert. Dieser Welt von materiellen Objekten steht der denkende Mensch, dessen Körper nach Decartes ein integraler Bestandteil der materiellen Welt ist und einer komplizierten Maschine aus 75 76 77

Vgl. http://www.berndsenf.de (01.06.2004) Vgl. http://www.unikk.ch (01.06.2004), sowie http://www.berndsenf.de (01.06.2004) Vgl. Mingers (1996), S. 19, sowie http://www.dieterwunderlich.de (01.06.2004)

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Beratung im Überblick

austauschbaren Einzelteilen entspricht, als souveränes Subjekt gegenüber. Damit trennt Rene Decartes den individuellen Verstand vom menschlichen Körper und unterscheidet allgemein zwischen Geist – res cognita – und Materie – res extensa. Durch diese fundamentale Unterscheidung bereitet er schließlich auch den Weg für die spätere Trennung von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften.78 In weiterer Folge wird die mechanistische Weltauffassung durch Isaac Newton (16431727) vervollständigt und mathematisch ausformuliert. Der englische Mathematiker, Physiker und Astronom, der all das, was sich nicht exakt messen oder berechnen lässt, aus der Naturwissenschaft verbannt, beschäftigt sich zunächst mit der durch einen Anstoß ausgelösten Bewegung eines Körpers auf der Erde. Mit Hilfe der von ihm entwickelten Differentialrechnung gelingt es ihm schließlich den Verlauf der Bewegung, also Zeit und Ort eines bewegten Masseteilchens, exakt zu berechnen. Damit stellt er eine unmittelbare, mathematisch formulierte Verbindung zwischen dem ausschlaggebenden Anstoß, also einer Ursache, und der daraus entstehenden Bewegung, die eine Wirkung darstellt, her. Genau diese Erkenntnis, die allgemein als Kausalprinzip bezeichnet wird, besagt, dass alles, was geschieht, eine gewisse Ursache sowie eine definitive Wirkung hat und bildet für Newton die Grundlage, sämtliche Naturerscheinungen mathematisch exakt zu beschreiben. Seine weitere Arbeit führt ihn dann zu dem Schluss, dass die für die Bewegung der Körper auf der Erde geltenden Gesetze auch für die Himmelskörper zutreffen müssen,79 woraus folgt, dass alle Körper innerhalb des Sonnensystems von der selben Kraft, der Gravitationskraft, zur Erde gezogen werden und den selben Bewegungsgesetzen unterliegen.80 Durch diese universell gültigen Gesetze der Bewegung, die so genannten Newton'sche Gesetze, und seine geschlossene und exakt formulierte Theorie der Mechanik gilt Newton als Begründer der klassischen Mechanik und verhilft damit auch den exakten Naturwissenschaften zum Durchbruch.81 Diese Lehre der klassischen Mechanik dann weiterdenkend, entwickelt der französische Mathematiker und Astronom Pierre Simon de Laplace (1749-1827) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schließlich die Vorstellung der allwissenden Intelligenz. Später auch als Laplace'scher Dämon bekannt, würde diese unter der Voraussetzung, dass Ort und Geschwindigkeit aller Teilchen im Universum bekannt sind, die exakte Beschreibung von Vergangenheit und Zukunft ermöglichen.82 Über das mechanistische Weltbild lässt sich somit zusammenfassen, dass es die Welt auf Basis der von Decartes aufgestellten Unterscheidung von Geist und Materie als ein mechanisches System sieht. Dieses kann nach mechanistischer Sicht in getrennte 78 79 80 81 82

Vgl. Rüsch (2002), S. 10 f. Vgl. http://www.berndsenf.de (01.06.2004) Vgl. Rüsch (2002), S. 11 Vgl. http://www.dieterwunderlich.de (01.06.2004) Vgl. Mingers (1996), S. 19

Beratung im Überblick

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Teile, die durch Kausalitätsgesetze miteinander verbunden sind, zerlegt, objektiv beschrieben und von außen beeinflusst werden, ohne dass der menschliche Beobachter je erwähnt wird.83 Es beruht dabei auf den Annahmen der rationalen Logik, Kausalität – Ursache-Wirkungs-Denken –, Linearität, Berechenbarkeit bzw. Vorhersagbarkeit, Objektivität – Subjekt-Objekt-Spaltung – und Beeinflussbarkeit. Aus diesen mechanistischen Grundprinzipien lässt sich nun ein charakteristisches Organisationsverständnis folgern, in dem eine soziale Organisation als ein offenes, sozio-technisches und zielgerichtetes System betrachtet wird, das durch das interne Zusammenwirken von Menschen, Maschinen und Technologien geprägt ist und das in zahlreichen formellen sowie informellen Wechselbeziehungen mit der externen Umwelt steht.84 Dementsprechend werden soziale Organisationen in erster Linie als fremdbestimmte Systeme gesehen und mit komplizierten Maschinen verglichen, die technisch-rationalen Bauprinzipien gehorchen,85 weshalb letztlich auch zielgerichtete Einflussnahme von internen Führungskräften sowie externen Personen unterstellt wird. Im Sinne von Foerster86 handelt es sich dabei um eine triviale Maschine, bei der zufolge einer definierten Gesetzmäßigkeit eine bestimmte Eingangsgröße stets einen spezifischen Ausgangswert ergibt, die sich daher berechnen und auch steuern lässt. Es besteht nach dieser mechanistischen Sichtweise, anders formuliert, ein direkter Zusammenhang zwischen der originären Ursache sowie der resultierenden Wirkung in jeder sozialen Organisation. Deshalb wird letztere als ein sachdienliches Instrument und als ein praktisches Mittel zum wirtschaftlichen Zweck betrachtet,87 woraus folgt, dass ein Unternehmen eine Organisation hat, jedoch keine ist.88 Damit diese auch reibungslos funktionieren kann, besteht nun eine formale Hierarchie, über die unterschiedliche Führungskräfte eine fixe Planung einbringen, um dadurch das eigene Unternehmen zu lenken oder aber zu verändern. Zu diesem Zweck kann bei entsprechendem Bedarf auch gezielter Druck ausgeübt werden, weshalb sich die angesprochenen Führungskräfte nach dem mechanistischen Beratungsparadigma letztlich auch als Wegbereiter, Antreiber und Macher verstehen. Die konsequente Weiterverfolgung dieses mechanistischen Verständnisses, in dem eine soziale Organisation mit einer trivialen Maschine verglichen wird, ergibt nun ein ebenso idealtypisches Beratungsverständnis, nach dem eine beliebige Veränderung von außen geplant und gezielt durchgeführt werden kann. Externe Berater gehen darin von der grundlegenden Annahme aus, dass es für jede einzelne Organisation

83 84 85 86 87 88

Vgl. Capra (1986), S. 66 f. Vgl. Walger (1995), S. 5 Vgl. Mingers (1996), S. 19 Vgl. Foerster (2002), S. 176 ff., sowie Foerster (2003), S. 54 ff. Vgl. Nagel (2001), S. 21 Vgl. Exner/Königswieser/Titscher (1992), S. 227

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Beratung im Überblick

sowie ihre jeweiligen Probleme eine ideale Lösung gibt, die nach entsprechenden Analysen definiert werden kann. Für diese haben mechanistische Berater eigene Instrumente entwickelt sowie ein spezifisches Wissen aufgebaut, sodass fehlerhafte Funktionen sichtbar gemacht werden können.89 Es kann dadurch unter genereller Verwendung der vom jeweiligen Klienten sowie aus anderen Quellen bezogenen Informationen an der gezielt Lösung der identifizierten Schwachstellen von außen gearbeitet werden, ohne gleichzeitig die gesunden Anteile der problembehafteten Organisation eingehend zu betrachten,90 was dazu führen kann, dass auftretende Wechselwirkungen in den erstellten Konzepten und den erarbeiteten Maßnahmen unbeachtet bleiben. Durch deren zielstrebige Umsetzung kann jedoch nach dem mechanistischen Beratungsverständnis die beratene Organisation den angestrebten Zielzustand erreichen, wenn die verantwortlichen Führungskräfte entsprechende Entscheidungen treffen sowie ein konsequentes Projektmanagement sicherstellen.91 Als solches wird auch die Beratung an sich aufgefasst, die nach mechanistischen Verständnis einem planmäßig steuerbaren Ablaufprozess entspricht sowie in voneinander abgrenzbaren Beratungsphasen erfolgt, in denen der externe Berater durch das von ihm konzipierte Modell die triviale Maschine wieder zum laufen bringt. Anders formuliert arbeiten mechanistische Berater an der grundlegenden Struktur eines Unternehmens, um die ablaufenden Prozesse in diesem zu verbessern, und versuchen mittels ihres umfangreichen Wissens, eine Organisation zu heilen und in eine vorgesehene Richtung zu verändern. Dabei erhalten sie von auftraggebenden Führungskräften wegen des ähnlichen Weltbildes die entsprechende Unterstützung, erfahren aber zumeist in der betroffenen Organisation generelle Probleme bei der gezielten Umsetzung,92 weil eben nicht nur fachliche Inhalte, sondern auch soziale Prozesse von der mechanistischen Warte aus betrachtet werden. Genauer gesagt orientieren sich die mechanistischen Berater an der wirtschaftlichen Rationalität organisationaler Prozesse,93 was zwar für deren inhaltliche Anteile äußerst sinnvoll, für deren soziale Aspekte aber nur begrenzt praktikabel ist. Bei letzterem Fall hat der mechanistische Berater dann im Sinne der prozessorientierten Beratung die unterstützende Funktion eines fachkundigen Sozialtechnikers, dessen spezifische Kompetenz darin liegt, die als triviale Maschine verstandene soziale Organisation zu schmieren.94 Weiters ist zur grundlegenden Klientenbeziehung noch anzumerken, dass sich diese wegen des mechanistischen Verständnisses in erster Linie auf die Führungsebene konzentriert, wobei im speziellen Fall der klassischen Beratung

89 90 91 92 93 94

Vgl. Boos/Heitger/Hummer (2004), S. 23 Vgl. Titscher (2001), S. 44 Vgl. Boos/Heitger/Hummer (2004), S. 23 Vgl. Groth (1996), S. 50 Vgl. Froschauer/Lueger (2005), S. 4 Vgl. Titscher (2001), S. 47

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häufig eine dauerhafte Beziehung zwischen Klienten und Beratern angestrebt wird.95 Für die genannte Beratungsform gilt es abschließend noch anzumerken, dass durch das mechanistische Beratungsparadigma an sich inhaltliche Lösungen den höheren Stellenwert einnehmen als prozessuale Hilfe – im Sinne sozialer Prozesse –, da der trivialen Maschine entsprechend die direkte Einsteurung von spezifischem Wissen in die beratene Organisation unterstellt wird. Die direkte Beeinflussung der beratenen Organisation von außen ist nach dem mechanistischen Beratungsverständnis also möglich, wobei jegliche Veränderung als planbar und beherrschbar betrachtet wird und die externen Berater dafür ein objektives Bild besitzen.96 In den drei diskutierten Kategorien des mechanistischen Beratungsparadigmas ist, da erstens sozio-technische Organisationen unter anderem aus Menschen bestehen sowie zweitens externe Beratung auch von Menschen durchgeführt wird, implizit ein idealtypisches Menschenbild enthalten. Dessen historische Wurzeln gehen auf die prinzipiellen Überlegungen von Decartes zurück, der einen Menschen, wie einleitend bereits erwähnt, als souveränes Subjekt betrachtet, das aufgrund seines logischanalytischen Verstandes die umgebende Objektwelt in ihre einzelnen Bestandteile zerlegen, quantifizieren und erklären kann.97 Auf dieses grundlegende Verständnis aufbauend entwickelt sich dann ab Mitte des 19. Jahrhunderts während dem Zeitalter der Industrialisierung das idealtypische Menschenbild des 'ecomic man', das von der simplen Motivationsstruktur ausgeht, dass der Mensch ausschließlich wegen des finanziellen Anreizes seine betriebliche Leistung erbringt und rein von ökonomischen Bedürfnissen bestimmt ist.98 Diesem mechanistischen Menschenbild entspricht, dass der arbeitnehmende Mensch stets zweckrational denkt, von außen motiviert werden kann sowie selber wenig ehrgeizig ist. Des Weiteren wird ihm unterstellt dass er zur Selbstkontrolle unfähig ist, seine Gefühle irrational sind sowie seine Ziele jenen der Organisation zu wider laufen, weshalb er von der jeweiligen Organisation kontrolliert werden muss. Letztere betrachtet die arbeitenden Menschen dabei als humane Produktionsfaktoren, die bei routinemäßigen Tätigkeiten maschinenähnliche Eigenschaften annehmen und folglich auch als triviale Maschinen gesehen werden. Damit diese, die die große Grundgesamtheit der Arbeitnehmer darstellen, nun auch gesteuert werden können, gibt es eine zweite Gruppe Menschen, die selbstmotiviert und selbstkontrolliert sowie stark rational und kaum emotional sind und folglich die relevanten Managementaufgaben übernehmen können. Augenscheinlich ist jedoch bei beiden Gruppen, dass soziale Aspekte keinen Eingang in dieses mechanistische Menschenbild, das der inhaltsorientierten Beratung zunächst zugrunde liegt, finden,

95 96 97 98

Vgl. Froschauer/Lueger (2005), S. 4 Vgl. Boos/Heitger/Hummer (2004), S. 42 Vgl. Mingers (1996), S. 19 Vgl. Wohlgemuth (1991), S. 100 ff.

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was Anfang des 20. Jahrhunderts unter Einfluss des Behaviorismus dann auch zu dem im mechanistischen Paradigma konträren Menschenbild des 'social man' führt. In diesem wird der arbeitende Mensch nun als ein durch seine sozialen Bedürfnisse grundlegend motivierbares, die Beziehung zu seinen Mitmenschen suchendes und nach sozialer Anerkennung strebendes Wesen betrachtet.99 Es wird ihm unterstellt, dass seine betriebliche Leistung direkt von seiner individuellen Arbeitszufriedenheit abhängig ist, die wiederum durch die gezielte Befriedigung der sozialen Bedürfnisse gesteuert werden kann. Die persönlichen Gefühle dürfen dementsprechend nicht mehr unterdrückt, sondern müssen von der jeweiligen Organisation bestmöglich berücksichtigt werden, weshalb die verantwortlichen Vorgesetzten ihre untergebenen Mitarbeiter durch gute Behandlung und entsprechende Anerkennung beeinflussen können. Da diese unmittelbare Abhängigkeit der individuellen Leistung von der grundlegende Arbeitzufriedenheit jedoch bald bezweifelt wird, werden diese sozialen Grundvorstellungen weiterentwickelt und insbesondere die motivationsbezogenen Aspekte verfeinert. Dies führt schließlich zu der neuen Ansicht, dass grundlegende Zufriedenheit als keine hinreichende Voraussetzung für hohe Leistungen betrachtet wird, sondern dem entgegen gerade durch letztere erst entstehen kann und diese durch die eigene Motivation sowie die persönliche Identifikation mit den definierten Organisationszielen beeinflusst wird. Darüber hinaus besteht die grundlegende Auffassung, dass arbeitende Menschen Verantwortung wahrnehmen wollen und an Entscheidungen partizipieren möchten sowie Entwicklungsmöglichkeiten annehmen und Selbstverwirklichung suchen. Obwohl durch all das prozessorientierte Beratung nun möglich wird, handelt es sich letztlich um ein mechanistisches Menschenbild, das älteren Denkschemen verhaftet bleibt, indem durch gezielte Anwendung neuer Erkenntnisse über menschliche Bedürfnisse die persönliche Leistungssteigerung mehr angepeilt wird, als die echte Befriedigung des einzelnen Mitarbeiters. In dieser starren Motivationstheorie wird die eigentlich individuelle Persönlichkeit weitgehend als unveränderbare Konstante betrachtet,100 sodass auch das zweite Menschenbild instrumentale Züge annimmt und so wie das erste Menschenbild davon ausgeht, dass Menschen genauso steuerbar und veränderbar wie triviale Maschinen sind, wenn man die entsprechenden Verhaltensgesetze kennt.101 Ingesamt kann für das mechanistische Beratungsparadigma nun resümiert werden, dass auf Basis der bestehenden Grundprinzipien Organisationen sowie Menschen als triviale Maschinen verstanden werden, welche definierten Gesetzmäßigkeiten unterliegen und demzufolge sowohl berechnet als auch gesteuert werden können. Der mechanistische Berater ist demnach eine externe Person, die das ratsuchende 99 100 101

Vgl. Wohlgemuth (1991), S. 103 ff. Vgl. Wohlgemuth (1991), S. 106 f. Vgl. König/Volmer (2000), S. 14

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Klientenunternehmen und seine spezifischen Probleme objektiv betrachten, darauf aufbauend umfassende Lösungsvorschläge gezielt erarbeiten und diese schließlich in die betroffene Organisation direkt einbringen kann, um die triviale Maschine wieder zum reibungslosen Funktionieren zu bringen. Der entsprechende Klientenkontakt besteht dabei primär auf der auftraggebenden Führungsebene, die oft das gleiche Weltbild wie der mechanistische Berater besitzt. 2.2.2.2

Systemisches Beratungsparadigma

Auch wenn in der Praxis auf den ersten Blick nicht immer ein großer Unterschied zwischen Beratung nach dem mechanistischen Beratungsparadigma (vgl. Kapitel 2.2.2.1) und jener nach dem systemischen Beratungsparadigma zu erkennen ist, so ergeben sich bei etwas näherer Betrachtung doch gravierende Unterschiede. Die das systemische Paradigma prägenden Grundprinzipien sind nämlich in jedweder Beziehung konträr zu jenen des mechanistischen Paradigmas, woraus umfangreiche Auswirkungen auf das grundlegende Organisationsverständnis, das idealtypische Beratungsverständnis und das implizite Menschenbild hervorgehen. Wenn man so will, kann das systemische Paradigma gleichsam als die umfassende Antwort auf die angedeutete Kritik am mechanistischen Paradigma gedacht werden und entwickelt sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts aus den revolutionären Erkenntnissen in unterschiedlichen Naturwissenschaften. Die kontinuierliche Forschung und ständige Weiterentwicklung in unterschiedlichen Gebieten der Naturwissenschaften ließ ab Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Widersprüche zum existierenden mechanistischen Weltbild entstehen, woraus der Nährboden für die Grundprinzipien des systemischen Paradigmas resultiert. Die aus dem Bereich der Biologie zunächst hervorgehende Evolutionstheorie des englischen Naturforschers Charles Darwin (1809-1892) macht es notwendig, die Newton'sche Anschauung der Welt als perfekte Maschine aufzugeben und durch die Vorstellung eines sich ständig verändernden Systems zu ersetzen.102 Diese Auffassung wird bald auch durch die Entdeckung des französischen Mathematikers und Astronomen Henri Poincaré (1854-1912) untermauert. Er findet heraus, dass es dynamische Systeme gibt, in denen sich bereits kleinste Störungen im Laufe der Zeit um ein Vielfaches potenzieren können, was Anfang des 20. Jahrhunderts endgültig dazu führt, dass das mechanistische Weltbild in Frage gestellt wird.103 Die nachhaltige Erschütterung des mechanistischen Weltbildes kommt aber aus dem Bereich der Physik. Veranlasst durch die auf die unterschiedlichen Auffassungen von Christiaan Huygens (1629-1695) sowie Isaac Newton zurückreichende Diskussion über die

102 103

Vgl. Capra (1986), S. 119 Vgl. Mingers (1996), S. 20

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Definition des Lichts als Welle oder Teilchen,104 stellt sich der französische Adelige Louis-Victor Duc de Broglie (1892-1987) die grundlegende Frage, ob Elektronen einen dualen Charakter haben könnten. Die revolutionäre Antwort darauf gibt er in seiner Doktorarbeit, in der er die Eigenschaften von Wellen und Teilchen zu einer Theorie über das Elektron verknüpft und dazu den Welle-Teilchen-Dualismus des Elektrons formuliert.105 Mit dieser Erkenntnis, für die de Broglie 1929 den Nobelpreis der Physik erhält, begründet er schließlich die Quantentheorie,106 die danach vom deutschen Quantenphysiker Max Planck (1858-1947), seinem Landsmann, dem Physiker Werner K. Heisenberg (1901-1976), und anderen internationalen Physikern weiterentwickelt wird. Ein entscheidender Beitrag ist dabei die vom Nobelpreisträger Heisenberg aufgestellte Unschärferelation, die belegt, dass es wegen der expliziten Doppelnatur eines jeden Elektrons trotz perfekter Messgeräte unmöglich ist, Ort und Geschwindigkeit eines einzelnen Teilchens gleichzeitig beliebig genau zu messen. Diese Einsicht entzieht dem Laplace'schen Dämon seine Basis und zeigt, dass die Veränderung von Teilchen und damit auch von Systemen nur teilweise berechnet und demnach auch nur begrenzt vorhergesagt werden kann. In weiterer Folge widerlegen die bahnbrechenden Erkenntnisse der revolutionären Quantentheorie und anderer naturwissenschaftlicher Bereiche dann auch das mechanistische Prinzip der objektiven Wahrnehmung, sodass die Subjekt-Objekt-Spaltung durch die Einsicht aufgehoben wird, dass ein Rückkoppelungseffekt zwischen Subjekt und Objekt besteht und die Beobachtung demnach das Beobachtete verändert. Die Wirklichkeit ist folglich das wahrgenommene Ergebnis der wechselseitigen Begegnung von sich dabei verändernden und gegenseitig beeinflussenden Individuen, dem Beobachter und dem Beobachtetem.107 Diese aus den Bereichen der Physik und Biologie losgetretene Wandlung der Vorstellung über die Wirklichkeit führt schließlich zur neuen Sicht der Wirklichkeit,108 in der das mechanistische Modell als begrenzt taugliche Teilwahrheit enthalten ist.109 So schreibt Capra: "Das Universum wird nicht mehr als Maschine betrachtet, die aus einer Vielzahl von Objekten besteht, sondern muss als ein unteilbares Ganzes beschrieben werden, dessen Teile auf ganz wesentliche Weise in Wechselbeziehung stehen und nur als Strukturen eines Vorganges von kosmischen Dimensionen verstanden werden können."110

104

105 106 107 108 109 110

Der niederländische Physiker, Mathematiker und Astronom Christiaan Huygens war vom Wellencharakter des Lichts überzeugt, während Isaac Newton die geometrische Optik unter der Annahme, Licht bestehe aus Teilchen (Korpuskulartheorie), formulierte. Damit beantwortete de Broglie gleichzeitig die Frage nach der Definition des Lichtes. Vgl. http://www.8ung.at/projekt-l (03.06.2004) Vgl. Mingers (1996), S. 21 f. Vgl. Capra (1986), S. 80 Vgl. Lutz (1992), S. 310 Capra (1986), S. 80

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Zusammenfassend kann gesagt werden, dass dieses neue, systemische Paradigma, auf der fundamentalen Erkenntnis beruht, dass alle Phänomene – physikalische, biologische, psychische, gesellschaftliche und kulturelle – grundsätzlich miteinander verbunden und voneinander abhängig sind.111 Dieses systemische Weltbild führt dazu, sich von den mechanistischen Grundprinzipien zu verabschieden, und so zu einem elementaren Bruch mit sozial anerkannten Denkmustern. Die systemischen Grundprinzipien gehen damit also von emotionalem Verhalten, Interdependenz – Denken in komplexen Wechselwirkungen –, Komplexität, Unberechenbarkeit bzw. Unvorhersagbarkeit, Subjektivität und Selbstbestimmung aus. Diesen systemischen Grundprinzipien folgend lässt sich vor allem in Anlehnung an die soziologische Systemtheorie (vgl. Kapitel 3.2.8) nach Luhmann ein bestimmtes Organisationsverständnis charakterisieren. Dessen gravierendste Neuerung besteht darin, dass die mechanistische Ansicht eine soziale Organisation durchschauen zu können, wenn man nur richtig hinsieht, zur uneingeschränkten Illusion wird.112 Aus systemischer Sicht sind soziale Organisationen vielmehr komplexe Systeme, die irrational, intransparent, selbstorganisiert und von außen nicht beeinflussbar sind.113 Sie sind im Sinne von Foerster114 demnach nichttriviale Maschinen, die für einen bestimmten Eingangswert eine unvorhersehbare Ausgangsgröße liefern, weil jede operierende Maschine ihre individuellen Gesetzmäßigkeiten kontinuierlich ändert. Die gleiche Eingabe kann folglich genauso zu verschiedenen Ergebnissen führen, wie umgekehrt unterschiedliche Ursachen auch äquivalente Wirkungen erzielen können, was dadurch zu begründen ist, dass jede Operation in einer sozialen Organisation nicht nur von der tatsächlichen Eingangsgröße, sondern auch von der organisationsspezifischen Geschichte abhängt.115 Eine soziale Organisation als nichttriviale Maschine ist daher unanalysierbar sowie unberechenbar und folglich auch nicht steuerbar sowie nicht voraussagbar. Die individuellen Gesetzmäßigkeiten sind mehr ein innerer Zustand, durch den eine nichttriviale Maschine abgeschlossen sowie autonom ist und sich auf sich selbst bezieht sowie sich selbst steuert. Dabei wird das eigene Operationsergebnis wieder als eine entsprechende Eingangsgröße benutzt, sodass sich eine zirkuläre Beziehung ergibt, die nach einiger Zeit schließlich auch stabile Werte ergibt. Die soziale Struktur in einer beliebigen Organisation kann damit als geschlossener Operator verstanden werden, welcher aus den unendlichen Möglichkeiten des individuellen Verhaltens gewisse stabile Werte sowie einzelne vorhersehbare Formen der innerbetrieblichen Interaktion entstehen lässt. Dieselben

111 112 113 114 115

Vgl. Capra (1986), S. 293 Vgl. Groth (1996), S. 31 Vgl. Mingers (1996), S. 23 Vgl. Foerster (2002), S. 176 ff., sowie Foerster (2003), S. 58 f. Vgl. Groth (1996), S. 35

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schälen sich aus der unendlichen Vielfalt alles Möglichen heraus und sind von einem analytischen Standpunkt aus unerklärbar, aus der erfahrbaren Perspektive jedoch prognostizierbar.116 Demzufolge ist ein Unternehmen eine Organisation,117 die in Anlehnung an den eingangs erwähnten Luhmann ein soziales System darstellt, das zur Aufrechterhaltung seiner Struktur und seiner Systemgrenzen Kommunikation benötigt.118 Letztere ist dabei die Operationsform eines sozialen Systems, durch die sich selbiges erstens produziert sowie reproduziert und damit zweitens von seiner Umwelt abgrenzt. Mittels dieser beiden Leitprinzipien, welche Foerster mit seiner nichttrivialen Maschine bereits andeutet und von die Luhmann mit den zwei Begriffen der Autpoiesis sowie der System-Umwelt-Differenz bezeichnet werden, operieren alle Systeme ausschließlich mit den eigenen Elementen, die für soziale Systeme mit Kommunikationen gleichzusetzen sind,119 und sind daher auch operativ geschlossen. Gleichzeitig brauchen Systeme jedoch auch fundamentale Grundvoraussetzungen in ihrer Umwelt, um überhaupt existieren zu können, sodass sich zwischen System und Umwelt gegenseitige Einflüsse ergeben. Daraus resultieren an den systemseigenen Grenzstellen dauerhafte Beziehungen, die als strukturelle Kopplungen bezeichnet werden und über die etwa ein soziales System, also die betrachtet Organisation, mit einem oder mehreren psychischen Systemen, die der systemrelevanten Umwelt zuzurechnen sind, verbunden sind.120 Diese psychischen Systeme sind folglich in Form einzelner Personen, die Mitteilungen machen, am sozialen System und seinen Kommunikationen beteiligt, aber letztlich genauso Umwelt für dieses, wie auch ein Individuum selber, das durch Verhalten handelt, aber nicht kommuniziert, wobei sämtliche Mitteilungen als kommunikatives Verhalten verstanden werden.121 Folglich sind soziale Organisationen nach dem systemischen Verständnis weitestgehend unabhängig vom einzelnen Individuum, da es ihnen gleich ist, welche Person das kommunikative Verhalten zeigt. Entscheidend ist, dass es gezeigt wird.122 Weiters lässt sich erkennen, dass alle erfolgenden Kommunikationen operierende Elemente eines sozialen Systems sind und daher eine entsprechende Funktion haben, sodass zwischen diesen eine Heterarchie besteht. Darunter versteht man eine Herrschaft, an der alle Bestandteile beteiligt sind und die zirkulär ist,123 woraus sich für die an der innerbetrieblichen Kommunikation beteiligten Führungskräfte die Funktionen eines Wegbegleiters, eines Impulsgebers und eines Entwicklers ergeben, die durch ihr

116 117 118 119 120 121 122 123

Vgl. Foerster (2003), S. 60 f. Vgl. Rüsch (2002), S. 13 Vgl. Seliger (1997), S. 30 Vgl. Berghaus (2003), S. 36 Vgl. Berghaus (2003), S. 51 f. Vgl. Krause (2001), S. 36, sowie Berghaus (2003), S. 59 Vgl. Seliger (1997), S. 30 Vgl. Foerster (2003), S. 87

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kommunikatives Verhalten vorhandene Energien freisetzen und so eine inspirierende Vision ermöglichen. Denkt man dieses systemische Organisationsverständnis nun weiter, so ergeben sich weitreichende Folgen für eine externe Beratung, die sich in einem idealtypischen Beratungsverständnis niederschlagen. Aus der systemischen Sicht muss sich ein Berater zunächst einmal dessen bewusst sein, dass eine beratene Organisation ein komplexes Systeme ist, in dem eine spezifische Ursache sowie die resultierende Wirkung miteinander nicht eng verknüpft, sondern nur mittelbar verbunden sind, was dazu führt, dass sie auf viele Veränderungen überraschend gering, auf gewisse Anregungen jedoch sehr stark reagiert.124 Dementsprechend geht Beratung nach dem systemischen Paradigma von der Irrationalität, der Intransparenz und der Selbstorganisiertheit von sozialen Systemen aus, weshalb diese von außen weder vorherzuberechnen noch zu dirigieren sind, sondern selbstbestimmt und damit nur mittelbar zu beeinflussen sind.125 Eine direkte Beeinflussung ist also nicht möglich, sonder es können nur gewisse Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen eine angestrebte Veränderung in kontinuierlichen Schleifen erfolgen kann, wobei von außen entsprechende Druckstellen des sozialen Systems irritiert werden, aber nur von innen effektive Eingriffe durch das soziale System selbst erfolgen können. Der systemische Berater hat dabei letztlich nur ein partielles Bild von der gesamten Veränderung126 und richtet sein spezifisches Hauptaugenmerk entsprechend der bestehenden Annahme, dass die beratene Organisation ein autopoietisches System ist, das durch Kommunikation operiert, auf ebendiese. Aufgrund dessen nimmt er Bedacht auf umfassende Kontakte zu möglichst vielen Organisationsmitgliedern aus verschiedenen Unternehmensbereichen127 und zielt damit darauf ab, kommunikative Barrieren durch seine gezielten Irritationen zu lösen, sodass relevante Informationen fließen können und zum effektiven Lösen der eigentlichen Problemstellung beitragen können. Dieses systemische Vorgehen basiert auf der fundamentalen Annahme, dass jedes soziale System über umfangreiches Wissen zur effizienten Lösung der eigenen Probleme besitzt, das zunächst nicht allgemein verfügbar, sondern nur bei einigen Personen vorhanden ist.128 Es besteht also die grundlegende Auffassung, dass die beratene Organisation im Vergleich zum externen Beratersystem mehr spezifisches Problemwissen hat und entsprechende Fachexpertise besitzt, die beide durch irritierende Interventionen erst kommuniziert werden können. Darüber hinaus geht Beratung nach dem systemischen Paradigma letztlich auch deshalb von der

124 125 126 127 128

Vgl. Groth (1996), S. 31 Vgl. Mingers (1996), S. 23 Vgl. Boos/Heitger/Hummer (2004), S. 42 Vgl. Froschauer/Lueger (2005), S. 4 Vgl. König/Volmer (2000), S. 177

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grundlegenden Annahme aus, dass die Kompetenz des betroffenen Klientensystems grundsätzlich die Kompetenz des externen Beratersystems übersteigt, weil auch erst im beratenen System selbst über die faktische Wirkung der gesetzten Interventionen entschieden wird.129 Wie sich einzelne Interventionen auswirken, hängt also in erster Linie nicht von der Absicht der Intervention ab, sondern von der Organisationsweise und von den Regeln der Selbststeuerung des Systems.130 Dementsprechend kann Beratung aus systemischer Sicht immer nur ein mögliches Angebot an das beratene Klientensystem sein, jedoch nicht das zielgerechte Aufzwingen von bestimmten Vorgehensweisen und von konzipierten Lösungen von außen, weil nur das soziale System selbst entscheiden kann, was es für richtig und wichtig hält und was nicht.131 Insgesamt wird daher die angestrebte Veränderung als sozialer Prozess gesehen, in dem der systemische Berater die Aufgabe hat, das soziale System zu unterstützen, dessen zur Verfügung stehende Ressourcen zu nutzen, nicht vorschnell mögliche Informationen oder etwaige Lösungsmöglichkeiten auszublenden und eine Lösung zu finden, die der Klient oder das Klientensystem als seine eigene akzeptiert.132 Sämtliche Strukturen folgen dann diesem verändernden Prozess, der Seitens der begleitenden Berater mittels einer flexiblen Interventionsarchitektur entsprechenden Entfaltungsraum erhält, in dem wiederum umfangreiche Wechselwirkungen erfolgen können und das soziale System eine Balance zwischen Bewahren von Altem und Verändern zum Neuen halten kann. Diesem idealtypischen Beratungsverständnis folge leistend konzentriert sich systemische Beratung primär auf prozessuale Hilfe für das beratene Klientensystem, um eine entsprechende Veränderung zu ermöglichen. Einerseits ist deren tatsächliches Ergebnis jedoch genauso wenig planbar und vorhersehbar, wie soziale Systeme allgemein, und andererseits besteht dabei in Anbetracht des Stellenwertes von Wechselwirkungen und Zirkularität keine Trennung zwischen unterschiedlichen Beratungsphasen. In diesen gilt es stets die individuelle Autonomie des beratenen Klientensystems sowie der dazugehörigen Betroffenen zu respektieren, woraus folgt, dass durch systemische Beratung keine Entscheidungen für einen Klienten getroffen, sondern diese eine primär prozessuale Unterstützung des jeweiligen Klienten bei seiner eigenständigen Problembewältigung ist, ohne dessen individuelle Autonomie dabei außer Kraft zu setzen.133 Diese zweiteilige Autonomie kann jedoch nur gewahrt bleiben, wenn es im beratenen System gelingt, notwendige Entscheidungen zu einer angestrebten Veränderung im gemeinsamen Konsens herbeizuführen, was bedeutet, dass diese nicht teilweise aufgezwungen,

129 130 131 132 133

Vgl. König/Volmer (2000), S. 48 Vgl. Willke (1992), S. 36 f. Vgl. König/Volmer (2000), S. 173 Vgl. König/Volmer (2000), S. 50 Vgl. König/Volmer (2000), S. 257 ff.

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sondern einstimmig getroffen werden müssen.134 Um diese spezifische Hilfestellung erfolgreich und professionell auf neutraler Basis gewährleisten zu können, ist es unbedingt notwendig, dass der Berater den gesamten Beratungsprozess hindurch eine entsprechende Distanz zum beratenen Klientensystem wahrt. Dies geschieht durch die so genannte Staffarbeit, in der die externen Berater gemeinsam Reflexion, Hypothesenbildung und Interventionsplanung durchführen und dadurch ihre eigene Arbeitsfähigkeit sicherstellen. Trotzdem müssen sich systemische Berater darüber bewusst sein, dass das Risiko die Sichtweise des Klienten zu übernehmen bzw. in das Klientensystem zu kippen, mit zunehmender Dauer des Projektes immer größer wird, weshalb vor diesem relevanten Aspekt vor allem mögliche Verlängerungen des bestehenden Beratungskontraktes sowie etwaige Folgeprojekte aus der laufenden Beratungsleistung immer kritisch zu hinterfragen sind.135 Eine zentrale Rolle bei solch einer angestrebten Veränderung spielen, so sollte man gemeinhin annehmen, stets die von diesem sozialen Prozess betroffenen Menschen in der beratenen Organisation, woraus sich die bis dato schon mehrfach angedeutete Frage nach dem systemischen Menschenbild ableiten lässt. Reflektiert man diese vor dem spezifischen Hintergrund, der bis hierher erfolgten Diskussion, so ist schnell ersichtlich, dass es darauf keine direkte Antwort geben kann, da soziale Systeme nach der systemischen Auffassung von Luhmann nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikation bestehen, für die Menschen lediglich Umwelt sind. Diese mögen für sich selbst oder für Beobachter zwar als Einheit erscheinen, sind aber kein System an sich, genauso wenig wie eine Mehrheit von Menschen, die auch kein System bilden kann.136 Vielmehr hat ein Mensch Anteil an verschieden Systemtypen, wobei sein Körper ein biologisches System ist, das als Organismus Verhalten wahrnehmbar macht, sowie sein Bewusstsein ein psychisches System ist, das als Person an Kommunikation teilnimmt.137 Im Unterschied zu diesen Begriffen spricht Luhmann noch von einem Individuum, wenn sich ein Organismus und eine Person zusammen als Mensch von einem anderen Menschen durch bestimmte Beschaffenheiten oder charakteristische Fähigkeiten differenzieren lassen.138 Der Mensch wird folglich nicht als eine eigene Analyseeinheit betrachtet, ist durch seine jeweiligen Systeme jedoch relevante Umwelt für soziale Systeme, die wiederum in menschliche Handlungen dekomponiert werden können.139 Dies ist wiederum relevant, weil Kommunikationen selbst nicht direkt beobachtet, sondern nur erschlossen werden können. Um jedoch beobachtet werden oder um sich selbst beobachten zu können, muss deshalb ein 134 135 136 137 138 139

Vgl. König/Volmer (2000), S. 260 ff. Vgl. Königswieser/Exner/Pelikan (1995), S. 57 Vgl. Luhmann (1987), S. 67 f. Vgl. Berghaus (2003), S. 32 Vgl. Krause (2001), S. 141 f. Vgl. Berghaus (2003), S. 32

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Kommunikationssystem als Handlungssystem ausgeflaggt werden,140 sodass über letzteres Personen und damit auch Menschen wieder relevant für soziale Systeme werden. Organisationen können also ohne Menschen, die durch ihr kommunikatives Verhalten die Aufrechterhaltung der Organisation erst gewährleisten, nicht operieren, da die einzelnen Personen gleichsam das von der Organisation benötigte Verhalten zur Verfügung stellen und dadurch die entsprechende Autopoiese von sozialen Systemen, also die Reproduktion der Organisation durch ihre eigenen Elemente, erst ermöglichen.141 Daher sind Personen in sozialen Organisationen nicht als Menschen wichtig, sondern erhalten ihren Stellenwert dadurch, dass sie Kommunikation durch ihre Handlungen erwartbar machen,142 woraus letztlich ersichtlich wird, warum es kein explizites Menschenbild der sozilogischen Systemtheorie gibt. Trotzdem kann auf diese komplexen Grundüberlegungen aufbauend nun über generelle Bestandteile eines systemischen Menschenbilds nachgedacht werden, für das sich grundsätzlich folgendes festhalten lässt. Menschen sind als komplexes Zusammenwirken von unterschiedlichen Systemen, wie beispielsweise dem psychischen System und dem organischen System, eine lebendes System und verhalten sich daher wie eine nichttriviale Maschine. Sie sind demnach unberechenbar, unplanbar, unsteuerbar und entscheiden autonom, jeweils aufgrund ihrer eigenen Struktur, auf welche Weise sie auf Ereignisse in ihre Umwelt reagieren.143 Diese Autonomie setzt systemische Beratung als den zentralen Wert voraus und geht demnach davon aus, dass andere Personen selbst in der Lage sind notwendige Entscheidungen zu treffen.144 Für das systemische Paradigma kann damit resümiert werden, dass auf Basis der generellen Grundprinzipien sowohl Organisationen als auch Menschen als komplexe Systeme oder nichttriviale Maschinen gesehen werden, die weder berechenbar noch analysierbar und auch nicht steuerbar sowie nicht planbar sind. Sie beziehen sich im Gegensatz dazu in ihren eigenen Operationen permanent auf sich selbst, sodass umfassende Zirkularität entsteht und auch besteht, weshalb ein externes Einmischen unmöglich ist. Die einzige Möglichkeit solch ein soziales System, dem eine beratene Organisation letztendlich entspricht, von außen zu beeinflussen ist, dieses über die strukturellen Kopplungen, die es mit seiner relevanten Umwelt besitzt, zu irritieren. Dies machen systemische Berater, indem sie basierend auf eigenen Hypothesen, die wiederum aus dem beobachteten Verhalten des sozialen Systems abgeleitet werden, spezifische Interventionen setzten, deren tatsächliche Auswirkung jedoch nur im Rahmen eigener Beratungserfahrung und charakteristischer Systemeigenschaften

140 141 142 143 144

Vgl. Luhmann (1987), S. 226 Vgl. Seliger (1997), S. 30 Vgl. Groth (1996), S. 89 Vgl. Seliger (1997), S. 30 Vgl. König/Volmer (2000), S. 257 ff.

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prognostizierbar ist. Die spezifische Veränderung kann damit nur beabsichtigt, aber nicht sichergestellt werden.

2.3 Schlussfolgerungen Bezug nehmend auf den begrifflichen Bezugsrahmens (vgl. Kapitel 2.1) sowie die eingeführte Differenzierungslogik für Beratungsformen (vgl. Kapitel 2.2) können in Anbetracht der Zielsetzung der Arbeit (vgl. Kapitel 1.1) sowie der Abgrenzung des Themenfeldes (vgl. Kapitel 1.3) somit erste Schlussfolgerungen für die betrachteten Beratungsformen, die klassische Beratung sowie die systemische Beratung, gezogen werden. Deren jeweiliger Idealtyp kann, wie in der umfassenden Diskussion über die grundlegende Differenzierungslogik schon mehrfach angedeutet wurde, zunächst in dieser mittels der folgenden untersuchungsleitenden Hypothese positioniert werden. x

Die jeweiligen Idealtypen der klassischen Beratung sowie der systemischen Beratung stellen in der eingeführten Differenzierungslogik zwei diametrale Kontrapunkte dar, weil sie beide einerseits verschiedene Beratungsfokusse aufweisen sowie andererseits auf unterschiedlichen Beratungsparadigmen basieren.

Dieser untersuchungsleitenden Hypothese folgend, lässt sich die Positionierung der Idealtypen zur Zeit ihrer historischen Entstehung – die klassische Beratung mit Arthur D. Little (vgl. Kapitel 3.1.1) seit 1886 sowie die systemische Beratung nach der Wiener Schule seit 1980 – gemäß der jeweiligen Beratungsfokusse sowie der entsprechenden Beratungsparadigmen wie folgt skizzieren.

Seit 1980

Mechanistisches

Beratungsparadigma

Systemisches

Systemische Beratung

Klassische Beratung Seit 1886

Prozessorientierter

Inhaltsorientierter Beratungsfokus

Abbildung 2.6: Positionierung der Idealtypen

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Beratung im Überblick

Während die klassische Beratung, wie aus der diskutierten Gegenüberstellung der idealtypischen Beratungsleistungen (vgl. Abbildung 2.4) bereits deutlich hervorgeht, zur inhaltsorientierten Beratung zählt, kann systemische Beratung dem entgegen als prozessorientierten Beratung betrachtet werden. Diese explizite Zuordnung wird implizit auch noch einmal durch die in den spezifischen Beratungsverständnissen als letztes Gegensatzpaar der idealtypischen Beratungsparadigmen (vgl. Abbildung 2.5) angeführte Gegenüberstellung – primär inhaltliche Lösung vs. primär prozessuale Hilfe – angedeutet. Der diesbezügliche Zusammenhang der beiden betrachteten Beratungsformen mit den unterschiedlichen Beratungsparadigmen lässt sich jedoch generell schon aus der historischen Entwicklungszeit erkennen, die der klassischen Beratung gegen Ende des 19. Jahrhunderts gar kein anderes Beratungsparadigma als das mechanistische Paradigma zur Wahl lässt und der systemischen Beratung im Gegenzug ab Anfang der 1980er das systemische Paradigma zur Verfügung stellt. Folglich sind die dargestellten Positionen der beiden Idealtypen eindeutig festgesetzt und stellen gleichsam die fixen Ausgangspunkte für jegliche Entwicklungen der klassischen Beratung einerseits sowie der systemischen Beratung andererseits in der weiterführenden Diskussion dar. Anders formuliert ist es dem jeweiligen Idealtyp unter expliziter Beibehaltung des jeweils spezifischen Beratungsverständnisses vor dem historischen Hintergrund des traditionellen Beratungsparadigmas sowie des individuellen Beratungsfokus nicht möglich, die durch die konträren Grundprinzipien der beiden Beratungsparadigmen darstellbaren Teilflächen der Differenzierungslogik zu erschließen. Daher gilt es dieses Gegensatzpaar als erstes zu hinterfragen, um überhaupt eine grundlegende Entwicklung der beiden Idealtypen erstens im eigenen Beratungsparadigma und danach erst zweitens über dieses hinaus zu ermöglichen. An dieser Stelle soll nun rückbezüglich noch einmal kurz auf die Abgrenzung des Themenfeldes eingegangen werden, indem die darin abgeleitete Nichtbetrachtung einzelner Beratungsformen anhand von deren grundlegender Positionierung in der diskutierten Differenzierungslogik veranschaulicht wird. Geht man zunächst von der klassischen Organisationsentwicklung als erste Antwort auf die klassische Beratung in den 1940er Jahren aus, dann ist erstere, sobald sie von externen Personen im Sinne einer gezielten Beratungsleistung begleitet wird, definitiv prozessorientierte Beratung, die allerdings ein mechanistisches Verständnis von sowohl Organisationen als auch Menschen und demgemäß auch von Beratung aufweist.145 Folglich kann klassische Organisationsentwicklung als erster historischer Kontrapunkt klassischer Beratung klar im links unteren Quadranten der verwendeten Differenzierungslogik positioniert werden und bietet von dort aus in den 1960er Jahren die generelle Basis

145

Vgl. Boos/Heitger/Hummer (2004), S. 41 f., sowie die Ausführungen des zweiten Menschenbildes nach dem mechanistischen Paradigma (vgl. Kapitel 2.2.2.1), dem so genannten 'social man'.

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für die weiterführende Formulierung der bekannten Prozessberatung146 nach Schein. Diese ist der zweite markante Entwicklungsschritt auf dem Weg zur systemischen Beratung und kann alleine schon aufgrund ihres Namens als prozessorientierte Beratung identifiziert werden. Betrachtet man diese Beratungsform nun genauer, so zeigt sich, dass Schein sowohl in unterschiedlichen Begriffen als auch in den zehn Prinzipien der Prozessberatung147 stark systemisch denkt, vereinzelt aber trotzdem noch mechanistische Züge erkennen lässt. Dies wird gleich eingangs ersichtlich, wenn als übergeordnetes Ziel von Prozessberatung der Aufbau einer effektiven helfenden Beziehung zwischen Klient und Berater genannt wird, in der gemeinsam problematische Situationen diagnostiziert sowie angemessene Gegenmaßnahmen entwickelt werden können.148 Es wird demzufolge, obwohl das Problem und dessen Lösung dem prinzipiellen Grundverständnis entsprechend dem Klienten gehören,149 davon ausgegangen, dass der externe Berater das bestehende Problem verstehen kann, was auch im zweiten Prinzip, nach dem man als Berater erst helfen kann, wenn man entschlüsseln kann, was in der eigenen Person, in der bestehenden Situation und im beratenen Klienten vorgeht,150 zum Ausdruck kommt. Deshalb können der Prozessberatung nach Schein neben dem vorherrschenden Einfluss des systemischen Paradigmas auch einzelne Aspekte des mechanistischen Paradigmas zugerechnet werden, woraus sich eine generelle Positionierung auf der linken Seite rund um die trennende Membran zwischen den beiden Paradigmen ergibt, wobei eine klare Tendenz zur systemischen Beratung nach dem Wiener Schule besteht. Diese stellt, das sei der Vollständigkeit halber noch erwähnt, im deutschsprachigen Raum den stärksten Kontrapunkt zur klassischen Beratung dar, ist jedoch, wenn man dabei auch die eigentlich nicht betrachtete Schweiz berücksichtigt, nicht die einzige systemische Beratungsform als solche. Diesbezüglich ist vor allem das St. Galler Management-Modell zu erwähnen, dessen Entstehungsgeschichte mit der Gründung des Institutes für Betriebswirtschaft an der Universität St. Gallen beginnt.151 Diesem historischen Ursprung entsprechend erschließt es das systemische Paradigma vom inhaltlichen Fokus her über die intensive Beschäftigung mit der Kybernetik (vgl. Kapitel 3.2.3) sowie der allgemeinen Systemtheorie (vgl. Kapitel 3.2.4) und weist daher im Unterschied zur systemischen Beratung nach der Wiener Schule auch eine wirtschaftliche Inhaltsorientierung auf. Es stellt daher, wie bereits erwähnt, nicht den gleich starken Kontrapunkt für die klassische Beratung dar, wie eben systemische Beratung nach der Wiener Schule, weshalb seine grundlegende Positionierung auch

146 147 148 149 150 151

Schein (2003) Vgl. Schein (2003), S. 297 ff. Vgl. Schein (2003), S. 19 Vgl. Schein (2003), S. 299 Vgl. Schein (2003), S. 298 Vgl. http://www.ifb.unisg.ch (31.08.2005)

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nur als generelle Ergänzung zur Abgrenzung des Themenfeldes verstanden werden soll, unabhängig von der Tatsache, dass das St. Galler Management-Modell wegen der geographischen Abgrenzung der vorliegenden Arbeit ohnehin nicht berücksichtigt wird. Aufgrund der historischen Wurzeln kann jedenfalls angenommen werden, dass sich das St. Galler Management-Modell recht eindeutig im oberen Bereich sowie stärker auf die rechte Hälfte orientiert in der verwendeten Differenzierungslogik einordnen ließe. Damit sind insgesamt ausgehend von den spezifischen Schlussfolgerungen für die betrachteten Beratungsformen auch die generellen Anmerkungen zur verwendeten Differenzierungslogik hinlänglich ausgeführt. Bevor in den zwei folgenden Kapiteln die beiden Idealtypen nun vertieft werden, sollen deren wichtigste Charakteristika, die aus der bisher erfolgten Diskussion abgeleitet werden können, noch einmal in einer knappen Gegenüberstellung zusammengefasst werden.

Klassische Beratung Einzelne Individuen oder ganze Gruppen von Individuen Einzelne für Entscheidungen relevante Führungskräfte

Systemische Beratung

Klientenbild

Klientenintegration

Beratungskompetenz zur Lösung fachlicher Probleme durch inhaltliche Beiträge

Beratungskompetenz

Unter Einbezug von Klienteninformationen entstehen Lösungen außerhalb des Klientensystems

Lösungsentstehung

Gesamtes Klientensystem und seine Beziehungen Alle von Veränderung betroffenen Personen Beratungskompetenz zur Irritation eines sozialen Systems durch prozessuale Interventionen Durch prozessuale Interventionen wachsen Lösungen innerhalb des Klientensystems

Berater primär verantwortlich für den fachlichen Inhalt der Veränderung

Beraterverantwortung

Berater primär verantwortlich für sozialen Prozess der Veränderung

Entscheidung des Klienten über inhaltliche Empfehlungen des Beraters

Klientenverantwortung

Inhaltliche Arbeit und Entscheidungen ausschließlich durch Klienten

Revolutionär und vorwiegend vom Berater vorgegeben

Veränderungscharakter

Evolutionär und vorwiegend vom System bestimmt

Abbildung 2.7: Charakteristika der Idealtypen

Historische Wurzeln der Beratungsformen

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3 Historische Wurzeln der Beratungsformen Um die Charakteristika der Idealtypen (vgl. Abbildung 2.7) sowie die Positionierung der Idealtypen (vgl. Abbildung 2.6) umfassender zu verstehen, ist es hilfreich, die historischen Wurzeln der zwei betrachteten Beratungsformen genauer aufzuarbeiten. Während dazu für die klassische Beratung die jeweilige Entstehungsgeschichte der ältesten Beratungsunternehmen betrachtet wird, sollen für die systemische Beratung die theoretischen Grundlagen anhand der maßgebenden Wissenschaftsdisziplinen reflektiert werden.

3.1 Historische Wurzeln der klassischen Beratung Wie in der Abgrenzung des Themenfeldes (vgl. Kapitel 1.3) bereits angedeutet, bildet in den USA das Zeitalter der Industrialisierung, das generell vom mechanistischen Paradigma (vgl. Kapitel 2.2.2.1) sowie in der westlichen Welt von bekannten Größen wie dem Nationalökonom Adam Smith (1723-1790), dem Vordenker Frederick W. Taylor (1856-1915) oder auch dem Automobilproduzenten Henry Ford (1863-1947) geprägt wurde, das Umfeld für die Entwicklung der klassischen Beratung. Diese inhaltsorientierte Beratung (vgl. Kapitel 2.2.1.1) entsteht, wie ihre ursprüngliche Bezeichnung Management Engineering152 schon andeutet, in der historischen Epoche der Industrialisierung jedoch nicht auf Basis einer fundierten theoretischen Grundlage, sondern ist vielmehr eine praxisorientierte Geschäftsidee von diversen findigen Persönlichkeiten, weshalb die klassische Beratung auch keine direkte, sondern lediglich eine indirekte theoretische Grundlage, nämlich den Taylorismus153, aufweist. Auf dessen Aufbereitung wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch verzichtet, vielmehr soll mittels eines kurzen historischen Abrisses der wichtigsten Vertreter der global tätigen klassischen Beratungsunternehmen in chronologischer Reihenfolge nach dem jeweiligen Gründungsjahr ein kurzer Einblick in die lange Entwicklungsgeschichte klassischer Beratung erfolgen. Exemplarisch werden dazu das älteste Beratungsunternehmen der Welt, Arthur D. Little, sowie die fünf umsatzgrößten Beratungsunternehmen in Deutschland154 herangezogen.155

152 153 154

155

Vgl. McKenna (1995), S. 51 Vgl. Kieser (1995) für nähere Ausführungen Vgl. Fink (2004), S. 13, wobei Deloitte Consulting wegen seiner originären Wurzeln in der Wirtschaftsprüfung und Steuerprüfung nicht berücksichtigt wird. Die historischen Abrisse der in Folge vorgestellten Beratungsunternehmen stellen jeweils kurze Zusammenfassungen der in Fink (2003) ausführlich skizzierten Entwicklungsgeschichte der einzelnen klassischen Beratungsunternehmen dar, weshalb – wörtliche Zitat ausgenommen – eingangs immer nur das betreffende Kapitel in den jeweiligen Fußnoten angeführt wird.

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Historische Wurzeln der Beratungsformen

3.1.1 Arthur D. Little156 Die historischen Wurzeln von Arthur D. Little (ADL), der ältesten heute global tätigen Unternehmensberatung der Welt, reichen zurück bis in das Jahr 1886 als der damals 23-jährige Chemiestudent Arthur Dehon Little (1863-1935) gemeinsam mit seinem Partner Roger Griffin (n.v.-1893) sein erstes Büro in Boston eröffnet. Little, der dabei um seine chemischen Fähigkeiten durchaus Bescheid wusste und eigentlich nur eine solide Einnahmequelle suchte, um sein unterbrochenes Studium am Boston Tech – dem heutigen Massachusetts Institute of Technology (MIT) – zu Ende zu bringen, konnte sich damals wohl nicht im geringsten vorstellen, dass er mit diesem Schritt nicht nur die Basis für sein eigenes Unternehmen schaffen würde, sondern vielmehr den Grundstein für eine gesamten Dienstleistungssektor legen sollte, nämlich jenen der Beratungsbranche. Wie es auch sei, Little hatte 1884 jedenfalls sein Chemiestudium am Boston Tech aus finanziellen Gründen unterbrochen und begann für eine nahe Papierfabrik zu arbeiten, in der er für die Papierindustrie innovative Verfahren sowie ebensolche Geräte entwickelte, ohne dafür jedoch ein entsprechendes Einkommen zu erhalten. Aufgrund dessen entschloss er sich zusammen mit Griffin 1886 ein eigenes Labor zu eröffnen, in dem die beiden Chemiker im Auftrag von Handelsunternehmen und Industrieunternehmen importierte Waren – diese reichten von Chemikalien über Stahl bis zu Nahrungsmitteln – auf so genannte 'Produktreinheit' hin überprüften. Durch diese abwechslungsreichen Aufträge zur Qualitätssicherung gelang es Little und Griffin bald ihre chemischen und analytischen Fertigkeiten intensiv zu verbessern, was sie in ihrer neuen Idee bestärkte, kommerzielle Forschungsarbeit für industrielle Kunden zu betreiben und dadurch Prozesse zu verbessern sowie Produkte zu perfektionieren. Sie gründeten auf Basis dessen neben dem Verkauf von Wissen als Dienstleitung gleichsam ein zweites Geschäftsfeld, nämlich die Durchführung von Forschungsarbeit auf Vertragsbasis, und realisierten damit zwei bahnbrechende Ideen, die heutzutage mit den Begriffen Beratungsleistung und Auftragsforschung beschrieben werden können und beide ganze Industrien darstellen. In beiden Geschäftsfeldern folgten die professionellen Chemiker dabei ihrer Vision sinnvoll und signifikant zum industriellen Fortschritt des späten 19. Jahrhunderts beizutragen, indem sie darauf zielten wissenschaftliche Erkenntnisse zu liefern, die kommerzielle Relevanz hatten, um so letztlich auch die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu verringern. Während dieser Gründungsphase ließen die beiden Pioniere jedoch den Kontakt zur akademischen Welt nie abreißen, sondern pflegten diesen, indem einerseits immer

156

Vgl. Fink (2003), S. 43 ff.

Historische Wurzeln der Beratungsformen

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wieder zahlreiche Dozenten des MIT neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit als externe Berater für das chemische Labor engagiert wurden und andererseits Little selbst an der chemischen Fakultät des MIT einen Lehrauftrag im Fach 'Papermaking' annahm. Auch stellten sich in dieser ersten Phase rasch einzelne große Erfolge ein, wie etwa die Entwicklung eines nichtbrennbaren Kinofilms, dessen Patentrechte die Firma Eastman Kodak kaufte, ehe die florierende Entwicklung 1893 vom tödlichen Laborunfalle Griffin's überschattet wurde. Dies veranlasste Little in den folgenden Jahren seine Forschungstätigkeiten zunächst alleine und dann zusammen mit einem jungen Chemiedozenten des MIT als neuen Partner voranzutreiben. Daraus entsteht 1908 am damaligen Boston Tech das erste Forschungslabor, in dem Studierende für einzelne Chemieunternehmen praxisspezifische Probleme lösten und das Little 1909 schließlich dazu bewegt, sein eigenes Labor unter dem Namen Arthur D. Little, Inc. eintragen zu lassen. Der bis dahin erfolgreiche Aufstieg setzt sich auch in diesem eigenen Labor fort und schlägt sich 1911 etwa in einem Auftrag von General Motors nieder, um dessen erste zentrale Entwicklungseinheit, ein entsprechendes Forschungszentrum, aufzubauen. In den folgenden Jahren wird Little 1916 auch zum Präsidenten der American Chemical Society gewählt, ehe er seine Lehrtätigkeit am MIT zurücklegt, um sich nur mehr auf das eigene Beratungsunternehmen zu konzentrieren. Dieses profiliert sich durch einerseits kreative und analytische Lösungen für technische Probleme und Herausforderungen sowie andererseits die daraus entstehende und weiterfolgende Entwicklung für neue Technologien und Produkte. Daraus geht anfangs der 1920er Jahre beispielsweise die erstmalige Produktion von Kraftstoff hervor, der sich später auch als Bezinstandard durchsetzt, und führt damit dazu, dass ADL in den folgenden Jahren nicht nur wie anfangs einzelne Forschungsaufträge in der Chemieindustrie sowie in der Papierindustrie, sondern auch immer mehr Forschungsaufträge in der Automobilindustrie sowie in der Kraftstoffindustrie und darüber hinaus auch in der Pharmazieindustrie sowie der Nahrungsmittelindustrie erhält. Ehe ADL Anfang der 1930er Jahre auch noch den zentralen Grundstein für die revolutionäre Entwicklung der modernen Glasfasertechnologie legt, beschließt Little 1927 die wichtigen und öffentlichkeitswirksamen Erkenntnisse aus seiner Beratungsarbeit zu veröffentlichen und etablierte dadurch das erste Journal der noch jungen Beratungsbranche. Als der Pionier Arthur D. Little schließlich im Alter von 72 Jahren verstirbt, hinterlässt er nicht nur ein kontinuierlich wachsendes, sondern auch das größte Beratungsunternehmen der damaligen Zeit, das aus dem technischen Bereich kommend auch immer mehr wirtschaftliche Fragestellungen betrachtet. Einige Jahre später übernimmt ADL im Zeitraum des zweiten Weltkrieges immer mehr Beratungsprojekte für die amerikanische Regierung, woraus nicht nur die erste Herstellung von synthetischem Penicillin – ein revolutionärer Durchbruch in der

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Historische Wurzeln der Beratungsformen

medizinischen Welt – erfolgt, sondern auch die intensive Betätigung im Operation Research resultiert. Letzteres führt danach in den Nachkriegsjahren vermehrt zur logistischen Optimierung von Prozessen sowie zu analytischen Lösungsansätzen für Lieferantenmanagement, was eine immer stärkere Ausdehnung der technischen Aufgabenstellungen auf spezifische Managementprobleme bewirkt. Diese betreffen jedoch im Unterschied zu gesamtwirtschaftlichen Belangen, die ADL schon in seinen früheren Jahren adressierte, nun explizite Entscheidungen von gewinnorientierten Wirtschaftunternehmen, wozu vermehrt Mitarbeiter mit Erfahrung in den Bereichen Wirtschaft, Organisation und Planung aufgenommen werden, ohne dabei aber die eigentliche Herkunft aus dem technischen Bereich zu vernachlässigen. Aus dieser Mischung an Technik und Wirtschaft entsteht in den 1960er Jahren die innovative Einführung von unterschiedlichen Computersystemen in namhaften Unternehmen, was 1971 im elektronischen Handelsystem der amerikanischen Technologiebörse NASDAQ gipfelt. Etwa zu dieser Zeit führte auch der ADL-Berater und promovierte Mathematiker Fischer Black seine finanzmathematischen Forschungsarbeiten mit dem MIT-Assistenzprofessor Myron S. Scholes157 zu Ende, deren bahnbrechendes Ergebnis ein viel beachtetes Optionspreismodell, die so genannte Black-ScholesFormel, war, das als eine der bedeutendsten Entwicklungen der Kapitalmarkttheorie gilt und den beiden Forschern 1997 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften einbrachte. Ein dritter Bereich, den ADL vor allem ab Anfang der 1960er verstärkt neben den ursprünglichen Technikfragen sowie den folgenden Managementthemen aufbaute, war der grundlegende Umweltschutz, dessen Wurzeln noch in die frühen Jahre von Little selbst zurückdatieren. So beschäftigte man sich mit der umweltverträglichen Beseitigung gefährlicher Abfälle sowie den wirtschaftlichen und sozialen Folgen staatlicher Regulierung im ökologischen Bereich, woraus ADL in den 1970er Jahren während der weltweiten Energiekrise eine weitere Führungsposition am mittlerweile wachsenden Beratungsmarkt etablierte. So waren es einmal mehr die ADL-Berater, die einen innovativen Schritt setzten, indem sie das erste 'Umweltaudit' entwickelten, aus dem mittlerweile ein ganzer Berufzweig und ein eigenes Gesetz hervorgegangen ist. Obwohl damit generell noch einmal eine revolutionäre Entwicklung eingeleitet wurde, konnte sich ADL als die bis Ende der 1960er Jahre unangefochtene Nummer eins am Beratungsmarkt der immer stärker werdenden Konkurrenz auf Dauer nicht mehr entziehen und musste in den nun folgenden Jahren mehrere Rückschläge in Kauf nehmen.

157

Myron S. Scholes war Assistenzprofessor an der Sloan School of Management, der Business School des MIT

Historische Wurzeln der Beratungsformen

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Das bis dahin schillernde Image von ADL als 'das' Beratungsunternehmen, das seine ausgereifte Problemlösungskompetenz auf immer wieder neue Anwendungsfelder übertragen konnte, um die größten Probleme in unterschiedlichsten Bereichen zu lösen, begann im Zuge neuer Organisationsstrukturen erste Risse zu bekommen, die durch steigenden Wettbewerbsdruck am boomenden Beratungsmarkt immer größer wurden. In dem dynamischen Umfeld verlor die klassische Beratung von ADL, die sich auf einzelne Projekte von zwei bis drei Monaten fokussierte, in den eigenen Büros stattfand und in detaillierte Endberichte mündete, an Bedeutung, sodass zum einen zurückgehende Marktanteile die innerbetriebliche Stimmung verschlechterten, woraus zum anderen der interne Kampf um die attraktivsten Klientenanfragen wuchs. Es machten sich nun Versäumnisse der vorhergehenden Jahrzehnte bemerkbar, in denen man sich fast ausschließlich auf die Optimierung der kurzfristigen Profitabilität konzentrierte und kaum auf Investitionen in zukunftsträchtige Wachstumsoptionen achtete. All das führte schließlich dazu, dass sich ADL 1987 verschulden musste, um einen gezielten Übernahmeversuch abzuwehren und die eigene Unabhängigkeit zu behalten. In den folgenden Jahren kam es zu weiteren Reorganisationen, die die profitable Managementberatung zuerst zu einem von drei Geschäftsfeldern werden ließ und letztlich zur detaillierten Planung von dessen partieller Ausgründung führte. Der vorbereitete Börsegang viel Anfang 2001 dem bevorstehenden Einbruch der weltweiten Finanzmärkte zum Opfer und hinterließ einen erneuten Schuldenberg, der in letzter Konsequenz dazu führte, dass ADL Anfang 2002 Konkurs anmeldete und eine weltweite ADL-Partnergruppe das globale Managementberatungsgeschäft durch ein Management Buyout herauslöste. Was in Summe neben dem beeindruckenden Aufstieg von ADL im technischen Bereich zufolge bahnbrechender Innovationen und zahlreichen Patenten bleibt, ist daraus hervorgehend die weltweite Pionierarbeit zum weitreichenden Aufbau der klassischen Beratung. Diese lässt sich im Verständnis von ADL charakterisieren als externe Dienstleistung, die ein beliebiges Klientenunternehmen in Anspruch nimmt, um eine spezifische Problemlösung zu erhalten, was im Laufe des 20. Jahrhunderts von immer mehr Unternehmen angeboten wird und in dessen zweiter Hälfte zu einer florierenden Branche wächst. 3.1.2 Booz Allen Hamilton158 Booz Allen Hamilton, die zweitälteste heute weltweit präsente Beratungsfirma, wurde 1914 von Edwin Booz (n.v.-1951) in Chicago gegründet, der, anders als Arthur Dehon Little (vgl. Kapitel 3.1.1), aus dem betriebswirtschaftlichen Bereich und nicht dem technischen Umfeld kam. Bis die beiden anderen Namensgeber James Allen

158

Vgl. Fink (2003), S. 60 ff.

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Historische Wurzeln der Beratungsformen

(1904-1992) sowie Carl Hamilton (1888-1946), die auch wirtschaftlichen Hintergrund besaßen, im Laufe der Zeit beitraten, sollte es jedoch bis 1935 dauern und danach noch weitere sieben Jahre, ehe der heutige Name Booz Allen Hamilton feststehen sollte. Zu einer Zeit also als ADL bereits seine ersten großen Beratungsaufträge vorweisen konnte, in Europa gerade der erste Weltkrieg ausbrach und in den USA sich heftige Arbeitskämpfe mehrten, beendete Edwin Booz 1914 seine beiden Studien an der Northwestern University in Chicago und gründete sein eigenes Büro, aus dem in den folgenden Jahren das Beratungsunternehmen Booz Allen Hamilton hervorgehen sollte. In diesem Büro bot Booz, der in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen war und als hart arbeitender Individualist galt, mit seinem wirtschaftlichen sowie psychologischen Studienhintergrund für unterschiedliche Kunden an, statistische Auswertungen und wirtschaftliche Analysen zu erstellen. Rasch konnte er diese beratende Dienstleistung an renommierte Wirtschaftsunternehmen der damaligen Zeit verkaufen, ehe dieser erfolgreiche Aufstieg durch die plötzliche Einberufung in die amerikanische Armee 1917 unterbrochen wurde. Dort diente er kurze Zeit als gewöhnlicher Soldat, bevor er aufgrund seiner spezifischen Erfahrung in das USamerikanische Kriegsministerium versetzt wurde, in dem man Booz mit der Aufgabe betraute, die zahlreichen Büros sowie die behördlichen Geschäftsprozesse zu reorganisieren. Mit Kriegsende verließ er schließlich die Armee, um sich wieder seinem eigentlichen Geschäft, den klassischen Beratungsleistungen, zu widmen, in denen er vorwiegend das führende Management, die dazugehörige Organisation und die vorhanden Mitarbeiter, die er als Schlüssel zum geschäftlichen Erfolg eines jeden Unternehmens betrachtete, analysierte. Edwin Booz gründet dazu den Business Engineering Service und setzt damit seinen geschäftlichen Aufstieg fort. Die rasante Entwicklung setzte mit Anfang der 1920er Jahre voll ein, als Booz, der nach wie vor alleine arbeitete, in den unterschiedlichsten Industrien Fuß fasste und dadurch seine anfängliche Kundenbasis rasch ausbaute. Wegen des anhaltenden Erfolges beschloss er 1924 seinem Unternehmen einen neuen Namen zu geben und das bestehende Leistungsspektrum zu erweitern. Fortan bot Edwin Booz Surveys nicht nur Studien, Analysen und Problemlösungen für wirtschaftliche Fragestellungen an, sondern leistete auch Hilfestellung bei der Akquisition von Führungskräften. Dies führte dazu, dass Booz mit George Fry 1925 schließlich seinen ersten Mitarbeiter einstellte, dem 1929 mit James Allen (1904-1992), der ebenso wie Booz selbst ein Bachelor-Diplom der Wirtschaftswissenschaften von der Northwestern University in Chicago besaß, ein zweiter Kollege hinzukommen sollte. In der nun folgenden Zeit der weltweiten Wirtschaftskrise begann der amerikanische Beratungsmarkt und damit auch Edwin Booz Surveys kontinuierlich zu wachsen, wobei sich letztere zu einer eher losen Verbindung unabhängiger Berater entwickelte, welcher 1935 auch Carl

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Hamilton (1888-1946) mit seiner rund 25-jährigen Erfahrung in unterschiedlichen Managementpositionen beitrat. Da bis zu diesem Zeitpunkt unter dem gemeinsamen Firmennamen eigentlich nur individuelle Geschäfte betrieben wurden, entstand der mehrheitliche Wunsch, formale Managementstrukturen zu etablieren, wozu Booz von seinen drei Kollegen überzeugt wurde. Zu viert einigte man sich 1936 schließlich das ursprüngliche Beratungsunternehmen als gleichberechtigte Partnerschaft Booz, Fry, Allen & Hamilton zu reorganisieren. Fortan war der imposante Aufstieg nicht mehr aufzuhalten und es konnten nicht nur einige renommierte Unternehmen als neue Kunden gewonnen, sondern über einen Auftrag für das Rote Kreuz auch der große Markt an öffentlichen Einrichtungen und nichtkommerziellen Organisationen für die eigene Beratung erschlossen werden. In diesem erhielten Booz, Fry, Allen & Hamilton 1940 unter anderem ein Projekt für die US Navy, woraus sich in den kommenden Jahrzehnten zahlreiche Folgeprojekte für die amerikanische Regierung ergeben sollten. Dieser vor allem von Booz forcierte Fokus auf unterschiedliche Projekte der öffentlichen Hand bewirkte jedoch nicht nur ein nachhaltiges Wachstum, sondern führte bald auch zu einer folgenschweren Auseinandersetzung im gemeinsamen Beratungsunternehmen. Da Fry und Allen mit der einseitigen Entwicklung nicht zufrieden waren und sich stärker bei industriellen Kunden etablieren wollten, verließen sie die gemeinsame Partnerschaft 1942, um ihre eigenen Wege zu gehen. Während Fry seine Beratung in Chicago gründete, kehrte Allen ein Jahr später wieder zurück und übernahm im Anschluss daran die Leitung des Beratungsunternehmens, welches nun mit Booz Allen Hamilton seinen endgültigen Namen gefunden hatte. Unter der konsequenten Leitung von James Allen begann mit klaren strategischen Zielen und einer professionellen Organisationsstruktur schließlich der kontinuierliche Aufstieg des zweitältesten Beratungsunternehmens zu einer der einflussreichsten und größten Beratungsgesellschaften der USA. So geben die Nachkriegsjahre neue Wachstumsimpulse und es gelingt Booz Allen Hamilton das eigene Geschäft in unterschiedlichen Branchen auszubauen sowie die bestehenden Beziehungen zu öffentlichen Auftraggebern zu festigen. Daraus ergeben sich in den 1950er Jahren beispielsweise die Konzeption des PERT-System, das heute eine Standardmethode des Projektmanagements darstellt, sowie das Konzept des Produktlebenszyklus, der damals eine Weiterentwicklung des Marketings bedeutete. Es folgten in den 1960er Jahren unter anderem ein Auftrag von der NASA sowie die Entwicklung der Struktur für die neu gegründeten National Football League (NFL), sodass zum Ende der Jahrzehnts Booz Allen Hamilton sich schließlich zur größten Managementberatung der Welt entwickelt hatte.

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1970 ging schließlich die erfolgreiche Ära von James Allen zu Ende, unter dessen Nachfolger sich die Partnerschaft dann entschloss, das Beratungsunternehmen an die Börse zu bringen. Da der Börsegang jedoch zu einem drastischen Kursverfall führte, beschloss man den kompletten Aktienrückkauf durchzuführen, was auch gelang, aber nichts daran änderte, dass das Beratungsunternehmen bis weit in die 1980er Jahre unruhige Zeiten erlebte. Grund dafür war, dass Booz Allen Hamilton zu dieser Zeit wieder vor dem gleichen Problem wie schon in den 1930er Jahren stand, nämlich dass man nicht viel mehr als eine administrative Struktur mit einer starken Marke, aber ohne wirkliche Anreize zur internen Kooperation war. So folgten die Durchführung von umfangreichen Restrukturierungen, die Einführung eines neuen Anreizsystems sowie die Etablierung eines zentralen Wissensmanagements, um das gesamte Beratungsunternehmen zu einer geschlossenen Einheit zu formen, die als Ganzes gegen ihre direkten Wettbewerber antrat und nicht als Konföderation hochspezialisierter Individualisten. Dafür war es jedoch unumgänglich die starke Unternehmenskultur, die heute noch auf die von Carl Hamilton formulierten ethischen Verhaltensregeln aufbaut, zu ändern, weil in dieser die individuelle Fähigkeit zur gezielten Entwicklung von innovativen Lösungen angesehen wurde, die prinzipielle Übernahme fremder Ideen aber als unkreativ galt. Gegen Ende der 1980er Jahre begann diese interne Kulturänderung zwar zu wirken, hatte aber gleichzeitig einen schmerzhaften Aderlass zur Folge, weil ungefähr ein Drittel der Partnergruppe das Unternehmen verließ. Auch wenn die internen Veränderungen weitergingen, fand in den 1990er Jahren wieder ein Aufschwung des von nun an als Management- und Technologieberatung positionierten Unternehmens statt. Ermöglicht wurde dieser vor allem durch die neue Organisationsstruktur, die eine prinzipielle Teilung in zwei Geschäftsbereiche vorsah. So gab und gibt es immer noch zum einen den kommerziellen Geschäftsbereich, in dem klassische Managementthemen für privatwirtschaftliche Unternehmen adressiert werden, und zum anderen den technologischen Geschäftsbereich, in dem innovative IT-Lösungen für den öffentlichen Bereich erarbeitet werden. Was trotzdem beiden Bereichen gemeinsam ist und auch eine eindeutige Parallele zu ADL darstellt, ist die Tatsache, dass Booz Allen Hamilton als klassisches Beratungsunternehmen im dezidierten Auftrag eines beliebigen Klientenunternehmens eine externe Lösung für eine von dessen expliziten Problemstellungen erarbeitet. 3.1.3 McKinsey & Company159 Sobald in irgendeinem Zusammenhang von Beratung gesprochen wird, kommt man an dem Namen McKinsey & Company nur äußerst schwer vorbei. Die Wurzeln des

159

Vgl. Fink (2003), S. 43 ff.

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derzeit wohl renommiertesten Beratungsunternehmens weltweit reichen zurück bis ins Jahr 1926 als dessen gleichnamiger Gründer James O. McKinsey (1889-1937) in Chicago beschließt sich selbstständig zu machen. Obwohl er dann selber nicht allzu lange in seinem eigenen Beratungsunternehmen bleibt, prägt er dieses nachhaltig, und ist damit neben Marvin Bower (1903-2003), der die turbulente Entwicklung von McKinsey & Company fast 60 Jahre begleitete und formte, wohl die entscheidende Persönlichkeit in der nach wie vor anhaltenden Erfolgsgeschichte dieses klassischen Beratungsunternehmens. Als James O. McKinsey 1926 sein erstes eigenes nach ihm benanntes Unternehmen James O. McKinsey & Company in Chicago gründete, hatte er schon eine beachtliche wissenschaftliche Laufbahn hinter sich. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen als Sohn eines Farmers, erkannt er Wissen und Bildung sehr früh als Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftlichen Aufstieg. Getrieben von grenzenlosem Ehrgeiz suchte er so bereits in frühen Jahren die eigene Armut durch geistige Höchstleistungen zu kompensieren. So erhielt er schon zu seiner Zeit auf der High School einen Lehrauftrag von seinem eigenen Schulleiter, weshalb er dann auch Pädagogik studierte. Mit dieser Ausbildung alleine gab sich 'Mac', wie James O. McKinsey von seinen Freunden genannt wurde, aber nicht zufrieden, sodass er zunächst an der University of Arkansas noch ein Jurastudium absolvierte, ehe auch noch an der University of Chicago ein Philosophiestudium folgte. Mit diesen drei akademischen Titeln in der Tasche begann McKinsey schließlich auf der gleichen Universität ein Promotionsstudium, das er 1917 aufgrund seiner Einberufung in die amerikanische Armeeverwaltung, wo er die logistische Versorgung von den eigenen Truppen mit Kriegsgeräten organisierte, unterbrach. Nach Kriegsende beendete er diese vierte Ausbildung und befasste sich verstärkt mit Wirtschaftsprüfung, wofür er auch die Prüfung zum 'Certified Public Accountant' ablegt und 1920 schließlich einen Lehrauftrag an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der University of Chicago erhielt, an der er zum Assistenzprofessor für Wirtschaftsprüfung wurde. Kurz darauf wurde er zum Vizepräsidenten der American Association of University Instructors in Accounting, deren Präsident er ein Jahr nach seinem Eintritt als Wirtschaftprüfer in der Kanzlei Frazer & Torbet 1923 wurde. Nachdem sich McKinsey durch zahlreiche Publikationen einen Namen gemacht hatte, verließ er 1925 nach grundlegenden Meinungsverschiedenheiten mit George Frazer dessen Unternehmen, ehe er im Jahr darauf zum ordentlichen Professor für 'Business Policy' an der University of Chicago wurde. Nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem sich McKinsey 1926 entschloss, sein eigenes Büro in Chicago zu gründen und darin eine Dienstleistung anzubieten, die all das verband, was alle seine Tätigkeiten bis dahin gemein hatten, nämlich die gezielte Lösung spezifischer Geschäftsprobleme. Dafür kam ihm seine durch Zahlen und

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Fakten geprägte, aber dennoch stets strategisch ausgerichtet Sichtweise zugute, die er zunächst jedoch vor allem auf Buchprüfungen anwenden sollte und kaum, so wie McKinsey selbst eigentlich beabsichtigte, auf relevante Managemententscheidungen, zu denen er eigentlich als kompetenter Ratgeber hinzugezogen werden wollte. Als solcher wollte er seine Kunden unbedingt davon überzeugen, dass ein guter Berater nicht nur angeschlagenen Unternehmen bei der Rationalisierung von Mitarbeitern und Prozessen helfen, sondern vor allem auch gesunde Firmen bei der Erschließung von Wachstumspotenzialen und Marktchancen unterstützen könnte. Gegen Ende der 1920er Jahre entwickelte sich das Geschäft von McKinsey's Büro trotz der beginnenden Weltwirtschaftkrise gut, sodass er 1929 seinen ersten Partner Andrew Thomas Kearney aufnahm, dem bis 1932 weitere 13 'Professionals' folgen sollten. In diesem Jahr eröffnete James O. McKinsey auch eine kleine Niederlassung in New York und machte eine wichtige Begegnung. Er traf auf den jungen Anwalt Marvin Bower, der an der Brown University Ökonomie und Psychologie sowie in Harvard Recht und Wirtschaft studiert hatte, auf dessen Geschäftsreise in Chicago. Bower, der als aufstrebender Jurist aufgrund seines juristischen und wirtschaftlichen Hintergrundes für die führende Anwaltskanzlei von Cleveland, Jones Day, zahlreiche Sanierungen durchführte, entdeckte im Rahmen dieser eher wirtschaftlichen Tätigkeit zwei Dinge. Erstens realisierte er, wie viel Spaß er selbst daran hatte, als Mitglied von Gläubigerversammlungen Gewinnpotenziale zu analysieren und Finanzpläne anzufertigen, und stellte dabei zweitens fest, dass sich bei solchen Sanierungsfällen niemand Gedanken über jene Managementfragen, wie eine grundsätzliche Strategie, realistische Umsatzerwartungen oder effiziente Organisationsstrukturen, machte, deren Nichtbeantwortung jedoch viele dieser Krisen hervorgerufen hatte. Folglich schloss Marvin Bower, dass es eines professionellen Unternehmens bedurfte, das sich auf genau solche Managementaspekte spezialisierte, und erkannte dieses in der aufstrebenden Beratung von James O. McKinsey. Als dieser Bower schließlich ein konkretes Angebot für eine Beratertätigkeit in der New Yorker Zweigniederlassung machte, zögerte letzterer nicht lange und beschloss Ende 1933 die große Chance wahrzunehmen. Er war fest entschlossen James O. McKinsey & Company zu jener Art von Firma zu entwickeln, die ihm in seinen Gedanken vorschwebte und sollte darin viel von dem Professionalismus einfließen lassen, den er durch seine Tätigkeit als Jurist gelernt hatte. Mit hohen Ambitionen ausgestattet musste Bower jedoch zunächst feststellen, dass sich McKinsey unter keinen Umständen von seinem eigentlichen Kerngeschäft der Rechnungslegung und Buchprüfung entfernen wollte und konnte diesen erst von den eigenen Vorstellungen überzeugen, als er 1934 die Leitung des New Yorker Büros erhielt. In dieser Position erhielt Bower freie Hand und begann fortan stärker in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten, wie er es als Jurist durch das Publizieren von

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fachspezifischen Artikeln sowie das Engagement in sozialen Gremien gelernt hatte. Sich als Managementberatung zu etablieren, war aber schwer, da Berater zu dieser Zeit primär mit operativen Effizienzsteigerungsprogrammen assoziiert wurden und jedem Unternehmen, das diese engagierte, betriebswirtschaftliche Angeschlagenheit unterstellt wurde. Bower nahm sich daher vor, bei jeder sich bietenden Gelegenheit exzellente Beratungsleistungen zu erbringen, um dadurch das eigene Geschäft über individuelle Empfehlungen auszubauen. Noch im gleichen Jahr gelang es jedoch James O. McKinsey einen umfassenden Auftrag von dem renommierten Handelskonzern Marshall Field & Co. zu erhalten, was für das eigene Beratungsfirma nicht nur das größte Projekt bis dato sein sollte, sondern auch deren weitere Entwicklungsgeschichte nachhaltig beeinflussen würde. So war Marshall Field & Co. über lange Jahre ein florierendes Unternehmen, das neben seinem ursprünglichen Geschäft im Einzelhandel auch ein zweites Standbein im Großhandel erfolgreich aufbaute und sich so in den USA als eines der führenden Handelshäuser etablierte. Jedoch nicht nur das angesehene Renommee machte diesen Auftrag so bedeutend, sondern vor allem die starke Unternehmenskultur von Marshall Field & Co., in der ausschließlich auf gewachsene Führungskräfte vertraut wurde, die sich intern hochgedient hatten, aber keinesfalls externe Berater akzeptiert wurden, die sich gezielt einbrachten. Umso erstaunlicher war es also als Marshall Field III. sich als Familienoberhaupt und Aufsichtsratsvorsitzender in einer massiven Krisensituation dafür aussprach, James O. McKinsey zu holen, der aufgrund dessen die große Chance sah sein eigenes Beratungsunternehmen besser zu etablieren. Obwohl die gesamte Führungsmannschaft bei jeder Gelegenheit versuchte diesen zu behindern, ließ sich McKinsey mit seinem Team in den dreimonatigen Analysen nicht beirren und kam mit seinem Fokus auf Zahlen, Daten und Fakten zu dem Fazit, dass Marshall Field & Co. sein US-amerikanisches Großhandelsgeschäft schließen sollte. Es war nahe liegend, dass McKinsey mit dieser einschneidenden Empfehlung auf großen Widerstand stoßen sollte und alle Führungskräfte dieser nicht folgen wollten, was diesen aber ohne jegliche Rücksicht auf mögliche Konsequenzen für sein eigenes Beratungsunternehmen nicht von seinem Entschluss abbringen konnte. Da Marshall Field III. aber McKinsey vertraute, bot er diesem 1935 an, die Leitung des gesamten Konzerns zu übernehmen und die empfohlenen Maßnahmen umzusetzen. Nach wie vor von der grundsätzlichen Idee das eigene Beratungsunternehmen so besser zu etablieren, wollte McKinsey diese einmalige Herausforderung annehmen und nach der erfolgreichen Umsetzung, wieder in die Beratung zurückkehren. James O. McKinsey entschied sich also die angebotene Stelle anzunehmen und löste in nur sechs Monaten den gesamten US-amerikanischen Großhandel auf. Es gelang ihm damit Marshall Field & Co. wieder zu einem profitablen Unternehmen zu machen, auch wenn ihm dabei einige unternehmerische Fehler unterliefen, die aber

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zusammen mit seinem arroganten Auftreten unliebsame Konsequenzen nach sich zogen. So schaffte es der brillante Analytiker 1937 zwar schon einen deutlichen Gewinn von 3 Mio. $ auszuweisen, musste jedoch bei der genaueren Einsichtnahme durch den Aufsichtsrat fatale Fehlentscheidungen eingestehen, die Marshall Field III. nicht zuletzt wegen des dozierenden Führungsstils von McKinsey schließlich dazu bewogen, diesem die bevorstehende Trennung mitzuteilen. Dazu kam es aber nicht mehr, weil James O. McKinsey am 30. November 1937, von seiner strapaziösen Arbeit gezeichnet an den Folgen einer Lungenentzündung verstarb. Die negativen Schlagzeilen, die aus McKinsey's Arbeit bei Marshall Field & Co. resultierten, wirkten sich indes auf dessen ehemaliges Beratungsunternehmen aus, das er selber 1935 nach Annahme seiner Führungsposition mit Scovell, Wellington & Company, einer Wirtschaftprüfungskanzlei, zusammenführte. Aus dieser Fusion gingen damals die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Scovell, Wellington & Company und die Managementberatung McKinsey, Wellington & Company hervor, wobei sich letztere aus drei Niederlassungen zusammensetzte. Während die beiden Büros in Chicago, das aus James O. McKinsey & Company hervorgeht, sowie in Bosten, das von Scovell, Wellington & Company abstammt, in ihrer ursprünglichen Form in das neue Beratungsunternehmen eingingen und von Andrew Thomas Kearney sowie von Dick Fletcher geleitet wurden, erfolgte nur in zwei Büros in New Yorker die effektive Zusammenlegung der beiden Ursprungsunternehmen. Die Leitung dieser neuen Niederlassung übernahm der erfahrene Horace G. Crockett von Scovell, Wellington & Company, der mit Marvin Bower gut harmonierte und sich gemeinsam mit diesem entschloss, repräsentative Büroräumlichkeiten an der Wall Street anzumieten, um die nach wie vor ehrgeizigen Pläne, nämlich ein angesehenes Beratungsunternehmen zu etablieren, zu unterstützen. Dieses kostspielige Unterfangen machte sich nicht nur durch ein umfangreiches Projekt für die US Steel Corporation bezahlt, sondern trug allgemein zur steigenden Auftragslage auf immer höheren Niveau bei, durch die einige Zeit lang latente Spannungen im fusionierten Gesamtunternehmen überbrückt werden konnten. Diese rührten in erster Linie aus dem Büro in Chicago, wo das bestehende Management nicht mit dem neuen Chef Oliver Wellington, und dieser wiederum nicht mit der aus der Fusion hervorgehenden Neukundenzahl zufrieden waren. Als Anfang Oktober 1937 schließlich auch noch der große Beratungsauftrag der US Steel Corporation wegfiel und zudem Ende November 1937 der plötzliche Tod von James O. McKinsey bekannt wurde, dauerte es nicht mehr lange, bis die negativen Schlagzeilen um dessen Tätigkeit bei Marshall Field & Co. die neue Beratungsfirma McKinsey, Wellington & Company 1938 in die Verlustzone treiben sollten. Aufgrund dessen ergreift Marvin Bower 1939 schließlich die Initiative und beginnt an der erneuten Reorganisation zu arbeiten.

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Während sein erster Vorschlag noch an den Bedenken der Chicagoer Partnergruppe rund um Kearney scheiterte, wurde der zweite Plan von allen Beteiligten akzeptiert. In diesem sah Bower zwar ebenso wie im ersten vor, dass die Wirtschaftsprüfung und die Managementberatung fortan getrennte Wege gehen sollten, brachte aber für die letztere die entscheidende Modifizierung ein, zwei grundsätzlich eigenständige, aber dennoch verbundene Beratungsunternehmen zu gründen. Daraus geht erstens die Wirtschaftsprüfung Scovell, Wellington & Company hervor, die Wellington so weiterführen sollte, wie diese vor der Fusion bestanden hatte. Zweitens sollten die Büros in New York und Boston zusammen eine neue Beratungsfirma ergeben, die unter dem Namen McKinsey & Company firmieren würde, von Crockett geleitet werden sollte und der Bower und Fletcher als Partner angehören würden. Drittens sollte der ursprüngliche Hauptsitz in Chicago eine zweite Beratungsfirma werden, die McKinsey, Kearney & Company heißen würde und unter der Leitung von Kearney in enger Verbindung mit McKinsey & Company stehen sollte. Nun konnten Bower, Crockett und Fletcher beginnen ihre nach wie vor ehrgeizigen Ziele – zur führenden Managementberatung zu werden mit zahlreichen Büros, professionellen Standards, den qualifiziertesten Mitarbeitern sowie den renommiertesten Klienten – zuerst in den USA und dann weltweit, so wie sie es wollten, zu verfolgen und zu realisieren. Aufgrund der spärlichen Kapitalbasis kämpfte man zunächst noch um das kurzfristige Überleben, das jedoch durch moderate Gewinne in den ersten beiden Jahren schnell gesichert war. So begann das Geschäft trotz des zweiten Weltkrieges langsam, aber vor allem an der Westküste zu wachsen, sodass man sich 1944 entschloss in San Francisco ein weiteres Büro zusammen mit den Chicagoer Kollegen zu eröffnen. Dies sollte aber die einzige gemeinsame Aktivität bleiben, weshalb sich Bower nach Kriegsende vor dem Hintergrund, dass sich die beiden Beratungsfirmen mittlerweile um einzelne Aufträge konkurrierten, entschlossen zeigte, die beiden Unternehmen zusammenzuführen. So arbeitete er ein detailliertes Konzept aus, dessen finanzielle Arrangements sich an den bestehenden Umsätzen orientierten, das aber von den Chicagoer Kollegen nicht akzeptiert wurde. Aufgrund dessen entschieden sich die Partnerkollegen um Bower die bestehende Verbindung zu lösen und ein eigenes Büro in Chicago zu eröffnen. Um dort sowie am gesamten Beratungsmarkt keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, verhandelte Bower mit Kearney persönlich 1946 eine wichtige Vereinbarung aus, nämlich dass dieser den Namen McKinsey streichen und fortan unter A.T. Kearney & Company (vgl. Kapitel 3.1.4) firmieren würde. Von nun an schien sich der rasche Expansionskurs von McKinsey & Company durch nichts mehr aufhalten zu lassen. Der Gründung des Büros in Chicago 1947 folgt ein weiteres 1949 in Los Angeles und schließlich noch eines in 1951 in Washington und damit ein rasches Wachstum in den USA, das 1956 auch den ersten internationalen

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Auftrag zufolge hatte. Dieser erging von Royal Dutch Shell, das eine umfangreiche Analyse der gesamten Strukturen der größten Konzerntochter in Venezuela erhalten wollte, was McKinsey zufriedenstellend erfüllte und deshalb einen weiteren Auftrag für eine globale Analyse erhielt. Daraus folgt 1959 schließlich die Eröffnung des ersten Büros außerhalb der USA in London und damit auch die globale Expansion, wobei jedoch Status sowie Reputation im Vordergrund standen und Umsatz sowie Gewinn als Folgeerscheinung betrachtet wurden. Während dieser Zeit prägte Bower die Unternehmenskultur der Firma, wie McKinsey intern oft genannt wird, intensiv, indem er nicht nur professionelle Wert und ethische Standards formulierte, sondern auch eine formale Geschäftssprache sowie einen 'beratertypischen Dresscode' einführte. Er orientierte sich bei alledem sehr stark an seinem früheren Berufsstand der angesehenen Anwälte und vertrat vor allem die Ansicht, dass das Interesse des Klienten stets an erster Stelle steht, aber gleichzeitig von McKinsey nur jene Aufträge angenommen werden dürfen, die aus Kundensicht tatsächlich notwendig sind. Dies durfte nach Bowers hohen Ansprüchen aber auch nur dann geschehen, wenn man die erforderlichen Qualifikationen besaß, ansonsten musste eine konsequente Ablehnung erfolgen. Darüber hinaus war Bower auch fest davon überzeugt, dass es für McKinsey & Company erstens besser wäre, intelligente Nachwuchskräfte einzustellen, als erfahrene Manager aufzunehmen und zweitens sinnvoll ist, sich von jenen Kollegen zu trennen, die in einem gegebene Zeitfenster nicht bestimmte Entwicklungsschritte aufweisen konnten. Dies ist das so genannte 'Up-or-Out-Prinzip' mit dem Bower, so wie mit seinen anderen Vorstellungen, nicht nur McKinsey, sondern die gesamte Beratungsbranche prägte. Aber auch dessen Kollegen setzen in den folgenden Jahren weitere Akzente für die gesamte Branche als sich McKinsey etwa Ende 1970er Jahre mit dem neuen Modell der aufstrebenden Boston Consulting Group (vgl. Kapitel 3.1.5) konfrontiert sieht, die auf fachspezifische Experten und nicht wie man selbst bis dato auf umfangreiche Generalisten setzte. Auf diese vertraute McKinsey & Company traditioneller Weise in der festen Überzeugung, dass gut ausgebildete Berater den größten Mehrwert schaffen würden, wenn sie nicht versuchten, vorgefertigte Managementmethoden auf die spezifische Klientensituation zu übertragen, sondern jedes Klientenproblem grundlegend analysierten und dann individuell lösten. Der direkte Wettbewerber aus Bosten zeigte aber auf, dass es auch möglich war, vorgefertigte Analyseinstrumente auf strategische Probleme anzuwenden und für spezifische Fragestellungen explizite Experten einzufliegen. Veranlasst dadurch begann McKinsey sein eigenes Wissen besser aufzubereiten und führte nach intensiven Überlegungen sowie skeptischen Diskussionen nicht nur ein professionelles Wissensmanagement ein, sondern auch eine damit einhergehende Reorganisation durch. Nur durch intensive Bemühungen wurde es möglich die starke Kultur, in der individuelle Lösungen das Maß aller Dinge

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waren, zu ändern und eine neue Matrixstruktur zu etablieren, deren beide Achsen aus branchenorientierten Praxisgruppen sowie durch funktionsbezogene Bereiche gebildet werden sollten. Diese neuen Wissensquellen halfen ab Anfang der 1980er Jahre nicht nur den internen Wissensaustausch zu verbessern, sondern wurden auch für externe Publikationen genutzt, woraus das renommierte McKinsey Quarterly als das heute bekannteste Beratungsjournal ebenso profitierte, wie zahllose Bücher, die von unterschiedlichen McKinsey-Beratern – etwa der mehrjährige Bestseller In Search of Excellence160 – verfasst wurden. Dieses gezielte Wissensmanagement sollte schließlich noch bis weit in die 1990er Jahre einen wesentlichen Fokus von McKinsey & Company darstellen und nachhaltig dazu beitragen, dass die globale Expansion zügig voranschritt. Abschließend bleibt festzuhalten, dass wohl kaum eine andere Beratungsfirma die gesamte Branche so entscheidend geprägt hat, wie McKinsey & Company. Nicht nur, dass man so wie Arthur D. Little und Booz Allen Hamilton streng analytische und hoch individuelle Lösungen für spezifische Probleme außerhalb der jeweiligen Klientenorganisation erarbeitet, sondern es wurden auch erstmals professionelle Werte formuliert, junge Toptalente rekrutiert, ein konsequentes 'Up-or-Out-Prinzip' eingeführt, gezielte Schulungen abgehalten und ein explizites Wissensmanagement etabliert. Alles zusammen führte schließlich dazu, dass die Partner um Marvin Bower ihr ehrgeiziges Ziel, die renommierteste Beratungsfirma der Welt zu werden, bis heute erreicht haben. 3.1.4 A.T. Kearney161 Die grundlegende Entstehung des Beratungsunternehmens A.T. Kearney ist, wie bereits aufgezeigt, bis 1946 sehr eng mit der dynamischen Entwicklungsgeschichte von McKinsey & Company (vgl. Kapitel 3.1.3) verbunden und verwoben und weist im Endeffekt die selben Wurzeln auf. Als Marvin Bower im genannten Jahr mit Andrew Thomas Kearney zu dem beiderseitigen Übereinkommen gelangt, dass die bis dahin nur mehr lose kooperierenden Beratungsunternehmen McKinsey & Company und McKinsey, Kearney & Company endgültig getrennte Wege gehen würden und von da an unter den Namen McKinsey & Company sowie A.T. Kearney firmieren würden, hatte letztere schon eine 20-jährige Geschichte vorzuweisen, deren wichtigste Eckpunkte noch einmal kurz skizziert werden sollen. Diese gemeinsame Entwicklungsgeschichte beginnt bei dem ursprünglich von James O. McKinsey 1926 in Chicago gegründeten Beratungsunternehmen, James O. McKinsey & Company, dem Andrew Thomas Kearney 1929 nach seinem Austritt als

160 161

Peters/Waterman (1982) Vgl. Fink (2003), S. 88 ff.

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Markforschungsleiter von Swift & Company, einem der größten Fleischproduzenten der damaligen USA, als erster Partner beitritt. Kearney ist fortan untrennbar mit der gesamten Entwicklung des Chicagoer Büros von James O. McKinsey & Company verbunden und übernimmt schließlich auch dessen Leitung nach dem Austreten von McKinsey 1935, als dieses im Rahmen der Fusion mit Scovell, Wellington & Company auch zum Hauptsitz der entstehenden Managementberatung McKinsey, Wellington & Company wird. Deren geschäftsführender Partner, Oliver Wellington, pflegte einen rigiden Führungsstil, mit dem vor allem Kearney im Laufe der Zeit immer unzufriedener wurde, was zunächst jedoch noch durch die erfolgreiche Geschäftsentwicklung kaschiert werden konnte. Als 1937 aber ein umfassender Beratungsauftrag der US Steel Cooperation, der von Scovell, Wellington & Company akquiriert wurde, beendet und die negative Presse des überraschend verstorbenen McKinsey's über dessen Arbeit bei Marshall Field & Co. publik wurde, begannen die gesamten Beratungsumsätze zurückzugehen, was 1938 erste Verluste zur Folge hatte. Aufgrund dessen begannen die bis dahin schwelenden Kalamitäten endgültig zu eskalieren und Kearney, der mit seinen Kollegen in Chicago als einziges Büro effektive Gewinne erzielte, wollte neue Wege beschreiten. Seiner Auffassung nach sollten erstens die mit Scovell, Wellington & Company erfolgte Fusion wieder rückgängig gemacht, zweitens die defizitären Zweigstellen in New York und Boston geschlossen und drittens das erfolgreiche Geschäft in Chicago ausgedehnt werden. Zweiteres wurde jedoch von der Partnergruppe um Bower, abgelehnt, weshalb man sich schließlich darauf einigte, drei getrennte Unternehmen zu gründen, nämlich die Wirtschaftprüfung Scovell, Wellington & Company sowie die beiden Beratungsfirmen McKinsey & Company und McKinsey, Kearney & Company. Der Name McKinsey sollte dabei die grundlegende Kooperation der beiden Firmen nach außen darstellen, konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die internen Ziele in völlig unterschiedliche Richtungen gingen. Während die Partnergruppe um Bower ein schnelles Wachstum in den USA und die gezielte Unterstützung der verantwortlichen Topmanagements beratener Klienten anstrebte, zogen Kearney und seine Partner eine kontinuierliche Entwicklung in Chicago und die umfassende Beratung ihrer lokalen Kunden im operativen Bereich vor. Zufolge dessen kam es 1946 schließlich auch zur eingangs erwähnten Trennung und damit zur endgültigen Bildung von A.T. Kearney. Diesen lokalen Fokus behielt A.T. Kearney auch für die nächsten 15 Jahre bei, ehe 1961 ein zweites Büro in Washington eröffnet wurde. Von da an fand allerdings eine gezielte Expansion statt, die bereits 1964 mit der Gründung des ersten europäischen Büros in Düsseldorf internationale Maßstäbe annimmt. Diesem Büro sollten bis zum Ende der 1970er Jahre trotz der maroden Weltwirtschaft noch weitere acht in den USA, sechs in Europa sowie eines in Japan folgen und damit die intensivste

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Wachstumsphase von A.T. Kearney in den 1980er Jahren einleiten. Diese kann man vor dem generellen Hintergrund der zunehmenden Anerkennung von Beratern sowie der steigenden Bedeutung des Dienstleistungssektors vor allem auf die traditionellen Stärken im Prozessmanagement sowie in der Informationstechnologie zurückführen, die beide aus dem ursprünglichen Fokus auf den operativen Bereich hervorgehen. Diese beiden Kernkompetenzen, die durch die boomende IT-Branche bis tief in die 1990er Jahre immer mehr an Bedeutung gewannen, führten 1995 schließlich auch dazu, dass sich die Partnergruppe von A.T. Kearney entschloss, das traditionelle Beratungsunternehmen an einen der weltweit führenden IT-Dienstleister, Electronic Date Systems (EDS), zu veräußern. Dieser war seit seiner Gründung 1962 extrem rasch gewachsen und suchte einen geeigneten Partner mit dem man die eigene Beratungsdivision fusionieren konnte, um endgültig das neue Geschäftsfeld der Managementberatung für sich zu erschließen. Nachdem dieser in A.T. Kearney gefunden war, verzeichnete die fusionierte Beratungsfirma in den ersten Jahren auch beachtliche Umsätze, die 1999 jedoch zufolge einer umfassenden Restrukturierung von EDS, die selbst einer der größten Kunden waren, einen empfindlichen Einbruch aufwiesen, woraus die einschneidende Entlassung von nahezu 200 Beratern folgte. Auch wenn sich A.T. Kearney über lange Zeit auf den operativen Bereich und einen geographischen Schwerpunkt fokussierte, so kann alleine schon aufgrund der selben Wurzeln wie jener des ehemaligen Schwesterunternehmens McKinsey & Company eine ähnliche Ausprägung der generellen Arbeitsweise festgestellt werden. Diese lässt sich charakterisieren durch analytische Lösungen und inhaltliche Konzepte, die für einen spezifischen Kunden erarbeitet werden, um eines seiner – in diesem Fall tendenziell – operativen Probleme zu bewältigen. Deswegen kann A.T. Kearney auch als eines jener klassischen Beratungsunternehmen betrachtet werden, das nicht zuletzt im Bereich der IT-Lösungen markant zur allgemeinen Entwicklung der gesamten Beratungsbranche beigetragen hat. 3.1.5 The Boston Consulting Group162 "Nur wenige Menschen hatten in der zweiten Hälfte der 20. Jahrhunderts einen solchen Einfluss auf die internationale Wirtschaft, wie der Gründer der Boston Consulting Group"163, kurz BCG, schrieb die Financial Times in einem Nachruf über Bruce Henderson (1915-1992), der wohl als eine der schillerndsten Persönlichkeiten in der klassischen Beratung gilt. Henderson, der selber als äußerst kreativer Kopf galt, verstand es, eine große Anzahl ebensolcher um sich zu vereinen, und legte damit ab 1963 die entscheidenden Grundsteine für jenes Beratungsunternehmen,

162 163

Vgl. Fink (2003), S. 93 ff. Fink (2003), S. 99

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das in weniger als vier Jahrzehnten zu einer der renommiertesten Beratungsfirmen der Welt avancierte und heute in einem Atemzug mit McKinsey & Company (vgl. Kapitel 3.1.3) zu nennen ist. Die Geschichte von Bruce Henderson, der erst 1959 im Alter von 44 Jahren in die Beratung wechselt, beginnt in Nashville, Tennesee im amerikanischen 'Bible Belt', wo Henderson als Sohn eines Bibelverlegers geboren wird. Dort studiert er in jungen Jahren an der Vanderbilt University Maschinenbau und ist dabei von der Schnittstelle zwischen Technik und Wirtschaft so fasziniert, dass er beschließt an der Harvard Business School in Boston ein MBA-Studium zu beginnen. Als er jedoch kurz vor seinem Abschluss ein Stellenangebot in der Einkaufsabteilung des renommierten Technologiekonzerns Westinghouse Corpration erhält, nimmt er dieses an und bricht sein Studium ab. Von nun an arbeitet er sich fleißig und zielstrebig nach oben und wird im Alter von 37 Jahren zu einem der jüngsten Vizepräsidenten der gesamten Firmengeschichte, ehe ihm 1959 eine neue Herausforderung von der Technologieund Managementberatung Arthur D. Little (vgl. Kapitel 3.1.1) offeriert wird. In diese sollte Henderson als Leiter des Geschäftsbereiches 'Management Services' eintreten und nimmt diese sich bietende Möglichkeit aufgrund der spannenden Perspektiven dann auch wahr. In dieser leitenden Position berät Henderson in den folgenden vier Jahren renommierte Kunden aus unterschiedlichen Industrien so erfolgreich, dass er 1963 von einem dieser, nämlich der Boston Safe Deposit and Trust Company, einer Bank, welche eine Tochtergesellschaft der Investmentbank The Boston Company ist, gebeten wird, eine eigene Beratungsabteilung aufzubauen. Mittlerweile schon fast 50 willigt er ein und setzt dadurch den entscheidenden Schritt zur Gründung der späteren Boston Consulting Group. Nach einigen Monaten beschließt Henderson einen weiteren Berater an seine Seite zu nehmen, mit dem er fortan zu aktuellen Managementthemen provokante Essays verfasst, die, um das eigene Beratungsgeschäft anzukurbeln, an potenzielle Klienten verschickt wurden. Diese wollten die beiden Berater mit ihren kontroversen Thesen, die heute noch unter dem Titel Perspectives publiziert werden und das Pendant zum McKinsey Quarterly bilden, anregen, über unkonventionelle Managementlösungen nachzudenken, welche für jede Unternehmensführung weitreichende Auswirkungen haben würden und auch von hoher Relevanz wären. Als konsequente Folge dieses kreativen Vorgehens veranstaltet die junge Beratung im folgenden Jahr eine erste Konferenz mit acht Teilnehmern, um weiter auf sich aufmerksam zu machen, von denen sechs innerhalb weniger Monate beschlossen, erste Beratungsprojekte in Auftrag zu geben. So begann sich das eigene Geschäft gut zu entwickeln, was dazu führte, dass 1964 bereits sechs Berater beschäftigt wurden, denen ein Jahr später weitere sechs Kollegen folgen sollten. Dennoch suchte man, um sich am damals noch stetig wachsenden Beratungsmarkt von den direkten Mitbewerbern abzuheben,

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intensiv nach einem notwendigen Differenzierungsmerkmal, das Henderson selbst mit dem Thema Strategie fand. Rund um dieses Thema sollten sich die kreativen Ideen der jungen Talente, auf die Bruce Henderson genauso vertraute, wie Marvin Bower von McKinsey & Company, in den folgenden Jahren entwickeln, in denen nicht nur revolutionäre Konzepte entstanden, sondern auch eine atemberaubende Expansion stattfand. Das rapide Wachstum von der jungen Beratungsabteilung der Boston Safe Deposit and Trust Company wurde zunächst durch gezielte Akquisitionen außerhalb der USA geprägt. So wurde bereits 1965 die Beratungsgesellschaft Pietro Gennaro Associati in Mailand aufgekauft und ein weiteres Jahr danach auch die Beratungsfirma TFM Adams in Tokio übernommen, wo man als erste westliche Strategieberatung Fuß fasste und sich intensiv mit japanischen Managementmethoden sowie fernöstlichen Produktionsmethoden beschäftigte. 1968 folgte dann noch ein Joint Venture unter dem Namen Attwood-Bosten Consultants in London, woraus weitere zwei Jahre später ebenfalls ein eigenes Büro hervorgeht, ehe es 1972 schließlich zur ersten Gründung eines vollständig eigenen Büros in Paris kommt. Diesem sollten 1974 noch eine zweite amerikanische Niederlassung in Kalifornien sowie 1975 das erste deutsche Büro in München folgen, womit die zu dieser Zeit von der Konzernmutter The Boston Company mittlerweile in ein eigenes Tochterunternehmen ausgründete Beratungsabteilung auf 150 Mitarbeiter anwuchs. Ehe diesen weltweiten Büros in den drei Jahrzehnten bis heute noch viele weitere folgen sollten, wobei auch drei weitere Beratungsfirmen – Pappas, Carter, Evans & Koop in Australien, HOLT Planning Associates in den USA sowie die Canada Consulting Group in Toronto – akquiriert wurden, eröffnete sich in diesem zwölften Jahr nach der ursprünglichen Gründung jedoch eine große Chance für die expandierende Beratungstochter. Die Muttergesellschaft bot den seit 1968 selbstständigen Beratern im Rahmen eines Mitarbeiterbeteiligungsprogrammes die Möglichkeit an, die gesamten Anteile der eigenen Beratungsfirma zu erwerben, was von den eigenen Angestellten auch wahrgenommen wurde. Im Jahr 1979, in dem Boston Consulting Group selber die erste Tochtergesellschaft Business Data Analysts gründet, wurde die gesamte Transaktion abgeschlossen und BCG in das von vielen Mitbewerbern bekannte Geschäftsmodell einer selbstständigen Partnerschaft umgewandelt, die die globale Expansion bis heute vorantreibt. Die beeindruckende Entwicklung von BCG war jedoch nur aufgrund der kreativen Ideen und revolutionären Konzepte möglich, die im Laufe der Jahre aus der eigenen Beratungsarbeit hervorgingen. Eine der bekanntesten Methoden wurde bereits in den ersten Jahren nach der Gründung von Henderson selbst entwickelt, nämlich das Erfahrungskurvenkonzept. Dieses ging 1966, in dem Jahr als BCG nach Japan expandierte und sich intensiv mit den dortigen Methoden des Managements sowie

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der Produktion zu beschäftigen begann, aus einer Studie für den bekannten Halbleiterhersteller Texas Instruments hervor, als man in der umfassenden Analyse der gesamten Produktionskosten zu ergründen versuchte, warum sich die einzelnen Angebotspreise unterschiedlicher Lieferanten für das gleiche Produkt unterschieden, obwohl nahezu identische Produktionsverfahren angewandt wurden. Die spezifische Lösung dieser interessanten Frage war vor allem vor dem wirtschaftstheoretischen Hintergrund sehr reizvoll, da diesem zufolge ähnliche Produktionsfaktoren eigentlich auch vergleichbare Produktkosten hätten ergeben müssen. Henderson entdeckte, dass die einzelnen Preisdifferenzen zwischen den jeweiligen Anbietern durch deren spezifische Produktionserfahrung – sprich je höher die Erfahrung desto niedriger der Preis – erklärt werden konnten, was in den folgenden Jahren noch in vielen anderen Studien bewiesen werden konnte. Mit diesem erkenntnisreichen Analyseergebnis konnte letztlich nicht nur erklärt werden, warum das bloße Nachbauen spezifischer Konkurrenzanlagen nicht ausreichte, um den gewünschten Markterfolg mit einem ähnlichen Produkt zu erzielen, sondern darüber hinaus schließlich auch begründet werden, was der markante Unterschied zwischen der westlich-amerikanischen sowie der östlich-japanischen Wirtschaft ist, nämlich der Stellwert der Erfahrung.164 Nicht minder bedeutend, aber wohl noch bekannter als das Erfahrungskurvenkonzept gilt es an dieser Stelle natürlich auch den zweiten BCG-Klassiker, die MarktwachstumsMarktanteils-Matrix, zu erwähnen, die auch schon 1968 in den Perspectives das erste Mal vorgestellt wurde und der bis heute noch viele weitere kreative Konzepte folgen sollten. Insgesamt lässt sich für BCG, deren vielseitige Berater oft als die kreativsten Köpfe in der gesamten Branche bezeichnet werden, festhalten, dass das von Henderson ursprünglich verfolgte Ziel sich in einer profitablen Marktnische zu etablieren erreicht und übertroffen wurde und aus seiner grundlegenden Idee eine der renommiertesten Beratungsgesellschaften weltweit entstanden ist. Genauso wie auch der direkte Mitbewerber McKinsey & Company, vertraute BCG von Beginn an auf talentierte Nachwuchskräfte und verstand es, eine bahnbrechende Vorreiterrolle für die kreative Lösung von relevante Managementfragen einzunehmen. Daraus entstanden viele Konzepte, die heute aus den Führungsebenen von kleinen Unternehmen und großen Konzernen genauso wenig wegzudenken sind wie aus den Lehrplänen renommierter Businessschulen und zahlreicher Universitäten, sodass die Boston Consulting Group sowie ihr Gründer Bruce Henderson zurecht eine tragende Rolle in der fortlaufenden Entwicklung der klassischen Beratung zugeschrieben werden kann. In dieser haben sie vor allem noch in Bezug auf globales Wachstum einen Meilenstein gesetzt, indem BCG als erstes Beratungsfirma intensiv über Akquisitionen expandiert hat.

164

Umfassende Ausführungen dazu finden sich etwa in Nonaka/Takeuchi (1995)

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3.1.6 Roland Berger Strategy Consultants165 Während alle bisher beschriebenen Beratungsunternehmen ihre meist tiefen Wurzeln im traditionellen Mutterland der klassischen Beratung, den USA, haben, gelang es in den vergangen bald vier Jahrzehnten auch einer deutschstämmigen Beratungsfirma in dieser weltweiten Branche immer mehr mitzumischen. Die Rede ist von Roland Berger Strategy Consultants, jenem klassischen Beratungsunternehmen, das 1967 vom gleichnamigen Berater Roland Berger (geb. 1937) in der bayrischen Hauptstadt München gegründet wurde. Er markierte damit den grundlegenden Ausgangspunkt für die fortwährende Entwicklung eines der größten globalen Beratungsunternehmen, das nicht US-amerikanischen Ursprungs ist. Die eigentliche Beratungsgeschichte von Roland Berger, der als Sohn bayrischer Eltern in Berlin zur Welt kam, beginnt nach seinem betriebswirtschaftlichen Studium an der Ludwig-Maximilians Universität in München jedoch schon 1962, als er direkt nach seinem Abschluss als Jahrgangsbester bei der italienischen Beratungsfirma Pietro Gennaro Associati in Mailand einsteigt. Als diese drei Jahre später von dem damals selber noch kleinen Bratungsunternehmen der Boston Consulting Group (vgl. Kapitel 3.1.5) aufgekauft wird, nützt Berger die sich bietende Gelegenheit, um auch internationale Erfahrung in den USA zu sammeln. Nachdem er schließlich auch zum teilhabenden Partner gewählt wird, fasst er 1967 einen weitreichenden Entschluss und verlässt die dynamische wachsende BCG, um seine eigene Beratungsfirma mit weltweitem Hauptsitz in München aufzubauen. Somit war der entscheidende Schritt gesetzt, um das erste deutschstämmige Beratungsunternehmen zu gründen, das in den folgenden Jahren eine weltweite Expansion schaffte und es fertig bringen sollte, sich im überschaubaren Kreis der globalen Managementberatungen zu etablieren. Während sich Berger zu Beginn noch auf Strategie und Marketing fokussierte, wuchs er aufgrund reger Nachfrage und hochkarätiger Kunden recht schnell, sodass er in den 1970er Jahren bald die gesamte Palette der klassischen Beratungsleistungen anbieten konnte. In dieser Zeit gründet er 1972 bereits eine Tochtergesellschaft, Roland Berger Market Research, um einzelne Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen mit spezifischen Marktinformationen zu versorgen, und eröffnet in Folge auch sein zweites europäisches Büro in Mailand, dem 1976 die erste internationale Niederlassung in São Paulo folgen sollte. Das rasche Wachstum der als klassische Partnerschaft geführten Beratungsfirma sollte auch in den 1980er Jahren anhalten, in denen Roland Berger einen strategischen Schachzug durchführte. Er suchte einen einflussreichen Partner, um das eigenen Geschäft weiter zu expandieren, den er 1987 in der Deutschen Bank auch fand. Gemeinsam teilte man die grundlegende

165

Vgl. Fink (2003), S. 100 ff.

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Ansicht, dass die klassische Managementberatung die logische Fortführung eines expandieren Bankgeschäftes sei, um so als modernes Finanzinstitut auch einzelne Geschäftskunden bei Börsengängen oder Fusionen begleiten zu können. Aufgrund dessen erwarb die Deutsche Bank zunächst 24 Prozent von Roland Berger & Partner, wie das Beratungsunternehmen damals noch hieß, und stockte diesen Anteil 1988 schließlich auf 75,01 Prozent auf. Auch wenn aus diesem gelungenen Expansionsschritt wichtige Wachstumsimpulse auf nationaler sowie internationaler Ebene für das gesamte Beratungsunternehmen hervorgingen, so versperrte man sich doch den essenziellen Zugang auf den US-amerikanischen Beratungsmarkt, der der weltweit größte und wichtigste ist.166 In Anbetracht dieser selbst auferlegten Wachstumsbeschränkung konzentrierte man sich daher Anfang der 1990er Jahre auf internationaler Ebene auf die gezielte Expansion Richtung Osten und übernimmt die japanische Beratung Vaubel & Partners in Tokio, während man auf der nationalen Ebene durch die deutsche Wiedervereinigung ein starkes Wachstum verzeichnet. Als sich die eingegangene Partnerschaft mit der Deutschen Bank gegen Ende der 1990er jedoch weniger gut entwickelt, als erwartet, und noch dazu auch von einigen Kunden als negativ bewertet wird, entschließt sich die gesamte Partnerschaft zu einem Management Buyout, um dadurch auch den lange Zeit blockierten Eintritt in den US-amerikanischen Beratungsmarkt zu ermöglichen. So kauft man den größten Teil der an die Deutsche Bank veräußerten Anteile 1998 zurück, ehe man zwei Jahre darauf den fehlenden Rest erwirbt und Roland Berger & Partner damit wieder in eine völlig unabhängige Partnerschaft zurückführt. Somit steht auch dem angestrebten Eintritt in den US-amerikanischen Beratungsmarkt nichts mehr entgegen, worin man sich 1999 endgültig etabliert und fortan die höchsten Wachstumsraten – weit über 50 Prozent – aller internationalen Niederlassungen verzeichnet. Im gleichen Jahr wird schließlich noch ein Spin-Off des amerikanischen Konkurrenten Booz Allen Hamilton in Großbritannien akquiriert, um auch das europäische Geschäft gezielt auszubauen. Aus der jüngsten Vergangenheit resultieren schließlich auch die neue Corporate Identity sowie der damit einhergehende Namenswechsel zu Roland Berger Strategy Consultants, was signalisieren sollte, dass man sich fortan in der ersten Riege der globalen Beratungsbranche positioniert. Ebendort reiht sich Roland Berger Strategy Consultants als unabhängige Partnerschaft mit den gleichen Charakteristika wie seine unmittelbaren Wettbewerber ein. Diese wählen alle den analytischen Zugang zu spezifischen Klientenproblemen und versuchen ebendiese mittels junger Talente sowie erfahrener Partner zu lösen, die dabei von intensivem Wissensmanagement unterstützt und nach konsequenten Beurteilungsprozessen befördert werden.

166

Der 'Bank Holding Company Act' verbietet jeder Beratung, die sich zu 25 Prozent oder mehr in der Hand einer Bank befindet, in den USA aktiv zu werden.

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3.1.7 Fazit über historische Wurzeln der klassischen Beratung Betrachtet man die historischen Wurzeln klassischer Beratung nun als ganzes, so ist aus dem geschichtlichen Entstehungszeitraum heraus die globale Industrialisierung unter dem prägenden Einfluss von Frederick W. Taylor, wie eingangs erwähnt, zwar der fruchtbare Nährboden dafür, aber die tatsächlichen Grundlagen gehen auf einige wenige Persönlichkeiten zurück, deren jeweilige Herkunft sich sowohl geographisch als auch fachlich sehr eng fassen lässt. Als geographische Bezugspunkte ergeben sich innerhalb der USA zunächst zwei Städte, nämlich Boston und Chicago, in denen die ersten Beratungsunternehmen gegründet wurden, die eindeutig der klassischen Beratung zuzurechnen sind und es bis heute zu einer globalen Präsenz sowie markantem Image gebracht haben. Während es sich dabei in Boston 1886 um Arthur D. Little handelt, woraus in den weiteren Jahrzehnten im Endeffekt die Boston Consulting Group abstammt, aus der wiederum Roland Berger Strategy Consultants sowie Bain & Company167 hervorgeht, so sind dies in Chicago 1914 Booz Allen Hamilton und 1926 James O. McKinsey & Company, die zwanzig Jahre später in McKinsey & Company sowie A.T. Kearney geteilt wird. Geht man von diesem Punkt aus auf die wegbereitenden Gründerpersönlichkeiten ein, so kann deren fachlicher Hintergrund wiederum nach zwei Grundrichtungen, der Technik sowie der Wirtschaft, unterschieden werden, die sie sich durch ihre individuellen Studien an den damals schon renommierten Universitäten der genannten Städte aneigneten und somit direkt in ihre eigenen Unternehmen einbrachten. Auf der technischen Seite befinden sich etwa die Ingenieure Arthur D. Little und Bruce Henderson, während dabei auf der wirtschaftlichen Seite unter anderem die Ökonomen Edwin Booz und Roland Berger sowie die Wirtschaftsprüfer James O. McKinsey und Arthur Andersen168 aufscheinen. Bei all den genannten Personen handelt es sich also um fachspezifische Experten, die gemäß ihrer individuellen Ausbildung unterschiedliche Analysetätigkeiten als externe Dienstleistung in diversen Themenfeldern für ihre jeweiligen Klienten aus verschiedenen Industrien anboten. Aus dem geschilderten Zusammenhängen geht klar hervor, dass sich die einzelnen Pioniere mit inhaltlichen Themenstellungen auseinandersetzten, weil sie einerseits die dafür erforderlichen Fähigkeiten besaßen sowie andererseits auch die daraus resultierenden Erkenntnisse verkaufen konnten. Diese inhaltsorientierte Arbeit war alleine schon aufgrund der damaligen Denkweise implizit durch das mechanistische Paradigma geprägt, was sicherlich auch durch die kurzfristigen Tätigkeiten einzelner

167 168

Vgl. Fink (2003), S. 124 ff. Wie Fink (2003), S. 137 ff., ausführt, ist dieser einer der Begründer von Andersen, DeLany & Co., einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft die sehr bald unter dem Namen Arthur Andersen & Co. firmiert, aus der in weitere Folge wiederum die Beratungsgesellschaft Andersen Consulting hervorgeht, die heute letztlich als Accenture bekannt ist.

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Personen, wie etwa Booz und McKinsey, für die US-amerikanische Armee zusätzlich begünstigt wurde. Die allen genannten Personen unabhängig von der fachlichen Ausbildung in jedem Fall gemeinsame Arbeitsweise stellte Zahlen, Daten und Fakten in den allgemeinen Mittelpunkt, verarbeitete diese in umfangreichen Analysen zu problemspezifischen Lösungen, die wiederum in schriftlichen Endberichten an die beauftragenden Führungskräfte zurückgespielt wurden. Daraus resultierte letztlich ein breites Spektrum an bekannten Konzepten, praktischen Methoden und hilfreichen Instrumenten, die heute aus dem grundlegenden Standardrepertoire vieler Manager in kleinen Unternehmen sowie großen Konzerne nicht wegzudenken sind, sodass die klassische Beratung die gegenwärtige Wirtschaftswelt zweifelsohne entscheidend geprägt hat. Alles das erfolgte in spezifischen Strukturen, die sich in verschiedenen Beratungsunternehmen für die inhaltsorientierte Beratungsarbeit herausgebildet und die gesamte Branche markant geformt haben. Dazu gehören eine hierarchische Organisationsform als unabhängige Partnerschaft genauso wie die globale Präsenz durch internationale Standpunkte oder ausgeprägte Wissensmanagementsysteme zum effektiven Wissensaustausch. Von letzteren profitieren vor allem auch junge Talente, auf deren Kreativität und Wissen klassische Beratungsunternehmen zum einen grundsätzlich vertrauen, deren Arbeitsleistung und Entwicklungschancen in strikten Beurteilungsprozessen aber zum anderen auch kontinuierlich gemessen werden, um dadurch weiterführende Karriereschritte zu beeinflussen. Zusätzlich wird mit spezifischen Trainingsprogrammen und davor noch mit harten Auswahlverfahren alles dazu getan, um aus ausgezeichneten Universitätsabsolventen von vornherein nur die Besten tatsächlich zu rekrutieren, diese Elite zielgerichtet weiterzubilden und aus dieser wiederum nur die Erfolgreichsten intern zu befördern. Reflektiert man diesen historischen Hintergrund nun auf die Charakteristika der Idealtypen (vgl. Abbildung 2.7), so lässt sich für klassische Beratung leicht ersehen, woher die einzelnen Ausprägungen entlang der sieben Kategorien stammen und warum sie folglich in der Positionierung der Idealtypen (vgl. Abbildung 2.6) nur in den rechten unteren Quadranten zugeordnet werden kann. Dass Klienten nichts anderes als ein einzelnes Individuum oder eine ganze Gruppe von Individuen sein können, ergibt sich alleine aus dem mechanistischen Beratungsparadigma (vgl. Kapitel 2.2.2.1), das aufgrund der tatsächlichen Entstehungszeit der klassischen Beratung als gegeben betrachtet werden kann. Dieses impliziert natürlich, dass eine beratene Organisation als triviale Maschine verstanden und dieser demgemäß grundsätzliche Steuerbarkeit unterstellt wird, weshalb bei klassischer Beratung nur die relevanten Personen jenes gesamten Klientensystems integriert werden, welche auch steuern können, nämlich einzelne für die Entscheidung relevante Führungskräfte. Für diese entstehen dem inhaltsorientierten Beratungsfokus (vgl. Kapitel 2.2.1.1) entsprechend mit der klassischen Beratungskompetenz zur Lösung fachlicher Themen durch

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inhaltliche Beiträge unter Einbezug von Klienteninformationen Lösungen außerhalb des Klientensystems, was wiederum ausschließlich nach dem mechanistischen Beratungsparadigma möglich ist. Demzufolge ist der Berater primär verantwortlich für den Inhalt der Veränderung, während dem Klient die Rolle der Entscheidung über die inhaltliche Empfehlung zukommt, wobei der Veränderungscharakter revolutionär ist und vorwiegend vom Berater vorgegeben wird.

3.2 Historische Wurzeln der systemischen Beratung Als jüngste Beratungsform der prozessorientierten Beratung (vgl. Kapitel 2.2.1.2), die die generelle Gegenströmung zur inhaltsorientierten Beratung (vgl. Kapitel 2.2.1.1) darstellt, bildet sich, wie schon in der Abgrenzung des Themenfeldes (vgl. Kapitel 1.3) erwähnt, mit der zunehmenden Etablierung des systemischen Paradigmas (vgl. Kapitel 2.2.2.2), das als die revolutionäre Antwort auf das mechanistische Paradigma (vgl. Kapitel 2.2.2.1) zu verstehen ist, die systemische Beratung. Ihre historischen Wurzeln sind jedoch nicht im allgemeinen Beratungsumfeld zu suchen, sondern eher in unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen zu finden, welche alle durch ihre individuelle Beschäftigung mit disziplinspezifischen Systemen zur kontinuierlichen Entstehung verschiedener Systemtheorien beigetragen haben und damit ab Anfang der 1980er Jahre den fruchtbaren Nährboden für systemische Beratung bilden. Generell gilt es sich, bevor auf systemische Beratung selbst eingegangen werden kann, zunächst einmal dem Begriff der Systemtheorie zu widmen, für den festgestellt wird, dass es in der vorhandenen Literatur keine einheitliche und allseits anerkannte Beschreibung oder auch Definition gibt. Vielmehr taucht der Systembegriff in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen auf und kann daher als gemeinsamer Überbegriff gesehen werden, sodass es aber 'die' Systemtheorie nicht gibt etwa Wimmer schreibt: "Denn es gibt 'die' Systemtheorie nicht!

Was es gibt, sind interessante

Denkansätze in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, die sich wechselseitig enorm befruchten und in ihrer Gesamtheit eine geänderte Auffassung von Wirklichkeit, ein neues Weltbild entstehen lassen."169

Dass der Systembegriff somit zwangsläufig unscharf ist, unterstreicht auch die grundsätzliche Ansicht von Saldern, der in Anlehnung an Lenk die Systemtheorie als Sammelreservoir für theoretisch und methodisch unterschiedliche Modellansätze sieht.170 Um das betrachtete Themengebiet aber im beratungsspezifischen Kontext etwas zu strukturieren, ist es zunächst nach Luhmann und dessen soziologischer Systemtheorie (vgl. Kapitel 3.2.8) hilfreich technische, biologische, psychische sowie 169 170

Wimmer (1992a), S. 82 Vgl. Saldern (1998), S. 60

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soziale Systeme zu unterscheiden, wobei letztere Gegenstand der systemischen Beratung sind und in der weiteren Diskussion betrachtet werden sollen. Für diese kann nun noch vorausgeschickt werden, dass analog zur unscharfen Beschreibung der Systemtheorie an sich auch für die systemische Beratung mehr vernebelnde als erklärende Begrifflichkeiten existieren.171 So meint Königswieser etwa, dass der systemische Ansatz zunächst eher eine Denkhaltung ist172 und auch König und Volmer konstatieren, dass sich im Grunde jeder auf systemische Überlegungen berufen kann, ohne dass dabei eine klare Begrifflichkeit oder eine eindeutige Konzeption erkennbar ist.173 Daraus folgt, dass es auch 'die' systemische Beratung nicht gibt, sondern nur von unterschiedlichen Beratern ausgearbeitet Konzepte, die von diesen als 'systemisch' bezeichnet werden.174 Um trotzdem ein grundlegendes Verständnis dessen aufzubauen, was systemische Beratung ausmacht, ist es daher unerlässlich, die gemeinsame Basis, die aus den grundlegenden Denkansätzen der großen Vielzahl von einander teilweise überschneidenden, aber grundsätzlich doch unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen resultiert, zu diskutieren, wobei anhand der folgenden Darstellung die teilweisen Wechselbeziehungen schematisch skizziert werden sollen.

Systemisches Paradigma Radikaler Konstruktivismus Chaostheorie

Kybernetik Systemische Kommunikationstheorie

Systemische Beratung

Syst. Familientherapie Systemische Familientherapie Allgemeine Systemtheorie Soziologische Systemtheorie Autopoiesekonzept

1940

1950

1960

1970

1980

1990

Abbildung 3.1: Historische Wurzeln der systemischen Beratung 171 172 173 174

Vgl. Wimmer (1992b), S. 62 Vgl. Königswieser/Exner/Pelikan (1995), S. 57 Vgl. König/Volmer (2000), S. 24 Vgl. Groth (1996), S. 10

2000

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Den allgemeinen Rahmen für die generelle Entstehung der systemischen Beratung bildet also das systemische Paradigma aus dem sich die diversen Theoriestränge entwickeln und das mit den diversen Wissenschaftsdisziplinen immer konkreter wird. Auf deren historische Entwicklung sowie deren unterschiedliche Einflüsse soll nun in chronologischer Reihenfolge eingegangen werden, wobei auch die gegenseitigen Wechselwirkungen aufgezeigt werden sollen. 3.2.1 Radikaler Konstruktivismus Der radikale Konstruktivismus, dessen Wurzeln bis auf den deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) zurückreichen, ist jene Position der Erkenntnistheorie, die sich seit Mitte der 1940er Jahre direkt aus verschiedenen wissenschaftlichen Forschungen formiert. Es ist folglich für den Konstruktivismus175 genauso wenig wie für die Systemtheorie selbst möglich, von einem einheitlichen Theoriegebäude zu sprechen,176 sondern eher von einer Vielzahl von Einflüssen aus unterschiedlichen Wissenschaftsrichtungen. Aus diesen gilt es als Begründer und Hauptvertreter des Konstruktivismus den Sprach- und Entwicklungspsychologen Ernst von Glasersfeld (geb. 1917), den Physiker, Philosophen und Kybernetiker Heinz von Foerster (19112002), den Biologen Humberto Maturana (geb. 1928) sowie den Psychologen und Kommunikationsforscher Paul Watzlawick (geb. 1921) zu nennen. Alle genannten Personen teilen die gleiche philosophische Grundhaltung, nämlich dass der Mensch seine Wirklichkeit selbst konstruiert und keine vom Beobachter unabhängige Wirklichkeit existiert.177 Sie stellen somit die zu jener Zeit gültigen Grundprinzipien des Realismus in Frage, der beeinflusst durch das mechanistische Paradigma (vgl. Kapitel 2.2.2.1), den beobachtenden Menschen als souveränes Subjekt sieht, das der Objektwelt gegenübersteht. Es wird dabei nach dem zentralen Prinzip der Objektivität erstens davon ausgegangen, dass es eine vom jeweiligen Beobachter unabhängige äußere Welt gibt und zweitens geglaubt, dass dieser die bestehende Wirklichkeit mit seinen individuellen Sinnesorganen objektiv entdecken kann.178 Damit liegt der Fokus des Realismus auf den beobachtbaren Objekten, die mit der zentralen Fragestellung 'Was erkennt man?' adressiert werden können. Dieser realistischen Auffassung entgegen ist der Konstruktivismus der Ansicht, dass der Mensch seine Wirklichkeit subjektiv erfindet,179 wodurch ein Paradigmenwechsel

175

176 177 178 179

Für die folgenden Ausführungen werden die beiden Begriffe 'radikaler Konstruktivismus' und 'Konstruktivsmus' aus stilisitischen Gründen gleichbedeutend verwendet. Auch wenn diese stilisitische Vereinfachung in der gängigen Literatur durchaus verbreitet ist, ist doch ausdrücklich festzuhalten, dass zwischen diesen beiden Begrifflichkeiten spezifische Unterschiede bestehen, auf die etwa Schmidt (1992), S. 76, näher eingeht. Vgl. http://userpage.fu-berlin.de (07.06.2004) Vgl. http://www.uni-koblenz.de (07.06.2004) Vgl. http://de.wikipedia.org (07.06.2004) Vgl. http://de.wikipedia.org (07.06.2004)

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in der Epistemologie, das ist die Erkenntnistheorie, eingeleitet wird. Nach dieser neuen konstruktivistischen Perspektive konstruiert sich jedes beobachtende Subjekt mit seinem individuellen Erkenntnisapparat seine eigene wahrnehmungsabhängige Realität, die eine individuelle Reflektion der bestehenden Wirklichkeit ist, sodass der Konstruktivismus damit den Beobachter selber in den Mittelpunkt stellt und sich auf die Frage 'Wie erkennt man etwas?' fokussiert. Bei der Beantwortung dieser zentralen Fragestellung stützt sich der Konstruktivismus auf die Erkenntnisse der Neuropsychologie und Neurobiologie. Danach können die Nervenzellen in den Sinnesorganen ausschließlich die Intensität unterschiedlicher äußerer Reize aufnehmen und diese über einzelne Nervenimpulse an das Gehirn weiterleiten. Diesen Vorgang, bei dem im Endeffekt eine Unterscheidung zwischen einem Reiz und einem Nichtreiz getroffen wird, beschreibt Foerster, der in diesem Zusammenhang auch von 'undifferenzierter Codierung' spricht, so: "... was sie [, unsere Sinne,] erregt, können wir nie wissen; wir wissen nur, was uns unsere Sinne aus diesen Erregungen vorzaubern. [...] Wir wissen nur: Es gibt einen Reiz oder eine Störung, das ist alles, was eine Nervenzelle mitteilt; aber die Ursache dieser Störung ist unklar, sie wird nicht spezifisch kodiert."180

Das Gehirn erhält also weder spezifische Information über die Qualität – nämlich ob etwas etwa glatt oder rau, grün oder gelb, laut oder leise, usw. ist – noch über die Modalität – also ob diese Wahrnehmung mit dem Tastsinn, dem Sehsinn, dem Gehörsinn, usw. gemacht worden ist – des erfolgten Reizes, und muss, um sich ein eigenes Bild von der bestehenden Wirklichkeit zu konstruieren, dem registrierten Reiz selber ein individuelle Bedeutung geben. Diese konstruktivistische Sichtweise wirft folglich die grundlegende Frage nach der faktischen Entstehung von einzelnen Bedeutungen im menschlichen Gehirn auf und führt damit zur vielumfassenden Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Funktion desselben. Eine erste Antwort darauf liefern die Forschungsergebnisse und Theorieansätze des deutschen Biologen, Philosophen und Hirnforschers Gerhard Roth (geb. 1942), nach denen die äußeren Reize in Abhängigkeit vom auslösenden Sinnesorgan in unterschiedlichen Bereichen der menschlichen Hirnrinde verarbeitet werden. Diesen unterschiedlichen Bereichen ordnet das Gehirn wiederum verschiedene Qualitäten zu und interpretiert so den jeweiligen Reiz mit seiner eigenen Sprache. Das heißt, dass die spezifische Wahrnehmung im menschlichen Gehirn zwar durch die äußeren Reize angeregt, aber intern aus sich selbst heraus erzeugt wird. Folglich kann das Gehirn in Anlehnung an den von Humberto R. Maturana geprägten systemischen Ansatz des Autopoiesekonzeptes (vgl. Kapitel 3.2.7) als operational geschlossenes, 180

Foerster (2003), S. 15 f.

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selbstreferentielles System bezeichnet werden,181 wobei der Ausdruck 'operational geschlossen'182 jene Eigenschaft eines Systems beschreibt, nur mit seinen eigenen Zuständen zu agieren. Das System versteht demnach nur seine eigene Sprache und kann auch nur mit seinen eigenen Zuständen umgehen,183 weshalb die gesamte Umwelt keinen direkten Einfluss darauf hat, was im System selbst vorgeht. Darüber hinaus wird ein System als 'selbstreferentiell' bezeichnet, wenn es seine Zustände rekursiv bzw. zirkulär aufgrund der eigenen früheren Zustände erzeugt. Als direkte Konsequenz daraus wird das System auch selbstbestimmt bzw. autonom, was eine engere Bezeichnung für operative Geschlossenheit darstellt.184 Das heißt, dass ein autopoietisches System von seiner Umwelt nicht isoliert, aber dennoch in seiner Operationsweise abgeschlossen ist und demnach über die strukturellen Kopplung, die in Ausführungen zum Autopoiesekonzept (vgl. Kapitel 3.2.7) detailliert erläutert wird, durch die Reize der Umwelt irritiert, jedoch von diesen nicht gesteuert werden kann.185 Das Wissen über die Wirklichkeit ist somit für jeden Menschen unterschiedlich und beruht auf den persönlichen Erfahrungen sowie den individuellen Konstruktionen. Entgegen der realistischen Ansicht wird es nicht von außen passiv aufgenommen, sondern vom denkenden Subjekt aktiv aufgebaut.186 Dazu formulieren König und Vollmer, "...dass wir [Menschen] bereits dadurch, dass wir begriffliche Unterscheidungen treffen, die Wirklichkeit nicht einfach abbilden, sondern Gegenständen, Sachverhalten und Erfahrungen eine bestimmte Bedeutung geben und damit unser Bild von der Wirklichkeit erschaffen."187

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Wirklichkeit im Konstruktivismus als Konstruktionsprozess gesehen wird, nach dem die Wahrnehmung der Wirklichkeit im Gehirn des Beobachters und nicht, wie in der Auffassung des Realismus, in den Sinnesorganen erfolgt. Das Gehirn konstruiert sich also 'sein' subjektives Bild der objektiven Wirklichkeit und macht dadurch die äußere Welt für den Beobachter zugänglich,188 der die Welt so sieht, wie er sie beobachtet, nämlich als Resultat 'seiner' persönlichen Beobachtungsweise.189

181 182

183 184 185 186 187 188 189

Vgl. http://www.murfit.de (07.06.2004), S. 6 f. Das System ist nur operational, d.h. alles was die Erkenntnis anbelangt, geschlossen, energetische jedoch, d.h. z.B. die Blutversorgung betreffend, offen. Vgl. Kolbeck (2001), S. 72 Vgl. Krause (2001), S. 109 Vgl. http://www.murfit.de (07.06.2004), S. 7 Vgl. http://userpage.fu-berlin.de (07.06.2004) König/Volmer (2000), S. 21 Vgl. Kolbeck (2001), S. 73 Vgl. http://de.wikipedia.org (07.06.2004)

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3.2.2 Chaostheorie Die Chaostheorie, die in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde, geht auf den Mathematiker und theoretischen Physiker Jules Henri Poincaré (18541912) zurück. Der Franzose, der unter anderem die Planetenbahnen auf Stabilität hin untersuchte, stellte dabei fest, dass sich winzige gegenseitige Bahnstörungen aufschaukeln und damit zu unberechenbaren Veränderungen in der Bewegung der Planeten führen können. Diese Entdeckung, die man heute als Poincaré-Szenarien bezeichnet, belegte, dass ein nach festen Regeln funktionierendes, nichtlineares System vom geordneten in den chaotischen Zustand wechseln kann.190 Als Teilgebiet der klassischen Mechanik beschäftigt sich die Chaostheorie mit der Entwicklung dieser chaotischen Zustände in nichtlinearen, dynamischen Systemen. Ausgehend von dem Grundsatz, dass alles mit allem zusammenhängt, versucht sie die zeitliche Entwicklung des möglichen Systemverhaltens zu beantworten. Dieses Verhalten, das mit dem Begriff 'chaotisch' umschrieben wird, unterliegt bei den unterschiedlichen Systemen der klassischen Mechanik dem Determinismus, woraus folgt, dass solche makrokosmischen Systeme berechnet werden können, wenn alle Anfangsbedingungen exakt bekannt sind.191 Werden dem entgegen mikrokosmische Systeme betrachtet, so wird die genannte Prämisse mit dem quantentheoretischen Wissen aus der Heisenberg'sche Unschärferelation (vgl. Kapitel 2.2.2.2) sehr rasch unerfüllbar. Seit deren Entdeckung, dass Ort und Geschwindigkeit eines Teilchens aufgrund der immer vorhandenen Messungenauigkeiten zur gleichen Zeit nicht exakt bestimmt werden können, müssen beliebige Anfangsbedingungen stets als mehr oder weniger ungenau, aber können definitiv nicht als exakt betrachtet werden, was zur unweigerlichen Folge hat, dass der Determinismus kein geeignetes Prinzip mehr zur Beschreibung der Natur ist.192 Dementsprechend kann das zeitliche Verhalten eines Systems nur sehr eingeschränkt oder gar nicht berechnet werden, da dieses durch die vielfältigen Wechselwirkungen der Systemelemente untereinander selbst auf die geringsten Änderungen der Anfangsbedingungen äußerst empfindlich reagieren kann. Dieser Sachverhalt ist auch unter dem Begriff des deterministischen Chaos, der vom US-amerikanischen Mathematiker und Physiker James Yorke (geb. 1941) geprägt wurde, bekannt.193 Aus den geschilderten Zusammenhängen geht hervor, dass die Zukunft bestenfalls für kurze Zeitspannen berechenbar ist, wobei die Genauigkeit der Vorhersage von Qualität und Quantität der vorhandenen Anfangsbedingungen bestimmt wird, was

190 191 192 193

Vgl. http://members.vol.at (10.06.2004) Vgl. http://de.wikipedia.org (07.06.2004) Vgl. http://de.wikipedia.org (07.06.2004) Vgl. Mingers (1996), S. 21

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anhand des aus der Meteorologie bekannten Schmetterlingseffektes veranschaulicht werden kann. Formuliert vom amerikanischen Meteorologen Edward N. Lorenz (geb. 1917) besagt ebendieser Effekt, dass ein kleines lokales Ereignis große globale Auswirkungen, die meist unvorhersehbar sind, haben kann. Bildlich gesprochen, kann etwa der Schlag eines Schmetterlingsflügels im Amazonas-Urwald einen Orkan in Europa auslösen. Obwohl die Erkenntnisse der Chaostheorie aus Überlegungen über mechanische Systeme in der klassischen Physik hervorgegangen sind, lassen sie sich auch auf soziale Systeme, die unter anderem auch für systemische Beratung von Interesse sind, anwenden. Grundsätzlich hat die gezielte Übertragung der chaostheoretischen Erkenntnisse zwar erst begonnen,194 aber durch das erfolgreiche Hinterfragen althergebrachter Sichtweisen von Wirklichkeit hat diese Forschungsrichtung schon jetzt große Dienste für soziale Systeme geleistet. Um deren Verhalten besser zu verstehen, ist es letztlich hilfreich, diese als nichtlineare, dynamische Systeme zu betrachten, wobei die Nichtlinearitäten darin aus den vielfältigen Wechselwirkungen der einzelnen Systembestandteile untereinander resultieren, sodass die notwendigen Grundvoraussetzungen für chaotisches Verhalten erfüllt sind und dieses entstehen kann.195 3.2.3 Kybernetik Kybernetik196 ist eine übergreifende Wissenschaft, die auf den US-amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener (1894-1964) zurückgeht, und neben diesem vor allem von dem britischen Kybernetiker William Ross Ashby (1903-1972) geprägt wird. Diese historischen Ursprünge greift später der österreichische Physiker, Philosoph und Kybernetiker Heinz von Foerster (1911-2002) auf und bezeichnet diese fortan als Kybernetik erster Ordnung, welche er mit den bahnbrechenden Erkenntnissen des radikalen Konstruktivismus (vgl. Kapitel 3.2.1) zur Kybernetik zweiter Ordnung verbindet. Der Begriff der Kybernetik wird von Norbert Wiener das erste Mal im Sommer 1947 geprägt,197 als er sein gleichnamiges Buch publiziert, in dem er sich mit Steuerung sowie Kommunikation von Systemen befasst. In Anlehnung daran kann Kybernetik beschrieben werden als jene Wissenschaft, die sowohl die Steuerung und Regelung, sprich die zielgerichtete Beeinflussung, von Systemen umfasst als auch jene Informationsverarbeitungsprozesse und deren Automatisierung beinhaltet, die das Wesentliche der Steuerungs- und Regelungsvorgänge ausmachen. Dabei bezieht

194 195 196 197

Vgl. Wimmer (1992a), S. 84 f. Vgl. Zehetner (2003), S. 111 f. Abgeleitet aus dem griechischen Wort für Steuermann 'kybernetes' Vgl. Wiener (1992), S. 39

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sich Wiener auf beliebige biologische und technische Systeme, was auch der gewählte Untertitel 'Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine' seines Buches andeutet. Damit vereinigt er in dieser neuen Wissenschaft die Natur- und Ingenieurwissenschaften mit dem Ziel, die Gesetzmäßigkeiten von Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie informationsverarbeitenden Prozessen in Natur und Technik zu erkennen und diese dann bewusst zur Synthese technischer bzw. zur Verbesserung natürlicher Systeme einzusetzen.198 Das Forschungsinteresse wird folglich ausschließlich auf das Systeminnere gelegt, das nach der Leitdifferenz zwischen Teil und Ganzem betrachtet wird, weshalb unter dem Begriff des Systems auch eine aus mehreren Einzelteilen zusammengesetzte Gesamtheit verstanden wird, deren spezifisches Verhalten sich ausschließlich aus dem entsprechenden Zusammenwirken der einzelnen Elemente untereinander ergibt.199 Es handelt sich demnach, ähnlich wie im Konstruktivismus, um operational geschlossene Systeme, was den britischen Kybernetiker William Ross Ashby (19031972) dazu führt, Kybernetik als "Erforschung von Systemen, die [zwar] offen für Energie, aber geschlossen für Information, Regelung und Steuerung sind"200

zu definieren. Seiner Ansicht nach steht dabei allerdings nicht die Frage 'Was ist das Ding?', sondern 'Was tut es?' im Mittelpunkt, womit Ashby klärt, dass Kybernetik zwar eine Theorie über Maschinen ist, es dabei aber nicht um Gegenstände, sondern um Verhaltensweisen geht.201 Um dieses systemspezifische Verhalten, vor allem jenes komplexer Systeme studieren und abbilden zu können, entwickelt und definiert die Kybernetik eine Reihe von Prozessen, wie etwa Regelkreise, Rückkoppelung, Organisation oder Steuerung,202 die auch für soziale Systeme von höchster Relevanz sind. Kybernetik eignet sich demzufolge, eine große Anzahl anregender Parallelen zwischen Maschine, Hirn und Gesellschaft aufzudecken,203 wodurch letztlich auch eine Reihe von anderen Forschungsgebieten wie etwa Psychologie oder Soziologie inspiriert werden.204 Die dargestellten Ausführungen gehen jedoch davon aus, dass das Verhalten aus einer außenstehenden Position objektiv beobachtet und gesteuert werden kann, was vor dem spezifischen Hintergrund des radikalen Konstruktivismus (vgl. Kapitel 3.2.1) nicht gehalten werden kann. Dessen revolutionärer Einsicht zufolge ist die objektive 198 199 200 201 202 203 204

Vgl. http://www.kybs.de (08.06.2004) Vgl. Kolbeck (2001), S. 74 Ashby (1974), S. 19 Vgl. Ashby (1974), S. 15 Vgl. Groth (1996), S. 32 Vgl. Ashby (1974), S. 20 Vgl. Groth (1996), S. 32

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Beobachtung und Steuerung des jeweiligen Verhaltens nicht möglich, sondern nur die Konstruktion eines individuellen Abbilds, weshalb nun Heinz von Foerster für das beschriebene Prinzip den Begriff der Beobachtung erster Ordnung einführt und dann die Erkenntnisse der Kybernetik, die er fortan als Kybernetik erster Ordnung nennt, und jene des Konstruktivismus zur Kybernetik zweiter Ordnung verbindet. Diese befasst sich im Unterschied zur Kybernetik erster Ordnung nach Wiener, die sich mit beobachteten Systemen beschäftigt, mit beobachtenden Systemen. Sie geht nach Foerster davon aus, dass der Beobachter das System nicht objektiv von außen betrachten kann, sondern dieser durch seine Beschreibung des Systems selber ein Bestandteil von diesem System wird,205 sodass bei jeder weiteren Durchführung der Beobachtung damit die Rückwendung einer Operation auf sich selbst entsteht, die zu einer neuen Variation führt. Das System steuert sich demnach selbst, wodurch der Anfangswert im fortlaufenden Operieren mehr und mehr 'vergessen' wird und das Ergebnis im Grenzfall nur noch von der Operation selbst abhängt. Dieses Ergebnis, das man als Eigenwert der Operation bezeichnet, resultiert aus den konstruktiven Eigenschaften des Beobachtungsprozesses und ist damit keine Abbildung der objektiven Welt.206 Es besteht mit anderen Worten eine systeminterne Zirkularität, die als wichtigste Eigenschaft der kybernetischen Theorie betrachtet werden kann und auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht fundamental ist, was weitgehende Konsequenzen nach sich zieht. Während die Kybernetik erster Ordnung die explizite Trennung zwischen Subjekt und Objekt unterstellt sowie auf eine vermeintlich unabhängige Welt außerhalb verweist, ist die Kybernetik zweiter Ordnung eben zirkulär, sodass man sich als ein Teil der Welt zu verstehen lernt, welche man beobachten will.207 Denkt man dieses theoretische Konzept konsequent weiter, so entsteht auch erst auf der Ebene zweiter Ordnung die Möglichkeit zur Selbstreflexion gekoppelt mit der Tatsache, dass der jeweilige Beobachter für seine Beobachtungen, sein Sprechen und sein Handeln verantwortlich wird.208 Es lässt sich nun zusammenfassen, dass sich die Kybernetik zweiter Ordnung mit Systemen beschäftigt, die ihrerseits Beobachtungen durchführen und dabei der beschriebenen Selbststeuerung unterliegen. Sie berücksichtigt infolgedessen auch die kybernetische Beschaffenheit des Beobachters und beobachtet diesen, um die Logik des Systems zu verstehen.209 Diese Beobachtung kann allerdings nur als Beobachtung erster Ordnung durchgeführt werden, was in letzter Konsequenz zum Ende aller Subjekt-Objekt-Beziehungen führt.

205 206 207 208 209

Vgl. Kolbeck (2001), S. 75 http://www.murfit.de (07.06.2004), S. 3 Vgl. Foerster (2003), S. 114 f. Vgl. Foerster (2003), S. 118 Vgl. Wimmer (1992a), S. 84

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3.2.4 Allgemeine Systemtheorie Mitte des 20. Jahrhunderts, also etwa zu jener Zeit als die Kybernetik (vgl. Kapitel 3.2.2) von Norbert Wiener entsteht, begründet der österreichische Philosoph und Biologe Ludwig von Bertalanffy (1901-1972) die allgemeine Systemtheorie. Diese ist der kybernetischen Systemtheorie teilweise zwar relativ ähnlich, unterscheidet sich von dieser jedoch deutlich im grundlegenden Ansatz. Im Gegensatz zu Wiener geht Bertalanffy nicht von Maschinen, sondern von Lebewesen aus und betrachtet in seiner allgemeinen Systemtheorie nicht die Funktionsweise mechanischer Systeme, sondern den Aufbau lebender Organismen.210 Darin integriert Bertalanffy zwar vom biologischen Hintergrund herkommend die mechanistische Vorgehensgehensweise sowie deren prinzipielle Kausalität, lehnt aber die grundlegende Generalisierung der mechanistisch orientierten Systemtheorie der Kybernetik ab.211 Die umfassende Basis für seine allgemeine Systemtheorie legt Bertalanffy mit seiner systemtheoretischen Arbeit über den Organismus, in welcher er sich auf die aus der Thermodynamik vorhandenen Erkenntnissen über offene und geschlossene Systeme stützt. Daraus geht hervor, dass geschlossenen Systemen keine Energie von außen zugeführt werden kann und dass diese folglich der Entropie212 unterliegen, was in letzter Konsequenz den 'Wärmetod' des Systems bewirkt. Im Gegensatz dazu werden offene Systeme durch den Widerstand, den sie mittels ihrer Organisation gegen die Entropie leisten, charakterisiert213 und können daher Energie von ihrer Umwelt aufnehmen, was ihnen wiederum das Überleben für eine bestimmte Zeit sichert. Da Bertalanffy letztlich auch den Organismus als solch ein offenes System betrachtet, bezieht er bei dessen Betrachtung die systemspezifische Umwelt in seine grundsätzlichen Überlegungen mit ein, woraus folgt, dass sich Bertalanffy nach einer anderen Leitdifferenz orientiert als Wiener. Anstatt von diesem die Differenzierung nach Teil und Ganzem zu übernehmen, betrachtet Bertalanffy die Differenzierung zwischen einem System und seiner Umwelt und definiert damit den Organismus als ein hierarchisches, sich selbst organisierendes, lebendes System, welches sich im Fließgleichgewicht befindet.214 Die darin als Merkmal formulierte Hierarchie weist darauf hin, dass jedes System sowohl aus untergeordneten Systemen besteht als auch Bestandteil von übergeordneten Systemen ist. Systeme sind also gleichzeitig Ganzes und Teil, was am Beispiel eines Organs leicht veranschaulicht werden kann. Ein beliebiges Organ, das aus verschiedenen Zellen besteht, die sich wiederum aus

210 211 212 213 214

Vgl. http://www.hyperkommunikation.ch (09.06.2004) Vgl. http://www.loek.agrar.tu-muenchen.de (15.06.2004) Bezeichnung für den irreversiblen Prozess des Energieverlustes Vgl. http://www.loek.agrar.tu-muenchen.de (15.06.2004) Vgl. Bertalanffy (1970), S. 128 ff.

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einzelnen Zellbestandteilen zusammensetzen, ist selbst integraler Bestandteil eines ganzen Körpers, der wiederum in seine spezifische Umwelt eingebunden ist. Jedes dieser Systeme ist für sich autonom und zielorientiert, unterliegt dabei jedoch der Autonomie und der Zielorientierung des hierarchisch höheren Systems, dessen Teil es ist.215 Aus dieser systemtheoretischen Organismusauffassung entwickelt Bertalanffy Mitte des 20. Jahrhunderts schließlich seine allgemeine Systemtheorie, in der er sich mit den Eigenschaften und Prinzipien von Systemen, unabhängig von ihrer speziellen Natur und von der spezifischen Natur ihrer Komponenten, beschäftigt.216 Nach dem Leitsatz 'Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile' konzentriert sich diese allgemeine Systemtheorie auf die Anordnung der Systemelemente untereinander sowie deren Beziehung zueinander, also auf Struktur und Operationen des Systems, und nicht auf die einzelnen Bestandteile selber.217 Dieser ganzheitlichen Sicht nach, ist die Theorie von Bertalanffy bestrebt die Frage nach den Gemeinsamkeiten von Systemen, welche, so wie sie in verschiedenen Forschungsrichtungen beschrieben werden, als unterschiedlich erscheinen, zu klären und das Verhalten sowie das Überleben dieser Systeme zu verstehen.218 Sie berücksichtigt dabei auch, dass zum einen weder die Fähigkeiten noch die Eigenschaften eines Systems aus der Summe der Bestandteile abgeleitet werden können219 sowie zum anderen die zumeist existierende Unteilbarkeit des Ganzen. Das bedeutet, dass das effektive Zerlegen eines lebenden Systems in seine einzelnen Bestandteile einen irreversiblen Prozess darstellt, dasselbe später demzufolge nicht mehr zu seiner ursprünglichen Einheit zusammengesetzt werden kann, und damit unweigerlich zum Tod desselben führt.220 Es lässt sich damit resümieren, dass Bertalanffy durch umfassende Beobachtung allgemeingültiger Prinzipien in unterschiedlichsten Wissensgebieten gemeinsame Gesetzmäßigkeiten herausgearbeitet, allgemeingültige Modelle geschaffen und ein interdisziplinäres Begriffssystem formuliert hat. Seine allgemeine Systemtheorie ist demzufolge eine Metatheorie, die die Integration von verschiedenartigem Wissen ermöglicht221 und durch ihre Metasprache auch zwischen verschiedenen Systemen generelle Zusammenhänge herausarbeitet, die aus den jeweiligen Fachsprachen nicht erkennbar sind.222

215 216 217 218 219 220 221 222

Vgl. http://www.projekt-l.de (15.06.2004) Vgl. Bertalanffy (1970), S. 122 f. Vgl. http://www.gm.fh-koeln.de (15.06.2004) Vgl. Ulrich/Probst (1991), S. 19 Vgl. http://www.projekt-l.de (15.06.2004) Vgl. http://www.gm.fh-koeln.de (15.06.2004) Vgl. http://www.systemische-beratung.de (07.06.2004) Vgl. http://www.projekt-l.de (15.06.2004)

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3.2.5 Systemische Familientherapie Die Familientherapie im allgemeinen Sinne entsteht Anfang der 1950er Jahre aus einzelnen Vorstößen von unterschiedlichen Psychotherapeuten, die nicht mehr mit dem einzelnen Patienten alleine, sondern mit seiner gesamten Familie arbeiten. Die jeweiligen Therapeuten gehen dabei von der grundlegenden Annahme aus, dass die psychische Störung eines Patienten nicht physisch bedingt ist, sondern aus der Interaktion mit seinem sozialen Umfeld entsteht und aufrechterhalten wird. Damit rücken sie die Familie als System in den Mittelpunkt ihrer Arbeit und leiten auch den Übergang von der Psychoanalyse zur Familientherapie ein. Diese Entwicklung wird von mehreren Forschern an verschiedenen Instituten zunächst in den USA sowie später auch in Europa vorangetrieben und führt zur Entstehung unterschiedlicher Ansätze.223 Grundsätzlich können dabei in Anlehnung an Vollmoeller vier Ansätze der Familientherapie unterschieden werden, welche er deren jeweiligem Fokus nach als verhaltenstherapeutischer Ansatz, systemischer Ansatz, entwicklungsorientierter Ansatz sowie psychodynamischer224 Ansatz bezeichnet.225 Von diesem Quartett ist für die systemische Beratung der zweitgenannte Ansatz, der auch als systemische Familientherapie bekannt ist, von umfassender Bedeutung, weshalb in der weiteren Diskussion ausschließlich auf diesen eingegangen werden soll. Die entscheidenden Impulse für den systemischen Ansatz kommen von der USamerikanischen Forschergruppe um Gregory Bateson, Don D. Jackson und Paul Watzlawick am Mental Research Institute (MRI) in Palo Alto, Kalifornien, die mit ihrer systemischen Kommunikationstheorie (vgl. Kapitel 3.2.6) zusammen die prinzipiellen Erkenntnisse der Kybernetik (vgl. Kapitel 3.2.3) nach Norbert Wiener auf Familien übertragen. Ebendiese definieren sie in Anlehnung an die allgemeine Systemtheorie nach Bertalanffy (vgl. Kapitel 3.2.4), deren fundamentale Grundsätze auch in die familientherapeutische Forschungsarbeit einfließen, als soziale "Systeme handelnder Personen […], wobei das Verhalten eines sozialen Systems von den Personen, dem Bild, das sie sich von der Wirklichkeit machen, aber auch von den Regeln und den auf dieser Basis entstehenden Regelkreisen abhängig ist."226

Der generelle Auslöser für die therapeutische Arbeit der Forschergruppe um Bateson und Jackson sind spezifische Untersuchungen über das medizinische Phänomen der Schizophrenie, auf die man im Rahmen der umfangreichen Auseinandersetzung mit

223 224

225 226

Vgl. Kolbeck (2001), S. 86 ff. Anstatt der Bezeichnung 'psychodynamisch' wird in der Literatur mitunter auch der Begriff 'psychoanalytisch' verwendet Vgl. Vollmoeller (1989), S. 15 ff., zitiert in: Kolbeck (2001), S. 88 König/Volmer (2000), S. 35

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der systemischen Kommunikationstheorie aufmerksam geworden ist. Dabei konnte mittels systematischer Beobachtungen von schizophrenen Patienten und deren jeweiliger Familie ein grundlegender Zusammenhang zwischen dem Verhalten und der Kommunikation nachgewiesen werden, was zur weitreichenden Entwicklung des systemischen Ansatzes im weiten Feld der Familientherapie führt. Ebendieser familienspezifische Fokus wird im Laufe der Zeit auf allgemeine soziale Systeme aufgeweitet, wobei sich drei Methoden, die strategische Methode, die systemische Methode und die strukturelle Methode, herauskristallisieren,227 von denen in Hinblick auf systemische Beratung wiederum nur die mittlere relevant ist. Diese systemische Methode, die auch als systemische Therapie bezeichnet wird, beschäftigt sich damit, wie einzelne Menschen in sozialen Systemen ihre Wirklichkeit erzeugen, welche Prämissen ihrem Denken und Erleben zugrunde liegen und welche Möglichkeiten es gibt, diese Prämissen zu irritieren. Daraus ergeben sich wiederum unterschiedliche Modellen, die jeweils in eigenen Schulen entwickelt werden, wobei allen voran die Palo Alto Schule zu nennen ist, aus der wiederum die Mailänder Schule und weiter die Heidelberger Schule stark beeinflusst werden. Während das Palo Alto Modell sich am MRI rund um die systemische Kommunikationstheorie (vgl. Kapitel 3.2.6) entwickelt, sollen in der folgenden Diskussion die fundamentalen Erkenntnisse und wichtigsten Errungenschaften zunächst des Mailänder Modells sowie danach des Heidelberger Modells dargestellt werden. Die Entwicklung des Mailänder Modells, in der drei Phasen unterschieden werden können, beginnt 1967 mit der Gründung des ersten familientherapeutischen Instituts in Italien durch Mara Selvini-Palazzoli. Gemeinsam mit Luigi Boscolo arbeitet sie anfänglich nach dem psychodynamischen Ansatz, von dem die beiden aber gänzlich abkommen, nachdem sie mit Gianfranco Prata und Giuliane Cecchin 1971 die so genannte Mailänder Gruppe gründen. Diese Forschergruppe, die sich in ihrer Arbeit vor allem vom Palo Alto Modell inspirieren lässt, beginnt einen eigenen Ansatz zu entwickeln, welcher ausschließlich auf der systemischen Therapie basiert und fortan unter dem Namen Mailänder Modell bekannt ist. Dessen erste Phase nimmt ihren grundlegenden Ausgang bei der in der systemischen Kommunikationstheorie von Bateson formulierten 'Double-Bind-Hypothese'228, weshalb Familien auch nach dem kybernetischen Verständnis als sich selbst regulierende Systeme gesehen werden, deren Kommunikation durch spezifische Muster, Regeln und Gesetze beeinflusst wird. Diese Regelmechanismen, die im Lauf der Zeit in der Familie aus Versuch und Irrtum entstehen,229 führen zu symptomatischen Verhaltensweisen, die alle für sich,

227 228

229

Vgl. Weber/Simon (1988), S. 768 ff. Die psychische Störung eines Patienten ist nicht auf individuelle Probleme oder physische Ursachen zurückzuführen, sondern entsteht aus der Kommunikation innerhalb der Familie Vgl. Selvini Palazzoli (1991), S. 14

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unabhängig davon ob sie als pathologisch oder normal definiert werden, funktional sind und das System erhalten.230 Dieses wahrnehmbare Verhalten und die dahinter stehenden Mechanismen versucht ein Therapeut durch Beobachtung des Systems von außen, also durch eine Beobachtung erster Ordnung, zu verstehen und aufbauend darauf eine Veränderung herbeizuführen. Gelingen kann dies nach dem in dieser ersten Phase bestehenden Grundverständnis der Mailänder Gruppe mittels bestimmter Interventionstechniken, wie etwa der paradoxen Intervention (vgl. Kapitel 4.4.2), die die bestehenden Mechanismen der Familie, die als ein vom Therapeuten getrenntes, triviales System betrachtet wird, verändert und das Symptom dadurch auflöst.231 Eine intensivere Beschäftigung mit der Arbeit von Bateson leitet Mitte der 1970er Jahre dann aber die zweite Phase des Mailänder Modells ein. Die Mailänder Gruppe setzt sich darin stark mit konzeptionellen Überlegungen und grundlegenden Vorgehensweisen für systemische Familientherapie auseinander und erarbeitet drei charakteristische Richtlinien für die Leitung von Therapiesitzungen. Man kann dabei die grundlegende Haltung der Neutralität von den Interventionstechniken, zirkuläres Fragen (vgl. Kapitel 4.4.1) und Hypothesenbildung, unterscheiden. Die Neutralität verhindert zunächst, dass der Therapeut durch das Ergreifen von Partei für ein Mitglied der Familie in das System hineingezogen und damit ein Bestandteil von diesem wird. Zirkuläres Fragen sowie Hypothesenbildung hingegen ergänzen sich insofern, dass durch das Fragen Informationen über das System erhalten werden, die die Grundlage für das Aufstellen von Hypothesen über dasselbe bilden. Diese dienen dem Therapeuten im weiteren Verlauf der Sitzung wiederum als Wegweiser und werden durch weitere Fragen getestet, sodass der Therapeut in einem kontinuierlichen Prozess ein immer besseres Verständnis über die Funktionsweise des Klientensystems erhält.232 Weil Boscolo und Checcin gegen Ende der 1970er Jahre jedoch beschließen, sich von der Forschung weg zur Ausbildung hin zu verändern, trennen sie sich von ihren beiden Wegbegleitern Selvini-Palazzoli und Prat und beginnen mit Studenten zu arbeiten, wodurch sie die dritte Phase in der Entwicklung des Mailänder Modells einleiten. Inspiriert durch das studentische Interesse am individuellen Verhalten des einzelnen Therapeuten setzen sich die beiden Forscher intensiv mit den Erkenntnissen des radikalen Konstruktivismus (vgl. Kapitel 3.2.1), des Autopoiesekonzeptes (vgl. Kapitel 3.2.7) und der Kybernetik zweiter Ordnung (vgl. Kapitel 3.2.3) auseinander. Unter deren nachhaltigem Einfluss lösen sich Boscolo und Checcin von der Ansicht, dass der Therapeut im Sinne der Kybernetik erster Ordnung ein System von außen ändern kann, und entwickeln einen Ansatz zweiter Ordnung. Dabei rückt das beobachtende System, also die Frage wie

230 231 232

Vgl. Groth (1996), S. 39 Vgl. Kolbeck (2001), S. 90 f. Vgl. Kolbeck (2001), S. 91 f.

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die Familienmitglieder ihre Wirklichkeit konstruieren, in den Mittelpunkt und der Therapeut kann in Anlehnung an das Autopoiesekonzept das System nicht mehr direktiv steuern, sondern nur mehr verstören und damit eine Veränderung anregen. Dieses Stören geschieht alleine schon durch die zirkulären Fragen des Therapeuten im Laufe der Sitzung woraus ersichtlich wird, dass Diagnose und Intervention nicht mehr getrennt werden können, sondern kontinuierlich ineinander fließen. Darüber hinaus ergänzen Boscolo und Checcin die Haltung der Neutralität um jene der Neugier, die sich rekursiv in die charakteristischen Richtlinien des Mailänder Modells einfügt, indem sie alternative Sichtweisen erzeugt, welche wiederum andere Fragen aufwerfen und folglich neuen Hypothesen ergeben. Als entsprechendes Gegenstück zum Mailänder Modell bildet sich im deutschen Sprachraum ab Anfang der 1980er eine Gruppe um Helm Stierlin, Fritz B. Simon und Gunthard Weber am Institut für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie der Universität Heidelberg heraus. Ihr anfangs eher noch vom psychodynamischen Ansatz geprägtes Heidelberger Modell erfährt dann durch die fachliche Zusammenarbeit mit dem Mental Research Institute in Palo Alto sowie dem familientherapeutischen Institut in Mailand intensive systemische Einflüsse, weshalb 1983 Die Internationale Gesellschaft für systemische Therapie (IGST) mit dem Ziel gegründet wird, das systemische Denken und Handeln weiterzuentwickeln, zu vermitteln und es in unterschiedlichen psychosozialen Kontexten umzusetzen.233 Wie schon Bsocolo und Checcin geht auch die Heidelberger Gruppe davon aus, dass die Mitglieder einer Familie ihre Wirklichkeit selbst konstruieren und prägt in diesem Zusammenhang den Begriff der 'inneren Landkarte'. Mit diesem wird zum Ausdruck gebracht, dass jedes Individuum aufgrund seiner Entwicklung bestimmte Sichtweisen, Überzeugungen, Einstellungen etc. besitzt, die sich auf das Verhalten von und damit auf die Interaktion zwischen Menschen auswirken. So entstehen gewisse Interaktionsmuster, die ihrerseits wiederum die Wirklichkeitskonstruktion des Individuums beeinflussen und somit eine rekursiven Prozess bilden, durch den sich das Familiensystem selbst organisiert. Dieser Auffassung von Selbstorganisation folgend, entstehen Störungen in einem Familiesystem aus dem Ablauf dieses Prozesses und können vom Therapeuten nur dann verstanden werden, wenn er die internen Landkarten sowie die Interaktionsmuster im System versteht. Gelingt ihm dies, so kann er dem System durch gezielte Interventionen, die entweder die innere Landkarte in Frage stellen oder die jeweiligen Aktionsmuster irritieren, Anstöße zur Veränderung geben, die das Symptom letztlich überflüssig macht. Im beschriebenen Prozess nimmt der Therapeut im Unterschied zum Mailänder Modell jedoch nicht nur eine neutrale Haltung, sondern eine allparteiliche Haltung an, auf welche in den

233

http://www.igst.org (15.07.2004)

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Basiskomponenten der systemischen Beratung (vgl. Kapitel 4.2) näher eingegangen wird. Bei dieser Allparteilichkeit des Heidelberger Modells handelt es sich um eine Weiterentwicklung der Neutralität der Mailänder Schule, wodurch es dem jeweiligen Therapeuten ermöglicht wird, die Position der unterschiedlichen Familienmitglieder nacheinander einzunehmen, um sich besser in deren jeweilige Lage versetzen zu können. Dabei ist es aber trotzdem wichtig die Neutralität zu wahren, indem man aus allen Koalitionen wieder herausgeht und dieselben jedem Familienmitglied im gleichen Maße zukommen lässt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die diskutierten Schulen der systemischen Familientherapie nicht nur fundierte theoretische Konzepte entwickelt, sondern diese auch in die praktische Arbeit umgesetzt haben und dadurch für die systemische Beratung wichtige Vorarbeit geleistet haben. So haben sowohl Selvini Palazzoli, die im Unterschied zu Boscolo und Checcin das Mailänder Modell der zweiten Phase verfeinert hat als auch die Heidelberger Gruppe die jeweiligen Erkenntnisse aus der Familientherapie auf Organisationen übertragen und demzufolge der systemischen Familientherapie eine bedeutende Vorreiterrolle für die systemische Beratung gesichert.234 3.2.6 Systemische Kommunikationstheorie Die systemische Kommunikationstheorie geht auf die grundlegenden Ideen des amerikanischen Anthropologen und Ethnologen Gregory Bateson (1904-1980) zurück, der die systemtheoretischen Überlegungen der Kybernetik (vgl. Kapitel 3.2.3) Anfang der 1950er Jahre in seine Arbeit zur Erforschung der Kommunikation einfließen lässt.235 Zusammen mit dem Psychiater Don D. Jackson, der wie Bateson einer der Mitbegründer des Mental Research Institut (MRI) in Palo Alto, Kalifornien, ist, entwickelt er diesen Ansatz, der später von Paul Watzlawick veröffentlicht wird, weiter, wobei soziale Systeme der gleichen Definition nach aufgefasst werden, wie sie bereits in der einleitenden Diskussion um die systemische Familientherapie (vgl. Kapitel 3.2.5) erfolgt ist. Gregory Bateson geht in Anlehnung an das Konzept des britischen Philosophen und Mathematikers Bertrand Russell (1872-1970) davon aus, dass jede Kommunikation auf zwei unterschiedlichen Ebenen, der Inhaltsebene sowie der Beziehungsebene, stattfindet. Die Ebene der Beziehung ist dabei jener der Inhalte übergeordnet und bildet den so genannten Rahmen für die Kommunikation, die als Austausch von Informationen zwischen Sender und Empfänger definiert wird. Welche Bedeutung dieser Information letztlich zukommt, entscheidet nach Bateson das empfangende

234 235

Vgl. Wimmer (1992c), S. 63 Vgl. König/Volmer (2000), S. 31

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System durch dessen Interpretation, die selbiges zur Antwort auf einer der beiden Ebenen veranlasst. Somit stellt Bateson, der deshalb Information in Abgrenzung zu Daten als 'Unterschied, der einen Unterschied ausmacht'236 beschreibt, also fest, dass Kommunikation davon abhängig ist, was der Empfänger interpretiert, und nicht davon, was der Sender tatsächlich mitteilt. Im Rahmen seiner Forschungstätigkeit stößt Gregory Bateson eher zufällig auf das Phänomen der Schizophrenie, das zu diesem Zeitpunkt als organische Krankheit gilt, und untersucht es in Zusammenarbeit mit dem Psychiater Don D. Jackson unter kommunikationstechnischen Aspekten. Ausgehend von der generellen Annahme, dass Schizophrenie durch die Kommunikation im sozialen System verursacht und aufrechterhalten wird, versuchen die beiden Forscher letztlich festzustellen, ob ein Zusammenhang zwischen dem Verhalten von dem als schizophren diagnostizierten Patienten mit dem Verhalten seiner Familien besteht. Auf der Suche nach einer schlüssigen Erklärung erkennen die beiden Forscher, dass der Patient von seinen Familienmitgliedern auf den zwei unterschiedlichen Kommunikationsebenen sich gegenseitig ausschließende Botschaften erhält. Da er sich aber sowohl gegenüber der inhaltlichen als auch gegenüber der beziehungsmäßigen Mitteilung gebunden fühlt, steht der Patient vor einer ausweglosen Situation237, die Bateson mit dem Begriff der 'Double-Bind-Hypothese' umschreibt. Damit tragen Bateson und Jackson nicht nur entscheidend zum Fortschritt der systemischen Kommunikationstheorie bei, sondern legen sie auch den Grundstein für die systemische Familientherapie (vgl. Kapitel 3.2.5). An diese von Bateson und Jackson erforschten Aspekte knüpft der österreichische Psychotherapeut und Kommunikationsforscher Paul Watzlawick (geb. 1921), der auch der Forschergruppe am MRI angehört, an, bereitet sie in systematischer Form auf und macht sie erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.238 In seiner Arbeit fokussiert er sich auf die Bedeutung der Kommunikation für zwischenmenschliche Beziehungen und betrachtet dazu vor allem die einzelnen Störungen, die sich in der Kommunikation ergeben können und welche durch letztere stabilisiert werden. Die resultierenden Erkenntnisse fasst Watzlawick, der eine einzelne Kommunikation als Mitteilung bezeichnet und deren wechselseitigen Ablauf mit dem Begriff Interaktion umschreibt, in fünf Axiomen der Kommunikation239 zusammen. Auf Basis der Erkenntnis, dass ein Zusammenhang zwischen dem Verhalten und der Kommunikation von Individuen besteht, stellt Watzlawick zunächst fest, dass jedes 236 237

238 239

Bateson (1992), S. 582 Die von außen als unsinnig betrachtete Verhaltensweise des Patienten macht aus dessen eigener Sicht damit Sinn Vgl. König/Volmer (2000), S. 33 ff. Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson (1990), S. 50 ff.

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Verhalten eine Kommunikation darstellt. Da Verhalten aber nicht verweigert werden kann und immer bewusst oder unbewusst passiert, ist es nicht möglich, sich nicht zu verhalten, und folglich auch unmöglich, nicht zu kommunizieren. Das Fazit daraus fasst Watzlawick mit seinem ersten Axiom, 'Man kann nicht nicht kommunizieren', zusammen. Mit seinem zweiten Axiom, 'Jede Kommunikation hat einen Inhaltsaspekt und einen Beziehungsaspekt, derart, dass die letzterer den ersteren bestimmt und daher eine Metakommunikation ist', bezieht sich Watzlawick auf die unterschiedlichen Ebenen der Kommunikation. Diese Ebenen sind in jeder Form von Kommunikation zu finden und weisen darauf hin, dass nicht nur Information über den Inhalt, sondern auch über die Beziehung zwischen Sender und Empfänger transportiert wird. Es ist folglich darauf zu achten welche Aussagen auf welcher Ebene getroffen werden, was auf der Ebene der Beziehungen allerdings selten bewusst passiert. Die Kommunikation auf der Beziehungsebene kann demnach versteckte, zusätzliche oder überhaupt andere Informationen zum Ausdruck bringen, als jenen auf der Inhaltsebene und dadurch den Verlauf der Kommunikation nachhaltig beeinflussen. Sie ist daher im Sinne von Watzlawick eine Metakommunikation, die über der inhaltlichen Kommunikation steht und damit den Rahmen für diese bildet. Über das dritte Axiom, 'Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktion der Kommunikationsabläufe seitens der Partner bedingt', wird die Interaktion im Rahmen einer Kommunikation zwischen zwei Individuen näher betrachtet. Die Interpunktion hilft den beiden Gesprächspartnern den kontinuierlichen Austausch von Mitteilungen zu strukturieren und ihr Verhalten entsprechend zu organisieren. Für den Fall, dass es zu unterschiedlichen Interpunktionen kommt, interpretieren die beiden Teilnehmer die Kommunikation unterschiedlich und können Ursache und Wirkung nicht mehr voneinander trennen. Jede Mitteilung bezieht sich damit auf eine vorhergegangen Mitteilung, woraus folgt, dass Kommunikation ein rekursiver Prozess ist. Das vierte Axiom, das auf der Erkenntnis beruht, dass Kommunikation mittels zweier unterschiedlicher Kode stattfindet, kann in engem Zusammenhang mit dem zweiten Axiom gesehen, jedoch keinesfalls mit diesem gleichgesetzt werden. Grundsätzlich unterscheidet Watzlawick den digitalen Kode, der präzise, logisch und analytisch ist und sich daher eher für die Inhaltsebene eignet, vom analogen Kode, der emotional symbolisch und bildlich ist und folglich eher zur Beziehungsebene passt. Während der erste Kode einen exakten Syntax – z.B. Wörter und Gesten – verwendet, so bedient sich zweite Kode einer Semantik – z.B. Bilder und Metaphern –, woraus erkennbar ist, dass die beiden nicht nebeneinander bestehen, sondern einander

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ergänzen. Watzlawick formuliert daher, 'Menschliche Kommunikation bedient sich digitaler und analoger Modalitäten. Digitale Kommunikationen haben eine komplexe und vielseitig logische Syntax, aber auf dem Gebiet der Beziehungen unzulängliche Semantik. Analoge Kommunikation dagegen besitzt dieses semantische Potenzial, ermangelt aber die für die eindeutige Kommunikation erforderliche logische Syntax.' Im fünften Axiom geht Watzlawick schließlich näher auf die Beziehung der beiden Gesprächspartner ein: 'Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem, ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichheit oder Unterschiedlichkeit beruht.' Eine Kommunikation ist demnach symmetrisch, wenn beide Teilnehmer nach Gleichheit streben, was sich durch spiegelbildliches Verhalten sowie dem Bestreben nach Verminderung der Unterschiede ausdrückt. Dem entgegen wird eine Interaktion als komplementär beschrieben, wenn beide Partner unterschiedlich sind und ein sich gegenseitig ergänzendes Verhalten zeigen. Hier kommt durch die Unterscheidung von primärer und sekundärer Stellung zum Ausdruck, dass die Verhaltensweisen einander sowohl voraussetzen als auch verursachen, woraus letztlich wiederum die Rekursivität der Kommunikation folgt. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es der Palo Alto Gruppe um Bateson und Watzlawick gelingt, durch die Übertragung des systemischen Ansatzes in die Erforschung der Kommunikation den Zusammenhang zwischen Kommunikation und Verhalten in sozialen Systemen zu erforschen. Sie zeigen, dass Kommunikation nicht vom Sender gesteuert, sondern nur vom Empfänger interpretiert werden kann und damit von diesem abhängig ist. In weiterer Konsequenz weisen sie auch nach, dass Kommunikation ein rekursiver Prozess ist, über den ein Individuum die für sein Überleben notwendige Information über seine Umwelt bezieht. Diese Information ist somit genauso wichtig, wie die für den Stoffwechsel des Organismus benötigten Substanzen, woraus sich ergibt, dass die Begriffe von Kommunikation und Existenz untrennbar miteinander verbunden sind.240 3.2.7 Autopoiesekonzept Das Konzept der Autopoiese241 wird Anfang der 1970er Jahre von den chilenischen Neurobiologen Humberto R. Maturana (geb. 1928) sowie Francisco Varela (19462001), ein früherer Schüler von Maturana, an der Universität von Santiago erarbeitet. Ausgehend von der Grundannahme, dass es ein allgemeines Organisationsmuster gibt, das allen Lebewesen unabhängig von den Eigenschaften ihrer Bestandteile

240 241

Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson (1990), S. 240 Der Begriff, der aus dem Griechischen stammt, kann mit Selbstorganisation bzw. Selbstproduktion übersetzt werden. Für nähere Ausführungen vgl. Berghaus (2003), S. 47

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sowie von der Grundform ihres Systems gemeinsam ist,242 versuchen sie die Frage zu beantworten, was das Leben eines Lebewesens ausmacht.243 Betrachtet man zunächst die Art und Weise, wie die beiden Neurobiologen lebende Systeme beschreiben, nämlich durch deren Arbeitsweise, so kann daraus gefolgert werden, dass sie Lebewesen als Maschinen betrachten und es sich daher um einen mechanistischen Ansatz handelt.244 So definiert Maturana autopoietische Systeme als Systeme, bei denen "... jedes Element als eine zusammengesetzte Einheit (System), als ein Netzwerk der Produktion von Bestandteilen definiert ist, die (a) durch ihre Interaktion rekursiv das Netzwerk der Produktionen bilden und verwirklichen, das sie selbst produziert hat; (b) die Grenzen des Netzwerks als Bestandteile konstruieren, die an seiner Konstitution und Realisierung teilnehmen; und (c) das Netzwerk als eine zusammengesetzte Einheit in dem Raum konstruieren und realisieren, in dem es existiert."245

Maturana und Varela sehen Lebewesen also als Systeme, die sich vollständig selbst erhalten, herstellen und auch erneuern, ohne dabei jedoch auf äußere Bedingungen zurückzugreifen. Es handelt sich demzufolge um einen geschlossenen Prozess von Operationen des Systems, welche, wenn sie funktionieren, wiederholt werden und zur Fortsetzung von Systemoperationen führen. Das System ist demnach autonom gegenüber seiner Umwelt und der beschriebene selbstreferentielle Prozess, welcher sowohl die Systembestandteile als auch die Aufrechterhaltung der Systemgrenzen zur Umwelt betrifft, verhindert eine Auflösung der Elemente des autopoietischen Systems in die Umgebung und sichert diesem damit das Überleben.246 Entgegen der operativen Geschlossenheit in den bisher diskutierten Theoriesträngen sind autopoietische Systeme offen für den Austausch von Energie und Materie.247 Dieser Umstand bildet die Basis dafür, dass zwischen dem System und seiner Umwelt eine Beziehung entstehen kann, welche als strukturelle Kopplung bezeichnet wird. Da ebendiese strukturelle Kopplung die Autonomie des Systems jedoch nicht unterläuft, kann sie selbst auch nicht als begrenztes Offensein des Systems für die Umwelt verstanden werden. Vielmehr umgrenzt sie die strukturellen Möglichkeiten

242 243 244 245 246 247

Vgl. http://h2hobel.phl.univie.ac.at (12.06.2004) Vgl. http://www.murfit.de (07.06.2004), S. 4 f. Vgl. http://h2hobel.phl.univie.ac.at (12.06.2004) Maturana (1992), S. 94 Vgl. http://www.murfit.de (07.06.2004), S. 4 f. Der Austausch von Energie und Materie ist eine notwendige Voraussetzung für das Überleben biologischer Systeme. Dies resultiert aus den Erkenntnissen der Thermodynamik, die besagen, dass geschlossenen Systemen keine Energie zugeführt wird und diese damit der Entropie (irreversibler Prozess des Energieverlustes) unterliegen, was schließlich zum 'Wärmetod' führt.

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eines Systems,248 sodass der tatsächliche Kontakt durch sie erst entstehen kann, wenn die Struktur des autopoietischen Systems für bestimmte Umweltereignisse kopplungsfähig ist und diese auch registriert. Das System weiß demnach nicht, was die Umwelt ist und was diese verursacht, sondern empfindet über die strukturelle Kopplung lediglich eine Störung im reibungslosen Ablauf der Autopoiese. Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht, das das System zu einer Operation veranlasst, die die Störungen beseitigt und damit den Normalzustand und letztlich das Gleichgewicht im System wiederherstellt.249 Aus dem beschriebenen Prozess geht hervor, dass es nicht zu einer gezielten Steuerung des Systems durch seine Umwelt nach dem Kausalitätsprinzip, sondern zu einer gegenseitige Beeinflussung kommt, die letztlich auch zu einer Veränderung in der Struktur des autopoietischen Systems führen kann.250 Folglich kann sich die Struktur durch eine unterschiedliche Anordnung der Systembestandteile innerhalb gewisser Grenzen, welche von der Autopoiese des Systems selbst bestimmt werden, verformen. Ebendiese Eigenschaft nennt man strukturelle Determiniertheit, wobei die jeweils aktuelle Struktur vorgibt, in welchen Grenzen sich das lebende System zufolge einer äußeren Einwirkung verändern kann, ohne dabei seine autopoietische Organisation zu verlieren und damit zu sterben. Durch diese gegenwärtige Struktur, die aus der jeweiligen Vorgeschichte resultiert und welche weitere Entwicklung prägt, selektiert das System letztlich die Art und Wirkung der Umweltereignisse, die in ihm Veränderungen auslösen können. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die Autopoiese von biologischen Systemen nach den Überlegungen von Maturana und Varela durch mehrere Kriterien charakterisiert werden kann. Neben diesen schon diskutierten Eigenschaften der Autonomie, der operativen Geschlossenheit sowie der strukturellen Determiniertheit führt Ludewig schließlich noch eine vierte Eigenschaft an, welche es an dieser Stelle noch zu ergänzen gilt. Es handelt sich dabei um die Zwecklosigkeit und Zeitlosigkeit autopoietischer System, die besagt, dass lebende Systeme alleine ihren eigenen Ansprüchen genügen und stets ihre autopoietische Organisation verwirklichen. Alle anderen Zwecke und Ziele sowie Programme und Funktionen werden jedoch vom jeweiligen Beobachter, auf der Suche nach sinngebender Orientierung, von außen herangetragen. Die Begriffe Zweck, Ziel oder Zeit dienen folglich einer kohärenten Beschreibung, erfassen aber nicht die interne Funktionsweise von Lebewesen.251

248 249

250 251

Vgl. http://www.fh-niederrhein.de (12.06.2004) Vgl. http://www.murfit.de (07.06.2004), S. 4 f., sowie http://kunst.erzwiss.uni-hamburg.de (07.06.2004) Vgl. Osterchrist (1996), S. 25 Vgl. Ludewig (1997), S. 71

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Unter Bezug auf diese vier Eigenschaften von Autopoiese können nun in Anbetracht des Aspekts, dass Systeme mit ihrer jeweiligen Umwelt gekoppelt sind und selbige wiederum aus Systemen besteht, die Beziehungen von Systemen untereinander etwa in einem Organismus betrachtet werden. Weil die Elemente des Organismus nicht wissen, was sie für die anderen zu tun haben, machen sie das, was sie gemäß ihrer Struktur machen können. Unter Beibehaltung ihrer Autopoiese wirken sie dabei aufeinander ein und interagieren, indem sie einander abwechselnd gegenseitig stören. Dabei nehmen sie bei jeder Störung Bezug auf die vorhergehende Störung, sodass eine strukturelle Kopplung entsteht, in der sich die Elemente aneinander anpassen sowie ihre Strukturen aufeinander ausrichten. Jeder Organismus kann folglich als Resultat strukturell gekoppelter Aktivitäten seiner autonomen Systeme gesehen werden kann.252 Nachdem der Prozess der Autopoiese anfänglich lediglich für biologische Systeme entwickelt wurde, erfolgt von Maturana in weiterer Folge auch eine Übertragung des Konzepts auf kognitive Funktionen.253 Er entwickelt die Systemtheorie der Kognition, auch 'Santiago-Theorie' genannt, und setzt darin den Prozess des Erkennens mit jenem des Lebens gleich.254 Das autopoietische System, welches in den Mittelpunkt dieser Theorie rückt, ist das Nervensystem, und die Wahrnehmungen sind jene äußeren Einwirkungen, welche den Prozess der Autopoiese stören und damit ein Ungleichgewicht im Nervensystem verursachen. Dieses nimmt demnach nicht die Umwelt selbst, sondern über die strukturelle Kopplung nur die Störungen im System wahr und reagiert auf diese mit einem Verhalten, das den Normalzustand bzw. das Gleichgewicht wiederherstellt.255 Ebendiese Operation würde jedoch, wenn sie die Systemgrenze überschreitet, zum Abbruch der Autopoiese führen und muss daher eine Interaktion des Nervensystems mit sich selbst sein. Dieselbe kann nun eine Veränderung in der Struktur des Nervensystems bewirken und dadurch schließlich Erkenntnis entsteht lassen.256 Über die diskutierten Anwendungen der Autopoiese in den Bereichen der Biologie sowie der Neurobiologie hinaus, wurden durch dieses von Maturana und Varela ursprünglich auf lebende Systeme bezogene Konzept letztlich auch Innovationen in anderen Wissenschaftsrichtungen angeregt. So wurde unter anderem die generelle Übertragbarkeit auf soziale Systeme kontrovers diskutiert, wozu Schuhmacher meint, dass soziale Systeme geschlossen, also autopoietisch, in Bezug auf die intern

252 253 254 255

256

Vgl. http://www.fh-niederrhein.de (12.06.2004) Vgl. http://www.murfit.de (07.06.2004), S. 4 f. Vgl. http://home.tiscalinet.ch (13.06.2004) Vgl. http://www.murfit.de (07.06.2004), S. 4 f. sowie http://kunst.erzwiss.uni-hamburg.de (07.06.2004) Vgl. Osterchrist (1996), S. 15

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ablaufenden dynamischen Prozesse und Operationen, aber offen für die Interaktion mit anderen lebenden Systemen sind.257 Grundsätzlich gilt es zunächst für diese generelle Übertragbarkeit allerdings zu unterscheiden, was überhaupt als Element eines sozialen Systems definiert wird.258 Sieht man in Anlehnung an Hejl, der die gleiche Ansicht wie Maturana und Varela vertritt, das Individuum als Systemelement, dann ist das Konzept der Autopoiese nicht übertragbar. Dies ist in der Einsicht begründet, dass soziale Systeme im Gegensatz zu biologischen Systemen, wie etwa den Nervensystem, ihre Elemente, also die Menschen aus denen sie bestehen, nicht selber reproduzieren.259 Im Gegensatz zu diesen drei Wissenschaftern definiert Luhmann jedoch die Kommunikation als Endelement sozialer Systeme und gründet darauf, trotz starker Einwände, die Übertragbarkeit des Autopoiesekonzeptes auf soziale Systeme. In seiner soziologischen Systemtheorie (vgl. Kapitel 3.2.8) führt er eine Umformulierung der Autopoiese auf ein allgemeines Systemprinzip durch und definiert die strukturelle Kopplung als explizite Verknüpfung von unterschiedlichen Systemtypen. Letztere sind nach Luhmann das biologische, das psychische und das soziale System, wobei die entsprechenden Systeme durch Zellen, Gedanken sowie Kommunikation gebildet werden. Die drei dazugehörigen Operationsformen, welche mit den Begriffen Leben, Bewusstsein sowie Kommunikation bezeichnet werden, bedingen einander in dem Sinn, dass es ohne Leben kein Bewusstsein und ohne Bewusstsein keine Kommunikation gibt. Folglich ist Kommunikation auf Bewusstsein und auch Leben angewiesen, umgekehrt jedoch nicht.260 Die Sprache, die Luhmann von den Systemtypen unterscheidet, ist dann das Mittel der strukturellen Kopplung zwischen dem Bewusstsein und der Kommunikation. Zum einen ermöglicht sie es einzelnen Personen261 zu denken und zum anderen können durch sie zwei Personen kommunizieren und damit interagieren. Diese durch die strukturelle Kopplung der Sprache ermöglichte Interaktion ist eine gemeinsame Welt, die ein neues System darstellt, das nach Luhmann ein soziales System ist und als solches der Autopoiese unterliegt, weil es nicht auf eines der beiden ursprünglichen Systeme, also die beiden psychischen Systeme der zwei interagierenden Personen, zurückgeführt bzw. daraus hergeleitet werden kann.262 Über das Konzept der Autopoiese kann nun zusammengefasst werden, dass man darunter die Fähigkeit von Systemen versteht sowohl ihre Elemente, einschließlich

257 258 259 260 261

262

Vgl. Schumacher (1995), S. 50 Vgl. Kolbeck (2001), S. 79 Vgl. Hejl (1992), S. 326 f. Vgl. http://www.brock.uni-wuppertal.de (12.06.2004) Nach Krause (2001), S. 184, ist der Begriff der Person im Sinne von Luhmann kein – also weder ein psychisches noch ein soziales – System, sondern eine kommunikative Wirklichkeit oder eine soziale Adresse für Kommunikation. Vgl. http://www.fh-niederrhein.de (12.06.2004)

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der Grenzelemente als auch ihre Struktur auf der Grundlage eigener Vorleistung, also schon reproduzierter Elemente und Strukturen, laufend zu reproduzieren.263 Die Autopoiese ist dabei durch vier Eigenschaften, die strukturelle Determiniertheit, die Autonomie, die operativen Geschlossenheit sowie die Zwecklosigkeit und die Zeitlosigkeit, gekennzeichnet. 3.2.8 Soziologische Systemtheorie Neben den bisher diskutierten Strängen des systemischen Theoriegebäudes in den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen wie Physik, Kybernetik, Biologie sowie Neurobiologie, entsteht auch in der Soziologie eine Theorie, die das soziologische Forschungsobjekt, die Gesellschaft, als System betrachtet. Ebendiese soziologische Systemtheorie, die sich in mehreren Etappen entwickelt, erhebt nach Luhmann einen Universalitätsanspruch264 und kann demzufolge auf alle sozialwissenschaftlichen Fragen angewendet werden.265 Die Wurzeln der soziologischen Systemtheorie266 gehen auf den US-amerikanischen Soziologen Talcott Parsons (1902-1979) zurück, der sich in seinem Ansatz mit den existenzerhaltenden Funktionen von sozialen Systemen beschäftigt. Dieser so genannte strukturfunktionale Ansatz geht von der Annahme aus, dass jedes soziale System eine bestimmte Struktur besitzt, die durch die funktionalen Leistungen des sozialen Systems aufrechterhalten wird – die Struktur wird also als vorgegeben und der Funktion übergeordnet betrachtet – und damit das Weiterbestehen von diesem sicherstellt. Weil es sich bei diesen Leistungen zumeist um interne Funktionen von einzelnen Subsystemen handelt, lässt sich ableiten, dass der Systembegriff dieses Ansatzes auf das Verhältnis zwischen Teil und Ganzem gerichtet ist und die Umwelt ausschließlich als Energielieferant für, aber nicht als Einflussfaktor auf das soziale System berücksichtigt wird. Außerdem geht aus den Überlegungen hervor, dass die Struktur als weitestgehend invariant betrachtet wird und dieser, im Unterschied zu den Leistungen, keine Funktion zugeordnet ist. An diesen Kritikpunkten knüpft der systemfunktionale Ansatz an und betrachtet soziale Systeme fortan als komplexe, anpassungsfähige und zielgerichtete Systeme, die ihre Struktur in Abhängigkeit von veränderlichen Umweltbedingungen verformen können. Diese als variabel betrachtet Struktur hat nun also eine Funktion, nämlich die, unterschiedliche systeminterne Prozesse durch strukturelle Anpassungen so zu stabilisieren, dass die eigene Leistungsfähigkeit oder generelle Überlebensfähigkeit

263 264 265 266

Vgl. Wollnik (1994), S. 122 Vgl. Luhmann (1987), S. 33 Vgl. Willke (2000), S. 2 Vgl. Willke (2000), S. 5 ff., für einen genaueren Überblick zu den Entwicklungsschritten der Theorie sozialer Systeme, woraus die zwei folgenden Absätze zusammengefasst sind

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in einer geänderten Umwelt sichergestellt ist. Die Umwelt selber ist demzufolge als externe Determinante bzw. als bedingender Einflussfaktor außerhalb des sozialen Systems berücksichtigt, aber der Fokus der Analyse ist nach wie vor auf die Funktionen der Faktoren im sozialen System gerichtet und damit auf die Differenz einzelner Teile zum übergeordneten Ganzen. Hier setzt der deutsche Soziologe Niklas Luhmann (1927-1998) mit der Entwicklung seiner Systemtheorie, in der er unter anderem auch unterschiedliche Erkenntnisse diverser Theoriestränge aufgreift, an und formuliert auf höchstem Abstraktionsniveau eine der anspruchvollsten (soziologischen) Theorien der Gegenwart.267 Ausgehend von einer Theorie für allgemeine Systeme, fokussiert sich Luhmann auf soziale Systeme, um schließlich auf einzelne gesellschaftliche Teilsysteme einzugehen,268 wobei er zunächst einen funktionalstrukturellen Ansatz entwirft, in den er in weiterer Folge jedoch auch die evolutionäre Genese sowie die kontinuierliche Selbstreferenz von Systemen einarbeitet.269 Dabei stellt Luhmann, wie eingangs bereits erwähnt, den Anspruch den gesamten Bereich der Wirklichkeit abzudecken und somit eine Supertheorie270 von universeller Geltung zu entwickeln. Das bedeutet, dass diese als Theorie der Gesellschaft nicht nur den gesamten sozialen Bereich umfasst, sondern aufgrund der Differenzierung zwischen einem System und seiner Umwelt auch die gesamte Welt und darüber hinaus durch das Konzept der Selbstreferenz auch sich selbst beinhaltet.271 Diese beiden genannten Konzepte, die Luhmann aus der allgemeinen Systemtheorie (vgl. Kapitel 3.2.4) von Bertalanffy sowie mit dem Autopoiesekonzept (vgl. Kapitel 3.2.7) von Maturana und Varela auf seine eigenen Überlegungen überträgt, bilden wichtige Ankerpunkte des ganzen Theoriegebäudes, das er aus drei ineinander verwobenen Theoriesträngen entwickelt. Diese sind die Gesellschaftstheorie als soziologische Systemtheorie, die Kommunikationstheorie sowie die Evolutionstheorie, die alle zusammen in so enger Verbindung miteinander stehen, dass die isolierte Betrachtung voneinander praktisch unmöglich ist. Es ergibt sich demgemäß ein extrem komplexes Theoriegebäude mit einer breiten Vielfalt von spezifisch definierten sowie abstrakt verwendeten Begrifflichkeiten, das im folgenden Erklärungsversuch grob skizziert werden soll. Im Unterschied zu anderen sozilogischen Theorien, die Luhmann kritisiert, weil sie Probleme an die Gesellschaft herantragen anstatt diese zu lösen,272 beschäftigt sich seine soziologische Systemtheorie damit, wie die Gesellschaft mit dem Problem

267 268 269 270 271 272

Vgl. Groth (1996), S. 58 Vgl. Luhmann (1987), S. 16 ff., sowie Berghaus (2003), S. 30 Vgl. Willke (2000), S. 6 ff. Vgl. Luhmann (1987), S. 19 Vgl. Berghaus (2003), S. 25 Vgl. Berghaus (2003), S. 19 ff., die Luhmann-Habermas-Kontroverse als bekanntestes Beispiel

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Historische Wurzeln der Beratungsformen

umgeht, dass die sozialen Verhältnisse aufgrund der Evolution nicht mehr einfach und überschaubar, sondern immer vielschichtiger und verwobener sind.273 Man spricht in diesem Zusammenhang von Komplexität, die einen der zentralen Aspekt in der neuen Systemtheorie darstellt und sich nach Willke wie folgt definieren lässt: Komplexität bezeichnet den Grad der Vielschichtigkeit, Vernetzung und Folgelastigkeit eines Entscheidungsfeldes. Dabei bedeutet Vielschichtigkeit den Grad der funktionalen Differenzierung eines Sozialsystems und die Zahl der bedeutsamen

Referenzebenen

[…];

Vernetzung

heißt

Art

und

Grad

wechselseitiger Abhängigkeit zwischen Teilen sowie zwischen Teil und Ganzem […]; Folgelastigkeit meint Zahl und Gewicht der durch eine bestimmte Entscheidung in Gang gesetzten Kausalketten oder Folgeprozesse innerhalb des in Frage stehenden Sozialsystems; und der Begriff Entscheidungsfeld weist darauf hin, dass es keine Komplexität an sich gibt, sondern nur in Hinsicht auf ein bestimmtes Problem, welches für ein bestimmtes System in einer bestimmten Situation Selektion erfordert.274

Der in dieser Definition verwendete Begriff der funktionalen Differenzierung bedeutet, dass das Ganze nicht mehr aus einer Vielzahl von gleichen Teilen oder ähnlichen Einheiten, sondern aus einer Menge von unterschiedlichen Bestandteilen und spezialisierten Elementen besteht. Diese neue Differenzierung führt in Kombination mit der zunehmenden wechselseitigen Abhängigkeit der Systembestandteile untereinander dazu, dass die Komplexität kontinuierlich wächst,275 wodurch das Erfassen der Gesamtheit aller Ereignisse für den menschlichen Verstand immer schwieriger wird. Die Gesellschaft löst dieses Problem der Komplexität, indem sie Mechanismen entwickelt, die die Komplexität reduzieren, transformieren sowie regulieren.276 Dies geschieht durch den Prozess der Systembildung, der den Sinn erfüllt, ein System mit seiner eigenen Komplexität von einer nichtdazugehörigen Umwelt, der die gesamte restliche Komplexität zuzuschreiben ist, abzugrenzen. Um ebendiesen speziellen Prozess zu rekonstruieren, ist es erforderlich, den Bezugspunkt der Analyse nicht wie bisher innerhalb des Systems zu definieren, sondern außerhalb, nämlich in der Relation zwischen System und Umwelt. Die damit erstmalige Berücksichtigung der Umwelt als konstitutiver Faktor bewirkt, dass anstatt des Systems selbst die Grenze des Systems zu seiner Umwelt zum Gegenstand der soziologischen Systemtheorie wird und ein System folglich in der Soziologie nicht mehr als Differenz einzelner Teile

273 274 275 276

Vgl. Willke (2000), S. 18 Willke (2000), S. 22 Vgl. Willke (2000), S. 21 Vgl. Willke (2000), S. 17

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zum übergeordneten Ganzen verstanden, sondern durch die Differenz zwischen Innen und Außen definiert wird.277 Diese so genannte System-Umwelt-Differenz, wie sie Luhmann bezeichnet, ersetzt demzufolge die generelle Auffassung der zuvor geschilderten Ansätze im Bereich der Soziologie, dass nämlich ein System ein aus seinen einzelnen Teilen zusammengesetztes Ganzes ist, und verlagert den Fokus damit vom Systeminneren auf die Systemgrenze, sodass diese zum Gegenstand der allgemeinen Theorie sozialer Systeme wird.278 Anders formuliert beginnt Luhmann seine Systemtheorie nicht mit der Einheit, sondern mit der Differenz,279 die er nach den grundlegenden Prinzipien des radikalen Konstruktivismus (vgl. Kapitel 3.2.1) – in Anlehnung an diesen bezeichnet er seinen eigenen Ansatz übrigens auch als 'operativen Konstruktivismus' – beobachtet. Dabei kommt der spezifischen Rolle des Beobachters eine zentrale Bedeutung zu, weil dieser Unterscheidungen treffen muss, um überhaupt beobachten zu können, weshalb sich feststellen lässt, dass die Beobachtung von Unterscheidungen generell Luhmanns Ansatz ist.280 Luhmann sieht, so lässt sich an dieser Stelle vorläufig resümieren, soziale Systeme also als komplexe, sinnhaft konstituierte Einheiten und betont gegenüber den davor dargestellten systemtheoretischen Ansätzen der Soziologie, die alles auf einzelne Faktoren innerhalb und außerhalb des Systems zurückführen, die Relation zwischen dem System und seiner Umwelt. Daraus lässt sich ableiten, dass neben den von Anfang an als variabel geltenden Funktionen sowie der in Folge als anpassungsfähig definierten Struktur nun auch die Prozesse, vor allem jener der Systembildung, als flexibel betrachtet werden. Um diese Prozesse sowie die Entwicklung eines Systems besser darzustellen, erweitert Luhmann seinen Ansatz in weiterer Folge, wie bereits eingangs erwähnt, um zwei Aspekte. Zum einen deckt er den zeitlichen Verlauf der Entstehung sozialer Systeme mit der Einführung einer Evolutionstheorie ab und zum anderen trägt er dem wichtigen Faktum, dass sich soziale Systeme aufgrund ihrer eigenen Komplexität mit sich selber beschäftigen müssen, also selbstreferentiell sein müssen, durch Übertragung des Autopoiesekonzeptes von Maturana und Varela Rechnung. Letzteres adaptiert Luhmann trotz heftiger Kritik für soziale Systeme auf Basis der entstehungsgeschichtlichen Argumentation, dass im Rahmen der Evolution aus biologischen Systemen, anhand derer die Autopoiese ja eigentlich entwickelt wurde, zuerst psychische Systeme und dann in weiterer Folge auch soziale Systeme entstanden sind.281 Bevor nun vor allem auf soziale Systeme und damit unweigerlich auch auf psychische Systeme näher eingegangen werden kann, gilt es basierend auf

277 278 279 280 281

Vgl. Willke (2000), S. 6 f. Vgl. Berghaus (2003), S. 38 Vgl. Luhmann (1987), S. 112 Vgl. Berghaus (2003), S. 27 f. Vgl. Berghaus (2003), S. 50

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den bisher dargelegten Ausführungen zunächst jedoch auf die Trias der genannten Systeme grundsätzlich einzugehen. Generell beschreibt der abstrakte Begriff des Systems, der in weiterer Folge auf die Trias biologischer, psychischer und sozialer Systeme bezogen ist, eine organisierte Komplexität, die durch Selektion einer Ordnung operiert. Folglich ist jedes System durch organisieren, selektieren282 und operieren aktiv, übt diese Tätigkeiten also aus, wobei es nach Luhmann jedoch nicht aus Dingen, sondern aus Operationen besteht, die er als Letztelemente von Systemen bezeichnet. Dieser allgemeine Begriff der Operation beschreibt dabei die entscheidenden Aktivitäten von Systemen und wird von Luhmann für jene spezielle Aktivitätsart reserviert, die für Systeme konstitutiv ist, das heißt, mit der sich das System produziert und reproduziert, also autopoietisch ist. Auch wenn die charakteristischen Operationenformen der genannten Systeme eine weiteres Unterscheidungsmerkmal darstellen – so operieren biologische Systeme durch Leben, psychische Systeme durch Bewusstsein und soziale Systeme durch Kommunikation –, lässt sich für diese drei gemeinsam doch festhalten, dass sie alle den selben zwei Leitprinzipien folgen. Dies sind, wie bereits mehrfach erwähnt, die System-Umwelt-Differenz sowie die Autopoiese, die zusammen charakteristisch für jedes System sind,283 und woraus ersichtlich wird, warum mechanische Systeme in der systemtheoretischen Auffassung nach Luhmann keine Systeme sind, weil sie nämlich nicht autopoietisch operieren.284 Aber auch innerhalb der unterschiedlichen Arten autopoietischer Systeme ist, ehe auf deren gemeinsame Leitprinzipien näher eingegangen werden kann, noch einmal eine weitere Differenzierung einzuführen. Diese erfolgt entlang des Sinnbegriffes, der ein ausschließliches Universalmedium für psychische Systeme und soziale Systeme ist, da diese mittels Sinn konstituiert werden. Diese beiden autopoietischen Systeme können daher im Unterschied zu biologischen Systemen als sinnkonstituierende Systeme285 oder kurz Sinnsysteme bezeichnet werden, was vorläufig für die generellen Ausführungen über die Trias biologischer, psychischer und sozialer Systeme als Unterscheidung ausreichen soll, worauf aber in dem später folgenden Diskussionsteil um den Sinnbegriff noch einmal genauer eingegangen wird. Weil also die System-Umwelt-Differenz286 die zentrale Differenzierung in Luhmanns Systemtheorie ist, soll auf diese zuerst näher eingegangen werden. Da sich jedes System durch seine systemeigenen Operationen selbst erzeugt und damit letztlich 282

283 284 285 286

Luhmann verwendet dafür den gleichbedeutenden Begriff 'seligieren', der in dieser Arbeit zur leichteren Verständlichkeit der ohnehin schon komplexen Thematik durch selektieren ersetzt wird. Vgl. Berghaus (2003), S. 36 Vgl. Luhmann (1987), S. 16 Vgl. Luhmann (1998), S. 51 Vgl. Luhmann (1987), S. 242 ff., sowie Berghaus (2003), S. 37 ff., für detaillierte Ausführungen zum folgenden Absatz

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von etwas Anderem abgrenzt, erzeugt es auch seine systemrelative Umwelt selber. Diese ist also keine feste Größe, sondern, weil ein System letztlich die Differenz zur Umwelt ist und es diese nur durch das System gibt, die gesamte Außenseite des Systems,287 oder wie es Luhmann selbst formuliert, einfach 'alles andere'.288 Damit ist die Umwelt aus Sicht des Systems immer größer und stets ungeregelter als es selbst, wobei in dieser wiederum andere Systeme enthalten sein können, die es aber zufolge seiner Operationen lediglich als Umwelt wahrnimmt.289 Die Umwelt verliert somit ihren Status als Beeinflussungsgröße, weil sie nur noch in Abhängigkeit des Systems gedacht werden kann.290 Nicht 'die' Umwelt wirkt ein, sondern das System erfasst Umweltphänomene nach selbsterwählten Gesichtspunkten.291 Neben dieser ersten entscheidenden Aktivität des Operierens gibt es aber auch noch eine zweite zentrale Aktivität, die charakteristisch für jedes System ist, nämlich das Beobachten. Das bedeutet für alle autopoietischen Systeme, sprich in Bezug auf die allgemeine Systemtheorie, zunächst nichts weiter als die Handhabung von Unterscheidungen,292 kann jedoch für sinnkonstituierende Systeme, also psychische und soziale Systeme, noch einmal ergänzt und einfach als Unterscheiden und Bezeichnen umschrieben werden. Genauer formuliert beobachtet jedes System sich selbst und alles andere mittels Differenzen, aber ausschließlich ein Sinnsystem kann diesen notwendigen Unterscheidungen gewisse Bezeichnungen im Sinne von etwas, was zu ihm selbst gehört, und etwas, was nicht zu ihm selbst gehört, geben. Das heißt, dass alle Systeme die System-Umwelt-Differenz, also ihre eigentliche Außengrenze, noch einmal in sich hineinkopieren und diese Abgrenzung intern als Grundkategorie für sämtliches Unterscheiden sowie sämtliches Beobachten verwenden, aber letztlich nur Sinnsysteme mit der Differenz von System und Umwelt intern sinnhaft operieren können,293 woraus eine weitere Differenz entsteht, nämlich die nach Selbstreferenz und Fremdreferenz. Grundsätzlich bedeutet das, dass es bei allen Systemen stets zwei Abgrenzungsebenen gibt, nämlich erstens jene durch das Operieren, also die tatsächliche Grenze durch die generelle Existenz, sowie zweitens jene durch das Beobachten und Unterscheiden zwischen sich selbst sowie allem anderen, sprich die innere Verwendung der realen Grenze. Für sinnkonstituierende Systeme ergeben sich daraus nun insofern weitreichende Folgen, als nämlich diese vom System in das System hineinkopierte Außengrenze den ersten Schritt darstellt, um Komplexität im Sinnsystem aufzubauen. Letztere resultiert daraus, dass sich Sinnsysteme nicht nur

287 288 289 290 291 292 293

Vgl. Berghaus (2003), S. 39 Vgl. Luhmann (1987), S. 249 Vgl. Berghaus (2003), S. 40 Vgl. Groth (1996), S. 59 Vgl. Luhmann (1987), S. 265 Vgl. Luhmann (1987), S. 63 Vgl. Luhmann (1987), S. 64

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selbst, sondern auch andere Sinnsysteme beim Operieren beobachten können, aber natürlich umgekehrt genauso beobachtet werden können. Dieser selbstreferentielle Prozess ist jedenfalls die logische Erklärung dafür, dass alle Erkenntnis eine Konstruktion ist, weshalb Luhmann seine Systemtheorie ja auch, wie zuvor bereits erwähnt, als operativen Konstruktivismus bezeichnet.294 Die verwendete Begrifflichkeit des selbstreferentiellen Prozesses deutet implizit auf das zweite Leitprinzip hin, dem alle Systeme im Sinne von Luhmann folgen, nämlich die Autopoiese295, auf die an dieser Stelle im Zusammenhang mit der Systemtheorie nach Luhmann noch einmal genauer eingegangen werden soll. Welchen Stellenwert dieses Konzept in seinem Theoriegebäude einnimmt, unterstreicht Luhmann, indem er letztere selbst auch als allgemeine Theorie autopoietischer, selbstreferentieller, operativ geschlossener Systeme296 bezeichnet und damit impliziert, dass nicht nur beobachtete Systeme an sich, sondern auch die sie beschreibende Theorie selbst auf sich referenzieren muss und daher zirkulär ist. Daraus geht wiederum hervor, dass diese weder einen Anfang noch ein Ende hat und demzufolge jeder beliebige Erklärungsversuch nicht linear erfolgen, sondern an unterschiedlichen Sequenzen ansetzen kann.297 Die Theorie ist aber nur selbstreferentiell und nicht autopoietisch, was nach Luhmann entscheidend ist, um ein System auch als System definieren zu können. Der Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen besteht nun darin, dass Selbstreferenz, wie dargelegt aus dem Operieren und Beobachten von Systemen entsteht und eine Voraussetzung für Autopoiese ist, die Luhmann als Produktion des Systems durch sich selber definiert.298 Autopoiese ist also nicht der differenzierende Bezug, sondern die kontinuierliche Produktion des Systems durch sich selbst – wenn man so will, eine spezielle Form des Bezuges auf sich selbst, um sich selbst, also die Elemente aus denen sie bestehen durch die Elemente aus denen sie bestehen, zu produzieren und zu reproduzieren – und schließt neben der Selbstproduktion auch die Selbstorganisation mit ein.299 Diese kontinuierliche Selbstproduktion durch die systemeigenen Operationen ist dahingehend notwendig, damit die autopoietischen Systeme überleben können, denn sie würden aufhören zu existieren, wenn sie ihre eigenen Elemente nicht produzieren und reproduzieren. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die einzelnen Elemente mit Anschlussfähigkeit ausgestattet sind, die sich bei sinnkonstituierenden Systemen durch Sinn ergibt,300 weshalb sich generell

294 295

296 297 298 299 300

Vgl. Berghaus (2003), S. 40 f. Vgl. Berghaus (2003), S. 46 ff., für detaillierte sowie das Autopoiesekonzept (vgl. Kapitel 3.2.7) für zusätzliche Ausführungen zum folgenden Absatz Vgl. Luhmann (1987), S. 31, sowie Luhmann (1998), S. 79 Vgl. Luhmann (1987), S. 14 Vgl. Luhmann (1998), S. 97 Vgl. Berghaus (2003), S. 47 Vgl. Luhmann (1987), S. 28

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lediglich festhalten lässt, dass autopoietische Systeme mit ihren anschlussfähigen Elementen operieren müssen, um existieren zu können und demzufolge operativ geschlossen sind. Um überleben zu können, benötigen sie jedoch auch einen wie immer gearteten Kontakt zu ihrer relativen Umwelt und müssen dieser gegenüber in irgendeiner Form offen sein können, sodass sich letztendlich die Frage stellt, wie selbstreferentielle Geschlossenheit Offenheit erzeugen kann.301 Die Antwort darauf ist die mit dem Autopoiesekonzept übernommene strukturelle Kopplung, auf die an dieser Stelle näher eingegangen werden soll. Die strukturelle Kopplung erfüllt für autopoietische Systeme also die grundsätzliche Möglichkeit einen existenziellen Kontakt zur jeweils relevanten Umwelt herzustellen und ist demzufolge die fundamentale Grundvoraussetzung, dass die konstitutiven Operationen überhaupt begonnen und kontinuierlich fortgesetzt werden können. So wird es durch strukturelle Kopplung erst möglich, dass erstens biologische Systeme überlebensnotwendige Substanzen – wie etwa Sauerstoff, Wasser oder Nahrung – aufnehmen können, um in Form von Leben, zweitens psychische Systeme dadurch unterschiedliche Irritationen wahrnehmen können, um in Form von Bewusstsein, und drittens soziale Systeme letztlich verschiedene Gedanken beobachten können, um in Form von Kommunikation zu operieren und sich damit auch zu konstituieren.302 Es bestehen zwischen den unterschiedlichen Systemen, die alle füreinander relevante Umwelt sind, also gegenseitige Einflüsse und spezifische Wechselwirkungen, sodass in letzter Konsequenz die grundsätzliche Entstehung von sozialen Systemen das prinzipielle Vorhandensein von psychischen Systemen voraussetzt, die ihrerseits wiederum biologische Systeme benötigen, welche letztlich jedoch von der restlichen Umwelt abhängen.303 Damit autopoietische Systeme operieren können, sind anders formuliert gewisse Vorbedingungen notwendig, die an den systemeigenen Grenzen, ohne die konstitutiven Operationen zu behindern, durch dauerhafte Beziehungen geschaffen werden, wobei letztere als strukturelle Kopplung bezeichnet werden.304 Diese unterscheidet Luhmann in weiterer Folge nach der jeweiligen Intensität der systemspezifischen Wechselwirkungen und führt dafür in Bezug auf die Trias der betrachteten Systeme zwei Begriffe ein. Er spricht erstens von Penetration, wenn ein System die eigene Komplexität zum prinzipiellen Aufbau eines anderen Systems zur Verfügung stellt, wobei das Verhalten des penetrierenden Systems durch das aufnehmende System mitbestimmt wird. Dagegen liegt zweitens Interpenetration vor, wenn es sich um einen wechselseitigen Sachverhalt handelt, dass nämlich zwei Systeme ihre jeweilige Komplexität einander für ihren gegenseitigen Aufbau zur

301 302 303 304

Vgl. Luhmann (1987), S. 25 Vgl. Berghaus (2003), S. 50 Vgl. Luhmann (1987), S. 297 Vgl. Berghaus (2003), S. 51

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Verfügung stellen, wobei das aufnehmende System auf die Strukturbildung des penetrierenden Systems zurückwirkt. Diesen beiden Begrifflichkeiten folgend, lassen sich die strukturellen Kopplungen einerseits von einem biologischen System mit einem psychischen System als Penetration, andererseits von einem psychischen System mit einem sozialen System als Interpenetration bezeichnen,305 was durch die evolutionäre Entwicklung der unterschiedlichen Systeme argumentiert werden kann. Während es biologische Systeme lange vor anderen autopoietischen Systemen gab und noch immer von diesen unabhängig gibt, konnten letztere, also psychische Systeme und soziale Systeme, erst auf Basis ersterer koevolutionär entstehen. Das heißt, dass für die grundsätzliche Entstehung der jeweils einen Systemart die jeweils andere Systemart notwendige Umwelt ist, was für psychische Systeme und soziale Systeme zur gemeinsamen Errungenschaft 'Sinn' geführt hat.306 Wegen ebendiesem können die zwei genannten Systeme, wie zu Beginn der generellen Ausführungen bereits angedeutet, auch sinnkonstituierende Systeme genannt werden, worauf nun zurückgekommen werden soll. Für die folgende Betrachtung des Sinnbegriffes ist es zunächst wichtig festzuhalten, dass dadurch automatisch auch der Systembegriff enger gefasst werden könnte und dann streng genommen nur mehr Sinnsysteme, also psychische Systeme sowie soziale Systeme, beinhalten würde. Um jedoch die ohnehin schon sehr komplexen Zusammenhänge nicht noch weiter zu verkomplizieren, soll auch weiterhin die bisher verwendete Unterscheidung von Systemen sowie Sinnsystemen verwendet werden, wobei der erste Ausdruck alle autopoietischen Systeme und der zweite Begriff alle sinnkonstituierenden Systeme in sich vereinen. Die resultierende Begriffsdifferenz umfasst demnach biologische Systeme, die, wie in den erfolgten Ausführungen über Beobachtung als zweite zentrale Aktivität von Systemen bereits aufgezeigt, nur zu unterscheiden, aber nicht zu bezeichnen vermögen und ihren Beobachtungen daher auch keinen Sinn zuweisen können. Dieser ist also, um es wiederholt zu betonen, nur für psychische Systeme und soziale Systeme ein Universalmedium, die beide einerseits sinnvoll operieren, wenn sie denken und kommunizieren, und andererseits ebenso beobachten, sodass durch den von ihnen konstruierten Sinn eine Brücke zwischen den beiden Systemen entsteht. Letzterer schließt, wie durch den Begriff Universalmedium angedeutet wird, alle Aktivitäten, also alle Operationen und alle Beobachtungen, von Sinnsystemen ein und ist allumfassend, unvermeidlich sowie zwangsläufig.307 Das Medium Sinn kann demnach weder vermieden noch verneint werden, sodass alle Prozesse sowohl in psychischen Systemen als auch in sozialen

305 306 307

Vgl. Luhmann (1987), S. 290 Vgl. Luhmann (1987), S. 92 Vgl. Berghaus (2003), S. 108

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Systemen gleichsam einem Sinnzwang unterliegen.308 Was dagegen aber verneint werden kann, sind bestimmte Formen von Sinn, wie Sinnentwürfe, Sinnvorschläge oder Sinnentscheidungen, die von sinnkonstituierenden Systemen innerhalb des universalen Mediums entworfen sowie selektiert werden können.309 All diese wählen also einen aktualisierten Sinn als bestimmte Form aus dem potentiellen Sinn im universalen Medium aus, sodass Sinn als die Einheit von Aktualität und Potentialität bezeichnet werden kann.310 Mit anderen Worten kann der gewählte Sinn stets vom möglichen Sinn unterschieden werden, ohne dass letzterer verschwinden würde, woraus für sinnkonstituierende Systemen durch das kontinuierliche Operieren und damit wiederholtes Selektieren die grundsätzliche Möglichkeit entsteht, den ersteren mit neuen Zuweisungen zu versehen, sprich zu aktualisieren. Sinn wird also, wie erwähnt, von Sinnsystemen konstruiert und ist daher nicht in der Welt vorhanden, die jedoch, weil sie von einer unbegrenzten Anzahl potentieller Sinnsysteme beobachtet werden kann, welche ihrerseits wiederum infinite Unterscheidungen treffen können, unendlich reich wird. Trotzdem können in allen Sinnzuweisungen drei fundamentale Unterscheidungen analytisch getrennt werden, die Luhmann als Sinndimensionen311 bezeichnet. Als deren erste ist die Sachdimension anzuführen, die den Sinn nach innen und außen unterscheidet, sprich danach, was und was nicht zum Sinnsystem gehört, und somit die jeweilige Systemgrenze erfassen kann. Hierzu gilt es zweitens die Zeitdimension zu ergänzen, die den Sinn nach früher und später unterscheidet, also wann und wann nicht ein Sinnsystem etwas beobachtet hat, und die heute verwendet, um die Vergangenheit von der Zukunft zu trennen, sodass die jeweilige Systemveränderung nachvollziehbar wird. Letztlich ist drittens die Sozialdimension zu nennen, die den Sinn nach eigenem und anderem unterscheidet, anders gesagt danach, wie eigene und wie andere Perspektiven von Sinnsystemen beobachtet werden, wodurch die jeweilige Systemgrenze intern verwendet wird.312 In dieser dritten Sinndimension unterscheidet Luhmann zwischen Ego und Alter, wobei Ego als der bezeichnet wird, der eine Kommunikation versteht, und als Alter der, dem die Mitteilung zugerechnet wird, was in der späteren Diskussion um Kommunikation wieder aufgegriffen wird. Zu den drei Sinndimensionen sei jedoch, um hiermit die spezifischen Ausführungen zum Sinnbegriff abzuschließen, noch angemerkt, dass diese die anfangs erwähnten Theoriestränge, auf denen Luhmann sein komplexes Theoriegebäude aufbaut, in folgender Relation abbilden. So ist die Sachdimension mit der Gesellschaftstheorie als soziologische Systemtheorie, die Zeitdimension mit

308 309 310 311

312

Vgl. Luhmann (1987), S. 95 Vgl. Berghaus (2003), S. 110 Vgl. Luhmann (1998), S. 55 Die drei Sinndimensionen spiegeln sich in der Differenzierungslogik für Beratungsformen (vgl. Kapitel 2.2) wieder. Vgl. Berghaus (2003), S. 111 f.

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der Evolutionstheorie sowie die Sozialdimension mit der Kommunikationstheorie besetzt.313 Mit der bestehenden Relation kann also der umfassende Bogen zurück zum ursprünglichen Ausgangspunkt des erfolgten Erklärungsversuches gespannt werden, in dem zunächst autopoietisch operierende Systeme sowie danach sinnvoll operierende Systeme betrachtet werden konnten. Nachdem dabei die generellen Gemeinsamkeiten von biologischen, psychischen und sozialen Systemen diskutiert wurden, konnte näher auf die spezifischen Eigenschaften der beiden letztgenannten Systeme eingegangen werden, von wo aus schließlich der letzte Schritt zu sozialen Systemen gesetzt werden kann. Bei diesem werden jedoch gemäß der Penetration biologische Systeme sowie entsprechend der Interpenetration psychische Systeme insofern berücksichtigt, wie sie für die grundsätzliche Entstehung und die allgemeine Weiterbestehung sozialer Systemen erforderlich sind, die in der weiteren Diskussion nun aufgearbeitet werden. Grundsätzlich können bei sozialen Systemen drei Systemarten unterschieden werden, nämlich die Interaktion, die Organisation sowie die Gesellschaft, wobei die drittgenannte Systemart, das umfassende Sozialsystem ist, das alles Soziale in sich einschließt und infolgedessen keine soziale Umwelt kennt. Daraus folgt, dass die Einheit des Gesellschaftssystems selbstreferentielle Geschlossenheit ist und dieses das autopoietische Sozialsystem par excellence darstellt, das durch Kommunikation operiert. Gesellschaft betreibt also Kommunikation, und was immer Kommunikation betreibt, ist daher Gesellschaft, die ihre Elemente, aus denen sie besteht, selbst konstituiert.314 Sie ist also ein vollständig und ausnahmslos geschlossenes System, was sie von allen anderen sozialen Systemen, die kommunikative Beziehungen mit ihrer Umwelt aufnehmen können, unterscheidet.315 Dazu sind folglich sowohl die Interaktion als auch die Organisation zu zählen, die, ohne sie vorläufig näher zu betrachten, genauso wie die Gesellschaft selbst durch Kommunikation operieren und sich somit von psychischen Systemen sowie biologischen Systemen abgrenzen.316 Wenn nun aber soziale Systeme nur durch Kommunikation operieren und sich durch diese auch abgrenzen, dann stellt sich, bevor endgültig Kommunikation an sich genauer betrachtet werden kann, die wichtige Frage, wie in diese soziologische Systemtheorie eigentlich der Mensch eingeht. Die entsprechende Antwort darauf ist, wie bereits in der einführenden Diskussion um das grundlegende Menschenbild nach dem systemischen Paradigma (vgl. Kapitel 2.2.2.2) skizziert, nicht unmittelbar einleuchtend, sondern wohl eher überraschend.

313 314 315 316

Vgl. Luhmann (1998), S. 1136 ff. Vgl. Luhmann (1987), S. 555 Vgl. Luhmann (1987), S. 556 f. Vgl. Berghaus (2003), S. 58

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Es ist den bisherigen Ausführungen folgend eingängig, dass soziale Systeme nach Luhmann, solange man die konstitutive Aktivität des Operierens als Bezugsebene wählt, aus Kommunikationen und nicht aus Menschen bestehen, weshalb letztere von diesem als Teil der Umwelt sozialer Systeme angesehen werden.317 Der Begriff des Menschen wird jedoch verwendet, um festzuhalten, dass es sich sowohl um das psychische System, also das Bewusstsein, als auch um das biologische System, nämlich den Organismus,318 eines Menschen handelt, der demzufolge als komplexes Konglomerat unterschiedlicher Systeme verstanden wird. Im Gegensatz dazu wird der Ausdruck Person reserviert, um die soziale Identifikation gewisser Erwartungen zu bezeichnen, die an einen spezifischen Menschen gerichtet werden.319 Anders formuliert umschreibt Person die soziale Relevanz eines psychischen Systems,320 ist aber genauso wenig ein autopoietisches System, wie ein Mensch, der, wenn er sich von anderen Menschen nach spezifischen Beschaffenheiten oder nach individuellen Fähigkeiten unterscheiden lässt, zum Individuum wird.321 Solange man also soziale Systeme auf der Bezugsebene ihrer konstitutive Aktivität des Operierens betrachtet, sind Individuen, und damit auch Menschen, beliebige Umwelt für soziale Systeme, aber auch für psychische Systeme und dienen Personen der strukturellen Kopplung zwischen den sinnkonstituierenden Systemen, wobei aber weder Individuen noch Personen Elemente dieser zwei autopoietischen Systeme sind. Ändert man jedoch die Bezugsebene von dieser ersten konstitutiven Aktivität auf die zweite zentrale Aktivität eines sozialen Systems, also vom Operieren zum Beobachten, dann gibt es sowohl Individuen als auch Personen, weil sie von diesem nun als relevante Umwelt beobachtet werden können. Genauer formuliert, beteiligen sich psychische Systeme in Form von Personen an sozialen Systemen,322 wobei dadurch zwischen den beiden autopoietischen Systemen die strukturelle Kopplung der Interpenetration entsteht, die notwendig ist, damit die physikalische Umwelt, in der sich auch Individuen befinden, für soziale Systeme überhaupt erfahrbar wird. Dazu besitzen psychische Systeme ihrerseits strukturelle Kopplungen mit biologischen Systemen, wodurch sie die physikalische Umwelt wahrnehmen können, sodass letztlich jedes Bewusstsein eine Vermittlungsinstanz zwischen Kommunikation und Außenwelt bildet.323 Es kann also ausschließlich ein psychisches System durch Beobachtung, sprich Unterscheiden und Bezeichnen, Menschen und deren Verhalten, das Handeln und Erleben umfasst, sinnvoll wahrnehmen, was für soziale Systeme wiederum essenziell ist. Auf deren

317 318 319 320 321 322 323

Vgl. Luhmann (1987), S. 288, sowie S. 325 Die Begrifflichkeiten 'biologisches System' und 'organisches System' sind gleichbedeutend Vgl. Luhmann (1987), S. 286 Vgl. Krause (2001), S. 173 Vgl. Krause (2001), S. 141 f. Vgl. Krause (2001), S. 162 Vgl. Berghaus (2003), S. 65

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erster Bezugsebene kann die konstitutive Aktivität des Kommunizierens nämlich erst erfolgen, wenn auf der zweiten Bezugsebene die zentrale Aktivität des Beobachtens stattfinden kann, weil nur dadurch die vom psychischen System wahrgenommenen Handlungen erfahren und somit den am sozialen System teilnehmenden Personen zugerechnet werden können. Anders gesagt muss Kommunikation, um prozessieren zu können, letztlich in Handlungen dekomponiert werden,324 sodass Menschen, um die endgültige Antwort auf die gestellte Frage zu geben, durch ihnen zurechenbare Handlungen in soziale Systeme eingehen. Diese bestehen also aus Kommunikation und deren Zurechnung als Handlung, wobei Kommunikation die elementare Einheit der Selbstkonstitution und Handlung die elementare Einheit der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung sozialer Systeme ist.325 Auf diesem Sachverhalt kann nun weiter aufgebaut werden, um Kommunikation als Operationsform sozialer Systeme zu erläutern, wobei sich Luhmann hier an den grundlegenden Erkenntnissen von Gregory Bateson und dessen systemischer Kommunikationstheorie (vgl. Kapitel 3.2.6) orientiert, die er für seine eigene Kommunikationstheorie aufgreift, einzelnen Modifizierungen unterwirft und in das komplexe Theoriegebäude einarbeitet. Um auf die grundlegenden Aspekte dieser modifizierten Kommunikationstheorie eingehen zu können, soll eine veranschaulichende Darstellung eingeführt werden, die auch die bisher erfolgten Ausführungen am plakativen Beispiel der Interaktion zwischen zwei Anwesenden zusammenfasst. Kommunikation

Sinn

Anschlusskommunikation A Alter Ego B

A2

A1

Mitteilung

Information

= B3 Wahrnehmung 0

Soziales System (Kommunikation) Psychisches System (Bewusstsein) Biologisches System (Leben)

Psychisches System (Bewusstsein) Biologisches System (Leben)

Abbildung 3.2: Kommunikation am Beispiel der Interaktion326

324 325 326

B Alter Ego A

System (Operationsform)

Vgl. Luhmann (1987), S. 193 Vgl. Luhmann (1987), S. 240 f. In Anlehnung an Berghaus (2003), S. 64

B2

Interaktion

Mitteilung

B1 Infor-

mation** A3 Verst-

ehen*

Individuum (Person, Körper)

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Die Interaktion zwischen zwei Anwesenden, wie psychische Systeme hierbei auch bezeichnet werden können, ist die einfachste Art eines sozialen Systems und wird daher, um die ohnehin schon komplexen Zusammenhänge nicht noch zusätzlich zu verkomplizieren, auch als generelle Grundlage für die weitere Diskussion gewählt. Damit dieses soziale System zustande kommen kann, bedarf es also der räumlichen Anwesenheit zweier Individuen, die jeweils aus einem biologischen Systemen sowie einem psychischen System bestehen, wobei diese vier autopoietischen Systeme alle für sich operieren, aber einander und natürlich auch sich selbst beobachten können. Dabei ist einerseits die beobachtbare Einheit eines biologischen Systems dessen gesamter Körper, durch den das menschliche Verhalten für die psychischen Systeme erst sinnorientiert327 wahrnehmbar wird, während andererseits das entsprechende Äquivalent eines psychischen Systems die adressierbare Person ist, durch welche kommunikative Wirklichkeit für das soziale Systeme grundsätzlich dargestellt wird.328 Sind diese prinzipiellen Vorsaussetzungen einmal vorhanden, so müssen die beiden Individuen einander über ihre jeweiligen psychischen Systeme selektiv wahrnehmen sowie sich mittels ihrer eigenen biologischen Systeme entsprechend verhalten, damit sich das soziale System konstituieren sowie die dazu erforderliche Kommunikation prozessieren kann. Es ist anders formuliert also für jede beliebige Kommunikation menschliches Verhalten notwendig, das aber erst durch ein Individuum als Handeln körperlich, sprich über dessen biologisches System, geäußert, und damit für ein anderes Individuum als Erleben sinnorientiert, also mit dessen psychischem System, wahrnehmbar gemacht werden kann sowie letztendlich an dessen jeweilige Person als Erwartung, absichtlich oder unabsichtlich, adressiert ist.329 Jedes der beiden psychischen System muss dazu mittels seines operierenden Bewusstseins die erste grundlegende Selektion treffen, die zwei anwesenden Individuen wahrzunehmen, und kann so basierend auf einer zweiten grundlegenden Selektion, durch die zuvor bereits eine beliebige Wahrnehmung sinnhaft330 konstruiert wurde, einen bestimmten Kommunikationsprozess einleiten, der einerseits ein soziales System konstituiert und in dem andererseits weitere Selektionen folgen. Damit ist jede Kommunikation als Operationsform der Interaktion – sowie letztlich auch aller anderen sozialen Systeme – von Beginn an das Prozessieren von Selektion und kann als ein dreistufiger Selektionsprozess verstanden werden,331 der sich in die Komponenten Information, Mitteilung sowie Verstehen gliedern lässt.332 Der geschilderte Prozess soll nun in 327

328 329 330

331 332

Im Unterschied zu 'sinnhaft' bezieht sich 'sinnorientiert' auf unterschiedliche Sinnesorgane als biologische Systeme eines beliebigen Menschen und nicht auf den allumfassenden Sinnbegriff Vgl. Krause (2001), S. 184 Vgl. Krause (2001), S. 227 Im Unterschied zu 'sinnorientiert' bezieht sich 'sinnhaft' auf den allumfassenden Sinnbegriff und nicht auf unterschiedliche Sinnesorgane als biologische Systeme eines beliebigen Menschen Vgl. Luhmann (1987), S. 194 Vgl. Luhmann (1998), S. 190

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Historische Wurzeln der Beratungsformen

Bezug auf die zuvor skizzierte Darstellung aus der allgemeinen Perspektive eines beliebigen Beobachters beschrieben werden, der an der beobachteten Interaktion entweder beteiligt oder aber unbeteiligt ist und daher sowohl Selbstbeobachter als auch Fremdbeobachter sein kann, unabhängig davon aber stets ein Sinnsystem ist. Die grundlegende Erfüllung der formulierten Rahmenbedingungen vorausgesetzt, wird als genereller Ausgangspunkt eine beliebige Wahrnehmung (0) von einem der beiden psychischen Systeme gewählt, die es über die strukturelle Kopplung mit dem jeweiligen biologischen System, das dabei bereits eine grundlegende Selektion trifft, konstruiert hat. Diese beliebige Wahrnehmung wird nun im psychischen System erst durch den selektiven Akt systemspezifischer Aufmerksamkeit zu einer relevanten Information (A1) gemacht, in dem diese durch den konstituierenden Beobachter von allem Anderen unterschieden und mit zugewiesenem Sinn versehen wird.333 Durch das gezielte Bestreben jemandem diese konstituierte Information mitzuteilen, wird das psychische System dann für das soziale System als Person relevant, welche der konventionellen Auffassung nach als Sender bezeichnet wird. Luhmann beschreibt diesen dagegen als Alter, weil er nach den konstruktivistischen Grundprinzipien davon ausgeht, dass Kommunikation erst beim Empfänger verstanden werden muss, um prozessiert werden zu können, sodass entgegen der konventionellen Auffassung diesem die entscheidende Rolle zukommt, weshalb er ihn auch als Ego bezeichnet. Bevor Ego jedoch in kommunikationsspezifische Erscheinung treten kann, ist Alter gefordert, eine zweite Selektion durchzuführen, in der die für die Kommunikation bestimmte Information von allen anderen Informationen, die vorhanden sind, zu differenzieren, sodass eine spezifische Mitteilung (A2) formuliert werden kann. Es besteht also zwangsläufig eine Differenz zwischen Information und Mitteilung, wobei letztere nicht nur einen selektierten Inhalt, sondern auch eine ausgewählte Form hat, sodass das, was kommuniziert wird, von dem, wie kommuniziert wird, unterschieden werden kann.334 Beiden ist jedoch gemein, dass sie mit dem universalen Medium Sinn konstituiert sind und in diesem mittels eines bestimmten Mediums kommuniziert werden, das für die betrachtete Interaktion eine beliebige Sprache sein soll, die in mündlicher Form verwendet wird.335 Damit die selektierte Mitteilung jetzt prozessiert werden und sich das soziale System folglich konstituieren kann, ist es unumgänglich, dass Alter ein individuelles Verhalten wählt, das die grundlegende Information mitteilt

333 334 335

Vgl. Berghaus (2003), S. 71 Vgl. Berghaus (2003), S. 72 f. Kommunikation kann sowohl in verschiedenen Medien als auch unterschiedlichen Formen sinnvoll prozessieren, wobei diverseste Variationen möglich sind. Während als Medium erstens Sprache, zweitens Verbreitungsmedien und drittens Erfolgsmedien fungieren können, gibt es darin Formen, wie beispielsweise mündlich, schriftlich, gedruckt, bildlich, elektronisch, etc., wie Luhmann (1987), S. 220 ff., ausführt.

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und diese dadurch von Ego verstanden werden kann.336 Alter muss mittels seines biologischen Systems also handeln, um die selektierte Mitteilung für das psychische System von Ego erlebbar zu machen, weshalb Luhmann auch von entsprechendem Mitteilungshandeln sowie dazugehörigem Mitteilungserleben, die letztlich beide vom spezifischen Mitteilungsverhalten umfasst werden, spricht. Anders formuliert wird letzteres durch die beiden Körper an die beiden Personen adressiert, sprich durch die biologischen Systeme für die psychischen Systeme wahrnehmbar gemacht, um so in das soziale System einzugehen, wobei Alter wegen seines sinnhaften Handelns von Ego entsprechende Anschlussfähigkeit erwartet. Ob dies passiert, entscheidet jedoch nicht Alter, sondern Ego, indem es die dritte Selektion trifft, die im gesamten Kommunikationsablauf am wichtigsten ist und als strukturelles Verstehen (A3), das von inhaltlichem Verstehen zu unterscheiden ist, bezeichnet wird. Damit ist gemeint, dass Ego das, was es von Alter hört oder sieht, als eine an es gerichtete Mitteilung interpretiert und damit versteht, dass beim mitteilenden Individuum eine Differenz zwischen allen vorhandenen Informationen und einer gewählten Mitteilung vorliegt.337 Es lässt sich nach Luhmann damit folgern, dass Kommunikation, wenn man sie als Synthese dreier Selektionen, nämlich Information, Mitteilung und Verstehen, begreift, erst realisiert wird, wenn und soweit Verstehen zustande kommt.338 Das adressierte Ego entscheidet also, ob es sich beim beobachteten Verhalten vom mitteilenden Alter überhaupt um Kommunikation handelt und folglich auch, ob und wie es auf die an es gerichteten Erwartungen reagiert und eine weitere Kommunikation anschließt, sodass sich das soziale System konstituiert und operiert. Die erste Selektion dieser so genannten Anschlusskommunikation ist dann das inhaltliche Verstehen der von Alter gesendeten Mitteilung sowie dem darin enthaltenen Sinn durch Ego, wobei letzteres das beobachtete Sinnangebot annimmt oder ablehnt und dadurch für sich eine neue Information (B1) konstruiert. Ego wird dadurch für diese anschließende Kommunikation zu Alter und bewirkt somit umgekehrt natürlich auch für sein Pendant einen Rollentausch von Alter zu Ego, womit der für die einleitende Kommunikation skizzierte Prozess gegengleich von vorne beginnt. Verstehen kann also in zwei Akte unterteilt werden, wobei der strukturelle Part die erste Kommunikation abschließt und der inhaltliche Teil die zweite Kommunikation beginnt, in der es nun wiederum zur zweiten Selektion der Mitteilung (B2) auf Seiten von Alter kommt, die schließlich von der dritten Selektion des Verstehens (B3)339 auf Seiten von Ego gefolgt wird. Damit kommt die prozessierte Anschlusskommunikation, mit der letztlich wieder spezifische

336 337 338 339

Vgl. Luhmann (1987), S. 195 Vgl. Berghaus (2003), S. 75 Vgl. Luhmann (1987), S. 203 Diese ist in der Darstellung (vgl. Abbildung 3.2) vereinfachend mit der Wahrnehmung (0) gleichgesetzt

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Historische Wurzeln der Beratungsformen

Erwartung auf eine weiterführende Kommunikation in die entgegengesetzte Richtung verbunden ist, zum tatsächlichen Abschluss,340 sodass das soziale System weiter bestehen bleibt. Solange danach immer wieder anschlussfähige Kommunikationen folgen, das soziale System also operiert, existiert die beobachtete Interaktion, hört jedoch auf, sobald dies nicht mehr passiert. Was in den erfolgten Ausführungen über das operierende Interaktionssystem bisher stillschweigend unterstellt, jedoch implizit angedeutet wurde, ist die grundsätzliche Kontingenz, die jeder Selektion zugrunde liegt, sowie die doppelte Kontingenz, die für jede Kommunikation daraus folgt. Dabei ist unter grundsätzlicher Kontingenz im traditionellen Sinne zu verstehen, dass etwas, sprich eine beliebige Selektion, so, aber auch anders möglich ist, weil diese stets eine bestimmte Differenz dazu bildet, was zufolge der vorhandenen Komplexität insgesamt sein könnte. Jeder komplexe Sachverhalt beruht daher auf der selektierten Relation zwischen seinen einzelnen Elementen, die er benutzt, um sich zu konstituieren sowie sich zu erhalten, indem diese durch die getroffene Selektion entsprechend qualifiziert sowie gezielt platziert werden, obwohl auch eine andere Relationierung möglich wäre.341 Überträgt man dies nun auf die drei Selektionen einer beliebigen Kommunikation, also auf die Trias von Information, Mitteilung und Verstehen, so ist es augenscheinlich, dass jede dieser Komponenten in sich selbst ein kontingentes Vorkommnis ist.342 Von diesem speziellen Blickwinkel aus scheinen das prinzipielle Zustandekommen von jeglicher Kommunikation und damit das grundsätzliche Funktionieren von sozialen Systemen wegen der dreistufigen Auswahl zunächst einmal extrem unwahrscheinlich.343 Diese offensichtliche Unwahrscheinlichkeit wird gesteigert, so kann man auf den ersten Blick zumindest annehmen, wenn man bedenkt, dass an solch einer kommunikativen Operation stets Alter und Ego, also mindestens zwei Instanzen, beteiligt sind und diese dabei ihre jeweiligen Selektionen darauf abstellen, dass auch die andere Seite selektiert, weshalb letztlich doppelte Kontingenz vorliegt. Diese überwindet jedoch die grundsätzliche Kontingenz, weil sie einen spezifischen Problemlösungsprozess einleitet und damit zur höheren Erfolgswahrscheinlichkeit führt, dass soziale Systeme operieren können. Erklärt werden kann das dadurch, dass alle beteiligten Systeme füreinander zwar sowohl undurchsichtig als auch unkalkulierbar sind, sich jedoch trotzdem gegenseitige Beeinflussung unterstellen und sinnvolle Einflüsse zurechnen, wodurch weiterführende Anschlussoperationen provoziert werden. Es entsteht also ein zirkulärer Bezug, der wiederum zu einer sozialen Ordnung führt,344 wobei sowohl

340 341 342 343 344

Vgl. Luhmann (1998), S. 259 Vgl. Luhmann (1987), S. 47 Vgl. Luhmann (1998), S. 190 Vgl. Luhmann (1998), S. 193 Vgl. Berghaus (2003), S. 99

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deren Unwahrscheinlichkeit als auch deren Normalität durch die doppelte Kontingenz erklärt werden kann. Schließlich erzeugt jedes beliebige Handeln in einem sozialen System einerseits Informationswert und andererseits Anschlusswert für ein daraus folgendes Handeln gerade deshalb, weil das betrachtete System geschlossenselbstreferentiell gebildet wird, also die teilnehmenden Personen sich wechselseitig bestimmen, sodass jeder Zufall, jeder Anstoß, jeder Irrtum produktiv wird,345 weshalb doppelte Kontingenz zwangläufig zur Bildung von sozialen Systemen führt.346 Auf Basis der bisher skizzierten Diskussion über soziale Systeme, für die anhand der beiden Extremata, nämlich der Gesellschaft als umfassendes Sozialsystem und der Interaktion als einfaches Sozialsystem, die einschränkenden Leitplanken gesetzt wurden, ist es nun möglich, eine Organisation als gesellschaftliches Teilsystem zu betrachten. Diese operiert zunächst wie jedes soziale System mit Kommunikation, unterscheidet sich von einem Interaktionssystemen sowie dem Gesellschaftssystem aber, indem sie sich ersten durch Mitgliedschaftsregeln auszeichnet sowie zweitens aus Entscheidungen besteht.347 Während die erstgenannten Mitgliedschaftsregeln als formalisierte Verhaltenserwartungen verstanden werden, die von allen Mitgliedern sowohl grundsätzlich akzeptiert als auch verpflichtend eingehalten werden müssen, kommen die zweitgenannten Entscheidungen den elementaren Kommunikationen gleich, mit den sich jede Organisation einerseits grundsätzlich konstituieren sowie andererseits autopoietisch reproduziert. Nach Luhmann sind also soziale Systeme dann als Organisationen definiert, wenn sie aus Entscheidungen bestehen und die Entscheidungen, aus denen sie bestehen, durch die Entscheidungen, aus denen sie bestehen, selbst anfertigen, wobei diese keine psychischen Vorgänge, sondern eben einzelne Kommunikationen sind.348 Weil ebendiese in sozialen Systemen nur auf der operierenden Ebene bestehen und erst durch Handlungen der involvierten Personen über die beobachtende Ebene zurechenbar werden, trifft dieser fundamentale Zusammenhang natürlich auch auf alle Entscheidungen zu. Zu solchen werden einzelne Kommunikationen sowie zurechenbare Handlungen aber erst dann, wenn sie auf eine an sie gerichtete Erwartung, also die bestehenden Mitgliedschaftsregeln, reagieren.349 Aus diesem Zusammenhang zwischen Entscheidung und Erwartung lässt sich wiederum erkennen, dass Menschen als Mitglieder von einer Organisation die Adressaten der Erwartungen von ebendieser Organisation sind. Selbige ist als soziales System natürlich operativ geschlossen, durch strukturelle Kopplungen aber gleichzeitig umwelt-offen, sodass in der systemrelevanten Umwelt letztlich vielfältige

345 346 347 348 349

Vgl. Luhmann (1987), S. 165 Vgl. Luhmann (1987), S. 177 Vgl. Rüsch (2002), S. 59 Vgl. Luhmann (1992), S. 166 Vgl. Luhmann (1988a), S. 278

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Irritationen beobachtet werden können. Zu tatsächlichen Informationen werden aber nur jene Irritationen verarbeitet, die intern eine beliebige Differenz erzeugen und so auf die eigenen Entscheidungszusammenhänge bezogen werden können. Das, was die jeweilige Organisation dabei wahrnehmen kann, hängt einzig und allein von ihren eigenen Erfahrungen, welche sich in ihrer Vergangenheit bewährt haben, also ihre Geschichte sind.350 Damit kann die ausführliche Aufarbeitung der sozilogischen Systemtheorie, die vor allem von Niklas Luhmann geprägt wurde, abgeschlossen werden, auch wenn sie dafür letzten Endes nur einem groben Erklärungsversuch gleichkommt. Es können für die Supertheorie von Luhmann, wie dieser seine soziologische Systemtheorie, die auf dem strukturfunktionalen Ansatz von Parson sowie dem systemfunktionalen Ansatz aufbaut, selbst nennt, nun folgende Aspekte zusammengefasst werden. Auf der umfangreichen Basis von fundamentalen Erkenntnissen aus unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen baut Luhmann ein komplexes Theoriegebäude auf, das aus einem engen Geflecht von drei Theoriesträngen, erstens der Gesellschaftstheorie als sozilogische Systemtheorie, zweitens der Kommunikationstheorie sowie drittens der Evolutionstheorie, besteht. Darin entwickelt er wiederum eine Systemtheorie auf drei Ebenen, wobei er von allgemeinen Systemen ausgeht, weiter auf soziale Systeme fokussiert und schließlich gesellschaftliche Teilsysteme betrachtet. Ausgehend von der generellen Auffassung, dass die beliebige Bildung von allgemeinen Systemen den spezifischen Zweck erfüllt, vorhandene Komplexität zu reduzieren, wurde rund um diese aufgezeigt, welchen zwei Leitprinzipien hierbei gefolgt wird. Diese sind erstens die System-Umwelt-Differenz sowie zweitens die Autopoiese, nach denen alles, was im Sinne von Luhmann ein System ist, geschlossen operiert und sich so auch konstituiert. Während damit dem ersten Leitprinzip folgend jedes System als Differenz von System und Umwelt definiert ist und diese somit als konstituierender Faktor berücksichtigt wird, produziert dieses dem zweiten Leitprinzip entsprechend die Elemente aus denen es besteht durch sich selbst und ist nur durch strukturelle Kopplungen nach außen hin offen. Die systemspezifischen Elemente sind dabei den systeminternen Operationen gleichgesetzt, die sich der entsprechenden Systemart nach unterscheiden lassen, sodass sich den drei autopoietischen Systemen, die von Luhmann betrachtet werden, also biologischen Systemen, psychischen Systemen sowie sozialen Systemen, in der genannten Reihenfolge Leben, Bewusstsein sowie Kommunikation als jeweiliges Letztelement zuordnen lassen. In dieser spezifischen Sequenz bauen die drei Systeme auch aufeinander auf, sodass biologische Systeme die unumgängliche Voraussetzung für die mögliche Entstehung von psychischen Systemen sind, durch welche und mit welchen sich wiederum erst soziale Systeme

350

Vgl. Groth (1996), S. 74 f.

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koevolutionär entwickeln können. Dementsprechend ist diese Trias autopoietischer Systeme untereinander strukturell gekoppelt, wobei biologische Systeme psychische Systeme penetrieren, psychische Systeme und soziale Systeme einander jedoch interpenetrieren. Ebendiese wechselseitige Interpenetration ist durch das universelle Medium Sinn, das wieder in drei Sinndimensionen, nämlich die Sachdimension, die Zeitdimension und die Sozialdimension unterteilt werden kann, ermöglicht, weshalb psychische Systeme und soziale Systeme auch als sinnkonstituierende Systeme bezeichnet werden können. Darauf aufbauend wurde schließlich auf Kommunikation als Operation sozialer Systeme eingegangen, wofür als anschauliches Beispiel die einfachste Form eines sozialen Systems herangezogen wurde, also die Interaktion zwischen zwei Anwesenden, die wiederum von der Gesellschaft als allumfassendes Gesamtsystem aller sozialen System sowie von der Organisation als spezieller Fall eines sozialen Systems unterschieden werden kann. Weil aber alle diese sozialen Systeme mittels Kommunikation geschlossen und autopoietisch operieren, geht der Mensch erst über die zweite Ebene der systemspezifischen Beobachtung mit seinen individuellen Handlungen ein, welche jedoch auf der ersten Ebene für die generelle Selbstkonstitution unumgänglich sind. Auf ebendieser Ebene findet Kommunikation als dreiteiliger Selektionsprozess von Information, Mitteilung und Verstehen statt, die alle für sich kontingente Vorkommnisse sind, sodass es wegen der grundsätzlichen Beteiligung von mindestens zwei Personen stets zu doppelter Kontingenz in sozialen Systemen kommt. Dadurch wird deren allgemeine Bildung allerdings erst möglich und sie können auch nur dann weiter bestehen, wenn sie anschlussfähig operieren, sodass auf jedes Element wieder ein anderes Element folgen kann. Überträgt man nun all diese Sachverhalte auf Organisationen, so lässt sich festhalten, dass deren Elemente Entscheidungen sind, als die jedes Verhalten interpretiert werden kann, wenn es auf Erwartungen in der Organisation reagiert. 3.2.9 Fazit über historische Wurzeln der systemischen Beratung Die historischen Wurzeln der systemischen Beratung wurden entlang der zahlreichen Einflüsse aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen aufgearbeitet, die sich von Physik und Technik, über Biologie und Neurobiologie sowie über Familientherapie und Kommunikationstheorie, bis hin zur Epistemologie und Soziologie erstrecken. Aus den einzelnen Theoriesträngen, die sich in den genannten Bereichen großteils ab Mitte des 20sten Jahrhunderts entwickeln, resultieren einen breite Vielfalt von relevanten Erkenntnissen, die in den folgenden Jahrzehenten immer mehr ineinander fließen und einander befruchten, sodass insgesamt ein komplexes Theoriegebäude entsteht, das den fundamentale Nährboden für systemische Beratung bildet. Die allumfassende Basisströmung bildet dabei der radikale Konstruktivismus mit seiner grundlegenden Ansicht, dass keine externe Wirklichkeit vom jeweiligen Beobachter

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unabhängig existiert, sondern selbiger nur ein internes Bild von seiner jeweiligen Umwelt individuell konstruiert. Aus beratungsspezifischer Sicht heißt das letztlich, dass erstens jedes Individuum, also sowohl jeder Berater als auch jeder Klient, sein eigenes Bild von einer Situation konstruiert und zweitens zwischen Individuen, sprich vom Berater zum Klienten, kein gezielter Transfer von Wissen stattfinden kann. Zu diesen grundlegenden Einsichten gesellen sich die fundamentalen Erkenntnisse der bahnbrechenden Chaostheorie, wonach mechanische Systeme aufgrund vielfältiger Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Elementen keinem linearen UrsacheWirkungs-Zusammenhang unterliegen, sondern nichtlineares Verhalten aufweisen, das im besten Falle kurzfristig vorhergesagt, jedoch unter keinen Umständen genau berechnet werden kann. Als solch nichttriviale Systeme können letztlich auch soziale Systeme verstanden werde, woraus sich die logische Konsequenz für systemische Beratung ergibt, dass durch diese das systemspezifische Verhalten von außen nicht vorhergesagt werden kann. Von hier aus lässt sich eine Parallele zur Kybernetik konstruieren, die mit dem grundsätzlichen Anspruch, dieses spezifische Verhalten bei mechanischen Systemen durch gezielte Beeinflussung zu steuern und zu regeln, zunächst zwar von trivialen Systemen ausgeht, daraus aber nützliche Konzepte zur allgemeinen Beschreibung auch von nichttrivialen Systemen ableitet. Daraus ergibt sich beispielsweise neben den zirkulären Regelkreismodellen, durch welche reflexive Wechselwirkungen in den beobachteten Systemen abgebildet werden können, das wichtige Konzept der Beobachtung, das, nachdem es zuerst ausschließlich auf die Beobachtung des systemspezifischen Verhaltens ausgerichtet ist, dann auch auf die Beobachtung des beobachtenden Systems ausgeweitet wird. Demzufolge kann die Beobachtung erster Ordnung, mittels derer das spezifische Verhalten des jeweiligen Systems beobachtet wird, von der Beobachtung zweiter Ordnung, die wiederum die prinzipiellen Beobachtungsregeln des jeweiligen Beobachtungssystems beobachtet, unterschieden werden. Vor allem die letztgenannte Beobachtung zweiter Ordnung ist für systemische Beratung wegweisend, weil damit nicht das eigentliche Problem des jeweiligen Klienten, sondern dessen konstruierende Beobachtungsmuster für dessen spezifische Problemsicht beobachtet werden. Diese beratungsrelevanten Aspekte kybernetischen Ursprungs werden wiederum von der biologischen Richtung her durch die allgemeine Systemtheorie mit einem bedeutenden Entwicklungsschritt versehen. Als erste Wissenschaftsdisziplin betrachtet diese ein beliebiges System nicht mehr nach der Differenzierung zwischen Teil und Ganzem, sondern nach der Differenzierung zwischen einem System und seiner Umwelt, sodass letztere als ein konstitutiver Faktor berücksichtigt wird und sich der relevante Beobachtungspunkt vom Systeminneren in die Systemgrenze verlagert. Dies ist für einen beliebigen Beratungskontext deshalb ein wichtiger Fortschritt, weil beratene Organisationen als soziale Systeme nicht als von der systemspezifischen Umwelt unabhängig gedacht

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werden können, sondern auf diese in irgendeiner Weise angewiesen sind und daher mit dieser eine essentielle Verbindung aufnehmen können müssen. Dazu liefert das neurobiologische Autopoiesekonzept einen entscheidenden Beitrag, durch den ein theoretisches Verständnis dafür erzeugt wird, wie nichttriviale Systeme, die aufgrund ihrer operativen Geschlossenheit letzten Endes unvorhersagbar und unberechenbar sind, mit ihrer systemspezifischen Umwelt eine überlebensnotwendige Beziehung aufbauen können. Dies wird durch die strukturelle Kopplung ermöglicht, über die ein beliebiges System, das ausschließlich mit seinen eigenen Elementen operiert und diese auch mit den eigenen Elementen reproduziert, von seiner relevanten Umwelt irritiert werden kann. Welches systeminterne Verhalten aus diesen systemexternen Irritationen resultiert, bestimmt jedoch nur das irritierte System selber, woraus sich für systemische Beratung wiederum ableiten lässt, dass die in einem sozialen System gesetzten Interventionen durch die strukturelle Kopplung zwar indirekte Störungen hervorrufen, aber nie direkte Beeinflussungen verursachen können. Das geschieht in sozialen Systemen durch eine wie auch immer geartete Kommunikation, woraus sich die weiterführende Verbindung zur systemischen Kommunikationstheorie ergibt. Deren zentraler Ansatz, dass jede Kommunikation auf zwei Ebenen, nämlich auf der Inhaltsebene und der Verhaltensebene stattfindet und nie vom Sender aus gesteuert, sondern nur vom Empfänger her interpretiert werden kann, bildet einen weiteren Eckpfeiler im systemischen Beratungsverständnis. In diesem kommen die skizzierten Einflüsse aus den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen zusammen, wobei dessen dominanteste Bezugsquellen zum einen die noch relativ junge soziologische Systemtheorie und zum anderen die deutlich weiter zurückreichende systemische Familientherapie sind. Zu begründen ist das dadurch, dass in diesen zwei letzten historischen Wurzeln ein großer Teil der vielfältigen Erkenntnisse aus den sechs zuvor genannten Theoriesträngen nicht nur gezielt zusammengeführt, sondern auch systematisch weiterentwickelt wurde. So entsteht der systemischen Beratung nach der Wiener Schule, auf die systemische Beratung in der vorliegenden Arbeit stets bezogen ist, einerseits aus der soziologischen Systemtheorie eine sehr umfassende Theoriegrundlage und andererseits aus der systemischen Familientherapie ein eher spezifisches Praxisfundament. Auf dieses soll zunächst aufgrund der gegenüber der soziologischen Systemtheorie vergleichsweise um 30 Jahre längeren Tradition der systemischen Familientherapie zuerst eingegangen werden, ehe letztlich die daraus resultierenden Aspekte für die systemische Beratung mit dem jüngsten Theoriestrang verknüpft werden. Wie bereits erwähnt, nimmt die systemische Familientherapie eine entscheidende Vorreiterrolle für die systemische Beratung ein,351 indem sie mittels der systemischen

351

Vgl. Wimmer (1992c), S. 63

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Historische Wurzeln der Beratungsformen

Kommunikationstheorie, aus der sie anfänglich die grundlegenden Impulse erhält, die kybernetischen Ansätze der Beobachtung erster Ordnung sowie der Beobachtung zweiter Ordnung übernimmt und auf die Familie als soziale Systeme anwendet. Im letzteren werden in Anlehnung an das grundlegende Verständnis der allgemeinen Systemtheorie einzelne Familienmitglieder als handelnde Personen verstanden, die das systemspezifische Verhalten bestimmten. Folglich bestehen soziale Systeme in dieser von Bateson geprägten Auffassung aus einzelnen Menschen, sodass diese die konstituierenden Elemente verkörpern, deren Kommunikation und Verhalten zum einen in engem Zusammenhang miteinander stehen und daher zum anderen von der externen Perspektive aus beobachtet werden. Von zentralem Interesse ist dabei vor dem konstruktivistischen Grundverständnis die zweiteilige Frage, aufgrund welcher impliziten Regeln die systemspezifischen Wirklichkeiten konstruiert werden sowie welche individuellen Wahrnehmungen daher bei den einzelnen Familienmitgliedern erfolgen. All diese grundsätzlichen Überlegungen, die letztlich darauf abzielen, wie ein soziales System, das geschlossen operiert, irritiert werden sollte, damit die in diesem sozialen System bestehenden Symptome gelöst werden können, sind dem Palo Alto Modell zuzurechnen. Aus diesem gehen bedeutende Impulse einerseits für das Modell der Mailänder Schule sowie andererseits für das Modell der Heidelberger Schule hervor, die wiederum starken Einfluss auf die systemische Beratung nehmen. So werden in den drei Phasen des Mailänder Modells nicht nur erste systemische Interventionstechniken, wie beispielsweise die paradoxe Intervention, sondern auch eine entsprechende Haltung, nämlich jene der grundsätzlichen Neutralität, entwickelt. Letztere wird im Heidelberger Modell, das von den beiden genannten Schulen stark beeinflusst wird und daher auch von den gleichen Grundannahmen ausgeht, in die umfassendere Allparteilichkeit integriert, wodurch die systemische Haltung letzten Endes ausgebaut wird. Darüber hinaus widmet sich die Heidelberger Schule intensiv den umfassenden Zusammenhängen von Verhalten und Wahrnehmung, sprich den Interaktionsmustern und der Wirklichkeitskonstruktion in einem sozialen System, die in zirkulärer Wechselwirkung eine bestimmte Symptombildung zuerst verursachen und danach verfestigen können. Um diesen selbstverstärkenden Regelkreislauf von außen, sprich durch den Therapeuten, zu irritieren, sodass dieser von innen, also durch das Familiensystem, hinterfragt wird, werden weitere Interventionstechniken, wie etwa das zirkuläre Fragen entwickelt, um dadurch die mögliche Beseitigung des bestehenden Symptoms zu unterstützen. Insgesamt resultieren für die systemische Beratung damit aus der systemischen Familientherapie einerseits die erstmalige Praxisanwendung der skizzierten Erkenntnisse aus den anderen Theoriesträngen sowie andererseits übertragbare Grundkonzepte für eine systemische Haltung und entsprechende Interventionstechniken. All diese familienspezifischen Überlegungen werden zum einen von systemischen Familientherapeuten weiterentwickelt und zum

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131

anderen von prozessorientierten Beratern aufgegriffen, um so eine entsprechende Anwendung auf organisationsspezifische Fragestellungen zu erzielen.352 Dabei führt der Entwicklungspfad von der Familie über Familienunternehmen zu Organisationen, die alle drei als soziale Systeme zwar deutliche Parallelen, aber auch gravierende Unterschiede aufweisen, wofür schließlich die systemtheoretischen Überlegungen von Luhmann hilfreich werden. Bei der weiteren Entwicklung der systemischen Beratung entlang der soziologischen Systemtheorie von Luhmann gilt es, bevor auf die angesprochenen Unterschiede zwischen Familie und Organisation eingegangen werden kann, das grundsätzliche Systemverständnis dieser historischen Wurzel in einen allgemeinen Bezug zu den bisherigen Ausführungen zu setzen. Während in diesen die Elemente von sozialen Systemen in Anlehnung an Bateson Menschen sind, rücken in den Überlegungen von Luhmann Kommunikationen an diese Stelle, sodass Menschen nicht mehr als Subjekt in sozialen System betrachtet, sondern nur mehr in der Umwelt von sozialen Systemen beobachtet werden können. Dieser entscheidende Schritt bewirkt, dass manche systemischen Vertreter zwar die prinzipielle Übertragbarkeit theoretischer Überlegungen von Luhmann auf beliebige Organisationen für beratungsspezifische Zwecke attestieren, in letzter Konsequenz aber am fundamentalen Systemmodell von Bateson festhalten, weil ihrer systemtheoretischen Auffassung nach systemische Beratung in erster Linie auf handelnde Personen ausgerichtet sein muss.353 Dem entgegen vollzieht die systemische Beratung nach der Wiener Schule, für die in der vorliegenden Arbeit systemische Beratung letztlich als synonymer Begriff verwendet wird, diesen entscheidenden Schritt und versteht systemische Organisationen als nichttriviale Maschinen, die sich mittels systemspezifischer Kommunikation ständig selbst reproduzieren.354 Für diese sich in Wien ab den 1980er Jahren entwickelnde systemische Beratung, der aus dem Zusammenwirken von Sozialwissenschaftern, Betriebswirten, Gruppendynamikern, Psychoanalytikern, Familientherapeuten sowie Wissenschaftern ein fruchtbarer Boden entsteht,355 kann auf die angesprochenen Unterschiede zwischen den beiden sozialen Systemen Familie und Organisation nun eingegangen werden, wobei sich vier Kriterien erkennen lassen. An erster Stelle ist dabei die unterschiedliche Leitdifferenz zu nennen, nach der in den beiden sozialen Systemen beliebige Ereignisse selektiert werden. Während sich Familien an der Leitdifferenz Liebe vs. Nichtliebe orientieren, folgen Organisationen einerseits der Leitdifferenz Entscheidung vs. Nichtentscheidung und andererseits der Leitdifferenz Zahlung vs. Nichtzahlung im Kontext des Subsystems Wirtschaft. Dazu kann als

352 353 354 355

Vgl. Simon (1995), S. 288 Vgl. König/Volmer (2000), S. 30 f. Vgl. Königswieser/Hillebrand (2004), S. 35 Vgl. Boos/Heitger/Hummer (2004), S. 35

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Historische Wurzeln der Beratungsformen

zweites Kriterium der unterschiedliche Komplexitätsgrad in den beiden sozialen Systemen festgehalten werden, nach dem sich Familien von Organisationen zuerst nach der Zahl der konstituierenden Elemente und daraus folgend nach der Zahl und der Verschiedenartigkeit der möglichen Beziehungen zwischen diesen Elementen unterscheiden. Als drittes Merkmal ist die unterschiedliche Zugehörigkeitsart der einzelnen Mitglieder zum jeweiligen sozialen System anzuführen, die in der Familie durch die Geburt dauerhaft vorgegeben ist, jedoch in der Organisation ab dem Eintritt zeitlich begrenzt ist. Unabhängig von diesen drei Aspekten besteht viertens eine unterschiedliche Beziehungsqualität in den beiden sozialen Systemen, sodass zum einen Familien eher in der Sozialdimension, zum anderen Organisationen tendenziell in der Sachdimension kommunizieren.356 Entlang dieser vier Kriterien kann mittels der soziologischen Systemtheorie demnach das Begriffspaar Therapeut und Familie der systemischen Familientherapie in das Begriffspaar Berater und Organisation der systemischen Beratung transferiert werden357 und so an der beratungsspezifischen Übersetzung der familientherapeutischen Ansätze gearbeitet werden. Alles das kann in das umfassende Theoriegebäude der soziologischen Systemtheorie eingeordnet werden, das für die systemische Beratung den prinzipiellen Mehrwert darstellt, die spezifischen Erkenntnisse aus den verschiedenen Theoriesträngen so miteinander zu verknüpfen und gezielt zu entwickeln, dass diese eine stabiles Fundament für die komplexe Beratungspraxis bilden. Für diese entstehen durch die systemtheoretische Auffassung, dass erstens alle Systeme in Differenz zu ihrer Umwelt selbstreferentiell, autopoietisch und geschlossen operieren, um so zweitens die insgesamt bestehende Komplexität einerseits zu reduzieren, gleichzeitig jedoch drittens eine systemintern notwendige Komplexität andererseits zu generieren, wobei diese beiden Prozesse viertens aus der systemspezifischen Umwelt nur über strukturelle Kopplungen irritiert werden können, weitreichende Möglichkeiten zur kritischen Reflexion beraterischer Tätigkeit. So können sowohl das beratene Unternehmen als auch das beratende Unternehmen sowie letztlich das die beiden verbindende Beraterteam als komplexe Kommunikationssysteme betrachtet werden, die erstens sich auf spezifische Weise reproduzieren, zweitens für sich spezifische Weltsichten entwickeln, drittens einander mit spezifischen Kommunikationen irritieren und somit viertens sich wechselseitig mit spezifischen Beeinflussungen konfrontieren. Letztere können jedoch nicht gezielt vorgenommen werden, sondern ausschließlich irritierend einwirken, weshalb externe Berater soziale Systeme nicht verändern, sondern nur stören können. Um mit genau diesem zentralen Aspekt, der für jede beliebige Beratungssituation entscheidend ist, umgehen zu können, ist das umfassende Potential der soziologischen Systemtheorie

356 357

Vgl. Kolbeck (2001), S. 112 f. Vgl. Groth (1996), S. 45

Historische Wurzeln der Beratungsformen

133

nützlich. Selbige kann, weil sie selbst mit hoher Komplexität ausgestattet ist, einen angemessenen Theorierahmen liefern, in dem die komplexen Beratungssituationen beschrieben werden können. Durch die explizite Trennung der systemspezifischen Operationen auf zwei Ebenen, nämlich die konstitutiven Operationen auf der ersten Ebene und die beobachtenden Operationen auf der zweiten Ebene, wird es möglich, zunächst die systemspezifische Produktion von systeminternen Erkenntnissen zu beobachten, um darauf aufbauend über mögliche Veränderungen systeminterner Operationen nachzudenken.358 Anders formuliert beobachtet das Beratersystem die Beobachtungen des Klientensystems – also die beobachtenden Operationen auf der zweiten Ebene, sodass eine Beobachtung zweiter Ordnung vorliegt –, um so dessen Wirklichkeitskonstruktion aufzuzeigen, sodass im Anschluss daran das Verhalten des Klientensystems – sprich die konstitutiven Operationen auf der ersten Ebene, die durch eine Beobachtung erster Ordnung zurechenbar werden – irritiert werden kann, um dadurch dessen Veränderung zu ermöglichen. Basierend auf dieser umfassenden Zusammenführung der historischen Wurzeln der systemischen Beratung nach der Wiener Schule kann nun noch einmal der Bogen zurück zu den Charakteristika der Idealtypen (vgl. Abbildung 2.7) gespannt und damit auch die Positionierung der Idealtypen (vgl. Abbildung 2.6) begründet werden. So ist es sowohl aus familientherapeutischer Perspektive als auch aus systemtheoretischer Sicht, die beide das systemische Beratungsparadigma (vgl. Kapitel 2.2.2.2) prägen, eingängig, dass das systemische Klientenbild das gesamte Klientensystem inklusive der darin bestehenden Beziehungen umfasst. Demzufolge werden entsprechende Wechselwirkungen in der systemischen Beratungsarbeit erfasst, weshalb bei einem systemischen Beratungsprojekt alle von der angestrebten Veränderung betroffenen Personen integriert werden. Da diese angestrebte Veränderung jedoch aufgrund der operativen Geschlossenheit von sozialen Systemen von außen nicht durch gezielte Maßnahmen gesteuert, sondern nur durch spezifische Irritationen unterstützt werden kann sowie darüber hinaus jedes soziale System seine eigene Wirklichkeit und sein eigenes Wissen konstruiert, muss systemische Beratung einen prozessorientierten Beratungsfokus (vgl. Kapitel 2.2.1.2) aufweisen. Sie weist folglich eine spezifische Beratungskompetenz zur zielgerichteten Irritation eines sozialen Systems durch prozessuale Interventionen auf, wodurch entsprechende Lösungen innerhalb des betroffenen Klientensystems wachsen können. Der systemische Berater ist dabei in erster Linie für den sozialen Prozess der angestrebten Veränderung verantwortlich, sodass die inhaltliche Arbeit und die damit verbundenen Entscheidungen nur durch den betroffenen Klienten erfolgen. Dieser bestimmt letztlich auch den prinzipiellen Veränderungscharakter, der daher meist evolutionär ist.

358

Vgl. Groth (1996), S. 60 ff.

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Historische Wurzeln der Beratungsformen

3.3 Schlussfolgerungen In den vorangegangenen Ausführungen über die historischen Wurzeln einerseits der klassischen Beratung und andererseits der systemischen Beratung, wurde die völlig unterschiedliche Entwicklung der beiden Beratungsformen deutlich herausgearbeitet. Während die klassische Beratung bereits ab Mitte der 1880er Jahre in den damals von der Industrialisierung geprägten USA als deutlich praxisorientierte Geschäftsidee entsteht, bildet sich die systemische Beratung erst ab Anfang der 1980er Jahre, also fast 100 Jahre später, in dem an Organisationsberatungsnetzwerken reichen Wien aus stark theoriebasierten Überlegungen heraus. Diese systemische Beratung nach der Wiener Schule, auf die sich die vorliegende Arbeit ausdrücklich bezieht, wenn von systemischer Beratung gesprochen wird, bildet damit den vorläufigen Endpunkt der ab Mitte des 20. Jahrhundert einsetzenden Gegenströmung zur klassischen Beratung. Zu dieser weist sie daher, verglichen mit anderen Beratungsformen, auch die extremsten Unterschiede auf, weshalb es nicht weiter verwunderlich ist, dass die klassische Beratung einerseits und die systemische Beratung andererseits einander als diametrale Kontrapunkte gegenüberstehen, so wie es bereits die Positionierung der Idealtypen (vgl. Abbildung 2.6) zeigt. Dementsprechend sehen sich die beiden Beratungsformen in der fachspezifischen Literatur letztendlich mit unterschiedlichen Kritikpunkten konfrontiert, wobei unter dieser Begrifflichkeit sowohl Schwächen und Probleme als auch Hindernisse und Grenzen subsumiert sind, die alle entweder von innen her bestehen oder auch von außen her aufgezeigt werden und nun als resultierende Konsequenz zusammengefasst werden sollen. Reflektiert man zunächst die klassische Beratung, lässt sich oberflächlich festhalten, dass ihre Kritiker oft von verlängerten Werkbänken für das Topmanagement sowie vom grundsätzlichen Verkauf von Scheinsicherheit sprechen und klassische Berater als Besserwisser bezeichnen.359 Dahinter verbergen sich verschiedene Kritikpunkte, die letztlich auch den tatsächlichen Ausschlag dafür gegeben haben, dass sich über den langjährigen Weg der klassischen Organisationsentwicklung sowie der damit zusammenhängenden Prozessberatung die systemische Beratung entwickelt hat. Die einzelnen Kritikpunkte lassen sich der gegenwärtigen Literatur entsprechend wie folgt beschreiben: x

359

Die klassische Beratung funktioniert nur dann, wenn der Klient das Problem konkret im eigenen Unternehmen diagnostiziert, korrekt an den externen Berater kommuniziert und schließlich durch die Beratung keine zusätzlichen Nebenwirkungen auftreten. Da sich aber einerseits diese Voraussetzungen

Vgl. Königswieser/Sonuç/Gebhardt (2005), S. 2

Historische Wurzeln der Beratungsformen in der Praxis oft als nicht zutreffend erweisen sowie andererseits häufig Empfehlungen erarbeitet werden, die nicht auf den betroffenen Klienten abgestimmt sind oder diesen wegen ihrer großen Anzahl verwirren, führen viele der von klassischen Beratern erarbeiteten Lösungskonzepte nicht zu den beabsichtigten Zielzuständen. Sie werden ganz im Gegenteil zumeist mehr oder weniger ungelesen in umfassenden Ordnern abgelegt ohne eine Veränderung zu bewirken.360 x

Ein zweiter Kritikpunkt an der klassischen Beratung besteht darin, dass komplexe Probleme von einer Position außerhalb des Klientensystems nur schwer bis unmöglich adäquat beschreibbar und lösbar sind. Grundsätzlich ist dies schon im technischen Bereich zu beobachten, gewinnt bei sozialen Systemen aber noch mehr an Bedeutung, weil in diesen die innerhalb des Systems entwickelten Lösungen häufig besser und verlässlicher erscheinen, als die von außen von Experten herangetragenen Konzepte. Dies deutet darauf hin, dass bei steigender Komplexität die Rationalität des betroffenen Klientensystems grundsätzlich höher ist, als die Rationalität des externen Beratersystems.361

x

Damit Hand in Hand geht der dritte Kritikpunkt, dass nämlich eine außerhalb des beratenen Klientensystems erarbeitet Lösung, bei deren grundsätzlicher Konzeption die betroffenen Klienten wenig oder gar nicht eingebunden sind, zu unüberbrückbaren Widerständen im Klientensystem führen können und demzufolge die nachhaltige Umsetzung teilweise behindern oder überhaupt verhindern.362

x

In engem Zusammenhang dazu kann auch der vierte Kritikpunkt verstanden werden, dass klassische Beratung ihr Hauptaugenmerk auf 'harte' Fakten legt und 'weiche' Aspekte wie persönliche Beziehungszusammenhänge oft außer Acht lässt, weshalb durchaus handlungsrelevante Informationen über das unternehmensinterne Beziehungsgefüge in der Regel nicht vorliegen.363

x

Da dem klassischen Selbstverständnis entsprechend demnach alle sozialen Prozesselemente ausgeklammert werden, bleibt als fünfter Kritikpunkt auch oft die wichtige Frage ausgespart, warum in der beratenen Organisation die nachgefragte Kompetenz fehlt und welche Bedeutung beziehungsweise Funktion dieses Defizit hat. Es wird dagegen gezielt an der Beseitigung der bestehenden Schwäche gearbeitet ohne jedoch die Wechselwirkungen auf

360 361 362 363

Vgl. König/Volmer (2000), S. 47 Vgl. König/Volmer (2000), S. 47 f. Vgl. Fischer-Ledenice (2001), S. 8 Vgl. Fischer-Ledenice (2001), S. 6

135

136

Historische Wurzeln der Beratungsformen die gesunden Organisationsteile zu berücksichtigen, wobei man leicht in die Rolle kommt, auf eine Veränderung zu drängen.364

x

Es gibt als sechsten Kritikpunkt jedoch kaum klassische Berater, die den ganzen Ablauf und damit auch die angestrebte Veränderung unterstützen, weil primär eine explizite Spezialisierung auf einzelne Prozessschritte üblich ist. Zwar betonen klassische Berater in ihrer generellen Selbstdarstellung immer wieder die prinzipielle Mithilfe bei der tatsächlichen Umsetzung, was manchmal jedoch stark übertrieben scheint,365 sodass klassischen Beratern daher grundsätzliche Implementierungsschwäche vorgeworfen wird.366

x

Weiters wird klassischer Beratung als siebenter Kritikpunkt angelastet, dass sie in den letzten Jahrzehnten verschiedene Managementmoden induziert hat, die erstens die versprochenen Quantensprünge kaum erfüllt haben, zweitens theoretische Stringenz grundsätzlich vermissen lassen und drittens unzureichende Praxiswirkung erzielt haben.367

x

Darüber hinaus kann als achter Kritikpunkt festgehalten werden, dass an der klassischen Beratung häufig ein standardisiertes Vorgehen bemängelt wird, was dieser zwar die schnelle Einschulung von jungen Talenten erlaubt, aber ein flexibles Eingehen auf unterschiedliche Klienten erschwert.368

Insgesamt lässt sich für klassische Beratung damit zusammenfassen, dass sie als die gegenwärtig umsatzstärkste369 Beratungsform vielfältige Mängel aufweist und daher umfassende Entwicklungspotenziale besitzt, sodass ihr hier beschriebener Idealtyp also nur für spezifische Themenstellungen geeignet ist. Nachdem die systemische Beratung als letzte Antwort auf die klassische Beratung seit ihrer Entstehung Anfang der 1980er Jahre ein kontinuierliches Wachstum erlebt hat, obwohl ihre diversen Vertreter von prinzipiellen Kritikern immer als positionslose Moderatoren, prozessorientierte Softies oder ausschließliche Schönwetterberater bezeichnet wurden,370 werden gegenwärtig auch an ihr stärkere Kritikpunkte auf einer breiteren Basis laut, die nach der gängigen Literatur wie folgt skizziert werden können: x

364 365 366 367 368 369 370

Als erster Kritikpunkt kann angeführt werden, dass sich systemische Berater hauptsächlich, wie es ihrem prozessorientierten Beratungsfokus entspricht, um die soziale Dimension, also um 'weiche' Aspekte annehmen. Für diese

Vgl. Titscher (2001), S. 44 f. Vgl. Titscher (2001), S. 45 ff. Vgl. Kolbeck (2001), S. 50 f. Vgl. Kolbeck (2001), S. 35 ff. Vgl. Kolbeck (2001), S. 44 ff. Siehe dazu die Ausführungen in der Abgrenzung des Themenfeldes (vgl. Kapitel 1.3) Vgl. Königswieser/Sonuç/Gebhardt (2005), S. 2

Historische Wurzeln der Beratungsformen können sie sehr schwer oder gar keine zählbaren Erfolge sowie messbare Informationen im Sinne von 'harten' Fakten vorweisen, die dem beratenen Klientensystem aus systemischer Sicht auch nur eine scheinbare Sicherheit stiften würde.371 Dem entgegen bewirken systemische Berater in diesem aufgrund ihres durch das systemtheoretische Hintergrundwissen geprägte Auftreten tendenziell große Unsicherheit, weil sie zu eher überkomplexen Problemdefinitionen neigen sowie kaum beruhigende Orientierung geben.372 x

Die unmittelbar daraus folgende Konsequenz ist der zweite Kritikpunkt, dass diese idealtypische Beratungsform generell nur dann funktionieren kann, wenn das notwendige Fachwissen in der beratenen Organisation in einem hinreichenden Umfang vorhanden ist. Dies ist jedoch nur der grundsätzliche Rahmen dafür, dass systemische Beratung überhaupt sinnvoll durchgeführt werden kann, der aber nicht ausreichend ist, wenn von Seiten des Beraters nur Prozess ohne Inhalt betrachtet wird. Die Begründung dafür ist, dass ein prozessorientierter Beratungsfokus vor allem über entsprechende Fragen vollzogen wird, sodass der systemische Berater, wenn er nicht ein gewisses Mindestmaß an fachlichem Wissen hat, auch nicht die passenden Fragen stellen kann.373 Genau dieses unumgängliche Grundwissen lassen jedoch systemische Berater oft vermissen, woraus zunächst einmal das eigentliche Problem entsteht, dem aber, selbst wenn es gar nicht unmittelbar zu tragen kommt, ein noch viel wesentlicherer Punkt nachfolgt. Man kann nämlich bei der systemischen Beratung nicht grundsätzlich davon ausgehen, dass jedes inhaltliche Problem nur mit den im beratenen Klientensystem vorhandenen Fachressourcen gelöst werden kann.374

x

Obwohl die Entstehung und Entwicklung der systemischen Beratung durch die Prozessdefizite sowie die Implementierungsschwäche der klassischen Beratung ausgelöst und gefördert wurde, konnte die Verbesserung und die Behebung der beiden Mängel im klassischen Bereich nur bedingt bzw. auf Kosten anderer Aspekt erfüllt werden und führt zu einem dritten Kritikpunkt. So werden die in systemischen Beratungsprojekten erarbeiteten Konzepte zwar, wenn die inhaltliche Komponente durch den Klienten abgedeckt wird, besser umgesetzt, sind in der prinzipiellen Abwicklung jedoch wesentlich zeitintensiver.375 Dieses an die systemische Vorgehensweise gekoppelte Faktum stellt vor allem in der immer schnelllebigeren Wirtschaft ein starkes

371 372 373 374 375

Vgl. Fischer-Ledenice (2001), S. 6 Vgl. Froschauer/Lueger (2005), S. 10 Vgl. Schuh (2001), S. 22 Vgl. Friedinger/u.a. (2001), S. 27 Vgl. Froschauer/Lueger (2005), S. 10

137

138

Historische Wurzeln der Beratungsformen Problem dar, weil hinter dieser prozessorientierten Beratungsform letztlich auch kein spezifisches Konzept liegt, das schnelle Umsetzung ermöglicht oder grundlegende Handlungsanleitungen enthält.376

x

Aufgrund der genannten Aspekte kann als vierter Kritikpunkt aufgezeigt werden, dass systemische Beratung für diverse Krisensituationen gänzlich ungeeignet ist,377 weil eben für harte Lösungen, die in kürzester Zeit benötigt werden, meistens zuwenig fachliches Wissen vorhanden ist, um inhaltliche Vorschläge aufzuzeigen.378

x

Ein fünfter Kritikpunkt, der jedoch in erster Linie für Berater begrenzend und erst in zweiter Linie für Klienten problematisch ist, bezieht sich darauf, dass systemische Beratung sowohl theoretisch als auch praktisch einerseits ein hohes Anspruchsniveau und andererseits einen großen Erfahrungsschatz fordert, was beides nicht einfach reproduziert werden kann, sondern sehr stark an seniore Persönlichkeiten gebunden ist, die daher nur schwer durch junge Talente ersetzt werden können.379 Um nämlich wirksam systemisch arbeiten zu können, bedarf es für den einzelnen Berater zunächst einmal einer fundierten Ausbildung sowie intensiven Auseinandersetzung mit dem grundlegenden Beratungsverständnis einerseits sowie den spezifischen Interventionstechniken andererseits. Auf diesem theoretischen Fundament aufbauend kann dann erst die praktische Erfahrung gesammelt werden, die es dem systemischen Berater letztlich erlaubt, zielgerichtete Interventionen zu setzen und so einen entsprechenden Lösungsprozess anzustoßen.380

x

Mit diesem umfassenden Theoriewissen sind systemische Berater, um den sechsten Kritikpunkt aus der hierarchischen Perspektive mechanistischer Führungskräften zu formulieren, für manche Klienten unangenehm, weil sie sich nicht vom Management instrumentalisieren lassen, um eine gewisse Meinung oder ein bestimmtes Konzept zu untermauern. Es ist also nicht möglich einem systemischen Berater eine bestimmte Richtung vorzugeben, sondern man muss demselben den entsprechenden Freiraum lassen, so zu arbeiten, wie er es für sinnvoll hält.381

x

Als siebenter Kritikpunkt, der letzten Endes problematisch für systemische Berater selber ist, kann festgestellt werden, dass diese im idealtypischen Fall primär punktuelle und zeitlich begrenzte Beratungsaufträge annehmen.

376 377 378 379 380 381

Vgl. Titscher (2001), S. 60 Vgl. Froschauer/Lueger (2005), S. 10 Vgl. Friedinger/u.a. (2001), S. 27 Vgl. Kolbeck (2001), S. 159 Vgl. Titscher (2001), S. 60 f. Vgl. Titscher (2001), S. 61

Historische Wurzeln der Beratungsformen

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Dieser prinzipielle Umstand und die systemische Auffassung, keine Klienten an sich zu binden sowie keine dauerhafte Beziehung zu diesen aufzubauen, erschwert die kontinuierliche Akquise neuer Beratungsprojekte gravierend, sodass man überspitz formuliert fast von einem geschäftsschädigenden Vorgehen sprechen könnte.382 x

Ein zusätzliches Erschwernis für die allgemeinen Akquisitionsbemühung ist der achte Kritikpunkt, der ein grundsätzliches Problem darstellt, mit dem sich systemische Berater konfrontiert sehen. Die inflationäre Verwendung der generellen Begrifflichkeit systemische Beratung führte zum einen dazu, dass diese charakteristische Markenbezeichnung entwertet wurde, und bewirkte zum anderen, dass kein einheitliches Verständnis geschaffen wurde. Als direkte Konsequenz daraus konnte systemische Beratung bei potentiellen Klienten nicht nachdrücklich etabliert werden.383

Über den Idealtyp der systemischen Beratung kann damit abschließend resümiert werden, dass er sowohl von außen als auch von innen spezifischen Beschränkungen unterliegt und mit fundamentalen Problemen konfrontiert ist, sodass er kurz gesagt, genauso wie jener der klassischen Beratung weder für alle Berater noch für alle Projekte geeignet ist.384 Mit den gewonnen Erkenntnissen aus der vorangegangen Abhandlung über die historischen Wurzeln der sowie den damit verbundenen Kritikpunkte an den beiden Beratungsformen lassen sich zum endgültigen Abschluss dieses dritten Kapitels die ersten beiden forschungsleitenden Hypothesen (vgl. Kapitel 1.4) für die empirische Untersuchung, durch zwei weitere untersuchungsleitende Hypothesen – eine erste solche untersuchungsleitende Hypothese wurde bereits in den Schlussfolgerungen (vgl. Kapitel 2.3) zur Beratung im Überblick aufgestellt – sinnvoll ergänzen. x

Da sich beide Beratungsformen in den letzten Jahren weiterentwickelt haben, gibt es in der Gegenwart keine Idealtypen mehr, sondern nur mehr davon abstammende Realtypen, welche sich voneinander im grundlegenden Beratungsfokus unterscheiden, sich jedoch implizit oder auch explizit schon einzelne Elemente der jeweils anderen Beratungsform angeeignet haben.

x

Keiner der beiden Realtypen schafft es, die gesamte Differenzierungslogik abzudecken, sondern weist in Abhängigkeit von seinem jeweiligen Idealtyp ein gewisses Stärken-Schwächen-Profil auf, das sich diametral gegengleich und damit komplementär zu dem der jeweils anderen Beratungsform verhält.

382 383 384

Vgl. Titscher (2001), S. 60 f. Vgl. Titscher (2001), S. 60 Vgl. Titscher (2001), S. 61

Systemische Elemente zur Integration

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4 Systemische Elemente zur Integration Auf die in den effektiven Schlussfolgerungen (vgl. Kapitel 3.3) des vorangegangenen Kapitels skizzierten Kritikpunkte an den komplementären Idealtypen der klassischen Beratung einerseits sowie der systemischen Beratung andererseits soll nun für die theoretische Aufarbeitung systemischer Elemente im folgenden Kapitel aufgebaut werden, um jene zu beschreiben, die sinnvoll in die klassische Beratung integriert werden könnten. Dafür wird zunächst ein allgemeiner Bezugsrahmen für Integration (vgl. Kapitel 4.1) aufgespannt, in dem zuerst die einseitige Fokussierung der weiteren Diskussion erläutert und danach eine grobe Orientierungshilfe für die nachfolgenden Unterkapiteln gegeben wird. In diesen wird letztlich jedoch nur eine gezielte Auswahl systemischer Elemente – diese werden nach den drei Begrifflichkeiten systemische Basiskomponenten (vgl. Kapitel 4.2), systemische Interventionsdesigns (vgl. Kapitel 4.3) und systemische Interventionstechniken (vgl. Kapitel 4.4) grob unterschieden – zur möglichen Integration in die klassische Beratung (vgl. Kapitel 9) vorgestellt, was in weiterer Folge mittels der empirischen Untersuchung (vgl. Kapitel 5) überprüft werden soll. Damit letztere dann auch systematisch durchgeführt sowie quantitativ ausgewertet werden kann, werden in den abschließenden Schlussfolgerungen (vgl. Kapitel 4.5) des vierten Kapitels entwicklungsorientierte Hypothesen aufgestellt, die die skizzierten Kritikpunkte an der klassischen Beratung reformulieren und mit der erfolgten Auswahl an systemischen Elementen verbinden, um so einen gezielten Verbesserungsvorschlag ausarbeiten zu können.

4.1 Bezugsrahmen Nachdem im vorangegangenen Kapitel mittels der umfassenden Aufarbeitung über die historischen Wurzeln der Beratungsformen (vgl. Kapitel 3) auf der einen Seite die komplementäre Positionierung der Idealtypen (vgl. Abbildung 2.6) in der benutzten Differenzierungslogik für Beratungsformen (vgl. Kapitel 2.2) begründet wurde und auf der anderen Seite letztlich gegengleiche Kritikpunkte an den Idealtypen durch zwei untersuchungsleitende Hypothesen in den Schlussfolgerungen (vgl. Kapitel 3.3) subsumiert werden konnten, liegt der folgende Schluss nahe. Durch die Integration von klassischer Beratung und systemischer Beratung können, wie schon im vierten Teil der forschungsleitenden Hypothesen und wissenschaftlichen Fragestellungen (vgl. Abbildung 1.3) formuliert, mitunter die einzelnen Kritikpunkte an der jeweiligen Beratungsform teilweise verbessert oder überhaupt behoben werden. Von dieser grundlegenden Annahme soll für die weiterführende Diskussion einmal ausgegangen werden, sodass sich unvermeidlich die zwei Fragen ergeben, was und wie integriert werden soll, wobei diese jeweils einen theoretischen Aspekt sowie eine praktische Perspektive haben. Bedenkt man dies vor dem generellen Hintergrund, dass letztlich

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Systemische Elemente zur Integration

die gezielte Integration sowohl klassischer Elemente in die systemische Beratung als auch umgekehrt systemischer Elemente in die klassische Beratung zu überlegen ist, dann ergibt sich eine breite Vielfalt an möglichen Diskussionsinhalten, sodass sinnvolle Einschränkungen unerlässlich sind, um die anschließenden Ausführungen in einem überschaubaren Rahmen zu halten. Es gilt deshalb zunächst die gewählten Einschränkungen aufzuzeigen, mit denen die nachfolgende Auswahl, die durch den bezeichnenden Titel des übergeordneten Kapitels bereits vorweggenommen ist, begründet wird, ehe auf die systemischen Elemente eingegangen wird, die für eine mögliche Integration in die klassische Beratung angedacht werden können. Grundsätzlich gilt es an erster Stelle festzuhalten, dass die wichtige Frage danach, wie eine beliebige Integration erfolgen kann, in den anschließenden Ausführungen gar nicht adressiert wird, sondern gänzlich durch die empirische Untersuchung (vgl. Kapitel 5) aufgearbeitet wird, sodass erst über deren umfassende Auswertung eine entsprechende Antwort erfolgt, die im Unterkapitel über die Realisierungsoptionen für die Beratungsformen (vgl. Kapitel 7.3) dargestellt wird. Vor diesem Unterkapitel wird in den Entwicklungspotenzialen für die Beratungsformen (vgl. Kapitel 7.2) zwar unter anderem auch die grundsätzliche Frage danach, was integriert werden soll, aus der empirischen Untersuchung heraus beantwortet, was aber nichts daran ändert, dass hier trotzdem eine theoretische Vorarbeit dazu geleistet werden soll. Diese wird in Bezug auf die Abgrenzung des Themenfeldes (vgl. Kapitel 1.3), in der gezeigt wird, dass die klassische Beratung deutlich höhere Umsätze und dementsprechend eine breitere Marktpräsenz aufweist als die systemische Beratung, ausschließlich für die Integration in eine Richtung geleistet, nämlich von der systemischen Beratung in die klassische Beratung. Diese einseitige Beschränkung kann aber nicht nur aufgrund des bestehenden Zahlengerüsts argumentiert werden, sondern gründet letztlich auch auf der generellen Entwicklung, dass unterschiedliche Berater in ihre fachspezifische Arbeitsweise systemische Elemente immer öfter einbauen und damit immer mehr übernehmen.385 Es bleibt somit nur noch die letzte Frage zu beantworten, welche systemischen Elemente ausgewählt werden, um sie bezüglich einer grundsätzlichen Integration in die klassische Beratung zu untersuchen, wofür jedoch die skizzierten Kritikpunkte als orientierungsgebender Wegweiser herangezogen werden können. Anders formuliert gilt es also zu überlegen, mittels Integration welcher systemischen Elemente die Kritikpunkte an der klassischen Beratung gezielt entschärft oder sogar generell behoben werden können. Demgemäß stellen die systemischen Elemente, die in weiterer Folge betrachtet werden, ausschließlich eine auf die unterschiedlichen Kritikpunkte an der klassischen Beratung abgestimmte Auswahl aus dem breiten Spektrum der systemischen Beratung dar. Es ist deshalb auch unumgänglich, sie,

385

Vgl. Titscher (2001), S. 62

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um dem interessierten Leser einen hinreichende Orientierungsmöglichkeit zu bieten, in das systemische Gedankengebäude einzubetten, was nun versucht werden soll. Wenn man sich, wie bereits in den historischen Wurzeln der systemischen Beratung aufgezeigt wurde, noch einmal vergegenwärtigt, dass es weder 'die' Systemtheorie386 noch 'den' systemischen Beratungsansatz gibt, sondern nur von einem systemischen Theoriegebäude sowie systemischem Denken gesprochen werden kann, dann ist leicht nachvollziehbar, dass auch 'das' abgrenzbare Set an systemischen Elementen nicht existiert, sondern nur ein breites Spektrum an entsprechenden Überlegungen vorgefunden werden kann. Vielmehr gibt es demnach aus kommunikationsbasierten Therapieansätzen sowie aus prozessorientierten Beratungsformen unterschiedliche Elemente, die gemeinsam in der systemischen Beratung nach der Wiener Schule zur gezielten Anwendung kommen, wobei sie einerseits von dieser übernommen und adaptiert sowie andererseits in dieser konzipiert und weiterentwickelt wurden. Wann immer also systemische Elemente betrachtet werden, bewegt man sich in diesem komplexen Umfeld, in dem zwischen den unterschiedlichen Bestandteilen mehr oder weniger enge Verflechtungen bestehen. Folglich kommen die für die theoretische Diskussion der systemischen Elemente eingeführten Trennungen oder gemachten Unterscheidungen in der praktischen Beratungsarbeit mit ebendiesen systemischen Elementen oft fließenden Übergängen oder sogar starkem Ineinadergreifen gleich, was durch entsprechende Querverweise in den elementspezifischen Ausführungen herausgearbeitet werden soll. Dem übergeordneten Rahmen für systemische Elemente kann man sich nun von der systemischen Denkhaltung her näher, nach der davon ausgegangen wird, dass alle möglichen Veränderungen in sozialen Systemen letztlich soziale Prozesse sind, die ausschließlich in einer systemeigenen Form vollzogen werden können. Dafür ist es jedoch notwendig, im sozialen System einen entsprechenden Raum zu schaffen, in dem eine angestrebte Veränderung durch das Klientensystem erfolgen kann, wobei die faktische Raumgestaltung durch das Beratersystem vorgenommen wird. Daher spricht man in diesem Zusammenhang auch vom 'Raum für Veränderung', der zum einen für das Klientensystem wichtig ist, um die Veränderung durchzuführen, und in dem zum anderen das Beratersystem intervenieren kann, um die Veränderung zu unterstützen. Dieses so genannte Intervenieren im Sinne von 'Dazwischengehen' ist die effektive Tätigkeit systemischer Berater und kann auch als bewusstes Setzen von systemischen Interventionen umschrieben werden. Als ebensolche definiert Willke allgemein zielgerichtete Kommunikationen – das sind Kommunikationen, bei denen eine bestimmte Wirkung beim Kommunikationspartner ins Kalkül der Kommunikation einbezogen wird – zwischen psychischen Systemen und/oder sozialen Systemen, in 386

Vgl. Wimmer (1992a), S. 82

144

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denen die bestehende Autonomie des intervenierten Systems respektiert wird.387 So kann in Bezug auf Beratung eine systemische Intervention mit Königswieser/Exner als zielgerichtete Kommunikation bezeichnet werden, in der sich das intervenierende Beratersystem jener prekären Ausgangslage bewusst ist, dass die wirkungsvolle Beeinflussung eines autonomen Klientensystems nur versucht werden kann.388 Um solche systemischen Beeinflussungsversuche sinnvoll setzen zu können, müssen sie aber für das jeweilige Beratungsprojekt gezielt konzipiert werden, wofür systemische Berater auf drei Gestaltungsebenen zurückgreifen, mit denen sie den Raum für Veränderung, in dem sie intervenieren, aufspannen und detaillieren. Es sind dies die grundlegende Interventionsarchitektur389, darauf aufbauende Interventionsdesigns390 sowie darin verwendete Interventionstechniken391, wobei letztlich alles über die vier Interventionsdimensionen392 – inhaltlich, zeitlich, sozial, räumlich – verbunden ist, in denen jeweils eine angemessene Symbolik393 zu beachten ist.394 Die hier verwendeten Begrifflichkeiten deuten auf eine hilfreiche Analogie hin, mittels derer die jeweils unterschiedlichen Tätigkeiten eines systemischen Beraters auf den drei Gestaltungsebenen verdeutlicht werden können. So lassen sich auf der ersten Gestaltungsebene Parallelen zwischen einem Architekten und einem Berater in dem Sinne erkenne, dass zum einen Architekten Gebäude planen, in denen verschiedene Ereignisse stattfinden können, während zum anderen Berater Strukturen entwerfen, in denen unterschiedliche Prozesse ablaufen können.395 Die jeweiligen Konzepte können dabei sowohl vom Architekten bzw. vom Berater alleine als auch mit dem Bauherrn bzw. dem Klient zusammen erstellt werden, wobei das dabei entstehende Endprodukt nun einem Plan entspricht, nach dem ein Bauwerk hergestellt bzw. ein Beratungsprojekt durchgeführt werden kann. Die Interventionsarchitektur ist also eine Beschreibung dessen, 'was' überhaupt geschehen soll, und somit selber eine Intervention, die jedoch den Raum dafür schafft, dass im Beratungsprojekt sinnvoll interveniert werden kann. Auf sie aufbauend kann die zweite Gestaltungsebene die nicht weniger wichtige Frage behandeln, 'wie' der geschaffene Raum nun tatsächlich eingerichtet werden soll, wobei Ähnlichkeiten zwischen einem Designer und einem Berater vermerkt werden können.396 So wie nämlich ein Designer Räume einrichtet,

387 388 389 390 391 392 393

394

395 396

Vgl. Willke (1987), S. 333 Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 17 Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 47 ff., sowie Königswieser/Hillebrand (2004), S. 58 ff. Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 149 ff., sowie Königswieser/Hillebrand (2004), S. 67 ff. Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 35 ff., sowie Königswieser/Hillebrand (2004), S. 85 ff. Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 63 ff., sowie Königswieser/Hillebrand (2004), S. 56 ff. Nach Königswieser/Hillebrand (2004), S. 56, kann diese auch als fünfte Interventionsdimension, nämlich die symbolische, verstanden werden. Vgl. Königswieser/Exner/Pelikan (1995), S. 59 ff., für weitere Ausführungen, die auch in Königswieser/Exner (1998), S. 28 ff., abgedruckt sind. Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 47 Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 48 f.

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die spezifischen Anforderungen genügen müssen, gestalten Berater Prozesse, die bestimmte Veränderungen unterstützen sollen, wobei in den beiden Fällen zwischen Architektur und Design die Übergänge meist fließend sind und die Trennung daher oft nur analytisch ist. Das effektive Resultat entspricht dabei einem Detailplan, wie ein Raum im Bauwerk bzw. ein Prozess im Beratungsprojekt ausgestaltet ist, von wo aus schlussendlich die effektive Ausführung angedacht werden muss. Dazu können im entworfenen Interventionsdesign wiederum verschiedene Interventionstechniken eingesetzt werden, sodass auf der dritten Gestaltungsebene letztlich eine Analogie zwischen einem Handwerker und einem Berater besteht, die von der Frage geleitet wird, 'womit' die entworfene Einrichtung effektiv hergestellt werden kann. So wie nämlich ein Handwerker Werkzeuge einsetzt, um die entworfene Raumgestaltung zu realisieren, muss ein Berater Techniken verwenden, um die geplante Intervention auszuführen, wobei Design und Technik praktisch wieder ineinander übergehen und nur theoretisch voneinander getrennt werden können. Damit liegt für die faktische Durchführung einer Intervention nun als endgültiges Resultat der Umsetzungsplan vor, der in intensiver Wechselwirkung mit dem Detailplan und durch diesen wiederum in direkter Beziehung mit dem Gesamtplan steht, sodass sich diese verschiedenen Pläne auf den drei Gestaltungsebenen gegenseitigen bedingen sowie voneinander abhängig sind, was folgendermaßen veranschaulicht werden kann.

Interventionsdimension

Interventionsarchitektur Interventionsdesign Interventionstechnik

Raum für Veränderung

Abbildung 4.1: Zusammenhang zwischen den Begriffen der Intervention

146

Systemische Elemente zur Integration

Ausgehend von den vier Interventionsdimensionen, der inhaltlichen, der zeitlichen, der sozialen und der räumlichen Dimension (vgl. Kapitel 2.1.2.4), die systemische Berater mit hoher Aufmerksamkeit einsetzen, weil sie aufgrund ihres spezifischen Hintergrundwissens ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür aufweisen, gestalten sie als Beratersystem (vgl. Kapitel 2.1.2.3) gemeinsam mit dem Klientensystem (vgl. Kapitel 2.1.2.2) im Beratungssystem (vgl. Kapitel 2.1.2.1) die Interventionsarchitektur, durch die der Raum für Veränderung geöffnet wird. Dafür ist nun ein breites Spektrum an verschiedenen Elementen verfügbar, die letztlich zu vier Gruppen zusammengefasst werden können, die ihrerseits jeweils wiederum primär mit einer der vier genannten Interventionsdimensionen assoziiert werden können. Jedes dieser unterschiedlichen Elemente kann nun, wenn man so will, aus dem gesamten Baukasten heraus für sich alleine verplant werden, beginnt in der konzipierten Interventionsarchitektur aber erst gemeinsam mit allem anderen zu wirken. Anders formuliert muss immer aus jeder Gruppe mindestens ein Element vorhanden sein, um in der Kombination eine Einheit zu ergeben, die in der Interventionsarchitektur dann mit Leben erfüllt werden kann. Um diesen Zusammenhang anhand eines Beispiels besser verständlich zu machen, soll der Baukasten mit den Elementen zur Gestaltung der Interventionsarchitektur zunächst dargestellt werden, sodass die Orientierung leichter fällt.

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Ze itl ic h

l ha In ch Arbeitsfokus

• Erstkontakt • Diagnose • Umfeldanalyse • Identiät • Staffarbeit • Reflexion • Energiefluss • Feedback • Vision • Lösungs• Positionierung orientierung • Grundhaltung • Umset• Abschluss zungshilfe Interaktionsmodus • Konferenz • Hearing • Coaching

Personengruppen

• Vorstand • Gesamt• Auftraggeber gruppe • Steuergruppe • Sounding• Dialoggruppe board • Planungs• Expertengruppe

• Projektgruppe

team

• Beraterteam

Abbildung 4.2: Mögliche Elemente zur Gestaltung der Interventionsarchitektur

al zi So

R äu m lic

h

• Gespräch • Interview • Workshop

Zeitrahmen

• Beginn • Dauer • Termine • Phase • Meilensteine • Ende

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147

Zur Gestaltung der Interventionsarchitektur können also Elemente aus den Gruppen Arbeitsfokus, Zeitrahmen, Personengruppen und Interaktionsmodus nahezu beliebig zu einzelnen Einheiten kombiniert werden, sodass ein Beratungsprojekt dadurch nach und nach Form annimmt bzw. Struktur erhält.397 So kann beispielsweise in der inhaltlichen Interventionsdimension der spezifische Arbeitfokus der Diagnose gesetzt werden, die in der zeitlichen Interventionsdimension etwa mit einem Beginn sowie einem Ende versehen wird, sodass ein expliziter Zeitrahmen definiert ist. Dafür sind nun der sozialen Interventionsdimension entsprechend bestimmte Personengruppen notwendig, wie eventuell die Projektgruppe sowie das Beraterteam, die schließlich in der räumlichen Interventionsdimension, die durch den gewählten Interaktionsmodus entschieden wird, aufeinander treffen, für den sich möglicherweise ein Workshop anbieten würde. Das Resultat ist also ein Diagnoseworkshop mit der Projektgruppe und dem Beraterteam, der zeitlich durch Anfang und Ende begrenzt ist, und damit insgesamt in der Interventionsarchitektur eine Einheit bildet, die dann noch durch ein Interventionsdesign ausgestaltet sowie weiter durch einzelne Interventionstechniken verfeinert werden kann. Dazu gilt es noch einmal zu betonen, dass die einzelnen Elemente über ihre jeweilige Gruppe einerseits zwar einer Interventionsdimension primär zugerechnet werden können, andererseits aber alle Interventionsdimensionen zusammen benötigen, um sich entfalten zu können. Diese Entfaltung kann jedoch nicht durch das Element alleine, sondern ausschließlich durch die Einheit zusammen mit anderen erfolgen, woraus sich letztlich eine breite Palette an unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten ergibt, durch die die gesamte Interventionsarchitektur geformt wird. Mit der Interventionsarchitektur werden also, um die Diskussion wieder weg von den Elementen zurück auf das Gesamtgerüst zu führen, in Abhängigkeit des Themas die Grundstrukturen für erstens die Zusammenarbeit im Beratungssystem und zweitens die Durchführung des Beratungsprojektes entworfen, wodurch der Raum für die Interventionen, die das Kernstück des Beratungsprozesses darstellen, aufgespannt werden kann. Anders formuliert umfasst die konzipierte Interventionsarchitektur die maßgebenden Überschriften, die tragenden Eckpfeiler oder auch die übergeordneten Rahmenbedingungen, welche das grundlegende Konzept bilden, in dem die weitere Gestaltung der unterschiedlichen Interventionen vorgenommen werden kann. Die so

397

Während die vier Gruppen in der vorliegenden Arbeit durch den Verfasser entwickelt wurden, sind die einzelnen Elemente aus den bestehenden Ausführungen von Königswieser/Exner (1998) entnommen, wobei sich folgende Bezüge festhalten lassen. Die Elemente im Arbeitsfokus finden sich in der Spalte des Anwendungsfeldes, S. 159 ff., wieder; die Elemente im Zeitrahmen wurden den Ausführungen zur Zeitdimension, S. 32, entnommen; die Elemente in den Personengruppen sind aus den Theorieausführungen, S. 50 ff., und den Praxisbeispielen, S. 69 ff. herleitbar; die Elemente im Interaktionsmodus können ebenfalls aus den Theorieausführungen, S. 50 ff., und den Praxisbeispielen, S. 69 ff., abgeleitet werden.

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geschaffenen Strukturen müssen dazu gewährleisten, dass genügend Freiräume für soziale Ereignisse, zielgerichtete Kommunikation, entsprechende Kreativität sowie sonstige Prozesse vorhanden sind. Wenn dies gelingt, dann können dem beratenen Klientensystem mittels der maßgeschneiderten Interventionsarchitektur nicht nur neue Perspektiven sowie unterschiedliche Sichtweisen erleichtert, sondern dadurch auch hilfreiche Beobachtungsvarianten sowie sinnvolle Reflexionsmöglichkeiten eröffnet werden, sodass in diesem sozialen System hinderliche Muster unterbrochen, die eigene Gesamtentwicklung gefördert und die zentrale Selbststeuerung unterstützt werden können.398 Sinnvoll aufarbeiten lassen sich ganze Interventionsarchitekturen jedoch nur anhand unterschiedlicher Praxisbeispiele, für die sie eigens entworfen worden sind, sodass eine weiterführende Theoriediskussion im eigentlichen Sinne von systemischen Elementen, die als bestehende Einheit in die klassische Beratung integriert werden können, auf das skizzierte Abstraktionsniveau begrenzt ist. Mit diesem sollte erstens vielmehr ein stärkeres Bewusstsein geschaffen werden, um die architektonischen Elemente auf der ersten Gestaltungsebene überlegt einzusetzen, und zweitens vor allem der umfassende Rahmen aufgespannt werden, um auf systemische Elemente der weiteren Gestaltungsebenen konkreter einzugehen. Selbige stehen, so wie die vorangegangene Diskussion herausgearbeitet hat, in engem Zusammenhang mit der übergeordneten Interventionsarchitektur, ermöglichen jedoch erst die kontinuierliche Verfeinerung des ganzen Beratungsprojektes mittels einzelner Interventionsdesigns sowie darauf abgestimmter Interventionstechniken. Letztendlich ist dieses als wohl überlegte und gut abgestimmte Reihenfolge von verschiedenen Interventionen zu entwerfen, um dadurch bestimmte Wirkungen im betroffenen Klientensystem zu erzielen, die eine schrittweise Näherung zum angestrebten Zielzustand ermöglichen sollen. Vor dem skizzierten Hintergrund kann auf die zuvor gestellte Frage danach, welche systemischen Elemente ausgewählt und in der weiteren Diskussion aufgearbeitet werden, um so eine gezielte Integration in die klassische Beratung untersuchen zu können, nun folgende Antwort gegeben werden. Ausgehend von den generellen Kritikpunkten an klassischer Beratung (vgl. Kapitel 3.3) werden aus dem breiten Spektrum systemischer Elemente einerseits eine gezielte Auswahl systemischer Interventionsdesigns (vgl. Kapitel 4.3) sowie andererseits die umfangreiche Palette systemischer Interventionstechniken (vgl. Kapitel 4.4) aufgearbeitet, wobei diesen verschiedenen Interventionselementen systemische Basiskomponenten (vgl. Kapitel 4.2) vorangestellt werden, die es für die grundsätzliche Durchführung systemischer Beratung zu beherrschen gilt. 398

Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 49 f.

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4.2 Basiskomponenten Als systemische Basiskomponenten sollen jene systemischen Elemente bezeichnet werden, die notwendige Grundvoraussetzung sind, um systemische Beratungsarbeit zu leisten, aber keine systemischen Interventionen darstellen. Genauer formuliert, können diese systemischen Basiskomponenten als das unentbehrliche Bindglied zwischen dem systemischen Beratungsparadigma (vgl. Kapitel 2.2.2.2) mit seinem spezifischen Beratungsverständnis einerseits sowie den systemischen Interventionen mit ihren drei Gestaltungsebenen andererseits verstanden werden. Sie übersetzen also, wenn man so will, zwischen Theorie und Praxis, indem sie das theoretische Wissen mit der praktischen Durchführung verbinden, sodass es lebbar wird. Als jene systemischen Elemente, die diese zentrale Verbindungsfunktion erfüllen und auf die generellen Kritikpunkte drei, vier, fünf und acht an klassischer Beratung aufbauen, werden in der vorliegenden Arbeit die Allparteilichkeit, die Anschlussfähigkeit, die systemische Schleife sowie die Beobachtung zweiter Ordnung verstanden, die vor dem generellen Hintergrund einer möglichen Integration in die klassische Beratung nun aufgearbeitet werden soll. Allparteilichkeit Als erste Basiskomponente systemischer Beratung ist die generelle Allparteilichkeit, auf der die allparteiliche Haltung systemischer Berater gründet, zu nennen. Diese wurde in der systemischen Familientherapie (vgl. Kapitel 3.2.5) von der Heidelberger Schule entwickelt und stellt eine faktische Weiterentwicklung der grundsätzlichen Überlegungen der Mailänder Schule dar, die zuvor bereits die neutrale Haltung für systemische Familientherapeuten eingeführt hat. Zur Erklärung der Allparteilichkeit macht es daher Sinn, sich zuerst der Neutralität zu widmen. Der Begriff der Neutralität ist im Zusammenhang mit Beratung zunächst einmal vielschichtig, sodass sich mehrere Dimensionen damit beschreiben lassen. So sind die rechtliche, die finanzielle, die personenbezogene und die inhaltliche Dimension voneinander zu unterscheiden, wobei die zwei erstgenannten Dimensionen in der Regel für alle externe Berater zutreffen, die beiden letztgenannten Dimensionen im Allgemeinen nur für systemische Berater charakteristisch sind und demzufolge hier betrachtet werden sollen. Bei diesen bezieht sich Neutralität zunächst grundsätzlich auf die gleichwertige Behandlung von unterschiedlichen Personen im betrachteten Klientensystem. Aus dieser personenbezogenen Dimension heraus wird sie auf die inhaltliche Dimension ausgeweitet, indem die verschiedenen Perspektiven, die die betroffenen Personen einnehmen können, als ebenbürtig betrachtet werden. Für die konkrete Arbeit eines systemischen Beraters heißt das also, dass dieser weder Koalitionen mit einzelnen Personen eingeht noch Partei für eine spezielle Sichtweise

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ergreift und damit die Basis für ein grundlegendes Vertrauensverhältnis zum sozialen System schafft. Was dieses Verständnis von Neutralität allerdings nicht abdeckt ist die Anforderung, dass systemische Berater die Funktion eines im beobachteten System bestehenden Symptoms nur dann herausfinden können, wenn sie alle Sichtweisen, die im System vorhanden sind sowie während der Beratungsarbeit entstehen, gleich wertschätzten und dafür sorgen, dass diesen von allen Seiten die gleiche Aufmerksamkeit und der gleiche Respekt entgegengebracht wird. Um auch diesen Aspekt zu erfassen, kann nun das Konzept der Allparteilichkeit399 von Boszormenyi-Nagy angewendet werden, in dem die Neutralität im Endeffekt integriert ist und somit verdeutlicht wird, dass sich systemische Arbeitsweise nicht nur auf 'weder – noch' beschränkt, sondern genauso 'sowohl – als auch' beinhaltet.400 Anders gesagt erlaubt eine allparteiliche Haltung einem systemischen Berater, sich aus einer systembezogenen Metaebene immer wieder in einzelne Begegnungsebene hineinzubegeben, um dort hintereinander in verschiedenen Situationen in unterschiedliche Kontexte von einzelnen Personen des gesamten Klientensystems hineinzugehen und dabei jeweils lediglich für eine einzige Person als alleiniger Berater tätig zu sein. Ein systemischer Berater kann sich damit in einen spezifischen Kontext einer bestimmten Person hineinbewegen, diesen dann aber über die Metaebene auch wieder verlassen, um in einem anderen Kontext von entweder der gleichen Person oder einem anderen Betroffenen zu treten. Dies kann wiederholt werden, bis einerseits alle Vertreter sowie andererseits alle Kontexte des Klientensystems über die Begegnungsebenen Gleichberechtigung erfahren haben und dann auf der Metaebene im Gesamtzusammenhang betrachtet werden können. Somit impliziert neutrales Agieren und allparteiliches Handeln für den systemischen Berater also die scheinbar unmögliche Haltung, keine Partei zu bevorzugen und trotzdem im Dienste aller Beteiligten zugleich zu stehen.401 Aus dem Gesagten geht augenscheinlich hervor, dass Neutralität und Allparteilichkeit eine permanente Gratwanderung darstellen und auch sehr viel leichter verspielt, als aufgebaut werden können. Das Schwierige an diesem Aufbau ist die Tatsache, dass diese Haltung nicht einfach postuliert, sondern dem Berater nur vom betroffenen System, gegenüber welchem er sich neutral und allparteilich erklärt, zugeschrieben werden kann. Neutralität und Allparteilichkeit beruhen daher auf einer gemeinsamen Vertrauensbasis zwischen Berater und Klient und können nur dann bestehen bleiben, wenn sie immer wieder neu erarbeitet und zugeschrieben werden.402

399 400 401 402

Vgl. Boszormenyi-Nagy (1981) Vgl. Kolbeck (2001), S. 133 Vgl. Varga von Kibéd (2003), S. 121 Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 39

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Anschlussfähigkeit Mit dem Begriff der Anschlussfähigkeit umschreibt Luhmann in seiner soziologischen Systemtheorie (vgl. Kapitel 3.2.8) die prinzipielle Notwendigkeit, dass Systeme, die autopoietisch operieren, die Elemente, aus denen sie bestehen, nur dann durch die Elemente, aus denen sie bestehen, produzieren sowie reproduzieren können, wenn jede Operation derart gestaltet ist, dass eine andere Operation darauf folgen kann. Es kann demzufolge nach Luhmann, welcher die Begriffe Element und Operation ja letztlich gleichsetzt, auch von anschlussfähigen Elementen oder anschlussfähigen Operationen gesprochen werden, welche durch diese spezifische Eigenschaft ein autopoietisches System überhaupt erst überlebensfähig machen. Da diesem Ansatz folgend, jede Beratung als Sozialsystem aufgefasst werden kann, welches durch Kommunikation operiert und seine Operationen nur weiterführen kann, wenn darauf eine Anschlusskommunikation folgt, geht so Anschlussfähigkeit in die Beratung ein. In der Beratung wiederum kann Anschlussfähigkeit damit zunächst als Bestandteil einer Intervention aufgefasst werden, und zwar in dem Sinne, dass deren Wirkung in Anlehnung an Titscher403 als das Produkt von Inhaltsqualität und Anschlussfähigkeit definiert wird. Durch die multiplikative Verknüpfung dieser beiden Komponenten, die in Beziehung auf die drei Sinndimensionen von Luhmann zu zweien von diesen eine deutliche Ähnlichkeit erkennen lassen, wird aufgezeigt, dass weder die erstgenannte Inhaltsqualität, die eher mit der Sachdimension einhergeht, noch die letztgenannte Anschlussfähigkeit, die tendenziell der Sozialdimension zugerechnet werden kann,404 nur alleine über eine tatsächliche Interventionswirkung entscheiden, sondern immer gemeinsam zu einem möglichen Interventionserfolg beitragen. Anders formuliert ist also jedes intervenierende Geschehen auf das untrennbare Zusammenspiel der zwei Sinndimensionen zurückzuführen, die ihrerseits zum einen den inhaltsorientierten Beratungsfokus (vgl. Kapitel 2.2.1.1) der klassischen Beratung und zum anderen den prozessorientierten Bratungsfokus (vgl. Kapitel 2.2.1.2) der systemischen Beratung widerspiegeln. Demzufolge ist in beiden Beratungsformen ein gewisses Mindestmaß von beiden Komponenten erforderlich, jedoch eine unterschiedliche Ausprägung in den zugehörigen Sinndimensionen vorhanden, wobei klassische Berater eindeutig die sachlich-inhaltsorientierte Komponente betonen, systemische Berater hingegen klar die sozial-prozessorientierte Komponente hervorheben.405 Betrachtet man aus

403 404

405

Vgl. Titscher (2001), S. 154 ff. Dieser Aufteilung liegt die Überlegung zugrunde, dass die Kriterien für die Bestimmung der tatsächlichen Inhaltsqualität vom intervenierten System definiert werden, welches dadurch gleichsam festlegt, ob das intervenierende System auf der inhaltsorientierten Sachdimension anschlussfähig ist. Als Konsequenz daraus kann dann die Anschlussfähigkeit im Sinne von Titscher nur noch aussagen, ob das intervenierende System auch auf der prozessorientierten Sozialdimension anschlussfähig ist. Das geht auch aus der Positionierung der Idealtypen hervor (vgl. Abbildung 2.6)

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Systemische Elemente zur Integration

diesem Blickwinkel nun noch einmal jenes Produkt, welches den Ausgangspunkt für diese Überlegungen bildet, so könnte diese grundlegende Beziehung gleichwertig auch als multiplikative Verknüpfung sachlich-inhaltsorientierter Anschlussfähigkeit mit sozial-prozessorientierter Anschlussfähigkeit definiert werden. Damit könnte letztlich noch stärker verdeutlicht werden, dass Beratung stets von der Anschlussfähigkeit an das Klientensystem lebt406 und diese entweder sachlich durch den Inhalt oder aber sozial durch den Prozess leisten muss, wobei das jeweilige Komplementär in einem Mindestmaß vorhanden sein muss, um insgesamt eine Wirkung mit der Intervention erzielen zu können. Unabhängig davon ist aber, wenn von der Anschlussfähigkeit als ein systemisches Element gesprochen wird, damit stets die Sozialdimension im prozessorientierten Bratungsfokus gemeint. Verfolgt man nun die prozessorientierte Anschlussfähigkeit an ein soziales System weiter, so weisen systemische Berater hier das prinzipielle Bewusstsein darüber auf, dass jede beratende Kommunikation nicht vom intervenierenden Berater gesteuert, sondern nur beim betroffenen Klienten entschieden werden kann. Sie sind sich also dessen im Klaren, dass die Grundsatzfrage, ob eine Intervention eines Beraters angenommen wird, nur Sache des Klienten ist und damit von außen weder verordnet noch hergestellt werden kann. Der Vorteil aus diesem Wissen ist, dass der Berater damit die Wahrscheinlichkeit erhöhen kann, dass seine Interventionen angenommen werden und auch in seinem Sinne ankommen,407 wofür er letztendlich ein Bild vom Klientensystem braucht, das dessen bestehender Selbstwahrnehmung nahe kommt, diese aber gleichzeitig auch in genügendem Ausmaße irritiert.408 Dann kann er seine Interventionen bei etwas Vertrautem ansetzten, sodass die Klienten, mit dem was der Berater tut, erstens weder überfordert noch unterfordert sind und zweitens auch etwas anfangen können. Entweder müssen sie die Anregungen aufgreifen können sowie in ihre Praktiken integrieren können oder sie müssen die Irritationen ablehnen können sowie darauf basierend die Möglichkeit haben, im Klientensystem etwas Eigenes zu entwickeln.409 Erst dann, wenn eine Intervention eine dieser Reaktionen bewirkt, ist sie, egal in welche Richtung sich das Klientensystem auch entscheidet, anschlussfähig. Insgesamt lässt sich damit für die Anschlussfähigkeit als systemisches Element festhalten, dass diese in der prozessorientierten Sozialdimension dafür entscheidend ist, ob unterschiedliche Interventionen im beratenen Klientensystem tatsächlich eine Wirkung erzielen. Dementsprechend müssen sowohl die Sichtweisen als auch die Beiträge des Beraters anschlussfähig sein, damit sich aus einzelnen Irritationen im 406 407 408 409

Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 37 Vgl. Titscher (2001), S. 156 Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 37 Vgl. Titscher (2001), S. 32

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Laufe des Projektes immer wieder Schritte in Richtung Zielzustand ergeben. Dieses Unterfangen wird prinzipiell umso leichter, je höher, und umgekehrt umso schwerer, je niedriger die Qualität des Inhalts auf Seiten des Beraters ist, sodass dieser dann immer stärker vom Fachwissen auf Seiten des Klienten abhängig ist. Systemische Schleife Die systemische Schleife410, die auch als Reflexionsschleife411 bezeichnet wird, ist eine zentrale Basiskomponente systemischer Beratung. Im Sinne der Zirkularität, bringt sie zum Ausdruck, dass die systemische Beratung einem rekursiven Prozess entspricht, der sich kontinuierlich im Beratungsprojekt wiederholt und iterativ dem Zielzustand nähert. Grundsätzlich können dabei vier Schritte unterschieden werden, die mit den repräsentativen Begriffen Informationsgewinnung, Hypothesenbildung, Interventionsplanung und Interventionsdurchführung bezeichnet werden und gemäß der folgenden Darstellung zusammenhängen.

Interventionsdurchführung

Informationsgewinnung

Interventionsplanung

Hypothesenbildung

Abbildung 4.3: Systemische Schleife412

Die einleitende Informationsgewinnung hat zwei Grundfunktionen. Zum einen dient sie dem Berater um zu verstehen, was das Anliegen des Klienten ist, was aus Sicht des Systems und seiner Mitglieder das tatsächliche Thema oder auch vermeintliche Problem darstellt und wie möglicherweise unterschiedliche Sichtweisen zustande kommen. Dabei erhält der Berater durch seine Fragen sowie seine Beobachtungen nicht nur Information über den Inhalt der Aufgabenstellung, sondern auch über die

410

411 412

Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 35 ff., sowie Königswieser/Hillebrand (2004), S. 45 ff. Vgl. Königswieser/Exner/Pelikan (1995), S. 56 Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 30

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Wirklichkeitskonstruktion und die Selbstbeschreibung des gesamten Systems sowie der einzelnen Mitglieder. Dabei muss er aus einer neutralen Position heraus, die er auch in den anderen Schritten beibehalten muss, jede Information als gleichwertig behandeln und darf diese weder als richtig noch als falsch bewerten. Zum anderen beginnt der Klient aufgrund der Interaktion mit dem Berater, welche ja bereits eine Intervention darstellt, auch immer mehr Information für sich selber zu generieren, sodass nach einer erfolgreichen Befragung sowohl Berater als auch Klient klüger sein sollten.413 Die so über das Problem und den Klienten gewonnenen Informationen legen die Basis zum zweiten Schritt der systemischen Schleife, der Hypothesenbildung. Diese ist ein zentraler Bestandteil der systemischen Beratung und das entscheidende Bindeglied zwischen Informationen einerseits und Interventionen andererseits. Die aus diesem zweiten Schritt resultierenden Hypothesen, die auch als 'Wegweiser' für die Beratung interpretiert werden können, können zweierlei Inhalte haben. Entweder formuliert der systemische Berater damit die gegenwärtige Situation des betrachteten Klientensystems oder die gewünschte Wirkung der späteren Intervention. Mit der ersten Form von Hypothesen wird eine Fremdwahrnehmung abgebildet, die sich von der Selbstwahrnehmung des Klientensystems unterscheidet. Dabei muss unbedingt beachtet werden, dass die abgebildete Fremdwahrnehmung einerseits nahe genug an der Selbstwahrnehmung ist, damit sie vom System angenommen werden kann, aber andererseits so weit weg ist, dass sie das System trotzdem irritieren kann. Nur wenn diese Bedingung, die, wie zuvor bereits ausgeführt, als Anschlussfähigkeit der Hypothese bezeichnet wird, erfüllt ist, ist es dem Klientensystem später möglich, Informationen aus der Differenz der beiden Wahrnehmungen abzuleiten. Damit eine Intervention schließlich auch eine Veränderung in Richtung Zielzustand bewirken, also zielgerichtet sein kann, ist es zusätzlich erforderlich, eine Hypothese über die Wirkung der Intervention aufzustellen. Erst dann, wenn auch diese zweite Form von systemischen Hypothesen vorhanden ist, kann eine sinnvolle Interventionsplanung durchgeführt werden. Um nun die aus den vorhandenen Informationen aufgestellten Hypothesen testen zu können, wird im dritten Schritt der systemischen Schleife eine gezielte Intervention geplant, die zwei ineinander greifende Ziele erfüllen soll. Einerseits sollen die im System und bei seinen Mitgliedern bestehenden Muster irritiert werden, um dadurch den Klienten zur Selbstreflexion anzuregen und untern Umständen zur Veränderung zu bewegen. Andererseits sollte der systemische Berater genau durch diesen so initiierten Entwicklungsprozess wieder neue Informationen erhalten, welche ihm mehr

413

Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 36

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Aufschluss über das tatsächliche Problem, die unterschiedlichen Sichtweisen und die jeweiligen Wirklichkeitskonstruktionen im Klientensystem geben. Scheinen beide Ziele erfüllt, so besitzt die Intervention das Potenzial einen Schritt in Richtung Lösung beizutragen. Bei der Durchführung der Intervention werden die Hypothesen schließlich getestet, indem die Fremdwahrnehmung des Beraters der Selbstwahrnehmung des Klienten gegenübergestellt wird. Die dabei entstehende Differenz irritiert nun den Klienten und generiert dadurch neue Information, wodurch sich die systemische Schleife letztlich schließt und wieder beim ersten Schritt von vorne beginnt. Die beschriebene Reflexionsschleife verdeutlicht unter anderem auch, warum die aus der erfolgten Gegenüberstellung der idealtypischen Beratungsleistungen (vgl. Abbildung 2.4) ersichtliche Trennung von den drei Phasen, Diagnose, Konzept und Umsetzung, in der klassischen Beratung besteht, in der systemischen Beratung aber nicht existiert. Diese drei Phasen fließen nämlich mit und durch die vier Schritte der systemischen Schleife kontinuierlich ineinander und werden nur durch Anfang und Ende des Beratungsprojektes begrenzt. Beobachtung zweiter Ordnung Die Beobachtung zweiter Ordnung, die als 'das' Instrumentarium der Systemtheorie schlechthin bezeichnet werden kann,414 geht auf von Foerster zurück, der in diesem Prinzip die Ansätze aus zwei Forschungsgebieten zusammenführt. Zum einen wird der Interessensfokus des radikalen Konstruktivismus (vgl. Kapitel 3.2.1) aufgegriffen, der sich mit der Art und Weise, wie eine Beobachtung erfolgt, beschäftigt. Zum anderen fließt das Vorgehen der Kybernetik (vgl. Kapitel 3.2.3) zweiter Ordnung ein, die den Beobachter eines Systems und nicht das System selbst in den Mittelpunkt ihres Interesses stellt. Durch Kombination dieser zwei Ansätze entsteht die zentrale Frage nach der Art und Weise, wie ein Beobachter beobachtet, die die Beobachtung zweiter Ordnung zu beantworten sucht. Das Ziel dieser Methode im Rahmen der Beratung ist, herauszufinden, nach welchen Kriterien und Mustern das Klientensystem beobachtet oder, anders formuliert, wie dessen Wirklichkeitskonstruktion funktioniert. Genau diese kann der Klient ja selber nicht beobachten, weil sie aus den grundlegenden Unterscheidungen besteht, auf denen seine eigenen Beobachtungen basieren. Für das soziale System handelt es sich also um einen blinden Fleck, den der systemische Berater mittels seiner eigenen Beobachtung nicht nur sehen, sondern auch sichtbar machen kann.415

414 415

Vgl. Groth (1996), S. 72 Vgl. Groth (1996), S. 70 f.

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Im Unterschied zu der in der klassischen Beratung angewendeten Beobachtung erster Ordnung verändert der systemische Berater seinen prinzipiellen Fokus weg vom Klientensystem und hin zur Beobachtungsweise desselben. Der Gegenstand der Beobachtung zweiter Ordnung ist also die Beobachtung des Klienten, die dem Berater letztlich Information über das System einbringt. Es handelt sich also um eine Beobachtung der Beobachtung bei der weder die Aussagen und Handlungen des Klienten noch deren Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit relevant sind. Das einzige, was den Berater interessiert, sind die Kriterien und Muster, die den Unterscheidungen und dem Verhalten des Systems zugrunde liegen und dieses letztlich veranlassen so zu agieren, wie es das tut.416 Da der Berater sieht, was der Klient nicht sehen kann, ist es ihm nicht nur möglich den blinden Fleck zu erkennen, sondern auch die darin enthaltenen Latenzen des beobachteten Systems zu aufzuspüren. Letztere bringen zum Ausdruck, dass jedes Problem eine Funktion erfüllt, welche dem System nicht bewusst ist und die es auch bewusst nicht hinterfragt, um sich davor zu schützen. Für den Berater muss es daher von grundlegendem Interesse sein, diesen latenten Sinn zu identifizieren, um das Problem in Relation zum System zu bringen und sich so selber orientieren zu können. Gleichzeitig steht der Berater mit dem Erfassen dieser Latenzen aber vor der schwierigen Entscheidung, welche Information er dem Klienten überhaupt offen legen soll und wann der beste Zeitpunkt dafür wäre. Hier muss eine gründliche Abwägung erfolgen, ob das, was durch das Zugänglichmachen von Nichtwissen positiv bewirkt werden kann, in Relation dazu steht, was dadurch negativ ausgelöst werden würde. Schließlich schützt sich das System durch die Latenzen und kann durch Aufdecken derselben möglicherweise in Instabilität gelangen.417 Betrachtet man die Unterscheidungen des Klienten, die der Berater als Beobachter zweiter Ordnung beobachtet, als einen speziellen Gegenstand, so lässt sich leicht ersehen, dass die Beobachtung zweiter Ordnung nichts anderes als eine spezielle Beobachtung erster Ordnung ist. Daraus folgt, dass alle Einschränkungen, die für die Beobachtung erster Ordnung gelten, auch auf die Beobachtung zweiter Ordnung zutreffen und das Beratersystem daher ebenfalls einen blinden Fleck aufweist und gewissen Restriktionen unterliegt.418 Diese sind allerdings weiter gefasst als jene des Klienten, weil sich der Berater durch seine Ausbildung, seine Erfahrung, seine Reflexionsfähigkeit und seinen Diskussionszusammenhang Eigenschaften erarbeitet

416 417 418

Vgl. Wimmer (1995), S. 252 f. Vgl. Wimmer (1995), S. 255 Vgl. Groth (1996), S. 71

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hat, welche für seine Profession spezifisch sind und die er bei seiner Beratungsarbeit nutzen kann.419 Abschließend ist noch zu anzumerken, dass die ausgeführte Methode, die als letztes systemisches Element aus den vier Basiskomponenten vorgestellt wurde, in ihrer tatsächlichen Anwendung einer intensiven Interaktion mit dem zu beobachtenden Klienten bedarf. Sie kann daher, so wie auch die anderen Basiskomponenten, nicht alleine für sich und losgelöst von allem anderen durchgeführt werden, sondern bildet mit diesen gemeinsam ein umfassendes Fundament, auf dem zuerst die systemische Interventionsarchitektur aufbauen kann und danach unterschiedliche Interventionen – also systemische Elemente, wie beispielsweise jene acht Interventionsdesigns sowie die vielfältigen Interventionstechniken, die in den zwei nächsten Kapiteln beschrieben werden – gestaltet werden können.

4.3 Interventionsdesigns Aufbauend auf die systemischen Basiskomponenten (vgl. Kapitel 4.2) kann nun über systemische Interventionen sinnvoll nachgedacht werden, mit denen die systemische Interventionsarchitektur, die im allgemeinen Bezugsrahmen (vgl. Kapitel 4.1) skizziert wurde, konkretisiert werden kann. Dabei sollen, der verwendeten Analogie auf den drei Gestaltungsebenen folgend, zunächst einige systemische Interventionsdesigns diskutiert werden, die aufgrund der dargestellten Kritikpunkte an der klassischen Beratung ausgewählt werden, um sie aus dem konkreten Blickwinkel der möglichen Integration aufzuarbeiten. Letztere stellen auf der zweiten Gestaltungsebene eines systemischen Beratungsprojektes den konkreten Entwurf sowie die weiterführende Strukturierung eines bestimmten Projektschrittes, sprich einer architektonischen Einheit dar, die sich ihrerseits wiederum aus einzelnen Elementen zur Gestaltung der Interventionsarchitektur (vgl. Abbildung 4.2) zusammensetzt. Von dieser können die systemischen Interventionsdesigns jedoch, wie bereits ausgeführt, nicht eindeutig abgegrenzt werden, sondern weisen zu ihr einen fließenden Übergang auf, der von der spezifischen Designgröße sowie der damit korrelierenden Designkomplexität abhängig ist. Es können anders formuliert kleinere von größeren sowie einfachere von komplexeren Interventionsdesigns unterschieden werden, die dementsprechend sowohl als spezifisches Element in, jedoch auch als eigenständiges Äquivalent zu einer systemischen Interventionsarchitektur verstanden werden können.420 Es bietet sich daraus also ein mögliches Unterscheidungsmerkmal an, nach dem systemische Interventionsdesigns kategorisiert werden könnten, das unter dem grundlegenden Aspekt der möglichen Integration in die klassische Beratung jedoch noch mit einer zweiten Orientierungshilfe gekoppelt werden soll. Dafür werden mit dem prinzipiellen 419 420

Vgl. Wimmer (1995), S. 253 Vgl. Königswieser/Keil (2002), S. 12, sowie Königswieser/Hillebrand (2004), S. 67

158

Systemische Elemente zur Integration

Ziel, die notwendige Übertragbarkeit der systemischen Interventionsdesigns auf die klassische Beratung herzustellen, deren drei Projektphasen herangezogen, die in der erfolgten Gegenüberstellung der idealtypischen Beratungsleistungen (vgl. Abbildung 2.4) skizziert wurden. Während diese Trias aus Diagnosephase, Konzeptphase und Umsetzungsphase im Begriff des Projektablaufes zusammenfindet, können Größe sowie Komplexität eines Interventionsdesigns, die sich primär durch die Anzahl der Teilnehmer ergeben, am einfachsten durch die Gruppe Interaktionsmodus abgebildet werden, welche in den Elemente zur Gestaltung der Interventionsarchitektur definiert wurde. Entlang dieser beiden Kriterien, deren eines aus der klassischen Beratung und deren anderes aus der systemischen Beratung stammt, kann nun eine hilfreiche Übersichtslogik aufgespannt werden, mittels derer systemische Interventionsdesigns sowohl abgegrenzt als auch übersetzt werden können.

Veränderung Projektablauf Diagnosephase

Konzeptphase

Umsetzungsphase

Zielzustand

Interaktionsmodus Gespräch Interview

Diagnosedesigns

Workshop Konferenz

Konferenzdesigns

Hearing Coaching

Abbildung 4.4: Übersichtslogik für systemische Interventionsdesigns

Die skizzierte Logik wird für die folgende Diskussion dazu verwendet, um diverse Gruppen von systemischen Interventionsdesigns zu positionieren, denen prinzipiell zwar gemein ist, dass sie so wie auch die übergeordnete Interventionsarchitektur von den vier Interventionsdimensionen aufgespannt werden, die sich aber nach den zwei Achsen unterscheiden lassen. Dargestellt sind letztendlich lediglich zwei Gruppen, in denen verwandte Interventionsdesigns unter den beiden Begriffen Diagnosedesigns und Konferenzdesigns zusammengefasst werden, wobei diese jeweils verschiedene Kritikpunkte an der klassischen Beratung aufgreifen. Während Diagnosedesigns an den Kritikpunkten eins, zwei, fünf sowie acht ansetzen, knüpfen Konferenzdesigns an

Systemische Elemente zur Integration

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den Kritikpunkten zwei, drei sowie sechs an, wobei die erstgenannte Gruppe generell auf eine eher geringere Teilnehmerzahl ausgelegt ist und folglich eine tendenziell niedrigere Komplexität aufweist, die zweitgenannte Gruppe jedoch prinzipiell für eine sehr große Teilnehmerzahl konzipiert ist und dementsprechend meist auch deutlich höhere Komplexität besitzt. Für diese Abgrenzung entlang des Interaktionsmodus kann als Richtwert etwa eine Teilnehmerzahl von 30 Personen betrachtet werden, unter der von einem Workshop, über der jedoch von einer Konferenz gesprochen werden kann, sodass sich im Sinne dessen festhalten lässt, dass Diagnosedesigns mit mehr als 30 Teilnehmern Konferenzdesigns sind.421 Mindestens so klar, wenn nicht noch klarer fällt die Differenzierung entlang des Projektablaufes aus, weil zum einen Diagnosedesigns fast ausschließlich zu Projektbeginn, zum anderen jedoch Konferenzdesigns durchwegs in allen Projektphasen eingesetzt werden können. Auf diese beiden Gruppen von einerseits systemischen Diagnosedesigns (vgl. Kapitel 4.3.1) und andererseits systemischen Konferenzdesigns (vgl. Kapitel 4.3.2), die je vier Interventionsdesigns enthalten, soll nun detailliert eingegangen werden. 4.3.1 Diagnosedesigns Jede Beratung sollte mit einer Diagnose beginnen, da durch diese erst die Basis für die Interventionen aufbereitet werden kann, die im Laufe eines Beratungsprojektes erfolgen können. Sie ist für jeden Berater gleichsam unerlässlich, weil er das Terrain generell sondieren muss, um sich darauf grundsätzlich bewegen und somit gezielt intervenieren zu können.422 In dieser einleitenden Diagnosephase sind systemische Berater besonders darauf bedacht, das betroffene Klientensystem dort abzuholen, wo es gerade steht, wofür, ähnlich wie für jeden anderen Arbeitsfokus (vgl. Abbildung 4.2), ein breite Palette unterschiedlicher Interventionsdesigns verfügbar ist. Daraus wurden für die mögliche Integration in die klassische Beratung vier Diagnosedesigns, die systemische Auftragsklärung, die systemische Problemanalyse, die SystemUmfeld-Analyse sowie die Quellen der Veränderungsenergie ausgewählt, die nun näher betrachtet werden sollen. Systemische Auftragsklärung Da der Klient jede Kommunikation eines Beraters als Intervention deuten kann,423 kann man aus dem von Watzlawick in der systemischen Kommunikationstheorie (vgl. Kapitel 3.2.6) formulierten Axiom – 'Man kann nicht nicht kommunizieren' – erkennen, dass schon die bloße Anwesenheit eines Beraters eine Intervention darstellen kann. Dementsprechend ist der erste Kontakt zwischen den beiden Parteien, aus denen

421 422 423

Vgl. Königswieser/Keil (2002), S. 11 Vgl. Titscher (2001), S. 137 Vgl. Titscher (1991), S. 313

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Systemische Elemente zur Integration

das Beratungssystem hervorgeht, als Intervention zu deuten, die das Klientensystem mitunter bereits nachhaltig verändern kann. Mit dem Ziel die Rahmenbedingungen für ein stabiles Arbeitsverhältnis zu schaffen, werden in der Auftragsklärung, die mitunter auch als 'Joining' bezeichnet wird, zwei Hauptpunkte voneinander unterschieden. Zum einen muss der systemische Berater für sich selbst ein übergreifendes Verständnis der gegenwärtigen Problemsituation entwickeln, sodass er zum anderen basierend darauf den konkreten Auftrag mit dem sozialen System gemeinsam formulieren kann. Dieser Auftrag impliziert die klare Beschreibung des Zielzustandes, der nach Durchführung der Beratung existieren soll und der in Form von Merkmalen, die die zukünftige Lösung von der gegenwärtigen Situation unterscheiden, dargestellt wird. Genau in dieser Formulierung liegt jener Hebel, welcher die Auftragsklärung, wie einleitend bereits angedeutet, zur ersten und grundlegenden Intervention in das Klientensystem werden lassen kann. Schließlich ist das prinzipielle Erkennen einer problematischen Situation generell keine große Herausforderung, hingegen ist die explizite Formulierung einzelner Merkmale, an den erkannt werden kann, dass ein störendes Problem gelöst ist, meist schwierig. Da die Suche nach diesen Merkmalen oft erst mit der Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Lösung angeregt wird, empfiehlt es sich hier zu Beginn der Beratung ausreichend Zeit zu investieren.424 Schließlich können aus diesem Schritt nicht nur erste Impulse in Hinblick auf die Problemlösung initiiert werden, sondern es wird darüber hinaus auch die Basis für die Entstehung eines Vertrauensverhältnisses für die angestrebte Zusammenarbeit gelegt. In Anlehnung an Janes, Prammer und Schulte-Derne425 können in Form von Fragen nun zehn Punkte, welche im Rahmen einer gemeinsamen Auftragsklärung zwischen Klient und Berater berücksichtigt werden sollten, beschrieben werden: x

Was ist Thema bzw. Gegenstand der Beratung?

x

Welches Ziel hat die Beratung?

x

Was sind die Erfolgskriterien an den die Beratung gemessen wird?

x

Wer ist der Klient sowie der dazugehörige Auftraggeber?

x

Wer sind die Berater sowie der dazugehörige Auftragnehmer?

x

Welche Rolle haben die Berater?

x

Wie lauten die grundlegenden Regeln für die Zusammenarbeit?

x

Welche Zeitressourcen stehen für die Beratung zur Verfügung?

x

Wie lautet die Honorarvereinbarung?

424 425

Vgl. Simon/Rech-Simon (2002), S. 29 ff. Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 43

Systemische Elemente zur Integration x

161

Wie lauten die Stornobedingungen?

Sind Antworten auf alle diese Fragen gefunden, dann ist erstmals eine gemeinsame Grundlage für den Beratungsauftrag geschaffen. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine rigide Vereinbarung, die unbedingt eingehalten werden muss und nicht mehr verändert werden kann, sondern vielmehr um eine Sichtweise, welche aus der gegenwärtigen Situation sowie den damit verbundenen Rahmenbedingungen ein bestimmtes Ziel und ein dementsprechendes Vorgehen als sinnvoll erscheinen lassen. Weil im Laufe eines Projektes diverse interne sowie externe Veränderungen eintreten können, wird die effektive Stimmigkeit der festgelegten Vereinbarungen an vorab ausgemachten Zeitpunkten immer wieder überprüft. Dadurch wird ein dem systemischen Prinzip der Zirkularität entsprechender Prozess eingeleitet, welcher, so dies erforderlich ist, die Anpassung der Vereinbarungen in Abstimmung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer ermöglicht.426 Die Auftragsklärung stellt also den ersten wichtigen Schritt eines Beratungsprojektes dar und hat daher einen überproportional großen Anteil am Erfolg oder Misserfolg desselben. Sie kann prinzipiell als ein eigenständiges Interventionsdesign betrachtet werden, ist dessen ungeachtet jedoch immer in engem Zusammenhang mit der eigentlichen Problemanalyse zu sehen, die nun beleuchtet werden soll. Systemische Problemanalyse Um ein Problem mittels einer Veränderung zu beseitigen, ist es notwendig, dieses überhaupt einmal zu erkennen und grundlegend zu analysieren. Diese Schritte, die am Anfang von jedem Problemlösungsprozess stehen, implizieren ein Problem in Verknüpfung mit den unterschiedlichen Einflussfaktoren und unter Berücksichtigung der eigenen Sichtweise zu erfassen und sich dadurch einen Überblick der Situation zu verschaffen.427 Da selbiges mitunter schon in der Auftragsklärung beginnt, sind diese beiden Interventionsdesigns nicht nur verzahnt, sondern greifen gelegentlich auch ineinander, sodass eine klare Abgrenzung eher schwierig ist. Aus systemischer Sicht sind mit der grundsätzlichen Problemanalyse defacto zwei Ziele verbunden. Zum einen macht sich der Betrachter unter Berücksichtigung der relevanten Umweltfaktoren sein subjektives Bild des Systems. Dabei berücksichtigt der Beobachter, der sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des Klientensystems befinden kann, dass es sich um seine eigene Wahrnehmung handelt und sich das konstruierte Bild ständig verändern kann. Zum anderen entstehen durch den Analyseprozess genauso wie aus dem Erstkontakt mit dem Berater Dynamiken, die die Basis zur Entwicklung von Veränderungen bilden. Im besten Fall können durch

426 427

Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 42 Vgl. Jarmai/Königswieser (1992), S. 18

162

Systemische Elemente zur Integration

die Analysephase auch Impulse freigesetzt werden, die letztlich direkt zur Lösung des Problems beitragen.428 In Anlehnung an Mingers429 sowie an Jarmai und Königswieser430 lassen sich fünf Thesen, die ein systemisches Verständnis von beliebigen Problemen kennzeichnen, formulieren: x

Probleme, die aus Schwierigkeiten, Störungen oder Hindernissen entstehen, sind nicht pathologisch, sondern einerseits Resultat von sowie andererseits Motor für Veränderungsprozessen und stellen in dieser Eigenschaft oft eine wichtige Quelle für Entwicklungsenergien dar.

x

Da ein Problem einerseits etwas verhindert, und andererseits etwas schützt, besitzt es immer eine Doppelfunktion. Bei einer Veränderung müssen daher sowohl die negativen als auch die positiven Aspekte sowie die damit verbundenen Kräfte, die entweder an der Beseitigung oder an der Erhaltung des Problems interessiert sind, verstanden und berücksichtigt werden.

x

Den Erkenntnissen des Konstruktivismus entsprechend, gibt es nicht eine objektiv feststellbare Wirklichkeit, sondern nur zahllose subjektiv gefärbte Konstruktionen derselben. Es existieren daher unterschiedliche Sichtweisen des Problems, welche alle vor dem jeweiligen persönlichen Hintergrund als individuelle Wirklichkeiten zu akzeptieren sind. Ebendies müssen sich auch Berater immer wieder bewusst machen, weil sie sonst Gefahr laufen, ihre eigene Sichtweise als eine absolute zu betrachten.

x

Aufgrund der Selbstorganisation von Systemen nehmen letztere Probleme nicht nur in ihrer eigenen Weise wahr, sondern bearbeiten diese auch in der für sie typischen Form. Die dazu erforderlichen Handlungsmuster, die das System über die Zeit gelernt und verfestigt hat, ermöglichen es ihm, so zu bleiben, wie es ist, und die eigene Identität zu wahren. Um das Problem zu lösen, ist es demnach notwendig entsprechende Informationen über diese Handlungsmuster zu generieren und auf dieser Basis das System gezielt zu stören.

x

Die Schaffung eines Problembewusstseins ist nur eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung zur Lösung des Problems. Dazu ist es auch notwendig entsprechende Maßnahmen zu erarbeiten, die mit konkreten Zielen und klaren Verantwortlichkeiten hinterlegt werden müssen, um die angestrebte Umsetzung sicherzustellen.

428 429 430

Vgl. Mingers (1996), S. 105 Vgl. Mingers (1996), S. 105 ff. Vgl. Jarmai/Königswieser (1992), S. 19 ff.

Systemische Elemente zur Integration

163

Die genannten Autoren formulieren darüber hinaus auch mehrere Merkmale, die eine systemische Problemanalyse auszeichnen: x

Betrachtung des gesamten Systems, wobei die relevanten Systemgrenzen vorab bestimmt werden müssen

x

Beschreibung der wichtigen Wechselwirkungen zwischen dem betrachteten System und den einwirkenden Umweltfaktoren sowie den unterschiedlichen Systemelementen untereinander

x

Fokussierung auf Relationen, Strukturen und Prozesse im System

x

Ermittlung der Funktionen des Problems und jener der zugrunde liegenden Handlungsmuster, die das Problem erhalten

x

Berücksichtigung der gesamten Komplexität, die das betrachtete Problem durch seine Vielschichtigkeit, Vernetztheit und Folgelastigkeit mit sich bringt

x

Durchführung als kommunikativer Prozess

Die beschriebene Analyse des Problems verlangt also eine äußerst umfangreiche Betrachtung, die sich nicht nur auf das System beschränkt, sondern weit darüber hinausgeht. Um die angesprochenen Wechselwirkungen mit der Umwelt und damit die übergeordneten Zusammenhänge der Veränderung sichtbar zu machen, kommt im Rahmen der systemischen Problemanalyse die in Folge vorgestellte SystemUmfeld-Analyse zum Einsatz. System-Umfeld-Analyse431 Die saubere Durchführung der System-Umfeld-Analyse ist ein erfolgsrelevanter Faktor in der Anfangsphase eines Beratungsprojektes, der die Basis zur Planung einer zielgerichteten Interventionsarchitektur bildet. Daher hat diese Analyse, welche in direkter Interaktion mit dem Berater durchgeführt wird und somit eine Intervention in das Klientensystem darstellt, einen unmittelbaren Einfluss auf den Erfolg des Beratungsprojektes. Die Zielsetzung dieser Intervention ist, einen Überblick über die Beziehungen des Klientensystems zu den für die Veränderung relevanten Umwelten zu erhalten. Durch die dabei abgebildeten Informationen über die Art und Weise der Beziehungen sollen im Allgemeinen die Innenperspektive und die Außenperspektive gekoppelt und dadurch die Basis für die Entscheidung von Veränderungen gelegt werden. Auf der einen Seite ist diese Analyse also für den Berater eine wichtige Informationsquelle, um einen tieferen Einblick in die Situation mit den jeweiligen Wechselwirkungen und den daraus resultierenden Erwartungen zu erhalten. Auf der anderen Seite wird dem 431

Die folgenden Ausführungen sind eine Zusammenfassung von Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 44 ff.

164

Systemische Elemente zur Integration

Klienten mittels dieser Intervention mitunter erst das Ausmaß der Auswirkungen des Problems und der Veränderung bewusst. Das Vorgehen der System-Umwelt-Analyse lässt sich in sechs Schritte untergliedern: x

Erfassen der 6 bis 8 relevanten Umwelten, die für das beobachtete System im Rahmen des betrachteten Problems relevant sind

x

Abbildung des Klientensystems als Kreis im Zentrum der Darstellung

x

Abbildung der relevanten Umwelten durch einzelne Kreise, wobei erstens die Größe der Kreise die Bedeutung der jeweiligen Umwelt für das System widerspiegelt und zweitens die Nähe der Kreise zum System die emotionale Betroffenheit der jeweiligen Umwelt zum Ausdruck bringt

x

Darstellung der Kontakthäufigkeit des System mit der jeweiligen Umwelt durch Striche, wobei die Anzahl der Striche die Intensität des Kontaktes wiedergibt (ein Strich: selten, drei Striche: häufig)

x

Darstellung der Kommunikationsqualität mittels Symbolen (+ positiv, - konfliktreich,  blockiert)

x

Zusammenfassen der gegenseitigen Erwartungen neben den Kreisen oder getrennt von diesen in Stichworten

Zum letzten Punkt ist zu betonen, dass es sich bei den Erwartungen der Umwelten um deren tatsächliche Erwartungen handeln muss, welche nicht damit verwechselt werden dürfen, was das beobachtete Systeme als Erwartung der jeweiligen Umwelt interpretiert. Es ist wichtig diese beiden Sichtweisen, aus deren Differenz der Berater natürlich Erkenntnisse auf die Wirklichkeitskonstruktion des Systems ableiten kann, zu trennen, da es sonst zu einer Überlagerung der Eigenwahrnehmungen der Umwelten mit der jeweiligen Fremdwahrnehmung durch das System kommt. Das kann zur Folge haben, dass die systemeigenen Befürchtungen oder Wünsche auf die möglicherweise völlig gegensätzlich eingestellte Umwelten projiziert werden und daraus falsche Rückschlüsse auf die angestrebte Veränderung gezogen werden, die die selbige in einem falschen Licht erscheinen lassen. Genauso wie das gegenwärtige Bild der Situation erarbeitet wird, kann die SystemUmfeld-Analyse jedoch auch zur Erstellung einer zukünftigen Situation, die nach der Veränderung bestehen soll, herangezogen werden. Sowohl die Differenz der beiden Bilder, also auch jedes dieser Bilder für sich selbst lassen erkennen, ob für eine Veränderung überhaupt Energie vorhanden ist und vermögen diese freizusetzen. Dieser wichtige Aspekt, welcher große Parallelen zu einer systemischen Aufstellung (vgl. Kapitel 4.4.4), nämlich zur systemischen Strukturaufstellung aufweist, kann im

Systemische Elemente zur Integration

165

analytischen Sinne als eigenes Interventionsdesign verstanden werden, das als die Quellen der Veränderungsenergie bezeichnet wird und jetzt zum Abschluss dieses Unterkapitels aufgearbeitet werden soll. Quellen der Veränderungsenergie Die umfassende Beobachtung der effektiven Veränderungsenergie hat einen hohen Stellenwert in systemischen Beratungsprojekten, weil in diesen davon ausgegangen wird, dass jede Veränderung nicht von außen durch Zwang erreicht,432 sondern nur von innen mit Energie genährt werden kann.433 Diese grundlegende Auffassung der systemischen Berater resultiert letztlich aus der zentralen Erkenntnis, dass beratene Organisationen als soziale Systeme nichttriviale Maschinen sind, die ausschließlich der Selbststeuerung unterliegen und folglich ein Verhalten zeigen, das von außen weder geplant noch vorhergesagt werden kann. Was der systemische Berater von außen jedoch leisten kann, ist die reflektierende Beobachtung davon, ob das in der beratenen Organisation vorhandene Energiepotenzial entweder gänzlich gebunden ist, um die eingespielten Muster und die manifestierten Organisationsverhältnisse zu reproduzieren oder teilweise frei ist, um soziale Veränderungsprozesse und neue Verhaltensweisen zu bewirken. Auf diese Beobachtung aufbauend wird es möglich, Überlegungen dazu anzustellen, wie die Energie entweder grundsätzlich oder eben umfangreicher mobilisiert werden kann, um dadurch Veränderung zielgerichtet zu unterstützen.434 Zur Strukturierung dieses Vorgehens, kann die Veränderungsenergie auf einzelne Quellen zurückgeführt werden, welche einander zwar beeinflussen, jedoch trotzdem getrennt betrachtet werden können. Diese werden in verschiedenen Literaturstellen jeweils anders bezeichnet, sind aber mit geringen Abweichungen deckungsgleich, sodass insgesamt drei Energiequellen identifiziert werden können. Während Janes, Prammer und Schulte-Derne dabei die Begriffe 'Ist', 'Soll' und 'Weg' unterscheiden,435 verwendet Wimmer als jeweiliges Synonym dafür die Bezeichnungen 'Problemlage', 'Zukunftsperspektive' und 'Spannungsbogen'.436 Nicht ganz identisch, aber dennoch sehr ähnlich lassen sich hierzu noch die Formulierungen von Raith ergänzen, dessen 'Gefühl der Dringlichkeit' noch relativ eindeutig als 'Ist' bzw. 'Problemlage' interpretiert werden kann, während seine 'attraktive Veränderungsgeschichte (Vision)' stärker dem 'Soll' bzw. der 'Zukunftsperspektive' entspricht und seine 'gemeinsame Sicht der

432 433 434 435 436

Vgl. Wimmer (2004), S. 176 Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 17 Vgl. Wimmer (2004), S. 177 Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 19 ff. Vgl. Wimmer (2004), S. 178 ff.

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Entwicklungsschritte' näher am 'Weg' bzw. 'Spannungsbogen' liegen.437 Unabhängig von diesen begrifflichen Differenzen sowie den damit verbundenen Abgrenzungen sind sich die unterschiedlichen Autoren jedoch darin einig, dass eine einzige Quelle in den meisten Fällen nicht ausreicht, um eine angestrebte Veränderung erfolgreich zu unterstützen. Es ist vielmehr notwendig, dass verändernde Energie mindestens aus zwei Quellen eingeht bzw. als entsprechender Mix aus allen drei Energiequellen zufließt, wobei diese nach Raith in unterschiedlicher Intensität zur angestrebten Veränderung beitragen können. Das dafür entscheidende Kriterium ist die effektive Leistung eines sich verändernden Unternehmens im entsprechenden Marktvergleich, wobei mit deren zunehmender Verbesserung die attraktive Veränderungsgeschichte immer bedeutender wird.438 Ehe die unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten jedoch genauer ausgeführt werden können, gilt es grundlegend von den drei Quellen einmal zu wissen und deren notwendige Energieanteile zu mobilisieren, weshalb nun auf die Ausgangssituation, den Zielzustand und den Veränderungsweg, also Ist, Soll und Weg, nacheinander eingegangen wird.439 Die zentrale Fragestellung in der vorhandenen Ausgangssituation ist, ob diese einen entsprechenden Mangel aufweist, der wiederum einen spezifischen Handlungsbedarf signalisiert.440 Dies ist von grundlegender Bedeutung, weil erst die systeminterne Einschätzung, dass eben ein spezifischer Mangel gegenwärtig bereits vorliegt bzw. zukünftig bald bestehen wird, entsprechende Aufmerksamkeit für einen notwendigen Veränderungsprozess schafft, womit wiederum unterstützende Energie aus dieser ersten Quelle freigelegt werden kann.441 Dazu ist es zunächst einmal notwendig, sich im Beratungssystem mit erstens den Beweggründen für die sowie zweitens der Dringlichkeit von der Veränderung intensiv auseinanderzusetzen, weil ausschließlich so ein Verständnis über die Problemlage gemeinsam entwickelt werden kann, die ein Abgehen vom Ist erforderlich macht. Erst daraus kann die Bereitschaft entstehen, das Risiko des Neuen auf sich zu nehmen, das als geringer wahrgenommen werden muss als jenes, mit dem es bei Nichtänderung umzugehen gilt. Dafür ist es jedoch erforderlich, dass das Bedrohungspotenzial, das in der Fortführung des Bestehenden steckt, plausibel gemacht werden kann,442 was wiederum nur dann zu bewirken ist, wenn Informationen zur Verfügung stehen, die eine Mangelinterpretation bei all jenen 437

438 439

440 441 442

Vgl. Raith (2005), S. 86 ff., wozu es zu ergänzen gilt, dass die Quellen zwei und drei von Raith eine Vermischung der Quellen zwei und drei von Janes, Prammer und Schulte-Derne sowie Wimmer darstellen, was in der vorliegenden Arbeit aber nicht weiter von Relevanz ist. Vgl. Raith (2005), S. 87 Die weiteren Ausführungen orientieren sich primär an Janes, Prammer und Schulte-Derne, wobei deren unterschiedliche Begriffe nach der skizzierten Gegenüberstellung der idealtypischen Beratungsleistungen (vgl. Abbildung 2.4) auch mit den Termini Ausgangssituation, Zielzustand und Veränderungsweg bezeichnet werden können. Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 19 Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 20 Vgl. Wimmer (2004), S. 178

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Personen, Gruppen und Organisationseinheiten, die für die Veränderung relevant sind, ermöglichen. Umso deutlicher das Klientensystem dadurch den Mangel sieht, desto mehr Bereitschaft zur Veränderung entsteht, sodass sich im Umkehrschluss festhalten lässt, dass ohne Mangelbewusstsein, das vorzugsweise explizit vorhanden sein sollte, jedoch zumindest implizit bestehen muss, im System keine Energie für Veränderung entstehen kann.443 Das gemeinsame Erkennen der mängelbehafteten Ausgangssituation ist für jede beliebige Veränderung von grundlegender Bedeutung, wobei sie von mindestens einer weiteren Energiequellen, nämlich einem attraktiven Zielzustand oder einem machbaren Veränderungsweg, unterstützt werden muss.444 Die grundsätzliche Intensität der zweiten Energiequelle wird von der entscheidenden Frage bestimmt, ob der angestrebte Zielzustand ausreichend attraktiv ist,445 um das damit verbundene Risiko einzugehen. Diese Attraktivität ist insofern notwendig, weil die Energie in Form von Druck, der aus dem Bewusstsein der Unausweichlichkeit einer Veränderung resultiert, nicht ausreicht, um den Zielzustand zu erreichen. Es ist zusätzlich auch ein entsprechender Gegenspieler erforderlich, der die bestehende Druckkomponente aus der mängelbehafteten Ausgangssituation mit einer markanten Zugkomponente durch einen attraktiven Zielzustand ergänzt. Es handelt sich bei diesen beiden Energiekomponenten also um zwei Gegenpole, von denen der erste anschiebt und der zweite anzieht, sodass die angestrebte Veränderung nicht auf dem halben Wege stecken bleibt. Diese unausweichliche Gefahr besteht nämlich, solange es nur darum geht, den vorhandenen Leidensdruck zu mildern, was dann, wenn dieser ein erträgliches Maß erreicht hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit zum weitestgehenden Rückfall in alte Verhaltensmuster führt. Ist hingegen eine attraktive Zukunftsperspektive vorhanden, die bei aller ehrgeizigen Anspannung real erreichbar scheint und für die es sich auch lohnt, besondere Anstrengungen auf sich zu nehmen und entsprechende Opfer zu erbringen, dann bleibt das notwendige Energiepotenzial aufrecht, weil eben der anhaltende Zug den abnehmende Druck abfängt. Es entsteht durch die beiden Gegenpole letztlich der notwendige Spannungsbogen, mit dem die eingespielten Muster irritiert werden können, sodass damit alternative Optionen eine entsprechende Chance bekommen.446 Die Entstehung dieses Spannungsbogens ist also unabdingbar an die Attraktivität des Zielzustandes gebunden, was dazu führt, dass ersteres nicht passieren kann, wenn letzteres nicht erfüllt ist. Anders gesagt muss davon ausgegangen werden, dass, wenn die Betroffenen dem Zielzustand

443 444

445 446

Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 20 Vgl. Raith (2005), S. 88, für die einzige Ausnahme, in der eine einzige Energiequelle, nämlich die attraktive Veränderungsgeschichte, als ausreichend betrachtet wird, um eine mögliche Veränderung zu bewirken, was nur bei führenden Unternehmen mit überdurchschnittlichen Leistungen auftritt Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 19 Vgl. Wimmer (2004), S. 178 f.

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nichts Attraktives abgewinnen können, aus dieser Quelle keine Veränderungsenergie hervorgehen und sich folglich der Spannungsbogen nicht bilden kann.447 Es gilt ihn dann als machbaren Veränderungsweg zu erarbeiten, wodurch schließlich die dritte Energiequelle erschlossen wird. Diese dritte Energiequelle wird nun durch die grundsätzliche Frage adressiert, ob der vorliegende Weg von der mängelbehafteten Ausgangssituation zum vermeintlichen Zielzustand realistisch machbar erscheint und auch hinreichend attraktiv ist.448 Hier geht es also um die subjektive Einschätzung der betroffenen Personen über die reale Machbarkeit einerseits sowie die grundsätzliche Attraktivität andererseits, die beide dem angedachten Veränderungsweg zugrunde liegen. Geprägt werden diese beiden Einschätzungen zum einen durch die persönlichen Erfahrungen mit vergangenen Veränderungen sowie zum anderen durch die tatsächlichen Aussichten auf die bevorstehende Zusammenarbeit, also wer, wie mit wem über den ganzen Prozess interagiert. Generell kann zur Beeinflussung dieser Einschätzungen ins Positive vom Beginn des Beratungsprojektes weg viel getan werden, indem sicherheitsstiftende Vereinbarungen oder schrittweise Vorgehensweisen angestrebt werden. Dabei gilt es lediglich zu berücksichtigen, dass zu viel Sicherheit letztlich blockieren kann, weil damit Neueinschätzungen in puncto Machbarkeit und Attraktivität auch unterbunden werden können.449 Schafft es der Berater hier die Balance zu halten, dann steht der Energiegewinnung aus dieser Quelle nichts entgegen. Basierend auf der erfolgten Aufarbeitung der drei Energiequellen kann damit noch einmal genauer auf deren mögliche Kombinationen zurückgekommen werden, die sich daraus ergeben, dass eine einzelne Energiequelle niemals ausreicht, um eine angestrebte Veränderung auch tatsächlich zu beenden. Zentrale Voraussetzung ist dabei stets die mängelbehaftete Ausgangssituation, die erstens mit einem attraktiven Zielzustand oder zweitens mit einem machbaren Veränderungsweg verknüpft ist, im idealen Fall jedoch drittens sowohl mit einem attraktiven Zielzustand als auch mit einem machbaren Veränderungsweg zusammenwirkt. Ist dem entgegen die erste Energiequelle nicht vorhanden, so kann das aus den anderen beiden Energiequellen resultierende Potenzial, ganz egal welche Intensität und welche Kombination auch besteht, als nicht ausreichend betrachtet werden, um die angestrebte Veränderung durchzuführen.450 Abschließend sei noch einmal ausdrücklich betont, dass es entscheidend ist, diese Quellen der Veränderungsenergie nicht in Bezug auf einzelne Personen, sondern

447 448 449 450

Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 21 Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 19 Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 21 Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 20

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stets in Relation zum gesamten System zu betrachten, weshalb es für jeden Berater wichtig ist, sich permanent die Frage zu stellen, wessen Einschätzungen für das Veränderungsvorhaben relevant sind. Diese Überlegungen lassen sich jedoch auch umkehren, indem danach gefragt wird, welche Organisationseinheiten, Gruppen oder Personen prinzipiell nicht zustimmen müssen und deshalb ungestraft weggelassen werden können. Summa summarum müssen also im betroffenen Klientensystem sowohl die relevanten Akteure als auch deren subjektive Einschätzungen identifiziert werden, um dadurch mindestens die erste Quelle sowie eine weitere Quelle für das notwendige Energiepotenzial zu erschließen, damit so die angestrebte Veränderung möglich wird. Folglich leisten die Quellen der Veränderungsenergie so wie auch die Diagnosedesigns, die zuvor schon beschrieben wurden, Grundlagenarbeit für das Veränderungsvorhaben und damit auch für die Interventionsarchitektur, die letztlich nur in Wechselwirkung mit den Diagnosedesigns konkretisiert werden kann. Erst dieser spezifische Prozess erlaubt es konkretere Interventionsdesigns, wie etwa die systemischen Konferenzdesigns, die nun betrachtet werden soll, zu konzipieren. 4.3.2 Konferenzdesigns Sobald in einem systemischen Beratungsprojekt mit mehr als 30 Personen gearbeitet wird, spricht man von einer so genannten Großgruppe, die dadurch charakterisiert ist, dass die direkte Kommunikation aller mit allen nicht mehr möglich ist. Für solche Situationen, die sowohl in sozialen Veränderungsprozessen als auch mit lernenden Organisationen entstehen können, bedarf es einer eigenen Gruppe an systemischen Interventionsdesigns, die als systemische Großveranstaltungen oder als systemische Konferenzdesigns bezeichnet werden können. Diese weisen eine große Vielfalt an möglichen Formen und unterschiedlichen Ausprägungen auf, sodass sich ein breites Spektrum ergibt, aus dem vier Beispiele vorgestellt werden, welche für die mögliche Integration in die klassische Beratung angedacht werden sollen. Bei diesem Quartett handelt es sich um die Zukunftskonferenz, den Real Time Strategic Change, die Open Space Technology sowie den Zukunftsgipfel, welche in dieser Reihenfolge nun näher vorgestellt werden.451 Zukunftskonferenz452 Inspiriert von den Community Future Conferences von Ronald Lippitt und Eva Schindler-Rainman sowie den Search Conferences von Eric Trist und Fred Emery, entwickeln Marvin Weisbord und Sandra Janoff Anfang der 1980er Jahre in den USA die so genannte Zukunftskonferenz. Dieses Interventionsdesign, das auch unter dem Namen Future-Search-Konferenz bekannt ist, ist ein Konferenzdesign, das für

451 452

Vgl. Königswieser/Keil (2002), S. 11 Vgl. Weisbord/Janoff (2002), S. 129 ff., für detaillierte Ausführungen zur Zukunftkonferenz

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Großgruppen erarbeitet und schon in vielen Organisationen erfolgreich angewendet wurde.453 Zukunftskonferenzen haben das übergeordnete Ziel, Menschen an die Verbesserung gesamter Systeme heranzuführen. Spezifischer ausgedrückt sucht diese Form der Intervention innerhalb kürzester Zeit eine gemeinsame Basis in einer ausgewählten Großgruppe zu erarbeiten und darauf aufbauend konkrete Handlungen in Form von Aktionsplänen zu entwickeln. Letztere beschäftigen sich jedoch nicht damit, wie die Vergangenheit und Gegenwart verbessert werden kann, sondern, in welcher Art die gemeinsame Zukunft gelebt werden soll. Die Zukunftskonferenz zielt also darauf ab, Aktionspotenzial zu schaffen, indem die aus der Zusammenarbeit von Menschen unterschiedlicher Herkunft und verschiedener Biographien entstehenden Fähigkeiten genutzt werden, und sucht daraus die Bedingungen der Zusammenarbeit zu ändern. Das Um und Auf zur Durchführung einer erfolgreichen Zukunftskonferenz sind die wichtigen und richtigen Menschen. Die wichtigen Menschen bezieht sich im Großen und Ganzen auf die Führungskräfte, die sich in Hinblick auf die Behandlung eines übergeordneten Themas, das nicht weiter vorbereitet oder strukturiert wird, für den Einsatz einer Zukunftskonferenz entscheiden. Sie müssen durch den Berater über Nutzen und Risiken informiert werden und bereit sein, ihre Kontrolle aus der Hand zu geben, um dadurch Raum für die Eigendynamik des Prozesses zu schaffen. Ohne diesen Schritt sowie ohne die volle Unterstützung der Unternehmensführung ist eine Zukunftskonferenz nicht möglich. Mit den richtigen Menschen ist dem entgegen eher gemeint, dass man sich im Vorfeld der Konferenz sorgfältig überlegen muss, wer teilnehmen soll. Diese Auswahl ist der Schlüssel schlechthin zum Erfolg dieses Konferenzdesigns und soll einen repräsentativen Querschnitt an Personen bilden, die bereit sind Verantwortung zu übernehmen und in Summe alle Hierarchieebenen, Abteilungen, Funktionen und Qualifikationen, die in der Organisation vorhanden sind, abbilden. Dementsprechend werden von einer Planungsgruppe zwischen 50 und 70 Personen, wobei im Idealfall 64 Personen angestrebt werden sollten, eingeladen, um an der Veranstaltung teilzunehmen. Nun kann die dreitägige Zukunftskonferenz, die generell zu Mittag beginnt, zu je zwei Einheiten pro Halbtag durchgeführt wird und auch wieder zu Mittag am dritten Tag endet, ohne weitere inhaltliche und/oder konzeptionelle Überlegungen beginnen. Am Anfang der Zukunftskonferenz versammelt sich das gesamte System in einem Raum, in dem die gesamte Veranstaltung stattfindet. Dadurch wird eine Umgebung geschaffen, die es allen Teilnehmern möglich macht, direkt aufeinander zu treffen und dabei das ganze System zu erfahren. In diesem Umfeld wird das übergeordnete

453

Für einige Anwendungsbeispiele vgl. Weisbord/Janoff (2002), S. 129 f. bzw. S. 132 ff.

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Thema vorgestellt, den Teilnehmern die inhaltliche Verantwortung übertragen und es werden die später noch näher beschriebenen Arbeitsgruppen eingeteilt. Ansonsten werden bewusst keine Konzepte und Informationen eingebracht, weil sich aus der Begegnung der einzelnen Teilnehmer ein fruchtbares Chaos ergibt, das verborgene Potenziale zum Vorschein bringt, welche letztlich den Nährboden für den weiteren Prozess bilden. In diesem übernimmt der Berater die Moderatorenrolle, in der er die Einhaltung des Zeitrahmens erstens sicherstellt, die Teilnehmer zur Übernahme der Verantwortung zweitens bestärkt und denselben bei der Überwindung alter Muster drittens hilft. Der erste Schritt in die Richtung einer grundlegenden gemeinsamen Basis ist nun der Rückblick in die Vergangenheit. Dazu werden aus allen Anwesenden gemischte Gruppen, im Idealfall von 64 Teilnehmern acht Gruppen zu je acht Personen, formiert, die repräsentativ für das gesamte System sind und demzufolge fortan als Querschnittsgruppen bezeichnet werden. Für diese Aufarbeitung, die in Form von 'Zeitlinien' dokumentiert wird, welche sich als Papierstreifen durch den ganzen Raum spannen, steht ein halber Nachmittag zur Verfügung, bevor der zweite Schritt, der eine intensive Auseinandersetzung mit der Gegenwart ist, beginnt. Dieser erstreckt sich insgesamt über drei Einheiten an zwei unterschiedlichen Tagen und wird in neu formierten Gruppen, den so genannten Interessentengruppen, durchgeführt. Deren Mitglieder besitzen alle die gleiche Perspektive und reflektieren vor ebendiesem Hintergrund sowohl die äußeren Trends als auch die eigenen Handlungen in Bezug auf die Gegenwart. Hierauf werden für den dritten Schritt, der die Dauer von einer Einheit in Anspruch nimmt, wieder die Querschnittsgruppen gebildet. Sie erarbeiten nun die idealen Zukunftsszenarien, mit denen der Dreischritt als Vorarbeit zur Erstellung einer gemeinsamen Basis abgeschlossen wird. Letztere wird dann in der Gesamtgruppe im anschließenden vierten Schritt, der wieder über zwei Einheiten verteilt ist, zunächst einmal formuliert. Zwischen den beiden Einheiten liegt nun eine Nacht, sodass jede Person, bevor sie die gemeinsame Basis am nächsten Morgen bestätigt, die Möglichkeit erhält, für sich in Ruhe darüber zu reflektieren, ob aus der persönlichen Perspektive alle wichtigen Aspekte enthalten sind. Mit der allgemeinen Zustimmung zur gemeinsamen Basis wird schließlich ein Fundament geschaffen, das im fünften und letzten Schritt der Konferenz die Planung von konkreten Aktionen für eine gemeinsam ausgerichtet Zukunft erlaubt. Diese Arbeit kann in beliebigen Gruppen, also sowohl in bereits bestehenden als auch in neu gebildeten, erfolgen, wobei die Ergebnisse in Form von Aktionsplänen zusammengefasst werden. Für die Umsetzung der Aktionspläne nach der Zukunftskonferenz übernehmen die Teilnehmer die Verantwortung. Um den tatsächlichen Erfolg sicherzustellen, ist es in dieser Phase wichtig, dass das gegenseitige Vertrauen zwischen den Teilnehmern und auch das entstandene Gemeinschaftsgefühl der Gesamtgruppe erhalten bleibt.

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Diese Aspekte, die für die erfolgreiche Umsetzung deutlich entscheidender sind als ein umfassender Prozess oder detaillierte Aktionspläne, können durch periodische Nachtreffen unterstützt werden. Es kann resümiert werden, dass die Zukunftskonferenz eine einfache Methode ist, um tiefgreifende Zusammenhänge kennen zu lernen und außerdem das systemische Denken zu fördern.454 Sie fasst dazu ein ganzes System für kurze Zeit auf einem Raum zusammen, lässt dieses in verschiedenen Gruppen die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft erforschen, eine gemeinsame Basis erarbeiten und auf dieser schließlich lösungsorientierte Aktionspläne erstellen.455 Letztere beschäftigen sich jedoch nicht damit, wie man Vergangenheit und Gegenwart verbessern kann, sondern, wie es der Name dieses Interventionsdesigns schon zum Ausdruck bringt, wie die gemeinsame Zukunft neu gestaltet werden soll. Real Time Strategic Change Zu Beginn der 1980er wurden Kathie Dannemiller und Chuck Tyson zusammen mit anderen arrivierten Beratern gebeten, die Ford Motor Company bei einem nachhaltigen Veränderungsprozess zu unterstützen. Dafür erarbeiteten Dannemiller und Tyson, die in diesem Zusammenhang 1981 auch das Beratungsunternehmen Dannemiller Tyson Associates (DTA) gründeten, ein interaktives Konferenzdesign, den so genannten Real Time Strategic Change (RTSC). Dieser wurde von DTA in den vergangen beiden Jahrzehnten erfolgreich in einer Vielzahl von weltweiten Unternehmen eingesetzt und dabei zum Whole-Scale Change™ weiterentwickelt.456 Wie aus der Übersetzung des Begriffes RTSC, Strategischer Wandel in Echtzeit, bereits erkennbar, hat dieses interaktive Konferenzdesign das Ziel, strategischen, kulturellen oder anderen Wandel simultan auf allen Hierarchieebenen und in allen Unternehmensbereichen in Gang zu bringen. Dies gelingt, indem durch emotionale Akzente Dringlichkeit aufgezeigt, Gemeinschaft erzeugt sowie Begeisterung geweckt und damit ein Energieschub ausgelöst wird. Der entscheidende Faktor dafür ist die Überzeugungskraft sowie die Glaubwürdigkeit der Unternehmensführung, die sich voll und ganz für diese Intervention entscheiden und konsequent dahinter stehen muss.457 Sie kann mittels einer RTSC-Konferenz alle Mitarbeiter oder zumindest einen Großteil derselben, die dann einen repräsentativen Querschnitt durch das gesamte Unternehmen darstellen sollen, für ein von ihr definiertes Thema aktivieren und an der Verbesserung desselben beteiligen. Dieses Involvieren aller Beteiligten, bewirkt, dass am Ende bei jedem das Gefühl besteht, mitgewirkt zu haben, und sich 454 455 456 457

Vgl. Weisbord/Janoff (2002), S. 131 Vgl. Weisbord/Janoff (2002), S. 130 Vgl. http://www.dannemillertyson.com (08.08.2004) Vgl. http://www.all-in-one-spirit.de (05.08.2004)

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daher auch mit dem Ergebnis des Prozesses identifizieren zu können. Gleich wie bei der Zukunftskonferenz, die zuvor beschrieben wurde, gewinnen die Führungskräfte gleichsam ihre Mitarbeiter, mit denen sie in einem großen Veranstaltungsraum als Gleiche unter Gleichen zusammenarbeiten, und leiten dadurch letztendlich auch die Veränderung direkt ein. Anders als die Zukunftskonferenz bietet RTSC weniger Freiräume bzw. erlaubt mehr Kontrollmöglichkeiten und besitzt ein wesentlich strukturierteres Vorgehen, was schon mit der intensiven und detaillierten Vorbereitung beginnt. Die Schritte, welche die Unternehmensführung in dieser Phase, die selber oft schon einen bedeutende Veränderung initiieren kann, unternimmt, sind von höchster Relevanz, weil sie die Basis für den Erfolg der Veranstaltung schaffen. Der Auftraggeber entscheidet hierin nicht nur, welches übergeordnete Thema behandelt werden soll, sondern legt alleine oder in Zusammenarbeit mit dem Planungsteam auch starke inhaltliche Vorgaben fest.458 Das kann etwa der Entwurf einer richtungsweisenden Vision oder konkreten Strategie sein, aber genauso die Konzeption für kulturelle Werte oder strategische Ziele umfassen. Es empfiehlt sich jedenfalls ausreichend Zeit in diese Formulierung zu investieren, weil sie das Fundament für den spezifischen Ablauf der Konferenz bildet. Um das tatsächliche Interventionsdesign letztlich im zweiten Teil der Vorbereitung zu erarbeiten, gilt es noch die Teilnehmerzahl sowie die Dauer der Veranstaltung festzulegen. Prinzipiell kann RTSC ab 50 Personen eingesetzt werden, ist aber auch für bis zu 1.000 Teilnehmer und mehr anwendbar. Diese arbeiten zwischen einem halben und drei Tagen, im Regelfall aber zweieinhalb Tage, in einem großen Raum zusammen, und durchlaufen dabei den Dreischritt des Erfassens der Realität, des Erstellens der Vision sowei des Erarbeitens der Umsetzung. In diesem Prozess werden im Allgemeinen umso mehr unerwartete und schwerwiegende Themen aufgedeckt, je besser die Vorbereitung gewesen ist.459 Die erste RTSC-Phase, die durch die intensive Auseinandersetzung mit der Realität das Aufrütteln der Organisation bewirken soll, beginnt am Morgen des ersten Tages mit einer einstimmenden Begrüßung durch die initiierende Führungskraft, wobei auch die Ziele der Veranstaltung aufgezeigt werden. Im direkten Anschluss daran werden der gesamte Prozessablauf sowie das Konferenzdesign und dessen Spielregeln kurz erläutert, ehe die im Vorfeld zusammengestellten Arbeitsgruppen, die acht bis zehn Personen umfassen, formiert werden. Diese Gruppen stellen einen repräsentativen Querschnitt der Organisation dar und müssen sich in der Form organisieren, dass unter den Beteiligten drei Rollen vergeben werden, welche im Laufe des Prozesses 458 459

Vgl. http://www.all-in-one-spirit.de (05.08.2004) Vgl. http://www.all-in-one-spirit.de (05.08.2004)

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immer wieder durchgewechselt werden. Bei diesen Funktionen handelt es sich um den Moderator, der die Gespräche leitet, den Schreiber, der das Protokoll führt und den Reporter, der die Ergebnisse im Plenum vorstellt. Nun kann die Erfassung der Gegenwart, deren gemeinsames Verständnis als Aufsatzpunkt unerlässlich ist, durch die Darstellung unterschiedlicher Sichtweisen beginnen. Um Informationen zu generieren, wird eine intensive Interaktion zwischen Internen, also Unternehmensführung und Teilnehmern, sowie Externen, wie etwa Lieferanten, Kunden oder auch Experten, angeregt. Meist wird mit der Präsentation der externen Perspektiven begonnen, aus denen die einzelnen Arbeitsgruppen durch Reflexion gewisse Anforderungen für die Organisation, aber auch weiterführende Fragen an die Vortragenden ableiten. Aus der resultierenden Diskussion zwischen Externen und Internen folgen weitere Erkenntnisse, die die Mitarbeiter in ihre Überlegungen aufnehmen können, ehe sie ihre eigene Sichtweise der Situation des Unternehmens in den Gruppen erarbeiten und die wichtigsten Aspekte im Plenum vorbringen. Danach bringt noch die Geschäftsführung ihr Bild der Organisation mit strategischen Herausforderungen vor, um damit die Sichtweisen der Gegenwart zu komplettieren. Spätestens hier ist die gegenwärtige Lage deutlich sichtbar, sodass die gesamte Organisation am Ende des ersten Tages mobilisiert ist und versteht, warum auf Basis des gemeinsamen Verständnisses der Gegenwart eine Veränderung notwendig ist, sodass dieselbe auch keinen Störfaktor mehr darstellt.460 Der zweite Tag beginnt nun mit dem von der ersten zur zweiten Phase überleitenden Teilschritt, die bekannten Spielregeln und unausgesprochene Verhaltensregeln innerhalb der Organisation zu erarbeiten. Diese können etwa in Form von Sketchen vorgetragen oder aber in einer anderen Art und Weise untereinander ausgetauscht werden, um dadurch einen weiteren wichtigen Bestandteil der Gegenwart sichtbar zu machen. Darauf aufbauend werden neue Regeln in den Arbeitsgruppen formuliert, untereinander auf einer Art offenem Marktplatz ausgetauscht und können etwa mit Klebepunkten bewertet werden. Somit entsteht die Grundlage zu neuen Regeln, die einerseits verhindern sollen, dass die Mitarbeiter im Anschluss an die Veranstaltung wieder in alte Muster zurückfallen,461 sowie andererseits ein Bindeglied zwischen Realität und Vision, die Gegenwart und Zukunft schaffen. Damit ist die zweite Phase, in der die Zukunft der Organisation gemeinsam formuliert wird, bereits voll im Gange. Die Unternehmensführung stellt zuerst ihren im Vorfeld der Konferenz erarbeiteten Entwurf der richtungsweisenden Vision, der kulturellen Werte oder der strategischen Ziele vor. Danach analysieren die Teilnehmer in neuen Gruppen, welche entweder eine abteilungsspezifische oder eine funktionsspezifische 460 461

Vgl. http://www.all-in-one-spirit.de (05.08.2004) Vgl. http://www.all-in-one-spirit.de (05.08.2004)

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Zusammensetzung haben, das Anliegen der Geschäftsführung und erarbeiten die eigene Perspektive dazu. Selbige können zwischen den einzelnen Gruppen wieder mittels eines offenen Marktplatzes, auf welchem ein aktiver Dialog im Sinne des so genannten 'Fast-Networking' stattfindet, ausgetauscht werden. Dabei bieten sich nun auch die Möglichkeiten, erstens den eigenen Bereich näher vorzustellen, zweitens andere Abteilungen besser kennen zu lernen und drittens insgesamt Vorstellungen für die gemeinsame Zusammenarbeit auszutauschen. Aus diesem Prozess gehen für das von der Unternehmensführung vorgestellte Anliegen schließlich Ergänzungen und Korrekturen sowie Wünsche und Vorschläge hervor. Diese werden zusammen mit den neu formulierten Regeln von einem kleinen Kreis an Führungskräften und Teilnehmern am Abend und oft auch bis tief in die Nacht ausführlich gesichtet, intensiv diskutiert und, wenn sinnvoll, schließlich in den ursprünglichen Entwurf eingearbeitet. Am nächsten Morgen beginnt mit der Vorstellung des von der Unternehmensführung überarbeiteten Entwurfes die dritte Phase der RTSC-Konferenz. Die Gesamtgruppe erhält so eine unmittelbare Rückmeldung darüber, wie Empfehlungen angenommen worden sind und vor allem welche Konsequenzen dieselben haben. Auf dieser Basis kann der Fokus nun auf die Umsetzung gerichtet werden und es lassen sich Kriterien für den erfolgreichen Wandel formulieren. Dazu werden die wichtigsten Themen herausgefiltert, von Mitarbeiter interessensgeleitet ausgewählt und in neu formierten Interessentengruppen behandelt. Die drei bis fünf resultierenden Kernaktivitäten werden im Plenum präsentiert, um andere Teilnehmer für das eigene Vorhaben zu gewinnen und dadurch bei der anschließenden Bewertung durch die Gesamtgruppe möglichst viel Unterstützung zu erhalten. So entsteht eine Rangliste der wichtigsten Aktivitäten anhand derer die Unternehmensführung entscheidet, welche Maßnahmen umgesetzt und wie die Ressourcen zugeordnet werden. Sobald diese Entscheidung gefallen ist, werden mitunter noch Umsetzungshindernisse mittels paradoxer Fragen, die im Kapitel der elementaren Fragetechniken (vgl. Kapitel 4.4.1) noch diskutiert werden, eruiert und die Umsetzungspläne detailliert. Vor dem Abschluss der RTSC-Konferenz erfolgen noch gemeinsame Überlegungen, wie die erarbeitete Information, die positive Energie und die konstruktive Stimmung an nicht anwesende Kollegen weitergegeben werden kann. Danach erfolgt noch ein abschließender Austausch der Erfahrungen und Erkenntnisse im Plenum mit dem die Veranstaltung dann beendet wird. Nach dem Abschluss des RTSC geht es für die Unternehmensführung darum, die durch die Konferenz geschürten Hoffnungen auch in die Realität umzusetzen, um die geweckte Energie und das entstandene Vertrauen aufrecht zu erhalten. Folglich sind sowohl eine konsequente Nachbereitung als auch ein kontinuierlicher Prozess nötig,

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deren Gestaltung der Organisation überlassen bleibt, die jedoch auf Wunsch durch den Berater unterstützt werden kann. Zu letzterem ist noch anzumerken, dass der Schwerpunkt seiner Arbeit in der Vorbereitung der Konferenz liegt. Während der Durchführung übernimmt er schwerpunktmäßig die Zeitsteuerung und natürlich auch die Moderation, wozu vor allem viel Erfahrung und Geschick erforderlich sind. Um dabei möglichst effizient vorzugehen, werden oft Handouts verwendet, wodurch auch mehr Zeit für den Dialog mit den Teilnehmern realisiert wird. Abschließend wird noch ausdrücklich erwähnt, dass der geschilderte Prozess eher einer Basisform bzw. einer möglichen Ausgestaltung der RTSC-Konferenz entspricht, die sowohl in der diskutierten Reihenfolge variiert als auch durch weitere Module ergänzt werden kann. Allgemein zusammengefasst, ist dieses Konferenzdesign ein stark strukturiertes sowie äußerst interaktives Interventionsdesign, das von einem detaillierten Entwurf für ein bestimmtes Anliegen der Unternehmensführung aus die Unterstützung und Verbesserungsvorschläge der Mitarbeiter sucht sowie darauf aufbauend konkrete Maßnahmen zur Veränderung erarbeitet. Open Space Technology462 Open Space Technology geht auf den Organisationsberater Harrison Owen zurück, der die Entwicklung dieses Konferenzdesigns eher einer zufälligen Beobachtung als einer bewussten Initiative verdankt. Bei einer internationalen Konferenz bemerkt der Amerikaner, dass die Kaffeepausen nicht nur der beliebteste Teil, sondern auch das effektivste Element der gesamten Veranstaltung sind. Inspiriert dadurch entwirft er ein Konzept nach Art offener Kaffeepausen, in dem die Teilnehmer Richtung und Verlauf der Konferenz vorgeben und selbstverantwortlich an den Themen arbeiten.463 Open Space Technology hat also das Ziel einen offenen Raum zu schaffen, der zur eigenverantwortlichen Selbstorganisation aufruft und damit Verantwortung auf alle Teilnehmer überträgt. Zum einen sollen alle Beteiligten dadurch die Möglichkeit erhalten, ihr kreatives Potenzial zu nutzen, um neue Ideen und innovative Projekte zu generieren, die mit konkreten Handlungen hinterlegt und in einem übergreifenden Aktionsplan zusammengefasst werden sollen. Zum anderen entsteht durch dieses Vorgehen ein Gemeinschaftsgefühl, in dem auch Führungsaufgaben verteilt und wahrgenommen werden, was letztlich zur Entlastung der Führungsebene führen soll. Kurzum, es wird ein umfassender Prozess initiiert, der tiefgreifende Veränderungen bewirken kann und dessen Ergebnisse vorab nicht bestimmt werden können.

462 463

Vgl. Petri (2002), S. 146 ff., für detaillierte Ausführungen zur Open Space Technology Vgl. Petri (2002), S. 146

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Aus dem Gesagten lässt sich für das allgemeine Vorgehen erkennen, dass es von größter Relevanz ist, im Vorfeld einer Anwendung der Open Space Technology gewissenhafte Aufklärungsarbeit mit den wichtigsten Führungskräften, allen voran der Geschäftsleitung, durchzuführen. Weil diese Intervention mit der Unterstützung der Unternehmensführung steht und fällt, ist letztere in den Vorbereitungsprozess einzubinden und detailliert darüber zu informieren, worauf sich das Unternehmen einlässt. Der Vorstand muss seine uneingeschränkte Unterstützung zusagen und sich auch dazu bereit erklären, die Kontrolle aus der Hand zu geben. Erst wenn diese Aspekte geklärt worden sind, kann man die Open Space Technology sinnvoll anwenden und sich der tatsächlichen Vorbereitung widmen. Der erste konkrete Schritt bei der Planung einer Open Space Technology Konferenz ist die Formulierung eines übergeordneten Leitthemas, das für die Organisation von grundlegender Bedeutung ist. Steht dieses zentrale Thema einmal fest, dann ist die Vorbereitung, abgesehen von logistischen Aspekten, auch schon abgeschlossen. Es wäre schließlich paradox, wenn dieses Konferenzdesign den offenen Raum, den es schaffen möchte, durch eigene Vorgaben von vornherein beschränken würde. Alles andere ergibt sich daher aus den Rahmenbedingungen, denen die Open Space Technology unterliegt. Der erste Aspekt, den es zu berücksichtigen gilt, ist die Dauer der Konferenz. In der Regel werden drei Tage benötigt, um den Beteiligten genügend Zeit für Bindung, Arbeit, Dokumentation und Reflexion einzuräumen. Sollte darüber hinaus noch mehr Zeit vorhanden sein, so kann das Format auf maximal dreieinhalb Tage ausgedehnt werden, weil danach meist das Energieniveau sinkt.464 Im Gegensatz dazu ist aber mindestens ein ganzer Tag erforderlich um eine Open Space Technology Konferenz sinnvoll durchzuführen. In diesem Zeitrahmen arbeiten die Teilnehmer in mehreren Sitzungen, die jeweils 90 Minuten dauern, in Form von Fokusgruppen zusammen. Weitere Rahmenbedingungen treffen für die angesprochenen Beteiligten zu. Deren Anzahl ist grundsätzlich nicht vorgegeben, aber eher nach unten als nach oben hin beschränkt. Bei geringer Gruppengröße gilt es zu bedenken, dass immer weniger Ressourcen synergetisch genutzt werden können und der grundlegende Gedanke von Open Space Technology damit de facto verschwindet. Dem entgegen sind bei großen Gruppen eher Grenzen durch die vorhandenen Räumlichkeiten als durch die Anzahl der Beteiligten an sich gesetzt.465 Zu letzteren soll allgemein noch angemerkt werden, dass für dieses Interventionsdesign die Teilnahme von Vertretern aus allen Hierarchieebenen und unterschiedlichen Abteilungen sowie mit diversen Funktionen und verschiedenartigen Qualifikationen ein wichtiger Erfolgsfaktor ist. 464 465

Vgl. Petri (2002), S. 149 Positive Erfahrungen gibt es mit bis zu 1.000 Beteiligten; vgl. Petri (2002), S. 149

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Um einerseits den Raum für den gesamten Prozess zu schaffen und andererseits den letzteren in einen Fließzustand zu bringen und auch dort zu erhalten, gibt es noch zwei Grundregeln, die die Rahmenbedingungen der Open Space Technology abrunden. Der erste Aspekt wird durch die zentrale Regel dieses Konferenzdesigns schlechthin, das Gesetz der Freiheit und Selbstverantwortung, abgedeckt. Dieses besagt, dass jeder Teilnehmer immer das Recht hat, eine Fokusgruppe oder eine Interaktion zu verlassen, wenn er das Gefühl hat, in dieser Situation nicht zu lernen oder nichts dazu beitragen zu können.466 Damit wird die Grundlage für die freie Bewegung eines jeden Teilnehmers geschaffen, sodass alle Personen über Inhalt und Form mitbestimmen können. Direkt damit verbunden ist der zweite Aspekt, der durch das so genannte 'Go with the flow'-Prinzip berücksichtigt wird. Dieses wird durch vier Punkte ausgedrückt: x

Wer immer kommt, ist gerade die richtige Person.

x

Was auch geschehen mag, ist das einzige, was geschehen kann.

x

Wann immer es beginnt, ist es die richtige Zeit.

x

Vorbei ist vorbei.

Der erste Punkt darin stellt die direkte Anknüpfung an das Gesetz der Freiheit und Selbstverantwortung dar und bringt darüber hinaus zum Ausdruck, dass jede Person in ihrem Wandern von Fokusgruppe zu Fokusgruppe Teil vom Ganzen ist und einen Beitrag zur Lösung liefert. Dieser Beitrag kann je nach Teilnehmer sowohl in der inhaltlichen Vertiefung eines Themas als auch in der kreativen Interaktion mit der Gruppe liegen und stellt in jedem Fall einen Wert für den Gesamtprozess dar. Die Open Space Technology Konferenz kann nun beginnen, indem der Berater, der eine Moderatorenrolle einnimmt und auch als 'Facilitator' bezeichnet werden kann, alle Teilnehmer bittet, sich in einem Kreis aufzustellen. Diese geometrische Form bringt die Gleichberechtigung aller Teilnehmer zum Ausdruck, unterstützt die Bildung von offener und direkter sowohl Kommunikation als auch Beziehung und hilft bei der Entstehung von einem verbindenden Gemeinschaftsgefühl. Die angesprochene Gleichberechtigung gilt aber auch in der Beziehung zwischen Berater und Gruppe, indem dieser nichts anweist, sondern nur um etwas bittet und so jeder Person die Freiheit belässt dieser Bitte zu folgen. So die Grundformation nun eingenommen ist, schreitet der Berater den Kreis ab, verbindet dadurch all Teilnehmer und erklärt kurz die Grundregeln der Open Space Technology. Dieses Prozedere, das Sicherheit und Vertrauen in Raum und Zeit bei allen schafft, wird durch die Einladung des Beraters an jeden Teilnehmer, eine Thematik im Kreisinneren vorzustellen, beendet.

466

Petri (2002), S. 151

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Der Berater, der in weiterer Folge nur mehr den räumlichen und zeitlichen Rahmen sowie den menschenwürdigen Umgang schützt, tritt ab jetzt in den Hintergrund. Zum einen unterbindet er damit, dass er die Eigendynamik des Systems stört oder nach seinen Erwartungen beeinflusst,467 und zum anderen drückt er dadurch auch sein Vertrauen in die Teilnehmer und seinen Respekt vor deren Fähigkeiten aus. Durch diesen Schritt öffnet er der Gruppe schließlich einen Raum voller Möglichkeiten, in welchem jeder Zeit und Freiheit vorfindet, aber auch die Verantwortung hat, seinen persönlichen Beitrag zum Ganzen zu leisten.468 Mit dem Zurücktreten des Beraters entsteht ein Vakuum, das jene anzieht, die ein Thema bearbeiten wollen, für das sie besonderes Engagement empfinden. Die einzelnen Personen treten dazu in die Mitte des Kreises, um dort ihre Initiative vor allen zu präsentieren. Anschließend formulieren sie selbige auf einem Blatt Papier und hängen ebendieses schließlich auf die Informationswand. Sind nun alle Themen gesammelt, dann entwickelt sich ein 'Marktplatz', auf dem sich in Selbstorganisation Gruppen zu den einzelnen Themen formieren, denen man sich danach widmen will. Das Endprodukt dieses Prozesses ist eine erste Agenda, welche dann im Laufe der Konferenz, meist am Morgen eines jeden Tages, in der Gesamtgruppe immer wieder ergänzt, adaptiert und aktualisiert werden kann. Die jeweiligen Fokusgruppen beginnen nun ihren internen Prozess und erarbeiten mit den eigenen Vorgehensweisen und ausgewählten Techniken in 90-minütigen Sitzungen, bei denen oft der Initiator des Themas die Führung und die Rolle des Referenten übernimmt, ein Ergebnis in Form eines Aktionsplanes. Sollte dieser nicht fertiggestellt werden können oder die Fokusgruppe aus einem anderen Grund die Arbeit noch vertiefen wollen, so bekommt sie den Raum und die Zeit, um sich dem Thema auch noch für die Dauer einer zweiten oder dritten Sitzung zu widmen. In der Regel reichen jedoch 90 Minuten aus, sodass sich danach neue Fokusgruppen zu anderen Themen zusammenfinden und für diese im nächsten Sitzungszyklus wieder individuelle Aktionspläne erarbeiten können. Diese Zyklen werden pro Tag vier Mal durchlaufen, womit über die durchschnittlich dreitägige Konferenz, jede Person die Möglichkeit hat, in bis zu zwölf verschiedenen Fokusgruppen als Initiator, Referent oder Mitglied mitzuwirken. Der offizielle Abschluss einer Open Space Technology Konferenz erfolgt in Form eines Reflexionsprozesses, der in der Gesamtgruppe durchgeführt wird. Hier erhält jeder Teilnehmer die Möglichkeit zum gesamten Inhalt, dem übergreifenden Prozess und der persönlichen Wirkung seine individuelle Meinung zu äußern. Dabei soll im

467 468

Vgl. Petri (2002), S. 155 Vgl. Petri (2002), S. 150

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Allgemeinen aber vermieden werden, die Ergebnisse aus den einzelnen Sitzungen vorzustellen, weil selbiges einerseits zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde und andererseits die Gefahr von endlosen Monologen in sich birgt. Vielmehr werden die Referenten der einzelnen Fokusgruppen gebeten, die jeweiligen Aktionspläne in einem Computer zu erfassen, sodass ein Gesamtdokument erstellt werden kann, das jeder Teilnehmer bekommt, aber auch Nichtanwesende erhalten können. Damit ist die Konferenz und somit auch der Prozess der Selbstorganisation beendet, sodass es an die Vorbereitung der konkreten Umsetzung der wichtigsten Themen geht oder, in anderen Worten ausgedrückt, darum, die nachhaltige Wirkung der Intervention sicherzustellen. Aus dem gesamten Prozess geht eine Menge an Initiativen hervor, von denen nicht alle gleichzeitig implementiert werden können. Daher ist als erster Schritt Richtung Umsetzung eine Auswahl und Priorisierung der wichtigsten Themen durchzuführen. Hierfür kann man auf unterschiedliche Arten vorgehen. Eine Möglichkeit besteht darin, die Open Space Technology erneut anzuwenden und in neuen Fokusgruppen eine konkrete Reihenfolge auszuarbeiten. Eine andere Alternative ist hingegen, jeden Teilnehmer eine gewisse Anzahl von Punkten vergeben zu lassen und dadurch eine kollektive Rangfolge zu erhalten. Die Initiatoren der einzelnen Themen können nun leichter die Verantwortung für die Umsetzung übernehmen und damit tatsächlich die Veränderung realisieren. Es ist in dieser Phase lediglich wichtig, dass die damit verbunden Turbulenzen und Ängste der Veränderung die Begeisterung und Freude der Zusammenarbeit, die die Weiterentwicklung treibt, nicht übersteigen und dadurch den Prozess zum Erliegen bringen und letztlich den Rückfall in das alte Paradigma bewirken. Deshalb ist die weitere Unterstützung des Beraters in dieser Phase nach der Open Space Technology Konferenz wünschenswert und wichtig, um dadurch die Nachhaltigkeit der Intervention sicherzustellen. Zusammenfassend kann die Open Space Technology als ein Konferenzdesign für Großgruppen beschrieben werden, das Spaß machen soll, worin auch die Energie liegt. Ihr Hauptaspekt ist, dass Mitarbeiter die Begeisterung für ein Thema haben und die Verantwortung für dessen Weiterentwicklung übernehmen. Das wird erreicht indem dieses Interventionsdesign Raum und Zeit freimacht und dadurch ein Umfeld schafft, in dem die Teilnehmer ihre persönlichen Anliegen in kleinen Fokusgruppen auf deren eigenen Art und Weise erarbeiten können. Die Open Space Technology Konferenz setzt damit einen Veränderungsprozess in Gang, dessen Ergebnis nicht vorhersagbar ist und stellt folglich eine mächtige Intervention dar, welche äußerst umsichtig und mit großer Sorgfalt eingesetzt werden muss.

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Zukunftsgipfel469 Den Grundstein zu diesem Konferenzdesign legen David Cooperrider und Suresh Srivastva Ende der 1980er Jahre mit der Entwicklung der Appreciative Inquiry470 an der Case Western University in Ohio. Diese grundlegende Fragtechnik (vgl. Kapitel 4.4.1) mit wertschätzenden Fragen bildet einen offenen Prozess konsequenter Lösungsorientierung und stellt nach Ansicht von Bruck und Weber weit mehr als eine Methode dar. Sie sehen die wertschätzende Befragung als eine Lebenseinstellung, mit der Menschen die Realität wahrnehmen, ihre Situationen meistern und auch die Zukunft gestalten.471 Die wertschätzende Befragung ist demnach eine starke Kraft für Veränderungen und wird vor diesem Hintergrund seit Anfang der 1990er Jahre weltweit in Organisationen und Unternehmen eingesetzt. Daraus entsteht der Appreciative Inquiry Summit, zu Deutsch Zukunftsgipfel, der für sich in Anspruch nimmt, Elemente der Zukunftskonferenz, dem Real Time Strategic Change sowie der Open Space Technology zu vereinen und daher als nächste Stufe der Evolution von Großgruppenverfahren interpretiert werden kann.472 Entgegen dem problemfokussierten Denken und Handeln westlicher Kulturen, das negative Energie bewirkt, hat der Zukunftsgipfel mittels Identifikation von Erfolgen das Ziel, positive Energie freizulegen und dadurch die Verbindungen zwischen Menschen in einem System zu stärken. Darauf aufbauend können Visionen, die eine Verbindung persönlicher Lebensqualität und unternehmerischen Ertrags erlauben, entwickelt, gestaltet und verwirklicht werden. Demnach kann man den Zukunftsgipfel als Lernen aus Erfolgen interpretieren, bei dem weiche Aspekte und harte Faktoren eng miteinander verknüpft sind und gleichzeitig behandelt werden. So zielt dieses Interventionsdesign darauf ab, das Beste in den Menschen, ihren Organisationen und der Welt zu finden.473 Das spezifische Vorgehen der wertschätzenden Befragung zwischen jeweils zwei Konferenzteilnehmern bewirkt nun einen kraftvollen Start in einen grundlegenden Wandlungsprozess und ist als solches, wie bereits angedeutet, das Herzstück des Zukunftsgipfels. Dieser kann mit 2.000 Menschen und mehr abgehalten werden, die einen repräsentativen Querschnitt durch die gesamte Organisation darstellen und nach Möglichkeit alle in einem großen Raum mit runden Tischen zusammenkommen sollten. Die Betroffenen behandeln dabei in einer Zeit von zwei bis vier Tagen ein mit großer Sorgfalt ausgewähltes Thema der jeweiligen Organisation und werden vor

469 470

471 472 473

Vgl. Bruck/Weber (2002), S. 164 ff., für detaillierte Ausführungen zum Zukunftsgipfel Wertschätzende Befragung oder wertschätzendes Interview sind gleichbedeutende Übersetzungen Vgl. Bruck/Weber (2002), S. 168 Vgl. Bruck/Weber (2002), S. 177 Vgl. Bruck/Weber (2002), S. 169

182

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allem durch das Stellen gezielter Fragen, deren Finden viel Zeit und Geschick verlangt, zu Beteiligten des in vier Phasen verlaufenden Zukunftsgipfels. In der ersten Phase, in der es um das Verstehen des gegenwärtigen Erfolges geht, wird zuerst kurz das Thema vorgestellt sowie das Ziel formuliert, ehe die Teilnehmer wiederum mittels wertschätzender Befragungen positive Energie ins Fließen bringen. Hierauf erfolgt in Arbeitsgruppen von etwa acht bis zehn Personen, die sich wie beim Real Time Strategic Change selbst organisieren, ein Erfahrungsaustausch, wodurch das allgemeine Verständnis verbessert, eine tiefere Verbindung aufgebaut sowie die gegenseitige Empathie intensiviert wird. Die Ergebnisse werden in Anlehnung an die Zukunftskonferenz in Zeitlinien zusammengefasst, die alle Teilnehmer im Plenum ansehen können, bevor anschließend die Ausarbeitung der Schwerpunktthemen in neuen Gruppen erfolgt. Die erste Phase wird schließlich mit Kurzpräsentationen jeder Arbeitsgruppe im Plenum abgeschlossen, wodurch eine Fülle an positiver Energie als Nährboden für den weiteren Prozess freigesetzt wird. Die zweite Phase des Zukunftsgipfels beschäftigt sich dann damit, eine Vision für das Unternehmen zu erarbeiten. Die Teilnehmer bilden dazu neue Arbeitsgruppen, in denen sie in gegenseitigen Gesprächen wiederum mittels inspirierender Fragen potenzielle Chancen für die Organisation ermitteln und die besten fünf daraus erneut in der Großgruppe vorstellen. Die präsentierten Ergebnisse werden dann im Plenum mit bestimmten Symbolen individuell bewertet und anschließend wieder in einzelner Gruppenarbeit systematisch zusammengefasst. So werden die wertvollsten Aspekte zuerst in Vierergruppen diskutiert, ehe sich drei von diesen zu einer Zwölfergruppe zusammenschließen, die das jeweils gemeinsame Ergebnis schließlich in Form eines Bildes darstellt. Alle Darstellungen werden dann im Plenum aufgehängt und ergeben als Summe der persönlichen Erfahrungen eine Bildergalerie mit Visionen für das Unternehmen, die Herausforderungen bewirken und Routinen unterbrechen, sodass ein Sog in die Zukunft entsteht. Hier setzt die dritte Phase ein, die sich mit dem Ansatz der Open Space Technology auf das konkrete Gestalten einer gemeinsamen Vision fokussiert. Um die jeweiligen Visionen bilden sich einzelne Arbeitsgruppen, die interessiert sind, an den jeweiligen Themen zu arbeiten und herausfordernde Zukunftsaussagen zu entwickeln. Letztere werden in einer Zwischenpräsentation im Plenum vorgestellt, ehe sie noch einmal überarbeitet werden, um schließlich in ihrer finalen Version, wobei die Form474 hier frei wählbar ist, präsentiert zu werden.

474

Hier finden von herkömmlichen Präsentationen bis hin zu skurrilen Darstellungen alle nur erdenklichen Variation Verwendung

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183

Der Vierschritt des Zukunftsgipfels findet seinen Abschluss mit der vierten Phase, in der die wichtigsten Schritte und Ziele formuliert werden, um die Zukunftsaussagen zu verwirklichen. Unter erneutem Einsatz der Open Space Technology werden einzelne Maßnahmen erarbeitet sowie konkrete Ressourcenpläne erstellt, um so die entfachte Energie weiterzutragen und die vorhandene Ergebnisse umzusetzen. Das Konferenzdesign des Zukunftsgipfels, so lässt sich nun zusammenfassen, setzt mit seinen vier Phasen, welche vereinfacht mit den Begriffen Verstehen, Visionieren, Gestalten sowie Verwirklichen umschrieben werden können, kontinuierlich positive Energie frei, welche nicht nur zum Erarbeiten, sondern auch zum Leben der Zukunft führt. Dabei werden verschiedene Elemente angewendet, die einerseits aus anderen Konferenzdesigns stammen oder andererseits spezifische Interventionstechniken sind, wobei eine von diesen, nämlich die wertschätzenden Fragen, das Herzstück der Zukunftsgipfels bildet. Dieses wird bei der umfassenden Darstellung der breiten Palette an systemischen Interventionstechniken erläutert, die im folgenden Kapitel betrachtet werden.

4.4 Interventionstechniken Die systemischen Interventionstechniken stellen, wie bereits öfters ausgeführt, die kleinste Einheit systemischer Elemente dar, die in systemischen Beratungsprojekten die dritte Gestaltungsebene bilden. Sie erlauben die endgültige Ausdetaillierung der im allgemeinen Bezugsrahmen (vgl. Kapitel 4.1) skizzierten Interventionsarchitektur und können in ebendieser sowohl als eigenständige Bestandteile fungieren als auch in den unterschiedlichsten Interventionsdesigns (vgl. Kapitel 4.3) eingesetzt werden, wie dies in der Darstellung über den Zusammenhang zwischen den Begrifflichkeiten der Intervention (vgl. Abbildung 4.1) angedeutet wurde. Es ist dabei selbstredend, dass auch für die Anwendung der Interventionstechniken die Basiskomponenten (vgl. Kapitel 4.2) vorausgesetzt sind, um ein Klientensystem tatsächlich irritieren zu können. Grundsätzlich gilt es jedoch, bevor auf die einzelnen Interventionstechniken eingegangen werden kann, sich noch einmal kurz deren historischer Wurzel aus der systemischen Familientherapie (vgl. Kapitel 3.2.5) zu widmen sowie den zentralen Begriff der systemischen Intervention zu betrachten. Zuerst soll die systemische Intervention aufgegriffen werden und an die bereits im einleitenden Bezugsrahmen erfolgten Ausführungen angeknüpft werden. Die darin formulierte Definition systemischer Intervention als zielgerichtete Kommunikation, in welcher man sich der prekären Ausgangslage des grundsätzlichen Versuchs der wirkungsvollen Beeinflussung eines autonomen Sozialsystems bewusst ist,475 behält natürlich weiterhin ihre grundsätzliche Gültigkeit, ist für die folgende Diskussion aber

475

Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 17

184

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noch zu explizieren. Es gilt nämlich sich vor allem für die effektive Anwendung der systemischen Interventionstechniken dessen bewusst zu sein, dass nicht nur eine zielgerichtete Kommunikation eine systemische Intervention ist, sondern letztendlich als eine solche alles das betrachtet werden muss, was ein Berater in Anwesenheit des Auftraggebers und/oder der Repräsentanten des Klientensystem tut oder auch unterlässt.476 Genau dieses letztgenannte Unterlassen ist dieses wichtige Detail, auf das es bei vielen systemischen Interventionstechniken letztlich ankommt und diese, von allen anderen Differenzierungsaspekten einmal abgesehen, von klassischen Beiträgen gravierend unterscheidet. Während klassische Berater nämlich bestrebt sind, möglichst umfassende Informationen zu erheben und diese dem beratenen Klientensystem zurückzuspielen, agieren systemische Berater sehr bewusst teilweise gegensätzlich dazu, indem sie sehr spezifische Informationen verdeckt halten und dem betroffenen Klientensystem nicht alles erklären. Erst durch dieses bewusste Unterlassen erhalten systemische Interventionstechniken überhaupt eine potenzielle Chance, das soziale System so zu irritieren, dass symptomatische Verhaltensmuster und korrespondierende Wirklichkeitskonstruktionen verändert werden können. Denn schließlich ist jedes autonome System bestrebt, diese zu erhalten, weil sie aus der systemspezifischen Perspektive sinnvoll sind, sodass es mit generellem Widerstand auf externe Einmischungen reagiert. Dieser ist natürlich wesentlich leichter aufrecht zu erhalten, wenn der intervenierende Berater etwa die grundlegende Funktion der systemischen Vorgehensweise erklärt, als wenn er diese spezifische Information dem beobachteten Klientensystem vorenthält. Deshalb ist es unumgänglich sich als systemischer Berater dessen bewusst zu sein, dass auch das gezielte Unterlassen wie beispielsweise das beabsichtigte Nichtweitergeben einer wichtigen Information eine zentrale Funktion einnimmt und damit zu einer gezielten Intervention beiträgt oder auch zu dieser wird. Umgekehrt ist dieses Bewusstsein um die Funktion des Unterlassens natürlich auch dahingehend von Bedeutung, dass Berater unbewusst etwas vergessen können und dadurch ebenfalls eine Intervention passiert. So diese ungewollt aber doch eine Reaktion im Klientensystem hervorruft, kann ein Berater, der dieses Bewusstsein besitzt, über diese Irritation ganz anders reflektieren, als ein Kollege, der dieses Wissen nicht aufweist und daher diese Auswirkungen vielleicht nicht einmal wahrnimmt. Die praxisrelevante Komponente des skizzierten Bewusstseinsaspektes stammt, wie im abschließenden Fazit über die historischen Wurzeln der systemischen Beratung (vgl. Kapitel 3.2.9) bereits ausgeführt wurde, aus der systemischen Familientherapie, die sich als einzige historische Wurzel nicht nur auf systemische Theorie beschränkt und dadurch auch wichtige Vorarbeiten für die systemischen Interventionstechniken

476

Vgl. Titscher (2001), S. 152 f.

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leistet. Daher sind diese kleinsten Gestaltungseinheiten der systemischen Beratung stark an jene der systemischen Therapie angelehnt bzw. auf deren erfahrungsreicher Grundlage weiterentwickelt, sodass in vielen Fällen die zwei Begriffspaare 'Klient – Berater' und 'Familie – Therapeut' mehr oder weniger austauschbar sind. Ingesamt ergibt sich aus dieser wichtigen Verbindung letztlich eine lange Liste systemischer Interventionstechniken, von denen vier Gruppen näher betrachtet werden, die in der folgenden Übersicht hervorgehoben sind.

Fragetechniken Mündliche Interventionen Digitale Interventionen

Paradoxe Interventionen Inhaltliche Inputs

Schriftliche Interventionen Interventionstechniken

Schriftverkehr Bericht Kontrakt Darstellerisch

Künstlerische Interventionen Analoge Interventionen

Schauspielerisch Literarisch Musikalisch

Systemische Aufstellungen

Organisationsaufstellung Strukturaufstellung

Abbildung 4.5: Systemische Interventionstechniken477

Der eingeführten Darstellung folgend können systemische Interventionstechniken zunächst einmal nach zwei Grundkriterien, nämlich ob es sich einerseits um digitale Interventionen oder andererseits um analoge Interventionen handelt, unterschieden werden. Verfolgt man zuerst den oberen Ast weiter, so können auf diesem wiederum mündliche Interventionen von schriftlichen Interventionen getrennt werden, wovon in weiterer Folge nur die erstgenannte Gruppe betrachtet werden soll. In dieser wird letztlich ein zweiteiliger Fokus auf erstens elementare Fragetechniken (vgl. Kapitel 4.4.1) und zweitens auf paradoxe Interventionen (vgl. Kapitel 4.4.2) gelegt, wobei in beiden Gruppen jeweils vier systemische Interventionstechniken vorgestellt werden. Schwenkt man nun zum unteren Arm des skizzierten Baumes, dann können für die analogen Interventionen wiederum zwei Gruppen, nämlich erstens die künstlerischen

477

In Anlehnung an Königswieser/Exner/Pelikan (1995), S. 61

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Interventionen (vgl. Kapitel 4.4.3) sowie zweitens die systemischen Aufstellungen (vgl. Kapitel 4.4.4), unterschieden werden. Hier soll auf beide Gruppen eingegangen werden, wobei die einzelnen Interventionstechniken in der Graphik bereits skizziert sind. Alles in allem wird durch diese vier Gruppen also der überwiegende Teil der systemischen Interventionstechniken abgedeckt, die zusammen letztlich die beiden Kritikpunkte vier und fünf an der klassischen Beratung adressieren. Vor dem spezifischen Hintergrund der systemischen Familientherapie sei, bevor nun die systemischen Elemente der genannten Gruppen nacheinander diskutiert werden, noch einmal betont, dass in der systemischen Beratung stets die zirkuläre Beziehung zwischen einerseits dem systemeigenen Verhaltensmuster sowie andererseits der korrespondierende Wirklichkeitskonstruktion beobachtet wird, mittels derer sich das bestehende Symptom stabilisiert. Diese drei Aspekte sind mit systemspezifischen Regeln hinterlegt, die der systemische Berater erstens identifizieren sowie zweitens irritieren muss, um einen möglichen Wandel herbeizuführen, was jedoch dadurch erschwert wird, dass diese kaum offensichtlich, sondern eher versteckt sind. Genau auf die gezielte Unterstützung dieses schwierigen Prozess zielen alle systemischen Interventionstechniken ab, indem sie helfen herauszufinden, in welcher spezifischen Art das soziale System seine relevanten Erkenntnisse gewinnt und auch verarbeitet. Dadurch kann erstens eine grundlegende Veränderung der inneren Landkarten des beratenen Klientensystems sowie der einzelnen Mitglieder erzielt und somit zweitens auch eine entsprechende Wandlung der systemeigenen Interaktionsregeln bewirkt werden. 4.4.1 Elementare Fragetechniken Die bisher geführte Diskussion über die unterschiedlichen Elemente systemischer Beratung hat sowohl angedeutet als auch impliziert, dass diese in der Interaktion zwischen Klienten und Berater vor allem durch Fragen vorangetrieben werden. Dies ist vor dem systemtheoretischen Hintergrund, dass soziale Systeme kommunizieren, um zu operieren, leicht zu erklären, woraus sich für systemische Beratung wiederum ableiten lässt, dass unterschiedliche Fragetechniken einen besonderen Stellenwert einnehmen. Letztlich sind sie wohl nicht nur die häufigste Interventionsform, sondern auch die wichtigste Interventionstechnik für jeden Berater, die von diesem in erster Linie einmal dazu benötigt werden, um zu jedem Zeitpunkt, aber vor allem zu Beginn eines Beratungsprojektes Informationen zu erhalten. Dafür ist es aber unerlässlich, vorab bestimmte Hypothesen zu generieren, weil erst durch diese einerseits gezielte Fragen gestellt sowie andererseits erhaltene Antworten interpretiert werden können.

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Alle Fragen sind demnach von Hypothesen geleitet, die ein Berater entweder explizit gemacht oder implizit getroffen hat.478 Die aufgestellte Behauptung, dass Berater deshalb Fragen stellen, um Informationen zu bekommen, ist generell für alle Berater, aber vor allem für systemische Berater, nur die halbe Wahrheit. Schließlich sollen durch die gestellten Fragen sich nicht nur die Berater selber informieren, sondern auch die Klienten angeregt werden, sich untereinander auszutauschen und sich dadurch wechselseitig zu informieren, um so womöglich selbst eine Antwort zur Lösung des Problems erarbeiten. Letzteres ist in jedem Fall die primäre Intention systemischer Berater, was sie dadurch erreichen, dass sie über spezifische Fragetechniken systemische Interventionen setzten, wobei diese systemischen Interventionstechniken letzten Endes jene drei Ziele erfüllen, die alle Fragen in einem Beratungsprozess sicherstellen sollten. Diese sollten erstens für den Berater Informationen ergeben, zweitens im Klientensystem Informationen generieren sowie drittens den Beratungsprozess steuern.479 Die genannten Funktionen erfüllen, ganz allgemein gesagt, konstruktive Fragen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie die Möglichkeiten des Klientensystems erweitern und diesem dadurch die Chance einräumen, die bisherigen Interaktionen bewusst zu reflektieren und/oder die bisherigen Wahrnehmungen neu zu konstruieren. Das kann erreicht werden, indem nach unterschiedlichen Differenzen gefragt wird, wobei sich diese auf drei Ebenen ergeben können. Es kann demzufolge nach Unterschieden zwischen erstens Personen, zweitens Beziehungen sowie drittens Zuschreibungen gefragt werden, um dadurch Informationen sowohl für den Klienten als auch für den Berater zu generieren.480 Vier Fragetechniken, welche die skizzierten Anforderungen erfüllen und in der systemischen Beratung eingesetzt werden, sollen nun betrachtet werden, wobei diese systemischen Interventionstechniken als zirkuläres Fragen, lösungsorientiertes Fragen, wertschätzendes Fragen sowie aktives Fragen bekannt sind. Zirkuläres Fragen Das zirkuläre Fragen, das als einzige Interventionstechnik einen rein systemischen Ursprung hat,481 ist eine spezifische Variation der zentralen Interventionsform des Fragens.482 Diese systemische Interventionstechnik, die aus dem Mailänder Schule der systemischen Familientherapie (vgl. Kapitel 3.2.5) entstanden ist, basiert auf dem rekursiven Zusammenhang von Verhalten und Kommunikation, welcher in sozialen

478 479 480 481 482

Vgl. Titscher (2001), S. 175 Vgl. Titscher (2001), S. 175 Vgl. Titscher (2001), S. 176 f. Vgl. Titscher (1991), S. 335 Vgl. Titscher (2001), S. 175

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Systemen zur Selbstorganisation führt und dadurch Probleme sowie die damit verbunden Symptome stabilisiert. Die Zielsetzung des zirkulären Fragens weist zwei wesentliche Aspekte auf. Zum einen muss der Berater die innere Landkarte des Systems erfassen und verstehen sowie diese zum anderen an das System zurückspiegeln und dadurch verändern, um das Problem so überflüssig zu machen. Die grundlegende Aufgabe des Beraters ist demnach die Art und Weise, wie sich ein System seine Sichtweise konstruiert, zu ermitteln. Vor diesem Hintergrund sowie unter Berücksichtigung des bifokalen Ziels unterscheiden Schlippe und Schweitzer483 Fragen der Wirklichkeitskonstruktion und Fragen der Möglichkeitskonstruktion. Während erstere dem Berater dazu dienen, die gegenwärtige Situation samt dem bestehenden Problem zu erfassen, erfüllen letztere den Zweck, dem System zukünftige Perspektiven zu eröffnen und neue Wege aufzeigen.484 Um die erforderliche Information zu erhalten, macht sich der Berater in seinem Vorgehen zwei Eigenschaften des Systems zunutze. Zum einen ist das die eingangs erwähnte zirkuläre Struktur des Systems und zum anderen das Wissen, dass Mitglieder eines Systems nicht auf die Gefühle und Gedanken des jeweils anderen reagieren, sondern darauf wie sie denken und fühlen, dass der andere fühlt und denkt.485 Basierend darauf befragt der Berater in einem Gruppengespräch einzelne Systemmitglieder über die Beziehungen zwischen anderen Personen im System sowie über Unterschiede, die einen Unterschied machen.486 Für den Berater sowie die Gruppe, welche im Regelfall alle Personen des Systems umfasst, handelt es sich demnach um eine Beobachtung zweiter Ordnung, mittels derer sie vom jeweils befragten Systemmitglied erfahren, wie seiner Meinung nach andere Mitglieder im System denken sowie fühlen und was aus seiner Sicht die Unterschiede dabei ausmacht. Diese Information hilft nun einerseits dem Berater, die Sichtweise, wie sich das System selber sieht, als auch den Prozess, wie es dazu kommt, zu rekonstruieren und regt andererseits im System neue Denkprozesse und alternative Sichtweisen an, die zur Lösung des Problems beitragen können. Zirkuläres Fragen ist also eine in Gruppenform durchgeführte Interventionstechnik, die, so wie es ihrer ursprünglichen Verwendung im Mailänder Modell entspricht, nicht nur die Informationsermittlung für das Beratersystem ermöglicht, sondern auch die 483 484 485 486

Vgl. Schlippe/Schweitzer (1996), S. 138 ff. Vgl. Mingers (1996), S. 108 Vgl. Simon/Rech-Simon (2002), S. 32 Vgl. Bateson (1992), S. 582, sowie Königswieser/Exner/Pelikan (1995), S. 62, die Fragen nach Beziehungen und Fragen nach Unterschieden auch als Fragen im engeren Sinne und Fragen im weiteren Sinne bezeichnen, wobei Unterschiede in Anlehnung an Bateson Informationen sind, die zeitliche, inhaltliche, soziale, sachliche, räumliche und/oder beliebige andere Unterschied in Bezug auf ein bestimmtes Thema, Ereignis, Gefühl etc. sind

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Informationsvermittlung an das Klientensystem erlaubt. Dieses gleichzeitige Erhalten und Einfließenlassen von Information macht das zirkuläre Fragen für den gesamten Verlauf eines Beratungsprojektes, aber vor allem in dessen Anfangsphase für das Diagnosedesign (vgl. Kapitel 4.3.1) der Auftragsklärung, sehr wertvoll. Lösungsorientiertes Fragen Das lösungsorientierte Fragen geht aus der so genannten Kurzzeittherapie nach Steve de Shazer hervor, der diese systemische Interventionstechnik in jahrelanger Forschungsarbeit im Brief Family Therapie Center (BFTC) entwickelt hat. De Shazer und seine Kollegen bauen dabei auf die Grundannahme auf, dass das Finden einer möglichen Lösung in der Zukunft nichts mit dem Verstehen eines spezifischen Problems aus der Vergangenheit zu tun hat. Dies wird anhand der systematischen Untersuchung zahlreicher Therapiegespräche fundiert und führt zur grundsätzlichen Überzeugung, dass eine lösungsorientierte Vorgehensweise schneller zum Ziel führt als problemorientierte Therapieansätze. Es wird mit diesem revolutionären Ansatz also darauf hingewiesen, dass therapeutische Lösungen häufig nicht nur aus einem besonders detaillierten Verständnis des Symptoms, seiner Geschichte und Struktur heraus erfolgen, sondern vor allem auch durch eine grundlegende Umorientierung sowie gezielte Änderung der Perspektiven entstehen können.487 Wie durch die Einleitung bereits angedeutet, liegt das Ziel dieser Interventionstechnik darin, das Klientensystem durch Fragen zur Gestaltung einer Lösung anzuregen, ohne davor auf die Aufarbeitung des Problems einzugehen. Durch dieses zentrale Ansinnen unterscheiden sich lösungsorientierte Fragen grundlegend von anderen Therapieansätzen, die sich historisch zwar stets mit Problemen sowie mit Lösungen beschäftigt haben, ihre Anstrengungen aber hauptsächlich auf Probleme fokussieren. Lösungen wurden dagegen so selten betrachtet, dass sie gleichsam zur versteckten Hälfte der Unterscheidung von Problem und Lösung wurden, weshalb sich hier ein blinder Fleck entwickelt hat.488 Diese einseitige Überstrapazierung der Problemseite der Unterscheidung führt nämlich dazu, dass sich Probleme manifestieren, weil sie immer wieder als Probleme beschrieben werden und somit aufrechterhalten anstatt gelöst werden.489 Hier knüpfen lösungsorientierte Fragen an, indem sie den Prozess umkehren und konsequent die Lösungsseite der Unterscheidung betrachten. Anders formuliert richten diese auf Basis der Annahme, dass es gar nicht notwendig ist, das Problem genau zu kennen und von diesem unabhängig die Lösung erarbeitet werden kann, den Blick möglichst schnell in die Zukunft des Klientensystems.

487 488 489

Vgl. http://www.hypnosystemische-musiktherapie.de (11.07.2004) Vgl. DeShazer (1992), S. 25 Vgl. DeShazer (1992), S. 27

190

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Für die effektive Anwendung dieser systemischen Interventionstechnik lässt sich auf die von de Shazer entwickelte Zentralkarte490 zurückgreifen, die dem systemischen Berater als grundlegende Orientierungshilfe zum strukturierten Vorgehen dient. Sie beginnt bei der Formulierung des Problems durch den Klienten, das als Beschwerde gleichsam die Eingangsgröße in den Interaktionsprozess mit dem Berater darstellt. Diese Beschwerde verkörpert den negativen Kontext, in dem der Klient sein Problem konstruiert, auf das der Berater mit Fragen reagiert, durch die er nach Ausnahmen im positiven Sinne sucht. Der Berater zielt also darauf ab, eine Situation ausfindig zu machen, in der das Problem aus der Sicht des Klienten nicht aufgetreten ist, um auf dieser spezifischen Wahrnehmung aus der Vergangenheit aufzubauen und davon mögliche Aufgaben für die Zukunft abzuleiten, die dem Klienten bei der Lösung helfen sollen. Für den Fall, dass solche Ausnahmen vom Klienten nicht identifiziert werden können, wird nun in der Zentralkarte eine Extraschleife gezogen, in der eine hypothetische Lösung vom Klienten konstruiert werden soll,491 die dann anstelle der beschwerdefreien Zeit vom Berater für den weiterführenden Gesprächsprozess als orientierungsgebender Kontrapunkt verwendet wird. Zu diesem wird die formulierte Beschwerde verglichen, indem der Berater Fragen an den Klienten richtet, deren Fokus stets auf die beschwerdefreie Zeit oder die hypothetische Lösung gerichtet ist, wodurch die relevanten Unterschiede herausgearbeitet werden, durch welche ein genereller Lösungsprozess initiiert wird. Von hier aus wird dann auf die gemeinsame Erarbeitung einer möglichen Zukunftsvision eingegangen, in der die bestehende Beschwerde verschwunden ist,492 wofür der Berater dem Klienten die so genannte 'Wunderfrage' stellt, die 'die' lösungsorientierte Frage schlechthin verkörpert. Diese kann je nach Situation beliebig variiert werden, lautet grundsätzlich aber in etwa so: "Angenommen, es würde eines Nachts, während Sie schlafen, ein Wunder geschehen, und ihr Problem wäre gelöst. Wie würden Sie das merken? Was wäre anders? Wie […] [würde ein Kollege] davon erfahren, ohne dass Sie ein Wort darüber zu ihm sagen?"493

Mit dieser Wunderfrage wird der Blick also konkret in eine Zukunft gerichtet, in der das Problem nicht mehr existiert, wobei in diesem Prozessschritt gelegentlich nicht einmal jene Maßnahmen beschrieben werden, welche für das Verschwinden des Problems notwendig sind.494 Es werden vom Klienten hingegen spezifische Ziele formuliert, zufolge derer der Berater bestimmte Aufgaben verschreibt, die entweder

490 491

492 493 494

Vgl. DeShazer (1992), S. 103 ff. Wenn keine hypothetische Lösung konstruiert werden kann, dann öffnet sich in der erwähnten Zentralkarte eine weitere Schleife, auf die hier nicht weiter eingegangen wird. Vgl. DeShazer (1992), S. 69 DeShazer (1992), S. 24 Vgl. DeShazer (1992), S. 69

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die identifiziert Ausnahme oder aber die hypothetische Lösung beinhalten, sodass die konstruierte Lösungsvision nach dem erfolgten Gespräch realisiert werden kann. Stellt sich dadurch letztlich eine Lösung ein, dann ist der Veränderungsprozess damit abgeschlossen, der ansonsten durch weitere Gespräche solange fortgesetzt wird, bis das Problem gelöst ist. Es lässt sich damit zusammenfassen, dass sich lösungsorientierte Fragen von den meisten Interventionstechniken dadurch abheben, dass sie auf die grundlegenden Probleme nur soweit eingehen, wie dies für den übergeordneten Gesamtkontext des spezifischen Veränderungsprozesses unbedingt notwendig ist, um einen generellen Ausgangspunkt zu definieren. Wenn darüber hinaus nun die Vergangenheit genauer betrachtet wird, dann ausschließlich zu dem Zweck, um Ausnahmen zur Beschwerde so genau wie möglich zu untersuchen. Der Fokus dieser Fragetechnik wird jedoch so schnell wie möglich in die Zukunft sowie auf eine mögliche Lösung gerichtet, ohne die Vergangenheit und das bestehende Problem aufzuarbeiten. In enger Verbindung mit dieser systemischen Interventionstechnik steht, dies sei abschließend noch erwähnt, die so genannte Umdeutung, die eine paradoxe Intervention (vgl. Kapitel 4.4.2) ist und dann beim lösungsorientierten Fragen angewendet werden kann, wenn sich keine hypothetische Lösung konstruieren lässt.495 Wertschätzendes Fragen Wertschätzende Fragen weisen eine hohe Affinität zu lösungsorientierten Fragen auf, weil durch sie ebenfalls ein offener Prozess konsequenter Lösungsorientierung angeregt werden kann und soll, der als Appreciative Inquiry, sprich wertschätzende Befragung, bezeichnet wird.496 Diese bildet, wie in der vorangegangen Diskussion um eines der neuesten Konferenzdesigns (vgl. Kapitel 4.3.2), dem so genannten Zukunftsgipfel, bereits angedeutet wurde, dessen energiebewirkendes Herzstück und geht auf David Cooperrider und Suresh Srivastva zurück, die diesen integrativen Ansatz, welcher sowohl weiche Aspekte als auch harte Faktoren eng verknüpft und gleichzeitig behandelt, an der Case Western University in Ohio entwickelt haben.497 Diese Interventionstechnik verfolgt das Ziel, die Aufmerksamkeit des Befragten von Problemen weg und zu Lösungen hin zu lenken, also nicht gegen etwas, sondern für etwas auszurichten,498 um dadurch positive Energie für einen zukünftigen Wandel zu mobilisieren. Die Vergangenheit wird dafür, ähnlich wie beim lösungsorientierten Fragen, nur insoweit betrachtet, als sie erfolgreiche Erlebnisse mit positiver Energie beinhaltet, worauf für die Zukunft aufgebaut werden kann, um darin eine nachhaltige 495 496 497 498

Vgl. DeShazer (1992), S. 117 Vgl. Bruck/Weber (2002), S. 169 Vgl. Bruck/Weber (2002), S. 164 f. Vgl. Bruck/Weber (2002), S. 175

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Verwirklichung einer konkreten Vision zu bewirken. Es handelt sich gleichsam um ein Lernen aus den Erfolgen der Vergangenheit, wodurch eine Verbesserung der Situation in der Zukunft erzielt werden soll, in der eine starke Verbindung zwischen persönlicher Lebensqualität und gemeinsamem Erfolg entsteht. Kurzum wird eine fundamentale Veränderung zu einer positiven Wahrnehmung angestrebt, die umso erfolgreicher und umso nachhaltiger ist, je inspirierender und je öffnender die Fragen sind.499 Diesen Anspruch erfüllen die Fragen dann, wenn die Antwort auf dieselben nicht die Welt von gestern erklärt, sondern die Möglichkeiten von morgen artikuliert. Sie würdigen also vorhandene Qualitäten, unterstützen die Entdeckung von neuen Perspektiven und regen allgemein zum Lernen an, sodass Befragung und Wandel folglich gleichzeitig stattfinden.500 Es wird daraus ersichtlich, um nun auf das konkrete Vorgehen näher einzugehen, dass der fragenden Person, die sowohl ein externer Berater als auch ein interner Kollege sein kann, nicht nur als aktiver Zuhörer, der auch genaue Notizen macht und entsprechendes Einfühlungsvermögen besitzen muss, eine wichtige Rolle zukommt. Wichtig ist vor allem dessen akkurate Formulierung der richtigen Fragen, mit denen er seine Neugier auf die Erfahrungen, die Gedanken sowie die Gefühle seines Gegenübers von Beginn an positiv zum Ausdruck bringt,501 weil die Samen für die Veränderung bereits mit den Eingangsfragen gesät werden.502 Diese müssen dem Interviewten die Wertschätzung seiner Person und seiner Arbeit erlauben und leiten damit erstens die Entstehung der Veränderungsenergie und zweitens den Vierschritt dieser Fragetechnik ein. Aufbauend auf dieser positiven Grundstimmung, zielt die zweite Fragenkategorie dann darauf ab, herausragende Erfahrungen erfolgreicher Zusammenarbeit zu verifizieren, worin auch der Schwerpunkt des Gespräches liegt, der vor allem dazu beitragen soll, dass das positive Energieniveau noch weiter angehoben wird. Nun sollen durch die einzelnen Fragen der dritten Phase konkrete Überlegungen angeregt werden, wie die ohnehin schon erfolgreichen Aspekte noch besser gestaltet werden könnten. Um diese visionären Vorstellungen schließlich zu realisieren, wird im vierten Teil der wertschätzenden Befragung nach den nächsten Schritten gefragt und so die entsprechende Basis zur nachhaltigen Entwicklung der möglichen Zukunft vervollständigt.503 Resümierend gesehen kann wertschätzendes Fragen als eine lösungsorientierte Interventionstechnik betrachtet werden, die positive Veränderungsenergie nicht nur

499 500 501 502 503

Vgl. Bruck/Weber (2002), S. 169 Vgl. Bruck/Weber (2002), S. 175 f. Vgl. Bruck/Weber (2002), S. 166 Vgl. Bruck/Weber (2002), S. 175 f. Vgl. Bruck/Weber (2002), S. 166 ff. für detaillierte Fragen und hilfreiche Tipps zu Durchführung einer wertschätzenden Befragung

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grundsätzlich freilegt, sondern auch kontinuierlich steigert, um so einen zukünftigen Wandel herbeizuführen. Dazu kann diese Fragetechnik vom Berater entweder im ursprünglichen Rahmen des Zukunftsgipfels einzelnen Teilnehmern beigebracht oder als ein eigenständiges Element in einem Beratungsgespräch mit einem Klienten angewendet werden. Markant ist dabei stets, dass der Blick in die Vergangenheit lediglich dazu erfolgt, um positive Erlebnisse zu identifizieren, jedoch nicht, um das bestehende Problem aufzuarbeiten. Auf dieses wird gar nicht eingegangen, weil es ausschließlich Energie bindet, die dadurch für die Veränderung nicht verfügbar ist, weshalb der Fokus von den Positiverlebnissen aus gezielt auf die Lösungsseite und die Zukunft ausgerichtet wird. Aktives Fragen Die vierte Fragetechnik und damit die letzte Interventionstechnik in dieser ersten Gruppe ist das aktive Fragen, das aus der Prozessberatung von Edward H. Schein504 stammt. Dieser setzt seine Überlegungen bei einer Grundvoraussetzung an, die für die Tätigkeit jedes Beraters wichtig ist, nämlich dessen Fähigkeit einem Klienten zuhören zu können, wenn dieser sein Anliegen oder sein Problem darstellt. Dabei kann der zuhörende Berater sowohl aktiv als auch passiv sein, woraus sich unterschiedliche Konsequenzen ergeben. Während passives Zuhören die Gefahr in sich birgt, dass der Berater dem Klienten Antworten auf dessen Fragen gibt und damit sowohl dessen Unterlegenheit aufzeigt als auch dessen Abhängigkeit erzeugt, räumt aktives Zuhören die Chance ein, dass der Berater dem Klienten Gegenfragen auf dessen Fragen stellt und dadurch zum einen das Nichtwissen nutzt sowie zum anderen die Problemschilderung anregt. Im zweiten Fall handelt es sich um aktives Fragen durch den externen Berater, das allerdings, wie die einführende Erläuterung darlegt, aktives Zuhören voraussetzt, sodass korrekter Weise von einem zirkulären Bezug zwischen aktivem Fragen und aktivem Zuhören gesprochen werden muss, wodurch zwischen dem Berater und dem Klienten letztlich ein Ausbalancieren des Statusgleichgewichts ermöglicht wird.505 Ziel und Zweck dieser Fragetechnik ist es, dem Klienten grundlegend zu vermitteln, dass er erstens seine eigenen Probleme besser verstehen und zweitens vielleicht auch die nächsten Schritte selber erarbeiten kann, wozu dieser problemfokussierte Frageprozess letztlich vier Teilziele verfolgt. Erstens sollen sowohl Selbstwertgefühl als auch Status des Klienten gesteigert werden sowie zweitens für den Berater Informationen über die Situation generiert werden, wobei diese so umfangreich wie möglich sein sollten. Drittens soll der Klient in den Diagnoseprozess einerseits sowie

504 505

Vgl. Schein (2003) Vgl. Schein (2003), S. 65 ff.

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in den Planungsprozess andererseits eingebunden werden und viertens soll für den Klienten eine Situation geschaffen werden, in welcher er sich sicher genug fühlt, um angstauslösende Informationen sowie beklemmende Gefühle preiszugeben. Dies ist insofern wichtig, damit der Berater auch die wesentlichen Aspekte erfährt und nicht mit falschen Informationen arbeitet, was dieser dadurch sicherstellen kann, dass er während des Prozesses in der Aktivität bleibt und die Fäden nicht aus der Hand gibt. Nur mit diesem Bewusstsein kann der Berater die Geschichte des Klienten einerseits gänzlich enthüllen und diesen andererseits gezielt anregen, selber diagnostisch zu denken. Dazu muss der Berater durch sein Verhalten am Anfang den Klienten dazu stimulieren, seine Geschichte einerseits so vollständig wie möglich zu erzählen, und ihm dabei andererseits so neutral wie möglich zuhören, wozu er der Versuchung widerstehen muss, seine Erfahrungen in das hineinzuprojizieren, was ihm der Klient berichtet, und Antworten darauf zu geben, was ihn der Klient fragt.506 Für die tatsächliche Vorgehensweise können nun drei Frageformen unterschieden werden, nämlich die reinen Tatsachenfragen, die explorativen Diagnosefragen507 sowie die konfrontativen Fragen, die in der genannten Reihenfolge eine zunehmende Interventionsintensität aufweisen. Bevor jedoch mit den Fragen überhaupt begonnen werden kann, kommt Schweigen, wodurch der Berater mit seiner Körpersprache und seinem Augenkontakt dem Klienten signalisiert, dass er ihm zuhört und diesen so darauf vorbereitet, die Schilderung der Situation zu beginnen. Eröffnet der Klient das Gespräch nun nicht von alleine, kann der Berater beginnen, reine Tatsachenfragen zu formulieren, deren erste aber keinesfalls ein Problem unterstellen sollte, da der Klient mitunter versuchen könnte, genau dieses zu verleugnen.508 Die Rolle des Beraters besteht dabei ausschließlich darin, den Klient zum Erzählen anzuregen und diesem nicht nur aufmerksam, sondern auch neutral zuzuhören. Kontrolliert wird das Gespräch also, sowohl was den Prozess als auch was den Inhalt anbelangt, vom Klienten, was sich aber beim Umstieg auf die explorativen Diagnosefragen ändert. Der Berater leitet damit den Prozess ein, der die Art und Weise zum Gegenstand hat, wie die Inhalte analysiert und die daraus resultierenden Erkenntnisse verarbeitet werden, wobei er jedoch davon Abstand nimmt, unterschiedliche Inhalte sowie individuelle Perspektiven einzubringen. Er erforscht mit seinen diagnostizierenden Fragen lediglich drei Kategorien, nämlich erstens Emotionen und Reaktionen bei Handlungen und Ereignissen, zweitens Ursachen und Beweggründe für Handlungen und Ereignisse sowie drittens Handlungen und Ereignisse selbst in Bezug auf die

506 507

508

Vgl. Schein (2003), S. 66 Diese können nach Schein (2003), S. 67, auch als explorativ diagnostische Fragen bezeichnet werden. Vgl. Schein (2003), S. 68

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Zeitachse, sprich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.509 Natürlich reißt der Berater den Klienten mit jeder dieser explorierenden Diagnosefragen aus dessen individuellen Gedanken, fordert diesen damit aber gleichzeitig auf, dass geschilderte Ereignis aus anderen Perspektiven zu betrachten.510 Daran knüpfen schließlich die konfrontativen Fragen als dritte Stufe des aktiven Fragens an, mit denen der Berater seine eigenen Gedanken sowie seine persönlichen Reaktionen dem Klienten zu dessen Schilderung mitteilt. Der Berater äußert sich dabei sowohl zum Prozess als auch zum Inhalt derselben und zwingt den Klienten dadurch, die skizzierte Situation von einer neuen Perspektive aus zu überdenken.511 Es wird also, verglichen mit den vorangegangenen Fragen, nicht mehr die Überprüfung der Konzepte und Emotionen des Klienten gezielt angeregt, sondern dieser mit der Konfrontation der Ideen und Konzepte sowie Hypothesen und Optionen des Beraters stärker irritiert. Dadurch wird dem Klienten nahegelegt oder ermöglicht, von seiner Sichtweise abzurücken und mit dem neuen Bezugsrahmen zu arbeiten, der vom Berater vorgegeben wird. Für letzteren besteht bei diesem dritten Prozessschritt natürlich immer die große Gefahr, dass hilfreiche Informationen über die wirkliche Klientensituation verloren gehen, weshalb der entscheidende Punkt beim konfrontativen Fragen darin zu sehen ist, wann man damit beginnt und wie man dabei vorgeht.512 Zusammenfassend kann für das aktive Fragen und das damit verbundene Zuhören festgehalten werden, dass es sich um eine problemfokussierte Interventionstechnik handelt, welche in erster Linie vergangene Ereignisse aufarbeitet, um über diesen traditionellen Wege eine zukünftige Lösung zu erwirken. Dazu wird zwischen Berater und Klient, so wie letztlich auch in den zuvor erläuterten Fragetechniken, zuerst eine vertrauenserweckende Beziehung aufgebaut, in deren stabilen Rahmen dann aktive Fragen gestellt werden, die eine ansteigende Interventionsintensität aufweisen. Im Endeffekt kann diese Interventionstechnik in jedem Gespräch unabhängig von der Teilnehmerzahl eingesetzt werden und damit sowohl im Zusammenspiel mit anderen Fragetechniken als auch als Baustein für alle Interventionen verwendet werden. Wie bei allen Fragetechniken geht es letztlich um ein Bewusstsein des Beraters dafür, sich den Inhalt sowie die Formulierung der Fragen gut zu überlegen und zu wissen, was damit ausgelöst werden soll und kann. 4.4.2 Paradoxe Interventionen Die paradoxe Intervention geht auf den Wiener Neurologen und Psychiater Viktor Frankl (1905 - 1997) zurück und wurde Mitte der 1970er Jahre von unterschiedlichen

509 510 511 512

Vgl. Schein (2003), S. 67 Vgl. Schein (2003), S. 70 Vgl. Schein (2003), S. 67 Vgl. Schein (2003), S. 71

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Familientherapeuten, wie Watzlawick und Selvini-Palazzoli, für die systemische Familientherapie (vgl. Kapitel 3.2.5) entdeckt und adaptiert.513 Davon ausgehend wird in der systemischen Beratung nach dieser therapeutischen Technik vor allem dann interveniert, wenn das Klientensystem großen Widerstand gegen eine von ihm selbst gewollte Veränderung leistet und dieselbe dadurch verhindert. Um dennoch ein Änderung zu bewirken, reagiert der Berater auf dieses paradoxe Verhalten mit dem Gegenparadoxon, "Wir können Euch nur ändern, wenn ihr Euch nicht ändert."514 Durch dieses Gegenparadoxon sollen nun zweierlei Ziele erreicht werden. Zum einen signalisiert der Berater durch seine Reaktion, dass er jenes symptomatische Verhalten versteht, durch welches sich das System selbst stabilisiert, und bestätigt dadurch die Eigenperspektive des Systems. Ebendiese Bestätigung vermittelt dem Klientensystem Sicherheit, weil es den Berater nicht mehr als Bedrohung von außen empfindet, und hilft letzterem demzufolge einen besseren Zugang zum System zu erhalten. Zum anderen sollen dem System durch diese Interventionstechnik kreative Alternativen zur Problemlösung ermöglicht werden, um dadurch die innere Landkarte zu ändern und letztlich die Aufgabe des Symptoms zu bewirken. Grundsätzlich geht diese Interventionstechnik davon aus, dass jedes Verhalten, also sowohl gewürdigtes und anerkanntes als auch kritisiertes und beklagtes, eine Funktion erfüllt und dadurch einen Beitrag zur Aufrechterhaltung des Systems leistet. Die paradoxe Situation entsteht nun daraus, dass das System einerseits ein Verhalten als negativ bewertet und dieses mit Hilfe des Beraters ändern möchte, jedoch andererseits dessen Intervention, durch die das Symptom beseitigt werden würde, als Eingriff empfindet, weil es dadurch sein gewohntes Verhalten ändern müsste. Das Klientensystem wehrt sich aufgrund seiner Selbstorganisation gegen diese Änderung, indem es in der gewohnten Art und Weise reagiert und folglich auch so bleibt wie es ist. Das Drängen von außen auf Änderung ist daher sinnlos und so lässt der Berater das System dieses Verhalten beibehalten und versucht das System selber in die Gegenposition zu führen, indem er es seinerseits mit einem Paradoxon konfrontiert. Er gibt dem System zu verstehen, dass es sich nur ändern kann, wenn es so bleibt wie es ist, oder dass es nur so bleiben kann, wie es ist, wenn es sich verändert.515 Das Klientensystem befindet sich dadurch in einem Konflikt zwischen Verändern und Nichtverändern, wobei diese Ambivalenz nur dann gelöst werden kann, wenn es seine Regeln, also seine innere Landkarte, ändert. Somit wird die

513 514 515

Vgl. Kolbeck (2001), S. 107 Vgl. Rüsch (2002), S. 58 Vgl. Königswieser/Exner/Pelikan (1995), S. 62

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grundsätzliche Möglichkeit für die Entwicklung neuer Problemlösungsstrategien eröffnet und in letzter Konsequenz auch die Aufgabe des Symptoms bewirkt.516 Für die Anwendung dieser Interventionstechnik sei angemerkt, dass ein Einsatz erst in einer fortgeschrittenen Phase des Beratungsprojektes möglich ist, da das Problem bereits klar definiert sein muss, um paradox intervenieren zu können. Weiters wird für die Orientierung des Lesers festgehalten, dass die positive Konnotation sowie systemische Verschreibung die in den folgenden Ausführungen beschrieben werden, besondere Formen der paradoxen Intervention sind.517 Darüber hinaus können aber auch Umdeutung und Splitting, die ebenfalls vorgestellt werden, zu dieser zweiten Gruppe von systemischen Interventionstechniken gezählt werden,518 die eine klare Problemfokussierung aufweisen. Positive Konnotation Ganz allgemein bezeichnet Konnotation die Nebenbedeutung eines Wortes, welches dessen Hauptbedeutung, die so genannte Denotation, begleitet. Die Konnotation eines bestimmten Worts ermöglicht es daher, dieses von einem gleichbedeutenden Wort, einem Synonym, das eine andere Nebenbedeutung hat, zu unterscheiden.519 Ersetzt man an dieser Stelle nun Wörter durch Verhaltensweisen, so entsteht eine Analogie, nach der einem bestimmten Verhalten eine spezifische Hauptbedeutung sowie unterschiedliche Nebenbedeutungen unterstellen können, die entweder positiv oder negativ besetzt sein können. Die positive Konnotation, die auch als positive Symptombewertung bezeichnet wird, setzt sich zum Ziel die negative Bewertung von spezifischen Verhaltensweisen, die entweder einem Systemmitglied oder dem gesamten System zugerechnet werden können, zu verändern. Dadurch soll dem Klientensystem entweder eine positive Perspektive aufgezeigt werden, die gänzlich neu ist, oder zumindest die bestehende Wahrnehmung insofern erweitert werden, dass eine akzeptable Sicht des Problems entsteht, sodass ein erster Schritt in Richtung Veränderung unternommen wird. Weil die positive Konnotation eine Form der paradoxen Intervention ist, wird, wie bereits einleitend erwähnt, davon ausgegangen, dass jedes gezeigte Verhalten eine Funktion hat. Die Aufgabe des Beraters besteht nun darin, dass er auf ein vom Klientensystem als negativ empfundenes Verhalten positiv reagiert und dem System damit hilft, diese spezifische Verhaltensweise anzunehmen und aus einer positiven

516 517 518 519

Vgl. Mingers (1996), S. 118 Vgl. Mingers (1996), S. 114 ff. Vgl. Königswieser/Exner/Pelikan (1995), S. 62 Vgl. http://www.lexikon-definition.de (20.07.2004): So teilen die Wörter "Quacksalber", "Onkel Doktor" und "Gott in Weiss" alle die Denotation "Arzt", aber unterscheiden sich durch die Konnotationen "taugt nichts", "familiäre Beziehung", "kann alles".

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Perspektive wahrzunehmen. Gelingt dies, so kann die Änderung der Wahrnehmung auch eine Änderung im Verhalten eines einzelnen Systemmitglieds und folglich des gesamten Systems bewirken. Abschließend wird festgehalten, dass die positive Konnotation dem Klientensystem nur eine positive Bedeutung eines bis zu diesem Zeitpunkt als negativ betrachteten Verhaltens zugänglich macht, indem der Berater positiv darauf reagiert. Genau das unterscheidet diese Interventionstechnik von der Umdeutung, in welcher das negativ bewertete Verhalten durch den Berater in einen anderen Gesamtkontext gesetzt wird, worauf später noch detailliert eingegangen wird. Systemische Verschreibung Die systemische Verschreibung bedient sich als explizite Spielform der paradoxen Intervention gezielt deren grundsätzlicher Überlegung, dass jedes systemspezifische Verhalten sowie jedes dadurch manifestierte Symptom eine bestimmte Funktion im sozialen System besitzt, und verschreibt letzterem sein eigenes Symptom, welches eigentlich aufgelöst werden soll. Diese Interventionstechnik wird deshalb auch als Symptomverschreibung bezeichnet und sucht über diesen Umweg, das Symptom überflüssig zu machen. Das primäre Ziel systemischer Verschreibung ist es, den Fokus des Klientensystems zu verschieben und die Aufmerksamkeit von der Suche nach dem Schuldigen auf die Suche nach den Gründen für das Verhalten zu lenken. Das System erhält somit die Möglichkeit, die Bedeutung des symptomatischen Verhaltens zu verstehen, wodurch eine Verwirrung ausgelöst wird. Dadurch wird die innere Landkarte irritiert, was zur Änderung von ebendieser sowie der Interaktionsmuster führen kann.520 Um den Fokuswechsel zu bewirken, verschreibt der Berater dem Klient bewusst genau jenes Verhalten, das als Symptom in bestimmten Situationen auftritt. Zum einen unterbindet er damit eine systeminterne Schuldzuweisung, weil er durch seine Anordnung die Verantwortung für das Auftreten des Verhaltens übernimmt. Zum anderen überführt der Berater mittels der Verschreibung ein spontanes Verhalten in eine geplante Handlung und macht es damit kontrollierbar.521 Unter diesen Aspekten ist das Klientensystem nun mit der Ambivalenz von Verändern und Nichtverändern konfrontiert. Es kann also den Widerstand gegen die Intervention des Beraters nur aufrechterhalten, wenn es sein symptomatisches Verhalten aufgibt und umgekehrt das symptomatische Verhalten nur behalten, wenn es den Widerstand gegen die Einmischung von außen aufgibt. Dieser Konflikt eröffnet die Möglichkeit, den Fokus

520 521

Vgl. Mingers (1996), S. 117 Vgl. Simon/Rech-Simon (2002), S. 281

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auf die Bedeutung des Verhaltens zu richten, die Zusammenhänge zu analysieren, dadurch dessen Funktion zu erkennen und Veränderungen kreativ zu bewältigen.522 Abschließend soll zufolge der grundsätzlichen Zugehörigkeit der systemischen Verschreibung zur paradoxen Intervention noch einmal erwähnt werden, dass diese problemfokussierte Interventionstechniken erst eingesetzt werden können, wenn ein eindeutiges Problem identifiziert ist. Sie unterscheiden sich damit fundamental von den lösungsorientierten Interventionstechniken, zu denen sich im konkreten Falle der systemischen Verschreibung aber trotzdem eine gewisse Ähnlichkeit erkennen lässt. Diese besteht darin, dass durch die systemische Verschreibung dem ratsuchenden Klientensystem letztendlich genau die gegenteilige Aufgabe dessen erteilt wird, was diesem aus lösungsorientiertem Fragen heraus aufgetragen werden würde. Dieses verschreibt nämlich, wie in den zuvor diskutierten Fragetechniken (vgl. Kapitel 4.4.1) erläutert wurde, die positive Ausnahme vom negativen Symptom, bezweckt damit aber letztlich auch die nachhaltige Veränderung des symptomatischen Verhaltens, so wie es auch die systemische Verschreibung anstrebt. Deren umgekehrter Weg weist vergleichsweise jedoch dann eine zunehmende Erfolgswahrscheinlichkeit auf, wenn der systeminterne Widerstand gegen die faktische Symptombeseitigung ansteigt. Umdeutung Die Bezeichnung Reframing, die für die Interventionstechnik der Umdeutung523 auch geläufig ist, deutet bereits an, dass hierbei einem bestimmten Verhalten ein anderer Rahmen gegeben wird, sodass selbiges in einem neuen Licht erscheint und dadurch einen anderen Sinn für das Klientensystem erhält.524 Dies ist auch der maßgebende Unterschied zu der zuvor bereits beschriebenen Interventionstechnik der positiven Konnotation, bei der der systemisch Berater auf die beobachtete Verhaltensweise lediglich positiv reagiert und das betroffene System dadurch mit einer unterwarteten Positivsicht grundsätzlich konfrontiert, jedoch keine zusätzlichen Aspekte einbringt. Durch die Umdeutung des als negativ bewerteten Verhaltens erscheint dieses in einem neuen Kontext, wodurch zwei Ziele erfüllt werden sollen. Zum einen soll der Widerstand des Klientensystems gegen die Intervention, also gegen die Einmischung des Beraters von außen, generell vermieden oder zumindest verringert werden. Zum anderen können eingefahrene Situationen und bestehende Blockierungen gelockert werden, sodass die Systemmitglieder freie Köpfe bekommen und wieder flexibler,

522 523 524

Vgl. Kolbeck (2001), S. 108 Vgl. Schlippe/Schweitzer (1996), S. 177 ff. Vgl. Königswieser/Exner/Pelikan (1995), S. 63

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kreativer und selbstbewusster werden.525 Dadurch wird die Eigenkomplexität erhöht, was wiederum eine gute Basis für Veränderungsansätze bietet. Beim Vorgehen setzt die Umdeutung so wie jede paradoxe Intervention dabei an, dass jedes Verhalten einen Sinn hat und seinen Teil zur Systemerhaltung beiträgt. Dieser Sinn wird aber in Bezug zum jeweiligen Kontext, in dem die Verhaltensweise auftritt, betrachtet und kann sich ausschließlich in Abhängigkeit von diesem ändern. So kann etwa ein Verhalten, das aus Sicht des Klientensystems einen scheinbaren Nachteil darstellt, sich in einem anderen Kontext aber als konkreter Vorteil erweisen. Folglich kann das Verhalten so bleiben, wie es ist, wenn es gelingt den Rahmen zu verschieben, durch den es seine Bedeutung bekommt. Das Klientensystem erhält so die Möglichkeit, dass das bisher kritisierte Verhalten sowie die damit verbundenen Symptome in einem anderen Bezug gesehen werden können und kann denselben einen anderen Sinn geben, der positiv ist. Es findet also nur eine Veränderung der Wirklichkeitskonstruktion und keine Änderung in den Interaktionsmustern statt. Grundsätzlich gilt es in Bezug auf die Zurechnung der beschriebene Umdeutung und des nachfolgenden Splittings zu den paradoxen Interventionen hier noch anzuführen, dass diese beiden Interventionstechniken in der fachspezifischen Literatur mitunter verschiedene Zuordnungen erfahren. Sieht man einmal davon ab, dass systemische Interventionstechniken ohnehin ineinander greifen und deren explizite Trennung eher aus theoretischen Überlegungen erfolgt, als auf praktischen Argumenten basiert, werden sowohl Umdeutung als auch Splitting oft als eigenständige Techniken, die von dieser zweiten Gruppe systemischer Interventionstechniken unabhängig sind, erwähnt. Diese zulässige Auffassung wird in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht vertreten, in der die mögliche Gegenposition bezogen wird, dass die erwähnten Interventionstechniken genauso paradoxe Interventionen darstellen, wie die positive Konnotation und die systemische Verschreibung werden.526 Splitting Das so genannte Splitting ist eine systemische Interventionstechnik, die angewandt wird, wenn im betroffenen Klientensystem widersprüchliche Standpunkte bestehen, die so vehement sind, dass das Weiterkommen in der Beratungsarbeit dadurch maßgeblich erschwert oder überhaupt verhindert wird. In solchen Situationen erlaubt es das Splitting dem Berater, die unterschiedlichen Positionen einzunehmen, ohne dabei die grundlegende Neutralität zu verletzen, wodurch am bestehenden Konflikt besser gearbeitet werden kann. Voraussetzung dafür ist jedoch die Allparteilichkeit, wie sie in den Basiskomponenten (vgl. Kapitel 4.2) beschrieben wurde, weil diese

525 526

Vgl. Kolbeck (2001), S. 109 Vgl. Königswieser/Exner/Pelikan (1995), S. 62 f.

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erstens die Neutralität im Sinne von 'weder – noch' enthält, gleichzeitig aber zweitens den Positionswechsel in Form von 'sowohl – als auch' ermöglicht. Das Ziel des Splittings ist, die Widersprüche im Klientensystem aufzugreifen527 und diese durch die Intervention des Beraters entsprechend zurückzuspielen, wobei durch das gleichwertige Darstellen der unterschiedlichen Perspektiven zu verhindern ist, dass sich eine spezifische Partei vom Berater unterstützt sieht und dadurch alle anderen Gegenspieler benachteiligt fühlen. Dies würde einem Parteiergreifen durch den Berater entsprechen, das mit einer Verletzung der Neutralität gleichzusetzen ist. Dadurch würde dieser das Vertrauen jener Systemmitglieder verlieren, welche sich benachteiligt fühlen, was letztlich die spezifische Intervention sowie die gesamte Beratung zum Scheitern bringen würde. Daraus wird ersichtlich, dass die konkrete Umsetzung dieser systemischen Interventionstechnik relativ leicht zu einer heiklen Gratwanderung für einen externen Berater werden kann, wenn er nicht mit höchster Sorgfalt sowie entsprechender Aufmerksamkeit daran arbeitet, dass bestehende Ungleichgewichte zufolge seines individuellen Handelns rasch ausgeglichen werden. Trotzdem bringt diese paradoxe Intervention in unterschiedlichen Situationen große Vorteile mit sich, weshalb sie in der systemischen Beratung oft eingesetzt wird. Das angedeutete Zurückspielen der systeminternen Widersprüche wird praktisch nun dadurch realisiert, dass der externe Berater durch eine explizite Rollenteilung die konträren Positionen sichtbar macht. Falls ein Berater diese Interventionstechnik alleine durchführen muss, ist von ihm sicherzustellen, dass er hintereinander in einer zeitlichen Abfolge alle unterschiedlichen Positionen gleichwertig einnimmt, wozu er in diese jeweils bewusst hineingehen muss, um sie danach wieder ebenso gezielt zu verlassen. Der Berater übernimmt dabei in Ablehnung Simon und Rech-Simon die Rolle des Anwalts der Ambivalenz und zeigt dem Klientensystem dadurch alternative Sichtweisen auf, wobei er die Neutralität gegenüber dem gespaltenen System behält, indem er unter Verwendung des Gegensatzpaares 'einerseits – andererseits' stets mit 'zwei Seelen in seiner Brust' spricht.528 Erleichtert wird dieser Prozess hingegen, wenn in einem Beraterteam gearbeitet wird, weil dadurch jeder Berater eine Position verkörpern kann, sodass das Beratersystem zum einen durch seine Vertreter alle Positionen aufgreifen, jedoch zum anderen gleichzeitig als Gesamtheit die Neutralität wahren kann. Im Beratersystem findet also eine Rollenteilung statt, durch die alle Parteien des Klientensystems gleichwertig vertreten werden, sodass in diesem für Verwirrung sowie Überraschung gesorgt wird, was eine gute Voraussetzung für Veränderungen bietet.529 Dieser Effekt stellt sich natürlich auch dann ein, wenn das

527 528 529

Vgl. Titscher (1991), S. 336 Vgl. Simon/Rech-Simon (2002), S. 282 Vgl. Königswieser/Exner/Pelikan (1995), S. 63

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Splitting von einem Berater alleine durchgeführt wird, wobei er aber generell weniger intensiv ist, als wenn diese Intervention durch mehrere Berater gemeinsam erfolgt. Anders formuliert ist Splitting zu mehrt deutlich einfacher durchzuführen als alleine, wobei sich für viele Situationen zweiköpfige Beraterteams eignen, die generell nicht nur konträre Standpunkte verkörpern, sondern auch andere Differenzen darstellen können. Ebendies könnte beispielsweise die Aufteilung der Verantwortung zwischen Beratungsprozess und Beratungsinhalt betreffen oder aber auch die Darstellung des Gegensatzes von Bewahren und Verändern umfassen. Darüber hinaus wäre es jedoch genauso denkbar, durch ein Beraterpaar im Klientensystem die Differenz zwischen Ordnung und Freiheit zu reflektieren oder den Widerspruch von Nähe und Distanz aufzuzeigen.530 Summa summarum ist Splitting also eine Interventionstechnik, die ähnlich wie die Fragetechniken sehr vielseitig anwendbar ist, aber so wie jede paradoxe Intervention stets ein identifiziertes Problem benötigt. Dieses wird in diesem speziellen Fall als markante Differenz aufgegriffen, die sichtbar gemacht wird und so diese paradoxe Intervention von den zuvor beschriebenen Interventionstechniken in dieser zweiten Gruppe unterscheidet. Allen darin enthaltenen Elementen ist jedoch gemein, dass sie für ihre Anwendung unbedingt Berater erfordern, die sowohl über ausreichende Seniorität als auch über umfangreiche Erfahrung verfügen müssen. Diese beiden Aspekte sind unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass man mit diesen mächtigen Interventionstechniken überhaupt arbeiten kann, weil diese nicht nur große Wirkung erzielen, sondern auch massiven Schaden verursachen können. 4.4.3 Künstlerische Interventionen Anders als die bisher diskutierten Interventionstechniken zählen die künstlerischen Interventionen nun nicht mehr zum digitalen Zweig, sondern zum anlogen Arm der systemischen Interventionstechniken (vgl. Abbildung 4.5). Als deren dritte Gruppe sind sie darüber hinaus in ihrem generellen Zielanspruch sowie in ihrer prinzipiellen Vorgehensweise deutlich homogener als die elementaren Fragtechniken oder die paradoxen Interventionen, sodass für künstlerische Interventionen eine gemeinsame Definition einleitend formuliert werden kann, die sehr kurz gehalten ist. Es sind dies Handlungen, Aktionen und Darstellungen von Künstlern, die damit das Ziel verfolgen, mit einer Gruppe von Menschen in Interaktion zu treten.531 Die zentrale Position aus externer Sicht nimmt dabei nicht ein Berater, sondern ein Künstler ein, da ein solcher sich durch sein Talent oft wesentlich leichter tut, das, was ist, wahrzunehmen und auf eine sinnlich erfahrbare Weise, also in analoger Form, darzustellen, auch wenn dazu oft noch die klaren Worte, sprich die digitalen Formulierungen, fehlen. Aufgrund ihrer 530 531

Vgl. Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001), S. 40 Vgl. Gerber/Sonuç/Wimmer (2002), S. 211

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Sensibilität sind Künstler letztlich in der Lage, Zusammenhänge, die einfach verdeckt oder gar tabuisiert sind, aufzuzeigen und damit erst bearbeitbar zu machen.532 Aus den einleitenden Ausführungen lässt sich ableiten, dass das konkrete Ziel von künstlerischen Interventionen darin liegt, das beratene Klientensystem aus einem unkonventionellen Blickwinkel, nämlich aus dem des außenstehenden Künstlers, zu betrachten, um dadurch die systemeigene Wahrnehmung mit neuen Perspektiven zu erweitern, die eine Bereicherung für das System darstellen.533 Kunst und Künstler haben sowohl die Aufgabe als auch die Funktion nicht nur das Abstrahieren, sondern auch das Neuinszenieren sowie darüber hinaus gegebenenfalls das Ritualisieren von 'Alltagsgeschichten' zu leisten.534 Die Kunstdarbietung soll im Klientensystem gezielt Unruhe erzeugen, um dessen statische Muster sowie dessen routiniertes Verhalten so zu durchbrechen, dass Vitalität und Bewegung entstehen kann. Es geht darum, anders formuliert, gezielte Impulse zu setzen, durch die bestimmte Stimmungen und blockierte Gefühle stimuliert werden, welche ihrerseits wiederum im sozialen System gemeinsam erlebt werden und in diesem dadurch die Energien der Systemmitglieder freisetzen, wodurch das Schaffen von etwas Neuem ermöglicht wird.535 Die geschilderte Zielsetzung ist allen künstlerischen Interventionen gemein, sodass ihre grundsätzliche Kategorisierung entlang anderer Dimensionen getroffen werden muss, um eine strukturierte Diskussion zu führen. Als sinnvollste Dimension bietet sich dafür die zentrale Kunstform an, derer sich der intervenierende Künstler bedient, womit vier Untergruppen differenziert werden können, denen sich die systemischen Interventionstechniken dieser dritten Gruppe zuordnen lassen. Den verschiedenen Kunstformen folgend, können künstlerische Interventionen nach den vier Adjektiven darstellerisch, schauspielerisch, literarisch sowie musikalisch differenziert werden, wobei zwischen diesen vier Teilbereichen ein fließender Übergang besteht und die jeweils darin enthaltenen Interventionstechniken natürlich auch über die gedachten Bereichsgrenzen hinaus zusammenwirken können. Für jede dieser vier Teilgruppen sollen nun einige Beispiele angedacht werden, ohne jedoch auf deren detaillierte Ausgestaltung einzugehen. Darstellerische Intervention Als gängigste Formen der darstellerischen Intervention können Bilder und Skulpturen sowie Collagen und Plastiken betrachtet werden, die entweder in das Klientensystem eingebracht werden können, um darin Assoziationen und Reaktionen hervorzurufen oder auch von den Systemmitgliedern erstellt werden können, um ihre Stimmungen 532 533 534 535

Vgl. Gerber/Sonuç/Wimmer (2002), S. 210 Vgl. Gerber/Sonuç/Wimmer (2002), S. 211 Vgl. Gerber/Sonuç/Wimmer (2002), S. 212 Vgl. Gerber/Sonuç/Wimmer (2002), S. 210

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und Gefühle auszudrücken. Wie die genannten Formen eingesetzt werden, muss letztlich im konkreten Interventionsdesign definiert werden. Eine andere Spielform dieser Interventionstechnik ist, wenn auch im weitesten Sinne, die Verwendung von Sesseln, um bestimmte Aspekte über die räumliche Dimension sichtbar zu machen. So kann etwa die konflikterzeugende Mitgliedschaft einzelner Personen zu mehreren Geschäftsbereichen veranschaulicht werden. Dafür werden letztere in einem Raum mittels mehrerer Tische dargestellt, an denen die jeweilige Anzahl der einzelnen Sessel die Mitgliederzahl des Geschäftbereiches repräsentiert. Nehmen nun alle Personen Platz, dann bleiben letztlich die Sessel jener Mitarbeiter unbesetzt, die aufgrund ihrer Mehrfachmitgliedschaft nur eine Position einnehmen können, aber bereits an einem anderen Tisch im Raum sitzen.536 Schauspielerische Intervention Auch die schauspielerischen Interventionen weisen eine breite Palette verschiedener Variationen auf, die angefangen vom Sketch über das Theater bis hin zur Pantomime reichen. All diese Interventionen können wiederum in zweierlei Formen angewendet werden, indem entweder professionelle Künstler für die betroffenen Systemmitglieder ein situationsspezifische Darbietung geben oder aber Betroffene selbst zu Akteuren des Geschehens gemacht werden, wobei die Regie von diesen selber oder auch von extern erfolgen kann. Ein konkretes Beispiel für die erstgenannte Variante ist etwa das maßgeschneiderte Unternehmenstheater537, das eine künstlerische Intervention darstellt, in der die drei Interventionsebenen, namentlich die Interventionstechnik, das Interventionsdesign sowie die Interventionsarchitektur, nicht nur fließend ineinander übergehen, sondern einander komplett überdecken. Dabei wird von einer professionellen Theatergruppe für das beauftragende Klientensystem ein eigenes Stück geschrieben, das auf eine bestimmte Situation passt, die im betroffenen Unternehmen aktuell besteht. Dann wird dessen gesamter Belegschaft die künstlerische Darbietung vorgeführt, in der die konfliktreichen Aspekte derart aufbereitet sind, dass ein gewisser Interpretationsraum einerseits bleibt, aber auch eine deutliche Botschaft andererseits transportiert wird, sodass insgesamt eine Intervention erfolgt, die eine Bewegung hervorruft. Dem entgegen könnten die Systemmitglieder, wie eingangs angedeutet, jedoch auch eingeladen werden, sich zu einer Fragestellung in Kleingruppen selber einen Sketch zu erarbeiten, den sie dann als Akteure vor dem Gesamtsystem aufführen. Dadurch könnten beispielsweise durch das Sichtbarmachen von Stärken sowie Schwächen

536 537

Vgl. Königswieser/Exner/Pelikan (1995), S. 64 Vgl. Kosar (2002), S. 218 ff.

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sowohl Muster erkennbar als auch Latentes besprechbar gemacht werden, wobei eine Balance zwischen Bewahren und Verändern gefunden werden soll.538 Literarische Intervention Literarische Interventionen erstrecken sich als dritte Untergruppe der künstlerischen Interventionen von Metaphern über Märchen bis zu Geschichten. Diese drei Formen enthalten die wesentlichen Elemente analoger Kommunikation und können einerseits von Beratern, andererseits aber auch von Klienten verwendet werden, um die jeweils persönlichen Eindrücke zu schildern. Die erstgenannten Metaphern sind bildliche Redewendungen, die in verschiedenen Beratungssituationen in einem übertragenen Sinn verwendet werden können, da sie primär das gefühlsmäßige Erleben ansprechen und weniger das analytische Denken erfordern. Im Klientensystem wird durch die Symbolik, die in Metaphern ausgedrückt wird, die Assoziationsdynamik gefördert, sodass eine Anregung entsteht, auch über Tabuthemen zu sprechen.539 Eine andere Variante literarischer Intervention ist hingegen das situationsbezogene Erzählen von unterschiedlichen Märchen, die durch ihre verdichtete Form eine hohe Aussagekraft über verschiedene Rollen, zwischenmenschliche Beziehungen sowie zentrale Muster in einem sozialen System haben. Sie eignen sich dazu, bestimmte Situationen wiederzugeben, auch deswegen, weil Menschen, so man sich Bateson anschließt, primär in Geschichten denken, die Muster in der Zeit sind und durch ihre Metaphern Identifikationsmöglichkeiten schaffen, die neue Perspektiven für diverse Problemlösungen eröffnen könnten.540 Dies führt direkt über zur Intervention in Form von Geschichten, durch die Eindrücke ebenfalls analog geschildert werden können. Diese dritte Spielart von literarischen Interventionen eignet sich beispielsweise dazu, latente Potenziale sowie versteckte Wünsche von unterschiedlichen Systemmitgliedern aufzuspüren, so man diese ihre eigenen Geschichten schreiben und vortragen lässt. Dadurch können einerseits die personenspezifischen Rollen definiert, andererseits die gemeinsame Teambildung forciert werden.541 Musikalische Intervention Zu guter Letzt sind noch die musikalischen Interventionen anzuführen, die als vierte Untergruppe die künstlerischen Interventionen abrunden. Sie können mitunter dazu verwendet werden, um in Großgruppen die Differenzierung und Positionierung von 538 539 540 541

Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 166 f. Vgl. Königswieser/Exner/Pelikan (1995), S. 63 Vgl. Königswieser/Exner/Pelikan (1995), S. 64 Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 192 f.

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Systemmitgliedern sowohl sichtbar als auch spürbar zu machen. Dies kann erreicht werden, indem nacheinander an unterschiedlichen Stellen eines größeren Raumes jeweils ein charakteristisches Musikstück gespielt wird, an dem sich die einzelnen Personen orientieren sollen, ob sie sich zu dem jeweiligen Platz begeben oder einen anderen Standpunkt wählen.542 Insgesamt kann für künstlerische Interventionen damit zusammengefasst werden, dass diese anders als digitale Interventionen über analoge Kommunikation wirken und aus dieser spezifischen Perspektive nicht nur eine sinnvolle Ergänzung, sondern auch ein brauchbares Gegengewicht darstellen. Auch wenn sie in ihrer Zielsetzung, wie eingangs erwähnt, relativ homogen sind, hat die Diskussion gezeigt, dass sie in ihrer Variation extrem vielfältig sein können. 4.4.4 Systemische Aufstellungen Die übergeordnete Bezeichnung der systemischen Aufstellung lässt sich in die drei unterschiedliche Aufstellungsarten, nämlich die systemische Familienaufstellung, die systemische Organisationsaufstellung sowie die systemische Strukturaufstellung, gliedern. Historisch betrachtet haben sich diese drei Aufstellungsarten auch in der genannten Reihenfolge aufeinander aufbauend entwickelt, weshalb festgehalten werden kann, dass die systemische Familienaufstellung, die grundlegende Form der systemischen Aufstellungen darstellt. Ihre historischen Wurzeln lassen sich auf verschiedene Richtungen therapeutischer Ansätze zurückführen, wobei allen voran die Rekonstruktionsarbeiten und Skulpturarbeiten von Virginia Satir zu nennen sind, die man dem entwicklungsorientierten Ansatz in der familientherapeutischen Szene zurechnen kann. Alle diese unterschiedlichen Einflüsse führt Bert Hellinger (geb. 1925), ein deutscher Psychoanalytiker, zusammen und entwickelt auf dieser breiten Basis die heute weltweit anerkannte Familienaufstellung, die den entscheidenden Ausgangspunkt für die anhaltende Entwicklung aller systemischen Aufstellungen bildet. Systemischen Aufstellungen haben grundsätzlich das Ziel, Lösungsansätze für ein bestimmtes Anliegen, welches vom Klienten vorgegeben wird, herbeizuführen und werden daher auch als lösungsorientierte Techniken bezeichnet. Dieses Anliegen besteht in Zusammenhang mit einem System, in dem sich der Klient befindet, und kann über die räumliche Anordnung der Systemelemente, welche im Allgemeinen mit einzelnen Personen543 gleichzusetzen sind, sichtbar gemacht werden. Zu diesem Zweck stellt der Klient einzelne Repräsentanten, die entweder für ihn selbst oder

542 543

Vgl. Königswieser/Exner (1998), S. 222 f. Die systemische Strukturaufstellung erlaubt es auch Gefühle, Persönlichkeitsmerkmale, Themen, Artefakte, Objekte oder Strukturen als Systemelemente zu definieren. Sie unterscheidet dafür interne und externe System, die in weiterer Folge noch diskutiert werden.

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eine andere Person im System stehen, an von ihm ausgewählte Plätze im Raum und bildet dadurch seine innere Sichtweise der gegenwärtigen Situation räumlich ab. Dabei sei angemerkt, dass die aufgestellten Repräsentanten, die generell auch als Stellvertreter bezeichnet werden können, kein Wissen über das System benötigen, im Regelfall nur eine Person darstellen und sowohl durch Menschen als auch durch Gegenstände verkörpert werden können. Ausgehend von dieser Anfangssituation, die eines von vielen möglichen Raumbildern ist, ergeben sich im aufgestellten System Empfindungen, die mittelbar durch Fragen des systemischen Beraters544 an die Repräsentanten oder unmittelbar von diesen selber an die Oberfläche gebracht werden. Für den Fall, dass die Aufstellung mit Gegenständen erfolgt, werden diese Befindlichkeiten, welche auf die körperlichen, die gefühlsmäßigen und/oder die räumlichen Wahrnehmungen zurückzuführen sind, mittels Einnahme der jeweiligen Position durch den Klienten oder den Berater artikuliert. Die so erhaltenen Informationen über das System, seine Geschichte und seinen Zustand bewirken nun Veränderungen in demselben, die entweder durch Änderung der räumlichen Position eines Stellvertreters oder durch Aussagen, die ein Repräsentant an einen anderen richtet, realisiert werden. Dieser Prozess läuft, bis sich jeder Stellvertreter auf seinem Platz sicher fühlt und positive Energie verspürt. Dadurch kommt das gesamte System in sich zur Ruhe und hat einen Lösungsansatz für das Anliegen gefunden. Ist dieses so genannte Lösungsbild vorhanden, dann nimmt der Klient seine Position ein und lässt die gesamte Situation auf sich wirken. Daraus ergeben sich Initialzündungen für Denkoptionen und Handlungsoptionen in unterschiedlichen Lebenslagen, was in weiterer Folge zu Änderungen im realen Leben führen kann. Diese Aussage verlangt natürlich nach einer Erklärung dahingehend, wie diese Änderungen funktionieren können. Dazu gibt es aber trotz intensiver Bemühungen bis dato nur unterschiedliche Vermutungen, weshalb nach wie vor nur auf die Erfolge aus den diversen Anwendungen verwiesen werden kann. Ohne auf diese Erfolge einzugehen, – das würde den Rahmen der Arbeit bei weitem sprengen – soll ein Überblick für die wichtigsten Anwendungsgebiete von systemischen Aufstellungen in Organisationen gegeben werden: x

Klärung von Problemen unter Einbezug aller relevanten Sichtweisen

x

Klärung des eigenen Platzes und der eigenen Rolle in der Organisation

x

Betrachtung einer Situation aus unterschiedlichen Rollen bzw. Perspektiven

x

Hilfestellung für anstehende Entscheidungen

544

Die Bezeichnung 'systemischer Berater' wurde im Sinne einer einheitlichen Nomenklatur gewählt. Allgemein spricht man eher von einem Therapeut

208

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x

Darstellung von Beziehungsmustern sowie Beziehungsstrukturen in einem Team, einer Abteilung oder in der Organisation

x

Verbesserung der Aufgabenorientierung und Zielorientierung und der damit verbundenen Beziehung der Organisation zum Kunden

x

Wahrnehmung von Leitungsfunktionen innerhalb der Organisation

Bezug nehmend auf diese Anwendungsgebiete soll nun in weiterer Folge auf zwei Aufstellungsarten, nämlich zum einen auf die systemische Organisationsaufstellung und zum anderen auf die systemische Strukturaufstellung, detaillierter eingegangen werden. Systemische Organisationsaufstellungen Über das allgemein skizzierte Vorgehen einer systemischen Aufstellung hinaus gibt es speziell für systemische Organisationsaufstellungen einige Prinzipien545, die bei der Durchführung zu beachten sind, da ansonsten Spannungen entstehen können. Ohne im Detail darauf einzugehen, sollen diese Prinzipien in Anlehnung an Gunthard Weber546, welcher maßgebenden Anteil an der Entwicklung der systemischen Organisationsaufstellung hat, kurz angeführt werden: x

Jedes Mitglied einer Organisation hat das gleiche Recht auf Zugehörigkeit und muss daher entsprechend geachtet werden.

x

Zwischen der Organisation und ihren Mitgliedern muss ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Geben und Nehmen bestehen. Wenn diese Bilanz nicht ausgeglichen ist, kommt es zu Unzufriedenheit bzw. Schuldgefühlen bei den einzelnen Mitgliedern.

x

Unter gleichgestellten Mitgliedern haben jene Vorrang, die der Organisation länger angehören, weil sie ältere Rechte besitzen, welche von den später Dazugekommenen anerkannt werden müssen.

x

Die Organisationsleitung, die durch ihre Leistung für das Funktionieren der Organisation verantwortlich ist, hat Vorrang gegenüber allen anderen Funktionen.

x

Die Leistung jedes Mitgliedes muss anerkannt werden.

x

Wenn Mitarbeiter die Organisation verlassen, dann soll diese Trennung im Guten geschehen. Das heißt, dass es einen Grund, etwa persönliches Fehlverhalten oder unternehmerische Krisensituationen, geben muss, um eine Kündigung auszusprechen.

545 546

Vgl. Ulsamer (2001), S. 239 f. Vgl. http://www.hellinger.com (09.07.2004)

Systemische Elemente zur Integration x

Die Mitarbeiter müssen als Bestandteil eines aufgabenorientierten Systems ihre Aufgaben im Blick haben und damit die Ausrichtung auf den Kunden sicherstellen.

x

Sollte ein Stellvertreter trotz aller durchgeführten Veränderungen eine schwächende Energie verspüren, so können diese auf seine eigenen Muster und damit auf die entsprechende Herkunftsfamilie zurückgeführt werden.

x

Wenn Neues eingeführt werden soll, dann ist es wichtig, davor vom Alten würdig Abschied zu nehmen.

209

Zur systemischen Organisationsaufstellung sei noch erwähnt, dass selbige zwar aus der systemischen Familienaufstellung entstanden ist, jedoch keinesfalls mit dieser gleichgesetzt werden kann. Als elementarer Unterschied ist dazu anzuführen, dass die Zugehörigkeit zu einer Organisation aufgelöst werden kann, während jene zur Familie unauflöslich ist, was letztlich auch die maßgebende Hürde für die generelle Übertragbarkeit familientherapeutischer Erkenntnissen auf organisationsorientierte Praxisanwendung darstellt. Systemische Strukturaufstellungen Die bisherige Diskussion fokussierte sich auf die Aufstellung von Systemen, in denen der Klient als ein Systemelement vorkommt. Diese werden von Matthias Varga von Kibéd (geb. 1950) und Insa Sparrer (geb. 1955) als externe Systeme bezeichnet und dienen den beiden Deutschen als Aufsatzpunkt für die Entwicklung der systemischen Strukturaufstellung. Mit dieser dritten Form der systemischen Aufstellung wird es über den bis dato betrachteten Fokus hinaus nicht nur möglich, Objekte, die auf den Klienten wirken, aufzustellen, sondern ebenso innere Anteile des Klienten, wie etwa Gefühle, Symptome oder Werte. Diese innern Anteile bilden ein internes System, wobei der Klient selbst die Grenze zu den externen Systemen darstellt. Demnach führt die systemische Strukturaufstellung zu einer erweiterten Sichtweise und erlaubt neben den geschilderten Anwendungen noch umfangreichere Aufstellungen, auf die im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingegangen wird.547 In Anlehnung an Bert Hellinger wird abschließend noch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass jede Form von systemischen Aufstellungen eine sehr mächtige Technik darstellt und folglich mit großen Chancen, jedoch auch mit entsprechenden Risiken verbunden ist. Sie ist daher mit großer Wachsamkeit und Achtsamkeit sowie unter Berücksichtigung der vielfältig möglichen intersystemischen Wechsel-, Ausund Nebenwirkungen einzusetzen.548 Demzufolge ist es auch unumgänglich, dass systemische Berater eine entsprechende Persönlichkeitsentwicklung und langjährige 547 548

Vgl. Varga von Kibéd (2003), S. 39 ff., für nähere Ausführungen Vgl. http://www.hellinger.com (09.07.2004)

210

Systemische Elemente zur Integration

Erfahrung aufweisen, sodass verheerende Schäden im aufgestellten System nicht nur vermieden, sondern vor allem eine erfolgreiche Durchführung der systemischen Aufstellung sichergestellt werden kann. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass systemische Aufstellungen eine lösungsorientierte Interventionstechnik sind, mit der die in einem sozialen System bestehenden Probleme sowie vorhandenen Konflikte dreidimensional dargestellt werden können. Das aufgestellte System wird dabei so lange verändert, bis Ruhe eintritt und sich ein möglicher Lösungsansatz für das betrachtet Anliegen ergibt. Die tatsächliche Wirkung dieser systemischen Intervention, wird aber, so wie bei allen angewendeten Interventionstechniken, immer im System selber entschieden und ist nie durch den Berater von außen vorhersagbar.549

4.5 Schlussfolgerungen Angesichts der umfangreichen Ausführungen über systemische Elemente können nun die acht Kritikpunkte an der klassischen Beratung, wie sie im vorangegangenen Kapitel in den umfassenden Schlussfolgerungen (vgl. Kapitel 3.3) skizziert wurden, noch einmal aufgegriffen werden, um ein zusammenhängendes Set von konkreten Hypothesen für die empirische Untersuchung (vgl. Kapitel 5) zu formulieren. Dazu werden die in den vorherigen Unterkapiteln jeweils aufgegriffenen Kritikpunkte an der klassischen Beratung zu vier Aussagen zusammengefasst, die als das erste Teilset entwicklungsorientierter Hypothesen bezeichnet werden sowie die bestehenden Mängel klassischer Beratung verdichten. Diesen wird deren konkrete Verbesserung mittels systemischer Elemente gegenübergestellt, welche insgesamt als das zweite Teilset entwicklungsorientierter Hypothesen definiert werden, die wiederum die in den einzelnen Unterkapiteln diskutierten Elemente enthalten. Das resultierende Set an entwicklungsorientierten Hypothesen erlaubt so eine weiterführende Fokussierung auf konkrete Entwicklungspotenziale der klassischen Beratung und rundet dadurch die theoretische Grundlage für die empirische Untersuchung ab. Dieser einseitige Fokus, das sei hier noch einmal erwähnt, ist darin begründet, dass der Umsatz der klassischen Beratung ein Vielfaches dessen der systemischen Beratung beträgt, wie dies in der Abgrenzung des Themenfeldes (vgl. Kapitel 1.3) grundsätzlich skizziert und in den Ausführungen des Bezugsrahmens (vgl. Kapitel 4.1) detailliert eingebettet wurde. Ehe nun die vier Aussagen des ersten Teilsets entwicklungsorientierter Hypothesen formuliert werden können, soll zur besseren Orientierung kurz zusammengefasst werden, welche der acht Kritikpunkte an der klassischen Beratung letztlich der in den einzelnen Unterkapiteln erfolgten Auswahl systemischer Elemente jeweils zugrunde

549

Vgl. König/Volmer (2000), S. 134

Systemische Elemente zur Integration

211

liegen. Während die Basiskomponenten (vgl. Kapitel 4.2) die Kritikpunkte drei, vier, fünf und acht zu adressieren suchen, zielen einerseits die Diagnosedesigns (vgl. Kapitel 4.3.1) auf die Kritikpunkte eins, zwei, fünf und acht sowie andererseits die Konferenzdesigns (vgl. Kapitel 4.3.2) auf die Kritikpunkte zwei, drei und sechs. Die umfangreiche Gruppe systemischer Interventionstechniken (vgl. Kapitel 4.4) knüpft hingegen an die beiden Kritikpunkte vier und fünf an, womit insgesamt das folgende Set an entwicklungsorientierten Hypothesen formuliert werden kann.

Entwicklungsorientierte Hypothesen über … … die bestehenden Mängel in der klassischen Beratung und …

… deren konkrete Verbesserung mittels systemischer Elemente

1

Klassische Berater setzen sich unzureichend mit den emotionalen Aspekten der Änderungsbereitschaft des Klienten auseinander und berücksichtigen in den erarbeiteten Konzepten die Arbeitsweise des Klienten zu wenig.

Basiskomponenten: • Systemische Schleife • Beobachtung 2. Ordnung • Anschlussfähigkeit • Allparteilichkeit

2

Klassische Berater investieren zu wenig Zeit vor und zu Beginn des Beratungsprojektes, um das Anliegen des Klienten zu hinterfragen, die Sichtweise des Klienten zu verstehen und eine tragfähige Beziehung mit dem Klienten aufzubauen.

Diagnosedesigns: • Systemische Auftragsklärung • Systemische Problemanalyse • System-Umfeld-Analyse • Quellen Veränderungsenergie

3

Klassische Berater arbeiten fast ausschließlich mit dem TopManagement und beziehen damit den Großteil der zu beratenden Organisation zu wenig oder gar nicht ein.

Konferenzdesigns: • Zukunftskonferenz • Real Time Strategic Change • Open Space Technology • Zukunftsgipfel

4

Klassische Berater fokussieren sich in der Interaktion mit Klienten auf analytisch verwertbare Daten und Fakten und nehmen mit ihren Methoden die Möglichkeit andere wichtige Informationen zu erfassen kaum wahr.

Interventionstechniken: • Elementare Fragetechniken • Paradoxe Intervention • Systemische Aufstellungen • Künstlerische Intervention

Abbildung 4.6: Entwicklungsorientierte Hypothesen

Empirische Untersuchung

213

5 Empirische Untersuchung Die empirische Untersuchung stellt das Bindeglied dar zwischen dem theoretischen Teil der Arbeit, der sich mit den Idealtypen in der Vergangenheit auseinandersetzt, und dem praxisorientierten Teil, der auf die Realtypen in der Gegenwart sowie deren Entwicklung in Zukunft eingeht. Es handelt sich demnach um einen wesentlichen Bestandteil der Forschungsarbeit, weshalb in diesem Kapitel die maßgebenden Überlegungen, die zur Gestaltung und Durchführung der empirischen Untersuchung geführt haben, skizziert werden sollen. Die folgende Diskussion kann in vier Themenbereiche gliedert werden, die jeweils unterschiedlichen Fragestellungen nachgehen. Die Frage danach, was in der empirischen Untersuchung betrachtet werden soll, wird im ersten Unterkapitel, dem Untersuchungsinteresse (vgl. Kapitel 5.1), beantwortet. Hierauf beschäftigt sich das Untersuchungsdesign (vgl. Kapitel 5.2) damit, wie das empirische Datenmaterial theoretisch erschlossen werden kann, ehe die Untersuchungsdurchführung (vgl. Kapitel 5.3) darüber Auskunft gibt, wie diese Erschließung praktisch ausgestaltet ist. Schließlich fokussiert das vierte Unterkapitel auf die InterviewpartnerInnen550 (vgl. Kapitel 5.4) und beleuchtet, wer die ExpertInnen sind, von denen man relevante Informationen zum Untersuchungsbereich erhalten kann.

5.1 Untersuchungsinteresse Das Untersuchungsinteresse beantwortet die Frage danach, was in der empirischen Untersuchung betrachtet werden soll, entlang von drei aufeinander aufbauenden Blöcken. Den Ausgangspunkt bildet das Untersuchungsziel (vgl. Kapitel 5.1.1), das in einem bestimmten Untersuchungsbereich (vgl. Kapitel 5.1.2) erreicht werden soll, wozu wiederum gewisse Untersuchungshypothesen (vgl. Kapitel 5.1.3) aufgestellt werden. 5.1.1 Untersuchungsziel Um generell der übergeordneten Zielsetzung der Arbeit (vgl. Kapitel 1.2), nämlich der Entwicklung eines konkreten Gestaltungsmodells für Beratung in Zukunft, gerecht zu werden, muss es der primäre Anspruch der empirischen Untersuchung sein, jenes Datenmaterial zu beschaffen, welches die Beantwortung der wissenschaftlichen Fragestellungen erlaubt. Mit diesem konkreten Zielanspruch kann für die empirische Untersuchung ein vierstufiges, kaskadiertes Ziel formuliert werden:

550

Aus Gründen der leichteren Formulierbarkeit und besseren Lesbarkeit werden im Allgemeinen die maskulinen Formen verwendet. Die einzige Ausnahme von dieser Konvention bilden die Begriffe 'InterviewparnterInnen' und 'ExpertInnen', die bewusst gewählt wurden, um der Zusammensetzung des interviewten Personenkreises gerecht zu werden.

214

Empirische Untersuchung

x

Erstens soll festgestellt werden, wie die klassische sowie die systemische Beratung in der Gegenwart wahrgenommen werden.

x

Zweitens soll erhoben werden, wie sich die beiden Beratungsformen in Zukunft entwickeln können und was sie dabei voneinander lernen können.

x

Drittens sollen sowohl jene Voraussetzungen, die für ein erfolgreiches Gelingen des Lernprozesses erforderlich sind als auch jene Aspekte, die ein gegenseitiges Lernen behindern, identifiziert werden.

x

Viertens soll konkretisiert werden, welche systemischen Elemente sich für eine Integration in die klassische Beratung eignen würden.

Für diesen Vierschritt können einige zusätzliche Unterziele definiert werden: x

Verifizierung bzw. Falsifizierung551 erstens aller Untersuchungshypothesen (vgl. Kapitel 5.1.3) sowie zweitens jener Hypothesen, welche im Verlauf der Untersuchung neu aufgestellt werden.552

x

Erhebung der Vielzahl an für Beratung relevanten Aspekten zur möglichst breiten Erschließung des Themengebietes.

x

Aufbau eines tiefergehenden Verständnisses über höchst relevante, jedoch schwer erkennbare Zusammenhänge im Untersuchungsbereich.

x

Erkennen und Überprüfen von Ansatzpunkten für integrierte Beratung.

Die Aggregation der Erkenntnisse aus dem Erreichen der vorgestellten Ziele soll letztlich die Ausarbeitung eines Konzeptes zur Entwicklung von integrierter Beratung ermöglichen, das als Grundmodell zur Erhöhung der Erfolgswahrscheinlichkeit von Beratungsprojekten in Zukunft verstanden werden soll. Um dessen Qualität gezielt sicherzustellen, ist auch eine gewisse Form der Quantität entscheidend und zwar dahingehend, dass es die für Beratung relevanten Aspekte möglichst umfassend zu erheben gilt. Es ist jedoch nicht das Ziel dieser Untersuchung, die Vielzahl dieser Aspekte durch quantitative Werte zu hinterlegen. Abschließend wird explizit darauf hingewiesen, dass die empirische Untersuchung zwar im sozialwissenschaftlichen Kontext durchgeführt wird, jedoch nicht das Ziel verfolgt, bestimmte, im Handlungsfeld der Beratung auftretende Kommunikationsund Verhaltensmuster zu erklären. Wie eingangs bereits erwähnt, gilt es vielmehr das Datenmaterial für die Entwicklung des Konzeptes von integrierter Beratung zu erheben, wofür die soziale Dimension als einer von mehreren relevanten Aspekten 551

552

Nach Popper können Hypothesen nicht verifiziert, sondern ausschließlich falsifiziert werden. Trotzdem wird hier auf dieses Begriffspaar zurückgegriffen, um im Zusammenhang mit der empirischen Untersuchung zum Ausdruck zu bringen, dass die ExpertInnen eine Hypothese mehrheitlich bestätigen oder ablehnen. Die abduktive Logik in der qualitativen Forschung (vgl. Kapitel 5.2.1) erlaubt das Modifizieren und Erarbeiten von Hypothesen im Verlauf der empirischen Untersuchung

Empirische Untersuchung

215

im Handlungsfeld der Beratung betrachtet, aber letztlich nicht alleine ins Zentrum der empirischen Untersuchung gestellt wird. 5.1.2 Untersuchungsbereich Gegenstand der Untersuchung ist das Handlungsfeld der Beratung, wobei Beratung der in dieser Arbeit verwendeten Begriffsdefinition (vgl. Kapitel 2.1.1) genügen muss. Damit geht einher, dass aus diesem umfassenden Handlungsfeld für eine nähere Betrachtung zwei spezifische Beratungsformen, die klassische Beratung und die systemische Beratung sowie deren Beratungsleistungen ausgewählt und hinsichtlich der Untersuchungsziele (vgl. Kapitel 5.1.1) beleuchtet werden. Darüber hinaus wird der Untersuchungsbereich nach keinerlei weiteren Kriterien – Themenstellungen, Projektphasen, Beraterrollen, etc. – eingeschränkt. 5.1.3 Untersuchungshypothesen In den theoretischen Abhandlungen der ersten vier Kapitel der vorliegenden Arbeit wurden unterschiedliche Hypothesen formuliert, die insgesamt unter dem Begriff der Untersuchungshypothesen subsumiert werden können und generell drei Stufen mit unterschiedlichem Detaillierungsgrad darstellen. Erstens handelt es sich dabei um vier forschungsleitende Hypothesen, die die Ausgangsbasis der Arbeit definieren und in deren Hypothesen und Fragestellungen (vgl. Kapitel 1.4) formuliert sind. Darauf aufbauend wurden zweitens in den Schlussfolgerungen (vgl. Kapitel 2.3) des zweiten Kapitels sowie in den Schlussfolgerungen (vgl. Kapitel 3.3) des dritten Kapitels drei untersuchungsleitende Hypothesen erarbeitet, die erstens die forschungsleitenden Hypothesen weiter konkretisieren und somit zweitens die empirische Untersuchung zusätzlich fokussieren. Daran knüpfen schließlich die vier entwicklungsorientierten Hypothesen an, die in den Schlussfolgerungen (vgl. Kapitel 4.5) des vierten Kapitels aufgestellt wurden und den höchsten Konkretisierungsgrad erreichen, mit dem eine gezielte Vertiefung der empirischen Untersuchung in die bestehenden Mängel der klassischen Beratung ermöglicht wird.

5.2 Untersuchungsdesign Das Untersuchungsdesign sucht auf Basis des Untersuchungsinteresses (vgl. Kapitel 5.1) einen methodischen Zugangsweg zu finden, der den weiten inhaltlichen Fokus der vorliegenden Fragestellungen sowie Zielsetzungen gerecht wird und mit einem vertretbaren Aufwand abdeckt. Auf der Beantwortung nach der Frage, wie das erforderliche Datenmaterial theoretisch erschlossen werden kann, erfolgt zuerst die grundlegende Auseinandersetzung mit den beiden zur Verfügung stehenden Forschungsansätzen (vgl. Kapitel 5.2.1) – der qualitativen Forschung sowie der quantitativen Forschung. Auf dieser Grundsatzentscheidung aufbauend, wird dann das leitfadengestützte Experteninterview als konkrete Untersuchungsmethode (vgl.

216

Empirische Untersuchung

Kapitel 5.2.2) vorgestellt, ehe genauer auf den Aufbau und die Struktur des dafür erarbeiteten Interviewleitfadens (vgl. Kapitel 5.2.3) eingegangen wird. 5.2.1 Forschungsansatz Die erste Frage, die sich auf der Suche nach der für die vorliegende Problemstellung am besten geeigneten Untersuchungsmethode stellt, ist, ob der grundlegende Ansatz der quantitativen Forschung oder jener der qualitativen Forschung verfolgt werden soll.553 Da beide Forschungsansätze mit unterschiedlichen Vorteilen, jedoch auch mit gewissen Nachteilen einhergehen, bedarf es zuerst einer eingehenden Befassung mit dem Untersuchungsbereich in der Theorie (vgl. Kapitel 3, Kapitel 4) ehe eine fundierte Entscheidung in dieser Frage getroffen werden kann. Quantitative Forschung bezeichnet jenen Ansatz, der sich an der deduktiven Logik der naturwissenschaftlichen Forschung orientiert. Ebendiese Vorgehensweise setzt voraus, dass der Forscher vorab alle für die Forschungsmaterie relevanten Aspekte versteht, um einzelne Hypothesen oder eine gesamte Theorie aufzustellen, deren Überprüfung im Anschluss mittels Deduktion erfolgt. Es handelt sich also um eine Theorieevaluation anhand eines standardisierten Vorgehens, woraus sich auch die Kritik an den quantitativen Methoden ableiten lässt. Einerseits kommt der Forscher durch den deduktiven Zugang selten damit in Berührung, was es zu verstehen gilt, weshalb hinterfraget werden muss, welche Validität die formulierten Hypothesen und Theorien aufweisen. Andererseits gibt es kein Verfahren, dass die Generierung von Hypothesen sicherstellt, weshalb im Vorfeld von quantitativen Untersuchungen auch immer wieder qualitative Methoden zum Einsatz kommen. Obwohl diese Methoden von Vertretern der quantitativen Forschung kritisiert werden, wird eingeräumt, dass das Vorschalten von qualitativen Vorgehensweisen im Endeffekt drei Funktionen für die quantitative Forschung erfüllt. Erstens könne es durch qualitative Methoden zu überraschenden Einsichten im Untersuchungsbereich kommen. Zweitens erlauben sie die Konstruktion deskriptiver Systeme sowie systematischer Typologien. Drittens könnten dadurch auch erste Anhaltspunkte von statistischen Zusammenhängen zwischen relevanten Sachverhalten ermittelt werden.554 Qualitative Forschung zielt also auf das Erkennen inhaltlicher Zusammenhänge ab und kann durch die Verarbeitung verbaler, nicht numerischer Daten charakterisiert werden. Durch ebendiesen Ansatz ist es im Gegensatz zur quantitativen Forschung möglich, Hypothesen und Theorien empirisch begründet zu generieren. Es handelt sich daher um ein flexibles Vorgehen zur Theoriekonstruktion, wobei zwei Logiken –

553

554

Die folgenden Ausführungen sind über weite Teile eine Zusammenfassung der Diskussion in den Kapiteln 1, 2 und 15 von Kelle (1994), S. 11 ff., weshalb weitere Quellenangaben durch Fußnoten nur auf spezifische Hauptaussagen im Originaltext verweisen. Vgl. Kelle (1994), S. 41 ff.

Empirische Untersuchung

217

die Induktion und die Abduktion – angewendet werden können. Bei der Induktion beginnt der Forscher, ohne faktisch Vorkenntnisse über den Untersuchungsbereich zu besitzen, mit der Datensammlung und leitet danach einzelne Hypothesen oder eine Theorie aus den empirischen Erkenntnissen her. Dem entgegen besteht die Abduktion aus einem Dreischritt, in welchem das theoretische Vorwissen sowie das empirische Datenmaterial eine gleichermaßen bedeutsame Rolle einnehmen.555 Das im ersten Schritt vorhandene oder noch aufzubauende Wissen wird im zweiten Schritt der empirischen Untersuchung, die als Hilfsfunktion verstanden wird, durch Datenmaterial umfassend ergänzt, ehe im dritten Schritt schließlich die aus dem theoretischen Bereich und dem empirischen Bereich gewonnenen Erkenntnisse in der abduktiven Theoriebildung zusammengeführt werden. Die Reliabilität der durch eine dieser beiden Forschungslogiken generierten Hypothesen und Theorien wird, wie bereits erwähnt, von quantitativen Forschern aus zwei Gründen kritisiert. Zum einen besteht der Vorwurf, dass die in qualitativen Studien gezogenen Stichproben zu klein für eine zuverlässige Verallgemeinerung sind, und zum anderen wird die Zuverlässigkeit der Resultate wegen der subjektiven Interpretation durch den Forscher angezweifelt.556 In Hinblick auf die Entscheidung für einen Forschungsansatz lässt sich folglich rekapitulieren, dass quantitative Methoden eine Theorieevaluation erlauben, während qualitative Methoden eine Theoriekonstruktion ermöglichen. Als Konsequenz dieses Sachverhalts ergeben sich folglich auch unterschiedliche Kritikpunkte an den beiden Forschungsansätzen. So wird quantitativen Verfahren eine mangelnde Relevanz und damit unzureichende Inhaltsvalidität vorgeworfen, während qualitative Methoden wegen ihrer beschränkten Reliabilität angegriffen werden.557 Die Reflexion dieser Aspekte auf die betrachtete Problemstellung führt zu der Einsicht, dass weder die erklärte Zielsetzung der Arbeit, ein Konzept zur Entwicklung integrierter Beratung – also ein theoretisches Modell – zu gestalten, noch das dafür notwendige umfassende Erschließen des breiten Untersuchungsbereiches (vgl. Kapitel 5.1.2) mit einem standardisierten quantitativen Vorgehen sichergestellt werden können. Letztlich geht es in dieser empirischen Untersuchung nicht um die Auswertung von numerischen Daten, sondern vielmehr darum, Inhalte und Zusammenhänge zu erfassen und zu verstehen. Deshalb stützt sich die vorliegende Arbeit auf den Ansatz der qualitativen Forschung, wobei die damit verbundenen Nachteile akzeptiert werden. Die Entscheidung für die qualitative Forschung erlaubt nun die Wahl zwischen dem induktiven Vorgehen einerseits sowie dem abduktiven Vorgehen andererseits. Unter

555 556 557

Vgl. Kelle (1994), S. 21 Vgl. Kelle (1994), S. 35 f. Vgl. Kelle (1994), S. 54

218

Empirische Untersuchung

Bezug auf das Untersuchungsinteresse (vgl. Kapitel 5.1) wird das Abduktionskonzept aus zwei Gründen vorgezogen. x

Eine abduktive Forschungslogik ermöglicht das Zusammenführen der Erkenntnisse aus theoretischem Vorwissen und empirischer Untersuchung, wodurch der Forschende sein eigenes Wissen durch das Formulieren von Hypothesen einfließen lassen kann. Dabei gilt es jedoch darauf zu achten, dass keinerlei relevanten Aspekte des Untersuchungsbereiches überblendet werden.558

x

Die Abduktionslogik erlaubt weiters nicht nur das anfängliche Aufstellen von Hypothesen, sondern auch das Modifizieren und Ergänzen derselben im Laufe der Untersuchung.559 Diese Vorgehensweise weist demnach eine hohe Flexibilität auf, wodurch nicht nur das ständige Einbringen von neuen Hypothesen und Perspektiven gestattet, sondern auch eine kontinuierliche Theoriekonstruktion – entlang eines Sets von methodologischen Regeln – ermöglicht wird.560

Den beiden Vorteilen stehen, wie zuvor angedeutet, zwei Nachteile gegenüber, die grundsätzlich akzeptiert werden, denen jedoch im Rahmen der mit vertretbarem Aufwand möglichen Handlungsschritte entgegnet werden soll. x

558 559 560 561

562

Die niedrige Stichprobenzahl von qualitativen Studien erlaubt grundsätzlich keine allgemeine Validität der auf dieser Weise erarbeiteten Theorie. Es lassen sich lediglich empirisch begründete Hypothesen aufstellen, welche letztlich zu einer Theorie mittlerer Reichweite führen. Um diese Reichweite möglichst zu maximieren, werden in der empirischen Untersuchung zwei Stoßrichtungen verfolgt. Erstens soll durch die Gesamtzahl von insgesamt 70 Interviews561 das Erreichen der theoretischen Sättigung562 sichergestellt werden. Zweitens werden die abduktiv hergeleiteten Ergebnisse nicht nur mit einzelnen InterviewpartnerInnen, sondern auch mit weiteren ExpertInnen reflektiert und bei Bedarf modifiziert.

Vgl. Kelle (1994), S. 357 Vgl. Kelle (1994), S. 25 Vgl. Kelle (1994), S. 358 ff. Die Gesamtzahl von 70 Interviews liegt deutlich über der Untergrenze von 30 Stichproben, die in der quantitativen Forschung für die Ableitung valider Aussagen gefordert wird. Ab einer Anzahl von mindestens 30 Stichproben kann nach Diekmann (2004), S. 348, die Binomialverteilung gut durch die Normalverteilung angenähert werden und lässt damit statistisch valide Aussagen zu. Nach Kelle (1994), S. 368, ist die theoretische Sättigung ein forschungspragmatisches Abbruchkriterium für die Datenanalyse, das eintritt, wenn es dem Forschenden nicht mehr sinnvoll erscheint, weiteres Material zu sammeln, weil eine ganze Reihe von untersuchten Fällen keine Modifikationen mehr notwendig gemacht hat.

Empirische Untersuchung x

219

Durch die subjektive Wahrnehmung des Forschers werden aber auch die Reliabilität sowie die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse beeinträchtigt. Im Rahmen der Datenerhebung gilt es daher, sich der empirischen Realität möglichst unvoreingenommen zu nähern, was durch das Stellen von offenen Fragen gut gefördert wird. Für die anschließende Datenauswertung werden dann noch unter der Prämisse, dass primär inhaltliche Aspekte563 erhoben werden sollen, eindeutige Kategorien definiert, welche zusammen mit den digitalen Tonaufzeichnungen die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse im Rahmen des Möglichen sicherstellen sollen.

Es lässt sich zusammenfassen, dass sich das Abduktionskonzept der qualitativen Forschung durch seine Flexibilität am besten eignet, den breiten inhaltlichen Fokus der vorliegenden Problemstellung zu behandeln, wobei jedoch einzuräumen ist, dass dieses Vorgehen nicht zu gesichertem Wissen führt, sondern nur einen Akt extrem fehlbarer Einsicht darstellt.564 5.2.2 Untersuchungsmethode Wie in der einleitenden Diskussion um die Vorgehensweise der Arbeit (vgl. Kapitel 1.5) bereits angedeutet wurde, stellt die Untersuchungsmethode das entscheidende Bindeglied zwischen Ausgangssituation (vgl. Kapitel 1.1) und Zielsetzung der Arbeit (vgl. Kapitel 1.2) dar. Da in der qualitativen Forschung eine Reihe von Methoden565 zur Verfügung stehen, bedarf es vor dem Hintergrund des Abduktionskonzeptes (vgl. Kapitel 5.2.1) zuerst einer eingehenden Befassung mit dem Untersuchungsbereich in der Theorie (vgl. Kapitel 3, Kapitel 4), ehe die Wahl für eine geeignete Methode getroffen werden kann. In Anbetracht des weitgefassten Fokus der vorliegenden Problemstellung, wird für die Durchführung der empirischen Untersuchung zweckdienlich die grundlegende Form der Befragung gewählt. Deren verschiedene Typen können nach mehreren Merkmalen klassifiziert werden, wofür sich folgende Kriterien566 heranziehen lassen: x

Gesprächspartnerzahl – Einzelinterviews, Gruppeninterviews

x

Kommunikationsart – persönlich, telefonisch bzw. schriftlich kommunizieren

563

564

565 566

Wie eingangs erwähnt, findet die Untersuchung zwar im sozialwissenschaftlichen Kontext statt, wobei primär inhaltliche Aspekte im Handlungsfeld der Beratung interessieren und der Mehrwert aus der Analyse von Verhaltens- und Kommunikationsmustern als minimal betrachtet wird. Genauere Ausführung dazu finden sich im Kapitel über die Datenauswertung (vgl. Kapitel 5.3.3) Vgl. Kelle (1994), S. 356, wozu es zu ergänzen gilt, dass ein quantitativer Forschungsansatz auch nicht zu gesichertem Wissen führt, da ja nach Popper alle Hypothesen – egal welcher Forschungsansatz und welche Untersuchungsmethode gewählt wird – nie verifiziert, sondern stets nur falsifiziert werden können. Vgl. Schnell/Hill/Esser (1995), S. 214 ff., Experiment, Panel, bzw. S. 297 ff., Befragung, etc. Vgl. Schnell/Hill/Esser (1995), S. 299 ff.

220

Empirische Untersuchung

x

Strukturierungsgrad – nicht, wenig, teilweise bzw. stark strukturiert

x

Standardisierungsgrad – nicht, teilweise bzw. voll standardisiert

Entlang dieser Kriterien wird für die zu wählende Untersuchungsmethode ein Fokus gesetzt, der zwei Absichten verfolgt. Zum einen sollen primär Einzelinterviews in persönlicher Form durchgeführt werden, wodurch nicht nur die Basis für intensive, in die Tiefe gehende Gespräche mit einzelnen Personen gelegt wird, sondern auch voneinander unabhängige Antworten der jeweiligen InterviewpartnerInnen erhalten werden können. Zum anderen wird die Befragung teilweise strukturiert sowie mit einzelnen standardisierten Elementen versehen, um die durch die Anwendung der abduktiven Logik sichergestellte Flexibilität auch optimal nutzen zu können, jedoch trotzdem eine generelle Vergleichbarkeit in vordefinierten Kategorien (vgl. Kapitel 5.2.3) zu gewährleisten. Um all den diskutierten Anforderungen gerecht zu werden, bietet es sich letztlich an, die beiden qualitativen Methoden des Leitfadeninterviews sowie die des Experteninterviews zu kombinieren und dann als leitfadengestütztes Experteninterview anzuwenden. Das Leitfadeninterview ist dadurch gekennzeichnet, dass der Interviewer durch vorab weitestgehend offen formulierte Fragen, die Vollständigkeit der forschungsrelevanten Themen567 in das Interview einbringen kann. Diese offene Formulierung der Fragen ist vor allem deshalb von grundlegender Bedeutung, weil die befragten Personen so unbeeinflusst wie möglich antworten können sollen, um dadurch deren individuelle Wahrnehmungen in den Mittelpunkt des Gespräches zu rücken. Darüber hinaus bietet der durch die aufeinander aufbauenden Fragen entstehende Leitfaden dem Interviewer nicht nur eine grundlegende Struktur (vgl. Kapitel 5.2.3), entlang derer sich das Gespräch entwickeln und später auch ausgewertet werden kann, sondern erlaubt auch jene Flexibilität, die in einzelnen Situationen ein gezieltes Nachfragen, ein mögliches Abweichen von der Fragenfolge oder überhaupt von der Thematik gestattet. Dadurch soll letztlich sichergestellt werden, dass das breite Themengebiet in seinen unterschiedlichen Dimensionen aus praxisrelevanten Perspektiven besser erschlossen werden kann als bei standardisierten Interviews, in denen restriktive Vorgaben den Weg zur Sicht des Subjekts eher verstellen als eröffnen.568 Experteninterviews werden in der qualitativen Forschung insbesondere dazu genutzt, ein spezifisches, hoch konzentriertes Wissen von ausgewählten Personen zu einem bestimmten Untersuchungsbereich abzufragen. Diese Form der Interviews, welche sowohl als narrative Interviews als auch als leitfadengestützte Interviews angelegt werden können, verwenden in der Regel offene Fragen und stellen eine effiziente Methode dar, kurzfristig dichte Informationen zu wissenschaftlichen Fragestellungen 567 568

Vgl. Schnell/Hill/Esser (1995) , S. 352 f. Vgl. Flick (1995), S. 112

Empirische Untersuchung

221

zusammenzutragen.569 Zur Durchführung dieser Experteninterviews ist festzuhalten, dass die interviewten Personen nicht als Einzelfall, sondern als Repräsentant einer bestimmten Gruppe in die empirische Untersuchung einbezogen werden. Demnach interessiert den Interviewer nun weniger die Persönlichkeit des Befragten, sondern vielmehr dessen Eigenschaft als Experte für ein bestimmtes Handlungsfeld.570 Diese Eigenschaft wird einem potenziellen Gesprächspartner letztlich dann zugeschrieben, wenn begründeterweise angenommen werden kann, dass er spezielles Wissen im Untersuchungsbereich aufweist, das in dieser Konzentration und Zusammensetzung oftmals an keiner bzw. sehr wenigen anderen Stellen vorhanden ist.571 Dabei ist – vor allem in Zusammenhang mit der durchgeführten empirischen Untersuchung – hervorzuheben, dass die befragten ExpertInnen nicht von außen Stellung zum Untersuchungsbereich nehmen, sondern selbst einen Teil des Handlungsfeldes des untersuchten Bereichs darstellen.572 Die Kombination der beiden Methoden, das leitfadengestützte Experteninterview, bietet dem Interviewer also die Möglichkeit sehr gezielt, aber doch offen spezifisches Expertenwissen abzufragen und dabei während des Interviews äußerst flexibel auf die jeweils befragte Person sowie deren Erfahrungshintergrund einzugehen. Über ebendiese spezifischen Erfahrungen eröffnen die ExpertInnen dem Interviewer eine Problemsicht auf implizite Regeln und Zusammenhänge im Untersuchungsbereich, wodurch eine qualitative Erkenntnismöglichkeit entsteht, mit der aus der Summe aller Interviews ein weites Themenfeld abgedeckt werden kann. Gleichzeitig können mit dieser Methode auch thematische Schwerpunkte gesetzt und gegenstandsbezogene Hypothesen getestet werden, ohne jedoch in standardisierter Manier lediglich vorab konzeptualisiertes Wissen zu überprüfen.573 Vielmehr erlaubt es das qualitative Experteninterview durch das gezielte Offenlegen von theoretischem Vorwissen und konzeptionellen Überlegungen die im Laufe der einzelnen Interviews neu gewonnene Erkenntnisse kontinuierlich in die empirische Untersuchung einfließen zu lassen und weiterzuentwickeln. Durch diese Vorgehensweise wird letztendlich ein kumulativer Erkenntnisgewinn im Untersuchungsbereich sichergestellt, wodurch eine Erweiterung und Vertiefung des aus der theoretischen Diskussion aufgebauten Verständnisses gewährleistet wird. Damit wird die Funktion erfüllt, jene Materialien zu beschaffen574, die die Beantwortung der einzelnen wissenschaftlichen Fragestellungen (vgl. Kapitel 1.4) erlauben, wobei es zur erfolgreichen Gestaltung von diesem Prozess jedoch

569 570 571 572 573 574

Vgl. Stackelbeck (2000), S. 36 Vgl. Flick (1995), S. 109 Vgl. Stackelbeck (2000), S. 41 Vgl. Meuser/Nagel (1991), S. 443 Vgl. Liebold/Trinczek (2002), S. 42 Vgl. Froschauer/Lueger (2003), S. 17

222

Empirische Untersuchung

nötig ist, sich nicht nur der geschilderten Vorteile, sondern auch der vorhandenen Nachteile dieser Methode bewusst zu sein. Ein grundlegender Nachteil des leitfadengestützten Experteninterviews besteht darin, dass mit der Organisation und Durchführung desselben ein erheblicher Zeitaufwand verbunden ist. Darüber hinaus ist der Interviewer mit vier großen Herausforderungen konfrontiert, um ein Gespräch und dessen nachgelagerte Interpretation erfolgreich zu gestalten. Erstens ist das Gespräch eine kontinuierliche Gratwanderung zwischen Strukturierung und Offenheit, für dessen Durchführung der Interviewer eine hohe soziale Kompetenz benötigt.575 Ebendiese ist wichtig, um trotz leitfadengestützter Interviewführung einen offenen Ablauf des Gespräches zuzulassen, wodurch erst die Relevanzsetzungen der interviewten Personen diskursiv entfaltet werden können. Zweitens muss die jeweils befragte Person den Interviewer aufgrund seiner fachlichen Kompetenz akzeptieren, sodass letzterer Kenntnisse im Handlungsfeld besitzen muss. Gleichzeitig birgt die Präsentation von Detailkenntnissen seitens des Interviewers jedoch die Gefahr in sich, ein so genanntes 'Expertenduell' zu inszenieren, wodurch der eigentliche Erkenntnisgewinn verloren gehen würde.576 Drittens muss sich der Interviewer bewusst sein, dass die aus einem Interview gewonnnen Erkenntnisse durch die Erfahrungen, Perspektiven, Sinngebungen und Relevanzstrukturen der jeweils befragten Personen geprägt sind und es daher kein exklusives, von der Person trennbares Wissen gibt. Daraus lässt sich vor allem in Hinblick auf die Datenauswertung auch erkennen, dass diese Methode viertens die Gefahr in sich birgt, dass unbewusste Manipulationen durch den Interviewer erfolgen und die Aussagen einzelner ExpertInnen überbewertet werden. Mit dem Wissen um die dargelegten Stärken und Schwächen des leitfadengestützten Experteninterviews können zum einen gezielte, im Rahmen des Forschungsansatzes (vgl. Kapitel 5.2.1) bereits diskutierte Vorkehrungen getroffen werden sowie zum anderen die gewonnenen Aussagen bei der Datenauswertung (vgl. Kapitel 5.3.3) besser interpretiert werden. Für die vorliegende Untersuchung werden jedenfalls die Vorteile der Methode genutzt und die daraus entstehenden Nachteile akzeptiert. Für die gewählte Untersuchungsmethode wird resümiert, dass das leitfadengestützte Experteninterview immer dann eine gute methodische Herangehensweise an einen Untersuchungsbereich darstellt, wenn das Untersuchungsziel darauf fokussiert ist, komplexe Wissensbestände zu rekonstruieren, dabei vorab formulierte Hypothesen abzutesten und dadurch neue Einblicke zu gewinnen. Somit besteht eine gute Anwendbarkeit dieser Untersuchungsmethode in Kombination mit dem Vorgehen der abduktiven Logik. Die Gründe dafür sind, dass es dem Interviewer möglich ist, sich 575 576

Vgl. Liebold/Trinczek (2002), S. 42 ff. Vgl. Liebold/Trinczek (2002), S. 68

Empirische Untersuchung

223

erstens mittels geeigneter theoretischer Quellen vorzubilden, um so als kompetenter Gesprächspartner auftreten zu können,577 er sich zweitens aber trotzdem objektiv dem Untersuchungsbereich nähern kann,578 um den qualitativen Erkenntnisgewinn dadurch sicherzustellen. Um das zu erreichen werden offene Fragen gestellt, die der befragten Person keine festen Antworten vorgeben, sondern diese eher dazu bringen soll anzuzeigen, was für sie in welcher Weise relevant ist. 5.2.3 Interviewstruktur Auf Basis des theoretischen Vorwissens (vgl. Kapitel 3, Kapitel 4) und unter Berücksichtigung des Untersuchungsinteresses (vgl. Kapitel 5.1) ist es nun möglich den Interviewleitfaden als Endprodukt des Untersuchungsdesigns zu konzipieren. Durch seine physische Ausgestaltung führt dieser die theoretischen Grundlagen des Abduktionskonzeptes sowie jene des leitfadengestützten Experteninterviews zusammen und legt damit die Basis für den praktischen Teil der Forschungsarbeit, nämlich die Untersuchungsdurchführung (vgl. Kapitel 5.3). Da die empirische Untersuchung durch die zahlreichen Gespräche mit den einzelnen ExpertInnen das primäre Ziel verfolgt, das breite Untersuchungsfeld umfassend zu erschließen, besteht die Anforderung an den Interviewer, für dieses Expertenwissen offen zu sein. Diese Offenheit ist unumgänglich, steht aber gleichzeitig in Konflikt mit dem theoretischen Vorwissen, welches der Forschende über die a priori generierten Hypothesen in das Interview mit einbringt. Das daraus entstehende Dilemma gilt es in der Gestaltung des Interviewleitfadens zu berücksichtigen und weitestgehend zu überwinden, wofür zwei Strategien zur Verfügung stehen. Es handelt sich dabei einerseits um den heuristischen Rahmen, der der Theoriekonstruktion dahingehend dient, dass er das notwendige theoretische Vorwissen in Form zentraler Konzepte und leitender Annahmen vorlegt. Selbige bilden ein formales Skelett, das mit dem empirischen Datenmaterial gefüllt werden kann, und entlang dessen es möglich ist, die Theorie zu entwickeln sowie auszuformulieren.579 Demgegenüber gibt es andererseits die analytische Induktion, welche theoretische Vorannahmen mittlerer Reichweite an den Untersuchungsbereich heranträgt. Dieselben besitzen aber eine wesentlich höhere Erklärungskraft als heuristische Konzepte und ermöglichen dem Forscher eine gezielte Suche nach Gegenbeispielen, die die empirisch begründete Modifikation der Hypothesen ermöglichen. Das empirische Datenmaterial gestattet folglich sowohl das Zurückweisen der theoretischen Vorannahmen als auch die Formulierung neuer Hypothesen.580 Aus der Charakterisierung von diesen beiden

577 578 579 580

Vgl. Meuser/Nagel (1991), S. 448 f. Vgl. Lamnek (1995), S. 60 Vgl. Kelle (1994), S. 358 f. Vgl. Kelle (1994), S. 359 f.

224

Empirische Untersuchung

Strategien lässt sich nun ableiten, dass es – in Anbetracht der sehr konkret und gehaltvoll formulierten Untersuchungshypothesen (vgl. Kapitel 5.1.3) – nahe liegt, in der vorliegenden Arbeit die analytische Induktion anzuwenden. Ehe vor diesem Hintergrund der Interviewleitfaden sinnvoll strukturiert und konkret ausgestaltet werden kann, gilt es noch jene Kategorien zu entwickeln, die man zur Konstruktion des theoretischen Konzeptes benötigt und folglich mit den einzelnen Interviews abdecken möchte. Diese sollten mit dem Anspruch gebildet werden, dass sie die nach den Interviews erfolgende Datenauswertung unterstützen, und so das empirische Datenmaterial ohne Mehraufwand auf möglichst direktem Weg in das Endprodukt überführt werden kann. Mit diesem Anspruch wurden für die empirische Untersuchung letztendlich 13 Kategorien konzipiert, die in drei übergeordnete Blöcke zusammengefasst werden können und sich wie folgt charakterisieren sowie in die einzelnen Leitfragen des Interviewleitfadens (vgl. Anhang) übersetzen lassen. Der erste Block umfasst Kategorien für alle Aussagen, welche die Reflexion über die Beratungsformen (vgl. Kapitel 6) in der Gegenwart erlauben: x

Grundlegende Charakteristika sind jene Eigenschaften, die auf die Frage nach einer generellen Beschreibung der beiden Beratungsformen genannt werden (vgl. Leitfrage 2)

x

Bestehende Beratungsparadigmen fassen jene Anmerkungen zusammen, welche bei der Vorstellung der Differenzierungslogik für Beratungsformen (vgl. Kapitel 2.2) zum mechanistischen Beratungsparadigma oder aber zum systemischen Beratungsparadigma geäußert werden (vgl. Leitfrage 2)

x

Wahrgenommene Bilder enthält Zitate, die die graphische Positionierung der beiden Beratungsformen näher beschreiben (vgl. Leitfrage 2)

x

Vorhandene Umsetzungserfolge sind alle Assoziationen zur grundlegenden Umsetzung der beiden Beratungsformen sowie dem damit verbundenen Erfolg (vgl. Leitfrage 3)

x

Spezifische Charakteristika beschreiben einen der beiden Realtypen, durch vorteilhafte, situationsspezifische oder auch nachteilige Eigenschaften und ergeben somit ein Stärken-Schwächen-Profil (vgl. Leitfrage 4)

x

Evolutionäre Trends spiegeln die Veränderungen vom Idealtyp zum Realtyp der jeweiligen Beratungsform wider (vgl. Leitfrage 5)

x

Geeignete Themenstellungen zeigen auf, welche Aufgaben mit einer spezifischen Beratungsform adressiert werden können (vgl. Leitfrage 6)

Der zweite Block fokussiert dann auf die Perspektiven für die Beratungsformen (vgl. Leitfrage 7) Richtung Zukunft und stellt die entsprechenden Kategorien dafür zur Verfügung:

Empirische Untersuchung x

Wahrgenommene Entwicklungspotenziale erfassen alle Möglichkeiten, die die klassische Beratung oder die systemische Beratung haben, um generell oder voneinander zu lernen (vgl. Leitfrage 5)

x

Entwicklungsorientierte Hypothesen (vgl. Kapitel 5.1.3) beleuchten einige herausgearbeitete Entwicklungspotenziale der klassischen Beratung mittels systemischer Elemente (vgl. Leitfrage 5)

x

Mögliche Realisierungsoptionen zeigen auf, wie Entwicklungspotenziale von den beiden Beratungsformen verwirklicht werden können (vgl. Leitfrage 6)

x

Spannungserzeugende Charakteristika fassen alle Aspekte zusammen, die ein voneinander Lernen behindern (vgl. Leitfrage 7)

x

Gefordertes Beraterprofil zeigt auf, welche Eigenschaften ein Berater idealer Weise haben sollte, um erfolgreiche Arbeit zu leisten (vgl. Leitfrage 8)

225

Der dritte und letzte Block bildet letztlich Auffangbecken für jene Aussagen, die aus den Interviews hervorgehen, aber vorab für die Erreichung des Untersuchungsziels von zu geringer Relevanz scheinen, um mehrere eigene Kategorie zu rechtfertigen. x

Generelle Aussagen: Hier werden jene Aussagen zusammengefasst, die keiner der diskutierten Kategorien zugeordnet werden können, denen jedoch für die Konstruktion der Theorie eine gewissen Relevanz zugetraut wird, sodass sie nicht verworfen werden sollen (vgl. Leitfrage 1 bis 8).

Abschließend ist zur Struktur und Abfolge des Interviewleitfadens anzumerken, dass die größtenteils offenen und ungestützten Fragen derart aufeinander aufgebaut sind, dass sie eine gezielte Dramaturgie ergeben. Diese wurde durch Reflexionsschleifen mit verschiedenen interviewerfahrenen und beratungserfahrenen Kollegen entwickelt sowie getestet und soll zwei Aspekte sicherstellen. Während die interviewte Person dadurch zum einen so unbeeinflusst wie möglich zu den einzelnen Aspekten des Problemfeldes hingeführt wird und zu diesen Stellung beziehen kann, soll dieser zum anderen auch die Möglichkeit eingeräumt werden, durch die eigenen Antworten Erkenntniseffekte für sich selber zu erzielen.

5.3 Untersuchungsdurchführung Nachdem mit der Konzeption des Untersuchungsdesigns (vgl. Kapitel 5.2) der theoretische Teil zur Vorbereitung der empirischen Untersuchung abgeschlossen ist, kann die praktische Durchführung beginnen. Dabei gilt es unterschiedliche Schritte zu bedenken, die teilweise sequentiell, teilweise aber auch parallel verlaufen. Zuerst müssen sämtliche Rahmenbedingungen für den reibungslosen Ablauf der gesamten Untersuchung mittels der Durchführungsvorbereitung (vgl. Kapitel 5.3.1) geschaffen werde, ehe die Interviewdurchführung (vgl. Kapitel 5.3.2) tatsächlich beginnen kann. Parallel dazu kann nach den ersten Gesprächen die strukturierte Materialerfassung

226

Empirische Untersuchung

in Angriff genommen werden, welche die Voraussetzung zur Datenauswertung (vgl. Kapitel 5.3.3) schafft. Selbige erlaubt schließlich die Ableitung eines theoretischen Gestaltungsmodells für integrierte Beratung, welches über die Ergebnisreflexion (vgl. Kapitel 5.3.4) mit unterschiedlichen ExpertInnen auf Validität geprüft und bei Bedarf modifiziert wird. 5.3.1 Durchführungsvorbereitung Zuerst müssen jene Personen identifiziert werden, von denen angenommen werden kann, dass sie aufgrund ihres Berufes über jenes Expertenwissen verfügen, das sie als potenzielle InterviewpartnerInnen (vgl. Kapitel 5.4) infrage kommen lässt. Dazu wurde zunächst eine in Anbetracht des Untersuchungsbereiches fachgerechte Unterteilung des Expertenfeldes in drei Gruppen getroffen, für die jeweils spezifische Auswahlkriterien definiert wurden. x

Da Beratung nur erfolgen kann, wenn sie von Klienten nachgefragt wird, bilden beauftragende Führungskräfte aus diversen Unternehmen die erste Gruppe an potenziellen InterviewpartnerInnen. Selbige umfasst Vorstände, Bereichsleiter und Abteilungsleiter, die dann als ExpertInnen gelten, wenn sie – nach Möglichkeit intensive – Erfahrungen mit klassischer Beratung und systemischer Beratung aufweisen.

x

Die zweite Gruppe wird durch klassische Berater verkörpert, die dann als ExpertInnen in diesem Bereich gelten, wenn sie einerseits der in dieser Arbeit verwendeten Definition von klassischer Beratung (vgl. Kapitel 2.1.1.1) entsprechen und andererseits Expertise im Bereich Organisation und/oder Strategie aufweisen.581 Innerhalb dieser Gruppe wird zusätzlich noch eine Unterscheidung nach der Dauer der Beratungserfahrung eingeführt, um die Wahrnehmungen von 'Junior-Beratern' und 'Senior-Beratern' auf Differenzen hin überprüfen zu können.582

x

Als dritte Gruppe an ExpertInnen werden systemische Berater definiert, die zum einen die Definition von systemischer Beratung (vgl. Kapitel 2.1.1.1) erfüllen sowie zum anderen mehrere Jahre intensive Praxiserfahrung in diesem Bereich aufweisen. Dabei werden die Begründer der Wiener Schule der systemischen Beratung sowie die davon abstammenden Berater von Beratern, Coaches und Organisationsentwickler mit systemischer Prägung unterschieden.

581

582

Diese Einschränkung wurde deshalb getroffen, weil in diesen beiden Bereichen systemische Aspekte zum Tragen kommen und daher angenommen wird, dass klassische Berater mit diesem Hintergrund am meisten zu den wissenschaftlichen Fragestellungen der Arbeit beitragen können. Die Grenze zwischen 'Junior-Beratern' und 'Senior-Beratern' wird mit fünf Jahren Beratungserfahrung angenommen

Empirische Untersuchung

227

Um diese ExpertInnen nun zu identifizieren wurde primär auf persönliche Kontakte, Referenzen und Netzwerke zurückgegriffen. Nur in sehr wenigen Fällen wurden zur Identifikation allgemein zugängliche Informationen über einerseits fachspezifische Publikationen sowie andererseits berufliche Tätigkeitsbereiche genutzt. Zusätzlich ergaben sich im Laufe der Untersuchung aus mehreren Interviews noch Namen und Kontaktdaten von weiteren ExpertInnen, sodass die Grundgesamtheit potenzieller InterviewpartnerInnen schlussendlich fast 100 Personen zählte. Zum Kreis dieser ExpertInnen wurde der Erstkontakt im Regelfall über ein persönlich adressiertes Anschreiben, das via Mail versendet wurde und sowohl Informationen über die wissenschaftliche Forschungsarbeit als auch Vorbereitungsunterlagen für eine mögliches Interview enthielt, hergestellt.583 Während bei positiver Rückmeldung innerhalb von einigen Arbeitstagen ein Zweitkontakt per Telefon erfolgte, wurde bei ausbleibender Rückmeldung ebenfalls ein Telefonat geführt, um erstens den Erhalt der Interviewanfrage sicherzustellen sowie zweitens das Interesse zur Unterstützung des Forschungsvorhabens zu erkunden. Bei der prinzipiellen Bereitschaft zu einem Interview erfolgte in diesen Telefonat zumeist auch gleich die Vereinbarung eines Gesprächstermins, wobei, wann immer dies möglich war, ein persönliches Treffen in ruhiger und angenehmer Umgebung angestrebt wurde. Je nach zeitlicher und örtlicher Verfügbarkeit der einzelnen InterviewpartnerInnen wurden dafür eine Dauer zwischen ein und zwei Stunden584 sowie ein geeigneter Ort festgelegt. Dabei wurde, um einerseits den zeitlichen Aufwand für die interviewte Person weitestgehend gering zu halten und für diese andererseits eine möglichst vertraute Umgebung sicherzustellen, vorzugsweise das Büro der interviewten Person gewählt. So dies nicht möglich war, wurden Gespräche auch im Büro des Interviewers oder aber in entsprechenden Lokalen angesetzt. Ließ sich trotz intensiver Bemühungen kein persönliches Gespräch realisieren, dann wurde, unter Inkaufnahme der damit verbundenen Einschränkungen, auf die Durchführung per Telefon zurückgegriffen. Die empirische Untersuchung sollte ursprünglich, um eine hinreichende Quantität, Qualität aber auch Validität des Datenmaterials sicherzustellen, etwa 30 Interviews umfassen. Unter der Grundannahme einer 30-prozentigen Zusagenquote585 wurden daher alle der fast 100 identifizierten ExpertInnen kontaktiert und um ein Interview gebeten. Aufgrund der unerwartet hohen Zusagenquote ergaben sich mit insgesamt

583

584

585

Die vorliegenden Ausführungen beschreiben ausschließlich den Regelfall, von dem nur in begründeten Ausnahmefällen, auf die nicht näher eingegangen wird, abgewichen wurde. Um das breite Themenfeld sinn- und gehaltvoll diskutieren zu können, war durchschnittlich eine Zeitdauer von etwa eineinhalb Stunden notwendig. Dieser Wert, der in etwa der unteren Grenze einer durchschnittlichen Rücklaufquote bei schriftlichen Befragungen entspricht, wurde als realistisch angenommen, da die Positionen der einzelnen ExpertInnen mit einer zeitlich hohen Arbeitsbelastung einhergehen und daher wenig Spielraum für die Unterstützung von forschungsrelevanten Themen offenlassen.

228

Empirische Untersuchung

70 Interviewterminen letztlich mehr als doppelt so viele Gespräche wie geplant. Als sich diese hohe Zahl und der damit verbundene zeitliche Mehraufwand nicht nur für die Durchführung, aber vor allem für die Auswertung der Interviews im Laufe des Prozesses abzuzeichnen begann, wurden Überlegungen angestellt, eine Obergrenze einzuführen und einzelne Interviews abzulehnen oder gar abzusagen. Ebendiese Überlegungen wurden jedoch aus mehreren Gründen verworfen. x

Erstens ließen die über die ExpertInnen vorliegenden Informationen a priori keine Feststellung darüber zu, welche Personen mehr und welche weniger relevante Aussagen zu den unterschiedlichen Fragestellungen beisteuern konnten, weshalb keine gezielte Auswahl der InterviewpartnerInnen möglich war.

x

Zweitens würde die hohe Anzahl an Gesprächen eine breitere und auch fundiertere Datenbasis für die Abhandlung der einzelnen Aspekte ergeben und auch eher der Punkt der theoretischen Sättigung (vgl. Kapitel 5.2.1) erreichen.

x

Damit geht drittens faktisch einher, dass sich unter Berücksichtung des Abduktionskonzeptes (vgl. Kapitel 5.2.1) wesentlich mehr Möglichkeiten ergeben, viel versprechende Ideen aus einzelnen Gesprächen aufzugreifen, in nachfolgende Interviews einzuspielen sowie dadurch das Konzept für integrierte Beratung kontinuierlich weiterzuentwickeln.

x

Viertens konnte durch die kontinuierlich steigende Anzahl an Gesprächen auch ein Puffer aufgebaut werden, um der Gefahr von möglichen Absagen vorzubeugen.

x

Fünftens erschien es dem Forschenden auch eine Frage der persönlichen Wertschätzung einzelnen Personen gegenüber zu sein, deren Bereitschaft, zur Forschungsthematik etwas beitragen zu wollen, anzuerkennen und sie nicht auf Basis bloßer Argumente bezüglich des wachsenden Zeitaufwands zurückzuweisen.

Es wurde daher entschieden alle sich ergebenden Interviewtermine zu vereinbaren und im Gesamtzeitraum von insgesamt vier Monaten wahrzunehmen, dafür aber einen pragmatischen Ansatz bei der Datenauswertung (vgl. Kapitel 5.3.3) zu wählen. Die für den Leser relevanten Aspekte der Interviewdurchführung sollen nun entlang der Interviewstruktur (vgl. Kapitel 5.2.3) skizziert werden.

Empirische Untersuchung

229

5.3.2 Interviewdurchführung Wie in der Diskussion um die Untersuchungsmethode (vgl. Kapitel 5.2.2) bereits beschrieben, wurden primär persönliche Einzelinterviews durchgeführt.586 Der Ablauf eines repräsentativen Interviews soll unter Bezug auf den Interviewleitfaden (vgl. Anhang) kurz dargestellt werden. Ein Interview begann in der Regel mit einigen einführenden Anmerkungen des Interviewers, die so umfassend wie nötig, aber auch so knapp wie möglich gehalten wurden. Zum einen sollte die befragte Person dadurch jene Informationen erhalten, die notwendig sind, um von Anfang an die Rahmenbedingungen für eine offene und vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Zum anderen wurde großer Wert darauf gelegt, die interviewte Person möglichst schnell zu Wort kommen zu lassen, um die zur Verfügung stehende Zeit möglichst effizient für die Diskussion der inhaltlichen Aspekte zu nutzen. So gab der Interviewer den jeweiligen ExpertInnen einleitend in knappen Worten relevante Hintergrundinformation zur Person des Forschenden sowie über das Thema der Arbeit. Anschließend wurde den einzelnen ExpertInnen durch eine Vertraulichkeitserklärung zu Kenntnis gebracht, dass die im Interview erhaltenen Informationen sowie mögliche Sprachaufzeichnungen streng vertraulich behandelt und auch ausschließlich für die wissenschaftliche Arbeit des Forschenden – also nicht für kommerzielle Zwecke – verwendet werden würden. Hierauf wurde um das Einverständnis der jeweiligen Person gefragt, neben den händischen Notizen auch digitale Sprachaufzeichnungen587 durchführen zu dürfen und wörtliche Zitate in anonymisierter Form – ohne dass ein Bezug zur interviewten Person oder dem beschäftigenden Unternehmen herstellbar wäre – im Rahmen der mit der Dissertation in Verbindung stehenden Publikationen verwenden zu können. Um über die getätigten Aussagen hinaus ebenso die umfassende Anonymität der InterviewpartnerInnen zu gewährleisten, wurde selbigen weiters zugesichert, deren Namen an keiner Stelle der Dissertation zu erwähnen, sondern ausschließlich deren jeweiligen Dienstgeber bzw. das jeweilige Unternehmen in einer Übersichtstabelle anzuführen. Schlussendlich wurde einerseits noch zugesagt, die Ergebnisse der Untersuchung mit dem Kreis der InterviewpartnerInnen zu teilen, und andererseits mitgeteilt, dass die Fragen bewusst sehr offen formuliert wären, um möglichst unvoreingenommene Antworten zu erhalten. Ehe die Überleitung zum inhaltlichen Teil des Gespräches erfolgen konnte, wurde noch die tatsächlich für das Interview

586

587

Dieses Format wurde lediglich in begründeten Ausnahmefällen verlassen, sodass es insgesamt zu einem Doppelinterview sowie zu fünf Telefoninterviews kam. Auf Videoaufzeichnungen wurde zum einen wegen des ausschließlichen Interesses an inhaltlichen Aspekten der Aussagen und zum anderen wegen des hohen zeitlichen und technischen Aufwandes gänzlich verzichtet.

230

Empirische Untersuchung

zur Verfügung stehende Zeit abgeklärt, um sicherzustellen, dass im Rahmen des Interviews die wichtigsten Punkte auch adressiert werden konnten. Durch dieses einleitende Vorgehen wurde zum einen der Einstieg in das Gespräch vollzogen sowie zum anderen versucht eine Vertrauensbasis aufzubauen, welche sicherstellen sollte, dass die einzelnen InterviewpartnerInnen auch bereit sind, über heikle Themen zu diskutieren. Um sich auf diese Diskussionen konzentrieren zu können und ein flexibles Eingehen auf die jeweilige Person zu erleichtern, wurden auch die angesprochenen Audioaufzeichnungen durchgeführt. Diese sollten weiters den Zweck erfüllen, einzelne Interviews zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal anhören und reflektieren zu können, um so relevante Informationen, die im Gespräch nicht als solche erkannt wurden oder nicht niedergeschrieben werden konnten, nicht verloren gehen zu lassen. Außerdem wird es dem Forscher dadurch erleichtert die zufolge des dramaturgischen Aufbaues der einzelnen Leitfragen möglichen, im Laufe des Interviews entstehenden Erkenntniseffekte der einzelnen ExpertInnen genauer im Nachhinein herauszuarbeiten. Als Überleitung zum Hauptteil des Gespräches, wurde nun die erste Frage (vgl. Leitfrage 1) an die jeweiligen ExpertInnen über deren Werdegang und auch Tätigkeit gerichtet. Ebendies sollte einerseits der interviewten Person nicht nur einen leichten Einstieg in das Gespräch ermöglichen, sondern andererseits dem Interviewer auch erlauben, die Person und vor allem deren Erfahrungshintergrund kennen zu lernen. Letzterer ist insbesondere von Bedeutung, weil er eine Einschätzung darüber erlaubt, welche Fragen im Laufe des Interviews behandelt werden können und welche Relevanz den einzelnen Aussagen in Hinblick auf die Datenauswertung (vgl. Kapitel 5.3.3) zugemessen werden kann. Dieser persönliche Erfahrungshintergrund wurde danach dahingehend vertieft, dass die Begriffe der klassischen Beratung sowie der systemischen Beratung seitens des Interviewers durch Nennung von repräsentativen Beratungsunternehmen abgegrenzt wurden und die ExpertInnen nach einer allgemeinen Charakterisierung sowie einer grundlegenden Differenzierung der beiden Beratungsformen befragt wurden (vgl. Im Anschluss daran wurde den InterviewpartnerInnen die Leitfrage 2).588 Differenzierungslogik für Beratungsformen (vgl. Kapitel 2.2) vorgestellt und diskutiert, um danach die verbalen Ausführungen über die beiden Beratungsformen mittels einer graphischen Positionierung zu visualisieren. Dabei wurde zuerst abgefragt, wo die beiden Beratungsformen gegenwärtig wahrgenommen werden bzw. welchen

588

Mit dieser Frage beginnt der Aufbau eines kontinuierlichen Spannungsbogens, der die einzelnen InterviewpartnerInnen in weiterer Folge nicht nur stetig zu den einzelnen inhaltlichen Aspekten der Themenfeldes hinführen, sondern mitunter auch Effekte der Selbsterkenntnis erlauben soll.

Empirische Untersuchung

231

Bereich diese heute abdecken (Realtyp), um danach darauf einzugehen, wo der jeweilige Ursprung (Idealtyp) gesehen wird. Den Spannungsbogen weiter aufbauend, suchte die folgende, wertfrei formulierte Frage die Erfahrungen der interviewten Person in puncto Umsetzung und Erfolg zu ergründen (vgl. Leitfrage 3). Damit sollten sowohl die persönlichen Assoziationen der einzelnen InterviewpartnerInnen erhalten als auch deren Wahrnehmung der beiden Begriffe in Bezug auf die klassische Beratung und die systemische Beratung reflektiert werden. Diese Reflexion wurde anschließend bewusst in eine wertende Diskussion nach den Stärken und Schwächen der beiden Beratungsformen übergeführt und vertieft (vgl. Leitfrage 4). Vor dem Hintergrund der graphischen Positionierung wurden zuerst die wichtigsten Vorteile und Nachteile der klassischen Beratung sowie der systemischen Beratung ungestützte abgefragt. Dann wurden vier spezifische Begriffe – Inhalt des Konzeptes, Umsetzung des Konzeptes, Integration der Betroffenen, Geschwindigkeit der Veränderung –, wenn diese nicht ohnehin genannt wurden, explizit nachgefragt und auf beide Beratungsformen hin reflektiert. Das resultierende Stärken-Schwächen-Profil der beiden Beratungsformen bildete nun die Basis für die der Dramaturgie nach logische nächste Frage danach, was die beiden Beratungsformen voneinander lernen können (vgl. Leitfrage 5). Diese Frage wurde bewusst geschlossen gestellt, um die Entscheidung darüber, ob letztlich ein voneinander Lernen überhaupt möglich ist, der befragten Person zu überlassen und diese nicht durch den Interviewer zu beeinflussen. Nur im Falle einer positiven Antwort erfolgte eine Vertiefung der Fragestellung dahingehend, dass auf in der Vergangenheit bereits stattgefundene Entwicklungen und auf in der Gegenwart mögliche Entwicklungen eingegangen wurde. An dieser Stelle wurden nun, je nach Wissen und Erfahrungshintergrund der unterschiedlichen InterviewpartnerInnen, die beiden Gruppen an entwicklungsorientierten Hypothesen (vgl. Kapitel 5.1.3) getestet. Während die erste Gruppe an entwicklungsorientierten Hypothesen – Mängel in der klassischen Beratung – von den befragten Personen entlang von vier Kategorien – richtig, tendenziell richtig, tendenziell falsch, falsch – bewertet werden sollte, wurde die zweite Gruppe an entwicklungsorientierten Hypothesen – Verbesserung durch systemische Elemente – mittels eines Multiple-Choice-Tests abgefragt. Derselbe ließ auf einer Skala von 0 – nicht anwendbar bzw. nicht realisierbar – bis 5 – ausgezeichnet anwendbar bzw. ausgezeichnet realisierbar – die Bewertung der Eignung eines systemischen Elementes zur Anwendbarkeit bzw. Realisierbarkeit in der klassischen Beratung zu. Als Konsequenz aus den gegenseitigen Lernmöglichkeiten ergab sich schließlich die Frage nach den Entwicklungsmöglichkeiten für die beiden Beratungsformen in der

232

Empirische Untersuchung

Zukunft (vgl. Leitfrage 6). Mittels dieser Frage wurden die möglichen Perspektiven für eine prinzipielle Zusammenarbeit von Beratern mit klassischem Hintergrund sowie systemischem Hintergrund, die weitere Entwicklung der beiden Beratungsformen aufeinander zu und auch die mögliche Entstehung einer integrierten Beratungsform diskutiert. Diese Beratungsform sollte von den jeweiligen InterviewpartnerInnen in der Differenzierungslogik schließlich noch in Bezug zur klassischen Beratung und zur systemischen Beratung positioniert werden, um anhand der resultierenden Graphik die Entwicklungspfade der beiden Realtypen zur integrierten Beratung beleuchten zu können. Um die Realisierbarkeit der bis dato gewonnenen Erkenntnisse zu überprüfen, galt es die ExpertInnen letztendlich noch zu jenen Aspekten zu interviewen, die ein voneinander Lernen sowie die jeweilige Entwicklung der beiden Beratungsformen fördern oder behindern würden (vgl. Leitfrage 7). Auch diese Frage wurde, ebenso wie die Frage nach den prinzipiellen Lernmöglichkeiten (vgl. Leitfrage 5), zuerst geschlossen gestellt, um den unterschiedlichen InterviewpartnerInnen nicht von vornherein zu unterstellen, dass sie positive oder negative Aspekte wahrnehmen würden. Erst bei einer prinzipiellen Zustimmung der befragten Person wurde die Fragestellung weiter vertieft und es wurden Chancen sowie Risiken des Lernens adressiert und die wichtigsten Spannungen zwischen der klassischen Beratung und der systemischen Beratung sowie der Umgang mit denselben erhoben. Als letzte Konsequenz wurde zum Abschluss des Interviews noch ermittelt, welche Eigenschaften ein Berater besitzen müsste, um gute Beratungsarbeit leisten zu können (vgl. Leitfrage 8). Das Interview wurde schließlich damit beendet, dass der Verlauf des Gespräches kurz reflektiert wurde und den ExpertInnen die Möglichkeit eingeräumt wurde, Feedback zu geben. So die InterviewpartnerInnen danach noch Zeit für weitere Diskussionen erübrigen wollten und konnten, wurden mögliche Ansatzpunkte integrierter Beratung reflektiert. Ansonsten wurde die interviewte Person über das weitere Vorgehen informiert und das Gespräch dankend beendet. 5.3.3 Datenauswertung Die Datenauswertung ist das zentrale Element, um die unterschiedlichen singulären Beobachtungspunkte aus den einzelnen Interviews zu einem großen Gesamtbild zu aggregieren und dadurch den tatsächlichen Erkenntnisgewinn zu realisieren. Sie stellt demnach einen weiteren wichtigen Eckpfeiler zur Entwicklung eines Konzeptes für integrierte Beratung dar, weshalb ihre systematische Durchführung von großer Bedeutung ist, um letztlich fundierte Aussagen sowie valide Ergebnisse über den

Empirische Untersuchung

233

Untersuchungsbereich ableiten zu können. Die effektive Art und Weise ihrer Durchführung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Überlegungen des Untersuchungsdesigns (vgl. Kapitel 5.2), wobei sich für die empirische Untersuchung dieser Arbeit drei unterschiedliche Datentypen ergeben, welche jeweils eine andere Datenauswertung verlangen.

Fokus Analog

Grafische Positionierungen

Digital

Verbale Formulierungen

Kommunikationsmedium

Qualitativ

Standardisierte Elemente

Quantitativ

Auswertungsmethode

Abbildung 5.1: Datentypen für unterschiedliche Datenauswertungen

Aufgrund der größtenteils offen formulierten Fragen des Interviewleitfadens stellen die verbalen Formulierungen den Hauptanteil des aus den einzelnen Interviews hervorgehenden Datenmaterials dar. Die Auswertung dieses Datentyps, dessen Träger das digitale Kommunikationsmedium der Sprache ist, erfolgt – entsprechend der angewandten Untersuchungsmethode (vgl. Kapitel 5.2.2) – qualitativ und steht im Fokus der nachfolgenden Diskussion. Darüber hinaus gibt es noch zwei weitere Datentypen, die primär zur Unterstützung und Vertiefung der Ergebnisse dienen sollen und jeweils eine eigen Auswertung erfordern. Zum eine sind dies die ebenfalls über das digitale Medium der Sprache kommunizierten entwicklungsorientierten Hypothesen, welche standardisierte Elemente darstellen und infolgedessen einer quantitativen Auswertung zugeführt werden können. Dem stehen zum anderen die graphischen Positionierungen von klassischer Beratung und systemischer Beratung in der Differenzierungslogik entgegen, welche über das analoge Sprachmedium der Darstellung transportiert werden und rein qualitativ ausgewertet werden. Verbale Formulierungen Die Art und Weise der Auswertung von verbalen Formulierungen steht in engem Zusammenhang mit der angewandten Untersuchungsmethode (vgl. Kapitel 5.2.2) und dem dahinter liegenden Untersuchungsziel (vgl. Kapitel 5.1.1). Grundsätzlich gibt es dafür eine breite Vielfalt an Auswertungsmethoden, weil in der qualitativen Sozialforschung jedoch kein Konsens über eine bestimmte Methode zur Analyse

234

Empirische Untersuchung

solcher Daten vorhanden ist, besteht die Möglichkeit, eine auf das Untersuchungsziel maßgeschneiderte Auswertungsmethode zu konzipieren.589 Von diesem Sachverhalt wird Gebrauch gemacht und in Anbetracht der hohen Anzahl an Interviews ein pragmatischer Ansatz zur Auswertung der verbalen Formulierungen konstruiert, der sich durch die beiden folgenden Argumente begründen lässt. Wie zu Ende der Diskussion um das Untersuchungsziel bereits erwähnt, wird die empirische Untersuchung zwar im sozialwissenschaftlichen Kontext durchgeführt, aber nicht das Ziel verfolgt, bestimmte, im Handlungsfeld der Beratung auftretende Kommunikations- und Verhaltensmuster zu erklären. Dem Rechnung tragend lässt sich festhalten, dass gewisse Informationen, wie etwa Mimik, Gestik, Sprechpausen oder Tonfall590 der befragten Person, für den hier verfolgten Zweck der Entwicklung eines Konzeptes für integrierte Beratung von untergeordneter Bedeutung oder überhaupt nicht relevant ist im Vergleich zu den inhaltlichen Aspekten der Aussagen. Folglich wird für bei der Datenauswertung auf eine detaillierte Transkription der einzelnen Interviews verzichtet. Darüber hinaus ist festzustellen, dass die grundlegende Vergleichbarkeit der 70 Interviews untereinander alleine deswegen nicht möglich, weil unter Anwendung des Abduktionskonzeptes (vgl. Kapitel 5.2.1) im Fortlauf der empirischen Untersuchung immer wieder neue Aspekte in die einzelnen Gespräche eingebracht wurden. Daher sind auch quantitative Analysen über die Häufigkeiten von spezifischen Aussagen nicht zulässig, was vor allem auch darin zu begründen ist, dass unterschiedliche Fragen manchmal implizit beantwortet wurden, während sie in anderen Interviews explizit gestellt werden mussten. Der Vergleich würde sich jedoch auch deshalb als schwierig gestalten, weil einerseits die einzelnen ExpertInnen über unvergleichbares Wissen sowie verschiedene Erfahrungen verfügen und andererseits die Interviews von unterschiedlicher Dauer und damit auch von ungleicher Tiefe sind. Im Sinne eines pragmatischen Ansatzes wurden daher aus allen Interviews im ersten Schritt die inhaltlichen Aussagen, welche nicht aus geschlossenen und gleichzeitig gestützten Fragestellungen hervorgingen, wörtlich oder sinngemäß erfasst und den vordefinierten Kategorien (vgl. Kapitel 5.2.3) zugeordnet. Selbige spannen dann zusammen mit den drei Gruppen von ExpertInnen591, denen wiederum die einzelnen InterviewpartnerInnen zugeordnet wurden, eine Matrix auf, durch deren Befüllung die Herkunft einzelner Aussagen eindeutig nachvollziehbar wird.

589 590

591

Vgl. Lamnek (1995), S. 114 Bei zwei- oder mehrdeutigem Tonfall wurde aus der Situation heraus nachgefragt, wie die Aussage zu verstehen ist. Führungskräfte, klassische Berater und systemische Berater (vgl. Kapitel 5.3.1)

Empirische Untersuchung

Kategorie I - Aussage 1 - Aussage 2 - Aussage 3 -… Kategorie II - Aussage 1 - Aussage 2 - Aussage 3 -… Kategorie III - Aussage 1 - Aussage 2 - Aussage 3 -…

235

Führungskräfte

Klassische Berater

Systemische Berater

FK 1 FK 2 FK 3 ….

KB 1 KB 2 KB 3 ….

SB 1 SB 2 SB 3 ….

x x

x x

x

x

x x

x x

x x

x x

x x

x x x

x

x

x

x x x

x

x x x

x x

x

x x

x x

x

x x x

x x x

Abbildung 5.2: Matrix zur Auswertung der verbalen Formulierungen

Durch diese Methodik wurde auch ersichtlich, wie oft gleiche oder ähnliche Aussagen von unterschiedlichen Personen erfolgt sind, was danach im zweiten Schritt der Datenauswertung dazu führte, dass innerhalb der Kategorien spezifische Subkategorien gebildet wurden. So wurden insgesamt vier Matrizen – klassische Beratung, systemische Beratung, integrierte Beratung, generelle Aussagen – erstellt, welche in sich jeweils sowohl die Suche nach markanten Aspekten und spezifischen Erkenntnissen als auch nach gruppeninternen sowie nach gruppenübergreifenden Mustern erlaubten. Standardisierte Elemente Als standardisierte Elemente werden alle jene Fragestellungen betrachtet, die aufgrund ihrer Formulierung untereinander vergleichbare Antworten ergeben und daher auch quantitativ ausgewertet werden können. Im Rahmen dieser empirischen Untersuchung sind dies all jene Fragen, welche aus den entwicklungsorientierten Hypothesen (vgl. Kapitel 5.1.3) hervorgehen und im Interviewleitfaden als MultipleChoice-Fragen formuliert werden. Von diesen geschlossenen und gestützten Fragen gibt es zwei Gruppen (vgl. Leitfrage 5), die unabhängig voneinander abgefragt und unterschiedlich ausgewertet wurden. Die erste Gruppe an entwicklungsorientierten Hypothesen – Mängel in der klassischen Beratung – wurde in Bezug auf vier Antwortmöglichkeiten – falsch, tendenziell falsch, tendenziell richtig, richtig – getestet und durch Addition der Antworten in drei Gruppen von InterviewpartnerInnen prozentuell ausgewertet (vgl. Abbildung 9.1).

236

Empirische Untersuchung

Die zweite Gruppe an entwicklungsorientierten Hypothesen – Verbesserung durch systemische Elemente – überprüfte die einzelnen Elemente wiederum auf ihre Anwendbarkeit in der klassischen Beratung sowie ihre Realisierbarkeit durch die klassische Beratung. Dabei wurde lediglich ein einziger Wert auf einer Skala von 0 – nicht anwendbar bzw. nicht realisierbar – bis 5 – ausgezeichnet anwendbar bzw. ausgezeichnet realisierbar – abgefragt und über die gängigen statistischen Größen des Mittelwertes sowie der Standardabweichung (vgl. Abbildung 9.2) evaluiert, wobei relevante Differenzierungen schriftlich notiert wurden. Graphische Positionierung Die Daten aus der graphischen Positionierung der Realtypen sowie der Idealtypen der beiden Beratungsformen in der Differenzierungslogik (vgl. Kapitel 2.2) wurden ohne Gewichtung der einzelnen Antworten nach dem Superpositionsprinzip für jede der drei Gruppen von InterviewpartnerInnen ausgewertet und in Form einer Matrix zusammengefasst (vgl. Abbildung 6.1). Die Summe der Datenauswertungen für die drei Datentypen bildet die Basis für die grundlegende Analyse (vgl. Kapitel 6, Kapitel 7 und Kapitel 9) sowie die konsequente Synthese (vgl. Kapitel 8) der Arbeit und stellt somit neben dem theoretischen Vorwissen den zweiten Grundpfeiler für das Konzept zur Entwicklung integrierter Beratung dar. 5.3.4 Ergebnisreflexion Um die Ergebnisse der empirischen Untersuchung sowie das daraus abgeleitete Konzept für integrierte Beratung zu validieren, wurden vier unterschiedliche Reflexionsmöglichkeiten wahrgenommen, wodurch Rückkoppelungen sichergestellt und so Weiterentwicklungen ermöglicht wurde. x

Mit einzelnen Führungskräften wurde bei Interesse im Anschluss an die jeweiligen Interviews weiterführende Diskussionen zum jeweils aktuellen Stand der Ergebnisse und des Konzeptes geführt.

x

Die Zwischenergebnisse der empirischen Untersuchung wurden an den Kreis der InterviewpartnerInnen versendet, um dadurch zusätzliches Feedback zu erhalten.

x

Die ausgewerteten Endergebnisse sowie das daraus abgeleitet Konzept wurde mit mehreren Kollegen aus unterschiedlichen Beratungsunternehmen reflektiert.

x

Zusätzlich wurden Diskussionsforen wie Privatissima und Präsentationen genutzt, um dadurch die Ergebnisse der empirischen Untersuchung sowie das erarbeitete Konzept kritisch zu reflektieren.

Empirische Untersuchung

237

5.4 InterviewpartnerInnen Für die empirische Untersuchung wurde eine umfassende Stichprobengröße von 70 ExpertInnen ermittelt, die den in der Durchführungsvorbereitung (vgl. Kapitel 5.3.1) definierten Auswahlkriterien entsprechen und damit die Grundgesamtheit für alle durchgeführten Interviews bilden. Bei dieser gezielten Auswahl wurde versucht, eine möglichst gleichmäßige Verteilung der 70 InterviewpartnerInnen auf die drei Gruppen zu erreichen, sodass eine annähernd gleiche Zahl an Führungskräften, klassischen Beratern und systemischen Beratern interviewt werden konnte, was in der folgenden Graphik überblicksmäßig veranschaulicht werden soll. 70

21

22 27

Gesamt

Führungskräfte

Klassische Berater

Systemische Berater

Abbildung 5.3: Überblick InterviewpartnerInnen (in Anzahl Personen)

Die Gruppe der Führungskräfte umfasst einige Vorstände sowie Verantwortliche in den folgenden zwei bis drei Führungsebenen darunter, wobei alle Gesprächspartner erstens Erfahrung mit Beratung aufweisen sowie etwa die Hälfte von diesen zweitens auch selber der Tätigkeit in einem Beratungsunternehmen nachgegangen ist oder noch nachgeht. Unter dem Begriff der klassischen Berater werden in der empirischen Untersuchung der vorliegenden Arbeit nur Vertreter der großen, weltweit tätigen Beratungsfirmen verstanden. Von jedem der so genannten ‘Global Players‘ wurden zumindest zwei Berater interviewt, wobei mindestens mit einem Partner, welcher schon deutlich über 5 Jahre – im Regelfall etwa zwischen 10 und 25 Jahren – in dem jeweiligen Beratungsunternehmen tätig ist, sowie mit einem Berater, welcher maximal 5 Jahre Erfahrung in der jeweiligen Beratung aufweist, gesprochen wurde. Das Verhältnis von Partnern zu Beratern beträgt dabei in etwa 1:1. Die systemischen Berater, von denen annähernd 80 Prozent mehr als 10 Jahre Beratungserfahrung aufweisen, sind ausschließlich ‘Local Players‘ mit Schwerpunkt im deutschen Sprachraum und lassen sich in zwei Untergruppen gliedern. Erstens in die Begründer der so genannten Wiener Schule der systemischen Beratung sowie

238

Empirische Untersuchung

davon abstammende Berater und zweitens in Berater, Organisationsentwickler sowie Coaches, die alle eine explizite systemische Prägung aufweisen. Zu dieser zweiten Untergruppe, die fast doppelt so viele Gesprächspartner wie die erste Untergruppe umfasst, zählen unter anderem auch jene Berater, welche vor einem systemischen Hintergrund gezielte inhaltliche Arbeit leisten. Eine nähere Betrachtung dieser Grundgesamtheit von 70 InterviewpartnerInnen aus den drei Gruppen soll in den nun folgenden Unterkapiteln nach Berufserfahrung (vgl. Kapitel 5.4.1), Projekterfahrung (vgl. Kapitel 5.4.2), Unternehmen (vgl. Kapitel 5.4.3) sowie Standort (vgl. Kapitel 5.4.4) erfolgen, wobei vor allem mit den ersten drei Unterkapiteln die umfassende Relevanz der empirischen Untersuchung untermauert werden soll. 5.4.1 Berufserfahrung Die persönliche Berufserfahrung, nach welcher die einzelnen ExpertInnen in den jeweiligen Interviews befragt wurden, soll einen ersten Indikator dafür darstellen, welche generelle Relevanz die individuellen Aussagen der interviewten Person in Bezug auf Beratung haben bzw. haben können. Betrachtet man diesen notwendigen aber keineswegs hinreichenden Indikator über alle 70 InterviewpartnerInnen hinweg, so lässt sich auf die generelle Relevanz der empirischen Untersuchung schließen. Für diesen ergibt sich innerhalb der gewählten Grundgesamtheit folgende Verteilung, der erstens regelmäßige Intervalle von jeweils fünf Jahren zugrunde liegen und in der zweitens die drei Gruppen unterschieden werden. 15 14 12

12

5

11

3

5

4 4

6

4

5

Führungskräfte Klassische Berater

1

4

Systemische Berater

3 5

7 5

5

5 - 10

10 - 15

4

5

1 ”5

15 - 20

20 - 25

> 25

Jahre

Abbildung 5.4: Berufserfahrung der InterviewpartnerInnen (in Anzahl Personen)

Empirische Untersuchung

239

Geht man zunächst auf die Gruppe der Führungskräfte näher ein, dann wird sofort ersichtlich, dass deren Vertreter in der Regel eine ausgeprägte Berufserfahrung besitzen, was sich alleine schon darin widerspiegelt, dass nur ein Siebentel aller interviewten Führungskräfte weniger als 10 Jahre gearbeitet hat, wobei jedoch jede dieser drei Personen auf mehr als 5 Berufsjahre verweisen kann. Die restlichen 18 Führungskräfte weisen alle zumindest 10 Jahre oder noch deutlich mehr Jahre an Berufserfahrung auf, weshalb der gesamten Gruppe aus dieser Perspektive ein für die empirische Untersuchung relevanter Erfahrungsschatz eingeräumt werden kann. Betrachtet man in der Folge die Interviewgruppe der klassischen Berater genauer, so fällt im direkten Vergleich zur ersten Gruppe auf, dass knapp ein Viertel dieses zweiten Personenkreises nicht mehr als 5 Jahre Berufserfahrung besitzt. Diese 5 Personen erscheinen in Hinblick auf die Relevanz der Aussagen aus dieser Gruppe auf der ersten Blick recht viel zu sein, vor allem wenn man bedenkt, dass weitere 4 Personen daraus zwar mehr als 5 Jahre, jedoch immer noch weniger als 10 Jahre an Berufserfahrung aufweisen. Diese als eher kurz erscheinende Berufserfahrung kann jedoch durch zwei Aspekte relativiert werden, welche sich letztlich beide aus dem Geschäftsmodell klassischer Beratungsunternehmen ableiten lassen. Erstens kann festgehalten werden, dass klassische Beratungsunternehmen traditionell auf junge Talente setzen, die nach deren universitärem Abschluss direkt in die klassische Beratung einsteigen. Dieser Sachverhalt wurde bereits im Fazit über die historischen Wurzeln der klassischen Beratung (vgl. Kapitel 3.1.7) skizziert und bringt es mit sich, dass viele klassische Berater eher geringe Berufserfahrung aufweisen, was umso augenscheinlicher wird, wenn man die pyramidenartige Struktur dieser klassischen Beratungsunternehmen in die grundlegenden Überlegungen mit einkalkuliert. Das dieser klassischen Pyramidenstruktur zugrunde liegende Wachstumsmodell erzwingt förmlich, dass es relativ wenige klassische Berater mit langjähriger Berufserfahrung gibt, sodass deren junge Kollegen eine mengenmäßige Mehrheit bilden, die in einer empirischen Untersuchung auch erfasst werden sollte. Daraus kann nun direkt der zweite Aspekt abgeleitet werden, der die generelle Berücksichtigung der insgesamt 9 klassischen Berater mit eher wenig bzw. etwas weniger Berufserfahrung als die meisten Führungskräfte erklärt. Selbiger ist darin zu sehen, dass bewusst eine geringe Anzahl von eher unerfahrenen Personen berücksichtigt wurde, um deren mitunter andere Sichtweise auch in die gesamte Untersuchung einfließen lassen zu können, weil diese trotz ihrer vergleichsweise kurzen Berufserfahrung auch relevante Berufserfahrung im gesamten Untersuchungsbereich (vgl. Kapitel 5.1.2) aufweisen können. Daraus zeichnet sich ein zweiter Indikator für die grundsätzliche Relevanz einzelner ExpertInnen ab, der im anschließenden Unterkapitel über die individuelle Projekterfahrung diskutiert wird. Vorläufig kann für die überwiegende Mehrheit der klassischen Berater aber alleine schon zufolge der über 10-jährigen Berufserfahrung

240

Empirische Untersuchung

festgehalten werden, dass von diesen eine entsprechende Relevanz zur prinzipiellen Beantwortung der betrachteten Fragestellungen erwartet werden kann. Vergleicht man dazu abschließend noch die systemischen Berater, dann zeigt sich deutlich, dass deren Vertreter im Allgemeinen mehr Berufserfahrung besitzen, als die klassischen Kollegen. Mit 6 ExpertInnen weist weniger als ein Viertel dieser Gruppe eine Berufserfahrung von unter 10 Jahren auf, wovon wiederum lediglich eine einzige Person weniger als 5 Berufsjahre besitzt. Weit mehr als die Hälfte der systemischen Berater hat hingegen mehr als 15 Jahre Berufserfahrung, weshalb dieser dritten Gruppe an InterviewpartnerInnen aus diesem spezifischen Blickwinkel in jedem Fall umfassende Relevanz in Bezug auf den Untersuchungsbereich zugestanden werden kann. Summa summarum kann damit festgehalten werden, dass in jeder der drei Gruppen eine durchschnittliche Berufserfahrung von 15 Jahren oder mehr besteht, sodass den interviewten ExpertInnen aufgrund dieses ersten Indikators eine praxisbezogene Kenntnis der untersuchten Materie grundsätzlich eingeräumt werden kann. 5.4.2 Projekterfahrung Ein zweiter Indikator dafür, ob die einzelnen Personen zufolge ihres individuellen Erfahrungshintergrundes relevante Aspekte zum gesamten Bereich der empirischen Untersuchung beitragen können, ist die beratungsspezifische Projekterfahrung, die in der jeweiligen Berufserfahrung (vgl. Kapitel 5.4.1) enthalten ist. Dieser Indikator, der bei der vorangegangen Diskussion über die klassischen Berater bereits angedeutet wurde, kann in der individuellen Anzahl absolvierter Beratungsprojekte gemessen werden, welche über die Grundgesamtheit folgende Häufigkeitsverteilung zeigen. 27

27

9 16 14

Führungskräfte Klassische Berater

5

Systemische Berater

18

2 ”5

7

4

4

5

5 - 20

20 - 50

> 50

Anzahl Beratungsprojekte

Abbildung 5.5: Projekterfahrung der InterviewpartnerInnen (in Anzahl Personen)

Empirische Untersuchung

241

Beginnt man wie gehabt wieder bei der Gruppe der Führungskräfte, dann zeigt sich, dass etwa drei Viertel von deren Vertretern zwischen 5 und 20 Beratungsprojekte im Laufe ihrer Karriere erlebt haben. Die 5 fehlenden Führungskräfte waren sogar an mehr als 20 Beratungsprojekte beteiligt, weshalb vor diesem Hintergrund sicherlich auch angenommen werden kann, dass die ausgewählten Personen zufolge ihres jeweiligen Erfahrungshintergrundes entsprechende Informationen zu den einzelnen Fragestellungen einbringen können. Weniger als 5 Projekte haben insgesamt lediglich 2 klassische Berater absolviert, was in Anbetracht von einerseits der langen Zeitdauer der entsprechenden Projekte sowie andererseits der umfassenderen Projekterfahrung der restlichen Gruppe die grundlegende Relevanz der zweiten Interviewgruppe wenn überhaupt nur geringfügig schmälern kann. Davon kann insbesondere ausgegangen werden, weil unter den interviewten Repräsentanten der klassischen Beratung zahlreiche Senior-Partner von den unterschiedlichen Beratungsunternehmen vertreten sind, von denen insgesamt 9 Berater mehr als 50 Beratungsprojekte in ihrer oft deutlich über 20-jährigen Beratungslaufbahn absolviert haben. Sie bringen damit umfangreiche Expertise zur gesamten Thematik ein, welche vor allem durch weitere 4 Vertreter dieser zweiten Interviewgruppe umfassend ergänzt wird, die zwischen 20 und 50 Beratungsprojekte absolviert haben. Insgesamt kann für klassische Berater damit festgehalten werden, dass sie gerade in jungen Jahren mit geringer Berufserfahrung oft schon reichhaltige Projekterfahrung vorweisen können, sodass diese beiden Indikatoren nicht getrennt voneinander, sondern nur gemeinsam angewendet werden können, um mögliche Aufschlüsse über das untersuchungsrelevante Wissen zu untermauern. Die vielseitigste Projekterfahrung kann schlussendlich den systemischen Beratern zugeschrieben werden, was alleine schon daraus zu erkennen ist, dass zwei Drittel dieser Gruppe in über 50 Beratungsprojekte involviert gewesen ist und damit auch zwei Drittel jener Personen stellt, welche dieses Kriterium insgesamt erfüllen. Diese hohe Anzahl an absolvierten Projekten stellt zum einen sicher, dass die in dieser dritten Gruppe interviewten Personen im gesamten Untersuchungsbereich reichliche Expertise besitzen, und kann zum anderen mit zwei Aspekten begründet werden. Erstens weisen systemische Berater allgemein eher eine hohe Seniorität auf, mit der oft eine langjährige Berufserfahrung und konsequenterweise auch eine umfangreiche Projekterfahrung einhergehen. Zweitens ist die Anzahl der Beratungsprojekte aber auch deshalb höher als in der klassischen Beratung, da systemische Berater im Regelfall nicht kontinuierliche, sondern punktuelle Unterstützung leisten und dadurch mehrere Projekte gleichzeitig abwickeln können. Letzteres trifft zwar für Partner von klassischen Beratungsunternehmen ebenso zu, jedoch meist in einem geringeren Umfang als bei den systemischen Beratern.

242

Empirische Untersuchung

Insgesamt kann also für alle drei Gruppen zusammen resümiert werden, dass deren Vertreter durchschnittlich gesehen intensive Projekterfahrung besitzen, weshalb die umfassende Relevanz der empirischen Untersuchung zufolge des ersten Indikators, durch die skizzierten Erkenntnisse des zweiten Indikators unterstützt wird. 5.4.3 Unternehmen Als dritter Indikator, der belegen soll, dass die ExpertInnen sowie deren Antworten Relevanz für den Untersuchungsbereich aufweisen, können die Firmennamen jener Unternehmen genannt werden, für die die InterviewpartnerInnen zum Zeitpunkt des Gesprächs tätig gewesen sind. Mit der Nennung des jeweiligen Firmennamens hat sich jede Person unter jener Bedingung einverstanden erklärt, dass darüber hinaus keinerlei Informationen preisgegeben werden, welche eine potenzielle Identifikation einzelner InterviewpartnerInnen erlauben und damit eine gezielte Rückverfolgung spezifischer Aussagen ermöglichen würden. Um diese zugesicherte Vertraulichkeit, durch die erst eine offen Atmosphäre in den einzelnen Interviews geschaffen werden konnte, gänzlich zu wahren, werden die Firmennamen einzig und allein an dieser Stelle vollständig angeführt, wobei aus dem genannten Grund auf die Wiedergabe sämtlicher anderer Informationen verzichtet wird. Führungskräfte

• • • • • • • • • • • • • • • •

Austrian Airlines Constantia Packaging DaimlerChrysler Elektro Pfund EA Generali Gewerkschaft der Eisenbahner Inform Media Group Investkredit Mobilkom Austria Rosenbauer Styria Medien AG Stadtwerke Bremen T-Mobile Austria Umweltbundesamt VA Tech WU Wien

Klassische Beratung

• • • • •

Arthur D. Little A.T. Kearney BCG McKinsey&Company Roland Berger

Systemische Beratung

• • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •

Andreas Salcher Company Beratung - systemisch? buchegger & partner CONECTA* FACT Consulting fit-management Gesellschaft für Personalentwicklung Hernstein Institut für Management* Infora Consulting Group Institut für Organisationsentwicklung & Systemberatung KICK OFF Königswieser & Network* Kornfeind & Teufelberger OEG management systems 4 you Beratergruppe Neuwaldegg* osb* OUTDOOR DEVELOPMENT Privatuniversität für Management Reteaming Simon, Weber & Friends* Trigon Entwicklungsberatung Universität Augsburg

* Begründer der ‘Wiener Schule der systemischen Beratung‘ und davon abstammende Berater

Abbildung 5.6: Unternehmen der InterviewpartnerInnen

Zu den in den drei Gruppen angeführten Unternehmen gilt es zwei Anmerkungen zu machen, um die größtmögliche Vollständigkeit sicherzustellen. Erstens soll innerhalb jeder Gruppe durch die Zusammensetzung der jeweiligen Stichprobe gewährleistet

Empirische Untersuchung

243

werden, dass unternehmensspezifische Besonderheiten nicht überbewertet bzw. beratungsspezifische Vorgehensweisen nicht überrepräsentiert werden. Zweitens sei für die heterogene Gruppe der systemischen Berater angeführt, dass innerhalb dieser grundsätzlich noch zwei Untergruppen unterschieden werden könnten, was für die nachfolgenden Auswertungen jedoch keinerlei Mehrwert bietet und daher nur erwähnt werden soll, um diese grundsätzliche Unterscheidungsmöglichkeit für den interessierten Leser aufzuzeigen. Bei all jenen Beratungsunternehmen, die in der Darstellung mit '*' gekennzeichnet sind, handelt es sich um die Begründer der so genannten Wiener Schule der systemischen Beratung sowie davon abstammende Berater bzw. Beratungsunternehmen. All die übrigen Beratungsunternehmen weisen mehr oder weniger große Einflüsse aus der Wiener Schule der systemischen Beratung auf, besitzen zusätzlich jedoch auch unterschiedlichste Merkmale aus anderen Strömungen der systemischen Beratung. Letztere werden entsprechend der skizzierten Argumentation im abschließenden Fazit über die historischen Wurzeln der systemischen Beratung (vgl. Kapitel 3.2.9) hier nicht weiter aufgearbeitet. Die Vertreter dieser übrigen Beratungsunternehmen werden daher kurzum als Berater, Organisationsentwickler sowie Coaches bezeichnet, die eine explizite systemische Prägung aufweisen. 5.4.4 Standorte Einen reinen Informationscharakter weist schließlich noch die nach den drei Gruppen unterteilte Darstellung der beruflichen Standorte der einzelnen InterviewpartnerInnen auf, worüber die folgenden Graphik einen grundsätzlichen Überblick erlaubt. Führungskräfte

Klassische Beratung

Gesamt: 21

Karlsruhe Stuttgart

Systemische Beratung

Gesamt: 22

Bremen 1 2

Gesamt: 27 Hamburg Augsburg Berlin 1 Witten 11 Scharnstein 1 1 Salzburg 1 Graz 1

Berlin

2

Düsseldorf

2

1

Stuttgart 1

Linz 1 Graz 2

München

14

13

4

Wien

20

Wien

Wien

Österreich:

53

Deutschland: 17

Abbildung 5.7: Standorte der InterviewpartnerInnen (in Anzahl Personen)

Insgesamt fällt bei der Betrachtung dieser Darstellung sofort auf, dass mit insgesamt 53 ExpertInnen gut drei Viertel der interviewten Personen aus Österreich kommt,

244

Empirische Untersuchung

was in Anbetracht des Fokus auf die Wiener Schule der systemischen Beratung schlüssig ist. Deren ursprünglicher Entstehungsort und damit auch hauptsächlicher Wirkungsbereich ist, wie der Name schon verrät, Wien, sodass zufolge des Alters sowie der Größe dieser systemischen Beratungsunternehmen nur vereinzelte Beratungsprojekte außerhalb von Österreich stattfinden und folglich eine prinzipielle Vergleichbarkeit aller 70 Interviews dieses regionale Übergewicht innerhalb des deutschen Sprachraums von vornherein unausweichlich macht. Darüber hinaus ist die regionale Konzentration innerhalb von Österreich jedoch durch die heimische Industriestruktur zu begründen, deren Hauptstandort Wien ist, vor allem dann, wenn es jene Unternehmen zu betrachten gilt, die finanzkräftig genug sind, um sich die hohen Honorare klassischer Berater leisten zu können. Gleichzeitig agieren letztere jedoch weltweit gleich und damit unabhängig davon, ob ihre Vertreter in Wien oder an einen beliebigen anderen Standort gebunden sind. Aufgrund dieser drei Aspekte kann nun argumentiert werden, warum zwei Drittel der interviewten Führungskräfte, fast zwei Drittel der klassischen Berater und knapp drei Viertel der systemischen Berater Wien als Standort ausweisen, ohne dass dadurch jedoch eine regionale Verfälschung im gesamten Ergebnis der empirischen Untersuchung bewirkt wird.

Reflexionen über die Beratungsformen

245

6 Reflexionen über die Beratungsformen Die nachfolgenden Reflexionen über die Beratungsformen stellen den ersten Teil der Datenauswertung dar und spiegeln die Wahrnehmungen über klassische Beratung und systemische Beratung in der Gegenwart, die so genannten Realtypen, wider. Ausgehend von der graphischen Darstellung der Selbstbilder und Fremdbilder der Beratungsformen (vgl. Kapitel 6.1), wird versucht eine Verbindung zwischen den theoretischen Idealtypen der Vergangenheit und den in der Praxis wahrgenommenen Realtypen in der Gegenwart herzustellen. Diese Evolution der Beratungsformen (vgl. Kapitel 6.2) wird durch einige prägende Trends hinterlegt, und gestattet es in Folge genauer auf die Charakteristika der Beratungsformen (vgl. Kapitel 6.3) einzugehen. Darauf aufbauend werden jene Projekte, welche in der Gegenwart mit den beiden Realtypen adressiert werden können, in den Themenstellungen für Beratungsformen (vgl. Kapitel 6.4) beleuchtet, um in den Schlussfolgerungen (vgl. Kapitel 6.5) aus den Wahrnehmungen in der Gegenwart schließlich eine erste Zwischenbilanz in Richtung der Entwicklung eines Konzeptes für integrierte Beratung zu ziehen.

6.1 Selbstbilder und Fremdbilder der Beratungsformen Ausgehend von der ersten untersuchungsleitende Hypothese (vgl. Kapitel 5.1.3) bildet die graphische Darstellung der Selbstbilder und Fremdbilder der Realtypen in der Differenzierungslogik (vgl. Kapitel 2.2) den Ausgangspunkt für die Reflexionen über klassische Beratung und systemische Beratung in der Gegenwart.

Führungskräfte

Klassische Berater

Systemische Berater

Klassische Beratung

Systemische Beratung

Selbstbilder

Fremdbilder

Idealtyp klassische Beratung

Idealtyp systemische Beratung

Abbildung 6.1: Selbstbilder und Fremdbilder der Beratungsformen

246

Reflexionen über die Beratungsformen

Der diskutierten Datenauswertung für die graphische Positionierung (vgl. Kapitel 5.3.3) in der Differenzierungslogik folgend, lassen sich die existierenden Selbstbilder und Fremdbilder von den drei Gruppen an InterviewpartnerInnen über die beiden Beratungsformen getrennt voneinander in Form der abgebildeten Matrix darstellen. Diese fasst zusammen, wie die klassische Beratung und die systemische Beratung von den Führungskräften, von den klassischen Beratern und von den systemischen Beratern wahrgenommen werden, wobei die Flächen den Realtyp und die Kerne den Idealtyp der jeweiligen Beratungsform widerspiegeln. Die resultierenden Selbstbilder und Fremdbilder erlauben damit die Verifizierung der ersten untersuchungsleitenden Hypothese und sollen nun interpretiert werden. 6.1.1 Selbstbilder und Fremdbilder der klassischen Beratung Der Vergleich der Selbstbilder und Fremdbilder über die klassische Beratung wirft drei Aspekte auf, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: x

Der Idealtyp der klassischen Beratung wird von allen drei Gruppen im rechten untern Quadranten der Differenzierungslogik gesehen. Das heißt, dass der Ursprung der klassischen Beratung, wie in der Positionierung der Idealtypen (vgl. Abbildung 2.6) im Rahmen der theoretischen Diskussion angenommen, klar dem mechanistischen Beratungsparadigma zugeordnet wird und in diesem Bereich eine deutliche Inhaltorientierung aufweist. Das wird auch durch die Aussage eines klassischen Beraters – "Wir kommen 100-prozentig vom inhaltlich mechanistischen Bereich"592 – unterstützt.

x

Der klassischen Beratung wird im mechanistischen Bereich sowohl von den klassischen Beratern selber als auch von deren systemischen Kollegen in etwa gleich viel Prozessorientierung zugeschrieben. Ein klassischer Berater meint dazu etwa: "Es gibt eine prozessähnliche Denke, die aber extrem mechanistisch ist."593 Diese Prozessorientierung der klassischen Beratung wird von den Führungskräften allerdings nicht wahrgenommen, was mitunter dadurch begründet werden kann, dass Führungskräfte von den klassischen Beratern primär Inhaltsorientierung erwarten und für prozessorientierte Themen, gezielt auf systemische Berater zugehen: "Für unterschiedliche Aufgabenstellungen werden unterschiedliche Berater beauftragt"594

x

Sowohl Führungskräfte als auch systemische Berater nehmen in der klassischen Beratung deutlich weniger systemische Sichtweise im Bereich der Inhaltsorientierung wahr als klassische Berater selber. Dass klassische

592 593 594

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 34-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 34-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 15-03

Reflexionen über die Beratungsformen

247

Berater grundsätzlich eine systemische Komponente aufweisen, wird nicht bezweifelt, da "ein rein mechanistisches Beraten eher schwierig ist, weil immer ein systemischer Anteil dabei ist."595 Die Aussage von einem Partner eines klassischen Beratungsunternehmens bringt jedoch zum Ausdruck, von wo die Differenz zwischen Selbstbild und Fremdbild ausgeht: "Wir sind von den Personen her in der Lage einen systemischen Ansatz zu machen."596 Die drei Aspekte bringt ein Partner einer klassischen Beratung auf den Punkt in dem er anmerkt: "Die Projekte aus unserem Haus sollten alle vier Quadranten der Differenzierungslogik abdecken, auch wenn wir traditionell im inhaltsorientierten, mechanistischen Bereich gestartet sind, uns von dort aus in den prozessorientierten sowie den systemischen Bereich entwickelt haben und nach wie vor einen Schwerpunkt in der Inhaltsorientierung aufweisen."597 6.1.2 Selbstbilder und Fremdbilder der systemischen Beratung Aus der Gegenüberstellung der Selbstbilder und Fremdbilder der systemischen Beratung können ebenfalls drei Punkte festgehalten werden: x

595 596 597 598 599

Der Idealtyp der systemischen Beratung wird von allen drei Gruppen an ExpertInnen als Kombination des systemischen Beratungsparadigmas mit einer markanter Prozessorientierung wahrgenommen. Der Positionierung der Idealtypen (vgl. Abbildung 2.6) entsprechend, kann der Ursprung der systemischen Beratung demnach im linken oberen Quadranten der Differenzierungslogik als bestätigt betrachtet werden. Dass diese Position vor allem auf die historischen Wurzeln dieser Beratungsform (vgl. Kapitel 3.2) zurückzuführen ist, geht auch aus der Kombination zweier voneinander unabhängig getätigter Aussagen von unterschiedlichen systemischen Beratern hervor. Während einer der beiden die Prozessorientierung der systemischen Beratung unterstreicht – "Zufolge der Wurzeln in der Organisationsentwicklung legt die systemische Beratung den Fokus auf soziale Prozesse […]. Der Schwerpunkt ist also die soziale Dimension."598 – weist die Äußerung des zweiten systemischen Beraters – "Die klassische Organisationsentwicklung wurde um das systemische Paradigma erweitert und gibt es daher in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr."599 – darauf hin, dass systemische Beratung, wie der Name bereits andeutet, vom systemischen Beratungsparadigma geprägt ist.

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 15-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 52-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 46-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 67-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 85-21

248

Reflexionen über die Beratungsformen

x

Im Bereich der Prozessorientierung, deren Schwerpunkt eindeutig im systemischen Bereich liegt, herrscht eine sehr gute Übereinstimmung zwischen dem Selbstbild systemischer Berater sowie den Fremdbildern über systemische Beratung. Neben den bereits im vorigen Punkt angeführten Aussagen, lässt sich dieser Sachverhalt auch aus der Formulierung einer Klientin nachvollziehen: "Die systemischen Berater verstehen sich als Prozessbegleiter und streichen das als Unterschied zu den klassischen Beratern heraus."600

x

Bei der systemischen Inhaltsorientierung eröffnet sich aber eine markante Differenz zwischen dem Selbstbild sowie den in sich nahezu homogenen Fremdbildern über die systemische Beratung. Während die systemischen Berater die Sichtweise vertreten, dass sie alle Inhalte abdecken, wird ihnen dies von den Führungskräften sowie auch den klassischen Beratern völlig abgesprochen. Diesbezüglich reflektiert ein Fachberater mit systemischer Prägung: "Systemische Berater nehmen oft den Standpunkt ein: 'Ich patz' mich nicht mit den fachlichen Problemen der Kunden an, sondern mach' nur den Prozess'"601 und unterstreicht damit das über seine rein systemischen Kollegen existierende Fremdbild. In die gleiche Kerbe schlägt die Aussage einer Führungskraft: "Systemische Berater sollten nicht nur auf den Prozess schauen, sondern auch mehr auf Inhalte und dafür Experten hinzuziehen."602 womit sich ein Defizit der systemischen Beratung im inhaltlichen Bereich manifestieren lässt. Dem entgegen zeigt die Aussage eines systemischen Beraters auf, wie das Selbstverständnis ist: "Inhaltliche Lösungen, die stets rudimentär sind, werden von systemischen Beratern im Rahmen des Projektes zur Verfügung gestellt, müssen aber vom Klienten aufgearbeitet werden, damit sie zu seiner Kultur passen. Das ist anders als bei der klassischen Beratung, die fertige Lösungen anbietet."603 Daraus lässt sich erkennen, dass zwischen den systemischen Beratern einerseits und den Führungskräften sowie den klassischen Beratern andererseits ein unterschiedliches Verständnis von Inhaltsorientierung besteht. Während erstere Inhalte dann als erfüllt ansehen, wenn durch die Gestaltung des Prozesses und das Einbringen von Basiskonzepten die inhaltliche Arbeit ermöglicht wird, setzen zweitere voraus, dass von extern fachspezifisches Wissen zur Problemlösung eingebracht wird.

600 601 602 603

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 87-10 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 09-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 64-02

Reflexionen über die Beratungsformen

249

6.1.3 Fazit über Selbstbilder und Fremdbilder der Beratungsformen Bezug nehmend auf die Diskussion über die Selbstbilder und Fremdbilder der Beratungsformen lassen sich folgende Aspekte für beide Realtypen festhalten: x

Aufgrund der durch die Datenauswertung bestätigten Positionierung der Idealtypen können der Ursprung der klassischen Beratung sowie jener der systemischen Beratung in Bezug auf die Differenzierungslogik als Gegenpole betrachtet werden. Von diesen Positionen aus haben sich die beiden Beratungsformen aneinander angenähert, was zur Ausprägung der gegenwärtigen Realtypen geführt hat. Diese Evolution der Beratungsformen (vgl. Kapitel 6.2) kann durch einzelne Trends belegt werden, auf die im nachfolgenden Kapitel näher eingegangen wird.

x

Das Selbstbild der jeweiligen Beratungsform nimmt im Vergleich zu den beiden Fremdbildern der jeweiligen Realtypen stets die größte Fläche in der Differenzierungslogik ein. Dieser Anspruch der beiden Selbstdarstellungen ist vor allem darin zu begründen, dass jeder Berater natürlicher Weise aus geschäftstechnischen Gründen bestrebt ist, die eigenen Leistungen möglichst allumfassend zu beschreiben, um dadurch eine entsprechend hohe Anzahl an Aufträgen für das eigene Unternehmen zu lukrieren. Letzteres lässt sich allerdings nur dann realisieren, wenn die jeweiligen Selbstbilder möglichst deckungsgleich mit den Fremdbildern der einzelnen Führungskräfte wären, die letztlich die Beratungsaufträge vergeben. Da dies aber nicht zutrifft und von Führungskräften, wie bereits erwähnt, "für unterschiedliche Aufgabenstellungen unterschiedliche Berater beauftragt"604 werden, lassen sich für diese Differenzen zwei Erklärungen finden. Zum einen ist der Schluss nahe liegend, dass die Realitätseinschätzung der Führungskräfte richtig ist und die jeweiligen Berater ihr tatsächliches Leistungsvermögen nicht kritisch genug reflektieren und dieses daher überschätzen. Zum anderen ist es natürlich auch möglich, dass die Selbstbilder der Realität entsprechen, was wiederum darauf hindeuten würde, dass die Außendarstellung der jeweiligen Leistungen mangelhaft ist. In beiden Fällen gilt es jedoch zu bedenken, dass Beratung stets von einzelnen Personen abhängig ist, und erstere nicht uneingeschränkt gültig sind. Tendenziell liegt jedenfalls ein Problem vor, das seitens der Berater im eigenen Interesse wahrgenommen werden muss und gelöst werden sollte.

x

Aus der Evolution der beiden Beratungsformen ist ersichtlich, dass – bewusst oder unbewusst – ein voneinander Lernen stattgefunden hat und

604

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 15-03

250

Reflexionen über die Beratungsformen dass die beiden Realtypen zusammen weit mehr als die Hälfte der Fläche der Differenzierungslogik abdecken. Es kann folglich angenommen werden, dass sich die klassische Beratung und die systemische Beratung sinnvoll ergänzen, was letztlich auch durch die Aussage eines Vorstandes, welcher früher selber in der klassischen Beratung tätig gewesen ist, aufgezeigt wird: "Oft werden Ergebnisse der klassischen Beratung von der systemische Beratung umgesetzt. Know-how von Inhalt und Kommunikationsprozessen zu kombinieren wäre daher eine Herausforderung."605

x

605 606

607

Schließlich gilt es noch zu hinterfragen, was sich in den Bereichen der Differenzierungslogik befindet, die gar nicht oder kaum von den Realtypen der beiden Beratungsformen abgedeckt werden. Diese sind, wenn man die durch die Realtypen bedeckte Fläche als breite Diagonale von rechts unten nach links oben definiert (vgl. Abbildung 6.1), die linke untere sowie rechte obere Ecke der Differenzierungslogik. Betrachtet man zuerst die Ecke links unten, welche die Kombination aus Prozessorientierung und mechanistischen Beratungsparadigma darstellt, so können zwei Punkte angemerkt werden. Erstens sind, historisch gesehen, in diesem Bereich die frühen Formen klassischer Organisationsentwicklung sowie die der damit in Verbindung stehende Prozessberatung anzusiedeln, was sich sowohl durch einzelne Literaturquellen606 als auch durch mehrere Aussagen aus diversen Interviews ableiten lässt. So meint ein systemischer Berater der Wiener Schule, der sich in seiner Laufbahn auch intensiv mit der klassischen Organisationsentwicklung auseinandergesetzt hat, etwa: "Die klassische Organisationsentwicklung geht von den drei Produktionsfaktoren Mensch, Maschine und Material aus und vertritt den Standpunkt, dass ein motivierter Mensch mehr leistet. Dieses mechanistische Paradigma wurde durch das systemische Paradigma, das großteils psychisch-sozial ist, abgelöst,"607 womit er zum Ausdruck bringt, dass jene Leistungen, die durch die klassische Organisationsentwicklung erbracht wurden, de facto in die systemische Beratung eingegangen sind, von dieser besser erfüllt werden können und die Besetzung der prozessorientierten mechanistischen Ecke deshalb heute aus systemischer Sicht nicht mehr sinnvoll ist. Gleichzeitig muss zweitens festgehalten werden, dass die klassische Beratung mit ihrem immer stärker werdenden Prozessfokus (vgl. Kapitel 6.2.1) eher in den mechanistischen Bereich als in den systemischen Bereich vorstößt und

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 01-03 Vgl. Posratschnig (1986), S. 15, Fatzer (1992), S. 115 ff., Simon (1995), S. 288, Groth (1996), S. 53 f., Schein (2003), S. 21, sowie Wimmer (2004), S. 224 f. Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 62-05

Reflexionen über die Beratungsformen

251

diesen Quadranten so langsam erschließt. Dies ist durch die historischen Wurzeln der klassischen Beratung (vgl. Kapitel 3.1) zu begründen und wird von einem klassischen Berater so formuliert: "Es gibt eine prozessähnliche Denke, die aber extrem mechanistisch ist. Die Arbeit ist zwar oft extrem inhaltslastig, aber die Prozessebene wird zusehends wichtiger."608 Dem entgegen ist der Quadrant der systemischen Inhaltsorientierung historisch nicht belastet, sondern stellt eher ein noch zu erschließendes Feld dar. Die Meinungen darüber, ob diese Kombination überhaupt möglich ist, gehen jedoch stark auseinander und reichen von 'möglich' über 'spannend' und 'fruchtbar' bis zu 'sich widersprechend'. Während ein systemischer Berater mit klassischem Hintergrund die Meinung vertritt, "es ist möglich stark inhaltsorientiert und systemisch zu arbeiten, indem man viele detailliert ausgearbeitete Vorschläge einbringt und zur Diskussion stellt"609 hält dem ein klassischer Berater mit soziologischem Hintergrund entgegen, dass "stark inhaltlich und systemisch eigentlich widersprüchlich ist, weil Inhalt von außen kommt!"610 Diesbezüglich ist anzumerken, dass es sehr stark darauf ankommt, wie man ein System definiert und wie Beratung zufolge dieser Definition erfolgen kann. Grundsätzlich kann in diesem Bereich jedoch am ehesten das Managementzentrum St. Gallen (MZSG) unter der Leitung von Malik angesiedelt werden. Vor dem Hintergrund der graphischen Positionierungen der Idealtypen und der Realtypen, soll nun näher darauf eingegangen werden, welche Trends zur Evolution und damit zur gegenwärtigen Wahrnehmungen der Beratungsformen geführt haben.

6.2 Evolution der Beratungsformen Die Reflexion der Selbstbilder und Fremdbilder anhand der Differenzierungslogik (vgl. Kapitel 2.2) hat gezeigt, dass sich die klassische Beratung und die systemische Beratung von ihrem jeweiligen Ursprung aus, der in den meisten Fällen noch immer den Kern der einzelnen Beratungsformen darstellt, ausgedehnt und aneinander angenähert haben. Nimmt man bei der Interpretation der graphischen Positionierung nun eine konservative Position ein und zieht man dazu primär die Fremdbilder (vgl. Abbildung 6.1) – also die Außenwahrnehmungen – heran, so lässt sich für die beiden Idealtypen folgende Evolution hin zu den Realtypen erkennen. Während sich die klassische Beratung sowohl in Richtung Prozessorientierung nach links entwickelt hat als auch Teile des systemischen Beratungsparadigmas angenommen hat, lässt sich dem entgegen bei der systemischen Beratung in erster Linie eine Ausweitung

608 609 610

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 34-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 63-10 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 35-15

252

Reflexionen über die Beratungsformen

zur Inhaltsorientierung nach rechts feststellen. Superponiert man nun die einzelnen Fremdbilder, so kristallisiert sich in der Differenzierungslogik grob eine Diagonale heraus, die von den beiden Realtypen abgedeckt wird.

Mechanistisches

Beratungsparadigma

Systemisches

Systemische Beratung

Klassische Beratung

Prozessorientierter

Inhaltsorientierter Beratungsfokus

Abbildung 6.2: Evolution der Beratungsformen

Diese Evolution der beiden Beratungsformen lässt sich anhand einiger Trends, die in Folge zusammengefasst werden, skizzieren. 6.2.1 Evolution der klassischen Beratung In der klassischen Beratung lassen sich mehrere Trends feststellen, die die Evolution bis dato geprägt haben und auch noch weiterhin beeinflussen werden: x

611 612

"Der gestiegene Stellenwert der Umsetzung ist eine der größten Änderungen am Beratungsmarkt in den letzten fünf Jahren"611 und markiert damit auch den wohl wichtigsten Trend in der Evolution der klassischen Beratung. Diese Aussage einer klassischen Beraterin mit systemischem Hintergrund wird auch durch die Wahrnehmung eines Kollegen aus einer anderen klassischen Beratung unterstützt: "Die klassischen Berater haben früher nur Strategie gemacht und die Implementierung dem Klienten überlassen. Heute wird die klassische Beratung [jedoch] an der Umsetzung gemessen, weshalb mehr Prozessverständnis erforderlich ist."612 Den

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 39-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 50-03

Reflexionen über die Beratungsformen gleichen Schluss lässt auch die Studie Management Consulting 2004 zu, in der die Umsetzbarkeit einer Problemlösung nach wie vor als wichtigstes Kriterium für die Auswahl eines Beraters angeführt wird.613 Folglich sind klassische Berater nicht nur bemüht eine bessere Umsetzbarkeit der erarbeiteten Problemlösungen sicherzustellen, sondern begleiten auch immer öfter die Umsetzung bzw. Veränderungsprozesse. x

Da "in den letzten Jahren – etwa seit 1990 – in der klassischen Beratung immer mehr Prozessorientierung festzustellen ist"614, ergibt sich als eine unmittelbare Konsequenz daraus, dass viele Projekte der klassischen Beratung mittlerweile eine Mischform aus Inhalt und Prozess sind. So merkt ein Senior-Partner an, dass das, "was früher galt, "Wenn 'Insight' gut ist, kommt 'Impact' von selber", heute nur noch für wenige Ideen gilt"615, um in weiterer Folge darauf hinzuweisen: "Es gibt keinen Prozess ohne Inhalt und vice versa. Es kommt einfach auf das Thema sowie den Kunden an und ist nicht voneinander trennbar."616

x

Aus einer großen Anzahl von in den einzelnen Interviewgruppen getätigten Aussagen lässt sich erkennen, dass langjährig erfolgreiche klassische Berater zumeist intuitiv versuchen, das Richtige zu tun, und sich durch ihre Erfahrung oft zu 'impliziten Systemikern' entwickelt haben. So meint ein Senior-Partner einer klassischen Beratung: "Viele Dinge tun wir implizit"617, was natürlich auch von dem jeweiligen Berater abhängt, wie es ein jüngerer Kollege aus dem gleichen klassischen Beratungsunternehmen formuliert: "Die Herangehensweise an ein Thema ist sehr stark abhängig vom jeweiligen Partner. Wenn menschliche Aspekte eingebracht werden, dann primär von Senior-Partnern. Das Wissen darüber hat jedoch niemand von diesen Partnern explizit gelernt, aber es ist implizit vorhanden."618 Dieses Selbstbild wird aber auch von außen bestätigt, wie durch die Aussagen eines Vorstandes – "Es gibt unter den klassischen Beratern Berater, die systemisch arbeiten, weil es ihnen wichtig ist. Das sind anonyme Systemiker."619 – sowie eines systemischen Beraters – "Es gibt Berater in der klassischen Beratung, die ein äußerst vernetztes Denken haben."620 – zu erkennen ist.

613 614 615 616 617 618 619 620

Vgl. Fink (2004), S. 57 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 40-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 45-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 45-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 48-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 34-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 16-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 91-07

253

254

Reflexionen über die Beratungsformen

x

Das Arbeiten in gemischten Teams, das Abstimmen von Dokumenten, das Präsentieren durch Klienten und ähnliche Aspekte deuten darauf hin, dass sowohl Quantität als auch Qualität der Integration von Klientenmitarbeitern kontinuierlich ansteigt. Diesbezüglich meint etwa ein Senior-Partner eines klassischen Beratungsunternehmens: "Ein guter klassischer Berater arbeitet mit dem Klienten in gemischten Teams."621 Diese Meinung wird auch durch einen Senior-Berater einer anderen klassischen Beratungsfirma bestätigt, welcher noch einen Schritt weitergeht und den Blick nach vorne richtet: "Gemeinsam mit den Klienten eine Lösung zu erarbeiten, war der erste Schritt der Integration. Der zweite ist die systemische Anwendung"622 (vgl. Kapitel 7.2, Kapitel 7.3 und Kapitel 9). Eine andere Dimension dieser Integration beleuchtet dagegen ein Berater mit systemischem Hintergrund: "McKinsey stimmt Dokumente vor den Lenkungsausschüssen ab. Das ist definitiv systemisch."623

x

Wie eingangs bereits erwähnt, hat die klassische Beratung erkannt, "dass Projekte häufig an der Umsetzung scheitern, weshalb für die Umsetzung systemisch orientierte Spezialisten geholt werden."624 Es handelt sich dabei um einen von unterschiedlichen sichtbaren Versuchen der klassischen Beratungen systemisches Wissen – über die quantitative und qualitative Verbesserung der Integration von Klientenmitarbeitern hinaus – gezielt aufzubauen und zu integrieren. Obwohl diese Integration schwierig ist und nicht immer funktioniert – "Wir tun uns schwer so etwas [wie systemisches Wissen] zu integrieren, da wir immer auf die bottom-line [also die tatsächliche Rentabilität in harten Zahlen] schauen. Außerdem haben wir es ansatzweise schon versucht und es ist gegen die Wand gefahren."625 – gibt es weitere Indizien für diesen Trend. Einerseits nimmt die Anzahl von klassischen Beratern in systemischen Ausbildungen kontinuierlich zu, was an den Beobachtungen unterschiedlicher systemischer BeraterInnen, die auch systemische Ausbildungen gestalten, festgemacht werden kann: "Klassische Berater pilgern in systemische Ausbildungen. […] Sehr viele Berater von großen Unternehmensberatern suchen Ausbildungen über systemische Elemente und bekommen diese auch bezahlt. Über sie kommt das Wissen auch in die Unternehmen hinein." Andererseits sind in der klassischen Beratung vereinzelte Initiativen mit einer stark systemischen

621 622 623 624 625

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 38-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 41-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 86-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 70-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 47-16

Reflexionen über die Beratungsformen

255

Herangehensweise zu erkennen. Ein Beispiel dafür ist etwa das von McKinsey seit zirka 2000 entwickelte 'My Work Place', das durch die Synthese von klassischer Hierarchie und organischen Dialogstrukturen in der Praxis626 einen Brückenschlag zwischen den beiden Beratungsformen herzustellen sucht. Dieses Instrument geht, so wie systemische Beratung davon aus, dass alles Wissen im System steckt627 und zielt darauf ab, den Hintergrund des Handelns in Unternehmen in einem 'elektronischen Dialog' mit allen Mitarbeitern transparent zu machen und die dabei gewonnen Information dann allen Mitarbeitern und Führungskräften zur Verfügung zu stellen.628 Aus den diskutierten Trends lässt sich zusammenfassen, dass klassische Beratung dadurch, dass sie die Bedeutung der Umsetzung als immer wichtiger ansieht, nicht nur ein rein mechanistisches Prozessverständnis aufbaut, sondern auch immer mehr systemisches Wissen zu integrieren sucht. Es lässt sich demnach eine in kleinen und langsamen Schritten erfolgende sowie in den vielen Fällen wahrscheinlich unbewusste Entwicklungstendenz in Richtung systemischer Beratung erkennen. 6.2.2 Evolution der systemischen Beratung Aus den Interviews lassen sich auch für die Evolution der systemischen Beratung mehrere Trends erkennen: x

Mit den Worten, "viele Jahre haben wir unser Geschäft daraus generiert, dass die Wunden, die von klassischen Beratern geschlagen wurden, durch systemische Berater geschlossen wurden und die Umsetzung durch diese erfolgte"629, umschreibt ein langjähriger systemischer Berater das Faktum, dass der Großteil der Aufträge für seine Kollegen und ihn früher aus den Folgen von klassischen Beratungsprojekten entstanden ist. Da klassische Berater jedoch ein zunehmendes Problembewusstsein für die Wichtigkeit von Umsetzung und Veränderungsprozessen entwickeln und in diesem Bereich zusehends mehr Kompetenz aufbauen, entsteht in ebendiesem ursprünglichen Hauptbetätigungsfeld von systemischen Beratern immer mehr Konkurrenz, sodass systemische Berater vor der Herausforderung stehen, zusätzliche Kompetenzen in Betätigungsfeldern aufzubauen.

x

In Ergänzung dazu zeigt sich in der systemischen Beratung jedoch auch, dass "Prozessorientierung alleine […] zu wenig [ist]. Man muss auch vom Geschäftsfeld etwas verstehen, aber man muss das Geschäft nicht selber

626 627 628 629

Vgl. McKinsey&Company (2001), S. 1 Vgl. Gründler (2004), S. 64 Vgl. McKinsey&Company (2001), S. 3 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 67-14

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Reflexionen über die Beratungsformen bestreiten können."630 Dieser Sachverhalt entspricht dem Umkehreffekt des Umsetzungsproblems der klassischen Beratung und wird von einem Klienten mit den Worten umschrieben: "Prozessberater, die von Inhalt nichts verstehen, sind schlecht, weil es eine Wechselwirkung zwischen Inhalt und Prozess gibt."631 "Diese Einsicht, dass es ohne Inhalte bzw. sachfrei in der Realität oft zu wenig ist, hat zur Berücksichtigung der Sachdimension geführt"632, weshalb sich ursprünglich rein systemische Berater gegenwärtig immer mehr mit fachspezifischem inhaltlichen Wissen auseinandersetzen.

x

Als unmittelbare Konsequenz aus den genannten Punkten kann beobachtet werden, dass es derzeit schon einige wenige systemische Berater gibt, die inhaltliche Schwerpunkte aufweisen und diese – gezielt adaptiert – auch in ihre Arbeit einfließen lassen. Indizien dafür sind sowohl unterschiedliche Lebensläufe633 als auch an einzelne Publikationen634 von langjährigen systemischen Beratern.

x

Da der Aufbau von fachspezifischem inhaltlichem Wissen sehr zeitintensiv ist, versuchen systemische Beratungsunternehmen diesen Prozess durch Einstellung von ehemaligen klassischen Beratern sowie durch Kooperation mit branchenspezifischen oder funktionsspezifischen NetzwerkpartnerInnen zu beschleunigen. So zeigt sich einerseits, dass klassische Berater mitunter nach Absolvierung systemischer Ausbildungen eine Umorientierung von ihrem angestammten Beratungsunternehmen in eine systemische Beratung vollziehen. Andererseits gibt es Beispiele von langjährigen Führungskräften, die zufolge unterschiedlicher Erfahrungen mit systemischen Ausbildungen oder systemischer Beratung in entsprechende Beratungsunternehmen einsteigen oder mit diesen als Netzwerkpartner kooperieren.635

x

In enger Verbindung mit diesem Trend ist auch zu bemerken, dass in systemischen Beratungen nicht mehr nur erfahrene Personen eingestellt werden, sondern vereinzelt auch "junge Leute [mit weniger Lebenserfahrung aufgenommen werden], was früher nicht der Fall war."636 Diese traditionelle Haltung ist darin begründet, dass die primäre Tätigkeit eines systemischen

630 631 632 633

634 635

636

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 85-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 19-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 67-04 Beispielhaft können hier die Lebensläufe von unterschiedlichen systemischen Beratern oder Beratern mit systemischem Hintergrund auf den folgenden Homepages genannt werden: http:// www.conecta.com, http://www.hernstein.at, http://www.icg.eu.com, http://www.koenigswieser.net, http://www.neuwaldegg.at, http://www.osb-i.com, http://www.trigon.at Hier wären etwa Nagel/Wimmer (2002), sowie Janes/Prammer/Schulte-Derne (2001) zu nennen Als markanteste Beispiele sind hier Königswieser Network (http://www.koenigswieser.net) sowie Beratungsgruppe Neuwaldegg (http://www.neuwaldegg.at) anzuführen. Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 66-10

Reflexionen über die Beratungsformen

257

Beraters in erster Linie Wissen erfordert, das – wenn überhaupt – nur sehr schwer aus verschiedenen Unterlagen erlernt werden kann, sondern eher in den unterschiedlichsten Situationen erfahren werden muss. Mit einer zunehmenden Inhaltsorientierung kann dieser fehlende Erfahrungsschatz junger Menschen aber durch entsprechendes Wissen in anderen Bereichen in Kauf genommen werden. Für die systemische Beratung kann somit festgehalten werden, dass der alleinige Fokus auf systemische Prozessorientierung als ungenügend erkannt wurde und zur Integration von Inhalten eine kontinuierliche Horizontalbewegung in Bezug auf die Differenzierungslogik stattfindet. Zufolge ebendieser Bewegung entwickelt sich die systemische Beratung teilweise in Richtung ihres Kontrapunktes und entfernt sich damit von Teilen ihrer Wurzeln in der systemischen Familientherapie sowie in der soziologischen Systemtheorie. Das ist der Fall, weil zum einen "die Familientherapie von Inhalten absieht, was in der Organisation aber nicht möglich ist"637, und zum anderen "sich Luhmann nur mit der Kommunikation und dem Individuum beschäftigt hat."638 6.2.3 Fazit über Evolution der Beratungsformen Aus den beobachteten Trends wird ersichtlich, dass "beide Beratungsformen [eine gewisse Form von] Prozess- und Inhaltsorientierung"639 aufweisen, "weil es eine Wechselwirkung zwischen Inhalt und Prozess gibt."640 Dadurch kann begründet werden, warum und wie sich die klassische Beratung und die systemische Beratung von ihrem jeweiligen Idealtyp aus zu den gegenwärtig wahrgenommenen Realtypen entwickelt und einander angenähert haben. Diese Gesamtsituation lässt sich sehr gut mit den Worten einer systemischen Beraterin, die auch auf langjährige Erfahrung als Personalchefin von unterschiedlichen Unternehmen verweisen kann, skizzieren: "Die klassische Beratung entwickelt sich mehr in Richtung systemischer Beratung als umgekehrt. Das heißt, dass sich die systemischen Berater inhaltlich nicht fortbilden, in ihrer Beratung aber sehr wohl inhaltliches Wissen aufbauen, indem sie Experten von 'Hardfacts-Beratern' einstellen. Gegen dieses neue Wissen besteht allerdings eine hohe Abwehrhaltung bei den systemischen Beratern, die in der systemischen Beratung selber reflektiert werden muss. Die klassischen Berater haben hingegen die Sorge, dass ihnen die Sachen aus der Hand gleiten und nicht mehr steuerbar sind, weshalb sie sich mit systemischem Wissen auseinandersetzen."641

637 638 639 640 641

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 67-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 91-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 62-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 19-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 97-19

258

Reflexionen über die Beratungsformen

6.3 Charakteristika der Beratungsformen Vor dem Hintergrund der über klassische Beratung sowie systemische Beratung bestehenden Bilder (vgl. Kapitel 6.1) und dem Wissen darüber, wie deren beiden Realtypen mit den jeweiligen Idealtypen zusammenhängen (vgl. Kapitel 6.2), kann nun auf die wahrgenommenen Charakteristika der Realtypen eingegangen werden. Diese Charakteristika, die untereinander alle zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen, werden auf Basis der zweiten untersuchungsleitenden Hypothese (vgl. Kapitel 5.1.3) reflektiert und lassen sich folgendermaßen zusammenfassen.

Kompetenz über soziale Systeme

Schwäche

Unterstützung von verändernden Prozessen

Reflexion der Problemstellung

Qualität der Kommunikation

Auftreten der Berater

Umgang mit Komplexität

Implikationen für das Management

Ressourcen der Beratungsunternehmen

Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse

Geschwindigkeit der Konzepterarbeitung

Unterstützung durch inhaltliche Beiträge

Kompetenz über fachliche Themen

Beratungsform

Integration der Betroffenen

Stärke

Charakteristika

Klassische Beratung

Systemische Beratung

Ausprägung

Klassisch

Wechselseitig

Systemisch

Abbildung 6.3: Charakteristika der Realtypen

Diese für die Zusammenfassung gewählte Abbildungsform führt, im Unterschied zu den wertfrei dargestellten Charakteristika der Idealtypen (vgl. Abbildung 2.7), eine Kategorisierung der Charakteristika der Realtypen nach Stärken und Schwächen ein, wobei sich die 13 Charakteristika zufolge ihrer markanten Ausprägungen insgesamt in drei Gruppen unterteilen lassen. Während die ersten fünf Charakteristika explizite Stärken der klassischen Beratung sind, können die letzten fünf Charakteristika als klare Stärken der systemischen Beratung verstanden werden, sodass einerseits von einer klassischen Ausprägung und andererseits von einer systemischen Ausprägung gesprochen werden kann. Lediglich die mittleren drei Charakteristika sind keiner der beiden Beratungsformen eindeutig als Stärke oder Schwäche zurechenbar, sodass in dieser dritten Gruppe eine wechselseitige Ausprägung besteht. Die aus den 13 Charakteristika dieser drei Ausprägungsgruppen resultierenden Profile der beiden Beratungsformen zeigen deutlich, dass sich diese direkt ergänzen bzw. diametral

Reflexionen über die Beratungsformen

259

spiegeln. Somit ist es nicht nur möglich die zweite untersuchungsleitende Hypothese zu verifizieren, sondern es lassen sich darüber hinaus auch die erste und die zweite forschungsleitende Hypothese belegen. Es kann daher die Beantwortung der ersten Teilfragen der ersten und zweiten wissenschaftlichen Fragestellung (vgl. Kapitel 1.4) in der anschließenden Diskussion erfolgen, die primär entlang der meist diametral entgegengesetzten Eigenschaftspaare geführt wird, ehe ein abschließendes Fazit erfolgt. 6.3.1 Kompetenz über fachliche Themen Die Kompetenz über fachliche Themen entspricht grundsätzlich im Rahmen der fünf Teilkompetenzen (vgl. Kapitel 7.4.3.1) einer spezifischen Fachkompetenz und lässt sich in zwei Bereiche untergliedern. Sie umfasst einerseits Kompetenz in einer bestimmten Branche (z.B. Banken, Automobil, Konsumgüter, öffentlicher Bereich, etc.) und andererseits Kompetenz über eine spezifische Funktion (z.B. Strategie, Organisation, Marketing, etc.). Diese Kompetenz bildet – ganz egal ob für Klienten oder Berater – die Grundlage, um überhaupt einzelne inhaltliche Beiträge (vgl. Kapitel 6.3.2) oder darüber hinaus umfassende fachspezifische Konzepte erarbeiten zu können, und wird in Bezug auf die klassische Beratung sowie die systemische Beratung gänzlich unterschiedlich wahrgenommen. Für die klassische Beratung lässt sich mit den Worten eines systemischen Beraters festhalten, dass "der klassische Berater seine Wertigkeit als Profi im Inhalt gewinnt, [was dem Beratungsverständnis eines solchen Beraters entspricht und diesem auch als entsprechende Stärke zugerechnet wird]. Das resultiert in einer asymmetrischen Haltung des Beraters dem Klienten gegenüber"642, was sich daraus ergibt, dass der Berater in einem gewissen Bereich mehr weiß, als der Klient. "Der Kunde holt sich mit einem klassischen Berater also Erfahrung ins Unternehmen bzw. Leute in die Organisation, die ein Thema schon öfter gemacht haben"643 und infolgedessen ein spezifisches Expertenwissen in einer Branche oder einer Funktion besitzen, aus dem ein Mehrwert für das Unternehmen entstehen soll. Dafür greifen klassische Berater – teilweise ausschließlich, aber in jedem Falle primär – auf Zahlen, Daten und Fakten zurück, die sie sowohl aus internen als auch externen Quellen erhalten. In diesem Zusammenhang sind vor allem Datenbanken zu erwähnen, die das Herzstück des Wissensmanagements (vgl. Kapitel 6.3.5) der unterschiedlichen klassischen Beratungsunternehmen darstellen und einen schnellen Zugriff auf Benchmarks, BestPractice-Beispiele sowie Dokumente aus einer Vielzahl von Beratungsprojekten erlauben. Dieses institutionalisierte Wissen wird von großen Beratungsunternehmen zusätzlich durch kontinuierliche Wissensgenerierung ergänzt, um so das eigene 642 643

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 67-11 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 48-03

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Reflexionen über die Beratungsformen

Wissen neben dem neuesten Fachwissen gezielt zu erweitern. Einschränkend ist für klassische Berater an dieser Stelle aber noch anzumerken, dass einerseits ein zu intensiver Branchenfokus das Blickfeld einschränken kann und andererseits ein Berater im Vergleich zum Klienten schwer ein extrem spezifisches Know-how aufbauen kann. Letzteres ist besonders deshalb der Fall, weil der Klient, der eigentliche Experte für sein eigenes Geschäft sein sollte, darin auch über ein entsprechendes Wissen verfügen müsste, was jedoch nicht immer der Fall ist. Daher stellt sich ein Senior-Partner eines klassischen Beratungsunternehmens zurecht die Frage: "Kann man dem Kunden zufolge der eigenen Erfahrung, des bestehenden Wissensmanagements, der spezifischen Experten und großen Organisation noch etwas über sein Geschäft erzählen?"644 Daraufhin kommt er für sich selbst auf die Antwort: "Es gibt nicht viele Berater, die das erfüllen können, weil dafür eine weltweite Präsenz und eine kritische Größe erforderlich sind"645 (vgl. Kapitel 6.3.5). Die Kompetenz der großen klassischen Beratungsunternehmen über fachliche Themen wird letztlich als eindeutige Stärke wahrgenommen und stellt schlussendlich auch sicher, dass die klassischen Berater über eine anschlussfähige Sprache in der Kommunikation mit dem Klienten verfügen. Dem entgegen wird bei der systemischen Beratung die Kompetenz über fachliche Themen als Schwäche wahrgenommen, was sich – genauso wie bei der klassischen Beratung – aus dem Beratungsverständnis erklären lässt. In demselben wird in Anlehnung an die systemische Familientherapie davon ausgegangen, dass das gesamte zur Lösung des Problems notwendige Wissen im System – also in der Organisation des Klienten – vorhanden ist, und sich "die Inhalte [...] letztlich aus Kommunikationsprozessen"646 im Klientensystem ergeben. Der Familientherapie entsprechend ist das "theoretisch ohne Fachinput möglich, indem man die richtigen Fragen stellt"647, weshalb systemische Berater das Einbringen inhaltlicher Beiträge von Außen auch als nicht sinnvoll und nicht erforderlich betrachten. Die Konsequenz daraus ist, dass viele systemische Berater inhaltliches Wissen in ihrer Arbeit völlig ausblenden und im Extremfall sich nicht einmal die Mühe machen, das Thema zu verstehen. Diese theoretische Position bringt ein Berater, der sowohl fachliches als auch systemisches Hintergrundwissen besitzt, auf den Punkt und meint: "Es gibt systemische Berater, die wollen inhaltlich nicht helfen."648 Folglich sehen viele systemische Berater auch keine Notwendigkeit, sich mit dem erforderlichen Wissen auseinanderzusetzen und haben daher gar keine oder sehr wenig Kompetenz über

644 645 646 647 648

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 45-12 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 45-12 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 89-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 17-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 96-02

Reflexionen über die Beratungsformen

261

fachliche Themen. "Systemiker glauben [also] sich um Inhalte nicht kümmern zu müssen. Das ist aber ein Irrtum"649, wie es ein systemischer Familientherapeut, der auch als systemischer Berater tätig ist, betont. Dabei, dass "die Familientherapie von Inhalten absieht, was in der Organisation aber nicht möglich ist"650, wird letztlich übersehen, dass ein Unterschied zwischen den Systemen der Familien und jenen der Organisationen dahingehend besteht, dass letztere nicht immer alles Wissen, das sie zur Lösung eines Problems benötigen im System besitzen bzw. vorhalten. Alleine um die richtigen Fragen stellen zu können, und damit der theoretischen Position aus der Familientherapie zu folgen, muss bei der Anwendung in Organisationen zumindest ein inhaltliches Grundverständnis bei dem jeweiligen systemischen Berater vorhanden sein. Da aber viele systemische Berater diesem Sachverhalt nicht Rechnung tragen, "stellt sich die Frage, ob man mit [dem Idealtyp] der systemischen Beratung alleine etwas weiterbringt. Wenn nicht, dann sind Inhalte erforderlich. Das inhaltliche Nichtwissen der systemischen Berater birgt schließlich die Gefahr, dass der Klient ein gutes Gefühl bei der Problemlösung hat und sagt, dass diese toll ist, während der systemische Berater dieselbe nicht überprüfen bzw. einschätzen kann"651, weil er kein Wissen über das fachliche Thema besitzt. Als eine logische Konsequenz dieses inhaltsfreien Arbeitens ergibt sich, dass systemische Beratungsunternehmen keine Datenbanken pflegen, um beispielsweise Benchmarks zu verwalten, und eine andere Form des Wissensmanagements (vgl. Kapitel 6.3.5) besitzen. Eine zweite Folge dieser Herangehensweise an Organisationen ist, dass den systemischen Beratern sowohl zu wenig 'Business-Verständnis' als auch ein fehlender 'Business-Mindset' zugeschrieben wird, was sich wiederum auf die von ihnen verwendete Sprache durchschlägt. "Manchen Kunden sind Systemiker von der Sprache her einfach zu anstrengend"652, weil sich diese extrem an den Begriffen der Systemtheorie orientiert und folglich als 'abgehoben' sowie nicht anschlussfähig an primär wirtschaftlich ausgerichtete Manager empfunden wird. Im Zusammenhang mit der nicht vorhandenen Kompetenz über fachliche Themen kann das letztlich dazu führen, dass systemischen Beratern von Seiten der Klienten mehr Skepsis und damit verbunden natürlich weniger Akzeptanz als klassischen Beratern entgegengebracht wird. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Kompetenz über fachliche Themen in den beiden Beratungsformen auf das Beratungsverständnis des jeweiligen Idealtyps zurückzuführen ist. Während sich die klassische Beratung eindeutig über diese Kompetenz definiert und darin ihren Mehrwert sieht, betrachtet die systemische

649 650 651 652

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 68-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 67-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 49-10 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 20-21

262

Reflexionen über die Beratungsformen

Beratung diese Kompetenz in der Regel als nicht relevant, weil sie davon ausgeht, dass das Wissen in der Klientenorganisation vorhanden ist, jedoch aufgrund von Kommunikationsblockaden nicht entsprechend mitgeteilt werden kann. Weil diese Sichtweise vieler Systemiker von den meisten Klienten nur bedingt oder gar nicht geteilt wird, wird die fehlende Kompetenz über fachliche Themen der systemischen Beratung als eindeutige Schwäche zugerechnet. Dem entgegen wird diese Kompetenz als eine eindeutige Stärke der klassischen Beratung gesehen. 6.3.2 Unterstützung durch inhaltliche Beiträge Die Unterstützung durch inhaltliche Beiträge zeigt auf, wie diese einerseits vom Berater erarbeitet und andererseits in die Klientenorganisation eingebracht werden können. Dieser "inhaltliche Input ist in der Beratung wichtig, weil dieser zur Beratung dazugehört"653 und erfordert nicht nur die zur Lösung der jeweiligen Problemstellung notwendige Kompetenz über fachliche Themen (vgl. Kapitel 6.3.1), welche einer Fachkompetenz entspricht, sondern auch die zur Aufarbeitung und zur Darstellung relevante Kompetenz über konzeptionelle Elemente, die eine Methodenkompetenz darstellt, wobei es sich um zwei Teilkompetenzen (vgl. Kapitel 7.4.3.1) der gesamten Beratungskompetenz (vgl. Kapitel 7.4.3) handelt. Die Summe dieser inhaltlichen Beiträge durch die Berater von Außen ergibt zusammen mit jenen der Klienten von Innen das inhaltliche Konzept für die jeweilige Problemstellung. Weil die klassische Beratung ihren Mehrwert in erster Linie über ihre spezifische Kompetenz über fachliche Themen definiert, liegt es auf der Hand, dass ihr "Fokus immer auf den Inhalt"654 gerichtet ist und dieses Wissen mittels inhaltlicher Beiträge von außen in die Organisation hineingetragen wird. "Der klassische Berater sagt einem hilflosen Unternehmen, wie's geht"655, ein Problem zu lösen, was eindeutig als Stärke wahrgenommen wird, auch wenn die Konzepte mitunter einen hohen intellektuellen Anspruch aufweisen. Zufolge seiner Orientierung an Zahlen, Daten und Fakten sucht er eine objektive und personenunabhängige Außensicht aus seiner neutralen und unvoreingenommenen Position einzubringen und vertritt demnach eine inhaltliche Meinung, die durch seinen Blick auf die Organisation von Außen entsteht. Aufgrund dieser Außensicht, die für den Klient im Regelfalle wertvoll ist, weil sie Begründungen für Probleme liefern und damit auch Transparenz über Probleme erzeugen kann, wird der klassische Berater auch als inhaltlicher Sparringspartner gesehen. Für diese Rolle gilt es jedoch zu bedenken, dass die Außensicht verloren geht, "wenn ein Berater länger als sechs Monate auf einem Projekt ist"656, wie ein

653 654 655 656

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 84-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 47-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 97-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 38-12

Reflexionen über die Beratungsformen

263

Senior-Partner einer klassischen Beratung kritisch reflektiert. Weiters werden den klassischen Beratern, einhergehend mit den inhaltlichen Beiträgen, sowohl das dafür notwendige methodische Rüstzeug – Tools, Frameworks, Konzepte, etc. – als auch die entsprechend erforderliche handwerkliche Kompetenz in hohem Maße attestiert. Um diesen positiven Gesamteindruck in Bezug auf inhaltliche Beiträge nicht zu trüben, gilt es die Qualität der verwendeten Zahlen, Daten und Fakten eingehend zu überprüfen sowie Relevanz derselben kritisch zu hinterfragen, damit die berechtigten Kritikpunkte eines Klienten vermieden werden können. Dieser beanstandet, dass in der klassischen Beratung die "Leute mit teilweise sinnlosen – weil zuerst nicht überlegten – Datensammlungen zu wenig Interviews machen"657, um eine Situation wirklich zu verstehen, und appelliert daher, "man sollte die Gründe des interviewten Klienten [für eine bestehende Situation] mehr hinterfragen und nicht zu schnell auf beliebige Daten und Zahlen schießen"658 und daraus falsche Schlüsse ziehen. Für professionell arbeitende Berater sollte dieser Aspekt jedoch selbstverständlich sein und einen integralen Bestandteil ihrer Vorgehensweise darstellen, da sie ansonsten ihr Image stark beschädigen und folglich weniger Aufträge erhalten würden. Dies erscheint in Anbetracht der über die letzten Jahre kontinuierlich steigenden Umsatzzahlen der großen klassischen Beratungsfirmen659 aber als nicht realistisch, weshalb die Summe der einzelnen Wahrnehmungen zu diesem Charakteristikum in Bezug auf die klassische Beratung als deutliche Stärke interpretiert werden kann. Im Gegensatz zu diesen Wahrnehmungen wird die Unterstützung durch inhaltliche Beiträge klar als Schwäche der systemischen Beratung identifiziert. Dies zeichnet sich bereits aus der Diskussion um die Kompetenz über fachliche Themen ab, die aufzeigt, dass viele systemische Berater zufolge ihrer Grundeinstellung sich nicht mit fachlichem Wissen auseinandersetzen und oft den Standpunkt einnehmen, "ich patz' mich nicht mit den fachlichen Problemen der Kunden an, sondern mach' nur den Prozess."660 Diese Aussage eines Beraters mit klassischem sowie systemischem Erfahrungshintergrund wird von einem seiner Kollegen prinzipiell bestätigt, aber dahingehend konkretisiert, dass er den Unterschied zwischen guter und schlechter systemischer Beratungsleistung am fachlichen Verständnis festmacht: "Erfolgreiche systemische Berater haben ein Fachverständnis, aber inhaltliche Arbeit würden sie nicht machen."661 Dadurch stellt er klar, dass systemische Berater keine inhaltlichen Beiträge leisten und diese Form der Beratung, wie bereits erwähnt, "theoretisch ohne

657 658 659 660 661

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 03-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 03-04 Vgl. http://www.luenendonk.de (28.06.2005) Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 87-10 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 61-06

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Reflexionen über die Beratungsformen

Fachinput möglich ist, indem man die richtigen Fragen stellt"662, was aber nur erfüllt werden kann, weil man die Problemstellung fachlich versteht. Etwas progressiver äußern sich in diesem Zusammenhang zwei systemische Beraterkollegen, von denen einer die Meinung vertritt: "Systemische Beratung bezieht inhaltlich Stellung, aber mit einer angepassten Sprache."663 Dies führt der andere systemische Berater mit folgenden Worten genauer aus: "Inhaltliche Lösungen [, die immer rudimentär sind,] werden im Rahmen des Projektes [von den systemischen Beratern] zur Verfügung gestellt, müssen aber vom Klienten aufgearbeitet werden [, damit sie zu dessen Kultur passen]. Das ist anders als bei der klassischen Beratung, die fertige Lösungen anbietet."664 Ebendieser Aussage entsprechend, können in systemischen Beratungsprojekten zwar inhaltliche Beiträge erfolgen, aber wenn, dann auch nur in verklausulierter Form. Sie bilden dann zusammen mit der Interventionsarchitektur (vgl. Kapitel 4.1) die Rahmenbedingungen dafür, dass inhaltliche Beiträge vom Klienten erarbeitet werden können, was von unterschiedlichen Führungskräften auch als der eigentliche Mehrwert von systemischer Beratung erkannt und honoriert wird. "Von systemischen Beratern wird prinzipiell kein Inhalt erwartet"665, meint etwa ein Vorstand dazu und wird durch die Aussage eines Vorstandes aus einer anderen Branche bestätigt: "Ich kenne einen systemischen Berater, den ich sehr schätze und der ausgezeichnete Arbeit macht, wenn er weiß, was zu tun ist [bzw. welche Inhalte umgesetzt werden sollen]. Weiß er das nicht und soll er Inhalte erarbeiten, dann kann er das nicht"666, weil ihm sowohl das erforderliche Fachwissen als auch die dazugehörigen Methoden fehlen. In eine ähnliche Richtung stößt ein Bereichsleiter, auch wenn dessen Aussage schon deutliche Kritik impliziert: "Systemische Beratung liefert oft gute Erklärungen, warum etwas nicht funktioniert, aber kein Konzept, wie's funktionieren könnte."667 Noch klarer äußert sich dazu eine Personalchefin, die kritisiert, dass jeder "Klient zu bestimmten Zeitpunkten vom systemischen Berater gerne einen Fachinput hätte, der nicht gegeben wird, weil es den Auftrag überschreitet."668 Sie bringt damit zum Ausdruck, dass systemische Berater, wenn sie eine eigene inhaltliche Meinung haben, diese nicht kommunizieren, weil sie eine Art 'Glauben' haben, dass man Wissen nicht mitteilen darf. Die Auswirkungen dieser Kritik sieht auch eine systemische Beraterin, welche auf intensive Erfahrung im klassischen Bereich zurückblicken kann: "Der Kunde würde in manchen Situationen den Anschluss von außen benötigen, weil das System sonst im eigenen Saft erstickt.

662 663 664 665 666 667 668

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 17-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 93-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 65-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 16-15 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 18-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 17-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-10

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Es braucht also inhaltlichen Input von außen."669 Hier knüpft nun auch die Kritik der klassischen Berater an der systemischen Beratung an, von denen einer zu bedenken gibt: "Ein fortgeschrittener 'Impact' ist ohne Inhalt nicht möglich. Das heißt, dass ein Berater entweder inhaltlichen Input geben oder den erarbeiteten Inhalt 'challengen' können muss."670 So ein Berater diese Funktion als Sparringspartner nicht erfüllen kann, besteht die Gefahr, "dass das beratene Unternehmen in die falsche Richtung geht"671, und dies weder vom Klient noch vom Berater bemerkt wird. Für den Fall, dass eine Klientenorganisation selber nicht zumindest den Großteil des Wissens, das für die Lösung der anstehenden Problemstellung erforderlichen ist, abdeckt, kann die fehlende oder ungenügende Unterstützung durch inhaltliche Beiträge weitreichende Folgen haben und wird der systemischen Beratung demzufolge als grundlegende Schwäche angelastet. Es kann zusammengefasst werden, dass die Unterstützung durch inhaltliche Beiträge eine direkte Konsequenz aus der Kompetenz über fachliche Themen darstellt. Stellt letzteres so wie in der klassischen Beratung den primären Mehrwert eines Beratungsunternehmens für eine Klientenorganisation dar, dann entsprechen die inhaltlichen Beiträge lediglich der Mitteilung des Wissens von außerhalb. Diese Wissensmitteilung ist der Fokus der vom Klienten nachgefragten Beratungsleistung und wird für die klassische Beratung deshalb eindeutig als Stärke wahrgenommen. Da die systemischen Berater auf der anderen Seite ihren Mehrwert jedoch über die Gestaltung des Veränderungsprozesses definieren und im Regelfall keine oder wenn nur verklausulierte inhaltliche Beiträge leisten, wird ihnen selbiges als Schwäche zugeschrieben. 6.3.3 Geschwindigkeit der Konzepterarbeitung Die Geschwindigkeit der Konzepterarbeitung drückt aus, wie hoch der Zeitbedarf ist, bis erste Ergebnisse zur Beratungsarbeit vorliegen bzw. ein definitives Konzept zur Problemlösung vorhanden ist. Sie ist vor allem dann von großer Bedeutung, wenn – aus welchen Gründen auch immer – ein hoher Zeitdruck zur Lösung des Problems besteht und möglichst schnell konkrete Ansatzpunkte erforderlich sind. Auch dieses Charakteristikum wird letztlich von den unterschiedlichen Beratungsverständnissen der beiden Beratungsformen maßgebend beeinflusst und spiegelt sich deutlich in den diametral entgegengesetzten Wahrnehmungen über die Realtypen wieder. Der klassischen Beratung wird in dieser Dimension eine hohe Geschwindigkeit bzw. ein geringer Zeitbedarf zur Erarbeitung eines Konzeptes bescheinigt, was sich mit den Worten eines klassischen Beraters gut auf den Punkt bringen lässt: "Wir 669 670 671

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 97-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 51-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 50-10

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versuchen kurzfristig etwas zu bewirken."672 Ein Abteilungsleiter, der selber einige Jahre in einer klassischen Beratung gearbeitet hat, unterstützt diese Sichtweise und weist mit seiner Aussage – "Mit einem guten klassischen Berater geht alles relativ schnell, wenn man ihn richtig aufstellt und losschickt."673 – zusätzlich darauf hin, dass es die Verantwortung des Klienten ist und in dessen Eigeninteresse liegt, einen klassischen Berater wohlüberlegt und sinnvoll einzusetzen und diesen mit einer spezifischen Themenstellung zu beauftragen. Somit stellt der Klient sicher, dass er den bestmöglichen Nutzen aus der klassischen Beratung zieht und den Prozess möglichst effizient gestaltet, wobei "bei den klassischen Beratern [im Vergleich zu den systemischen Beratern ohnehin] schneller ein Ergebnis auf den Tisch kommt. Das ist aber auch die Folge eines anderen Arbeitsprozesses als bei den systemischen Beratern"674, welcher von der Funktion des klassischen Beraters als Experte für ein bestimmtes Thema geprägt wird. Als solcher stellt der klassische Berater eine zusätzliche Ressource für die Erarbeitung inhaltlicher Aspekte dar und kann durch die gezielte Aufbereitung von spezifischen Unterlagen zur rascheren Entscheidungsfindung in der Klientenorganisation beitragen. In dieser Rolle erfüllt er zwei Aspekte, die beide sowohl positiv als auch negative Auswirkungen annehmen können und fast unausweichlich ein Spannungsfeld aufbauen. Zum ersten entlastet er den Klienten dadurch, dass er fachliche Themen bearbeitet und verhilft dessen Organisation durch die inhaltlichen Beiträge kontinuierlich zu einem Konzept. Zum zweiten belastet der Berater die Klientenorganisation mitunter auch, weil er für seine inhaltlichen Beiträge einerseits spezifische Informationen aus der Organisation benötigt und die resultierenden Ergebnisse andererseits meistens Folgearbeiten in der Organisation erzeugen. Der erste Aspekt kann und ist grundsätzlich ein Vorteil für die Klientenorganisation, aber nur solange der Wissenstransfer zwischen Berater und Klient auch sichergestellt wird. Ist diese Funktion nicht erfüllt, kann dieser Vorteil mit Fortdauer des Projektes oder auch erst nach dessen Abschluss in einen gravierenden Nachteil umschlagen und im schlimmsten Falle eine gewisse Abhängigkeit des Klienten vom Berater bewirken. In Bezug auf den zweiten Aspekt wird es als vorteilhaft betrachtet, dass ein klassischer Berater durch seine Arbeit das Tempo vorgibt und die Organisation antreibt, was durch einen Vorstand untermauert wird: "Wenn man jemanden von extern für ein bestimmtes Projekt holt, dann wird – verglichen zu internen Projekten – die Umsetzungswahrscheinlichkeit und der Umsetzungsdruck erhöht."675 Diese Belastung kann aus ihrer grundsätzlich positiven Wirkung heraus aber auch in den gegenteiligen Effekt umkippen, wenn die Berater

672 673 674 675

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 47-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 08-10 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 20-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 15-06

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einen übertriebenen und bedingungslosen Leistungsanspruch an den Tag legen und so die Klientenorganisation zu sehr belasten. Im schlimmsten Falle kann dies dazu führen, dass durch die klassische Beratung das Tagesgeschäft gelähmt wird, weil dem Unternehmen zuviel Mehrarbeit bereitet wird und dessen Ressourcen gebunden werden, was in der Klientenorganisation letztlich zu der Sichtweisen führen kann, "klassische Beratung kostet viel Zeit und nützt nichts."676 Das ist jedoch ein Effekt, welcher sich in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert hat, weshalb die Geschwindigkeit der Konzepterarbeitung für die klassische Beratung grundsätzlich als positiv aufgefasst und als klare Stärke empfunden wird. Entgegen dem Ansinnen von klassischen Beratern Entscheidungsprozesse gezielt zu beschleunigen, suchen systemische Berater die Veränderungsarbeit bewusst zu entschleunigen, um der Organisation dafür die notwendige Zeit einzuräumen. Dies führt in Kombination mit der hohen Integration von Betroffenen (vgl. Kapitel 6.3.11) oft zu langen, zeitintensiven Abstimmungsprozessen, die wiederum eine niedrige Geschwindigkeit zur Erarbeitung eines Konzeptes nach sich ziehen. Der daraus resultierende hohe Zeitbedarf für die Konzepterarbeitung in einem systemischen Beratungsprojekt, wird jedoch noch von zwei weiteren Punkten beeinflusst. Zum einen investiert ein guter Berater generell viel Zeit in der Problemdiagnose, "weil am Beginn des Projektes oft nur ein Symptom und nicht das eigentliche Problem bekannt ist."677 In dieser Diagnosephase, die in der systemischen Beratung – im Vergleich zur klassischen Beratung – von den anderen Phasen nicht scharf getrennt werden kann (vgl. Abbildung 2.4), wird die vermeintliche Problemstellung besonders intensiv und eindringlich hinterfragt, weshalb diese Phase deutlich länger dauert als in der klassischen Beratung. Zum anderen ist das Theoriegebäude systemischer Beratung sehr komplex und unheimlich kompliziert, weshalb dessen Umsetzung in die Praxis nicht nur schwierig, sondern auch zeitintensiv ist. "Die meisten Systemiker kriegen die gescheiten Theoriegebäude nicht auf die Matte!"678, meint dazu etwa ein systemischer Berater und wird durch einen klassischen Berater mit psychologischer Ausbildung diesbezüglich ergänzt: "Die Systemtheorie ist sehr komplex und es stellt sich die Frage, was man in der Beratung damit anfangen kann. […] Die Hürde liegt beim Verständnis der Unternehmen und ob sich diese auf systemische Art und Weise helfen lassen wollen."679 Er spielt damit darauf an, dass ein systemisch orientierter Veränderungsprozess von den Klienten im Regelfall deutlich mehr Geduld und Ausdauer erfordert, als ein klassisches Beratungsprojekt, weil im Rahmen einer systemischen Beratung sehr wahrscheinlich unterschiedliche Konflikte

676 677 678 679

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 03-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 08-12 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 88-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 33-03

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Reflexionen über die Beratungsformen

aufgearbeitet werden. Dabei kann sich ein zäher und mühseliger Prozess ergeben, der für eine Organisation hohe Strapazen auf der sozialen Ebene bewirken kann, wodurch die Mitarbeiter einer intensiven Nervenbeanspruchung ausgesetzt werden, die wiederum einen hohen Energieverbrauch nach sich zieht. Das kann im Endeffekt viel operative Kapazität binden, was zu einem vorübergehenden Rückgang der Produktivität führen kann, woraus dem Unternehmen in letzter Konsequenz hohe Kosten680 entstehen können. Um diesen Herausforderungen gewachsen zu sein und mit einem systemisch angelegten Beratungsprozess produktiv arbeiten zu können, muss eine Organisation also Beratungserfahrung aufweisen, "weil der Klient ein gewisses Verständnis haben muss, damit systemische Beratung funktioniert."681 Aber selbst wenn dieses Verständnis vorhanden ist, gestaltet dieser zeitintensive Prozess, der mitunter von einer Vielzahl von Iterationsschleifen geprägt ist, den Einsatz von systemischen Beratern bei den gegenwärtig immer kürzer werdenden Entscheidungsfristen als schwierig. "Manchmal ist [einfach] keine Zeit [vorhanden], weil eine Gefahr besteht, die nur noch schlimmer wird, wenn man zu lange nachdenkt"682, sodass möglichst schnell Ergebnisse auf den Tisch müssen. Diesen zunehmenden Druck spüren systemische Berater mit ihrer Arbeitsweise deutlich stärker als ihre klassischen Kollegen, was die Aussage eines klassischen Beraters plakativ macht: "Ich kenne Kunden von systemischen Beratern in Deutschland und deren Leistung ist sehr imposant. Diese Berater waren [zwar] über lange Zeit sehr erfolgreich, spüren aber jetzt den Wind stärker als die klassischen Berater."683 Die Konsequenz aus den dargestellten Aspekten ist, dass die Geschwindigkeit der Konzepterarbeitung definitiv als Nachteil der systemischen Beratung wahrgenommen wird, wobei hierzu noch zwei einschränkende Anmerkung zu ergänzen sind. Erstens entsteht aus der Arbeitsweise der systemischen Berater für die Klientenorganisation die Möglichkeit, dass das System das macht, "was es verträgt und was passt. Das heißt, dass das System die Geschwindigkeit selber wählt"684, was auch ein Vorteil sein kann, weil Veränderung nämlich Zeit braucht und das System selber am besten weiß, wann es reif ist, den nächsten Schritt zu tun. Ebendies funktioniert mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch nur dann, wenn das beratene Unternehmen von innen heraus motiviert ist, sich zu verändern, und die Mitarbeiter nicht aus Prinzip massiven Widerstand gegen die Veränderung aufbauen. Zweitens kritisiert ein systemischer Berater, dass die meisten systemischen Ansätze deswegen langsam seien, weil sie eher problemorientiert und kaum lösungsorientiert vorgehen. "Der lösungsorientierte

680

681 682 683 684

Hiermit sind die Vollkosten gemeint, die sich einerseits aus dem Honorar für die Berater und anderseits aus den Kosten für den Produktionsrückgang ergeben. Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 97-14 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 85-18 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 39-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 97-06

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Ansatz [hingegen] ist im Veränderungsmanagement ein wichtiger Zugang, der heutigen Zeit passt, weil er kurz und schnell ist. […] Dieser Ansatz schaut nur Lösungsmuster in der Zukunft und benötigt die Vergangenheit nicht"685, was bedeutend schneller macht und deshalb zur Anwendung auf Problemstellungen Gegenwart eignet.

zur auf ihn der

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass dieses Charakteristikum klar die unterschiedlichen Grundeinstellungen der beiden Beratungsformen widerspiegelt. Während die klassische Beratung den Anspruch erhebt, Veränderungen möglichst schnell herbeizuführen, um letztlich die Rentabilität des beratenen Unternehmens zu verbessern, verfolgt die systemische Beratung primär das Ziel, einer Veränderung die erforderliche Zeit einzuräumen. Beide Sichtweisen können sowohl als Vorteil als auch als Nachteil gesehen werden, was vom Klienten sowie der Situation abhängt. In Bezug auf die Klienten lässt sich nachvollziehen, dass historisch bedingt fast alle Organisationen von hierarchischen Führungsstrukturen sowie dementsprechenden Denkweisen geprägt sind, und daher eine größere Affinität zur klassischen Beratung besteht, als zur entschleunigenden Vorgehensweise der systemischen Berater, für die eine gewisse Beratungserfahrung erforderlich ist. Das entscheidende Kriterium, warum die Geschwindigkeit der Konzepterarbeitung jedoch eindeutig als Stärke in der klassischen Beratung und als Schwäche der systemischen Beratung gesehen wird, ist, dass in der von den Finanzmärkten dominierten Wirtschaft immer wieder schnelle Erfolgsmeldungen erforderlich sind, die mit einem systemischen Ansatz nur äußerst schwer zu realisieren sind. 6.3.4 Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse Mit der Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse werden einerseits die Entstehungsweise dieser Ergebnisse sowie andererseits die daran anschließende Kommunizierbarkeit derselben reflektiert. Die Wahrnehmung dieses Charakteristikums wird daher vor allem von der Arbeitsweise in den beiden Beratungsformen beeinflusst und damit vom jeweiligen Beratungsverständnis geprägt. Da "sich die klassischen Berater in erster Linie auf analytisch verwertbare Daten und Fakten fokussieren"686, müssen sie für diese Arbeit "tendenziell analytische und rationale Menschen"687 sein, die in der Lage sind, aus dem vorhandenen Material logische Schlüsse zu ziehen. Die unmittelbare Konsequenz dieser Eigenschaften ist, dass auch klassische Beratungsprojekte durch ein analytisch dominiertes und rational erklärbares Vorgehen gekennzeichnet sind, das im Regelfall durch einen systematisch strukturierten Prozess abgebildet wird. Hierin lassen sich vorwiegend 685 686 687

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 88-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 21-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 08-11

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für "mechanistische Dinge mit Taylor'istischem Charakter, die mit einer klaren Toolbox gut abgearbeitet"688 werden können, breite – sowohl wirtschaftliche als auch technische – Analysen anlegen, um eindeutig definierte und klar messbare Ziele zu verfolgen und – wenn möglich – auch zu erreichen. Durch diese zielorientierte bzw. ergebnisorientierte Vorgehensweise entsteht der Eindruck, dass der Prozess planbar und kontrollierbar ist und der Erfolg kalkuliert und prognostiziert werden kann. Dieser Anschein geht natürlich mit dem mechanistischen Beratungsparadigma einher und ist damit vor allem bei ähnlich denkenden Auftraggebern in den Führungsebenen hierarchischer Organisationen sehr anschlussfähig. Mitentscheidend dafür ist nicht zuletzt, dass die Auftraggeber zu wissen meinen, auf welche Kosten und Nutzen sie sich durch den Einkauf der klassischen Beratungsleistung einlassen. Genau dies wird letztlich dadurch genährt, dass sich mit der klassischen Vorgehensweise klare Aussagen und spezifische Antworten herleiten lassen, mit Hilfe derer wiederum inhaltliche Konzepte erarbeitet werden können. Es entsteht somit ein konkretes inhaltliches Ergebnis, welches sich aufgrund seines Entstehungsprozesses logisch argumentieren sowie leicht nachvollziehen lässt und welches in Form einer Abschlusspräsentation auch professionell dargestellt wird. Dieses 'angreifbare'689 Endprodukt, dessen Fokus "auf der Dokumentation der extern erarbeiteten Problemlösung"690 liegt, ist ein physischer Nachweis der vom klassischen Berater erbrachten Leistung. Damit wird dessen Beratungsleistung nicht nur leichter kommunizierbar, sondern es werden auch die daraus entstehenden Erfolge besser überprüfbar gemacht, weshalb dieses Charakteristikum in Summe als eindeutige Stärke der klassischen Beratung verifiziert wird. Aufgrund ihrer systemischen Arbeitsweise werden Berater dieser Beratungsform in puncto Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse gänzlich anders wahrgenommen als jene der klassischen Beratung. Dies nimmt seinen Ursprung darin, dass systemische Berater primär nicht von Zahlen, Daten und Fakten ausgehen und nicht versuchen von außen spezifisches Wissen in die Organisation einzubringen, sondern auf der Annahme aufbauen, "dass der Klient den Großteil dessen, was er braucht, weiß, aber teilweise nicht arbeitsfähig bzw. lösungsfähig ist und daher Interventionen von außen [auf soziale Prozesse] notwendig sind."691 Damit geht die Sichtweise einher, dass sich "die Inhalte [...] letztlich aus Kommunikationsprozessen"692 im System ergeben, wofür eine quantitativ und qualitativ hohe Integration der Betroffenen (vgl. Kapitel 6.3.11) erforderlich ist. "Die Integration [der Betroffenen] ist bei systemischen

688 689 690 691 692

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 16-11 Im Sinne von 'mit den Händen spürbar' und nicht im Sinn von 'durch Widersacher attackierbar' Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 15-14 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 87-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 89-04

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Beratern viel besser, weil sie [eine entsprechende Interventionsarchitektur erarbeiten und] sich [inhaltlich] nicht einmischen. Dadurch kann sich jedoch eine gefährliche Eigendynamik [in den sozialen Prozessen] entwickeln"693, weshalb sich weder die Inhalte planen noch die Ergebnisse festlegen lassen und folglich systemische Beratung "nicht exakt vorhersehbar in Bezug auf Zeit und Nutzen ist. Der Kunde muss sich daher einlassen und daran glauben"694, dass inhaltliche Erfolge und konkrete Maßnahmen entstehen, wobei es weder eine Garantie für noch eine Kontrolle über ein mögliches Ergebnis gibt. Letzteres kann, wenn die Eigendynamik konstruktiv und produktiv ist, alle Erwartungen übertreffen und besser sein, als jenes einer klassischen Vorgehensweise. Es besteht aber genauso gut die Gefahr, dass ein 'Nullergebnis' entsteht, was etwa aus der Schilderdung einer Person hervorgeht, die einmal ein systemisches Projekt beauftragt hat: "Ich habe ein Projekt mit einer systemischen Beratung initiiert und erlebt. Am Anfang hatte ich große Erwartungen, die aber enttäuscht wurden. Es wurden zwar viele Interviews geführt und auch Erkenntnisse erlangt, aber die vorgeschlagenen Maßnahmen waren danach enttäuschend und entsprachen nur dem Inhalt aus den Interviews."695 Deshalb, aber vor allem aufgrund der sich möglicherweise entwickelnden Eigendynamik, muss das auftraggebende Management vor Durchführung eines systemischen Projektes auch bereit sein, seinen Kontrollanspruch ein Stück weit aufzugeben. Diese fehlende oder mangelnde Kontrollierbarkeit ergibt sich auch häufig dadurch, dass im Rahmen des Gesamtprozesses tendenziell qualitative – mitunter unklar definierte – Ziele formuliert werden, die letztendlich nicht messbar sind und dadurch zu einer prozessinhärent Unschärfe führen, die auch leicht als Ausrede für ein schlechtes Ergebnis verwendet werden kann. Die Eigendynamik bewirkt zusätzlich, dass der Entstehungsprozess eher unstrukturiert und damit schwierig zu dokumentieren ist, wodurch dieser auch schwer nachvollziehbar und kommunizierbar wird. Als Konsequenz der genannten Implikationen wird eine systemische Beratungsleistung letztendlich auch schwerer verkaufbar, was durch die Aussage einer Personalchefin – "Ich möchte bei einem systemischen Projekt nicht dafür geradestehen und dafür bezahlen müssen"696 – zum Ausdruck kommt und in Summe widerspiegelt, warum die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse auch als Schwäche empfunden wird. Wie die Diskussion über dieses Charakteristikum aufzeigt, basieren "die Ergebnisse von klassischen Beratungsprojekten […] auf Fakten und sind daher leichter weiterzugeben bzw. zu transferieren."697 Dies wird vor allem dadurch begünstigt,

693 694 695 696 697

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-12 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 09-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 40-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-21 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 34-07

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dass von denselben Zahlen, Daten und Fakten entlang eines klar strukturierten und systematisch abzuarbeitenden Prozesses, welcher an eindeutig formulierten Zielen ausgerichtet ist, in konkret definierte Maßnahmen und leicht kommunizierbare Ergebnisse übergeführt werden. Damit ist die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse in der klassischen Beratung grundsätzlich gewährleistet und es ist einsichtig, warum dieses Charakteristikum – vor allem im Vergleich zur systemischen Beratung – als Stärke wahrgenommen wird. Der systemischen Beratung wird diese Eigenschaft wiederum als Nachteil angelastet, weil sie primär nicht von Zahlen, Daten und Fakten ausgeht und kein Wissen von außen einbringt, sondern davon ausgeht, dass sich Inhalten aus den Kommunikationsprozessen im System ergeben. Damit entsteht jedoch unweigerlich eine Eigendynamik, die sowohl produktiv als auch konstruktiv sein kann, aber auch mit gewissen Einschränkungen verbunden ist. So kann weder die Formulierung von eindeutigen Zielen noch das Aufsetzen eines strukturierten Prozesses sichergestellt werden, weshalb konkrete Ergebnisse zwar mögliche, aber tendenziell schwer nachvollziehbar sind. 6.3.5 Ressourcen der Beratungsunternehmen In der Diskussion über die Ressourcen der Beratungsunternehmen können grundsätzlich die personelle und die strukturelle Ebene unterschieden werden. So umfasst dieses Charakteristikum einerseits die Menschen – also die Berater –, die in einem Beratungsunternehmen arbeiten, und andererseits die Strukturen, auf die für die Arbeit in einem Beratungsunternehmen zurückgegriffen werden kann. Während die Menschen die eigentlichen Wissensträger sind und damit den primären und proprietären 'Wert' eines Beratungsunternehmens darstellen, benötigen dieselben für ihre Beratungsarbeit gewisse Strukturen wie etwa ein Wissensmanagement oder Kommunikationseinrichtungen sowie die dazugehörigen IT-Systeme, um eine effiziente und effektive Beratungsleistung zu gewährleisten. Die Ausgestaltung der zwei genannten Ebenen ist in beiden Realtypen in Relation zu den spezifischen Arbeitsweisen sowie den behandelten Themenstellungen (vgl. Kapitel 6.4) zu sehen, sodass innerhalb der Ebenen eine Differenzierung nach Qualität und Quantität Sinn macht. Ausgehend von der klassischen Arbeitsweise, inhaltliche Beiträge einzubringen, stellt sich ein Senior-Partner aus einem klassischen Beratungsunternehmen in Bezug auf Ressourcen die Frage: "Kann man dem Kunden zufolge der eigenen Erfahrung, dem bestehenden Wissensmanagement, der spezifischen Experten und großen Organisation noch etwas über sein Geschäft erzählen?" Diesbezüglich meint er: "Es gibt nicht viele Berater, die das erfüllen können, weil dafür eine weltweite Präsenz

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und eine kritische Größe erforderlich sind"698 und bringt damit auf den Punkt, dass die klassischen Berater699 über die notwendige Größe und erforderliche Flexibilität an personellen, aber auch technischen Ressourcen verfügen, um eine breite Vielfalt an unterschiedlichen globalen Themenstellungen behandeln zu können. Ebendiese Kapazitäten sind in Form eines internationalen Netzwerkes derart organisiert, dass kontinuierlich neue kulturübergreifende Erfahrungen in verschiedenen Industrien, aber auch mit diversen Funktionen entstehen können und daraus hervorgehendes Wissen durch ein länderübergreifendes Wissensmanagement untereinander ausgetauscht wird. Dazu werden auf der personellen Ebene primär junge, inhaltlich hoch qualifizierte Mitarbeiter eingestellt, die nicht nur sehr gut ausgebildet, sondern auch überaus motiviert, sehr einsatzfreudig, extrem leistungsorientiert sowie äußerst flexibel sind, was von Klienten auch dementsprechend wahrgenommen wird: "Beratungsunternehmen haben bessere, intelligentere und schnellere Mitarbeiter als das eigene Unternehmen und kommen dadurch zu besseren Lösungen."700 Im Vergleich zur systemischen Beratung sind potenzielle klassische Berater zusätzlich relativ leicht rekrutierbar und die für die klassische Beratungsarbeit notwendigen "analytischen Verfahren lassen sich schnell schulen bzw. vermitteln, sodass [diese] jungen Leute in kurzer Zeit einsetzbar sind."701 Dafür bedarf es auf der strukturellen Ebene jedoch gezielter 'Nachwuchsförderung', die durch aufeinander aufbauende Trainingsprogramme in fachspezifischen Bereichen sowie durch kontinuierliches individuelles 'Mentoring' sichergestellt wird. Darüber hinaus ist auf dieser Ebene vor allem das bereits mehrfach angesprochene Wissensmanagement von klassischen Beratungsunternehmen hervorzuheben, das neben den Beratern auf der personellen Ebene das Standbein auf der strukturellen Ebene darstellt. Dieses Standbein setzt sich zusammen aus erstens unterschiedlichen Datenbanken, in denen Benchmarks, Best-Practice-Beispiele, Dokumente, etc. abgespeichert sind, zweitens diversen Publikationen, die in regelmäßigen Zeitabständen oder als Bücher erscheinen, sowie drittens spezifischen Forschungseinrichtungen, die wirtschaftliche Themen oft auch zusammen mit wissenschaftlichen Einrichtungen aufarbeiten. Wegen dieser Aspekte wird die Summe der Ressourcen von klassischen Beratungsunternehmen eindeutig als Stärke wahrgenommen. Abgesehen davon, dass den guten systemischen Beratern ebenfalls eine fundierte Ausbildung in ihrem Fachgebiet zugestanden wird, lässt sich auch in Bezug auf die zwei Ebenen dieses Charakteristikums, wieder ein diametral entgegengesetztes

698 699

700 701

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 45-12 Der in dieser Arbeit aufgestellten Definition (vgl. Kapitel 2.1.1.1) entsprechend, sind dies ausschließlich weltweit agierende klassische Beratungsunternehmen Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 07-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 92-06

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Wahrnehmungsbild über die systemische Beratung zeichnen. Ausgehend davon, dass diese Beratungsunternehmen vor allem personell, aber auch strukturell weitaus geringere Ressourcen als die klassischen Berater aufweisen, gilt es prinzipiell festzuhalten, dass kein einziges systemisches Beratungsunternehmen existiert, das weltweit tätig ist. Das impliziert zwar nicht, dass es keine systemischen Berater gibt, die nicht auch einzelne globale Themenstellungen adressieren könnten und würden, aber generell sind diesen Beratungsunternehmen wegen ihrer geringen Größe und der deshalb fehlenden Flexibilität definitive Grenzen gesetzt. So ist es ihnen nicht möglich, internationale Projekte in weltweiten Konzernen zu behandeln, welche eine Vielzahl von Beratern erfordern, sondern tendenziell nur ihrer Größe entsprechende, regional begrenzte Themenstellungen von lokal agierenden Unternehmen, die von einzelnen oder mitunter auch zwei Beratern punktuell durchgeführt werden können. Hierfür sind sie in lokalen Netzwerken mit selbstständigen Netzwerkpartnern organisiert, die jedoch voneinander unabhängig sind und in der Regel auch keine (ausgeprägten) gemeinsamen Strukturen besitzen. Mit denselben sind vor allem die 'Nachwuchsförderung' sowie das Wissensmanagement angesprochen, die – im Vergleich zur klassischen Beratung – sehr schwach bis gar nicht ausgeprägt sind. Zur 'Nachwuchsförderung' gilt es anzumerken, dass erstens grundsätzlich wenige bis keine jungen Menschen aufgenommen werden, um diese als zukünftige systemische Berater aufzubauen, sondern nur fertig ausgebildete Personen eingestellt werden und es zweitens zwar allgemeine systemische Ausbildungen gibt, diese jedoch von den jeweiligen Beratungsunternehmen weder institutionalisiert sind noch für den möglichen 'Berater-Nachwuchs' finanziert werden. Folglich besteht für zukünftige systemische Berater im Vergleich zu potenziellen klassischen Beratern eine doppelte Eintrittsbarriere in das jeweilige Beratungsunternehmen, wodurch sich systemische Beratungsfirmen letztendlich selber im Wachstum behindern. So müssen potenzielle systemische Berater einerseits wesentlich mehr Lebenserfahrung besitzen, um für diese Rolle überhaupt gerüstet zu sein, und sich andererseits selber die spezifische systemische Ausbildung sowohl organisieren als auch finanzieren. Zum Thema des Wissensmanagements kann relativ ähnlich festgehalten werden, dass selbiges in systemischen Beratungsunternehmen meist ebenso wenig institutionalisiert ist, wie die systemische Ausbildung, sondern in den meisten Fällen an einzelne Personen gebunden ist. Das heißt, dass es keine Datenbanken mit relevanten Dokumenten und spezifischen Kennwerten für unternehmensintern Wissenstransfer gibt, sondern lediglich die im Regelfall auch für die Allgemeinheit zugänglichen Publikationen in Buch- bzw. Zeitschriftformat vorhanden sind. Dies entspricht zwar den Ansätzen eines Wissensmanagements, die sehr wertvoll sind und den publizierenden Beratern auch helfen, sich einen Namen zu machen, aber sie verschaffen dem jeweiligen Beratungsunternehmen damit kein schnell verfügbares Proprietärwissen, das diesen

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gegenüber anderen Beratungen einen internen Wissensvorsprung sichern würde. Aus den gesamten Eindrücken lässt sich somit schlussfolgern, dass die Ressourcen als ein weiterer Schwachpunkt der systemischen Beratungsunternehmen betrachtet werden können. Zu den Ressourcen der Beratungsunternehmen kann also rekapituliert werden, dass klassischen Beratungsunternehmen sowohl auf der personellen Ebene als auch auf der strukturellen Ebene deutliche Vorteile gegenüber systemischen Beratungsfirmen zugeschrieben werden. So sind die klassischen Beratungsunternehmen in globalen Netzwerken organisiert, in denen sie mit weltweiten Projekten in unterschiedlichen Kulturen internationale Erfahrungen sammeln können, welche wiederum durch ein ausgeprägtes Wissensmanagement den einzelnen Beratern zugänglich gemacht werden. Dazu wird in erster Linie auf junge, hoch qualifizierte und extrem motivierte, Universitätsabsolventen gesetzt, denen durch eine gezielte Nachwuchsförderung eine kontinuierliche Entwicklungsmöglichkeit geboten wird. Weil all die genannten Aspekte mit einer einzigen Ausnahme, nämlich den hoch qualifizierten Beratern, für systemische Beratungsunternehmen jeweils als Gegenteil beschrieben werden, wird dieses Charakteristikum als klare Stärke der klassischen Beratung und eindeutige Schwäche der systemischen Beratung interpretiert. 6.3.6 Implikationen für das Management Die Implikationen für das Management werden im Prinzip von den beiden Fragen getrieben, was es erstens für die Funktion bzw. die Rolle des Topmanagements bedeutet, wenn ein klassischer Berater oder ein systemischer Berater engagiert wird und wie ebendieser zweitens vom Auftraggeber eingesetzt werden kann. Bei der Beantwortung dieser fiktiven Leitfragen treffen aus den unterschiedlichen Interviews erstmals Reflexionen aufeinander, die einerseits vorteilhafte Seiten des jeweiligen Realtyps aufzeigen, aber andererseits genauso auch nachteilige Aspekte desselben widerspiegeln, sodass sich für keine der beiden Beratungsformen ein eindeutiges Bild als Stärke oder Schwäche skizzieren lässt. Der klassischen Beratung wird von allen Seiten zunächst einmal zugute gehalten, dass sie eine gewisse Distanz zur Organisation aufweist, aus der sich einerseits unausgesprochene Dinge auf den Tisch bringen lassen, um zum Nachdenken anzuregen, und andererseits auch unangenehme Themen leichter adressiert sowie damit verbundene unpopuläre Maßnahmen einfacher durchgesetzt werden können. Das Durchsetzen solcher unpopulären Maßnahmen weckt jedoch eher gemischte Assoziationen, weil damit in Verbindung gebracht wird, dass klassische Berater mitunter vom Management instrumentalisiert werden, um etwas abzusegnen und

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"unangenehme Botschaften zu übermitteln. Das Management schiebt [dadurch also Verantwortung] ab"702 und kann sich dort hinter dem klassischen Berater verstecken, "wo es politisch heikel ist […], damit die Veränderung so [für den Auftraggeber] leichter wird."703 Diese mögliche 'Feigenblattfunktion' eines klassischen Beraters für das Management besitzt aus der Sicht desselben den Vorteil, dass die eigenen Pläne umgesetzt werden können, ohne von der betroffenen Belegschaft dafür verantwortlich gemacht zu werden. Diese schiebt die Schuld letztlich dem Berater zu, der vom Management genau dafür bezahlt wird. Der negative Beigeschmack dieser Vorgehensweise ist jedoch, dass gewissermaßen eine unaufgelöste Situation zurückbleibt, die ein unehrliches Klima im Unternehmen schafft und letztendlich auf eine Schwäche des Managements gegenüber der eigenen Organisation hindeutet. Infolgedessen wird dieses Charakteristikum situationsspezifisch sowohl als Vorteil als auch als Nachteil wahrgenommen, wobei eine Tendenz zur positiven Seite zu erkennen ist. Der eindeutige Vorteil, welcher der systemischen Beratung in Bezug auf dieses Charakteristikum attestiert wird, ist, dass die Verantwortung für den Inhalt sowie das Ziel ausschließlich beim Management bzw. Klientensystem bleibt und das Ergebnis somit ein Ergebnis der Klienten ist. Damit bleibt die Entscheidungsmöglichkeit sowie die Autonomie des Systems gewahrt, weswegen eine klassische Beraterin, die auch eine systemische Ausbildung absolviert hat, meint, dass die systemische Beratung weniger manipulativ ist, als die klassische Beratung. Der negative Aspekt hierbei ist aber, wie von einem systemischen Berater eingeräumt wird, dass sich der Klient bei einem Scheitern eines systemischen Projektes de facto nicht von der erarbeiteten Lösung distanzieren kann, wie es bei klassischen Beratungsleistungen möglich wäre. Außerdem besteht die Gefahr, dass die vom Klienten angestrebten Ziele deshalb zu niedrig sind, weil im Vergleich zu klassischen Beratern weniger oder gar keine Erfahrung mit sowie Referenzwerte zu bestimmten Themenstellungen vorhanden sind. Die unmittelbare Folge daraus ist, dass vor allem bei rentabilitätsorientierten Themen ungenügende Ergebnisse erzielt werden und damit auch nur eine geringe Wirkung im Vergleich zu erfolgreich umgesetzten klassischen Beratungsprojekten erreicht wird. So setzt ein Klient, der sowohl Erfahrung mit systemischer Beratung als auch mit klassischer Beratung besitzt, die in den jeweiligen Beratungsprojekten erzielbaren Ergebnisse in Relation zu denen von unternehmenseigenen Aktivitäten und geht dabei von der Prämisse aus, dass die einzelnen Projekte auch erfolgreich verlaufen: "Das Ergebnis von internen Aktivitäten im Vergleich zu den beiden Beratungsansätzen lässt sich in etwa so quantifizieren: Wenn es das Unternehmen

702 703

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 14-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 19-02

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selber macht und einen Ergebniswert von 5 erzielt, dann ist mit einer systemischen Herangehensweise ein Wert von 7 oder 8 realisierbar, wobei grundsätzlich eine höhere Umsetzungswahrscheinlichkeit besteht. Wird für das Projekt hingegen ein klassischer Ansatz gewählt, dann ist ein relatives Ergebnis von 9, 10 oder 11 möglich, wenn das Projekt gut gemanaget wird; sonst nicht!"704 Ein aus der Sicht des Managements weiterer nachteiliger Aspekt dieses Charakteristikums ist, dass ein systemischer Beratungsprozess für die Organisation auch nur dann konstruktiv und produktiv verlaufen kann, wenn das Management letztlich bereit ist, Kontrolle aus der Hand zu geben. Auf diesen Kontrollverzicht muss sich das Management bewusst einlassen und damit auch das Risiko in Kauf nehmen, dass die Hierarchie in einem Unternehmen mitunter in Frage gestellt wird, was aus der Perspektive der restlichen Organisation jedoch durchaus positiv sein kann. Summa summarum halten sich bei der systemischen Beratung die vorteilhaften und die nachteiligen Implikationen für das Management die Waage, sodass dieses Charakteristikum situationsspezifisch betrachtet werden muss. Zusammenfassend kann reflektiert werden, dass in keinem der beiden Realtypen die Implikationen für das Management als klare Stärke oder Schwäche betrachtet werden können. Es gilt vielmehr eine situationsspezifische Sichtweise einzunehmen, aus der die einzelnen Aspekte für das Management zu betrachten und einzustufen sind. So kann die klassische Beratung ob ihrer Distanz zum Unternehmen auf der einen Seite heikle oder überhaupt unausgesprochene Themen in einer Organisation adressieren, dafür aber auf der anderen Seite vom Management auch vorgeschoben und instrumentalisiert werden. Dem entgegen wird es der systemischen Beratung als vorteilhaft angerechnet, dass die Verantwortung für Inhalt, Ziele und Ergebnisse alleine beim Klienten belassen wird, was jedoch die Gefahr in sich birgt, dass im Endeffekt eine zu geringe Wirkung erzielt wird. Folglich wird dieses Charakteristikum sowohl bei der klassischen Beratung als auch bei der systemischen Beratung als situationsspezifisch betrachtet, wobei in der klassischen Beratung eine vorteilhafte Tendenz zu bemerken ist. 6.3.7 Umgang mit Komplexität Wie in der Diskussion über die soziologische Systemtheorie (vgl. Kapitel 3.2.8) von Luhmann bereits ausgeführt, ist der Umgang mit Komplexität nicht nur ein zentrales Element in der neuen Systemtheorie, sondern vielmehr auch ein prägender Aspekt in der Evolution. Es ist folglich die logische Konsequenz, dass dieses Thema auch in der Reflexion über die beiden Realtypen eine bedeutende Stellung einnimmt und eingehend betrachtet wird: "Beratung reduziert Komplexität [grundsätzlich], indem

704

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 12-05

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sie sich auf eine Dimension705 fokussiert. Die klassische Beratung fokussiert sich auf die Sachdimension und die systemische Beratung auf die Sozialdimension"706, wobei innerhalb dieser beiden Dimensionen von den beiden Realtypen wiederum ein ganz bestimmter Umgang mit dem Komplexitätsthema gepflegt wird, der sich grundlegend unterscheidet, jedoch trotzdem in beiden Fällen tendenziell positiv wahrgenommen wird. Die klassische Beratung kommt grundsätzlich deshalb mit weniger Komplexität aus, weil die Erstellung des Konzeptes von der Umsetzung desselben getrennt ist und in zwei aufeinander folgenden Projektphasen (vgl. Abbildung 2.4) abgebildet wird. Dementsprechend fokussiert sich diese Beratungsform im Umgang mit Komplexität in erster Linie auf jene Aspekte, die für die Erarbeitung des im Regelfall inhaltlich orientierten Konzeptes relevant sind und vernachlässigt in ihrer Arbeitsweise oft die für die Umsetzung entscheidenden Aspekte, was ein klassischer Berater mit seiner Aussage bestätigt: "Wir gehen die soften Themen von uns aus nicht an. Ehrlich gesagt sind 'Mindsets' [zur Konzeptumsetzung] bis jetzt stets das zweite Thema gewesen, das wir verspätet begonnen haben, und Tools [zur Konzepterarbeitung] im Regelfall immer das erste Thema"707, welches in Angriff genommen wurde. "Die klassischen Berater [stellen dazu spezifische Hypothesen auf und] führen [mit dem Bestreben einer Verifizierung bzw. einer Falsifizierung gezielte] Analysen durch, um Komplexität [so möglichst früh] zu reduzieren und nicht um diese zu eliminieren."708 Daraus werden wiederum lineare Kausalitäten abgeleitet, um dann darauf aufbauend vereinfachte Modelle zu konzipieren, zu denen ein systemisch orientierter Berater meint: "Es ist auch eine Leistung der klassischen Beratung solche trivialen Modelle zu machen."709 Trotzdem besteht erstens natürlich die Gefahr, dass durch diese systematische und mitunter zu frühe Reduktion von Komplexität "zum Teil […] die Wirklichkeit nicht [oder falsch] abgebildet"710 wird und daher später Korrekturen des Modells erforderlich werden, die einen erheblichen Mehraufwand bedeuten. Darüber hinaus ist die Komplexitätsreduktion zweitens natürlich auch im Zusammenhang mit der jeweiligen Themenstellung zu überdenken, die sich besser oder schlechter dafür eignen kann. Aus diesen beiden Punkten ist klar ersichtlich, dass die Reduktion von Komplexität natürlich immer mit gewissen Einschränkungen verbunden ist, sodass von Seiten der Berater höchste Sorgfalt und umfassende Erfahrung erforderlich ist, um keine gravierenden Fehler zu begehen, die zu weitreichenden Konsequenzen

705

706 707 708 709 710

Der Interviewpartner bezieht sich auf die drei Sinndimensionen von Niklas Luhmann: Sach-, Zeitund Sozialdimension (vgl. Kapitel 3.2.8) Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 67-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 47-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 40-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 82-14 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 05-02

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führen können. Bedingt durch diese Einschränkungen sind der Vorgehensweise der klassischen Beratung zwar nachteilige Aspekte nicht abzusprechen, aber trotzdem wird deren Umgang mit Komplexität überwiegend als vorteilhaft wahrgenommen, sodass dieses Charakteristikum situationsspezifisch als tendenzielle Stärke gesehen werden kann. Genauso wie für die klassische Beratung wird dieses Charakteristikum auch für die systemische Beratung als überwiegend vorteilhaft wahrgenommen, obwohl sich deren Komplexitätsverständnis sowie die daraus resultierende Vorgehensweise gänzlich anders gestalten. Abgesehen davon, dass die systemische Beratung an sich schon höhere Anforderungen an Komplexität stellt, weil sie die Umsetzung mit einbezieht (vgl. Abbildung 2.4), räumt sie diesem Thema letztendlich schon in den unterschiedlichen Theoriesträngen eine zentrale Stellung ein, was ein systemischer Berater wie folgt auf den Punkt bringt: "Es gibt nicht eine [allgemeingültige] Definition des systemischen Ansatzes, sondern nur grundlegende Gemeinsamkeiten, nämlich den Fokus auf Komplexität und Beziehungsmuster."711 Dementsprechend begibt sich "die systemische Beratung […] bewusst auf einen gemeinsamen Weg mit dem Klienten, ohne die Lösung zu kennen"712 und kann daher auch mit relativ unscharfen Zielvorstellungen und ohne volles Problembewusstsein ein Projekt beginnen. Die daraus resultierende gute Verträglichkeit systemischer Beratung für Unklarheit und Unsicherheit kann vor allem in unüberschaubaren Situationen einen großen Vorteil bedeuten, aber genauso gut auch – wie in der Diskussion um die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse (vgl. Kapitel 6.3.4) sowie um die Implikationen für das Management (vgl. Kapitel 6.3.6) bereits angesprochen – einen gravierenden Nachteil nach sich ziehen. "Die Komplexität wird [jedenfalls] am Anfang möglichst weit aufgemacht, [im Verlauf des Projektes, soweit dies sinnvoll ist, auch offen gehalten,] die daraus entstehende Information gefiltert und [schließlich] bewusst wieder reduziert."713 Somit ist die systemische Beratung nicht nur zu Beginn, sondern auch während eines Beratungsprojektes offener bzw. bewusster für die Ist-Situation und kann daher auch wesentlich flexibler reagieren, den eingeschlagenen Weg verändern und den bis dahin definierten Zielzustand adaptieren. Dadurch ist gewährleistet, dass man, wenn ein Zielanspruch aus triftigen Gründen nicht zu erreichen ist, denselben auf ein realisierbares Niveau anpassen kann, womit jedoch die Gefahr einhergeht, dass ein 'bewegliches Ziel' geschaffen wird, welches so oft korrigiert wird, bis im Endeffekt ein schwaches oder auch gar kein Ergebnis erzielt wird und eine geringe oder überhaupt keine Wirkung resultiert. Die Konsequenz dieses Umganges mit Komplexität ist,

711 712 713

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 89-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 09-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 89-01

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anstatt sowohl vor als auch während der Konzepterarbeitung lineare Kausalitäten abzuleiten, zirkuläre Wechselwirkungen einzuspielen, um dadurch Relationen und Wirkungszusammenhänge im System herauszuarbeiten. Hierdurch können andere Perspektiven auf die Problemsituation eröffnet und letztlich neue Sichtweisen über das Problem wahrgenommen werden. "Die systemische Beratung fragt [also], wie Wechselwirkungen entstehen, die Probleme stabilisieren, und setzt Interventionen, um die resultierenden Problemmuster zu unterbrechen"714, was vor allem in kleineren Unternehmen wie etwa Familienunternehmen, wo die Zusammenhänge zwischen Familie und Unternehmen oft eine gravierende Rolle spielen, erfolgreich eingesetzt werden kann. Nichtsdestotrotz wird systemischen Beratern in puncto Komplexität angekreidet, dass diese linear-kausales Denken sowie den daraus hervorgehenden Modellen abwerten und folglich manchmal unnötigen Aufwand kreieren, wodurch sie teilweise auch sinnlose Unsicherheit hervorrufen. Deshalb besteht letztlich auch der Vorwurf, dass dem Klienten teilweise zuviel Komplexität zugemutet und dieser damit manchmal förmlich erschlagen wird. Damit dies nicht passiert, sind einerseits eine entsprechende Professionalität des systemischen Beraters und andererseits auch eine gewisse Beratungserfahrung sowie eine vorhandene Komplexitätsverträglichkeit des Klienten erforderlich. Summa summarum kann der Umgang mit Komplexität in der systemischen Beratung – wie eingangs bereits angedeutet – als tendenzielle Stärke eingestuft werden, wobei situationsspezifische Nachteile einzuräumen sind. Für dieses zentrale Charakteristikum kann abschließend zusammengefasst werden, dass die beiden Beratungsformen, trotz ihres unterschiedlichen Verständnisses von sowie dem andersartigen Umgang mit Komplexität, letztlich kaum Unterschiede in der Ausprägung der Wahrnehmung aufweisen. So werden sowohl dem Umgang der klassischen Beratung als auch jenem der systemischen Beratung mit Komplexität gewisse Stärken und Schwächen attestiert, wobei in beiden Fällen die Stärken überwiegen. Es hängt letztlich von der jeweiligen Situation ab, ob die betrachtete Problemstellung eher von der inhaltlichen Sachdimension oder von der prozessualen Sozialdimension dominiert wird und folglich die möglichst schnelle Reduktion von Komplexität durch klassische Berater oder das gezielte Aufweiten von Komplexität durch systemische Berater als Stärke betrachtet wird. 6.3.8 Auftreten der Berater Das Auftreten der Berater reflektiert, wie das Verhalten jener Personen, die in einer klassischen Beratung oder in einer systemischen Beratung arbeiten, von anderen Menschen, mit denen die Berater interagieren oder von denen sie beobachtet werden, wahrgenommen wird. Eine entscheidende Rolle dabei spielen vor allem das

714

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 88-05

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Alter sowie die damit einhergehende Lebenserfahrung und auch die entsprechende Arbeitserfahrung der jeweiligen Personen. Prinzipiell wird klassischen Beratern von allen Seiten ein professionelles Verhalten sowie ein seriöses Auftreten zugeschrieben, wodurch sie, vor dem Hintergrund ihrer inhaltlichen Arbeit, ein hohes Ansehen sowie ein gewaltiges Renommee gewinnen und damit auch ein gewisses Image sowie letztlich eine starke Marke aufbauen und pflegen. Diese Seriosität und Professionalität wird auch dadurch getragen, dass klassische Berater einerseits mitunter laufende Projekte vorzeitig beenden, wenn abgeschätzt werden kann, dass kein Mehrwert für die Klientenorganisation entsteht, und andererseits sich anbahnende Projekte, zu deren Themenstellungen keine Expertise vorhanden ist, nicht nur des Geldes Willen annehmen, sondern bereit sind zu sagen: "Das können wir nicht machen."715 Zusätzlich ist für einen klassischen Berater in Bezug auf die Wahrnehmung durch Führungskräfte von Relevanz, dass "Topmanager auch eher mechanistisch denken"716, was definitiv zutrifft solange es um reine Zahlen und harte Fakten geht, was aber mitunter auch der Fall sein kann, wenn Menschen betroffen sind. Bei diesem Punkt setzt jedoch auch die Kritik an, dass klassische Berater ob ihrer mechanistisch geprägten Denkweise durchaus als konsequent und kompromisslos gelten, was situationsspezifisch ein Stärke sein oder zu einer Schwäche werden kann. So ist diese Konsequenz und Kompromisslosigkeit von klarem Vorteil, wenn Zahlen, Daten und Fakten zu behandeln sind, jedoch von unübersehbarem Nachteil, wenn Menschen, Emotionen und Befindlichkeiten relevant werden. Dass Emotionen sowie Befindlichkeiten keine Rolle spielen und zu wenig oder gar kein Verständnis zwischenmenschliche Dynamiken vorhanden ist, ist auch der Hauptkritikpunkt am Auftreten klassischer Berater. "Klassische Berater legen auf individuelle Befindlichkeiten weniger Wert als systemische Berater"717, gibt etwa ein Senior-Partner eines klassischen Beratungsunternehmens zu bedenken, was von einem Kollegen aus einem anderen, ebenfalls klassischen Beratungsunternehmen untermauert wird: "Wir gehen die soften Themen von uns aus nicht an."718 Noch schärfere Kritiker werfen den klassischen Beratern überhaupt vor, dass diese gar nicht die Sensibilität besitzen, um sich anzupassen und auf Eigenheiten der Klienten sowie deren Bedürfnisse einzugehen. Diese Gesamtkritik wird, abgesehen von der mechanistisch geprägten Grundeinstellung der klassischen Beratungsunternehmen, sicherlich auch dadurch gefördert, dass diese fast nur junge Universitätsabsolventen einstellen, die zwar fachlich ausgezeichnet sind, aber ob ihrer Jugend oft zu wenig Lebenserfahrung und eigentlich keine Arbeitserfahrung besitzen, um die genannten

715 716 717 718

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 14-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 34-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 38-10 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 47-02

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Ansprüche ausreichend erfüllen zu können. Faktisch wird dies lediglich manchen Senior-Beratern zugestanden, welche mitunter ein gutes Bauchgefühl besitzen. Das ändert jedoch nichts daran, dass diese primär im Kontakt mit den auftraggebenden Führungskräften stehen und sich nicht wie die Junior-Berater in der Organisation bewegen, wo dieselben mit den meinungsbildenden Mitarbeitern zusammentreffen. Ein zusätzlicher Nachteil in ihrem Auftreten entsteht klassischen Beratern dadurch, dass sie, wie es eine Führungskraft ausdrückt, "eine starke Kultur haben, die sie zum eigenen Nachteil zum Klienten mitnehmen."719 Diese Kultur wird nachhaltig davon geprägt, dass klassische Beratungsunternehmen an sich selbst und damit an ihre Berater den Anspruch stellen, außergewöhnliche Leistungen zu erbringen, weshalb sie ihrer Mitarbeiter aus den jahrgangsbesten Absolventen der unterschiedlichsten Studienrichtungen auf den besten Elite-Universitäten rekrutieren. Jene Absolventen sind sich aufgrund ihres Werdeganges bewusst, überdurchschnittliche Leistungen erbringen zu können, und – im ungünstigen Fall – auch gewohnt, dementsprechend behandelt zu werden, was durch den Status sowie die Behandlung in einem klassischen Beratungsunternehmen fortgesetzt und in jungen Jahren manifestiert werden kann. Passiert dies, so kann bei diesen jungen Menschen leicht das Gefühl entstehen, etwas Besseres zu sein, was sich unbewusst aber auch bewusst in einem teilweise etwas abgehoben Verhalten widerspiegeln kann, das einen systemischen Berater dazu bewegt, klassischen Beratern die Sichtweise, "die [Klienten] blicken das [Problem inhaltlich] nicht"720, zuzuschreiben. So kann schließlich die Wahrnehmung entstehen, dass klassische Berater überheblich sind und Klienten abwerten, was neben der mitunter für die Klientenorganisation ohnehin belastenden Themenstellung letztlich einen zusätzlichen Widerstand gegen klassische Berater durch deren wenig oder unreflektiertes Auftreten hervorrufen kann. Dieses Problem wird einerseits noch verstärkt, wenn klassische Berater einen übertriebenen Ehrgeiz sowie auch einen bedingungslosen Leistungsanspruch an den Tag legen, und andererseits dadurch begünstigt, dass diese Berater in der Regel keine oder geringe Führungserfahrung aufweisen: "Viele klassische Berater haben keine echte Führungserfahrung, weil es keine Kunst ist ein Team von motivierten, jungen Beratern zu leiten."721 Somit kann festgestellt werden, dass die positiven Aspekte der Seriosität und der Professionalität von klassischen Beratern durch eine Anzahl der negativen Aspekte in puncto Kompromisslosigkeit, Befindlichkeit, Sensibilität sowie Überheblichkeit bei weitem überflügelt werden, weshalb das Auftreten der klassischen Berater eine tendenzielle Schwäche für diese darstellt.

719 720 721

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 92-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 18-15

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Entgegen der Wahrnehmung über klassische Berater präsentieren sich systemische Berater in Bezug auf dieses Charakteristikum deutlich stärker. Sie werden generell als Menschen wahrgenommen, die eine gewisse Seniorität ausstrahlen und daher vor allem im Vergleich zu den jungen klassischen Beratern auch entsprechende mehr Erfahrung in unterschiedlichen Bereichen mitbringen. Das beginnt damit, dass systemische Berater meist deutlich älter sind als der Großteil ihrer klassischen Kollegen und demzufolge deutlich mehr Lebenserfahrung besitzen. Zusätzlich hat sich gezeigt, dass viele systemische Berater nicht den direkten Einstieg in die Beratung gewählt haben, sondern teilweise auf Umwegen dorthin gelangt sind und dabei sowohl Arbeitserfahrung als auch Führungserfahrung in unterschiedlichen Positionen gesammelt haben. Genau diese persönlichen Erfahrungen sind oft durch ausgeprägte Sozialkompetenz sowie tiefgehende Eigenkompetenz unterstützt, was sich unter anderem auch in der Fähigkeit zur Fremdreflexion und Selbstreflexion, die den systemischen Beratern als besondere Stärke zugedacht werden, widerspiegelt. So wird ihnen einerseits in puncto Sozialkompetenz nicht nur ein gutes Bauchgefühl für emotional heikle Situationen zugeschrieben, sondern auch eine entsprechende Empathie für den emotionalen Zustand von Betroffenen attestiert, was sie in der Fremdreflexion dabei unterstützt, ein offenes Auge für Wirkungszusammenhänge sowie Instabilitäten im Klientensystem zu erhalten. Andererseits wird ihnen in Bezug auf Eigenkompetenz und der daraus resultierenden Selbstreflexion auch bescheinigt, dass sie ihr eigenes Auftreten sowie ihre Handlungen und damit die Auswirkungen derselben auf die eigene Person, welche wiederum aus den Wirkungen auf andere Menschen sowie das Klientensystem beeinflusst werden, permanent hinterfragen können und dies auch tun – "Jeder Berater hat einen Schattenberater und wird supervidiert."722 Diese ausgeprägte Reflexionsfähigkeit führt letztlich dazu, dass der systemische Berater emotional wesentlich anschlussfähiger ist als ein klassischer Berater und sich der Klient daher dem systemischen Berater gegenüber wesentlich vertrauter und von diesem auch besser verstanden fühlt. Dabei handelt es sich um die soziale Dimension der Anschlussfähigkeit (vgl. Kapitel 4.2) in der diese Situation alleine durch die problemverarbeitende Kommunikation über die Situation entstehen kann, obwohl der Berater systemisch gesehen bestrebt ist, sich gänzlich aus dem Klientensystem herauszuhalten und kein Bestandteil desselben zu werden, was ein Klient wie folgt umschreibt: "Systemische Berater bemühen sich nicht innerhalb des Systems zu sein."723 In der sachlichen Dimension der Anschlussfähigkeit birgt diese bewusste Abkopplung vom System jedoch die implizite Gefahr in sich, dass ein systemischer Berater sehr leicht als distanziert empfunden wird, weil er auch keine inhaltlichen Beiträge (vgl. Kapitel 6.3.2) liefert. Diese "systemische Beliebigkeit stellt 722 723

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 97-16 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 17-07

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ein Problem dar, wenn der Berater damit [für den Inhalt faktisch] jede Verantwortung abschiebt. Das geht aber nicht, weil der Berater sehr wohl die Verantwortung hat, dem System Strukturen zu bieten, sodass es auf [inhaltliche] Fehler draufkommen kann."724 Der systemische Berater muss den sozialen Prozess also in jedem Fall so gestalten, dass nicht nur inhaltliche Ergebnisse erarbeitet werden können, sondern auch notwendige Korrekturschleifen erfolgen können. Er "übernimmt [dabei] nur Verantwortung dafür, was er selber beeinflussen kann"725 und dies ist nach der systemischen Auffassung der Prozess sowie die Interventionsarchitektur. Trotzdem wird die inhaltliche Distanziertheit kritisiert, da systemische Berater dadurch mitunter auch präpotent und arrogant wirken, was einerseits natürlich, so wie die gesamte Beratungsleistung an sich, sehr personenabhängig ist, und andererseits Wurzeln hat, die sich von dem teilweise ähnlich empfundenen Auftreten der klassischen Berater unterscheiden. So vermitteln systemische Berater zum einen teilweise das Gefühl, 'Wir wissen, wie's geht' oder 'Wir haben's verstanden', können jedoch zum anderen nicht sagen, was passieren wird, was in Summe auch unprofessionell wirken kann. Vor allem wird diese anscheinende Unprofessionalität aber stark dadurch genährt, dass das Wort 'systemisch' aufgrund der Vielzahl an systemischen Ansätze sowie der immer stärker werdenden inflationären Verwendung als 'Modewort', schwer zu fassen ist, was etwa eine Abteilungsleiterin kritisiert: "Wenn sich Berater vorstellen, dann verwenden Sie in einem der ersten Sätze immer das Wort 'systemisch'. Die wenigsten können es allerdings erklären!"726 Trotz der genannten Einschränkungen lässt sich feststellen, dass das Auftreten der systemischen Berater vor allem wegen deren vorhandener Seniorität, dem damit einhergehenden Erfahrungsschatz, sowie dem ausgezeichneten Reflexionsvermögen überwiegend positiv wahrgenommen wird, sodass dieses als tendenzielle Stärke eingestuft werden kann. Zum Auftreten der Berater kann also resümiert werden, dass hierbei systemische Berater erstmals deutlich positiver wahrgenommen werden, als ihre klassischen Kollegen. Grundsätzlich wird letzteren zwar professionelles Verhalten und seriöses Auftreten attestiert, jedoch werden sie für eine Reihe von Aspekte kritisiert. Während Konsequenz sowie Kompromisslosigkeit je nach Situation noch als Stärke gesehen werden können, solange es nur um Zahlen, Daten und Fakten geht, werden diese beiden Eigenschaften überwiegend als eindeutige Schwäche ausgelegt, sobald es sich um Menschen, Emotionen und Befindlichkeiten dreht. Dies wird nicht nur durch die tendenziell mechanistische Denkweise in klassischen Beratungsunternehmen begünstigt, sondern hängt auch unmittelbar mit deren sehr hohem Anteil an jungen Universitätsabsolventen zusammen. Diese weisen weitreichende Erfahrungsmängel 724 725 726

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 97-10 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 64-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-18

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in unterschiedlichen Bereichen auf, was letzten Endes leicht zu einem abgehobenen Verhalten führen kann, sodass den klassischen Beratern insgesamt ihr Auftreten als tendenzielle Schwäche anzurechnen ist. Genau diametral verhält es sich hingegen mit dem Auftreten der systemischen Berater, das infolge der Gesamtwahrnehmung eine tendenzielle Stärke ist, weil diesen wegen ihrer Seniorität und unterschiedlichen Erfahrungen Reflexionsfähigkeit und die dazu erforderlichen Kompetenzen attestiert werden. Dies sind die Sozialkompetenz, die für die Fremdreflexion nötig ist, sowie Eigenkompetenz, welche für die Selbstreflexion unumgänglich ist. Infolgedessen weisen systemische Berater letztendlich auch eine höhere Anschlussfähigkeit an das Klientensystem in der Sozialdimension auf, über die auch zur einzigen Schwachstelle der systemischen Berater in Bezug auf das Auftreten hingeführt werden kann. Diese entsteht aus der inhaltlichen Distanziertheit zum Lösungsprozess, woraus eine geringe Anschlussfähigkeit in der Sachdimension resultiert. 6.3.9 Qualität der Kommunikation Die Qualität der Kommunikation ist eines der wichtigsten Charakteristika für das grundlegende Gelingen sowie die nachfolgende Umsetzung von Beratungsprojekten, was auch aus der Sichtweise eines Klienten hervorgeht: "Für eine nachhaltige Veränderung sind die Einbindung der Basis sowie die Kommunikation von unten ein entscheidender Erfolgsfaktor."727 Dabei lassen sich für Kommunikation grundsätzlich die mündliche Formen, wie etwa Moderationen, und die schriftliche Formen, wie etwa Dokumentationen, unterscheiden, wobei in Bezug auf die beiden Beratungsformen vorab anzumerken ist: "Die Berater der beiden Ansätzen verkaufen unterschiedliche Produkte. Während systemische Berater Veränderungsprozesse verkaufen, die [viele Moderationen verlangen, jedoch] schwer dokumentierbar sind, […] verkaufen klassische Berater Fach-Know-how und Lösungskonzepte, die [relativ einfach] in Abschlusspräsentationen dokumentiert werden können"728 und im Allgemeinen mit deutlich weniger Moderation auskommen. Klassische Berater erkennen die Wichtigkeit der Moderation als Erfolgsfaktor definitiv an, was aus den Aussagen zweier Senior-Partner aus unterschiedlichen klassischen Beratungsunternehmen eindeutig nachvollzogen werden kann. So meint einer der beiden: "Man kann bei Veränderungsprozessen nie genug kommunizieren"729, was durch die Aussage des zweiten Beraters ergänzt wird: "Bei Wachstumsprojekten sind grundsätzlich [oft] alle Ideen vorhanden, aber teilweise nicht zu Ende gedacht. Um sicherzustellen, dass dieser Schritt passiert, ist Moderation wichtig, aber für das

727 728 729

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 02-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 15-14 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 38-08

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gesamte Projekt keinesfalls ausreichend."730 So wird den Senior-Partnern auch attestiert, dass sie in bestimmten Situationen zwar anders als systemische Berater, aber trotzdem gut moderieren. Das sieht etwa auch ein Berater mit systemischem Hintergrund so, weist jedoch gleichzeitig darauf hin, dass das eigentliche Problem in puncto Moderation ein anderes ist: "Die Partner würden Themen wie Moderation und Umsetzung beherrschen, aber im Regelfall sind nur die jungen Berater vor Ort"731, die einerseits zu wenig Seniorität und mitunter auch zu geringe Souveränität im Auftreten (vgl. Kapitel 6.3.8) aufweisen sowie andererseits manchmal auch unzureichend ausgeprägte Kompetenzen (vgl. Kapitel 7.4.3) für diese Aufgabe besitzen. Dieser Umstand führt letztlich auch zu der Aussage einer Führungskraft, die meint: "Ich habe einen Fachberater noch nie einen Workshop gut moderieren gesehen."732 Ganz generell wird den klassischen Beratern jedoch angelastet, dass Kommunikation in erster Linie mit den auftraggebenden Führungskräften stattfindet, was seinen Ursprung im mechanistisch geprägten Beratungsverständnis hat: "Die Kommunikation [von Senior-Beratern] findet mit dem Topmanagement statt. Mit den Ebenen darunter gibt es nur sporadischen Kontakt, wobei nicht die Menschen, sondern die Rolle wahrgenommen wird"733, gibt ein junger klassischer Berater zu bedenken und stellt damit implizit fest, dass es in der klassischen Beratung primär um verschiedene Zahlen, Daten und Fakten geht, aus denen inhaltliche Konzepte erarbeitet werden können, die letztlich dem Topmanagement kommuniziert werden. Auf einen zweiten wichtigen Aspekt dieser Kommunikation vor sowie während der Konzepterarbeitung weist ein weiterer Junior-Berater aus einem anderen klassischen Beratungsunternehmen hin, indem er sagt: "Ein gutes 'Expectation-Management' erfordert die Einbindung des Klienten in Form von Kommunikation."734 Damit zeigt er auf, dass auch ein gewisses Eigeninteresse der klassischen Berater darin besteht, dass der Klient stets eine realistische Einschätzung über den durch die Beratung adressierbaren Projektumfang sowie realisierbaren Lösungsinhalt haben sollte. Wird der Blick nun auf die weiterführende Arbeit der Klientenorganisation vor allem nach der Konzepterarbeitung gerichtet, dann macht sich jedoch insofern ein gravierender Schwachpunkt deutlich bemerkbar, dass "wenn ein klassischer Berater [für die Umsetzungsphase] einen Kommunikationsplan hat, […] das eh schon viel"735 ist. Diese Kritik eines Klienten wird von einer Führungskraft dahingehend verstärkt, dass "wenn Kommunikation [mit den Betroffenen] überhaupt gemacht wird, [diese von

730 731 732 733 734 735

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 45-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 86-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-30 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 35-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 44-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 20-13

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klassischen Beratern] dann […] auf den Klienten abgeschoben"736 wird. Auch wenn dies relativ oft kritisiert wird, so lassen sich vereinzelt doch positive Gegenbeispiele finden: "Bei einem 'Cost-Cutting-Projekt' ist es gut angekommen, von Anfang an mehr Mitarbeiter einzubinden. Ein eigens aufgesetzter Kommunikationsfolder konnte zur Beruhigung beitragen und hat gezeigt, wie wichtig ein konkretes Kommunikationsprogramm ist."737 Der Hauptkritikpunkt an der Kommunikation der klassischen Beratung ist jedoch nicht, dass die Organisation oft über weite Strecken vernachlässigt wird oder zu wenig Seniorität für eine Moderation vorhanden ist, sondern, dass der Klient vor allem am Ende eines Beratungsprojektes oft mit einem Konvolut an Konzepten, die zwar auf einer Fülle von Folien hervorragend dargestellt sind, aber letztendlich doch zugeschüttet wird. "Die meisten Leute verbinden mit Beratung Folienschlachten"738, stellt ein Klient, der selber Erfahrung in klassischer Beratung aufweist, hierzu fest, wodurch genau das eintreten kann, was ein SeniorPartner zum Ausdruck bringt, wenn er sagt: "Wir verlieren teilweise den Klienten oder machen ihn durch Kommunikation tot."739 Daraus lässt sich auch erkennen, dass klassische Berater durch ihr Auftreten (vgl. Kapitel 6.3.8) oft nur unzureichend oder gar nicht auf die Bedürfnisse der Klienten eingehen und aktives Zuhören daher auch einen impliziten Schwachpunkt darstellt. Auch wenn abschließend festzuhalten ist, dass die direkte interne Kommunikation in klassischen Beratungsunternehmen zwischen Junior-Beratern und Senior-Partnern gut funktioniert und strikte Richtlinien eine vertrauliche Behandlung von heiklen Klienteninformationen sicherstellen, so bestehen in der externen Kommunikation zum Klienten neben einzelnen Stärken einige gravierende Schwächen, sodass die Qualität der Kommunikation insgesamt als tendenzielle Schwäche wahrgenommen wird. Ganz anders verhält sich die Reflexion dieses Charakteristikums für die systemische Beratung, was alleine schon aus der Anmerkung eines klassischen Beraters – "Kommunikation ist ein systemischer Prozess"740 – ersichtlich wird. Er deutet damit, ohne Luhmann (vgl. Kapitel 3.2.8) zu kennen, intuitiv an, dass das mechanistische Kommunikationsverständnis definitiv überholt ist und hier eine eindeutige Stärke der systemischen Beratung zu sehen ist, was auch generell – ohne einen einzigen Widerspruch – so wahrgenommen wird. So wird den systemischen Beratern nicht nur attestiert, dass diese durch ihre Interventionsarchitekturen den verschiedenen Kollegen und den spezifischen Führungskräften deutlich mehr Zeit zur Konfrontation mit der jeweiligen Themenstellung einräumen, sondern auch, dass sie wesentlich

736 737 738 739 740

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 32-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 08-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 43-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 48-09

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Reflexionen über die Beratungsformen

besser und vor allem aktiv zuhören, was letztendlich von zwei klassischen Beratern hervorgehoben wird: "Systemische Berater sind mehr in der Lage dem Klienten wirklich zuzuhören"741 und sie "hören den Menschen zu, wie sie etwas sagen."742 Es ist deshalb gleichsam eine logische Konsequenz, dass systemische Berater auch als gute Moderatoren in emotional heiklen Situationen sowie als gute Interviewer von emotional betroffenen Personen wahrgenommen werden und ihnen daher schließlich auch eine starke Kommunikationskultur bescheinigt wird. Mit all diesen positiven Aspekten in der letztendlich mündlichen Kommunikation bringen systemische Berater vor allem für die Begleitung von Veränderungsprozessen sehr gute Voraussetzungen mit, weil es darin für die Klienten im Regelfall viele emotional besetzte Situationen zu bewältigen gibt. Die Begleitung ebendieser Veränderungsprozesse ist, wie eingangs bereits erwähnt, auch die primäre Beratungsleistung, die die systemischen Berater anbieten, was für die schriftliche Kommunikation jedoch Probleme mit sich bringt. Abgesehen davon, dass die Dokumentation eines solchen Prozesses schwierig ist, stellt sich jedoch die Frage, ob so eine Dokumentation überhaupt sinnvoll ist, da eine Veränderung, wenn sie erfolgreich ist, ohnehin von der Organisation sowie ihren Mitgliedern nachhaltig gelebt wird und ein schriftliches Festhalten des Weges dorthin eigentlich keinerlei Mehrwert bringt. Kritisch wird diese vermeintliche Schwäche der systemischen Beratung in der Dokumentation nur dann, wenn die vom Klienten im Rahmen eines Veränderungsprozesses erarbeiteten Inhalte festzuhalten sind, was in letzter Konsequenz jedoch auch vom Klient selber durchgeführt werden müsste. Schließlich verwenden klassische Berater Präsentationen deshalb, um ihre primär außerhalb des Klientensystems erarbeiteten Konzepte durch gezielte Kommunikation in die Organisation zu hineinzutragen und damit eine gewissen Verbindlichkeit herzustellen. Ein systemischer Berater hingegen schafft lediglich den Raum, in dem inhaltliche Lösungen vom System selber erarbeitet werden können, weshalb für diesen letztlich auch keine Notwendigkeit besteht, jene innerhalb der Organisation entstandene Lösung von außerhalb zu dokumentieren. Es wird daher gefolgert, dass die mündliche Kommunikation als deutliche Stärke der systemischen Beratung wahrgenommen wird, die durch die Schwäche in der schriftlichen Kommunikation nur eine geringe Einbusse erfährt, sodass die Qualität der Kommunikation in Summe als Stärke bewertet werden kann. Für den direkten Vergleich zwischen den beiden Beratungsformen in puncto Qualität der Kommunikation kann nun zusammengefasst werden, dass klassische Berater zwar kleinere Pluspunkte aufweisen, sie im unmittelbaren Verhältnis zu systemischen Beratern jedoch als deutlich schwächer wahrgenommen werden. Obwohl zum einen

741 742

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 32-12 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 35-01

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den klassischen Senior-Beratern die wichtigen Fähigkeiten zu moderieren sowie umzusetzen zugestanden werden und zum anderen klassischen Beratern insgesamt attestiert wird, gute Dokumente zu erstellen, überwiegen die kritischen Aspekte sehr deutlich. So wird vor allem kritisiert, dass die Klienten oft mit Konvoluten aus Papier und Folien zugeschüttet werden und fast ausschließlich mit dem Topmanagement ohne Einbeziehung der Organisation ein Dialog geführt wird. Diesen eindeutigen Schwächen der klassischen Beratung vor allem in der mündlichen Kommunikation steht die systemische Beratung zufolge ihrer starken Kommunikationskultur mit unverkennbaren Stärken gegenüber. So werden systemische Berater nicht nur als bessere und vor allem aktive Zuhörer sowie Reflexionspartner beschrieben, sondern auch als gute und empathische Moderatoren sowie Interviewer charakterisiert. Deshalb wird die Qualität der Kommunikation als klare Stärke der systemischen Beratung gesehen, obwohl die schriftliche Kommunikation diesem hohen Anspruch nicht gerecht wird. Diese dient jedoch primär der Dokumentation von Ergebnissen und ist bei der systemischen Arbeitsweise ohnehin von Seiten des die Inhalte erarbeitenden Klientensystems zu leisten, sodass der Gesamteindruck durch diesen Aspekt unwesentlich beeinflusst wird. 6.3.10 Reflexion der Problemstellung Die Reflexion der Problemstellung impliziert zwar die gegenwärtige, vom Klienten als problematisch empfundene Ausgangslage gründlich zu verstehen, umfasst jedoch deutlich mehr als das. Reflexion bedeutet vielmehr noch einmal einen Schritt weiter zurück zu machen und den vom Klienten formulierten Auftrag gezielt zu hinterfragen, um herauszufinden, ob es sich dabei um ein beliebiges Symptom, eine mögliche Ursache oder das tatsächliche Problem selbst handelt. Es gilt also den Sachen auf den Grund zu gehen, diese ganzheitlich zu verstehen und die Erkenntnisse daraus in einen Gesamtkontext einzuordnen. Erst von diesem Gesamtbild ausgehend, ist es unter permanenter Reflexion möglich, eine situationsspezifische Vorgehensweise und eine maßgeschneiderte Lösung zu konzipieren. Für die klassische Beratung ist in Bezug auf dieses Charakteristikum auffällig, dass es erstens grundsätzlich eine sehr geringe Anzahl an positiven Anmerkungen zu dieser Reflexion gibt, und diese zweitens – mit einer einzigen Ausnahme – nur von wenigen klassischen Beratern getätigt wurden. Deren eigenen Einschätzungen zufolge suchen sie mittels Analysen, Interviews und ähnlichen Elementen das Problem sowie die Ausgangslage exakt zu verstehen und davon ausgehend eine maßgeschneiderte Lösung – je nach Situation als Berater alleine oder gemeinsam in gemischten Teams – zu entwickeln. Diesem positiven Selbstbild steht nicht nur eine kritische Selbstbetrachtung durch einzelne klassische Kollegen, sondern vor allem eine von negativen Aspekten dominierte Fremdreflexion, die primär von Seiten der

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Führungskräfte geprägt ist, gegenüber. Deren Ansatzpunkt für die Kritik ist, dass ein klassischer Berater im Regelfall ein Konzept für eine vom Klienten definierte Problemstellung erarbeitet, diese im Vorfeld aber oft unzureichend hinterfragt und somit falsche Hypothesen aufstellt, die letztlich eine schlechte Basis für die darauf folgende Beratungsleistung bilden. "Wenn ein klassischer Berater nicht gut ist, dann übernimmt er den Auftrag eins zu eins, ohne das Gesamtgefüge zu durchleuchten und Fragen nach den Umfeldbedingungen zu stellen"743 und definiert "das Problem […] vorschnell und zu grob."744 Diese Sichtweise eines Personalchefs, welche durch jene eines klassischen Berater ergänzt wurde, wird im Grunde von einem zweiten klassischen Berater bestätigt, auch wenn dieser einräumt, dass die formulierte Problemstellung im ersten Schritt eingehend betrachtet wird: "Vor Projektbeginn wird schon ein spezifisches Problemverständnis entwickelt und durch den Partner erfolgt ein starker Beziehungsaufbau. Es gibt allerdings keine Schleife, um zu hinterfragen, ob es das wirkliche Problem ist. Dafür ist der Zeit- und Kostendruck auf den Berater einfach zu hoch."745 Diesen ersten Schritt führt ein Senior-Partner einer anderen klassischen Beratungsfirma genauer aus und räumt damit ein, dass in spezifischen Situationen – vor allem dann, wenn man als Berater das erste Mal in einem Unternehmen tätig wird – durchaus ein intensiver Reflexionsprozess vorgelagert sein kann, in dem das Problem hinterfragt und entsprechend durchdrungen werden kann: "Wir machen ausführliche Interviews im Vorfeld zu Projekten, um uns ein Bild von der Situation zu machen und die Leute kennen zu lernen. Das Resultat daraus kann sein, dass wir manchmal nur moderieren bzw. vermitteln, wie beispielsweise in Organisationsprojekten."746 Dieses Vorgehen ist wichtig, damit unterschiedliche Sichtweisen erhoben werden können, aber nur dann sinnvoll und zielführend, wenn die klassischen Berater ihren eigentlichen Fokus auf inhaltlich verwertbare Informationen bewusst aufweiten und "die Gründe des interviewten Klienten mehr hinterfragen und nicht zu schnell auf beliebige Daten und Zahlen schießen."747 Nur so ist es möglich ein ganzheitliches Verständnis einer Problemsituation zu erhalten und auf Basis dessen eine situationsspezifische Lösung zu konzeptionieren, welche jedoch den zweiten großen Kritikpunkt darstellt. Bezüglich der Erarbeitung eines situationsspezifisch angepassten Konzeptes wird klassischer Beratung vorgeworfen, dass sie "zu wenig Rücksicht auf faktische Tatsachen"748 nimmt, danach strebt "eine Lösung zu finden, die aus externer Sicht passt und versucht diese anzubringen, ohne auf [die potenziellen] Fragezeichen [sowie auch die vorgefundene Situation näher]

743 744 745 746 747 748

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 21-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 33-13 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 44-14 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 45-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 03-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-05

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einzugehen."749 Die zwei Extremergebnisse, die daraus resultieren können, sind zum einen eine Standardlösung, zum anderen eine Ideallösung, die beide Barrieren in der Umsetzung hervorrufen, weil sie unterschiedliche Spezifika der Organisation nicht berücksichtigen, die jedoch durch entsprechende Reflexion hätten eingehen können. Während der Standardlösung einerseits daraus Probleme entstehen, weil diese noch an die höheren Anforderungen der Organisation adaptiert werden muss, ist die Ideallösung andererseits schwierig umzusetzen oder nicht umsetzbar, weil sich an deren hohe Anforderungen die Organisation letztlich anpassen müsste. "Die akademisch beste Lösung [eines klassischen Beraters], ist nicht immer die beste für das Unternehmen"750, formuliert ein Bereichsleiter dazu unmissverständlich, was ein Vorstandsvorsitzender noch präzisiert, indem er den Unterschied im Vergleich zur systemischen Beratung herausarbeitet: "Während systemisch orientierte Beratungen von Anfang an stärker Richtung Umsetzung streben, konzentrieren sich klassische Berater eher auf den Idealzustand."751 Ähnlich problematisch wird es in puncto Umsetzung schließlich auch, wenn aufgrund der unreflektierten Gesamtperspektive nicht in den übergeordneten Kontext eingeordnet, sondern ein zu enger Fokus in der Beratungsarbeit gelegt und somit nur an einem Teilaspekt gearbeitet wird. Trotz der genannten Kritikpunkte und der definitiven Schwäche der klassischen Beratung im Bereich der Reflexion der Problemstellung, können jedoch gute Ergebnisse erzielt werden, wenn der Klient gezielte Anforderungen an einen Berater stellen und die Problemstellung entsprechend formulieren kann: "Der Auftraggeber bekommt vom Berater, was er verlangt und es läuft immer so gut, wie es der Kunde einfordert. Ich kann aus jedem klassischen Berater etwas Gutes herausholen, wenn ich mich mit dem Problem selber intensiv beschäftige."752 Ist der Klient jedoch nicht dazu in der Lage den Berater gezielt zu instruieren, weil er die Situation selber nicht ausreichend reflektieren kann, dann ist in Anbetracht der dargelegten Wahrnehmungen die kritische Perspektive eines Leiters einer HumanRessource-Abteilung leicht nachvollziehbar: "Bekommt der Kunde der klassischen Beratung wirklich das, was er will? Bei der systemischen Beratung bekommt der Kunde tendenziell mehr das, was er will!"753 Er deutet damit die klare Stärke der systemischen Berater in puncto Reflexion der Problemstellung an, was sich auch aus den ausschließlich positiven Wahrnehmungen aus allen Interviewgruppen ergibt. So wird systemischen Beratern zugeschrieben sowohl eine starke Diagnosefähigkeit zu besitzen als auch vor allem am Anfang viel Zeit zu investieren, um einen sauberen

749 750 751 752 753

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 65-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 12-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 15-12 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 03-11 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 20-01

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Reflexionen über die Beratungsformen

Diagnoseprozess sicherzustellen, in dem die Richtigkeit der Themenstellung gezielt hinterfragt werden kann. Dadurch ist es nicht nur möglich ein gutes Verständnis für die Situation an sich aufzubauen, sondern ebenso ein Bewusstsein darüber zu erlangen, wo sich das System und seine Mitarbeiter durch die gegebene Situation befinden. Diesem Bewusstsein entsprechend, können systemische Berater durch ihre Kompetenz über soziale Systeme (vgl. Kapitel 6.3.13) gut an die Bilder des Klientensystems anknüpfen, dessen Mitarbeiter dort abholen, wo diese sind, und dadurch individuell auf das System sowie seine Mitarbeiter eingehen. Dafür wird von Beginn an versucht, das System der sowie auch die Interaktionen754 zwischen den Menschen anhand der beobachteten Kommunikation, welche sich letztlich in einem charakteristischen Sprachgebrauch und spezifischen Verhaltensmustern manifestiert und widerspiegelt, zu reflektieren und zu analysieren. Es können dadurch nicht nur die Unternehmenskultur erfasst und auch im weiteren Projektverlauf berücksichtigt, sondern ebenso die Beziehungsstrukturen und Kommunikationsbarrieren im System identifiziert werden. Darauf aufbauend wird der systemischen Beratung auch noch attestiert, dass sie die relevanten Umwelten des Systems eruiert und in die Reflexion der Problemstellung mit einbezieht, sodass dann eine ganzheitliche Betrachtung und dementsprechende Suche nach den Gründen, den Ursachen und den Wurzeln des geschilderten Problems erfolgen kann. Durch ebendiese ganzheitliche Betrachtung entstehen unter der intensiven Auseinandersetzung mit der Unternehmenskultur schlussendlich Konzepte, die den Fähigkeiten des Systems entsprechen, wenn die inhaltlichen Beiträge (vgl. Kapitel 6.3.2) durch das System selber abgedeckt werden können. Dazu ist schließlich noch hervorzuheben, dass die systemische Beratung vor allem dahingehend sehr positiv wahrgenommen wird, dass sie nicht nur die Problemstellung, sondern auch die kurzfristigen und langfristigen Auswirkungen unterschiedlicher Entscheidungen, die zu einem Konzept führen, in Bezug auf das gesamte Unternehmen ganzheitlich betrachtet. So kann in Anbetracht der positiven Rückmeldungen festgehalten werden, dass, wie eingangs bereits angedeutet, der systemischen Beratung die Reflexion der Problemstellung als eindeutig Stärke anzurechnen ist. Zieht man an nun über jene unterschiedlichen Wahrnehmungen ein abschließendes Resümee, welche bezüglich einer Reflexion der Problemstellung diskutierte wurden, so kann daraus der folgende Sachverhalt für die beiden Beratungsformen abgeleitet werden. In der klassischen Beratung ist dieses Charakteristikum vor allem aus zwei Gründen als Schwäche zu sehen. Erstens gibt es in der Regel keine Schleifen, um etwas zu hinterfragen, weshalb es schwierig bis unmöglich ist, eine ganzheitliche

754

Nach Luhmann findet Interaktion in sozialen Systemen durch deren Operationsform der Kommunikation statt, die wiederum mittels Sprache sowie Verhalten erfolgt (vgl. Kapitel 3.2.8)

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Problemsicht zu erlangen und daraus eine dementsprechende Vorgehensweise zu konzipieren, die im Grunde mehr als Zahlen, Daten und Fakten abdeckt. Zweitens wird damit einhergehend kritisiert, dass klassische Beratung zu wenig Rücksicht auf wichtige Tatsachen nimmt und so kaum situationsspezifische Konzepte erarbeiten kann, sondern entweder Standardlösung anbietet oder aber Ideallösung hervorbringt. Im Gegensatz dazu wird der systemischen Beratung dieses Charakteristikum als klarer Stärke zugeschrieben, was sehr stark damit zusammenhängt, dass für einen sauberen Diagnoseprozess stets ausreichend Zeit investiert wird. Darin wird die Richtigkeit der Themenstellung ebenso hinterfragt, wie auch ein Verständnis für die Klientensituation aufgebaut, wobei nicht nur die Beziehungsstrukturen sowie die Kommunikationsbarrieren, sondern genauso auch die Unternehmenskultur sowie die Systemumwelten identifiziert werden. Es erfolgt also ein ganzheitliche Betrachtung, die durch den gesamten Veränderungsprozess hindurch konsequent reflektiert wird. 6.3.11 Integration der Betroffenen Die Integration der Betroffenen, die eine Veränderung letztlich leben müssen, ist zum einen für die Erhebung relevanter Informationen, die zur Erstellung eines inhaltlichen Konzeptes beitragen, und zum anderen – und vor allem – am Weg zu einer nachhaltigen Umsetzung, ein wichtiger Aspekt. Prinzipiell können diesbezüglich die Quantität sowie die Qualität der Integration unterschieden werden, die in den beiden Beratungsformen jeweils unterschiedliche Ausprägungen annehmen, weil mit der Integration auch unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Dementsprechend können die jeweiligen Berater tendenziell eher auf Akzeptanz oder eher auf Widerstand bei den Betroffenen stoßen. "Die Integration [der Betroffenen] ist bei der klassischen Beratung sehr mäßig und wird oft erzwungen bzw. angeordnet"755, kritisiert eine Führungskraft und fasst damit den überwiegend negativen Grundtenor zu diesem Charakteristikum zusammen. So gibt es zwar sehr vereinzelt positive Wahrnehmungen, die sich jedoch ausschließlich auf das Topmanagement beziehen und bescheinigen, dass sich dieser kleine Personenkreis, der entweder selber als Auftraggeber auftritt oder dem im Regelfall zumindest die Person des Auftraggebers zugerechnet werden kann, in klassischen Beratungsprojekten gut betreut fühlt. Das resultiert daraus, dass der Auftraggeber die spezifische Fragestellung formuliert für deren Beantwortung er den Berater in ein Arbeitsverhältnis holt, in welchem durch diese Hilfe von außen gezielte Konzepte erarbeitet und die einzelnen Fortschritte kommuniziert werden sollen. Daher besteht einerseits ein kontinuierlicher Kontakt zwischen Berater und Auftraggeber und bei letzterem andererseits die Sicherheit, dass die eigene Position gar nicht oder

755

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-19

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Reflexionen über die Beratungsformen

zumindest selten in Frage gestellt wird. Bei diesem aus Sicht des Topmanagements vorteilhaften Arbeitsverhältnis setzt jedoch auch der Hauptkritikpunkt an, dass in der klassischen Beratung im Regelfall sehr stark 'top-down' und folglich oft nur mit dem Topmanagement sowie den ersten Führungsebenen gearbeitet wird. Diese Kritik ist natürlich immer in Abhängigkeit der jeweiligen Themenstellung (vgl. Kapitel 6.4) zu reflektieren, da die Integration eines kleinen Personenkreis und damit einer geringen Quantität an Betroffenen bei einer grundsätzlichen Strategieentscheidung sinnvoll ist, während dies bei einem kulturellen Wandel mit hoher Wahrscheinlichkeit völlig kontraproduktiv wäre. "Die Integration von Mitarbeitern ist bei der klassischen Beratung [jedenfalls] sehr unterschiedlich; teilweise erfolgt sie früh, teilweise gar nicht"756, wobei selbst bei Themenstellungen, die eine breite Einbindung erfordern, eine hohe Tendenz zu Letzterem wahrgenommen wird, wie sich auch aus den Worten eines systemischen Coaches schließen lässt: "Klassische Berater arbeiten nicht mit den Leuten, sondern nur mit dem Topmanagement. […] Die Integration ist oft nur ein Alibi."757 In die gleiche Kerbe schlägt auch noch ein anderer systemischer Berater: "Die Qualität der Integration ist bei klassischer Beratung [im Vergleich zur systemischen Beratung] schlechter. So werden beispielsweise oft viele Mitarbeiter befragt und ihnen aber kein Feedback gegeben"758, was indirekt auch durch die Aussage eines klassischen Beraters bestätigt wird: "Klassische Berater verwenden Klienten eher, um Informationen zu erhalten. Das ist ein problemorientierter Kontakt zu Leuten"759, der auch aus der klassischen "Grundeinstellung – 'Wir lösen dem Kunden das Problem' [– resultiert]. Dafür werden Datenanalysen und Interviews durchgeführt, aber die Lösung wird nicht gemeinsam erarbeitet, sondern vom Berater präsentiert."760 Diese Kritik lässt sich auch durch die Aussage eines Projektleiters in einem klassischen Beratungsunternehmen belegen: "Das Einbeziehen der Klienten ist in jeder Phase der klassischen Beratung ein Problem. Man sieht den Klienten während der Konzepterarbeitung als Belastung und präsentiert deshalb das Ergebnis am Ende."761 Hier bricht jedoch ein langjähriger systemischer Berater eine Lanze für seine klassischen Kollegen und räumt ein: "Die zeitliche Kürze der Aufträge sowie der Fokus auf das Thema verhindert die Einbindung der Mitarbeiter"762 Er bestätigt damit jedoch trotzdem die Allgemeinsicht, dass in der klassischen Beratung sowohl Quantität als auch Qualität der Integration der Betroffenen schlecht sind. Durch dieses ungenügende Einbeziehen des Umfelds entsteht der klassischen Beratung

756 757 758 759 760 761 762

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 14-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 95-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 70-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 33-17 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 87-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 32-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 67-12

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"ein Akzeptanzproblem, weil die Klientenorganisation den Inhalt bei sich sieht und sich [mitunter] angegriffen fühlt"763, wenn klassische Berater das Wissen der Klienten (teilweise) vernachlässigen und als die vom Topmanagement engagierten Experten inhaltliche Beiträge (vgl. Kapitel 6.3.2) von außen in die Organisation einbringen. Durch diese asymmetrische Haltung zum Klienten entsteht im Klientensystem ein Widerstand gegen die Lösung von außen, der zusätzlich dadurch genährt wird, dass die klassischen Berater "auf individuelle Befindlichkeiten weniger Wert [legen] als systemische Berater."764 Die Mitarbeiter haben aufgrund der schlechten Integration letztlich die Angst, dass ihnen etwas vorgesetzt wird und, wie es ein systemischer Berater ausdrückt, dass "neue Prozesse [oder sonstige Lösungen] von außen mit externer Logik in das Unternehmen hineingedrückt"765 werden. Wird auf dieser Basis nun der Blick von der durch Zahlen, Daten und Fakten dominierten Erarbeitung des Konzeptes auf die nachfolgende Umsetzung desselben gerichtet, dann wird die Integration der Betroffenen noch wichtiger, da diese das neue Konzept leben sollen. Durch die damit zunehmende Wichtigkeit der 'weichen' Themen im Vergleich zu den bis dahin tendenziell dominierenden 'harten' Themen werden die klassischen Berater noch weiter in Schussfeld gerückt, da ihnen – wie es sich aus der Diskussion bereits abzeichnet – im Veränderungsprozess, wenn sie diesen überhaupt begleiten, noch weniger eine optimale Einbindung der Betroffenen attestiert wird. Das nimmt auch der Partner einer klassischen Beratung wahr: "Wir gehen die soften Themen von uns aus nicht an. Ehrlich gesagt sind 'Mindsets' bis jetzt stets das zweite Thema gewesen, das wir verspätet begonnen haben, und Tools im Regelfall immer das erste Thema. Rückblickend sind deshalb sicherlich einige Themen gescheitert"766, weil auf Basis der rein inhaltlichen Konzepte weder der 'Buy-in' noch das 'Commitment' in der Organisation unterhalb des Topmanagements erreicht werden konnten, was auch durch den Kommentar eines Personalchefs bestätigt wird: "Die Organisation steht selten hinter [den vom Management über klassische Projekte getroffenen] Entscheidungen, weshalb Probleme bei der Umsetzung entstehen."767 Über diese resultierenden Umsetzungsschwierigkeiten hinaus ist zu dem inhaltlichen Fokus der klassischen Berater noch anzumerken, dass diese keine Verantwortung dafür übernehmen, was an kulturellen Folgeerscheinungen im Klientensystem durch die klassische Beratung entsteht und ob in der Organisation verbrannter Boden zurückbleibt oder sogar Abhängigkeit vom Berater entsteht. Es zeigt sich aus der Diskussion, dass dieses Charakteristikum in Bezug auf die klassische Beratung

763 764 765 766 767

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 38-10 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 62-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 47-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 10-04

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Reflexionen über die Beratungsformen

massiv negativ besetzt ist und die Integration der Betroffenen daher als deutliche Schwäche wahrgenommen wird. Im annähernd gleichen Maße, wie die Integration der Betroffenen bei der Reflexion der klassischen Beratung als negativ empfunden wird, wird dieses Charakteristikum für die systemische Beratung als positiv wahrgenommen. Natürlich gilt es dabei nach wie vor – wie bereits angedeutet – die Themenstellung zu berücksichtigen, da es Fragen gibt, die nicht partizipativ gelöst werden können, aber grundsätzlich lässt sich mit den Worten eines mit beiden Beratungsformen intensiv vertrauten Geschäftsführers festhalten: "Sobald Menschen betroffen sind, ist die Integration der Betroffenen wichtig und sinnvoll."768 Diese Anforderung erfüllen "die systemischen Berater [und] haben eine andere […] Qualität und Quantität der Einbindung von Mitarbeitern."769 So "besteht auf der Oberfläche [zwar] oft kein [gravierender] Unterschied, aber […] während klassische Berater primär Informationen wollen, geht es systemischen Beratern darum, Bewusstsein [in der Klientenorganisation] zu generieren"770, wie ein systemischer Berater ausführt. Er weist damit implizit darauf hin, dass bereits im Vorfeld einer systemischen Beratung durch eine hohe Quantität an Vorgesprächen eine wesentlich bessere Integration der Betroffenen besteht, wie es unter anderem auch von einer Führungskraft bestätigt wird: "Systemische Berater binden meist im Anbot schon viele Leute ein."771 Diese Tendenz zur Einbindung einer deutlich größeren Anzahl an Mitarbeitern zieht sich in Folge auch durch ein systemisches Beratungsprojekt, in dem im Normalfall versucht wird, alle betroffenen Personen, aber zumindest einen repräsentativen Querschnitt des Klientensystems von Beginn an mit einzubeziehen. Dies führt ein weiterer Berater genauer aus, der in seinem Ansatz sowohl klassische als auch systemische Elemente zusammenführt, und eröffnet dabei die Perspektive auf den systemisch orientierten Beratungsablauf in seinen Projekten: "Wir versuchen die Leute gleich ins Boot zu bekommen, die Schlüsselfiguren zu identifizieren und auszurichten und achten darauf, dass der Klient möglichst viel selber macht"772, was einen klassischen Berater zu der Aussage verführt: "Die systemische Beratung ist vielleicht wesentlich smarter, weil die Klienten mit gezielter Intervention mehr arbeiten"773, was im Endeffekt jedoch den Vorteil einbringt, dass sich die Betroffenen mit dem entstehenden Konzept deutlich mehr identifizieren. Als unmittelbare Konsequenz aus diesem Vorgehen ergibt sich dann quasi automatisch eine Beratungsarbeit mit deutlich größeren Gruppen als in der

768 769 770 771 772 773

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 09-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 20-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 69-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 85-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 34-11

Reflexionen über die Beratungsformen

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klassischen Beratung, was den systemischen Beratern auch einbringt, dass ihnen eine wesentlich höhere Quantität der Integration zugeschrieben wird, als den klassischen Beratern. Von hier kann der Fokus nun auf die ebenfalls intensivere Qualität der Integration gerichtet werden, die sich an mehreren Aspekten festmachen lässt. Erstens betonen die systemischen Berater die Eigendynamik des Systems, sodass sie als den Dynamiken des Klientensystems deutlich näher wahrgenommen werden und damit in der Klientenorganisation deutlich reflektierter agieren. Zweitens wird ihnen – eigentlich entgegen dem systemischen Beratungsverständnis774 – eine Persönlichkeitsorientierung attestiert und damit einhergehend zugeschrieben, dass der Fokus der systemischen Arbeit auf Personen und Menschen gerichtet ist und sie daher eher in der Lage sind, Beziehungen zu Betroffenen aufzubauen. Dazu trägt drittens auch bei, dass systemischen Beratern zugerechnet wird, den Menschen Wertschätzung entgegenzubringen sowie deren Leistungen Anerkennung zu zollen und so das gesamte System mit entsprechendem Respekt zu würdigen. Hierbei gilt es jedoch unbedingt zu berücksichtigen, dass Schwächen des Klientensystems nicht ignoriert werden dürfen, sondern trotzdem adressiert werden müssen. Viertens erkennt die systemische Beratung den Klienten als Experte für das eigene Umfeld sowie den erforderlichen Inhalt an, "nutzt [dementsprechend] die Lösungskompetenz des Systems"775, "versucht [dadurch] Ideen über [jene] Menschen zu finden, die im System arbeiten, und setzt [somit] auf deren Wissen."776 Diese Wahrnehmungen zweier Führungskräfte untermauert ein systemischer Berater mit dem theoretischen Hintergrund: "Die [systemische] Organisationsentwicklung sagt, 'Du kennst dich bei Inhalten besser aus', und legt [dadurch] den Schwerpunkt auf Nichtwissen, was eine symmetrische Beziehung zum Klienten zur Folge hat. Daraus ergeben sich [dann] Einblicksmöglichkeiten beim Klienten und es wird der Prozess der Selbstentdeckung gesteuert. Das Lösungswissen kann [demnach] also mit dem Kunden erreicht werden"777, was fünftens zu einer gemeinsamen Arbeitsweise führt. Diese beginnt mit dem gemeinsamen Erarbeiten der Zielvorstellung und setzt sich darin fort, dass sich die "die systemische Beratung […] bewusst auf einen gemeinsamen Weg mit dem Klienten [begibt], ohne die Lösung zu kennen."778 Die Kombination der beiden letztgenannten Aspekte resultiert schließlich darin, dass ein systemischer Berater – im Vergleich zu einem klassischen Kollegen – nicht invasiv wirkt, sodass "keine Angst [in der Klientenorganisation entsteht], weil dieser keine [unmittelbare] Gefahr

774

775 776 777 778

Das systemische Beratungsverständnis stellt nicht die Personen und Menschen, sondern die Kommunikations- und Beziehungsmuster in den Mittelpunkt ihres Interesses (vgl. Kapitel 2.2.2.2) Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 14-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 09-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 67-12 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 09-06

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Reflexionen über die Beratungsformen

darstellt."779 Zusätzlich gelingt es den systemischen Beratern somit eine "höhere Akzeptanz in der Klientenorganisation [zu erzielen, was auch dadurch begünstigt wird], weil Prozessberatung eine Leistung ist, die niemand in der Organisation anbietet."780 Nicht zuletzt wird diese höhere Akzeptanz zusätzlich begünstigt, indem die systemische Beratung "eine Balance zwischen Bewahren und Verändern [hält], wodurch sie der Veränderung [letztlich] neutral gegenübersteht."781 Aus der Summe dieser fünf Aspekte kann den systemischen Beratern schließlich eine hohe Qualität der Integration der Betroffenen attestiert werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit sowohl zum 'Buy-in' als auch zum 'Commitment' der Organisation führt. Damit wird die Basis für ein Konzept gelegt, das von allen oder zumindest einem Großteil der Betroffenen mitgetragen wird und in letzter Konsequenz zu einer erfolgreichen Unterstützung von verändernden Umsetzungsprozessen (vgl. Kapitel 6.3.12) führen kann: "Die systemische Beratung spricht Menschen mehr an und bewirkt [dadurch] nachhaltige Veränderungen durch Änderung des 'Mindsets'."782 Abschließend gilt es einschränkend zu ergänzen, dass trotz der sowohl quantitativen als auch qualitativen hohen Integration der Betroffenen auch in systemischen Prozessen Entscheidungen getroffen werden müssen, denen mitunter nicht alle Betroffenen zustimmen. Wird in diesen Situationen von der im Regelfall angestrebte Konsensorientierung nicht auch einmal abgewichen und direktiv agiert, so kann sich die Integration auch nachteilig auswirken und im schlimmsten Fall den gesamten Prozess über längere Zeit zum Stillstand bringen. Das ändert jedoch nichts daran, dass dieses Charakteristikum in der systemischen Beratung grundsätzlich als eindeutige Stärke gesehen wird. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Integration der Betroffenen in den beiden Beratungsformen sowohl in puncto Quantität als auch in Bezug auf Qualität unterscheidet. Während in der klassischen Beratung tendenziell nur das Topmanagement sehr gut eingebunden wird und die restliche Organisation primär die Funktion erfüllt, über Zahlen, Daten und Fakten Informationen für die inhaltliche Arbeit der Berater bereitzustellen, sucht die systemische Beratung nach Möglichkeit alle Betroffenen, aber zumindest einen repräsentativen Querschnitt des Klientensystems zu integrieren und eine gemeinsame Arbeitsweise anzustreben. Daher wird der klassischen Beratung sowohl eine niedrige Quantität als auch eine schlechte Qualität der Integration zugeschrieben und der systemischen Beratung das genaue Gegenteil attestiert. Dies führt letztlich dazu, dass die Integration der Betroffenen als eindeutige Schwäche in der klassischen Beratung sowie klare Stärke in der systemischen Beratung wahrgenommen wird.

779 780 781 782

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 12-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 83-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 42-04

Reflexionen über die Beratungsformen

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6.3.12 Unterstützung von verändernden Prozessen Die Unterstützung von verändernden Prozessen umfasst jene Aspekte, welche nötig sind, damit ein im Rahmen eines Beratungsprojektes erarbeitetes Konzept, welches letztendlich eine Veränderung in einem Unternehmen herbeiführen und bewirken soll, von der Organisation und deren Mitarbeitern auch tatsächlich gelebt wird. Schließlich ist, wie dies ein Vorstand auch auf den Punkt bringt, "als Manager […] die Umsetzung das einzige, was zählt!"783 Um als Berater dabei Wert stiften zu können, benötigt dieser ein grundlegendes Bewusstsein für Veränderungsprozesse, auf Basis dessen er überhaupt erst jenes für eine Umsetzungskompetenz letztlich notwendige Hintergrundwissen entwickeln kann. Dieses Hintergrundwissen setzt sich wiederum zusammen aus der Kompetenz über soziale Systeme (vgl. Kapitel 6.3.13), die eine Fachkompetenz darstellt, sowie der Kompetenz über systemische Elemente (vgl. Kapitel 4), die einer Methodenkompetenz entspricht. Diese beiden Teilkompetenzen (vgl. Kapitel 7.4.3.1) gemeinsam gestatten es dem Berater schließlich entsprechende Rahmenbedingungen für die Umsetzung zu schaffen, um damit den angestrebten Veränderungseffekt in der Organisation zu unterstützen. Für diesen Effekt lässt sich aber unabhängig vom Hintergrundwissen mit den Worten eines Vorstandes eingangs festhalten, dass "wenn man jemanden von extern für ein bestimmtes Projekt holt, dann […], verglichen zu internen Projekten, die Umsetzungswahrscheinlichkeit und der Umsetzungsdruck erhöht [wird]."784 Ausgehend von dem eigentlichen Fokus der klassischen Beratung, nämlich eine Unterstützung durch inhaltliche Beiträge (vgl. Kapitel 6.3.2) zu leisten, kann in Bezug auf die Unterstützung von verändernden Prozessen zunächst für klassische Berater festgehalten werden: "Inhaltlicher Input ist in der Beratung wichtig, weil dieser zur Beratung dazugehört. Inhalt ohne Umsetzung ist aber wertlos"785, wie ein systemisch orientierter Berater meint. Einen Schritt weiter geht hierauf noch ein ehemaliger klassischer Berater, der mittlerweile eine Vorstandsposition besetzt – "Die inhaltliche Problemlösung ist trivial. Die Umsetzung, das heißt die Menschen zu bewegen, ist das eigentliche Problem"786 – und hebt damit die Wichtigkeit der Unterstützung von verändernden Prozessen noch einmal deutlich hervor. Prinzipiell wird der klassischen Beratung in Bezug auf dieses Charakteristikum zugute gehalten, dass deren Projekte im Vergleich zu systemischen Projekten, dann leichter und schneller umzusetzen sind, wenn zu Beginn eine tiefgehende und solide Problemidentifikation durchgeführt und das gesamte Projekt dann dementsprechend angelegt wurde, was auch ein Bereichsleiter und ehemaliger klassischer Berater mit

783 784 785 786

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 18-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 15-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 84-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 01-06

300

Reflexionen über die Beratungsformen

seinen Worten reflektiert: "Wenn die klassischen Berater über die Einführungsphase kommen, kann es ein gutes Projekt werden."787 Des Weiteren wird klassischen Beratungsprojekten ebenso attestiert eine höhere Wirkung zu erzielen, wenn diese sowohl vom Klienten als auch vom Berater gut – sprich mit Weitblick und Sorgfalt – abgewickelt werden. Aber selbst wenn dies nicht der Fall ist, haben "Projekte mit mechanistischer Orientierung […] immer irgendeinen 'Impact'", wie ein klassischer Berater meint und stellt vergleichend dazu fest: "Dem entgegen kommt bei Projekten mit systemischer Orientierung entweder gar nichts heraus oder es funktioniert super."788 Dieser Vergleich weist implizit jedoch auch auf den ersten großen Kritikpunkt an der klassischen Beratung in puncto Umsetzung hin, welcher dahingehend lautet, dass mit solch klassischen Projekten tendenziell Einmaleffekte, aber keine Nachhaltigkeit erzielt wird. Das wird unter anderem nicht nur von einem klassischen Junior-Berater – "Wir machen wenig in Richtung Umsetzung, sondern wollen eher nur Antwort auf eine Frage und erzielen damit einen einmaligen Effekt. Die Nachhaltigkeit ist eher fraglich."789 –, sondern auch von einem Senior-Partner aus der gleichen Beratung bestätigt: "Wir haben einen hohen Umsetzungsgrad, aber die Nachhaltigkeit ist nicht gegeben. Das heißt, dass einmalige Rationalisierungsmaßnahmen gut funktionieren, aber nachhaltige Verhaltensänderungen nicht erfolgen."790 Die Ursache dafür ist im tendenziell mechanistisch geprägten Beratungsverständnis (vgl. Kapitel 2.2.2.1) zu sehen, in dem Wandel als planbar betrachtet wird und der Fokus auf inhaltliche Beiträge gerichtet ist. Durch diese rationale Sichtweise wird eine Veränderung als ein steuerbarer Ablaufprozess und nicht als ein wachsender Entwicklungsprozess gesehen, weshalb emotionale Aspekte, die für Änderungen von Verhalten relevant sind, gar nicht oder nur ungenügend berücksichtigt werden. "Klassische Beratung hat [einfach] ein anderes Prozessverständnis als systemische Beratung"791, meint eine systemische Beraterin dazu, was sich schlussendlich auch im Sprachgebrauch eines klassischen Beraters widerspiegelt: "In der klassischen Beratung wird eine Organisation mittels Workshop-Serien von oben nach unten aufgesetzt. Danach wird der Schalter umgelegt und die Organisation ist umgesetzt und wird gelebt."792 Diese Aussage eines Senior-Partners spiegelt zusätzlich jene mit dem mechanistischen Organisationsverständnis (vgl. Kapitel 2.2.2.1) einhergehende, hierarchisch orientierte Herangehensweise klassischer Berater an Veränderungsprozesse wider, was in einzelnen Fällen auch von Vorteil sein kann, aber grundsätzlich als nachteilig

787 788 789 790 791 792

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 12-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 34-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 35-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 47-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 66-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 37-08

Reflexionen über die Beratungsformen

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empfunden wird. Selbige führt jedenfalls dazu, dass die Implementierung oft durch den Berater von oben übergestülpt wird und nicht die Umsetzung im System von unten wächst, wodurch eine Änderung in den Köpfen der Betroffenen letztendlich äußerst unwahrscheinlich wird und somit auch kaum eine nachhaltige Veränderung der Unternehmenskultur erfolgen kann. Dem mechanistischen Verständnis von Beratung, Organisation und Prozess folgend, wird nicht nur die klassische Herangehensweise an, sondern auch das grundlegende Bewusstsein für Veränderungen massiv geprägt. Die aus diesem mechanistischen Bewusstsein hervorgehende Umsetzungskompetenz geht, wie bereits angedeutet, von Umsetzung als steuerbarem Ablaufprozess aus und ist demnach primär eine Art mechanistisches Projektmanagement, weshalb sie auch als der zweite Kritikpunkt im Rahmen der Reflexion dieses Charakteristikums bildet. Der klassischen Beratung wird hierbei angelastet, dass der Prozess primär ergebnisorientiert ist und der soziale Anteil untergeordnet ist bzw. nicht beherrscht wird. Die Konsequenz daraus ist, dass sich in der klassischen Beratung nicht nur nachhaltige Verhaltensänderungen sehr schwierig gestalten, sondern die Klientenorganisation auch nur äußerst schwer zur Umsetzung mobilisiert werden kann. Dies liegt vor allem daran, dass klassischen Beratern, wie es auch oft kritisiert wird, die zur Umsetzungskompetenz gehörende Fachkompetenz über soziale Systeme genauso fehlt, wie die davon erheblich beeinflusste Methodenkompetenz über konzeptionelle Elemente, was beispielsweise auch die Anmerkung einer Führungskraft widerspiegelt: "Klassische Berater haben nicht so durchstrukturierte Workshop-Designs wie systemische Berater."793 Ein unmittelbares Resultat der als fehlend attestierten Umsetzungskompetenz ist, dass an der klassischen Beratung auch bemängelt wird, in ihrer primären Arbeit an inhaltlichen Konzepten oft zu wenig oder gar nicht an die Umsetzung sowie die dafür erforderlichen Bedingungen zu denken und dadurch die Kopplung zwischen dem theoretischen Konzept sowie dessen praktischer Umsetzung letztlich zusätzlich zu erschweren. Dieser dritte große Kritikpunkt wird vor allem dadurch begünstigt, dass klassische Berater in den seltensten Fällen Umsetzungsarbeit leisten, sondern den Klient dabei im Regelfall alleine lassen, was primär von ihren systemischen Kollegen aufgeworfen wird: "In der klassischen Beratung bleibt die tatsächliche Umsetzung ins soziale System offen"794, formuliert ein systemischer Berater seine Kritik, die von einem weiteren systemischen Berater noch genauer auf den Punkt gebracht wird: "Klassische Berater entwerfen Konzepte und kümmern sich nicht um die Umsetzung. Für die Implementierung ist dann jemand anderer zuständig, der scheitert. Daran ist der Klient [aber] genauso schuld, wie der klassische Berater."795 Die entscheidende

793 794 795

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 20-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 65-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 68-04

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Reflexionen über die Beratungsformen

Frage, welche ein Partner eines klassischen Beratungsunternehmens diesbezüglich jedoch stellt ist, "wie welche Stufe des Projektes begleitet wird"796, worauf eine Führungskraft durchaus selbstkritisch zu bedenken gibt: "Klassische Berater werden oft nicht für die Umsetzung engagiert bzw. oft wird dieser Aspekt schon in der Angebotslegung vernachlässigt"797, weil der Klient häufig die Sichtweise vertritt, dass einerseits klassische Berater für die Umsetzung zu teuer sind und diese andererseits durch das Unternehmen selber zu bewerkstelligen sein muss, obwohl sie "meist das größere Problem [darstellt und] daher […] die Unterstützung durch den Berater viel wichtiger"798 wäre als in der Konzepterarbeitung, wie sich ein Bereichsleiter äußert. Diese Sichtweise wird jedoch auch durch eine gewisse Grundeinstellung klassischer Berater gegenüber der Umsetzung genährt. Diese sehen oft nur den konzeptionelle Teil als spannend an und betrachten die umsetzungsorientierte Arbeit tendenziell als langweiliges und langwieriges "Management auf Zeit, die vom klassischen Berater eher weniger gemacht wird"799, weil ein klassisches Beratungsunternehmen "auch nicht daran interessiert [ist], dass ein Berater [über einen längeren Zeitraum] für die Implementierung an den Klienten gebunden ist"800, wenn zur gleichen Zeit bereits die Nachfrage von anderen Klienten nach Unterstützung bei der Erarbeitung von Konzepten besteht. Nicht zuletzt deshalb tendieren klassische Berater, wenn diese die Umsetzung unterstützen, eher zu einer punktuellen als zu einer kontinuierlichen Begleitung, wobei ein Projektleiter dazu sehr selbstkritisch anmerkt: "Klassische Berater starten die Umsetzungsbegleitung und versuchen sich danach schnell auszuklinken, während ein systemischer Berater die Umsetzung begleitet und gemeinsam mit den Menschen mitsteuert."801 Als letzter Kritikpunkt, der in die Reflexion dieses Charakteristikums in Bezug auf die klassische Beratung noch hineinspielt, ist das Thema Wissenstransfer zu nennen, das in zwei Aspekte geteilt werden kann, die jeweils unterschiedliche Assoziationen hervorrufen. Betrachtet man dabei zuerst jenes Wissen, das aus unterschiedlichen externen Quellen in das Konzept eingeht, dann wird dieser Wissenstransfer als positiv gesehen, solange ein branchenspezifischer Kontext vorhanden ist, mitunter jedoch skeptisch betrachtet, sobald branchenübergreifende Ansätze verfolgt werden, wie etwa ein Klient aufwirft: "Die Übertragbarkeit von industriespezifischem Wissen wird oft nicht ausreichend hinterfragt."802 Wird hingegen der Transfer des mit dem erarbeiteten Konzept verbundenen Wissens in die Organisation beleuchtet, dann

796 797 798 799 800 801 802

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 45-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 20-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 03-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 44-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 44-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 32-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 03-05

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äußern sich primär systemische Berater negativ und kritisieren, dass das Wissen in der Organisation oft nicht ankommt und das Klientensystem daher nicht lernt. Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Grundtenor in Bezug auf die Unterstützung von verändernden Prozessen durch klassische Berater außerordentlich kritisch ist und die – wie in der Diskussion um die Evolution der klassischen Beratung (vgl. Kapitel 6.2.1) bereits angedeutete – erfolgte Entwicklung spärlich honoriert wird, was auch aus den Worten eines systemischen Beraters hervorgeht: "Klassische Berater räumen Implementierung und Umsetzung immer mehr Stellenwert ein, der aber von den Klienten nicht wahrgenommen wird."803 Ebendieser Entwicklungstrend in der klassischen Beratung spiegelt sich zwar in einzelnen Aussagen wieder – "Es geht darum herauszufiltern, was die besten und was die umsetzbaren Ideen sind. Deshalb wird die Umsetzbarkeit analytisch und in Bezug auf die Begeisterung sowie die Fähigkeit der Mitarbeiter abgetestet."804 – ändert aber nichts daran, dass dieses Charakteristikum vor allem im Vergleich zur systemischen Beratung nach wie vor als eklatante Schwäche gesehen wird. Der angesprochene Entwicklungstrend wird auch in der Aussage eines weiteren systemischen Berater reflektiert, welcher damit gleichzeitig die Stärke der eigenen Beratungsform andeutet: "Klassische Beratung geht immer stärker in die Umsetzung hinein. Systemische Beratung ist [jedoch] stärker in der Umsetzung und kommt [deshalb] meistens nach der klassischen Beratung."805 Genau diese Stärke lässt sich ebenfalls anhand der Vermutung eines Senior-Beraters aus dem klassischen Umfeld erkennen, die den Mehrwert der seit langem bestehenden, aber gegenwärtig verschwimmende Rollenaufteilung zwischen den beiden Beratungsformen noch einmal verdeutlicht: "Die Umsetzung müsste bei der systemischen Beratung besser sein [– was in Folge auch anhand mehrerer Punkte dargestellt wird –], denn sonst verliert sie ihren Wert."806 Allem voran wird diese Vermutung über systemische Berater dadurch bestätigt, dass diesen – unter anderem von fast zwei Dritteln der befragten Führungskräfte – eindeutig attestiert wird, eine wesentlich nachhaltigere Umsetzung zu erzielen, was jedoch nur unter zwei Voraussetzungen gilt. Erstens muss sich das Management mit der systemischen Vorgehensweise identifizieren, was ausschließlich von dessen grundlegender Einstellung abhängig ist, und durch die Aussage eines klassischen Beraters näher erläutert wird: "Die Hürde liegt beim Verständnis der Unternehmen und ob sich diese auf systemische Art und Weise helfen lassen wollen."807 Zweitens

803 804 805 806 807

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 88-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 45-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 70-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 38-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 33-03

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muss es gelingen ein entsprechendes inhaltliches Konzept zu erarbeiten, was sehr stark davon beeinflusst wird, ob es dem systemischen Berater mit seiner Kompetenz über fachliche Themen (vgl. Kapitel 6.3.1) gelingt, das Projekt so zu gestalten, dass sich das Klientensystem alle inhaltlich relevanten Aspekte selbst erarbeiten kann. Diesbezüglich merkt ein Projektleiter einer klassischen Beratungsfirma skeptisch an: "Wenn die systemische Beratung funktioniert, dann ist sie sehr 'powerful'"808 und äußerst effektiv, was so auch von einem Kollegen aus einer anderen klassischen Beratung gesehen wird: "Systemische Beratung ist für die Implementierung sehr gut geeignet, aber die Analyse davor ist eher mechanistisch."809 Mit dieser Äußerung zeigt dieser Projektleiter im Endeffekt nun dahingehend seine Bedenken auf, ob mit einer rein systemischen Herangehensweise ohne inhaltliche Beiträge (vgl. Kapitel 6.3.2) auch tatsächlich alle entscheidenden Gesichtspunkte vom Klienten selber erkannt, lokalisiert sowie in das Konzept eingebracht werden können. Diese Kritik sieht eine systemisch orientierte Beraterin, die auch mehrjährige Berufserfahrung in der klassischen Beratung besitzt, ebenfalls und bringt dies in ihrer Aussage klar auf den Punkt: "Wenn die systemische Beratung auf die Kernpunkte stößt, dann ist sie nachhaltiger, allerdings auch nur dann, wenn das System die Punkte aufgreift."810 Damit zeigt sie aber auch deutlich auf, dass der systemischen Beratung selbst bei optimalem Verlauf der inhaltlichen Arbeit natürliche Grenzen in der Umsetzung entstehen und lediglich eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine nachhaltige Umsetzung besteht. Der Grund dafür ist jedenfalls in der besseren Integration der Betroffenen (vgl. Kapitel 6.3.11) zu suchen, wodurch eine inhaltliche Lösung, wenn diese entsteht, vom Klientensystem besser mitgetragen wird, was ein Senior-Partner eines klassischen Beratungsunternehmens auch anerkennt: "Die systemische Beratung spricht Menschen mehr an und bewirkt nachhaltige Veränderungen durch Änderung des 'Mindsets'."811 Diese höhere Wahrscheinlichkeit der systemischen Beratung auf eine nachhaltige Umsetzung lässt sich über die bereits erwähnte Integration der Betroffenen auf das grundlegende Bewusstsein für Veränderungsprozesse zurückführen, das wiederum vom systemischen Verständnis von Organisation sowie von Beratung geprägt ist. Dieses Bewusstsein, das aus dem theoretischen Verständnis der Hintergründe für bestimmte Handlungen sowie Probleme in sozialen Systemen hervorgeht, bildet die Basis für eine Umsetzungskompetenz, die der systemischen Beratung als zweiter positiver Aspekt in Bezug auf dieses Charakteristikum attestiert wird und somit die eingangs dargelegte Vermutung zusätzlich stärkt. Getragen wird diese systemische

808 809 810 811

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 34-10 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 39-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 69-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 42-04

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Umsetzungskompetenz, in der soziale Entwicklungsprozesse – im Unterschied zu mechanistischen Ablaufprozessen – einen zentralen Stellenwert einnehmen, von der Fachkompetenz über soziale Systeme und der dazugehörigen Methodenkompetenz über systemische Interventionen. Infolgedessen wird Beratern mit systemischem Hintergrund zugeschrieben, viel Wert auf zwischenmenschliche Interaktionen sowie gruppendynamische Prozesse zu legen und alle diese bewusst durch systemische Interventionen zuzulassen und vor allem zu irritieren, um dadurch problematische Kommunikationsmuster und implizit somit ebensolche Muster in puncto Verhalten, Beziehungen und auch Wahrnehmungen zu unterbrechen. Um diese systemischen Akzente setzen zu können, hilft den Systemikern nicht nur ein reichhaltiges Interventionsrepertoire, sondern auch eine saubere Interventionsplanung, die vor allem durch die Sensibilität der systemischen Berater für Interventionsarchitekturen, die auch von einem klassischen Berater hervorgehoben wird, gekennzeichnet ist: "Es gibt in der klassischen Beratung Leute, die systemisch denken, aber systemische Erst die aktive Berater sind viel sensibler für Interventionsarchitekturen."812 Gestaltung dieses übergreifenden Rahmens schafft soziale Räume in denen "bestimmte systemische Ansätze […] sehr effektiv sein [können], wenn sie richtig eingebettet sind"813, und erlaubt die bedingte Steuerung des Gesamtprozesses, in dem sich eine Veränderung angemessen entwickeln und entsprechend wachsen kann. Dazu richtet die systemische Beratung ihren Blick primär auf Kommunikation und damit auch auf Verhalten, Beziehungen und Wahrnehmungen, um auf diesen Ebenen ausgeblendete Aspekte bewusst sowie spürbare Konflikte sichtbar zu machen und damit problemspezifische Muster ins Bewusstsein zu rücken, wodurch bestehende Barrieren gelöst werden können: "Die systemische Beratung fragt, wie Wechselwirkungen entstehen, die die Problem stabilisieren, und setzt Interventionen, um die resultierenden Problemmuster zu unterbrechen"814 und so Veränderung zu unterstützen. Die Steuerung und Gestaltung des Gesamtprozesses deutet implizit darauf hin, dass systemische Berater auch in der Umsetzung eines Konzeptes beteiligt sind, was ihnen als dritten Aspekt die positive Wahrnehmung der aktiven Begleitung des Klientensystems bei der Umsetzung einbringt: "Die Umsetzung muss [zwar] immer durch das Unternehmen selber erfolgen, aber der systemische Berater kann eine gute Hilfe sein bzw. Ideen für die Umsetzung beisteuern"815, meint diesbezüglich eine Führungskraft. Ebendiese aktive Begleitung bewirkt natürlich, dass systemischen Beratern auch eine entsprechende Erfahrung mit Umsetzung attestiert wird und auch

812 813 814 815

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 50-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 83-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 88-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 03-12

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Reflexionen über die Beratungsformen

zugeschrieben wird, dass meist keine Schwierigkeiten bei der Umsetzung entstehen. Ein Hauptgrund dafür ist im Vergleich zur klassischen Beratung unter anderem auch darin zu suchen, dass, wie ein Vorstand meint, "systemisch orientierte Beratungen von Anfang an stärker Richtung Umsetzung streben"816, wobei zumindest die ersten Umsetzungsschritte noch während der Konzepterarbeitung erfolgen, was auch ein systemischer Berater hervorhebt: "Wir ziehen in unserem Ansatz die Umsetzung bereits in den Beratungsprozess vor und machen Umsetzung vom ersten Tag an."817 "Die systemische Beratung sorgt [in jedem Fall durch ihre Interventionsarchitektur] für die Gestaltung der Umsetzungsbedingungen bzw. des Umsetzungsumfeldes"818, unterstützt die Betroffenen mitunter auch durch spezifisches Coaching und portioniert die Umsetzung meist in kleine Schritte, wobei in der Regel eine hohe Lösungs- und Zielorientierung angestrebt wird, um die Veränderung leichter lebbar zu machen. Als vierter Vorteil in puncto Unterstützung von verändernden Prozessen geht aus der Reflexion der systemischen Beratung noch das Thema Wissenstransfer hervor, das eine Führungskraft wie folgt klar adressiert: "Bekommt der Kunde der klassischen Beratung wirklich das, was er will? Bei der systemischen Beratung bekommt der Kunde tendenziell mehr das was er will!"819 Damit bezieht er sich nicht auf das in das Konzept eingehende, sondern auf das bei dessen Erarbeitung entstehende Wissen, das durch die systemische Grundhaltung – "Du kennst dich bei Inhalten besser aus"820 – nicht nur vom Klientensystem selber entwickelt werden muss, sondern genau deshalb auch in demselben verbleibt. Letztendlich ergeben sich aus dieser Haltung "Einblicksmöglichkeiten beim Klienten und es wird der Prozess der Selbstentdeckung gesteuert"821, durch welchen das System über sich lernt und infolgedessen die eigene Lernfähigkeit verbessert. Das tatsächliche Ergebnis der Beratungsleistung ist damit nicht nur das primär selbst erarbeitete Konzept sowie dessen Umsetzung an sich, sondern vielmehr eine qualitativ hochwertige Methode, welche die Handlungsfähigkeit des Klienten erweitert sowie auch dessen Flexibilität erhöht. Die Systemische Beratung leistet damit also Hilfe zur Selbsthilfe, für die das Klientensystem lediglich "eine möglichst kurze Zeit in Abhängigkeit [geführt werden muss] und […] aus dieser so bald als möglich wieder herausgeholt"822 wird, sodass seine Fähigkeiten letztlich durch das systemische Vorgehen gestärkt werden. In Bezug auf die Diskussion dieses Charakteristikums für die systemische Beratung ist einschränkend anzumerken, dass das Aufarbeiten von Konflikten und Barrieren,

816 817 818 819 820 821 822

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 15-12 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 64-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 85-13 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 20-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 67-12 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 67-12 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 97-17

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auf die man durch ein systemisches Vorgehen sehr wahrscheinlich stößt, zum einen vom gesamten Klientensystem viel Zeit und Energie erfordert und zum anderen der Prozessfokus dabei aus einem systemischen Dogmatismus heraus auch übertrieben werden kann, wie etwa ein Klient kritisiert: "Systemische Beratung kann manchmal auch ziemlich mühsam sein. Man kann es [mit dem Fragen] auch übertreiben!"823 Diese beiden Aspekte, die sich sowohl auf die Implikationen für das Management (vgl. Kapitel 6.3.6) als auch in die Integration der Betroffenen (vgl. Kapitel 6.3.11) auswirken, ändern jedoch kaum etwas an dem außerordentlich positiven Grundtenor in der Reflexion dieses Charakteristikums auf die systemische Beratung, der sich mit den Worten eines Vorstandes gut umreißen lässt: "Systemische Beratung findet [durch ihre Interventionsarchitekturen] die richtigen Dinge heraus, sorgt für die Umsetzung [derselben] und weiß besser, wie Unternehmen [als soziale Systeme] funktionieren."824 Die Unterstützung von verändernden Prozessen kann folglich klar als eine eindeutige Stärke der systemischen Beratung interpretiert werden. Die Reflexion dieses Charakteristikums kann für die beiden Beratungsformen entlang der vier Hauptaspekte zusammengefasst werden. Erstens werden der klassischen Beratung tendenziell einmalige Umsetzungseffekte zugeschrieben, während die systemische Beratung – auch wenn sich eine systemische Beraterin diesbezüglich sehr skeptisch äußert: "Es ist eine Annahme, dass Erfolg bzw. Umsetzung in der systemischen Beratung nachhaltiger ist und diese auch eine höhere Akzeptanz findet."825 – klar mit Nachhaltigkeit assoziiert wird. Das bringt letztlich ein Spezialist für Organisation aus einem klassischen Beratungsunternehmen auf den Punkt: "Bei der klassischen Beratung kann es passieren, dass inhaltlich und analytisch richtige Konzepte umgesetzt werden, aber deren Wirkung nicht auf Dauer anhält. Bei der systemischen Beratung ist die Nachhaltigkeit hingegen vorhanden, aber es besteht die Gefahr, dass das Unternehmen in die falsche Richtung geht, wenn keine inhaltlichen Inputs erfolgen."826 Zweitens besitzt die Umsetzungskompetenz in der systemischen Beratung durch deren Fachkompetenz über soziale Systeme sowie deren Methodenkompetenz über konzeptionelle Elemente eine deutlich höhere Qualität als jene in der klassischen Beratung, was drittens auch die Voraussetzung für die entsprechende Begleitung eines Veränderungsprozesses ist: "Bei der klassischen Beratung wird die Umsetzung vom Klienten übernommen, bei der systemischen Beratung entspricht sie eher einem Coaching und ist im Projekt integriert. Beide Herangehensweisen haben ein Für und Wider. […] Man kann nicht sagen, 'Das eine ist gut, das andere ist schlecht'. Es ist in beiden Paradigmen

823 824 825 826

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 14-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 18-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 61-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 50-10

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Reflexionen über die Beratungsformen

beides möglich. Man muss die Umsetzung eher unter dem 'Fit' zwischen Berater und Klienten betrachten."827 Dieser Einwand ist natürlich berechtigt, ändert jedoch nichts daran, dass das Charakteristikum in der klassischen Beratung als klare Schwäche wahrgenommen wird, während es der systemischen Beratung als eindeutige Stärke zuerkannt wird, was letztlich auch durch den vierten Aspekt des Wissenstransfers untermauert wird. Auch dieser wird systemischen Beratern als vorteilhaft zuerkannt, weil sie durch ihre Vorgehensweise erreichen, dass sich das System nicht nur das Wissen darüber aneignet, was die Inhalte des erarbeiteten Konzeptes sind, sondern auch die Methode erlernt, wie solch ein Konzept entwickelt werden kann. 6.3.13 Kompetenz über soziale Systeme Die Kompetenz über soziale Systeme bezeichnet jene Kompetenz, die sich aus den unterschiedlichen systemischen Theoriesträngen (vgl. Kapitel 3.2) entwickelt hat und ein grundlegendes Theoriegebäude dafür bildet, soziale Systeme wie etwa eine Familie oder – wie im Rahmen der Arbeit näher betrachtet – eine Organisation sowie die darin ablaufenden Prozesse zu erkennen und zu erklären. Sie stellt innerhalb der fünf Teilkompetenzen (vgl. Kapitel 7.4.3.1) damit eine spezifische Fachkompetenz dar, die sowohl Beratern als auch Klienten hilft, in einem Geflecht aus Beziehungen und Kommunikation828 Wirkungszusammenhänge und Wechselwirkungen, welche zu Konflikten, Barrieren oder auch Blockaden führen können, zu verstehen, damit umzugehen und diese mitunter gezielt zu irritieren, sodass Veränderungen erfolgen können. Der eigentlich einzige, aber dafür umso gravierendere Kritikpunkt an der klassischen Beratung in Bezug auf dieses Charakteristikum ist, dass diese für die systemische Sichtweise größtenteils blind ist und keine reflektierte Fachkompetenz für soziale Systeme besitzt. Diese Kritik lässt sich schlussendlich alleine aus dem klassischen Beratungsverständnis (vgl. Kapitel 2.2.2.1), inhaltliche Beiträge (vgl. Kapitel 6.3.2) von außen in die Organisation einzubringen, um damit Probleme für den Klienten zu lösen, leicht nachvollziehen und erklären. Dieses Verständnis legt den Fokus der Beratungsleistung einerseits auf fachliche Themen und gibt einem klassischen Berater andererseits auch keinerlei Anlass, sich damit auseinanderzusetzen, warum Organisationen inhaltliche Probleme nicht selber lösen können, da dies seine eigene Existenzberechtigung in Frage stellen würde. Die Konsequenz aus diesen beiden Aspekten ist, dass aus Sicht der klassischen Beratung auf den ersten Blick praktisch kein Bedarf besteht, Organisationen über die fachlich-inhaltliche Ebene der so genannten 'Hardfacts' hinaus zu hinterfragen und sich damit auseinander zu setzten,

827 828

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 85-11 Kommunikation kann in einen verbalen Teil (Sprache) und einen nonverbalen Teil (Verhalten) gegliedert werden

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ob die Problemlösungsfähigkeit einer Organisation auch noch von andere Faktoren beeinflusst wird, die dem sozialen System zuzurechnen sind und oft als 'Softfacts' bezeichnet werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich leicht nachvollziehen, dass klassischen Beratern auch vorgehalten wird, Konflikten zum einen nicht genügend Beachtung zu schenken und zum anderen nicht damit umgehen zu können, wie ein Klient zu bedenken gibt: "Ich bin mir bei der klassischen Beratung nicht sicher, dass es immer jemanden gibt, der Konflikte managen kann."829 Daran schließt sich die Sichtweise einer systemischen Beraterin an, die auch auf eine langjährige Erfahrung als Personalchefin in unterschiedlichen Unternehmen zurückblicken kann und den Blick auf die Umsetzung richtet: "In der klassischen Beratung werden Konflikte und HR-Probleme, die durch Veränderungen entstehen, zu wenig beachtet. Es fehlt vor allem die Begleitung"830, weil sowohl das Hintergrundwissen als auch die prozessualsoziale Anschlussfähigkeit831 an das Klientensystem ungenügend ausgeprägt sind oder gänzlich fehlen. Dieser Mangel macht sich folglich dann erst wirklich gravierend bemerkbar, wenn es mit Fortdauer des Projektes immer stärker um die tatsächliche Umsetzung geht, weshalb "auch ein klassischer Berater […] eine Idee haben [sollte], wie soziale Systeme funktionieren."832 Dazu räumt ein klassischer Berater ein: "Je weiter man in unserer Beratung nach oben geht, desto stärker wird die 'People'Komponente [und damit auch die meistens unreflektiert vorhandene Kompetenz über soziale Systeme]. Je weiter unten man ist, desto mehr dominiert die Sach- und Datenbezogenheit [in der täglichen Beratungsarbeit und es kann kaum zu einer Auseinandersetzung mit der Kompetenz über soziale Systeme in der Praxis kommen]."833 Daher hat ein klassischer Berater, abgesehen vom meist ohnehin nicht vorhandenen Grundverständnis für soziale Systeme auch kaum die Möglichkeit im Rahmen seiner Tätigkeit diese Fachkompetenz aufzubauen, wenn er nicht eine spezifische Ausbildung absolviert. Es ist daher also klar ersichtlich, warum dieses Charakteristikum der klassischen Beratung als eindeutige Schwäche angelastet wird. "Die Fachkompetenz von systemischen Beratern ist [hingegen genau] das Wissen darüber, wie soziale Systeme funktionieren."834 Dieses Wissen definieren sie auch als jene Kernkompetenz, um die sich die systemische Beratungsarbeit entwickelt hat, was auch durch die Aussage eines systemischen Beraters nachvollziehen lässt: "Zufolge der [systemischen] Organisationsentwicklung legt die systemische Beratung den Fokus auf soziale Prozesse, um dadurch Blockaden zu lösen. Dabei werden

829 830 831

832 833 834

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 18-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 97-05 Die inhaltlich-sachliche Anschlussfähigkeit der klassischen Beratung an das Management ist im Gegensatz dazu sehr stark ausgeprägt. Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 68-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 35-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 68-02

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Reflexionen über die Beratungsformen

Probleme grundsätzlich auf zwischenmenschliche Dynamiken zurückgeführt. Der Schwerpunkt ist also die soziale Dimension."835 "Die systemische Beratung schließt die 'Softfacts' [demnach] nicht aus, sondern schaut diese bewusst an, da ohne die 'Softfacts' auch die 'Hardfacts' nicht funktionieren."836 Sie "findet [dadurch dann] die richtigen Dinge raus, sorgt für die Umsetzung und weiß besser, wie Unternehmen [als soziale Systeme] funktionieren"837, reflektiert auch ein Vorstandsvorsitzender und unterstreicht somit die allgemeine Wahrnehmung der Kompetenz über soziale Systeme als eindeutige Stärke systemischer Beratung. Damit geht einher, dass systemischen Beratern auch ein sehr gutes Management jeglicher Art von Konflikten bescheinigt und ihnen darüber hinaus auch attestiert wird, mit den aufkommenden Emotionen sowie den damit einhergehenden Verhaltensmustern äußerst reflektiert umgehen zu können. Diese drei Aspekte werden nicht zuletzt durch die prozessualsoziale Anschlussfähigkeit systemischer Berater an das Klientensystem begünstigt, welche jedoch bei steigendem Inhalt leidet. Letztendlich wird das systemische Theoriegebäude als eine Summe sehr mächtiger Prinzipien wahrgenommen, um über ein gesamtes System nachzudenken, wodurch manifestiert wird, warum dieses Charakteristikum der systemischen Beratung als klare Stärke zugerechnet werden kann. Zieht man Bilanz für die beiden Beratungsformen über deren Kompetenz für soziale Systeme, so ist dieses Charakteristikum auf Basis der vorgebrachten Meinungen als eine klare Stärke der systemischen Beratung und als eine ebensolche Schwäche der klassischen Beratung zu bewerten. Die Gründe hierfür hängen im Endeffekt eng mit den konträren Beratungsverständnissen des jeweiligen Realtyps zusammen. Weil die klassische Beratung einen inhaltsorientierten Beratungsfokus gepaart mit einem mechanistischen Beratungsparadigma aufweist, gibt es für dieselbe keinen Grund sich neben den 'Hardfacts' auch mit 'Softfacts' auseinanderzusetzen, wozu aus der klassischen Sicht auch die diskutierte Kompetenz über soziale Systeme zählt. Diese Fachkompetenz ist also bestenfalls unreflektiert vorhanden und kann als ein Grund dafür gesehen werden, dass die Anschlussfähigkeit der klassischen Beratung an das Klientensystem in der sozialen Dimension gering ist. Den extremen Gegenpol hierzu verkörpert die systemische Beratung, die aufgrund ihres Beratungsfokus und ihres Beratungsverständnisses in diesem Charakteristikum ihre Kernkompetenz aufweist. Die soziale Dimension ist gepaart mit der systemischen Sichtweise also der Fokus dieser Beratungsform, deren unterschiedlichen Vertretern daher für das Management von Konflikten sowie den Umgang mit Emotionen eine klare Stärke attestiert wird.

835 836 837

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 67-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 97-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 18-03

Reflexionen über die Beratungsformen

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6.3.14 Fazit über Charakteristika der Beratungsformen Anhand zahlreicher Zitate der InterviewpartnerInnen wurden die Charakteristika der Realtypen herausgearbeitet und mit einem dem Gesamtbild der Wahrnehmungen entsprechenden fünfteiligen Erfüllungsgrad bewertet, sodass in Summe ein StärkeSchwäche-Profil für jeden der beiden Beratungsformen abgeleitet werden konnte. Die resultierenden Profile erheben infolge des gewählten Untersuchungsdesigns (vgl. Kapitel 5.2) natürlich keinen Anspruch auf Absolutheit, sondern stellen nur möglichst umfassend reflektierte Tendenzen beschränkter Reichweite dar, die – wie im Aufbau der Arbeit (vgl. Kapitel 1.6) dargestellt – jedoch die Validierung unterschiedlicher Hypothesen sowie die Beantwortung einzelner Fragestellungen erlauben. Das Gesamtresultat (vgl. Abbildung 6.3) zeigt zum ersten deutlich, dass die StärkenSchwächen-Profile der beiden Realtypen diametral gegengleiche Ausprägungen besitzen, wodurch die zweite untersuchungsleitende Hypothese (vgl. Kapitel 5.1.3) im Rahmen der eingeschränkten Gültigkeit als verifiziert betrachtet werden kann. Zweitens können durch die Reflexion über einerseits die Integration der Betroffenen (vgl. Kapitel 6.3.11) sowie andererseits die Unterstützung durch inhaltliche Beiträge (vgl. Kapitel 6.3.2), aber vor allem durch die Diskussion über die Unterstützung von verändernden Prozessen (vgl. Kapitel 6.3.12) sehr deutlich die erste sowie die zweite forschungsleitende Hypothese (vgl. Kapitel 1.4) untermauert werden. Die genannten Kapitel stellen drittens auch die Antworten auf die ersten Teilfragen der ersten und zweiten wissenschaftlichen Fragestellung (vgl. Kapitel 1.4) dar, für deren zweite Teilfragen sich viertens erste Anhaltspunkte zur Beantwortung aus den StärkeSchwäche-Profilen der beiden Realtypen antizipieren lassen. Aus diesen Profilen geht fünftens hervor, dass sich die beiden Realtypen gegenseitig ergänzen, was einen ersten Aspekt für die Verifizierung der vierten forschungsleitenden Hypothese (vgl. Kapitel 1.4) darstellt und damit ein starkes Argument für die Entwicklung eines Konzeptes für integrierte Beratung bildet. Diese beiden letztgenannten Punkte vier und fünf werden aber erst in den Perspektiven für die Beratungsformen (vgl. Kapitel 7) genauer ausgeführt.

6.4 Themenstellungen für die Beratungsformen Auf Basis der unterschiedlichen Stärken-Schwächen-Profile, die aus den Reflexionen über die Charakteristika der Beratungsformen (vgl. Kapitel 6.3) hervorgehen, kann nun die Eignung der beiden Realtypen für spezifische Themenstellungen beleuchtet werden. Dabei zeigt sich zufolge der Interviews, dass es einzelne Themen gibt, die ausschließlich mit einem der beiden Realtypen adressiert werden können, was schlichtweg damit zu begründen ist, dass "die beiden […] [Idealtypen grundsätzlich]

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Reflexionen über die Beratungsformen

für unterschiedliche Fragestellungen entwickelt worden"838 sind, wie eine klassische Beraterin mit Erfahrungshintergrund im systemischen Bereich ausführt, und auch von unterschiedlichen Beratungsverständnissen (vgl. Kapitel 2.2.2) ausgehen. In der Gegenwart stehen Unternehmen jedoch auch immer öfter und immer intensiver vor Herausforderungen, zu deren erfolgreicher Bewältigung sowohl Aspekte aus der klassischen Beratung als auch solche aus der systemischen Beratung notwendig sind, weshalb sich die beiden Realtypen, wie es die Evolution der Beratungsformen (vgl. Kapitel 6.2) bereits widerspiegelt, aufeinander zu entwickelt haben. Trotz dieser Entwicklung zeigen die einzelnen Wahrnehmungen jedoch deutlich, dass es nach wie vor einige äußerst relevante Themenstellungen gibt, welche keiner der beiden Beratungsformen alleine zugeordnet werden können, sondern eindeutig dazwischen anzusiedeln sind.

Klassische Beratung

• Strategische Markt- & Wettbewerberanalysen

• Unternehmensbewertung • Technologiebewertung • IT-Lösungen • Optimierung von Geschäftsprozessen

• Kostensenkungsprogramme

• Sanierungsprogramme •…

Systemische Beratung

• Strategie • Unternehmenszusammenschlüsse

• Innovationsmanagement

• Einführung von IT-Lösungen

• Organisation & Reorganisation

•…

• Strategische Entscheidungsarbeit

• Kommunikationsthemen • Konfliktmanagement • Coaching • Personalthemen • Kulturelle Veränderungsprozesse

• Kulturelle Integrationsprozesse

•…

Abbildung 6.4: Themenstellungen für die Beratungsformen

In weiterer Folge sollen die beispielhaften Themenstellungen kurz erläutert sowie deren grundlegende Gemeinsamkeit kurz dargestellt werden, ehe daraus ein Fazit für die weiterführende Diskussion gezogen wird. 6.4.1 Themenstellungen für klassische Beratung "Die klassische Beratung beschäftigt sich mit Organisation anders als systemische Beratung. Der Fokus ist immer auf den Inhalt gerichtet"839, führt ein Partner aus einem klassischen Beratungsunternehmen aus und macht damit deutlich, dass alle

838 839

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 40-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 47-09

Reflexionen über die Beratungsformen

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Themenstellungen, die ausschließlich von klassischen Beratern adressiert werden, klar von deren Beratungsverständnis (vgl. Kapitel 2.2.2.1) geprägt sind. Da sich die meisten klassischen Beratungsunternehmen840 selber de facto auch als Strategieberatung bezeichnen oder den Begriff Strategie sogar als Bestandteil ihres Namens führen, ist es die scheinbar logische Konsequenz, dass sie mit dieser Themenstellung assoziiert werden. Trotzdem merkt ein systemischer Berater an, "Strategie können beide gut, wobei der Marktbezug aber primär von der klassischen Beratung abgedeckt wird"841, und bringt damit nicht nur zum Ausdruck, dass dieses Themenfeld auch von systemischen Beratern beansprucht wird, sondern stellt vor allem klar, was darin den großen Mehrwert von klassischer Beratung ausmacht. "Strategie ohne Zahlen ist [nämlich] wertlos", formuliert ebendiesen ein ehemaliger klassischer Berater und nunmehriger Vorstand, der auch intensiv mit systemischen Beratern arbeitet, und meint daher weiter: "Damit ist dies sicherlich ein Thema für klassische Beratung."842 Diese Sichtweise von Strategie unterstützt auch ein SeniorPartner aus dem klassischen Beratungsumfeld, indem er sagt: "Strategie-Projekte können systemische Berater nicht machen, weil Analysen und gewisse Infos die Aufgabe des Topmanagements sind und nicht der gesamten Organisation. Die Vision hingegen lässt sich gemeinsam erarbeiten und man kann die Strategie auch im Unternehmen überprüfen"843, womit er andeutet, was der systemische Anteil an Strategie letztendlich umfasst. Strategie impliziert im Verständnis der klassischen Berater jedenfalls nicht nur die grundsätzliche strategische Ausrichtung, sondern vor allem auch das unterstützende Zahlengerüst, das aus unterschiedlichen Analysen, wie etwa Marktanalysen oder Wettbewerbsanalysen, und Benchmark-Datenbanken erstellt wird und eine fundierte Basis aus harten Fakten darstellt. Nach Mintzberg können solche Strategien auch als 'bewusste Strategien'844 bezeichnet werden. Kommt es infolge einer strategischen Entscheidung in einem Unternehmen zu einer Fusion, einer Akquisition, einem Börsegang, einer Kreditwürdigkeitsprüfung oder ähnlichen strategischen Aktivitäten, so werden klassische Berater oft mit dem Auftrag einer Unternehmensbewertung betraut. Dabei wird der Wert eines ausgesuchten Unternehmens mittels einer dem Verwendungszweck entsprechenden Methode, die entweder nur auf die historischen Unternehmensdaten zurückgreift oder auch die prognostizierte Unternehmensentwicklung mit einbezieht, berechnet. Nachdem sich

840

841 842 843 844

Alle in dieser Arbeit unter der Begriffsdefinition von klassischer Beratung (vgl. Kapitel 2.1.1.1) erfassten Beratungsunternehmen bezeichnen Strategie als ihr ursprüngliches Themengebiet oder weisen diese zumindest als eine Kernkompetenz aus. Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 86-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 18-10 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 37-13 Im Unterschied zu 'sich herausbildenden Strategien', deren Entstehungsprozess von systemischen Beratern begleitet wird – vgl. Mintzberg/Ahlstrand/Lampel (1999), S. 23 ff.

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Reflexionen über die Beratungsformen

dieser Themenbereich in den letzten Jahren nicht zuletzt wegen der 'Privat-EquitySzene' äußerst dynamisch entwickelt hat, ist dafür nicht nur fundiertes Fachwissen erforderlich, sondern besteht in solchen Situationen meist auch hoher Zeitdruck. Ähnlich wie aus einer definierten Strategie der Bedarf einer Unternehmensbewertung hervorgehen kann, entsteht in einem Innovationsprozess oft die Notwendigkeit einer Technologiebewertung, um durch diese zu evaluieren, in welche Innovationsideen weiterhin Zeit und Geld investiert werden soll. Die Technologiebewertung stellt für das entwickelnde Unternehmen folglich eine wichtige Entscheidungsgrundlage dar, die jedoch nicht nur für dieses selbst von höchster Bedeutung ist, um das Investitionsrisiko zu minimieren, sondern vor allem auch potentiellen Kapitalgebern eine fundierte Grundlage bietet, um ein finanzielles Engagement zu beschließen. Um diese Entscheidungen treffen zu können, werden die technischen Lösungen mit Unterstützung von klassischen Beratern hinsichtlich des Nutzens für Märkte sowie für Kunden analysiert und in Abhängigkeit von Wettbewerbstechnologien, KostenNutzen-Verhältnis, Marktgröße, Geschäftsmodell und Branchenstruktur bewertet. Eine andere Facette klassischer Beratungsleistungen in puncto Technologie bilden alle Themenstellungen im Bereich der Informationstechnologie (IT) sowie der dafür konzipierten IT-Lösungen und deren technischer Implementierung. Im Vordergrund steht dabei nicht die isolierte Betrachtung technischer Probleme an sich, sondern den Einfluss von Informationstechnologien auf den Geschäftserfolg zu verstehen und darauf aufbauend für den Klienten substantiellen Wert durch den effektiven Einsatz von IT-Lösungen zu schaffen. Die daraus im komplexen Spannungsfeld zwischen Geschäftserfolg und Informationstechnologie resultierenden Herausforderungen gilt es zu meistern, um so einerseits IT-Investitionen erfolgreich managen zu können und diese andererseits mit den strategischen Prioritäten in Einklang zu bringen. Diese Herausforderungen umfassen ein breites Spektrum funktionaler Themenstellungen in unterschiedlichen Industrien, das von der Erarbeitung innovativer Lösungen für ITArchitekturen (z.B. für Kommunikation in einem Unternehmen) und IT-Management (z.B. bei Fusionen von zwei Unternehmen), über die Entwicklung von IT-Strategien für Unternehmen, bis hin zu der Ausgestaltung von neuen Geschäftsideen durch innovative Informationstechnologien reicht. Ein Teilbereich von IT-Lösungen beschäftigt sich mit elektronischen Lösungen für betriebliche Prozesse und stellt damit die Verbindung zu einem weiteren Fokus klassischer Beratung, nämlich der Optimierung von Geschäftsprozessen, dar. Diese können in dispositive – das sind planende und steuernde Prozesse wie etwa in der Finanzplanung oder im Controlling – sowie operative – darunter versteht man ausführende Prozesse wie zum Beispiel im Einkauf, der Logistik oder der Produktion – unterschieden werden und decken somit alle Abläufe in einem Unternehmen ab.

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Durch die Optimierung solcher Prozesse können schließlich unterschiedliche Ziele, wie Durchlaufzeitverringerung, Qualitätssteigerung, Serviceverbesserung oder auch Kostensenkung, verfolgt werden, die im Normalfall jedoch nicht voneinander isoliert betrachtet werden können, sondern sich meist gegenseitig bedingen. Für die effektive Durchführung solcher Prozessoptimierungen wird im Allgemeinen ein Vorgehen gewählt, das, unabhängig von der Branche oder dem Bereich, relativ einheitliche Grundschritte verfolgt. Ausgehend von einer detaillierten Analyse des Ist-Zustands, werden Verbesserungspotenziale identifiziert auf deren Basis SollProzesse entwickelt werden können, die wiederum unter Verwendung von KostenNutzen-Analysen priorisiert und letztlich realisiert werden. Wie in den Zielen der Prozessoptimierung bereits angedeutet, trägt diese auch oft zu einer Reduktion der Kosten bei und kann somit auch ein wesentlicher Bestandteil von Kostensenkungsprogrammen sein, mit denen viele klassische Berater assoziiert werden. Dabei werden die unterschiedlichen in einem Unternehmen anfallenden Kosten – im günstigen Fall – entweder mit dem Ziel reduziert, die bestehende Rendite zusätzlich anzuheben oder – im ungünstigen Fall – deshalb gesenkt, weil es die Ertragslage des Unternehmens erfordert. Je nach der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens und dem spezifischen Fokus des Programms, können dabei die Gesamtkosten des Unternehmens oder auch Einzelkosten und/oder Gemeinkosten in unterschiedlichen Bereichen, wie etwa Material, Fertigung, Verwaltung, Vertrieb sowie Forschung und Entwicklung, systematisch adressiert und detailliert analysiert werden, um so Einsparpotenziale zu identifizieren und letztlich auch zu realisieren. Ist die wirtschaftliche Situation eines Unternehmens jedoch so angespannt, dass es knapp vor der Insolvenz steht oder gar insolvent ist, dann greift ein normales Kostensenkungsprogramm entschieden zu kurz und es ist, so das Unternehmen überhaupt noch gerettet werden kann, ein umfassendes Sanierungsprogramm notwendig. Dabei werden vor allem finanzielle, aber damit einhergehend oft auch organisatorische Maßnahmen zur Rettung des Unternehmens gesetzt, bei deren Konzeption, Planung, Steuerung und Kontrolle das Unternehmen meist von seiner Bank sowie sehr oft auch von einem klassischen Berater unterstützt wird. In so einer Situation von drohender oder bestehender Zahlungsunfähigkeit herrscht vor allem enormer Zeitdruck, sodass stets mit höchster Geschwindigkeit agiert werden muss, um einen detaillierten Sanierungsplan zu erstellen, der spezifische Maßnahmen nach Art, Ausmaß und Zeit enthält und sobald wie möglich erste Realisierungserfolge einbringt. "Ein 4-wöchiges Restrukturierungsprojekt kann [daher] nicht systemisch laufen", wie ein Projektleiter aus einem klassischen Beratungsunternehmen ausführt, was zusätzlich noch dadurch zu untermauern ist, dass, um die Ertragskraft des krisenbefallenen Unternehmens wieder herzustellen, auch äußerst umfassendes

316

Reflexionen über die Beratungsformen

fachspezifisches Wissen erforderlich ist. Darunter fällt vor allem intensives Wissen über alle bilanziellen und finanziellen Aspekte, jedoch auch fundiertes Wissen im operativen sowie im strategischen Bereich, sodass insgesamt meist ein Beraterteam erforderlich ist, um diesen Prozess zu begleiten. Allen genannten Themenstellungen ist gemein, dass diese auf eindeutigen Zahlen, Daten und Fakten aufbauen, sodass sie der Sachdimension (vgl. Kapitel 3.2.8), die sich mit dem mechanistischen Beratungsparadigma (vgl. Kapitel 2.2.2.1) assoziieren lässt, zugerechnet werden können. Infolge dessen lassen sich klare Zielvorgaben, die unter mehr oder minder hohem Zeitdruck erreicht werden müssen, relativ einfach formulieren. Aufgrund ebendieser Rahmenbedingungen ergeben sich nun nicht nur die Möglichkeiten, sondern vielmehr die Erfordernis eines strukturierten Vorgehens sowie die Notwendigkeit analytischen Denkens, um den angestrebten Zielzustand zu erreichen. Selbiger entspricht bei den vorgestellten Themenstellungen einem inhaltlichen Konzept in der mechanistischen Sachdimension, wofür eine reflektierte Kompetenz über fachliche Themen (vgl. Kapitel 6.3.1) sowie Unterstützung durch inhaltliche Beiträge (vgl. Kapitel 6.3.2) erforderlich sind, die letztlich das klassische Beratungsverständnis klar widerspiegeln. 6.4.2 Themenstellungen für systemische Beratung Ähnlich wie in der Diskussion um die Themenstellungen der klassischen Beratung lässt sich auch aus den Reflexionen über die systemischen Themenstellungen ein eindeutiger Beratungsfokus erkennen. Selbiger ist auf soziale Prozesse gerichtet, wodurch auch für die systemische Beratung verdeutlicht wird, dass eine Beziehung zwischen deren Themenstellungen sowie deren Beratungsverständnis (vgl. Kapitel 2.2.2.2) wahrgenommen wird. Als eine der wichtigsten systemischen Themenstellungen ist – genau so wie in der klassischen Beratung – der Bereich der Strategie zu nennen. Hierfür gilt es im Anschluss an die Ausführungen über Strategie im Sinne klassischer Berater (vgl. Kapitel 6.4.1) das systemische Strategieverständnis noch einmal eingehender zu reflektieren, dessen Unterschied sich an den Worten einer systemischen Beraterin gut herausarbeiten lässt: "Ein systemischer Berater muss ein Gefühl dafür haben, ob strategische Szenarien Inhalt haben. Grundsätzlich erhält er [aber] andere Aufträge. Während klassische Berater Marktanalysen und ähnliche Themen machen, für die der Klient gleichsam den Wissensvorsprung einkauft, geht es dem systemischen Berater mehr um grundsätzliche Fragestellungen. Es kann [jedoch] sein, dass dafür Experteninput erforderlich ist, für den dann ein entsprechender Fachmann hinzugezogen wird."845 Damit wird verdeutlicht, dass der systemische Mehrwert in 845

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 61-08

Reflexionen über die Beratungsformen

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puncto Strategie darin liegt, den Klienten dabei zu unterstützen, die maßgeblichen Rahmenbedingungen zu entwickeln, in denen die relevanten Entscheidungen für das Unternehmen getroffen werden können. Um diese Entwicklung zu bewirken, leiten systemische Berater einen Selbstfindungsprozess sowie Selbstorientierungsprozess ein und begleiten dieselben mit ihren gestaltenden Interventionen, sodass sich der Klient seinen Bezugsrahmen schaffen kann. Ebendieser soll es dem Unternehmen ermöglichen, in spezifischen Situationen sowohl mit Unsicherheiten umgehen zu können sowie auf diese rasch und flexibel reagieren zu können als auch die Herausforderungen erkennen zu können sowie die damit verbundenen Chancen und Risiken identifizieren zu können. Die systemische Beratung leistet damit Hilfe zur Selbsthilfe, durch die das Klientensystem auch die Fähigkeit aufbaut, aus beliebigen Situationen zu lernen, und mit diesem Wissen einerseits die eigene Zukunft entlang einer gemeinsam Vision zu gestalten und genau dafür andererseits entsprechende Instrumente zu entwickeln. Diese systemische Herangehensweise an Strategie ist letztendlich um eine grundsätzliche Basisausrichtung einer Organisation bemüht und einer ausschließlich auf klassische Analysen fokussierten Strategie damit in jedem Falle vorgeschaltet. Infolgedessen kann diese Prozessbegleitung daher sowohl dazu dienen, um 'sich herausbildende Strategien'846 bewusst zu machen und darauf aufbauend klassische Analysen durchzuführen, aber auch dafür verwendet werden, um bei 'bewussten Strategien' schwerwiegende Entscheidungen herbeizuführen, und ist folglich rund um das aus einer rein klassischen Strategiearbeit stammende Zahlengerüst einsetzbar. Anders als durch die unterschiedlichen Verständnisse in Bezug auf Strategie bedingt, lässt sich im Bereich der Kommunikationsthemen eine eindeutige Zuordnung zur systemischen Beratung erkennen. Diese lässt sich bereits aus den Diskussionen um die soziologische Systemtheorie (vgl. Kapitel 3.2.8) sowie um das Charakteristikum der Qualität der Kommunikation (vgl. Kapitel 6.3.9) erkennen und wird letztlich auch durch die Aussage eines klassischen Beraters eindeutig bestätigt: "Kommunikation ist ein systemischer Prozess."847 Zufolge dieser Aspekte unterstützen systemische Berater einerseits dabei jene Probleme, Barrieren und Blockaden zu analysieren, die in der Kommunikation eines Klientensystems bestehen, um darauf aufbauend die Kommunikation gezielt zu verbessern und so einen effizienteren sowie effektiveren Informationsfluss in der Organisation zu bewirken. Andererseits können systemische Berater in diesem Themenfeld einer Organisation jedoch auch dahingehend helfen, dass zu kommunizierende Themen nicht nur identifiziert werden, sondern für deren Kommunikation auch ein entsprechendes Konzept mit dem Klienten entwickelt wird.

846 847

Im Unterschied zu 'bewussten Strategien' – vgl. Mintzberg/Ahlstrand/Lampel (1999), S. 23 ff. Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 48-09

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Reflexionen über die Beratungsformen

In diesem werden, angefangen von dem zu kommunizierenden Inhalt848 und dessen Struktur, über die zu informierenden Personengruppen849 und deren Reihenfolge bis hin zum geeigneten Interaktionsmodus850 und dem dafür in Frage kommenden Kommunikationskanal851, alle relevanten Aspekte adressiert und für eine gezielte Durchführung vorbereitet. Dabei werden vor allem bei jenen Inhalten, die emotionale Betroffenheit bewirken können, auch die entsprechenden Reaktionsmöglichkeiten mit in das Konzept einbezogen und für die Durchführung bedacht. Kommunikation als zentraler Prozess in einem sozialen System wirkt sich natürlich auf alle Unternehmensbereiche aus und fließt damit auch in alle Themenstellungen, vor allem aber in das Konfliktmanagement, ein. Folglich ist auch dieses ein Bereich für systemische Beratungsleistungen, die einerseits die Moderation von spezifischen Konfliktsituationen und andererseits den Aufbau von individuellen Konfliktfähigkeiten beim Klienten umfasst. In solchen Konfliktsituationen, in denen es oft um Macht-, Kompetenzen- und Ressourcenverteilungen oder auch deren Abbau geht, hat ein Berater als externer Moderator die Möglichkeit, Tabus und vor allem Emotionen zu thematisieren sowie Perspektiven und Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, wodurch ein Dialog zwischen den Konfliktparteien eingeleitet wird, aus dem sich eine Lösung entwickeln kann. Zu selbiger kann zusätzlich dadurch beigetragen werden, indem die Konfliktfähigkeit in und zwischen Teams sowie Organisationseinheiten dahingehend erhöht wird, dass die darin befindlichen Personen bereit sind, Konflikte aufzuarbeiten, willens sind, andere Sichtweisen zuzulassen, und in der Lage sind, sich mit den Differenzen konstruktiv auseinanderzusetzen. Die Betroffenen können so ein Verständnis für einander entwickeln sowie Akzeptanz gegenseitig erzielen und dadurch mit Unterstützung des systemischen Beraters Barrieren überwinden und Blockaden lösen, womit der Energiefluss verbessert oder letztlich wiederhergestellt werden kann. Diese Erhöhung der Konfliktfähigkeit geht meist eng Hand in Hand mit der Teamentwicklung, die jedoch einem anderen Block an Themenstellungen für die systemische Beratung, nämlich dem Coaching, zugerechnet werden kann. Im Rahmen des Coaching leisten systemische Berater temporäre Unterstützung sowohl bei der Teamentwicklung, indem sie Gruppen-Coachings anbieten, aber auch bei der Führungskräfteentwicklung, indem sie Einzel-Coachings durchführen. Der Fokus dieser Einzel-Coachings ist darauf gerichtet, Führungskräfte zur Bewältigung auftretender Herausforderungen zu befähigen, wofür es notwendig sein kann, sowohl spezifische Ereignisse aufzuarbeiten und schwierige Situationen vorzubereiten als

848 849

850 851

Dieser kann sowohl aus guten als auch aus schlechten Nachrichten bestehen Vgl. Abbildung 4.2 zuzüglich möglicher externer Personengruppen, wie Aktionäre, Banken, etc., die in den Kommunikationsprozess mit eingebunden sind. Vgl. Abbildung 4.2 ausgenommen Hearing und Coaching Dialog, Rede, Brief, Mail, TV, Internet, etc.

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auch individuelle Möglichkeiten zu entfalten oder hinderliche Muster in den Bereichen Kommunikation, Denken und Verhalten zu durchbrechen. Dadurch gerüstet, sollte es Führungskräften besser möglich sein, folgenschwere Entscheidungen zu treffen, mit belastenden Krisen umzugehen, umfangreiche Verantwortung wahrzunehmen und trotzdem eine Balance zwischen beruflichen Herausforderungen und privaten Interessen herzustellen. Viele der genannten Aspekte kommen auch im GruppenCoaching zum Tragen, in dem es letztlich gilt, die Handlungsfähigkeit eines Teams zu erhöhen. Dazu müssen, wie bereits ausgeführt, zuerst festgefahrene Konflikte gelöst werden, sodass danach gemeinsame Interessen formuliert und eindeutige Erwartungen aneinander definiert werden können, um so die Zusammenarbeit zu verbessern und – im ungünstigsten Falle – die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Diese Entwicklungs- und Veränderungsprozesse von Personen und Teams begleitet ein systemischer Berater als wertschätzender Reflexionspartner vor allem auf der emotional-sozialen Ebene jedoch auch auf der rational-sachlichen Ebene und kann infolge gezielter Beobachtung den Individuen sowie den Gruppen konstruktives Feedback geben, unterschiedliche Muster spiegeln und blinde Flecken aufzeigen. Dadurch können verborgene Fähigkeiten freigelegt, vorhandene Stärken ausgebaut und existierende Schwächen verbessert werden, sodass komplexe Probleme besser gelöst und ambitionierte Ziele leichter erreicht werden können. Ein die unterschiedlichen Formen des Coaching mitunter ergänzender Themenblock, der im Endeffekt aber eine eigenständige Kategorie bildet, sind die Personalthemen. Diese inkludieren eine Vielfalt an Systemen, Verfahren und Instrumenten, welche, beginnend mit dem Eintritt eines beliebigen Mitarbeiters in ein Unternehmen, über dessen gesamte Laufbahn relevant sind und zu deren Entwicklung oft systemische Beratung herangezogen wird. Ausgehend von der Unterstützung des Klienten bei einerseits der Erarbeitung von Rekrutierungsverfahren für die Personaleinstellung sowie andererseits der Konzeption von Potenzialanalysen und Auswahlverfahren für die Personalbeförderung, werden im Rahmen der Personalentwicklung spezifische Karrierepfade, abgestimmte Weiterbildungsaktivitäten sowie maßgeschneiderte Trainingsprogramme gemeinsam entworfen und umgesetzt. Des Weiteren begleiten systemische Berater auch die Konzeption der für eine gezielte Personalführung notwendigen Entlohnungs- und Anreizsysteme sowie die Entwicklung der darauf abgestimmten Zielvereinbarungs- und Beurteilungssysteme. Damit diese Systeme auch erfolgreich gelebt werden können, werden die dafür erforderlichen Instrumente wie Mitarbeitergespräche oder Feedbackgespräche mit dem Klienten konzipiert und zusammen mit den Systemen schließlich in die Umsetzung geführt. Die Umsetzung der diskutierten Systeme bedeutet im Regelfall auch einen Eingriff in die Unternehmenskultur und stellt die betreffenden Organisationen damit oft vor die Herausforderung kultureller Veränderungsprozesse. Solche Prozesse ergeben sich

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Reflexionen über die Beratungsformen

unter anderem auch bei der Umsetzung innovativer IT-Lösungen, dem Aufbau einer modernen Organisationsstruktur oder der Einführung neuer Geschäftsprozesse und stellen ein Hauptbetätigungsfeld systemischer Berater dar. Deren Beratungsleistung umfasst dabei nicht nur die Gestaltung des Veränderungsprozesses mittels einer maßgeschneiderten Interventionsarchitektur (vgl. Kapitel 4.1) sowie der darin eingebetteten Interventionsdesigns (vgl. Kapitel 4.3), sondern auch die Begleitung des tatsächlichen Veränderungsprozesses, der mitunter sehr viel Zeit benötigt. Um durch solche Prozesse erfolgreiche Veränderungen zu erzielen, die emotional auch angenommen werden, werden von den systemischen Beratern zusätzlich detaillierte Kommunikationskonzepte erarbeitet, organisationsinterne Veränderungsbegleiter ausgebildet und einerseits Führungskräfte sowie Mitarbeiter und andererseits Teams sowie Organisationseinheiten durch maßgeschneiderte Coachings entwickelt. Ein sehr spezifischer Veränderungsprozess entsteht immer dann, wenn durch den Zusammenschluss zweier Unternehmen – das gilt im kleineren Maßstab auch für Organisationsbereiche oder Abteilungen – und deren Mitarbeitern unterschiedliche Kulturen aufeinander treffen. Dabei entstehen kulturelle Integrationsprozesse, die aufgrund der beiderseitigen Ängste vor einem grundlegenden Kulturverlust und dem damit einhergehenden Identitätsverlust ein erhebliches Konfliktpotenzial in sich bergen, und deshalb auch ein Betätigungsfeld für den Einsatz systemischer Beratung bieten. In solchen Situationen, in denen sowohl durch die bestehenden Ängste eine destruktive Abgrenzungsgefahr entsteht als auch durch die hohe Komplexität eine massive Instabilität verursacht wird, ist viel Energie gebunden, sodass vermeintliche Synergien schwer zu realisieren sind. Für einen erfolgreichen Integrationsprozess gilt es daher nicht nur den gleichen Rahmen wie für einen Veränderungsprozess zu gestalten, sondern in diesem speziellen Integrationsrahmen sowie in der folgenden Integrationsbegleitung sehr spezifisch auf die emotionalen Aspekte einzugehen. So ist es von grundlegender Bedeutung, die Konflikte aufzuarbeiten, indem man durch das Vermitteln und Anwenden der Fähigkeit, sich selbst und andere zu reflektieren, den beiden Kulturen die Möglichkeit einräumt, sich mit den jeweiligen kulturellen Unterschieden und historischen Hintergründen bewusst auseinander zusetzten, sodass die emotionale Veränderungsbereitschaft entstehen sowie verstärkt werden kann. Die Reflexion der Themenstellungen für systemische Beratung kann mit den Worten eines klassischen Beraters knapp zusammengefasst werden: "Alle Themen, wo das Individuum im Mittelpunkt steht, sind originär systemisch."852 Etwas ausführlicher betrachtet kann festgehalten werden, dass der Fokus stets auf Menschen, deren

852

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 39-03

Reflexionen über die Beratungsformen

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Verhalten sowie deren Kommunikation und der letztlich daraus resultierenden Kultur gerichtet ist, sodass die reflektierten Themenstellungen klar die Sozialdimension (vgl. Kapitel 3.2.8), die mit dem systemischen Beratungsparadigma (vgl. Kapitel 2.2.2.2) einhergeht, in den Mittelpunkt rücken. Entlang der Zeitachse gesehen geht es dabei um soziale Prozesse, welche sich in der ihnen eigenen Geschwindigkeit entwickeln müssen und dafür mitunter viel Zeit benötigen. Um dazu etwas konstruktiv beitragen zu können, benötigt der Berater vor allem Kompetenz über soziale Systeme (vgl. Kapitel 6.3.13), welche in Kombination mit dem analytischen Verständnis für soziale Prozesse letztlich die Basis für die Unterstützung von verändernden Prozessen (vgl. Kapitel 6.3.12) in der Sozialdimension bildet. 6.4.3 Fazit über Themenstellungen für die Beratungsformen "Es hängt [unter anderem also auch] vom Thema ab, welcher Beratungsansatz besser [geeignet] ist"853, um sich einer Themenstellung zu nähern, sodass in der Regel "für unterschiedliche Aufgabenstellungen […] unterschiedliche Berater beauftragt"854 werden. Prinzipiell gibt es demnach einzelne Themen, die, wie die bisherige Diskussion zeigt, jeweils mit einer der beiden Beratungsformen adressiert werden können, jedoch selten Projekte, die nicht zumindest bis zu einem gewissen Grad beide Sichtweisen erfordern, was auch in der Evolution der Beratungsformen (vgl. Kapitel 6.2) klar erkennbar ist. "Für unterschiedliche Fragestellungen haben unterschiedliche Ansätze [daher] ihre Berechtigung, aber es gibt [darüber hinaus trotzdem einige hochrelevante] Themen in denen eine Zusammenarbeit wichtig [und unabdingbar] ist"855, sodass in Zukunft unter Beibehaltung der eigenen Stärken eine weitere Annäherung der beiden Beratungsformen notwendig erscheint. Als erste übergreifende Themenstellungen gilt es, den bisherigen Ausführungen für beide Beratungsformen folgend, Strategie zu nennen, was auch aus den Worten eines Personalchefs hervorgeht: "Strategiethemen haben Aspekte aus beiden Ansätzen. Marktanalysen und scharfes Nachdenken aus der klassischen Beratung sowie Identifikation mit der Strategie durch die systemische Beratung."856 Er zeigt damit auf, dass der Beitrag beider Beratungsformen in puncto Strategie wertvoll ist, und eine erfolgreiche Strategie sowohl die klassische als auch die systemische Herangehensweisen an das Thema sowie deren Elemente erfordert. Diese beidseitige Herangehensweise ist insbesondere auch für die in den letzten Jahren immer häufigeren Unternehmenszusammenschlüsse von größter Bedeutung. Hierzu liefert auf der einen Seite die klassische Beratung die Grundlagen, indem sie

853 854 855 856

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 84-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 15-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 40-12 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 05-06

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Reflexionen über die Beratungsformen

angefangen von den grundlegenden Unternehmensbewertungen, über die möglichen Synergieeffekte, bis hin zu den zukünftigen Organisationsstrukturen klare Zahlen und griffige Konzepte ausarbeitet, welche die umfassend Faktenbasis für eine sinnvolle Entscheidung über die Fusion bilden. Auf der anderen Seite besteht gerade in solchen Situationen bei den Betroffenen intensiver Informationsbedarf, der nur durch entsprechende Kommunikationskonzepte sichergestellt werden kann, treffen bei diesen Zusammenschlüssen unterschiedliche Unternehmenskulturen aufeinander, die spezifische Integrationsprozesse erfordern, und sind die in jenen Konstellationen rational begründbaren Synergieeffekte nur dann zu realisieren, wenn sich emotionale Verhaltensänderungen über detaillierte Interventionsarchitekturen als nachhaltig verankern lassen, sodass insgesamt auch breiter Bedarf für systemische Beratung besteht. Unternehmenszusammenschlüsse sind somit also eine der wichtigsten Themenstellungen für das Zusammenwirken von klassischer Inhaltsorientierung und systemischer Prozessorientierung dar. Aber auch im Innovationsmanagement ist ein Zusammenspiel von klassischen und systemischen Aspekten unabdingbar. Der Innovationsprozess selbst erfordert nicht nur kreative Ideenfindung, sondern vor allem eine intakte Kommunikation zwischen verschiedenen innerbetrieblichen Spezialisten und einen professionellen Umgang mit Unsicherheit und Komplexität, wodurch die systemische Seite abgebildet wird. Die klassische Seite wiederum geht über Methoden ein, welche notwendig sind, um die vielversprechendsten Innovationsansätze herauszufiltern und auch weiterzuverfolgen sowie die gewinnbringendsten Technologien zu identifizieren und auch zu bewerten, wodurch letztlich Geldgeber überzeugt werden können, Investitionen zu tätigen. Eine weitere übergreifende Themenstellung betrifft die Einführung von IT-Lösungen, die, wie beschrieben, zuerst von klassischen Beratern konzipiert werden müssen, ehe sie technisch implementiert werden können. Darüber hinaus sind für eine effektive Umsetzung aber nicht nur intensive Ausbildungsprogramme notwendig, sondern vor allem auch eine nachhaltige Verhaltensänderung der betroffenen Anwender, wofür eine systemische Interventionsarchitektur äußerst hilfreich sein kann. Ebendiese systemischen Interventionsarchitekturen sind in jedem Fall auch für den erfolgreichen Verlauf von Projekten erforderlich, die Organisation und Reorganisation als Themenstellung aufweisen. Ähnlich wie bei Unternehmenszusammenschlüssen kommen das grundlegende Zahlengerüst sowie das inhaltliche Konzept auch dabei von klassischen Beratern, aber die nachhaltige Umsetzung erfordert wiederum die bewusste Auseinandersetzung mit sozialen Veränderungsprozessen und damit den Einsatz systemischer Berater.

Reflexionen über die Beratungsformen

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Insgesamt zeigt sich bei der Reflexion der Themenstellungen für Beratung genauso wie in der Diskussion um die Charakteristika der Beratungsformen (vgl. Kapitel 6.3), dass die relevantesten Themenstellungen nicht von einer der Beratungsformen alleine adressiert werden können, sondern die Verbindung der Sachdimension aus der klassischen Beratung sowie der Sozialdimension aus der systemischen Beratung verlangen. Die Anzahl solcher Projekte wird aufgrund der kontinuierlich steigenden Komplexität in der Wirtschaft und damit in den Unternehmen immer größer werden, sodass mit den Worten eines Klienten zusammengefasst werden kann: "Ein Großteil der zukünftigen Projekte wird in der Mitte zwischen beiden Polen [(vgl. Abbildung 2.6)] sein. Man ist deshalb gut beraten, wenn man [als Beratungsunternehmen] Aspekte von beiden Ansätzen hat."857

6.5 Schlussfolgerungen Die ausführliche Reflexion der Wahrnehmungen über die beiden Realtypen in der Gegenwart erlaubt nun das Ziehen einer ersten Zwischenbilanz in Richtung eines Konzeptes zur Entwicklung integrierter Beratung in der Zukunft. Aufgrund der geführten Diskussion werden zuerst darüber Schlussfolgerungen gezogen, welche Beratungsform unterschiedliche Aspekte tendenziell eher erfüllt, wodurch mögliche Kriterien zur Wahl des passenden Realtyps (vgl. Kapitel 6.5.1) aufgezeigt werden. Danach wird ein erster Versuch unternommen, integrierte Beratung als Kombination der Realtypen (vgl. Kapitel 6.5.2) in der Differenzierungslogik (vgl. Abbildung 2.3) zu positionieren, um dadurch einen Aufsatzpunkt für die Behandlung der Perspektiven für die Beratungsformen (vgl. Kapitel 7) zu definieren. 6.5.1 Kriterien zur Wahl des passenden Realtyps Unter der Prämisse, dass die beiden Realtypen so bestehen, wie es die Reflexion der Beratungsformen abbildet, können aus der vorangegangenen Diskussion einige Kriterien herausgearbeitet werden, mittels derer sich vor allem aus der Sicht einer auftraggebenden Führungskraft entschieden ließe, welcher der Realtypen in einer vorliegenden Gesamtsituation besser geeignet ist. Es ist diesbezüglich zu betonen, dass es sich dabei nicht um absolutgültige Unterscheidungsmerkmale, sondern nur um grundlegende Tendenzen handelt, die eine Orientierungshilfe darstellen sollen und sich ausschließlich auf die Beratungsform selbst beziehen. Nicht anzuwenden sind diese hingegen auf die Person des einzelnen Beraters, welchen es vielmehr in Anbetracht seiner individuellen Fähigkeiten und nicht zuletzt seiner persönlichen Charaktereigenschaften als für die Situation passend oder aber nicht passend zu beurteilen gilt. Ehe diese Kriterien nun kurz erläutert werden, sollen sie anhand einer Überblicksdarstellung skizziert werden. 857

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 02-05

324

Reflexionen über die Beratungsformen

Klassische Beratung Klar und eindeutig definierte Beschreibung des Problems

Systemische Beratung Problemverständnis

Vage und unspezifische formulierte Idee des Problems

Nachhaltige Verhaltensänderung, die Inhaltliches Konzept, das Kompetenz Kompetenz über soziale Systeme auf über fachliche Themen auf der SachThemenstellung der Sozialdimension erfordert dimension erfordert Zeitlicher Spielraum für Ergebnisse Hoher Zeitdruck erfordert schnelle erlaubt ein kontinuierliches Wachsen Ergebnisse bzw. rasches Erarbeiten Zeithorizont des Konzepts des Konzepts Einmalige Effekte für wirtschaftlich notNachhaltige Effekte für kulturell wichtige wendige Veränderungen, die mitunter Veränderungen, die als sinnvoll anerVeränderungseffekt hohen Widerstand hervorrufen kannt und daher gelebt werden Zufolge mangelnder Führungsqualitäten Durch starke Führungspersönlichkeiten und spezifische Kompetenzträger im Umsetzungskompetenz bzw. fehlender Kompetenzträger gezielte externe Unterstützung notwendig Unternehmen sichergestellt Konservative Unternehmen mit hierarInnovative Unternehmen mit flachen, chischen, autoritären OrganisationsUnternehmenskultur integrativen Organisationsstrukturen strukturen Große Unternehmen bzw. weltweite Kleinere Organisationseinheiten bzw. Konzerne mit globalen ThemenUnternehmensstruktur überschaubare Familienunternehmen stellungen mit regionalen Themenstellungen Gezielte (frühzeitige) Reduktion von Komplexität

Komplexitätshandling

Bewusstes (anfängliches) Zulassen von Komplexität

Abbildung 6.5: Kriterien zur Wahl des passenden Realtyps

Als erstes Kriterium ist das grundsätzliche Problemverständnis in einer kritischen Situation zu nennen. Besitzt die verantwortliche Führungskraft einen guten Überblick und einen fundierten Einblick, sodass diese selbst das Problem klar und eindeutig erkennt und auch definieren kann, dann kann in Abhängigkeit von der jeweiligen Themenstellung ein spezifischer Auftrag an einen klassischen Berater erfolgen. Hat der Auftraggeber dem entgegen nur eine unspezifische Vorstellung dessen, was das eigentliche Problem ist, sodass er dieses nur als vage Idee formulieren kann, dann empfiehlt sich eher das Beiziehen eines systemischen Beraters, der durch Reflexion der Problemstellung (vgl. Kapitel 6.3.10) gemeinsam mit dem Klienten besser geeignet ist, die tatsächlichen Ursachen herauszuarbeiten. Die angesprochene Themenstellung (vgl. Kapitel 6.4) bildet das zweite Kriterium zur Wahl des passenden Realtyps. Klassische Beratung ist umso eher anwendbar, je weniger das Verhalten von Menschen relevant ist und je mehr die Kompetenz über fachliche Themen (vgl. Kapitel 6.3.1) erforderlich ist. Ist die Themenstellung dann auch noch klar abgrenzbar sowie mechanistisch-technisch orientiert und ist darüber hinaus die Unterstützung durch inhaltliche Beiträge (vgl. Kapitel 6.3.2) erforderlich, um inhaltliche Konzepte erarbeiten zu können, so weist dies in Summe auf die Sachdimension hin und spricht somit ebenfalls für den Einsatz klassischer Beratung. Handelt es sich dagegen um Themenstellungen, bei denen Menschen betroffen sind

Reflexionen über die Beratungsformen

325

und diese etwas umsetzen müssen, so kann dies nur realisiert werden, wenn in der Sozialdimension nachhaltige Verhaltensänderungen erfolgen. Dafür ist letztlich die Kompetenz über soziale Systeme (vgl. Kapitel 6.3.13) sowie die Unterstützung von verändernden Prozessen (vgl. Kapitel 6.3.12) notwendig, was wiederum für das Engagement systemischer Beratung spricht. Als ein weiteres Kriterium lässt sich der Zeithorizont für die Lösungsfindung erkennen, der meist in enger Verknüpfung mit der Themenstellung steht. Besteht aufgrund spezifischer interner oder externrer Umstände eine hohe Dringlichkeit dafür für ein akutes Problem schnell Ergebnisse vorzuweisen und kurzfristig eine Lösung auszuarbeiten, dann bedarf es eher eines klassischen Beraters. Auch wenn diese Anforderung an eine hohe Geschwindigkeit der Konzepterarbeitung (vgl. Kapitel 6.3.3) vom lösungsorientierten Ansatz der systemischen Beratung mitunter erfüllt werden kann, so verlangt diese tendenziell eine deutlich längere Zeitspanne, sodass sich ein Einsatz nur dann empfiehlt, wenn ein entsprechender zeitlicher Spielraum vorhanden ist, in dem die Lösung wachsen kann. Auf Zeit gesehen ist jedoch der realisierte Veränderungseffekt wesentlich wichtiger als die schnelle Erarbeitungsgeschwindigkeit, sodass dieser als viertes Kriterium berücksichtigt wird. Werden eher einmalige Effekte für Veränderungen angestrebt, die wirtschaftlich erforderlich sind sowie mitunter auch einen hohen Widerstand hervorrufen können, dann ist die klassische Beratung möglich. Sind dem entgegen nachhaltige Effekte für kulturell wichtige Veränderungen erforderlich, die als sinnvoll erkannt werden müssen, um gelebt werden zu können, dann bedarf es tendenziell der systemischen Beratung, weil diese sowohl eine hohe Integration der Betroffenen (vgl. Kapitel 6.3.11) als auch die Unterstützung von verändernden Prozessen (vgl. Kapitel 6.3.12) anstrebt. Aus der Unterstützung von verändernden Prozessen (vgl. Kapitel 6.3.12) kann noch ein weiteres Kriterium abgeleitet werden, nämlich die Umsetzungskompetenz. Ist diese durch starke Führungspersönlichkeiten und spezifische Kompetenzträger im Unternehmen vorhanden, dann ist sie seitens des Beraters nicht erforderlich, und es kann klassische Beratung eingesetzt werden. Mangelt es dem Klienten intern jedoch an dieser Kompetenz und ist daher externe Unterstützung notwendig, so ist dazu systemische Beratung deutlich besser geeignet. Um den passenden Realtyp zu ermitteln, ist auch die kulturelle Übereinstimmung zwischen Klient und Berater von Bedeutung, weshalb die Unternehmenskultur als sechstes Auswahlkriterium herangezogen wird. Seitens der Realtypen sind hier die aus den grundlegenden Beratungsparadigmen (vgl. Kapitel 2.2.2) hervorgehenden Organisationsverständnisse maßgebend, die sich in gewissen Implikationen für das Management (vgl. Kapitel 6.3.6) niederschlagen. "Der klassische Berater sagt einem

326

Reflexionen über die Beratungsformen

hilflosen Unternehmen, wie's geht [, das Problem zu lösen]. Besonders wirksam ist dies in hierarchischen Unternehmen [mit autoritären Organisationsstrukturen], in denen durch dieses Vorgehen Glaube und Energie entstehen kann. Wenn klassische Beratung [in so einer Konstellation] gut angenommen wird, dann ist sie auch erfolgreich."858 "Beim systemischen Ansatz wächst die Veränderung [hingegen] aus den Menschen heraus. Dieses Vorgehen ist für flache und intelligente Unternehmen [mit integrativen Organisationsstrukturen] sicherlich geeignet und motiviert die Mitarbeiter"859, wobei die Mündigkeit und Kritikfähigkeit der Belegschaft vom Management gewollt sein und akzeptiert werden muss. Aufgrund der unterschiedlichen Ressourcen der Beratungsunternehmen (vgl. Kapitel 6.3.5) wird auf die Unternehmensstruktur als vorletztes Kriterium für die Wahl des passenden Realtyps eingegangen. So es sich um globale Themenstellungen von großen Unternehmen oder weltweiten Konzernen handelt, wofür nicht nur globales Wissen und ein weltumspannendes Netzwerk, sondern vor allem auch internationale Erfahrungen und umfangreiche Beratungskapazitäten erforderlich sind, dann bietet sich fast ausschließlich klassische Beratung an. Wird Beratungsleistung jedoch eher für regionale Themenstellungen, die aus kleineren Organisationseinheiten oder aus überschaubaren Familienunternehmen hervorgehen, in Anspruch genommen, dann kann auch auf systemische Beratung zurückgegriffen werden, vor allem dann, wenn das Unternehmen die finanziellen Mittel für das Engagement eines klassischen Beraters nicht aufbringen kann. Je nach Unternehmensgröße kann die Organisationsstruktur natürlich auch mehr oder weniger komplex sein, wodurch der Umgang mit Komplexität (vgl. Kapitel 6.3.7) an Bedeutung gewinnt und sich schließlich das achte und letzte Auswahlkriterium definieren lässt. Dieses Komplexitätshandling unterscheidet die beiden Realtypen dahingehend, dass Situationen, in denen die Komplexität so früh wie möglich gezielt reduziert werden soll, der klassischen Beratung zugedacht werden. Erfordert die Themenstellung jedoch ein bewusstes Zulassen von Komplexität, das zumindest zu Beginn des Projektes erfolgt, dann empfiehlt sich der Einsatz systemischer Beratung. Insgesamt wurden mit diesen acht Kriterien die wichtigsten Aspekte aufgegriffen, entlang derer man sich die Wahl eines Realtyps überlegen kann, wobei sich daraus natürlich keine eindeutige Entscheidung für die eine und damit gegen die andere Beratungsform ableiten, sondern nur eine Tendenz erkennen lässt. Grundsätzlich zeigt sich auch hierbei, dass eine Beratungsform, welche das Spannungsfeld dieser Differenzen konstruktiv für sich nutzen kann, sinnvoll wäre, weshalb als weitere

858 859

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 97-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 37-10

Reflexionen über die Beratungsformen

327

Schlussfolgerung die Positionierung der integrierten Beratung als Kombination der Realtypen erfolgt. 6.5.2 Integrierte Beratung als Kombination der Realtypen Bevor nun der Blick aus der Gegenwart in Richtung Zukunft gerichtet wird, lässt die Reflexion über die Beratungsformen folgende Conclusio zu. Sowohl die Selbstbilder und Fremdbilder der Beratungsformen (vgl. Kapitel 6.1), die durch die Charakteristika der Beratungsformen (vgl. Kapitel 6.3) hinterlegt werden können, als auch die daraus resultierende Eignung der Realtypen für unterschiedliche Themenstellungen (vgl. Kapitel 6.4) legen eine weiteres Lernen der beiden Beratungsformen voneinander nahe, auch wenn zu diesem Lernprozess vereinzelt kritische Stimmen existieren: "Sehr viel wechselseitiges Lernen ist eher nicht nützlich, weil die Polarität zwischen systemischer Beratung und klassischer Beratung von gesellschaftlichem Nutzen ist"860, meint diesbezüglich etwa ein systemisch orientierter Berater und hat damit sicherlich nicht unrecht. Trotzdem wird das grundsätzliche Lernen voneinander und damit eine weitere Entwicklung zueinander in der vorliegenden Arbeit aufgrund der erfolgten Reflexionen als realistisch betrachtet. Das Endprodukt dieses Prozesses wäre eine integrierte Beratung, die die Vorteile beider Realtypen kombiniert, sodass im Sinne der Zielsetzung der Arbeit (vgl. Kapitel 1.2) sowohl inhaltliche Konzepte erarbeiten werden können als auch deren nachhaltige Umsetzung unterstützt wird, was, ohne es vorläufig näher zu definieren, wie folgt dargestellt werden könnte.

Integrierte Beratung Mechanistisches

Beratungsparadigma

Systemisches

Systemische Beratung

Klassische Beratung

Prozessorientierter

Inhaltsorientierter Beratungsfokus

Abbildung 6.6: Integrierte Beratung als Kombination der Realtypen 860

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 82-11

328

Reflexionen über die Beratungsformen

Als vorläufige Schlussfolgerung wird integrierte Beratung vor allem in Hinblick auf die weiterführende Diskussion über die Perspektiven für die Beratungsformen (vgl. Kapitel 7) zwischen den jeweiligen Idealtypen der klassischen Beratung sowie der systemischen Beratung positioniert, wobei eine geringfügige Entwicklungstendenz in den systemisch inhaltsorientierten Quadranten angedeutet ist. Dadurch wird kein anderer Bereich der gesamten Differenzierungslogik (vgl. Kapitel 2.2) ausgegrenzt, sondern soll im Endeffekt nur zum Ausdruck gebracht werden, dass der generelle Schwerpunkt von integrierter Beratung dort angesiedelt ist, aus dem heraus aber zu jedem Zeitpunkt ein situationsspezifisches Handeln möglich sein muss. Prinzipiell kann und wird integrierte Beratung damit natürlich keine der beiden Beratungsformen vollständig ersetzen, aber sie wäre definitiv wertvoll, was auch durch die Aussagen zweier Berater, die sowohl klassischen als auch systemischen Hintergrund besitzen, bestätigt wird: "Beide extremen Ansätze haben ihre Berechtigung und müssen zugleich sich ergänzend und schätzend arbeiten, weil immer mehr Projekte eine gute Mischung brauchen. […] Es wird aber einzelne Projekte geben, die auch die beiden Pole rechtfertigen."861 "Die Nachfrage in der Mitte wird [daher wahrscheinlich] nicht steigen, sondern es wird […] sowohl die klassische Beratung mit systemischen Elementen als auch die systemische Beratung mit inhaltlichem Wissen"862 geben, sodass ein Konzept für integrierte Beratung, mit Hilfe dessen sich beide Realtypen entwickeln können, sinnvoll scheint, wobei es zur Positionierung der integrierten Beratung selbst noch drei Aspekte anzumerken gilt. Ersten gilt es ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass integrierte Beratung, solang sie nur in Bezug auf die vorliegende Differenzierungslogik positioniert wird, in dieser ausschließlich als eine grundsätzliche Kombination des expliziten Wissens über einerseits fachliche Themen sowie soziale Systeme und andererseits bestehende Methoden sowie vorhandenen Instrumente verstanden werden kann, weil in der verwendeten Darstellung die erforderlichen Rahmenbedingungen nur ungenügend abbildbar sind. Im Sinne einer Analogie könnte die Differenzierungslogik auch als 'Bibliothek' und ‘Werkzeugkoffer‘ verstanden werden, auf die integrierte Beratung zugreifen kann, wobei dies aber nur den ersten Schritt hin zu einem umfassenden Konzept für integrierte Beratung (vgl. Kapitel 8) widerspiegelt, das zur erfolgreichen Durchführung derselben erforderlich ist. Zweitens soll durch die Positionierung nach rechts oben angedeutet werden, dass integrierte Beratung nicht nur in der Lage sein muss, das aus beiden Realtypen hervorgehende Wissen situationsspezifisch einzusetzen, sondern vor allem auch gefordert ist, selbiges grundsätzlich weiterzuentwickeln oder überhaupt neue zu

861 862

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 81-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 82-08

Reflexionen über die Beratungsformen

329

erschaffen, sodass eine systemische Auseinandersetzung mit Inhalten möglich wird. Gleichzeitig impliziert diese Orientierung aber auch, dass in der integrierten Beratung mechanistische Prozessorientierung nur so gering ausgeprägt ist, inwieweit dies für ein zielführendes Projektmanagement notwendig ist, weil das Wissen aus diesem Quadranten durch jenes aus dem Bereich der systemischen Prozessorientierung weitestgehend sinnvoll ersetzt werden kann. Zu dieser Positionierung gilt es noch einen dritten Aspekt anzuführen, der sich aus einer gezielten Kombination, Integration sowie Weiterentwicklung des bestehenden Wissens ergeben kann und direkt aus den Stärken-Schwächen-Profilen der beiden Realtypen ableiten lässt. Es handelt sich bei diesem Aspekt um die Gesamtdauer der Veränderung (vgl. Abbildung 2.4), welche aufgrund der Aussage eines SeniorPartners aus der klassischen Beratung hinterfragt werden soll: "Man bekommt in beiden Polen keine schnelle Veränderung. Damit Veränderung erfolgen kann, muss einerseits völlige Klarheit über das Ziel bestehen und müssen andererseits Veränderungsprozesse antizipiert werden. Das ist nur durch Integration möglich."863 Es wird demnach die Abnahme der Gesamtdauer der Veränderung als ein positiver Synergieeffekt integrierter Beratung angedeutet und gleichzeitig eingeräumt, dass diese Veränderungsdauer in beiden Beratungsformen in etwa gleich viel Zeit in Anspruch nimmt, was durch die gemeinsame Reflexion der Diskussionen über die Geschwindigkeit der Konzepterarbeitung (vgl. Kapitel 6.3.3) sowie jener über die Unterstützung von verändernden Prozessen (vgl. Kapitel 6.3.12) lediglich theoretisch nachvollzogen werden kann. Während die klassische Beratung äußerst schnell ein analytisch durchdachtes Konzept hervorbringt, bei dem Schwierigkeiten oft erst in der Umsetzung durch mangelnde Reflexion der eigentlichen Umsetzbarkeit sowie der erforderlichen Umsetzungsbedingungen und ungenügende Unterstützung der Umsetzung an sich entstehen – "Die klassischen Berater sind mit dem Konzept schnell da, aber in Summe kann es auch länger dauern"864 –, werden diese Aspekte in der systemischen Beratung eingehend behandelt, wodurch die Erarbeitung eines Konzeptes in der Regel deutlich mehr Zeit in Anspruch nimmt, die darauf folgende Umsetzung jedoch meist relativ reibungslos und zügig von Statten geht – "Sobald die Konzepterarbeitung abgeschlossen ist, dauert die Umsetzung in der systemischen Beratung kürzer als in der klassischen Beratung."865 Ausgehend von ebendiesem Unterschied wird daher die erste weiterführende Hypothese866 aufgestellt, dass "die Gesamtzeit, die das Klientensystem für die Veränderung benötigt, […] durch [die

863 864 865 866

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 38-13 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-13 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 63-02 Hypothese, die aus der empirischen Untersuchung abgeleitet, im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht eingehend überprüft wird, sondern einen Ansatzpunkt für weiterführende Forschung darstellt

330

Reflexionen über die Beratungsformen

diskutierten Realtypen von] Beratung nicht zu beeinflussen und bei einem konsequenten Management für beide Ansätze in etwa gleich lang"867 ist, weil sowohl die klassische Beratung als auch die systemische Beratung die angeführten Schwächen aufweist, was durch folgende Aussage eines Vorstandes noch einmal untermauert wird: "Die Klassische Beratung ist schneller dabei, ein Konzept zu erarbeiten und Ergebnisse zu präsentieren als die systemische Beratung. Dafür ist die systemische Beratung bei der Umsetzung schneller, sodass die Gesamtdauer der Veränderung sich bei beiden Ansätzen nicht unterscheidet."868 Diese Sichtweise unterstützt auch ein Senior-Partner aus einem klassischen Beratungsunternehmen und bringt mit seiner Aussage den Ansatzpunkt für eine zweite weiterführende Hypothese ein: "Beide Ansätze werden ziemlich auf's Gleiche hinauslaufen. Während mechanistisch von oben erfolgt, findet systemisch von unten statt. Auch preislich werden die beiden Ansätze im Endeffekt auf's gleiche rauskommen"869, weil klassische Berater über einen vergleichsweise kurzen Zeitraum kontinuierlich am Konzept arbeiten, während systemische Berater über einen längeren Zeitraum punktuell die gesamte Veränderung begleiten. Werden diese zwei weiterführenden Hypothesen nun in Bezug zur vierten forschungsleitende Hypothese Veränderung (vgl. Kapitel 1.4) gesetzt, so wird integrierte Beratung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht billiger, sollte jedoch durch die gezielte Integration der Stärken aus beiden Realtypen dahingehend eine Symbiose erzielen, dass die Gesamtdauer für die Veränderung abnimmt und die Qualität des umgesetzten Konzeptes zunimmt. Summa summarum wird festgehalten, dass die Positionierung integrierter Beratung als Kombination der Realtypen einen ersten Schritt hin zum gesamten Konzept für integrierte Beratung (vgl. Kapitel 8) darstellt und den Aufsatzpunkt für die folgende Diskussion um die Perspektiven für die Beratungsformen (vgl. Kapitel 7) bildet.

867 868 869

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 87-13 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 15-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 37-11

Perspektiven für die Beratungsformen

331

7 Perspektiven für die Beratungsformen Aufbauend auf jene in den Reflexionen über die Beratungsformen (vgl. Kapitel 6) diskutierten Wahrnehmungen über die klassische Beratung sowie die systemische Beratung in der Gegenwart, kann nun der Blick in die Zukunft erfolgen, indem die Perspektiven, die sich aus dem zweiten Teil der Auswertung ergeben, für die beiden Realtypen skizziert werden. Dafür wird zuerst das Spannungsfeld zwischen den Beratungsformen (vgl. Kapitel 7.1), das es für die Weiterentwicklung grundlegend zu berücksichtigen und konstruktiv zu nutzen gilt, zusammengefasst, um danach die wahrgenommenen Entwicklungspotenziale für die Beratungsformen (vgl. Kapitel 7.2) aufzuzeigen, ehe die möglichen Realisierungsoptionen für die Beratungsformen (vgl. Kapitel 7.3) umrissen werden. Basierend darauf kann dann erst, um die Vielzahl der angesprochenen Aspekte auch adressierbar zu machen, sinnvoll auf das dafür notwendige Anforderungsprofil an Berater (vgl. Kapitel 7.4) eingegangen werden, bevor in den Schlussfolgerungen (vgl. Kapitel 7.5) schließlich jene Aspekte reflektiert werden, welche jenen aus den Reflexionen über die Beratungsformen abgeleiteten Aufsatzpunkt ergänzen und den zweiten vorbereitenden Schritt in Richtung des Konzeptes für integrierte Beratung (vgl. Kapitel 8) bedeuten.

7.1 Spannungsfeld zwischen den Beratungsformen Um den aus den Reflexionen über die Realtypen als sinnvoll erscheinenden Weg des voneinander Lernens so beschreiten zu können, wie er bei der Positionierung integrierter Beratung als Kombination der Realtypen (vgl. Kapitel 6.5.2) angedeutet wurde, gilt es sich zuerst mit jenen Aspekten auseinanderzusetzen, die die weitere Annäherung der beiden Beratungsformen aneinander erschweren und den künftigen Entwicklungsprozess der jeweiligen Beratungsform dadurch beeinflussen. Genauer gesagt führt der Weg in die Zukunft sowie die damit einhergehende Eröffnung der Perspektiven für die beiden Realtypen nur über die kritische Auseinandersetzung mit den grundlegenden Spannungen, welche sich aus unterschiedlichen Aspekten der beiden Beratungsformen ergeben, sowie dem resultierenden Spannungsfeld, das die jeweilige Entwicklung sowie den damit verbundenen Lernprozess beeinflusst. Um diese Auseinandersetzung zu ermöglichen, gilt es daher die spannungserzeugenden Aspekte, die auf beide Beratungsformen gleichermaßen zutreffen, transparent zu machen, womit sich letztlich auch die erste Teilfrage der dritten wissenschaftlichen Fragestellung beantworten lässt. Um diese Antwort zu strukturieren, lässt sich die Vielfalt der aus den Interviews hervorgehenden spannungserzeugenden Aspekte in mehrere untereinander zusammenhängende Themenbereiche untergliedern, was insgesamt in der folgenden Graphik zusammengefasst werden kann.

332

Perspektiven für die Beratungsformen

s reit nbe Ler resse Inte

Off enh Wertsc e hätzun it g

Fehlende Impulse

ft cha

Werte

Sp ra ch e

Kultur

Haltung

nz ga ro Ar

ell od m fts hä sc e Differenzierende GErfolg Charakteristika Image

Fundamentale Ideologie Ab we rtu n nzun g g Ignoranz

Abgr e

Bestehende Barrieren

Abbildung 7.1: Spannungserzeugende Aspekte

Der zentrale spannungserzeugende Aspekt, der damit auch den Kern des gesamten resultierenden Spannungsfeldes bildet, ist die fundamentale Ideologie, die den sich selbst stabilisierenden Kreislauf der drei Kernaspekte Werte, Haltung und Kultur nicht nur hervorruft, sondern letztendlich auch in sich verstärken kann. Aus ebendiesem Kernthemenbereich heraus lassen sich dann die weiteren spannungserzeugenden Aspekte wiederum in drei Themenbereiche zusammenfassen, die jeweils mit einem der drei spannungserzeugende Kernaspekte assoziiert werden können. Diese vier Themenbereiche sowie deren spannungserzeugende Aspekte sollen in Folge kurz reflektiert werden. 7.1.1 Fundamentale Ideologie Die fundamentale Ideologie umschreibt die manifestierte Denkhaltung, die auf dem in der jeweiligen Beratungsform bestehenden Beratungsparadigma (vgl. Kapitel 2.2.2) basiert, welches gemeinsam mit dem jeweils als Kontrapunkt fungierenden anderen Beratungsparadigma das Hintergrundbild für alle spannungserzeugenden Aspekte darstellt, wie es auch ein klassischer Berater mit soziologischem Hintergrundwissen andeutet: "Die Paradigmen sind vereinend nach innen und trennend nach außen. […] Das zeigt sich [nicht nur in der Beratung, sondern vor allem] auch in der Wissenschaft."870 "Beide Ansätze gehen [folglich] von einem grundsätzlich anderen

870

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 35-14

Perspektiven für die Beratungsformen

333

Hintergrund aus und stehen daher vor einer ideologischen Hürde"871, zeigt ein Klient den Konnex zwischen Paradigma und Ideologie genauer auf, deren Auswirkungen sich anhand der Aussagen von unterschiedlichen InterviewpartnerInnen reflektieren lassen. "Systemische Berater vertreten das Systemische so intensiv", kritisiert etwa eine Personalchefin, "dass [bei diesen] Schmerzen entstehen, wenn inhaltliche Arbeit erforderlich ist"872 und von ihnen verlangt wird. Noch deutlicher wird hingegen ein Vorstandsvorsitzender, der die trennende und spannungserzeugende Wirkung einer manifestierten Ideologie deutlich aufzeigt: "Die systemische Beratung sollte das, was die klassische Beratung tut, nicht als mechanistisch weglegen."873 Aber auch am letztgenannten Realtyp werden ähnliche Auswirkungen kritisiert, wie ein weiterer Klient zu bedenken gibt: "In einer klassischen Beratung ist kein 'Futzl' Platz um eine systemische Runde zu drehen. Die Leute sind auf diesem Auge blind"874, weil sie oft unreflektiert die eigene Ideologie verfolgen, sodass, auch wenn systemische Berater "stärker der Ideologie verhaftet"875 sind, letztlich auf beiden Seiten durch die jeweilige Ideologie jene grundsätzlichen Hindernisse bestehen, welche im Fall einer weiteren Annäherung den zentralen Ausgangspunkt zur Bildung von Spannungen darstellen. Diese fundamentale Ideologien der beiden Beratungsformen prägen nun im ersten Schritt bestimmte Werte876, die das bestimmen, was im jeweiligen Realtyp anerkannt, geschätzt oder erstrebt wird, und daher in diesem ideelle Grundfesten darstellen, die als solche verkörpert und gelebt werden. Letztlich versteht man unter diesen Werten Strukturen normativer Erwartungen, die sich im Zuge reflektierter Erfahrung aus der Ideologie herausbilden und das Erkennen, Erleben und Wollen strukturieren, indem sie Orientierungsmaßstäbe für die Bevorzugung von Handlungen bilden.877 Genau diese Handlungen der klassischen Berater sowie jene der systemischen Berater aber differieren aufgrund des aus der jeweiligen Ideologie hervorgehenden idealtypischen Beratungsparadigmas (vgl. Kapitel 2.2.2), das einen grundlegenden Unterschied im Wert bewirkt, der einem Klienten aus der Beratungsleistung entsteht. Während der klassische Berater seine Handlungen dahingehend ausrichtet, dass zum einen ein inhaltliches Konzept erarbeitet wird, welches von außen in die Organisation eingeht, und zum anderen eine dauerhafte Klientenbeziehung entsteht, aus der kontinuierlich neue Aufträge hervorgehen, ist ein systemischer Berater durch seine Handlungen darauf aus, dass prozessuale Hilfe für eine Veränderung von innen geleistet wird, 871 872 873 874 875 876

877

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 20-18 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-15 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 16-18 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 14-12 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 40-09 Der Begriff 'Werte' bezieht sich hier ausschließlich auf die Beratungsform und nicht auf den Berater als Person, für den diese Begrifflichkeit in Beratungsfundamente (vgl. Kapitel 7.4.1) explizit diskutiert wird. Vgl. Arentzen/Winter (1997), S. 4345 f.

334

Perspektiven für die Beratungsformen

wodurch sich ein Klient selbst zu helfen lernt und von externer Hilfe unabhängig wird. Diese Unterschiede spiegeln sich vor allem durch die Art der Kompetenz878 sowie die Form der Unterstützung879 in den beiden Beratungsformen wieder und bestimmen folglich auch die Ausprägung aller anderen Charakteristika der Beratungsformen (vgl. Kapitel 6.3), was wiederum die eigenen Werte des jeweiligen Realtyps reflektiert, die letztlich entgegen denen der jeweils anderen Beratungsform sind und damit zu Spannungen führen. Die Konsequenz aus einem System an ideologisch geprägten Werten ist schließlich eine spezifische Haltung, die ein Berater eines Realtyps einem Klienten gegenüber einnimmt. Auch "die Grundhaltung ist [demnach] ein wichtiger Aspekt", aus dem Spannungen hervorgehen, wie ein systemisch orientierter Berater andeutet und führt seine Sichtweise genauer aus: "Systemische Beratung ist symmetrisch, also mehr auf gleicher Augenhöhe [mit der Klientenorganisation in Bezug auf das Problem], und der Fokus liegt auf Kooperation [mit ebendieser, um das inhaltliche Konzept gemeinsam zu erarbeiten]. Klassische Beratung ist [dagegen] asymmetrisch"880, weil sie an den Klienten mit spezifischem Fachwissen herantritt, das dieser nicht besitzt, sodass letztlich eine ungleiche Position in Relation zum Problem entsteht, aus der der klassische Berater ein inhaltliches Konzept für den Klienten erarbeitet. Diese Differenz in der Haltung dem Klienten gegenüber erzeugt zwischen den beiden Realtypen unweigerlich Spannungen, deren Folgen auch ein klassischer Berater, der sich schon über mehrere Jahre intensiv mit systemischer Beratung auseinandersetzt, benennt: "Die unterschiedliche Haltung sowie das Wahrheitskonzept, das bei beiden Ansätzen anders ist, behindern das Zugehen der Ansätze aufeinander."881 Geschlossen wird der aus der jeweils fundamentalen Ideologie hervorgehende Dreischritt an spannungserzeugenden Kernaspekten durch die resultierende Kultur, die in den einzelnen Beratungsunternehmen besteht und wieder auf die spezifischen Werte einwirkt, sodass diese bestätigt werden, wodurch sich der Kreislauf letztlich auch selbst verstärken kann. "Die Entwicklung [der beiden Realtypen aufeinander zu und damit auch jene hin] zur integrierten Beratung ist [daher] schwierig, weil die Unternehmenskultur natürlich prägt"882, weist etwa ein Personalchef auf diese Hürde hin und wird darin von einer weiteren Führungskraft bestätigt: "Um systemisches Wissen zu integrieren, wäre von klassischen Beratern ein radikaler Kulturwandel

878

879

880 881 882

Kompetenz über fachliche Themen (vgl. Kapitel 6.3.1) bzw. Kompetenz über sozial Systeme (vgl. Kapitel 6.3.13) Unterstützung durch inhaltliche Beiträge (vgl. Kapitel 6.3.2) bzw. Unterstützung von verändernden Umsetzungsprozessen (vgl. Kapitel 6.3.12) Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 88-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 49-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 21-09

Perspektiven für die Beratungsformen

335

erforderlich"883, was im Endeffekt jedoch genauso in die entgegengesetzte Richtung für systemische Berater gilt und damit insgesamt Spannungen erzeugt. Summa summarum kann für den Kernthemenbereich der fundamentalen Ideologie sowie die dazugehörigen Kernaspekte festgehalten werden, dass dieser vor dem Hintergrund des mechanistischen sowie des systemischen Beratungsparadigmas das Zentrum aller Hürden und Spannungen darstellt, von dem aus weitere Aspekte entstehen, die einen Entwicklungsprozess aufeinander zu sowie hin zur integrierten Beratung erschweren. 7.1.2 Differenzierende Charakteristika Am zuletzt diskutierten Kernaspekt der Kultur lassen sich zunächst differenzierende Charakteristika festmachen, die nicht nur eine Unterscheidung zwischen den beiden Beratungsformen erlauben, sondern auch das Erkennen der Beratungsunternehmen innerhalb der beiden Realtypen ermöglichen. So entwickelt jedes von diesen eine ihm eigene Sprache sowie ein bestimmtes Geschäftsmodell, mit dem man nur bestehen kann, wenn man damit über längere Zeit Erfolg hat, was wiederum zu einem gewissen Image führt. Da diese Charakteristika klare Differenzen zwischen den beiden Beratungsformen aufzeigen sowie von denselben auch gegenseitig wahrgenommen werden, werden dadurch automatisch Spannungen erzeugt aus denen weitere Hürden bei der Annäherung entstehen. Als erstes ist diesbezüglich die verwendete Sprache zu nennen, die von Beratern in den beiden Realtypen gesprochen wird. Während klassische Berater aufgrund ihres Fachwissens generell – wenn man von kulturspezifischen Anglizismen absieht – ein Vokabular verwenden, das dem Sprachgebrauch in der Wirtschaft oder der Technik sowie in einer Branche oder einer Funktion entspricht und folglich von Klienten inhaltlich schnell und leicht verstanden werden können, trifft dies auf systemische Berater nicht zu. Diese "sind [über deren Sprache] weniger anschlussfähig als klassische Berater"884, weil sie einerseits sehr spezifische Begriffe verwenden und andererseits oft eindeutige Aussagen vermeiden, was eine Führungskraft in Relation zur klassischen Beratung setzt: "Manchen Kunden sind Systemiker von der Sprache her zu anstrengend, während sie von der klassischen Beratern durch ihr sicheres Auftreten beeindruckt sind."885 Weil diese fehlende sprachliche Anschlussfähigkeit jedoch nicht nur dem Klienten gegenüber besteht, sondern auch in Bezug auf klassische Berater vorhanden ist, entsteht schließlich auch eine sprachliche Barriere zwischen den Realtypen, deren Folgen ein ehemaliger klassischer Berater, der als Vorstandsvorsitzender nun auch mit systemischen Beratern arbeitet, andeutet: "Die 883 884 885

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 14-11 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 66-11 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 20-21

336

Perspektiven für die Beratungsformen

Zusammenarbeit von klassischen Beratern und systemischen Beratern funktioniert nicht, weil […] die Sprache zu unterschiedlich ist."886 Ein mindestens genauso bedeutungsvoller Unterschied in Bezug auf eine weitere Annäherung und mögliche Zusammenarbeit ergibt sich aus den in den beiden Beratungsformen etablierten Geschäftsmodellen, die "unterschiedliche Strukturen aufweisen, weshalb sich die Frage stellt, ob sie überhaupt zusammenpassen bzw. ob man sie unter einer Marke vereinen kann."887 Damit deutet der Senior-Partner eines klassischen Beratungsunternehmens jene Differenz an, die zwischen dem klassisch hierarchischen Pyramidenmodell aus wenigen Partnern sowie vielen Beratern und dem systemisch heterarchischen Netzwerkmodell aus gleichberechtigten Beratern besteht, und erläutert die Konsequenzen genauer: "Der systemische Ansatz ist für die klassischen Berater wegen deren Geschäftsmodell [, in dem die Senior-Partner – im Unterschied zur systemischen Beratung – lediglich spezifische Aufgaben selber machen und den Großteil an Junior-Berater delegieren,] nicht möglich."888 "Alle klassischen Beratungsunternehmen haben [letztlich] ein Geschäftsmodell, das auf Wachstum aufgebaut ist", spezifiziert ein Senior-Partner eines anderen klassischen Beratungsunternehmens diesen Aspekt und weist dann auf die damit verbundene Implikation hin: "Die daraus entstehenden Kostenstrukturen können [jedoch] ein Problem werden, wenn das Wachstum nicht gewährleistet ist."889 Genau diese Kostenstrukturen, die klassische Berater hindern Beratungsprojekte so abzuwickeln, wie es systemische Berater machen, sind letztendlich der Grund, warum systemische Berater auch keine klassischen Beratungsprojekte durchführen können. "Der Aufbau an Wissen [über fachliche Themen (vgl. Kapitel 6.3.1)] würde systemischen Beratern immer höhere Fixkosten einbringen, welche die systemischen Berater wiederum zu Wachstum verdammen würden. Dieses ist jedoch durch das Geschäftsmodell beschränkt"890, bringt ein klassischer Berater das Hindernis für die systemische Beratung auf den Punkt. "Eine Zusammenarbeit zwischen klassischen Beratern und systemischen Beratern wird [aus diesem Grund] sehr schwierig"891, weil klassische Berater nämlich sowohl aufgrund ihres Geschäftsmodells, aber auch aus ihrem Beratungsverständnis heraus Beratungsprojekt kontinuierlich begleiten, während dies systemische Berater in der Regel nur punktuell machen. Trotz dieses Unterschiedes können beide Beratungsformen mit dem jeweils eigenen Geschäftsmodell auf Erfolg verweisen, der einen weiteren spannungserzeugenden

886 887 888 889 890 891

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 18-11 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 37-17 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 37-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 38-16 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 37-15 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 39-14

Perspektiven für die Beratungsformen

337

Aspekt darstellt. Schließlich wird man durch Erfolg sehr leicht von der Richtigkeit der eigenen Vorgehensweise überzeugt und fühlt sich dadurch in den eigenen Ansichten bestätigt, sodass ein kritisches Reflektieren desselben nicht erforderlich scheint. So meint eine Führungskraft und ehemalige klassische Beraterin etwa: "Klassische Berater können unmittelbar nichts gewinnen, weil das Geschäft derzeit gut läuft"892 und wird in dieser Sichtweise auch durch einen klassischen Berater bestätigt: "Ich weiß nicht, ob man den Top 5 [klassischen Beratungsunternehmen] aufgrund ihrer Entwicklung Systemisches angedeihen lassen kann."893 Er bezieht sich mit dieser Aussage auf das kontinuierliche Wachstum klassischer Beratungsunternehmen, das über Jahrzehnte hindurch von Erfolgen geprägt ist und führt weiter aus: "Wenn es weiterhin ein Wirtschaftswachstum gibt, dann geht alles weiter wie bisher"894, weil die Nachfrage nach klassischen Beratungsleistungen, sprich der reinen Unterstützung durch inhaltliche Beiträge (vgl. Kapitel 6.3.2), sich damit nicht ändern würde, mit diesen stets ein gewisser Erfolg einherginge und dadurch auch weiterhin wenig Anlass zur kritischen Reflexion und gezielten Weiterentwicklung bestünde. Aufgrund dessen meint letztlich auch ein systemischer Berater: "Je erfolgreicher jemand mit nicht systemischen Elementen ist, desto schwieriger wird es, systemische Tools anzuwenden."895 Diese Problematik lässt sich aber genauso auf die systemische Beratung umlegen, die sich durch den Erfolg in der Unterstützung von verändernden Prozessen (vgl. Kapitel 6.3.12) ebenfalls auf dem aus systemischer Sicht richtigen Weg wähnen kann und demzufolge auch der Auseinandersetzung mit klassischen Elementen widerstreben kann. Die Konsequenz, die sich aus dem Erfolg mit einem bestimmten Geschäftsmodell, den dahinter liegenden Aspekten sowie den durchgeführten Beratungsprojekten über einen längeren Zeitraum ergibt, ist schließlich ein gewisses Image, das über ein Beratungsunternehmen entsteht oder von diesem angestrebt wird und das Bild der jeweiligen Beratungsform bestimmt. "Es ist für die Berater beider Ansätze schwer das jeweilige Image wegzubekommen. Die klassischen Berater haben den Ruf als Henker und Verbündete des Managements und die systemischen Berater den als Softies"896, was es letztendlich schwierig macht, neue Sichtweisen und ergänzende Vorgehensweisen im jeweiligen Beratungsunternehmen zu etablieren sowie bei verschiedenen Klientenunternehmen zu positionieren. Als Beratungsunternehmen bildet man mit einem gewissen Image letztlich eine eindeutige Marke und "in einer

892 893 894 895 896

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-26 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 48-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 48-14 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 68-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 88-13

338

Perspektiven für die Beratungsformen

bestimmten Marke gibt es [wiederum] bestimmte Mitarbeiter"897, welche das Image transportieren und bestätigen, sodass durch diesen Kreislauf schließlich wieder Spannungen zwischen klassischer Beratung und systemischer Beratung entstehen. Insgesamt lässt sich für die differenzierenden Charakteristika festhalten, dass diese die prägnanten Unterschiede, die aus den Kulturen der beiden Beratungsformen hervorgehen, darstellen und damit zwangsläufig potenzielle spannungserzeugende Aspekte für die weitere Annäherung sowie das gegenseitige Lernen von klassischer Beratung und systemischer Beratung aufzeigen. 7.1.3 Bestehende Barrieren Unter dem Begriff der bestehende Barrieren sind nun jene spannungserzeugenden Aspekte subsumiert, welche sich ergeben, wenn die bisher skizzierten Aspekte unreflektiert bleiben und daher vor allem aus dem vorhandenen Erfolg (vgl. Kapitel 7.1.2) gewissermaßen eine Haltung entsteht, aus der man das, was man selber macht, als das einzig und uneingeschränkt Wahre ansieht und sich selbst damit über alles andere stellt. Diese Haltung impliziert Arroganz gegenüber sowie Abwertung von allen und allem, was nicht der eigenen Sichtweise entspricht, und führt somit unweigerlich zu einer Abgrenzung, die letztlich Ignoranz gegenüber allen und allem anderen bewirkt. Gerade unreflektierter Erfolg kann sehr rasch zur Entstehung und zum Wachsen von Arroganz bei denjenigen führen, die Erfolg haben. Diesbezüglich wirft etwa ein systemisch orientierter Berater für Vertreter beider Beratungsformen die Frage auf: "Sind extreme Berater überhaupt bereit, den anderen Pol zu akzeptieren?", und fährt mit einer Antwort für die klassische Beratung fort: "Es widerspricht dem Fachberater sich dem anderen Pol zu nähern"898, weil er oft davon überzeugt davon ist, dass er das einzig Richtige unternimmt, wie es ein anderer systemisch orientierter Berater auch kritisiert: "Die klassischen Berater gehen öfter davon aus, sie hätten 'The one best way'"899 und werten damit implizit alles andere ab. Aber auch die systemischen Berater selbst sind in hohem Maße anfällig, eine arrogante Haltung den klassischen Beratern gegenüber einzunehmen, wie es etwa ein Vorstandsvorsitzender kritisiert: "Die systemische Beratung sollte das, was die klassische Beratung tut, nicht als mechanistisch weglegen"900, da diese Beratungsleistungen für den beratenen Klient auch notwendig und wertvoll ist. Letztendlich sind bei ungenügender Reflexion des Erfolgs sowohl klassische Berater als auch systemische Berater äußerst anfällig für

897 898 899 900

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 37-16 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 81-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 96-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 16-18

Perspektiven für die Beratungsformen

339

Arroganz, von der es nur mehr ein kleiner Schritt zur Abwertung der jeweils anderen Beratungsform ist, woraus sich ein weiterer spannungserzeugender Aspekt ergibt. Ob diese Abwertung nun in eine der beiden Richtungen größer ist als in die jeweils andere, wie es aus den Aussagen zweier Führungskräfte folgt – "Die klassische Beratung hat eine geringere Abwertung gegenüber systemischer Beratung als umgekehrt"901 oder, anders gesagt, "die systemischen Berater verteufeln die klassischen Berater öfter als umgekehrt."902 – ist letztlich sekundär. Von primärer Bedeutung ist dagegen, dass diese Abwertung augenscheinlich existiert und somit Spannungen zwischen den beiden Beratungsformen bestehen. "Das Hauptproblem ist [diesbezüglich bei klassischen Beratern] der 'Mindset' in Beratungsunternehmen und es ist schwierig zu argumentieren, dass man von diesem 'Psycho-Humbuck' profitieren kann"903, sieht ein klassischer Berater die Abwertung systemischer Berater durch seine Kollegen. Diese Problematik trifft aber genauso auch auf systemische Berater zu, solange diese das, was klassische Berater leisten, als mechanistisch abwerten und dadurch auch zum Vorhandensein dieser Barriere beitragen. Aus dieser abwertenden Haltung heraus ist die Abgrenzung gleichsam der logische nächste Schritt, der allerdings auch aus anderen Gründen durchaus beabsichtigt sein kann. "Es ist [einfach] geschäftsfördernd, wenn man sich abgrenzen kann"904, bringt eine Führungskraft diese mitunter auch positive Komponente auf den Punkt und wird von einem Berater bestätigt, welcher implizit auf den Zusammenhang zwischen Abgrenzung und Image (vgl. Kapitel 7.1.2) hinweist: "Es ist wichtig, sich eindeutig zu definieren. Man sollte nicht alles sein. Das ist auch nicht notwendig."905 "Ein Vermischen der Stärken der klassischen Berater und der systemischen Berater ist [daher aus dieser Perspektive] eher ungünstig, weil ein Beratungsunternehmen für etwas stehen muss"906, wodurch aber eine bewusste Positionierung vorgenommen wird, die ein anderer Klient als problematisch in Bezug auf das voneinander Lernen sieht, so dieses angestrebt würde: "Einige Beratungsunternehmen positionieren sich auch bewusst und stellen dadurch Hindernisse auf"907, die letztlich Spannungen im weiteren Entwicklungsprozess erzeugen. Ein weiterer spannungserzeugender Aspekt, der alle drei genannten Barrieren in sich manifestiert, ist schlussendlich noch die Ignoranz. "Klassische Berater sollen nicht so arrogant sein, die Erkenntnisse des systemischen Ansatzes zu ignorieren"908, 901 902 903 904 905 906 907 908

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 05-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-19 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 33-19 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-22 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 40-10 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 15-16 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 14-13 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 38-18

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Perspektiven für die Beratungsformen

meint etwa ein klassischer Berater selber und zeigt damit auf, dass die Ignoranz die massivste Form eines Hindernisses darstellt, das zwischen den beiden Realtypen bestehen kann, weil die jeweils andere Beratungsform nicht einmal wahrgenommen wird. So diese Ignoranz wirklich vorhanden ist, sorgt sie für intensive Spannungen und erfordert von der klassischen Beratung sowie der systemischen Beratung am meisten Energie, um überwunden werden zu können. Über die bestehenden Barrieren lässt sich zusammenfassen, dass diese insofern Spannungen zwischen den beiden Beratungsformen verursachen, weil sie zwischen diesen bestehen und von diesen überwunden werden müssen, um ein voneinander Lernen im weiteren Entwicklungsprozess zu ermöglichen. 7.1.4 Fehlende Impulse Die fehlenden Impulse bilden den vierten Themenbereich an spannungserzeugenden Aspekte ab, der schließlich die notwendigen Werte umfasst, die in beiden Realtypen vorhanden sein müssten, um sich in diesen mit allen bisher diskutierten Aspekten auseinanderzusetzen und dadurch eine weitere Entwicklung zu einander überhaupt in Gang zu bringen. Ebendiese erfordert eine grundsätzliche Offenheit für andere Perspektiven, auf Basis derer erst ehrliche Wertschätzung entstehen kann, die wiederum ein aufrichtiges Interesse an anderen Sichtweisen ermöglicht und somit die Basis für tatsächliche Lernbereitschaft schafft. Den grundlegenden Impuls für die Auseinandersetzung mit dem jeweils anderen Realtyp bildet die Offenheit, wie etwa ein systemisch orientierter Berater andeutet: "Bei den intelligenten Beratern beider Seiten gibt es keine Hindernisse. Offenheit ist jedoch eine Voraussetzung."909 Er wird diesbezüglich auch von einem weiteren Kollegen unterstützt, der die zentrale Bedeutung der Offenheit für die Entwicklung der klassischen Beratung herausstreicht: "Die Frage [für klassische Berater] ist, ob man vom Inhalt weg will und Offenheit für den [sozialen] Prozess vorhanden ist"910, da nur dann eine Auseinandersetzung mit dem systemischen Wissen erfolgen kann. Umgekehrt attestiert er, dass den "systemischen Beratern der Wiener Schule […] ein wenig der Respekt und die Offenheit gegenüber anderen"911 fehlt, was grundlegend geändert werden muss, wenn ein Lernen von den klassischen Beratern in Zukunft stattfinden soll. Ist Offenheit für die jeweils andere Beratungsform vorhanden, so kann sich zwischen den Beratern in diesen beiden echte Wertschätzung für einander ergeben, welche die nächste Stufe zum voneinander Lernen bildet. "Sich gegenseitig wertzuschätzen

909 910 911

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 86-11 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 96-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 96-05

Perspektiven für die Beratungsformen

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und vom anderen zu wissen ist wertvoll"912, gesteht etwa ein klassischer Berater ein und erfährt für seine Kollegen und sich auch Anerkennung von einem systemisch orientierten Berater, dessen Aussage ebenfalls Wertschätzung widerspiegelt: "Es ist auch eine Leistung der Fachberatung triviale Modelle zu machen."913 "Beide Seiten müssen sich gegenseitig wertschätzen [, um letztlich voneinander lernen zu können,] und jeder muss bereit sein, für den anderen zurückzuziehen"914, damit im Rahmen von gemeinsamen Themenstellungen (vgl. Kapitel 6.4) auch zwischen Beratern aus den beiden Beratungsformen Zusammenarbeit erfolgen kann. Nur auf dieser Basis dieser gegenseitigen Wertschätzung kann schließlich ehrliches Interesse auf beiden Seiten entstehen, das die nächste Stufe darstellt, um sich mit dem jeweils anderen Realtyp eindringlich auseinanderzusetzen. Dieses Interesse gilt es, so wie auch die anderen fehlenden Impulse, sowohl den Beratern und deren Arbeit als auch den theoretischen Fundamenten und den konzeptionellen Elementen in der jeweiligen Beratungsform entgegenzubringen, da ansonsten Lernen unmöglich ist und die aus allen anderen Aspekten resultierenden Spannungen nur zusätzlich verstärkt werden. Sobald Offenheit, Wertschätzung und Interesse vorhanden sind, kann schließlich Lernbereitschaft wachsen, mittels derer wirkliches Lernen voneinander möglich ist. "Beide Seiten müssen [letztlich] eine große Lernbereitschaft mitbringen, weil der andere Ansatz eine andere Welt darstellt", beschreibt eine klassische Beraterin die Implikation und ergänzt: "Dieser Entwicklungsprozess fordert eine große persönliche Reife, um beides wertzuschätzen und zu verstehen."915 Genau das spiegelt auch die Aussage von einem Senior-Partner, der fast 30 Jahre klassische Beratungserfahrung aufweist: "Wir [klassischen Berater] können [von systemischen Beratern] unendlich viel lernen, aber wir können nicht über unseren Schatten springen."916 Obwohl er damit höchste Lernbereitschaft eingesteht, zeigt er doch auch deutliche Grenzen der Entwicklung auf, die sowohl für klassische Berater als auch für systemische Berater dadurch entstehen, dass sie ihre jeweils fundamentalen Ideologie (vgl. Kapitel 7.1.1) sowie das dahinter liegende Beratungsparadigma nicht völlig aufgeben können, was aber das Lernen grundsätzlich nicht verhindert. Zu den fehlenden Impulsen kann abschließend nun festgehalten werden, dass diese vorhanden sein müssen, um eine Auseinandersetzung mit dem jeweils anderen Beratungsformen zu ermöglichen und einen gegenseitigen Lernprozess einzuleiten.

912 913 914 915 916

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 35-18 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 82-14 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 84-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 36-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 41-14

342

Perspektiven für die Beratungsformen

Nur durch das Setzen dieser Impulse können alle anderen spannungserzeugenden Aspekte adressiert und somit abgebaut werden. 7.1.5 Fazit über das Spannungsfeld zwischen den Beratungsformen Entlang der vier diskutierten Themenbereiche zeigt sich eine Fülle von untereinander zusammenhängenden Aspekten, aus denen sich das Spannungsfeld zwischen den Realtypen zusammensetzt. Ausgehend vom Kernthemenbereich der fundamentalen Ideologie, die ihrerseits vom jeweiligen Beratungsparadigma geprägt ist, bauen sich die Spannungen um den Dreischritt der sich selbst verstärkenden Kernaspekte Werte, Haltung und Kultur auf, denen in umgekehrter Reihenfolge wiederum die drei Themenbereiche der differenzierenden Charakteristika, der bestehenden Barrieren sowie der fehlenden Impulse zugerechnet werden können, welche die vorhandenen Kernspannungen verstärken. Alle diese spannungserzeugenden Aspekte, die auch die Beantwortung der ersten Teilfrage der dritten wissenschaftlichen Fragestellung zulassen, gilt es gemeinsam zu reflektieren und nicht isoliert zu betrachten, um eine konstruktive Adressierung des Spannungsfeldes (vgl. Kapitel 7.5.1) sicherzustellen, sodass ein gegenseitiges Lernen ermöglicht und eine weitere Entwicklung realisiert werden kann, wie es in den beiden nachfolgenden Kapiteln skizziert wird.

7.2 Entwicklungspotenziale für die Beratungsformen Infolge der Diskussion über das Spannungsfeld zwischen den Beratungsformen (vgl. Kapitel 7.1) kann nun unter Bezug auf die Reflexionen über die Charakteristika der Beratungsformen (vgl. Kapitel 6.3) auf die bestehenden Entwicklungspotenziale für die klassische Beratung (vgl. Kapitel 7.2.1) und jene für die systemische Beratung (vgl. Kapitel 7.2.2) sinnvoll eingegangen werden. "Was die beiden Beratungsansätze voneinander lernen können [, ist dabei die zentrale Frage, und die Antwort darauf,] hängt von der Lernebene ab. Auf der Methodenebene können beide lernen, wobei die klassische Beratung mehr lernen kann. Auf der Inhaltsebene [wiederum] können ebenfalls beide lernen, wobei hier die systemische Beratung mehr profitieren würde. Auf der Wertebene sind die beiden Ansätze jedoch unvereinbar"917, was aber in der Adressierung des Spannungsfeldes (vgl. Kapitel 7.5.1) noch kritisch beleuchtet werden soll. Die resultierenden Ansatzpunkte, welche die Antworten auf die zweiten Teilfragen der ersten und zweiten wissenschaftlichen Forschungsfrage (vgl. Kapitel 1.4) darstellen, erheben keine Allgemeingültigkeit, sondern sollen ausschließlich als Denkanstöße verstanden werden. Sie sind konsequenter Weise in Zusammenhang mit den Stärke-Schwäche-Profilen der beiden Realtypen zu betrachten und greifen daher auch ineinander, sodass eine überschneidungsfreie Darstellung nicht möglich ist. 917

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 83-13

Perspektiven für die Beratungsformen

343

7.2.1 Entwicklungspotenziale für die klassische Beratung Wie sich bereits aus dem Stärken-Schwächen-Profil der klassischen Beratung, das aus der Reflexion über die Charakteristika der Beratungsformen (vgl. Kapitel 6.3) resultiert, erkennen lässt, kann klassische Beratung vor allem in jenen Aspekten intensiv von systemischer Beratung lernen, die in Zusammenhang mit Umsetzung von Relevanz sind. Da "prozesshafte Projekte", – damit sind Projekte gemeint, in denen es ausschließlich auf den Prozess ankommt – nach der Einschätzung eines systemisch orientierten Beraters mit einem klassischen Hintergrund, "etwa ein Hundertstel918 von allen Beratungsprojekten"919 ausmachen, ist die Anmerkung eines klassischen Beraters über die in Bezug auf die Charakteristika dargestellten Entwicklungspotenziale für die klassische Beratung leicht nachvollziehbar: "Die klassische Beratung kann durch systemische Beratung nicht ersetzt, sondern nur ergänzt werden."920

11., 12.

9., 10.

7., 8.

6.

Kompetenz über soziale Systeme

Unterstützung von verändernden Prozessen

Schwäche

Integration der Betroffenen

Reflexion der Problemstellung

Qualität der Kommunikation

Auftreten der Berater

Umgang mit Komplexität

Implikationen für das Management

Ressourcen der Beratungsunternehmen

Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse

Stärke

Geschwindigkeit der Konzepterarbeitung

Unterstützung durch inhaltliche Beiträge

Beratungsform

Kompetenz über fachliche Themen

Charakteristika

3., 4.

Klassische Beratung 16. Ausprägung

Klassisch

14., 15.

Wechselseitig

13.

5.

1., 2.

Systemisch

Abbildung 7.2: Entwicklungspotenziale für die klassische Beratung

Die aus den Experteninterviews resultierenden Entwicklungspotenziale weisen einen Schwerpunkt in den Charakteristika systemischer Ausprägung auf und werden im Anschluss genauer ausgeführt. 1. Verständnis für soziale Systeme aufbauen Darüber, dass der Aufbau eines grundlegenden Verständnisses für soziale Systeme eines der wichtigsten Entwicklungspotenziale für klassische Berater darstellt und die Basis für den Aufbau der Umsetzungskompetenz bildet, sind sich alle drei Gruppen an InterviewpartnerInnen einig. So kritisiert ein Geschäftsführer, der im Rahmen

918

919 920

Eine Argumentation zur Einschätzung der genannten Größenordung wird im Rahmen der Abgrenzung des Themenfeldes (vgl. Kapitel 1.3) geführt Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 63-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 33-05

344

Perspektiven für die Beratungsformen

eines Beratungsprojektes mit Beratern beider Beratungsformen zusammengearbeitet hat, die klassischen Berater und meint, sie "sind weit weg von systemisch und haben nicht im Ansatz verstanden, was systemisch bedeutet"921, da sie nach wie vor ein inhaltliches Konzept erarbeiten und dafür einen mechanistischen Umsetzungsplan erstellen. Dies kann jedoch nicht funktionieren, weil, wie eine andere Führungskraft bemerkt, "nicht immer alles nur rational bei Entscheidungen"922 zugeht, weshalb es gut wäre, "wenn jeder klassische Berater ein systemisches Verständnis hätte"923, wie es ein Vorstand mit langjähriger Erfahrung als klassischer Berater schließlich auf den Punkt bringt. Den gleichen Standpunkt vertritt auch ein systemischer Berater, indem er meint: "Auch ein klassischer Berater sollte eine Idee haben, wie soziale Systeme funktionieren"924 und wird darin durch einen klassischen Berater unterstützt. "Es würde den klassischen Beratern helfen, ein Verständnis dafür zu haben, dass sie in einem System agieren und darin Wechselwirkungen anstoßen. Dieses systemische Wissen würde klassische Berater zu bewussterem Arbeiten führen", formuliert der Interviewpartner mit psychologischem Hintergrund und meint schließlich: "Jedes klassische Beratungsprojekt würde davon profitieren, wenn systemisches Denken einfließt"925, weil dadurch auch unterschiedliche Konflikte besser verstanden und leichter adressiert werden könnten, was vor allem im Rahmen der Umsetzung relevant und hilfreich ist. Der diesbezügliche Nutzen für die klassische Beratung wird durch die Aussage eines weiteren klassischen Beraters noch einmal bekräftigt: "Systemisches Verständnis würde die mechanistischen Endprodukte der klassischen Beratung [– das sind Bericht, Präsentation, etc. – zwar] nicht ändern, aber die Umsetzung [der inhaltlichen Konzepte definitiv] verbessern."926 2. Bildung einer systemischen Haltung sicherstellen Das bloße Verständnis für soziale Systeme bildet, wie gesagt, nur die Basis für die Weiterentwicklung der klassischen Beratung und verlangt, damit die nachfolgenden Entwicklungspotenziale auch realisiert werden können, unbedingt die Bildung einer systemischen Haltung, weil ansonsten das eintritt, was ein Partner eines klassischen Beratungsunternehmens aufwirft: "Wir tun uns schwer so etwas [wie systemische Wissen] zu integrieren, da wir immer auf die 'bottom line' [, also das Endresultat,] schauen. Außerdem haben wir es ansatzweise schon versucht und es ist gegen die Wand gefahren"927, was auch eine systemische Netzwerkpartnerin bestätigt, indem sie andeutet, ein renommiertes klassisches Beratungsunternehmen "ist an der

921 922 923 924 925 926 927

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 09-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 03-14 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 01-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 68-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 33-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 34-14 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 47-16

Perspektiven für die Beratungsformen

345

Integration von systemischem Wissen bereits gescheitert, aber prinzipiell ist diese Integration vorstellbar"928, wenn man eben die Bildung einer systemischen Haltung sicherstellt. Diese ist vor allem auch für die sinnvolle Anwendung von systemischen Interventionsarchitekturen und die effektive Integration von systemischen Elementen eine unumgängliche Grundvoraussetzung, worüber sich sowohl ein Senior-Partner eines klassischen Beratungsunternehmens – "Es geht nicht primär um das Lernen von Techniken, sondern um den Erwerb einer Haltung."929 – sowie ein systemischer Berater – "Die klassische Beratung kann viele Instrumente übernehmen. Es lässt sich alles anwenden, aber mit der falschen Haltung geht alles in die Hose."930 – einig sind. 3. Auseinandersetzung mit systemischen Interventionsarchitekturen initiieren Sobald ein Verständnis für soziale Systeme vorhanden sowie die Bildung einer systemischen Haltung erfolgt ist, kann mit dem nächsten Entwicklungspotenzial ein erster Schritt in die praktische Anwendung initiiert werden. Dieser erfolgt durch die zielgerichtete Auseinandersetzung mit systemischen Interventionsarchitekturen, die generell für Beratungsprojekte, aber vor allem für Umsetzungsprozesse sehr wertvoll ist und die Gestaltungsmöglichkeiten von klassischen Beratern verbessern würde, wie es ein klassischer Berater selber andeutet: "Es gibt in der klassischen Beratung Leute, die systemisch denken, aber systemische Berater sind viel sensibler für Interventionsarchitekturen"931 und können auf beliebige Prozesse in einem sozialen System folglich besser eingehen. "Klassische Berater müssen den Prozess [daher anstatt als mechanistisches Hilfsmittel] als etwas gesamtes Übergeordnetes sehen", zeigt dazu ein systemischer Berater auf, der auch mehrjährige Erfahrung in der klassischen Beratung besitzt, und ergänzt: "Je nach Umfang ist [in diesem Prozess] mehr oder weniger Fachberatung notwendig."932 Darüber hinaus "müssen klassische Berater lernen, mit halboffenen oder offenen Prozessen umzugehen, und, dass das Stellen von fünf Fragen unter Umständen wichtiger und stärker sein kann, als das Vorbereiten eines langen Dokuments"933, wie ein klassischer Berater meint und damit die Anwendung von Fragetechniken andeutet, wodurch er direkt zur Integration von systemischen Elementen in die klassische Beratung überleitet. 4. Integration von systemischen Elementen forcieren Dass die systemischen Elementen zur Integration (vgl. Kapitel 4) in die klassischen Beratung bereits als Entwicklungspotenzial erkannt wurden, zeigt unter anderem die

928 929 930 931 932 933

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 66-14 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 49-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 64-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 50-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 63-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 51-03

346

Perspektiven für die Beratungsformen

Aussage eines Partners aus einem klassischen Beratungsunternehmen auf: "Wir sind noch etwas einseitig, was unsere […] 'Interventionsskills' sowie unser Methodenspektrum betrifft"934, meint dieser unverblümt und wird diesbezüglich von einer systemischen Beraterin bestätigt: "Die klassische Beratung hat eine enge Palette an Möglichkeiten. Sie braucht daher [in Abhängigkeit vom Auftrag sowie der Situation] Elemente aus der systemischen Beratung und hat dies auch erkannt"935, was letztlich von vielen klassischen Beratern, wie etwa dem Folgenden, eingeräumt wird: "In der Umsetzung könnte man in Abhängigkeit von der Situation stärker systemische Elemente einsetzen."936 Dass erste Anwendungen dieser systemischen Elemente in der klassischen Beratung aber schon stattfinden, zeigt unter anderem die Aussage eines Projektleiters in einem klassischen Beratungsunternehmen auf: "Fragetechniken wie zirkuläres Fragen werden im Rahmen von Tiefeninterviews, in denen die Person, über die gesprochen wird, nicht anwesend ist, teilweise [schon] angewandt, jedoch nicht in Workshops. Es wäre sicher hilfreich diese Techniken zu beherrschen, da dadurch der Raum für menschliche Probleme geöffnet wird, aber mit 'Jungspunden' ist das nicht [oder nur schwer] realisierbar!"937 Damit weist dieser klassische Berater auf die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Integration von systemischen Elementen hin, was unter anderem im Rahmen der vertiefenden Betrachtung dieses Entwicklungspotenzials in den Integrationsoptionen für die klassische Beratung (vgl. Kapitel 9) noch ausführlich diskutiert wird. 5. Aufbau von grundlegender Umsetzungskompetenz unterstützen "Die systemischen Elemente sind [letztlich jedenfalls] erforderlich, um das Papier der klassischen Beratung umzusetzen"938 und stellen damit einen zentralen Bestandteil zum Aufbau von grundlegender Umsetzungskompetenz (vgl. Kapitel 7.4.3.2) dar, die das integrale Entwicklungspotenzial der klassischen Beratung ist. Dass dieses Entwicklungspotenzial besteht, macht ein Klient mit seiner Aussage deutlich und unterstreicht damit, dass die klassischen Berater in diesem Bereich definitiv von ihren systemischen Kollegen lernen können: "Die Umsetzungskompetenz [, die als Gesamtheit von den vier bis dato diskutierten Entwicklungspotenzialen getragen wird,] fehlt derzeit bei der klassischen Beratung."939 Sie kann grundsätzlich erst entstehen, wenn zum einen die ersten vier Entwicklungspotenziale realisiert sind und dieselben zum anderen auch zusammenwirken, woraus der klassischen Beratung letztendlich der Vorteil entsteht, die Umsetzung schon während der Konzeptphase

934 935 936 937 938 939

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 46-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 61-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 39-12 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 32-11 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 96-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-14

Perspektiven für die Beratungsformen

347

gut mitdenken und dadurch auch gezielt vorbereiten zu können. Durch ebendieses Zusammenwirken wird auch erreicht, dass einerseits Wissen besser an die Betroffenen weitergegeben werden kann und andererseits Umsetzungsprozesse in Unternehmen effektiv begleitet werden können, wofür letztlich aber andere Modelle der Studiengestaltung erforderlich sind. "Die Flexibilität, wie wir Studien strukturieren muss noch höher werden", reflektiert ein klassischer Berater diesbezüglich die umfangreichen Auswirkungen für den Aufbau von Umsetzungskompetenz und fährt fort: "Da hat sich zwar schon viel getan, aber das reicht noch nicht."940 6. Einbindung von betroffenen Mitarbeitern verbessern "Klassische Berater machen einen Vorschlag, aber versuchen nicht mit Menschen zu arbeiten", zeigt ein systemisch orientierter Berater dieses Entwicklungspotenzial auf und deutet in seinen weiteren Ausführungen auf die Wichtigkeit desselben für eine erfolgreiche Umsetzung hin: "Systemische Interventionen würden bei klassischer Beratung den Menschen stärker ins Blickfeld bringen"941, dadurch die Integration der Mitarbeiter in Veränderungsprozesse verbessern sowie mehr Glaubwürdigkeit bei den Betroffenen in Richtung Umsetzung erzeugen, sodass letztlich mehr Menschen für die Unterstützung der Veränderung gewonnen werden können. Diese Aspekte werden in erster Linie von unterschiedlichen Führungskräften aufgebracht, die eine Verbesserung der Einbindung von betroffenen Mitarbeitern sowohl in Bezug auf Quantität als auch in puncto Qualität als definitives Entwicklungspotenzial für die klassische Beratung betrachten, was beispielsweise die Aussage eines Klienten zusammenfasst: "Die Integration von Mitarbeitern ist bei der klassischen Beratung sehr unterschiedlich. Teilweise erfolgt sie früh, teilweise gar nicht."942 7. Hinterfragen aus unterschiedlichen Perspektiven intensivieren Für klassische Berater "gilt es [durch das Hinterfragen aus unterschiedlichen Perspektiven] weg von Teilproblem zu kommen und die ganzheitliche Perspektive zu erhalten"943, womit ein Senior-Partner aus einer klassischen Beratungsfirma, der sich selber schon länger und intensiv mit systemischer Beratung auseinandergesetzt hat, ein weiteres Entwicklungspotenzial für alle seine Kollegen aufzeigt. "Systemisches Beratungsverständnis würde [dabei] helfen, da einerseits die Gesamtverfassung von Klientenunternehmen [durch klassische Berater] oft zu wenig berücksichtigt und andererseits auch die Arbeitsweise der Klienten oft zu wenig verstanden wird", führt ein anderer klassischer Berater diesen Aspekt weiter aus, um fortzuführen: "Für den Berater ist es aber wichtig, Unternehmen zu verstehen [, um ihnen sinnvoll helfen zu

940 941 942 943

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 46-10 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 96-10 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 14-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 51-03

348

Perspektiven für die Beratungsformen

können], auch wenn sich Unternehmen selber oft nicht verstehen."944 "Systemisches Denken braucht [außerdem] nicht notwendiger Weise länger, sondern könnte sogar linear angelegte Projekte verkürzen"945, bringt ein systemisch orientierter Berater den Vorteil dieses Entwicklungspotenzials auf den Punkt und wird darin letztlich durch die Aussage einer Führungskraft bestätigt: "Man sollte die Gründe des interviewten Klienten mehr hinterfragen und nicht zu schnell auf beliebige Daten und Zahlen schießen."946 Es gilt folglich nicht nur alle inhaltlichen Aspekte zu berücksichtigen und damit die 'harten' Themen zu adressieren, sondern diese auch aus den unterschiedlichen Perspektiven aller Betroffenen sowie aufgrund deren Handelns zu hinterfragen und damit letztlich auch die 'weichen' Themen zur Lösung des Problems ausreichend in Betracht zu ziehen, sodass eine umfangreiche Gesamtperspektive entstehen kann. 8. Berücksichtigung von 'weichen' Themen forcieren Wie bereits angedeutet gilt es in der klassischen Beratung die Berücksichtigung der 'weichen' Themen zu forcieren und dadurch auch die Betroffenen sowie deren Emotionen mehr in den Mittelpunkt zu stellen. "Wir machen uns über emotionale und soziale Aspekte [zwar] mehr Gedanken als am Papier sichtbar ist", reflektiert ein Projektleiter eines klassischen Beratungsunternehmens, "es fehlt uns aber die Zeit, die Qualifikation und die Bereitschaft. In dieser Dimension könnten wir konkret besser werden, könnten aber trotzdem nicht so wie ein systemischer Berater an die Sache herangehen."947 Diese Meinung trägt auch ein Partner aus dem gleichen Beratungsunternehmen mit, der kritisiert: "Wir investieren in 'harte' Themen, haben aber noch nicht die richtigen 'Skills' [, die durch die anderen bereits diskutierten Entwicklungspotenziale aufgebaut werden könnten], 'weiche' Themen anzugehen."948 "Änderungen der Unternehmenskultur sind", wie dies ein systemisch orientierter Berater präzisiert, "im reinen Fachberatungsansatz schwierig. Soziale Phänomene sind und müssen im Fachberatungsansatz [durch eine Weiterentwicklung jedoch] adressierbar sein"949, weshalb eine systemische Beraterin dann auch konkretisiert: "Der klassische Berater braucht [letztlich] ein Radar um herauszufinden, wann es um kulturellen Wandel geht. Dieser [soziale] Prozess muss begleitet werden, damit die Organisation umlernt"950, was von klassischer Beratung nur dann geleistet werden kann, wenn die 'weichen' Themen auch ausreichend berücksichtigt werden.

944 945 946 947 948 949 950

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 33-14 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 85-19 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 03-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 34-21 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 52-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 82-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 61-10

Perspektiven für die Beratungsformen

349

9. Verbesserung von individueller Kommunikationsfähigkeit sicherstellen Ein entscheidender Punkt zur Forcierung der 'weichen' Themen aber ebenso zum Hinterfragen aus unterschiedlichen Perspektiven sowie zur Anwendung systemischer Elemente ist die Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit des einzelnen Beraters. "Wir sind noch etwas einseitig, was unsere Moderationsfähigkeiten […] betrifft"951, reißt ein klassischer Berater dieses Entwicklungspotenzial an, das auch für Themen wie etwa Konfliktmanagement eine nachhaltig positive Auswirkung hätte. Es geht letztendlich darum auf Fähigkeiten wie aktives Zuhören Wert zu legen und insgesamt von der mechanistischen 'Sender-Empfänger-Auffassung' wegzukommen, die oft ein einseitiges Abladen von Information bedingt und das bewirkt, was ein Senior-Partner ungeschminkt bekennt: "Wir verlieren teilweise den Klienten oder machen ihn durch Kommunikation tot."952 Infolgedessen ist es notwendig zur Einsicht zu gelangen: "Kommunikation ist ein systemischer Prozess"953, wie es ein klassischer Berater formuliert, und vor diesem Hintergrund die eigenen Fähigkeiten selbstkritisch zu reflektieren und gezielt zu verbessern. 10. Verbesserung von relevanten Kommunikationsprozessen forcieren Genauso wie von allen Seiten Einigkeit darüber herrscht, dass die individuellen Kommunikationsfähigkeiten klassischer Berater zu verbessern sind, besteht auch ein gemeinsames Bewusstsein, dass dies nicht ausreichend ist und die Verbesserung von relevanten Kommunikationsprozessen ebenfalls notwendig ist. Dies betrifft nicht so sehr die internen Kommunikationsprozesse unter den einzelnen Beratern selber als vielmehr die externen Kommunikationsprozesse der Berater zu den Klienten im Rahmen der Beratungsprojekte. Dabei lassen sich wiederum die Kommunikation mit dem beauftragenden Klienten sowie jene mit den betroffenen Klienten unterscheiden, wobei die letztgenannte für die Verbesserung der Einbindung der Mitarbeiter von Bedeutung ist. Für beide Kommunikationswege gilt es die jeweiligen Klienten nicht nur mit schriftlichen Unterlagen nicht zu überladen, sondern durch die Erarbeitung von entsprechenden Kommunikationskonzepten auch ein ausgewogenes Verhältnis zur mündlichen Kommunikation zu bewirken. 11. Verbesserung von individueller Sozialkompetenz anstreben In engem Zusammenhang mit den beiden Entwicklungspotenzialen im Bereich der Kommunikation steht die gezielte Verbesserung der individuellen Sozialkompetenz von klassischen Beratern als jene wichtige Teilkompetenz (vgl. Kapitel 7.4.3.1), die vor allem auch für die Einbindung der betroffenen Mitarbeiter eine entscheidende Grundvoraussetzung darstellt. Denn nur wenn es einem Berater gelingt, Sensibilität

951 952 953

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 46-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 43-01 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 48-09

350

Perspektiven für die Beratungsformen

und Empathie für sein Gegenüber zu entwickeln, und man dadurch in der Lage ist, dem jeweiligen Menschen zuzuhören und auf diesen einzugehen, ist es möglich, dem Betroffenen das Gefühl zu geben, gehört sowie integriert zu werden, und dadurch das Vertrauen der Person zu gewinnen sowie diese zur Zusammenarbeit zu motivieren. Dass die Verbesserung ebendieser Fähigkeiten, welche die individuelle Sozialkompetenz prägen, bei den klassischen Beratern ein Entwicklungspotenzial bilden, wird nicht nur von diesen selber offen eingeräumt, sondern sowohl von den Führungskräften als auch den systemischen Beratern wahrgenommen. 12. Respekt gegenüber jedem Klienten aufbringen Vorwiegend von den systemischen Beratern wird als weiteres Entwicklungspotenzial für die klassische Beratung das Aufbringen von Respekt gegenüber jedem Klienten genannt, womit in diesem Fall sowohl die einzelnen Personen als auch das gesamte System gemeint ist. Dies impliziert, dass nicht nur keine abfälligen Bemerkungen über den Klienten geäußert werden, sondern dessen Leistungen auch wertschätzend anerkannt werden und diesem Vertrauen demonstrativ entgegengebracht wird. Mit diesem Auftreten kann ein klassischer Berater die Autonomie des Klientensystems respektieren und "lernen, dass er nicht selber alles besser wissen muss, sondern dass der Kunde oft mehr weiß, als man glaubt"954, wie ein systemisch orientierter Berater seinen mittelbaren Branchenkollegen zu bedenken gibt. 13. Fähigkeiten für unterschiedliche Reflexionsansprüche aufbauen Ein umfassendes Entwicklungspotenzial für klassische Berater stellt der Aufbau der Fähigkeiten für unterschiedliche Reflexionsansprüche dar, die in mehreren anderen Entwicklungspotenzialen zu tragen kommen. Erstens gilt es Reflexion dahingehend zu beherrschen, dass man sich im Rahmen der Betrachtung der Themenstellung als externer Berater eine umfassende Gesamtperspektive der gegenwärtigen Situation konstruieren kann. Zweitens ist Reflexion dazu notwendig, damit man als Berater unterschiedliche Interventionen in das Klientensystem, die im Zuge der Beratung erfolgen, analysieren kann, um sich die Auswirkungen des eigenen Handelns auf das Klientensystem einerseits bewusst machen zu können und die Auseinandersetzung mit Verhaltensänderungen desselben andererseits ermöglichen zu können. Dazu lässt sich auch das Nachdenken darüber zählen, welche Wirkung die verwendete Sprache auf die Betroffenen hat sowie die Fähigkeit, sich als Berater an die in der Organisation verwendete Sprache anzupassen. Drittens ist Reflexion in Form von Selbstreflexion schließlich für jeden Berater von Bedeutung, um herauszufinden, wie es einem selber in einer gewissen Situation geht und wie man mit derselben zurechtkommt.

954

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 94-09

Perspektiven für die Beratungsformen

351

14. Komplexität in situationsspezifischen Fällen zulassen Das Entwicklungspotenzial des Zulassens der Komplexität in situationsspezifischen Fällen wurde bereits in der Diskussion um zwei andere Entwicklungspotenziale – erstens beim Hinterfragen aus unterschiedlichen Perspektiven und zweitens bei der Auseinandersetzung mit systemischen Interventionsarchitekturen – angedeutet, was in Summe mit der Aussage eines klassischen Beraters zusammengefasst werden kann: "Klassische Berater stehen vor zwei Herausforderungen: Zum einen gilt es weg von Teilproblem zu kommen und die ganzheitliche Perspektive zu erhalten. Zum anderen müssen klassische Berater lernen, mit halboffenen oder offenen Prozessen umzugehen und dass das Stellen von 5 Frage unter Umständen wichtiger und stärker sein kann, als das Vorbereiten eines langen Dokuments."955 Für beide Herausforderungen gilt es Komplexität bewusst und gezielt sowie im notwendigen Rahmen zuzulassen und nicht vorschnell auf lineare Kausalitäten zu schließen. Viel eher ist es jedoch auch notwendig durch vernetztes Denken sicherzustellen, dass die Wechselwirkungen, welche infolge einer Veränderung im Unternehmen innerhalb und außerhalb desselben entstehen, und damit der Gesamtzusammenhang, der zwischen einzelnen Aspekten der Themenstellung direkt oder indirekt besteht, erkannt, thematisiert und verstanden werden, wozu eine Entschleunigung mitunter hilfreich sein kann. Darüber hinaus ist das Zulassen von Komplexität auch noch dahingehend wichtig, um sich nicht auf ein Konzept zu fixieren, sondern mehrere Lösungsansätze für eine Problemstellung zulassen und vertreten zu können. 15. Umgang mit unterschiedlichen Unsicherheiten verbessern Das Zulassen von situationsspezifischer Komplexität bedingt aber auch, dass für klassische Berater "ein großes Rollenspektrum erforderlich ist. Das heißt, dass ein Umlernen auf das Zulassen von Unsicherheiten wichtig ist. Der klassische Berater muss also seine Position verlassen und alternative Deutungen zulassen", merkt ein systemischer Berater, der auch viele Ausbildungsprogramme für klassische Berater durchführt, an und weist weiter darauf hin: "Fakten sprechen [schließlich] erst, wenn man ihnen eine Bedeutung gibt."956 Dieses Entwicklungspotenzial des Umgangs mit unterschiedlichen Unsicherheiten erfordert, dass klassische Berater ihren Anspruch, auf alle Fragen eine Antwort zu haben, reduzieren, um auch von der eigenen Agenda loslassen zu können und damit dafür offen zu sein, was der Klient benötigt. Dies bedingt wiederum, dass, wie es ein klassischer Berater stellvertretend für seine Kollegen formuliert, "wir uns allerdings von unseren Schaubildern entfernen sowie die Kontrolle aus der Hand geben", um im Nachsatz anzuschließen: "Und das

955 956

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 51-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 92-11

352

Perspektiven für die Beratungsformen

machen wir nicht gerne"957, was letztendlich unterstreicht, wie wichtig für klassische Berater die Bildung einer systemischen Haltung ist. 16. Verantwortung beim jeweiligen Klienten belassen Als letztes Entwicklungspotenzial, das die geführte Diskussion abrundet, ist für die klassische Beratung die Belassung der Verantwortung beim jeweiligen Klienten zu nennen. Hierbei geht es darum, weder der einzelnen Person noch der gesamten Organisation Entscheidungen abzunehmen und von diesen als Instrument verwendet zu werden, sondern dem Klienten bewusst zu machen, dass er und ausschließlich er die alleinige Verantwortung für sein Handeln trägt. 7.2.2 Entwicklungspotenziale für die systemische Beratung Als Konsequenz der im Vergleich zur klassischen Beratung diametralen Ausprägung des Stärken-Schwächen-Profils der systemischen Beratung, das ebenfalls aus der Reflexion über die Charakteristika der Beratungsformen (vgl. Kapitel 6.3) abgeleitet wurde, lässt sich der Schwerpunkt der Entwicklungspotenziale für die systemische Beratung rund um den Bereich der Konzepterarbeitung lokalisieren. Diese hängen, so wie jene der klassischen Beratung, stark untereinander zusammen und werden zuerst in Bezug auf die identifizierten Schwächen in den Charakteristika klassischer sowie wechselseitiger Prägung dargestellt, ehe sie näher erläutert werden.

1., 2., 3., 4.

5., 6., 7., 8. 11., 12., 13.

Kompetenz über soziale Systeme

Schwäche

Unterstützung von verändernden Prozessen

Integration der Betroffenen

Reflexion der Problemstellung

Qualität der Kommunikation

Auftreten der Berater

Umgang mit Komplexität

Implikationen für das Management

Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse

Ressourcen der Beratungsunternehmen

Stärke

Geschwindigkeit der Konzepterarbeitung

Unterstützung durch inhaltliche Beiträge

Beratungsform

Kompetenz über fachliche Themen

Charakteristika

18.

Systemische Beratung 9. Ausprägung

10.

14., 15., 16.

Klassisch

17.

19.

Wechselseitig

Systemisch

Abbildung 7.3: Entwicklungspotenziale für die systemische Beratung

1. Öffnung zum fachlichen Wissen forcieren Als ersts Entwicklungspotenzial der systemischen Beratung ist die grundsätzliche Öffnung zum fachlichen Wissen zu nennen, welche den ersten großen Schritt vom Dogmatismus zum Pragmatismus bedeutet, der vor allem von Klienten gewünscht

957

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 48-10

Perspektiven für die Beratungsformen

353

wird. So meint eine Führungskraft: "In systemischen Beratungsprojekten kann man [– die Öffnung zum fachlichen Wissen vorausgesetzt –] Fachkompetenz zukaufen", und fordert: "Systemiker dürfen fachliche Aufgabenstellungen nicht verweigern."958 Der Prozess zur Wertschätzung dieses Fachwissens hat zwar, wie in der Diskussion um die Evolution der systemischen Beratung (vgl. Kapitel 6.2.2) bereits angedeutet, schon eingesetzt, muss aber noch deutlich forciert werden, was letztlich durch das Nachkommen einer jüngeren Generation an systemischen Beratern begünstigt wird, wie es einer deren Vertreter selbst sieht: "Die alten systemischen Berater mussten sich immer abgrenzen, aber die jungen systemischen Berater können vor der systemischen Hintergrundfolie immer auf das zugreifen, was gerade notwendig ist."959 2. Aufbau von fachlichem Grundverständnis sicherstellen Ist die Öffnung zum fachlichen Wissen vollzogen, so kann im nächsten Schritt der Aufbau von fachlichem Grundverständnis für wirtschaftliche, industriespezifische sowie funktionsspezifische Belange erfolgen. Auf dieses Entwicklungspotenzial wird unter anderem von einem Berater mit systemischem Hintergrundwissen deutlich hingewiesen: "Prozessorientierung alleine ist zu wenig. Man muss auch vom Geschäftsfeld etwas verstehen, aber man muss das Geschäft nicht selber bestreiten können."960 "Grundsätzlich lässt sich jedoch sagen", wird eine Netzwerkpartnerin einer systemischen Beratung noch deutlicher, "dass ein systemischer Berater, der keine Bilanz lesen kann, eine Katastrophe ist"961, was auch von Klienten nicht anders gesehen wird. "Manche systemischen Berater sind zu weit weg vom Business. Für diese ist Inhalt erforderlich und würde helfen, deren Akzeptanz zu fördern"962, meint ein Personalchef, dessen Meinung durch den konkreten Vorschlag eines Kollegen aus einem anderen Unternehmen untermauert wird: "Die systemische Beratung sollte lernen, sich mit Erklärungsmodellen auseinanderzusetzen, und versuchen, etwas wirklich zu verstehen."963 3. Anwendung der relevanten Fachsprache anstreben Aus dem Aufbau des fachlichen Grundverständnisses ergibt sich wiederum das Lernen des fachspezifischen Vokabulars, welches die Anwendung der relevanten Fachsprache erlaubt und damit ein weiteres Entwicklungspotenzial für systemische Berater darstellt. Alleine schon aus dem grundlegenden Verstehen der Fachsprache ergibt sich für systemische Berater der Vorteil, die jeweilige Problemstellung auch

958 959 960 961 962 963

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 17-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 70-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 85-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 66-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 10-07 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 05-10

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fachlich durchdringen zu können, was durch die bewusste Anwendung ebendieser Fachsprache den weiteren Vorteil einbringt, die inhaltliche Anschlussfähigkeit an den Klienten zu erhöhen und dadurch auch die generelle Akzeptanz bei demselben zu steigern. 4. Integration von fachlichem Wissen initiieren Als viertes Entwicklungspotenzial, welches im Bereich der Kompetenz über fachliche Themen gleichermaßen von Klienten sowie von systemischen Beratern angeführt wird, lässt sich die Integration von fachlichem Wissen in die systemische Beratung nennen. Dieses Entwicklungspotenzial geht über den bereits diskutierten Aufbau von fachlichem Grundverständnis insofern hinaus, als es auf die Zuschreibung an einen systemischen Berater als fachspezifischen Diskussionspartner durch den jeweiligen Klienten abzielt. "Wenn ein systemischer Berater alleine arbeitet, dann ist [für diesen] inhaltliches Wissen notwendig"964, deutet ein systemisch orientierter Berater mit fachlichem Hintergrundwissen diese Integration vage an, die von einer systemischen Netzwerkpartnerin explizit gefordert wird: "Die systemischen Berater müssen auch eine Fachausbildung haben, aber es fragt sich, in welchem Bereich."965 Die Folgen, die entstehen können, falls diese Forderung nicht erfüllt wird, bringt wiederum ein klassischer Berater auf den Punkt, indem er formuliert: "Das inhaltliche Nichtwissen der systemischen Berater birgt die Gefahr, dass der Klient ein gutes Gefühl bei der Lösung hat und sagt, dass diese toll ist, der systemische Berater dieselbe aber nicht überprüfen bzw. einschätzen kann."966 Legt man ebendiesen Anspruch schließlich auf systemische Beratungsunternehmen um, dann würden es Klienten ebenso begrüßen, wenn die systemischen Berater unter anderem auch Benchmark-Daten in die Beratungsarbeit einbringen könnten und schlagen damit die Brücke zum Wissensmanagement, welches in einem eigenen Entwicklungspotenzial adressiert wird. 5. Mehrwert durch inhaltliche Beiträge anerkennen Den zweiten großen Schritt vom Dogmatismus zum Pragmatismus stellt nach der Öffnung zum fachlichen Wissen die Anerkennung des Mehrwerts durch inhaltliche Beiträge dar, die oft durch das Einbringen der Inhalte von außen als mechanistisch abgetan werden. So kritisiert eine Klientin etwa: "Systemische Berater vertreten das Systemische [teilweise] so intensiv, dass Schmerzen entstehen, wenn inhaltliche Arbeit erforderlich ist"967, und wird durch die Forderung eines Geschäftsführers darin bestärkt: "Systemische Berater sollten nicht nur auf den Prozess schauen, sondern

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Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 84-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 66-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 49-10 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 11-15

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auch mehr auf Inhalte und dafür Experten hinzuziehen."968 An ebendiese Sichtweise schließen sich vor ihrem Hintergrund natürlich auch klassische Berater an, von denen einer, der selber schon mehrere Projekte mit systemischen Beratern abgewickelt hat, hinterfragt: "Es stellt sich die Frage, ob man mit systemischer Beratung alleine etwas weiterbringt. Wenn nicht, dann sind Inhalte erforderlich"969, wovon ein weiterer klassischer Beraterkollege überzeugt ist: "Ganz ohne Inhalt geht's auch nicht."970 Massive Unterstützung kommt diesbezüglich von einer Reihe systemisch orientierter Berater, von denen einer sehr deutliche Worte findet: "Viele systemische Berater glauben [oft] sich um Inhalte nicht kümmern zu müssen. Das ist aber ein Irrtum."971 An diesen knüpft ein Kollege an und eröffnet die Diskussion über die Abgrenzung mancher systemischen Beraten durch das Paradigma: "Wenn ein systemischer Berater behauptet, dass mechanistisch [im Sinne des Einbringens von inhaltlichen Beiträgen von außen] 'pfui' ist, dann ist das ein Fehler und er hat die systemischen Wurzeln nicht ganz verstanden. Organisationen brauchen einfach gewisse Rahmenbedingungen, um handlungsfähig zu sein."972 Noch einen Schritt weiter in den Bezug auf die Abgrenzung der Dogmatiker geht schließlich ein dritter systemisch orientierter Berater, der offen zu bedenken gibt: "Es ist ein überzogener Anspruch, dass systemische Berater nur systemisch agieren, da sie [infolge des bestehenden Bildungssystems] alle deterministisch geprägt sind"973, was in letzter Konsequenz die Forderung eines weiteren Beraters mit systemischem Hintergrund nach sich zieht: "Die systemische Beratung muss [aufgrund ihres Wissens um das Vorhandensein des mechanistischen Paradigmas sowie auch des systemischen Paradigmas] die Paradigmen vereinigen"974 und sich für inhaltliche Beiträge öffnen. 6. Standpunkt zu inhaltlichen Fragen beziehen Der nächste Schritt des bis hier skizzierten Prozesses vom Dogmatismus zum Pragmatismus ist, nicht nur Experten hinzuzuziehen, weil man den Mehrwert von inhaltlichen Beiträgen anerkennt, sondern auch als systemischer Berater einen Standpunkt zu inhaltlichen Fragen einzunehmen und diesen einzubringen, was unter anderem ein Berater mit klassischem sowie systemischem Hintergrund fordert: "Systemische Berater müssen auch Inhalte machen und eine Fachmeinung haben, weil sich das System nicht von selbst einpendelt."975 Diese Sichtweise unterstützt letztlich auch ein anderer systemisch orientierter Berater, welcher in Bezug darauf

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Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 09-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 49-10 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 46-02 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 68-06 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 91-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 88-12 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 90-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 87-12

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schlussfolgert: "Systemiker müssen [einfach] lernen, dass und wo inhaltlicher Input notwendig ist, und nicht alles mit Coaching-Methoden gemacht werden kann"976, mit denen gewisse Inhalte gezielt hinterfragt werden, ohne als Berater selber eine Meinung zu äußern. Diesen Mehrwert erkennt ein Klient zwar auch an: "Die systemische Beratung kann [und soll] durchaus Inhalte hinterfragen", reklamiert in Folge jedoch das Entwicklungspotenzial, indem er fortsetzt, "aber sie sollte gewisse Kundenwünsche respektieren"977 und selber inhaltliche Beiträge liefern. 7. Adaption von klassischen Elementen forcieren Damit systemische Berater tatsächlich selber inhaltliche Beiträge liefern können, Bedarf es auch der Adaption von klassischen Elementen auf eine systemische Arbeitsweise. "Es geht darum Tools mit impliziten Algorithmen bzw. impliziten Kausalverbindungen zu verknüpfen"978, greift ein langjähriger systemischer Berater dieses Entwicklungspotenzial auf, das vor allem aus seiner Zunft genannt wird, und deutet damit an, dass systemische Berater klassische Elemente genauso wenig direkt übernehmen können, wie umgekehrt klassische Berater systemische Element. Es geht für systemische Berater vor dem Hintergrund der Öffnung zum fachlichen Wissen sowie der Anerkennung des Mehrwertes von inhaltlichen Beiträgen darum, klassische Methoden und Instrumente wirklich zu verstehen, dieselben kritisch zu reflektieren, auf deren sinnvolle Anwendung hin eingehend zu überprüfen und sie gegebenenfalls auch für die eigene Arbeitsweise anzupassen, bevor es zu einem tatsächlichen Einsatz kommt. 8. Berücksichtigung von 'harten' Themen sicherstellen Von Seiten der Klienten wird an die systemische Beratung auch explizit der Wunsch herangetragen, im Rahmen der grundlegenden situationsspezifischen Analyse sowie der weiterfolgenden inhaltlichen Beiträge Zahlen, Daten und Fakten zu beachten, und damit die Berücksichtigung von 'harten' Themen sicherzustellen. Das bedeutet, dass systemische Berater etwa in der Lage sein sollen, wirtschaftliche Kennzahlen zu diskutieren oder quantitative Parameter zu analysieren. 9. Aufbau von grundlegender Konzeptkompetenz unterstützen Die bis dato diskutierten Entwicklungspotenziale bilden die Basis zum Aufbau von grundlegender Konzeptkompetenz (vgl. Kapitel 7.4.3.2), welche für die systemische Beratung das Pendant zur Umsetzungskompetenz der klassischen Beratung ist. Dieses integrale Entwicklungspotenzial für die systemische Beratung besteht darin, das konsistente Zusammenwirken der acht bisher genannten Entwicklungspotenziale

976 977 978

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 84-05 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 20-14 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 67-18

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sicherzustellen, und kann damit überhaupt erst adressiert werden, wenn dieselben realisiert sind. Systemische Berater erlangen dadurch das Wissen und die Fähigkeit einen fachlichen Ansprechpartner für den Klienten abgeben zu können und dadurch gemeinsam mit diesem inhaltliche Konzepte erarbeiten zu können. 10. Erarbeitungsprozess durch gezielten Druck beschleunigen Ein weiteres Entwicklungspotenzial für die systemische Beratung besteht darin, die Sichtweise zu lockern, dass die Geschwindigkeit der Veränderung im Allgemeinen sowie die Geschwindigkeit der Konzepterarbeitung im Speziellen ausschließlich vom sozialen System selber bestimmt werden. Sicherlich ist auch für das Festlegen der letzteren das soziale System eine maßgebende Determinante, es soll jedoch nicht übersehen werden, dass eine Beschleunigung des Erarbeitungsprozesses durch gezielten Druck von außen möglich ist und dies auch Vorteile für das soziale System bewirken kann. Ebendieses Entwicklungspotenzial unterstützt etwa ein systemisch orientierter Berater, indem er auf die bereits des Öfteren als notwendig angeführte Entwicklung vom Dogmatismus zum Pragmatismus zurückgreift: "Man kann in der systemischen Beratung die Dogmatiker von den Pragmatikern unterscheiden. Als Pragmatiker kann ich in ein System mechanistisch eingreifen [, dadurch etwa Druck aufbauen oder auch Inhalte einbringen] und damit trotzdem systemisch agieren, wenn diese Vorgehensweise systemverträglich ist."979 11. Ergebnisorientierung in begleiteten Projekten anstreben Im Rahmen der Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse wird von der systemischen Beratung mitunter eingefordert, eine Ergebnisorientierung in begleiteten Projekten anzustreben, worauf ein klassischer Berater wie folgt hinweist: "Ein Ansatz, der rein auf Veränderungen bezogen ist, hat Tücken, wenn es keine realen und bewertbaren Ergebnisse gibt"980, weil am Ende jeder Beratungsleistung verständlicher Weise die Frage auftaucht, was sich im Vergleich zu davor geändert hat und welcher Mehrwert dadurch entstanden ist. Die Antwort darauf lässt sich definitiv leichter finden, wenn von Beginn an ein, wenn auch flexibel gehaltenes Ziel konkretisiert und dieses im Laufe des Projektes konsequent verfolgt wird. Darüber hinaus würde systemischen Beratern durch eine bewusste Ergebnisorientierung an den übergeordneten Zielen der Organisation auch ein Vorteil für die eigene Arbeitsweise entstehen, auf den ein anderer klassischer Berater aufmerksam macht: "Systemische Berater betrachten Geschäftsziele zu wenig. Wenn sie diesen mehr Augenmerk schenken würden, dann würde das die Interventionsdesigns verbessern."981

979 980 981

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 83-09 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 38-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 50-05

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12. Strukturierung der begleiteten Projekte forcieren Um die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse zu verbessern wird von systemischen Beratern selber eingebracht, die Strukturierung der begleiteten Projekte zu forcieren, was jedoch nicht mit dem Schaffen der grundlegenden Strukturen für die inhaltliche Arbeit des Klientensystems zu verwechseln ist, welche ja von systemischer Beratung definitiv geschaffen werden. Gemeint ist vielmehr ein Bewusstsein dafür, dass es spezifische Situationen gibt, in denen man als externer Berater dem Klienten durch eine systematische Herangehensweise sowie stringentes Denken eine sinnvolle Hilfestellung leisten kann und dadurch eine zweckdienliche Strukturierung für die effiziente Adressierung einer vorliegenden Fragestellung vornimmt. 13. Kommunizierbarkeit der erarbeiteten Ergebnisse sicherstellen Als drittes Entwicklungspotenzial in Bezug auf die Nachvollziehbarkeit, das durch die Ergebnisorientierung sowie die Strukturierung der begleiteten Projekte begünstigt wird, lässt sich die Kommunizierbarkeit der erarbeiteten Ergebnisse festhalten, die durch eine klare und deutliche Darstellung derselben unterstützt werden kann. Mittels dieser wird letztlich auch eine Transparenz über den Entstehungsprozess der Ergebnisse gewährleistet sowie eine Erfolgskontrolle über die Beratungsleistung ermöglicht. 14. Entwicklung von systemischem 'Beratungsnachwuchs' forcieren Gerade weil systemische Berater für ihre ureigene Beratungsarbeit entsprechende Seniorität besitzen müssen, die ihnen auch als vorteilhaft angerechnet wird, können sie nicht, so wie ihre klassischen Kollegen, auf die große Anzahl an jungen Universitätsabsolventen zurückgreifen, sodass der Kreis an potenziellen Kandidaten deutlich kleiner ist. Gerade deshalb besteht die Notwendigkeit, die Entwicklung von systemischem 'Beratungsnachwuchs' zu forcieren, um so das eigene Bestehen und Wachsen mittels einer neuen und jungen Generation an systemischen Beratern sicherzustellen. Die notwendigen Grundlagen dafür sind durch die systemischen Schulungen zwar definitiv vorhanden, ändern jedoch nichts daran, dass systemische Beratungsunternehmen nach wie vor primär von einigen wenigen, sehr erfahrenen Persönlichkeiten getragen werden und eine eher geringe Zahl an jungen potenziellen Nachfolgern vorhanden ist, woraus sich ein Entwicklungspotenzial ableiten lässt. 15. Wissensmanagement über abgeschlossene Projekte etablieren Das in der Diskussion um die Entwicklung von systemischem 'Beratungsnachwuchs' angesprochene Faktum der anhaltenden Dominanz von senioren Persönlichkeiten wirkt sich auch auf das Wissensmanagement über abgeschlossene Projekte aus, das von zahlreichen systemischen Beratern als Entwicklungspotenzial genannt wird. Selbiges besteht darin, dass die genannten Integrationsfiguren meist Dreh- und Angelpunkt eines primär auf verbaler Kommunikation beruhenden Wissenstransfers

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sind, der von eher rudimentären Ablagesystemen ungenügend unterstützt wird, und kein formalisiertes Wissensmanagement mit schriftlichen Detailunterlagen vorhanden ist. Zwar existiert von unterschiedlichen systemischen Beratungsunternehmen eine Reihe von Publikationen, die in Zeitschriften- oder Buchform öffentlich zugänglich sind, aber in den Unternehmen selber gibt es meist stark ausbaufähige Strukturen, die für eine effiziente Gestaltung der Wissensaufbereitung, der Datenbeschaffung sowie des Informationsaustausches unter den systemischen Beratern unzureichend sind. Zu diesem Entwicklungspotenzial kann unter anderem auch der in Rahmen der Diskussion um die Öffnung zum inhaltlichen Wissen angedeutete Auf- und Ausbau von Benchmark-Datenbanken gezählt werden. 16. Differenzierungsmerkmale der klassischen Beratung adaptieren Ein Entwicklungspotenzial, für welches systemische Berater in Bezug auf zukünftiges Wachstum unterschiedliche Aspekte andenken sollten, lässt sich unter Adaption von Differenzierungsmerkmalen der klassischen Beratung subsumieren, die sich letztlich im Beratungshonorar widerspiegeln, wie ein Senior-Partner aus einem klassischen Beratungsunternehmen reflektiert: "Systemische Berater haben einen niedrigeren Tagessatz als klassische Berater. Keiner hat es geschafft, sich so zu etablieren, wie die klassische Beratung."982 Die zur Realisierung dieses Wachstums notwendigen Aspekte beginnen bei der Anpassung der systemischen Organisationsstrukturen, erstrecken sich über den Aufbau von internationalen Netzwerken mit einerseits systemischen Beratungsunternehmen sowie andererseits klientenspezifischen Entscheidungsträgern und enden schließlich bei der Etablierung eines renommierten Markennamens. 17. Perspektive des beauftragenden Managements einnehmen Die Perspektive des beauftragenden Managements einzunehmen, ist ein Aspekt, der zwar in vielen der diskutierten Entwicklungspotenziale implizit mitschwingt, aber aufgrund seiner Relevanz explizit formuliert werden soll. So berücksichtigt zwar gerade ein systemischer Berater die unterschiedlichsten Perspektiven, um ein ganzheitliches Bild der Situation zu erhalten, aber "manche systemischen Berater sind [eben] zu weit weg vom Business"983, wie eine Führungskraft kritisiert, und gehen daher auf die wirtschaftlich relevanten Belange des Topmanagements zu wenig ein, weil ihnen meist auch der entsprechende Hintergrund dazu fehlt. Es ist daher vor allem unter Berücksichtigung des fachlichen Wissens, der inhaltlichen Beiträge sowie der 'harten' Themen auch ein sehr bewusstes Einnehmen der Topmanagement-Perspektive sicherzustellen, um dadurch letzten Endes auch die inhaltlich-sachliche Anschlussfähigkeit an den Auftraggeber zu gewährleisten.

982 983

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 37-03 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 10-07

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18. Komplexität bei situationsspezifischem Bedarf reduzieren In puncto des Umganges mit Komplexität, der systemischen Beratern tendenziell als Vorteil zugerechnet wird, lässt sich insofern ein Entwicklungspotenzial erkennen, dass es Situationen gibt, in denen das grundsätzliche 'Öffnen' einer breiten Komplexität nicht sinnvoll ist, sondern den Klienten lediglich unnötig verunsichert. So meint beispielsweise ein Klient: "Man kann einen Kunden nicht nur verunsichern, wie das systemische Berater oft machen, sondern man muss ihm [, dem Kunden,] auch, so wie klassische Berater, die Sicherheit geben, dass die Hütte nicht abbrennt!"984 Aus diesem Grund bekennt ein systemischer Berater unter anderem, "Manchmal ist [einfach] Linearität angesagt"985, und bestätigt damit, dass es auch für systemische Berater möglich sein muss, Komplexität bei situationsspezifischem Bedarf mitunter schon von Beginn an zu reduzieren. 19. Respekt durch bestimmtes Auftreten verschaffen Zu guter Letzt gibt es zum Auftreten der systemischen Berater aus Klientensicht noch eine Anmerkung zu machen. Nicht nur dass von Führungskräften, wie schon zuvor erwähnt, an systemische Berater der Wunsch herantragen wird, die Rolle als inhaltlicher Ansprechpartner verkörpern zu können, sondern es wird darüber hinaus von systemische Berater auch gefordert, bei Gelegenheit energisch zu sein und nicht immer nur einen 'Gutmensch', wie dies ein Klient bezeichnet, zu mimen, um sich so zusätzlichen Respekt durch bestimmtes Auftreten zu verschaffen. 7.2.3 Fazit über die Entwicklungspotenziale für die Beratungsformen "Es wird für beide Spezialisten", wie schon in der Diskussion um die Positionierung integrierter Beratung als Kombination der Realtypen (vgl. Kapitel 6.5.2) angedeutet wurde und ein klassischer Berater noch einmal bekräftigt, "eine Existenzberechtigung geben, aber es wird für die klassischen Berater notwendig, systemisches Wissen zu integrieren"986, genauso wie es für systemische Berater erforderlich ist, klassisches Wissen zu adaptieren, um dadurch zumindest die Zusammenarbeit von Vertretern der beiden Beratungsformen zu ermöglichen. "Die Entwicklung ist [jedoch] davon abhängig, wie wandlungsfähig die Beratungsunternehmen selber sind und ob sie bereit sind, ihre Sichtweise zu erweitern."987 Dazu ist es sowohl für klassische Berater als auch für systemische Berater notwendig, sich vor dem Hintergrund des Spannungsfeldes zwischen den Beratungsformen (vgl. Kapitel 7.1) mit den für die jeweilige Realtypen skizzierten Entwicklungspotenzialen, die letztlich als Anregungen verstanden werden soll, auseinanderzusetzen und ebendiese je nach Bedarf und

984 985 986 987

Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 20-19 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 62-08 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 32-04 Vgl. ExpertInneninterviews, Aussage 85-22

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Möglichkeit in die Tat umzusetzen. Dies erfordert wiederum ein Bewusstsein dafür, dass die hier aufgezeigten Entwicklungspotenziale jeweils ein umfangreiches Bündel an konkreten Ansatzpunkten widerspiegeln, welche großteils ineinander greifen und folglich in den meisten Fällen nicht einzeln realisierbar sind, sondern umfassende Anstrengungen erfordern.

7.3 Realisierungsoptionen für die Beratungsformen Um die aufgezeigten Entwicklungspotenziale für die Beratungsformen (vgl. Kapitel 7.2) auch tatsächlich umzusetzen und somit voneinander lernen zu können, bedarf es neben dem Umgang mit dem Spannungsfeld zwischen den Beratungsformen (vgl. Kapitel 7.1) natürlich auch konkreter Realisierungsoptionen für die beiden Realtypen. Diese Realisierungsoptionen, die im Unterschied zu den Entwicklungspotenzialen nicht die Frage nach dem 'Was', sondern jene nach dem 'Wie' die beiden Realtypen letztlich voneinander lernen und sich gegenseitig verbessern können, adressieren, konkretisieren den Blick in die Zukunft und können entlang von sieben Kategorien wie folgt zusammengefasst werden.

Klassische Beratung

Systemische Beratung

Aufbau von Mechanismen, um Selbstreflexion der Berater sowie Fremdreflexion mit Klienten zu gewährleisten

Reflexionsmechansimen

Ausbau von vorhandenen Lernteams und bestehenden Reflexionsgruppen, um Weiterentwicklung zu unterstützen

Bildung von Kooperationen mit systemischen Beratern, um Teams zu ergänzen sowie Berater zu entwickeln

Entwicklungskooperationen

Ausbau von Experten-Netzwerken und Aufbau von Beratungs-Kooperationen, um Fachexpertise zu erhalten

Einführung systemischer Ausbildung, um Berater zu sensibilisieren und diesen systemische Elemente zu vermitteln

Ausbildungsprogramme

Teilnahme an fachspezifischen Ausbildungen, um fachliches Grundverständnis und inhaltliches Wissen zu erwerben

Bildung einer internen Gruppe von Experten und Coaches, um systemische Kompetenzen zu verankern

Expertenaufbau

Einstellung von klassischen Beratern und/oder industriespezifischen Experten, um Fachkompetenz zu verankern

Erhöhung der Wertigkeit von Sozialkompetenz bei Rekrutierung, um nur reflektierte Persönlichkeiten einzustellen

Rekrutierungsphilosophie

Formulierung einer Rekrutierungsphilosophie, um erfahrene Persönlichkeiten zu adressieren und zu gewinnen

Überarbeitung der Beurteilungskriterien, um nur Berater mit Grundmaß integrierter Beratungskompetenz zu befödern

Beurteilungsprozesse

Etablierung von Strukturen, um gegenseitiges Feedback innerhalb eines Beratungsunternehmens zu gewährleisten

Steigerung der Flexibilität sowie Anpassung der Honorarstruktur, um die Begleitung von Umsetzung zu ermöglichen

Geschäftsmodell

Weiterentwicklung der Netzwerkstrukturen und Aufbau von Infrastrukturen, um Wachstum zu ermöglichen

Abbildung 7.4: Realisierungsoptionen für die Beratungsformen

Entlang dieser sieben Kategorien s