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German Pages 575 [584] Year 2008
Martin Keller Konfliktklärung als didaktische Herausforderung
VS RESEARCH
Martin Keller
Konfliktklärung als didaktische Herausforderung Subjektive Handlungskonzepte zur Bewältigung von Konfliktsituationen
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Dieter Euler
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die vorliegende Arbeit wurde von der Universität St. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechtsund Sozialwissenschaften (HSG) im Frühjahrssemester 2008 auf Antrag von Prof. Dr. Dieter Euler und Prof. Dr. Roman Capaul als Dissertation angenommen und mit der Note ,summa cum laude‘ ausgezeichnet.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Christina M. Brian / Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16234-8
Geleitwort
In nahezu allen beruflichen Handlungsfeldern zählt die Klärung und Lösung von Konflikten zu einer der zentralen Anforderungen. Vor diesem Hintergrund ist es nahezu zwangsläufig, dass Konfliktfähigkeit auch in der Wirtschaftspraxis eingefordert und beispielsweise von Stellenbewerbern als eine zentrale Handlungskompetenz erwartet wird. Konfliktfähigkeit erscheint als etwas Selbstverständliches, sie offenbart sich bei genauem Hinsehen jedoch als etwas Unverständliches, das zwar häufig zitiert, aber nur selten theoretisch geklärt und präzisiert wird. Der Begriff wird mit höchst unterschiedlichen Bedeutungsgehalten versehen, und auch vermeintliche Konkretisierungen bieten häufig keine Antworten, sondern werfen neue Fragen auf. Angesichts der Unbestimmtheit des Begriffs verwundert es dann auch nicht, dass Konzepte zur didaktischen Entwicklung von Konfliktfähigkeit gleichermassen unbestimmt und unklar bleiben. An dieser Stelle setzt die Untersuchung von Martin Keller an. Als Ausgangspunkt wählt er jedoch nicht die nahe liegende Fragestellung nach der Präzisierung von Konfliktfähigkeit als Lernziel für pädagogische Interventionen, sondern er formuliert als sein Erkenntnisinteresse die Frage, mit welchen vorgängigen Vorstellungen, Einstellungen und Fertigkeiten Lernende in Lehrveranstaltungen eintreten, die eine Förderung ihrer Konfliktfähigkeit anstreben. Inwieweit verfügen die Lernenden vor Beginn der Lehrveranstaltung bereits über entsprechende Konfliktklärungsstrategien, an die angeknüpft werden kann? In welcher Beziehung stehen die Subjektiven Theorien der Lernenden über Konfliktklärung zu relevanten wissenschaftlichen Theorien in diesem Bereich? Welche Konsequenzen ergeben sich für das didaktische Handeln der Lehrenden? Mit diesen Perspektiven greift der Verfasser das in der Didaktik ebenso verbreitete wie vernachlässigte Postulat auf, nach dem didaktische Interventionen an den Lernvoraussetzungen der Lernenden anknüpfen sollen. Zugleich ergeben sich für den Forschungsprozess einige zentrale methodologische Probleme, deren Bewältigung die Klärung von zentralen Fragen erfordert, so unter anderem: Wie können Subjektive Theorien zur Konfliktklärung angemessen rekonstruiert werden? Wie können die fallbezogenen Aussagen über einzelne Lernende nachvollziehbar in fallübergreifende Aussagen überführt werden? Die skizzierten Fragen zeigen, dass die Untersuchung sowohl unter praktischen als auch unter wissenschaftlichen Kriterien an vielen Stellen Neuland betritt. Dem Leser wird schnell deutlich, dass eine praktisch bedeutsame und aktuelle Fragestellung wissenschaftlich anspruchsvoll, herausfordernd und innovativ untersucht wird. Umberto Eco wählte einmal das eindrückliche Bild, nach dem jede gelungene wissenschaftliche Arbeit einem Zwerg gleiche, der auf die Schulter eines Riesen steige und dessen Grösse nochmals leicht erhöhen könne. Martin Keller ist es gelungen, auf die Schultern zu steigen und dort eine neue Höhe zu erreichen. Für den Leser ist es dabei gleichermassen interessant, eine verständliche und differenzierte Beschreibung über die Statur des Riesen – d. h. den bestehenden Erkenntnisstand zu dem Thema – zu erhalten und auf dieser Grundlage das Delta an Erkenntniszuwachs einzuordnen. Bei der theoretischen Fundierung seiner
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Geleitwort
Untersuchung stützt sich Martin Keller wesentlich auf die Entwicklungen, die innerhalb einer am Institut für Wirtschaftspädagogik der Universität St. Gallen verankerten Forschungsgruppe unter seiner Mitwirkung entstanden sind. 'Konfliktklärung' wird von ihm verstanden als die Kompetenz zur Klärung von Konflikten auf einer mittleren Eskalationsstufe zwischen zwei Konfliktparteien durch eine nicht konfliktbeteiligte Drittperson. Im Ergebnis zeigt die Untersuchung unter anderem, dass Lernende mit einem beträchtlichen Vorwissen in die Lehrveranstaltungen eintreten, wobei eine beachtliche Heterogenität im Umfang der bestehenden kognitiven Konzepte vorhanden ist. Ferner wird deutlich, dass einige für die Konfliktklärung zentrale Phasen und Aktivitäten sehr schwach ausgeprägt sind. Es konnte nachgewiesen werden, dass spezifische kritische Ereignisse bei einer grossen Zahl der Befragten relevant sind, andere hingegen nur vereinzelt angesprochen werden. Interessant ist zudem der Befund, dass sich der Umfang der Subjektiven Theorien zur Konfliktklärung zwischen weiblichen und männlichen Studierenden nicht signifikant unterscheidet, d. h. die Anzahl inhaltlicher Konzepte zu Konfliktklärungsstrategien ist unabhängig vom Geschlecht. Diese nur exemplarisch aufgenommenen Befunde machen bereits die Relevanz für die praktische Gestaltung entsprechender Lehrveranstaltungen deutlich. So ist es beispielsweise für die didaktische Planung bedeutsam, dass bestimmte Elemente bzw. Prozessphasen von den Befragten hochgradig vernachlässigt bzw. ignoriert werden; hier lohnte dann die vertiefende Fokussierung in entsprechenden Lehrveranstaltungen. Martin Keller widmet der Frage nach den didaktischen Implikationen ebenfalls einen breiten Raum und diskutiert mögliche Handlungskonsequenzen, wobei er stets darauf achtet, nicht in einen verkürzenden Pragmatismus zu verfallen. Mit dieser Publikation liegt eine Untersuchung vor, die in idealer Weise wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt und praktische Handlungsrelevanz miteinander verbindet. Bildungsverantwortliche auf allen Bildungsstufen, die aus einem vagen Schlagwort eine folgenreiche didaktische Konzeption entwickeln wollen, finden in der Schrift wertvolle Erkenntnisse und Anregungen.
St. Gallen, 12. Juni 2008
Dieter Euler
Vorwort
Es wird immer gleich ein wenig anders, wenn man es ausspricht. Hermann Hesse
Kommunikation ist das, was menschliche Systeme zusammenhält. Wenn sich zwischenmenschliche Beziehungen jedoch in einer Sackgasse befinden, Annäherung als Bedrängung, Abgrenzung als Entfremdung, Gemeinsames als trennend erlebt wird und die Anstrengungen der Betroffenen zur Veränderung dieser scheinbar ausweglosen Situation alles nur noch zu verschlimmern drohen, ist die Selbsterhaltung des Systems gefährdet. Eine aussenstehende Drittperson kann Unterstützung bieten, um gerissene Fäden wieder zusammenzuknüpfen oder neue einzuflechten. Diese Skizzierung formuliert das Thema der vorliegenden Arbeit. Im Fokus stehen jedoch nicht geschulte und erfahrene Mediatoren oder Konfliktklärer, sondern Studierende. Auch sie haben, basierend auf ihren individuellen Erfahrungsräumen, Subjektive Theorien darüber entwickelt, wie diese vermittelnde Rolle auszugestalten sei. Ungeachtet jeweiliger Vermittlungsstrategien darf die gegenseitige Aussprache zwischen den Betroffenen als grundsätzlicher Leitgedanke für eine Veränderung gelten. Mit Blick auf dieses Postulat habe ich das obige Zitat gewählt. Es gibt noch einen zweiten Grund, weshalb ich dieses Zitat von Hesse ausgesucht habe. Seine Aussage hat mich in den letzten Jahren bei der Erstellung dieser Arbeit intensiv begleitet. Durch das Aussprechen von Verirrungen und temporären Blockaden wurde die Situation immer gleich ein wenig anders. Dasselbe gilt natürlich auch für Zwischenerfolge – auch diese wollten jemandem mitgeteilt werden. Beides setzt voraus, dass Menschen da sind, die gewillt sind, (aktiv) zuzuhören. Das Verfassen einer Dissertation ist nicht nur ein wichtiger und wertvoller selbst gesteuerter Lernprozess, sondern beruht zugleich auf ermöglichenden Gelingensbedingungen, welche ausserhalb der Person des Autors zu verorten sind. Damit meine ich in erster Linie all jene Menschen, welche zum Gelingen dieser Arbeit auf ihre persönliche Art und Weise beigetragen haben. Ihnen möchte ich an dieser Stelle danken. Besonders möchte ich mich bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Dieter Euler für seine stets zielführende Begleitung bedanken. Er gab mir nicht nur wichtige Anregungen im Rahmen der Zusammenarbeit am Institut für Wirtschaftspädagogik der Universität St. Gallen, sondern gewährte mir auch einen Gestaltungsfreiraum, um das eigene Forschungsvorhaben umzusetzen. Sein Vertrauen und die mir gewährte Möglichkeit, bei Bedarf jederzeit Unterstützung zu bekommen, weiss ich nicht nur in Bezug auf diese Arbeit sehr zu schätzen. Meinem Korreferenten Prof. Dr. Roman Capaul gebührt in besonderem Masse Dank. Durch seine konstruktiven, kritischen und zugleich motivierenden Rückmeldungen unterstützte er das Voranschreiten des Forschungsprozesses wirkungsvoll. Seine persönliche, zwischenmenschlich wertvolle und sachliche Begleitung dieser Arbeit sowie die darüber
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Vorwort
hinausgehende Ausgestaltung der Zusammenarbeit am Institut für Wirtschaftspädagogik erachte ich nicht als selbstverständlich. Zu grossem Dank bin ich auch Dr. Christoph Thomann verpflichtet. Als mein Lehrer ermöglichte er mir nicht nur das Erlernen einer umfassenden und theoretisch fundierten Konfliktklärungsstrategie, sondern er fungierte auch als inspirierender Gesprächspartner und Experte im Rahmen von zahlreichen Gesprächen und eines ausführlichen Experteninterviews. Weiter seien auch die Arbeitskolleginnen und -kollegen des Instituts erwähnt. Ihnen danke ich für das mir entgegengebrachte Verständnis in besonders zeitintensiven Forschungsphasen und für den anregenden Gedankenaustausch. Insbesondere möchte ich mich bei Yolanda Martínez Zaugg und Jasmina Hasanbegovic für das kritische Argumentieren und gemeinsame Reflektieren bedanken. Ganz besonders bedanke ich mich auch bei den Studierenden, die sich bereit erklärt haben, an den Rekonstruktionsinterviews teilzunehmen, sich auf einen Prozess der Selbstklärung einzulassen, und die trotz aufreibenden und anstrengenden Gesprächsphasen den Prozess nicht abgebrochen haben. Das Bewältigen der grossen Fülle von sprachlichen Daten verdanke ich meinem Lektor Andreas Ritter. Ihm möchte ich herzlich für die äusserst sorgfältige und wertvolle Durchsicht des Manuskripts danken. Ein herzliches Dankeschön geht auch an meine Freunde, die meine 'asozialen' Zustände mit Geduld und Akzeptanz ertragen haben. Sie haben es geschafft, mich zu ermutigen und mich auch mit nicht dissertationsbezogenen Themen zu erfreuen, ohne mich von meiner Arbeit und meinen Zielen abzulenken. Mein grösster Dank gilt aber meinen Eltern und meiner Partnerin Andrea Schamaun. Es fällt mir an dieser Stelle schwer, die angemessenen Worte zu finden, ohne die Kürze eines Vorwortes übermässig zu strapazieren. Ihre Art der Unterstützung und Anteilnahme an meiner Person und meiner Arbeit waren schlicht grandios! Ich danke Euch von Herzen.
St. Gallen, 26. April 2008
Martin Keller
Zusammenfassung
Ausgehend von der Annahme einer subjektseitigen Verankerung von Konfliktklärungsstrategien als subjektive Handlungskonzepte, hat sich diese Studie zum Ziel gesetzt, eine Analyse der Handlungspotenziale von Studierenden der Universität St. Gallen durchzuführen und den diesbezüglichen Handlungs- und Förderbedarf zu eruieren. Es sollen differenzierte Aussagen darüber gewonnen werden, wie der Lernende sein Handeln deutet und für sich selbst beschreibt, erklärt und prognostiziert. Gleichzeitig will die vorliegende Arbeit im Bewusstsein der methodisch-methodologischen Schwierigkeiten hinsichtlich der Rekonstruktion und Auswertung subjektiver Handlungskonzepte Möglichkeiten aufzeigen, wie mittels anschlussfähiger, modifizierter Verfahren den in der Forschungsliteratur diskutierten Problemfeldern begegnet werden kann. Die Untersuchung verlangte zunächst nach einer theoretischen Fundierung zentraler Konzepte: Als Bezugspunkt zur inhaltlichen, funktionalen und strukturellen Diagnose der Handlungspotenziale führt die Arbeit in das Konstrukt der Subjektiven Theorien ein. Des Weiteren wird eine Antwort darauf gegeben, was unter dem Begriff der 'Konfliktklärungskompetenz' im Rahmen von Situationstypen verstanden werden soll. Die inhaltlich präzisierende Aufarbeitung des Situationstyps 'Konfliktklärung' bildet zusammen mit den abgeleiteten Handlungsanforderungen die Zielgrösse für die Planung und Durchführung der Kompetenzdiagnose bei den Studierenden. Ausgehend von dem Stand der Forschung über 'Subjektive Konfliktklärungstheorien' sowie dem explizierten Gegenstandsvorverständnis, werden sodann im Hinblick auf die Rekonstruktion Subjektiver Theorien die Potenziale und Grenzen einer innensichtfundierten Methodik im Vergleich zu einer aussensichtfundierten Herangehensweise diskutiert und beurteilt. Basierend auf dieser Auseinandersetzung werden Ziel- und Realisierungsvorstellungen zur konstruktiven Bewältigung der Zugangsproblematik abgeleitet und anhand von theoretischen, methodologischen und gegenstandsspezifischen Gelingensbedingungen präzisiert. Die empirische Untersuchung dokumentiert zunächst drei ausgewählte Fallbeispiele in maximaler Detaillierung. Neben dieser idiographischen Fokussierung zeigen die Ergebnisse aus einer nomothetischen Perspektive ein Gesamtbild bezüglich der subjektiv-theoretischen Rekonstruktionen des Situationstyps bei allen Untersuchungsteilnehmern. Darauf aufbauend wird eine einzelfallübergreifende 'interindividuelle Konfliktklärungstheorie' modelliert, welche als repräsentatives Handlungspotenzial der Zielgruppe gelten kann. Der Schlussteil formuliert, basierend auf den forschungsspezifischen Überlegungen sowie den Ergebnissen der empirischen Untersuchung, konkrete Handlungsempfehlungen für die Gestaltung von integrierten Diagnose- und Förderaktivitäten bezüglich der Konfliktklärungskompetenz. Durch die Kontrastierung der interindividuellen Konfliktklärungstheorie mit der wissenschaftlichen Modellierung werden zudem konkrete inhaltliche Fördervorschläge für Studierende der Universität St. Gallen präsentiert. Die Diskussion von weiterführenden Forschungsfragen schliesst die Arbeit ab.
Abstract
Based on the assumption that conflict clarification strategies are grounded in subjective behavioural concepts, this study set itself the goal to carry out an analysis of behavioural potentials of students at the University of St. Gallen and to determine the needs for improvement and facilitation in this respect. It aims at formulating differentiated conclusions as to how students interpret their behaviour and how they describe, explain and forecast it. Taking into account the methodical-methodological difficulties regarding the reconstruction and evaluation of subjective behavioural concepts, this present work also attempts to show possibilities of coming to terms with problem zones frequently discussed in research literature by means of linkable, modified procedures. The research called for an initial theoretical foundation of essential concepts: As a point of reference for the content-related, functional and structural diagnosis of behavioural potentials, this study gives an introduction into the construct of Subjective Theories. Furthermore the term of 'Conflict Clarification Competence' in the context of types of situations has been defined. A detailed enquiry into the situational type of 'Conflict Clarification' along with the concomitant requirements for facilitation, form the target value for setting up and implementing competence diagnosis among students. Taking the present state of research on 'Subjective Conflict Clarification Theories' as well as the explicit preconception of the topic as starting points, the potentials and limits of an inside-view-based method in comparison with an outside-view-based approach are discussed and assessed with regard to the reconstruction of Subjective Theories. Following this discourse, conceptions of targets and implementation as to the constructive handling of the problem of access are derived and worked out in detail on the basis of favourable theoretical, methodological and subject-matter-specific conditions. The empirical part of this study starts by documenting three selected case studies in full detail. Apart from this idiographic focus, the results gained from a nomothetical perspective present an overall view in respect of the subjective-theoretical reconstruction of the situational type for all research participants. Derived from this, an 'interindividual Conflict Clarification Theory' can be generated, which constitutes a representative view of the behavioural potential of the target group ranging beyond the individual case. Based on the research-specific considerations and the findings of the empirical study, the concluding chapter formulates concrete suggestions for the configuration of integrated diagnosis and facilitation programmes regarding Conflict Clarification Competence. The juxtaposition of interindividual Conflict Clarification Theories and the scientific findings serves to present concrete suggestions for facilitation for students of the University of St. Gallen. The discussion of further topics for future research concludes this study.
Inhaltsübersicht
Geleitwort
..................................................................................................................................................5
Vorwort
..................................................................................................................................................7
Zusammenfassung..........................................................................................................................................9 Abstract
................................................................................................................................................10
Teil I
Einleitung.......................................................................................................................21
1
Ausgangslage ..........................................................................................................................21
2
Erkenntnisinteresse und Zielsetzungen der Arbeit ....................................................................27
3
Aufbau der Arbeit ....................................................................................................................30
Teil II
Explikation des Gegenstandsbereichs ...........................................................................33
4
Sozialkompetenzen im Rahmen von Situationstypen ................................................................33
5
Subjektive Theorien als Bezugspunkt der Lernvoraussetzungen................................................55
6
Menschenbild als anthropologische Kernannahmen ................................................................81
7
Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung' .....................................................................89
Teil III
Forschungsstrategie ....................................................................................................151
8
Forschungsrahmen.................................................................................................................151
9
Theoretisch-methodologische Perspektive..............................................................................161
10
Methodische Perspektive........................................................................................................191
11
Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview .........................................205
12
Gütekriterien ..........................................................................................................................258
13
Strategie der Datenauswertung..............................................................................................269
14
Zusammenfassung .................................................................................................................282
Teil IV
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung ................................285
15
Durchführung der Untersuchung............................................................................................285
16
Vorbereitende Schritte für die Datenanalyse...........................................................................294
17
Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele......................................312
18
Zentrale Elemente der individuellen subjektiven Konfliktklärungstheorien..............................364
19
Modellierung einer interindividuellen Konfliktklärungstheorie................................................409
Teil V
Schlussbetrachtung .....................................................................................................443
20
Ausgangspunkte, theoretische und methodologische Fundierung..........................................443
12
Inhaltsübersicht
21
Zusammenfassung und Diskussion der Hauptergebnisse....................................................... 447
22
Mögliche Anwendungen der Erkenntnisse............................................................................. 457
23
Forschungsdesiderata............................................................................................................ 466
Teil VI
Anhang ........................................................................................................................ 471
1
Übersicht über die geführten Interviews................................................................................ 471
2
Voruntersuchung................................................................................................................... 473
3
Forschungsinstrumentarium .................................................................................................. 477
4
Datenaufbereitung und -auswertung .................................................................................... 494
Abbildungsverzeichnis ............................................................................................................................... 547 Tabellenverzeichnis.................................................................................................................................... 551 Abkürzungsverzeichnis............................................................................................................................... 553 Literaturverzeichnis.................................................................................................................................... 555
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort
..................................................................................................................................................5
Vorwort
..................................................................................................................................................7
Zusammenfassung..........................................................................................................................................9 Abstract
................................................................................................................................................10
Teil I
Einleitung.......................................................................................................................21
1
Ausgangslage ..........................................................................................................................21
2
Erkenntnisinteresse und Zielsetzungen der Arbeit ....................................................................27
3
Aufbau der Arbeit ....................................................................................................................30
Teil II
Explikation des Gegenstandsbereichs ...........................................................................33
4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4
Sozialkompetenzen im Rahmen von Situationstypen ................................................................33 Zum Begriff der Sozialkompetenz .............................................................................................33 Einleitende Bemerkungen zum Kompetenzbegriff ....................................................................33 Begriffsdefinition der Sozialkompetenz ....................................................................................36 Ausrichtung der Kompetenz .....................................................................................................36 Prozessgestaltung des Umgangs mit anderen Menschen .........................................................37 Inhalte der zielgerichteten Interaktion......................................................................................37 Situativer Bezug .......................................................................................................................38 Zum Wesen des Situationstyps: das Situationstypenmodell ......................................................41 Sozialkompetenzen als mehrdimensionales Konstrukt..............................................................49 Wissen .....................................................................................................................................50 Fertigkeiten..............................................................................................................................50 Einstellungen ...........................................................................................................................50 Vom Praxisausschnitt zu den Lernzielen ...................................................................................51
5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3
Subjektive Theorien als Bezugspunkt der Lernvoraussetzungen................................................55 Einleitende Klärungen und Vorstrukturierung...........................................................................55 Wissen und Kognition ..............................................................................................................56 Handeln – Verhalten – Tun ......................................................................................................58 Handeln und Wissen – eine systemische Perspektive ...............................................................60 Zwischenfazit ...........................................................................................................................63 Das Forschungsprogramm 'Subjektive Theorien' ......................................................................64 Zum Begriff der Subjektiven Theorie.........................................................................................66 Eingrenzung des Kognitionsbegriffs .........................................................................................67 Verbindung und Abgrenzung zwischen subjektiven und wissenschaftlichen Theorien...................................................................................................................................69
14
Inhaltsverzeichnis
5.2.4 5.2.5 5.2.6 5.2.7
Geltungsbereiche Subjektiver Theorien.....................................................................................76 Forschungsarbeiten zu Subjektiven Theorien ............................................................................78 Abgrenzung gegenüber der engen Begriffsbestimmung Subjektiver Theorien ..........................79 Zwischenfazit ...........................................................................................................................80
6 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.3
Menschenbild als anthropologische Kernannahmen ................................................................81 Ausgangslage...........................................................................................................................81 Kernannahmen.........................................................................................................................83 Reflexivität und kognitive Konstruktivität .................................................................................83 Rationalität ..............................................................................................................................84 Emotionalität............................................................................................................................85 Artikulationsfähigkeit ...............................................................................................................86 Zusammenfassende Schlussbemerkungen ................................................................................87
7 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5 7.1.6 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5 7.2.6 7.2.7 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4
Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'......................................................................89 Zuschnitt des Situationstyps .....................................................................................................90 Zeitlich-räumliche Perspektive ..................................................................................................90 Konfliktausmass .......................................................................................................................92 Ziel- und Rollenperspektive ......................................................................................................92 Interaktionistische Perspektive .................................................................................................93 Normative Perspektive..............................................................................................................93 Festlegung des Zuschnitts ........................................................................................................94 Beschreibung des Situationstyps ..............................................................................................95 Ausgangspunkte ......................................................................................................................95 Anvisierte Zielsetzungen........................................................................................................ 103 Antezedensbedingungen....................................................................................................... 104 Soziale Aufgaben und Rollenerwartungen der Akteure ......................................................... 111 Typische Phasen .................................................................................................................... 121 Potenziell kritische Ereignisse................................................................................................ 136 Wertausrichtung.................................................................................................................... 142 Handlungsanforderungen...................................................................................................... 144 Wissen .................................................................................................................................. 144 Fertigkeiten ........................................................................................................................... 145 Einstellungen ........................................................................................................................ 146 Zusammenfassung ................................................................................................................ 147
Teil III
Forschungsstrategie .................................................................................................... 151
8 8.1 8.2
Forschungsrahmen................................................................................................................ 151 Forschungsfragen.................................................................................................................. 154 Bestimmung der Untersuchungseinheiten ............................................................................. 157
9 9.1 9.2 9.2.1 9.2.2
Theoretisch-methodologische Perspektive ............................................................................. 161 Gegenstands-Methodik-Interdependenz................................................................................ 161 Abgrenzungsüberlegungen zu einer aussensichtfundierten Methodik ................................... 162 Die Experimentalmethodik .................................................................................................... 162 Das Konzept der schriftlichen Befragung............................................................................... 166
Inhaltsverzeichnis
15
9.2.3 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.4 9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.4.5
Zwischenfazit .........................................................................................................................171 Zugangsproblematik einer innensichtfundierten Methodik.....................................................171 Die Untersuchungen von Nisbett und Wilson .........................................................................172 Ableitung erster Ziel- und Realisierungsvorstellungen ............................................................178 Zwischenfazit .........................................................................................................................183 Orientierung an den zentralen Prinzipien qualitativer Forschung ...........................................184 Forschung als Kommunikation ...............................................................................................185 Reflexivität .............................................................................................................................186 Offenheit................................................................................................................................186 Strukturierung und Authentizität............................................................................................191 Explikation .............................................................................................................................191
10 10.1 10.2 10.3 10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.4
Methodische Perspektive........................................................................................................191 Katalog der Anforderungen an ein qualitativ-mündliches Befragungsverfahren.....................192 Grenzen eines qualitativ-mündlichen Befragungsverfahrens ..................................................194 Kriteriengeleitete Abgrenzungs- und Integrationsüberlegungen ............................................196 Narratives Interview ...............................................................................................................197 Ero-episches Gespräch ...........................................................................................................200 Episodische Interviewverfahren ..............................................................................................202 Leitfadeninterviews ................................................................................................................203 Zwischenfazit .........................................................................................................................205
11 11.1 11.2 11.2.1 11.2.2 11.3 11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.4
Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview .........................................205 Die Problemzentrierung als Grundlage ...................................................................................207 Rollenverständnisse ...............................................................................................................207 Die Rolle des Forschers ..........................................................................................................207 Die Rolle des Beforschten.......................................................................................................208 Kommunikationsstil und dessen Funktionen ..........................................................................208 Verständigungsgenerierende Funktion ...................................................................................209 Erzählgenerierende Funktion..................................................................................................211 Stabilitätsgenerierende Funktion............................................................................................212 Die gleichberechtigt argumentative Forschungskommunikation als Rahmenkonzeption zur Ausgestaltung der Gesprächssituation ..............................................212 Annäherung an eine ideale Interviewsituation .......................................................................213 Die 'ideale Interviewsituation' als kontrafaktisches Konstrukt?...............................................214 Rahmenmodell zur Begründung von Interventionsformen und Instrumenten .........................215 Zielebene I: Aktualisieren .......................................................................................................218 Zielebene II: Artikulieren und Visualisieren.............................................................................219 Zielebene III: Paritätische Kommunikationsgestaltung ...........................................................220 Zielebene IV: Argumentatives Auseinandersetzen ..................................................................222 Zielebene V: Argumentative Übereinkunft ..............................................................................224 Interventionsformen...............................................................................................................226 Präzisierungsfragen................................................................................................................226 Zentriertes Zusammenfassen ..................................................................................................227 Hypothesenungerichtete Fragen.............................................................................................227
11.4.1 11.4.2 11.5 11.5.1 11.5.2 11.5.3 11.5.4 11.5.5 11.6 11.6.1 11.6.2 11.6.3
16
Inhaltsverzeichnis
11.6.4 11.6.5 11.6.6 11.6.7 11.6.8 11.7 11.7.1 11.7.2 11.7.3 11.7.4 11.8 11.8.1 11.8.2 11.8.3 11.8.4 11.8.5 11.8.6 11.8.7 11.8.8 11.9
Hypothesengerichtete Fragen................................................................................................ 228 Konfrontierende Fragen ........................................................................................................ 229 Erzählaufforderung................................................................................................................ 230 Fallbeispiele als Verbalisierungshilfen ................................................................................... 230 Metakommunikative Intervention.......................................................................................... 231 Instrumentarium.................................................................................................................... 231 Interviewinstruktion .............................................................................................................. 231 Interviewleitfaden ................................................................................................................. 233 Erweiterte Flussdiagramm-Darstellung (FDD) als Strukturlegeverfahren ................................ 236 Sitzungsaufzeichnung und Postskriptum ............................................................................... 243 Kommunikative Validierung der subjektiv-theoretischen Rekonstruktionen ........................... 243 Interpretatives Verstehen ...................................................................................................... 244 Intersubjektives Verstehen..................................................................................................... 246 Die Konsenstheorie als Bezugsrahmen zur Bestimmung der Validität.................................... 248 Der Konsens als Produkt einer persuasiven Übereinkunft ...................................................... 248 Die vier Klassen von Geltungsansprüchen ............................................................................. 250 Realisierungsadäquanz als Validitätsanspruch?..................................................................... 253 Kohärenz als Validitätsanspruch? .......................................................................................... 254 Verzerrung der Validität durch Überformung der Subjektiven Theorien?................................ 255 Zusammenfassung ................................................................................................................ 255
12 12.1 12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.2 12.2.1 12.2.2 12.3 12.4
Gütekriterien ......................................................................................................................... 258 Validität ................................................................................................................................ 260 Glaubwürdigkeit.................................................................................................................... 260 Geltungsbegründung ............................................................................................................ 262 Wahrheitsgehalt.................................................................................................................... 264 Reliabilität............................................................................................................................. 264 Genauigkeit der Messung...................................................................................................... 265 Konstanz der Messbedingungen ........................................................................................... 265 Dokumentation ..................................................................................................................... 266 Triangulation......................................................................................................................... 267
13 13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6
Strategie der Datenauswertung............................................................................................. 269 Übersicht über die Auswertungsstrategie .............................................................................. 273 Bestimmung des Ausgangsmaterials (Daten)......................................................................... 274 Einzelfallanalyse.................................................................................................................... 274 Fallübergreifende Inhaltsanalyse ........................................................................................... 276 Modellierung der interindividuellen Theoriestruktur als Aggregation Subjektiver Theorien ................................................................................................................................ 277 Zur Darstellung der Ergebnisse der empirischen Untersuchung ............................................. 281
14
Zusammenfassung ................................................................................................................ 282
Teil IV
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung ................................ 285
15 15.1
Durchführung der Untersuchung ........................................................................................... 285 Zeitlicher Überblick über die Vor- und Hauptuntersuchung ................................................... 285
Inhaltsverzeichnis
17
15.2 15.3 15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4
Eröffnungsveranstaltung ........................................................................................................287 Rekonstruktionsinterviews......................................................................................................288 Intervieweröffnung.................................................................................................................288 Rekonstruktion der Theorieinhalte und Strukturen .................................................................289 Kommunikative Validierung ...................................................................................................292 Zeitliche 'Effekte' im Datenerhebungsprozess?.......................................................................293
16 16.1 16.1.1 16.1.2 16.2 16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4 16.2.5
Vorbereitende Schritte für die Datenanalyse...........................................................................294 Idiographische Analyse ..........................................................................................................295 Verbalisierung der Strukturbilder............................................................................................295 Entwicklung eines Strukturbildes für die Theorie der Klärungshilfe.........................................296 Nomothetische Analyse..........................................................................................................297 Bestimmung der Analyseeinheiten .........................................................................................297 Entwicklung einer Codestruktur .............................................................................................299 Explikation des Kategoriensystems.........................................................................................302 Codierung der Merkmalsausprägungen..................................................................................307 Transformation der codierten Listenformen in eine Rohdatenmatrix ......................................309
17 17.1 17.2 17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4 17.3 17.3.1 17.3.2 17.3.3 17.3.4 17.4 17.4.1 17.4.2 17.4.3 17.4.4 17.5
Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele......................................312 Strukturbild der Theorie der Klärungshilfe ..............................................................................315 Sven Richter ...........................................................................................................................320 Strukturbild ............................................................................................................................320 Verbalisierung des Strukturbildes ...........................................................................................322 Elaborationsgrad und innere Konsistenz ................................................................................327 Spannungsverhältnis zur Theorie der Klärungshilfe ................................................................329 Manfred Ziegler .....................................................................................................................333 Strukturbild ............................................................................................................................333 Verbalisierung des Strukturbildes ...........................................................................................335 Elaborationsgrad und innere Konsistenz ................................................................................342 Spannungsverhältnis zur Theorie der Klärungshilfe ................................................................344 Paul Weber ............................................................................................................................349 Strukturbild ............................................................................................................................349 Verbalisierung des Strukturbildes ...........................................................................................352 Elaborationsgrad und innere Konsistenz ................................................................................359 Spannungsverhältnis zur Theorie der Klärungshilfe ................................................................360 Zusammenfassung .................................................................................................................363
18 18.1 18.1.1 18.1.2 18.1.3 18.1.4 18.1.5 18.2 18.2.1
Zentrale Elemente der individuellen subjektiven Konfliktklärungstheorien..............................364 Überblick über die Auswertungseinheiten ..............................................................................365 Umfang der Subjektiven Theorien ..........................................................................................365 Diversität der Subjektiven Theorien ........................................................................................367 Zusammenhang zwischen der Diversität und dem Umfang ....................................................372 Homogenität der Subjektiven Theorien...................................................................................374 Der Einfluss der Interviewdauer auf den Umfang der Subjektiven Theorien............................375 Subjektive Ausformung der Kategorien ..................................................................................377 Übersicht................................................................................................................................378
18
Inhaltsverzeichnis
18.2.2 18.2.3 18.2.4 18.2.5 18.2.6 18.2.7 18.3 18.3.1 18.3.2 18.4 18.4.1 18.4.2
Voraussetzungen................................................................................................................... 379 Zielsetzungen ........................................................................................................................ 381 Handlungsleitende Werte...................................................................................................... 382 Phasen .................................................................................................................................. 384 Kritische Ereignisse................................................................................................................ 396 Fertigkeiten ........................................................................................................................... 397 Geschlechtsspezifische Auffälligkeiten................................................................................... 401 Differenziertheit der Subjektiven Theorien ............................................................................. 401 Subjektive Ausformung der Konzepte.................................................................................... 402 Zusammenfassung ................................................................................................................ 404 Formale Charakterisierung .................................................................................................... 404 Inhaltliche Charakterisierung................................................................................................. 405
19 19.1 19.1.1 19.1.2 19.1.3 19.1.4 19.1.5 19.2 19.2.1 19.2.2 19.2.3
Modellierung einer interindividuellen Konfliktklärungstheorie............................................... 409 Aggregationsprozedur........................................................................................................... 409 Inhaltliche Verdichtung ......................................................................................................... 410 Recodierung der inhaltsanalytischen Kategorien ................................................................... 411 Bestimmung der Häufigkeiten und Kombinationen ............................................................... 411 Bestimmung der strukturellen Äquivalenz ............................................................................. 417 Zusammenfassung des strukturellen Aggregationsverfahrens ............................................... 430 Darstellung der interindividuellen Konfliktklärungstheorie .................................................... 430 Variante A: Hoher Erklärungsgehalt – mässige Repräsentativität .......................................... 431 Variante B: Hohe Repräsentativität – mässiger Erklärungsgehalt .......................................... 438 Zusammenfassende Verbalisierung des Strukturbildes der Variante B ................................... 441
Teil V
Schlussbetrachtung ..................................................................................................... 443
20
Ausgangspunkte, theoretische und methodologische Fundierung......................................... 443
21 21.1 21.1.1 21.1.2 21.2 21.2.1 21.2.2
Zusammenfassung und Diskussion der Hauptergebnisse....................................................... 447 Ergebnisse der formalen und der inhaltlichen Analyse .......................................................... 448 Formale Merkmale ................................................................................................................ 448 Inhaltliche Merkmale............................................................................................................. 450 Heuristik-Relationen zwischen der interindividuellen und der wissenschaftlichen Modellierung......................................................................................................................... 452 Statische Dimension .............................................................................................................. 453 Prozessuale Dimension.......................................................................................................... 454
22
Mögliche Anwendungen der Erkenntnisse............................................................................. 457
23
Forschungsdesiderata............................................................................................................ 466
Teil VI
Anhang ........................................................................................................................ 471
1
Übersicht über die geführten Interviews................................................................................ 471
2 2.1 2.2
Voruntersuchung................................................................................................................... 473 Kursevaluationen .................................................................................................................. 473 Essays.................................................................................................................................... 476
Inhaltsverzeichnis
19
3 3.1 3.2 3.3
Forschungsinstrumentarium...................................................................................................477 Instruktionsleitfaden ..............................................................................................................477 Interviewleitfaden ..................................................................................................................479 Strukturlegeleitfaden zur erweiterten Flussdiagrammdarstellung ...........................................489
4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.5 4.5.1
Datenaufbereitung und -auswertung .....................................................................................494 Codeliste ................................................................................................................................494 Strukturbild von Lara Braun ...................................................................................................505 Faksimile der Struktur der Subjektiven Theorie .......................................................................505 Erfassung am PC ....................................................................................................................507 Listenformen ..........................................................................................................................509 Inhaltliche Konzepte der Theorie der Klärungshilfe ................................................................509 Inhaltliche Konzepte der Subjektiven Theorie von Manfred Ziegler.........................................512 Codierte Listenform der inhaltlichen Konzepte von Manfred Ziegler.......................................514 Datenmatrix der kategorialen Variablen.................................................................................516 Materialien zu Kapitel 18 .......................................................................................................518 Zusammenhang zwischen der Konzepthäufigkeit und der Anzahl Kategorien auf der zweiten Ebene..................................................................................................................518 Partielle Korrelationsanalyse zur Bestimmung des Zusammenhangs zwischen der Interviewdauer und dem Umfang der Subjektiven Theorien ...................................................520 Kontingenztafel zu den inhaltlichen Voraussetzungen (Konfliktausmass) ...............................521 Kontingenztafel zu den Produktzielen ....................................................................................521 Kontingenztafel zu den Prozesszielen.....................................................................................521 Signifikanz-Test für die Mittelwerte der Variablen WERT_a und WERT_b...............................522 Kontingenztafel zu den Negativ-Werten.................................................................................523 Häufigkeitsverteilung der Strategien für die Festlegung der Konfliktthemen ..........................523 Kontingenztafel zu den Abschlussstrategien der Phase b .......................................................524 Kontingenztafel zum Umgang mit den Absprachen und Massnahmen...................................524 Häufigkeitsverteilung der Phasen a und e ..............................................................................524 Signifikanz-Test für die Mittelwerte der Variablen PHA_a bis PHA_e .....................................525 Kontingenztafel zu den kritischen Ereignissen........................................................................526 Listenform der extrahierten Fertigkeiten.................................................................................527 Kontingenzanalyse zur Prüfung der Unabhängigkeit der Dialogphase von den zentralen Fertigkeiten ............................................................................................................529 Levene-Test auf Gleichheit der Varianzen ...............................................................................530 Signifikanz-Test für Differenziertheit der Subjektiven Theorien bezüglich Geschlechtern ........................................................................................................................530 Kontingenzanalyse zur Prüfung der Merkmalsunterschiede zwischen weiblichen und männlichen Personen......................................................................................................532 Materialien zu Kapitel 19 .......................................................................................................535 Syntax zur Entwicklung der inhaltsanalytischen Kategorien ...................................................535 Näherungsmatrizen der Auswertungseinheiten (Ähnlichkeitsmass nach Jaccard)...................538 Boxplots und Lagemasse der Auswertungseinheiten..............................................................542
4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5 4.5.6 4.5.7 4.5.8 4.5.9 4.5.10 4.5.11 4.5.12 4.5.13 4.5.14 4.5.15 4.5.16 4.5.17 4.5.18 4.6 4.6.1 4.6.2 4.6.3
Abbildungsverzeichnis ................................................................................................................................547
20
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis.................................................................................................................................... 551 Abkürzungsverzeichnis............................................................................................................................... 553 Literaturverzeichnis.................................................................................................................................... 555
Teil I
1
Einleitung
Ausgangslage
In der heutigen, arbeitsteiligen Gesellschaft, in welcher Menschen, geleitet durch dynamische Ordnungen, vielschichtig miteinander in Kontakt stehen, bilden Konflikte ein allgegenwärtiges Moment ihres Zusammenlebens. Konflikte sind integraler Bestandteil zwischenmenschlicher Beziehungen und gehören somit zum täglichen Leben jedes Individuums. Treffend formuliert SCHULZ VON THUN: "Überall, wo Menschen miteinander schaffen, machen sie sich früher oder später zu schaffen." Diese Gegebenheit hat sich wohl auch im neuen Millennium nicht verändert. Menschen arbeiten zusammen, sei das in Teams, Projektgruppen oder teilautonomen Arbeitsgruppen – sowohl innerbetrieblich disziplinär oder interdisziplinär oder in Kooperationen mit anderen Unternehmen, national oder international. Oft fällt es schwer, Unstimmigkeiten, Verunsicherungen, Irritationen, Verhärtungen, Verwirrungen oder Auseinandersetzungen anzusprechen. Die Furcht vor persönlichen Angriffen, Grabenkämpfen, Eskalationen und die Angst, 'dass dann alles nur noch schlimmer wird', hindern Menschen oft, die Problemfelder anzusprechen. Konflikte werden vielfach als belastend und destruktiv wahrgenommen. Diese negativen Gefühle und Assoziationen führen dazu, dass gegenüber Konfliktsituationen mit Ablehnung, Angst oder Vermeidungsstrategien reagiert wird oder dass Konflikte als Kampfsituationen wahrgenommen werden, die gewonnen werden müssen. Demzufolge werden Konflikte sehr oft entweder vermieden oder durch Zwangs-, Einschüchterungs-, Macht- und Drohstrategien zu regeln versucht. Diese und ähnliche Strategien können zwar eine offene Konfliktaustragung verhindern bzw. mildern, sie leisten allerdings kaum einen konstruktiven Beitrag zur nachhaltigen Klärung. Dieser negativen Anschauung steht seit den 60er-Jahren ein positiveres Konfliktverständnis gegenüber, welches sich in der Kommunikations- und Konfliktforschung verbreitet hat. Nach Auffassung namhafter Autoren werden Konflikte als fruchtbare Impulse gesehen, um die Kreativität, Flexibilität und Lebendigkeit zu fördern (exemplarisch BERKEL 2002; GLASL 2004; KREYENBERG 2005; MAHLMANN 2000; PRUITT 1998). Konkret fördern sie das Problembewusstsein, vertiefen zwischenmenschliche (Arbeits-)Beziehungen und stärken die Willensabsicht zur Veränderung, indem sie den oft notwendigen Druck hierfür erzeugen. Der konstruktive Umgang mit Konflikten ermöglicht es, vorhandene Differenzen zu überwinden, ein Problem aus mehreren Perspektiven zu beleuchten sowie die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen zu bereichern. In diesem Sinne werden Konflikte zwar nicht bewusst gesucht oder generiert, dafür aber bewusst thematisiert und behandelt. Obschon diese positiven Konnotationen von den Konfliktparteien meist nicht erlebt werden, signalisieren Konflikte, dass sich Menschen mit hohem Engagement für ihre Ansichten, Interessen und Ziele einsetzen. Dies gilt sowohl für private als auch berufliche Kontexte. "Denn ein Team, das nie Konflikte hat, besteht in aller Regel aus Mitarbeitern, die ihre innere Kündigung bereits vollzogen haben" (JIRANEK & EDMÜLLER 2007, S. 10). Es sind also weniger die Konflikte selbst, welche als konstruktiv oder
22
Einleitung
destruktiv zu beurteilen sind, sondern vielmehr der Umgang mit ihnen. Die Frage sollte daher nicht lauten, 'dürfen Konflikte entstehen?', sondern 'wie können Konflikte geklärt werden?'. Ausgehend von diesem Verständnis erhält die Sozialkompetenz, Konflikte konstruktiv klären zu können, eine zentrale Bedeutung. "Sozialkompetenz wird als eine wesentliche personale Voraussetzung für die Gestaltung der Kommunikationsbeziehungen im Innen- und Aussenverhältnis der Unternehmung verstanden" (EULER 1997, S. 281). Die vorliegende Arbeit hat die Gestaltung der Kommunikationsbeziehungen in Konfliktsituationen zum Gegenstand. Die Kompetenz, Konflikte in beruflichen Kontexten nachhaltig klären zu können, ist 1 nicht nur von den Mitarbeitern , sondern insbesondere auch von Führungskräften zu fordern. So wird kaum ein Personalverantwortlicher "in Zweifel ziehen, dass soziale Kompetenzen – also beispielsweise Teamfähigkeit oder Konfliktfähigkeit – in solchen Berufen, in denen Mitarbeiter mit anderen Menschen kommunizieren müssen, von elementarer Bedeutung sind" (KANNING 2005, S. 1). Folgt man den Prognosen von REGNET (2003a), wird die zukünftige Arbeitswelt geprägt sein durch zunehmende Komplexität der Arbeitsabläufe, sich schnell verändernde Technologien, hohen Konkurrenzdruck mit starker Kundenorientierung, Rationalisierungsmassnahmen, Verdichtung der Arbeit, Bildung von dezentralen, kleineren Arbeitseinheiten, Internationalisierung und Globalisierung, einen Wertewandel mit zunehmenden Bedürfnissen nach Selbstentfaltung und Sinnfindung sowie vermehrte Partizipationswünsche seitens der Mitarbeiter. Diese Veränderungen implizieren zusätzliche Anforderungen. Mit steigender Hierarchie erhöht sich der Kommunikationsanteil gemessen an der Gesamtarbeitszeit einer Führungskraft (REGNET 2003b, S. 244). Die empirische Analyse von HOFMANN (2000; HOFMANN & STENGEL 2000) kommt unter anderem zum Schluss, dass die Gestaltung der Kommunikationsbeziehungen im Allgemeinen sowie die Team- und Konfliktfähigkeit im Konkreten unabhängig von der Branche zu den wichtigsten Anforderungs2 kriterien gehören (HOFMANN 2000, S. 275). Die Führungskraft wird als 'Konfliktmanager' gesehen, welcher fähig ist, konfliktäre Situationen zu klären. Die 'Konfliktklärungskompetenz' bildet offensichtlich einen wesentlichen Bestandteil des Anforderungsprofils einer heutigen und künftigen Führungskraft. REGNET formuliert die Vermutung: "Möglicherweise macht die Kunst des Konfliktmanagements sogar den Kern moderner Führung aus" (2001, S. 124). Ein Blick in die Führungspraxis lässt jedoch die Vermutung aufkommen, dass sich Führungskräfte eher konfliktscheu zeigen. Es fehlt ihnen an Grundsätzen und expliziten Handlungsstrategien, wie mit Konflikten konstruktiv umgegangen wird. Wenn Konflikte zwischen Mitarbeitern präsent werden, wird statt der Klärung ein autoritäres Führungsverhalten im
1
2
Zugunsten der sprachlichen Ästhetik und der besseren Lesbarkeit werden wo immer möglich und sinnvoll geschlechtsneutrale Formulierungen gewählt. Im Bewusstsein, dass das grammatische und das natürliche Geschlecht nicht identisch sein müssen, sind bei der Wahl der männlichen Form selbstverständlich immer auch die weiblichen Personen angesprochen. HOFMANN befragte in ihrer Hauptuntersuchung 249 Führungskräfte aus West- und Ostdeutschland sowie Frankreich und Finnland.
23
1 Ausgangslage 3
Sinne einer Konfliktvermeidungsstrategie präferiert (JAGO 1995, S. 1070). Insbesondere in Krisensituationen zählt die 'Rückkehr' zu distanzierten, autoritären Führungsstilen zu den ersten Massnahmen der Krisenbewältigung (KRYSTEK 1989, S. 31). Einer Studie von DEPNERBERGER UND WIETASCH (2006) zufolge sind die drei Hauptgründe, weshalb Konflikte in Unternehmen nicht geklärt werden, in der Angst vor unangenehmen Situationen, der Furcht vor 4 Eskalationen sowie der mangelnden Ausbildung der Führungskräfte zu sehen. Die Folge ist, dass Gegensätze oft überdeckt werden und wichtige Entscheide zur Vermeidung einer persönlichen Stellungnahme hinausgezögert werden. Die Führungskräfte "lassen sich von der Hoffnung leiten, dass das Nicht-Wahrnehmen, das 'Aussitzen' des Konflikts möglicherweise zu seinem Verschwinden, einem 'Versickern' führen oder doch zumindest sein Ausbrechen verhindern könnte" (REGNET 2001, S. 124). Diese Feststellung trifft jedoch häufig genauso auf die Mitarbeiter zu. WUNDERER (1995) kommt zum Schluss, dass in der Tendenz auch die Belegschaft konfliktäre Auseinandersetzungen erst im äussersten Notfall nach oben trägt. Obschon dieses Verhalten einer konfliktvermeidenden Führungsperson entgegenkommen dürfte, steigt dadurch die Gefahr des Fortschreitens des Konfliktes an – sei dies in Form der Implosion als chronisch-latenter Konflikt oder in Form der Eskalation. Offensichtlich gilt es sowohl bei den Mitarbeitern als auch bei den Führungskräften, ein Defizit im Bereich der 'Konfliktklärungskompetenz' zu beklagen. Das Ziel, den Ausbildungsstand angehender Berufsleute zu verbessern, hat auch in dem schweizerischen Bildungssystem seine Spuren in curricularer Hinsicht hinterlassen. Als Erstes kann die berufliche Grundausbildung genannt werden, in welcher die Förderung sozialer Kompetenzen vermehrt 5 Einzug in die Ordnungsgrundlagen gefunden hat. In Bezug auf den Umgang mit Konflikten wird beispielsweise im Lehrplan für auszubildende Informatiker gefordert, dass diese die Grundzüge der Konflikttheorie sowie die Regeln für den Umgang mit Konflikten kennen und anwenden können sollten und zudem fähig sind, Konfliktgespräche zu führen (Lehrplan für den beruflichen Unterricht vom 31. März 1994, S. 21). Die angehenden Restaurationsfachleute sollten Konflikte im Team bewältigen können (Reglement über die Ausbildung und die Lehrabschlussprüfung vom 23. Februar 1996, Art. 4, Abs. 1). Des Weiteren verlangt die Neue Kaufmännische Grundbildung (NKG) in Form eines Kompetenzwürfels die integrative Förderung von Fach-, Sozial- und Methodenkompetenzen. Die Ausbildungsziele für den betrieblichen und schulischen Teil der Lehre vom 24. Januar 2003 verlangen bei den kaufmännischen Auszubildenden: "Von Kaufleuten wird erwartet, dass sie auf Konfliktsituationen besonnen reagieren und nicht ausweichen. Sie bemühen sich, unterschiedliche Standpunkte sachbezogen zu diskutieren und nach tragbaren Lösungen für alle Beteiligten zu suchen" (S. 21). Die Auszubildenden sollen gemäss Rahmenlehrplan für die Berufsmaturität vom 4.
3
4 5
Zu dieser Aussage gelangt JAGO (1995) aufgrund seiner Studie, in welcher er 2631 Führungskräfte in Amerika bezüglich ihrer Problemmuster untersuchte. Diese Arbeit verglich das Führungsverhalten mit dem deskriptiv-präskriptiven Führungsentscheidungsmodell nach VROOM UND YETTON (exemplarisch 1981). Die Studie untersuchte die Bedeutung des Themas 'Wirtschaftsmediation und Umgang mit Konfliktsituationen' in 300 österreichischen Unternehmen, welche mindestens 80 Mitarbeiter beschäftigen. Mit Ordnungsgrundlagen sind Berufsreglemente, Lehrpläne und Modelllehrgänge gemeint.
24
Einleitung
Februar 2003 die "Sprache als Mittel zur Analyse und Bewältigung von Problemen und Konflikten einsetzen" (S. 21). Neben der beruflichen Grundausbildung sei auf der sekundären Bildungsstufe die gymnasiale Ausbildung erwähnt. Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) verabschiedete am 16. Januar 1995 im Rahmen der Reformbestrebungen das Maturitätsanerkennungsreglement (MAR 95). Der Bildungsauftrag der Gymnasien betont die Förderung überfachlicher Kompetenzen. Gemäss Artikel 5, Absatz 2 sollen die Lernenden unter anderem fähig sein, "ihre Kommunikationsfähigkeit zu entfalten sowie allein und in Gruppen zu arbeiten". Der Rahmenlehrplan für Maturitätsschulen vom 9. Juni 1994 soll die "Ziele und Inhalte des gymnasialen Unterrichts im Ganzen und in seinen Teilen umschreiben" und den Gymnasien "einheitlich konzipierte Leitvorstellungen" (RLP, 94, S. 5) zur Verfügung stellen. "Die allgemeinen Bildungsziele wurden als Bildungsprofil für Jugendliche konzipiert, die ein Hochschulstudium absolvieren oder eine andere höhere Ausbildung beginnen wollen" (RLP, S. 11). Der Rahmenlehrplan enthält zahlreiche Hinweise im Hinblick auf den Umgang mit Konflikten: - Die Gymnasien wollen unter anderem folgende Fähigkeiten fördern: "Verantwortung übernehmen, Teamarbeit ausüben, Konfliktsituationen meistern, Selbstbewusstsein entwickeln, die Rechte Andersdenkender respektieren […]" (S. 12). - Die Heranwachsenden sollen innere Konflikte "entsprechend ihren Fähigkeiten lösen" (S. 20) können. - Der Wirtschafts- und Rechtsunterricht fördert die Fähigkeit zur Entscheidungsfindung. Diese "zwingt zur Wahrnehmung auch von Interessen anderer, zum Umgang mit allfälligen Konflikten und letztlich zur Selbstbeschränkung" (S. 76). - Gemäss den Richtzielen des Pädagogik- und Psychologieunterrichts sollen die Lernenden fähig zur Kooperation in Gruppen sein, "vor allem auch, sich in einem Gruppengespräch selbst einzubringen, um […] die Analyse eines Konfliktes zu erleichtern" (S. 89). - Die Lernenden sollen "individuelle und zwischenmenschliche Konflikte und Krisen als zum Leben gehörend betrachten und als Chance begreifen, daran zu wachsen […] (S. 90). Für diese Arbeit von besonderer Bedeutung sind die Bestrebungen auf der tertiären Bildungsstufe, überfachliche Kompetenzen in ihren Curricula zu integrieren. Weil die vorliegende Studie an der Universität St. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften (HSG), durchgeführt wird, soll sie als Beispiel für die nachfolgenden Ausführungen dienen. Im Wintersemester 2000/01 startete die HSG im Rahmen des BolognaReformprozesses mit der 'Neukonzeption der Lehre' zwecks Umstellung der Studienarchitektur auf das zweistufige System mit Bachelor- und Masterabschluss. Die Abbildung 1 zeigt die Studienarchitektur der Universität St. Gallen.
25
1 Ausgangslage
Abbildung 1: Studienarchitektur der Universität St. Gallen (UNIVERSITÄT ST. GALLEN 2006)
Masterabschlüsse Masterstufe Praxis Bachelorabschluss Bachelorstufe Assessmentstufe
Coaching/Mentoring
Kulturelle Kompetenz
Reflexionskompetenz
Recht
Recht oder
VWL
Wahlfächer
Major- und Kernfächer BWL
Masterprogramm
Recht
VWL
BWL
Major- und Kernfächer
Wahlfächer
Mathe
Masterprogramm
Handlungskompetenz
Ph.D./Doktorat
Startwoche Kontaktstudium
Selbststudium
Kontextstudium
Matura/Abitur
6
Die Studienarchitektur ist gekennzeichnet durch das 'Drei Stufen – Drei Säulen'-Konzept. Das Studium setzt sich aus der Assessmentstufe, der Bachelorstufe sowie der Masterstufe zusammen. Jede Stufe besteht aus drei Säulen: aus dem Kontaktstudium, dem Selbststudium und dem Kontextstudium. Das Kontextstudium beträgt 25 % der Studienzeit. Es gliedert sich in die drei Bereiche Handlungskompetenz, Reflexionskompetenz und kulturelle Kompetenz und stellt das Fachstudium (Kontaktstudium) in gesellschaftliche, historische, philosophische und ästhetische Zusammenhänge (UNIVERSITÄT ST. GALLEN 2006). Dabei steht die Förderung überfachlicher Kompetenzen im Zentrum. Das zentrale Ziel der Teilsäule 'Handlungskompetenz' "ist Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten, welche die Studierenden zu einem überlegten, planvollen, fachkundigen, ebenso souveränen wie verantwortungsbewussten Handeln in Theorie und Praxis, Beruf und Alltag anleiten". Diese Lehr- und Lernangebote tragen insbesondere "zur weiteren Entfaltung der im Studium geförderten fachübergreifenden Kompetenzen" bei. "Derartige fach- und berufsübergreifende Schlüsselqualifikationen werden als Techniken einerseits trainiert. Andererseits werden sie im sozialen und kulturellen Kontext ihrer Ausbildung systematisch einer kritischen Reflexion unterzogen, um neue Erfahrungen für das Erkennen und Lösen von Problemen zu sammeln. Das Erlernen und der reflektierte, geübte Einsatz solcher Instrumente, Techniken und Methoden ist deshalb Bestandteil des Kontextstudiums und soll zu lebenslangem Lernen befähigen" (UNIVERSITÄT ST. GALLEN 2006). Die Teilsäule 'Handlungskompetenz' gliedert sich sodann in drei Bereiche: Berufspraktische Kompetenzen, disziplinübergreifende Methoden und soziale Kompetenzen. Der Autor dieser Arbeit leitet seit fünf Jahren im Teilbereich 'Soziale Kompetenzen' 7 einen Kurs unter dem Titel 'Kommunikation in Konfliktsituationen'. Dieses Seminar ist primär 6 7
vgl. www.studium.unisg.ch, Studienarchitektur Eine Übersicht über die angebotenen Kurse innerhalb der Teilsäule 'Handlungskompetenz' findet sich bei DIESNER, ISLER, NÜESCH, WILBERS UND ZELLWEGER MOSER (2006, S. 31ff.).
26
Einleitung
für Studierende auf der Bachelorstufe gedacht, kann aber auch im Nachhinein von Studierenden auf der Masterstufe belegt werden. Die Teilnehmerzahl ist auf maximal 24 beschränkt, was ein intensives Arbeiten mit den Studierenden ermöglicht. Der zeitliche Umfang 8 beträgt 2 ECTS-Punkte. Die Studierenden sollen in diesem Seminar lernen, konfliktäre Lebenssituationen zu bewältigen. Diese noch sehr abstrakt formulierte Absicht kann dahingehend spezifiziert werden, dass die Lernenden auf die Bewältigung von Konfliktklärungs9 situationen im sozio-ökonomischen Kontext vorbereitet werden sollen. D.h., sie sollen lernen, Konflikte zwischen zwei Konfliktparteien im beruflichen Umfeld klären zu können. Diese Lebenssituationen werden vor dem Hintergrund der beschriebenen Entwicklungen sowohl aus dem Gegenwartsmoment als auch zukunftsbezogen als bedeutsam und relevant beurteilt. Das Kursziel besteht grob gesagt darin, die Teilnehmenden einerseits für solche Situationen zu sensibilisieren und andererseits in Richtung eines konstruktiven Umgangs mit Konfliktklärungssituationen zu befähigen. Sie sollen zu einem bewussten, selbstkontrollierten Handeln hingeführt werden. Die Aktivitäten sind folglich darauf ausgerichtet, individuelle Handlungsstrukturen weiterzuentwickeln. Dieser Lern- und Erfahrungsprozess kann innerhalb einer solchen Veranstaltung verständlicherweise nicht als abgeschlossen be10 trachtet werden. Persönlicher Hintergrund Während meiner Lehrtätigkeit an der Universität St. Gallen absolvierte ich eine Zusatzaus11 bildung in Kommunikationspsychologie (ZKP). Im Rahmen dieser Ausbildung bin ich auf einen Ansatz zur Konfliktklärung gestossen, welcher mich aufgrund seiner anthropologischen Kernannahmen, der theoretischen Fundierung sowie der hohen Relevanz für das praktische Handeln überzeugte. Ich bekam dann die Möglichkeit, die Theorie der Klärungshilfe in einer zweijährigen Ausbildung bei Christoph Thomann lernen zu dürfen. Aufgrund meiner Anwendungserfahrungen (und der damit verbundenen Erfolgserlebnisse) hatte ich mir das Ziel gesetzt, die Klärungshilfe in einer reduzierten Form zum Gegenstand meiner eigenen Lehrveranstaltung zu machen. Die zahlreichen Gespräche mit den Studierenden haben gezeigt, dass dieser Ansatz einen wichtigen Beitrag zur Vorbereitung auf die aktuellen und zukünftigen sozio-ökonomischen Lebenssituationen leisten kann. Die Lehrtätigkeit im Rahmen dieser Seminare verdeutlichte mir zudem, dass die Studierenden heterogene Erfahrungs8
9
10 11
Die Abkürzung ECTS steht für 'European Credit Transfer and Accumulation System'. Dieses europäische System dient der Anrechnung von Studienleistungen, basierend auf der Arbeitszeit, welche die Studierenden absolvieren müssen, um die Ziele einer bestimmten Lerneinheit zu erreichen. Ein ECTS-Punkt entspricht einer Arbeitsleistung von 25 bis 30 Stunden. An der Universität St. Gallen entspricht 1 ECTS-Punkt 30 Arbeitsstunden. Der Kurs umfasst folglich 60 Stunden Lernzeit (Vorbereitung, Präsenz in der Veranstaltung, Nachbereitung, Prüfung). Mit 'sozio-ökonomischer Kontext' sind Situationen gemeint, "in denen Menschen mit Aufgaben konfrontiert sind, die in ihrem Kern als ökonomische gelten" (EULER & HAHN 2004, S. 75). Dazu zählen beispielsweise berufliche Tätigkeiten zwecks Erwerb von Einkommen, Vereinstätigkeiten, Ausbildungs- und Weiterbildungstätigkeiten, Konsumentscheidungen etc. "'Sozio' soll darauf verweisen, dass ökonomische Aufgaben immer in einen sozialen Kontext eingebettet sind, den es im praktischen Handeln zu berücksichtigen gilt" (S. 75). Eine ausführlichere Darstellung dieser Aussagen erfolgt an späterer Stelle (siehe Kap. 7, S. 89ff.) Diese Ausbildung wurde bei Friedemann Schulz von Thun an der Universität Hamburg (in Zusammenarbeit mit dem 'Arbeitskreis Kommunikation und Klärungshilfe') absolviert.
2 Erkenntnisinteresse und Zielsetzungen der Arbeit
27
hintergründe bezüglich dieser Thematik mitbringen. Sie stehen Konfliktklärungssituationen keineswegs als Tabula rasa gegenüber, sondern haben oft schon konkrete Vorstellungen entwickelt, wie sie Konflikte zwischen Menschen klären. Ihre 'beruflichen' Erfahrungen stammen aus verschiedenen Kontexten: Tätigkeiten im Vereinswesen, militärische Ausbildung, Zusammenarbeit mit anderen Studierenden oder Teilzeitarbeiten im beruflichen Umfeld. Ich musste mir allerdings eingestehen, dass ich letztlich über ihre Konfliktklärungsstrategien wenig wusste. Meine Lehrveranstaltung basierte auf wenigen Anhaltspunkten und Vermutungen, wo die Lernenden in etwa stehen würden. Fundierte Aussagen hierzu konnte ich jedoch keine machen. Diesen Aspekt wollte ich als Wissenschaftler genauer untersuchen, was mich zum Verfassen dieser Forschungsarbeit motivierte. 2
Erkenntnisinteresse und Zielsetzungen der Arbeit
Die Vorbereitung der Studierenden auf Konfliktklärungssituationen im sozio-ökonomischen Kontext kann mitunter auch in pädagogisch arrangierten Umwelten stattfinden, indem Lernprozesse durch die Lehrenden initiiert und gestaltet werden. Wenn Lehren das Lernen unterstützen und fördern soll, "dann ist die Person des Lernenden der zentrale Bezugspunkt der Didaktik" (EULER & HAHN 2004, S. 35). In der pädagogischen Literatur herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Gestaltung von Lernprozessen und damit verbunden die Konzipierung und Durchführung von – wie auch immer ausgestalteten – Förderkonzepten nicht 12 losgelöst von den Voraussetzungen der Lernenden stattfinden sollen. Auch aus der Experten-Novizen-Forschung ist bekannt, dass das Vorwissen eines Individuums für die Wahrnehmung einer Situation und die Erweiterung seines Wissens eine zentrale Rolle spielt. Experten gelingt es in besonderem Masse, neues Wissen mit dem Bestehenden zu vernetzen, wodurch die Zugänglichkeit (Anwendbarkeit) des Wissens erhöht wird. Daraus resultiert die Konsequenz, dass erstens die Lernenden ihre Lernvoraussetzungen kennen sollten und zweitens Lehrende den Lernstand bzw. die Lernvoraussetzung des Lernenden in Bezug auf sozial-kommunikatives Handeln diagnostizieren und beurteilen können müssen (EULER & HAHN 2004, S. 35). Diese Aussage mag auf den ersten Blick als trivial erscheinen. Wird dieses Postulat jedoch auf überfachliche Dimensionen des Lernens übertragen, gestaltet sich die Einlösung dieser Forderung als sehr komplex. Genaue Kenntnisse über mentale Repräsentationen sind für den Aufbau und die Entwicklung sozial-kommunikativer Kompetenzen genauso von zentraler Bedeutung, wie dies bei Sachkompetenzen der Fall ist. Begründet wird diese Aussage damit, dass Interventionen und Unterstützungsmassnahmen, welche auf die Erweiterung von Handlungskompetenzen ausgerichtet sind, in unmittelbarer Anknüpfung an die vorhandenen Handlungsmuster durchgeführt werden müssen – sie sollen "auf die spezifischen Bedingungen des Lernenden abgestimmt" (EULER & HAHN 2004, S. 35) sein. Dieses Anknüpfen kann jedoch nur dann optimal gelingen, wenn die Handlungsmuster sowohl dem
12
Lernen wird nach EULER (1994) "als zielgerichtete, relativ stabile Erweiterung von Handlungskompetenzen im Rahmen mittelbarer und unmittelbarer Kommunikationsbeziehungen" (S. 122) aufgefasst. Die Bezeichnung 'Erweiterung' bringt zum Ausdruck, "dass neue jeweils auf der Grundlage bestehender Handlungskompetenzen aufgebaut werden. Lernen vollzieht sich vor dem Hintergrund vorhandener Erfahrungen beim Lernenden" (1994, S. 123).
2 Erkenntnisinteresse und Zielsetzungen der Arbeit
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hintergründe bezüglich dieser Thematik mitbringen. Sie stehen Konfliktklärungssituationen keineswegs als Tabula rasa gegenüber, sondern haben oft schon konkrete Vorstellungen entwickelt, wie sie Konflikte zwischen Menschen klären. Ihre 'beruflichen' Erfahrungen stammen aus verschiedenen Kontexten: Tätigkeiten im Vereinswesen, militärische Ausbildung, Zusammenarbeit mit anderen Studierenden oder Teilzeitarbeiten im beruflichen Umfeld. Ich musste mir allerdings eingestehen, dass ich letztlich über ihre Konfliktklärungsstrategien wenig wusste. Meine Lehrveranstaltung basierte auf wenigen Anhaltspunkten und Vermutungen, wo die Lernenden in etwa stehen würden. Fundierte Aussagen hierzu konnte ich jedoch keine machen. Diesen Aspekt wollte ich als Wissenschaftler genauer untersuchen, was mich zum Verfassen dieser Forschungsarbeit motivierte. 2
Erkenntnisinteresse und Zielsetzungen der Arbeit
Die Vorbereitung der Studierenden auf Konfliktklärungssituationen im sozio-ökonomischen Kontext kann mitunter auch in pädagogisch arrangierten Umwelten stattfinden, indem Lernprozesse durch die Lehrenden initiiert und gestaltet werden. Wenn Lehren das Lernen unterstützen und fördern soll, "dann ist die Person des Lernenden der zentrale Bezugspunkt der Didaktik" (EULER & HAHN 2004, S. 35). In der pädagogischen Literatur herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Gestaltung von Lernprozessen und damit verbunden die Konzipierung und Durchführung von – wie auch immer ausgestalteten – Förderkonzepten nicht 12 losgelöst von den Voraussetzungen der Lernenden stattfinden sollen. Auch aus der Experten-Novizen-Forschung ist bekannt, dass das Vorwissen eines Individuums für die Wahrnehmung einer Situation und die Erweiterung seines Wissens eine zentrale Rolle spielt. Experten gelingt es in besonderem Masse, neues Wissen mit dem Bestehenden zu vernetzen, wodurch die Zugänglichkeit (Anwendbarkeit) des Wissens erhöht wird. Daraus resultiert die Konsequenz, dass erstens die Lernenden ihre Lernvoraussetzungen kennen sollten und zweitens Lehrende den Lernstand bzw. die Lernvoraussetzung des Lernenden in Bezug auf sozial-kommunikatives Handeln diagnostizieren und beurteilen können müssen (EULER & HAHN 2004, S. 35). Diese Aussage mag auf den ersten Blick als trivial erscheinen. Wird dieses Postulat jedoch auf überfachliche Dimensionen des Lernens übertragen, gestaltet sich die Einlösung dieser Forderung als sehr komplex. Genaue Kenntnisse über mentale Repräsentationen sind für den Aufbau und die Entwicklung sozial-kommunikativer Kompetenzen genauso von zentraler Bedeutung, wie dies bei Sachkompetenzen der Fall ist. Begründet wird diese Aussage damit, dass Interventionen und Unterstützungsmassnahmen, welche auf die Erweiterung von Handlungskompetenzen ausgerichtet sind, in unmittelbarer Anknüpfung an die vorhandenen Handlungsmuster durchgeführt werden müssen – sie sollen "auf die spezifischen Bedingungen des Lernenden abgestimmt" (EULER & HAHN 2004, S. 35) sein. Dieses Anknüpfen kann jedoch nur dann optimal gelingen, wenn die Handlungsmuster sowohl dem
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Lernen wird nach EULER (1994) "als zielgerichtete, relativ stabile Erweiterung von Handlungskompetenzen im Rahmen mittelbarer und unmittelbarer Kommunikationsbeziehungen" (S. 122) aufgefasst. Die Bezeichnung 'Erweiterung' bringt zum Ausdruck, "dass neue jeweils auf der Grundlage bestehender Handlungskompetenzen aufgebaut werden. Lernen vollzieht sich vor dem Hintergrund vorhandener Erfahrungen beim Lernenden" (1994, S. 123).
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Einleitung
Handelnden selbst als auch dem Initiator der Interventionen bekannt sind. Das Ergründen des Lernstandes im Sinne von Lernvoraussetzungen gestaltet sich unter anderem deswegen schwierig, weil den Handelnden selbst ihre mentalen Repräsentationen teilweise nicht oder nur lückenhaft bewusst sind. Es fällt schwer, differenzierte Auskünfte darüber zu erhalten, in welcher Art und Weise diese Lebenssituationen bewältigt werden. Genau diese Kenntnis des Lernstandes wird jedoch in dem erwähnten Postulat gefordert. Ausgehend von der Annahme einer subjektseitigen Verankerung von Konfliktklärungsstrategien als subjektives Handlungskonzept ergibt sich die Fragestellung, in welchem Umfang und Differenzierungsgrad die Zielgruppe über dieses subjektive Konzept verfügt. Daran anknüpfend erhebt sich die Frage, ob und in welchem Ausmass Übereinstimmungen sowie Unterschiede zwischen der wissenschaftlichen Konzeptualisierung und den subjektiven Konfliktklärungskonzepten bestehen. Des Weiteren ist von Interesse, was inhaltlich im Rahmen der erwähnten universitären Veranstaltungen getan werden kann, um die Förderstrategien gezielt voranzutreiben. Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, Antworten auf diese Fragestellungen geben zu können. Die Beantwortung der Fragen geht mit einer Einschränkung des Objektbereichs auf Studierende der Universität St. Gallen auf der Bachelorstufe einher. Die Universität St. Gallen bildet ein adäquates Forschungsumfeld, weil die Förderung überfachlicher Kompetenzen bildungspolitisch und curricular einen hohen Stellenwert einnimmt. Die Universität St. Gallen stellt zudem auf organisatorischer Ebene die notwendigen Ressourcen zur Realisierung von Lehrveranstaltungen wie der genannten zur Verfügung. Die Auswahl der Veranstaltung 'Kommunikation in Konfliktsituationen' bringt darüber hinaus den Vorteil mit sich, dass die Rekonstruktionen der subjektseitigen Verankerungen im Rahmen des Seminars mit den Direktbetroffenen besprochen werden können und zudem eine Kontrastierung mit der in der Lehrveranstaltung thematisierten wissenschaftlichen Konzeptualisierung möglich ist. Den Untersuchungsteilnehmenden kann durch die Verzahnung der Forschungsstudie mit der Lehrveranstaltung eine optimale Möglichkeit zur Selbstaufklärung, Selbstreflexion und damit verbunden zur Eigenentwicklung und Erweiterung der Handlungsoptionen geboten werden. Das übergeordnete Ziel dieser Arbeit lässt sich zugespitzt als erkenntnisleitende Fragestellung wie folgt formulieren: Über welche Subjektiven Theorien verfügen die Studierenden der Universität St. Gallen auf der Bache13 lorstufe zur Bewältigung des Situationstyps 'Konfliktklärung'? Das Bestreben der Studie besteht darin, den Situationstyp 'Konfliktklärung' aus einer idiographischen und nomothetischen Perspektive empirisch zu modellieren. Durch Kontrastierung mit der 'Theorie der Klärungshilfe' sollen allfällige Defizite bei der Zielgruppe einzelfallübergreifend identifiziert werden, um daraus ableitend insbesondere inhaltliche Hand-
13
Unter Subjektiven Theorien sollen fürs Erste handlungsleitende, kognitive Repräsentationen im Sinne von Lernvoraussetzungen verstanden werden. Ein Situationstyp umfasst vereinfacht formuliert verschiedene Konfliktklärungssituationen, welche sich zu einer Situationsklasse zusammenfassen lassen. Diese vorerst noch unscharfe Darstellung dieser beiden Termini wird im zweiten Teil der Arbeit präzisiert.
2 Erkenntnisinteresse und Zielsetzungen der Arbeit
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lungsempfehlungen für die Förderpraxis bereitzustellen. Im Konkreten stehen folgende Fragen im Vordergrund: 1. Inwieweit verfügen die Studierenden über Konfliktklärungsstrategien als subjektive Handlungskonzepte? Welche Elemente weisen diese Subjektiven Theorien auf? 2. Inwiefern ist es möglich, eine einzelfallübergreifende, interindividuelle Konfliktklärungstheorie zu modellieren? In welchem Spannungsverhältnis steht eine solche Konfliktklärungstheorie im Vergleich zur Theorie der Klärungshilfe? 3. Welche (inhaltlichen) Empfehlungen lassen sich aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse im Hinblick auf die Förderung der 'Konfliktklärungskompetenz' ableiten? Die Lernvoraussetzungen als subjektive Handlungskonzepte beschreiben die Innensicht eines Individuums. Es ist von Interesse, differenzierte Aussagen darüber zu erhalten, wie das Individuum sein Handeln deutet und für sich selbst beschreibt, erklärt und prognostiziert. Im Zentrum steht das, was der Handelnde für wirklich hält, also seine subjektive Konstruktion von Wirklichkeit. Die empirische Bewährung seiner Innensicht im Sinne einer Realisierungsadäquanz ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Vielmehr sollen Einblicke in die inhaltlichen und strukturellen Eigentümlichkeiten mentaler Repräsentationen ermöglicht werden. Die Untersuchung will jedoch nicht ausschliesslich in dieser idiographischen Perspektive verbleiben, sondern weiterführend nach einer überindividuellen Generalisierung fragen. Eine über den Einzelfall hinausgehende Betrachtungsweise könnte zunächst als widersprüchlich aufgefasst werden, da eine Subjektive Theorie als einzigartige Entität lediglich einem Individuum zugesprochen werden kann. Es wird zu zeigen sein, inwiefern eine nomothetische Betrachtung die Modellierung einer interindividuellen Konfliktklärungstheorie ermöglicht. Idealerweise zeichnet sich eine einzelfallübergreifende Theorie durch eine hohe Repräsentativität bezüglich der Zielgruppe aus. Deren Vergleich mit der Theorie der Klärungshilfe soll das Eruieren von Defiziten bei den Studierenden ermöglichen. Neben der Beantwortung dieser drei Fragestellungen will die vorliegende Arbeit zudem einen Schwerpunkt auf methodologische Gesichtspunkte legen. Diese Auseinandersetzung betrifft die Möglichkeiten und Grenzen sowohl der Datenerhebung (Rekonstruktion der subjektiven Handlungskonzepte) als auch der Datenauswertung. Insbesondere sollen Potenziale aufgezeigt werden, wie mittels anschlussfähiger, modifizierter Verfahren den in der Forschungsliteratur diskutierten methodischen Problemfeldern begegnet werden kann. Diese Arbeit möchte hierzu im Rahmen des Möglichen einen Beitrag leisten. In diesem Zusammenhang sind ergänzend folgende Leitfragen von Interesse: 4. Wie können Subjektive Theorien zur Konfliktklärung gegenstandsangemessen rekonstruiert werden, bzw. welche Potenziale bietet eine innensichtfundierte Methodik im Vergleich zu einer aussensichtfundierten Herangehensweise? 5. Wie lässt sich die Zugangsproblematik einer innensichtfundierten Methodik konstruktiv bewältigen? Welche Anschlussmöglichkeiten bieten bereits etablierte Verfahren, und inwiefern müssen diese gegenstandsangemessen weiterentwickelt werden? 6. Wie kann ein noch zu spezifizierendes normatives Verständnis von Forschungskommunikation als Rahmenkonzeption für die Ausgestaltung der Datenerhebungssituation operativ realisiert werden, und welche Interventionsformen und Instrumente sind hierfür begründet einzusetzen?
30
Einleitung
7. Welche Lösungsheuristiken bieten sich zur Überwindung der inhaltlichen und strukturellen Aggregationsproblematik von individuellen Erfahrungsräumen hin zu einer interindividuellen Theoriestruktur an? 3
Aufbau der Arbeit
Der Gesamtaufbau der Arbeit wird in Abbildung 2 dargestellt (die Nummern beziehen sich auf die jeweiligen Kapitel). Die Arbeit gliedert sich im Anschluss an diese Einleitung in vier Teile. Die Explikation des Gegenstandsbereichs wird im Teil II beschrieben. Dieser orientiert sich in seiner Gliederung an der erkenntnisleitenden Fragestellung. Wenn die Frage beantwortet werden soll, über welche Subjektiven Theorien die Studierenden der Universität St. Gallen auf der Bachelorstufe zur Bewältigung des Situationstyps 'Konfliktklärung' verfügen, empfiehlt es sich, zunächst die begrifflichen Grundlegungen zur Klärung des Gegenstandsbereichs darzustellen. In Kapitel 4 wird erläutert, was unter Sozialkompetenzen im Rahmen von Situationstypen verstanden wird. Werden Handlungskompetenzen als Potenzialitätsbegriff aufgenommen, lassen sich damit Lernvoraussetzungen beschreiben. Als Bezugspunkt zur inhaltlichen, funktionalen und strukturellen Präzisierung dieser Lernvoraussetzungen führt das Kapitel 5 in das Konstrukt der Subjektiven Theorien ein. Diese Grundlegungen implizieren ein bestimmtes Menschenbild, welchem der Forscher für sein Handeln eine hohe Bedeutung zuschreibt. Für eine Forschungsarbeit, welche den Menschen zum Untersuchungsgegenstand hat, wird die Darlegung des Menschenbildes als zwingend erachtet. Dieser Forderung wird in Kapitel 6 nachgekommen. Bevor die wissenschaftlichen Verfahren zur Datenerhebung und Datenauswertung diskutiert werden, schliesst der zweite Teil mit der inhaltlichen Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'. Die Ausdifferenzierung des Situationstyps findet in Kaptitel 7 statt. Es wird die Ansicht vertreten, dass eine konstruktive Diskussion des Untersuchungsdesigns nur dann sinnvoll möglich ist, wenn der inhaltliche Gegenstandsbereich abschliessend expliziert ist. In Teil III der Arbeit wird das Erkenntnisinteresse in eine konkrete Forschungsstrategie überführt, welche es zu begründen gilt (Ausgangsfragen 4 bis 7). Zunächst wird der Forschungsrahmen in Kapitel 8 präzisiert, indem die Ausgangsfragen ausdifferenziert und die Untersuchungseinheiten festgelegt werden. Durch die Präzisierung des Forschungsrahmens werden Vorentscheidungen getroffen, welche sich auf das weitere Vorgehen auswirken. An eine Methodologie ist die Frage zu richten, ob diese eine befriedigende Gegenstandskonstituierung zulässt. Diese Überlegungen werden in Kapitel 9 aufgenommen, indem Möglichkeiten und Grenzen einer aussensichtfundierten Methodik gegenüber einer innensichtfundierten Methodik abgewogen werden. Darauf aufbauend wird in Kapitel 10 eine methodische Zugangsvorstellung skizziert, welche dem Gegenstandsbereich und den an diesen gerichteten Forschungsfragen gerecht werden kann. Die kriteriengeleiteten Abgrenzungs- und Integrationsüberlegungen münden in Kapitel 11 in dem 'problemzentrierten Rekonstruktionsinterview', welches als wissenschaftliches Verfahren zur Rekonstruktion Subjektiver Konfliktklärungstheorien konzipiert wurde. Die hierfür angesetzten Kriterien zur Qualitätssicherung werden in Kapitel 12 erörtert. Der dritte Teil schliesst in Kapitel 13 mit der Darstellung der Datenauswertungsstrategie.
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Einleitung
7. Welche Lösungsheuristiken bieten sich zur Überwindung der inhaltlichen und strukturellen Aggregationsproblematik von individuellen Erfahrungsräumen hin zu einer interindividuellen Theoriestruktur an? 3
Aufbau der Arbeit
Der Gesamtaufbau der Arbeit wird in Abbildung 2 dargestellt (die Nummern beziehen sich auf die jeweiligen Kapitel). Die Arbeit gliedert sich im Anschluss an diese Einleitung in vier Teile. Die Explikation des Gegenstandsbereichs wird im Teil II beschrieben. Dieser orientiert sich in seiner Gliederung an der erkenntnisleitenden Fragestellung. Wenn die Frage beantwortet werden soll, über welche Subjektiven Theorien die Studierenden der Universität St. Gallen auf der Bachelorstufe zur Bewältigung des Situationstyps 'Konfliktklärung' verfügen, empfiehlt es sich, zunächst die begrifflichen Grundlegungen zur Klärung des Gegenstandsbereichs darzustellen. In Kapitel 4 wird erläutert, was unter Sozialkompetenzen im Rahmen von Situationstypen verstanden wird. Werden Handlungskompetenzen als Potenzialitätsbegriff aufgenommen, lassen sich damit Lernvoraussetzungen beschreiben. Als Bezugspunkt zur inhaltlichen, funktionalen und strukturellen Präzisierung dieser Lernvoraussetzungen führt das Kapitel 5 in das Konstrukt der Subjektiven Theorien ein. Diese Grundlegungen implizieren ein bestimmtes Menschenbild, welchem der Forscher für sein Handeln eine hohe Bedeutung zuschreibt. Für eine Forschungsarbeit, welche den Menschen zum Untersuchungsgegenstand hat, wird die Darlegung des Menschenbildes als zwingend erachtet. Dieser Forderung wird in Kapitel 6 nachgekommen. Bevor die wissenschaftlichen Verfahren zur Datenerhebung und Datenauswertung diskutiert werden, schliesst der zweite Teil mit der inhaltlichen Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'. Die Ausdifferenzierung des Situationstyps findet in Kaptitel 7 statt. Es wird die Ansicht vertreten, dass eine konstruktive Diskussion des Untersuchungsdesigns nur dann sinnvoll möglich ist, wenn der inhaltliche Gegenstandsbereich abschliessend expliziert ist. In Teil III der Arbeit wird das Erkenntnisinteresse in eine konkrete Forschungsstrategie überführt, welche es zu begründen gilt (Ausgangsfragen 4 bis 7). Zunächst wird der Forschungsrahmen in Kapitel 8 präzisiert, indem die Ausgangsfragen ausdifferenziert und die Untersuchungseinheiten festgelegt werden. Durch die Präzisierung des Forschungsrahmens werden Vorentscheidungen getroffen, welche sich auf das weitere Vorgehen auswirken. An eine Methodologie ist die Frage zu richten, ob diese eine befriedigende Gegenstandskonstituierung zulässt. Diese Überlegungen werden in Kapitel 9 aufgenommen, indem Möglichkeiten und Grenzen einer aussensichtfundierten Methodik gegenüber einer innensichtfundierten Methodik abgewogen werden. Darauf aufbauend wird in Kapitel 10 eine methodische Zugangsvorstellung skizziert, welche dem Gegenstandsbereich und den an diesen gerichteten Forschungsfragen gerecht werden kann. Die kriteriengeleiteten Abgrenzungs- und Integrationsüberlegungen münden in Kapitel 11 in dem 'problemzentrierten Rekonstruktionsinterview', welches als wissenschaftliches Verfahren zur Rekonstruktion Subjektiver Konfliktklärungstheorien konzipiert wurde. Die hierfür angesetzten Kriterien zur Qualitätssicherung werden in Kapitel 12 erörtert. Der dritte Teil schliesst in Kapitel 13 mit der Darstellung der Datenauswertungsstrategie.
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3 Aufbau der Arbeit
Abbildung 2: Aufbau der Arbeit
Teil I
Einleitung
Erkenntnisinteresse und Zielsetzungen der Arbeit
Ausgangslage 1
Aufbau der Arbeit 2
3
Teil II
Explikation des Gegenstandsbereichs Sozialkompetenzen im Rahmen von Situationstypen
4
Subjektive Theorien als Bezugspunkt der Lernvoraussetzungen
5
Menschenbild als anthropologische Kernannahmen
Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung’
6 7
Forschungsstrategie Theoretischmethodologische Perspektive
Forschungsrahmen Teil III
8
Strategie der Datenauswertung
Methodische Perspektive 9
10
12
Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview 11
Gütekriterien 13
Durchführung der Untersuchung Teil IV
15
Vorbereitende Schritte für die Datenanalyse 16
Darstellung der Ergebnisse
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung Idiographische Perspektive: Rekonstruktion individueller subjektiver Konfliktklärungstheorien
17
Nomothetische Perspektive: Zentrale Elemente der individuellen subjektiven 18 Konfliktklärungstheorien Modellierung einer interindividuellen Konfliktklärungstheorie
19
Teil V
Schlussbetrachtung Ausgangspunkte, theoretische und methodologische Fundierung 20
Zusammenfassung und Diskussion der 21 Hauptergebnisse Mögliche Anwendungen der Erkenntnisse
22
Forschungsdesiderata 23
32
Einleitung
Der Teil IV dokumentiert die Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung (Ausgangsfragen 1 bis 3). Nach einer kurzen Darstellung der Realisierungsverfahren in Kapitel 15 beschreibt das Kapitel 16 die vorbereitenden Schritte für die Datenanalyse. In den Kapiteln 17 bis 19 erfolgt die Darstellung und Interpretation der Untersuchungsergebnisse aus einer idiographischen und nomothetischen Perspektive. In der Schlussbetrachtung in Teil V werden nach der Skizzierung der Ausgangspunkte sowie der theoretischen und methodologischen Fundierung die Hauptergebnisse in Kapitel 21 zusammenfassend dargestellt und diskutiert. Die Anwendungsmöglichkeiten der Erkenntnisse werden in Kapitel 22 besprochen. Die Arbeit schliesst in Kapitel 23 mit der Formulierung weiterführender Fragestellungen für künftige Forschungsaktivitäten.
Teil II
Explikation des Gegenstandsbereichs
4
Sozialkompetenzen im Rahmen von Situationstypen
4.1
Zum Begriff der Sozialkompetenz
Wenn Sozialkompetenz nebst Sach- und Selbstkompetenz als Teilbereich von Handlungskompetenzen den 'Umgang mit anderen Menschen' erfassen will (EULER & HAHN 2004, S. 131), so öffnet sich damit ein Forschungsfeld, welches zwar intuitiv verständlich erscheint, in seiner Beliebigkeit bezüglich theoretischer (Nicht-)Fundierung, Abstraktionsniveau, Verwendungszweck etc. hingegen orientierungslos zu sein scheint. Was konkret mit Sozialkompetenz(en) gemeint ist, lässt sich in definitorischer Hinsicht nicht ohne Weiteres klären. In der Literatur existieren zahlreiche Umschreibungen und Definitionen – das Spektrum der Begriffe reicht von Aufrichtigkeit, Kritikfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Frustrationstoleranz, Ambiguitätstoleranz, Selbststeuerung, Rollendistanz, Solidarität, Fairness, Kooperations-, Kommunikations-, Integrations- und Kompromissfähigkeit bis hin zur Eigenverantwortung gegenüber den gesellschaftlichen Gemeinschaften und der Natur (vgl. FAIX & LAIER 1991, S. 63f.). Solch extensionale Bestimmungen der Sozialkompetenz wirken eher verwirrend und vermögen das Konstrukt Sozialkompetenz nicht zu klären. Demgegenüber existieren in intentionaler Hinsicht unterschiedliche Bezeichnungen für den gleichen Sachverhalt, aber auch unterschiedliche Sachverhalte, welche mit dem gleichen Begriff bezeichnet werden (EULER 1997, S. 282). Die Auseinandersetzung mit Sozialkompetenz bedarf einer Konkretisierung dieses Konstrukts, welche für diese Arbeit auf zwei Ebenen stattfinden soll. Zuerst ist das allgemeine Kompetenzverständnis auszuweisen, bevor auf dessen Grundlage in einem zweiten Schritt die 'Sozial-Kompetenz' präzisiert werden kann. Deshalb wird einleitend die allgemeine Problematik bezüglich der Verwendung des Kompetenzbegriffs skizziert, um nachfolgend konkrete Bezüge zum Sozialkompetenzbegriff herzustellen. 4.1.1
Einleitende Bemerkungen zum Kompetenzbegriff
Im allgemeinen Sprachgebrauch werden regelmässig Begriffe wie 'Fertigkeit', 'Fähigkeit', 'Können', 'Qualifikation', 'Befähigung', 'Eignung' etc. verwendet, ohne zu hinterfragen, was genau damit gemeint ist. Gleiches gilt für Ausdrücke wie 'Kompetenz', 'kompetentes Verhalten' oder 'kompetente Person' – auch hier fällt es offensichtlich schwer, präzise die Gemeinsamkeiten und Unterschiede benennen zu können. In der Forschungsliteratur finden sich ebenfalls zahlreiche Umschreibungen und Definitionen von 'Kompetenz', wobei nicht von einem einheitlichen Verständnis ausgegangen werden kann – dies weder begrifflich noch messtheoretisch (WEINERT 2001, S. 45). Obschon der Kompetenzbegriff zunehmend Anerkennung und Verbreitung gefunden hat, bemängeln eine Vielzahl von Autoren die mangelnde theoretische Fundierung bzw. die stark divergierenden Deskriptionen (vgl. exemplarisch ALBRECHT 1997, S. 99; BERNIEN 1997, S. 17ff.; ERPENBECK & VON ROSENSTIEL 2003, S. 9ff.;
34
Explikation des Gegenstandsbereichs
FAULSTICH 1997, S. 151f.; WEISS 1999, S. 436ff.; WINTERTON, DELAMARE-LE DEIST & STRINGFELLOW 2005, S. 15ff.). Die aktuelle Situation in der Kompetenzforschung lässt noch keine Einigkeit hinsichtlich eines differenzierten Kompetenzbegriffs erkennen. Wird der Versuch unternommen, verbindende Überlegungen und gemeinsame Vorstellungen herauszuarbeiten, verbleibt lediglich ein vages, grob umrissenes Fragment, welches in seiner Allgemeinheit zu ersticken droht. Allerdings ist eine solch verschränkende Absicht auch kritisch zu hinterfragen, wenn die Komplexität der Phänomene, auf welche der Begriff verweist, die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und die damit verbundenen Erkenntnisinteressen und Verwendungszwecke in die Überlegungen miteinbezogen werden (vgl. hierzu PATE, MARTIN & ROBERTSON 2003, S. 169f.; WEISS 1999, S. 439ff.). Die Spannungsfelder divergierender Kompetenzkonzeptualisierungen zeigen sich unter anderem darin, ob Kompetenz eine abstrakte, universelle Fähigkeit beschreibt oder die hohe Bedeutung des Kontextes betont werden muss. Des Weiteren kann diskutiert werden, ob Kompetenz als Kommunikationsvoraussetzung zu interpretieren ist, wobei aus der Sicht kompetent sprechender und handelnder Akteure die pragmatischen Voraussetzungen der auf Konsens zielenden Verständigung analysiert werden (HABERMAS 1984), oder ob Kompetenz als Handlungsergebnis zu verstehen ist. Diese Vorstellung geht auf den in der Motivationspsychologie eingeführten Kompetenzbegriff von WHITE (1959) zurück. Dort bezeichnet das Konzept Ergebnisse von Entwicklungen grundlegender Fähigkeiten, die vom Individuum selbst organisiert hervorgebracht werden. Vor dem Hintergrund divergierender Erkenntnisinteressen unterscheiden sich die verschiedenen Kompetenzansätze auch in den jeweils postulierten Zusammenhängen zwischen Kompetenz und Performanz (vgl. ausführlich STEMMER 1983). Das Spektrum reicht von einer Trennung der beiden Konstrukte, so beispielsweise beim Verständnis von CHOMSKY, welcher die Kompetenz als Gegenbegriff zur Per14 formanz, zur situativen Sprachverwendung versteht , bis hin zur Verschmelzung, welche eines der beiden Konstrukte als überflüssig erscheinen lässt. "Insbesondere im angelsächsischen Bereich existiert demgegenüber auch das Verständnis von Kompetenz im Sinne eines ausgeführten Verhaltens (performance), das einem definierten Standard entsprechen soll. Kompetenzen stellen in dieser Auslegung die Beschreibung konkreter Tätigkeiten dar […]" (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 17, Hervorhebung im Original). Es kann an dieser Stelle nicht die Aufgabe sein, die Heterogenität unterschiedlicher Perspektiven in all ihren Facetten nachzuzeichnen. Die vorhergehenden Ausführungen können diese lediglich andeuten, um die Vielfalt der Begriffsverwendung zu verdeutlichen. Für die vorliegende Arbeit muss vor dem Hintergrund der Erkenntnisinteressen und des damit verbundenen Verwendungszwecks das zugrunde gelegte Verständnis ausgewiesen werden. Es ist folglich notwendig zu entscheiden, welche Aspekte und Komponenten verschiedener Kompetenzakzentuierungen als definitorische Kriterien für das Erreichen von wissenschaftlichen und pragmatischen Zielen herangezogen werden sollen. Diese Absicht kann durch die vollständige Übernahme eines bereits bestehenden Begriffsgebäudes oder durch Festlegung
14
Besonders im Rahmen linguistischer Theorien ist Performanz als Gegenkonzept zur Kompetenz verstanden worden (DEPPERMANN 2004, S. 16).
4 Sozialkompetenzen im Rahmen von Situationstypen
35
eines eigenen Aussagensystems realisiert werden. Mithin denkbar ist auch die Verzahnung beider Perspektiven. Im Hinblick auf die anvisierten Zielsetzungen wird der Kompetenzbegriff wie folgt nominal bestimmt: Kompetenz als mentales System innerpsychischer Handlungsvoraussetzungen beschreibt im dispositionalen Sinne das Potenzial eines Individuums, innerhalb einer zu bestimmenden Klasse von Situationen Handlungen zu erzeugen. Dieses Kompetenzverständnis ist durch folgende Spezifika gekennzeichnet: 15 - Dispositionaler Charakter: Kompetenz wird als innere Disposition bzw. Fähigkeit des Menschen gesehen, innerhalb einer zu bestimmenden Klasse von Situationen zu handeln (vgl. EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 17, 21; KANNING 2005, S. 3). Damit wird für eine Trennung gegenüber dem Konstrukt der Performanz plädiert. Kompetenz ist folglich nicht unmittelbar beobachtbar, sondern beschreibt das innere Potenzial eines Individuums, 16 Handlungen regelbasiert zu erzeugen. - Handlungsvoraussetzung: Kompetenz wird nicht als Handlungsergebnis, sondern als System innerpsychischer Handlungsvoraussetzungen interpretiert. Diese Vorstellung korrespondiert mit dem bereits genannten dispositionalen Charakter in Abgrenzung zu einer Kompetenzauffassung im performativen Sinne. "(Handlungs-)Kompetenzen werden in didaktischer Perspektive zur Diagnose von Lernvoraussetzungen oder zur Bestimmung von Lernzielen im Sinne von angestrebten Dispositionen der Lernenden verwendet" (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 20). - Kontextbezug: Kompetenz wird nicht als abstrakte, universelle Fähigkeit aufgefasst, sondern bezieht sich auf einen bestimmten Kontext bzw. auf konkrete Situationsklassen. "Handlungskompetenzen als Möglichkeiten des Handelns beziehen sich jeweils auf einen Typus von Situation" (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 21). - Individuumsbezogen und selbstorganisiert: In Abgrenzung zur Qualifikation, welche primär auf Leistungsresultate gerichtet ist und folglich eher einen sachzentrierten Charakter erhält, sind Kompetenzen in erster Linie als subjektzentriert zu verstehen (vgl. ARNOLD 2001, S. 269; DEPPERMANN 2004, S. 17; ERPENBECK & VON ROSENSTIEL 2003, S. XI; WEINERT 2001, S. 62f.; WEISS 1999, S. 440). Kompetenzen umfassen immer ein notwendiges Wissen, welches in spezifischen Situationen der Ungewissheit durch die Selbstorganisationsfähigkeiten der Akteure handlungswirksam werden muss (siehe hierzu auch BOEKAERTS 2002). Die Kompetenzen "[…] bringen eben im Unterschied zu anderen Konstrukten wie z. B. Qualifikationen stets die Selbstorganisationsfähigkeiten konkreter Persönlichkeiten ins Spiel" (HEYSE & ERPENBECK 2004, S. XV). Für SONNTAG UND SCHMIDT-RATHJENS bedeutet Selbstorganisationsfähigkeit, dass ein Individuum die beabsichtigten Handlungen zielgerichtet umsetzt, "gestützt auf fachliches und methodisches Wissen, auf Erfahrung und
15
16
Unter Dispositionen werden jedoch abweichend von CHOMSKY nicht nur die individuellen Anlagen eines Menschen verstanden, sondern auch Entwicklungsresultate (CLAUSS ET AL. 1995, S. 126, zitiert in ERPENBECK & VON ROSENSTIEL 2003, S. XXIX). Diese Erweiterung wird aus didaktischer Sicht damit begründet, dass als Basis für eine gezielte Förderung von Kompetenz ein ausschliesslich genetisches bzw. stabiles Dispositionsverständnis ungeeignet erscheint (vgl. hierzu auch MANDL & KRAUSE 2001). Der Handlungsbegriff wird dem Verhaltensbegriff vorgezogen (siehe hierzu später in Kap. 5.1.2, S. 58).
36
Explikation des Gegenstandsbereichs
Expertise sowie unter Nutzung kommunikativer und kooperativer Möglichkeiten" (2005, S. 55f.). Wird diesem Verständnis von Kompetenz gefolgt, rückt der bereits erwähnte Dispositionscharakter in den Vordergrund. Gleichzeitig soll betont werden, dass Kompetenzen mental verankert sind (vgl. DEPPERMANN 2004, S. 17). 4.1.2
Begriffsdefinition der Sozialkompetenz
Nachdem im vorhergehenden Teil das Begriffsgebäude der '(Handlungs-)Kompetenz' im Allgemeinen geklärt wurde, soll darauf aufbauend die in der vorliegenden Arbeit verwendete Definition des Konstrukts 'Sozial-Kompetenz' expliziert werden. Die auf einen didaktischen Verwendungszweck ausgerichtete Definition beschreibt Sozialkompetenzen als "Disposition zur zielgerichteten Interaktion mit anderen Menschen über sachliche, soziale oder persönliche Themen in spezifischen Typen von Situationen" (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 9, Hervorhebung im Original). EULER UND BAUER-KLEBL fundierten die Definition auf dem Modell der sozialen Interaktion (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 142). Dieses stellt eine Weiterentwicklung des am Institut für Wirtschaftspädagogik der Universität St. Gallen entstandenen Modells der sozialen Kommunikation dar (EULER 2004, S. 15ff.; EULER & HAHN 2004, S. 246). Im Folgenden werden die wesentlichen Definitionsmerkmale zusammenfassend erörtert. 4.1.3
Ausrichtung der Kompetenz
Zunächst muss die Ausrichtung der Kompetenz näher bestimmt werden. Im Vordergrund steht die Frage, worauf sich eine Handlungskompetenz beziehen soll. Ohne einen klaren Bezugsrahmen ist eine semantische Präzisierung nicht sinnvoll möglich. Die Ausrichtung kann auf Herausforderungen fokussieren, mit welchen eine Person konfrontiert werden kann. Daraus lässt sich das folgende Kategorisierungsschema ableiten, welches drei Bezüge unterscheidet (EULER & HAHN 2004, S. 130f.): Steht der Umgang mit der gegenständlichen Umwelt im Vordergrund, bilden Sachkompetenzen den Bezugspunkt. Im Gegensatz dazu beziehen sich Selbstkompetenzen auf den Umgang mit der eigenen Person, und Sozialkompetenzen umfassen Dispositionen, welche die Bewältigung von zwischenmenschlichen Herausforderungen ermöglichen. Soziale Handlungen sind demnach solche, welche sich auf Personen und nicht auf Gegenstände beziehen (AEBLI 2003, S. 183). So kann das Klären von Konflikten als soziale Handlung aufgefasst werden, nicht jedoch das Reparieren eines Fahrzeugs. Letzteres ist den physischen Handlungen bzw. der gegenständlichen Umwelt zuzuordnen. Diese Triade als Klassifizierungsvorschlag wird, der Meinung von HEYSE UND ERPENBECK folgend, von den Kompetenzforschern mehrheitlich akzeptiert (vgl. exemplarisch ERPENBECK & HEYSE 1999, S. 165f.; ERPENBECK & VON ROSENSTIEL 2003, S. XVff.; EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 21f.; EULER & HAHN 2004, S. 129ff.; FAULSTICH 1997, S. 166f.; HEYSE & ERPENBECK 2004, S. 17 XIVf.). Obschon sich in Abhängigkeit des jeweiligen Verwendungszwecks die einzelnen Kategorien teilweise semantisch oder auch konzeptionell unterscheiden, so bildet diese Unterscheidung dennoch eine solide Grundlage weiterer Differenzierungen.
17
Weitere Ansatzpunkte zur Klassifizierung von Kompetenzen finden sich zusammenfassend in WEISS (1999, S. 442ff.).
4 Sozialkompetenzen im Rahmen von Situationstypen
4.1.4
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Prozessgestaltung des Umgangs mit anderen Menschen
Wenn bei Sozialkompetenzen der Umgang mit anderen Menschen im Vordergrund steht, muss gefragt werden, "welche Aktivitäten im Rahmen einer sozialen Interaktion von einem Interaktionspartner gefordert werden können" (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 138). Der Begriff der 'sozialen Interaktion' bringt allgemein zum Ausdruck, dass sich die Interaktion nicht auf materielle Objekte, sondern auf Individuen bezieht (dies in Abgrenzung zur Sachkompetenz). Die interaktionistische Perspektive betont des Weiteren, dass nicht auf das Handeln des Einzelnen Bezug genommen wird, sondern auf das wechselseitige Geschehen zwischen Gesprächspartnern. Es gilt, "individuelles Gesprächshandeln als in Interaktionen interaktiv und prozessual konstituierte Handlungsverlaufskonfiguration zu erfassen" (SPRANZFOGASY 2002, S. 7, Hervorhebung im Original). Der einzelne Beteiligte ist folglich "[…] Konstituierendes und Konstituiertes einer Interaktion zugleich" (S. 15). Diese gegenseitige Aufeinanderbezogenheit zwischen Artikulation und Interpretation des Artikulierten betont das Abstimmen der eigenen Handlung auf diejenige des Gegenübers. Der von EULER UND BAUER-KLEBL gewählte Begriff der 'Interaktion' will deutlich "zum Ausdruck bringen, dass sich das vertretene Verständnis von Sozialkompetenzen auf jene Form des sozialen Handelns bezieht, das nicht lediglich auf eine Wirkung des eigenen Handelns auf andere abzielt, sondern bei der eine Koordination im Rahmen einer sozialen Beziehung angestrebt wird" (2006, S. 10). Soziales Handeln impliziert zugleich die Zielgerichtetheit – ansonsten von Verhalten gesprochen werden müsste (die nähere Bestimmung des Handlungsbegriffs folgt später in Kapitel 5.1.2 (S. 58). Die spezifische Zielausrichtung der Handlung muss letztlich von den Interaktionspartnern selbstorganisatorisch definiert bzw. verhandelt werden. Eine Zielsetzung manifestiert sich stets in Verbindung mit Wertvorstellungen und Einstellungen der Gesprächspartner. Soziales Handeln folgt normativen Grundausrichtungen. Daraus folgern EULER UND BAUER-KLEBL: "Es gibt keine eineindeutige Verbindung zwischen Sozialkompetenzen und bestimmten Ziel- oder Wertausrichtungen" (2006, S. 11). Als logische Folge können keine generellen Ziele vorgeschrieben werden, welche als sozialkompetent gelten oder nicht. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass aus einer didaktischen Perspektive für spezifische Situationskontexte die Ziel- und Wertausrichtungen nicht thematisiert werden dürfen. Im Gegenteil: Wenn soziales Handeln normativ geprägt ist, müssen die Ziel- und Wertvorstellungen der zugrunde liegenden Theorien offengelegt werden, und zusätzlich können Lehrende ihre eigenen Präferenzen explizieren. Dies geschieht nicht mit der Intention, zu belehren oder gar zu indoktrinieren, sondern mit dem Ziel die Lernenden zu sensibilisieren und zur Selbstklärung ihrer eigenen Ziel- und Wertausrichtungen zu motivieren, um einer potenziellen Wertbewusstlosigkeit entgegenzuwirken (siehe hierzu auch WEBER 1988, S. 150ff.). Nachdem das Definitionsmerkmal der 'zielgerichteten Interaktion' hinreichend präzisiert worden ist, wird im nächsten Teil aufgezeigt, welche potenziellen Inhalte Gegenstand einer zielgerichteten Interaktion sein können. 4.1.5
Inhalte der zielgerichteten Interaktion
Grundsätzlich betont die inhaltliche Komponente, dass sich eine soziale Interaktion stets auf etwas beziehen muss. Genauso wie im WATZLAWICK'SCHEN Sinne 'nicht nicht kommuniziert
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Explikation des Gegenstandsbereichs
werden kann' (2007, S. 50ff.), kann auch nicht über nichts kommuniziert werden. Jegliche Form von Kommunikation weist stets einen inhaltlichen Bezug auf. Die Kategorisierung kann aus kommunikationspsychologischer Sicht unter Rückgriff auf das zweite Axiom von WATZLAWICK (2007, S. 53ff.) eine Unterscheidung zwischen inhaltlichen Sachthemen und zwischenmenschlichen Beziehungsthemen vornehmen. Ergänzend können persönliche Themen sowie Forderungen bzw. Appelle zur inhaltlichen Präzisierung aufgenommen werden (SCHULZ VON THUN 2007a, S. 25ff.). EULER UND BAUER-KLEBL unterscheiden zwischen sachlichen, sozialen und persönlichen Themen in Anbindung an die Kompetenzausrichtung (vgl. Kap. 4.1.3). Hinter dieser Differenzierung steht die Annahme, dass der Austausch über die drei genannten Themenbereiche unterschiedliche Kompetenzen erfordert (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 11). Mithin wird auch deutlich, dass die drei Kompetenzbereiche nicht losgelöst nebeneinander existieren, sondern eng miteinander verknüpft sind, was deren Trennung zuweilen schwer macht. Die analytische Trennung ist in zweierlei Hinsicht dennoch wichtig. Erstens, um der Komplexität angemessen zu begegnen und "bei der Kompetenzentwicklung didaktisch gezielt an kritischen Elementen ansetzen zu können" (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 141). Zweitens spielt diese Differenzierung bei der Klärung von Konflikten eine ganz zentrale Rolle. Es wird davon ausgegangen, dass im Gesprächsverlauf zeitlich zuerst die persönlichen Themen geklärt sein müssen (Selbstklärung), bevor das Zwischenmenschliche Gegenstand der Interaktion wird. Eine geklärte Beziehung ist wiederum Voraussetzung dafür, dass die Sachthemen des Konflikts thematisiert und nachhaltig geklärt werden können. Diese zeitliche Sequenzierung wird später ausführlicher besprochen. 4.1.6
Situativer Bezug
Sowohl im allgemeinen Kompetenzverständnis als auch in der Begriffsdefinition der Sozialkompetenz wird die Relevanz des Situationsbezugs deutlich. Sozialkompetenzen beschreiben keine abstrakten, universellen Fähigkeiten, sondern das Potenzial, innerhalb eines Situationskontextes Handlungen zu ermöglichen. Folglich präzisieren sich Sozialkompetenzen nicht nur an den Inhalten der Interaktion, sondern zusätzlich an bestimmten Situationen. Diese kontextuale Ausrichtung geht von der Vorstellung aus, dass aus Situationen konkrete Anforderungen ableitbar sind, zu deren Bewältigung bestimmte Sozialkompetenzen erforderlich sind. Allerdings folgt aus der Singularität von Situationen, dass Fördermassnahmen für eine bestimmte Situation kaum zielführend sein können, weil diese in ihrer Einzigartigkeit wohl nicht wiederkehren wird und der Transfer auf andere Situationen vollständig dem Lernenden überlassen werden müsste. Zudem wird nach der hier vertretenen Meinung davon ausgegangen, dass eine Situation eine subjektive Deutung des Individuums und nicht eine von diesem unabhängige Konstellation darstellt. 'Situationen' sind auf ontologischer Ebene den psychischen Interpetations- und Konstruktionsleistungen zuzuordnen. Diese Leistungen erfolgen jedoch stets in Austausch mit anderen Individuen, was letztlich zu intersubjektiven Konventionen führt, welche nicht auf jede singuläre Situation zutreffen müssen, jedoch auf bestimmte Situationsklassen. Demzufolge sollten die perzipierten Anforderungen nicht aus Einzelsituationen abgeleitet werden, sondern aus Aggregationskonstrukten von Situationen. Diese werden im Folgenden als Situationstypen bezeichnet. "Einzelne Situationen, die in einigen wesentlichen Merkmalen
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ähnliche Handlungsanforderungen an den Kommunizierenden stellen, lassen sich zu einem Situationstyp zusammenfassen" (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 12). Ein Situationstyp beschreibt einen Praxisausschnitt, an welchem sich das didaktische Handeln orientiert. Damit stellt sich die Frage, wie ein Praxisausschnitt ausgewählt, abgegrenzt und beschrieben werden kann, um diesen für eine didaktische Planung, Durchführung und Evaluation von LehrLern-Prozessen nutzbar zu machen. Diese Entscheidungen stehen jedoch nicht unverbunden nebeneinander, sondern bilden die wesentlichen Elemente eines integrativen Entwicklungsprozesses. Auswahl und Abgrenzung Die Auswahl von Lebenssituationen sollte idealerweise für eine spezifische Zielgruppe von Lernenden in Gegenwart und Zukunft als relevant eingestuft werden und damit verbunden aus der Perspektive der Lernenden als typisch gelten können. D. h., die Auswahl von Situationstypen muss auf die Lernenden abgestimmt sein. Zudem sollte ein Praxisausschnitt abgebildet werden, in welchem ein flexibles Handeln unter Rückgriff auf soziale Kompetenzen erwartet wird (EULER & HAHN 2004, S. 327). Der Umgang mit anderen Menschen steht im Vordergrund. Die Abgrenzung bzw. der Zuschnitt des Situationstyps muss nach verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen. Erstens sind didaktische Überlegungen notwendig, z. B.: Wie viel Zeit steht für eine Lehreinheit insgesamt zur Verfügung? Wie viele Lernende werden gleichzeitig an dieser Lehreinheit teilnehmen? Wie sehen die Lernvoraussetzungen der Zielgruppe aus? Zweitens muss die Lebenssituation selbst, welche 'didaktisch zugeschnitten' werden soll, im Auge behalten werden. Wenn die Klärung von Konflikten als Situationstyp modelliert wird, wäre es wenig sinnvoll, bestimmte Phasen des Klärungsgesprächs wegzulassen, weil damit der Situationstyp in prozessualer Hinsicht unvollständig wäre. Es müssen folglich andere Zuschnitte gefunden werden, welche einen relevanten Praxisausschnitt in seiner Ganzheit belassen. Des Weiteren kann der Zuschnitt über die Wahl des Abstraktionsgrades festgelegt werden. Die Bestimmung des Abstraktionsgrades stellt letztlich eine Frage des Verwendungszwecks dar, ohne dabei auf die Ebene einer singulären Situation zurückzufallen. Diese Perspektive zeigt die Abbildung 3.
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Abbildung 3: Abstraktionsstufen des Situationstyps 'Konflikte klären'
Konflikte klären Konflikte zwischen Personen klären Konflikte zwischen zwei Personen klären
Konflikte zwischen zwei Personen im beruflichen Kontext klären Konflikte zwischen einem Vorgesetzten und seinem Mitarbeiter im beruflichen Kontext klären Verteilungskonflikte zwischen einem Vorgesetzten und seinem Mitarbeiter im beruflichen Kontext klären
Aus diesen Überlegungen werden zweierlei Aspekte deutlich: Erstens müssen bei der Abgrenzung von Situationstypen die didaktischen und praxisrelevanten Erwägungen gleichberechtigt in die Überlegungen miteinbezogen werden. Zweitens setzen Letztere voraus, dass der Lehrende den zu modellierenden Praxisausschnitt sehr gut aus eigener Erfahrung kennt, ansonsten er kaum in der Lage sein wird, adäquate Entscheide zu treffen. Erfassung und Präzisierung Die inhaltliche Erfassung und Präzisierung von Situationstypen ist nach EULER UND BAUER-KLEBL prinzipiell über drei Wege möglich: empirische Situations- und Aufgabenanalysen, umfassende Literaturanalysen sowie (vorläufige) Plausibilitätsüberlegungen (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 40). Letztere dürfen dann als berechtigt gelten, wenn "empirische oder theoretische Aussagen nicht (hinreichend) verfügbar sind" (2006, S. 40). In welcher Art und Weise Literaturanalysen durchgeführt werden, hängt letztlich davon ab, auf welchen Praxisausschnitt eine Zielgruppe vorbereitet werden soll und welche didaktischen Zielsetzungen damit verbunden werden. Sollen die Lernenden für den Situationstyp 'Konflikte klären' als berufsübergreifendes Handlungsfeld im eher abstrakten Sinne sensibilisiert werden, sind zahlreiche Theorien und Ansätze zu analysieren – gegebenenfalls sind bezugswissenschaftliche Befunde aufzunehmen (2006, S. 49ff.). Den Lernenden muss ein breiter Fundus an wissenschaftlichen Aussagen bereitgestellt werden, um die notwendigen Orientierungsmöglichkeiten zu schaffen. Das Ziel würde vermutlich darin bestehen, die Zielgruppe für den Situationstyp zu sensibilisieren und zahlreiche Grundstrategien anzubieten. Dadurch könnten sie den Situationstyp insofern bewältigen, als sie aufgrund ihres Orientierungswissens Einzelsituationen beurteilen und notwendige Massnahmen einleiten könnten (z. B. Einzelgespräche oder Dis-
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kussionen initiieren, die Sichtweisen der Beteiligten einholen, zuziehen eines Klärungshelfers, Mediators, Prozessbegleiters oder Coachs etc.). Demgegenüber ist es denkbar, die Bewältigungsanforderung dergestalt auszurichten, dass die Zielgruppe befähigt wird, Konflikte zwischen zwei Personen im beruflichen Kontext zu klären. In diesem spezifizierteren Situationstyp mit engeren situativen Bezügen gilt es, kontextspezifischere Literatur heranzuziehen, welche zugeschnitten für diesen Praxisbezug von Relevanz ist. Dabei liegt die Perspektive weniger auf der möglichst breiten Darstellung des verfügbaren wissenschaftlichen Literaturspektrums, als vielmehr in der vertieften Analyse ausgewählter Spezialliteratur hinsichtlich des Praxisausschnittes. Zusammenfassend lässt sich festhalten: "Die Bestimmung und Beschreibung von Situationstypen ist das Ergebnis von Auswahl- und Konstruktionsprozessen. Welcher Situationstyp ausgewählt, wie er im Einzelnen abgegrenzt und wie abstrakt oder konkret er formuliert wird, ist abhängig von seinem didaktischen Anwendungskontext" (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 47). 4.2
Zum Wesen des Situationstyps: das Situationstypenmodell
In den vorhergehenden Ausführungen wurde der situative Bezug von Sozialkompetenzen betont und der Begriff des Situationstyps vorgestellt. Bislang blieb auf dieser Grundlage die Frage offen, welche Elemente einen Situationstyp konstituieren. Diese Fragestellung kann mithilfe des Situationstypenmodells beantwortet werden (vgl. Abbildung 4). Dieses lehnt sich an den Vorschlag von EULER UND BAUER-KLEBL an (zu den unterschiedlichen Akzentuierungen des Modells siehe EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 37ff.; EULER & HAHN 2004, S. 236ff.; EULER & REEMTSMA-THEIS 1999, S. 192ff.). Das Modell kann durch die Abstrahierung von Einzelsituationen als didaktisches Rahmenwerkzeug einen curriculumtheoretischen Verwendungszweck erfüllen. Dabei steht das Ziel im Vordergrund, ausgehend von eher abstrakt formulierten Sozialkompetenzen (z. B. Konfliktklärungsfähigkeit oder die Fähigkeit, Konflikte zwischen zwei Personen im beruflichen Kontext zu klären) Lernziele zu begründen und zu 18 präzisieren. In der vorliegenden Arbeit erfüllt das Situationstypenmodell zusätzlich einen empirisch-analytischen Verwendungszweck. Die inhaltliche Ausgestaltung der Kategorien erfolgt dann nicht aufgrund von theoretischen Überlegungen (z. B. basierend auf Literaturoder umfassenden Situationsanalysen), sondern basiert auf den subjektiven Erfahrungen eines agierenden Individuums. Wenn die Rekonstruktion Subjektiver Theorien zur 'Konfliktklärungskompetenz' im Vordergrund steht, soll das Situationstypenmodell zur Festlegung der Auswertungseinheiten als Orientierungsheuristik für die Segmentierung dieser abstrakt formulierten Sozialkompetenz dienen (siehe hierzu ausführlich Kap. 11, S. 205). 18
Lernziele bezeichnen Handlungskompetenzen, "die bei einem Menschen zu einem zukünftigen Zeitpunkt angestrebt werden sollen. […] Das Wort 'soll' […] zeigt an, dass es sich hier nicht mehr um Beschreibungen handelt, sondern um normative Festlegungen“ (EULER & HAHN 2004, S. 117, Hervorhebung im Original). Lernziele erfassen anzustrebende Handlungskompetenzen mittels vorschreibender Formulierungen. Des Weiteren können Handlungskompetenzen nicht nur präskriptiv, sondern auch deskriptiv verwendet werden: Abhängig von dem Zeitpunkt ihrer Festlegung beschreiben sie dann Lernvoraussetzungen als das festgestellte oder vermutete Handlungspotenzial bei einer Person vor dem Lernprozess oder ein Lernergebnis als Resultat eines Lernprozesses (siehe hierzu ausführlich EULER 1994, S. 130ff.).
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Abbildung 4: Modell des Situationstyps (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 38; EULER & HAHN 2004, S. 239) Essenzielle Bestandteile
Akteure, soziale Aufgaben, Erwartungen und Rollen
Werte und Einstellungen
Zeitlicher Ablauf (Phasen) Voraussetzungen
Absichten Kritische Ereignisse
Ein Situationstyp lässt sich demnach anhand der folgenden wesentlichen Merkmale erfassen: essenzielle Bestandteile; Akteure, soziale Aufgaben, Erwartungen und Rollen; Voraussetzungen; Absichten; Werte und Einstellungen; zeitlicher Ablauf (Phasen); kritische Ereignisse. Essenzielle Bestandteile Diese Kategorie umfasst die konstitutiven Kernmerkmale des Situationstyps (EULER & HAHN 2004, S. 240). Die Merkmale resultieren direkt aus den getroffenen Auswahl- und Abgrenzungsentscheidungen, indem die Grenzziehungen des Praxisausschnittes festgelegt werden. Zudem sind die Grundannahmen offenzulegen. Für den vorliegenden Situationstyp muss beispielsweise definiert werden, was unter einem sozialen Konflikt verstanden wird, anhand welcher Kriterien die Konfliktausprägungen zu typologisieren sind, welche wissenschaftlichen Aussagen als optimale 'Bewältigungstheorie(n)' herangezogen werden etc., ohne bereits mögliche Ausprägungen inhaltlich zu spezifizieren. Durch die essenziellen Bestandteile wird folglich die Kontur des Situationstyps festgelegt. Nachdem das Gerüst des Situationstyps bestimmt worden ist, nehmen die nachfolgenden Kategorien die inhaltliche Ausdifferenzierung vor. Diese Präzisierungen vollziehen sich stets vor dem Hintergrund getroffener Abgrenzungsentscheidungen und der damit einhergehenden Grundannahmen. Voraussetzungen Die Voraussetzungen statuieren zunächst Sachverhalte, welche zwingend vorhanden sein müssen, damit der Situationstyp überhaupt entstehen kann. Es sind Voraussetzungen gemeint, "die bei der Rede von einer bestimmten Handlung notwendig mitbehauptet werden bzw. die eine Person bei einer Handlung notwendig impliziert/unterstellt" (SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 55f.). Voraussetzungen haben dementsprechend eine ermöglichende Funktion. Ihr Vorhandensein bringt jedoch nicht eine unmittelbare, sondern lediglich eine mittelbare Wirkung hervor. Das Entstehen des Situationstyps wird durch die Voraussetzungen ermöglicht,
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jedoch nicht kausal herbeigeführt. Damit sind Voraussetzungen nicht gleichzusetzen mit dem Begriff der Ursache. Letzterer wird eine Kausalität in dem Sinne zugeschrieben, dass sie der Wirkung zeitlich vorausgeht und diese mit Notwendigkeit hervorbringt. Ein Beispiel soll das Gesagte verdeutlichen: Das Vorliegen eines Konfliktes ist Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine Konfliktklärung betrieben werden kann. Gleichzeitig führt das Vorhandensein eines Konfliktes nicht 'kausal' zu dessen Klärung. Damit der Situationstyp erfolgreich bewältigt werden kann, muss des Weiteren darüber nachgedacht werden, wie ein bestimmter Sachverhalt ausgeprägt sein muss. Präzisierend wird hierfür der Begriff der Antezedensbedingung (Wenn-Bedingung) aufgenommen, welche über die Ausprägung eines bestimmten Faktors Auskunft gibt. Die Bedingung, um ein Konfliktklärungsgespräch beginnen zu können, wäre beispielsweise darin zu sehen, dass der Konflikt in einer bestimmten Ausprägung (z. B. Eskalationsgrad) vorliegt. Solche und weitere Antezedensbedingungen können als Motivsystem eines Individuums im Sinne von Handlungsgründen aufgefasst werden (SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 6). Die Kategorie 'Voraussetzungen' beschreibt folglich nicht nur bestimmte ermöglichende Sachverhalte, sondern gegebenenfalls präzisierend deren Ausprägungsformen. Eine umfassende Beschreibung der Kategorie 'Voraussetzungen' ist weder aus theoretischer noch empirischer Perspektive möglich. Es kann lediglich ein Ausschnitt eines denkbaren Bedingungskomplexes aufgegriffen werden, da eine extensionale Benennung ansonsten ad infinitum geführt werden könnte. Absichten Die Kategorie 'Absicht' steht für die Intention(en), um derentwillen eine Einzelhandlung oder mehrere Handlungsschritte zusammen ausgeführt werden. Es geht also nicht um eine Wirkung, die eintreten kann oder nicht, sondern um das notwendig mit der Handlung Angezielte. Würde ein solches Ziel fehlen, könnte nicht von einer Handlung gesprochen werden. Didaktisch formuliert stellen die Absichten nicht die Lernergebnisse, sondern die von 19 den Akteuren gesetzten Lernziele dar (zur näheren Bestimmung der Begriffe 'Lernziele', 'Lernerfolg' und 'Lernergebnisse' siehe EULER & HAHN 2004, S. 177ff.). Werte und Einstellungen Die Ausgestaltung eines Situationstyps folgt bestimmten Einstellungen bzw. Werten (EULER & HAHN 2004, S. 241ff.). Obschon für die beiden Begrifflichkeiten in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen keine übergreifenden Definitionen bestimmbar sind, lassen sich unabhängig davon, ob die beiden Konstrukte aus einer psychologischen, soziologischen, pädagogischen oder kommunikationswissenschaftlichen Perspektive betrachtet werden
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Die Kategorie 'Absichten' beschreibt die Perspektive des Gesprächsleiters, welcher den Situationstyp zu bewältigen hat. Damit wird die Frage aufgenommen, welche Zielsetzungen im Sinne der erfolgreichen Bewältigung des Situationstyps (idealerweise) erreicht werden sollen. Mit der Beantwortung dieser Frage wird der zeitliche Endpunkt der Situation inhaltlich bestimmt (siehe hierzu ausführlich Kap. 7.2.2). Die (versteckten) Ziele der Konfliktparteien thematisiert demgegenüber die Kategorie 'Akteure, soziale Aufgaben, Erwartungen und Rollen' (siehe hierzu ausführlich Kap. 7.2.4, S. 111).
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Explikation des Gegenstandsbereichs
(siehe hierzu auch die Arbeit von EULER & BAUER-KLEBL 2006), für die vorliegende Arbeit bedeutsame, verbindende Aspekte hervorheben: - Werte können als geschichtlich entstandene, kulturrelative, allgemeine Zielvorstellungen, Orientierungsleitlinien, Massstäbe und Legitimationsgrundlagen für das menschliche Handeln aufgefasst werden (HILLMANN 2007, S. 962; REINHOLD, LAMNEK & RECKER 2000, S. 593). Sie sind demzufolge abstrakter formuliert als Ziele. Im Gegensatz zu Werten nehmen Ziele "zumeist Bezug auf Situationskontexte" (EULER & HAHN 2004, S. 530, Fn. 285). - Werte beeinflussen die Wahl von Handlungsarten, Handlungsmitteln und Handlungszielen (DORSCH, HÄCKER & STAPF 2004, S. 1030; SCHÄFERS, KOPP & LEHMANN 2006, S. 352). "Werte steuern zwar in gewisser Weise das menschliche Verhalten; aufgrund ihrer Allgemeinheit sind sie aber nur die generellsten Wegweiser des Handelns und liefern keine direkten Verhaltensanweisungen. […] Werte als indirekte Handlungsdirektiven werden erst auf dem Wege über situationsbezogene soziale Normen verhaltenswirksam" (SCHÄFERS et al. 2006, S. 353, Hervorhebung im Original). Instrumentelle Werte (z. B. zuverlässiges Arbeiten, verständnisvoller Umgang mit hilfesuchenden Menschen, egoistisches Durchsetzen bei Lohnverhandlungen) weisen einen stärkeren Handlungsbezug auf, als deren übergeordnete Grundwerte (z. B. Freiheit, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung). - Werte sind meist stark internalisiert. Das Individuum ist sich seines Wertebereichs oft nicht bewusst. "Aufgrund dieser weit verbreiteten lebenslänglichen 'Wertbewusstlosigkeit' wird die tatsächliche Einfluss- und Steuerkraft der Werte meistens unterschätzt oder ignoriert" (HILLMANN 2007, S. 963). - Einstellungen weisen einen bestimmten Bezugspunkt auf, welcher konkreter oder abstrakter Natur sein kann; z. B. der Ehepartner, der Psychologe, der Umweltschutz etc. (REINHOLD et al. 2000, S. 126; SCHÄFERS et al. 2006, S. 353). Durch diese Gegenstandsbezogenheit unterscheiden sie sich von "globalen Persönlichkeitseigenschaften" (DORSCH et al. 2004, S. 234). - Einstellungen wird ein verhaltenssteuerndes Potenzial zugeschrieben (SCHÄFERS et al. 2006, S. 57). Die Korrelation zwischen Einstellung und Verhalten als Dauerthema der Psy20 chologie wird grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Es existieren inzwischen bereits über zwanzig Theorien zur Einstellungs-Verhaltens-Debatte (SIX 1998, S. 207ff.). Die Stärke der Zusammenhänge wird grundsätzlich von dem Einstellungs-Verhaltens-Bereich abhängig 21 gemacht (DORSCH et al. 2004, S. 235). REINHOLD, LAMNEK UND RECKER sprechen daher von
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Eine methodenkritische Diskussion zur Erfassung von 'Einstellungs-Verhaltens-Zusammenhängen' findet sich bei REGNET (2001, S. 134ff.). SIX und seine Mitarbeiter untersuchten in ihrer Metaanalyse insgesamt 887 Einzelfallstudien. Die Analyse zeigte erhebliche Unterschiede bezüglich der Einstellungs-Verhaltens-Relationen in verschiedenen Verhaltensbereichen (1998, S. 210ff.). Wenn die Ergebnisse vor dem Hintergrund des vorliegenden Situationstyps interpretiert werden, kann die Tendenz festgestellt werden, dass die Konfliktklärung eher zu denjenigen Verhaltensbereichen gehört, welche eine vergleichsweise hohe Korrelation aufweisen. Diese Vermutung basiert auf den Aussagen von SIX (1998, S. 224ff.), dass die Einstellungs-Verhaltens-Relationen höher sind, wenn: die Verhaltenskontrolle hoch ist (bspw. im Gegensatz zur Familienplanung oder Diskriminierung), die Verhaltenskonsequenzen eher gering sind (bspw. im Gegensatz zum Sicherheitsverhalten im Strassenverkehr oder zum eigenen Gesundheitsverhalten) und die Verhaltensvariabilität eher gering ist (bspw. im Gegensatz zur Freizeitgestaltung oder zum Konsumverhalten).
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einer "selektiven Ausrichtung" (2000, S. 126) des Verhaltens. EULER UND HAHN gehen davon aus, dass die Wertbasis dem sozial-kommunikativen Handeln eine Ausrichtung verleiht und sich in konkreten Zielen sowie der Einstellung gegenüber dem Kommunikationspartner bekundet. Diese Ausprägungen "sind handlungsleitend für den Vollzug der sozialen Kommunikation im Sinne des Artikulierens und Interpretierens" (EULER & HAHN 2004, S. 241). Einstellungen "unterliegen der Generalisierungstendenz, d. h., eine einmal erworbene Einstellung wird auf andere, damit in Zusammenhang stehende Objekte übertragen" (SCHÄFERS et al. 2006, S. 57). Die Einstellungsbildung ist weitgehend vom Sozialisationsprozess bestimmt. Eine wichtige Rolle spielen hierbei die Erwartungen, Werthaltungen, Verhaltensweisen, Anschauungen wichtiger Bezugsgruppen sowie bereits vorhandene Einstellungen beim Individuum selbst (SCHÄFERS et al. 2006, S. 57f.).
Ob die Steuerung von Handlungen letztlich bestimmten Werten und/oder Einstellungen folgt, muss für den vorliegenden Verwendungszweck nicht entschieden werden – "in jedem Fall liegen der sozialen Kommunikation spezifische Werte und Ziele zugrunde" (EULER & BAUERKLEBL 2006, S. 11,137). Wenn im Folgenden von Werten und/oder Einstellungen gesprochen wird, ist damit immer nur derjenige Ausschnitt des potenziellen Werte-Einstellungs-Bereichs gemeint, welcher für den vorliegenden Situationstyp aus allgemein-theoretischer oder individuell-persönlicher Perspektive als potenziell handlungsleitend eingeschätzt wird. Die Abbildung 5 verdeutlicht diese Aussage: In unterschiedlichen Situationen können gewisse Werte 'nach vorne treten' und die Handlungen stärker leiten als andere. So kann die Wahl von Handlungsarten oder -mitteln beispielsweise von einer verständnisvollen und kritischen Haltung angetrieben werden, während distanzierende und befehlerische Tendenzen 'nach hinten treten'. Abbildung 5: Handlungsleitende Werte
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Die Abbildung 5 verdeutlicht einen zweiten wichtigen Aspekt: Werte stehen nicht harmonisch nebeneinander, sondern bilden ein pluralistisches System, welches auch Gegensätzlichkeiten und Spannungsfelder aufweisen kann (HILLMANN 2007, S. 963f.; REINHOLD et al. 2000, S. 593). Dementsprechend müssen auch Handlungen in einer bestimmten Interaktionssituation nicht einem einzigen Wert folgen. Viel eher ist davon auszugehen, dass verschiedene Werte, welche in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen, gleichzeitig handlungsleitend wirken. Der vorherige Grundgedanke kann mithilfe des Werte- und Entwicklungsquadrats nach SCHULZ VON THUN (2007b, S. 38ff.) visualisiert werden (siehe Abbildung 6). Abbildung 6: Werte- und Entwicklungsquadrat (SCHULZ VON THUN 2007b, S. 38ff.)
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Positives Spannungsverhältnis 1 Einseitige Übertreibung
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Einseitige Übertreibung
Konträre Entwicklungspfade 6
Die Prämisse lautet, dass jeder Wert nur dann eine konstruktive Wirkung erzielen kann, wenn er sich in "ausgehaltener Spannung" (SCHULZ VON THUN 2007b, S. 38) zu einem Gegenwert befindet c. Ohne diese Balance besteht die Gefahr, dass ein positiver Wert (e oder g) in die Übertreibung 'abrutschen' kann d. So wäre es beispielsweise in einer Konfliktklärung in der Rolle des Gesprächsleiters wenig zielführend, das Handeln ausschliesslich 'liebevoll', 'sanft' und 'akzeptierend' zu gestalten e. Dieser Gesprächsleiter riskiert, 'leichtgläubig', 'fürsorglich' und 'voller Hingabe' zu agieren, wodurch seine Arbeitsfähigkeit gefährdet ist f. Vielmehr ist eine Balance zwischen zwei positiven Werten zu fordern. Diese Balance beschreibt eine dialektische Relation, welche durch eine wirkliche Spannkraft und nicht ein 'ausgeleiertes Gummiband' geprägt ist c. Damit ist gemeint, dass die beiden 'Positiv-Werte' (e und g) gleichermassen ihre Daseinsberechtigung haben und es nicht darum geht, dass die beiden Werte dem Handeln ein bisschen Ausrichtung verleihen sollen. Aus der Abbildung 6 geht hervor, dass aufgrund dieser Überlegungen ein Beziehungsnetz mit vier Positionen entsteht. Diese deskriptive Ausrichtung des Modells wird anhand der 'konträren Entwicklungspfade' um eine präskriptive Entwicklungsperspektive ergänzt h. "In seiner Eigenschaft als Entwicklungsquadrat ermöglicht uns ein solches Wertequadrat nun, die Entwicklungsrichtungen eines Menschen […] zu bestimmen, die angezeigt sind, um den besonderen Herausforderungen der jeweiligen Berufspraxis und Lebenswelt gerecht zu werden (SCHULZ VON THUN 2007b, S. 47, Hervorhebung im Original). Folgt eine Handlung einer Wertausrichtung, welche aufgrund einer Übertreibung eines positiven Wertes in einen "Unwert" (2007b, S. 38f.) mündet f, empfiehlt das Modell eine diagonale Gegensteuerung g.
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Demzufolge kann das Modell für das eigene Handeln nutzbar gemacht werden, um in Hinblick auf bestimmte Situationen bzw. Situationstypen Werthaltungen aufzubauen oder auszubauen. Akteure, soziale Aufgaben, Erwartungen und Rollen In dieser Kategorie gilt es zu klären, "welche sozialen Aufgaben und Rollen den Akteuren in einem spezifischen Situationstyp zukommen" (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 38). Während den Konfliktparteien beispielsweise die Aufgaben zukommen, ihre Sichtweisen einzubringen, den anderen Anwesenden zuzuhören, Lösungsvorschläge zu skizzieren etc., hat der Gesprächsleiter andere, seiner Rolle angemessene Herausforderungen zu bewältigen. Ihm obliegt beispielsweise die Prozessverantwortung, indem er für die notwendige Balance zwischen Akzeptanz und Konfrontation sorgt, die Konfliktparteien bei ihren Explikationen unterstützt und gegebenenfalls vor verbalen Angriffen beschützt. Im Zusammenhang mit den Rollen der Akteure sind des Weiteren die potenziell divergierenden Erwartungen zu thematisieren. Die gegenseitigen Erwartungen können inhaltlicher oder zwischenmenschlicher Natur sein. Eine Konfliktpartei kann beispielsweise die Erwartung haben, dass der Gesprächsleiter den Konflikt löst oder dass dieser keine 'persönlichen' Fragen stellt. Genauso kann der Gesprächsleiter bestimmte Erwartungen an die Konfliktparteien herantragen. Verständlicherweise müssen die inhaltlichen und zwischenmenschlichen Erwartungen der Akteure nicht deckungsgleich sein. So kommt dem Gesprächsleiter in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, Bedingungen und Hindernisse zu erfragen und zu verhandeln. Es muss erörtert werden, welche gegenseitigen Zugeständnisse gemacht werden können, damit der Gesprächsleiter die Absichten weitestgehend erreichen kann. Zeitlicher Ablauf (Phasen) Der zeitliche Ablauf beschreibt die prozessuale Ausgestaltung des Situationstyps. Die Phasen strukturieren das Interaktionsgeschehen in mehrere Handlungssequenzen in Richtung Umsetzung der Absichten als "Kommunikations- bzw. Interaktionsanlass" (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 38). Die Festlegung der Phasen kann auf theoretischen Überlegungen basieren, welche ausgehend von den Grundannahmen unterschiedliche Formen annehmen können. Das Führen eines kooperativen Konfliktgesprächs kann beispielsweise entlang der Schritte 'Selbstklärung', 'Aufbau von Vertrauen', 'gemeinsame Problembearbeitung', 'Regeln und Normen' und 'innere Verarbeitung' strukturiert werden (vgl. KELLER 2004, S. 33ff.). Ein Mediationsgespräch durchläuft beispielsweise die Phasen 'Schaffung förderlicher Bedingungen', 'Erhebung der Issues', 'Erhellung der Konflikthintergründe', 'Lösungen sammeln und be22 werten' und 'Übereinkunft als Kompromiss oder Konsens' (RISTO 2003, S. 77ff.). Dieser 22
Die beschriebenen Phasen des 'Mediationsgesprächs' können unterschiedlich akzentuiert sein und erheben keineswegs den Anspruch auf generelle Gültigkeit. Das Konzept der Mediation hat auch unter der Bezeichnung 'Third Party Conflict Resolution' eine lange Tradition, weswegen es die Mediation eigentlich nicht gibt. GLASL (2004) spricht von einem 'Containerbegriff', in den alles Mögliche hineinprojiziert werden könne (S. 395). Das Mediationsverfahren hat seinen Ursprung in der Diplomatie und wird heute in verschiedensten Gebieten eingesetzt. Abhängig von dem Einsatzgebiet unterscheiden sich die einzelnen Verfahren in unterschiedlichen Gesichtspunkten (Freiwilligkeit der Teilnahme, Formalisierung des zeitlichen Ablaufs, Art der angestrebten Endergebisse etc.). Zum Verfahrensablauf der
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exemplarische Einblick zeigt, dass der zeitliche Ablauf von Situationstypen gegenstandsabhängig ist und folglich sehr unterschiedliche Formen annehmen kann. Kritische Ereignisse Die Kategorie 'kritische Ereignisse' umfasst prinzipiell alle Störungen der Phasengestaltung. "Ereignisse können dann kritisch werden, wenn die Situation durch […] Bedingungen geprägt ist, die für die Kommunizierenden besondere Schwierigkeiten hervorrufen" (EULER 2004, S. 38). Diese Bedingungen können anhand von sachlichen, personalen oder interaktionalen Faktoren typisiert werden (siehe hierzu EULER 2004, S. 38f.; sowie ausführlich EULER & REEMTSMA-THEIS 1999, S. 178ff.). Ein kritisches Ereignis beruht häufig auf mehreren Faktoren gleichzeitig. D. h., die Faktoren beeinflussen sich gegenseitig und evozieren in Form eines dynamischen Zusammenspiels ein kritisches Ereignis. Beispiel: Eine Konfliktpartei bricht während eines Konfliktklärungsprozesses in heftige Tränen aus. Dieses Ereignis kann (muss aber nicht) durch den Gesprächsleiter als kritisch erlebt werden. Der Gefühlsausbruch der Konfliktpartei könnte auf personale Faktoren zurückgeführt werden: z. B. emotionale Befindlichkeit (Gefühle der Verzweiflung, Hilflosigkeit, Trauer), körperliche Gesundheit oder zerrüttetes Selbstkonzept. Das alleinige Abstützen auf die personalen Bedingungen käme allerdings einer verkürzten Sichtweise gleich. Es ist anzunehmen, dass gleichermassen sachliche Faktoren (z. B. Historie des Konfliktes) wie interaktionale Faktoren (z. B. verbale oder nonverbale Äusserungen der anderen Konfliktpartei) das Ereignis ebenfalls mitkonstituieren. Die Einteilung von kritischen Ereignissen anhand der drei erwähnten Bedingungen wird daher als schwierig erachtet. Viel eher müssen situationstypenspezifische Kriterien gefunden werden, welche eine Systematisierung von kritischen Ereignissen ermöglichen. Eine zweite Schwierigkeit besteht in der Bestimmung von kritischen Ereignissen. Es geht um die Frage, welche Art von Ereignissen im Konkreten als 'kritisch' gelten sollen. Grundsätzlich sind damit Gegebenheiten gemeint, welche die "Gestaltung der Interaktion erschweren" (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 39) und folglich 'Schwierigkeiten bereiten'. Diese Konturierung zeigt, dass kritische Ereignisse für einen Situationstyp nicht losgelöst von einem bestimmten Verwendungsweck und einer bestimmten Zielgruppe formuliert werden können. Zu Recht müsste man sich im genannten Beispiel die Frage stellen, ob dieses Ereignis als kritisch gelten soll oder nicht. Diese Überlegungen werden in der vorliegenden Arbeit wie folgt gehandhabt: Erstens haben die später im Kapitel 7 aufgeführten kritischen Ereignisse für den vorliegenden Situationstyp lediglich einen potenziellen Charakter. Sie beruhen einerseits auf Literaturanalysen sowie andererseits auf persönlichen Erfahrungen des Forschers. Demzufolge kann die Liste keinen allgemeingültigen Charakter haben. Zweitens werden zwecks Rekonstruktionsabsichten bei der Zielgruppe die Ausdrücke 'kritisch' bzw. 'schwierig' präzisiert. Unter kritischen Ereignissen werden Geschehnisse verstanden, welche den geplanten Prozessverlauf des Situationstyps stören und damit verbunden zu einer (temporären)
Mediation siehe exemplarisch GERZON (2006, S. 59ff.), MONTADA (2001, S. 179ff.); die Bedeutung der humanistischen Psychologie in der Mediation diskutiert MONTADA (2004); eine Übersicht zu den Einsatzgebieten der Mediation findet sich bei FALK, HEINTEL UND KRAINZ (2005). Einen fundierten Einblick in die Mediation im Allgemeinen gibt BESEMER (2001).
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Behinderung der Arbeitsfähigkeit des Gesprächsleiters führen. Der Begriff 'kritisch' bringt somit zum Ausdruck, dass es sich um Ereignisse handelt, welche vom idealtypischen, im Voraus antizipierten Verlauf als abweichend wahrgenommen werden und bei welchen der Gesprächsleiter zugleich nicht auf Elemente seiner Subjektiven Theorie zurückgreifen kann, welche ein zielgerichtetes Verhalten ermöglichen würden. Das kritische Ereignis wird als Barriere wahrgenommen, für deren Überwindung keine handlungsleitenden Kognitionen abgerufen werden können, sondern diese erst neu konstruiert werden müssen. Pointiert formuliert sind nicht Situationen gemeint, welche die Agierenden fordern, sondern überfordern. Umgangssprachlich können diese Art von Ereignissen als 'Ach-du-SchreckSituationen' bezeichnet werden. Das Situationstypenmodell zeigt als Instrument die wesentlichen Kategorien, "um den Situationskontext zu erfassen" (EULER & HAHN 2004, S. 239). Je nachdem, ob ein curriculumtheoretischer oder empirisch-analytischer Verwendungszweck im Vordergrund steht, sind die Komponenten unterschiedlich zu akzentuieren. Die Strukturierung ermöglicht eine didaktische Präzisierung sozialkommunikativer Praxisausschnitte sowie die Ableitung von Handlungsanforderungen und damit einhergehend die Bestimmung von Lernzielen. Zudem können die als relevant erachteten Auswertungseinheiten als Orientierungsheuristik zwecks empirischer Modellierung festgelegt werden. Dabei wird die Kategorie 'Akteure, soziale Aufgaben, Erwartungen und Rollen' als Teilaspekt des zeitlichen Ablaufs betrachtet und demzufolge der Kategorie 'Phasen' zugerechnet. Dieser Entscheid ist gegenstandsbezogen ausgerichtet. Er steht in enger Verbindung mit der inhaltlichen Ausgestaltung des Situationstyps und könnte bei anderen Praxisausschnitten wiederum anders aussehen. Der empirisch zu modellierende Situationstyp wird anhand der folgenden Kategorien strukturiert: 1. Voraussetzungen bzw. Bedingungen 2. Zielsetzungen 3. Handlungsleitende Werte 4. Phasen 5. Kritische Ereignisse Ergänzend dient die Kategorie 'essenzielle Bestandteile' der Abgrenzung des Situationstyps (siehe Abbildung 4, S. 42). Der bislang inhaltlich noch vage umrissene Situationstyp wird in Kapitel 7 ausführlich beschrieben. 4.3
Sozialkompetenzen als mehrdimensionales Konstrukt
Das Konstrukt 'Sozialkompetenz' steht als Oberbegriff für zahlreiche untergeordnete Teilkompetenzen, welche sich anhand von drei Dimensionen strukturieren lassen (EULER & BAUERKLEBL 2006, S. 21ff.). Die Erfassung der internen Dispositionen des Individuums geschieht EULER UND BAUER-KLEBL folgend über die drei Handlungsschwerpunkte Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen.
50
Explikation des Gegenstandsbereichs
4.3.1
Wissen
Im kognitiven Schwerpunkt steht das Wissen über den Situationstyp im Mittelpunkt. Diese Dimension umfasst beispielsweise das Wissen über die Abgrenzung zu anderen Situationstypen, über die Gestaltung von Interaktionen mit anderen Menschen in Konfliktklärungssituationen, über konkrete Bewältigungsstrategien, über relevante Kommunikationsmodelle etc. Der gängigen Terminologie der Kognitionspsychologie folgend lässt sich dieses Wissen in deklaratives, prozedurales, konditionales und metakognitives/reflexives Wissen klassifizieren. Die verschiedenen Wissensformen lassen sich nach ihrem Anspruchsniveau und ihrer Komplexität bezüglich Prozessniveau in eine hierarchische Ordnung bringen. Am bekanntesten für die Dimension der kognitiven Handlungsschwerpunkte ist die Taxonomie nach Bloom (1972). Hierbei werden sechs Stufen unterschieden (revidiert in L. W. ANDERSON & KRATHWOHL 2001, S. 63ff.): erinnern, verstehen, anwenden/betätigen, analysieren, evaluieren und erzeugen/kreieren. 4.3.2
Fertigkeiten
Die Handlungsdimension 'Fertigkeiten' spricht in erster Linie "das handhabend-gestaltende Wirken" (EULER & HAHN 2004, S. 130) an. Dieses Wirken kann sich grundsätzlich sowohl auf 23 psychomotorische als auch auf intellektuelle Operationen beziehen. Unter Bezugnahme auf AEBLI (2003, S. 359f.) ist die erkennende von der herstellenden Anwendung zu unterscheiden: Die Anwendung des Wissens als Vorgang des Erkennens meint, dass das vorhandene Wissen auf eine Situation angewendet wird, indem ein Sachverhalt erkannt wird. Der Gesprächsleiter in einer Konfliktklärung muss erkennen, ob eine Konfliktpartei in einer Gesprächssequenz abwehrende Gefühle (z. B. Hass, Zorn, Wut, Neid) oder Verletzungsgefühle(z. B. Ausgeliefertsein, Blösse, Entbehrung) erlebt.Basierend auf dieser gedanklichen Analyse kann im Sinne einer herstellenden Anwendung beispielsweise vertiefend oder dialogisierend interveniert werden, wodurch ein bestimmter Effekt 'hergestellt' wird. Bei der herstellenden Anwendung vollzieht sich die konstruierende Leistung mit dem psychomotorischen Einsatz bestimmter Techniken. In dem vorherigen Beispiel ist deutlich eine Phase der Analyse (erkennende Anwendung) und eine Phase des Eingriffs (herstellende Anwendung) auszumachen. In dieser Arbeit sollen Fertigkeiten als Anwendung von Wissen aufgefasst werden, wobei sich die Anwendung auf die herstellende Anwendung begrenzt. Die erkennende Anwendung hingegen wird der Wissensdimension zugeordnet. Dabei kann die Grenzziehung zwischen Wissen und Fertigkeiten im Einzelnen schwierig sein (EULER & HAHN 2004, S. 130). 4.3.3
Einstellungen
In der Einstellungsdimension dominieren Grundhaltungen gegenüber der gegenständlichen Umwelt und gegenüber anderen Menschen. Der Gesprächsleiter in einer Konfliktklärung kann beispielsweise die Bereitschaft zeigen, mit den Konfliktparteien vorurteilsfrei und ver-
23
Ein Hierarchisierungsvorschlag als Taxonomie für den psychomotorischen Bereich findet sich bei DAVE (1973, S. 154ff.) sowie in einer Weiterentwicklung bei REICHARTS (1982, S. 97, zit. in WEISS 1999, S. 446).
4 Sozialkompetenzen im Rahmen von Situationstypen
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ständnisvoll zu interagieren oder den Gesprächsprozess nicht unbedacht, sondern systema24 tisch und geplant zu gestalten. Die affektiven Schwerpunkte liegen jedem Handeln zugrunde und beeinflussen die Zielfokussierung der Interaktionspartner. "Sozialkommunikatives Handeln ist unverzichtbar durch Werte und Ziele getragen" (EULER & BAUERKLEBL 2006, S. 31). Dieser Sachverhalt wurde bereits in Kap. 4.2 auf der Seite 43 ausführlich erörtert. Zusammenfassend sei darauf hingewiesen, dass die drei beschriebenen Handlungsdimensionen nicht unabhängig nebeneinander stehen, sondern miteinander verwoben sind. Sie beeinflussen und bedingen sich gegenseitig. Dasselbe gilt für die genannten Ausrichtungen der Kompetenz. Es wurde verdeutlicht, dass die drei Kompetenzbereiche eng miteinander verknüpft sind. Trotz den Verzahnungen zwischen der Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz und den Handlungsdimensionen (Wissen, Fertigkeiten, Einstellungen) macht die anvisierte Trennung Sinn, um der Komplexität angemessen begegnen zu können. 4.4
Vom Praxisausschnitt zu den Lernzielen
In den bisherigen Ausführungen wurde festgehalten, dass ausgehend von eher abstrakt formulierten Sozialkompetenzen Lernziele zu begründen und zu präzisieren sind. Lernziele werden als Soll-Handlungskompetenzen aufgefasst. Des Weiteren können Handlungskompetenzen auch als Lernvoraussetzungen aufgenommen werden, welche von den Lernenden im Sinne eines Handlungspotenzials in den Lernprozess eingebracht werden. An diese Überlegungen knüpfen zwei grundlegende Fragen an, welche miteinander in Beziehung stehen: Wie werden die Lernziele festgelegt? Wie werden die Lernvoraussetzungen erfasst? Die Festlegung von Lernzielen stützt sich auf übergeordnete Normen und lässt sich nicht faktenbasiert begründen (EULER & HAHN 2004, S. 121). Als ROBINSOHN Ende der 60er Jahre den Curriculumbegriff im deutschsprachigen Raum wieder einführte, schrieb er hierzu treffend: "Es handelt sich nun einmal bei der Bestimmung von Curricula um Entscheidungen […], in die sowohl Wertgesichtspunkte, also Normen, wie auch Wissen und Meinung über Bedingungen realer Verhaltensweisen eingehen" (1969, S. 53). Genauso wie unter Einbezug von Wertvorstellungen über den Verwendungszweck wissenschaftlicher Ergebnisse nachgedacht werden kann, können diese Überlegungen auch für die Bestimmung von Lernzielen angestellt werden. Eine übergeordnete Norm stellt beispielsweise das Menschenbild dar, welches sowohl einem didaktischen Handeln als auch einem Forschungshandeln zugrunde gelegt wird. Bezüglich der Kursgestaltung zur Förderung der 'Konfliktklärungskompetenz' kann als zweites Beispiel die emanzipatorische Relevanz im Holzkamp'schen Sinne als Norm zur Formulierung von Lernzielen bedeutsam sein (HOLZKAMP 1970, S. 20f.). Die Beurteilung potenzieller Lerninhalte erfolgt dann unter dem Blickwinkel der Nützlichkeit für eine bestimmte Zielgruppe. Diese übergeordnete Norm manifestiert sich in der Zielvorstellung der Selbstaufklärung, der Ermöglichung von Selbstentwicklung und Erweiterung des Handlungsrepertoires bei den Studierenden. Sie sollen zu einem bewussten, selbst-kontrollierten Han24
Eine Taxonomie für den affektiven Bereich wurde von KRATHWOHL, BLOOM UND MASIA (1975, S. 23ff.) entwickelt.
52
Explikation des Gegenstandsbereichs
deln innerhalb des Situationstyps befähigt werden. Hiermit wird deutlich, dass unabhängig von dem Weg der Lernzielbestimmung die gewählte Verfahrensweise "gerade auch die Berücksichtigung normativ gewünschter Zukunftsvorstellungen" (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 25) unvermeidbar macht. Die ersten Verfahrensschritte zur Bestimmung kontextspezifischer Sozialkompetenzen wurden bereits dargelegt. Diese gilt es im Folgenden zu ergänzen, um den Brückenschlag von dem Praxisausschnitt zu den Lernzielen zu vervollständigen. Die folgende Abbildung 7 (S. 53) fasst die wesentlichen Phasen schematisch zusammen (vgl. hierzu auch EULER & BAUERKLEBL 2006, S. 24ff. & 142ff.; ROBINSOHN 1969, S. 47ff.). Vor dem Hintergrund übergeordneter Normen lässt sich die Bestimmung von Lernzielen als anzustrebende Handlungskompetenzen in sechs Teilschritte gliedern, wobei diese Sequenzierung nicht streng linear verläuft. Wenn die Bewältigung von Lebenssituationen als Zielperspektive der Didaktik aufgefasst wird, müssen zunächst Praxisausschnitte identifiziert werden, welche für die jeweilige Zielgruppe gegenwarts- und zukunftsbezogen als relevant eingestuft werden. Diese Anbindung an Lebenssituationen stellt aus curriculumtheoretischer Perspektive eine mögliche Legitimationsquelle dar. "Das Situationsprinzip nimmt eine Bestimmung und Begründung von Lernzielen und -inhalten über die Analyse von typischen Lebenssituationen vor, auf deren Bewältigung der Lernende vorbereitet werden soll" (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 25). Die Situationsorientierung wird in den ersten beiden Phasen den weiteren Legitimationsquellen (Wissenschaftsorientierung und Persönlichkeitsorientierung) 25 übergeordnet. Grundsätzlich stehen zahlreiche Möglichkeiten offen, die Legitimationsquellen zu erschliessen. Denkbar sind Situations- und Aufgabenanalysen, Expertenbefragungen, Interviews, Dokument- und Literaturanalysen, Fallstudien sowie forscherseitig verfügbare Erfahrungsquellen. Unterstützend können auch Plausibilitätsüberlegungen angestellt werden.
25
Die potenziellen Legitimationsquellen werden an dieser Stelle nicht vertieft erörtert (siehe hierzu ausführlich EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 24ff.; EULER & HAHN 2004, S. 121ff.).
53
4 Sozialkompetenzen im Rahmen von Situationstypen
Abbildung 7: Vorgehensweise zur Bestimmung der anzustrebenden Handlungskompetenzen
Wissenschaftsorientierung 1 2 3 4
Legitimationsquellen: Situationsorientierung
Persönlichkeitsorientierung
Identifizieren gegenwarts- und zukunftsbezogener Lebenssituationen Auswahl und Zuschnitt des Situationstyps Inhaltliche Erfassung und Konkretisierung
Begründung der Situationsanforderungen und Festlegung der notwendigen Handlungskompetenzen in den Dimensionen Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen
6
5 Analyse und Beurteilung der Lernvoraussetzungen als Handlungspotenziale der Lernenden
Festlegung von Lernzielen als anzustrebende Handlungskompetenzen
Die zweite Phase (Auswahl und Zuschnitt des Situationstyps) wurde bereits in Kapitel 4.1.6 auf den Seiten 39f. beschrieben. In der dritten Phase ist der Situationstyp inhaltlich zu erfassen und zu präzisieren (vgl. Kap. 4.1.6, S. 40). An dieser Stelle tritt nun die Wissenschaftsorientierung in den Vordergrund, wenn es darum geht, "die relevanten wissenschaftlichen Aussagen zu sichern, die zur Aufklärung dieser abgegrenzten Lebenssituationen beitragen können" (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 27). Die dritte Phase legt damit die wissenschaftliche Basis zur Legitimation von Lerninhalten und Lernzielen. Der Situationstyp kann anhand von theoretischen oder empirischen Studien inhaltlich ausdifferenziert werden. Aufbauend auf dieser Grundlage werden sodann in der vierten Phase die Situationsanforderungen interpretativ abgeleitet, um die zur Bewältigung erforderlichen Handlungskompetenzen bestimmen zu können. Dieser Auswahlprozess orientiert sich nicht an a priori festgelegten Kriterien, sondern ist in weiten Teilen interpretativ. D. h., "aus der prinzipiellen Komplexität einer Situation müssen einzelne Aspekte hervorgehoben werden, die als Anforderung für die Kompetenzbestimmung als besonders bedeutsam bewertet werden. […] Eine Situation ermöglicht eine nahezu endlose Menge von begründbaren Verbindungen zu Kompetenzanforderungen. Mit der Bestimmung von Kompetenzanforderungen sind daher unvermeidbar jeweils Auswahlentscheidungen darüber verbunden, welche Anforderungen als bedeutsam und damit hervorhebenswert bzw. welche Anforderungen als unbedeutsam und daher ignorierbar bewertet werden" (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 29). Als regulierende Grössen wirken neben dem Wissenschafts- auch das Persönlichkeitsprinzip. Daraus folgt, dass die festgelegten Handlungskompetenzen sowohl einer wissenschaftlichen Grundlage bedürfen als auch mit den gesetzten Sollvorstellungen hinsichtlich der Lernenden harmonieren sollen (z. B. Entwicklung individueller Ansprüche, Übernahme von Eigenverantwortung).
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Bevor die Lernziele bestimmt werden können, gilt es in der fünften Phase die Lernvoraussetzungen zu analysieren und zu beurteilen. Die Handlungspotenziale nehmen den Lernstand auf, mit welchem die Lernenden in den Lernprozess eintreten. Die Erweiterung von Handlungskompetenzen kann nur dann sinnvoll geschehen, wenn bei den Lernenden ein Elaborationsprozess stattfinden kann. Ein solcher resultiert aus einer Interaktion zwischen Wahrgenommenem und Vorerfahrungen. D. h., Neues wird mit dem Bestehenden vernetzt. Diese Vernetzung gelingt umso besser, wenn neue Erfahrungen im Sinne von Lernerlebnissen an die bestehenden mentalen Repräsentationen angeschlossen werden können. Durch Kontrastierung mit den zuvor festgelegten situationstypenspezifischen Handlungsanforderungen lässt sich sodann der Förderbedarf ableiten. Es ist zu erkunden, in welchem Masse die Zielgruppe bereits über Handlungskompetenzen verfügt und in welchen Bereichen Lücken oder Widersprüche zu wissenschaftlichen Aussagen bestehen. In der Einleitung zu dieser Arbeit wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die Ergründung der Lernvoraussetzungen in Abhängigkeit des Lerngegenstandes als sehr komplex erweisen kann. Eine wissenschaftlich fundierte Kompetenzdiagnose kann nicht ad hoc geschehen, sondern bedarf eines gegenstandsangemessenen Instrumentariums. Idealerweise gelingt es, die Durchführung der Lernvoraussetzungsdiagnosen möglichst nahe mit den direkt Betroffenen als Teil des Lernprozesses zu gestalten. Die gewonnenen Erkenntnisse sollten dem Lernprozess wiederum zugänglich gemacht werden, um das Bewusstsein der Lernenden bezüglich ihrer Kompetenzen zu schärfen. Neben der Frage, wie die Lernvoraussetzungen erfasst werden können, muss bereits bei der Planung der Kompetenzdiagnose genauer bestimmt werden, welche Inhalte als Lernvoraussetzungen gelten sollen (siehe hierzu ausführlich EULER & HAHN 2004, S. 150ff.). Der letzte Schritt des in der Abbildung 7 dargestellten Verfahrens fokussiert die Festlegung der Lernziele als anzustrebende Handlungskompetenzen. Als Grundlage hierzu dienen die diagnostizierten Lernvoraussetzungen. Diese fungieren als Bindeglied zwischen den situationstypenspezifischen Handlungsanforderungen und der Festlegung der Lernziele. Verfügen die Lernenden bereits über eine notwendige Handlungskompetenz zur Bewältigung einer spezifischen Kompetenzanforderung, so wäre es kaum sinnvoll, diese Teilkompetenzen als Lernziele aufzunehmen. Gleichzeitig ist es denkbar, dass eine bedeutsame Anforderung bei den Lernenden mehrheitlich nicht nachgewiesen werden kann und folglich Handlungsbedarf besteht. Neben 'Lücken' können jedoch auch normative oder inhaltliche Diskrepanzen zwischen den Kompetenzanforderungen und den Lernvoraussetzungen bestehen. Auch hierfür gilt es begründete Lernziele anzusetzen. Selbstverständlich orientiert sich die Formulierung der Lernziele nicht ausschliesslich an den Ergebnissen der Kompetenzdiagnose. Neben den normativen Präferenzen als übergeordnete Normen sind die allgemeinen Rahmenbedingungen pädagogisch arrangierter Umwelten mitzuberücksichtigen (verfügbare Zeit und Materialien, Anzahl Lernende, verfügbare Räumlichkeiten und Infrastrukturen, curriculare Vorgaben von Drittinstanzen, finanzielle Mittel etc.).
5 Subjektive Theorien als Bezugspunkt der Lernvoraussetzungen
5
Subjektive Theorien als Bezugspunkt der Lernvoraussetzungen
5.1
Einleitende Klärungen und Vorstrukturierung
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In Kapitel 4.1.1 wurde bereits darauf hingewiesen, dass Handlungskompetenzen als Lernziele aufgefasst werden können, welche bei einem Individuum zu einem zukünftigen Zeitpunkt angestrebt werden sollen. Gleichsam ist es auch möglich, die Handlungskompetenz als Potenzialitätsbegriff aufzunehmen, um damit Lernvoraussetzungen zu beschreiben. Wenn nun unterstellt wird, dass die Handlungskompetenz die potenzielle Fähigkeit und Bereitschaft beschreibt, innerhalb eines Situationstyps handeln zu können, sind Handlungskompetenzen demnach als handlungsleitend zu bestimmen. Handlungskompetenzen umfassen folglich die Summe derjenigen mentalen Strukturen, welche die Bewältigung eines Situationstyps ermöglichen, sowie die Bereitschaft, diese anzuwenden. Gelingt dies, wird einem Individuum die Handlungsfähigkeit zugeschrieben. Als nominaldefinitorische Festlegung beschreiben mentale Strukturen nicht nur die Wissensdimension im engeren Sinne (vgl. Kap. 4.3.1, S. 50), sondern auch affektive Schwerpunkte in der Form von Einstellungen (vgl. Kap. 4.3.3, S. 50) sowie mentale Repräsentationen von Fertigkeiten (vgl. Kap 4.3.2, S. 50). Zwar kann mit diesen Ausführungen die Primärabsicht der vorliegenden Arbeit nochmals verdeutlicht werden – es sollen im Sinne einer Kompetenzdiagnostik handlungsleitende Lernvoraussetzungen rekonstruiert werden –, doch man schafft sich die zusätzliche Schwierigkeit, mit Begrifflichkeiten zu argumentieren, welche in der wissenschaftlichen Literatur keineswegs eindeutig bestimmt sind. Die Berührungspunkte zwischen Wissen bzw. Kognitionen und Handlungskompetenzen bzw. Handlungen sind nicht eindeutig geklärt. In kognitionspsychologischen Disziplinen wird vorzugsweise von 'Wissen' und 'Kognition' gesprochen, während das Konstrukt der Handlungskompetenz einen handlungstheoretischen Ursprung aufweist. Ausserdem werden der Wissens- und der Handlungsbegriff unterschiedlich interpretiert und infolgedessen divergierende, gegenseitige Zusammenhangsmodellierungen postuliert. Dies nicht zuletzt deswegen, weil die Debatten über die Beziehung zwischen Wissen und Handeln über die Begriffbestimmungen selbst geführt werden. Pointiert können zwei gedankliche Gegenpositionen skizziert werden: - Es wird davon ausgegangen, dass sich 'handlungsleitendes Wissen' identifizieren lässt, sofern man über geeignete Methoden verfügt. Das Wissen steht in einem (kausalen) Zusammenhang zum Handeln. Zugespitzt formuliert determiniert das Wissen das Handeln. - Im Gegensatz dazu könnte auch die Position vertreten werden, dass sich Handeln lediglich auf ein Können stützt, welches nicht unmittelbar von Wissen gesteuert wird. Der Handlungsvollzug besteht dabei in einer (unhinterfragten) Übernahme von Handlungsschemata von anderen Individuen oder eines sozialen Systems, wobei die Annahme von 'handlungsleitendem Wissen' nicht haltbar ist. Innerhalb dieser beiden Pole lassen sich in der Literatur eine Vielzahl von Theorien finden, welche die Zusammenhänge von Wissen und Handeln zum Gegenstand haben. Die einschlägigen Erklärungsansätze wissenschaftlicher Disziplinen und der jeweiligen Strömungen verdeutlichen die Vielfalt der komplexen Zusammenhänge und damit verbunden die Schwierigkeiten von deren Erforschung (VON CRANACH & BANGERTER 2000, S. 222). Allerdings ist es für das, in dieser Arbeit formulierte, Erkenntnisinteresse weder notwendig noch mög-
56
Explikation des Gegenstandsbereichs
lich, die komplexen Bezüge in ihren unterschiedlichsten Facetten umfassend zu beleuchten und zu diskutieren. Dies würde den Rahmen dieser Arbeit bei Weitem überschreiten. Vielmehr besteht die Absicht darin, das eigene Verständnis sowie die diesbezüglichen theoretischen Annahmen auszuweisen und die damit verbundenen Konsequenzen begründet darzulegen. Dabei steht die Beantwortung der folgenden Fragen im Vordergrund: Was soll unter Wissen und Handeln verstanden werden? Wie gestaltet sich der Zusammenhang von Wissen und Handeln? In welcher Form muss das Wissen vorliegen und strukturell repräsentiert sein, damit diesem eine handlungsleitende Funktion zugeschrieben werden kann. In welcher Beziehung steht dabei die Situiertheit von Wissen und Handeln? Zur Klärung dieser Fragestellungen gilt es vorab, aufbauend auf den Ausführungen zur Handlungskompetenz, die Begriffe des Wissens und des Handelns näher zu bestimmen, bevor die Zusammenhänge ausgewiesen werden. 5.1.1
Wissen und Kognition
In der (kognitiven) Psychologie besteht keine einheitliche Theorie, was man unter 'Wissen' versteht, aber eine Art "Grundkonsens" (GERSTENMAIER & MANDL 2000, S. 291). Zunächst gilt es den Wissensbegriff gegenüber 'Informationen' abzugrenzen. Letztere umfassen Daten, welche in einem bestimmten Kontext über einen Sachverhalt aufklären. Informationen sind "Bedeutung tragende Daten" (AL-DIBAN 2002, S. 18). Ein Lehrmittel bietet Informationen an, jedoch kein Wissen. "Damit aus Informationen 'Wissen' entsteht, muss der Mensch sie in seinen Erfahrungskontext, seine Denk-, Gefühls-, Handlungs- und Wollensstruktur aufnehmen" (WIATER 2007, S. 15). Das Individuum wählt situativ relevante Informationen aus, bewertet und vergleicht diese mit den im Gedächtnis bereits abgespeicherten mentalen Repräsentationen und vernetzt diese mit dem bisherigen Erfahrungsstand. "Wissen ist also nicht gleichzusetzen mit verfügbaren Informationen, sondern erst mit der Fähigkeit des einzelnen Menschen gegeben, geordnete Aussagen über Fakten und Ideen herstellen, übermitteln und in bewusstes Handeln umsetzen zu können" (2007, S. 16). Sinnvollerweise wird erst dann von Wissen gesprochen, wenn Informationen Eingang in die Denkstruktur eines Individuums gefunden haben und Impulse für weitere kognitive Konstruktionsprozesse und Handlungen davon ausgehen. Dieser weit gefasste Wissensbegriff wird synonym als Ausdruck für Kognitionen verwendet. Er umfasst nicht nur die intern informationsverarbeitenden Prozesse, sondern auch die Ergebnisse von Interaktionen zwischen individuellen und sozialen Systemen. Damit wird deutlich, dass Wissen als ein "aktiver Prozess der Verarbeitung" (VON CRANACH & BANGERTER 2000, S. 226) verstanden wird. Die mentale Repräsentation von äusseren Sachverhalten manifestiert sich nicht in einem 'fotografischen' Abbild, sondern in einem subjektiven Prozess aus Konstruktion und Rekonstruktion. Dieser Verarbeitungsprozess bzw. das Produkt daraus weist einen zeitlich überdauernden Charakter auf. "'Überdauernd' bedeutet: über längere Zeit vorhanden bzw. ablaufend, auch ohne gleichzeitige Anwesenheit des repräsentierten Sachverhaltes" (VON CRANACH & BANGERTER 2000, S. 226f, Hervorhebung im Original).
5 Subjektive Theorien als Bezugspunkt der Lernvoraussetzungen
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In Kapitel 4.3.1 (S. 50) wurde bereits auf eine in der Kognitionspsychologie gängige Klassifikation von Wissen hingewiesen: Zurückgehend auf RYLE (1969, S. 30ff.) wird deklaratives 26 (knowing what) von prozeduralem Wissen (knowing how) unterschieden. Die weiteren Differenzierungen sind nicht einheitlich und überschneiden sich teilweise. Häufig werden zusätzlich die Wissensformen des konditionalen und metakognitiven/reflexiven Wissens unterschieden (exemplarisch L. W. ANDERSON & KRATHWOHL 2001, S. 38ff.; RIEDL & SCHELTEN 27 2000, S. 157f.; SCHACTER 1987; WIATER 2007, S. 21,23) . Diesen Wissensformen wird in Abhängigkeit des Wissensinhaltes das Potenzial zugeschrieben, direkt oder indirekt handlungsleitend zu wirken (VON CRANACH & BANGERTER 2000, S. 236ff.): - Eine direkte Handlungswirkung besitzt das prozedurale Wissen, "weil es direkt in die Form von Handlungsanweisungen gekleidet ist" (2000, S. 236). Dem prozeduralen Wissen entspricht im Situationstypenmodell die Kategorie 'Phasen' (vgl. Abbildung 4, S. 42). - Neben Handlungsplänen im engeren Sinne ermöglicht das konditionale Wissen das Erkennen einer Situation bzw. eines Sachverhalts, in welchem ein Handlungsplan zum Tragen kommen soll (vgl. AEBLI 2003, S. 359f.). D. h., aufgrund der Wahrnehmung von Situationsmerkmalen werden bestimmte Handlungen aktiviert, welche aufgrund gemachter Erfahrungen als sinnvoll erscheinen. Das 'Wahrnehmungspotenzial' hängt wiederum vom Vorwissen ab. Mit dem konditionalen Wissen ist die Kategorie 'Voraussetzungen' des Situationstypenmodells im Sinne des 'Bedingungswissens' gemeint (vgl. Abbildung 4, S. 42). - Das prozedurale und konditionale Wissen beschreibt das sogenannte Handlungswissen, weil diesem eine direkte Handlungssteuerung zugesprochen wird. Das Wissen muss in einer prozeduralisierten Form vorliegen. Durch Erfahrung werden Prozeduren, Regeln, Ablaufmuster entwickelt, welche als Kompetenzzuwachs aufgefasst werden können (zur Prozeduralisierung siehe J. R. ANDERSON 2001, S. 289ff.). Damit das prozeduralisierte Wissen auf die jeweilige Situation abgestimmt zur Anwendung kommen kann, spielt wiederum der Bedingungsteil, also das konditionale Wissen, eine wichtige Rolle. - Inhaltlich werden den Wissensbeständen 'Ziele/Absichten' sowie 'Werte/Einstellungen' (vgl. Abbildung 4) als Form des deklarativen Wissens eine indirekte Handlungswirksamkeit zugeschrieben. Sie werden insofern nicht direkt handlungswirksam, als dass sie erst
26 27
Es werden die englischen Bezeichnungen verwendet, weil die deutschsprachigen Übersetzungen in dem Werk von RYLE durch die Begriffe 'Wissen' und 'Können' unpräzise sind. Manche Autoren führen zusätzlich das episodische Wissen ein (exemplarisch VON CRANACH & BANGERTER 2000, S. 236). Das episodische Wissen umfasst Wissen über vergangene Ereignisse (z. B. erlebte Handlungen und ihre Folgen). Nach der hier vertretenen Meinung beschreibt episodisches Wissen einen bestimmten Wissensinhalt (Vergangenes), nicht jedoch eine eigenständige Wissensform. Steht beispielsweise die Reflexion im Vordergrund, bildet episodisches Wissen einen Teil des metakognitiven Wissens. Werden hingegen Überlegungen angestellt, welche Handlungen in welchen Situationen ausgeführt wurden, wird das konditionale Wissen angesprochen etc. Das episodische Wissen kann durchaus den vier 'traditionellen' Klassifizierungen zugeordnet werden. Des Weiteren wird die Abgrenzung zwischen prozeduralem und konditionalem Wissen in der Literatur nicht eindeutig gehandhabt. Oft wird das Bedingungswissen als Teil des Prozesswissens betrachtet, so auch bei ANDERSON UND KRATHWOHL (2001, S. 54f.). Diese Vermengung erscheint nicht nachvollziehbar, da die beiden Wissensformen relativ klar abgrenzbare Fragestellungen zum Gegenstand haben. Eine zusammenfassende Diskussion hierzu findet sich in DÖRIG (1994, S. 183ff.).
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Explikation des Gegenstandsbereichs
gemeinsam mit anderen Prozessen handlungssteuernd wirken (vgl. hierzu Kap. 4.2, insbesondere Seite 43). Für die vorliegende Arbeit ist eine zusätzliche Präzisierung bezüglich des Bewusstheitsgrades des Wissens notwendig. Von Interesse ist nicht nur das explizite, sondern auch das implizite Wissen (exemplarisch NEUWEG 2000, S. 198ff.; 2005, S. 558ff.; WIATER 2007, S. 22). Das implizite Wissen kann als kontextspezifisches, personenbezogenes Erfahrungswissen umschrieben werden, welches im Rahmen von Handlungen zum Ausdruck kommt, jedoch als schwer verbalisierbar gilt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es nicht bewusstseinsfähig ist (WAHL 2006, S. 41). Präzisierend sei darauf hinzuweisen, dass mit implizitem Wissen nicht bewusste Kognitionen gemeint sind. Es fehlt dabei an offener Repräsentation, wobei eine Bewusstwerdung mithilfe geeigneter Rekonstruktionsprozesse als möglich erachtet wird. Davon zu unterscheiden sind unbewusste Kognitionen "im Sinne des Verdrängten und Tabuisierten" (VON CRANACH & BANGERTER 2000, S. 226f.). Sie wurden in Abwehrprozessen verdrängt und unterliegen meist nicht einer voluntativen Kontrolle. Deren Aktivierung ist Gegenstand von therapeutischen Interventionen – unbewusste Kognitionen gelten demzufolge für die vorliegende Arbeit als nicht rekonstruierbar. Als vorläufiges Zwischenfazit lässt sich festhalten: Wissen repräsentiert sich als mentale Konstruktion und Rekonstruktion von äusseren Sachverhalten. Es weist einen zeitlich überdauernden Charakter auf und liegt in unterschiedlichen Formen sowie Bewusstheitsgraden vor. Für die Rekonstruktion ergibt sich daraus, dass möglichst alle Wissensformen erfasst werden müssen. Insbesondere muss darauf geachtet werden, dass nicht nur deklaratives, sondern auch prozedurales und konditionales Wissen rekonstruiert wird. Des Weiteren müssen Methoden der Datenerhebung gefunden werden, welche eine Verbalisierung von implizitem Wissen im Sinne von nicht bewussten Kognitionen maximal ermöglichen. 5.1.2
Handeln – Verhalten – Tun
Der von dem Behaviorismus eingeführte Verhaltensbegriff bezeichnet in seinem Kern (beobachtbare) Reaktionen von Organismen auf Umweltreize (exemplarisch ERB 1997, S. 159; GROEBEN 1986b, S. 56; SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 17; SCHLEE 1988b, S. 13). Diese enge Begriffbestimmung verneint das Vorhandensein von Intention bzw. Motivation. Diese beiden Kategorien werden mehrheitlich bei der Bestimmung des Handlungsbegriffs in Form der Zielgerichtetheit aufgenommen. Handeln wird als eine besondere Form des menschlichen Verhaltens verstanden, die sich dadurch kennzeichnet, dass sie mit einer Absicht, also zielgerichtet vollzogen wird (exemplarisch AEBLI 2003, S. 182; G. HUBER & MANDL 1994, S. 12; KOCH, KNOBLICH & PRINZ 2006, S. 497; MITTELSTRASS 1984, S. 33f.; SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 5ff.; SCHLEE 1988b, S. 12; VON CRANACH & BANGERTER 2000, S. 228; WAHL 1991, S. 23; 2006, S. 16ff.). Handlung wird im Sinne einer Kurzdefinition für die vorliegende Arbeit wie folgt bestimmt: "Handlung ist motiviertes, gezieltes, geplantes, gewolltes, kontrolliertes und be-
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5 Subjektive Theorien als Bezugspunkt der Lernvoraussetzungen 28
wertetes Verhalten" (VON CRANACH & BANGERTER 2000, S. 228). Diese Merkmale des Handlungsbegriffs lassen sich durch den Oberbegriff der Intentionalität zusammenfassen. "Von Handlungen ist daher immer dann zu sprechen, wenn beobachtbare Verhaltensweisen des Menschen als intentional beschrieben werden können" (SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 6). Das 29 gilt sowohl für die Selbst- wie auch die Fremdbeschreibung von Handlungen. Diese Kernannahme der Zielgerichtetheit kam bereits bei der Begriffsdefinition der Sozialkompetenz nach EULER UND BAUER-KLEBL deutlich zum Ausdruck. Wenn die Intentionalität bzw. Zielgerichtetheit als konstitutives Merkmal von Handlungen beschrieben wird, so muss gleichsam darauf hingewiesen werden, was mit 'Ziel' gemeint ist. Das Ziel könnte vorschnell als antizipierter Endzustand im Sinne eines Handlungsergebnisses interpretiert werden. Auf die Klärung von Konflikten übertragen, könnte ein solches Ziel dergestalt sein, dass der Konflikt am Ende der Sitzung geklärt ist oder transferorientierte Absprachen getroffen werden. Das zu erreichende Ziel manifestiert sich hierbei in einem 'Endprodukt'. Dies muss nach dem hier vertretenen Verständnis jedoch nicht so sein. Es wird davon ausgegangen, dass sich die Zielgerichtetheit nicht nur auf 'Produkte', sondern auch auf 'Prozesse' beziehen kann. VON CRANACH UND BANGERTER (2000, S. 242f.) sprechen in diesem Zusammenhang von prozessorientierten Handlungen. Wiederum auf die Klärung von Konflikten übertragen, könnte dies bedeuten, dass Handlungsphasen eingeleitet werden, welche die Klarheit zwischen den Konfliktparteien herausarbeiten wollen. Das 'Entwirren von Verwirrungen und Verirrungen' beschreibt ein Prozessziel, welches im Laufe der Sitzung erreicht werden will. Der Fokus liegt dabei nicht bei dem Endziel 'Lösung', sondern in dem Prozess selber. Die Konfliktparteien sollen wieder miteinander in Kontakt treten, sich artikulieren und zuhören, Verständnis für die gegenseitige Position entwickeln können etc. Vereinfacht ausgedrückt: Der Weg ist das Ziel. Wie die Überschrift dieses Kapitels vermuten lässt, soll neben dem Handlungs- und Verhaltensbegriff eine zusätzliche Kategorie eingeführt werden. Im Folgenden soll gezeigt werden, was mit dem Begriff des Tuns gemeint ist und welche Bedeutung diese Kategorie 30 für die vorliegende Arbeit aufweist. Der Handlungsbegriff umschliesst eine Handlungsabsicht als mental antizipiertes Handlungsergebnis. Damit dieses Ergebnis erreicht werden kann, benötigt der Handelnde ein Überzeugungssystem – also einen Weg, wie er das Ziel 28
29
30
Diese Begriffsbestimmung ist für den vorliegenden Verwendungszweck ausreichend. Den angesprochenen Merkmalen werden allerdings nicht einheitlich dieselben Bedeutungen und Ausprägungen zugeschrieben (weiterführend hierzu GERSTENMAIER & MANDL 2000, S. 293ff.; GROEBEN 1986b, S. 49ff.). Es sei bereits an dieser Stelle als Vorgriff auf spätere Ausführungen darauf hingewiesen, dass zwischen der Selbstund der Fremdbeobachtung ein relevanter Unterschied besteht. Ein externer Beobachter kann immer nur ex post eine Handlungsbeschreibung vornehmen (WRIGHT 2000, S. 104ff.). Der Handelnde selbst kann dies aufgrund seiner mentalen Repräsentationen bereits vor dem Handeln – also ex ante – tun. Dies bedeutet, dass nur die interpretative Handlungsbeschreibung des Handelnden zu einem späteren Zeitpunkt wirksam werden kann. Daraus folgern SCHEELE UND GROEBEN (1988a)"dass man bei der Erforschung von Handlungen in erster Linie bzw. zumindest im ersten Schritt auf die (intentionale) Selbstbeschreibung des Handelnden als Selbstinterpretation zurückgreifen sollte" (S. 6). Solche Selbstbeschreibungen beziehen sich inhaltlich auf die Handlungsabsichten im Sinne von anvisierten Handlungszielen. Das Handlungsergebnis beschreibt sodann das verwirklichte Handlungsziel. Ausführlichere und differenziertere Darstellungen hierzu finden sich im Rahmen des Forschungsprogramms 'Subjektive Theorien' (exemplarisch GROEBEN 1986b; SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 9ff.).
60
Explikation des Gegenstandsbereichs
erreichen kann. Dies zeigt sich in einem geplanten und kontrollierten Agieren. Die Gründe des Handelns bilden das Motivsystem des Individuums. Sie werden als Bedingungen betrachtet, damit eine Handlung überhaupt ermöglicht wird. Nun ist es jedoch denkbar, dass ein Individuum seine Handlungsabsichten verfehlt. Das Angestrebte, Gewollte und die tatsächlich erreichten Produkt- oder Prozessergebnisse fallen auseinander. Wenn das antizipierte Handlungsergebnis nicht erreicht wird, kann das Agieren des Individuums nicht mehr (vollumfänglich) als zielgerichtet gelten. Es müsste der traditionellen Terminologie folgend der Verhaltensbegriff verwendet werden. Ergänzend soll ein zweites gedankliches Beispiel angeführt werden: Ein Individuum ist sich sowohl seines Motivsystems als auch seiner Handlungsabsichten bewusst. Es kennt die Gründe seines Handelns und weiss, welches Handlungsergebnis es erreichen möchte. Allerdings ist das Überzeugungssystem lückenhaft. Es ist kein klarer Weg bekannt, wie das Ziel erreicht werden kann. Infolgedessen wird das Individuum vermutlich ausprobieren, welche Aktivitäten welche Wirkungen erzeugen, ohne sich des Sinnes des eigenen Agierens vollständig bewusst zu sein. Auch in diesem Beispiel kann nicht von Handlung in dem definierten Sinne gesprochen werden. Die zwei Beispiele zeigen, dass einerseits nicht von Handeln gesprochen werden kann, andererseits der Verhaltensbegriff ebenfalls wenig sinnvoll erscheint. Der Verhaltensbegriff greift insofern zu kurz, als ein Agieren in Form einer aktiven Kontrolle seitens der Personen vorliegt und nicht ein blos31 ses Reagieren auf die Umwelt. Aus diesen Überlegungen führen SCHEELE UND GROEBEN den Begriff des 'Tuns' ein. Das Tun impliziert, dass der Sinn des Agierens den Akteuren nicht vollständig bewusst sein muss, diese sich aber dennoch nicht unwillkürlich und umweltkontrolliert verhalten. "Mit der Explikation einer solchen Zwischenkategorie (des Tuns) zwischen den Gegenstandseinheiten des Handelns und des Verhaltens vermeidet man die unfruchtbare Überziehung beider Konzepte, nicht nur des Handlungs-Begriffs, sondern auch 32 des Verhaltens-Begriffs" (SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 17). Damit wird ein konstruktiver Weg benannt, wie verhindert werden kann, dass der Verhaltensbegriff vorschnell verwendet werden muss und der Handlungsbegriff einer "abgegriffenen Münze" (DÖRNER 1984, S. 10) ähnelt. 5.1.3
Handeln und Wissen – eine systemische Perspektive
Nachdem das Verständnis von Wissen und Handeln aufgezeigt wurde, rückt die Frage nach dem Zusammenhang dieser beiden Konzepte in den Vordergrund und damit einhergehend 33 die Perspektiven der Handlungs- und Kognitionspsychologie. 31 32 33
Der Verhaltensbegriff nimmt dagegen den Phänomen-Bereich der Automatismen, Routinen und Reflexe auf. Zur Dichotomisierung des Kontinuums zwischen Verhalten und Handeln siehe auch NEUWEG (2005, S. 561f.). Diese beiden Perspektiven stellen selbstverständlich nicht die einzigen Zugänge dar, welche sich mit dieser Thematik beschäftigen. Insbesondere seien die wissenssoziologischen Positionierungen erwähnt, welche die Bedeutsamkeit eines (handlungsleitenden) Wissens als problematisch erachten (exemplarisch RADTKE 1996). Dabei wird die These vertreten, dass dem Handeln oft nichts vorausgehe, was als Handlungsplanung deutbar wäre (RADTKE 1996, S. 77f.). Diese Vorstellung unterstellt einem Individuum zwar nicht, dass es willkürlich agiert, dennoch wird die "professionskonforme Übereinstimmung" (RADTKE 1996, S. 102) mit anderen Individuen oder dem sozialen System einer Berufsgruppe in der Vordergrund gestellt. Obwohl die Stärke dieser Ausrichtung, nämlich die Integration des institutionellen Rahmens, nicht negiert wird, wirken nach der hier vertretenen Meinung die Konventionen sozialer bzw.
5 Subjektive Theorien als Bezugspunkt der Lernvoraussetzungen
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Kognitive Informationsverarbeitungstheorien betonen das deklarative, prozedurale und konditionale Wissen als Ausgangspunkt des Handelns, wobei die letzten beiden Wissensformen als Handlungswissen im engeren Sinne aufgefasst werden. Aus kognitionstheoretischer Sicht gilt es, mentale Strukturen zu erweitern und im Sinne der erwähnten Wissensformen zu organisieren, damit diese handlungswirksam werden. Die Handlung wird dabei als ein Produkt eines kognitiven Informationsverarbeitungsprozesses verstanden. Das 'Funktionieren' kognitiver Systeme steht im Mittelpunkt der Betrachtung. Aus handlungstheoretischer Perspektive hingegen führen die Lernerfahrungen als mentales Abbild von Lernerlebnissen im Sinne des Erlebens, Erprobens und Reflektierens (EULER 2004, S. 55f.) zur Erweiterung von handlungswirksamen Handlungskompetenzen. Im Vordergrund stehen Fragen, wie Handlungen geplant, ausgelöst, gesteuert und bewertet werden. Es ist offensichtlich, dass die beiden genannten Perspektiven nicht ohne Weiteres kompatibel sind. Dennoch wird eine wesentliche Gemeinsamkeit deutlich, welche für die vorliegende Arbeit wichtig ist: Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass ein (handlungsleitendes) Wissen existiert, welches die Grundlage des Handelns bildet. Handeln und Wissen werden nicht getrennt voneinander betrachtet, sondern stehen in einem Wechselverhältnis. Die linearen Modellierungen, in welchen das Verhalten als 'Outputvariable' der Kognition dargestellt werden, sind aufgrund unzureichenden Erklärungspotenzials zugunsten eines reziprok systemischen Verhältnisses von Wissen und Handeln aufzulösen. "Gängige deskriptive Modelle, die kodierte Informationen mit angenommenen Datenbänken in Verbindung setzen, vernachlässigen in der Regel den Einfluss des Kontextes, da man davon ausgeht, dass Wissen als Merkmal eines Individuums situationsinvariant bleibt. Dieses Modell entspricht nicht der Anpassungsfähigkeit, Komplexität und Flexibilität menschlichen Handelns, es ist zu mechanistisch, um die Kluft zwischen Wissen und Handeln befriedigend beschreiben und erklären zu können" (LAW 2000, S. 255f.). Diese Kerngedanken sind insbesondere in den Theorien der situierten Kognition aufgenommen worden, indem das wechselseitige Verhältnis von Wissen und Handeln einerseits sowie der Kontextbezug andererseits betont werden. Zurückgehend auf die Arbeiten von VYGOTSKIJ und DEWEY werden Wissen und Handeln als Prozess gegenseitiger Abstimmung aufgefasst. Solche Prozesse werden "von Individuen im Laufe ihres Lebens durch ausgedehnte und fortlaufende Erfahrungsprozesse erworben, die in der Interaktion mit anderen und durch kulturelle Artefakte (z. B. Sprache oder wissenschaftliche Methoden) gemacht werden" (LAW 2000, S. 256). Wenn Wissen als Ergebnis von Interaktionen zwischen individuellen und sozialen Systemen aufgefasst wird, dann impliziert dies zugleich den Abstimmungsprozess zwischen Wissen, Handeln und situativen Gegebenheiten (siehe Abbildung 8).
institutioneller Systeme nicht als flankierend, sondern tendenziell diktierend. Die attestierten Selbstorganisations- und Selbstbestimmungsfähigkeiten einzelner Akteure nehmen gestützt auf das Vorwissen und die Vorerfahrungen einen vergleichsweise residualen Stellenwert ein. Vor dem Hintergrund des formulierten Erkenntnisinteresses erscheint deshalb die Fokussierung auf handlungs- und kognitionspsychologische Perspektiven als tragfähiger.
62
Explikation des Gegenstandsbereichs
Abbildung 8: System des Wissens und des Handelns (in Anlehnung an VON CRANACH UND BANGERTER 2000, S. 223
individuelles Wissen soziales Handeln Handeln
Individuum
Wissen soziales Wissen
individuelles Handeln soziales System
Wissen und Handeln bilden einen untrennbaren, mehrstufigen Kreisprozess. "In diesem Sinne schliesst Handeln sowohl den Aufbau von Wissen als auch dessen Anwendung in Form von gedanklichen oder motorischen Aktivitäten ein" (EULER 2001, S. 363). Eingebettet durch situative Bezüge steuert das (handlungsleitende) Wissen die Handlungen, und das Handeln bringt neues Wissen hervor bzw. verändert dieses. Handeln und Wissen "bilden funktionale Bestandteile des lebenden, selbstaktiven Systems 'Mensch'" (VON CRANACH & BANGERTER 2000, S. 222). Träger dieser Prozesse sind nicht nur Individuen, sondern auch soziale Systeme (z. B. Gruppen und Institutionen). Die Träger wiederum werden nicht als dekontextualisierte Entitäten aufgefasst, sondern stehen in einem dauerhaften Austausch mit den Situationen, innerhalb deren sich die Abstimmungsprozesse zwischen Wissen und Handeln vollziehen. Diese Annahme der Situiertheit steht in Kongruenz mit dem ausgewiesenen allgemeinen Kompetenzverständnis und der darauf aufbauenden Begriffsdefinition sozialer Kompetenzen, indem die Relevanz des Situationsbezugs hervorgehoben wurde (siehe Kap. 4.1.1, S. 33 und S. 38). Die situierte Sichtweise soll allerdings nicht so weit überformt werden, dass die Annahme individueller, handlungsleitender Repräsentationen per se negiert wird. "So tendiert der situierte Ansatz dazu, sich selbst zu dogmatisieren, indem nur soziale Kognitionen zugelassen und individuelle Kognitionen ausgeschlossen werden" (LAW 2000, S. 277). Diese Vorstellung würde der vorherig postulierten, konstruktivistisch systemischen Auffassung widersprechen. Lebende Systeme müssen sich selbst erhalten und weiterentwickeln können. Dieser Grundgedanke gilt jedoch nicht nur für soziale Systeme, sondern auch für jedes seiner Elemente – also auch für das Individuum. Denn "Erhaltung und Entwicklung geschehen (von anderen Prozessen abgesehen) durch aktives Verhalten (Eigenaktivität). Dieses beruht auf der Verarbeitung intern gespeicherter und produzierter Energie und Information nach den eigenen Regeln des Systems" (VON CRANACH & BANGERTER 2000, S. 224, Hervorhebung im Original). Das Prinzip der Eigenaktivität wird als Abstimmungsprozess zwischen Wissen und Handeln innerhalb eines Kontextes auf sozialer und individueller Ebene verstanden. Die Erhaltung und Entwicklung eines Individuums realisiert sich in situierten Kreisläufen von Wissen und Handeln.
5 Subjektive Theorien als Bezugspunkt der Lernvoraussetzungen
5.1.4
63
Zwischenfazit
Als vorläufiges Zwischenfazit sollen die folgenden Aussagen die einleitenden Klärungen abschliessen: - Wissen beschreibt einen über längere Zeit vorhandenen bzw. ablaufenden informationsverarbeitenden Konstruktions- und Rekonstruktionsprozess eines Individuums im Austausch mit sich selbst und sozialen Systemen. - Es werden aus kognitionspsychologischer Perspektive vier Wissensformen unterschieden: deklaratives, prozedurales, konditionales und metakognitives/reflexives Wissen. Das prozedurale und konditionale Wissen beschreibt das Handlungswissen, welchem eine direkte Handlungssteuerung zugesprochen wird. Indirekt handlungsleitend wirken die deklarativen und reflexiven Wissensformen. - Wissen kann sowohl einen expliziten als auch impliziten Status aufweisen. Nicht bewusste Kognitionen gelten im Gegensatz zu unbewussten Kognitionen als schwer verbalisierbar, jedoch mithilfe geeigneter Rekonstruktionsprozesse als bewusstseinsfähig. - Handeln wird als eine besondere Form des menschlichen Verhaltens verstanden, die sich dadurch kennzeichnet, dass sie mit einer Absicht, also zielgerichtet vollzogen wird. Als Zielbezug gelten sowohl anvisierte Zustände als auch Prozesse. - Die Erforschung von Handlungen sollte in einem ersten Schritt auf die intentionale Selbstbeschreibung des Handelnden zurückgreifen. - Das menschliche Tun wird im Zusammenhang mit dem Handlungs- und Verhaltensbegriff als "Restkategorie" (GROEBEN 1986b, S. 169) dargestellt. Damit wird eine Überstrapazierung der Handlungs- und Verhaltenskategorien verhindert. Für die Rekonstruktion handlungsleitender Kognitionen dürfen folglich nur mentale Repräsentationen gelten, welche sich auf das Handeln, jedoch nicht auf das Verhalten oder Tun beziehen. Obschon dem 'Tun' durchaus eine Zielgerichtetheit zugeschrieben werden kann, dürfen lediglich hypostasierte Überzeugungssysteme nicht als handlungsleitende Kognitionen gelten. - Das Verhältnis von Wissen und Handeln wird als zirkulärer, mehrstufiger Abstimmungsprozess auf sozialer und individueller Ebene aufgefasst, welcher stets einen kontextualen Bezug aufweist. Die Erforschung dieses komplexen Wechselgeschehens zwischen Handlung, Wissen und Situiertheit lässt uns an die Grenzen dessen stossen, "was auch eine grosszügig gehandhabte empirische Methodik noch zu untersuchen ermöglicht" (VON CRANACH & BANGERTER 2000, S. 223). So muss sich auch diese Arbeit auf einen Ausschnitt konzentrieren, welcher die Rekonstruktion individueller, handlungsleitender Lernvoraussetzungen beinhaltet. - Dem Prinzip der Situiertheit muss auch im Forschungsprozess genügend Aufmerksamkeit geschenkt werden. Zunächst erfordert die Rekonstruktionstätigkeit die Auswahl und den Zuschnitt eines Situationstyps, auf welchen sich die handlungsleitenden Kognitionen beziehen sollen. Des Weiteren sind bei der Erforschung der Lernvoraussetzungen konkrete, situative Bezüge herzustellen.
64 -
Explikation des Gegenstandsbereichs
Wenn davon ausgegangen wird, dass zwischen den handlungsleitenden Kognitionen und 34 den Handlungen der Erkenntnis-Objekte kein linearer, kausal determinierender Zusammenhang besteht, weil situative Faktoren die Handlungen mitbeeinflussen, müssen demzufolge die Ergebnisse der Erforschung handlungsleitender Kognitionen stets auch unter diesem Gesichtspunkt verstanden werden. D. h., handlungsleitende Kognitionen bilden einen zentralen, wenn auch nicht alleinigen Baustein beim Beschreiben und Verstehen von Handlungen.
Eine verbindende Kernaussage der Handlungs- und Kognitionspsychologie ist darin zu sehen, "dass menschliches Handeln bewusst, zielorientiert und erwartungsgesteuert erfolgt und in seinem Ablauf kognitiv reguliert wird. […] Denkprozesse, kognitive Leistungen sind also nichts dem Handeln Fremdes, sondern vielmehr in dieses eingebettet. Es macht entsprechend Sinn, nach der Struktur dieser Denkseite des Handelns zu fragen, d. h. danach, welche mentalen Leistungen im Zuge des Handelns gefordert sein können" (TRAMM & REBMANN 1999, S. 237). Die Struktur der 'handlungsleitenden Lernvoraussetzungen' als Denkseite der Erkenntnis-Objekte wurde bislang erst vage skizziert. Die Aufmerksamkeit dieser Arbeit liegt in der strukturellen (und inhaltlichen) Rekonstruktion mentaler Strukturen, welche als handlungsleitend gelten können. Wie bereits erwähnt, umfassen diese mentalen Strukturen nicht nur die Wissensdimension im engeren Sinne, sondern auch affektive Schwerpunkte in der Form von Einstellungen sowie mentale Repräsentationen von Fertigkeiten. Zur Beantwortung der Frage, wonach sich Studierende als Zielgruppe dieser Untersuchung richten, wenn sie in ihren sozio-ökonomischen Lebenssituationen mit Konfliktklärungssituationen konfrontiert werden, trägt das Konzept der 'Subjektiven Theorien' bei. Es stellt den zurzeit wohl elaboriertesten Ansatz dar, wenn die Frage nach der Rekonstruktion handlungsleitender Kognitionen beantwortet werden will (FLICK 1987a, S. 133; KÖNIG 1995, S. 6; SCHRÜNDER-LENZEN 2003, S. 110). Die Annahmen des Forschungsprogramms 'Subjektive Theorien' lassen sich widerspruchsfrei in die bisherigen Überlegungen integrieren und ermöglichen zugleich eine präzisere Auseinandersetzung mit dem Gegenstandsbereich der handlungsleitenden Kognitionen, weswegen es für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand und die damit verbundenen Erkenntnisinteressen als besonders geeignet erscheint. 5.2
Das Forschungsprogramm 'Subjektive Theorien'
Das Forschungsprogramm 'Subjektive Theorien' blickt auf eine mehr als 25-jährige Forschungsgeschichte zurück. Seine Wurzeln sind auf die kognitive Wende der 60er-Jahre zurückzuführen, wobei insbesondere zwei miteinander korrespondierende Forschungstrends als konstituierend gelten können:
34
Die Bezeichnung 'Erkenntnis-Objekt' soll zur Abgrenzung gegenüber dem Autor/Forscher dieser Arbeit als 'ErkenntnisSubjekt' ohne konkrete Rollenzuschreibung verwendet werden. Die Subjekt-Objekt-Beziehung wird nicht als wertend aufgefasst. Jedes Erkenntnis-Subjekt wird bei reflexiven Bemühungen um Selbsterkenntnis zum Erkenntnis-Objekt seiner selbst (Herzog, 1985, S. 629 zitiert in GROEBEN 1986b, S. 179). Wenn die Bezeichnung 'Erkenntnis-Objekt' mit einer bestimmten Rollenzuschreibung in Verbindung steht, wird vorzugsweise von Interviewpartner, Untersuchungsgruppe oder dergleichen gesprochen.
5 Subjektive Theorien als Bezugspunkt der Lernvoraussetzungen
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die Aufnahme von handlungsleitenden Kognitionen des 'Alltagsmenschen' als Forschungsgegenstand der Psychologie: Die 'Alltagswende' in der Soziologie und Psychologie (LAUCKEN 1974) sowie der Erziehungswissenschaft (EHRENSPECK 1998; GEULEN 1981; LENZEN 1980) stellte das Bedürfnis in den Vordergrund, "mehr über die tatsächlichen Vorstellungen und Handlungsimpulse der Menschen wissen zu wollen" (EHRENSPECK 1998, S. 188). Geleitet von der Vorstellung, dass die Wissenschaft im Vergleich zur Praxis nicht per se eine höhere Rationalität aufweist, wurde das Theorie-Praxis-Problem als TheorieTheorie-Problem reformuliert. "Die Vorstellung eines Rationalitätsgefälles zwischen Wissenschaft und Praxis wird hier ebenso aufgegeben wie die Intention, mit wissenschaftlichen Theorien die Praxis kausaltechnologisch zu steuern, denn nun wird die Praxis selbst als theoriehaltig interpretiert […]" (KURTZ 1999, S. 28). die Kritik am Behaviorismus und dem damit verbundenen Menschenbild: Die Asymmetrie zwischen dem Wissenschaftler und dem Alltagsmenschen wird zugunsten eines epistemologischen Subjektmodells aufgegeben (siehe hierzu ausführlich Kap. 6, S. 81).
Bezug nehmend auf das von KELLY (1963) postulierte Bild des Menschen als Wissenschaftler ('man, the scientist') geht das Forschungsprogramm 'Subjektive Theorien' davon aus, dass Individuen über Konzeptsysteme im Sinne von Subjektiven Theorien verfügen, welche sie in ihren alltäglichen Handlungen nutzen. Das Ziel der Erforschung Subjektiver Theorien liegt darin, diese mentalen Repräsentationen in ihren inhaltlichen und strukturellen Ausprägungen offenzulegen und zu analysieren. In der Literatur finden sich neben dem Begriff der 'Subjektiven Theorie' zahlreiche Ansätze, welche aus unterschiedlichen Forschungszusammenhängen stammen und teils synonym, manchmal aber auch in Abgrenzung voneinander verwendet werden. Ansätze, welche ebenfalls die 'Theoriemetapher' aufnehmen, werden häufig als 'Alltagstheorien' (HEIDER 1977) oder 'naive Verhaltenstheorien' (LAUCKEN 1974) bezeichnet. Der Forschungstradition der 'folk psychology' folgend, sind in der angelsächsischen Literatur eher Benennungen wie 'implicit personality theories' (BRUNER & TAGIURI 1954), 'social/naive theory' (C. A. ANDERSON & LINDSAY 1998) oder 'lay-theories' (FURNHAM 1988) gebräuchlich. Die eindeutige Abgrenzung der jeweiligen Begriffbestimmungen ist unscharf und im Einzelfall schwierig zu bestimmen (vgl. FURNHAM 1988; REGNET 2001, S. 139f.). Bezug nehmend auf DANN (1983, S. 77f.), ist festzustellen, dass die zahlreichen Ansätze die mentalen Repräsentationen des 'Alltagsmenschen' als gemeinsamen Bezugspunkt haben. In der letzten Zeit scheint sich verstärkt der Terminus 'Subjektive Theorie' durchzusetzen. Dies lässt sich vermutlich nicht zuletzt auf den Einfluss des Forschungsprogramms 'Subjektive Theorien' zurückführen (SCHILLING 2001). Zudem wirkt der Begriff 'subjektiv' im Gegensatz zu 'naiv' oder 'Laie' weniger wertend. Ohne die Nuancierungen dieser Termini gegeneinander abgrenzen zu wollen, ist in den folgenden Abschnitten zu zeigen, dass das Konstrukt 'Subjektive Theorien' für das vorliegende Erkenntnisinteresse geeignet ist. Dies geschieht insbesondere vor dem Hintergrund der folgenden Anforderungen: - Anschlussfähigkeit: Das Konstrukt 'Subjektive Theorien' darf mit den vorherigen Ausführungen hinsichtlich zentraler Begriffsverständnisse (z. B. Wissen, Handeln, Handlungskompetenz) nicht im Widerspruch stehen.
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Rekonstruierbarkeit: Wenn die Handlungskompetenz als Potenzialitätsbegriff im Sinne von Lernvoraussetzungen offengelegt werden will, müssen diesbezügliche Subjektive Theorien rekonstruierbar sein. Handlungswirksamkeit: Da Handlungskompetenzen definitionsgemäss handlungsleitend sind, müssen Subjektive Theorien ebenfalls als handlungsleitend gelten können. Situiertheit: Sowohl im allgemeinen Kompetenzverständnis als auch in der Begriffsdefinition der Sozialkompetenz wurde auf die Relevanz des Situationsbezugs hingewiesen. Diese kontextuale Ausrichtung manifestiert sich in Form von Situationstypen. Subjektive Theorien dürfen folglich weder einen abstrakten, universellen Charakter haben, noch dürfen sie so eng zugeschnitten sein, dass sie sich lediglich auf singuläre Situationen anwenden lassen ('Passung' bezüglich Abstraktionsebenen). Menschenbild: Subjektive Theorien gehen mit einem bestimmten Menschenbild einher. Dieses muss in Einklang mit der persönlichen Selbst- und Weltsicht des Forschers stehen. Individualausrichtung: Wenn die Lernvoraussetzungen von Individuen rekonstruiert werden wollen, müssen die Trägersysteme von Subjektiven Theorien ebenfalls Einzelpersonen sein und nicht ausschliesslich soziale Systeme.
5.2.1
Zum Begriff der Subjektiven Theorie
Subjektive Theorien werden in weitgehender Übereinstimmung beschrieben als prinzipiell aktualisierbare, handlungsleitende Kognitionen der Selbst- und Weltsicht eines Individuums in Form komplexer Aggregate mit (zumindest implizierter) Argumentationsstruktur, welche zu (wissenschaftlichen) Theorien eine Struktur- und Funktionsparallelität aufweisen (DANN 1990; GROEBEN 1986b, 1988b; 1992, S. 42f.; GROEBEN & SCHEELE 1977, S. 72ff.; KÖNIG 2002, S. 55f.; MANDL & HUBER 1983, S. 98ff.; OBLIERS & VOGEL 1992, S. 298f.; REGNET 2001, S. 138ff.; SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 2ff.; SCHLEE 1988b; SCHREIER 1997, S. 39f.; STEINKE 1998, 35 S. 122ff.). Subjektive Theorien beschreiben "Bestandteile psychologischer Handlungstheorien; sie sind theoretische Konstrukte, die wir handelnden Menschen als Merkmal (Disposition) zuschreiben" (BIRKHAN 1987, S. 231). Kognitionspsychologisch handelt es sich um zeitlich relativ überdauernde Kognitionsbestände, welche kaum kurzfristigen Änderungen unterworfen sind, jedoch durchaus als veränderbar gelten (DANN 1983, S. 80). Sie umfassen jene Wissensbestände, welche von einem Individuum als handlungsrelevant erlebt werden (ACHTENHAGEN 1984, S. 237ff.; KRAPP & WEIDENMANN 2001, S. 317). Subjektive Theorien als handlungsleitende Kognitionen liegen in Form mentaler Strukturen vor, welche nicht nur Wissensbestände im engeren Sinne umfassen, sondern zugleich auch mentale Repräsentationen der Fertigkeiten und Einstellungen. Die subjektiv-theoretisch geordnete Repräsentation beeinflusst das Handeln dadurch, dass die Handelnden diese "bewusst oder nicht bewusst ihrem eigenen Handeln zugrunde legen" (VON CRANACH & BANGERTER 2000, S. 237). Darin ist wohl einer der Hauptgründe zu sehen, dass Subjektive Theorien des Alltagsmenschen überhaupt 35
Neben dieser weiten Begriffsbestimmung wird zusätzlich eine enge Begriffsfassung expliziert (exemplarisch GROEBEN 1988b, S. 21ff.). Es wird noch darzulegen sein, weshalb nach der hier vertretenen Meinung die weite Fassung favorisiert wird (vgl. Kap. 5.2.6, S. 79).
5 Subjektive Theorien als Bezugspunkt der Lernvoraussetzungen
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Gegenstand der psychologischen Forschung geworden sind. "Although there are many reasons to study lay attributions […], the most compelling reason is perhaps that lay beliefs influence people's actions" (CARGILE, BRADAC & COLE 2006, S. 47). Subjektive Theorien beziehen sich dabei auf das Handeln in spezifischen Kontexten. Sie beschreiben nicht generell abstrakte Deutungsmuster, sondern weisen stets einen Situationsbezug auf (GROEBEN 1988b, S. 17ff.). Inhaltlich prädominieren persönliche und zwischenmenschliche Themenbereiche, worunter soziale Kompetenzen subsumiert werden können. Eine inhaltliche Ausweitung auf Sachthemen wäre zwar denkbar, steht aber nicht im Vordergrund (GROEBEN 1988b, S. 21). Nach SPINNATH UND SCHÖNE beinhalten Subjektive Theorien die Überzeugungen eines Individuums darüber, „wie die Welt im Allgemeinen und der Mensch im Besonderen beschaffen sind und nach welchen Regeln beides funktioniert. […] [Sie] liefern Bedeutungssysteme, mit deren Hilfe sich Menschen in ihrer Welt zurechtfinden, beinhalten Ordnungsschemata für Wahrnehmung und Denken sowie Leitlinien für eigenes Handeln“ (2003, S. 15). In der Binnenstruktur bestehen Subjektive Theorien aus einzelnen Konzepten, welche miteinander verknüpft sind. An diese 'Verknüpfung' sind bestimmte Anforderungen gestellt – es wird eine (zumindest implizite) Argumentationsstruktur gefordert. Damit "ist nicht alles, was sich jemand denkt, Bestandteil seiner Subjektiven Theorie zu einem bestimmten Thema" (REGNET 2001, S. 138). Nach dieser Zusammenstellung wesentlicher Kernaussagen zum Konstrukt 'Subjektive Theorie' werden im Folgenden die inhaltlichen, strukturellen und funktionalen Merkmale des Konstrukts 'Subjektive Theorie' näher beschrieben. Der besseren Verständlichkeit wegen werden die konstitutiven Merkmale getrennt voneinander beschrieben, obschon diese in enger Verbindung zueinander stehen. Minimale Redundanzen lassen sich deshalb nicht vermeiden. 5.2.2
Eingrenzung des Kognitionsbegriffs
Dieser Teil befasst sich mit der Abgrenzung des Begriffs 'Subjektive Theorien' zum denkpsychologischen Konstrukt der 'Kognition'. Es gilt, die Frage aufzunehmen, weshalb das Konstrukt der Subjektiven Theorien überhaupt benötigt wird, wenn es bereits den umfassenden Begriff der 'Kognition' gibt. Diese Fragestellung skizziert in dem Sinne eine Antwort, als dass mit einer kritischen Haltung der Kognitionsbegriff als zu umfassend, überladen und zu unpräzise beschrieben werden kann. Der Begriff der Kognition scheint zu einem Sammelbecken für alle internalen Variablen geworden zu sein und muss daher als schwammig kritisiert werden. So schreibt DÖRNER hierzu: "Der Begriff 'kognitiv' ist fast schon nicht mehr verwendbar, weil er mittlerweile nur noch die Bedeutung 'irgendwie innen und nicht direkt sichtbar' hat" (DÖRNER 1984, S. 10). Eine erste Vorstrukturierung wurde bereits hinsichtlich des Bewusstheitsgrades vorgenommen, indem unbewusste von nicht bewussten und bewussten Kognitionen abgegrenzt wurden. Subjektive Theorien können neben bewussten Elementen auch implizite Wissensteile im Sinne von nicht bewussten Kognitionen beinhalten. "Das, was der Subjektive Theoretiker (als Erkenntnis-Objekt) in Form seiner Subjektiven Theorien 'meint', ist der Internalitätsschranke unterworfen: Es ist nur ihm intrapersonell zugänglich und z.T. nur implizit verfügbar" (OBLIERS 1992, S. 198). Implizit und subjektiv meint nicht per se defizitär, sondern in diesem Zusammenhang "noch nicht bewusst reflektiert" (REGNET 2001, S. 140). Es
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Explikation des Gegenstandsbereichs
wird zu klären sein, mit welchen Instrumenten die Schwierigkeiten hinsichtlich der Implizität angemessen bewältigt werden können. Als weiteres Abgrenzungsmerkmal wurde die Forderung aufgestellt, dass die Kognitionen handlungsleitend sein müssen und folglich nur mentale Repräsentationen aufgenommen werden, welche sich auf das Handeln, jedoch nicht auf das Verhalten oder Tun beziehen. Diesen Sachverhalt aufnehmend, kann der Kognitionsbegriff über die Dimensionen Einfachheit–Komplexität weiter präzisiert werden (GROEBEN 1988b, S. 16). Unter 'Kognition' lassen sich vergleichsweise einfache Phänomene wie etwa 'das Über- und Unterordnen von Begriffen' subsumieren. Stellvertretend hierfür können die 'cognitive maps' nach TOLMAN (1948) genannt werden. Daran kann eine Spezifizierung des Konstrukts 'Subjektive Theorien' anknüpfen, da diese auf jeden Fall komplexe Aggregate von Konzepten umfassen, welche in Form von "zumindest impliziten Argumentationsstrukturen verbunden sind" (GROEBEN 1988b, S. 18). Eine statische Über- und Unterordnung von Begriffen beinhaltet keine Argumentationsstruktur (z. B. die Ausdifferenzierung des Konfliktbegriffs anhand verschiedener Konflikttypen, konstitutive Merkmale einer Begriffsdefinition etc.). Auch Einstellungen gegenüber einer Person oder Sache sind noch keine Subjektiven Theorien. Ihnen fehlt ebenfalls eine implizite Argumentationsstruktur, welche konkrete Schlussverfahren (Inferenzen) zulassen würde. Eine Einstellung ist vielmehr eine affektive Rückkoppelung einer Subjektiven Theorie. Sie kann demzufolge Teil einer Subjektiven Theorie sein (vgl. C. A. ANDERSON & LINDSAY 1998, S. 10f.). Selbstverständlich bestehen Subjektive Theorien nicht nur aus argumentativen Relationen, aber sie sollen als Gesamtstruktur schlussfolgernde Figuren ermöglichen. Die Form der Argumentationsstruktur wird nicht weiter festgelegt, sondern bewusst 36 offen gehalten. Denkbar sind beispielsweise Konditional-, Final- oder Kausalrelationen. Prinzipiell sind jedoch alle Formen des alltäglichen Argumentierens und Schlussfolgerns zu akzeptieren. GROEBEN (1988b, S. 18) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass weder in der Philosophie noch in der Argumentationstheorie ein Konsens darüber vorliegt, was alles als Argument für den Alltagsmenschen und Wissenschaftler gelten dürfe (vgl. hierzu auch GROEBEN 2006b, S. 634ff.; KOPPERSCHMIDT 2000, S. 51ff.). Es sind demzufolge jegliche Formen von Erklärungen, Begründungen, Rechtfertigungen, Konkretisierungen etc. zuzulassen, um die Inhalte und Strukturen von Subjektiven Theorien zu hinterfragen, zu legitimieren, zu widerlegen oder zu modifizieren. Diese Relationsoffenheit erscheint sinnvoll und wichtig. Eine im Voraus finite Bestimmung von Relationen wäre gegenstandsunangemessen, weil dadurch gewisse Themenbereiche möglicherweise nicht mehr bearbeitbar wären. Gleichzeitig ist DANN (1983) zuzustimmen, dass eine gewisse Vorstrukturierung notwendig ist,
36
Die Konditionalrelation dürfte die am häufigsten verwendete Aussageform darstellen (exemplarisch REGNET 2001; RUSTEMEYER, BENTLER & KÖNIG 1995). Sie tritt typischerweise in der Form von 'Wenn-dann'- oder 'Falls-dann'-Aussagen auf und knüpft damit am Vorhandensein (oder Nicht-Vorhandensein) bestimmter Faktoren (Antezedensbedingungen) an (z. B. 'Wenn die Konfliktparteien ihre Sichtweisen erzählt haben, dann fasse ich das Gesagte zusammen'). Die Finalrelation zeigt sich gewöhnlich in zweckgerichteten 'Um-zu'-Aussagen. Damit werden meist subjektive Technologien expliziert (z. B. 'Um die Sichtweisen der Konfliktparteien verstehen zu können, muss ich das Gesagte schriftlich notieren'). Die Kausalrelation bildet das Spiegelbild zu Finalaussagen. Sie haben einen direkt erklärenden/begründenden Charakter (z. B. 'Ich führe keinen direkten Dialog zwischen den Konfliktparteien, da ich sonst den Überblick verliere').
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"damit überhaupt eine Erfassung bzw. Rekonstruktion subjektiver Theorien stattfinden kann" (S. 82). Die Forderung nach einer Argumentationsstruktur impliziert zugleich die Vernetzung der Konzepte. Die Elemente einer Subjektiven Theorie liegen nicht isoliert nebeneinander, sondern sind miteinander durch unterschiedlichste Relationen verbunden. Subjektive Theorien besitzen daher eine ordnende und strukturierende Funktion (HOFER 1986). Die hohe Bedeutung der Vernetzung von mentalen Konzepten für die Handlungswirksamkeit wird auch von der Experten-Novizen-Forschung immer wieder betont. Der Experte zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass er im Vergleich zu einem Novizen innerhalb einer bestimmten Domäne quantitativ über mehr Wissen verfügt, sondern dieses in einer mit dem Vorwissen vernetzten und strukturell organisierten Form vorliegt, welches ein flexibles Agieren ermöglicht (VAN DER MEER 2006, S. 352f.). Dabei spielen Persönlichkeitseigenschaften in Relation zu den Wissensbeständen und der Wissensvernetzung eine eher unbedeutende Rolle (GOBET 1996, S. 59; 37 ROTHE & SCHINDLER 1996, S. 36). Als abschliessendes Eingrenzungsmerkmal ist die zeitliche Stabilität der Subjektiven Theorien zu nennen, was bei Einzelkognitionen nicht der Fall sein muss (DANN 1983, S. 80). Bei Subjektiven Theorien handelt es sich um relativ überdauernde mentale Strukturen, welche auch ohne gleichzeitige Anwesenheit des repräsentierten Sachverhaltes bestehen bleiben. Deshalb wird davon ausgegangen, dass Subjektive Theorien im Langzeitgedächtnis gespeichert sind (siehe hierzu auch VAN DER MEER 2006). Auf diesen Aspekt wurde bereits im Rahmen des allgemeinen Wissensbegriffs hingewiesen. Zusammenfassend kann das Konstrukt 'Subjektive Theorien' gegenüber dem allgemeinen Kognitionsbegriff anhand folgender Punkte eingegrenzt werden: - nicht bewusste und bewusste Kognitionen, welche bewusstseinsfähig sind - handlungsleitende, mentale Repräsentationen (Bezugspunkt bildet das Handeln, jedoch nicht das Verhalten oder Tun) - komplexe Aggregate mit impliziter Argumentationsstruktur - Vernetzung der einzelnen Konzepte - zeitlich überdauernde Stabilität ohne Präsenz des Realphänomens 5.2.3
Verbindung und Abgrenzung zwischen subjektiven und wissenschaftlichen Theorien
Es soll an dieser Stelle nicht der (vermutlich aussichtslose) Versuch unternommen werden, eine apodiktische Definition des wissenschaftlichen Theoriebegriffs zu entwickeln. Vielmehr wird das dieser Arbeit zugrunde gelegte Theorieverständnis ausgewiesen, wobei insbesondere die Verbindungen und Abgrenzungen zwischen subjektiven und wissenschaftlichen Theorieformen von Interesse sind.
37
Eine allgemeine, ausführlichere Darstellung zu den Charakteristika der Wissensstrukturen von Experten findet sich bei BAUER-KLEBL (2003, S. 224ff.).
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Verbindungen zwischen subjektiven und wissenschaftlichen Theorien Im Folgenden wird das Theorieverständnis von EULER zugrunde gelegt, der wissenschaftliche, 'objektive' Theorien als Konstruktionen eines Praxisausschnittes versteht, welche in einer sprachlich artikulierten Form vorliegen (siehe hierzu ausführlich EULER 1994, S. 220ff.; EULER & HAHN 2004, S. 42f.). "Sobald das Geschehen […] sprachlich zum Ausdruck kommt, gerinnt es zur Theorie" (2004, S. 43). Zudem müssen die sprachlichen Artikulationen argumentative Schlussfolgerungen ermöglichen. a) Austauschperspektive Mit diesem weiten Theorieverständnis fordert EULER nicht die Abhebung wissenschaftlicher Theorien von Alltagstheorien, sondern eine Austauschperspektive. Dieser Sichtweise sieht sich auch das Forschungsprogramm 'Subjektive Theorien' verpflichtet (exemplarisch GROEBEN & SCHEELE 1977, S. 176ff.; GROEBEN et al. 1988, S. 221ff.). Die Möglichkeit hierzu eröffnet sich aus der programmatischen Annahme der Struktur- und Funktionsparallelität zwischen wissenschaftlichen und (inter-)subjektiven Theorien: Einerseits wird dem Erkenntnis-Subjekt (Forscher) und dem Erkenntnis-Objekt (Beforschter) in gleichem Masse Reflexivität und Erkenntnisfähigkeit zugesprochen (vgl. hierzu ausführlicher in Kap. 6, S. 81), und andererseits weisen Subjektive Theorien eine mit wissenschaftlichen Theorien vergleichbare Struktur und Funktion auf. Grundsätzlich sind zwei Fragerichtungen denkbar, welche die Austauschperspektive konkretisieren: - Die erste Austauschperspektive nutzt die potenzielle Reflexivität und Rationalität des Erkenntnis-Objektes. Es ist entsprechend zu fragen, in welchen Aspekten die Subjektiven Theorien in Relation zur wissenschaftlichen Theorie eventuell differenzierter ausgestaltet sind. Falls zusätzliche Differenzierungen vorliegen, können diese als Heuristik zur Elaboration der theoriebasierten Modellierung nutzbar gemacht werden. - Die Fragerichtung zwischen subjektiven und objektiven Theorien kann jedoch auch in umgekehrter Richtung erfolgen. Es gilt hierbei zu prüfen, inwieweit die zugrunde liegende wissenschaftliche Konzeptionalisierung differenzierter ist als die Subjektiven Theorien. Die Austauschrichtung von der 'objektiven' Theorie zu den Subjektiven Theorien soll als Indikator für mögliche individuelle Sensibilisierungs- und Entwicklungsmöglichkeiten herangezogen werden. Konkrete Fördermassnahmen können bei vorhandenen Lücken, Inkohärenzen oder fehlenden Differenzierungen ansetzen. Entsprechend ist es möglich, bei 'blinden Flecken' nicht vorhandenes Wissen oder fehlende Fertigkeiten zu entwickeln, im Falle von Inkohärenzen zu sensibilisieren oder bei fehlenden Differenzierungen das bestehende Handlungsrepertoire zu erweitern. b) Strukturparallelität Wenn die Strukturparallelität von wissenschaftlichen und Subjektiven Theorien als zentrale Gemeinsamkeit hervorgehoben wird, impliziert diese Perspektive, dass Theorien Aussagen über Strukturen beinhalten. Eine Theorie beinhaltet folglich nicht nur inhaltliche Aussagen, sondern auch formal strukturelle Informationen (z. B. Konditional-, Final- oder Kausalrelationen; vgl. Fn. 36, S. 68). Theorien werden als relationale Netze aufgefasst, welche aus zahlreichen miteinander verbundenen Einzeltheorien (Theorieelemente) bestehen (BIRKHAN 1987, S. 239ff.). Die zentrale Bedeutung der Vernetzung bzw. Strukturierung wurde in den
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vorangehenden Kapiteln bereits sichtbar. An diese Verknüpfungen wird die Anforderung gestellt, dass sie in Form von Argumentationsstrukturen erkennbar werden. Das zentrale Moment für die Annehmbarkeit der Selbst- und Weltsicht eines Individuums als Subjektive Theorie bildet folglich das argumentative Denken (SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 2). Welche Argumentationsformen letztlich verwendet werden, bleibt – wie bereits erwähnt – dem subjektiven bzw. wissenschaftlichen Theoretiker überlassen. Die Sätze müssen im Sinne eines Grenzkriteriums in eine Formulierungsform überführbar sein, welche argumentative Schlussfolgerungen zulassen bzw. ermöglichen (ausführlichere Darstellungen der Strukturparallelität finden sich in GROEBEN & SCHEELE 2005, S. 10ff.; GROEBEN et al. 1988, S. 70ff.). c) Funktionsparallelität Die postulierte Parallelität zwischen subjektiven und wissenschaftlichen Theorien zeigt sich nicht nur in dem eher statischen Element der Argumentationsstruktur, sondern auch in einem dynamischen Element: der Funktionsparallelität. Subjektive Theorien erfüllen analoge Funktionen, wie diese für wissenschaftliche Theorien gelten können (exemplarisch DANN 1983, S. 82f.; ERB 1997, S. 195ff.; GROEBEN 1988b, S. 18ff; 1999, S. 327ff.; GROEBEN & SCHEELE 1977, S. 72ff; SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 2ff.; SCHEELE, GROEBEN & STÖSSEL 1991, S. 103ff.): - Beschreibung: d. h., wie etwas zu charakterisieren, darzustellen ist; wie etwas wahrgenommen wird 38 - Erklärung: d. h., wie etwas einzuordnen, zu deuten, zu begreifen, zu verstehen ist - Prognose: d. h., vorhersagen/abschätzen von künftigen Ereignissen/Folgen aufgrund von zu Aussagen verarbeiteten Erfahrungen - Technologie: d. h., wie die Wissensanwendung in Form von konkreten Gestaltungsmassnahmen operativ wirksam wird – beispielsweise durch Handlungen Diesen Funktionsbereichen liegt die These zugrunde, dass sie sich bezüglich (Argumentations-)Struktur nicht unterscheiden (GROEBEN 1999, S. 328). Sehr wohl sind jedoch pragmatische Unterschiede auszumachen. So gilt beispielsweise die Prognose als zeitliche Vorhersage, während sich die Beschreibung oder Erklärung auf die Gegenwart oder Vergangenheit beziehen muss. Oder im Falle der Erklärung ist das Explanandum (das zu Erklärende) gegeben (z B. als Ereignis), während hierfür die Antezedensbedingungen gesucht werden; bei den Prognosen hingegen sind die Antezedensbedingungen gegeben, und die übrigen Komponenten (z. B. Folgen oder Wirkungen) sind gesucht. Trotz diesen Unterschieden bleibt die Argumentationsstruktur davon unberührt. Als zweite Annahme gilt, dass im Rahmen dieser anthropologischen Konzeption der handelnde Alltagsmensch aufgrund seiner Subjektiven Theorien (ähnlich wie der Wissenschaftler aufgrund seiner wissenschaftlichen Theorien) die genannten Funktionen zu erfüllen 38
Erklären und Verstehen werden nicht als gegensätzlich aufgefasst – so wie dies oft in methodologischen Debatten über qualitative und quantitative Forschung zu beobachten ist. Wie PFEIFFER (1983) betont, ist Erklären "die Verknüpfung von Tatsachen (oder Sinneinheiten) mittels unserer Regelmässigkeitsannahmen, Verstehen die Rekonstruktion, wie ein anderer Tatsachen mittels seiner Regelmässigkeitsannahmen verknüpft hat, um ein Problem zu lösen" (S. 52). Das Erklären wird als eine Konstruktion (Auskunft) über mögliche Zusammenhänge, Strukturen und Regelhaftigkeiten aufgefasst. Verstehen meint die Rekonstruktion möglicher Zusammenhänge, Strukturen und Regelhaftigkeiten eines anderen (siehe hierzu auch HÖRMANN 1983).
72
Explikation des Gegenstandsbereichs 39
vermag (SCHEELE et al. 1991, S. 103). Das Individuum kann Informationen differenziert wahrnehmen, deuten und einordnen, Ereignisse und Ereignisfolgen verstehen und erklären, Erwartungen und Hypothesen bilden sowie Vorhersagen tätigen, um damit seine Handlungspläne zu entwerfen und Einfluss auf sich selbst und seine Umwelt zu nehmen. Genauso wie wissenschaftliche Theorien handlungsleitend für das Forschungshandeln des Wissenschaftlers sind, wirken Subjektive Theorien handlungsleitend für das Alltagshandeln (vgl. WAHL et al. 1983). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich der 'Subjektive Theoretiker' in völliger Parallelität zum 'wissenschaftlichen Theoretiker' irren kann (SCHLEE 1988a, S. 28). Diese Fehleinschätzungen können sich auf das Individuum selbst, auf das soziale System bzw. seine Aussenwelt sowie die Ursachen-Wirkungs-Verhältnisse dieser beiden Systeme beziehen. Abgrenzung zwischen subjektiven und wissenschaftlichen Theorien Die Parallelitätsannahme zwischen subjektiven und wissenschaftlichen Theorien unterstellt nicht, dass an beide Theorieformen dieselben metatheoretischen Kriteriumsanforderungen gestellt werden können. "Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass Subjektive Theorien im Vergleich zu wissenschaftlich-objektiven Theorien eindeutig geringere Explizitäts-, Präzisionsetc. Anforderungen erfüllen können" (SCHEELE & GROEBEN 1988b, S. 48). Die Kriteriumsanforderungen müssen folglich in Bezug auf Subjektive Theorien Liberalisierungen aufweisen, welche es erlauben, von Parallelität bzw. Analogizität zu sprechen – und eben nicht von Deckungsgleichheit oder Identität. a) Handlungsformen der Autorenschaft Ein erster Unterschied zwischen den beiden Theorieformen liegt in der Handlungsform, welche der Autorenschaft zugeschrieben wird. Während Subjektive Theorien von Individuen in der Rolle des agierenden 'Alltagsmenschen' entwickelt werden, bilden wissenschaftliche Theorien Beschreibungs-, Erklärungs-, Prognose- und Technologiemuster für das Handeln des Wissenschaftlers ab. Die Bezeichnung 'Wissenschaftler' kann sich auf Einzelpersonen oder auf Forschergruppen beziehen, welche nach wissenschaftlichen Konventionen handeln. Wissenschaftliche Theorien können folglich auch von mehreren Personen in einem gemeinsamen Kommunikationsprozess entwickelt worden sein. Demgegenüber obliegt die Konstruktionsverantwortung einer Subjektiven Theorie stets einer Einzelperson. Das Trägersystem von Subjektiven Theorien bilden mithin immer Einzelpersonen, welche in alltäglichen Kontexten 40 agieren. Die genannten Funktionen (Beschreibung, Erklärung, Prognose und Technologie)
39 40
Diese Festlegung konturiert bereits ein bestimmtes Menschenbild, welches ausführlicher in Kapitel 6 (S. 81) beschrieben ist. Mit dieser Festlegung werden Subjektive Theorien abgegrenzt von Deutungsmustern als wissenssoziologisches Konstrukt im Sinne von "Muster kultureller Sinnstrukturen" (LÜDERS 1991, S. 381). Diese "werden als kollektive Sinngehalte verstanden, die eine normative Kraft (für Gruppen oder eine Gesellschaft) entfalten" (MAROTZKI 1999, S. 119). Obschon der Begriff des Deutungsmusters nicht einheitlich verwendet wird (vgl. LÜDERS 1991, S. 377ff.), besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Trägersysteme von Deutungsmustern primär nicht Einzelpersonen, sondern soziale Systeme darstellen. Inhaltlich stehen nicht handlungsleitende Kognitionen im Vordergrund, sondern "brüchig ge-
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beziehen sich folglich auf die Selbst- und Weltsicht eines einzelnen Individuums hinsichtlich seiner alltäglichen Lebenssituationen. Subjektive Theorien können als 'Bewältigungstheorien' aufgefasst werden, welche ausschliesslich für den Träger dieser Theorie gültig sein müssen. Hingegen besteht der Anspruch bei wissenschaftlichen Theorien, dass diese idealerweise nicht nur für einen Einzelfall Aussagen hervorbringen können, sondern eine gewisse 41 Generalisierung ermöglichen. Ihr Gültigkeitsbereich geht damit über den Einzelfall hinaus (EULER 2004, S. 45). Eine Annäherung Subjektiver Theorien in Richtung Generalisierbarkeit findet dann statt, wenn die (intraindividuellen) Subjektiven Theorien zu interindividuellen Theorien aggregiert werden. Sodann wird die Dichotomisierung von Subjektiven und wissenschaftlichen Theorien bezüglich Trägersystem und dessen Handlungsformen zugunsten eines Kontinuums aufgelöst. Mit diesen Ausführungen will verdeutlicht werden, dass ein und dieselbe Person sowohl als 'Alltagsmensch' als auch als 'Wissenschaftler' agieren kann. Die Gegenüberstellung des Trägersystems soll nicht als 'Etikettierung' missverstanden werden. Entscheidend ist vielmehr, dass Subjektive Theorien ausschliesslich von Einzelpersonen entwickelt werden – ansonsten per Definition nicht mehr von Subjektiven Theorien gesprochen werden könnte –, demgegenüber das Trägersystem wissenschaftlicher Theorien auch Gruppen sein können. Ausserdem repräsentiert eine Subjektive Theorie stets eine alltagsweltliche Handlungsform, während wissenschaftliche Theorien als handlungsleitend für den Teilausschnitt von Lebenssituationen gelten, welche sich an wissenschaftlichen Konventionen ausrichten. b) Abhängigkeit des subjektiven Theoretikers Eng verbunden mit der ungleichen Autorenschaft gestaltet sich die Distanz bzw. die Nähe zum untersuchten Praxisfeld. Der Wissenschaftler kann sich in einem tendenziell geschützten, institutionellen Rahmen bewegen, ohne dabei in einem Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Untersuchungsobjekt zu stehen (EULER & HAHN 2004, S. 45). Dies bedeutet nicht, dass der Wissenschaftler gegenüber der zu untersuchenden Praxis eine Distanz aufbauen muss. Abhängig von den jeweiligen Erkenntnisinteressen des Forschers ist gegebenenfalls genau das Gegenteil erforderlich. Der wesentliche Unterschied im Vergleich zum subjektiven Theoretiker besteht darin, dass sich der Wissenschaftler den Machtstrukturen der Praxis temporär entziehen kann. Es steht ihm sozusagen frei, sich in seinen geschützten institutionellen Rahmen zurückzuziehen, wenn die Erkenntnisgewinnung dies erforderlich macht. Er hat die Möglichkeit, das Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz den Erfordernissen wissenschaftlichen Arbeitens entsprechend zu gestalten. Der subjektive Theoretiker kann sich zwar im Form der
41
wordene Alltagerfahrungen" (LÜDERS 1991, S. 378). Demzufolge sind Deutungsmusteranalysen nicht Gegenstand dieser Arbeit. Mit dem Anspruch der Generalisierbarkeit ist nicht das Aufdecken von Gesetzmässigkeiten im Sinne von kausaldeterministischen Aussagen gemeint. Theoretische Aussagen werden als probabilistische Aussagen aufgefasst (siehe hierzu ausführlich EULER 1994, S. 222ff.). Damit wird lediglich postuliert, "dass die verursachende Bedingung vor dem davon abhängigen Ereignis eingetreten sein muss und das Auftreten des von ihr abhängigen Ereignisses wahrscheinlicher macht" (SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 9, vgl. auch Groeben 1986, S. 1293ff.). Folgerichtig lassen sich beispielsweise Handlungen nicht exakt vorhersagen (vgl. Kap. 5.1.4, S. 63).
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Reflexion gedanklich aus seiner Praxis herausnehmen, räumlich wird er jedoch in den Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnissen verbleiben müssen. c) Zeit- und Handlungsdruck Der subjektive Theoretiker unterliegt im Vergleich zum Wissenschaftler beim Aufbau und der Anwendung seiner Subjektiven Theorie einem vergleichsweise höheren Zeit- und Handlungsdruck. Der 'objektive' Theoretiker besitzt beim Aufbau seiner Theorie, bei deren Anwendung und Überprüfung verhältnismässig mehr Zeitressourcen (GROEBEN 1988a, S. 98). DAHRENDORF (1987, zit. in EULER & HAHN 2004, S. 45) geht so weit, dass er wissenschaftliches Handeln als grundsätzlich zeitlos betrachtet, während das Alltagshandeln eingebunden sei in unentrinnbare Grenzen der Zeit. Ob der Zeithorizont zur Gewinnung wissenschaftlicher Theorien als grenzenlos betrachtet werden soll, kann an dieser Stelle offen bleiben. Sicherlich vollzieht sich die Entwicklung von Subjektiven Theorien (oder zumindest Teilen davon) unter Zeitdruck, insbesondere dann, wenn sie zur Bewältigung eines drängenden Problems benötigt werden (EULER & HAHN 2004, S. 45). d) Approximation der Kohärenz und Objektivität durch kodifizierte Verfahren Subjektive Theorien sind so komplex, insbesondere solche mittlerer Reichweite (siehe hierzu ausführlicher im nächsten Kapitel 5.2.4), "dass ihnen gegenüber nicht von vornherein das Charakteristikum der (theoretischen) Kohärenz unterstellt werden kann; es ist also mit der Möglichkeit von Brüchen innerhalb einer solchen Subjektiven Theorie, mit Widersprüchen, dem Auseinanderfallen in Teiltheorien etc. zu rechnen" (SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 35). Solche Leerstellen, Ineffizienzen oder Brüche können ein Hinweis darauf sein, dass ein Individuum zu einem bestimmten Teilbereich (Theorieelement) noch keine Subjektive Theorie entwickelt hat. Trotz diesen Ungereimtheiten sind Subjektiven Theorien eine zumindest implizite Argumentationsstruktur anzuerkennen. Damit ist gemeint, dass Subjektive Theorien grundsätzlich nicht nur aus isolierten Einheiten bestehen, sondern aus subjektiv (aus der Sicht des Handelnden) aufeinander bezogenen oder aufeinander aufbauenden Elementen (MUTZECK 1988, S. 73). Diese Aufeinanderbezogenheit kann jedoch stellenweise noch fragmentarisch sein. Dennoch muss eine Subjektive Theorie keineswegs gesamthaft als fehlerhaft verworfen werden. BIRKHAN (1987) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich subjektive und objektive Theorien hinsichtlich ihrer Kohärenz erwartungsgemäss unterscheiden. Dennoch müsse kritisch gefragt werden, ob wissenschaftliche Theorien den Anforderungen an Abgeschlossenheit, Widerspruchsfreiheit, Stringenz der Ableitungen usw. stets gerecht werden. Ohne hierauf eine Antwort geben zu müssen, werden die diesbezüglichen Anforderungen an wissenschaftliche Theorien lediglich als regulative Zielidee aufgefasst, welche durch bestimmte Vorkehrungen approximiert werden soll. "Die 'Objektivität' wissenschaftlicher Theorien ist eine regulative Zielidee, die durch Intersubjektivität approximiert wird. Diese Intersubjektivität wird systematisch durch methodische Vorgehensweisen gesichert; darin manifestiert sich der wesentliche […] Unterschied zu Subjektiven Theorien" (GROEBEN 1988b, S. 23). Wissenschaftliche Theorien bilden in dem Sinne 'objektive' Theorien, als dass 'Objektivität' als regulative Zielidee durch Intersubjektivität approximiert werden kann. Die Intersubjektivität soll – abstrakt formuliert – die Einhaltung eines Kanons wissenschaftlich weitgehend anerkannter Forschungsprinzipien und kodifizierter Verfahren gewährleisten. DANN
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(1983, S. 79) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Subjektive Theorien diese Anforderung nicht erfüllen können, weil die Autorenschaft von Subjektiven Theorien (im Gegensatz zu wissenschaftlichen Theorien) nicht die Gemeinschaft der Wissenschaftler, sondern der einzelne Alltagsmensch ist. D. h., der Alltagsmensch richtet sich verständlicherweise weder bei der Entstehung noch bei der Überprüfung seiner Subjektiven Theorie an wissenschaftlich anerkannten Verfahren aus. Damit soll jedoch nicht ausgedrückt werden, dass der Alltagsmensch 'methodenungeleitet' und orientierungslos vorgeht. Es ist EULER zuzustimmen, wenn er davon ausgeht, dass sich sowohl wissenschaftliches Handeln als auch Alltagshandeln "an methodischen Regeln orientieren, die gleichwohl innerhalb sowie zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen bzw. Gruppen verschieden ausgeprägt sein können" (EULER 1994, S. 228). Das Differenzierungsmerkmal manifestiert sich folglich nicht in der Regelgeleitetheit per se, sondern in der Ausprägung der Verfahren. Die Methoden für das wissenschaftliche Handeln können insofern präzisiert werden, "als dass die Regeln der Theoriebildung im Vergleich zum Alltagshandeln in einer höheren Explizität und in präziserer Form ausgewiesen und begründet werden" (EULER 1994, S. 213). Die Transparenz und Begründetheit des methodischen Vorgehens kann als wesentliches Qualitätskriterium für wissenschaftliches Handeln gelten. Desweilen verbleiben die Verfahren des subjektiven Theoretikers meist in einem impliziten Status. e) Explizität Als letztes Kriterium sei die Explizität wissenschaftlicher Theorien genannt. Nicht nur die Verfahren, sondern auch die Theorieinhalte sollen transparent sein und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Wissenschaftliche Theorien verfügen (meistens) über eine explizite Argumentationsstruktur. Im Gegensatz dazu weisen Subjektive Theorien lediglich eine implizite Argumentationsstruktur auf. Die genanten Kriterien für die Abgrenzung und Verbindung zwischen Subjektiven Theorien und wissenschaftlichen Theorien sollen für den vorliegenden Verwendungszweck genügen (weitere Unterschiedsmerkmale finden sich beispielsweise bei EULER 1994, S. 226ff.; sowie FURNHAM 1988, S. 2ff.). Die folgende Tabelle versucht die verbindenden und abgrenzenden Kernmerkmale zusammenfassend darzustellen.
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Tabelle 1: Verbindung und Abgrenzung subjektiver und wissenschaftlicher Theorien
subjektive Theorie / subjektiver Theoretiker Heuristik zur Elaboration Austauschperspektive theoriebasierter Modellierungen implizit vorhanden, jedoch Argumentationsstruktur bewusstseinsfähig Beschreibung, Erklärung, Prognose Funktionen und Technologie Merkmal
wissenschaftliche Theorie / objektiver Theoretiker Indikator für Sensibilisierung und Entwicklungsmöglichkeiten explizit vorhanden Beschreibung, Erklärung, Prognose und Technologie Einzelpersonen oder Forschergruppen, welche nach wissenschaftlichen Konventionen handeln über den Einzelfall hinausgehend
Handlungsformen der Autorenschaft
Einzelpersonen, welche in alltäglichen Kontexten agieren
Gültigkeitsbereich
Einzelfall eingebunden in Machtstrukturen und Möglichkeiten des Rückzugs in einen Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber geschützten, institutionellen Rahmen dem Untersuchungsgegenstand
Unabhängigkeit Zeit- und Handlungsdruck Kohärenz und Objektivität Regelausprägung Zugänglichkeit
5.2.4
vergleichsweise hoch
eher gering
durch Selbstreflexion bedingt erreichbar mässig differenziert, lediglich angedeutet durch geeignete Methoden rekonstruierbar
durch Intersubjektivität als regulative Zielidee approximativ erreichbar präzise, in Form von kodifizierten Verfahren ausgewiesen der Öffentlichkeit und der kritischen Diskussion prinzipiell zugänglich
Geltungsbereiche Subjektiver Theorien
Wissenschaftliche Theorien konstituieren ihren Gegenstandsbereich 'von oben' oder 'von unten'. Sie bewegen sich folglich als vertikal geschichtete Systeme auf unterschiedlichen Abstraktionsstufen: Je höher der Abstraktionsgrad, desto grösser ist die Verallgemeinerbarkeit und damit einhergehend umso geringer der Situationsbezug. Makrotheorien beziehen sich als analytische Ebene auf allgemeine Strukturen – Mikrotheorien hingegen auf Grundbegriffe wie beispielsweise 'Handlung', 'Situation' oder 'Individuum' (LUHMANN 2003, S. 43). Diese Vorstellung von wissenschaftlichen Theorien als geschichtete Systeme lässt sich ebenfalls auf Subjektive Theorien übertragen, indem diese anhand ihres Geltungsbereichs kategorisiert werden. "Dabei reicht die gegenstandsbezogene 'Weite' der Subjektiven Theorien von geringer bis zu grosser Reichweite, die letztlich ganze Welt- und Lebensentwürfe bis hin zu Lebensphilosophien umspannen kann" (OBLIERS & VOGEL 1992, S. 299). Innerhalb dieses Kontinuums werden drei Kategorien unterschieden: Subjektive Theorien kurzer, mittlerer und grosser Reichweite. Die Reichweite einer Subjektiven Theorie sagt nichts über deren Tiefenstruktur aus, sondern bezieht sich lediglich auf die Komplexität des erfassten Praxisausschnittes.
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5 Subjektive Theorien als Bezugspunkt der Lernvoraussetzungen
Subjektive Theorien grosser Reichweite wurden bislang noch wenig erforscht. Eine Erklärung hierfür wird darin gesehen, dass diese konzeptuell nicht unumstritten sind. In Übereinstimmung mit ALISCH (1983) ist kritisch anzumerken, dass Subjektive Theorien für bestimmte Praxisausschnitte gelten und keine 'allumfassenden' mentalen Repräsentationen beinhalten. Inwieweit man dieser Forderung bei der Rekonstruktion von Lebensphilosophien noch gerecht werden kann, braucht an dieser Stelle nicht diskutiert zu werden. Insbesondere wäre die Frage zu klären, wo die gegenstandsbezogene 'Weite' Subjektiver Theorien anzusetzen ist, damit Subjektive Theorien nicht auch Opfer der häufig beklagten Überformungs- und Verwässerungstendenzen werden. Für diese Arbeit bedeutsamer sind die beiden weiteren Kategorien. Subjektive Theorien kurzer oder geringer Reichweite beziehen sich auf eine konkrete, unmittelbar erlebte Handlungssituation. Ihre Rekonstruktion erfolgt typischerweise im Anschluss an eine vollzogene Handlung. Damit weisen sie im Vergleich zu Subjektiven Theorien mittlerer Reichweite einen viel engeren Geltungshorizont aus. Diese beziehen sich nicht nur auf eine Handlung und ein Handlungsergebnis in einer Situation, sondern auf Handlungskategorien, welche für mehrere Situationen Gültigkeit beanspruchen (SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 34f.). Die Unterscheidung zwischen Subjektiven Theorien kurzer und mittlerer Reichweite erfolgt demnach über zwei Bezüge: den Handlungsbezug und den Situationsbezug (siehe Abbildung 9). Abbildung 9: Subjektive Theorien kurzer und mittlerer Reichweite
Subjektive Theorien
kurze Reichweite
mittlere Reichweite
eng singuläre Situation Einzelhandlung
breit Situationstyp Handlungskategorie
Geltungshorizont Situationsbezug Handlungsbezug
Subjektive Theorien mittlerer Reichweite fokussieren auf Handlungskategorien, welche Sequenzen von aufeinander bezogenen Einzelhandlungen umfassen (vgl. DANN & BARTH 1995, S. 33). Die Handlungsergebnisse einer Handlung bilden wiederum die Antezedensvariable für den nächsten Handlungsschritt, wodurch ganze Handlungsketten erfassbar werden. Auf das Situationstypenmodell übertragen, ist damit die Kategorie 'Phasen' als zeitlicher Ablauf angesprochen (Abbildung 4, S. 42). Subjektive Theorien mittlerer Reichweite umfassen sodann nicht nur die Handlungsschritte im engeren Sinne, sondern auch die Explikation der relevanten Handlungskonstrukte (z. B. Handlungsvoraussetzungen, Intentionen, Werte und Einstellungen). Der Situationsbezug von Subjektiven Theorien mittlerer Reichweite greift nicht eine singuläre Situation auf, sondern mehrere Situationen, welche zu einer Situationsklasse zusammengefasst werden. Diese Ausrichtung des Bezugsrahmens steht in Einklang mit der bereits dargelegten Vorstellung des Situationstyps (siehe Kap. 4.1.6, S. 38).
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Im Rahmen des Forschungsprogramms 'Subjektive Theorien' wird einer zusätzlichen Problematik hinsichtlich des Geltungsbereichs von Subjektiven Theorien grosse Bedeutung beigemessen. Wenn handlungsleitende Kognitionen rekonstruiert werden sollen, dann sind diese von (nachträglich) handlungsrechtfertigenden Kognitionen zu trennen (siehe hierzu SCHEELE 1988, S. 156f.; WAHL 1979b; WAHL et al. 1983). Mit handlungsrechtfertigenden Kognitionen sind solche gemeint, welche nachträglich hinzugefügt wurden, um eine Handlung in der Vergangenheit legitimieren zu können. "Wir gehen davon aus, dass Subjektive Theorien nicht nur handlungsrechtfertigende Funktion haben, sondern dass sie die entscheidende Grösse bei der Steuerung menschlichen Handelns sind" (WAHL 1988b, S. 199). Die Trennung zwischen tatsächlich handlungsleitenden Kognitionen und solchen, welche ex post umattribuiert wurden, ist sicherlich nicht einfach zu bewerkstelligen. Dennoch muss sich ein Forscher im Rahmen seiner Rekonstruktionstätigkeiten dieser Schwierigkeit bewusst sein. Es werden Verfahren zu diskutieren sein, welche hierzu eine befriedigende Lösung ermöglichen. 5.2.5
Forschungsarbeiten zu Subjektiven Theorien
Aus der in Kapitel 5.2.1 (S. 66) explizierten Begriffsbestimmung geht hervor, dass sich das Konstrukt 'Subjektive Theorien' inhaltlich mit der Selbst- und Weltsicht eines Individuums beschäftigt. Dabei nehmen Forschungsarbeiten im Bereich der pädagogischen Psychologie einen vorrangigen Stellenwert ein. Besonders hervorzuheben sind Untersuchungen zu den Themenbereichen 'Subjektive Theorien des Lehrerhandelns' (exemplarisch BLÖMKE, EICHLER & MÜLLER 2003; DANN 2000; DANN et al. 1983; KUNZE 2004; MANDL & HUBER 1983; MÜLLER 2004; MUTZECK 1988; PATRY & GASTAGER 2002; SCHLEE & WAHL 1987; WAHL et al. 1983) sowie Arbeiten zu Subjektive Theorien des Schülerhandelns (exemplarisch LEHMANN 1995; OEHME 2007; SEELING 2000). So stellte FLICK (1987a, S. 125) bereits vor zwanzig Jahren fest, dass sich der Ansatz 'Subjektive Theorien' zur Bearbeitung pädagogischer Fragestellungen etabliert hat. Dies lässt sich wohl dadurch erklären, dass das Themenfeld 'Schule' als ursprünglicher Fokus des Forschungsprogramms Subjektive Theorien gelten kann. Das Interesse scheint auch in jüngerer Zeit nicht rückläufig zu sein. Allerdings sind in den letzten Jahren neue Themenfelder vermehrt zum Gegenstand subjektiv-theoretischer Untersuchungen geworden. Dies trifft in besonderem Masse auf die klinische Psychologie zu (exemplarisch OBLIERS et al. 1998; OBLIERS et al. 2005; SCHWARZ-GOVAERS 2005). Untersuchungsgegenstand bilden sowohl Ärzte, Therapeuten oder Pflegepersonal als auch Patienten und ihre Krankheitsgeschichten. Weitere Studien untersuchen den 'Alltagsmenschen' zu verschiedensten Aspekten, wie beispielsweise Führungspraxis im betrieblichen Kontext (SCHILLING 2001), Argumentation im politischen Umfeld (CHRISTMANN & GROEBEN 1990, 1993a, 1993b), Subjektive Theorien über Laborsituationen (SEELING 2000), Intelligenz (SPINNATH & SCHÖNE 2003), Vertrauen, Ironie, Altern, Erziehung, Utopien etc. Diese Darstellungen erheben keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit. Weitere thematische Hinweise und Übersichten finden sich bei (DANN 2000, S. 94ff.; FLICK 1987a, S. 125; KÖNIG 1995, S. 20ff.; 2002, S. 62ff.; KRAPP & WEIDENMANN 2001, S. 317f.; MUTZECK 1988, S. 93ff.; SCHREIER 1997, S. 45f.). Aus den genannten Darlegungen wird deutlich, dass das Thema 'Konflikte' lediglich einen marginalen Stellenwert einnimmt. Bei diesem doch schon beachtlichen Fundus an Forschungsarbeiten zum Themenbereich 'Subjektive Theorien' erstaunt es, dass derzeit noch
5 Subjektive Theorien als Bezugspunkt der Lernvoraussetzungen
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keine Arbeiten zum Gegenstandsbereich der Klärung von Konflikten im engeren Sinne vorliegen. Dies insbesondere vor dem Hintergrund der hohen Relevanz des Themas – sowohl in privaten wie auch beruflichen Lebenssituationen. 'Subjektive Konfliktklärungstheorien' müssen bislang als kaum erforscht gelten. Zu einer vergleichbaren Feststellung gelangen CARGILE, BRADAC UND COLE (2006): "Lay theory has contributed fundamentally to understanding various phenomena; however, it has not yet been applied to intergroup conflict" (S. 47). Die bisherigen Forschungsarbeiten zum Thema 'Konflikte' aus einer subjektiv-theoretischen Perspektive unterscheiden sich von der vorliegenden Studie in zweierlei Hinsicht: bezüglich Zielgruppe und thematischer Fokussierung. DANN et al. (1983) untersuchten aggressionsbezogene Berufstheorien von Lehrpersonen im Umgang mit aggressiven Schülern im schulischen Kontext. Untersuchungsgegenstand war nicht, wie die Lernenden Konflikte untereinander klären oder wie sie als vermittelnde Parteien agieren, sondern das regulative Handeln der Lehrpersonen. Die Untersuchung gibt Auskunft darüber, welche Subjektiven Theorien dem Handeln der Lehrenden zugrunde liegen. Eine weitere Studie, welche das Thema 'Konflikte' aus einer subjektiv-theoretischen Perspektive beleuchtet, ist die Forschungsarbeit von REGNET (2001). Sie untersuchte die Subjektiven Theorien von 18 Führungskräften. Im Vordergrund standen die Fragen, mit welchen Konfliktsituationen Führungskräfte im betrieblichen Kontext konfrontiert sind und wie sie damit umgehen (S. 155). Diese Fragestellung zeigt bereits, dass ein tendenziell breiter Kontext Gegenstand der Untersuchung war. Dementsprechend wird weniger darauf fokussiert, wie Führungskräfte konkret ihre Konflikte bewältigen, sondern es werden eher abstrakte 'Handhabungsstrategien' exploriert (S. 189). Aus diesem Grund ist ein Rückschluss der Ergebnisse auf spezifische Situationstypen nicht möglich. Wenn eine Führungskraft beispielsweise angibt, ihre Macht einzusetzen oder einen Kompromiss auszuhandeln, so bleibt unklar wie sie dabei genau agiert und in welchen Typen von Situationen sie welche 'Handhabungsstragien' einsetzt. Denkbar wären Situationen, in welchen sie das Konfliktgeschehen unmittelbar erlebt, oder Situationen, in welchen sie nach dem Konflikterleben das Gespräch mit der Gegenpartei sucht, oder solche, in welchen sie als Vermittlerin zwischen zwei Mitarbeitern auf lateraler Ebene einen Konflikt zu klären versucht. Solche Überlegungen waren in der Untersuchung von REGNET nicht intendiert. Diese Arbeit will im Gegensatz zu den erwähnten Studien auf einen spezifischen Situationstyp fokussieren (siehe Kapitel 7). Damit kann ein Beitrag zur Erforschung 'Subjektiver Konfliktklärungstheorien' geleistet werden – auch wenn dieser in Anbetracht der Fülle und Reichhaltigkeit des Forschungsgegenstandes lediglich ein kleiner sein kann. 5.2.6
Abgrenzung gegenüber der engen Begriffsbestimmung Subjektiver Theorien
Bevor die Ausführungen zum Konstrukt 'Subjektive Theorien' abgeschlossen werden und das implizierte Menschenbild vorgestellt wird, sei auf die Problematik hinsichtlich der engen Begriffsexplikation hingewiesen (Kap. 5.2.1, Fn. 35, S. 66). Diese unterscheidet sich im Wesentlichen hinsichtlich des methodologischen Status der Erhebungsverfahren. Es wird zusätzlich gefordert, dass Subjektive Theorien mittels Dialog-Konsens-Verfahren zu aktualisieren bzw. rekonstruieren seien (GROEBEN 1988b, S. 21f.). Die Begründungsline wird ausgehend von der Parallelität des 'subjektiven' und 'objektiven' Theoretikers gezeichnet (siehe hierzu ausführ-
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Explikation des Gegenstandsbereichs
lich nächstes Kapitel 6). Im Wesentlichen wird unter Bezugnahme auf die Hinweise der Frankfurter Schule, dass Erkenntnis des Menschen immer auch die potenzielle Selbsterkenntnis ist, geltend gemacht, "dass man mit dem reflexiven (sprachmächtigen) Subjekt 'Mensch', das für die psychologische Erkenntnis 'Objekt' ist, in Kommunikation treten kann und zumindest die Angemessenheit der Rekonstruktion der 'Subjektiven Theorie' im Dialog mit dem Erkenntnis-'Objekt' feststellen können sollte" (GROEBEN 1988b, S. 22). Diese Perspektive soll auch gar nicht kritisiert werden – im Gegenteil: sie wird als übergeordnete, handlungsleitende Norm bekräftigt. Die Kritik setzt vielmehr an der Konsequenz an, welche hieraus abgeleitet wird; nämlich an der Festlegung des Dialogverfahrens als Definitionsmerkmal von Subjektiven Theorien. Damit wird nicht nur das zahlreich hervorgehobene Integrationspotenzial des Forschungsansatzes geschmälert, sondern zusätzlich die Gegenstandskonstituierung beeinträchtigt. Wenn die Methode im Rahmen einer Gegenstands-MethodikInterdependenz als Bindeglied zwischen Forschungszielen und dem zu erforschenden Gegenstand fungieren soll, muss eine vorliegende Methodologie eine befriedigende Gegenstandskonstituierung zulassen (siehe hierzu ausführlicher Kap. 9.1, S. 161). Die Geeignetheit einer bestimmten Methode muss sich am Forschungsgegenstand messen lassen – und nicht umgekehrt. Die Auswahl (und gegebenenfalls Entwicklung) von Methoden muss, unter Rückgriff auf den zuvor festgelegten Forschungsgegenstand sowie die damit verbundenen Erkenntnisinteressen, sorgfältig geprüft werden. Ein solches Vorgehen wird allerdings durch eine enge Begriffsexplikation unnötig eingeschränkt. Es wird KÖNIG zugestimmt, wenn er kritisch bemerkt: "Der Verweis auf Dialog-Konsens legt die Erforschung Subjektiver Theorien auf bestimmte Verfahren fest, wogegen schon das wissenschaftstheoretische Argument spricht, dass ein Forschungsgegenstand soweit als möglich unabhängig von bestimmten Forschungsmethoden zu definieren ist" (KÖNIG 1995, S. 12f.; 2002, S. 56). Aufgrund dieser Überlegungen wird auf die enge Definition verzichtet, weil diese die möglichen Problemperspektiven verkürzen und damit den Untersuchungsgegenstand unangemessen präformieren würde. Mit der in Kapitel 5.2.1 ausgewiesenen Begriffsexplikation sollte das Konstrukt 'Subjektive Theorie' so weit wie nötig bestimmt werden, jedoch (noch) nicht so weit wie möglich. 5.2.7
Zwischenfazit
Handlungskompetenzen werden als Potenzialitätsbegriff zur Diagnose von Lernvoraussetzungen verwendet. Sie umfassen die Summe der mentalen Repräsentationen, welche als handlungsleitend zur Bewältigung zwischenmenschlicher Herausforderungen in bestimmten Typen von Situationen gelten. Subjektive Theorien werden als Pendant zu dem ausgewiesenen Verständnis von Handlungskompetenz verstanden (vgl. EULER 1994, S. 125, Fn. 135, mit Verweis auf ACHTENHAGEN, 1984). Beide Konstrukte stellen Zugänge zur Thematik handlungsleitender Kognitionen dar. Basierend auf den Ausführungen dieses Kapitels ergibt sich, dass sich das Konstrukt 'Subjektive Theorien' zur Diagnose von 'handlungsleitenden Lernvoraussetzungen' als geeignet erweist. Zur inhaltlichen, strukturellen und funktionalen Präzisierung der handlungsleitenden Repräsentationen wurde das Konstrukt der Subjektiven Theorien eingeführt. Wenn der Bezugspunkt Subjektiver Theorien nicht das Verhalten oder Tun, sondern das Handeln sein soll,
6 Menschenbild als anthropologische Kernannahmen
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sind handlungsrechtfertigende von handlungsleitenden Kognitionen zu unterscheiden. Letztere verlangen in struktureller und funktionaler Parallelität zu wissenschaftlichen Theorien nach einer (zumindest) impliziten Argumentationsstruktur, welche schlussfolgernde Figuren ermöglicht. In vergleichbarer Funktion, wie der Wissenschaftler die Herausforderungen im Rahmen seines Forschungshandelns mithilfe wissenschaftlicher Theorien zu bewältigen versucht, will der 'Alltagsmensch' mithilfe Subjektiver Theorien mit den Herausforderungen eines Situationstyps im Rahmen seiner sozio-ökonomischen Lebenssituation zurechtkommen. Die Subjektiven Theorien mittlerer Reichweite beziehen sich auf ein Abstraktionsniveau, das mit dem des Situationstyps vergleichbar ist. Sie umfassen inhaltlich nicht nur Handlungsketten im Sinne von Handlungsphasen, sondern darüber hinaus gelten auch Handlungskonstrukte, wie beispielsweise Handlungsvoraussetzungen, Intentionen, Werte und Einstellungen als konstitutiv. Trotz den zahlreichen Forschungsarbeiten zum Themenbereich 'Subjektive Theorien', müssen 'Subjektive Konfliktklärungstheorien' bislang als kaum erforscht gelten. Allgemein nimmt das Thema 'Konflikte' in subjektiv-theoretischer Hinsicht lediglich einen marginalen Stellenwert ein. 6
Menschenbild als anthropologische Kernannahmen
Jeder Forschungsansatz und jede Theorie beinhaltet ein bestimmtes Menschenbild. Dieses kann implizit 'mitschwingen', oder expliziert werden. Es soll an dieser Stelle der zweite Weg gewählt werden. Das Menschenbild verdeutlicht die allgemeinen Grundannahmen des Forschers über seinen Untersuchungsgegenstand 'Mensch'. Er versucht damit eine Antwort auf die Frage zu geben, wie er den Menschen aus seiner persönlichen und wissenschaftlichen Sicht wahrnimmt. Die Erläuterung des Menschenbildes als Gegenstandsvorverständnis wird für eine Studie, welche den Menschen zum Untersuchungsgegenstand hat, als eine notwendige Voraussetzung erachtet. Das Menschenbild als übergeordnete Norm verschafft Orientierung mit flankierender, reflektierender und sensibilisierender Funktion. Die im dritten Teil dieser Arbeit zu entwickelnde Forschungsstrategie wird von den Kernannahmen dieses Menschenbildes beeinflusst sein. Diese Wirkungen sind an den jeweiligen Stellen zu verdeutlichen. 6.1
Ausgangslage
Obschon sich auch innerhalb des Behaviorismus die Einsicht verstärkte, dass sich menschliches Verhalten mittels Reiz-Reaktions-Schemen nicht befriedigend verstehen und erklären lässt, und infolgedessen kognitiven Elementen verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt wurde (so z. B. beim Modelllernen nach BANDURA, beim latenten Lernen nach TOLMAN oder in Ansätzen der kognitiven Verhaltenstherapie), verbleibt das Menschenbild noch immer in einer Asymmetrie zwischen Lehrenden und Lernenden, Forschern und Beforschten oder Therapeuten und Klienten. Dies zeigt sich in besonderem Masse dann, wenn es um die Interventionsgestaltung zwecks Veränderung 'unerwünschten' Verhaltens geht. Dieses kann – so die hier vertretene Auffassung – nicht von aussen (mittels belohnender und bestrafender Kraft) her-
6 Menschenbild als anthropologische Kernannahmen
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sind handlungsrechtfertigende von handlungsleitenden Kognitionen zu unterscheiden. Letztere verlangen in struktureller und funktionaler Parallelität zu wissenschaftlichen Theorien nach einer (zumindest) impliziten Argumentationsstruktur, welche schlussfolgernde Figuren ermöglicht. In vergleichbarer Funktion, wie der Wissenschaftler die Herausforderungen im Rahmen seines Forschungshandelns mithilfe wissenschaftlicher Theorien zu bewältigen versucht, will der 'Alltagsmensch' mithilfe Subjektiver Theorien mit den Herausforderungen eines Situationstyps im Rahmen seiner sozio-ökonomischen Lebenssituation zurechtkommen. Die Subjektiven Theorien mittlerer Reichweite beziehen sich auf ein Abstraktionsniveau, das mit dem des Situationstyps vergleichbar ist. Sie umfassen inhaltlich nicht nur Handlungsketten im Sinne von Handlungsphasen, sondern darüber hinaus gelten auch Handlungskonstrukte, wie beispielsweise Handlungsvoraussetzungen, Intentionen, Werte und Einstellungen als konstitutiv. Trotz den zahlreichen Forschungsarbeiten zum Themenbereich 'Subjektive Theorien', müssen 'Subjektive Konfliktklärungstheorien' bislang als kaum erforscht gelten. Allgemein nimmt das Thema 'Konflikte' in subjektiv-theoretischer Hinsicht lediglich einen marginalen Stellenwert ein. 6
Menschenbild als anthropologische Kernannahmen
Jeder Forschungsansatz und jede Theorie beinhaltet ein bestimmtes Menschenbild. Dieses kann implizit 'mitschwingen', oder expliziert werden. Es soll an dieser Stelle der zweite Weg gewählt werden. Das Menschenbild verdeutlicht die allgemeinen Grundannahmen des Forschers über seinen Untersuchungsgegenstand 'Mensch'. Er versucht damit eine Antwort auf die Frage zu geben, wie er den Menschen aus seiner persönlichen und wissenschaftlichen Sicht wahrnimmt. Die Erläuterung des Menschenbildes als Gegenstandsvorverständnis wird für eine Studie, welche den Menschen zum Untersuchungsgegenstand hat, als eine notwendige Voraussetzung erachtet. Das Menschenbild als übergeordnete Norm verschafft Orientierung mit flankierender, reflektierender und sensibilisierender Funktion. Die im dritten Teil dieser Arbeit zu entwickelnde Forschungsstrategie wird von den Kernannahmen dieses Menschenbildes beeinflusst sein. Diese Wirkungen sind an den jeweiligen Stellen zu verdeutlichen. 6.1
Ausgangslage
Obschon sich auch innerhalb des Behaviorismus die Einsicht verstärkte, dass sich menschliches Verhalten mittels Reiz-Reaktions-Schemen nicht befriedigend verstehen und erklären lässt, und infolgedessen kognitiven Elementen verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt wurde (so z. B. beim Modelllernen nach BANDURA, beim latenten Lernen nach TOLMAN oder in Ansätzen der kognitiven Verhaltenstherapie), verbleibt das Menschenbild noch immer in einer Asymmetrie zwischen Lehrenden und Lernenden, Forschern und Beforschten oder Therapeuten und Klienten. Dies zeigt sich in besonderem Masse dann, wenn es um die Interventionsgestaltung zwecks Veränderung 'unerwünschten' Verhaltens geht. Dieses kann – so die hier vertretene Auffassung – nicht von aussen (mittels belohnender und bestrafender Kraft) her-
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Explikation des Gegenstandsbereichs 42
beigeführt werden (vgl. exemplarisch ZIMBARDO & GERRIG 2004, S. 625ff.). Das Menschenbild des Forschungsprogramms 'Subjektive Theorien' beruht auf der Annahme, dass Veränderungen Subjektiver Theorien nur durch den Betroffenen selbst herbeigeführt werden können – wenn auch die Anstösse hierfür durchaus von der Aussenwelt kommen dürfen. Den Lehrenden, Forschern, Beratern etc. kommt die Aufgabe zu, für die hierfür notwendigen Gelingensbedingungen zu sorgen. Damit ist eine tragende Säule des Menschenbildes angesprochen, welches auf KELLY (1963) und seine 'Personal Construct Theory' zurückgeht; 43 nämlich die postulierte 'Symmetrie' zwischen Forscher und Untersuchungsobjekt. Der Symmetriegedanke formuliert eine klare Abwendung vom behavioralen Subjektmodell, welches zu Widersprüchlichkeiten hinsichtlich der Selbstanwendung führt – ja führen muss. Die Überheblichkeit der Forscher, von sich selbst zu behaupten, menschliches Verhalten oder Handeln theoretisch vernünftig beschreiben, erklären und kontrollieren zu können, während sie ihre 'Versuchsobjekte' lediglich als Organismen betrachten, welche auf Umweltreize reagieren, wollte KELLY durch seine Theoriekonzeption überwinden (GROEBEN & SCHEELE 1977, S. 22). Der Wissenschaftler soll nicht das, was er sich selbst zuschreibt, bei seinen Untersuchungsobjekten negieren. Die in Kapitel 5.2.3 (S. 69) explizierte Kernannahme der Strukturparallelität zwischen Subjektiven und objektiven (wissenschaftlichen) Theorien impliziert folglich auch eine Parallelität zwischen den Menschenbildern des 'Alltagmenschen' und dem des Wissenschaftlers. Dabei geht es um "die anthropologische Relation zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, d.h. die Frage, inwieweit das Menschenbild des Erkenntnissubjekts über sich selbst und das Menschenbild, das es über das Erkenntnisobjekt als 'Forschungsgegenstand' hat und in der Forschung implementiert, strukturparallel oder divergent ist" (GROEBEN & SCHEELE 2005, S. 1). In Weiterentwicklung von KELLYS Postulaten wird die erkenntnistheoretische Dimension der strukturparallelen Auffassung als epistemologisches Subjektmodell bezeichnet. Der 'Alltagsmensch' ist demzufolge – genauso wie der Wissenschaftler – als "Hypothesen generierendes und prüfendes Subjekt" (GROEBEN & SCHEELE 1977, S. 22) aufzufassen, welches anhand von (subjektiven) Theorien sich selbst und seine Umwelt zu verstehen und zu erklären versucht. Das epistemologische Subjektmodell versteht den Menschen "nicht als mechanistisch reagierend und durch Umweltreize determiniert", 42
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EULER (2001) zeigt in diesem Zusammenhang die Bedeutung eines solchen Menschenbildes für die Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen zwecks Förderung von Sozialkompetenzen auf. Ausgehend von einem behavioristisch geprägten Menschenbild "konzentriert sich die Anwendung im Hinblick auf die Förderung von Sozialkompetenzen zunächst darauf, durch den Einsatz von geeigneten Verstärkungsreizen ein gezeigtes Kommunikationsverhalten in die gewünschte Richtung zu lenken" (S. 360). Das Individuum habe sich "an ein (fremd)bestimmtes Verhaltensideal anzupassen", was vermutlich "zu einem ritualisierten und marionettenhaften Verständnis von sozialer Kommunikation" führen müsse, so dass der Lernende "im Rahmen einer hochgradigen Umweltdeterminiertheit" folglich kaum mehr die Möglichkeit habe, seine "individuelle Persönlichkeit in der Kommunikation zum Ausdruck zu bringen" (S. 361). Die 'Personal Construct Theory' nach KELLY kann allgemein als der wichtigste Vorläufer einer Psychologie verstanden werden, welche explizit auf das reflexive Subjekt Mensch ausgerichtet ist (GROEBEN 1988b, S. 19). Basierend auf dieser Psychologie der persönlichen Konstrukte sind zahlreiche Verfahrensvarianten der sogenannten Repertory Grid Techniken entwickelt worden (exemplarisch FROMM 2002, 2004; SCHEER & CATINA 1993a, 1993b). KELLY wollte zeigen, "dass und wie man theoretisch und methodisch Vielschichtigkeit und Einfallsreichtum von Menschen ernst nehmen kann, ohne dafür den Anspruch aufgeben zu müssen, 'ordentliche' Forschung zu betreiben" (FROMM 2002, S. 195). Aufgrund des inhaltlich eingeschränkten Anwendungsbereichs kommen diese Verfahren für den vorliegenden Gegenstandsbereich jedoch nicht in Frage und werden deshalb später im Teil I (S. 151ff.) auch nicht weiter ausgeführt.
6 Menschenbild als anthropologische Kernannahmen
83
sondern als "potenziell autonom, aktiv konstruierend und reflexiv" (SCHLEE 1988b, S. 13). Der Alltagsmensch konstruiert seine Selbst- und Weltsicht handlungsgeleitet durch seine Subjektiven Theorien, wodurch diese wiederum einem Veränderungs- und Entwicklungsprozess aufgrund des Realerlebens unterworfen sind. Damit werden die zentralen Elemente der postulierten konstruktivistisch systemischen Perspektive von Wissen und Handeln als zirkulärer Prozess nochmals deutlich (vgl. Kap. 5.1.3, S. 60). Subjektive Theorien entwickeln/verändern sich durch die denkenden oder motorischen Eigenaktivitäten des Individuums in einem situativen Kontext. Diese Eigenaktivitäten werden wiederum durch Subjektive Theorien mitbestimmt. 6.2
Kernannahmen
Im Folgenden werden die konstituierenden Grundpostulate des zugrunde gelegten Menschenbildes skizziert, soweit sie für diese Arbeit als relevant erachtet werden (ausführliche Darstellungen finden sich bei GROEBEN & SCHEELE 1977, S. 22ff; 2002; MUTZECK 1988, S. 55ff.; 44 SCHLEE 1988b). Die einzelnen Kernannahmen der Reflexivität und kognitiven Konstruktivität, Rationalität, Emotionalität und Artikulationsfähigkeit werden zwar getrennt dargestellt, sie bilden jedoch eine Einheit. 6.2.1
Reflexivität und kognitive Konstruktivität
Wenn der Sinn einer Handlung und damit verbunden die Intention bzw. die zielgerichtete Absicht des Individuums als konstitutiv für den Handlungsbegriff aufgenommen wird, erhält das Menschenbild die Kernannahme der Reflexivität und kognitiven Konstruktivität (GROEBEN 1986b, S. 62). Der in Kapitel 5.1.2 (S. 58) dargelegte Handlungsbegriff "lässt sich nämlich nur aufrechterhalten, wenn der Mensch als ein kognitiv konstruierendes Subjekt modelliert wird" (SCHLEE 1988b, S. 13). Unter Reflexivität werden insbesondere kognitive Konstruktionen verstanden, welche den Fokus auf das Selbst des Individuums richten. Das reflexive Handeln "beinhaltet eine kognitive Distanzierung von der erlebten Situation, während agentives Handeln das konkrete zielgerichtete Agieren und Reagieren in Situationen meint" (EULER & HAHN 2004, S. 529, Fn. 279). Durch diese Fähigkeit der kognitiven Distanzierung kann sich der Mensch von der Aussenwelt abkehren und seine Aufmerksamkeit und sein Bewusstsein auf sich selbst richten. Die reflexive Fähigkeit, sich ein mentales Abbild der Umwelt zu schaffen, Erlebtes und Vergangenes zu verarbeiten, Erfahrungen Sinn und Bedeutung beizumessen, Wirkungen und Folgen des eigenen Handelns gedanklich vorwegzunehmen, Ziele und Bewältigungsstrategien für künftige Herausforderungen zu entwerfen sowie antizipierte Pläne mit Erfahrungen in Beziehung zu setzen, ist vielleicht eine der wichtigsten psychologischen Grössen überhaupt. "Durch die Möglichkeit zur Reflexivität ist der Mensch dann in der Lage, auch die inneren Prozesse seines Handelns, die Ziele, Intentionen, Bedingungen, Gründe etc. selbst zu interpretieren. […] Die 'Innensicht' und die damit zusammenhängende Reflexion 44
Weiterführende Diskussionen zum (psychologischen) Subjektbegriff im Allgemeinen finden sich bei FUCHS (2001, S. 186ff.), GROEBEN UND SCHEELE (2005), GROEBEN UND ERB (2002) sowie ERB (1997). Eine ausführliche Darstellung zum Thema Emotionalität und epistemologisches Subjektmodell (sowie die dazu geäusserte Kritik) findet sich bei SCHEELE (1996). Der Rationalitätsbegriff im Einzelnen und dessen Bewertung wird erörtert in GROEBEN (1988a).
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Explikation des Gegenstandsbereichs
der 'Aussensicht', die Wahrnehmung und das Erleben der Umwelt sind als die entscheidenden Faktoren der Handlungssteuerung zu sehen" (MUTZECK 1988, S. 58). Die Reflexionsfähigkeit bildet damit eine wesentliche Komponente, welche es dem Individuum ermöglicht, Subjektive Theorien darüber zu entwickeln, wie es in seiner Umwelt agiert bzw. mit ihr interagiert. Gleichsam beinhaltet die Reflexivität das Potenzial, dass der Mensch seine Subjektiven Theorien erinnern bzw. aktualisieren kann. 6.2.2
Rationalität
In enger Verbindung mit der Reflexivität und kognitiven Konstruktivität steht die potenzielle Rationalität. Das Individuum ist grundsätzlich in der Lage, seine (künftigen) Handlungen zu planen und die möglichen Handlungswirkungen unter verschiedensten Gesichtspunkten durchzudenken und abzuwägen. Dadurch kommen Handlungsziele meist vernunftgemäss zustande. "Abwägen, Auswählen, Sich-entscheiden und Begründen sind Teile dieses rationalen Prozesses. […] Diese Fähigkeit zu Rationalität beinhaltet auch Intentionalität" (MUTZECK 1988, S. 59). Das Vermögen, Bezüge zu Einheiten der Aussenwelt herzustellen, wäre wiederum ohne kognitive Konstruktivität und Reflexivität nicht möglich. Rationalität setzt folglich Reflexivität und kognitive Konstruktivität voraus. Diese können dann als rational oder gegebenenfalls als 'irrational', nicht vernunftgemäss beurteilt werden. Das Merkmal der 'Rationalität' wird als erstrebenswerte Zielidee formuliert, welche nicht immer in gleichem Masse erfüllt sein muss. Das bedeutet zweierlei (GROEBEN 1988a, S. 97f.): - Erstens sind bei der Reflexivität und kognitiven Konstruktivität im Hinblick auf Subjektive Theorien "graduelle Abstufungen des Verfehlens bzw. Erreichens der (idealen) Zielvorstellung der Rationalität zu erwarten" (S. 98). Damit der Forscher jedoch eine Annahme darüber entwickeln kann, inwieweit die Zielvorstellung approximativ erreicht wurde, müssen vorab präskriptiv-deskriptive Merkmale formuliert werden. - Zweitens macht eine Unterscheidung zwischen Subjektiven und wissenschaftlichen Theorien nur dann Sinn, wenn sich diese Unterschiedlichkeit auch in den Anforderungen der anzusetzenden Rationalitätskriterien niederschlägt. Wenn also die Kernannahme der Rationalität als zentrale Perspektive zur Bewertung subjektiver Reflexivität gelten soll, dann müssen sich die Rationalitätskriterien für Subjektive Theorien auf einem tieferen Anforderungsniveau bewegen, als dies für wissenschaftliche Theorien der Fall ist. Diese Liberalisierung lässt sich mit dem bereits erwähnten Argument des Zeit- und Handlungsdrucks begründen (siehe Tabelle 1, S. 76). Im Gegensatz zum subjektiven Theoretiker ist der Wissenschaftler von einem unmittelbaren Handlungsdruck in dem Sinne befreit, als er relativ betrachtet deutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen kann, um eine Theorie aufzubauen, zu elaborieren und zu überprüfen. "Daraus folgt, dass man zwar die Rationalitätskriterien, wie sie an 'objektive' wissenschaftliche Theorien angelegt werden, als Heuristik für die Rationalitätsbewertung von Subjektiven Theorien heranziehen kann, aber keineswegs in der gleichen, unveränderten Anspruchshöhe anwenden darf" (S. 98). Die Tabelle 2 zeigt in Anlehnung an GROEBEN (1988a, S. 97ff.) zusammenführend die zentralen Rationalitätskriterien (mit den jeweils zu fordernden Anspruchsniveaus), welche für das vorliegende Erkenntnisinteresse als bedeutsam erachtet werden.
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Tabelle 2: Rationalitätskriterien zur Bewertung subjektiver Reflexivität
Rationalitätskriterien Ausprägung des Anforderungsniveaus Der subjektive Theoretiker sollte seine Aussagen durch die Nennung von (prototypischen) Beispielen (analog einer extensionalen Definition) und deren KernVerbalisierbarkeit intentionen verbalisieren können. Die Beispielgebung bzw. sprachliche Erläuterung muss die Aussagen in der Art und Weise verdeutlichen, dass der Kommunikationspartner diese verstehen Präzision kann. Das Ziel besteht in einer Elimination oder zumindest Reduktion von alltagssprachlichen Vagheiten. Der subjektive Theoretiker sollte in der Lage sein, Ambiguitäten zu klären. D. h., Begriffe oder Konstrukte sollen nicht nur präzise erläutert werden, sondern auch Differenziertheit in ihrer maximalen Vielfältigkeit. Aufbauend auf der Differenziertheit ist zusätzlich eine höchst mögliche Konstanz des Begriffsgebrauchs zu fordern. Es ist darauf zu achten, ob der subjektive Theoretiker im Laufe des Rekonstruktionsprozesses die einem Begriff zugeschriebene Bedeutung modifiziert. Eine solche Modifikation gilt es allerdings Konstanz nicht als 'irrational' einzustufen, sondern muss metakommunikativ thematisiert werden. Damit wird in Analogie zur 'Reliabilität' eine Zuverlässigkeit im Sinne von "Wiederholungszuverlässigkeit" (GROEBEN 1988a, S. 106) gefordert. Der subjektive Theoretiker sollte in der Lage sein, die Verbindungen der einzelnen Elemente seiner Subjektiven Theorie in Form von Argumentationsstrukturen Herleitungserkennbar zu machen. An das argumentative Denken wird die Forderung ge45 stringenz stellt, dass dieses Schlussfolgerungen zulässt, welche als nachvollziehbar gelten 46 können (vgl. Kap. 5.2.2, S. 67).
6.2.3
Emotionalität
Ein Menschenbild, welches dem Individuum ausschliesslich Reflexivität, kognitive Konstruktivität sowie Rationalität zuschreibt, würde zu kurz greifen. Eine kritische Position nimmt ULICH (1982) ein, indem er festhält: "eine Analyse kognitiver Vorgänge ohne Berücksichtigung emotionaler Komponenten ist einfach wirklichkeitsfremd" (S. 75). Neben dem Denken wird 45
46
Der Herleitungsbegriff wird als Abgrenzung gegenüber dem Ableitungsbegriff gewählt. Damit will verdeutlicht werden, dass grundsätzlich alle schlussfolgernden Argumentationen zugelassen sind und keine Einschränkung auf beispielsweise deduktiv-nomologische Argumentationsstrukturen gelten soll (vgl. Kap. 5.2.2, S. 67). Eine Hauptschwierigkeit ist allerdings darin zu sehen, bis zu welcher Intensität mögliche Inkonsistenzen innerhalb der subjektiven Theoriestruktur als legitim gelten können, ohne von einer Irrationalität zu sprechen. Vor dem Hintergrund eines liberalisierten Rationalitätsverständnisses werden Antworten, welche für einen Interviewer als inkonsistent wirken, nicht per se als irrational eingestuft, weil die Erklärungen für die Inkonsistenzen ebenso in der Untersuchungssituation selbst verortet sein können und damit die vorschnell unterstellte Irrationalität einer Aussage nicht mehr haltbar ist (exemplarisch BISHOP & TROUT 2005, S. 120). Die Irrationalität wird damit nicht auf der Ebene inkonsistenter Aussagen angesetzt. Als Approximation von Rationalität wird hingegen gefordert, dass der subjektive Theoretiker potenzielle Inkonsistenzen (ev. mithilfe des Interviewpartners) identifizieren, präzisieren und gegebenenfalls akzeptieren kann. Eine (theoretische) Kohärenz wird zwar angestrebt, jedoch nicht als Gütekriterium für Rationalität angesetzt. Diese Schwierigkeit wird im Rahmen des noch zu entwickelnden Rekonstruktionsverfahrens diskutiert.
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Emotionalität als grundlegender Wesenskern eines Individuums aufgefasst und folglich nicht als Unter- oder Randkategorie von Kognition, Motivation oder Handeln verstanden. "Emotionen […] sind Phänomene des menschlichen Erlebens – nicht primär des Denkens (Kognition), Wünschens bzw. Wollens (Motivation) oder Handelns" (SCHEELE 1996, S. 283). Diese sehr vage Begriffsbezeichnung soll genügen, um zu verdeutlichen, dass Emotionen neben dem Denken eine eigenständige Daseinsberechtigung zugesprochen wird. Damit befindet man sich unweigerlich in (oder zwischen) den Traditionen der Kognitions- und Emotionsforschung. Die Beziehungen zwischen Emotionen und Kognitionen werden sodann unterschiedlich modelliert, wobei weitgehende Einigkeit darüber vorliegt, dass "Kognition und Emotion eng miteinander verzahnt sind" (REISENZEIN 2006, S. 475). Dies bedeutet, dass die Auseinandersetzung mit den Kognitionen eines Individuums stets auch eine emotionale ist. Ob Kognitionen den Emotionen vorausgehen (oder umgekehrt) oder Emotionen auch auf 'nichtkognitive' Weise entstehen (z. B. durch einfache Sinnesreize, wenn der Duft einer Blume ein angenehmes Gefühl auslöst), ist bislang noch nicht ausreichend geklärt (vgl. REISENZEIN 2006). Jedenfalls beinhaltet die Rekonstruktion von Subjektiven Theorien als Untersuchungseinheit auch emotionale Komponenten. Neben der engen Verknüpfung von Kognitionen und Emotionen scheint sich die Auffassung durchgesetzt zu haben, dass Emotionen nicht nur etwas Störendes, Schädliches und Behinderndes sind, sondern vielfältige (positive) Funktionen bezüglich des Denkens und Handelns wahrnehmen (exemplarisch HECKHAUSEN & HECKHAUSEN 2006, S. 62f.; REISENZEIN 2006, S. 475). Zur Verdeutlichung wird die emotionale Schichtigkeit des Menschen nach WIDMER (2005, S. 49ff.) kurz skizziert. Vereinfacht gesagt, übernehmen in diesem Modell die Emotionen verschiedene Funktionen, die je nach Situation stärker nach aussen treten können (Anpassung, Abwehr, Ausdruck der Verletzung). Diese drei Schichten bilden sozusagen den 'fertigen' Menschen, wie wir ihn täglich erleben. Insbesondere in Situationen der zwischenmenschlichen Auseinandersetzung spielen diese Schichten und ihre Funktionen eine wichtige Rolle. Die Anpassungsschicht kann nicht mehr aufrechterhalten werden, und es kommen Emotionen der Abwehr zum Ausdruck, welche für den Menschen eine Schutzfunktion haben (z. B. Aggression, Überheblichkeit, Berechnung, Misstrauen, Rache, Vergeltung). Für die Klärung von Konflikten nimmt der Ausdruck der Verletzung einen zentralen Stellenwert ein. Diese 'Verletzungsgefühle' zeigen die Not, Bedrängnis, Ratlosigkeit, Ausweglosigkeit, Hoffnungslosigkeit etc. hinter der Abwehr und wirken daher solidarisierend im Sinne des gegenseitigen Verstehens. Durch diese Vorstellung geprägt, wird die Abwehr nicht nur als etwas Verwerfliches, Minderwertiges oder Fehlerhaftes des Menschen gesehen, sondern zugleich als Ausdruck dafür, dass ein Mensch sein Selbst beschützen möchte. Diese Grundhaltung wird in Kapitel 7 nochmals aufgenommen. 6.2.4
Artikulationsfähigkeit
Der Mensch wird als sprachfähiges Wesen aufgefasst, welches grundsätzlich in der Lage ist, qua Äusserungen in einen Prozess der Verständigung einzutreten. Inhaltlich bezieht sich ein Verständigungsprozess auf 'Äusseres' (z. B. Gegenstände, Menschen, allgemein beobachtbare Rahmenfaktoren etc.) und 'Inneres' (z. B. Gedanken, Gefühle, Intentionen, Blockaden und Hindernisse etc.). Sprachliche Verständigung besteht aus einer gemeinsam geteilten
6 Menschenbild als anthropologische Kernannahmen
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Konstruktion von Selbst- und Weltsicht, welche nicht "mit (dialogischer) Zustimmung gleichzusetzen ist" (GROEBEN 2006b, S. 631). 'Verstehen' bedeutet nicht 'einverstanden' und 'Missverstehen' heisst nicht unmittelbar 'Ablehnung'. Die Bedeutungsgebung einer Äusserung obliegt nicht nur der artikulierenden Person, sondern auch dem Adressaten der Äusserung, also der interpretierenden Person. Vor dem Hintergrund der fast unbegrenzten Anzahl an Situationsdeutungen wirkt es erstaunlich, dass eine gegenseitige Verständigung überhaupt möglich ist. Zu denken sei beispielsweise an indirekte Sprechakte, bei welchen die Illokution ('Funktion') nicht direkt aus dem Satztyp ersichtlicht ist (Beispiel: Kannst Du mir die Konfitüre reichen? Vom Satztyp her wird eine Frage formuliert, welche mit 'ja' oder 'nein' beantwortet werden könnte. Gemeint ist wohl eher die 'versteckte' Illokution in Form der Bitte oder Aufforderung, welche vermutlich als solche erkannt bzw. verstanden wird). "Eine Konsequenz aus dieser konstruktivistischen Sicht von Kommunikation besteht darin, dass sie sich permanent unter dem Risiko des Scheiterns vollzieht" (EULER 1994, S. 189). Eine Erklärung, dass Kommunikation trotzdem nicht permanent scheitert, wird in den weit reichenden Konventionen der sprachlichen Kommunikation gesehen (GROEBEN 2006b, S. 632). In Übereinstimmung mit EULER steht in diesem Verständigungszusammenhang weniger die Information selbst, sondern die Handelnden im Mittelpunkt des Interesses (exemplarisch EULER 1994, S. 187; EULER & HAHN 2004, S. 217). Kommunikation wird dann als "eine Ereignisabfolge wechselseitiger Äusserungen und Interpretationen" (1994, S. 187) verstanden. Äusserungen können sich sowohl in rein verbaler Form zeigen (Wörter, Sätze, Satzsysteme) als auch mittels nonverbalen/paraverbalen Ausdrucks (Gestik, Mimik, Stimmlage, Deutlichkeit der Äusserungen, Sprechgeschwindigkeit, Rhythmisierung etc.). Des Weiteren sind Äusserungen auch in schriftlicher Form denkbar (Text, Skizzen, Bilder etc.). In diesem Zusammenhang scheint es sinnvoll, für die Rekonstruktion Subjektiver Theorien grundsätzlich alle Äusserungsformen zuzulassen. Dem Individuum wird das Potenzial zugesprochen, dass es von diesen Äusserungsformen (wenn auch nicht in demselben Ausmass) Gebrauch machen kann. Die Artikulationsfähigkeit des Subjekts 'Mensch' macht es nicht nur potenziell möglich, dass er in der Lage ist, über seine Subjektiven Theorien zu berichten, sondern ermöglicht zusätzlich, hinsichtlich der Stimmigkeit der Rekonstruktionen in eine direkte dialogische Auseinandersetzung zu treten. In dieser Ereignisabfolge wechselseitiger Äusserungen und Interpretationen rückt die bereits diskutierte Argumentationsthematik wiederum in den Mittelpunkt des Interesses. Das gegenseitige Argumentieren wird deshalb als wesentlich beurteilt, weil die Situationsdeutungen zwischen Forscher und Beforschtem keineswegs identisch sein müssen. 6.3
Zusammenfassende Schlussbemerkungen
In Übereinstimmung mit MUTZECK (1988, S. 56f.) sind Menschenbilder keine umfassenden Beschreibungen, sondern verdeutlichen die grundlegenden Annahmen des Forschers über den Menschen. Sie veranschaulichen seine Sichtweise und unterliegen damit der Subjektivität des Verfassers. Diese Sollvorstellungen des Forschers zeigen sich in zahlreichen Handlungsbereichen bezüglich Umgang mit anderen Menschen; sei dies als Gesprächsleiter im Rahmen einer Konfliktklärung, als Forscher in wissenschaftlichem Handeln oder als Lehrender in pädagogischen Umwelten. Die diesbezüglich explizierten Kernannahmen sind keine statischen,
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Explikation des Gegenstandsbereichs
invarianten Bilder, sondern das vorläufige Produkt eines Konstruktionsprozesses. Diese Dynamik impliziert die Vorläufigkeit der Aussagen. Zusammenfassend wird davon ausgegangen, dass der Mensch grundsätzlich in der Lage ist, die Voraussetzungen, Gründe, Ziele, Pläne, Werte etc. für sein Handeln zu explizieren (Kernannahme der kognitiven Konstruktions-, Reflexions- und Artikulationsfähigkeit), dass diese Artikulationen das emotionale Erleben des Individuums mitumfassen (Kernannahme der Emotionalität) und der Forscher in der Aussensicht diese Artikulationen als "rationale Erklärungen (im Sinne von adäquater Selbsterkenntnis)" (BARTHELS 1992, S. 92f.) akzeptieren kann (Kernannahme der Rationalität). In einem so verstandenen Menschenbild ist das Individuum nicht länger ein auf Umwelteinflüsse reagierender Organismus, sondern es wird als aktiv konstruierendes Wesen aufgefasst. Die Kernannahmen des Menschenbildes werden im Idealfall operativ wirksam, wodurch das Individuum prinzipiell handlungsfähig wird. Überdies muss nochmals klar darauf hingewiesen werden, dass ein Menschenbild potenzielle – also grundsätzlich mögliche und durchaus erstrebenswerte – Zielperspektiven ausdrückt. Das Individuum wird nicht in allen Lebenssituationen in gleichem Masse alle genannten Kernannahmen erfüllen können. Inwiefern der Einzelne dieses Potenzial nutzen kann und will, kann nicht von vornherein festgelegt werden. Insofern würde die Kritik, die formulierten Kernannahmen des epistemologischen Subjektmodells seien kontrafaktisch, auf ein Missverständnis hinweisen: Das intendierte Menschenbild bewegt sich im Spannungsverhältnis zwischen Deskription und Präskription. Es besitzt präskriptive Komponenten, in welchen die "positiven Zieldimensionen konstruktiver Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen" (SCHLEE 1988b, S. 16) betont werden. Die präskriptive Dimension bringt damit die Aspekte des 'Sein-Sollens' zum Ausdruck. Dahinter steht die Absicht, ein Menschenbild als Bezugsrahmen zu wählen, welches zusätzlich positive Entwicklungslinien umreisst. Dementsprechend kann nicht davon ausgegangen werden, dass Personen in jeglichen Situationen ständig über alle Merkmale verfügen – jedoch annäherungsweise verfügen sollten. Die präskriptive Ebene versteht sich als Zielidee, wonach sich der Mensch in Richtung vollständigere und häufigere Realisierung entwickeln sollte. Gleichzeitig werden die Merkmale auch deskriptiv verwendet. Auf dieser Ebene wird lediglich postuliert, dass der Mensch grundsätzlich in der Lage sein muss, die genannten Merkmale besitzen zu können. Ob, in welcher Qualität und wie häufig die operative Realisierung dem Einzelnen gelingt, soll damit nicht festgelegt sein. Der skizzierte Doppelcharakter wird sprachlich durch die 'potenzielle' Zuschreibung der Merkmale repräsentiert. Die beschriebenen Postulate sollen die optimistische Auffassung eines Menschenbilds wiedergeben. Dies geschieht bewusst in Abgrenzung gegenüber einer 'pessimistischen' Variante, welche zwangsläufig zu reduzierten, eingeschränkten Grundannahmen führt. Ein solcher Skeptizismus hat meist Misstrauen, Bevormundung und/oder Täuschung zur Folge. "Die Tatsache, dass von der Potenzialität der Fähigkeiten des Menschen ausgegangen wird, […] gibt einer Forschungskonzeption, die diese Kernannahmen zugrunde legt, die Möglichkeit, diese Fähigkeiten prinzipiell auszuschöpfen" (MUTZECK 1988, S. 56f.). Allerdings bleibt eine noch so reflektierte Gegenstandsbestimmung (in der Form des Menschenbildes) folgenlos, wenn nicht wissenschaftliche Verfahren mitthematisiert werden (ASCHENBACH, BILLMANNMAHECHA & ZITTERBARTH 1989, S. 26). Bislang wurden methodologische und methodische Fra-
7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
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gen bezüglich Erfassung und Analyse Subjektiver Theorien lediglich angedeutet – jedoch nicht fundiert erörtert. Wie in der Einleitung erwähnt, wird dieser Problemperspektive in der vorliegenden Arbeit eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Implikationen sollen allerdings nicht an dieser Stelle generell abstrakt diskutiert werden, sondern kontextbezogen im Rahmen der theoretisch-methodologischen Ausdifferenzierung der Forschungsstrategie. Es wird die Ansicht vertreten, dass eine konstruktive Diskussion dieser Thematik nur dann sinnvoll möglich ist, wenn der inhaltliche Gegenstandsbereich genügend bestimmt ist. Damit ist die Ausformulierung des Situationstyps gemeint. Das nächste Kapitel wird sich folglich diesem Punkt widmen, bevor die Forschungsstrategie im dritten Teil dieser Arbeit vorgestellt wird. 7
Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
In der Einleitung dieser Arbeit wurde die Fähigkeit, Konflikte im beruflichen Kontext klären zu können, als wichtiges Anforderungsprofil von Führungskräften ausgewiesen. Gleichzeitig wurde betont, dass diese Kompetenz ebenfalls von den Mitarbeitern zu fordern ist. Die Bewältigung solcher sozio-ökonomischen Lebenssituationen als Zielperspektive der Didaktik wird für Studierende der Universität St. Gallen sowohl gegenwarts- als auch zukunftsbezogen als relevant eingestuft (vgl. Phase 1 in Abbildung 7, S. 53). Die Studierenden auf der Bachelorstufe sollen für solche Konfliktklärungssituationen sensibilisiert werden und mehr Sicherheit in der Gesprächsführung gewinnen. Sie sollen zu einem bewussten, selbst kontrollierten Handeln bei der Klärung von Konflikten zwischen zwei Konfliktparteien im beruflichen Umfeld hingeführt werden. Wenn die Studierenden auf dem Weg zur Erreichung dieser Zielperspektive unterstützt werden wollen, kann dies mitunter im Rahmen von pädagogisch arrangierten Umwelten geschehen, indem Lernprozesse durch die Lehrenden initiiert und gestaltet werden. Davon ausgehend wurde der Anspruch abgeleitet, das Handlungspotenzial als Lernvoraussetzungen der Zielgruppe diagnostizieren und beurteilen zu können, damit ein allfälliger Handlungsbedarf aufgezeigt werden kann. Damit diese Zielsetzung erreicht werden kann, verlangt das ausgewiesene Verständnis von Sozialkompetenz (vgl. Kap. 4, S. 33) sowie das Konstrukt der Subjektiven Theorien als Bezugspunkt der Lernvoraussetzungen (vgl. Kap. 5, S. 55) einen Zuschnitt des Praxisausschnittes (vgl. Phase 2 in Abbildung 7, S. 53). Diese Eingrenzung erfolgt basierend auf didaktischen und gegenstandsbezogenen Überlegungen. Einerseits müssen die Rahmenbedingungen der Lernumgebung berücksichtigt werden und andererseits die sozio-ökonomische Lebenssituation selbst. Dieses Spannungsfeld gilt es unter normativ gewünschten Zukunftsvorstellungen auszuloten. Das Kapitel 7.1 legt zunächst den Zuschnitt des Situationstyps fest. Die inhaltliche Erfassung und Präzisierung des Situationstyps geschieht in Kapitel 7.2 entlang des Situationstypenmodells, welches in Kapitel 4.2 (S. 41) vorgestellt wurde. Damit wird die wissenschaftliche Basis zur Legitimation von Lerninhalten und Lernzielen gelegt (vgl. Phase 3 in Abbildung 7, S. 53). Die essenziellen Bestandteile charakterisieren die Situationsspezifika als konstitutive Kernmerkmale des Situationstyps, welche unabhängig von den Ausprägungsformen immer vorhanden sind. Sie resultieren direkt aus den getroffenen Abgrenzungsentscheidungen. Es sind zunächst die zentralen Begriffe im Zusammenhang mit dem vorliegenden Situationstyp zu definieren und gegebenenfalls abzugrenzen (Kap. 7.2.1). Dem folgt in Kapitel 7.2.2 die Darstellung der Ziel-
7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
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gen bezüglich Erfassung und Analyse Subjektiver Theorien lediglich angedeutet – jedoch nicht fundiert erörtert. Wie in der Einleitung erwähnt, wird dieser Problemperspektive in der vorliegenden Arbeit eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Implikationen sollen allerdings nicht an dieser Stelle generell abstrakt diskutiert werden, sondern kontextbezogen im Rahmen der theoretisch-methodologischen Ausdifferenzierung der Forschungsstrategie. Es wird die Ansicht vertreten, dass eine konstruktive Diskussion dieser Thematik nur dann sinnvoll möglich ist, wenn der inhaltliche Gegenstandsbereich genügend bestimmt ist. Damit ist die Ausformulierung des Situationstyps gemeint. Das nächste Kapitel wird sich folglich diesem Punkt widmen, bevor die Forschungsstrategie im dritten Teil dieser Arbeit vorgestellt wird. 7
Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
In der Einleitung dieser Arbeit wurde die Fähigkeit, Konflikte im beruflichen Kontext klären zu können, als wichtiges Anforderungsprofil von Führungskräften ausgewiesen. Gleichzeitig wurde betont, dass diese Kompetenz ebenfalls von den Mitarbeitern zu fordern ist. Die Bewältigung solcher sozio-ökonomischen Lebenssituationen als Zielperspektive der Didaktik wird für Studierende der Universität St. Gallen sowohl gegenwarts- als auch zukunftsbezogen als relevant eingestuft (vgl. Phase 1 in Abbildung 7, S. 53). Die Studierenden auf der Bachelorstufe sollen für solche Konfliktklärungssituationen sensibilisiert werden und mehr Sicherheit in der Gesprächsführung gewinnen. Sie sollen zu einem bewussten, selbst kontrollierten Handeln bei der Klärung von Konflikten zwischen zwei Konfliktparteien im beruflichen Umfeld hingeführt werden. Wenn die Studierenden auf dem Weg zur Erreichung dieser Zielperspektive unterstützt werden wollen, kann dies mitunter im Rahmen von pädagogisch arrangierten Umwelten geschehen, indem Lernprozesse durch die Lehrenden initiiert und gestaltet werden. Davon ausgehend wurde der Anspruch abgeleitet, das Handlungspotenzial als Lernvoraussetzungen der Zielgruppe diagnostizieren und beurteilen zu können, damit ein allfälliger Handlungsbedarf aufgezeigt werden kann. Damit diese Zielsetzung erreicht werden kann, verlangt das ausgewiesene Verständnis von Sozialkompetenz (vgl. Kap. 4, S. 33) sowie das Konstrukt der Subjektiven Theorien als Bezugspunkt der Lernvoraussetzungen (vgl. Kap. 5, S. 55) einen Zuschnitt des Praxisausschnittes (vgl. Phase 2 in Abbildung 7, S. 53). Diese Eingrenzung erfolgt basierend auf didaktischen und gegenstandsbezogenen Überlegungen. Einerseits müssen die Rahmenbedingungen der Lernumgebung berücksichtigt werden und andererseits die sozio-ökonomische Lebenssituation selbst. Dieses Spannungsfeld gilt es unter normativ gewünschten Zukunftsvorstellungen auszuloten. Das Kapitel 7.1 legt zunächst den Zuschnitt des Situationstyps fest. Die inhaltliche Erfassung und Präzisierung des Situationstyps geschieht in Kapitel 7.2 entlang des Situationstypenmodells, welches in Kapitel 4.2 (S. 41) vorgestellt wurde. Damit wird die wissenschaftliche Basis zur Legitimation von Lerninhalten und Lernzielen gelegt (vgl. Phase 3 in Abbildung 7, S. 53). Die essenziellen Bestandteile charakterisieren die Situationsspezifika als konstitutive Kernmerkmale des Situationstyps, welche unabhängig von den Ausprägungsformen immer vorhanden sind. Sie resultieren direkt aus den getroffenen Abgrenzungsentscheidungen. Es sind zunächst die zentralen Begriffe im Zusammenhang mit dem vorliegenden Situationstyp zu definieren und gegebenenfalls abzugrenzen (Kap. 7.2.1). Dem folgt in Kapitel 7.2.2 die Darstellung der Ziel-
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Explikation des Gegenstandsbereichs
setzungen, um derentwillen eine Konfliktklärung durchgeführt wird. Anschliessend wird auf die wesentlichen Voraussetzungen bzw. Antezedensbedingungen eingegangen, welche zwingend vorhanden sein müssen, damit der Situationstyp überhaupt erfolgreich bewältigt werden kann (Kap. 7.2.3). Das Kapitel 7.2.4 widmet sich den sozialen Aufgaben, Erwartungen und Rollen der Akteure. Daran anschliessend wird in Kapitel 7.2.5 die Frage beantwortet, wie die typischen Phasen ausgestaltet werden können, um ausgehend von den Bedingungen des Situationstyps die anvisierten Zielsetzungen zu erreichen. Die potenziellen Störungen der Phasengestaltung werden als kritische Ereignisse in Kapitel 7.2.6 diskutiert. Das Kapitel 7.2.7 legt die dem Situationstyp zugrunde liegende Wertausrichtung offen. Die Schlussbetrachtung der Ausführungen mündet sodann in den zu erfüllenden Handlungsanforderungen, welche für die erfolgreiche Bewältigung des Situationstyps interpretativ abgeleitet und begründet werden (vgl. Phase 4 in Abbildung 7, S. 53). Aus der prinzipiellen Komplexität einer Situation werden in Kapitel 7.3 diejenigen Handlungskompetenzen in den Dimensionen Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen hervorgehoben, die als Anforderung für die Kompetenzbestimmung als besonders bedeutsam bewertet werden. 7.1
Zuschnitt des Situationstyps
7.1.1
Zeitlich-räumliche Perspektive
Im Zusammenhang mit der Gestaltung der Kommunikation in Konfliktsituationen im beruflichen Kontext sind vereinfacht dargestellt drei unterschiedliche Zugänge denkbar (Abbildung 10, S. 91): Der erste Zugang umfasst Situationen des direkten Konflikterlebens. Die Konfliktparteien stehen in einem unmittelbaren Streitgespräch, oder sie erleben die Wirkungen eines latenten, unterschwelligen Konflikts. Der zweite Zugang stellt die Gesprächsführung nach dem unmittelbaren Konflikterleben ins Zentrum der Betrachtung. Dieser Zugang setzt voraus, dass die Parteien willens und fähig sind, direkt miteinander in Kontakt zu treten. Der dritte Zugang fokussiert auf Situationen, in welchen eine nicht betroffene, aussenstehende Person die Aufgabe der Konfliktregelung übernimmt. Die direkt betroffenen Konfliktparteien sind nicht mehr willens oder fähig, miteinander konstruktiv in Kontakt zu treten. Die drei skizzierten Zugänge unterscheiden sich damit in einer zeitlichen und räumlichen Dimension: - Zeitlich: Der Zugang 1 umfasst Situationen des unmittelbaren Konflikterlebens, während die Zugänge 2 und 3 Situationen des (zeitlich nachgelagerten) mittelbaren Konflikterlebens beschreiben. - Räumlich: Mit den Zugängen 1 und 2 wird die Frage aufgeworfen, welches Wissen, welche Fertigkeiten und welche Einstellungen bei den Konfliktparteien vorhanden sein sollten, um diese Situationstypen zu bewältigen. Der Zugang 3 hingegen blickt aus der Per47 spektive einer nicht konfliktbeteiligten Drittperson aus einer räumlichen Distanz auf die
47
Mit 'räumlicher Distanz' ist gemeint, dass eine Drittperson nicht Teil des Konfliktsystems ist. Eine Führungskraft, welche den Konflikt zwischen zwei ihrer Mitarbeitern zu klären versucht, ist nicht Teil des Konfliktsystems, jedoch Teil des institutionellen Systems.
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7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
Konfliktparteien. Diese Distanziertheit und die damit verbundene Rolle stellen andere Handlungsanforderungen an eine aussenstehende Person. Abbildung 10: Zuschnitt des Situationstyps in der zeitlichen Dimension
48
Abgrenzung in der zeitlichen Dimension
während des Konflikterlebens
nach dem Konflikterleben
Streitgespräch durch die betroffenen Konfliktparteien führen
Konfliktklärungsgespräch durch die betroffenen Konfliktparteien führen
Konfliktklärungsgespräch durch eine aussenstehende Person führen
Zugang 1
Zugang 2
Zugang 3
Kernfrage: Wie soll die Interaktion während des Konflikterlebens gestaltet werden?
Kernfrage: Wie sollen die direkt betroffenen Konfliktparteien das Gespräch führen, nachdem der Konflikt stattgefunden hat?
Kernfrage: Wie soll eine Drittpartei das Gespräch gestalten, nachdem der Konflikt stattgefunden hat?
Anmerkung: Mit diesen beiden Fragestellungen soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass ein Konflikt eine einmalige, kurzweilige, zeitlich klar abgrenzbare Erlebenssequenz darstellt. Vielmehr betonen die Zugänge 2 und 3 Zeitpunkte, in welchen der Konflikt nicht unmittelbar ‘ausbricht’, sondern lediglich mittelbar wirkt.
Den Zugängen 1 und 2 ist gemeinsam, dass die Bewältigung dieser Situationstypen letztlich bei den Konfliktparteien liegt. Sie können und wollen noch miteinander in Kontakt treten und sind in der Lage, ihre Auseinandersetzung aus eigener Kraft zu lösen. Auf die (formale) Hilfe einer aussenstehenden Drittperson kann deswegen verzichtet werden. Die Konfliktliteratur hält für die Gestaltung von solchen Konfliktklärungsgesprächen durch die Beteiligten zahlreiche Wege und Möglichkeiten bereit, wie diese Art von Situationstypen bewältigt werden können (exemplarisch BERKEL 2002, S. 77ff.; GLASL 2002; HÖHER & HÖHER 2004, S. 133ff.; KELLER 2004, S. 33ff.; KREYENBERG 2005, S. 244ff.; REDLICH & MIRONOV 2003, S. 272ff.; RÜTTINGER & SAUER 2000, S. 215ff.) Wie bereits erwähnt, steht in dieser Arbeit die Klärung von Konflikten zwischen zwei Konfliktparteien durch eine Drittperson im Zentrum des Interesses. Die vorliegende Unter-
48
Die Darstellung der zeitlichen Dimension ist insofern vereinfacht, als Zugänge, welche zeitlich vor dem Konflikterleben einzuordnen wären, nicht dargestellt werden. Solche präventiven Interventionen beziehen sich jedoch nicht auf die Kommunikation in Konfliktsituationen.
92
Explikation des Gegenstandsbereichs
suchung hat folglich den Zugang 3 zum Gegenstand. Diese Zielperspektive impliziert weitere Zuschnitte, welche es im Folgenden zu erläutern gilt. 7.1.2
Konfliktausmass
Die Klärung von Konflikten kann sich lediglich auf Konflikte beziehen, welche als potenziell klärbar gelten können. Damit ist das Ausmass des Konfliktgeschehens angesprochen, welches als zusätzliches Abgrenzungskriterium herangezogen werden soll. Je nachdem, auf welcher Eskalationsstufe ein Konflikt einzuordnen ist, sind strategisch unterschiedliche Vorgehensweisen sinnvoll (KREYENBERG 2005, S. 244). Konflikte eskalieren häufig, wenn sie nicht thematisiert, geklärt und damit aufgelöst werden (REDLICH & MIRONOV 2003, S. 270). Das heuristische Eskalationsmodell von GLASL (2004, S. 233ff.) unterscheidet neun Stufen der Konflikteskalation (siehe hierzu ausführlich Kap. 7.2.3). In den ersten drei Stufen nehmen die Konfliktparteien noch eine 'Win-Win'-Haltung ein. Damit ist gemeint, dass sie willens und fähig sind, in kooperativer Absicht einen Konflikt gemeinsam zu klären (die Zugänge 1 und 2 beziehen sich auf die ersten drei Eskalationsstufen). Die Stufen 7 bis 9 sind von einer 'LoseLose'-Haltung geprägt. Die Entmenschlichung des Gegners führt zu begrenzten Vernichtungsschlägen, einer Zersplitterung des feindlichen Systems bis hin zu einer totalen Ver49 nichtung zum Preis der Selbstvernichtung. Ist ein Konflikt durch solche Eskalationsformen gekennzeichnet, wird eine Klärung ausser Kraft gesetzt. Hier kann einem Konflikt nur noch durch den Machteingriff einer Entscheidungsinstanz begegnet werden (GLASL 2004, S. 393f.). Das Ziel besteht in der Schadensbegrenzung und dem Schutz der Konfliktparteien. Die Klärung von Konflikten wird hingegen innerhalb der Stufen 4 bis 6 als sinnvoll und möglich erachtet. Der vorliegende Situationstyp umfasst folglich Konflikte auf der 'mittleren' Eskalationsstufe. 7.1.3
Ziel- und Rollenperspektive
Wenn das Klären von Konflikten zwischen zwei Konfliktparteien auf einer mittleren Eskalationsstufe im beruflichen Kontext betrachtet werden will, so bedarf diese Aussage einer weiteren präzisierenden Abgrenzung gegenüber den sogenannten Schlichtungsverfahren. "Bei der Schlichtung von Konflikten übernimmt die dritte Partei die Rolle eines Richters oder Schiedsrichters" (KREYENBERG 2005, S. 245). Bei der aussergerichtlichen Streitbeilegung besteht das Ziel weniger in der Klärung der Vergangenheit und Gegenwart, sondern in der Festlegung eines Kompromisses. Die Konfliktparteien haben sich in solchen Situationen meist bereits entschieden, sich von der Gegenpartei zu 'trennen'. Es steht die Regelung der Konfliktfolgen im Vordergrund. Als Beispiele seien Scheidungsmediationen, aussergerichtliche Opfer-Täter-Ausgleiche, politische oder arbeitsrechtliche Interessenausgleiche etc. genannt. 50 Im Gegensatz dazu wollen Vermittlungsverfahren mithilfe einer Drittpartei (z. B. einer Führungskraft, einem unternehmensinternen Vermittler oder einer unbeteiligten, externen Per49 50
Obschon die Wortwahl GLASLS sehr materialistisch klingt, gilt das Modell auch für psychische Angriffe. Zu den Vermittlungsverfahren werden nach REDLICH UND MIRONOV (2003, S. 276ff.) die Konfliktmoderation, die Klärungshilfe und zahlreiche Ansätze der Mediation gezählt (einen Kurzüberblick zu verschiedenen Facetten der Mediation gibt GLASL 2004, S. 395f.).
7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
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son) die Konfliktparteien zur Lösungsentwicklung aktivieren. Die Lösung soll nicht im Sinne eines 'Urteils' von aussen festgelegt, sondern durch die Konfliktparteien selbst herbeigeführt werden. Die Rolle der Drittpartei wird nicht als Schiedsrichter, sondern als Klärer, Vermittler oder Moderator aufgefasst. Neben dem Produktziel (idealerweise die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit) wird dem Prozessziel ebenfalls ein hoher Stellenwert eingeräumt – wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung. 7.1.4
Interaktionistische Perspektive
Die Rahmenbedingungen der in der Einleitung skizzierten Lehrveranstaltung verlangen nach einer weiteren Eingrenzung. Der zeitlich beschränkte Rahmen der didaktischen Einheit führt dazu, dass der Situationstyp auf die Klärung von Konflikten zwischen zwei Beteiligten beschränkt wird. Die Klärung von Team- und Abteilungskonflikten bringt aufgrund der hohen Zahl von Interaktionsbeziehungen eine höhere Komplexität mit sich. Obschon mehrheitlich dieselben Fertigkeiten gefordert werden, schlägt sich der Komplexitätszuwachs insbesondere in dem zusätzlichen Wissen über die Prozessgestaltung nieder. Wenn das Ziel der Lehrveranstaltung nicht in der Vermittlung eines Orientierungswissens und der Erarbeitung von zahlreichen Grundstrategien angesiedelt ist, sondern die Studierenden zu einem bewussten, selbst-kontrollierten Handeln bei der Klärung von Konflikten hingeführt werden sollen, geht diese Priorisierung mit einer Einschränkung des Handlungsfeldes einher. Die Breite des Handlungsfeldes wird deshalb zugunsten der Tiefe auf die Zweierklärung beschränkt. 7.1.5
Normative Perspektive
Zuletzt muss darüber entschieden werden, welche Art von Vermittlungsverfahren dem Situationstyp zugrunde gelegt werden soll. Diese Festlegung bestimmt im Wesentlichen darüber, wie das Interaktionsgeschehen des Situationstyps prozessual ausgestaltet wird. Wie bereits erwähnt, wird die Theorie der Klärungshilfe nach THOMANN (RENNER & THOMANN 1995; THOMANN 1986, 2004; THOMANN & PRIOR 2007; THOMANN & SCHULZ VON THUN 2000) favorisiert. Diese normative Präferenz wird wie folgt begründet: - Der Theorieansatz soll einen engen Bezug zum betrachteten Situationstyp aufweisen. Die Theorie der Klärungshilfe ist ein Verfahren, welches auf zwischenmenschliche Konflikte im beruflichen Kontext ausgerichtet ist. Sie "illustriert das […] Vorgehen eines Vermittlers in ausgeprägter Form" (REDLICH & MIRONOV 2003, S. 280). Das Verfahren wurde durch THOMANN sehr präzise und anschaulich ausgearbeitet, was dessen hohe Relevanz für das praktische Handeln unterstreicht. - Neben weiteren theoretischen Bezügen beruht die Theorie der Klärungshilfe auf den Grundlagen der Hamburger Kommunikationspsychologie (SCHULZ VON THUN 2007a, 2007b, 2007c). Diese theoretischen Bausteine werden auch in anderen Veranstaltungen aufgenommen, welche durch die Zielgruppe belegt werden. Damit steht die Theorie der Klärungshilfe nicht in Kontradiktion mit diesen Kursen, und des Weiteren lassen sich veranstaltungsübergreifende Querbezüge herstellen. - Die Theorie der Klärungshilfe verfolgt eine systemische Betrachtungsweise. "Im Kern geht es hier nicht mehr nur um einen zentralen Konfliktpunkt" (REDLICH & MIRONOV 2003, S. 281). Einen wesentlichen Bestandteil bildet die Bearbeitung der persönlichen und zwi-
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Explikation des Gegenstandsbereichs
schenmenschlichen Hintergründe. "Hier ist der Anteil der sozio-emotionalen Konfliktklärung am Gesamtvolumen der Konfliktbehandlung deutlich höher als in den anderen Vermittlungsansätzen" (S. 281). Darin wird eine wesentliche Stärke des Ansatzes gesehen. Der Mensch wird als Wesen aufgefasst, welches in einem sozialen System eingebettet ist. Der Konflikt kann somit nicht als isolierte Einheit getrennt von seinem Subjekt betrachtet werden, sondern als Teil eines (zwischenmenschlichen) Systems. Dieser Grundgedanke beruht auf der Theorie der Gestalttherapie (siehe exemplarisch PERLS 2002, 2004). Die Theorie der Klärungshilfe beruht auf dem Menschenbild der humanistischen Psychologie. Diese geht von einem potenziell handlungsfähigen Menschen aus. Das Individuum wird verstanden "als bewusstes, intentionales, im kulturellen Kontext existierendes Wesen, das durch Wahlfreiheit, Entscheidungskraft, lebenslange Entwicklung etc. gekennzeichnet ist" (ERB 1997, S. 188). Dieses Menschenbild steht in Einklang mit dem in Kapitel 6 (S. 81) dargestellten Menschenbild des epistemologischen Subjektmodells, welches als grundlegende Annahmen des Forschers über den Menschen ausgewiesen wurde.
7.1.6
Festlegung des Zuschnitts
Die Tabelle 3 fasst die Abgrenzungsüberlegungen der vorangehenden Kapitel zusammen. Tabelle 3: Zuschnitt des Situationstyps
Kriterium
Festlegung von …
in Abgrenzung zu …
Lebensbereich
sozio-ökonomischen Lebenssituationen
privaten Lebenssituationen
Zeitliche Perspektive
zeitlich nachgelagertes, mittelbares Konflikterleben
unmittelbares Konflikterleben
Räumliche Perspektive
Konfliktbewältigung durch einen nicht konfliktbeteiligten Gesprächsleiter
Konfliktbewältigung durch die Konfliktparteien ohne Hilfe eines Gesprächsleiters
Konfliktausmass
Konflikte auf einer mittleren Eskalationsstufe
Konflikte auf einer geringen oder hohen Eskalationsstufe
Zielperspektive
Lösungsentwicklung mit den Konfliktparteien durch Klärung der persönlichen, zwischenmenschlichen und sachlichen Hintergründe
Festlegung eines Kompromisses durch eine Drittpartei
Rollenperspektive
Gesprächsleiter in der Rolle eines Vermittlers
Gesprächsleiter in der Rolle eines Schiedsrichters
Interaktionistische Perspektive
Konfliktklärung zwischen zwei Konfliktparteien
Teamklärung/Klärung von Abteilungskonflikten
7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
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Vor dem Hintergrund der dargelegten Überlegungen lässt sich der Situationstyp semantisch präzisieren: Der Situationstyp umfasst die Klärung von Konflikten auf einer mittleren Eskalationsstufe zwischen zwei Konfliktparteien im beruflichen Kontext durch eine nicht konfliktbeteiligte Drittperson. Als theoretischer Bezugsrahmen zur prozessualen Ausgestaltung wird als Vermittlungsverfahren die Theorie der Klärungshilfe zugrunde gelegt. Wenn im Folgenden der besseren Lesbarkeit wegen lediglich vom Situationstyp 'Konfliktklärung' gesprochen wird, ist damit stets der beschriebene Zuschnitt gemeint. 7.2
Beschreibung des Situationstyps
7.2.1
Ausgangspunkte
Konfliktdefinition Wenn von der konstruktiven Konfliktbewältigung gesprochen wird, so setzt man implizit voraus, dass auch wirklich ein Konflikt vorliegt. Das Vorhandensein eines Konflikts ist konstitutiv für diesen Situationstyp. Doch wann spricht man von einem Konflikt, wann von einer Meinungsdifferenz und wann von Willensunterschieden? Der vorliegende Abschnitt soll darüber Auskunft geben. Die in der Literatur vorzufindenden Definitionen des Konfliktbegriffs unterscheiden sich durch die Vielfalt der berücksichtigten Aspekte sowie durch die Weite und Schärfe des Definitionsrahmens. Eine sehr weite Umschreibung gibt BERLEW: "Ein Konflikt ist gegeben, wenn man untereinander eine Uneinigkeit hat" (1977, zit. in GLASL 2004, S. 15). Diese Begriffsbestimmung ist wenig brauchbar, denn mit dieser Festlegung würden Individuen ständig in Konflikten leben. Das Bestimmungsmerkmal der 'Uneinigkeit' führt zu einem inflationären Gebrauch des Konfliktbegriffs. GLASL (2002) verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der 'Differenz', welche es von dem Konfliktbegriff zu unterscheiden gilt. "Mit einem Menschen eine Differenz zu haben ist noch kein Konflikt mit diesem Menschen" (S. 23). Eine engere Begriffbestimmung für den Konfliktbegriff wählt VON ROSENSTIEL (2003) aus einer organisationspsychologischen Sicht: "Ein interindividueller – sogenannter sozialer – Konflikt liegt dann vor, wenn zwischen Konfliktparteien, die jeweils aus zumindest einer Person bestehen, unvereinbare Handlungstendenzen beobachtet werden" (S. 301). Diese Definition verdeutlicht zunächst die Unterscheidung zwischen sozialen (zwischenmenschlichen) und inneren (persönlichen) Konflikten. Zudem betont der Autor, dass es genügt, wenn die Unvereinbarkeit von mindestens einer Person erlebt wird. Es braucht nicht immer zwei Parteien, die eine Situation übereinstimmend als Konflikt erleben und im Handeln austragen. Der Konflikt wird demgemäss bereits dann zu einer psychologischen Wirklichkeit, wenn wenigstens eine Partei sich bewusst ist, dass eine Unvereinbarkeit vorliegt. Die Begriffsbestimmung von VON ROSENSTIEL wird dahingehend als unzureichend beurteilt, dass die hindernde, blockierende Wirkung der Unvereinbarkeit nicht aufgenommen wird. Auch hier kann wiederum das Argument angeführt werden, dass eine Differenz, ein Unterschied, eine Gegensätzlichkeit oder
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Explikation des Gegenstandsbereichs
eine Unvereinbarkeit noch keinen Konflikt ausmachen. Es wird als konstitutiv erachtet, dass sich eine Partei aufgrund einer Unvereinbarkeit bei der Verwirklichung ihrer Interessen, Ziele, Rollen oder Auffassungen frustriert bzw. behindert fühlt. Das alleinige Vorhandensein einer Unvereinbarkeit genügt indes nicht. Diese Forderung wird bei GLASL deutlich, indem er betont, dass "wenigstens ein Aktor eine Differenz bzw. Unvereinbarkeiten im Wahrnehmen und im Denken bzw. Vorstellen und im Fühlen und im Wollen mit dem anderen Aktor (den anderen Aktoren) in der Art erlebt, dass beim Verwirklichen dessen, was der Aktor denkt, fühlt oder will, eine Beeinträchtigung durch einen anderen Aktor (die anderen Aktoren) erfolge" (GLASL 2004, S. 17). Der (subjektive) Grund der Beeinträchtigung wird folglich der anderen Partei zugeschrieben. Konflikte erzeugen eine Unterbrechung einer geplanten Handlungsepisode eines Menschen durch mindestens eine oder mehrere andere Personen (REDLICH & MIRONOV 2003, S. 267). Der Betroffene versucht, die erlebte Beeinträchtigung zu beseitigen; er will die Störung unwirksam machen. Der Konfliktbegriff lässt sich aus dem Gesagten über vier Kernpunkte bestimmen (siehe Tabelle 4). Tabelle 4: Definitionsmerkmale eines sozialen Konflikts
Ein sozialer Konflikt… -
entsteht in einer Interaktion, wobei
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mindestens eine Person eine Unvereinbarkeit im Denken bzw. Vorstellen, Wahrnehmen, Fühlen oder Wollen in der Art erlebt,
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dass sie sich subjektiv durch die andere Person beeinträchtigt fühlt und
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diese Beeinträchtigung beseitigen will (Realisierungshandeln).
Die konstituierenden Merkmale eines sozialen Konflikts lassen sich aufgrund dieser Definition wie folgt beschreiben: - Ein Konflikt stellt eine Interaktion dar, also ein wechselseitiges Geschehen zwischen zwei oder mehreren Individuen. Der Bezugspunkt ist nicht das Individuum, sondern das, was sozusagen 'zwischen den Individuen liegt' – das aufeinanderbezogene verbale oder nonverbale Kommunizieren oder Handeln. - Es genügt, dass eine Partei die Unvereinbarkeit als solche erlebt und subjektiv dementsprechend handelt. Ob diese Unvereinbarkeit aus der Perspektive eines Aussenbeobachters als rational berechtigt gilt oder nicht, ist dabei unerheblich. - Die Unvereinbarkeiten können auf der kognitiven (perzeptiven) und/oder emotionalen Ebene erlebt werden. Die genannten 'seelischen' Aspekte des Konfliktes (Denken bzw. Vorstellen, Wahrnehmen, Fühlen, Wollen) beziehen sich auf das Modell der intrapsychologischen/seelischen Faktoren nach BALLREICH UND GLASL (2004, S. 3f.). - Wenigstens eine Partei erlebt die Interaktion so, dass sie die Gründe für das NichtVerwirklichen der eigenen Gedanken, Gefühle oder Absichten der anderen Partei zu-
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schreibt. Es ist irrelevant, ob dies von der Gegenpartei bewusst oder unbewusst, willentlich oder unwillentlich geschieht. Als letztes Merkmal beschreibt das Realisierungshandeln das Bedürfnis, die Beeinträchtigung zu beseitigen. Diese Aktionen können in der Praxis unterschiedlich ausgestaltet werden: Verbales überreden, die Gegenpartei ignorieren und 'abwarten', einsetzen von Macht und Druckmittel, physische und psychische Gewalt (z. B. Mobbing) etc. "Ohne die Realisierung und das Erleben der Beeinträchtigung (Behinderung, Widerstand, Abwehr oder Angriff) seitens immerhin einer Partei kann von einem sozialen Konflikt nicht gesprochen werden" (GLASL 2004, S. 17).
Bezug nehmend auf das beschriebene Konfliktverständnis, folgt unmittelbar, dass eine Konfliktklärung nicht das Ziel haben kann, Differenzen oder Unvereinbarkeiten zu beseitigen. Das Bestehen von Differenzen wird als Teil des menschlichen Zusammenlebens und Voranschreitens jedes Individuums aufgefasst und folglich nicht als 'problematisch' beurteilt. Wahlfreiheit, Entscheidungskraft und lebenslange Entwicklung bringen naturgemäss Unvereinbarkeiten mit sich. Thematisierungs- und klärungsbedürftig ist einzig der Umgang mit Differenzen. Konfliktdynamik und Wirkungsmechanismen Dieser Abschnitt betrachtet die Dynamik und das Zusammenspiel der beschriebenen Merkmale eines sozialen Konfliktes (vgl. BALLREICH & GLASL 2004, S. 3ff.; GLASL 2002, S. 22ff.; GLASL 2004, S. 39ff.). Die Ausführungen erfolgen zur besseren Übersichtlichkeit entlang den einzelnen Merkmalen, wie sie in Abbildung 11 dargestellt sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese als isolierte Einheiten zu verstehen sind. Im Gegenteil: Die Abbildung 11 will insbesondere auf die Interdependenzen aufmerksam machen. Abbildung 11: Wirkungssystem der seelischen Faktoren (in Anlehnung an GLASL 2004, S. 40)
Differenzen im Denken, Vorstellen Differenzen im Wollen Differenzen im Wahrnehmen
Handeln oder Tun der Konfliktpartei
Wirkungen, die beim anderen als Beeinträchtigung erlebt werden
Differenzen im Fühlen
a) Wahrnehmungen, Denk- und Vorstellungsleben Die Konfliktparteien neigen dazu, eine Objektivierung der subjektiven Realitätskonstruktionen vorzunehmen. Im Verlaufe der Ereignisse fällt es schwer, die Konfliktsituation ganzheitlich wahrzunehmen. Das Denk- und Vorstellungsleben folgt Zwängen, deren sich die Betroffenen meist nicht hinreichend bewusst sind. Die selektive Aufmerksamkeit richtet ihren Fokus be-
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sonders auf Dinge, welche für die Konfliktpartei als bedeutungsvoll erscheinen, welche ihr Erleben und ihren Standpunk 'legitimieren' (z. B. die ärgerlichen Eigenschaften der Gegenpartei). Hingegen werden die positiven Eigentümlichkeiten des anderen schnell übersehen. "Die Zuschreibung von nachteiligen Eigenschaften wird ausgeweitet und die andere Partei bald als Verursacher aller erlebten Probleme und Frustrationen gesehen" (RENNER & THOMANN 1995, S. 14). Ferner tun sich die Betroffenen immer schwerer, viele und komplexe Dinge aufzunehmen, bei denen die Zusammenhänge kompliziert sind (Einengung der Raum- und Zeitperspektiven). Die Hintergründe und kontextualen Einflüsse werden kaum mehr beachtet. Die Konfliktparteien simplifizieren und reduzieren die Wirklichkeit zu einer einfachen und überschaubaren Konstruktion. Die Komplexitätsausweitung wird indes oft von den Konfliktparteien selbst herbeigeführt, indem sie den Konflikt bewusst oder unbewusst ausweiten. Dies geschieht dadurch, dass sie einerseits zusätzliche, vermeintlich streitige Themen und Fragen aufnehmen und andererseits versuchen, unbeteiligte Dritte in das Konfliktgeschehen zu involvieren, um die eigene Position zu stärken (Koalitionsversuche). Vor allem nähebedürftige Menschen neigen dazu, immer mehr Personen über den Konflikt zu informieren und auch zu involvieren. Diese Aktionen erhöhen die Komplexität der Situation. Um sich in einer solchen Situation noch orientieren zu können, wird auf die Komplexitätszunahme mit Simplifikationen reagiert. Es wird vereinfacht, monokausal und oberflächlich gedacht und argumentiert. Diese "schrecklichen Vereinfachungen" (WATZLAWICK, WEAKLAND & FISCH 2001, S. 60) bewirken eine einseitige Wahrnehmung der Konfliktgegenstände und ein 'SchwarzWeiss-Denken' bezüglich der Bilder, welche die Betroffenen über sich selbst und von der Gegenpartei konstruiert haben. Daraus ergeben sich erhebliche Verallgemeinerungen und Pauschalisierungen, welche sich als Vorurteile festsetzen. b) Gefühlsleben Die Beeinträchtigung des Gefühlslebens geht Hand in Hand mit den Verzerrungen der Perzeptionen. Zu Beginn der Auseinandersetzung tritt eine erhöhte Empfindlichkeit auf, die eine Haltung des beginnenden Misstrauens nährt und bei den Betroffenen Unsicherheit auslöst. Das Gefühlsleben schwankt zwischen Verstehen und Ablehnung, Sympathie und Antipathie, Achtung und Verachtung, Nähe und Distanz. "Diese Periode der ambivalenten Gefühle ist eine Zerreissprobe, die nur wenige lang durchhalten" (GLASL 2004, S. 43, Hervorhebung im Original). Das Bedürfnis nach eindeutigen Gefühlen ist in der Regel stärker als die Fähigkeit, mit den emotionalen Gegensätzen umzugehen. Meist gewinnen die 'Abwehrgefühle' (WIDMER 2005, S. 49ff.) wie Wut, Zorn, Ärger oder Neid an Oberhand. Diese abwertenden Gefühle breiten sich aus und fixieren sich. Von dieser sogenannten Monovalenz können sich die Konfliktparteien später nur noch schwer lösen: Es entsteht die Tendenz, Polaritäten aufzuheben. An deren Stelle treten Erstarrung und Fixierung, welche die Parteien überempfindlich machen und zu deren Isolierung führen. Sie verlieren die Fähigkeit der Empathie, weil die Gefühle ihnen nicht mehr helfen, zum Innenleben des andern zu finden. Die Gefühlswahrnehmung wird somit zu einer übersteigerten Selbstwahrnehmung, welche die Betroffenen von der Aussenwelt abkapselt.
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c) Willensleben Weiter führen Konflikte zu einer Fixierung im Willensleben. Die Konfliktparteien beharren auf ihren vermeintlichen Interessen und Absichten. Das 'Feilschen um die eigene Position' wird zu einem Willenskampf (R. FISHER, URY & PATTON 2004). "Ärger und Verstimmung kommen auf, weil sich die eine Seite ohne Berücksichtigung der eigenen legitimen Interessen dem unbeugsamen Willen der anderen unterworfen sieht" (S. 29). Getrieben von einer selektiven Aufmerksamkeit und emotionalen Monovalenz verstärkt sich bei den Konfliktparteien der Eindruck, dass das eigene Fühlen, Denken und Wollen von der anderen Partei nicht aufgegriffen wird. Sie stossen auf Unverständnis, Ablehnung oder Widerstand. Damit stellt sich die neuralgische Frage, ob man nachgeben oder sich durchsetzen will. Wählen die Betroffenen die zweite Strategie, dann tritt auch im Bereich des Willenslebens Erstarrung und Fixierung ein. Die Konfliktparteien verlieren an Flexibilität und sehen immer weniger Lösungsalternativen, um ihre eigenen Absichten zu verwirklichen. Ziele und Mittel werden direkt miteinander verknüpft, womit die Fixierung weiter zunimmt. Die Betroffenen wollen nicht nur, dass ihre Ziele realisiert werden, sondern sie verlangen auch, dass die Zielerreichung auf eine von ihnen gewollte Art und Weise realisiert werden muss. Ob das angestrebte Ziel auf einem anderen Wege erreicht werden könnte, steht kaum mehr zur Diskussion. Möchte jemand für eine erlittene Beleidigung von dem anderen eine Entschuldigung (Ziel), versteift man sich gleichzeitig auf eine bestimmte Form (z. B. eine schriftliche Entschuldigung, eine öffentliche Erklärung in den Medien etc.). Die gedankliche und willensmässige Trennung des Ziels (Entschuldigung) und der Mittel zur Realisierung des Ziels (öffentliche Erklärung in den Medien) ist nicht mehr möglich. Verweigert der andere die öffentliche Erklärung in den Medien, wird die Gegenpartei umso stärker darauf beharren. Mit jeder Aktion und Reaktion können die Konfliktparteien zusehends feststellen, dass sie zu Verhaltensweisen und einem emotionalen Erleben gelangen, welche sie selbst überrascht. "Wir können dann zu unserem Erstauen feststellen, dass wir imstande sind zu hassen, wie wir es von uns nicht für möglich gehalten haben. Und dass sich in unseren Aktionen Dinge entladen, die nicht zu unseren besten menschlichen Absichten gehören und die mit unseren sonstigen sittlichen Auffassungen nicht zusammenpassen" (GLASL 2004, S. 39). d) Handeln, Tun und Wirkungen Die Veränderungen in der Wahrnehmungsfähigkeit, dem Denk- und Vorstellungsleben, dem Gefühlsleben und dem Willensleben wirken zusammen, beeinflussen und verstärken sich gegenseitig und führen dazu, dass die Gefahr des Kontrollverlustes über das eigene Tun und Handeln bzw. die damit erzeugten Wirkungen zunimmt. Diese seelischen Faktoren treten in Form des gezeigten Verhaltens nach aussen: Dieses wird verletzender, angriffiger, aggressiver und destruktiver. Die gewollten oder ungewollten Wirkungen treffen auf die Gegenpartei, welche von dieser als Beeinträchtigungen innerlich und äusserlich erfahrbar werden. Auch ihre seelischen Faktoren werden Aktionen hervorrufen, deren Wirkungen wiederum Reaktionen auf der Gegenseite auslösen. Die Akteure verlieren schnell den Blick für die Auswirkungen ihrer Tuns oder Handelns, weil sie zu sehr mit dem eigenen 'Überleben' beschäftigt sind. Durch diese Introversion kann zwischen dem Wollen und den Auswirkungen des Handelns eine Diskrepanz auftreten – Kommunikation ist nicht nur Absicht, sondern auch Wirkung. Die Muster aus Aktion und Reaktion können sich gegenseitig verstärken und
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zu einer Eskalationssteigerung des Konfliktes führen. Je weiter der Konflikt eskaliert, desto stärker erleben sich die Konfliktparteien als reagierende Opfer – als Marionetten der Konfliktsituation. "Die eigenen destruktiven Verhaltensweisen werden einzig als Verteidigungsreaktionen auf die Angriffe des Gegners bewertet und auf diese Weise gerechtfertigt. Die eigenen Anteile und das Mitverschulden an der Entstehung und Eskalation des Konfliktes werden nicht mehr wahrgenommen" (RENNER & THOMANN 1995, S. 14). Die Konfliktparteien projizieren die eigenen, nicht akzeptierten Schwächen auf die Gegenpartei. Die Ursache für das eigene unkontrollierte Verhalten wird dem negativen Verhalten der Gegenpartei zugeschrieben, und dieses dient dann wiederum als Erklärungs- oder Entschuldigungsgrund für 51 das eigene Verhalten. Konflikttypen Nachdem die Merkmale eines soziales Konfliktes beschrieben und deren Zusammenspiel erläutert wurden, wird als weiteres konstitutives Kernmerkmal des Situationstyps die Typologie von Konflikten aufgenommen. Befasst man sich mit wissenschaftlichen Überlegungen, wie Konflikte sinnvollerweise typologisiert werden können oder sollen, stösst man auf eine grosse Vielfalt von Unterscheidungen. Eine einheitliche Systematik zu finden, ist kaum möglich, weil die Autoren unterschiedliche Erkenntnisinteressen verfolgen und damit einhergehend die Typenbildung nach verschiedenen Gesichtspunkten gestalten. Letztere können sich auf die Streitgegenstände, Erscheinungsform des Konfliktes oder Eigenschaften der Konfliktparteien beziehen (siehe Übersicht bei GLASL 2004, S. 54ff.). Dementsprechend mannigfaltig zeigen sich die Typen: Struktur-, Sach-, Beziehungs-, Ziel-, Wahrnehmungs-, Beurteilungs-, Glaubens-, Interessen-, Verteilungs-, Werte- und Rollenkonflikte (BESEMER 2001, S. 30; HÖHER & HÖHER 2004, S. 45ff.; KELLNER 2000, S. 11ff.; MAHLMANN 2000, S. 80; MONTADA 2004, S. 76ff.; RÜTTINGER & SAUER 2000, S. 19f.), seelische, zwischenmenschliche und organisatorische Konflikte (BERKEL 2002, S. 12ff.; CRISAND 2004, S. 14ff.) oder latente und offene Konflikte (RÜTTINGER & SAUER 2000, S. 16f.). Andere Autoren nehmen diesbezüglich eine kritischere Haltung ein und stellen den Sinn solcher Einteilungen grundsätzlich in Frage (siehe hierzu ausführlich GLASL 2004, S. 60ff.). "So sehr solche Typisierungen das Ordnungsmotiv des Wissenschaftlers oder Praktikers befriedigen mögen – sie neigen dazu, das in Frage stehende Konstrukt nur eindimensional abzubilden" (REDLICH & MIRONOV 2003, S. 267). Konflikte zeigen sich erstens höchst selten in Reinform – sie sind durch eine Vielzahl von Gegensätzen, Zielen, Einstellungen, Werthaltungen etc. gekennzeichnet. Dieser Vielschichtigkeit kann man nicht gerecht werden, wenn ein Konflikt beispielsweise vorschnell als 'Zielkonflikt' oder 'Rollenkonflikt' identifiziert wird. Jeder Konflikt ist grundsätzlich als einmalige Konstellation vieler Einflussgrössen zu sehen (REDLICH 1997, S. 37ff.). Zweitens geht eine engmaschige Typologie (dies trifft insbesondere auf die Klassifizierung nach Streitgegen51
Der Grund für dieses Phänomen liegt in der kreisförmigen statt linearen Kausalität des Ablaufs eines Konflikts. Die Kreisförmigkeit der Interaktion macht es oft unmöglich zu entscheiden, ob eine bestimmte Handlung 'A' die Ursache oder die Folge einer Handlung 'B' der anderen Partei ist. Die Kommunikationsforschung hat dafür den Ausdruck Interpunktion eingeführt. Es lässt sich nachweisen, dass Widersprüche in der Weise, wie Parteien ihre Interaktionen 'interpunktieren', zu ernsten zwischenmenschlichen Konflikten führen können (vgl. WATZLAWICK et al. 2007, S. 57ff.; WATZLAWICK et al. 2001, S. 35f.).
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ständen zu) davon aus, dass die Konfliktparteien die Streitgegenstände im Detail bezeichnen können. Es ist aber durchaus möglich, dass diese den Parteien nicht (vollständig) bewusst sind. Drittens bewegen sich die einzelnen Kategorien teilweise auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen. Während die Beziehungskonflikte eine eher weite Klasse beschreiben, sind demgegenüber Verteilungs- oder Wahrnehmungskonflikte viel enger bestimmt. Offensichtlich legen die Systematisierungen unterschiedliche Schwerpunkte und dienen verschiedenen Verwendungszwecken. Sie sollen nicht als einander ausschliessend, sondern als sich ergänzend betrachtet werden. Bezug nehmend auf den vorliegenden Situationstyp, wird die Nützlichkeit der Typologien nicht vor dem Hintergrund einer Theoriebildung beurteilt, sondern bezüglich ihres praktischen Verwendungszwecks. Aus einem handlungsorientierten Blickwinkel soll eine Einteilung dem Gesprächsleiter als grobe Orientierungshilfe dienen, um die Konfliktthemen im Laufe des Gesprächs ordnen und strukturieren zu können. Dies dient der Bewältigung der Komplexität und Vielschichtigkeit eines Konfliktes. Vor dem Hintergrund dieser funktionalen Bedeutung wird eine Einteilung in innere, zwischenmenschliche und sachliche Themenbereiche vorgeschlagen (vgl. hierzu auch REDLICH & MIRONOV 2003, S. 267f.; RENNER & THOMANN 1995, S. 3ff.). Abbildung 12: Themenbereiche des Konflikterlebens
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Konflikterleben
sachliche (aufgabenbezogene) Konflikte
Die Abbildung 12 zeigt, wo die thematischen Streitigkeiten verortert sein können: bei einer Konfliktpartei selbst, in der Beziehung zwischen den Konfliktparteien oder in sachlichen Themenbereichen: - Innere (seelische) Konflikte: Diese Konfliktform beschreibt Themenbereiche, welche von der Konfliktpartei als 'innere Zerrissenheit' erlebt werden. Ein Schulabgänger muss sich beispielsweise zwischen zwei Lehrberufen entscheiden, welche beide seinen Interessen
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und Neigungen entsprechen. Solche Seelenkonflikte können zu einer inneren Zermürbung führen, wenn sich die Betroffenen nicht in der Lage fühlen, zu einer Entscheidung zu gelangen (vgl. BERKEL 2002, S. 13f.). Zwischenmenschliche (Beziehungs-)Konflikte: Bei zwischenmenschlichen Konfliktformen liegt eine Uneinigkeit über die sozialen Beziehungen (Zusammenarbeit) vor. Solche Antipathien können aufgrund der als unterschiedlich empfundenen Persönlichkeitsmerkmale und Charakterzüge der Betroffenen entstehen. Ferner spielen unterschiedliche Wertsysteme, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, Verhaltensmuster und vor allem auch unverarbeitete, vorhergegangene Konfliktsituationen eine zentrale Rolle. Sachliche (aufgabenbezogene) Konflikte: Konfliktformen, deren Ursprünge ausserhalb der Konfliktparteien und von deren Beziehung stehen, werden als sachliche Konflikte bezeichnet (RENNER & THOMANN 1995, S. 3f.). Zu dieser Kategorie gehören beispielsweise gegensätzliche bzw. konkurrierende Absichten und Zielsetzungen, divergierende Beurteilungen oder Wahrnehmungen von Situationen, Streitigkeiten über die Verteilung psychischer und physischer Ressourcen.
Die Diagnosefrage zu den vorgeschlagenen Themenbereichen kann pointiert lauten: Welche persönlichen, zwischenmenschlichen und sachlichen Themen erleben die Konfliktparteien als störende Unvereinbarkeiten, welche sie beseitigen möchten? Diese (einfache) Diagnosefrage wird der Gesprächsleiter kaum gleich zu Beginn des Zusammentreffens vollständig beantworten können. Die Hintergründe des Konflikterlebens zeigen sich selten offen, sondern werden erst im Laufe sorgfältiger Erkundungen der subjektiven Sichtweisen schrittweise sichtbar. Sodann werden sich die Facetten und das komplexe Zusammenspiel der Themenbereiche langsam erhellen, und der Gesprächsleiter sollte daraufhin imstande sein, seine Strategie allmählich zu verfeinern. Die Abbildung 12 will in diesem Zusammenhang verdeutlichen, dass sich das Konflikterleben meistens aus mehreren Quellen gleichzeitig nährt. Die Ursachen können zugleich in persönlichen, zwischenmenschlichen und sachlichen Bereichen liegen und sich gegenseitig bedingen (RENNER & THOMANN 1995, S. 4). Unabhängig von diesen Bereichen liegen Konflikten die Verletzung von Bedürfnissen zugrunde. Zu denken sei an ein ausreichendes Mass an Wertschätzung, sozialen Kontakten, Sicherheit und Geborgenheit. Aufgrund der Entscheidungskraft des Menschen verlangt er auch nach der Möglichkeit zur räumlichen Abgrenzung, Distanzierung, Autonomie sowie Nähe, Harmonie und Geselligkeit. In der zeitlichen Dimension stehen einerseits Bedürfnisse nach Abwechslung, Wandel, Veränderung und andererseits Bestrebungen nach Kontinuität, Stabilität und Ordnung im Vordergrund (vgl. RIEMANN 2003). Steht die Befriedigung dieser Bedürfnisse in Gefahr, führt dies zu Spannungen, Unvereinbarkeiten und Beeinträchtigungen, welche sich sodann in den genannten Bereichen des Konflikterlebens zeigen.
7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
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Die dargelegten Ausgangspunkte konturieren den Rahmen des Situationstyps. In den nächsten zwei Abschnitten werden die Zielsetzungen (Kap. 7.2.2) und die ermöglichenden Voraussetzungen (Kap. 7.2.3) im Sinne von Situationsbegrenzungen beschrieben. 7.2.2
Anvisierte Zielsetzungen
Dieser Abschnitt befasst sich mit der Fragestellung, worin sich eine erfolgreiche Bewältigung des Situationstyps zeigt. Oder anders formuliert: Welche Zielsetzungen sollten (idealerweise) erreicht werden? Mit der Beantwortung dieser Frage wird der zeitliche Endpunkt der Situation inhaltlich bestimmt (vgl. EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 36f.). Spontan liesse sich die Frage einfach beantworten: Das Ziel besteht darin, einen vorliegenden Konflikt zu lösen. Selbstverständlich greift diese Antwort zu kurz, weil sie erstens ausschliesslich auf ein Produktziel fokussiert und die Prozessziele vernachlässigt sowie zweitens sehr unpräzise formuliert ist, weil offen bleibt, was mit 'Lösung' konkret gemeint ist. Die folgenden Ausführungen unterscheiden demnach die generischen Ziele des Situationstyps auf der Produkt- und der Prozessebene. Neben dieser Zielperspektive können ergänzend Zwischenziele bestimmt werden, welche es in der zeitlichen Abfolge zu erreichen gilt. Diese Zwischenziele sind eng mit den einzelnen Phasen verbunden, weshalb diese separat in Kapitel 7.2.5 aufgenommen werden. a) Prozessziel In Kapitel 7.1.3 wurde bereits angetönt, dass im Gegensatz zu einer aussergerichtlichen Streitbeilegung das Ziel in der Klärung der Vergangenheit und Gegenwart besteht. Damit ist das Oberziel auf der Prozessebene bestimmt. "Das Ziel ist die Aussprache zwischen den Parteien und das Zutagekommen der wahren Konflikthintergründe" (RENNER & THOMANN 1995, S. 7). Die gemeinsame Lösungserarbeitung mit den Konfliktparteien bedingt, dass eine vorherige Klärung der Vergangenheit und der Gegenwart zu den persönlichen, zwischenmenschlichen und sachlichen Anteilen des Konfliktes stattgefunden hat (vgl. Abbildung 12, S. 101). Die Betroffenen sollen sich ihrer Gedanken, Gefühle und Intentionen bewusst werden, die Konfliktgeschichte (Dynamik des Konfliktes) akzeptieren und die Konsequenzen, welche sich für die Gegenwart daraus ergeben, verstehen können. Es wird davon ausgegangen, dass die Vergangenheit nicht ausgeklammert werden kann, obschon sich die Konfliktparteien dies vielleicht wünschen würden. Die zwischenmenschliche Klarheit wird durch eine intersubjektive Wahrheit hergestellt. Die Intersubjektivität postuliert die Forderung, dass nicht eine 'objektive' Wahrheit gesucht werden kann, sondern die Beteiligten durch den direkten Dialog zu einem gegenseitigen Verstehen geführt werden müssen. Dabei wird von einem Wahrheitsverständnis ausgegangen, welches auf der intersubjektiven Wahrheitstheorie beruht. Dieser Position zufolge gelten diejenigen Inhalte als 'wahr', welche von den Konfliktparteien als gemeinsame Realitätskonstruktion akzeptiert werden können (vgl. HABERMAS 1971, S. 129; KAMLAH & LORENZEN 2006, S. 485ff.). Die Verifikation einer Aussage hängt folglich von der intersubjektiven Übereinstimmung aller Mitglieder der Interaktionssituation ab. b) Produktziel Auf der Produktebene wird als Oberziel die Festlegung von konkreten, transferorientierten Absprachen bestimmt. Die Transferorientierung bringt zum Ausdruck, dass Verabredungen
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Explikation des Gegenstandsbereichs
und gegebenenfalls Bedingungen erarbeitet werden sollen, welche die Arbeitsfähigkeit der Konfliktparteien wieder ermöglichen. Diese Arbeitsfähigkeit muss aber nicht zwingend eine gemeinsame sein. "Ist die Beziehung zwischen den Konfliktparteien nicht mehr herstellbar, so ist das Deutlichwerden dieser Situation das Ergebnis der Klärung" (RENNER & THOMANN 1995, S. 7). Hinter dieser Aussage steht die Grundhaltung, dass nicht jede Klärung zu einem positiv erlebbaren Ergebnis führen muss. Das Ergebnis soll in jedem Fall klar und intersubjektiv wahr sein, aber es kann nicht zwingend stets erfreulich und harmonisch sein. "Es wäre ein schlimmer Fehler, Harmonie als Ziel zu setzen. Harmonie ist […] kein Zielwert; nimmt man sie als Zielwert, verfehlt man sie" (THOMANN 2004, S. 172). An dem Prozessziel knüpft das Produktziel insofern an, als durch die entstandene Klarheit die Konfliktparteien fähig werden, Lösungsideen zu entwickeln. Die Lösung soll nicht im Sinne eines 'Urteils' von aussen festgelegt, sondern durch die Konfliktparteien selbst herbeigeführt werden. Das Ziel besteht folglich nicht darin, "seine eigenen Ideen den Beteiligten aufzudrücken oder geschickt zu 'verkaufen', sondern Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb deren die Beteiligten ihren Konflikt fair beenden können" (BERKEL 2002, S. 106). Diese Rahmenbedingungen sollen unterstützend sein und eine "produktive Konfrontation" ermöglichen (R. J. FISHER & KEASHLEY 1990, S. 215). Wenn die Konfliktparteien sich aktiv an der Lösungsentwicklung beteiligen können, werden sie von deren Nachhaltigkeit viel eher überzeugt sein. Im Idealfall lernen die Konfliktparteien, künftig selbstständig konstruktiver mit Konflikten umzugehen. So wünschenswert diese Zielidee klingen mag, so stellt sie eher eine 52 vage Hoffnung als ein Regelfall dar. Auf die Aussage von BERKEL zurückkommend, obliegt es nicht dem Gesprächsleiter, Lösungen für die Konfliktparteien zu entwickeln. Er trägt nicht die inhaltliche, sondern die prozessuale Verantwortung, indem er Gelingensbedingungen für die Lösungsentwicklung schafft. 7.2.3
Antezedensbedingungen
Die im Folgenden skizzierten Antezedensbedingungen ermöglichen das Zustandekommen des Situationstyps. Allerdings kann lediglich ein Ausschnitt des Bedingungskomplexes aufgegriffen werden, da theoretisch eine unbeschränkte Zahl an Voraussetzungen denkbar wäre. Deshalb bleiben die folgenden Ausführungen selektiv, indem sie auf diejenigen Voraussetzungen fokussieren, welche für den vorliegenden Situationstyp als besonders relevant eingestuft werden. Diese Eingrenzung unterliegt infolgedessen der subjektiven Interpretation des Forschers. Die Antezedensbedingungen sind eng miteinander verknüpft. Zur besseren Übersichtlichkeit wird dennoch versucht, diese getrennt voneinander zu erläutern. a) Vorliegen eines Konfliktes auf mittlerer Eskalationsstufe Das erste Voraussetzungsmerkmal ist intuitiv einleuchtend – es muss ein Konflikt vorhanden sein. Ein Konflikt liegt dann vor, wenn die definitorischen Merkmale der Tabelle 4 (S. 96) gegeben sind. Das Konfliktausmass hat einen entscheidenden Einfluss darauf, in welcher Art und Weise ein konstruktiver Umgang potenziell möglich ist. Demzufolge ist ein Vermittlungs52
Siehe hierzu die Ergebnisse empirischer Forschung von DURRY (zit. in THOMANN 2004, S. 318).
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ansatz nicht prinzipiell für jeden Konflikt geeignet. Unter Rückgriff auf das Eskalationsmodell nach GLASL wurde festgehalten, dass Vermittlungsansätze für Konflikte auf den Stufen 4 bis 6 sinnvoll angewendet werden können. Zur besseren Verständlichkeit dieser Eingrenzung wird zunächst die Anatomie von Konflikten anhand des Eskalationsmodells nach GLASL zusammenfassend beschrieben (ausführlich hierzu GLASL 2004, S. 233ff.). Danach soll begründet werden, inwieweit das Konfliktausmass als Antezedensbedingung gelten darf. Wenn die Bedingung hinsichtlich des Konfliktausmasses auf einer mittleren Eskalationsstufe angesiedelt wird, ist damit eine Unter- und Obergrenze bestimmt. Der Vermittlungsansatz im Sinne der Klärungshilfe setzt voraus, dass die Konfliktparteien gemeinsam in einem Raum anwesend sein können. Zudem wird nicht nur die Behandlung der Konfliktfolgen, sondern eine Klärung der Vergangenheit und Gegenwart als vorrangiges Ziel angestrebt. Die Konfliktparteien sollen zur Lösungsfindung aktiviert werden. Aus diesen Anforderungen wird deutlich, dass ab der Eskalationsstufe 7 eine Klärung per Definition ausser Kraft gesetzt ist (vgl. Tabelle 5, S. 106). Die Konfliktparteien sind sich bewusst, dass es nichts zu gewinnen gibt. Dieser 'Lose-Lose'-Haltung kann nicht mehr konstruktiv mit einem Klärungsansatz begegnet werden. Liegt bereits eine Entmenschlichung des Gegners vor, müssen durch Machteingriffe und Schiedsverfahren eine Schadensbegrenzung und der Schutz der Konfliktparteien als Zielsetzung anvisiert werden (GLASL 2004, S. 399f.). In einem Schiedsverfahren entscheidet der 'Arbiter' aufgrund seiner Beurteilung, wie der Konflikt gelöst werden kann. Die Machtinstanz kann Absprachen und Massnahmen gegen den Willen der Betroffenen durchsetzen. Dies ist in einer Klärungssituation weder sinnvoll noch möglich. Überdies muss die Machtinstanz in der Lage sein, "nach ihrem Eingriff die Situation langfristig zu beherrschen" (2004, S. 399f.). Die Forderung, dass das Konfliktausmass unterhalb der Eskalationsstufe 7 liegen muss, kann demzufolge als Antezedensbedingung gelten.
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Tabelle 5: Eskalationsstufen nach GLASL
Stufe
Merkmale 1
-
Parteien nehmen rigorosere Haltungen an und scheuen harte, verbale Konfrontationen nicht (Umgang wird misstrauischer) 2 - neue Spannungsquellen wie soziale Position, Macht und Ansehen treten ein - Interaktion wird zu einer Frage des Behauptens und Imponierens - es wird versucht, die Gegenpartei im Erreichen ihrer Ziele zu bremsen und die eigenen Absichten durchzusetzen 3 - Kommunikation wird nicht mehr als funktional angesehen, alle Hoffnungen werden auf aktives Handeln gesetzt - es geht den Parteien um Gewinn oder Verlust, um Sieg oder Niederlage, 'Schwarz-Weiss'Denken (dafür oder dagegen) 4 - Sicherung der psychischen Existenz steht im Vordergrund - Parteien bemühen sich um Unterstützung durch Aussenstehende (Auseinandersetzungen werden bewusst in die Öffentlichkeit getragen) - Gesichtsverlust führt bei den Parteien zu einem 'Aha-Erlebnis', indem das Gefühl auftritt, dass man die andere Partei gänzlich durchschaue 5 - Demaskierung bestärkt die Parteien im Gefühl, dass die Gegenseite immer schon eine unehrliche Strategie verfolgt hat - Vertrauensbruch zwischen den Parteien - Gewaltdenken der Parteien nimmt zu (Drohstrategien) 6 - durch Drohungen und Gegendrohungen wird die Eskalation beschleunigt und die Selbstkontrolle schwieriger - das Sicherheitsgefühl der Konfliktparteien ist weitgehend erschüttert - Gegner wird durch gezielte Schläge in seiner Existenz erschüttert 7 - Die Parteien sind sich bewusst, dass es nichts zu gewinnen gibt ('wenn ich Verluste ertragen muss, dann soll wenigstens auch der Gegner Schaden erleiden') - Vernichtungsaktionen werden heftiger: Parteien möchten die Macht- und Existenzgrundlagen des Gegners vernichten 8 - es gibt nur noch eine Furcht, welche die Parteien vor der zügellosen Gewaltanwendung zurückhält: die Furcht, die eigene Existenz in Gefahr zu bringen - Totalisierung der eingesetzten Gewalt führt zu einer Situation, in der ein Schritt zurück nicht mehr möglich zu sein scheint 9 - einzige Genugtuung ist die Gewissheit, dass der Feind mit in den Abgrund gerissen wird und dieser ebenfalls zugrunde gehen muss Eskalationsstufen: 1: Verhärtung, 2: Polarisation und Debatte, 3: Taten statt Worte, 4: Sorge um Image und Koalition, 5: Gesichtsverlust, 6: Drohstrategien, 7: Begrenzte Vernichtungsschläge, 8: Zersplitterung, 9: Gemeinsam in den Abgrund 'Lose-Lose'
'Win-Lose'
'Win-Win'
-
Meinungen kristallisieren sich als Standpunkte heraus und nehmen starre Formen an Parteien beharren auf ihren Ideen und Vorschlägen Parteien entwickeln einen schärferen Blick für das Trennende
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Weniger eindeutig zeigt sich die Situation bezüglich der Untergrenze des Konfliktausmasses. Vermittlungsansätze werden prinzipiell ab dem Moment als sinnvoll erachtet, wenn die Konfliktparteien nicht mehr willens oder fähig sind, gemeinsam einen Konflikt zu klären, oder wenn selbstständige Lösungsversuche keine Ergebnisse gebracht haben, welche von den Beteiligten als nachhaltig zufriedenstellend erlebt werden. Die Grenze der Selbsthilfe (Lösungsversuche durch die Betroffenen ohne Unterstützung einer neutralen Instanz) siedelt GLASL (2002) an der Schwelle zur vierten Eskalationsstufe bzw. am Ende der dritten Stufe an. "Auch wenn die Konfliktparteien selbst gut geschulte Konfliktberaterinnen, Konfliktbegleiter oder Mediatorinnen sind, ist die Selbsthilfe in der Regel nur bis an die Schwelle zur Eskalationsstufe 4 vertretbar. Auf den Eskalationsstufen 4 oder 5 ist jegliche Selbsthilfe […] problematisch" (S. 129ff.; siehe auch REDLICH & MIRONOV 2003, S. 270). Diese Festlegung wird anhand von drei Überlegungen gestützt: - An der Schwelle, wo die Konfliktparteien die Überzeugung verlieren, dass eine kooperative 'Win-Win'-Bewältigung des Konfliktes noch möglich ist (also alle Beteiligten von der Lösung einen Nutzen haben), wird aus Gründen der Interessenverstrickung eine interne Klärung faktisch unmöglich. Eine Konfliktpartei, welche die interne Klärung anleitet, muss sich gezwungenermassen über die anderen stellen, indem sie den Gesprächsprozess strukturiert und moderiert. Genau hier liegt jedoch die Schwierigkeit, wenn ein 'Gewinn-Verlust-Denken' bzw. eine 'Win-Lose-Haltung' überhand nimmt. Die Opponenten werden es nicht (mehr) akzeptieren können, dass jemand eine leitende Rolle übernimmt, weil sie sich der Sicherung der eigenen psychischen Existenz wegen benachteiligt fühlen. Durch die Haltung gekennzeichnet, dass es Verlierer geben muss, befürchten die Konfliktparteien, dass sich der Gesprächsleitende kraft seiner Rolle eigene Vorteile verschaffen könnte. - Eine zweite Erklärung für die Grenzziehung der Selbsthilfe an der Schwelle zur vierten Eskalationsstufe ist den Ausführungen von REDLICH UND MIRONOV (2003) zu entnehmen. Auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen aufgabenbezogenen und zwischenmenschlichen Konfliktthemen (Abbildung 12, S. 101) legen Forschungsergebnisse nahe, dass aufgabenbezogene Konflikte eher intern erfolgreich bewältigt werden können als Beziehungskonflikte. "Diese Befunde lassen sich als Eskalationsdynamik von Konflikten interpretieren: Aufgabenbezogene Konflikte eskalieren zu sozio-emotionalen Konflikten, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt werden" (REDLICH & MIRONOV 2003, S. 269). Diese Schwelle sehen die Autoren am Ende der dritten Stufe. Danach benötigen die Konfliktparteien "eine dritte Kraft", um "die geschädigten Beziehungen zu verbessern und individuelle Verletzungen aufzuarbeiten" (S. 270). Diese Forderung ist deckungsgleich mit dem Prozessziel der Klärungshilfe (siehe Kap. 7.2.2, S. 103). - Ein wesentliches Merkmal der vierten Eskalationsstufe beschreibt die Koalitionsbildung der Konfliktparteien mit unbeteiligten Drittpersonen. Diese Verbündungsstrategien können sehr schnell zu einer Ausweitung der Konfliktarena führen. Um solche Tendenzen zu verhindern bzw. zu bremsen, wird sinnvollerweise eine neutrale Instanz dazugeholt. Wenn es zu Koalitionsbildungen der Konfliktparteien mit bisher unbeteiligten Parteien kommt, ist jedoch professionelle Unterstützung in Form externer Konfliktberatung notwendig (R. J. FISHER & KEASHLEY 1990).
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Mit diesen Ausführungen ist die Untergrenze des Konfliktausmasses genügend präzise bestimmt. Ein Vermittlungsansatz ist ab der vierten Eskalationsstufe notwendig. Diese Schwelle zeigt sich darin, dass eine 'Win-Lose-Haltung' überhand nimmt, die aufgabenbezogenen Konflikte zu sozio-emotionalen Konflikten eskaliert sind und sich die Konfliktarena auf unbeteiligte Dritte ausweitet. Daraus kann jedoch nicht vorbehaltlos eine Antezedensbedingung abgeleitet werden, weil der logische Umkehrschluss nicht ohne Weiteres gezogen werden kann. Die Antezedensbedingung müsste per Definition lauten, dass der Konflikt die vierte Eskalationsstufe als Voraussetzungsausprägung erreicht haben muss, damit ein Vermittlungsansatz möglich ist. Diese Aussage ist in dieser Absolutheit nicht korrekt. Selbstverständlich kann ein Vermittlungsansatz auch auf tieferen Eskalationsstufen angesetzt werden. Allerdings stellt sich dann die Frage, ob dies sinnvoll ist. Obschon ein solches Vorgehen keine Verletzungen von weiteren Antezedensbedingungen (siehe hierzu weiter unten) kausal herbeiführen würde, existieren zahlreiche Strategien, welche für diese Situationstypen im Vergleich zu Vermittlungsverfahren als effizienter und ebenso effektiv zu beurteilen sind. Zu denken sei beispielsweise an (interne oder externe) Sachmoderationen, metakommunikative Aussprachen, Teamentwicklungsmassnahmen, Beratungsgespräche, Konflikt53 workshops, Kommunikationsseminare etc. Vor diesem Hintergrund wird an der Antezedensbedingung 'Vorliegen eins Konfliktes auf einer mittleren Eskalationsstufe' festgehalten. Die Untergrenze kann in einer liberalisierten Form wie folgt gelten: Ein Vermittlungsansatz bei dem Vorliegen eines Konfliktes auf einer tieferen Eskalationsstufe ist zwar möglich, aber wenig sinnvoll. b) Auftrag für eine Konfliktklärung Ein Vermittlungsverfahren kann im Gegensatz zu Schiedsverfahren oder Machteingriffen 54 nicht ohne Auftrag von aussen aufgezwungen werden. Mindestens eine Partei – sei dies eine direkt betroffene Konfliktpartei oder eine Drittperson (z. B. die Führungskraft oder ein Teamleiter) – muss dem Vermittler einen Auftrag erteilen (REDLICH & MIRONOV 2003, S. 282). GLASL moniert, dass der Wichtigkeit des Auftrags oft zu wenig Beachtung geschenkt werde (2004, S. 455f.). Nach THOMANN (2004) bildet der Auftrag die Grundlage, "auf der die ganze Konfliktklärung steht und hält, schwankt, rutscht oder fällt" (2004, S. 44). Er formuliert deshalb das Postulat: keine Klärung ohne Auftrag. Das vorrangige Ziel der Auftragsklärung ist herauszufinden, ob eine Klärung potenziell sinnvoll und möglich ist. Allgemein formuliert geht es um die Prüfung der Antezedensbedingungen. THOMANN UND PRIOR (2007, S. 353ff.) 53
54
Ergänzend zu der auf Seite 91 erwähnten Literatur für kurative Massnahmen sei exemplarisch auf Vorschläge hingewiesen, welche tendenziell im präventiven Bereich anzusiedeln sind. Eine hohe Bedeutung haben in diesem Zusammenhang die Prinzipien des Harvard-Konzeptes für den Bereich des sachbezogenen Verhandelns erlangt (R. FISHER et al. 2004). Des Weiteren seien die von GORDON konzipierten Trainingsprogramme genannt, welche das Gedankengut der humanistischen Psychologie mit einer systemischen Perspektive verbinden. Für den beruflichen Kontext kann das von GORDON (1977) entwickelte 'Leader Effectiveness Training (L.E.T.)' hervorgehoben werden. Eine ausführliche Darstellung für die Gestaltung von Workshops und betrieblichen Verhaltenstrainings findet sich beispielsweise bei REDLICH UND ELLING (2000), COMELLI (2003) oder LUMMA (2007, S. 133ff.). Ausführliche Fallbeispiele zur Teamentwicklung beschreibt SAUQUET (2000, S. 104ff.). Eine Ausnahme zur dieser Aussage sind Situationen, in welchen der direkte Vorgesetzte der Konfliktparteien kraft seiner Führungsfunktion die Vermittlung selbst übernimmt. Hierauf wird später noch eingegangen.
7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
109
haben hierzu eine umfassende Liste der zu klärenden Fragen entwickelt, die der Vermittler den Auftraggebern stellen sollte. So ist die Frage, ob es sich wirklich um eine Zweierklärung handelt oder ob mehrere Personen davon betroffen sind, zentral. Auch die Gegebenheit, ob der Vorgesetzte in hierarchischen Konfliktsituationen wirklich eine Klärung will, ist relevant für die Ausführung einer Konfliktklärung. Zudem werden Absprachen getroffen, die Organisatorisches, wie Ort, Zeit, Geld etc. betreffen. Die Auftragsklärung muss zusammenfassend in zwei Kernpunkten Klarheit bringen: Ist der Vermittlungsansatz sinnvoll und geeignet? Fühlt sich der Gesprächsleiter bereit und kompetent? Können beide Fragen bejaht werden, ist damit eine zentrale Voraussetzung für die erfolgreiche Bewältigung des Situationstyps 'Konfliktklärung' gegeben. c) Wille und Fähigkeit des Gesprächsleiters Diese Antezedensbedingung knüpft unmittelbar an die vorherigen Ausführungen an. Der Gesprächsleiter (sei dies nun eine Führungskraft, ein unternehmensinterner Vermittler oder eine unbeteiligte externe Person) muss das Vermittlungsverfahren leiten wollen und sich hierfür kompetent fühlen. REDLICH UND MIRONOV (2003) fordern Persönlichkeiten "mit bestimmten Werthaltungen, Wissensbeständen und Methoden" (REDLICH & MIRONOV 2003, S. 277). Damit sind die drei Handlungsschwerpunkte Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen nach EULER UND BAUER-KLEBL (2006, S. 21ff.) angesprochen. Die anzusetzenden Kompetenzanforderungen zur Bewältigung des vorliegenden Situationstyps werden ausführlich in Kapitel 7.3 diskutiert. d) Klärungsakzeptanz des Vorgesetzten und Klärungsfähigkeit der Konfliktparteien Übernimmt die Führungskraft die Konfliktklärung nicht selber, sei dies weil sie sich hierzu überfordert fühlt oder selbst Teil des Konfliktsystems ist, sondern delegiert die Vermittlungstätigkeit an einen betriebsinternen oder externen Gesprächsleiter, muss sie diesen und seine Vorgehensweise akzeptieren können (zur Akzeptanzbasis allgemein siehe GLASL 2004, S. 457f.). THOMANN (2004) fordert vor dem Hintergrund der Klärungshilfe vier konkrete Bedingungen, welche er in diesem Zusammenhang als konstitutiv für die Grundlage einer erfolgreichen Klärung erachtet. Der Auftraggeber muss: - den Willen haben, dass die Vergangenheit und die Gegenwart der Zusammenarbeit "mit all ihren Knackpunkten, Verletzungen, Fehlschlägen, Gefühlen, Missverständnissen…" thematisiert wird, - "daran glauben, dass sich das [die Klärung] für die zukünftige Zusammenarbeit lohnt", - "die Klärungshilfe jetzt wollen" und - "diesen Klärungshelfer wollen" (S. 53). Die Delegation der Vermittlung bedeutet für die Führungskraft, dass sie das Führungszepter temporär an eine Drittperson übergibt, weshalb sie dieser auch vertrauen können muss. "Konflikte innerhalb einer Abteilung zu klären ist die Aufgabe der (darüber stehenden) Führungskraft. Diese Führungsaufgabe wird während der Klärung an den Klärungshelfer delegiert, und dazu ist Vertrauen wichtig" (THOMANN 2004, S. 53). Der Vorgesetzte bleibt auch während der Klärungssituation der Leiter seiner Mitarbeiter, aber er ist nicht mehr Leiter der Zusammenkunft. Die Verantwortung obliegt während des Gesprächs dem Vermittler. Während die Klärungsakzeptanz seitens der Führungskraft als Antezedensbedingung gilt, wird von den Konfliktparteien lediglich eine Klärungsfähigkeit gefordert. Diese wird ba-
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Explikation des Gegenstandsbereichs
sierend auf dem explizierten Menschenbild für eine Konfliktklärungssituation durch potenzielle Rationalität, Emotionalität, Kommunikativität, Reflexivität und kognitive Konstruktivität präzisiert. Dieses Potenzial muss bei den Konfliktparteien vermutet werden können, ansonsten eine Konfliktklärung nicht stattfinden kann. Die Opponenten müssen aussagefähig und reflexionsfähig sein. Dies setzt ein Mindestmass an psychischer und physischer Gesundheit voraus. Im Unterschied zur Führungskraft wird die Klärungsakzeptanz bei den Konfliktparteien nicht als zwingend notwendig erachtet. Es ist keine zwingende Voraussetzung, dass die Konfliktparteien freiwillig anwesend sind. "Wenn die Arbeit Zusammenarbeit erfordert und nicht in Einzelarbeit erledigt werden kann, ist die Zusammenarbeit ein Arbeitsinstrument, das gepflegt und repariert werden muss" (THOMANN 2007, S. 65). Das Klärungsgespräch wird damit zu einem Arbeitsauftrag, welcher von der Führungskraft erteilt werden kann. "Freiwillige Zustimmung aller Konfliktparteien ist wünschenswert, aber nicht unabdingbare Voraussetzung für die Klärungsmassnahme" (S. 65). Der 'Zwang' besteht lediglich darin, dass die Konfliktparteien anwesend sein müssen (siehe nächste Antezedensbedingung). "Man kann einen Mitarbeiter nur zur Anwesenheit zwingen, nicht hingegen dazu, sich zu äussern 55 oder gar offen zu sein" (S. 66). Der begreifliche Widerstand der Konfliktparteien muss dann in der Klärung thematisiert werden (der Umgang mit Gesprächsverweigerungen seitens der Konfliktparteien wird im Zusammenhang mit kritischen Ereignissen in Kapitel 7.2.6 aufgenommen). e) Anwesenheit des Vorgesetzten und der Konfliktparteien Aus den Zielsetzungen sowie den vorherigen Ausführungen folgt zwingendermassen, dass der Vorgesetzte (falls dieser die Klärung delegiert hat) und beide Konfliktparteien gleichzeitig anwesend sein müssen: Die Klärung der persönlichen Themen kann nur dann stattfinden, wenn die Konfliktpartei in persona anwesend ist. Die zwischenmenschlichen und aufgabenbezogenen Konfliktformen können nur dann thematisiert werden, wenn beide Konfliktparteien gleichzeitig an der Zusammenkunft teilnehmen. Eine Zweierklärung kann folglich nicht stattfinden, wenn eine Konfliktpartei fehlt. Im Gegensatz zu anderen Vermittlungsverfahren ist es daher nicht möglich, dass sich die Konfliktparteien durch Drittpersonen wie beispielsweise Anwälte oder Funktionäre vertreten lassen (zur Problematik der Verhandlung mit Repräsentanten siehe exemplarisch GLASL 2004, S. 172ff.; MONTADA & KALS 2001, S. 75f.) "Ich akzeptiere, wenn die Konfliktparteien mit einem Anwalt kommen. Wir können es aber nicht akzeptieren, dass die Anwälte für die Konfliktparteien sprechen" (THOMANN 2007). Das entscheidende Kriterium ist darin zu sehen, dass Klärungen in dem hier verstandenen Sinne (siehe Zielsetzungen, Kap. 7.2.2, S. 103) lediglich zwischen Parteien möglich sind, welche Teil 56 des Konfliktsystems sind. Dies trifft beispielsweise auf einen Rechtsanwalt nicht zu.
55 56
In Fällen, in welchen niemand eine Klärung verordnen kann, muss von diesem Standpunkt abgewichen werden (siehe hierzu THOMANN 2004, S. 66; THOMANN & PRIOR 2007, S. 45). Zur Präzisierung dieser Aussage sei darauf hingewiesen, dass Klärungen zwischen Interessensvertretern verschiedener Gruppierungen möglich sind, solange diese einen Teil des Konfliktsystems bilden. Dies trifft insbesondere auf die Konfliktklärung in Grossgruppen zu, welche jedoch nicht Gegenstand dieses Situationstyps bilden (zur Konfliktklärung in Grossgruppen siehe THOMANN 2004, S. 140f., 165f.).
7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
111
f) ungestörte Arbeitsatmosphäre Als letzte Antezedensbedingung wird gefordert, dass das Klärungsgespräch an einem Ort stattfinden kann, welcher ein ungestörtes Arbeiten zulässt. Schutz vor Lärm und weiteren Störeinflüssen (z. B. Telefonate) wird als unabdingbar betrachtet. 7.2.4
Soziale Aufgaben und Rollenerwartungen der Akteure
Nachdem die Voraussetzungen und Zielsetzungen erläutert wurden, richtet der folgende Abschnitt das Augenmerk auf die Akteure innerhalb des Situationstyps. Es ist zu klären, welche sozialen Aufgaben und Rollen den Akteuren jeweils zukommen und welche Erwartungen an das Handeln dieser Akteure bestehen. Die zu bewältigenden Herausforderungen begründen bestimmte Rollenerwartungen und diese implizieren wiederum die Aufgaben, welche zu bewältigen sind. Diese beiden Aspekte stehen demzufolge in einem reziproken Verhältnis zueinander. Die grundsätzlichen Aufgaben der Akteure ergeben sich aus der Bestimmung der Zielsetzungen: Das Klären von Konflikten bedeutet, die Vergangenheit und die Gegenwart der persönlichen, zwischenmenschlichen und sachlichen Anteile des Konfliktes ausfindig zu machen, zu benennen und zu vertiefen, damit diese gegenseitig verständlich werden. Daran anknüpfend sollen die Konfliktparteien mithilfe einer neutralen Instanz Lösungsideen entwickeln und diese in konkrete, transferorientierte Absprachen transformieren können, ohne dabei kontraproduktive Eskalationen entstehen zu lassen. Mit diesen Aufgaben sind bestimmte Rollenerwartungen verknüpft, welche von den Akteuren unterschiedlich besetzt werden. Für den vorliegenden Situationstyp können zwei zentrale Akteurgruppen bestimmt werden: Einerseits gibt es die Konfliktparteien, die zu einem Konfliktklärungsgespräch eingeladen wurden, und andererseits die neutrale Instanz, welche die Zusammenkunft leitet. Das vorliegende Kapitel gliedert sich unter diesem Gesichtspunkt in zwei Abschnitte: Nachfolgend werden die Aufgaben bzw. die Rollenerwartungen dargelegt, welche einerseits an die Konfliktparteien und andererseits an den Gesprächsleiter herangetragen werden. Konfliktparteien Die in der Literatur dargelegten Rollenerwartungen an die direkten Konfliktakteure orientieren sich als Bezugsrahmen vorwiegend an einer konstruktiven Konfliktbearbeitung, welche im Gegensatz zur destruktiven Konfliktlösung die folgenden Merkmale aufweist (vgl.Tabelle 6).
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Tabelle 6: Destruktive und konstruktive Erwartungshaltungen der Konfliktparteien (in Anlehnung an GAMBER 1995, S. 164)
Dimensionen Ziele
Einstellungen/ Wahrnehmungen
Kommunikation/ Verhalten
Konsequenzen
destruktiv - Sieg und Überlegenheit - Durchsetzung der eigenen Interessen - Vorurteile sind dominierend - Dominanz des Trennenden - Konfrontation ist unvermeidbar -
Reduzierte Kommunikation: behaupten und imponieren Täuschung/Drohung Verteidigung/Angriff Dominanz der Störungen Verdrängung/Projektion Stresserzeugung Reduktion der Alternativen erzwungene soziale Anpassung
konstruktiv - Unterschiedlichkeiten akzeptieren können - Interessenausgleich - Vorurteile treten zurück - Dominanz des Verbindenden/Gemeinsamen - Übereinstimmung ist möglich - erweiterte Kommunikation: zuhören und präzise artikulieren - Öffnung/Transparenz/Ehrlichkeit - Suche nach Lösungen - Reduktion der Störungen durch Offenlegung - sich stellen, sich öffnen - Stressreduktion - Erweiterung der Alternativen - verminderter sozialer Druck - Raum für kreative Lösungen
Aus der Perspektive eines konstruktiven Konfliktverständnisses werden die Parteien in der Rolle des Problemlösers gesehen, was hohe Handlungsanforderungen an diese stellt. Diesem Grundverständnis folgend, erwartet man in Anlehnung an die Erkenntnisse der Konfliktforschung von den Konfliktparteien die folgenden Verhaltensweisen (exemplarisch R. FISHER et al. 2004, S. 39ff.; MOTAMEDI 1999, S. 81ff.). Die Konfliktparteien sollen: - Konflikte nicht nur unter dem Aspekt von eigenem Gewinn und gegnerischem Verlust betrachten, sondern unter dem Aspekt des anzustrebenden gemeinsamen Gewinns; - auf Kommunikationsmuster der Drohung und Beschuldigung verzichten und kooperative Muster des Verstehens und Erklärens einnehmen; - die eigene Wahrnehmung und die damit verbundene Interpretation der Ereignisse nicht als absolut sehen, sondern sie einer Überprüfung und einer eventuellen Korrektur unterwerfen; - sich für die Auseinandersetzungen mit dem Konfliktpartner Zeit nehmen und Dialogbereitschaft zeigen; - in allen Konfliktphasen den Kontakt mit dem Konfliktpartner suchen und halten; - dem Konfliktpartner präzise zuhören und Rückmeldungen darüber geben, was gesagt wurde; - die Botschaften der Gegenpartei ernst nehmen sowie Empathie zeigen, aber auch die eigenen Emotionen artikulieren und deren Berechtigung anerkennen;
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für den eigenen Konfliktanteil Verantwortung übernehmen und die Schuld an den eigenen Problemen nicht der Gegenseite zuschreiben; Möglichkeiten für einen beidseitigen Nutzen suchen; ein vorschnelles Einlenken (auch der Gegenpartei) vermeiden und der Kooperation immer noch eine Chance mehr geben als zunächst geplant; sich in der Verhandlung auf Interessen und nicht auf Positionen konzentrieren. Je mehr Aufmerksamkeit die Konfliktparteien den Positionen widmen, umso weniger dringen sie zu den dahinterliegenden Problemen und Absichten vor.
Von jeder Konfliktpartei wird folglich erwartet, dass sie den Konflikt erkennt und akzeptiert. Sie soll bereit sein, sich mit dem Konflikt und mit den damit verbundenen (persönlichen) Problemen auseinanderzusetzen und eine gemeinsame Lösung zu finden. Entsprechend kann festgestellt werden, dass die Erwartungshaltung, 'der andere soll…', kaum zu einer konstruktiven Konfliktbearbeitung führt. Vielmehr beginnt die Konfliktbewältigung beim Einzelnen selbst. Dies bedingt eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Position, dem eigenen Tun und Handeln sowie den dadurch ausgelösten Wirkungen aufgrund der in Konfliktsituationen auftretenden Beeinträchtigungen der Wahrnehmung, des Denkens, Fühlens und Wollens (vgl. Abbildung 11, S. 97). Wie bereits gezeigt wurde, ist es für die Konfliktparteien höchst schwierig, diesen Aufgaben gerecht zu werden. Obschon jeder Konfliktpartei das Potenzial der Reflexivität, kognitiven Konstruktivität, Rationalität, Emotionalität sowie der Artikulationsfähigkeit zugeschrieben wird, gelingt es den direkt Betroffenen unter Umständen nicht, dieses Potenzial zu nutzen. Die selektive Wahrnehmung, die Fixierung auf bestimmte Lösungen sowie das Bedürfnis nach Absicherung des eigenen 'Ichs' bewirken vorsichtige, negative und einseitige Verhaltensmuster, welche die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation des Konflikts erhöhen. In eskalierenden Situation ist es wichtig, dass die Parteien ihre eigenen Möglichkeiten und Grenzen im Zusammenhang mit der internen Konfliktklärung erkennen und akzeptieren. Ob die Betroffenen den Konflikt noch selbstständig lösen können oder mithilfe einer Drittpartei arbeiten (müssen), wird wesentlich von ihrer Grundhaltung und dem damit verbundenen Rollenverhalten bestimmt (GLASL 2004, S. 152f.). "Aus der persönlichen Konfliktgeschichte, aus Grundüberzeugungen, Glaubenssätzen sowie aus positiven und negativen Erfahrungen heraus entwickeln sich bestimmte Einstellungen oder Grundhaltungen bezüglich Konflikten und Konfliktlösung. Diese Einstellungen haben wesentlichen Einfluss darauf, welche Verhaltensweisen Menschen in Konfliktsituationen bevorzugen" (KREYENBERG 2005, S. 126). Die Verhaltensweisen wirken sich auf den Erfolg der Konfliktbewältigung aus. Die Grundhaltungen gegenüber Konflikten werden in der Literatur mit unterschiedlichen Termini belegt wie beispielsweise kompetitiv, kooperativ, altruistisch, sozial, individualistisch, aggressiv, konkurrierend, helfend, egoistisch, rücksichtslos, idealistisch (exemplarisch BERKEL 2002, S. 34; GAMBER 1995, S. 42f.; GLASL 2004; KELLNER 2000, S. 24f.; RÜTTINGER & SAUER 2000, S. 11f.). Im Wesentlichen lassen sich vier Grundhaltungen unterscheiden: - Altruistische Einstellung: Personen mit dieser Einstellung fühlen sich bei ihrem Verhalten Normen verpflichtet, welche den anderen über sich selbst stellen. Die Einstellung bringt Menschen dazu, selbstlos zu handeln, um dem Dritten einen maximalen Nutzen zu bringen. Möglicherweise erwarten sie von ihren Kontrahenten ebenfalls eine entsprechende Orientierung.
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Individualistische Einstellung: Personen mit dieser Orientierung suchen nach Lösungen, die möglichst vorteilhaft für sie selbst sind, unabhängig von den Konsequenzen für den Kontrahenten. Eine solche Partei ist bereit, dem Kontrahenten entgegenzukommen, aber nur dann, wenn sie für sich selbst ein besseres Ergebnis erzielt. Sie vertritt z. B. mit grossem Nachdruck Gruppeninteressen, wenn sie davon am meisten zu profitieren glaubt. Kooperative Einstellung: Diese Personen streben vor allem diejenige Lösung an, die den Bedürfnissen aller Beteiligten möglichst gerecht wird. Hier steht der maximale Nutzen aller Konfliktparteien im Vordergrund. Indolente Einstellung: Personen mit dieser Orientierung wollen weder den eigenen noch den Nutzen von anderen maximieren. Sie reagieren oft wenig emotional, unempfindlich, eher kalt und ausweichend. Konflikte wollen am besten vermieden werden, man geht ihnen aus dem Weg.
Diese Grundhaltungen beeinflussen die seelischen Faktoren und damit das Konflikterleben einer Konfliktpartei (BERKEL 2002, S. 9f.). Die Kontrahenten werden demzufolge gegen aussen unterschiedliche Verhaltensmuster zeigen. Diese Verhaltensmuster werden in der Literatur als sogenannte Konfliktstile beschrieben, welche als empirisch gut belegt gelten dürfen (SPIESS 2004, S. 208f.). Obschon die Bezeichnungen der jeweiligen Stile nicht einheitlich sind, lässt sich feststellen, dass sich diese an dem aus der Transaktionsanalyse stammenden 'OK Corral' von ERNST orientieren (exemplarisch ERNST 2008, S. 73ff.). Dieses Modell unterscheidet vier Felder, welche die Beziehungen zur eigenen Person und gegenüber der anderen Person beschreiben. Die Beziehung kann grundsätzlich wertschätzend (counting) oder abwertend (discounting) ausgestaltet sein. Daraus lassen sich fünf Konfliktstile ableiten (vgl. Abbildung 13).
Orientierung an den Interessen der Gegenpartei
Abbildung 13: Konfliktstile
d) sich unterordnen
e) gemeinsam lösen b) Kompromiss aushandeln
c) vermeiden
a) sich durchsetzen
Orientierung an den eigenen Interessen
Die Abbildung 13 nimmt zwei Grundorientierungen auf: am eigenen Ich und an der anderen Person. Die Grundorientierungen manifestieren sich über die seelischen Faktoren im Verhalten einer Konfliktpartei. Massgeblich für den gezeigten Konfliktstil sind die Interessens-
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orientierungen. Abhängig von der Priorisierung dieser Interessen können fünf Konfliktstile beschrieben werden: - a) sich durchsetzen: Für die Partei, welche die eigenen Absichten durchsetzen will, kommen nur Sieg oder Niederlage als Lösungen in Frage. Sie versucht, durch Drohungen, Druck und Überredung ihre Ziele zu erreichen. - b) Kompromiss: Wer den Kompromiss sucht, ist hingegen bereit, der Gegenpartei entgegenzukommen. Die Ursachen des Konflikts werden allerdings nicht unbedingt aufgedeckt, sondern durch die Kompromissbereitschaft entschärft. Der Kompromiss wird in der Regel durch sachliche Argumentationen, beidseitigen Verzicht auf Teilziele usw. gesucht. - c) vermeiden: Nicht gelöst wird der Konflikt, wenn der Weg der Verdrängung gewählt wird. Hier versuchen die Konfliktparteien durch Rückzug, Flucht oder Zurückhaltung den Konflikt zu umgehen. - d) sich unterordnen: Nachgeben um des Friedens willen wird als Reaktion vor allem bei denjenigen Parteien beobachtet, die Frieden und Harmonie suchen und unter Konfliktsituationen oft leiden. Kurzfristig wird der Konflikt beendet, mittelfristig zieht dieses Verhalten jedoch häufig Folgekonflikte nach sich. - e) gemeinsam lösen: Die gemeinsame Konfliktlösung stellt schliesslich das Ideal dar. Ein Konflikt kann in diesem Falle nur dann bereinigt werden, wenn beide Parteien gleichermassen fähig und bereit sind, gemeinsam am Problem zu arbeiten. In der Praxis ist allerdings häufig festzustellen, dass jede Partei überzeugt ist, persönlich genau diesem Ideal zu entsprechen und die Gegenpartei dazu nicht bereit ist. Keiner der fünf Konfliktstile kann als der 'Richtige' gelten. Jede dieser Positionen hat in Abhängigkeit von situativen Faktoren ihren Sinn und ihre Berechtigung. In einer Konfliktklärung durch einen Vermittler kann dieser grundsätzlich mit allen Konfliktstilen konfrontiert werden, wobei die Strategie des 'gemeinsamen Problemlösens' eher selten vorkommen wird. Sie stellt den einzigen Konfliktstil dar, welcher per Definition nicht zu Situationen führen sollte, welche eine Klärung durch eine neutrale Instanz erforderlich machen. Neutrale Instanz Die Rolle des Gesprächsleiters bezeichnet THOMANN (1986) als Klärungshelfer. Die neutrale Instanz hilft, Konflikte zu klären. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass der Gesprächsleiter eine unterstützende Funktion hat. GLASL (2004, S. 393ff.) präsentiert basierend auf seiner umfangreichen Literaturanalyse zahlreiche Rollenmodelle, welche im Kontext der Konfliktklärung durch eine Drittinstanz zum Tragen kommen. Die Rolle des Klärungshelfers entspricht weitgehend der des (sozio-therapeutischen) Prozessbegleiters und des (klassischen) Mediators (2004, S. 408ff.,418ff.). In der angelsächsischen Literatur hat diese Rolle unter der Bezeichnung 'Conciliator' weite Verbreitung gefunden (exemplarisch MARGERISON & LEARY 1975; REHMUS 1953, 1965). Sie lässt sich in etwa zwischen der Strategie der Prozessbegleitung und der (klassischen) Mediation einordnen. Die Abgrenzung beschreibt REHMUS (1965) wie folgt: "In theory, conciliation is the passive role of attempting to bring harmony and a spirit of cooperation to the collective bargaining table, and mediation the more active role of suggesting compromises and alternative settlements. In practice,
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Explikation des Gegenstandsbereichs
the functions are largely inseparable and the two words are used interchangeably" (S. 119). Mit dieser Aussage formuliert REHMUS zwei Kernpunkte, welche nicht nur hinsichtlich der Abgrenzung der Mediation von der 'Conciliation' relevant sind, sondern auf die allgemeine Schwierigkeit der Abgrenzung von Rollenmodellen verweist: Erstens sind die Funktionen verschiedener Rollenmodelle überschneidend und nicht klar trennbar. Zweitens werden unterschiedliche Rollenbezeichnungen häufig synonym verwendet. Zumal sich die Theorie der Klärungshilfe als Ansatz versteht, in welchem es im Kern nicht mehr nur um einen zentralen, isolierten Konfliktpunkt geht, sondern auch um die Akteure, deren Beziehungen untereinander, und dies sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit, umfasst die Rolle des Klärungshelfers im Gesprächsverlauf zahlreiche unterschiedliche Rollenaspekte (z. B. Berater, Moderator, aktiver Zuhörer, Klärer, Erklärer). Vor diesem Hintergrund soll das zugrunde liegende Rollenverständnis des Klärungshelfers zunächst phasenübergreifend anhand der von GLASL (2004, S. 402) vorgeschlagenen Merkmale beleuchtet werden. Auf die Facetten dieses Rollenmodells innerhalb der einzelnen Phasen wird im Kapitel 7.2.5 eingegangen. Wie bereits erwähnt, umfassen die Funktionen des Klärungshelfers wesentliche Merkmale der Rollenmodelle des (sozio-therapeutischen) Prozessbegleiters, des (klassischen) Mediators sowie des 'Conciliators'. Um allfälligen Missverständnissen vorzubeugen, wird zunächst die Abgrenzung des Prozessbegleiters gegenüber dem sozio-therapeutischen Prozessbegleiter aufgenommen. GLASL unterscheidet unter Verweis auf BRAMMER UND SHOSTROM (1960, zit. in GLASL 2004, S. 413) die beiden Rollen wie folgt: "Prozessbegleitung beschäftigt sich mehr mit 'bewussten, im Zusammenhang mit aktuellen Krisen- und Konfliktsituationen stehenden Schwierigkeiten des Klienten', während bei der therapeutisch orientierten Prozessbegleitung vor allem unbewusste Blockaden, neurotisch fixierte Einstellungen und Rollenmuster usw. Gegenstand der Interventionen sind. Sozio-therapeutische Interventionen sollen den Konfliktparteien helfen, die Kontrolle ihres Ich über ihre Gedanken, Gefühle und Intentionen wieder zurückzugewinnen, um aus den Teufelskreisen der Eskalationsdynamik auszubrechen" (S. 413). Diese Abgrenzungsüberlegung orientiert sich an dem Bewusstheitsgrad der seelischen Faktoren sowie an der zeitlichen Dimension der Konfliktbearbeitung. Ausgehend von den Prozesszielen der Theorie der Klärungshilfe (vgl. Kap. 7.2.2, S. 103), wäre die Rolle des Klärungshelfers auch als sozio-therapeutischer Prozessgeleiter zu verstehen. Die Klärungshilfe will Unbewusstes bewusst machen und nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit klären. Dennoch versteht sich die Klärungshilfe klar nicht als therapeutisches Verfahren. Der Aussage von GLASL steht ein anderes Therapieverständnis zugrunde als das hier vertretene. Die Klärung von Unbewusstem und Vergangenem dient nicht einem therapeutischen Selbstzweck, sondern bietet die Grundlage für das Produktziel. Es geht nicht darum, das Unbewusste und Vergangene zu 'therapieren', sondern zu klären. Die Historie des Konfliktes wird demzufolge als Gegebenheit betrachtet, die ihre Wirkungen in der Gegenwart zeigt. Die Klärung will ausgehend von diesen Wirkungen (als subjektive Tatsachen) die Konfliktparteien wieder befähigen, produktiv zusammenzuarbeiten. Die Rolle des Klärungshelfers kann nach GLASL funktional zwar als sozio-therapeutisch aufgefasst werden, diese Bezeichnung wirkt aber eher verwirrend, weshalb davon Abstand genommen wird.
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Rollenmodell und Aufgaben des Gesprächsleiters im Konkreten a) Schwerpunkte der Interventionen Die Interventionen setzen im Gegensatz zu Schiedsverfahren und Machteingriffen nicht auf der Handlungs- und Wirkungsebene der Konfliktparteien an, sondern an deren Attitüden und seelischen Faktoren. Hier wird von dem Klärungshelfer besondere Ausdauer und Sorgfalt verlangt. Es kann "nicht sofort auf die Selbstheilungskräfte gebaut werden. […] Die Konfliktparteien erwarten mehr zur Sicherung des Vertrauensklimas und zum Schutz ihrer verwundbaren Stellen" (GLASL 2004, S. 413). Deshalb muss der Gesprächsleiter die Konfliktparteien in einem ersten Zugang verstehen wollen und können. Es ist zu klären, wie die Konfliktpartei sich selbst und die Beziehung zu dem Gegenüber wahrnimmt, was sie darüber denkt, welche Vorstellungen sie prägen und welche (unerfüllten) Absichten sich damit verbinden. Zumal ab der vierten Eskalationsstufe die Sicherung der psychischen Existenz im Vordergrund steht und das "Soziale Immunsystem" (2004, S. 413) nicht mehr funktioniert, werden neben den perzeptionsorientierten Klärungen den Attitüden und dem Gefühlsleben der Konfliktparteien besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Selbstklärungen der Konfliktparteien werden schrittweise vertieft und präzisiert, bis eine für die weitere Klärungsarbeit notwendige Klarheit entstanden ist. Die Klärung geht so weit wie nötig, aber nicht so weit wie möglich. Wenn die persönlichen, zwischenmenschlichen und sachlichen Issues der Konfliktparteien von dem Klärungshelfer erfasst worden sind, werden die Sichtweisen der Betroffenen dialogisch miteinander in Kontakt gebracht. Damit beginnt durch die Erweiterung und Vertiefung des Bewusstseins die Arbeit an den gegenseitigen Beziehungen und folglich an dem Vertrauensbruch zwischen den Konfliktparteien. b) Durchsetzungsmacht des Gesprächsleiters Der Gesprächsleiter verfügt in der Rolle des Klärungshelfers über keine inhaltliche Durchsetzungsmacht. "Freiheit, Kontaktfähigkeit und Allparteilichkeit gleichen diese Machtlosigkeit aus. Die Macht des Klärungshelfers entsteht dadurch, dass er die Oberhand in der Klärungssituation hat" (THOMANN 2004, S. 40). Ähnlich schreibt GLASL (2004, S. 417), dass die zugesprochene Kompetenz des Gesprächsleiters durch den Auftraggeber diesen zum Beharren auf bestimmten Spielregeln und Interventionsmethoden legitimiert, obschon die Konfliktparteien diesen anfänglich mit Unglauben, Unsicherheit und mit einer inneren Abwehr57 haltung begegnen. Dennoch wagen die Konfliktparteien einen Versuch, sei dies, weil sie an die Klärung 'glauben', der Vorgesetzte sie dazu verpflichtet hat oder weil sie sich nicht durch eine verweigernde Haltung bei der Gegenpartei in Diskredit bringen wollen. Der Gesprächsleiter wird den Konfliktparteien den Sinn und Zweck seines Vorgehens verdeutlichen, so weites dem Abbau von Blockaden dienlich ist.
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Diese Feststellung GLASLS wird durch die Ergebnisse der empirischen Untersuchung von DURRY (zit. in THOMANN 2004, S. 305) bestätigt. Insbesondere zu Beginn der Konfliktklärung wird das Erleben der Betroffenen von einer starken Anspannung und emotionalen Belastung begleitet.
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Explikation des Gegenstandsbereichs
c) Distanz zwischen den Konfliktparteien Im Verlaufe des Konflikterlebens haben sich die Betroffenen mehr oder weniger voneinander isoliert. Die direkten Begegnungen wurden seltener und der Kontakt gestört. In Abhängigkeit des Realisierungshandelns sind die schwierigen Begegnungssituationen auf ein absolutes Minimum reduziert worden oder die direkten Kontakte wurden mittels Überzeugungsversuchen, Machtmitteln oder Drohstrategien dazu benutzt, die eigene Position zu stärken. Der Gesprächsleiter muss diese Distanz zunächst akzeptieren und wahren. In seiner Rolle wirkt er kompensatorisch, indem er "am Vorbild seines eigenen Verhaltens die Eigenschaften und Fähigkeiten in die Konfliktsituation einführen muss, zu denen die Parteien nicht fähig sind: Empathie, Respekt vor der subjektiven Erlebniswelt des anderen, Anerkennen der positiven Absichten in jeder Partei usw." (GLASL 2004, S. 411). Über den Gesprächsleiter lernen die Betroffenen wieder Vertrauen aufzubauen, wodurch die erwähnten Selbstheilungskräfte schrittweise aktiviert werden können. Erst dadurch wird es möglich, die schwierigen Konfliktthemen zwischen den Konfliktparteien besprechbar zu machen. Der Gesprächsleiter dient als "Notbrücke zwischen den Parteien, bis sie endlich selber in direkten Kontakt treten, der klärend und dann auch heilend ist" (THOMANN 2004, S. 147). Die Akzeptanz der Distanz der Konfliktparteien führt allerdings nicht dazu, mit diesen im Vorfeld räumlich und zeitlich getrennt ausgedehnte Einzelvorgespräche zu führen. Im Zusammenhang mit den Ausführungen über die Antezedensbedingungen wurde begründet, dass schon zu Beginn der Konfliktklärung beide Konfliktparteien gleichzeitig in persona anwesend sein müssen (vgl. Kap. 7.2.3, S. 104). Damit geht die Theorie der Klärungshilfe einen anderen Weg als die von GLASL (2004) beschriebene sozio-therapeutische Prozessbegleitung, obschon beide Ansätze für vergleichbare Eskalationsstufen zugeschnitten sind. GLASL argumentiert, dass ein direktes Zusammentreffen zu "weiterem Chronifizieren" (S. 417) beitragen könnte. Ähnliche Vorgehensweisen werden auch in gewissen Mediationsverfahren vorgeschlagen; so beispielsweise bei MONTADA UND KALS (2001, S. 179f.) oder ALTMANN, FIEBIGER UND MÜLLER (2001, S. 67), welche das Führen von vertraulichen Einzelgesprächen zwecks Sammeln von Informationen zur Lösungsfindung vorschlagen. Andere Autoren wie beispielsweise BESEMER (2001, S. 16f.) verzichten bei der Mediation auf Einzelgespräche – sei dies nun im Vorfeld des Zusammentreffens oder während der Gespräche zur Entwicklung von Lösungsideen. DUVE, EIDENMÜLLER UND HACKE (2003, S. 167f.) lassen die Frage offen und weisen darauf hin, dass der Entscheid für oder gegen Einzelgespräche situativ zu fällen sei. Sie favorisieren das Einzelgespräch in Situationen, in denen Einzelne über ihre Interessen vor den Augen der Gegenseite nicht reden wollen, wenn ein deutliches Machtgefälle zwischen den Konfliktparteien oder massive Verletzungen auf einer Seite vorliegen. Die Autoren weisen allerdings darauf hin, dass aus ihrer Erfahrung das Vorliegen dieser Faktoren in beruflichen Kontexten selten der Fall sei. Offensichtlich wird die Notwendigkeit für das Führen von Einzelgesprächen nach unterschiedlichen Gesichtspunkten bewertet. Wenn die Theorie der Klärungshilfe das Führen von Einzelgesprächen ablehnt, geschieht diese vor dem Hintergrund, dass der Ansatz nicht für Konflikte oberhalb der Eskalationsstufe sieben geeignet ist. Des Weiteren wären Einzelgespräche im Vorfeld des Zusammentreffens für die Prozessziele der Klärung hinderlich.
7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
119
Diese wichtige Frage, weshalb auf Einzelgespräche im Vorfeld verzichtet wird, soll anhand von drei Argumenten beantwortet werden: - Wenn die unterschiedlichen Sichtweisen der Konfliktparteien miteinander in Kontakt gebracht werden wollen und eine gemeinsame Basis für das Aufrechterhalten der Arbeitsbeziehungen geschaffen werden will, erfordert dieses Vorhaben nicht nur für den Gesprächsleiter Energie und Kraft, sondern insbesondere auch für die Konfliktparteien. Diese Energie, welche die Konfliktparteien in Einzelvorgesprächen aufwenden würden, soll direkt in der Klärungssituation genutzt werden. Die Konfliktparteien verbrauchen "im Vorgespräch all ihre aggressive, klagende und anklagende Kraft, die dann später im gemeinsamen Gespräch fehlt" (THOMANN & PRIOR 2007, S. 40). Nach einem derartigen, besänftigten Gespräch werden die Verletzungen (die ungeklärt blieben) im Alltag wieder von Neuem aufbrechen. Das Funktionieren der erarbeiteten Lösungen würde von der Beziehungsseite der Konfliktparteien behindert. Dem zweiten Axiom von WATZLAWICK (2007, S. 56) folgend wird die Sachebene durch die Beziehungsebene bestimmt, und letztere ist entscheidend für die Zusammenarbeit. - Das zweite Argument steht mit dem ersten in enger Verbindung. Wenn der Kontakt zwischen den Konfliktparteien wieder hergestellt werden soll, müssen sich diese gegenseitig verstehen, und der Gesprächsleiter muss die subjektiven Sichtweisen ebenfalls erfassen können. Deshalb werden zu Beginn der Klärungssitzung 'Quasi-Einzelgespräche' geführt, allerdings in Anwesenheit beider Konfliktparteien. Die Betroffenen erfahren damit die Konfliktinhalte, Situationsdetails, verletzenden Gefühle etc. des Gegenübers so 'ursprünglich' wie möglich. - Das dritte Argument betrifft den Gesprächsleiter selbst. Wenn die Konfliktparteien in Einzelvorgesprächen im Detail ihr Konflikterleben schildern und am Schluss den Gesprächsleiter rückwirkend bei entscheidenden Punkten zur Vertraulichkeit und Geheimhaltung verpflichten, ist sein Aktionsradius stark eingeschränkt. Der Klärungshelfer "verliert durch diesen selbstverständlichen Anspruch zur Geheimhaltung seine Freiheit, in der gemeinsamen Klärungssitzung dann offen und direkt zu fragen, was nötig ist, um den Konflikt zu lösen. […] Die Klärung wird zur unwürdigen Farce" (THOMANN & PRIOR 2007, S. 41). Aufgrund dieser Überlegungen führt die Akzeptanz der Distanz der Konfliktparteien nicht dazu, mit diesen im Vorfeld ausgedehnte Einzelvorgespräche zu führen. d) Selbsttätigkeit der Konfliktparteien Die in Kapitel 7.2.2 (S. 103) formulierten Zielsetzungen betonten, dass die 'Konfliktlösung' nicht im Sinne eines 'Urteils' von aussen festgelegt wird, sondern die Betroffenen fähig werden sollen, eigenständig Lösungsideen zu entwickeln. Diese Absicht verlangt nach einer intensiven Vorarbeit, welche für den Gesprächsleiter und die Konfliktparteien das Aushalten einer 'Lösungslosigkeit' erfordert. Diese Herausforderung ist keine einfache, weil die Konfliktparteien das belastende Konflikterleben möglichst schnell beseitigt haben möchten. Doch je zermürbender sich der Konflikt darstellt, umso mehr Zeit müssen alle beteiligten Parteien für die Klärung der Gegenwart und Vergangenheit investieren, um darauf aufbauend Lösungsansätze zu entwickeln, welche von den Konfliktparteien initiiert werden können. Die
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Lösungen, welche dann entstehen, sind individuell, auf die Konfliktparteien in ihrer Situation mit ihren Zielen massgeschneidert (THOMANN 2004, S. 204) und entfalten dadurch die gewünschte emanzipatorische Wirkung (GLASL 2004, S. 412). Mit dieser Zielidee wird demzufolge von den Konfliktparteien eine hohe Selbsttätigkeit gefordert, welche es von dem Gesprächsleiter zu strukturieren und zu steuern gilt. e) Aufgaben, Funktionen und Stilmerkmale Die Aufgaben, Funktionen und Stilmerkmale der Rolle des Klärungshelfers lassen sich zusammenfassend wie folgt beschreiben: - verstehen der Konfliktparteien und von deren Sichtweisen. Der Klärungshelfer muss sich in die Situation der Konfliktparteien hineinversetzen können und wollen. Diese Herausforderung zur Empathiefähigkeit "ist die Bedingung für alles andere!" (THOMANN 2004, S. 35). - helfen, unterstützen und anregen, damit die Konfliktparteien die negative Konfliktdynamik verstehen und akzeptieren können (vgl. R. J. FISHER 1972, S. 67). - aktivieren der Konfliktparteien, um diese zu befähigen, die Verantwortung für die Konfliktinhalte auf sich zu nehmen. Der Klärungshelfer unterstützt sie dabei, an der Bewältigung ihrer Konfliktthemen zu arbeiten und Lösungsideen zu entwickeln (GLASL 2004, S. 409). Die Klärung von Konflikten in dem hier verstandenen Sinne kann dadurch eine emanzipatorische Funktion erfüllen. - nicht drohen oder drängen, sondern den Parteien genügend Zeit geben, sich selbst, ihre Beziehung gegenüber der anderen Konfliktpartei sowie ihr Tun und Handeln eingehend zu analysieren (vgl. R. J. FISHER 1972, S. 78). - akzeptieren des subjektiven Konflikterlebens der Betroffenen. "Besonders in der Selbstklärungsphase ist es die Aufgabe des Klärungshelfers, herauszufinden, wie die Konfliktparteien sich selber, die anderen und die Situation sehen, und dieses erst einmal zu akzeptieren" (THOMANN 2004, S. 34). Obschon der Klärungshelfer möglicherweise den Aussagen nur schwer glauben kann, so ist es nicht seine vorrangige Aufgabe, diese Explikationen aus seiner Perspektive zu beurteilen (R. J. FISHER & KEASHLEY 1990, S. 215). Die Konfliktpartei wird einen Grund haben, die Sachverhalte in einer bestimmten Art und Weise darzustellen. - konfrontieren mit anderen Wahrnehmungen, um den Konfliktparteien nicht nur ihre eigene Sichtweise zu verdeutlichen, sondern auch die Perzeptionen, Gefühle, Attitüden und Absichten der Gegenpartei. "Erst auf der Grundlage der Akzeptanz dessen, was und wie ein Mensch sich fühlt und ausdrückt, kann Konfrontation mit anderen Sichtweisen oder seinen nonverbalen Begleitsignalen fruchtbar sein. Beides ist wichtig, gehört zusammen und ergibt die Möglichkeit zur Veränderung. Akzeptanz allein unterstützt alles, leider auch neurotische und die Wahrheit verschleiernde Tendenzen. Konfrontation allein bewirkt Widerstand, Blockade, Rückzug und Abbruch des Kontakts" (THOMANN 2004, S. 34f.). - Widerstände beachten und ernst nehmen, statt diese zu ignorieren oder die Konfliktparteien zu besänftigen. Hinter dieser Aufgabe steht das zweite Postulat der Themenzentrierten Interaktion nach COHN: "Störungen haben Vorrang" (COHN 1993, S. 42ff.; 2004, S. 122f.). Nicht thematisierte Störungen nehmen sich sowieso den 'Vorrang'; sie
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bestehen unterschwellig weiter und beanspruchen im 'Hier und Jetzt' die Aufmerksamkeit des Individuums. "Störungen fragen nicht um Erlaubnis, sie sind da: als Schmerz, als Freude, als Angst, als Zerstreutheit; die Frage ist nur, wie man sie bewältigt" (COHN 2004, S. 122). Widerstände sind Teile der subjektiven Wahrheit, welche der Klärungshelfer ernst nehmen muss. direkt und unerschrocken das Negative und Belastende des Konfliktes ansprechen und sich nicht von den Illusionen, Verschleierungen und Beschönigungen der Konfliktparteien blenden lassen. Der Klärungshelfer ist "Transporteur von schwierig zu sagenden und/oder schwierig zu hörenden Dingen" (THOMANN 2004, S. 147). Er soll nicht unnötig schonen, aber auch nicht unnötig verletzen. "Es ist eine Gratwanderung, eine leider seltene Kombination aus Direktheit und Sanftheit" (S. 41). Die schwierig zu bewältigende Aufgabe besteht darin, diesen Balanceakt aufrechterhalten zu können. verantwortlich sein für den Klärungsprozess, indem der Klärungshelfer stets die Oberhand der Zusammenkunft behalten muss. Ohne ein direktives Vorgehen passiert es schnell, dass die Klärung ausser Kontrolle gerät (THOMANN 2004, S. 40). Der Klärungshelfer ist nicht drängend und auch nicht verantwortlich bezüglich inhaltlicher Themen, "während bei der Vorgabe von Interventionsmethoden und Prozeduren direktives Vorgehen oft geboten ist" (GLASL 2004, S. 408). Direktiv meint damit nicht unflexibel und stur, sondern situativ bewusst und geplant. Damit wird der Auffassung von FISHER (1972) gefolgt, die inhaltliche von der prozessualen Verantwortung zu trennen. "Therefore it is perhaps best to speak of a qualified non-directiveness as part of the third party role, wherein the consultant has some direction over the process of consultation but not over the content of the outcomes as such" (R. J. FISHER 1972, S. 78).
7.2.5
Typische Phasen
Das Konfliktklärungsgespräch weist verschiedene Prozessphasen auf, deren Ausgestaltung im Sinne einer Handlungsstrategie von der Wahl der Vermittlungsstrategie abhängt. Diese muss für einen vorliegenden Kontext zugeschnitten sein. Dementsprechend erfordert jede Vermittlungsstrategie das Vorhandensein bestimmter Bedingungsmerkmale, damit deren Einsatz überhaupt möglich ist (für den vorliegenden Situationstyp siehe Kap. 7.2.3, S. 104). Werden diese Bedingungen missachtet, sinkt die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Konfliktklärung durch eine neutrale Instanz. Ungeachtet der Wahl einer konkreten Handlungsstrategie zeigt sich die übergeordnete Gesamtstrategie nach GLASL (2004, S. 448ff. ) in drei Phasen: Orientierungs-, Konfliktbehandlungs- und Konsolidierungsphase. Zu dieser Dreiteiligkeit gelangt GLASL aufgrund einer umfangreichen Rezeption vor allem angelsächsischer Vermittlungstheorien. Diese Gesamtstrategie legt sozusagen den Rahmen fest und gilt für die gesamte Breite konkreter Verfahrensstrategien (REDLICH & MIRONOV 2003, S. 279). Auf die Skizzierung der Phasen der zahlreich in der Literatur beschriebenen Vermittlungsstrategien wird an dieser Stelle verzichtet. Eine Auflistung möglicher Handlungsstrategien könnte dem Leser keine fruchtbaren Einblicke ermöglichen, weil diese Ausführungen zwingendermassen zu kurz greifen müssten, und eine ausführliche Beschreibung und Diskussion der gängigen
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Explikation des Gegenstandsbereichs 58
Verfahrensschritte würde den Rahmen dieser Arbeit bei Weitem übersteigen. Wie in den 59 obigen Ausführungen begründet, wird auf die 'Theorie der Klärungshilfe' als eine mögliche Vermittlungsstrategie fokussiert. Der Vergleich mit zahlreichen anderen Vermittlungsansätzen, welche ein äquivalentes Menschenbild zugrunde legen, ebenfalls für den betrieblichen Kontext zugeschnitten sind und sowohl in Zweier- wie auch Teamklärungen einsetzbar sind, zeigt zahlreiche Parallelen zwischen den jeweiligen Vorgehensweisen, wenn auch unterschiedliche Akzentuierungen feststellbar sind (vgl. hierzu die Ausführungen in Kap. 7.1.5, S. 93). Überblick über das Vorgehen in der Klärungshilfe Die Vermittlungsstrategie nach THOMANN (ausführliche Darstellungen finden sich in THOMANN 1986, 2004; THOMANN & PRIOR 2007; THOMANN & SCHULZ VON THUN 2000) umfasst insgesamt fünf Phasen der Gesprächsgestaltung (vgl. Abbildung 14).
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Abbildung 14: Phasen des Konfliktklärungsgesprächs
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Literaturhinweise zu zahlreichen Vermittlungstheorien geben REDLICH UND MIRONOV (2003, S. 278ff.) sowie GLASL (2004, S. 393ff.). Die Wurzeln der Theorie der Klärungshilfe gehen auf Ende der 70er-Jahre zurück. Die eklektisch zusammengesetzten Konzepte formten sich durch die langjährige Erfahrung von THOMANN zu einer Theorie der Klärungshilfe. Ausgehend von der Grundannahme "Der Praktiker kann nicht ohne Theorie handeln, und der Theoretiker baut auf vorhandenen Erfahrungen auf" (1986, S. 3) entwickelte THOMANN die Theorie nach dem 'Theory-in-use'-Ansatz nach ARGYRIS UND SCHÖN (1992). Die Ausgestaltung der Prozessphasen unterscheidet sich in Abhängigkeit des Einsatzgebietes dahingehend, ob es sich um private Lebenssituationen handelt (THOMANN & SCHULZ VON THUN 2000) oder ob auf die Konfliktklärung im beruflichen Kontext fokussiert wird (THOMANN 2004; THOMANN & PRIOR 2007). Des Weiteren beschreiben die nachstehenden Ausführungen die Klärung von Konflikten zwischen zwei Konfliktparteien in Abgrenzung zu Teamklärungen.
7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
123
In der Gesprächseröffnung treffen sich die Konfliktbeteiligten mit dem Gesprächsleiter. Sie lernen diesen kennen und nehmen mit ihm Kontakt auf, um herauszufinden, ob es noch Hindernisse gibt, bevor mit der Klärung inhaltlich eingestiegen werden kann. Die Selbstklärung fokussiert den Blick räumlich auf den Einzelnen und zeitlich auf einen Moment hinsichtlich des aktuellen Konflikterlebens. Dieser Moment umfasst die Gegenwart und Vergangenheit der Konfliktparteien, soweit das Vergangene eine Wirkung in der Gegenwart zeigt. Der Begriff des 'Selbst' geht auf das Verständnis von C. G. JUNG zurück, indem alle psychischen Phänomene eines Menschen intendiert sind. Eine Selbstklärung beinhaltet damit nicht nur das Bewusste, sondern auch die unbewussten oder noch nicht bewussten Anteile einer Gesamtpersönlichkeit. In dieser Phase erklärt jede Konfliktpartei nacheinander aus ihrer subjektiven Perspektive, was es zum aktuellen Konflikterleben persönlich, zwischenmenschlich und sachlich zu sagen gibt. Der Dialog bringt die unterschiedlichen und sich gegenseitig widersprechenden subjektiven Sichtweisen miteinander in Kontakt. "Es findet eine Art verlangsamter und dadurch vertiefter Streitdialog zwischen den Konfliktparteien statt" (THOMANN 2004, S. 24). Nach dem Abschluss der Dialogphase sind in etwa zwei Drittel bis drei Viertel der Gesamtzeit vergangen. Die Phase der 'Erklärungen und Lösungen' umfasst zwei Teile. Zunächst wird den Betroffenen ihr Konflikterleben aus der Sichtweise des Gesprächsleiters annehmbar erklärt. Die Kognitivierung des Konfliktes führt zu einer allgemeinen Beruhigung. Sodann sind die Konfliktparteien in der Lage, sachlich nach Lösungsansätzen für ihre konfliktäre Situation zu suchen. Der Gesprächsabschluss beendet den Klärungsprozess. Falls noch Themen offen sind, werden diese benannt und die sich daraus ergebenden Konsequenzen formuliert. Nach einem metakognitiven Rückblick werden die Parteien verabschiedet. Die Gesprächsführung orientiert sich an diesen Hauptphasen, wobei es durchaus möglich ist, in eine bereits durchlaufene Phase zurückzukehren, solange sich das Gespräch noch nicht im Abschluss befindet. Die Auftragsklärung gehört nicht zur Gesprächsgestaltung im engeren Sinne, sondern wird als Antezedensbedingung für den Situationstyp aufgefasst (vgl. ausführlich Kap. 7.2.3, S. 104). Um die Praktikabilität und Alltagstauglichkeit der entwickelten Lösungen, Massnahmen und Abmachungen zu überwachen, wird eine Nachbearbeitung unabdingbar. Die Durchführung der Nachbearbeitung gestaltet sich analog den fünf Phasen und braucht deswegen nicht gesondert thematisiert zu werden. Auf ein erstes Folgetreffen (ca. ein halbes Jahr später) folgen zu Stabilisierungszwecken gegebenenfalls weitere Treffen. Die Sicherheit wird gefestigt und aktualisierte Abmachungen werden in den Alltag mitgenommen. Nach diesem kurzen Überblick werden die einzelnen Phasen aus Abbildung 14 nachfolgend genauer ausgeführt. Erste Phase: Gesprächseröffnung a) Zwischenziel Oberstes Ziel dieser etwa fünf- bis zehnminütigen Anfangsphase ist, die Bereitschaft der Konfliktparteien zur anstehenden Konfliktklärung herzustellen. Die Situations- und Rollenklärung kommt vor der Konfliktklärung. Dies bedeutet gleichzeitig, dass die Leitungsoberhand des Gesprächsleiters etabliert werden muss. Aufgrund der Tatsache, dass die Konfliktparteien
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Explikation des Gegenstandsbereichs
nicht zwingendermassen freiwillig anwesend sind, müssen allfällige Schwierigkeiten, Widerstände oder Hindernisse, welche die Klärungssituation betreffen, erkundet und verhandelt werden. Hindernisse vorherig zu thematisieren hilft, den Konflikt ruhig und konzentriert anzugehen. Am Schluss dieser Phase sind Bedingungen festgelegt und der hindernde Teil der Wahrheit der Situation geklärt. Weiter werden Regelungen zu Organisatorischem, wie Unterbrechungen, frühere Abreisezeiten, Ende und Verlängerungsmöglichkeiten der Zusammenkunft etc., bestimmt, um danach aufmerksam dem Geschehen zu folgen. b) Rolle des Gesprächsleiters Dem Gesprächsleiter kommt die Rolle des Moderators zu. Er wurde bestellt (oder hat sich selbst dazu entschieden), die Konfliktklärung zu leiten. Die Beteiligten müssen diese Rolle akzeptieren können, damit er die Zusammenkunft moderieren kann. Der Gesprächsleiter selbst muss in der Lage sein, diese Rolle professionell annehmen zu können. Er moderiert die Verhandlungen über allfällige Bedingungen für das bevorstehende Gespräch. In diesem Zusammenhang wird nochmals darauf hingewiesen, dass der Gesprächsleiter für die Struktur und den Prozessablauf zuständig ist, nicht aber für Inhalte des Konfliktgeschehens. c) Konkretes Vorgehen Die Gesprächseröffnung beginnt mit einer kurzen, informellen Begrüssung. Wenn die Führungskraft der beiden Konfliktparteien anwesend sein muss, erfolgt die Begrüssung durch diese. Sie übergibt im Anschluss daran die Leitung dem Klärungshelfer. Wie bereits bei der Rollendefinition erwähnt wurde, geht es nun darum, dass der Gesprächsleiter die Leitungsoberhand etabliert. Unterstützt wird dieser Prozess symbolisch mit der Dreieckssitzordnung, wobei der Gesprächsleiter (GL) den gleichen Abstand zu den Konfliktparteien einnimmt (siehe Abbildung 15).
B
A
Abbildung 15: Dreieckssitzordnung als Symbol für die Leitungsoberhand des Gesprächsleiters (GL)
GL
Das Etablieren dieser Sitzordnung ist funktional sinnvoll, weil sich alle Gesprächsbeteiligten gut sehen können. Des Weiteren kann der Gesprächsleiter feststellen, inwieweit die Konfliktparteien seine Leitungsrolle bereits akzeptiert haben (Zuweisen eines Sitzplatzes) und ob diese eventuell Mühe bekunden, mit der Gegenpartei gleichberechtigt zu sitzen (möglicherweise
7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
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wenden sie sich mit dem Stuhl etwas ab). Gibt es gegenüber dieser Vorgehensweise bereits Widerstände, werden diese angesprochen. Im nächsten Schritt ist die 'Wahrheit der Situation' zu thematisieren. Die Logik sozialer Situationen besteht, der Modellvorstellung von SCHULZ VON THUN (2007c, S. 279ff.) folgend, aus vier Komponenten: - Historie: das Zustandekommen der gegenwärtigen Zusammenkunft, inhaltlicher Rückblick - Person in der leitenden Funktion: deren Rolle und Absichten - Personen in der geleiteten Funktion: deren Rollen und Wünsche, die zwischenmenschliche Struktur gegenüber dem Leiter - Struktureller Rahmen: Organisatorisches, Zeit, Ziele, Sinn und Zweck der Zusammenkunft Die Klärung der Logik der Situation umfasst zugespitzt formuliert die Beantwortung der folgenden Frage: "Wie kommt es, dass ich mit ihnen, zu diesem Thema, in diesem Rahmen hier bin, und welche Ziele wollen wir erreichen?" Der Gesprächsleiter stellt seine eigene Person mit Namen, Rolle und Funktion vor und erläutert, was ihm bereits bekannt ist. Um dem Eindruck der Voreingenommenheit Widerstand zu leisten, folgt eine neutrale, zusammenfassende Darstellung der Konfliktinhalte in einer Art und Weise, dass sich keine der Konfliktparteien angegriffen fühlt. Nachdem der strukturelle Rahmen festgelegt ist und die Ziele verdeutlicht wurden, gilt es potenzielle Vorbehalte, Widerstände oder offene Fragen zur Klärungssituation, insbesondere auch gegenüber dem Gesprächsleiter, zu thematisieren. Diese Hindernisse gilt es nicht "wegzutherapieren, sondern als gegebenen Ausgangspunkt oder Grenze zu akzeptieren" (THOMANN 2004, S. 102). Es wäre wenig zielführend, gegen einen unangenehmen Teil der 'Wahrheit der Situation' anzureden oder diesen zu ignorieren – denn 'Realität ist Autorität' (COHN 2004, S. 123). Sinnvollerweise schliesst man für alle Hindernisse sogenannte zwischenmenschliche 'Mini-Kontrakte'. Zum Beispiel: Eine Konfliktpartei befürchtet, dass die berufliche Klärung zu stark private Themen umfasst, welche sie nicht nennen will. Diese Befürchtung gilt es als 'reale' Grenze zu akzeptieren. Der 'MiniKontrakt' besteht in diesem Bespiel darin, dass die betreffende Konfliktpartei vom Gesprächsleiter den Auftrag bekommt, darauf zu achten, dass es nicht 'privat' wird. Falls diese Situation eintreffen sollte, dann hat sie die Aufgabe, sich unverzüglich zu melden. Die Überwachung der Bedingungen wird damit an die Konfliktparteien delegiert. Das Prinzip hiefür lautet: "Jeder ist für seine Grenzen, Ängste und Bedingungen selbst verantwortlich" (THOMANN 2004, S. 109). Die 'Mini-Kontrakte' haben sowohl auf die aktuelle Situation als auch für die gesamte Klärung eine positive Wirkung. Die Konfliktparteien werden ernst genommen und ihre Eigenverantwortung gestärkt. Die Bedenken werden damit zerstreut. "Die Teilnehmer bekommen ein Gefühl dafür, dass ihre Grenzen akzeptiert werden. Es kommt so gut wie nie vor, dass jemand dann tatsächlich etwas während der Klärung reklamiert. Daran wird deutlich, dass es sich nicht um 'reale' Grenzen, sondern um Ängste handelt, deren Ausdruck aber wichtig war" (S. 109). Das gegenseitige Festlegen von 'Mini-Kontrakten' nennt THOMANN (2004) 'real verhandeln' (S. 290f.). Diese Verhandlungen sind für alle Bedingungen möglich, welche nicht den Kernpunkt der Klärung betreffen. Im letzten Schritt der Gesprächseröffnung wird die Startsequenz der nächsten Phase skizziert. Es ist wichtig, dass die Konfliktparteien wissen, was als nächster Arbeitsschritt auf
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Explikation des Gegenstandsbereichs
sie zukommt. Im weiteren Gesprächsverlauf werden solche Hinweise allerdings zur Nebensache, weil die Dynamik des Gesprächsflusses diese Art Erläuterungen überflüssig macht. Nachdem die Konfliktparteien nochmals die Möglichkeit bekommen haben, etwas zu sagen, bevor die inhaltliche Arbeit beginnt, wechselt der Gesprächsleiter in die nächste Phase. Zweite Phase: Selbstklärung a) Zwischenziel Das Ziel der Selbstklärungsphase besteht grundsätzlich darin, dass beiden Konfliktparteien die Möglichkeit geboten wird, nacheinander ihre individuellen Sichtweisen darzulegen. Damit werden im Wesentlichen die folgenden drei Teilziele verfolgt (THOMANN 1986, S. 20): - Wiederherstellung des Kontaktes der Konfliktparteien zu sich selbst - Anregung zu klaren und akzeptierenden Selbstaussagen für das eigene 'So-Sein' - Wiederaufbau der Selbstverantwortung für eigene Gefühle, Wünsche, Ansichten, Verhaltensweisen und Handlungen Die Akzeptanz der eigenen Person in der schwierigen Gesprächssituation bildet die wesentliche Grundlage dafür, dass eine Klärung im System überhaupt möglich wird. Das Ziel des Gesprächsleiters besteht darin, die Parteien vollständig zu verstehen. 'Vollständig' meint in diesem Zusammenhang, dass er die persönlichen, zwischenmenschlichen und sachlichen Aspekte des Konfliktgeschehens erfassen kann. Ergänzend kann es sinnvoll sein, die Erwartungen und Wünsche der Konfliktparteien zu klären, falls diese im Verborgenen bleiben. b) Rolle des Gesprächsleiters Der Gesprächsleiter ist in dieser Phase vor allem "in der Rolle des Gesprächspartners mit systemischer Ausrichtung" (THOMANN 2004, S. 131). Er hat die Aufgabe, sich als Gesprächspartner gleichermassen nacheinander auf die Konfliktparteien einzulassen. Durch die so gelebte Allparteilichkeit fühlen sich alle Beteiligten ernst genommen. Dieses Vertrauen muss insbesondere für die nachfolgende Phase aufgebaut werden. c) Konkretes Vorgehen Der Beginn der Selbstklärung startet mit der Explikation des vorliegenden Prozesses. Die Selbstklärung kann nur dann gelingen, wenn der Prozess strikt eingehalten wird. Deshalb wird der Ablauf zu Beginn verständlich gemacht. Die Konfliktparteien sollen sich nacheinander und nicht miteinander gleichzeitig äussern. Nacheinander wird das Erlebte und Wahrgenommene geschildert, wobei die Gegenpartei schweigend zuhört und auf keinen Fall unterbricht oder ins Wort fällt. Allenfalls können Verständnisfragen gestellt werden. Mit dem Erzählen beginnt jene Partei, die mehr belastet ist und den Konflikt akuter erlebt. Dies ist in der Regel diejenige, welche den Kontakt zur Führungsperson oder zum Vermittler veranlasst hat. Es gilt, im direkten Einzelgespräch herauszufinden, welche Punkte geklärt werden sollen, was man ändern will und zu bewirken hofft. Die Sicherheit, frei zu sprechen und sich ungehemmt auszudrücken, ist eine wichtige Voraussetzung, die geschaffen werden muss. Der Gesprächsleiter signalisiert hierbei Aufmerksamkeit und Interesse für das Artikulierte. Er formuliert keine Stellungnahme zu den Äusserungen der Konfliktparteien. Wie ROGERS (2000)
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ausführlich dargelegt hat, liegt einer der Hauptfaktoren für eine gehemmte und blockierte Kommunikation in der natürlichen Tendenz, "die Aussage des anderen Menschen oder der anderen Gruppe zu beurteilen, zu bewerten, zu billigen oder missbilligen" (S. 322). Damit die Kommunikationsbeziehung mit der Konfliktpartei nicht in einer Sackgasse endet, sondern aufrechterhalten werden kann, muss der Gesprächsleiter für das Gesagte Verständnis zeigen können ('verstehen' bedeutet jedoch nicht 'einverstanden' sein). Dieses verstehende Zuhören 60 (Aktives Zuhören) ist dann auch die vorrangige Technik, welcher sich der Gesprächsleiter während der Phase der Selbstklärung bedient. Dies bedeutet "die zum Ausdruck gebrachte Vorstellung und Einstellung vom Standpunkt des anderen her sehen; wahrnehmen, wie es sich für den anderen darstellt; seinen Bezugsrahmen für die von ihm erwähnte Sache erkennen und berücksichtigen" (ROGERS 2000, S. 323). Ist eine Konfliktpartei gehemmt und spricht kaum, kann dieser Angst und Zurückhaltung mit Paraphrasieren begegnet werden. Bedient sich die Konfliktpartei unklarer Worthülsen und unauthentischer Selbstausdrücke ('man hört so einiges', 'es wird gesagt', 'man hätte ja etwas tun können' etc.), hat der Gesprächsleiter präzisierend nachzufragen, denn jedes Detail will gehört und verstanden werden: Der Wille zum Verstehen ist der Schlüssel zur Auflösung eines Konfliktes. Der Gesprächsleiter ist 'Anwalt der Innenwelt der Konfliktpartei' (THOMANN 1986, S. 27). Diese aus der Gestalttherapie stammende Grundhaltung meint, dass der Gesprächsleiter insbesondere solche Aussagen unterstützen soll, welche der Betroffene in unseren Kulturkreisen als unangenehm, belastend oder peinlich erlebt (z. B. Faulheit, Entscheidungsunfähigkeit, Verleugnungen, Rachegefühle, Gier etc.). Sobald deren Existenz anerkannt ist, wird die Konfliktpartei die Energie, welche sie zum Verdrängen dieser 'unerlaubten' Tendenzen benötigte, für die Konfliktklärung nutzen können. Auch die Umformulierung von 'Du-Botschaften' in 'Ich61 Botschaften' unterstützt die Absicht, die Konfliktpartei vollumfänglich zu verstehen. Hinter den Anschuldigungen und Vorwürfen (Du-Botschaft: 'Er schaut mich dann immer besserwisserisch an') will der Gesprächsleiter die Not und Verletzungen begreifen (Ich-Botschaft: 'Sein Blick verunsichert mich und gibt mir das Gefühl, ihm unterlegen zu sein'). Während der Ausführungen der Konfliktpartei notiert sich der Gesprächsleiter Kernpunkte und Schlüsselsätze. Das Memorisieren der Kernaussagen ist für die Bewältigung der nächsten Phase (und gegebenenfalls für spätere Folgetreffen) hilfreich. Als Orientierungshilfe bietet sich das Modell des Kommunikationsquadrates an (exemplarisch SCHULZ VON THUN 2007a, S. 25ff.). Es kann dem Gesprächsleiter als Notizhilfe zur Visualisierung der Kernaussagen dienen. Zudem lässt es sich als Gedächtnisstütze dafür verwenden, welche der relevanten thematischen Aspekte des Konfliktgeschehens (persönliche, zwischenmenschliche, sachliche Aspekte und gegebenenfalls Erwartungen und Wünsche der Konfliktparteien) bereits erarbeitet wurden und wo allenfalls noch Lücken bestehen (siehe Abbildung 16).
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Die Technik des Aktiven Zuhörens wird ausführlich beschrieben bei GORDON (1977, S. 55ff.), ROGERS (2002, S. 311ff.) sowie BAY (2005); zusammenfassend siehe exemplarisch GEHM (2006, S. 138ff.), GOMEZ UND WALZIK (2004), KLAPPENBACH (2006, S. 125ff.), THOMANN (2004, S. 281ff.), SCHULZ VON THUN (2007a, S. 57f.). Eine ausführliche Beschreibung des Konzepts der Ich-Botschaften findet sich bei GORDON (1977, S. 98ff.). Zusammenfassende Darstellungen formulieren GEHM (2006, S. 122ff.), KLAPPENBACH (2006, S. 184f.), SCHULZ VON THUN (2007a, S. 76f.) sowie PÖHLMANN UND ROETHE (2001).
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Abbildung 16: Fragen rund um das Quadrat (nach dem Kommunikationsquadrat von SCHULZ VON THUN) sachlich/organisatorisch
Was ist vorgefallen? Wie sah das genau aus? Wie muss ich mir diesen Ablauf vorstellen? Wann und wo war das genau? Können Sie mir ein Beispiel nennen? persönlich
Wünsche/Erwartungen
Selbstkundgabeseite
Sachseite Konflikterleben der Konfliktpartei
Appellseite
Was dachten Sie konkret? Was löste das bei Ihnen aus? Wie ging es Ihnen damit? Was haben Sie dabei empfunden? Und wie erleben Sie die Situation jetzt? In welcher Stimmung sind Sie jetzt hier?
Was war Ihre Absicht dabei? Was wollten Sie genau bewirken? Was sollte sich ändern? Was hätten Sie sich in dem Moment gewünscht? Was bräuchten Sie, um...?
Beziehungsseite zwischenmenschlich
Wie fühlen Sie sich behandelt? Was stört Sie an ihrer Zusammenarbeit? Wie war das Klima damals? Wie läuft Ihre Zusammenarbeit jetzt? Welche Meinung haben Sie über...?
Falls sich der Gesprächsleiter nach der Selbstklärung noch unsicher fühlt, werden am Schluss die zentralen Aussagen zusammengefasst, um die Beziehung zu den Konfliktparteien zu stärken und die Inhalte durch diese bestätigen zu lassen. Der Gesprächsleiter muss sicher sein, dass er 'rund um das Quadrat' richtig verstanden hat. Dritte Phase: Dialog a) Zwischenziel Nachdem in der Selbstklärung die Ergründung der individuellen Sichtweisen der Konfliktparteien im Vordergrund stand, besteht das Ziel der Dialogphase darin, die sich widersprechenden Perspektiven miteinander in Kontakt zu bringen. Durch einen verlangsamt geführten Streitdialog findet nun ein direkter Austausch zwischen den konfliktbeladenen Parteien statt. Die Themen aus der Selbstklärung werden hier nacheinander angesprochen, um letztlich die intersubjektive Wahrheit zu rekonstruieren. "Es ist eine Wahrheitssuche, ein Hingehen zum wahren, schlimmen Punkt. Das Ziel ist die Klarheit der Gefühle und Beziehungen; Klarheit über das Wie, Wieso und Warum" (THOMANN 2004, S. 143). Aufgrund der klaren Kommunikation wird es möglich, die schwierigen Themen so zu klären, dass daraus positive, annehmbare Erlebnisse entstehen. Das Ziel der Dialogphase besteht nicht in der Suche nach Harmonie und Lösungen. Diese entstehen als 'Nebenprodukt' aus dem Dialog. b) Rolle des Gesprächsleiters Der Gesprächsleiter wird in dieser Phase zum Klärer, Vermittler und Unterstützer bei der Suche nach der intersubjektiv geteilten Wahrheit. Er dient als "Notbrücke" (THOMANN 2004, S.
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147) zwischen den Konfliktparteien, bis diese wieder in der Lage sind, miteinander konstruktiv in einen Austausch zu treten. In dieser emotionalsten Phase, welche rund die Hälfte der Gesamtgesprächszeit ausmacht, unterstützt er die Konfliktparteien beim Aussprechen und Anhören der unangenehmen, belastenden Inhalte. c) Konkretes Vorgehen Es gibt prinzipiell drei Möglichkeiten, wie der Übergang von der Selbstklärung in die Dialogphase gestaltet werden kann. Der Gesprächsleiter: - bestimmt das Thema. Nach der Zusammenfassung in der Selbstklärung greift er einen belastenden, zentralen Aspekt auf, wiederholt diesen und erkundigt sich sodann bei der Gegenpartei, wie sie darauf reagiert. - leitet nahtlos von der Selbstklärungsphase in den Dialog über; sozusagen ein Lenken des gerade angesprochenen Konfliktes hin zum Dialog. Diese Möglichkeit besteht nur dann, wenn der Gesprächsleiter vorherig keine Zusammenfassung gemacht hat. - greift mehrere belastende Themen auf und lässt eine Konfliktpartei die Issues bestimmen und wählen. Eine Partei entscheidet dann, welches aus ihrer Sicht ein zentrales Thema darstellt, und der Gesprächsleiter fragt anschliessend die Gegenpartei, wie diese darauf reagiert. Unabhängig von der gewählten Variante ist darauf zu achten, dass nicht ein Nebenschauplatz thematisiert wird, sondern ein Kernthema zur Sprache kommt. Zudem wird den akuten gegenüber den chronischen Themen zeitlich der Vorrang gegeben. Die dritte Überleitungsmöglichkeit sollte nur dann gewählt werden, wenn sich der Gesprächsleiter selbst unsicher ist. Es besteht die Gefahr, dass sich die Konfliktparteien in einer unnötigen Diskussion darüber verstricken, welches wohl das Kernthema sei. Der sequenzierte, vertiefende und entschleunigte Dialog wird idealerweise so lange geführt, bis alle belastenden Themen schrittweise geklärt werden konnten. Wenn die Zeit drängt, muss der Dialog spätestens 15 Minuten vor Schluss beendet werden. Der Dialog "muss nicht organisch aufhören: So plötzlich, wie er angefangen hat, kann er auch vom Klärungshelfer abgebrochen werden" (THOMANN 2004, S. 167). Wichtig ist, dass noch ein Minimum an Zeit übrig bleibt, damit das Treffen (vorerst) abgeschlossen werden kann. Auch in der Dialogphase arbeitet der Gesprächsleiter mit der Fertigkeit des Aktiven Zuhörens, dem Formulieren von Ich-Botschaften und dem vertiefenden, präzisierenden Nachfragen. Falls die Konfliktparteien gewisse Themen nur andeuten, kann ergänzend nach konkreten Beispielen gefragt werden. Kurze, inhaltliche Zwischenerklärungen seitens des Gesprächsleiters sind dann unabdingbar, wenn die Klärungszuversicht der Konfliktparteien temporär einbricht (z. B. "Das bringt doch eh nichts mehr" oder "Es ist schon zu spät. Aus dieser Situation kommen wir nicht mehr heraus" etc.). Zwischenerklärungen haben den Zweck, den Konfliktparteien kognitiv zu verdeutlichen, dass das, was in der Klärungssituation passiert, 'normal' und verständlich ist. Falls Irritationen, Unklarheiten, Verunsicherungen oder
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Verwirrungen zwischen dem Gesprächsleiter und den Konfliktparteien entstehen, sind diese 62 umgehend mithilfe metakommunikativer Aussprachen zu klären (COHN; 2004, S. 122f.). Neben diesen kommunikativen Grundfertigkeiten sind das 'Dialogisieren' und das 'Dialogische Doppeln' die zwei wichtigsten Techniken zur Bewältigung der Dialogphase. Das Dialogisieren beschreibt ein zwischen den Konfliktparteien hin und her pendelndes Moderieren. Untrennbar von der Aussage der Konfliktpartei A folgt die Frage, wie die Konfliktpartei B darauf reagiert. Nach ihrer Antwort erkundigt sich der Gesprächsleiter wiederum bei der Gegenpartei, was diese Antwort bei ihr auslöst usw. Weil die Konfliktparteien zur Stärkung und Verteidigung ihrer Identität und inhaltlichen Position stets neue Aspekte, Facetten, Vorfälle und Argumente einbringen, erfordert das Dialogisieren höchste Konzentration. Der Gesprächsleiter hat sehr genau darauf zu achten, dass auch wirklich auf die Aussagen reagiert wird und die Parteien nicht stetig die Konfliktarena vergrössern oder verschieben. Wird der Prozess nicht eng geführt, wird sich der Gesprächsleiter innert Kürze in einem inhaltlichen Durcheinander verlieren. Zudem muss der Gesprächsleiter den Dialog inhaltlich, zwischenmenschlich und emotional nachvollziehen können und auf Vollständigkeit des Ausdrucks prüfen. Bei Lücken, Unklarheiten, Angedeutetem etc. muss wiederum 'quadratisch' nachgefragt werden. Formuliert eine Konfliktpartei unerwartet Zugeständnisse, wird die Gegenpartei gefragt, ob sie diese Aussage glauben kann. Anhand dieser drei Elemente (hin und her schweifen, nachfragen und vervollständigen lassen, prüfen auf intersubjektive Glaubhaftigkeit) entsteht ein verlangsamter, sich inhaltlich und klimatisch entwickelnder Dialog in Richtung Klarheit. Das dialogische Doppeln kann vereinfacht als intensivere Variante des Aktiven Zuhörens verstanden werden, indem ein direkter Kontakt zwischen den Konfliktparteien hergestellt wird. "Das Doppeln ist in der Klärungshilfe und insbesondere in ihrem Kernstück, dem Dialog […], die Technik schlechthin" (THOMANN 2004, S. 291, Hervorhebung im Original). In ihrer äusseren Anwendungsform besteht das Doppeln aus vier Schritten: Erlaubnis einholen, an der Stelle einer Konfliktpartei sprechen, deren Zustimmung oder Korrektur erfragen und die Gegenpartei auf den gedoppelten Inhalt reagieren lassen (siehe Abbildung 17).
62
Zur Metakommunikation siehe exemplarisch SCHULZ VON THUN (2007a, S. 91ff.).
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7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
Abbildung 17: Vier Schritte des dialogischen Doppelns den Dialog unterbrechen ... Erlaubnis einholen
zur Konfliktpartei hingehen und an deren Stelle in der Ich-Form sprechen
Zustimmung und gegebenenfalls Korrektur erfragen
an den eigenen Platz zurückkehren und die Gegenpartei konfrontieren
beispielhafte Formulierungen des Gesprächsleiters “Darf ich neben Sie kommen, etwas für Sie sagen und Sie sagen mir dann, ob das so für Sie stimmt?” “Gerd, wenn ich dich um Rat bitte, dann schaust du mich so fragend an. Ich bin immer total verunsichert. Ich fühle mich dann unterlegen.” “Ist das richtig so?” Falls die Zustimmung nicht überzeugend ist: “Nein. Wie würden Sie es sagen?” “Wie reagieren Sie darauf?” “Was sagen Sie dazu?”
Der Klärungshelfer unterbricht den Dialog, lässt also die Konfliktpartei nicht auf die Aussage der Gegenpartei antworten, sondern doppelt diese, indem er sich nach eingeholter Erlaubnis neben sie stellt. Das Gedoppelte lässt er sich dann von der betreffenden Partei bestätigen oder korrigieren, geht danach an seinen Platz zurück und fragt erst dann die Gegenpartei nach deren Reaktion. Mit dem letzten Schritt des Doppelns wird der Dialog durch das Dialogisieren fortgeführt. So entsteht ein kontinuierlicher Gesprächsfaden, und die gesagten Worte werden nach innen angenommen und verarbeitet; die Innenschau wird unterstützt. Die Themen werden durch das wirklich 'Wahre' nicht schöner, aber klarer. Zudem sind die Parteien gezwungen, einander zuzuhören, auf das zu reagieren, wonach wirklich gefragt wird, und sich klar auszudrücken. Das Doppeln ist ein Vermitteln und Transportieren von schwierigen Inhalten zwischen den Konfliktparteien und ein Übersetzen zwischen den Kommunikationsstilen der Konfliktparteien (zu den Kommunikationsstilen siehe SATIR 1990, S. 115ff.; SCHULZ VON THUN 2007b, S. 57ff.). Die Konfliktpartei, welche gedoppelt wird, erhält eine direkte Unterstützung bei der Artikulation ihrer negativen Gefühle sowie den lediglich angedeuteten Facetten ihrer Aussagen. "Die Gegenpartei wird durch die Sprache des Dopplers, die möglichst wenig Widerstand provoziert, in die Lage versetzt, die andere Konfliktpartei und den eigenen Anteil am Konflikt zu verstehen und zu akzeptieren" (THOMANN 2004, S. 293, Hervorhebung im Original). Damit erfüllt diese Technik zwei grundlegende Funktionen (siehe Abbildung 18).
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Abbildung 18: Funktionen des dialogische Doppelns
Funktionen
identifizieren
V akzeptieren
g
vertiefen
Kern
Sachseite
?
Appellseite
etikettieren
Anpassung Abwehr tz erle un
1
Selbstkundgabeseite
2
Beziehungsseite
Unausgesprochene, angedeutete oder signalisierte – jedoch nicht explizit artikulierte – Inhalte werden ergänzt, transparent gemacht, vervollständigt und geklärt. Diese Erweiterungen beziehen sich auf sachliche, persönliche und zwischenmenschliche Aspekte des Konfliktgeschehens sowie auf Forderungen und Wünsche der Konfliktparteien (Abbildung 18, c). Die Selbstkundgabe wird in ihrer emotionalen Schichtigkeit vertieft. In Kapitel 6.2.3 (S. 85) wurde im Zusammenhang mit der Emotionalität des Menschen unter Bezugnahme auf das Modell von WIDMER (2005, S. 49ff.) bereits auf die unterschiedlichen Funktionen der Emotionen hingewiesen. Das Doppeln hat zunächst die Funktion, die Abwehrgefühle zu identifizieren und anschliessend explizit zu benennen (Abbildung 18, d). Das 'Etikettieren' der harten Gefühle (z. B. Aggression, Überheblichkeit, Sarkasmus, Falschheit, Berechnung, Rache, Zorn, Neid etc.) wirkt für die Konfliktparteien befreiend, weil sie nicht mehr unterschwellig die Kommunikation belasten. Diese abwertenden Gefühle breiten sich im Konfliktgeschehen aus und fixieren sich, werden aber meist nicht direkt ausgesprochen. Die Konfliktparteien erleben lediglich die Handlungen und Wirkungen, welche von dieser Abwehrhaltung angetrieben werden. Das Doppeln spricht diese Abwehr aus. Danach vertieft das Doppeln den Streitdialog. Aus dem bedrohlichen Angriffs- und Verteidigungsdialog, in welchem sich keiner mehr verstanden fühlt, wird durch die Vertiefung ein Verständnis erzeugender Dialog entwickelt. Von der Vorwurfsrichtung verschiebt sich die Perspektive in Richtung Not, Bedrängnis, Rat- und Hilflosigkeit, Blösse, Überforderung etc., welche hinter der Abwehr stehen. Das Aussprechen dieser Verletzungsgefühle schafft Akzeptanz für das 'So-Sein' und wirkt letztlich solidarisierend zwischen den Konfliktparteien.
7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
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"Je vollständiger die Verletzungsgefühle benannt sind, desto grösser ist die Bereitschaft für die Versöhnung" (THOMANN 2007). Die Abwehrgefühle sind (wenn sie dann vorherig aus63 gesprochen wurden) überflüssig geworden. Diese Ausführungen zeigen, dass das Aktive Zuhören und das Dialogische Doppeln durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen, das Doppeln jedoch die 'mächtigere' Fertigkeit ist. Dies zeigt sich insbesondere in den folgenden Punkten: - Beim Doppeln geht es nicht nur um die Paraphrasierung des Gesagten und die Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte, sondern auch um die Ergänzung fehlender Aussagenaspekte und die Vertiefung der Abwehrgefühle. - Im Unterschied zum Aktiven Zuhören verwendet das Doppeln nicht die 'Du- bzw. SieForm', sondern die direktere 'Ich-Form'. - Das Doppeln spricht nicht vom Gesprächsleiter zu einer Konfliktpartei, sondern an der Stelle einer Konfliktpartei zur Gegenpartei. Es ist im Vergleich zum Aktiven Zuhören schon rein sprachlich dialogischer angelegt. - Das Doppeln eröffnet dem Gesprächsleiter einen grösseren, inhaltlichen Gestaltungsfreiraum, wodurch er stärker in den Dialog eingreifen und diesen zielgerichtet steuern kann. Vierte Phase: Erklärungen und Lösungen a) Zwischenziel Während in den bisherigen Phasen der Blick zeitlich stets auf die Vergangenheit und die Gegenwart gerichtet war und inhaltlich immer tiefer die gefühlsmässigen, zwischenmenschlichen und sachlich-organisatorischen Zusammenhänge erkundet wurden, wird in der Erklärungs- und Lösungsphase das zukünftige Miteinander gestaltet. "Jetzt wird die Vernunft mit den Gefühlen in Einklang gebracht, um dann sehr konkret und alltagspraktisch zu Lösungen zu kommen. Dieses Vorgehen ist ungewöhnlich, weil meist versucht wird, die Gefühle der Vernunft anzupassen" (THOMANN 2004, S. 200). Wie die Bezeichnung der vierten Phase bereits zum Ausdruck bringt, umfasst dieser Prozessabschnitt zwei Teilschritte: Den Konfliktparteien soll geholfen werden, das emotional Aufgewühlte durch Erklärungen und den Blick von aussen zu beruhigen und verständlich zu machen. Die Beruhigung beinhaltet das Ziel, eine Akzeptanz für die Konfliktsituation zu schaffen. Das Annehmen der Konfliktparteien für das 'So-Sein' bildet die Grundlage für die Lösungserarbeitung und die Entwicklung von konkreten, messbaren, transferorientierten Absprachen und Bedingungen. Der vollständige Ausdruck der negativen Gefühle regt die Selbstheilungskräfte an, auf welche vor der Klärung nicht gebaut werden konnte. Der bisherige Weg hat klargemacht, welche Facetten und Zusammenhänge des Konfliktgeschehens die jetzige, schwierige Situation bewirkt haben. Mit diesem Wissen können angemessene und tragfähige Lösungen gefunden werden.
63
Eine zusammenfassende Darstellung des Modells von WIDMER findet sich bei THOMANN (2004, S. 175ff.). Die Technik des Dialogischen Doppelns sowie mögliche Fehler und Fallstricke beschreibt er ausführlich auf den Seiten 291–303.
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Explikation des Gegenstandsbereichs
b) Rolle des Gesprächsleiters Die Zweiteiligkeit dieser Phase verlangt nach zwei unterschiedlichen Rollen des Gesprächsleiters: Im ersten Teil ist er der Hauptakteur. Der Gesprächsleiter ist nun aber nicht mehr Klärer, sondern Erklärer. Im zweiten Teil wirkt er als Moderator während der Diskussion zur Lösungsfindung. Um den Transfer der Vereinbarungen erfolgreich zu gestalten, übernimmt er zusätzlich die Rolle des 'critical friend', indem er die Lösungen und Vereinbarungen hinsichtlich ihrer Alltagstauglichkeit kritisch überprüft. c) Konkretes Vorgehen Der Dialog kann sehr unterschiedlich enden, dementsprechend verschieden sind auch die Gefühle der Konfliktparteien und das zwischenmenschliche Klima: ruhig, akzeptierend und verständnisvoll oder belastend, bedrückt und nachdenklich. Unabhängig von der Gefühlslage der Betroffenen schlägt der Gesprächsleiter eine metakommunikative Sprache ein und blickt von aussen auf die Konfliktarena. Das emotional Aufgewühlte muss zuerst beruhigt werden – es findet eine Verschiebung von der Emotion zur Kognition statt. Diese kognitive Verdichtung umfasst im Wesentlichen vier Elemente, welche der Gesprächsleiter aufgreift: - Feedback: Zunächst kann der Gesprächsleiter ein Feedback geben, wie er die Konfliktparteien persönlich erlebt hat. - Zusammenfassung: Die Zusammenfassung benennt die zentralen Konfliktpunkte. Der Gesprächsleiter betont dabei das Verbindende und Trennende gleichermassen. Zudem verdeutlicht er nochmals die Prioritäten beider Konfliktparteien. Nach der Zusammenfassung werden die Konfliktparteien gebeten, allenfalls Ergänzungen oder Korrekturen anzubringen. - Sachkommentar: Er leitet in die abstrahierende, verallgemeinernde Perspektive der Erklärungsmodelle über. - Erklärungsmodell(e): Grundsätzlich sind alle Modelle als Erklärung geeignet, welche erstens systemisch ausgerichtet sind bzw. systemisch verwendet werden können. Aus der Schuldfrage wird eine Situationsbeschreibung, welche die Beteiligung beider Konfliktparteien aufzeigt. "Aus Schuld wird Beteiligung mit Grund, Hintergrund, Auslöser, Zweck, Wirkung und Sinn von Taten und Ereignissen; aus der Beziehung Täter–Opfer wird eine zirkuläre Wechselwirkung, oft mit Eskalationscharakter" (THOMANN 2004, S. 203). Auch vermeintlich verschlimmernde individuelle Eigenschaften werden in einen "konstellationspsychologischen und arbeitsorganisatorischen Zusammenhang" (THOMANN & PRIOR 2007, S. 256) gebracht. Zweitens müssen die Modelle für die Hauptkonfliktpunkte sinnstiftend 64 sein und nicht auf Nebenschauplätze fokussieren.
64
Häufig eingesetzte Erklärungsmodelle aus der Hamburger Kommunikationspsychologie sind das Kommunikationsquadrat (SCHULZ VON THUN 2007a, S. 25ff.), das Werte- und Entwicklungsquadrat (2007b, S. 38ff.) sowie das Teufelskreis-Modell (SCHULZ VON THUN 2007b, S. 28ff.). Zur Beschreibung und Erklärung zwischenmenschlicher Beziehungskonstellationen eignet sich beispielsweise das Riemann-Thomann-Kreuz (RIEMANN 2003; THOMANN 2004, S. 230ff.). Das Zusammenwirken seelischer Faktoren und deren eskalierende Dynamik erläutert das Modell der seelischen Faktoren nach GLASL (2004, S. 39ff.). Wertvolle Hinweise zu den Funktionen und Rollen von Emotionen in Konfliktsituationen gibt das Modell der emotionalen Schichtigkeit nach WIDMER (2005, S. 49ff.). Selbstverständlich erheben diese exemplarischen Darstellungen keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Jeder Gesprächsleiter muss selbst ent-
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Im zweiten Teil der Erkläungs- und Lösungsphase stehen die Lösungserarbeitung sowie der Transfer in den Alltag im Mittelpunkt. Die Lösungsvorschläge der Konfliktparteien werden, ohne diese zu bewerten, gesammelt. Hierzu eigenen sich die gängigen Brainstorming- oder Brainwriting-Techniken (KLAPPENBACH 2006, S. 192ff.). Die Lösungen, welche entstehen, "sind individuell, auf diese Menschen in dieser Situation mit diesem Ziel massgeschneidert" (THOMANN 2004, S. 204). Durch das schrittweise Aufgreifen der gesammelten Ideen und deren anschliessende Bewertung wird eine Einigung angestrebt. Es sind individuelle Lösungen, die zwischen dem Klärungshelfer und den Konfliktparteien verhandelt werden, um dementsprechend auch realisiert werden zu können. Wenig konkrete und vage Hoffnungen müssen in konkrete, messbare Strukturen und Prozesse überführt werden. Den Abschluss der Phase bilden Abmachungen, Bedingungen und eventuell weiterführende Aufgaben für spätere Folgetreffen, die vereinbart und in den Alltag mitgetragen werden. Sinnvoll ist es, die abgemachten Vereinbarungen schriftlich festzuhalten und Handlungsschritte zur Umsetzung zu definieren und zu entwerfen. Nur messbare Ziele können begleitet und auf Erfolg hin geprüft werden. Sollte der sehr seltene Fall eintreffen, dass die Konfliktparteien nicht in der Lage sind, Lösungsideen zu entwerfen, kann der Gesprächsleiter Vorschläge als paradoxe Intervention anbieten. Damit ist gemeint, dass der Gesprächsleiter zwar Lösungen formulieren kann, er diese jedoch wieder loslassen muss, damit die Konfliktparteien die Lösungen nicht aus Autoritätsgläubigkeit annehmen und damit das Gefühl entsteht, dass die Lösungen nicht von ihnen stammen. Beispiel: "Ich habe eine Idee, wie Sie aus ihrer schwierigen Situation herauskommen können. Wahrscheinlich ist es nichts, aber ich möchte es dennoch gesagt haben." Diese 'Selbstverkleinerung' bewirkt bei den Konfliktparteien einen Antrieb, die vorgeschlagene Lösungsidee zu diskutieren und damit hin zu ihrer eigenen Idee zu finalisieren. Eine weitere Möglichkeit wird darin gesehen, dass der Gesprächsleiter ein sogenanntes 'Reframing' anleitet. Diese aus der systemischen Therapie stammende Technik wurde von VIRGINIA SATIR eingeführt. Der schwierigen, scheinbar ausweglosen Konfliktsituation wird durch Umdeutung ein neuer Kontext gegeben. Dieser Kontext verleiht der Situation eine andere Bedeutung und einen positiven Sinn. Fühlt sich der Gesprächsleiter dazu in der Lage, kann er die Konfliktszene in einer veränderten, positiven Perspektive erscheinen lassen. Vereinfacht gesagt werden alle neuralgischen Punkte umgedeutet und mithilfe positiver Konnotationen rekonstruiert. Die Konfliktpartei entwickelt daraufhin einen 'Zielfilm', wie es wäre, wenn es den Konflikt nicht mehr geben würde. Nach der Konstruktion dieses Szenarios hat sie die Aufgabe, sich zu überlegen, mit welchen Massnahmen sie diese Idealvorstellung erreichen könnte. Das Reframing löst positive Emotionen aus, was die Formulierung von Bewältigungsstrategien unterstützt. Zudem bildet der Ausgangspunkt der Lösungsentwicklung nicht mehr das belastende, blockierende und scheinbar unlösbare 'Hier und Jetzt', sondern die leichte, unbeschwerte zukünftige Idealvorstellung, welche in die Gegenwart transformiert wird.
scheiden können, welche Erklärungsmodelle für sich und die Situation stimmig sind (zum Ideal der Stimmigkeit siehe SCHULZ VON THUN 2007c, S. 306ff.).
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Fünfte Phase: Gesprächsabschluss a) Zwischenziel Das Ziel dieser Phase besteht darin, die Zusammenkunft abzuschliessen, indem das Gespräch rückblickend beurteilt und die Verabschiedung gestaltet wird. Es geht um einen metakommunikativen Rückblick über die Klärungssituation, nicht jedoch um eine nochmalige Auseinandersetzung mit den besprochenen Inhalten. b) Rolle des Gesprächsleiters Als Zuhörer und Begleiter der Situation ist der Gesprächsleiter Moderator einer abzuschliessenden Zusammenkunft von Menschen. c) Konkretes Vorgehen Der metakommunikative Rückblick nimmt pro Person etwa zwei bis drei Minuten Zeit in Anspruch. Es soll weder eine Dankbarkeitsrunde noch eine hoffnungsgeladene Abschlussrede werden. Der Gesprächsleiter nimmt das Feedback der Konfliktparteien entgegen, ohne einen inhaltlichen Diskurs einzuleiten oder sich selbst zu erklären. "Beim Entgegennehmen des Feedbacks sollten Zuhören und Bestätigen im Vordergrund stehen" (THOMANN 2004, S. 267). Störungen und Negatives sollen direkt beim Gesprächsleiter platziert werden, was auch für das lang anhaltende Vertrauen unverzichtbar ist. Im Anschluss daran wird ein Termin für eine Nachbesprechung angeboten. Ist das zwischenmenschliche Klima sehr positiv, kann eine Warnung vor übertriebenen Hoffnungen angebracht sein. Ein Fehler wäre es, wenn sich der Gesprächsleiter aufgrund des positiven Klärungsverlaufes verleiten lassen würde, die bevorstehenden Herausforderungen des Alltags herunterzuspielen. "Die Teilnehmer neigen sonst dazu, beim kleinsten Rückfall aus Enttäuschung jegliche Metakommunikation aufzugeben" (S. 270). Danach werden die Konfliktparteien verabschiedet. 7.2.6
Potenziell kritische Ereignisse
Im vorherigen Kapitel ist an zahlreichen Stellen angeklungen, dass die einzelnen Phasen des Konfliktklärungsgesprächs in der Regel nicht unproblematisch verlaufen. Dies erstaunt auch nicht, immerhin ist ein solches Zusammentreffen kein Alltägliches, sondern eine Gesprächssituation unter 'erschwerten Bedingungen'. Die Anwesenden treten vorbelastet, geprägt durch ihr Konflikterleben, in die Situation ein. Gleichzeitig müssen sie diese Situation in Anwesenheit des vermeintlich 'Schuldigen' verbringen. Zudem kommt eine neutrale Instanz hinzu, sei dies nun der Vorgesetzte oder ein interner/externer Vermittler, welche das regeln soll, was die Konfliktparteien offensichtlich nicht aus eigenen Kräften bewerkstelligen konnten. Es verwundert daher nicht, dass der Gesprächsleiter mit zahlreichen Störungen konfrontiert wird. In Kapitel 4.2 (S. 41) wurden diese 'Störungen' als kritische Ereignisse umschrieben, welche die Gestaltung der Interaktion zwischen dem Vermittler und den Konfliktparteien in einer Art und Weise erschweren, dass diese den geplanten Prozessverlauf des Situationstyps behindern und damit verbunden zu einer (temporären) Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit des Gesprächsleiters führen. Solche Störungen werden als Hindernisse erlebt, welche die Fortsetzung des im Voraus antizipierten Gesprächsverlaufs kurzzeitig hemmen oder gar verunmöglichen. Daher können 'kritische Ereignisse' immer nur vor dem
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Hintergrund eines bestimmten Vermittlungsansatzes sowie im Hinblick auf bestimmte Personenkreise formuliert werden. Die folgenden Ausführungen rekurrieren auf die Phasengestaltung nach der Theorie der Klärungshilfe, wie sie im vorherigen Kapitel beschrieben wurde. Zudem sind die 'kritischen Ereignisse' auf einem Niveau zu formulieren, welches für Novizen, jedoch nicht für Experten Gültigkeit haben dürfte. Je grösser die Erfahrung mit Konfliktklärungsgesprächen ist, desto seltener werden Ereignisse als kritisch erlebt. Weil Studierende der Universität St. Gallen auf der Bachelorstufe bezüglich Bewältigung des vorliegenden Situationstyps als 'Laien' eingestuft werden, sind die zu nennenden Störungen auf diese Zielgruppe auszurichten. Die Systematisierung der kritischen Ereignisse erfolgt in zeitlicher Gliederung basierend auf den einzelnen Gesprächsphasen. Neben der Benennung der Störungen werden so weit möglich Interventionsvorschläge skizziert, welche als Heuristik zu verstehen sind, wie mit den Hindernissen umgegangen werden kann. Diese Darstellungen haben weder allgemeingültigen Charakter, noch erheben sie den Anspruch auf Vollständig65 keit. Gesprächseröffnung: Die Konfliktparteien formulieren Bedingungen, welche mit den Kernpunkten des Vermittlungsansatzes nicht vereinbar sind. Zunächst gilt es, diese Hindernisse zu akzeptieren: - Die Gründe für die Bedingungen der Konfliktparteien erfragen. - Der Gesprächsleiter soll sodann begründen, welche Elemente der Bedingungen aus welchen Gründen mit der Klärungshilfe nicht vereinbar sind. - Die vereinbarten Elemente sind, soweit möglich, 'wegzukontraktieren'. - Falls die Forderungen der Konfliktparteien grundlegende Antezedensbedingungen betreffen, welche mit 'Mini-Kontrakten' nicht geklärt werden können, führt dies zu einem vorläufigen Abbruch der Zusammenkunft. Selbstklärung: Diejenige Konfliktpartei, welche bei der Selbstklärung des anderen zuhören muss, mischt sich (mehrmals) ein. Je mehr Druck die Gegenpartei ausübt, desto schneller müssen die Einmischungen gestoppt werden: - Seitens des Gesprächsleiters einen Hinweis geben, dass die betreffende Partei nachher die Möglichkeit hat, ihre Sichtweise zu schildern. - Auf die Ziele der Selbstklärung hinweisen (der Gesprächsleiter muss beide Parteien verstehen können) und betonen, dass durch das Einmischen der Gegenpartei diese Zielsetzung gefährdet ist. - Die 'störende' Konfliktpartei mit den eigenen inneren Reaktionen und Gefühlen des Gesprächsleiters in Form einer 'Ich-Botschaft' konfrontieren. 65
'Fehler', welche dem Gesprächsleiter unterlaufen können, jedoch nicht als kritisches Ereignis im engeren Sinne gelten, werden bei THOMANN (2004) sowie bei THOMANN UND PRIOR (2007) beschrieben.
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Falls die vorherigen Interventionen zwecklos sind, der 'störenden' Konfliktpartei einen Block und einen Stift in die Hand geben und sie auffordern, alles aufzuschreiben, was sie sagen möchte. Die Konfliktpartei fühlt sich mit dieser Intervention ernst genommen und ist gleichzeitig mit dem Aufschreiben beschäftigt. Im Notfall der 'störenden' Partei den Vorzug geben, falls die andere Konfliktpartei damit einverstanden ist.
Eine Konfliktpartei verweigert das Gespräch zur Selbstklärung. - Die Gesprächsverweigerung ist Ausdruck von Angst und Unsicherheit. Es gilt sie zu akzeptieren (z. B.: "Ich akzeptiere, dass Sie sich weigern, sich zu äussern. Sie haben Ihre Pflicht erfüllt, indem Sie hierhergekommen sind."). - Überredungsversuche des Gesprächsleiters wären kontraproduktiv, weil sie den Druck noch zusätzlich erhöhen würden. Sinnvoller ist die Intervention, den Betreffenden bitten, einfach nur zuzuhören. Er wird die selbst auferlegte Bedingung nicht lange aushalten können und wird sich in der Regel zu Wort melden. "Meiner Erfahrung nach äussern sich im Lauf der Klärung alle, auch wenn sie das nicht von Anfang an vorhatten" (THOMANN 2004, S. 66). Die beiden Konfliktparteien sind durch die Atmosphäre des Zuhörens so angeregt, dass diese miteinander verhandeln wollen, bevor der Gesprächsleiter alles verstanden hat. - In der Selbstklärungsphase ist kein Dialog zuzulassen. Die Konfliktparteien auf die Ziele der Phase hinweisen. - Die Lösungsideen nicht aufnehmen, sondern bei der Selbstklärung weiterfahren. Wenn die Konfliktparteien so einfach nachhaltige Lösungen finden würden, dann hätten sie das auch ohne neutrale Instanz bewerkstelligen können. Offensichtlich war dies nicht der Fall, ansonsten der Vermittler nicht angefragt worden wäre. Dialog: Der Gesprächsleiter lässt sich dazu verleiten, mit einem 'leichten' Thema zu beginnen. Die Überlegung könnte sein, dass der Gesprächsleiter zuerst mit der Methode und den beiden Konfliktparteien vertraut werden möchte. "Das kann allerdings fatale Folgen haben, weil es entweder nichts bringt und damit die Klärungsmotivation senkt oder dabei den Hauptkonflikt unkontrolliert als Nebenkriegsschauplatz explodieren lässt" (THOMANN 2004, S. 168). - In der Überleitung von der Selbstklärung in die Dialogphase die Möglichkeit eins oder zwei der dritten Möglichkeit vorziehen. - Unabhängig von der gewählten Variante sind die beiden Grundsätze 'Schwieriges vor Einfachem' und 'Akutes vor Chronischem' im Auge zu behalten. Parteilichkeit: Der Gesprächsleiter erlebt eine starke Empathie oder Antipathie gegenüber einer Partei, welche seine Allparteilichkeit in Frage stellt. Die erlebte Parteilichkeit darf nicht verdrängt oder ignoriert werden, sondern soll zur Allparteilichkeit entwickelt werden. - Massnahmen bei der weniger sympathischen Partei: Um deren Position besser verstehen und akzeptieren zu können, ist es sinnvoll, diese Partei häufiger zu doppeln, ihr intensiver
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aktiv zuzuhören, vermehrt nachzufragen oder gegebenenfalls nochmals in die Phase der Selbstklärung zurückzugehen. Massnahmen beim Gesprächsleiter: Wenn die vorherigen Massnahmen keine Verbesserung der Situation bringen, kann der Gesprächsleiter den Raum kurzzeitig verlassen und sich besinnen. Dabei geht es um die eigene Selbstklärung, mit welchen Themen aus welchen Gründen der Gesprächsleiter offensichtlich nicht umgehen kann. Ergänzend kann er den Eigenanteil an der Parteilichkeit durch Intervision oder Supervision nach dem Gespräch erforschen. Als 'Notfallmassnahme' bei völliger Blockierung muss der Gesprächsleiter seine erlebte Parteilichkeit im Sinne einer metakommunikativen Intervention während des Klärungsgesprächs thematisieren. Anschliessend muss geprüft werden, ob das Gespräch noch fortgesetzt werden kann.
Der Gesprächsleiter fühlt sich von der Wahrheit peinlich berührt oder beschämt und versucht, diese zu verdrängen oder zu verdecken. - Obschon sich der Gesprächsleiter in die Situation der Konfliktparteien einfühlen muss, darf diese Empathie nicht unabgegrenzt erfolgen. Er darf sich nicht für die Themen der Konfliktparteien verantwortlich fühlen und sich von diesen vereinnahmen lassen. Als Mittel können wiederum die oben genannten Massnahmen gelten (Raum verlassen, Selbstreflexion, Intervision, Supervision, metakommunikative Intervention). - Als präventive Massnahme muss der Gesprächsleiter seine persönliche Konfliktgeschichte kennen, verstehen und selbst akzeptieren können. Unakzeptierte eigene Persönlichkeitsanteile erschweren das Klären von Konflikten bei Drittpersonen. Der Gesprächsleiter sucht nach Lösungen statt nach Klarheit und intersubjektiver Wahrheit. Der Gesprächsleiter muss die Lösungslosigkeit aushalten können, obschon ihm das möglicherweise schwer fällt. Er unterliegt gegebenenfalls selbst einem inneren Erfolgs- oder Prestigedruck. Zudem wirkt der äussere Druck der Konfliktparteien. Auch diese werden mit der Lösungslosigkeit nur schwer umgehen können. Dies trifft insbesondere auf Personen in Führungspositionen zu, welche es gewohnt sind, schnell und effizient Entscheidungen zu treffen. Sie wollen "in einer Flucht nach vorn möglichst schnell durch dieses Feuer der Unklarheit, der Probleme, der Konflikte hindurch" (THOMANN 2004). Der Gesprächsleiter wird folglich innerlich und äusserlich unter Druck gesetzt. - Kritisch sein und die vorschnellen Lösungsversuche und Zugeständnisse der Konfliktparteien auf ihre intersubjektive Glaubhaftigkeit prüfen lassen. - Gegebenenfalls die Lösungsidee für die nächste Phase aufheben und zum Dialog zurückgehen. - Die Wünsche durch dialogisches Doppeln in Vorwürfe umformulieren. - An der Suche nach Klarheit festhalten, indem der Gesprächsleiter neue (noch nicht besprochene) Themen in den Dialog einbringt und die Konfliktparteien ergänzend mit den Kernaussagen aus der Selbstklärung konfrontiert.
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Der Gesprächsleiter gibt sich mit Andeutungen zufrieden. Wenn der Gesprächsleiter nicht konsequent präzise und genau arbeitet und Aussagen akzeptiert, welche lediglich angedeutet werden oder er selbst nicht vollständig versteht, wird die Klärung scheitern. - Anhand der kommunikativen Grundfertigkeiten (Aktives Zuhören, präzisierend nachfragen, konkrete Beispiele erfragen) unbeirrt das Ziel der Klarheit und intersubjektiven Wahrheit anstreben. Mithilfe des Dialogisierens und insbesondere des dialogischen Doppelns die Verletzungen hinter den Anschuldigungen und Vorwürfen herausarbeiten. Dies verlangt bei dem Gesprächsleiter nach einer taktvollen Entschlossenheit, einer verständnisvollen Direktheit und einer feinfühligen Unerschrockenheit. Der Dialog wird zum Schlagabtausch. Das Entstehen dieses kritischen Ereignisses muss sich der Gesprächsleiter grösstenteils selbst zuschreiben. Der Dialog soll ein verlangsamter, vertiefender, sequenzierter Streitdialog sein. Verliert der Gesprächsleiter die Leitungsoberhand, kann die Dialogphase jedoch schnell in einen eskalierenden Streit übergehen. - Als Sofortmassnahme die Konfliktparteien mit einem lauten 'STOPP' unterbrechen. - Den Sinn und Zweck der Dialogphase nochmals erklären. - Die Konfliktparteien ergänzend darauf hinweisen, dass sie aus eigener Erfahrung wissen, dass diese Art der Kommunikationsgestaltung zu keinen nachhaltigen Lösungen führt. Ansonsten wären sie jetzt nicht in dieser Konfliktklärungssituation. - Durch eine kurze Zwischenzusammenfassung der letzten Äusserungen den Dialog wieder aufnehmen und mithilfe des Dialogisierens und Doppelns weiterführen. Der Gesprächsleiter entschuldigt sich bei Tränen. Nicht selten kommt es vor, dass eine Konfliktpartei während der Dialogphase in Tränen ausbricht. Dies ist für den Gesprächsleiter kein Grund, sich zu entschuldigen, weil er sich damit in eine Verantwortungsübernahme begibt, welche nicht in seinem Hoheitsgebiet liegt. Vielmehr muss der Gesprächsleiter durch seine Präsenz die Akzeptanz für die Situation verbal und nonverbal ausdrücken. Wie ganz allgemein in der Dialogphase soll der Gesprächsleiter auch bei Tränen keine Emotionskontrolle, sondern Emotionsakzeptanz fordern. Auch hier muss er zeigen können, dass er Leiter des Prozesses ist. - Der Gesprächsleiter soll ruhig bleiben, keine Hektik zeigen, sondern nonverbal die Akzeptanz des 'So-Seins' ausdrücken. - Gegebenenfalls können Tränen verbal in die Situation eingebunden werden. "Und das Gefühl, das jetzt aufkommt und das wir nicht stören sollten, gehört einfach zu diesem Teil der Wahrheit dazu" (SCHULZ VON THUN, zit. in THOMANN & PRIOR 2007, S. 266). - Danach hat der Gesprächsleiter zu schauen (auch wörtlich), wie es dem Weinenden geht und was mit den Tränen ausgedrückt wird. Erst dann wird der Dialog weitergeführt. Erklärungen und Lösungen: Die Konfliktparteien formulieren einseitige Schuld und Eskalationszuweisungen. Die Schuld an einem Konflikt darf nicht überwiegend einer Partei zugeschrieben werden, auch wenn die Parteien dies so sehen. Genauso verhält es sich mit der Eskalation des Konflik-
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tes. Auch sie hat keinen feststellbaren Anfangspunkt bei einer Konfliktpartei (vgl. WATZLAWICK et al. 2001, S. 35f.). - Bei der Erklärungs- und Lösungssuche geht es nicht um Schuld- oder Anfangssuche, sondern um das Bewusstwerden der psychischen und zwischenmenschlichen Mechanismen, der Regeln und Muster, welche das Konfliktgeschehen vorangetrieben haben. - Der Gesprächsleiter muss die Beteiligung beider Konfliktparteien im Blickfeld haben. Nur so werden auch beide Parteien bereit sein, ihren Teil an Selbstverantwortung zu übernehmen. Fühlt sich eine Partei als 'Opfer' und die andere als 'Täterin', wird nur die Täterin gewillt sein, etwas an der Situation zu verändern. Dies führt zu monokausalen Lösungen. Die Konfliktparteien formulieren idealisierte, abstrakte Lösungen. Der Gesprächsleiter darf sich von der positiven, eventuell sogar euphorischen Stimmung nicht mitreissen und blenden lassen. Insbesondere wenn das zwischenmenschliche Klima versöhnlich und friedvoll ist, ist die Gefahr gross, dass idealisierte Wünsche formuliert werden. - Der Gesprächsleiter muss die zwar unangenehme, aber wichtige Rolle des 'critical friend' übernehmen, indem er die Belastungen des Alltags in die Lösungssituation hineinträgt. - Abstrakte Vorschläge ('ab jetzt machen wir alles ganz anders', 'in Zukunft werde ich offener und toleranter sein') darf der Gesprächsleiter nicht akzeptieren, "weil sie psychologisch nicht realistisch und so nicht direkt erfüllbar, sondern bloss Schönwetterhoffnungen sind" (THOMANN 2004, S. 214). Er muss die Konfliktparteien herausfordern Abstraktes zu konkretisieren, Wünsche in 'messbare' Massnahmen zu transformieren und unklare Absprachen in genau definierte Handlungsschritte und Verantwortlichkeiten zu überführen. - Die Vereinbarungen werden sinnvollerweise schriftlich festgehalten. Dies ist nicht ein Ausdruck des Misstrauens, sondern soll die Abmachungen und Bedingungen stabilisieren. Die Konfliktparteien formulieren keine Lösungsideen. Diese Situation ist zunächst noch nicht als kritisch zu sehen, solange die Konfliktparteien lediglich eine Anschubleistung benötigen (z. B. paradoxe Intervention, Reframing). Bleiben diese Interventionen allerdings ohne Wirkung, ist dies ein Zeichen dafür, dass offensichtlich wichtige Themen noch unausgesprochen sind. - Zurückkehren in die Phase der Selbstklärung. - Die Dialogphase nochmals aufnehmen und vertiefen. Die Erklärungen des Gesprächsleiters in der Erklärungs- und Lösungsphase sind kein Ersatz für das Fühlen, Erkennen, Bewusstwerden und Akzeptieren seitens der Konfliktparteien. "Der einzige Weg hinaus, führt hindurch" (THOMANN 2007). - Das Klärungsgespräch abbrechen und ein Folgetreffen vereinbaren. Gesprächsabschluss: Der Gesprächsleiter lässt einen nochmaligen inhaltlichen Einstieg zu. - In der Abschlussphase darf der Gesprächsleiter keine inhaltlichen Diskussionen über den Konflikt oder das Vorgehen zulassen. Er soll das Feedback lediglich entgegennehmen und nicht Stellung beziehen oder sich verteidigen wollen.
142
Explikation des Gegenstandsbereichs
7.2.7
Wertausrichtung
Die folgenden Darstellungen beschreiben die anzustrebende Wertausrichtung des Gesprächsleiters im Rahmen von Konfliktklärungssituationen. Diese Wertigkeit weist einen prozessualen Charakter auf, wie sie im Kapitel 7.2.5 (S. 121) aufgenommen wurde. Darüber hinaus bezieht sich die Konfliktklärung immer auch auf bestimmte Personen und deren Inhalte. Diese beiden Dimensionen erlauben als Bezugspunkte eine Wertereflexion, welche mithilfe des Werte- und Entwicklungsquadrats (SCHULZ VON THUN 2007b, S. 40ff.) als Strukturierungshilfe visualisiert werden kann. REDLICH UND MIRONOV (2003) setzen für die Klärungstätigkeit eine Person voraus, "die ihre Vertrauenswürdigkeit bei den Konfliktpartnern […] durch eine souveräne Integration von Konfrontationsfähigkeit und respektvoll-wertschätzender Grundhaltung laufend unter Beweis stellt" (2003, S. 277). Die Theorie der Klärungshilfe basiert bezüglich des Umgangs mit den Konfliktparteien und deren Inhalten auf diesem positiven Spannungsverhältnis zwischen 'Akzeptanz' und 'Konfrontation' (siehe Abbildung 19). Akzeptanz bedeutet, dass der Gesprächsleiter den Konfliktparteien innerlich eine Chance geben muss. Die Handlungen der Kontrahenten (z. B. öffnen fremder Briefe, Abhöraktionen, psychische und physische Gewalt etc.) müssen nicht akzeptiert werden, jedoch ihre Motive. "Diese müssen durch den Klärungshelfer gesehen, erkannt und akzeptiert werden" (THOMANN 2007). Abbildung 19: Werte- und Entwicklungsquadrat bezüglich der Konfliktparteien und ihrer Inhalte
Akzeptanz taktvoll, empathisch, feinfühlig, liebevoll, sanft, ruhig, verständnisvoll
Positives Spannungsverhältnis
Einseitige Übertreibung Unterwürfigkeit leichtgläubig, naiv, vorbehaltlos, schüchtern, ängstlich, harmonisierend, heuchlerisch, schonend, tröstend
Konfrontation direkt, unerschrocken, genau, präzise, klar, vor nichts zurückschreckend, entschlossen Einseitige Übertreibung
Konträre Entwicklungspfade
Überheblichkeit besserwisserisch, privat neugierig, inquisitorisch, autoritär, herabsetzend, eigensinnig, dogmatisch, befehlerisch
Der Gesprächsleiter muss sich taktvoll in die Situation der Betroffenen hineinversetzen können. Er muss die Welt aus ihrer Perspektive verstehen. Erst auf der Grundlage der Akzeptanz dessen, wie ein Mensch fühlt und sich gegen aussen zeigt, kann eine Konfrontation stattfinden. "Beides ist wichtig, gehört zusammen und ergibt die Möglichkeit zur Veränderung. Akzeptanz allein unterstützt alles, leider auch neurotische und die Wahrheit verschleiernde Tendenzen. Konfrontation allein bewirkt Widerstand, Blockade, Rückzug und Abbruch des Kontakts" (THOMANN 2004, S. 35). Damit bringt THOMANN das Spannungsverhältnis dieser beiden positiven Werte deutlich zum Ausdruck. Ein Gesprächsleiter kann nicht zeitgleich konfrontierend und akzeptierend, sanft und unerschrocken etc. agieren. Je nach Sequenz
143
7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
kommt ein Wert stärker zum Ausdruck. Ohne dieses ständige Ausbalancieren verkommt die Akzeptanz zur einer Unterwürfigkeit und die Konfrontation zu einer Überheblichkeit. Gleichermassen wie der Umgang mit den Betroffenen und deren Inhalten folgt die Prozessgestaltung ebenfalls einer dynamischen Balance (siehe Abbildung 20). Abbildung 20: Werte- und Entwicklungsquadrat bezüglich der Prozessgestaltung
Situationsorientierung Akzeptanz flexibel, taktvoll, ungeplant, empathisch, anpassungsfähig, feinfühlig, liebevoll, spontan, sanft,beweglich, ruhig, verständnisvoll kreativ
Positives Spannungsverhältnis
Einseitige Übertreibung Unterwürfigkeit Kontrollverlust leichtgläubig, naiv, vorbehaltlos, gestaltlos, formlos, chaotisch, konfus, schüchtern, ängstlich, harmonisierend, unübersichtlich, wirr, planlos, zerfahren heuchlerisch, schonend, tröstend
Modellorientierung Konfrontation strukturiert, geplant, geordnet, direkt, unerschrocken, entschlossen, unbeirrt, genau, präzise, klar, vor nichts bestimmt, stabil,entschlossen lenkend zurückschreckend, Einseitige Übertreibung
Konträre Entwicklungspfade
Sturheit Überheblichkeit störungsignorant, besserwisserisch, privatstreng, neugierig, reglementierend, zügig, starr, inquisitorisch, autoritär, herabsetzend, unduldsam, unerbittlich eigensinnig, dogmatisch, befehlerisch
Der Gesprächsleiter sollte flexibel, ungeplant, beweglich, kreativ und spontan handeln können. Eine ausschliessliche Orientierung an diesem Wertesystem würde allerdings mit grosser Wahrscheinlichkeit zu einem Kontrollverlust führen. Eine planlose, formlose, chaotische oder wirre Prozessgestaltung überfordert sowohl den Gesprächsleiter als auch die Konfliktparteien. Die Flexibilität endet dann, wenn die Arbeitsfähigkeit des Klärungshelfers gefährdet ist. Deshalb ist neben der Situationsorientierung gleichberechtigt eine Modellorientierung zu fordern. Diese Wertbasis ermöglicht die notwendige Strukturierung und Ordnung im Prozessverlauf, indem die Handlungsrichtung geordnet, stabil, bestimmt und lenkend wirken kann. Der Klärungshelfer soll sich an einem 'roten Faden' festhalten. Er kann diesen flexibel anpassen, darf ihn aber nicht loslassen. Insbesondere in anspruchsvollen Klärungssituationen wird hiermit sichergestellt, die Zielperspektive nicht aus dem Blickwinkel zu verlieren. Dennoch muss der Gesprächsleiter darauf bedacht sein, dass potenziell in jeder Klärungssituation unvorhersehbare Spezifika auftreten können, welche ein ungeplantes Agieren und Reagieren erfordern. Das 'Festklammern' an den Planungen kann zu einem sturen, unduldsamen und unerbittlichen Verhalten führen. Für einen Gesprächsleiter ist es wesentlich, ob die Konfliktparteien ihn in seiner Rolle akzeptieren: Nicht selten fühlt er sich von den Konfliktparteien angegriffen, weil diese ihm beispielsweise vorwerfen, dass er zu jung sei, von der Branche nichts verstehe oder sich gegenüber einer Person parteilich und unfair verhalte. Gelingt eine innere Abgrenzung gegenüber solchen Signalen nicht, dürfen diese zwischenmenschlichen Störungen nicht zugunsten einer Modellorientierung ignoriert werden, sondern verlangen nach einem beweglichen Tun oder Handeln. "Ist die Beziehung zwischen dem Klärungshelfer und einer Konfliktpartei aber im Gefühl des Klärungshelfers tatsächlich gestört, dann muss das sofort zum Hauptthema werden" (THOMANN 2004, S. 36). Der anvisierte Zielpfad ist kurz-
144
Explikation des Gegenstandsbereichs
fristig für eine metakommunikative Intervention zu verlassen. Die Herausforderung in der Prozessgestaltung ist zusammenfassend darin zu sehen, dass es dem Gesprächsleiter gelingt, das Wechselspiel zwischen Flexibilität und Ordnung, Spontanität und Stabilität, Lenkung und Beweglichkeit als dynamische Balance konstruktiv zu gestalten. 7.3
Handlungsanforderungen
Nach der eingehenden Analyse des Situationstyps im vorhergehenden Kapitel 7.2 werden im Folgenden die Handlungsanforderungen für den Gesprächsleiter interpretativ abgeleitet. Sie zeigen die Kompetenzanforderungen in den Dimensionen Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen zur erfolgreichen Bewältigung des Situationstyps (vgl. Phase 4, Abbildung 7, S. 53). Der Zusammenhang zwischen einem Situationstyp und den Kompetenzanforderungen ist ein interpretativer, weil der Möglichkeitsraum prinzipiell eine nahezu unbegrenzte Ausdifferenzierung erlauben würde. Deshalb gilt es, jene Aspekte hervorzuheben, welche als Anforderungen für die Kompetenzbestimmung als besonders bedeutsam beurteilt werden (EULER & BAUER-KLEBL 2006, S. 29). Die unvermeidliche Auswahlentscheidung orientiert sich darüber hinaus an den folgenden Gesichtspunkten: - Die Benennung der Kompetenzanforderungen erfolgt in enger Anbindung an die Ausführungen zum Situationstyp. - Damit einhergehend wird die Zielgruppe (Studierende der Bachelorstufe der Universität St. Gallen) mitberücksichtigt. - Die Formulierung der Kompetenzanforderungen erfolgt auf einem mittleren Abstraktionsniveau in verdichteter Form. Es sei an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen, dass die drei genannten Handlungsdimensionen miteinander verwoben sind. Die Zuweisung lässt sich folglich nicht in jedem Fall ohne Schwierigkeiten bewerkstelligen. In Grenzfällen wird eine bestimmte Handlungsanforderung derjenigen Dimension zugewiesen, welcher die stärkste Bedeutung zugemessen wird. 7.3.1
Wissen
Als Anforderungen in der Handlungsdimension 'Wissen' können die Folgenden hervorgehoben werden: - den Konfliktbegriff anhand der konstitutiven Merkmale erläutern, von unvereinbaren Handlungstendenzen abgrenzen und die daraus resultierende Bedeutung für eine Konfliktklärung ableiten - die seelischen Faktoren als innerpsychische Gegebenheit erläutern und deren innere und äussere Wirkungsmechanismen verstehen - innere, zwischenmenschliche und sachliche Themenbereiche als Aspekte des Konflikterlebens abgrenzen und den praktischen Verwendungszweck einer solchen Systematisierung zur Konfliktdiagnose erkennen - die Produkt- und Prozessziele einer Konfliktklärung abgrenzen und mit den eigenen Zielvorstellungen kontrastieren - eine konfliktäre Situation hinsichtlich den Antezedensbedingungen des Situationstyps beurteilen:
7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
145
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die Eskalationsstufen eines vorliegenden Konfliktes identifizieren die Relevanz des Auftrags für eine delegierte Konfliktklärung erkennen die persönlichen Kompetenzen einschätzen die Klärungsakzeptanz des Vorgesetzten und die Klärungsfähigkeit der Konfliktparteien prüfen - die gleichzeitige Anwesenheit des Vorgesetzten und der Konfliktparteien sowie eine ungestörte Arbeitsatmosphäre sicherstellen anhand der Antezedensbedingungen prüfen, ob die Theorie der Klärungshilfe als Vermittlungsansatz angebracht ist die Interventionsschwerpunkte der Theorie der Klärungshilfe erläutern und deren Möglichkeiten und Grenzen beurteilen die generischen Aufgaben, Funktionen und Stilmerkmale des Gesprächsleiters erläutern sowie deren Bedeutung für die Zielerreichung der Konfliktklärung begründen die Grundhaltungen und die damit verbundenen Verhaltensmuster (Konfliktstile) der Konfliktparteien erläutern und vergleichen sowie hinsichtlich ihres Einflusses auf die Konfliktklärung beurteilen die generelle Handlungsstrategie der Klärungshilfe als Vermittlungsansatz erläutern sowie die Phasen eines Konfliktklärungsgesprächs modellorientiert planen und einzelne Handlungsschritte gegebenenfalls situativ anpassen die Zwischenziele, Rollenmodelle und Handlungsschritte der einzelnen Prozessphasen erläutern sowie deren Bedeutung für die Zielerreichung der Konfliktklärung begründen die Logik sozialer Situationen verstehen und deren Bedeutung als Strukturierungshilfe zur Gesprächseröffnung erkennen hinter den Vorwürfen und Anschuldigungen der Konfliktparteien (Du-Botschaften) die Not und Verletzungen erkennen die Konzepte des Aktiven Zuhörens und Ich-Botschaften verstehen das Modell des Kommunikationsquadrates zwecks Artikulation und Interpretation verstehen die Bedeutung, Struktur und Funktion eines sequenzierten, verlangsamten Dialoges verstehen die unterschiedlichen Funktionen von Emotionen in Konfliktsituationen verstehen, diese anhand des Modells der emotionalen Schichtigkeit des Menschen identifizieren und zur Klärung gezielt nutzen systemische Modelle im Hinblick auf ihr Erklärungspotenzial in Konfliktklärungssituationen beurteilen und zielgerichtet anwenden die Bedeutung von paradoxen Interventionen und Reframing-Techniken zwecks Anschub zur Lösungsfindung erkennen potenziell kritische Ereignisse während der Klärungsarbeit identifizieren sowie präventive und kurative Massnahmen entwerfen
7.3.2
Fertigkeiten
In der Handlungsdimension 'Fertigkeiten' werden die folgenden Aspekte als besonders bedeutsam beurteilt:
146 -
-
Explikation des Gegenstandsbereichs
die Leitungsoberhand des Gesprächsleiters etablieren sowie die strukturellen Rahmenbedingungen festlegen über Hindernisse mit den Konfliktparteien 'real verhandeln' und zwischenmenschliche 'Mini-Kontrakte' abschliessen den Konfliktparteien aktiv Zuhören (Aufmerksamkeit signalisieren, präzisierend nachfragen, paraphrasieren und verbalisieren) nach konkreten Beispielsituationen fragen Vorwürfe und Anschuldigungen der Konfliktparteien als Ich-Botschaften umformulieren die persönlichen, zwischenmenschlichen und sachlichen Themen des Konfliktgeschehens sowie die (verborgenen) Wünsche der Konfliktparteien erfassen und priorisieren die Äusserungen der Konfliktparteien auf den vier Ebenen des Kommunikationsquadrates interpretieren 'quadratische Fragen' zielgerichtet artikulieren die Aussagen der Konfliktparteien neutral und gleichberechtigt zusammenfassen den Konfliktparteien ein persönliches, wertschätzendes Feedback geben (exemplarisch GEHM 2006, S. 128ff.; SCHULZ VON THUN 2007a, S. 69ff.) wenn die Klärungszuversicht der Konfliktparteien temporär einbricht, inhaltliche Zwischenerklärungen systemisch formulieren im Falle von Störungen zwischen dem Gesprächsleiter und den Konfliktparteien: diese mithilfe metakommunikativer Aussprachen klären den Gesprächsprozess moderieren und einen sequenzierten, verlangsamten Dialog situativ adäquat gestalten die Technik des Dialogisierens und dialogischen Doppelns bewusst und zielgerichtet vollziehen anhand kognitiver Verdichtungen und systemischer Erklärungen die Akzeptanz für die Konfliktsituation schaffen die Lösungsentwicklung mithilfe geeigneter Brainstorming- oder Brainwriting-Techniken moderieren und gegebenenfalls durch paradoxe Interventionen oder ReframingTechniken mit der nötigen Zurückhaltung unterstützen wenig konkrete Lösungsansätze in konkrete, messbare Strukturen und Prozesse transformieren Lösungen und Vereinbarungen hinsichtlich ihrer Alltagstauglichkeit kritisch bewerten Abmachungen, Bedingungen und Handlungsschritte zur Umsetzung schriftlich dokumentieren präventive und kurative Massnahmen bezüglich kritischer Ereignisse während der Klärungsarbeit einleiten
7.3.3
Einstellungen
Wesentliche Handlungsanforderungen in der Handlungsdimension 'Einstellungen': - die Vorbehalte, Widerstände und Grundhaltungen der Konfliktparteien gegenüber der Konfliktklärungssituation als gegebene Ausgangspunkte oder Grenzen akzeptieren - die Motive der Konfliktparteien für ihre Handlungen sehen, erkennen und akzeptieren - die Konfliktparteien aus ihrer Perspektive verstehen wollen
7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
-
147
bereit sein, sich taktvoll in die Situation der Betroffenen hineinzuversetzen bereit sein, die Konfliktparteien direkt und unerschrocken zu konfrontieren bereit sein, 'Störungen' den Vorrang zu geben und den Prozessverlauf flexibel und beweglich zu gestalten, solange die Arbeitsfähigkeit des Gesprächsleiters nicht gefährdet ist bereit sein, an den Zielsetzungen der Konfliktklärung festzuhalten und den Gesprächsverlauf dementsprechend geordnet, stabil und bestimmt zu strukturieren gegenüber den Konfliktparteien und deren Inhalten die innere Abgrenzung wahren und gleichzeitig an der Allparteilichkeit festhalten der Gesprächsleiter muss seine eigene Konfliktgeschichte kennen und akzeptieren können, wenn er die Konfliktparteien und deren Inhalte akzeptieren will
7.3.4
Zusammenfassung
Das Kapitel 7 realisiert die beschriebene Vorgehensweise zur Bestimmung von Handlungskompetenzen (vgl. Abbildung 7, S. 53, Phasen 2 bis 4). Nach dem Zuschnitt des Situationstyps erfolgte dessen inhaltliche Erfassung. Die Abbildung 21 führt die wesentlichen Kernmerkmale schematisch zusammen. Abbildung 21: Zusammenfassende Darstellung des Situationstyps
Situationstyp: Klärung von Konflikten auf einer mittleren Eskalationsstufe zwischen zwei Konfliktparteien im beruflichen Kontext durch eine nicht konfliktbeteiligte Antezedensbedingungen " Konflikt auf mittlerer Eskalationsstufe zu inneren, zwischenmenschlichen und sachlichen Themen " Auftrag für eine Konfliktklärung " Wille und Fähigkeit des Gesprächsleiters " Klärungsakzeptanz des Vorgesetzten und Klärungsfähigkeit der Konfliktparteien " Anwesenheit des Vorgesetzten und der Konfliktparteien " ungestörte Arbeitsatmosphäre
Akteure, soziale Aufgaben, Rollenmodelle " konstruktive/destruktive Rollenmodelle der Konfliktparteien " Einstellungen und Konfliktstile der Konfliktparteien " der Gesprächsleiter als Berater, Moderator, aktiver Zuhörer, Klärer, Erklärer etc. " Attitüden und seelische Faktoren als Anknüpfungsmomente für Interventionen " prozessuale Verantwortung und Durchsetzungsmacht " Kontakt zwischen den Konfliktparteien zur Förderung der Selbsttätigkeit wieder aufbauen " generische Funktionen des Gesprächsleiters: verstehen, unterstützen, anregen, aktivieren, akzeptieren, konfrontieren, Widerstände ernst nehmen, direkt und unerschrocken klären
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Explikation des Gegenstandsbereichs
Zusammenfassende Darstellung des Situationstyps (Fortsetzung)
Zeitlicher Ablauf (Phasen)
Gesprächseröffnung
Selbstklärung
Dialog
Erklärungen und Lösungen
Wertausrichtung " bereit sein, sich taktvoll in die Situation der Betroffenen hineinzuversetzen " bereit sein, die Konfliktparteien direkt und unerschrocken zu konfrontieren " bereit sein, den Prozessverlauf flexibel und beweglich zu gestalten " bereit sein, den Gesprächsverlauf geordnet und stabil zu strukturieren
Gesprächsabschluss
Absichten " Klärung der Vergangenheit und Gegenwart durch intersubjektive Wahrheit " Festlegung von konkreten, transferorientierten Absprachen
Kritische Ereignisse " die Konfliktparteien formulieren Bedingungen, welche mit den Kernpunkten des Vermittlungsansatzes nicht vereinbar sind " diejenige Konfliktpartei, welche bei der Selbstklärung des anderen zuhören muss, mischt sich (mehrmals) ein " grundsätzliche Gesprächsverweigerung zur Selbstklärung " die beiden Konfliktparteien sind durch die Atmosphäre des Zuhörens so angeregt, dass diese miteinander verhandeln wollen, bevor der Gesprächsleiter alles verstanden hat " der Gesprächsleiter lässt sich dazu verleiten, mit einem 'leichten' Thema zu beginnen " der Gesprächsleiter erlebt eine starke Empathie/Antipathie gegenüber einer Partei, welche seine Allparteilichkeit in Frage stellt " der Gesprächsleiter fühlt sich von der Wahrheit peinlich berührt und versucht, diese zu verdrängen oder zu verdecken " nach Lösungen statt nach der Klarheit und intersubjektiven Wahrheit suchen " der Gesprächsleiter gibt sich mit Andeutungen zufrieden " der Dialog wird zu einem Schlagabtausch " der Gesprächsleiter entschuldigt sich bei Tränen " einseitige Schuld- und Eskalationszuweisung " die Konfliktparteien formulieren idealisierte, abstrakte Lösungen oder keine Lösungsideen " Zulassen eines nochmaligen inhaltlichen Einstiegs der Konfliktparteien
7 Präzisierung des Situationstyps 'Konfliktklärung'
149
Die Deskriptionen der Kapitel 7.1 und 7.2 begründen die zu erfüllenden Handlungsanforderungen, welche für die erfolgreiche Bewältigung des Situationstyps angesetzt werden. Die präzisierende Aufarbeitung des Situationstyps bildet zusammen mit den abgeleiteten Handlungsanforderungen eine wichtige Vorleistung für die Planung und Durchführung der Kompetenzdiagnose. Aus dem Vergleich der festgelegten situationstypenspezifischen Handlungsanforderungen mit den Resultaten der Kompetenzdiagnose kann, unter Berücksichtigung normativer Präferenzen sowie allgemeiner Rahmenbedingungen pädagogisch arrangierter Umwelten, der Handlungs- und Förderbedarf abgeleitet werden.
Teil III Forschungsstrategie
Im zweiten Teil wurde der Gegenstandsbereich beschrieben sowie der Stand der Forschung über 'Subjektive Konfliktklärungstheorien' diskutiert. Das damit verbundene Erkenntnisinteresse wird im folgenden dritten Teil in eine konkrete Forschungsstrategie überführt, welche es zu begründen gilt. Diese wird nach RAGIN (1994) wie folgt beschrieben: "Eine Forschungsstrategie ist ein Plan zur Sammlung und Analyse von Anhaltspunkten, welcher es dem Forscher erlaubt, Antworten zu finden – welche Frage er auch immer gestellt haben mag. Das Untersuchungsdesign berührt fast alle Aspekte der Forschung – von den winzigen 66 Details der Datenerhebung bis zur Auswahl der Techniken zwecks Datenanalyse" (S. 191). In der qualitativen Forschung existiert hierzu verständlicherweise kein standardisiertes Vor67 gehen. "No set format exists" (CRESWELL 2007, S. 22). Dennoch sind Kernfragen auszumachen, auf welche das Forschungsdesign eine Antwort geben muss (vgl. FLICK 2005a, S. 253; PUNCH 2005, S. 142): 1. Welche konkreten Forschungsfragen sollen beantwortet werden? 2. Wie wird das empirische Material (Untersuchungseinheit) ausgewählt? 3. Welcher Zugang wird zur Beantwortung der Forschungsfragen gewählt? 4. Mit welchen Instrumenten innerhalb dieses Zugangs werden die Daten erhoben und ausgewertet? 5. Welche Gütekriterien werden zwecks Qualitätssicherung angesetzt? 8
Forschungsrahmen
Die skizzierten Fragestellungen konturieren den Forschungsrahmen und führen zu der in Abbildung 22 dargestellten Ausdifferenzierung der Forschungsstrategie. Diese gestaltet sich konkret wie folgt: Forschungsfragen und Untersuchungseinheiten Ausgehend von dem vorliegenden Gegenstandsbereich, dem diesbezüglichen Stand der Forschung sowie dem Erkenntnisinteresse, werden die Forschungsfragen präzisiert und das Untersuchungsfeld näher bestimmt. Theoretisch-methodologische Perspektive In diesem Schritt folgen theoretisch-methodologische Überlegungen über mögliche Zugänge zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragestellungen, welche eine Gegenstands-
66 67
Übersetzung durch den Autor. PUNCH (2005, S. 134) formuliert drei Bezüge, welche die Diversität qualitativer Forschung ausmachen: die Paradigmata, die Zugänge zu den Daten sowie deren Auswertungsstrategien.
152
Forschungsstrategie
konstituierung befriedigend ermöglichen. Aufbauend auf den Erörterungen zur GegenstandsMethodik-Interdependenz in Kapitel 9.1 wird begründet, weshalb eine aussensichtfundierte Methodik abzulehnen ist (Kap. 9.2) und welche Schwierigkeiten ein innensichtfundierter Zugang mit sich bringt bzw. unter welchen Bedingungen ein solcher erfolgversprechend erscheint (Kap. 9.3). Ausgehend von diesen Bedingungen wird ergänzend um die zentralen Prinzipien qualitativer Forschung (Kap. 9.4) eine Zielvorstellung entwickelt, welcher das Potenzial zugeschrieben wird, die Forschungsfragen gegenstandsangemessen zu beantworten. Abbildung 22: Forschungsprozess
Gegenstandsbereich
Forschungsstand
Erkenntnisinteresse
Paradigmatische Ausrichtung
Kap. 8
Theoretisch-methodologische Perspektive Kap. 9
Methodische Perspektive
Kap. 10
Menschenbild
Forschungsrahmen: Forschungsfragen Untersuchungseinheiten
Begründung und Beschreibung der Forschungsinstrumente Kap. 11
Gütekriterien zur Qualitätsbegründung
Kap. 12
Strategie der Datenauswertung
Kap. 13
Methodische Perspektive Die festgelegte Stossrichtung wird in Kapitel 10.1 zu einem Anforderungskatalog verdichtet, welcher als Analyseheuristik zur adäquaten Auswahl, Bestimmung und Anwendung konkre-
8 Forschungsrahmen
153
ter Datenerhebungsmethoden dient. Bevor potenzielle qualitativ-mündliche Befragungsverfahren kriteriengeleitet diskutiert werden (Kap. 10.3), wird verdeutlicht, was diese Verfahren bezüglich des vorliegenden Gegenstandsbereichs zu leisten vermögen und wo ihre Grenzen anzusetzen sind (Kap. 10.2). Forschungsinstrumente In Kapitel 11 wird der methodische Zugang finalisiert. Die Abgrenzungs- und Integrationsüberlegungen aus dem vorherigen Kapitel münden in einem Datenerhebungsverfahren, welches als problemzentriertes Rekonstruktionsinterview bezeichnet wird. Dieses basiert auf dem problemzentrierten Interview nach WITZEL. Seine Erweiterung umfasst einerseits Elemente aus den Erzählgenerierenden Interviews sowie die Integration von Struktur-LegeTechniken zwecks Abbildung von Introspektionsinhalten und -strukturen. Gütekriterien Das Kapitel 12 widmet sich der Frage nach den für die in der vorliegenden Untersuchung anzusetzenden Kriterien zur Qualitätssicherung. Dabei geht es nicht lediglich darum, potenzielle Gütekriterien auszuweisen, sondern auch darum, deren Auswahl und Bestimmung zu begründen. Strategie der Datenauswertung Die Planung des Forschungsprozesses findet ihren Abschluss in der Darstellung der methodischen Vorgehensweise für die Datenauswertung. In Kapitel 13 werden zwei Auswertungsstränge unterschieden, indem die Erkenntnisgewinnung aus einer idiographischen und nomothetischen Perspektive geschehen soll. Paradigmatische Ausrichtung und Menschenbild Aus dem in Abbildung 22 dargestellten Forschungsprozess wird deutlich, dass die para68 digmatische Ausrichtung nicht an erster Stelle genannt wird. Diese Entscheidung ist wie folgt zu begründen: Jede Forschungstradition konstituiert unterschiedliche erkenntnistheoretische Positionen. Dies könnte bedeuten, dass ein Forscher seinen Forschungsansatz sowie die Forschungsinstrumente im Lichte dieser Positionierungen bestimmen würde. Diese Positionierungen entwickeln eine Vorstellung davon, worauf ein Forscher seine Aufmerksamkeit zu richten hat, wenn er Daten erhebt und interpretiert (exemplarisch LAMNEK 2005, S. 48; O' DONOGHUE 2007, S. 11). Ein alternativer Standpunkt ist darin zu sehen, dass der Forschungsgegenstand und die zu beantwortenden Forschungsfragen die Forschungsstrategie bestimmen (BRYMAN 1999, S. 45ff.). "This view implies that the decision […] should be based on 'technical' issues regarding the suitability of a particular method in relation to a particular research problem" (S. 47). Aus dieser 'technischen' Perspektive gesprochen, richten sich die Methoden zur Datenerhebung und -interpretation direkt an den Forschungsfragen 68
Obschon in der Literatur unterschiedliche Auslegungen des Paradigmabegriffs vorliegen, können in definitorischer Hinsicht gemeinsame Vorstellungen bestimmt werden, welche Paradigmen behandeln "as shared belief systems that influence the kinds of knowledge researchers seek and how they interpret the evidence they collect" (MORGAN 2006, S. 4; siehe hierzu auch O' DONOGHUE 2007, S. 7ff.).
154
Forschungsstrategie
aus – und nicht vorbestimmt an einem Paradigma. Nach PATTON (2002) erlaubt diese Sichtweise sogar "to eschew methodological orthodoxy in favour of methodological appropriateness as the primary criterion for judging methodological quality, recognizing that different methods are appropriate for different situations" (S. 72). Die Forschungsstrategie in Abbildung 22 nimmt eine vermittelnde Position ein. Sie beruht auf der Vorstellung, dass Forschung nicht paradigmatisch geleitet, sondern paradigmatisch reflektiert sein sollte. Damit ein Paradigma seinen Geltungsanspruch reflexiv einlösen kann, ohne hinsichtlich der Wirkung einzuengen, sollte es nicht zu Beginn des Forschungsprozesses abstrakt dargestellt werden, sondern seine Inanspruchnahme muss kontextgebunden erfolgen. Es dient während des gesamten Forschungsprozesses als Leitplanke und Resonanzboden – von der ersten Wahrnehmung des Gegenstandsbereichs bis hin zur Bestimmung von konkreten Methoden und Instrumenten. Damit wird der offenen Haltung gegenüber möglichen Zugängen Rechnung getragen, und gleichzeitig lassen sich die einzelnen Schritte sowie die zu treffenden Entscheidungen innerhalb des Forschungsprozesses fundiert begründen. "Wichtig ist nur, dass das jeweilige Design zur Fragestellung, zum Forschungsgegenstand passt und dass es kompetent, den Regeln der Methodik folgend, durchgeführt wird" (MAYRING 2007, Abs. 12). Als zweite Leitplanke dient in gleicher Funktion das im Kapitel 6 (S. 81) explizierte Menschenbild und seine anthropologischen Kernannahmen. 8.1
Forschungsfragen
Frage 1: Welche Elemente weisen die Subjektiven Theorien für den Situationstyp 'Konfliktklärung' bei der Zielgruppe auf? - Welche Voraussetzungen werden als zwingend erachtet, damit eine Konfliktklärung überhaupt möglich ist? - Worin zeigt sich eine erfolgreiche Bewältigung des Situationstyps auf der Produkt- und Prozessebene? - Welche Werte werden als handlungsleitend erachtet? - Wie gestalten sich die Phasen des Situationstyps? - Welche kritischen Ereignisse werden antizipiert? Mit der Annahme der objektseitigen Verankerung des Situationstyps 'Konfliktklärung' als subjektives Handlungskonzept stellt sich die Frage nach seiner psychischen Realgeltung. Es ist empirisch zu prüfen, ob und in welchem Ausmass Personen generell über dieses subjektive Konzept verfügen. Diese erste Forschungsfrage gilt es aus zwei Perspektiven zu beleuchten, womit zwei unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt werden: 1a: Intraindividuelle Perspektive: Die Rekonstruktionen des Situationstyps sollen aus einer idiographischen Perspektive in einer maximalen Detaillierung abgebildet werden, um authentische Einsichten in die Sinnwelten der Erkenntnis-Objekte zu ermöglichen. Hierbei interessieren die individuellen Ausprägungen ausgewählter Einzelfälle in ihrer Komplexität und inneren Konsistenz.
8 Forschungsrahmen
155
1b: Interindividuelle Perspektive Aus einer einzelfallübergreifenden Perspektive soll ein Gesamtbild bezüglich der Rekonstruktionen des Situationstyps bei der Zielgruppe ermöglicht werden. Mit dieser Fragerichtung interessiert die Breite und Unterschiedlichkeit im Hinblick auf die Ausgestaltung der Subjektiven Theorien aller Untersuchungsteilnehmer. Diese Sichtweise geht mit einer Komplexitätsreduktion einher. Hierbei ist von Interesse, welche Elemente der Subjektiven Theorien in welcher Häufigkeit bei der Zielgruppe rekonstruiert werden können. In Ergänzung zu den genannten Teilfragen der Forschungsfrage 1 soll zusätzlich ein besonderes Augenmerk auf die Fertigkeiten gelegt werden, welche im Zusammenhang mit der Bewältigung des Situationstyps im Untersuchungsfeld expliziert werden. Des Weiteren widmet sich die interindividuelle Analyse der Frage, ob zwischen weiblichen und männlichen Untersuchungsteilnehmern signifikante Unterschiede bezüglich der Bewältigung des Situationstyps vorliegen. Frage 2: In welchem Spannungsverhältnis stehen die objektseitigen Verankerungen des Situationstyps im Vergleich zur Theorie der Klärungshilfe? - Welche zentralen Konzepte der Theorie der Klärungshilfe können in den Subjektiven Theorien nicht nachgewiesen werden? - Gibt es wesentliche objektseitige Erweiterungen im Vergleich zur Konfliktklärungstheorie? Inwiefern können diese aus theoretischer oder praktischer Sicht akzeptiert werden? - Gibt es grundsätzliche Diskrepanzen zwischen den beiden Theoriekonzeptionen? Mit dieser Frage soll die Spannweite des Untersuchungsfeldes aus einer idiographischen Perspektive dargestellt werden. Als Bezugsrahmen zur Beurteilung der Subjektiven Theorien auf der Individualebene dient die Theorie der Klärungshilfe. Hierbei interessieren nicht die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Einzelfällen, sondern zwischen den Individualkonzeptualisierungen der Zielgruppe und der 'objektiv-wissenschaftlichen' Modellierung. Frage 3: Inwiefern ist es möglich, eine einzelfallübergreifende, 'interindividuelle Konfliktklärungstheorie' zu modellieren? - Welche Elemente der Subjektiven Theorien lassen sich zu einer interindividuellen Theorie aggregieren? - Welche Repräsentativität und welcher Erklärungsgehalt können einer solchen 'interindividuellen Konfliktklärungstheorie' zugeschrieben werden? Diese Frage zielt auf die verallgemeinernde Aggregation der subjektiven Theorierekonstruktionen, indem der Versuch unternommen wird, eine interindividuelle Konfliktklärungstheorie zu modellieren. Die einzelfallübergreifende Theorie soll für möglichst viele Untersuchungsteilnehmer maximal repräsentativ sein.
156
Forschungsstrategie
Frage 4: In welchem Spannungsverhältnis steht eine 'interindividuelle Konfliktklärungstheorie' mit der 'objektiv-wissenschaftlichen' Modellierung, und welche (inhaltlichen) Handlungsempfehlungen lassen sich im Hinblick auf die Förderung der Konfliktklärungskompetenz durch diese Kontrastierung ableiten? - Welche Elemente der Konfliktklärungstheorie können in der interindividuellen Theorierekonstruktion nicht nachgewiesen werden? - Welche Elemente der interindividuellen Theorierekonstruktion stellen eine Erweiterung der Konfliktklärungstheorie dar? Inwiefern können diese aus theoretischer und praktischer Sicht akzeptiert werden? - Gibt es Widersprüche zwischen den beiden Theoriekonzeptionen? - Welche (inhaltlichen) Handlungsempfehlungen lassen sich hieraus ableiten? Die interindividuelle Konfliktklärungstheorie soll mit der Theorie der Klärungshilfe kontrastiert werden, um differenzierte Aussagen darüber zu erhalten, ob und in welchem Ausmass Übereinstimmungen und Unterschiede vorhanden sind, welche nicht für einen Einzelfall, sondern für das gesamte Untersuchungsfeld annäherungsweise von Relevanz sind. Damit nimmt die Forschungsfrage 4 (im Gegensatz zur Forschungsfrage 2) nicht mehr eine idiographische, sondern eine nomothetische Perspektive ein. Darauf aufbauend sollen (inhaltliche) Handlungsempfehlungen für die Förderpraxis bereitgestellt werden, welche approximativ für die gesamte Zielgruppe von Bedeutung sind. Die Abbildung 23 fasst die Forschungsfragen und ihre gegenseitige Verzahnung graphisch zusammen. Abbildung 23: Forschungsfragen
SubjektiveTheorie Theorie56 Subjektive Subjektive Theorie 4 Subjektive Theorie 3 Subjektive Theorie 2 Subjektive Theorie 1
Forschungsfragen 1a Forschungsfragen 1b Forschungsfragen 2 Forschungsfragen 3 Forschungsfragen 4
Intersubjektive Theorie n=1...j
Theorie der Klärungshilfe
8 Forschungsrahmen
157
Auf das Formulieren von vorab zu testenden Hypothesen wird bewusst verzichtet, um die Zielidee einer sensiblen und offenen Annäherung an den untersuchten Gegenstand aufrechtzuerhalten (vgl. hierzu FLICK 1987b, S. 251f.). Damit ist allerdings nicht gemeint, dass keine Hypothesen formuliert und getestet werden sollen. Vielmehr wird die Auffassung vertreten, dass während der Datenauswertung im Rahmen der gestellten Forschungsfragen Vermutungen auftreten können, welche durch explizite Hypothesen zu operationalisieren und zu überprüfen sind. Mit diesem Vorgehen bleibt sowohl die Nachvollziehbarkeit als auch die Flexibilität der Erkenntnisgewinnung bestehen. 8.2
Bestimmung der Untersuchungseinheiten
Wie bereits erwähnt, untersucht diese Studie Subjektive Theorien zum Situationstyp 'Konfliktklärung' bei Studierenden der Universität St. Gallen. Grundsätzlich wird in der Literatur eine Vielzahl von Herangehensweisen diskutiert, wie die Untersuchungseinheiten zu bestimmen sind (exemplarisch FLICK 2006, S. 122ff.; KELLE & KLUGE 1999/2008, S. 38ff.; KELLE, KLUGE & PREIN 1993, S. 59ff.; LAMNEK 2005, S. 187ff.; MERKENS 2003; D. M. MERTENS 2005, S. 314ff.; PATTON 2002, S. 228ff.; PUNCH 2005, S. 187ff.; WARREN 2002, S. 87f.). Der aus der angelsächsischen Literatur zur qualitativen Forschung stammende Begriff 'Sampling' beschreibt im Allgemeinen 'Auswahlentscheidungen' in einem Forschungsprozess. Solche Entscheide werden nach FLICK (2006, S. 123) in drei unterschiedlichen Phasen des Forschungsprozesses gefällt: - bei der Datenerhebung (Bestimmung der Untersuchungseinheiten) - bei der Datenauswertung (Auswahl der Fälle und der Materialien innerhalb der Fälle, welche in die Auswertung einfliessen) - bei der Darstellung von Ergebnissen (Präsentation des Materials) Während die Auswahl des Materials zwecks Auswertung in Kapitel 12.1 (S. 260) unter dem Aspekt der Gültigkeit diskutiert wird und die Bestimmung des darzustellenden Materials Gegenstand des Kapitels 13.6 (S. 281) bildet, ist im vorliegenden Kapitel der erste Auswahlentscheid von Bedeutung. Die hierzu in der Literatur vorgebrachten Vorschläge lassen sich ziemlich klar zwei Polen zuordnen (FLICK 2006, S. 121ff.): - Der erste Pol beschreibt Ansätze, welche die Bestimmung des Untersuchungsfeldes im Voraus festlegen. Darin widerspiegelt sich gewissermassen die abstrakte Logik einer wahrscheinlichkeitsbasierten Auswahl. "These criteria are abstract, because they have been developed independently of the concrete material analyzed and before its collection and analysis" (FLICK 2006, S. 123). Diese Strategien werden tendenziell in quantitativen Designs mit relativ umfangreichen Populationen verfolgt (exemplarisch PUNCH 2005, S. 187). - Der zweite Pol umfasst Ansätze, bei welchen die Untersuchungseinheiten im Voraus unbekannt sind und erst schrittweise nach neu festgelegten Kriterien bestimmt werden. "Die Suche nach Untersuchungseinheiten wird also zu jedem Zeitpunkt des Forschungsprozesses von der entstehenden Theorie angeleitet" (KELLE & KLUGE 1999/2008, S. 45). Diese Vorstellung wird häufig mit dem theoretischen Sampling nach GLASER UND STRAUSS (exemplarisch 1993, S. 92ff.; STRAUSS & CORBIN 1996, S. 148ff.) gleichgesetzt.
158
Forschungsstrategie
Innerhalb dieser beiden Extrempole existieren einerseits vielfältige Auswahlstrategien, welche Modifikationen oder Adaptionen dieser beiden Extreme darstellen, oder andererseits kombinierende Strategien, welche Zufallsstichproben mit theoretischen Samplingstrategien in Verbindung bringen (einen Überblick hierzu geben MILES & HUBERMAN 1994, S. 27ff.; PATTON 2002, S. 243). All diesen Strategien gemeinsam ist der Versuch, die methodologische Forderung nach einer möglichst unverzerrten Stichprobe zu erfüllen. "Die Vermeidung von Verzerrungen bzw. der Einbezug von relevanten Fällen ist also zentrales Kriterium der Fallauswahl sowohl in der quantitativen als auch in der qualitativen Sozialforschung" (KELLE & KLUGE 1999/2008, S. 39). Für die vorliegende Untersuchung kann Folgendes festgehalten werden: Eine ausschliesslich wahrscheinlichkeitsbasierte Fallauswahl steht nicht zur Diskussion, da eine idiographisch ausgerichtete Analyse des Datenmaterials lediglich mit kleinen Stichproben zu leisten ist und deswegen bei einer Ziehung der Fälle nach dem Zufallsprinzip die zufälligen Stichprobenfehler zu Verzerrungen führen, welche bei grossen Samples nicht ins Gewicht fallen. Die Zielidee der 'Repräsentativität' wäre dadurch gefährdet. "Qualitative research would rarely use probability sampling, but rather would use some sort of deliberate sampling. 'Purposive sampling' is the term often used; it means sampling in a deliberate way, with some purpose of focus in mind" (PUNCH 2005, S. 187). Dieses 'zielgerichtete Sampling' muss sicherstellen, dass die für die Fragestellung bedeutsamen Fälle berücksichtigt werden. Ein häufiger Vertreter dieser Samplingkategorie stellt das bereits erwähnte 'theoretical sampling' im Sinne von GLASER UND STRAUSS dar. Dieses Verfahren ist besonders dann geeignet, wenn dem Forscher (fast) keine Orientierungsmöglichkeiten über den Untersuchungsgegenstand zur Verfügung stehen und er folglich gezwungen ist, die Bestimmung seiner Untersuchungseinheiten synchron zum Forschungsprozess zu konzipieren. Hierbei wird systematisch nach Vergleichsgruppen gesucht, wobei sich diese Suche an einem iterativen Austauschprozess zwischen Auswertung des Datenmaterials und der Bestimmung neuer Fälle orientiert. Für die vorliegende Untersuchung wird indes ein 'qualitativer Stichprobenplan' bzw. 'sampling plan' gewählt (exemplarisch KELLE & KLUGE 1999/2008, S. 46; LAMNEK 2005, S. 191; PUNCH 2005, S. 188). Dieser grenzt sich von dem theoretischen Sampling nach GLASER UND STRAUSS dadurch ab, dass die Untersuchungseinheiten zwar ebenfalls aufgrund von theoretischen bzw. forschungsstrategischen Überlegungen geplant werden, allerdings 69 geschieht dies bereits vor der Durchführung der Datenerhebung. Durch die A-prioriAuswahl wird sichergestellt, dass Träger bestimmter Merkmale im qualitativen Sample vertreten sind. Innerhalb dieser Gruppe von potenziellen Merkmalsträgern kann in einem zweiten Schritt durchaus eine Zufallsstichprobe gezogen werden. Für dieses 'selektive Sampling' (KELLE & KLUGE 1999/2008, S. 47) sind die folgenden Überlegungen entscheidungsbestimmend:
69
Durch diese Abgrenzung wird der Verwässerung des Konzeptes von GLASER & STRAUSS entgegengewirkt. Das 'theoretische Sampling' darf nicht gleichgesetzt werden mit dem Terminus des 'theoriegeleiteten Samplings'. Letzteres liegt immer dann vor, wenn theoretische Vorüberlegungen zu einer Vorbestimmung der Untersuchungseinheiten führen. Solche Strategien werden sinnvollerweise als 'qualitativer Stichprobenplan' bzw. 'sampling plan' bezeichnet – jedoch nicht als 'theoretisches Sampling'.
8 Forschungsrahmen
-
-
-
-
159
Wenn Subjektive Theorien zum Thema 'Konfliktklärung' von Studierenden an der Hochschule von Interesse sind, muss die Fallauswahl auf diese Zielgruppe fokussieren. Hierfür wird die Universität St. Gallen bestimmt. Vor dem Hintergrund einer emanzipatorischen Relevanz (siehe hierzu später Fn. 80, S. 168) erscheint es sinnvoll, nur solche Studierende in das Untersuchungsfeld aufzunehmen, bei denen die Möglichkeit besteht, die rekonstruierten Subjektiven Theorien im Nachhinein mit der wissenschaftlichen Theorie zu kontrastieren. Diese Absicht lässt sich im Rahmen der vorliegenden Gegebenheiten am besten dadurch realisieren, dass mit allen Versuchspartnern ein Seminar zum betreffenden Situationstyp durchgeführt wird. Oder umgekehrt gedacht: Sinnvollerweise werden nur solche Studierende in die Untersuchungsgruppe aufgenommen, welche sich für den entsprechenden Kurs eingeschrieben haben. Zugang zu diesen Kursen haben grundsätzlich alle Studierenden der Universität St. Gallen auf der Bachelorstufe. Abgesehen von den drei Merkmalen 'Universität St. Gallen', 'Bachelorstufe' und 'Kursteilnehmer' gibt es innerhalb dieser Gruppe keine weiteren Anforderungen anzusetzen, welche eine zusätzliche Selektion erfordern würden. Vielmehr sollten typische Fälle (LAMNEK 2005, S. 185) betrachtet werden, wie sie in solchen Seminaren auftreten können, wobei mit 'typisch' keinesfalls 'gleichartig' gemeint ist. Es ist damit zu rechnen, dass die Subjektiven Theorien der Kursteilnehmenden hinsichtlich des zu untersuchenden Situationstyps durchaus Heterogenitäten aufweisen werden. Die Untersuchungsteilnehmer sollen folglich 'normale' Kursteilnehmer repräsentieren. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll und zweckmässig, die definitive Auswahl nicht dem Forscher zu überlassen, sondern sich auf das zufallsgesteuerte Zuteilungsverfahren der Universität zu stützen. Durch diese unsystematische Auswahl wird gewährleistet, dass die Merkmalsträger im qualitativen Sample repräsentativ vertreten sind. Konkret gestaltet sich damit das Untersuchungsfeld wie folgt:
160
Forschungsstrategie
Tabelle 7: Untersuchungsfeld
Hauptuntersuchung
Voruntersuchung
Semester Wintersemester 2005/06 und Sommersemester 2006
Sommersemester 2006
Wintersemester 2006/07
N
Erhebungszweck
N=32
N=4
-
Gewinnung von Vermutungen über Elemente Subjektiver Theorien der Zielgruppe
-
Ausdifferenzierung des Interviewleitfadens vgl. Kapitel 11.7.2, S. 234
-
Erprobung des Interviewablaufs im Generellen Erprobung und Revision des Instrumentariums (Interviewinstruktion, Interviewleitfaden, erweiterte Flussdiagramm-Darstellung, Strukturlegeleitfaden) sowie der Interventionsformen.
-
vgl. Kapitel 11.7 und 11.8, S 231ff.
-
Rekonstruktion Subjektiver Theorien mithilfe des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews
-
vgl. Anhang 1, S. 471
70
71
N=23
72
Im Wintersemester 2006/07 wurde der Kurs ausschliesslich für Studierende mit einer Zusatzausbildung in Wirtschaftspädagogik ausgeschrieben. Dies bedeutet, dass die Grundgesamtheit dieser Untersuchung Studierende der Universität St. Gallen auf der Bachelorstufe mit einer Zusatzausbildung in Wirtschaftspädagogik bilden. Diese Studierenden haben alle dieselbe Möglichkeit, in den Kurs aufgenommen zu werden, und können folglich mit derselben Wahrscheinlichkeit potenzielle Untersuchungsteilnehmer sein. Diese Überlegungen sind im Hinblick auf induktiv-statistische Auswertungen von Relevanz.
70 71
72
Die erste Voruntersuchung wurde mit zwei Seminargruppen (N=32 Studierende) vier Wochen vor Seminarbeginn durchgeführt (siehe Anhang 2.2, S. 476). Die zweite Voruntersuchung wurde mit vier Interviewpartnern durchgeführt. Hierzu wurde eine Studentin ausgewählt, welche für die Zielgruppe als repräsentativ betrachtet werden kann. Zwei Interviewpartner (eine Pädagogin sowie ein Soziologe) sind als wissenschaftliche Mitarbeiter in der Forschung tätig. Sie wurden ausgewählt, um das Interviewverfahren aus einer soziologischen und pädagogischen Perspektive zu beurteilen. Der vierte Interviewpartner (ein Berufspraktiker) wurde deshalb ausgewählt, weil er aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit auf zahlreiche Erfahrungen mit der Bewältigung des Situationstyps zurückgreifen kann (die detaillierten Daten hierzu sind in Anhang 1, S. 471, zu finden). Die Gesamtzahl von 23 Studierenden verteilt sich auf 15 Männer und 8 Frauen.
9 Theoretisch-methodologische Perspektive
9
Theoretisch-methodologische Perspektive
9.1
Gegenstands-Methodik-Interdependenz
161
Durch die Präzisierung und damit verbunde Eingrenzung der erkenntnisleitenden Fragestellung für die vorliegende empirische Untersuchung werden Vorentscheidungen getroffen, welche sich auf den methodischen Zugang auswirken. Wissenschaftliche Forschung kann zu einem Forschungsgegenstand keinen voraussetzungsfreien Zugang schaffen, sondern konstruiert diesen Zugang über die Wahl einer bestimmten Methodik. Diese beruht auf Vorentscheidungen und einer Reihe von theoretischen Annahmen, wodurch sie einen unmittelbaren Einfluss auf die Gegenstandskonstituierung ausübt. Die Methodik nimmt damit eine vermittelnde – nicht neutrale – Rolle zwischen der Forschung (und den damit verbundenen Forschungszielen) und dem zu erforschenden Gegenstand ein. Folglich ist an eine vorliegende Methodologie die Frage zu richten, ob diese eine befriedigende Gegenstandskonstituierung überhaupt zulässt. SCHLEE (1988b) formuliert das Postulat, "dass ein wirkliches Interaktionsverhältnis zwischen Gegenstand und Methode nur zu realisieren ist, wenn man nicht die Geeignetheit bzw. Brauchbarkeit einer bestimmten Gegenstandskonzeption an den verfügbaren Methoden misst, sondern die Geeignetheit der Methoden am (theoriegeleiteten) Gegenstands(vor)verständnis. Das heisst, die Auswahl und Anwendung der Methoden, die Regeln für die Forschungsprozeduren und die Auswertung der Ergebnisse haben sich an der Stimmigkeit zum Gegenstands(vor)verständnis zu orientieren" (S. 12). Dieses Verständnis steht in einem gewissen Widerspruch zu einer klassischen Methodologiekonzeption mit deren Ziel- und Bewertungskriterien, welche vom Gegenstandsbereich abgehoben formuliert werden. "Denn wenn man 'Gegenstand' durch die Merkmalsräume, die mittels wissenschaftlicher Methoden an der Realität abgehoben werden, definiert, kann man – konsequenterweise – über den Gegenstand gar nichts Sinnvolles aussagen, bevor man nicht die (vorhandenen!) Methoden […] eingesetzt hat" (GROEBEN 1986b, S. 49). Eine solche methodikbedingte Gegenstandskonstituierung schreibt der Methodik eine Höherwertigkeit gegenüber dem Gegenstandsbereich zu, da dieser ja erst mithilfe der Methodik konstituiert wird. Die Beurteilung und Auswahl von Forschungsmethoden orientiert sich dabei an den traditionellen Gütekriterien wie Objektivität, Reliabilität und Validität und dies mit dem An73 spruch einer unabhängigen Gültigkeit vom jeweiligen Gegenstandsverständnis. "In diesem Sinne ergibt sich die Wissenschaftlichkeit psychologischer Forschung also hauptsächlich aus der Exaktheit und Objektivität (Personunabhängigkeit) von Forschungsdesigns und methoden" (SCHLEE 1988b, S. 12). Damit werden abstrakte Ansprüche einer Gegenstandsangemessenheit klar übergeordnet, wodurch nicht mehr von einer Gegenstands-MethodikInterdependenz gesprochen werden kann (siehe hierzu auch FLICK 2002, S. 16ff.).
73
Neben den erwähnten Hauptgütekriterien existieren noch weitere sogenannte Nebengütekriterien wie Normierung, Vergleichbarkeit, Ökonomie und Nützlichkeit (exemplarisch AMELANG & ZIELINSKI 1997, S. 139ff.; BORTZ & DÖRING 2003, S. 193ff.; BÜHNER 2004, S. 28ff.; LIENERT & RAATZ 1998, S. 7ff.; LUKESCH 1998, S. 38ff.).
162
Forschungsstrategie
Bedeutung für das Forschungsvorhaben In dieser Arbeit wird der Standpunkt vertreten, dass die Methodikansätze eine Stimmigkeit zum Gegenstands(vor)verständnis aufweisen müssen (siehe Abbildung 22, S. 152). D. h., eine Methodologie muss eine Gegenstandskonstituierung befriedigend ermöglichen, und kann sie dies nicht leisten, so gilt es, bestehende Methodikansätze zu überarbeiten oder sogar neue Methoden zu entwickeln. Hinter dieser Forderung steht die generelle wissenschaftstheoretische Zielvorstellung, dass der Status von 'Gegenstand' und 'Methode' nicht als einseitiges Abhängigkeitsverhältnis, sondern als dialektisches Wechselverhältnis zwischen Konstruktion und Rekonstruktion zu verstehen ist. Damit soll jedoch keineswegs die Forderung verbunden sein, die klassischen Gütekriterien aufzugeben oder gar zu dementieren. Nur sind diese in ihrem Status nicht dem Gegenstandsverständnis überzuordnen. Falls sich Inkompatibilitäten zwischen Methodikansätzen und Zieldimensionen der Gegenstandskonstituierung ergeben sollten, darf die Methodologie keinen ausschlaggebenden Einfluss haben. Die Ausführungen verdeutlichen, dass sich die GegenstandsMethodik-Interdependenz nicht ausschliessen lässt, und ein Versuch, diese zu ignorieren, wäre wohl zum Scheitern verurteilt. Vielmehr muss es darum gehen, dieses Wechselverhältnis in die Planung (und Durchführung) der Untersuchung bewusst zu integrieren. Diese methodologische Auseinandersetzung ist eine zwingende, jedoch keine hinreichende Bedingung, dem eingangs postulierten Anspruch gerecht zu werden. Es gilt zusätzlich die Untersuchungsbedingungen so zu gestalten, dass die Realisierungschancen einer Rekonstruktion Subjektiver Theorien möglichst hoch sind. In den folgenden Kapiteln 9.2 bis 9.4 werden die methodologischen Vorabklärungen zur Forschungsperspektive und zur Realisierung ausgewählter Prinzipien qualitativer Forschung diskutiert und präzisiert. 9.2
Abgrenzungsüberlegungen zu einer aussensichtfundierten Methodik
9.2.1
Die Experimentalmethodik
Das Kapitel 5 (S. 55) zeigte, dass ein direkter Zugang zu den Subjektiven Theorien grundsätzlich verwehrt ist. Aus der Vielfalt von Möglichkeiten der indirekten Annäherung wird traditionellerweise nur aussensichtfundierten Methoden eine erkenntnissichernde Funktion zugeschrieben. Andere Verfahren, welche primär innensichtgeleitet sind, besitzen, dieser Argumentationslinie folgend, allenfalls eine heuristische Funktion (SCHEELE 1988, S. 127). Danach kommt innerhalb des psychologischen Methodenkanons den experimentellen Erfassungsmethoden eine klare Vormachstellung zu, wenn es um die Überprüfung von Aussagen über kausale Zusammenhänge geht (RAMMSTEDT 2006, S. 233). Die Begründungen hierzu sind methodologischer Natur, indem argumentiert wird, dass das (Labor-)Experiment aufgrund seines interpretativen Vorteils die stringenteste Überprüfungsmethode von Gesetzesaussagen darstelle und folglich als der Königsweg empirischer Überprüfungen im Hinblick auf Kausalerklärungen zu betrachten sei (exemplarisch GROEBEN 1986b, S. 241ff.; 2006a; O. HUBER 2005, S. 71; KLAUER 2005, S. 42; WESTERMANN 2000, S. 267). Diese Stringenz zeigt sich insbesondere im experimentellen Vorgehen, welches sich an festen Regeln orientiert (exemplarisch O. HUBER 2005; HUSSY & JAIN 2002, S. 54; WESTERMANN 2000, S. 268ff.).
9 Theoretisch-methodologische Perspektive
163
Aus der Forschungsliteratur lassen sich vier übergreifende Vorgaben extrahieren: - Herstellen einer eindeutig beschreibbaren situativen Untersuchungsbedingung, - welche in ihren Merkmalen systematisch variierbar ist und - eine systematische Beobachtung der Auswirkungen der Bedingungsvariation - bei gleichzeitiger Kontrolle anderer Einflussfaktoren zulässt. Durch dieses Vorgehen soll das Experiment sowohl wiederholbar sein als auch quantifizierbare und objektive Ergebnisse liefern (RAMMSTEDT 2006, S. 233). Bei Experimenten geht es typischerweise um die Überprüfung von Wirkungen bestimmter Bedingungen, welche vom Versuchsleiter in der Regel festgelegt und systematisch variiert werden. Durch die gezielte Manipulation der Bedingungen – welche unter der Bezeichnung 'unabhängige Variable' zusammengefasst werden – sollen die kausalen Zusammenhänge zur abhängigen Variable nachgewiesen werden. Eine valide Aussage über den kausalen Einfluss einer experimentellen Bedingung auf die zu messende abhängige Variable setzt zwingend voraus, dass ausschliesslich die (veränderte) unabhängige Variable das entsprechende Verhalten, Erleben oder die kognitiven Ergebnisse ausgelöst hat. Es besteht jedoch immer die Gefahr, dass nicht ausschliesslich die unabhängige Variable die Ergebnisse des Experiments determiniert, sondern Störeinflüsse, welche die interne Validität beträchtlich konfundieren können. Diese Störvariablen können allgemein in Einflüsse des Versuchsleiters, Einflüsse der Versuchspersonen und Einflüsse der experimentellen Anordnung klassifiziert werden (ROSENTHAL 1966). In der Literatur werden diesbezüglich unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten experimenteller und quasi-experimenteller Anordnungen mit dem Ziel der Elimination und 74 Kontrolle einzelner Störeinflüsse diskutiert. Bedeutung für das Forschungsvorhaben Trotz der Stringenz und weiten Verbreitung experimenteller Erfassungsmethoden erscheinen diese für den vorliegenden Gegenstandsbereich als ungeeignet und deren Einsatz als nicht rational begründbar. Dies deswegen, weil eine rationale Auswahl und Anwendung von Methoden nicht nur methodenimmanente Aspekte berücksichtigen soll, sondern unter der Zielidee einer zureichenden Gegenstands-Methodik-Interdependenz zusätzlich das Gegenstands(vor)verständnis gleichberechtigt in die Überlegungen miteinbeziehen muss (vgl. Kap. 9.1). Die Mitberücksichtigung der vorliegenden Gegenstandskonstituierung führt zu nicht tragbaren Abstrichen bei der Bewertung der Leistungsfähigkeit des Experiments. Diese Aussage soll im Folgenden entlang drei wesentlicher Elemente experimenteller Designs begründet werden.
74
Eine gute Übersicht zu möglichen Störeinflüssen ist bei ROSENTHAL (1966) oder WESTERMANN (2000) sowie in Kurzform bei BORTZ UND DÖRING (2003, S. 504ff.) zu finden. Eine detaillierte Diskussion über Vor- und Nachteile möglicher experimenteller und quasi-experimenteller Anordnungen findet sich in der Arbeit von CAMPBELL UND STANLEY (1963/67, S. 176ff.). Ansätze zur Elimination und Kontrolle einzelner Störeinflüsse bieten DIEKMANN (2003, S. 299ff.), HUSSY UND JAIN (2002, S. 99ff.) sowie WESTERMANN (2000, S. 308ff.). Zur Problematik experimenteller Erwartungseffekte seien ROSENTHAL (1966, S. 331ff.) sowie MASCHEWSKY (1977, S. 155ff. & 177ff.) erwähnt.
164
Forschungsstrategie
a) Reaktivität und Reizkontrolliertheit der Versuchspersonen Das Konstrukt der Subjektiven Theorie baut auf einem spezifischen Menschenbild auf (vgl. Kap. 6, S 81). Die Kernannahme der Strukturparallelität zwischen wissenschaftlichen (objektiven) und Subjektiven Theorien manifestiert sich auch in dem intendierten Menschenbild des Wissenschaftlers, welches dieser von sich selbst hat, und dem Menschenbild, welches der Wissenschaftler seinem Erkenntnis-Objekt zuschreibt. Eine Untersuchung, welche das reflexions-, konstruktions-, kommunikations-, rationalitäts- und handlungsfähige Subjekt in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses stellt, muss zwingendermassen eine Orientierung einnehmen, bei welcher die Attribute des Forschers nicht mit den Attributen des Beforschten kollidieren. D. h., das Bild, welches der Wissenschaftler von sich selbst entwickelt und anwendet, sollte bei der Übertragung auf seinen Untersuchungsgegenstand nicht zu Widersprüchlichkeiten führen. Diese Ungleichartigkeiten bzw. Widersprüchlichkeiten sind jedoch aufgrund der Kernannahme der spontan-automatischen Reaktivität und Reizkontrolliertheit bei einem behavioristisch geprägten Verständnis auszumachen. Auf dieser Vorstellung beruht die Experimentallogik, da hierbei die Versuchspersonen durch Umweltreize kontrolliert werden, welche der Wissenschaftler seinerseits in der Rolle des Versuchsleiters aktiv steuert. Dadurch entsteht eine Asymmetrie zwischen dem Menschenbild des Wissenschaftlers und dem Menschenbild des Forschungsobjektes und damit dem hier unterstellten Menschenbild des 'epistemologischen Subjektmodells'. b) Elimination und Kontrolle der Stör- oder Randvariablen Entgegen der Auffassung von DIEKMANN (2003, S. 302), dass bei sorgfältiger Anwendung experimenteller Designs allen zwölf von CAMPBELL UND STANLEY (1963/67, S. 175-176) ge75 nannten Fehlerquellen Rechnung getragen werden könne, weist die Forschung zur Sozialpsychologie des Experiments ausgehend von den Studien ROSENTHALS über 'experimenter effects' (1966) zahlreiche methodenkritische Ergebnisse aus. Ohne diese Verzerrungen zwischen nichtthematischen Bedingungen und den experimentell manipulierten thematischen Variablen näher auszuführen, werden zwei Aspekte deutlich: Erstens zeigen die Ergebnisse der Forschung zur Sozialpsychologie des Experiments, dass insbesondere versuchspersonenseitige Effekte kaum beeinflussbar – jedoch sicherlich nicht eliminierbar sind. Zweitens – und dies ist unter dem Aspekt der Interaktion zwischen Methode und Gegenstand äusserst bedeutsam – kommt MASCHEWSKY zur Aussage, dass die Versuchsperson als ein "aktives, denkendes, Situationen antizipierendes, definierendes und strukturierendes" (1977, S. 168) Subjekt zu verstehen ist. Diese Ansicht wird wohl auch weniger bestritten als die Konsequenzen, welche sich daraus ergeben. Das zusammenfassende Zitat von BUNGARD (1980) kann hierzu als richtungsweisend angeführt werden: "Trotz aller Schwächen weisen aber die Befunde der Artefaktforschung darauf hin, dass die analytisch-atomistisch praktizierte Methodik einschliesslich des restringierten Bildes der idealen Vp [Versuchsperson] durch eine Konzeptualisierung ersetzt werden muss, in der der Proband als ein Individuum betrachtet wird, das analog zu sonstigen Alltagssituationen nicht nur auf einen einzelnen
75
Die Autoren benennen acht Faktoren, welche die interne Validität negativ beeinflussen, und vier Faktoren, welche die externe Validität beeinträchtigen.
9 Theoretisch-methodologische Perspektive
165
Stimulus reagiert, sondern sein Verhalten auf den Gesamtkontext abstimmt. Die normale Vp denkt eben doch!" (S. 14). Die Versuchspersonen treten vielmehr als aktive interpretierende Individuen des experimentellen Geschehens auf. Doch wie bereits erwähnt, sind diese kognitiven Aktivitäten aus methodenimmanenten Gründen bei einem Experiment nicht kontrollierbar und müssen folglich ausgeschlossen werden. Dieser Ausschluss soll nicht als "schwere methodologische Erschütterung der Experimentalmethodik" (GROEBEN 1986b, S. 246) aufgefasst werden, sondern muss konsequenterweise zum Schluss führen, dass der experimentalmethodische Zugang für den vorliegenden Gegenstandsbereich nicht geeignet ist. Während in der Experimentalmethodik die reflexiven Prozesse der Versuchspersonen zwecks systematischer Bedingungskontrolle als ‚Stör- oder Randvariablen’ ausgeschlossen werden müssen, konstituieren diese Reflexionen des Menschen als Erkenntnisgegenstand im Falle der Subjektiven Theorien geradezu den Forschungsgegenstand! Folglich darf das Bewusstsein der Individuen bei einem Gegenstandsbereich über das Bewusstsein nicht einen residualen Status aufweisen. Es wäre letztlich absurd, bei einer Versuchsperson einerseits das Bewusstsein hinsichtlich eigener mentaler Repräsentationen über den Gegenstandsbereich zu fordern und andererseits das Bewusstsein über die Versuchssituation selbst zu negieren. Zweifelsohne kann dieser Ausschlussargumentation entgegengehalten werden, dass die experimentelle Methodologie versucht, diese Grenzen zu überwinden (z. B. durch Täuschung, Doppelblindversuche, Zufallsaufteilung der Probanden auf die Versuchsgruppen bis hin zu mehrfaktoriellen Designs), und es spricht nichts dafür, dass diese Entwicklungen abgeschlossen sind (KLAUER 2005, S. 43). Dennoch führen diese Weiterentwicklungen vermutlich nicht in einem gewünschten Masse aus der Grundproblematik der ungenügenden Kontrollierbarkeit kognitiver Aktivitäten heraus, da dies erstens faktisch nicht realisierbar ist und zweitens paradoxerweise zu einer Beschneidung dessen führt, was letztlich von Interesse ist. c) Unüberwindbarkeit einer Maximierung der internen Validität ohne gleichzeitige Verschlechterung der externen Validität Die Autoren CAMPBELL UND STANLEY (1963/67, S. 175) stellten bereits anfangs der 60er-Jahre mit ihrer Theorie der internen und externen Validität von Versuchsplänen die Experimentalforschung partiell in Frage. Die interne Validität bezieht sich auf die Kontrolle bzw. Ausblendung von Störvariablen als Sine-qua-non-Anforderung an experimentelle Designs. Es steht die Frage im Vordergrund, ob das experimentell gesetzte Treatment für die gemessenen Effekte ursächlich ist. Nach BORTZ UND DÖRING (2003, S. 505) kann ein Experiment dann als intern valide bezeichnet werden, wenn die Ergebnisse der Untersuchung als abhängige Variablen eindeutig auf die Veränderung der thematischen, unabhängigen Variablen zurückzuführen sind – und nicht auf unkontrollierbare nicht-thematische Störgrössen. Die externe Validität hingegen fragt nach der Generalisierbarkeit experimenteller Ergebnisse. Eine Untersuchung wird als extern valide beurteilt, wenn die Untersuchungsergebnisse auf andere Personen, Situationen und Zeitpunkte der nicht-experimentellen Alltagswelt übertragbar sind (BORTZ & DÖRING 2003, S. 505). Wie bereits erwähnt, sind zahlreiche Ansätze bekannt, inwiefern mögliche Störvariablen eliminiert oder kontrolliert werden können, um die interne Validität eines Experiments zu maximieren. Damit ist allerdings eine weitere Problematik verbunden. Aufgrund der gegenläufigen Relation zwischen Zuverlässigkeit und Gültigkeit kann
166
Forschungsstrategie
eine Steigerung der internen Validität zu einer deutlichen Einschränkung der externen Validität führen (CAMPBELL & STANLEY 1963/67). Für die Alltagswelt muss weiterhin von den kognitiv-konstruierenden Aktivitäten eines reflexiven Subjektes 'Mensch' ausgegangen werden, sodass die Übertragbarkeit derartiger, intern valider Ergebnisse auf die nicht-experimentelle Umgebung unberechtigt oder zumindest fragwürdig erscheint (siehe hierzu auch HOLZKAMP 1972, S. 15ff.). Der Erfolg weiterer konzeptioneller Entwicklungen zur Steigerung der inter76 nen Validität wird wohl nur zulasten der externen Validität möglich sein. Die Rekonstruktion Subjektiver Theorien fragt nach kognitiv-konstruierenden Aktivitäten aus einem Praxisausschnitt der Alltagswelt der Erkenntnis-Objekte. Dabei gilt es, die Strukturähnlichkeiten zwischen Rekonstruktionssituation und praktischer Realität zu maximieren, indem unkontrollierbare, nicht-thematische Grössen bewusst zugelassen und thematisiert werden. 9.2.2
Das Konzept der schriftlichen Befragung
Entsprechend der dargelegten Kritik erfolgt die Rekonstruktion Subjektiver Theorien sinnvollerweise nicht mit einer experimentellen Methodik. Neben der Experimentalmethodik stehen noch weitere indirekte Zugänge zur Verfügung. Von diesen ist die sprachliche Verständigung – allen kommunikativen Missverständnissen zum Trotz – theoretisch die direkteste (SCHEELE 1988, S. 126). Dies lehrt die Alltagserfahrung besonders deutlich, wenn eine sprachliche Verständigung nicht nutzbar oder verfügbar ist. Während die Experimentalmethodik abhängig von den jeweiligen Forschungsfragen die sprachliche Verständigung unterschiedlich intensiv nutzt, so steht die Sprache unter dem Konzept der 'Befragung' im Mittelpunkt. Dieses wird definiert als "ein planmässiges Vorgehen mit wissenschaftlicher Zielsetzung, bei dem die Versuchsperson durch eine Reihe gezielter Fragen oder mitgeteilter Stimuli zu verbalen Informationen veranlasst werden soll" (SCHEUCH 1973, S. 70f.). Diese an einem normativen Paradigma ausgerichtete Definition bleibt – abgesehen von der Festlegung einer asymmetrischen Kommunikationsstruktur, nach welcher der Fragende primär Fragen 77 stellen darf und der Respondent darauf zu antworten hat – eher vage und offen. Der Definitionsraum lässt unterschiedliche Grade der Standardisierung (nicht-, teil- oder vollstandardisiert), Formen der Kommunikation (schriftlich, mündlich oder eine Kombination aus beidem), Gültigkeitsbereiche der Aussagen (individuums- oder gruppenbezogen), zeitliche Formen (synchron oder asynchron) sowie räumliche Gestaltungsmöglichkeiten (in Anwesenheit oder Abwesenheit des Interviewers) zu (siehe hierzu TRÄNKLE 1983, S. 222-228). 76
77
HOLZKAMP (1970) präzisiert die externe Validität durch die Kategorie der 'äusseren Relevanz', welche "die Bedeutsamkeit, die Wichtigkeit der theoretischen Ansätze" in Bezug zur Gesellschaft herausstreicht und folglich nicht mit "Mitteln der formalen Wissenschaftslogik expliziert und präzisiert" werden kann (S. 3f.). Die 'technische Relevanz' als Teilkategorie der äusseren Relevanz beschreibt unter Rückgriff auf HABERMAS (1965, S. 1146) Aktivitäten der empirischanalytischen Wissenschaften, "in denen durch Herstellung bestimmter Ausgangsbedingungen auf möglichst genau determinierbare Weise bestimmte Effekte erzeugt werden sollen" (S. 9). Hier setzt nun seine Kritik an: Weil die Beurteilung pädagogisch-psychologischer Arbeit weitgehend unter dem Gesichtspunkt der technischen Relevanz erfolgt, werden die experimentellen Realitäten durch verfeinerte Methoden hochgradig parzelliert und damit die Parallelitäten zur nicht-experimentellen Realität immer kleiner. Dies führt dazu, "dass sehr häufig die zu fordernden Strukturähnlichkeiten zwischen experimenteller und praktischer Realität keineswegs in zureichendem Masse bestehen" (S. 11f.). Zur Rollenaufteilung zwischen Interviewer und Interviewtem innerhalb einer asymmetrischen Kommunikationsstruktur siehe auch FOWLER UND MANGIONE (1991, S. 11ff.).
9 Theoretisch-methodologische Perspektive
167
Zunächst wird begründet, weshalb das vorliegende Gegenstandsverständnis bezüglich Kommunikationsform eine Abgrenzung gegenüber schriftlichen Befragungen verlangt. Potenzielle mündliche Befragungsformen werden in Kapitel 10 (S. 191) diskutiert. Annahmen der schriftlichen Befragungsmethodik Die schriftliche Fragebogenmethodik, bei welcher die Befragten in der Regel in Abwesenheit des Versuchsleiters auf zusammengestellte Items mit Zu- oder Ablehnungstendenzen zu reagieren haben, stellt die ausgeprägteste Form einer aussensichtfundierten Methodik dar. Fragebogenuntersuchungen beruhen auf einem Modell, welches von zahlreichen Annahmen im Sinne von Prinzipien ausgeht (siehe Tabelle 8). Tabelle 8: Leitende Prinzipien von Fragebogenuntersuchungen 78 (in Anlehnung an FOWLER UND CANNELL 1996, S. 15)
Fünf Prinzipien -
Die Befragten verstehen die Fragen so, wie sie vom Forscher intendiert sind. Die Befragten haben Zugang zu den Informationen, welche zur Beantwortung der Fragen benötigt werden.
-
Die Befragten können die erforderlichen Informationen abrufen. Die Befragten können die Informationen in die verlangte Kommunikationsform transformieren. Die Befragten sind bereit, fehlerfreie und präzise Antworten zu geben.
-
Obschon die meisten Forscher die genannten Prinzipien vermutlich befürworten, bleibt häufig unklar, ob Fragebogenuntersuchungen diesen Standards genügen können. Bereits das erste Prinzip des gegenseitigen Verstehens eröffnet ein nicht zu unterschätzendes Problemfeld. Ein Fragebogen bildet durch die Fragebogenitems zwangsläufig eine forscherseitig (vor)strukturierte Realität ab, wobei nicht ohne Weiteres sichergestellt ist, ob und in welchen Ausprägungen die Befragten diese Realität teilen (siehe hierzu ausführlich LOHAUS 1983, S. 18ff.). Die Intensität der forscherseitigen Realitätsvorstrukturierung hängt primär vom Grad der Strukturierung des Fragebogens ab. Während nicht standardisierte Fragebogen lediglich mit thematischen Vorgaben auskommen, verlangt ein vollstandardisierter Bogen die Festlegung des Wortlautes der Items, der Fragenreihenfolge sowie entsprechender Antwortmöglichkeiten (RAMMSTEDT 2006, S. 109f.; TRÄNKLE 1983, S. 223). Da der Wortlaut der Fragebogenitems in der Sprache des Forschers formuliert wird, unterliegt eine rationale Fragebogenkonstruktion (hierbei werden die Items nach inhaltlichen Gesichtspunkten zusammengestellt) immer der Gefahr, von den Befragten in Abhängigkeit von personalen oder kontextualen Faktoren unverstanden oder missverstanden zu werden. Je mehr sich der
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Übersetzung durch den Autor.
168
Forschungsstrategie
Forscher "auf distanzierte Informationsgewinnung verlässt, desto eher muss er so tun, als ob er schon im voraus die Befragten hinreichend gut kenne, da er ja z. B. bereits bei der Formulierung seiner Items vorwegnehmen muss, dass und wie diese verstanden werden" (KÖCKEIS-STANGL 1980, S. 346). SCHWARZ UND OYSERMAN bestätigen diese Sensitivität von schriftlichen Befragungen in ihren Studien, indem sie festhalten: "Even apparently simple behavioral questions pose complex cognitive tasks […]. Moreover, self-reports are highly context dependent and minor changes in question wording, format, or order can profoundly affect the obtained results" (2001, S. 128). Eine Verstehenssicherung während des Einsatzes von schriftlichen Befragungen ist kaum realisierbar, da dies voraussetzen würde, dass der Fragebogenkonstrukteur (oder ein geschulter Vertreter) vor Ort anwesend wäre und – falls dem so sein sollte – eine Klärung von individuellen Missverständnissen vornehmen könnte, wodurch allerdings die Durchführungsobjektivität negativ beeinflusst werden könnte. Vielmehr wird bei schriftlichen Befragungen gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, "die dem Testanwender während der Durchführung des Tests keinen individuellen Spielraum lassen" (BORTZ & DÖRING 2003, S. 194). Verständlichkeitsprüfungen Allerdings kann, wie in der Forschungsliteratur vorgeschlagen, im Vorfeld der Konstruktion anhand einer im Vergleich zur Hauptuntersuchung kleineren, aber für die Grundgesamtheit ebenfalls repräsentativen Stichprobe die Verständlichkeit der Items sowie der Instruktion zur Bearbeitung der Fragestellungen überprüft werden. Hierzu bestehen beispielsweise die Möglichkeiten, die Probanden im Rahmen von Pretests hinsichtlich Unverständlichkeit oder Missverständlichkeit direkt zu befragen (BÜHNER 2004, S. 48; LIENERT & RAATZ 1998, S. 53) oder die Befragten während der Fragebogenbearbeitung aufzufordern, durch 'lautes Denken' ihre Denkprozesse im Sinne eines "respondent debriefings" (DEMAIO & ROTHGEB 1996, S. 188) offenzulegen. Trotz der wertvollen Entwicklung dieser Pretestprozeduren haben solche Ansätze den Nachteil, dass die Fragen nicht unter den tatsächlichen Untersuchungsbedingungen überprüft werden, da solche Prozeduren direkt oder indirekt in den Beantwortungsprozess eingreifen, was bei der späteren Anwendung des Fragebogens nicht mehr der Fall sein wird (FOWLER & CANNELL 1996, S. 16). Andere Methoden hingegen fokussieren weniger auf die Befragten, sondern auf die Fragebogenkonstrukteure. In solchen Pretests werden die Probanden beispielsweise mit den Fragen des künftigen Fragebogens interviewt, und der Untersucher achtet dabei auf mögliche Unklarheiten in der Interaktion zwischen ihm und den Befragten. Obschon durch die Interviewsituation auch hier die Konditionen des Pretests aufgrund der abweichenden Kommunikationsform nicht vollständig mit den späteren Untersuchungsbedingungen überein79 stimmen , wird nicht mehr in den Beantwortungsprozess eingegriffen. Gleichzeitig muss jedoch auf die sprachliche Verständnissicherung verzichtet werden. Eine ähnliche Vorgehensweise zur Verständnissicherung schlagen LIENERT UND RAATZ (1998, S. 7 & 29) vor. Sie
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Die abweichende Kommunikationsform gilt selbstverständlich lediglich für schriftliche Befragungen. Bei mündlichen Befragungen hingegen können die Konditionen des Pretests und die späteren Untersuchungsbedingungen als deckungsgleich angenommen werden.
9 Theoretisch-methodologische Perspektive
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definieren die Objektivität eines Fragebogens als den Grad, in welchem die Ergebnisse eines Tests unabhängig vom Untersucher sind. Die Objektivität einer Aufgabe gilt dann als erfüllt, wenn ihre Beantwortung von verschiedenen Beurteilern übereinstimmend als richtig oder falsch, im Sinne des zu untersuchenden Merkmals, gewertet wird. Gleichzeitig wird zur Überprüfung der Eindeutigkeit der Fragen und damit der Objektivität der Aufgabenbeantwortung unter anderem gefordert, dass der Fragebogenkonstrukteur die Fragen daraufhin untersucht, ob diese aus seiner Sicht klar und unmissverständlich formuliert worden sind. Bei einer solchen Selbstüberprüfung durch die Fragebogenkonstrukteure kann zwar die Objektivität in Richtung Fragebogen getestet werden – ob diese Klarheit und Unmissverständlichkeit allerdings auch für die Zielgruppe der Befragung ihre Gültigkeit hat, kann nicht direkt beantwortet werden. Diese Vorgehensweise macht folglich insbesondere dann Sinn, wenn auf die Verstehenssicherung seitens der Beurteilenden fokussiert wird. Ein wesentlicher Nachteil von primär interviewerseitigen Analysen besteht unter anderem darin, dass ausschliesslich die Interviewer als primäre Informationsquelle für unverständliche oder missverständliche Fragestellungen zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund schlagen FOWLER UND CANNELL (1996) vor, das Verhalten des Interviewers sowie des Interviewten während eines mündlichen Pretests durch eine geschulte Drittperson zu beobachten und anschliessend systematisch zu codieren. Die Stärken des 'Behavior Coding' liegen darin, dass nicht in den Beantwortungsprozess eingegriffen wird und zugleich Informationen von beiden Interaktionspartnern vorliegen. Diese Informationen werden zudem codiert, womit eine höhere Objektivität erreicht werden soll. Dennoch muss auch hier im Vergleich zum 'lauten Denken' oder 'direkten Nachfragen' auf eine indirektere Form der Datengewinnung – nämlich die Beobachtung mit all ihren Schwierigkeiten – zurückgegriffen werden. Die Relevanz der sprachlichen Bedeutungsadäquanz für das Forschungsvorhaben Mittels Durchführung derartiger Pretests soll die Verständlichkeit im Sinne des ersten Prinzips von Fragebogenuntersuchungen (vgl. Tabelle 8, S. 167) erhöht werden, wodurch die interne Validität von Fragebogen steigen dürfte. Allen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie versuchen, der Problematik der Ambiguität der Alltagssprache so weit möglich Rechnung zu tragen. Wird die Verbalisierung der Items zwecks Maximierung der internen Validität allerdings zu stark an der Alltagssprache der Zielgruppe angepasst, besteht die Gefahr, dass die externe Validität sinkt. Vorherige Verständlichkeitsprüfungen besitzen das Potenzial, in einem beschränkten Rahmen die interne Validität zu erhöhen. Ob und in welchem Mass dieses Gütekriterium letztlich erfüllt wird, kann folgerichtig bei schriftlichen Befragungen lediglich annäherungsweise vermutet werden. "Innerhalb eines inhaltsorientierten (rationalen) Ansatzes zeichnen sich also keine Möglichkeiten ab, das Problem der […] Verständnisunterschiede für Items zu lösen" (TRÄNKLE 1983, S. 231). Es ist nicht möglich, das absolute Optimum der Bedeutungsäquivalenz im Sinne einer inhaltlichen Standardisierung durch identische Fragen für alle Befragten zu erreichen. Vielmehr wären dazu unterschiedliche sprachliche Formulierungen, zugeschnitten auf den jeweiligen Befragten, notwendig. Dieser Anspruch ist bei schriftlichen Befragungen jedoch kaum leistbar. Genau diese Frage nach der sprachlichen Bedeutungsadäquanz mit dem Ziel der Rekonstruktionsadäquanz zwischen Erkenntnis-Subjekt und Erkenntnis-Objekt spielt hingegen bei der Erforschung Subjektiver Theorien eine zentrale Rolle (siehe hierzu KÖNIG 1995, S. 14).
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Forschungsstrategie
Eine weitere Begrenzung bezüglich Orientierung an der Alltagssprache der Zielgruppe ergibt sich aus dem Gütekriterium der Konstruktvalidität. Diese ist bei theoriegeleiteten Fragebogenkonstruktionen dann gegeben, wenn die theoretischen Bestandteile des zu überprüfenden Konstrukts angemessen in den empirischen Bestandteilen der Untersuchung bzw. den Items eines Fragebogens repräsentiert sind (CRONBACH & MEEHL 1955). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob es durch die Anwendung einer Alltagssprache als Kompensation einer expliziten kommunikativen Verstehenssicherung gelingt, das zu messende 'wissenschaftliche' Konstrukt überhaupt noch valide abzubilden. Geht man bei schriftlichen Befragungen von inhaltlich standardisierten Fragen aus, müssen die sprachlichen Unterschiede zwischen den Befragten zwangsläufig vernachlässigt werden. Daraus ergibt sich gleichsam die Forderung, dass sich die sprachliche Formulierung an einem 'kleinsten gemeinsamen Nenner' der Zielgruppe zu orientieren hat, wenn eine maximale Bedeutungsäquivalenz erreicht werden soll. Durch eine derartige Übersimplifizierung lässt sich jedoch unter Umständen das zu untersuchende Konstrukt gar nicht mehr hinreichend valide abbilden. Im Extremfall führt eine sprachliche Trivialisierung zu einem "aporetischen Problemkäfig" (SCHEELE 1988, S. 130): Entweder werden nur einfach(st)e Sachverhalte erforscht, was jedoch die technische und – noch viel bedeutsamer für die vorliegende Untersuchung – die 80 emanzipatorische Relevanz (HOLZKAMP 1970) von Forschung in Frage stellt. Die Zielvorgabe der Selbstaufklärung, Selbstreflexion und damit verbunden der Eigenentwicklung und Erweiterung der Handlungsoptionen seitens des Erkenntnis-Objektes würde verfehlt. Oder die sprachliche Vereinfachung führt zu einer Komplexitätsreduktion des Gegenstandsbereichs. Die Reduktion sozialer Wirklichkeit impliziert jedoch – neben anderen unerwünschten Effekten – die Gefahr einer Minimierung der externen Validität. Deshalb wird heute, zurückgehend auf KARMASIN UND KARMASIN (1977), für schriftliche Befragungen oft eine sprachliche Orientierung an der Alltagssprache des durchschnittlichen Mitglieds der Zielpopulation vorgeschlagen. Ungeachtet aller Schwierigkeiten, welche bei der Umsetzung dieses Anspruchs auftreten können (siehe hierzu TRÄNKLE 1983, S. 262ff.), lässt sich damit das Argument gegen eine genügende Konstruktvalidität zumindest teilweise entkräften. Die Schwierigkeiten hinsichtlich der sprachlichen Bedeutungsadäquanz sowie der Verständlichkeitsprüfung bleiben allerdings bestehen. Die Erörterungen zu den schriftlichen Be-
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Die 'emanzipatorische Relevanz' beschreibt neben der 'technischen Relevanz' (vgl. Fn. 76, S. 166) die zweite Teilkategorie der äusseren Relevanz als Qualitätsmerkmal wissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Sie stellt die aufklärende Bedeutsamkeit in den Vordergrund, indem unter Einbezug von Wertvorstellungen über den Verwendungszweck wissenschaftlicher Ergebnisse nachgedacht wird. Die Beurteilung der Ergebnisse erfolgt unter diesem Blickwinkel hinsichtlich ihrer Nützlichkeit für bestimmte Interessen (siehe hierzu allgemein BREUER & REICHERTZ 2001). Ein wesentliches Merkmal für die vorliegende Untersuchung manifestiert sich in der Zielvorstellung der Selbstaufklärung, der Ermöglichung von Selbstentwicklung und Erweiterung des Handlungsbewusstseins bei den Erkenntnis-Objekten. Die technische und emanzipatorische Relevanz kollidieren nur dann, wenn das technische Interesse ein manipulatorisches Interesse ist. "Technisches Kontrollinteresse wäre stets in dem Masse auch ein Interesse an der Manipulation von Menschen, als die Kontrolle nicht im Prinzip von jenen, die kontrolliert werden, selbst auf rationalem Wege als innerhalb einer konkreten Lage in ihrem Interesse liegend anerkannt wird […]" (HOLZKAMP 1970, S. 20). Wenn die Lehrveranstaltung zum Thema 'Konfliktklärung' sich zum Ziel setzt, die Erkenntnis-Objekte zu einem bewussten selbstkontrollierten Handeln innerhalb des Situationstyps zu befähigen (vgl. Kap. 2, S. 27), sollte dieser Grundgedanke auch als Leitvorstellung in die Untersuchung einfliessen.
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fragungsverfahren führen zum Schluss, dass diese zur Rekonstruktion Subjektiver Theorien bezüglich des Situationstyps 'Konfliktklärung' zum jetzigen Stand der Forschung ebenfalls abzulehnen sind, weil diese die gestellten Anforderungen nicht – oder zumindest nicht in dem gewünschten Masse – erfüllen können. Es wird noch darzulegen sein, inwiefern mithilfe von mündlichen Befragungen die angesprochenen Problembereiche bewältigt werden sollen. 9.2.3
Zwischenfazit
Das vorherige Kapitel führte zum Schluss, dass eine aussensichtfundierte Methodik mit ihren klassischen Vertretern der Experimentalmethodik und der schriftlichen Befragung für die anvisierte Untersuchung ungeeignet ist. Die Tabelle 9 fasst die wesentlichen Argumente zusammen: Tabelle 9: Argumente gegen eine aussensichtfundierte Methodik für den vorliegenden Gegenstandsbereich
Kernaussagen -
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9.3
Das Menschenbild des Wissenschaftlers in der Experimentalmethodik und das hier unterstellte Menschenbild des 'epistemologischen Subjektmodells' führen zu unauflösbaren Widersprüchen. Das nicht-thematische Bewusstsein der Individuen wird zwecks systematischer Bedingungskontrolle ausgeschlossen. Dieser Teilaspekt der Reflexionen muss jedoch bei einem Gegenstandsbereich über das Bewusstsein einen gleichberechtigten Status aufweisen. Die hochgradig parzellierten experimentellen Realitäten verhindern eine zufriedenstellende Gegenstandskonstituierung, weil die externe Validität in einem unerwünschten Masse beeinträchtigt wird. Die sprachliche Bedeutungsadäquanz zwischen Erkenntnis-Subjekt und Erkenntnis-Objekt spielt bei der Erforschung Subjektiver Theorien eine zentrale Rolle. Die Klärung von individuellen Missverständnissen durch Verständlichkeitsprüfungen während der Untersuchung wird indes nicht zugelassen. Eine Anpassung an den Interviewpartner durch unterschiedliche sprachliche Formulierungen ist nicht möglich. Die sprachliche Trivialisierung als Kompensation einer expliziten kommunikativen Verstehenssicherung führt unter dem Aspekt der Konstruktvalidität und der emanzipatorischen Relevanz von Forschung zu einem unauflösbaren Problemkreis.
Zugangsproblematik einer innensichtfundierten Methodik
Im vorangehenden Kapitel 9.2 wurde ausführlich begründet, weshalb eine aussensichtfundierte Methodik als Zugang zum vorliegenden Gegenstandsbereich abgelehnt wird. Daraus jedoch vorschnell den Schluss zu ziehen, man solle einen introspektiven Zugang wählen, wenn sich herausstellte, dass das Erkenntnis-Objekt selbst einen solchen Zugang zu seinen Subjektiven Theorien nicht besitzt, wäre ebenso wenig zielführend. Die Kontroverse über die
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Forschungsstrategie
introspektive Zugänglichkeit ist nicht neu. Einen geschichtlichen Kurzabriss dieser Auseinandersetzung geben FEGER UND GRAUMANN (1983). Wenn mit verbalen Daten gearbeitet wird, gilt es zahlreiche Schwierigkeiten zu klären, welche in der Vergangenheit oft starke Zweifel hinsichtlich der Eignung einer innensichtfundierten Methodik aufkommen liessen. Als Auslöser dieser Debatte können die wegweisenden Arbeiten von NISBETT UND WILSON gesehen werden. Bevor eine Ziel- und Realisierungsvorstellung zur Ausgestaltung einer innensichtfundierten Methodik begründbar entwickelt werden kann, sind die Arbeiten von NISBETT UND WILSON kritisch zu reflektieren, um aus den Unzulänglichkeiten wichtige Erkenntnisse für die anzustrebende Untersuchung abzuleiten. Die Abbildung 24 stellt das Vorgehen schematisch dar. Abbildung 24: Überwindung der Zugangsproblematik einer innensichtfundierten Methodik
Zielperspektive: Überwindung potenzieller Zugangsschwierigkeiten
Ausgangspunkt: Zugangsproblematik einer innensichtfundierten Methodik
Kritische Diskussion der Arbeiten von NISBETT UND WILSON
Entwicklung konstruktiver Lösungsansätze
Theoretische Unzulänglichkeiten
Theoretische Perspektive
Gegenstandsreduzierende Methodik
Methodologische Perspektive
Unzulässige Generalisierung der Befunde
Gegenstandsspezifische Perspektive
9.3.1
Die Untersuchungen von Nisbett und Wilson
NISBETT UND WILSON versuchten Ende der 70er-Jahre im Rahmen von zahlreichen Experimenten durch das Setzen bestimmter Stimuli nachzuweisen, dass Individuen keinen genügenden Zugang zu ihren mentalen Prozessen besitzen (NISBETT & BELLOWS 1977; NISBETT & WILSON 1977a, 1977b; T. D. WILSON & NISBETT 1978). Die Autoren liessen Probanden in Experimentalsituationen agieren, um sie anschliessend nach den Gründen ihres Verhaltens zu fragen. Die Ergebnisse ihrer ersten Untersuchungen führten zum Schluss, der Mensch habe wenig oder keinen introspektiven Zugang zu komplexen kognitiven Vorgängen, wie sie beim Fällen von Urteilen, Treffen von Entscheidungen und Begründen des eigenen sozialen Verhaltens benötigt würden. Die Probanden fällten ihre Urteile nicht basierend auf Denkprozessen, welche ihre Introspektion oder Retrospektion hervorbrachte, sondern rekurrierten bei ihren Antworten auf gängige Plausibilitätsüberlegungen und Glaubenssätzen aus ihrem Kulturkreis. "We propose that when people are asked to report how a particular stimulus influenced a particular response, they do so not by consulting a memory of the mediating process, but by applying or generating causal theories about the effects of that type of stimulus on that type of response" (NISBETT & WILSON 1977b, S. 248).
9 Theoretisch-methodologische Perspektive
173
Die Autoren relativierten in einer späteren Publikation ihre Aussagen dahingehend, dass sie das menschliche Vermögen einer direkten Introspektion zwar nicht mehr ausschliessen, dieses jedoch eine fehlerfreie und präzise Verbalisierung nicht ermögliche (T. D. WILSON & NISBETT 1978, S. 118). Die Fehlerhaftigkeit der Aussagen wurde auf die den Versuchs81 personen a priori zur Verfügung stehenden Alltagstheorien sowie möglichen Inferenzen aus den Experimentalsituationen zurückgeführt (T. D. WILSON, HULL & JOHNSON 1981). Da die Autoren weiterhin an der Explizierbarkeit komplexer kognitiver Prozesse durch Introspektion zweifelten, lautete ihre methodenrelevante Folgerung: „The results indicate that research which relies on people's introspective reports about the causes of their behavior may have little value as a guide to the true causal influences” (T. D. WILSON & NISBETT 1978, S. 118). Diese grundsätzliche Negierung der innensichtfundierten Methodik hatte zahlreiche Kritiken 82 ausgelöst. Auf die generellen kritischen Einwände, welche sowohl an theoretischen als auch methodischen Überlegungen anknüpfen, soll nicht im Detail eingegangen werden (hierzu sei auf die in der Fussnote 82 angegebene Literatur verwiesen). Die kritische Diskussion wird lediglich punktuell expliziert, um die Kontroverse zur Überwindung potenzieller Zugangsschwierigkeiten der innensichtfundierten Methodik vor dem Hintergrund des vorliegenden Gegenstandsbereichs konstruktiv zu nutzen. Im Folgenden wird die Kritik entlang von drei Argumentationsperspektiven skizziert, um diese letztlich in Lösungsansätze überführen zu können. a) Theoretische Unzulänglichkeiten Die Behauptung, dass der Fremdbeobachter im Vergleich zum Erkenntnis-Objekt eine qualitativ vergleichbare oder gar realitätsadäquatere Konstruktionsposition innehat, ist für einen Gegenstandsbereich ausserhalb von beobachtbaren Routinen und Automatismen in Frage zu stellen (vgl. FEGER & GRAUMANN 1983, S. 119; KRAUT & LEWIS 1982, S. 449). Die Innenperspektive eines Individuums ist für den Fremdbeobachter nicht direkt erschliessbar. Die Unmöglichkeit des direkten Zugangs zur Innenperspektive eines Menschen von aussen verdeutlicht WHITE (1980, S. 106f.) an einem sehr einfachen Gedankenexperiment: Der Versuchsleiter gibt dem Probanden die Instruktion, die beiden Zahlen 3 und 4 miteinander zu multiplizieren. Basierend auf der Antwort '12' schliesst der Versuchsleiter auf den internen Multiplikationsprozess. Der Proband gibt auf Befragen jedoch die Auskunft, er habe die Zahl 4 dreimal addiert. In den Untersuchungen von NISBETT UND WILSON wurde von den Probanden erwartet, dass diese korrekte Kausalerklärungen für ihr eigenes Verhalten verbalisieren konnten. Die subjektiven Erklärungen wurden dann als 'korrekt' gewertet, wenn diese erstens mit den jeweiligen objektiven Erklärungshypothesen übereinstimmten und zweitens als 'theoriefrei' gelten konnten. D. h., die Antworten der Probanden durften sich – um als richtig bewertet zu werden – nicht auf eine gängige abstrakte Alltagstheorie stützen. Gegen 81 82
Mit Inferenzen sind logische (elaborierte) Schlüsse gemeint, welche auf Thesen (Erfahrungen) und deren Überprüfungen beruhen. Zur Kritik an den Arbeiten von NISBETT und seinen Kollegen siehe ADAIR UND SPINNER (1981), COTTON (1980), VON CRANACH ET AL. (1980, S. 208ff.), ERICSSON UND SIMON (1980; 1993), GUERIN UND INNES (1981), KRAUT UND LEWIS (1982), MC CLURE (1983) sowie P. WHITE (1980).
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Forschungsstrategie
dieses Bewertungsdesign ist aus heutiger Sicht einzuwenden, dass die Beobachtung von Ereignissen und das Treffen von Entscheidungen nicht theoriefrei stattfinden kann und "dass kausale Zusammenhänge erst recht nichts sind, was real existiert, sondern etwas, das vom Menschen konstruiert wird" (SCHEELE 1988, S. 132). Folglich können die Aussagen der Probanden lediglich Konstruktionen sein, denn es spricht nichts dafür, dass das Individuum zu Kausalerklärungen seines eigenen Handelns einen qualitativ anderen (direkteren) Zugang besitzt als den der Konstruktion (1988, S. 132). Es ist somit verständlich und nachvollziehbar, dass unpräzise oder fehlerhafte Erklärungszusammenhänge formuliert wurden, da Konstruktionen per se durch Rückgriff auf Theorien und Inferenzen entwickelt werden. Würde dieser Anspruch der 'Unfehlbarkeit' auf die Wissenschaft übertragen, so wäre diese groteskerweise in einem wissenschaftstheoretischen Sinne gar nicht mehr fähig, Kausalerklärungen zu entwickeln – dies unabhängig davon, ob es in der Tradition des Kritischen Rationalismus um die Falsifikation theoriegeleiteter Hypothesen geht oder aus einer konstruktivistischen Perspektive um die Diskursführung als Annäherung an eine soziale Wirklichkeit. Aus solchen Irrtümern auf eine prinzipielle Introspektionsunfähigkeit zu schliessen, ist nicht akzeptierbar, weil diese Argumentation implizit die nicht haltbare Forderung der Identität von Selbstbeschreibung und Selbstbeobachtung (und damit der Realgeltung von Selbstauskünften) unterstellt. Unter dem unscharfen Begriff des 'verbal report' wird lediglich das artikulierte Produkt als Antworten auf Fragen beachtet, und damit werden zwei unterschiedliche Konzepte subsumiert – das Beobachten und das Beschreiben. Durch diese Verzahnung vermischt eine solche Identitätsforderung ungerechtfertigterweise zwei Fähigkeiten: einerseits, sich selbst differenziert wahrnehmen und erleben zu können, und andererseits, über das Erlebte hinreichend präzise berichten zu können. Wenn Beobachten in Anlehnung an FEGER UND GRAUMANN (1983, S. 78f.) als ein intensives 'Achten auf' verstanden wird – Selbstbeobachtung folglich als ein intensives 'Achten auf sich selbst' – dann kann dies nur geschehen, wenn dazu ein Anlass besteht und eine entsprechende Instruktion von der eigenen Person oder anderen erteilt worden ist. Folglich ist nie verlässlich zu erfahren, ob an dem eigenen Verhalten, Tun oder Handeln etwas nicht beobachtet wird, weil keine genügende Beobachtungsabsicht besteht, oder ob dies am tatsächlichen Ausbleiben des Phänomens liegt. Daraus ergeben sich für das Nicht-Berichten über ein Phänomen mehrere potenzielle Erklärungshypothesen (z. B. Ausbleiben des Phänomens, mangelnde Beobachtungsabsicht, ungenügende Beobachtungsinstruktion, fehlendes Kategorisierungssystem bezüglich des zu Beobachtenden, mangelnde sprachliche Ausdrucksfähigkeit etc.). Der eindeutige Rückschluss auf eine generelle Introspektionsunfähigkeit ist daher nicht haltbar. WHITE (1980) greift in seinen Untersuchungen den problematischen Zusammenhang zwischen dem Bewusstsein und den zeitlich nachgelagerten Verbalisierungsprozessen von vollzogenen Handlungen auf. Das Erinnern von konkreten Handlungsschritten ist ein kognitiv anstrengender Prozess; insbesondere wenn viele Handlungssequenzen erinnert werden müssen und zugleich den Versuchspersonen keine Unterstützung angeboten wird. In den Experimenten von NISBETT UND WILSON mussten die Probanden die Explizierung selbstständig vollziehen, was schnell zu Ermüdungserscheinungen führt, wodurch die Bemühungen um ein präzises Berichten seitens der Versuchspersonen nachlassen können (P. WHITE 1980, S.
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175
83
107). Auch wenn eine spontane Verbalisierung von vollzogenen Handlungen schwer fällt, bedeutet das nicht, dass die Handlungen unbewusst vollzogen wurden. "Subjektive Theorien haben in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren (Thematik, Eigenarten des Subjektiven Theoretikers etc.) einen unterschiedlich hohen Implizitätsstatus" (OBLIERS 1992, S. 203). Es ist davon auszugehen, dass die Qualität von Verbalisierungen mentaler Repräsentationen neben den erwähnten Einflussfaktoren von zahlreichen experimentell bedingten Ausseneinflüssen abhängt (siehe hierzu S. 176). Aus der dargelegten Argumentaion ist zusammenfassend das Fazit zu ziehen, dass weder die Übereinstimmung noch die Nicht-Übereinstimmung zwischen den 'objektiven' und 'subjektiven' Erklärungen aus theoretischer Sicht als ein Indiz für oder gegen die Introspektionsfähigkeit des Menschen gesehen werden kann. b) Gegenstandsreduzierende Methodik Aus methodischen Überlegungen ist kritisch zu bemerken, dass die Versuchspersonen mit einem suggestiven Arrangement konfrontiert wurden, in welchem diese bewusst getäuscht wurden. In einem der Experimente von NISBETT UND WILSON wurden fünf Paar Damenstrümpfe auf einem Tisch ausgebreitet. Die weiblichen Versuchspersonen hatten diese Strümpfe eingehend zu untersuchen und anschliessend begründet zu entscheiden, welches Paar sie qualitativ als bestes einstuften. Den Teilnehmerinnen des Experiments wurde bewusst verschwiegen, dass alle Strümpfe von gleicher Machart waren. Durch das Ausnutzen des Vertrauens der Probanden in die fälschlicherweise angenommene Aufrichtigkeit des Kommunikationsangebots seitens der Versuchsleitung können erklärungsirrelevante Antworten provoziert werden – dies in Verbindung mit einem hohen Mass an sozialer Erwünschtheit. Die Teilnehmerinnen wurden im Glauben bestärkt, die Strümpfe seien tatsächlich unterschiedlich. Dadurch wurden sie direkt angeregt, nach Unterschieden zu suchen. Auf die Nachfrage nach Erklärungen für die Auswahlentscheidungen konnten die Probandinnen immer Gründe angeben. Dies muss jedoch nicht aufgrund einer Unfähigkeit zur Introspektion basieren, sondern es wurden soziale Konventionen oder Vorstellungen geäussert, was aus der Sicht der Probandinnen in solchen Experimentalsituationen wohl erwartet würde. Die Versuchspersonen wurden nach thematischen (hypothesenrelevanten) Bedingungen befragt – nicht-thematische Bedingungen wurden hingegen nicht thematisiert. Die Befragungsverfahren basierten dadurch auf einer durch die Forscher vorstrukturierten Realität, welche wiederum nicht mit den Realitätskonstruktionen der Versuchsteilnehmerinnen übereinstimmen musste (exemplarisch KÖCKEIS-STANGL 1980, S. 337). Es ist jedoch durchaus denkbar, dass die Probandinnen solche nicht-thematischen Aspekte in ihre Überlegungen miteinbezogen haben und folgerichtig zu unterschiedlichen Urteilen gelangten. Die Attribution der Entscheidungen auf die vermeintlich unterschiedliche Machart 83
Die Untersuchung WHITES (1980) zur Widerlegung der Hypothesen von NISBETT UND WILSON hat aufgrund des experimentellen Designs sowie statistischer Ausführungsmängel ebenfalls kritische Einwände auf sich gezogen (vgl. SPRANGERS et al. 1987). In seiner Replik stellt WHITE (1987) daraufhin den experimentellen Zugang aus Gründen der ungenügenden internen Validität grundsätzlich in Frage. Er kommt zum Schluss, dass die Zusammenhänge zwischen Verbalisierungen, Bewusstseinsgrad einer Handlung und Introspektion nur schwer oder gar nicht experimentell testbar seien.
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Forschungsstrategie
war falsch, jedoch sind Fehlattributionen kein Grund, auf die Unfähigkeit der Introspektion zu schliessen. Die Introspektionen wurden als ungenügend oder falsch zurückgewiesen, wenn die Aussagen der Probanden nicht-thematische Aspekte aufwiesen, welche nicht in den Erklärungshypothesen der Versuchsleitung intendiert waren. Dies bedeutet, "that valuable verbal reports may be abandoned when they conflict with established theories" (COTTON 1980, S. 278). Der gewählte methodische Zugang ist als reduktionistisch zu bezeichnen und vermag folglich der Komplexität des Gegenstandsbereichs nicht genügend Rechnung zu tragen. Die Art der Datenverwendung wird von KRAUT UND LEWIS (1982, S. 449 mit Verweis auf WHITE 1980) als der zentralste methodische Kritikpunkt aufgenommen. Sie bemängeln an den Untersuchungsdesigns, neben dem suggestiven Arrangement sowie der Ausblendung nicht-thematischer Bedingungen, die Vermengung individueller Sichtweisen mit kollektiven Wahrnehmungen auf der Gruppenebene: Der Gegenstandsbereich thematisierte die individuellen, mentalen Repräsentationen jeder Versuchsperson. Folglich müsste die Frage auf die Reaktionen zu bestimmten Stimuli lauten: Wie präzise gelingt es einem Probanden, die Einflüsse auf seine Entscheidungen oder Handlungen abzuschätzen? Diese Frage kann allerdings nicht valide beantwortet werden, indem gezeigt wird, dass ein Gruppenmitglied einer Versuchsgruppe die Faktoren identifizieren kann (oder eben nicht), welche die Gruppe als Ganzes beeinflusst haben. Die Vermengung in der Fragestellung zwischen Einflüssen auf die Gruppe und Einflüssen auf das einzelne Individuum verunmöglicht valide Rückschlüsse auf die Introspektionsfähigkeit einer einzelnen Versuchsperson. KRAUT UND LEWIS (1982) kommen daher zu folgendem Schluss: "The data from this and other studies conducted by Nisbett and his colleagues, which used between-subject designs, are irrelevant to questions of selfawareness" (S. 449). Abschliessend sind aus methodischen Überlegungen generell die experimentell bedingten Einflüsse zu erwähnen. SMITH UND MILLER (1978, S. 359) nennen in diesem Zusammenhang drei zentrale Faktoren: Die soziale Erwünschtheit im Allgemeinen, die Bewertungserwartung (evaluation apprehension) und den Aufforderungscharakter durch den Versuchsleiter (demand characteristics). Durch eine Bewertungserwartung werden Effekte provoziert, welche durch die zu erwartenden positiven und negativen Konsequenzen bestimmt werden. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Versuchspersonen die Versuchsleiter als potenzielle Bewerter der eigenen Leistung wahrnehmen (siehe hierzu die Untersuchungen von COTTRELL et al. 1968). Die 'demand characteristics' als Aufforderungscharakter beschreiben Effekte, welche durch die unbeabsichtigte hypothesenkonforme Beeinflussung der Versuchspersonen durch den Versuchsleiter oder die Untersuchungssituation selbst entstehen (ORNE 1962). Als kritisch wird dabei nicht das Auftreten der genannten Faktoren erachtet, sondern der unzulängliche Umgang damit. Obschon NISBETT UND WILSON in ihren Untersuchungen diese Effekte ebenfalls feststellten, hielten sie ungeachtet dessen an ihren Aussagen fest. Zusammenfassend legt die Kritik den Schluss nahe, dass es sich bei den von NISBETT UND WILSON gewonnenen Daten, die gegen eine innensichtfundierte Methodik sprechen, infolge der reduktionistischen methodischen Herangehensweise um Forschungsartefakte handelt (zum Artefaktvorwurf siehe insbesondere ADAIR & SPINNER 1981).
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c) Unzulässige Generalisierung der Befunde Ein weiterer kritischer Aspekt beruht auf den Überlegungen von SCHEELE (1988). In den Untersuchungen von NISBETT UND WILSON ist festzustellen, dass die Zugänglichkeit zu mentalen Repräsentationen in Bereichen untersucht wurde, welche als introspektiv schwer zugänglich gelten. "Zu den schwer zugänglichen zählen u. a. Routinen und Automatismen, für die das Individuum intentional kaum (mehr) Aufmerksamkeit benötigt; als leichter zugänglich werden dagegen Tätigkeiten angesehen, für die das Individuum (in den Grenzen von Überund Unterforderung) eben gerade nicht überwiegend auf eingeschliffene Reaktionsmuster der Informationssuche, Interpretation und Verhaltensregulierung zurückgreifen kann, sondern Interesse und Aufmerksamkeit aufbringen muss, um mit sich und der Welt in der ge84 wünschten Weise zurechtzukommen" (SCHEELE 1988, S. 133). Aufgrund von Plausibilitätsüberlegungen sowie in Verbindung mit den Überlegungen von SCHEELE UND GROEBEN (1988d, S. 35) sind die von NISBETT UND WILSON durchgeführten Experimente dem Bereich der 'Routinen und Automatismen' zuzuordnen. Basierend auf diesen Ausführungen ist die Generalisierung der Befunde auf subjektiv-theoretische Bereiche, welche zumindest aus theoretischer Sicht zur Rekonstruktion als geeignet erscheinen, abzulehnen, da diesbezüglich weder empirische Begründungen noch Plausibilitätsüberlegungen vorliegen (siehe ebenso GUERIN & INNES 1981). NISBETT UND WILSON stellten in ihren Untersuchungen fest, dass die Probanden selbst in einfachen Entscheidungssituationen nicht fähig waren, introspektiv zu argumentieren. Sie bemängelten, die Versuchspersonen hätten sich nicht einmal bemüht, sich einen Zugang zu ihren Introspektionen zu verschaffen. Die Autoren verallgemeinern diese 'Introspektionsunfähigkeit' von Individuen und wenden sie auch auf andere Handlungsbereiche an – ungeachtet ihrer Komplexität und der damit verbundenen Handlungsanforderungen. Zu Recht relativieren SMITH UND MILLER (1978) diese Behauptung: „We view their argument for the inaccessibility of mental process as sound in its application to some situations, but their claim that access is almost never possible is overstated“ (S. 361-362). Die diskutierten Untersuchungen selbst liefern nämlich Indizien zugunsten einer optimistischeren Problemsicht. Wie bereits erörtert, wurden mentale Repräsentationen von eher umweltkontrolliertem Verhalten unter experimentellen Bedingungen untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass die Probanden versuchten, die an sie gestellten Anforderungen im Rahmen der experimentellen Anordnungen in einer möglichst sinnvollen Art und Weise zu erfüllen. Folglich ist von einer potenziellen Reflexivität, Rationalität und Kommunikationsfähigkeit des Individuums auszugehen. Die Untersuchungen von NISBETT UND WILSON verdeutlichen – aller theorie- und methodenkritischen Argumentation zum Trotz – mögliche Schwierigkeiten einer innensichtfundierten Methodik. Die zusammenfassenden Thesen in Tabelle 10 konturieren wichtige Implikationen für die anvisierte empirische Untersuchung.
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Siehe hierzu auch ADAIR UND SPINNER (1981), SCHEELE UND GROEBEN (1988c), SCHÜTZE (1987, S. 243f.) sowie SMITH UND MILLER (1978).
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Forschungsstrategie
Tabelle 10: Erste Implikationen zur Überwindung potenzieller Zugangsschwierigkeiten bei der Rekonstruktion Subjektiver Theorien
Zusammenfassende Thesen -
Die Aussagen der Erkenntnis-Objekte können lediglich Konstruktionen sein und folglich fehlerhafte Erklärungszusammenhänge beinhalten.
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Die Identitätsforderung von Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung ist aufzulösen. Die Selbstbeobachtung erfordert eine klare Instruktion, welche ein entsprechendes Kategorisierungssystem zur Verfügung stellt. Die Erkenntnis-Objekte besitzen nicht immer einen vollständigen Zugang zu ihren mentalen Repräsentationen. Sie bekunden möglicherweise Mühe, diese spontan zu verbalisieren. Die Verbalisierung der Selbstbeobachtung gilt es folglich durch den Forscher aktiv zu unterstützen. Die forscherseitige Vorstrukturierung der Untersuchungssituation muss nicht-thematische Realitätskonstruktionen der Erkenntnis-Objekte zulassen können. Die Rekonstruktion Subjektiver Theorien findet sinnvollerweise nicht in Gruppenuntersuchungen statt. Der Situationstyp 'Konfliktklärung' ist nicht zu jenen Bereichen zu zählen, welche als introspektiv schwer zugänglich zu bewerten sind.
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Die Darstellungen in Kapitel 9.3.1 verdeutlichen, dass das Potenzial der Introspektion für das vorliegende Forschungsvorhaben sorgfältig zu ermitteln ist und mögliche Verfälschungen gegen mögliche Erkenntnisgewinne abzuwägen sind (siehe hierzu auch LIEBERMAN 1979). Für viele Forschungsbereiche gilt (wohl notgedrungen) die unausgesprochene Voraussetzung, dass Individuen ihre Kognitionen auf Befragen hin sofort gegen aussen artikulieren können (z. B. kognitive Leistungstestes, Persönlichkeitsfragebogen etc.). Die Arbeiten von NISBETT UND WILSON zeigen, dass dieses Prämisse nicht stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf. Auch das eigene Erleben im Alltag lehrt uns, dass manche Dinge nur unter bestimmten räumlichen, zeitlichen und personalen Bedingungen erinnert werden. Vor diesem Hintergrund gilt es, nicht auf die Frage zu fokussieren, ob Individuen einen Zugang zu ihren Subjektiven Theorien besitzen oder nicht, sondern konstruktiver und zielführender die Frage nach den Bedingungen zu stellen, unter welchen die Zugänglichkeit möglich bzw. erleichtert wird. 9.3.2
Ableitung erster Ziel- und Realisierungsvorstellungen
Im Folgenden werden aus der vorherigen Diskussion wesentliche Ziel- und Realisierungsvorstellungen zur konstruktiven Bewältigung der Zugangsproblematik als Zwischenbilanz abgeleitet. Dies geschieht aus drei unterschiedlichen Perspektiven: der theoretischen, der methodologischen und der gegenstandsspezifischen. Diese lassen sich allerdings aufgrund ihrer zusammenhängenden inneren Logik nicht überschneidungsfrei darstellen, weshalb die folgende Strukturierung lediglich als grobe Orientierung dienen kann.
9 Theoretisch-methodologische Perspektive
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a) Theoretische Perspektive Unter Verweis auf Kapitel 5.2.5 (S. 78) ist der Forschungsstand über die mentalen Repräsentationen hinsichtlich des Situationstyps 'Konfliktklärung' als lückenhaft zu bezeichnen. Folglich wäre ein quantitativ testender Zugang von vorab formulierten Hypothesen unangebracht. Ferner könnte die Wahl von quantitativen Datenerhebungsmethoden dem Forschungsgegenstand nicht gerecht werden – zumindest nicht in einem ersten Zugriff. Dies mit der Begründung, dass aus einer idiographischen Perspektive das Individuelle, Eigentümliche erforscht werden soll. Im Zentrum der Betrachtung stehen zunächst die Abstraktionstypen und nicht deren Auftretenshäufigkeiten oder Gesetzmässigkeiten. Erst in einem zweiten 85 Schritt ist aus einer nomothetischen Perspektive nach möglichen Abstrahierungen und damit verbunden in Richtung einer Generalisierung zu fragen. Im Rahmen dieser Untersuchung 86 wird ein qualitatives Design in Betracht gezogen. Die anzustrebende Untersuchung ist innerhalb der qualitativen Sozialforschung unter Rückgriff auf den Systematisierungsvorschlag von LÜDERS UND REICHERTZ (1986, S. 92) jener Forschungsrichtung zuzuordnen, welche auf das Verstehen der Sicht der Subjekte fokussiert (siehe hierzu auch GERHARDT 1995, S. 152). Im Mittelpunkt steht dabei das Subjekt mit seinen Sichtweisen, Selbst- und Weltbildern, lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten. Dabei steht die Aufgabe im Mittelpunkt, Subjektivität in ihrer Vielfältigkeit und möglicherweise auch Widersprüchlichkeit zu respektieren und angemessen zu rekonstruieren. "Als oberstes Prinzip dient die Maxime, dem Subjekt in allen Phasen des Forschungsprozesses so weitals irgendmöglich gerecht zu werden. […] Das Ziel ist ein 'Verstehen' der jeweiligen subjektiven Sichtweisen, d. h. meist das empathische und virtuelle Hineinversetzen und Einfühlen in die subjektiven Wirklichkeiten des anderen, um dessen Weltsicht möglichst angemessen erfassen, wiedergeben und beschreiben zu können" (LÜDERS & REICHERTZ 1986, S. 92). Jegliches Verstehen ist jedoch immer nur eine Annäherung an eine intersubjektive Wahrheit und Klarheit, denn: "Interpretation ist immer Konstruktion" (SCHRÜNDER-LENZEN 2003, S. 107, Hervorhebung im Original). Damit die Konstruktion des Forschers (also sein Bild von der Sicht des Erkenntnis-Objektes) mit der Konstruktion des Erkenntnis-Objektes (also sein Bild von seiner Innensicht) in einer approximativ deckungsgleichen Rekonstruktion münden kann, ist das Individuum konsequenterweise nicht einem vollständig standardisierten Forschungskonzept zu unterwerfen, wie dies in Experimenten bei NISBETT UND WILSON der Fall war, sondern es muss durch ein aktives Konstruieren und Rekonstruieren von Sinneseinheiten aktiv in den Prozess der Datenerhebung und Validierung eingebunden werden. Damit soll 85
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Aussagen sollen in Anlehnung an PATRY & GASTAGER dann als 'nomothetisch' bezeichnet werden, wenn sie im Hinblick auf die Untersuchungseinheit (siehe Tabelle 7, S. 160) eine gewisse Allgemeinheit enthalten. Es geht dann nicht mehr um einzelne Personen, sondern um alle Personen, welche in der Untersuchungseinheit enthalten sind (siehe hierzu ausführlich PATRY & GASTAGER 2002, S. 55ff.) Dies darf nicht als Abgrenzung gegenüber quantitativen Positionen missverstanden werden. Der Entscheid für oder gegen ein bestimmtes Design sollte generell kein paradigmatischer sein, sondern ergibt sich aus dem Gegenstandsbereich, dem diesbezüglichen Forschungsstand und den darauf ausgerichteten Forschungsabsichten – letztlich also dem Erkenntnisinteresse (zum Verhältnis von Forschungsziel und Methode siehe auch PRENGEL 2003). Ferner schliesst eine qualitativ ausgerichtete Forschung keineswegs quantitative Auswertungen aus.
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Forschungsstrategie
zum Ausdruck gebracht werden, dass die Rekonstruktion nicht als etwas Gegebenes im positivistischen Sinne zu verstehen ist, sondern selbst wiederum eine Konstruktion darstellt (LENK 1994, S. 91). D. h., wenn im Folgenden von 'Rekonstruktionen' gesprochen wird, ist damit immer etwas durch die Gesprächspartner Konstruiertes und Konstituiertes gemeint. Wie bereits gezeigt wurde, knüpfen NISBETT UND WILSON die Fähigkeit zur Introspektion unzertrennlich an die Voraussetzung der Deckungsgleichheit zwischen der psychischen Realgeltung in Form der Selbstberichte (verbale Reporte als Rekonstruktionsadäquanz) und der physischen Realgeltung (Realisierungsadäquanz) in Form des tatsächlichen Handelns und unterstellen damit die theoretisch (und empirisch) nicht haltbare Identität von Selbstbeobachtung und Selbstbericht. Ausgehend von der Nicht-Identität ergeben sich für das Forschungsvorhaben konsequenterweise zwei weitere wesentliche Forderungen: - Die Frage nach der Introspektion ist strikt von der Frage nach der Realisierungsadäquanz zu trennen. Erstere beschäftigt sich thematisch mit der Innensicht des ErkenntnisObjektes, während sich die zweite Fragestellung der empirischen Bewährung der rekonstruierten Innensicht widmet. Thematisch ist die erste Fragestellung nur dem Erkenntnis-Objekt direkt zugänglich. Die Innensicht ist damit allein von der Vermittlung des Individuums nach aussen via Selbstbericht abhängig (SCHEELE 1981, S. 68). Die Vermittlung nach aussen erfolgt durch das Individuum mittels seiner Alltagssprache, welche es im Rahmen der Rekonstruktion sukzessive in wissenschaftssprachliche Verbalisierungen zu überführen gilt. Dieses konsensuale Realverhandeln zielt darauf ab, eine Form des sprachlichen Ausdrucks zu finden, welche sowohl für das Erkenntnis-Subjekt als auch für das Erkenntnis-Objekt als adäquat akzeptierbar ist. - Dem Erkenntnis-Objekt ist mit den Merkmalen der Reflexivität und kognitiven Konstruktivität folglich auch und gerade für die Selbstbeschreibung die Möglichkeit des Irrtums, der Einsicht und des Lernens durch Einsicht zuzugestehen (SCHEELE 1988, S. 134). Im Vergleich zur Alltagsrealität ist deshalb für die rekonstruierende Erhebung eine höhere Selbstaufmerksamkeit des Erkenntnis-Objektes erforderlich, um Implizites in Explizites zu überführen. Gedächtnispsychologische Untersuchungsergebnisse stützen die Aussage, dass die Selbstaufmerksamkeit als notwendige Bedingung für valide Selbstberichte gelten kann (siehe hierzu zusammenfassend ERICSSON & SIMON 1981, S. 46ff.) Dies bedeutet, dass durch eine systematische Methodik dem Erkenntnis-Objekt eine klarere Innensicht ermöglicht wird. Das Gesagte ist in Bezug auf dessen Stabilität zu prüfen, um dadurch die Konsistenz, Klarheit, Tiefe und Breite der Aussagen zu maximieren. Dadurch kann sich der Erkenntnisgegenstand selbst partiell verändern, wobei diese systematische Explizierungsdynamik nicht als unerwünschter Nebeneffekt oder gar als Fehler klassifiziert wird, welchen es (fremdbestimmt) zu kontrollieren gilt (siehe exemplarisch MERTON & KENDALL 1993, S. 179). Die methodeninduzierte (Mit-)Konstituierung einer Subjektiven Theorie wird "als unhintergehbare Forschungskonsequenz akzeptiert – und wenn man so will, auch indirekt gestützt" (SCHEELE 1988, S. 140). Dabei ist nicht zu übersehen, dass diese Perspektive der Forderung nach einer (idealerweise) nicht-reaktiven Gegenstandskonstituierung diametral entgegensteht. Unter idiographischer Perspektive gilt es, im Rahmen der rekonstruierenden Explikation, die Weiterentwicklung des Erkenntnisgegenstandes anzustreben, um diese als Potenzial für ein intersubjektives Verstehen zu nutzen.
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Die 'Wahrheit' subjektiver Erklärungen wird folglich nicht an objektiven Erklärungshypothesen gemessen, sondern ihr Geltungsanspruch gilt dann als berechtigt, wenn dieser in einem Konsens diskursiv eingelöst werden kann. Mit der Forderung der 'diskursiven Einlösung von Geltungsansprüchen' werden Grundbegriffe eingeführt, welche später im Zusammenhang mit der Validierung von Aussagen noch genauer erläutert werden (Kap. 11.8). b) Methodologische Perspektive Die zweite Perspektive umfasst die methodologisch-strukturelle Ziel- und Realisierungsvorstellungen. Damit die Rekonstruktion Subjektiver Theorien möglichst unverzerrt und der psychischen Realität des Erkenntnis-Objektes gemäss erfolgen kann, sind Befragungsmethodiken zu fordern, welche die potenzielle Reflexions-, Rationalitäts- und Kommunikationsfähigkeit des Erkenntnis-Objektes nicht nur ‚zulassen’, sondern falls notwendig auch in Richtung Überwindung von Introspektionsschwierigkeiten gezielt stützen. Wird davon ausgegangen, dass Subjektive Theorien sowohl inhaltlich als auch strukturell teilweise lediglich implizit vorhanden sind und nicht notwendigerweise eine optimale Präzision sowie einen hohen Konsistenzgrad aufweisen müssen, so hat ihre Rekonstruktion mit dem Anspruch zu erfolgen, diese Gegebenheiten in sich aufzunehmen, indem im Rahmen der einzusetzenden Befragungsmethodiken konkrete Verbalisierungshilfen zur Verfügung gestellt werden. Die Anwendung der Datentheorie auf die (Selbst-)Beschreibung lehrt, dass die Güte der Beschreibung nicht besser sein kann als ihre Kategorisierung (TRÄNKLE 1983, S. 79). Die einzusetzenden Befragungsmethodiken haben folglich nicht nur die Kommunikationsfähigkeit der Erkenntnis-Objekte zwecks Verbalisierung zu unterstützen, sondern müssen zusätzlich anhand von präzisen Instruktionen ein tragfähiges Kategorisierungssystem bereitstellen. Die Beziehung zwischen dem Phänomen und seiner Kategorisierung ist gegenüber dem Erkenntnis-Objekt transparent zu machen. Hierbei soll auf das in Kapitel 4.2 (S. 41) dargelegte Situationstypenmodell Bezug genommen werden. Neben der Bereitstellung eines inhaltlichen und strukturellen Bezugssystems sind die Fragen im Hinblick auf die Approximation der Bedeutungsäquivalenz in einer möglichst gleichen Art und Weise zu stellen, damit die Explikationen untereinander vergleichbar werden (FRIEBERTSHÄUSER 2003, S. 375; WOTTAWA 1980). Dies bedingt eine Planung der zu erörternden Fragestellungen innerhalb der einzelnen Kategorien im Voraus. Zur Vermeidung der in den Untersuchungen von NISBETT UND WILSON festgestellten 'demand characteristics' ist darauf zu achten, dass nicht nur hypothesengerichtete, sondern auch hypothesenungerichtete Fragen entwickelt werden. Trotz des geforderten strukturierten Zugangs muss eine zwingend notwendige Offenheit und Flexibilität gegenüber den Inhalten des Erkenntnis-Objektes zugelassen werden, ansonsten die Gefahr besteht, dass wertvolle (nicht-thematische) Verbalisierungen möglicherweise unberücksichtigt bleiben, wenn diese den etablierten Theorien widersprechen (vgl. COTTON 1980). Diese Forderung ist als dialektisches Verhältnis zwischen Struktur und Authentizität zu verstehen (GERHARDT 1995, S. 148f.): Es gilt, einerseits die Befragten als gleichberechtigte Kommunikationspartner aufzufassen – mit ihren Augen auf den Forschungsgegenstand zu blicken, um dadurch dessen Einzigartigkeit und Besonderheit zu verstehen. Andererseits muss sich das Verstehen an einer theorie- oder prämissengeleiteten
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Forschungsstrategie
Struktur orientieren, um dadurch eine vergleichbare, abstrahierende Perspektive zu ermöglichen. Die Anwendung einer Befragungsmethode darf keinen Bewertungscharakter aufweisen, ansonsten besteht die Gefahr, dass die Erkenntnis-Objekte die Versuchsleiter als potenzielle Beurteiler der eigenen Leistung ansehen. Persönliche Stellungnahmen seitens der Versuchsleitung sind zu unterlassen, da diese die typischen Effekte einer Bewertungserwartung hervorrufen können. Neben den Inhalten, dem Ablauf sowie den formellen Rahmenbedingungen der Befragung sind folglich auch die Zielsetzungen und NichtZielsetzungen einer Befragung zu verdeutlichen (z. B.: Welchem Zweck dient die Untersuchung? Was geschieht mit den Daten? Wie werden diese verwendet und ausgewertet? Wer hat Einsicht in die Daten und die Auswertungen? In welcher Form werden die Daten öffentlich zugänglich gemacht? etc.). Nur so wird es den Teilnehmenden gelingen, sich mit den Inhalten und Prozessen ihrer Subjektiven Theorien auseinanderzusetzen. Die Versuchspersonen sollen nicht mit (gedanklichen) Aufgaben belastet werden, welche aus der Untersuchungssituation selbst entstehen, jedoch nichts mit dem Inhalt und der Struktur des Untersuchungsgegenstandes zu tun haben (vgl. hierzu auch P. WHITE 1980, S. 109). Da auf individuelle, mentale Repräsentationen rekurriert wird, können keine validen Ergebnisse bei Analysen von Gruppenmeinungen oder -erlebnisssen gewonnen werden (KRAUT & LEWIS 1982, S. 449; P. WHITE 1980, S. 109f.). Die Fragen müssen folglich im Rahmen von Einzelbefragungen auf Individualerlebnisse innerhalb des Situationstyps fokussieren. c) Gegenstandsspezifische Perspektive Die dritte Perspektive betrifft den Gegenstandsbereich der Rekonstruktionen. Es ist zu prüfen, ob der vorliegende Situationstyp Handlungsbereiche definiert, welche die Verwirklichung der Modellannahmen des epistemologischen Subjektmodells fördern oder zumindest nicht behindern. So stellten SMITH UND MILLER (1978, S. 361) unter Verweis auf weitere empirische Untersuchungen fest, dass Handlungsbereiche, welche von den Erkenntnis-Objekten als interessant, herausfordernd und bewusst gestaltet wahrgenommen werden, eher präzise und fehlerfreie Verbalisierungen evozieren. Für die in solchen Handlungsbereichen erforderlichen mentalen Prozesse werden in der Forschungsliteratur häufig auch die Termini 'plan processing' (SCHANK & ABELSON 1977, S. 9) oder 'controlled processes' (SHIFFRIN & SCHNEIDER 1977) verwendet. Diese mentalen Prozesse sind der Introspektion insbesondere dann zugänglich, wenn sie eher ‚langsam’ ausgeführt werden (SHIFFRIN & SCHNEIDER 1977, S. 156ff.). Dies im Gegensatz zu kontrollierten Prozessen, welche sehr schnell, also eher reflexartig verlaufen, wodurch lediglich ein 'verschleierter' Zugang besteht. Aufgabenbereiche, welche hingegen eher unbewusst, routiniert und automatisiert bewältigt werden, sodass eine gewisse ‚Unbekümmertheit’ vorherrscht, gelten als schwieriger oder gar nicht explizierbar (SHIFFRIN & SCHNEIDER 1977, S. 170). Zu denselben Aussagen kommt SCHEELE (1988) aus theoretischen Überlegungen unter Verweis auf GROEBEN (1986b). Es wurde diesbezüglich bereits darauf hingewiesen, dass die Rekonstruktionen von Routinen und Automatismen aus theoretischer Perspektive als introspektiv schwer zugänglich gelten, da diese intentional kaum (mehr) Aufmerksamkeit benötigen und die Erkenntnis-Objekte Mühe bekunden, über ihre intervenierenden Prozesse zu berichten.
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Folglich gilt es, zur konstruktiven Auseinandersetzung mit der Implizitätsproblematik vorerst Bereiche aufzunehmen, welche aus theoretischen Überlegungen als 'geeignet' erscheinen, bevor potenzielle erschwerende Bedingungen und Grenzen des introspektiven Zugangs bestimmt werden. Diese Abgrenzung zwischen den beiden genannten Aufgabenbereichen bzw. Bewältigungsstrategien ('automatisiert' versus 'bewusst gestaltet') ist eine qualitative und kann nicht losgelöst von einer bestimmten Zielgruppe beurteilt werden. Der zu untersuchende Gegenstandsbereich der 'Konfliktklärung' fällt aufgrund seiner Komplexität nicht in den Aufgabenbereich der routinierten Alltagshandlungen – schon gar nicht für die vor87 liegende Zielgruppe. Diese Aussage wird wie folgt begründet: - Die Auswertungen der Kursbeurteilungen zeigen, dass die Teilnehmenden die Bewältigung des Situationstyps 'Konfliktklärung' als herausfordernd eingestuft haben. Diese Aussage stützt sich auf die Ergebnisse der Kursevaluationen, welche die Universität St. Gallen seit vier Jahren in eigener Regie durchführt (siehe hierzu Anhang 2.1, S. 473). - Die Rückmeldungen der Erkenntnis-Objekte nach der Durchführung der Untersuchung bestätigen die These, dass die 'Konfliktklärung' nicht zum Aufgabenbereich der routinierten Alltagshandlungen gezählt werden kann (siehe hierzu später in Kap. 17, S. 312). - Auch eigene Erfahrungen lehrten mich, dass die Bewältigung dieses Situationstyps immer wieder eine neue Herausforderung darstellt. Dennoch ist es denkbar, dass einzelne Handlungssequenzen innerhalb des Situationstyps von der Zielgruppe aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen und Selbstwahrnehmungen als vertraut oder routiniert eingestuft werden. Ein Indikator für solche Situationen sehen TAYLOR UND FISKE (1978, S. 252f.) in spontanen, wenig reflektierten Antworten, welche typischerweise bei routinierten, alltäglichen und wenig herausfordernden Aufgabenbereichen durch die Versuchspersonen geäussert wurden. Dennoch können die Handlungsbereiche des vorliegenden Situationstyps im Generellen hinsichtlich präziser und fehlerfreier Verbalisierungen als geeignet eingestuft werden. 9.3.3
Zwischenfazit
Das Kapitel 9.3.2 hatte zum Ziel, auf der Grundlage der kritischen Diskussion der Arbeiten von NISBETT UND WILSON für das vorliegende Forschungsvorhaben konstruktive Lösungsansätze zur Überwindung potenzieller Introspektionsschwierigkeiten herauszuarbeiten. Die Tabelle 11 fasst die theoretischen, methodologischen und gegenstandsspezifischen Forderungen zusammen, von welchen angenommen werden darf, dass sie für die anvisierte Untersuchung von Relevanz sind und die introspektive Zugänglichkeit zu den Subjektiven Theorien erleichtern.
87
Zu derselben Feststellung gelangt REGNET (2001). Auch sie geht davon aus, dass soziale Konflikte "wohl für niemanden eine Routinehandlung darstellen" (S. 142).
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Forschungsstrategie
Tabelle 11: Bedingungen zur Überwindung potenzieller Introspektionsschwierigkeiten
Theoretische, methodologische und gegenstandsspezifische Bedingungsaussagen -
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Die Ermöglichung einer klareren Innensicht bedingt eine systematische Erhebungsmethodik. Die Verbalisierungen des Erkenntnis-Objektes sind auf ihre Stabilität und Konsistenz hin zu prüfen. Die Explizierungsdynamik ist nicht als unerwünschter Nebeneffekt zu klassifizieren, sondern als methodeninduzierte (Mit-)Konstituierung einer Subjektiven Theorie zu akzeptieren. Die Berechtigung subjektiver Erklärungen gilt dann als erfüllt, wenn diese einem diskursiv herbeigeführten Konsens standhalten können. Die Beurteilung der Rekonstruktionsadäquanz verlangt folglich nach Kriterien, welche in einem Diskurs einlösbar sind. Die anzustrebende Befragungsmethodik hat die potenzielle Reflexions-, Rationalitäts- und Kommunikationsfähigkeit des Erkenntnis-Objektes gezielt zu stützen, indem neben konkreten Verbalisierungshilfen ein tragfähiges Kategorisierungssystem bereitgestellt wird.
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Die Leitfragen sind innerhalb der einzelnen Grundkategorien im Voraus zu planen. Die Methodik muss die notwendige Offenheit und Flexibilität gegenüber den Inhalten des Erkenntnis-Objektes zulassen.
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Die Anwendung der Befragungsmethodik darf keinen Bewertungscharakter aufweisen. Die Untersuchungssituation ist gegenüber dem Erkenntnis-Objekt möglichst transparent zu gestalten. Die Datenerhebung hat sich auf Individualerlebnisse abzustützen. Die Rekonstruktion von Handlungsbereichen gestaltet sich dann als schwierig, wenn diese eher unbewusst, automatisiert und/oder reflexartig bewältigt werden und folglich introspektiv kaum zugänglich sind. Der zu untersuchende Handlungsbereich soll von den Erkenntnis-Objekten als interessant, herausfordernd und bewusst gestaltet wahrgenommen werden.
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9.4
Die Rekonstruktion Subjektiver Theorien verlangt für den vorliegenden Gegenstandsbereich nach einem qualitativ ausgerichteten Design. Die Subjektivität gilt es in ihrer Vielfältigkeit und möglicherweise auch Widersprüchlichkeit zu respektieren und angemessen zu rekonstruieren. Das Erkenntnis-Objekt ist möglichst aktiv in den Prozess der Datenerhebung und Validierung einzubeziehen. Die Identität der Rekonstruktionsadäquanz und Realitätsadäquanz ist aufzulösen. Eine Rekonstruktionsadäquanz verlangt nach wissenschaftssprachlichen Verbalisierungen. Die Rekonstruktion Subjektiver Theorien bedingt im Vergleich zur Alltagsrealität eine höhere Selbstaufmerksamkeit des Erkenntnis-Objektes.
Orientierung an den zentralen Prinzipien qualitativer Forschung
Die erarbeiteten Bedingungen aus dem vorangehenden Kapitel werden im Folgenden um zentrale Prinzipien qualitativer Forschung ergänzt. Obschon es die qualitative Forschung – zumindest in methodologischer Hinsicht – eigentlich nicht gibt, stehen in ihrem verbindenden Kern Grundüberzeugungen oder Konventionen, welche man in ihrer Zusammen-
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fassung als die Programmatik qualitativer Forschung verstehen kann: Forschung als Kommunikation, Reflexivität, Offenheit und Flexibilität, Authentizität, Explikation sowie 88 Prozesscharakter von Forschung und Gegenstand (LAMNEK 2005, S. 20ff.) . Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf jene Prinzipien, welche für die vorliegende Untersuchung und die Darstellung der Ergebnisse als besonders wichtig erscheinen. 9.4.1
Forschung als Kommunikation
Mit der Einsicht, Forschung als Kommunikation aufzufassen, wird die Interaktionsbeziehung zwischen dem Forscher und den Beteiligten zum expliziten Bestandteil des Forschungsprozesses (zu den Rollenverständnissen siehe Kap. 11.2). Die Analyse der 'Wahrnehmung' von Äusserungen des Erkenntnis-Objektes macht klar, worin sich das Sinnverstehen von der Wahrnehmung physikalischer Gegebenheiten unterscheidet: "es erfordert die Aufnahme einer intersubjektiven Beziehung mit dem Subjekt, das die Äusserungen hervorgebracht hat" (HABERMAS 1995, S. 164). Damit rückt in den Worten von HABERMAS ein 'vergessenes Thema' der analytischen Wissenschaftstheorie in den Vordergrund: die Intersubjektivität. Die Daten entstehen in diesem Forschungsvorhaben durch die anvisierten mündlichen Befragungen als Ergebnis einer unmittelbaren Interaktion zwischen dem Erkenntnis-Objekt und dem Erkenntnis-Subjekt und müssen folglich auch als Produkt dieser Aushandlungen gelesen werden. Damit wird die 'Abstinenz' des Forschers bewusst aufgegeben. Er fungiert nicht mehr als Non-Person, sondern wird zu einem aktiven Mitgestalter des Datenerhebungsprozesses. Dies ist im Hinblick auf das noch zu spezifizierende normative Verständnis einer gleichberechtigt argumentativen Forschungskommunikation unvermeidbar (vgl. hierzu ausführlich Kap. 11.4). "Die Person des Wissenschaftlers stellt in einem umfassenden Sinne sein Forschungsinstrument dar" (BERGOLD & BREUER 1987, S. 39ff.). Weil die Kommunikationsbeziehung als wesentliche Bedingung für die Erkenntnis aufgefasst und nicht als Störvariable soweit möglich kontrolliert oder gar eliminiert werden soll, gilt es, dem Phänomen der Reaktivität besondere Beachtung zu schenken (MAROTZKI 1999, S. 125). Diese reaktiven Effekte müssen nicht zwangsläufig zu Verzerrungen führen, können aber trotz allen Bemühungen nie vollständig ausgeschlossen werden. Forschung als Kommunikation aufzufassen, impliziert im Kontext dieser Untersuchung noch eine zweite wesentliche Komponente: das Erfordernis, die Daten nicht nur mit den Beteiligten zu erheben, sondern auch kommunikativ zu validieren (LECHLER 1994; SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 18ff.; SCHLEE 1988a, S. 24ff.; WAHL 1979a, S. 213ff.). Die kommunikative Validierung muss ein integrierter Bestandteil des methodischen Vorgehens bilden. Sie soll nicht – losgelöst von der Datenerhebung – zeitlich nachgelagert 'angehängt' werden. Diese Einbettung geschieht sinnvollerweise mit der Konzipierung des methodischen Zugangs, weil dieser die notwendigen Rahmenbedingungen bereitstellen muss, welche eine solche Validierung erst ermöglichen. Deshalb kann die konkrete Ausgestaltung einer kommunikativen Validierung erst an späterer Stelle diskutiert werden (siehe Kap. 11, insbesondere Kap. 11.8, S. 243). 88
Weitere Darstellungen und Diskussionen hierzu sind zu finden in FLICK (1995, S. 148ff.), KRÜGER (2000), STEINKE (2000; 2005) und MAYRING (2002, S. 24ff.).
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Forschungsstrategie
9.4.2
Reflexivität
Die Reflexivität wird im Forschungsgegenstand vermutet (LAMNEK 2005, S. 23). Sie stellt eine wesentliche Bedingung für die Auffassung von Forschung als Kommunikation dar. Dabei wird – unter Rückgriff auf das interpretative Paradigma – sowohl dem Erkenntnis-Subjekt als auch dem Erkenntnis-Objekt eine prinzipielle Reflexivität unterstellt (diese Kernannahme wurde im Zusammenhang mit dem Menschenbild in Kap. 6, S. 83 erörtert). Wenn Bedeutungen menschlichen Verhaltens oder Handlungen durch Reflexivität konstituiert werden, kann jede Bedeutung nur kontextgebunden sein. Für eine Untersuchungs89 situation wie die hier vorliegende spielt deshalb die Indexikalität (Kontextverbundenheit) in doppelter Hinsicht eine wichtige Rolle: Eine bestimmte Äusserung ist häufig mit einem kontextspezifischen 'Index' versehen, welcher auf den Hintergrund verweist, vor dem die Äusserung erst verständlich wird. KEBECK UND SADER sprechen in diesem Zusammenhang von "Bezugssystemabhängigkeit" von Aussagen (1984, S. 230). Bleibt dieser 'Index' bzw. das Bezugssystem unklar, kann es zu Un- oder Missverständlichkeiten zwischen Erkenntnis-Objekt und Erkenntnis-Subjekt kommen. Folglich muss sowohl der Kontext der Untersuchung im 'Hier und Jetzt' als auch der Kontext im 'Dort und Damals' (Situationstyp) explizit werden. Insbesondere bei Letzterem ist zu prüfen, ob der 'Index' einer Äusserung seitens des Erkenntnis-Objektes noch innerhalb des zu untersuchenden kontextualen Rahmens liegt. 9.4.3
Offenheit
Selbst oder fremdorganisiert? Das Prinzip der Offenheit wird in der forschungsmethodischen Literatur häufig mit dem Verweis auf die Arbeiten von BARNEY GLASER UND ANSELM STRAUSS (1967) begründet. In 'The Discovery of Grounded Theory' argumentieren die Autoren, zu Beginn eines Forschungsprozesses auf im Voraus formulierte Hypothesen oder 'festgelegte Ideen' zu verzichten. "In this posture, the analyst is able to remain sensitive to the data by being able to record events and detect happenings without first having them filtered through and squared with preexisting hypotheses and biases. His mandate is to remain open to what is actually happening" (GLASER 1978, S. 3). Dieser dogmatische Anspruch, welcher eher forschungspolitisch als methodologisch begründet war, hat zu einem "induktivistischen Selbstmissverständnis" (KELLE & KLUGE 1999/2008, S. 12) in dem Sinne geführt, als dass zentrale theoretische Konzepte und Kategorisierungen quasi von selbst aus dem Datenmaterial emergieren würden. Dieses Emergenzkonzept ist stark zu bezweifeln, denn "die Erkenntnisgewinnung bei qualitativen Verfahren ist – wie andere Forschung auch – auf irgendwelche inhaltliche Vorannahmen angewiesen" (VON SALDERN 1995, S. 360). Die Tauglichkeit naiv induktivistischer Forschungsstrategien scheint heute mehrheitlich in Frage gestellt zu sein. "Denn es gibt und kann keine Wahrnehmung geben, die nicht von Erwartungen durchsetzt ist" (LAKATOS 1982, S. 14). Eine Ignoranz gegenüber bereits bestehenden Theorien, ein Ausblenden eigener Vorkenntnisse und Erfahrungen oder ein Zurückdenken von bereits Gedachtem ist also weder aus er-
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Der Begriff 'Indexikalität' stammt aus der ethnomethodologischen Terminologie und geht auf GARFINKEL (exemplarisch 1967, S. 4ff.) zurück. Allgemein ist damit die Kontextverbundenheit von Ausdrucksweisen gemeint.
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kenntnistheoretischer Sicht noch aus einer forschungspraktischen Perspektive argumentativ begründbar. Diese Position verkennt, "dass auch die erste Konstitution von Daten bereits eine aktive Leistung des Forschers darstellt, die auf seinem Forschungsinteresse und Vorverständnis aufbaut" (MEINEFELD 2005, S. 269, Hervorhebung im Original). Eine solche Forschungsstrategie brächte eine unnötige Intransparenz in den Forschungsprozess und würde damit einem weiteren wesentlichen Prinzip der qualitativen Forschung entgegenstehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass diese Argumentation selbst im Widerspruch zu einer theoretischen Kernaussage der qualitativen Forschung steht; die Interpretation einer Situation ist wissensabhängig (vgl. hierzu auch die Argumentation betreffend die theoretischen Unzulänglichkeiten bei den Untersuchungen von NISBETT UND WILSON, Kap. 9.3.1, S. 174f.). Eine im Voraus finite Hypothesenkonstruktion und Theoriebildung, welche vor allem theoretische Fantasie und die Fähigkeit zur kühnen Spekulation erfordert (ROTH 1995, S. 89), ist ebenfalls kritisch zu hinterfragen. Eine soziologisch begründete Kritik zu diesem Verständnis wurde erstmals von WILSON durch das Denkmodell des interpretativen Paradigmas formuliert (1973a; 1973b): Der Mensch wird nicht im Sinne des normativen Paradigmas als ein Individuum verstanden, welches relativ unabhängig vom situativen Kontext, basierend auf gesellschaftlich etablierten Rollen und Normen, starr regelgeleitet handelt (VOLMERG 1983, S. 125), sondern als ein Individuum, das die soziale Interaktion als interpretativen Prozess wahrnimmt. Interaktion wird also nicht als "rule governed" (T. P. WILSON 1973a, S. 59) aufgefasst, sondern "as an essentially interpretative process in which meanings evolve and change over the course of interaction" (S. 67). Die sich aus diesen beiden Grundpositionen ergebenden – schon fast 'traditionellen' – methodologischen Streitigkeiten sollen an dieser Stelle nicht weiter aufgenommen werden. Dennoch: Die Gefahr ist gross, dass Forscher, welche formale Theorien a priori operationalisieren und mit dieser vorgefassten, informationsreduzierten Perspektive an das Forschungsfeld herantreten, die Sinn- und Bedeutungsstrukturen der Konstruktionen der in diesem Feld agierenden Individuen verkennen. Das Bild, welches sich der Forscher über sein Forschungsobjekt deduktiv konstruiert hat, überblendet die Bilder der Selbst- und Weltsicht der betroffenen Akteure, wobei möglicherweise wichtiges Datenmaterial unberücksichtigt bleibt (HOPF 1996). Bedingte Offenheit durch theoretische Sensibilität Für dieses Forschungsvorhaben erscheint in diesem Zusammenhang eine zweite Denkrichtung von GLASER UND STRAUSS als 'vermittelnde' Position wertvoll: das Konzept der 'theoretischen Sensibilität'. Die Autoren waren sich offenbar der Schwierigkeiten bezüglich ihrer induktivistischen Vorgehensweise (teilweise) bewusst. Sie räumen in ihrem Buch ein: "Of course, the researcher does not approach reality as a tabula rasa. He must have a perspective that will help him see relevant data and abstract significant categories from this scrutiny of the data" (GLASER & STRAUSS 1967, S. 3 Fn. 3, Hervorhebung im Original). In 'The Discovery of Grounded Theory' wird damit eine zweite Vorstellung zur Theoriebildung ex-
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pliziert – wenn auch unverbunden zum postulierten Emergenzkonzept. Der Forscher – als theoretisch sensibles Individuum – entdeckt dabei in seinem Gegenstandsbereich Phänomene, Strukturen, Regelhaftigkeiten etc., "welche ihn Theorien grosser Reichweite zu sehen gelehrt haben" (KELLE 1996, S. 29). Theorien geben damit dem Forscher ein Rahmenwerkzeug in die Hand, welches es bewusst zu nutzen gilt. Die dieser Arbeit zugrunde liegende Vorstellung von Offenheit versteht sich als eine bedingte Offenheit sowohl auf einer inhaltlichen als auch einer methodischen Ebene. Dieses Verständnis von Offenheit basiert auf einer Grundhaltung, welche als geleitete Flexibilität bezeichnet werden kann. Einerseits geleitet durch alltagsweltliches Vorwissen, allgemeintheoretische Konzeptionen grosser Reichweite, gegenstandsbezogene Theorien sowie konkrete Forschungsinteressen. Andererseits im Kreise des Erkenntnisinteresses flexibel gegenüber dem Besonderen des Forschungsgegenstandes, dem methodischen Zugang und der Bearbeitung neuer, nicht a priori intendierter Fragestellungen, welche erst aus dem Forschungsprozess emergieren. Die verfügbaren Wissensbestände, Selbst- und Weltsichten des Forschers strukturieren dessen Wahrnehmung (MEINEFELD 2005, S. 273). Die Forschung wird geleitet "by the researcher's set of beliefs and feelings about the world and how it should be understood and studied" (DENZIN & LINCOLN 2005, S. 22). Die zu fordernde Offenheit gegenüber der Besonderheit des Untersuchungsgegenstandes wird nicht durch den Verzicht auf eine Explizierung des Vorwissens gefördert – im Gegenteil: Nur weil etwas nicht expliziert wird, bedeutet dies nicht, dass es dann nicht vorhanden ist. Vielmehr soll das Vorwissen transparent dargestellt und bewusst in den Forschungsprozess integriert werden (siehe hierzu weiter unten 'Prinzip der Explikation', S. 191). Damit ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, wie dieses Vorwissen integriert werden soll. Die Abbildung 25 skizziert, welche Formen des forscherseitigen Vorwissens in den Forschungsprozess einfliessen.
90
Eine methodologisch spezifischere Umsetzung beider Konzepte ist erst in späteren Schriften von GLASER UND STRAUSS zu finden, wenn auch nicht in einer einheitlichen Richtung. Veranlasst durch die zahlreiche Kritik am Emergenzkonzept, verfasste STRAUSS in Zusammenarbeit mit JULIET CORBIN ein einführendes Lehrbuch zu ihrer Sicht von 'Grounded Theory' (1990; 1996). In der Folge antwortete GLASER mit weiteren Werken und führte darin eine scharfe Polemik gegen STRAUSS UND CORBIN (GLASER 1992). Die Ursachen dieser Auseinandersetzung sind nach STRÜBING (2004, S. 64f.) in den divergierenden sozialtheoretischen und erkenntnislogischen Überzeugungen zu sehen. GLASER sieht die 'klassische Grounded Theory' dem Emergenzkonzept verpflichtet, während STRAUSS UND CORBIN eine theoretische Sensibilität fordern, was aus der Perspektive von GLASER ein 'Einzwängen' der Daten in vorgefertigte Konzepte bedeutet.
189
9 Theoretisch-methodologische Perspektive
Abbildung 25: Forscherseitiges Vorwissen
Wissen des Forschers
Theoriewissen
Empirisch leer Situationstypenmodell
Alltagswissen
Empirisch gehaltvoll Menschenbild / Subjektverständnis
Subjektive Theorien
Erfahrungen mit der Bewältigung des Situationstyps Erfahrungen aus den Seminaren mit der Zielgruppe
Theorie der Klärungshilfe Erfahrungen aus der Ausbildung zum Klärungshelfer
Das Theoriewissen des Forschers lässt sich aufgrund seiner logischen Struktur in empirisch gehaltvolles und empirisch 'leeres' Wissen einteilen. Letzteres beschreibt die Kategorie der 'sensitizing concepts', welche auf HERBERT BLUMER als einen der führenden Theoretiker des symbolischen Interaktionismus zurückgehen. In den Worten BLUMERS beschreibt sich das empirisch 'leere' (Vor-)Wissen folgendermassen: "[…], it gives the user a general sense of reference and guidance in approaching empirical instances. Whereas definitive concepts provide prescriptions of what to see, sensitizing concepts merely suggest directions along which to look. […] It should be pointed out, also, that sensitizing concepts, even though they are grounded on sense instead of on explicit objective traits, can be formulated and communicated. This is done little by formal definition and certainly not by setting bench marks. It is accomplished instead by exposition which yields a meaningful picture, abetted by apt illustrations which enable one to grasp the reference in terms of one's own experience. This is how we come to see meaning and sense in our concepts" (BLUMER 1954, S. 7, 9). Die 'empirische Leere' der sensibilisierenden Konzepte stellt folglich kein theoretisches Manko dar – im Gegenteil: Sie stellen die notwendige theoretische Perspektive zur Verfügung, durch die relevante Phänomene überhaupt erst wahrgenommen und beschrieben werden können (KELLE & KLUGE 1999/2008, S. 34). Ihre vorstrukturierende Rolle als theoretisches Raster und 'Achse' der Kategoriebildung ist gleichzeitig 'offen' genug, ohne Gefahr zu laufen, die Relevanzsetzungen der Befragten zu überblenden. Zudem wird die problematische Trennung der Datenerhebung und Datenauswertung aufgehoben, da die 'sensitizing concepts' auch in der Auswertungsphase eine theoriegeleitete Sichtung des Materials ermöglichen. Die Auswertung konstituiert dann neues, fundierteres Wissen, welches in späteren empirischen Forschungen wiederum als Vorwissen zu gelten hat, bis ein Gegenstand adäquat erfasst werden konnte (WITZEL 1982, S. 69). Die von BLUMER beschriebenen sensibilisierenden Konzepte stellen jedoch nicht die einzige Form des theoretischen Vorwissens dar, welches im Forschungsprozess eine Rolle spielt
190
Forschungsstrategie
(vgl. Abbildung 25). Zusätzlich fliessen auch empirisch 'gehaltvolle' Konzepte mit ein, welche in der vorhandenen Literatur über das Untersuchungsfeld bereits vorhanden sind und vom Forscher bewusst aufgearbeitet und integriert wurden. Neben dem Theoriewissen bringt der Forscher auch persönliche, alltagsweltliche Erfahrungen in den Forschungsprozess mit ein. Die Integration der inhaltlichen Vorerfahrungen im Rahmen der geleiteten Flexibilität ist zusammenfassend in Tabelle 12 dargestellt. Tabelle 12: Integration des gegenstandsbezogenen forscherseitigen Vorwissens in das Forschungsvorhaben
empirisch leeres Theoriewissen empirisch gehaltvolles Theoriewissen Das Situationstypenmodell als ein Die empirisch gehaltvolle KonfliktRahmenwerkzeug zwecks theorieklärungstheorie wurde unter Rückgriff geleiteter Vorbereitung der Datenauf das Situationstypenmodell in erhebung und -auswertung wurde in Kapitel 7 (S. 89) aufgearbeitet. Kapitel 4.2 (S. 41) dargestellt. Das handlungsleitende SubjektverständDie Konzeption der Subjektiven nis als Konzeption des epistemoTheorien als gegenstandsbezogene, logischen Subjektmodells wurde in mentale Repräsentationen sind Kapitel 6 (S. 81) erörtert. Gegenstand des Kapitels 5 (S. 55).
Alltagswissen Das alltagsweltliche Vorwissen wird nur partiell an relevanten Stellen expliziert, da grundsätzlich ein unendlicher Regress möglich wäre.
Die geleitete Flexibilität manifestiert sich in methodischer Hinsicht in den folgenden drei Phasen der Forschungsstrategie: - Phase 1: Vor dem Hintergrund des Gegenstandsvorverständnisses galt es, unter Bezugnahme auf die Gegenstands-Methodik-Interdependenz bei der Suche und Bestimmung möglicher methodischer Richtungen offen zu sein und sukzessive sorgfältig zu prüfen, welcher Zugang dem Gegenstandsbereich gerecht werden kann (vgl. hierzu die ausführliche theoretisch-methodologische Diskussion in Kap. 9.2 & 9.30). - Phase 2: Im Anschluss an diese erste Annäherung gilt es, innerhalb des Methodenrepertoires einer innensichtfundierten Methodik eine Methode zu bestimmen, welche das Potenzial besitzt, 'Abweichungen' und 'Unerwartetes' des Feldes zu erkennen und zu protokollieren. Denn auch inhaltlich offene Methoden (z. B. bestimmte Formen einer mündlichen Befragung) garantieren nicht per se eine inhaltliche Offenheit, weil auch hier das (implizit) vorhandene Vorwissen des Forschers zu einer selektiven Wahrnehmung und Interpretation führen kann. In Kapitel 10 werden mögliche mündliche Befragungsformen diskutiert, welche das geforderte Potenzial besitzen. - Phase 3: Die geleitete Flexibilität zeigt sich in methodischer Hinsicht nicht nur bei der Bestimmung des Datenerhebungsverfahrens, sondern auch bei der Auswahl und Anwendung der Methoden zur Datenauswertung (siehe hierzu Kap. 13). Durch die Integration des Vorwissens sowie einer bewussten Handhabung des methodischen Zugangs erhöht sich die theoretische Sensibilität, welche "die Identifizierung theoretisch relevanter Phänomene im Datenmaterial ermöglicht" (KELLE 1996, S. 32).
10 Methodische Perspektive
9.4.4
191
Strukturierung und Authentizität
Die bedingte Offenheit mit der Grundhaltung einer geleiteten Flexibilität trägt zugleich der Forderung Rechnung, Strukturierung und Authentizität zu gewährleisten (GERHARDT 1995, S. 148f.). Das dialektische Verhältnis von Authentizität und Strukturierung tangiert grundsätzlich jeden Forschungsprozess – allerdings in unterschiedlicher Akzentuierung. Zur Erforschung der Subjektsicht durchzieht dieses Spannungsfeld insbesondere die methodische Diskussion, welche sich in den Antagonismen von Subjektivierung und Objektivierung niederschlägt. Angestrebt wird einerseits, flexibel, authentisch und subjektorientiert auf die Befragten als gleichberechtigte Kommunikationspartner einzugehen – sie möglichst weitgehend in ihrer Einzigartigkeit und Besonderheit zu verstehen, andererseits muss sich das Rekonstruieren an einer theorie- oder prämissengeleiteten Struktur orientieren (nicht festklammern), damit überhaupt Antworten auf die gestellten Fragen entwickelt werden können (HERMANNS 1995, S. 149). Diese Ansprüche gilt es bei der Prüfung potenzieller mündlicher Befragungsverfahren zu berücksichtigen (vgl. Kap. 10). 9.4.5
Explikation
Das Prinzip der Explikation verlangt, alle Forschungsschritte so weitwie möglich offenzulegen (KELLE & KLUGE 1999/2008, S. 28ff.; LAMNEK 2005, S. 24). Da sich ein qualitativer Forschungsansatz über weite Strecken einer Standardisierung entzieht und das Regelwissen des interpretativen Paradigmas meist ein implizites ist, gewinnt dieses Postulat bei der Anwendung qualitativer Methoden besonders an Bedeutung. Das Explikationsprinzip garantiert keine Gültigkeit der Datenauswertung – jedoch die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Forschungsergebnisse. Dem Prinzip der Explikation ist ein hoher Stellwert einzuräumen. Dies insbesondere bei der Entwicklung des Datenerhebungsverfahrens (Kap. 11), dessen Einsatz bei der Datengewinnung (Kap. 15) sowie bei der Datenauswertung (Kap. 13 & 16ff.). Durch die anzustrebende Transparenz sollen dem Leser einerseits die getroffenen Entscheidungen und die dahinter liegenden Erwägungen während des Forschungsprozesses verdeutlicht werden, und andererseits soll er die Möglichkeit haben, die Gültigkeit und Zuverlässigkeit der Deutungen selbst beurteilen zu können. 10
Methodische Perspektive
In Kapitel 9.3 wurden, basierend auf den Untersuchungen von NISBETT UND WILSON, erste Zielund Realisierungsvorstellungen zur Überwindung möglicher Introspektionsschwierigkeiten ausgearbeitet. Durch die Zusammenführung dieser ersten Zwischenbilanz (vgl. Tabelle 11, S. 184) mit den zentralen Prinzipien qualitativer Forschung aus dem Kapitel 9.4 kann nun eine methodische Zugangsvorstellung skizziert werden, welche dem Gegenstandsbereich und den an diesen gerichteten Forschungsfragen gerecht werden kann. Diese Zusammenführung muss nun auf das zu entwickelnde Befragungsverfahren übertragen werden. Zu diesem Zweck werden in einem ersten Schritt die wesentlichen Dimensionen qualitativmündlicher Befragungsverfahren in Anlehnung an LAMNEK (2005, S. 331) festgelegt und in einem zweiten Schritt die Anforderungen innerhalb der jeweiligen Dimensionen ausformuliert (siehe Tabelle 13, S. 193).
10 Methodische Perspektive
9.4.4
191
Strukturierung und Authentizität
Die bedingte Offenheit mit der Grundhaltung einer geleiteten Flexibilität trägt zugleich der Forderung Rechnung, Strukturierung und Authentizität zu gewährleisten (GERHARDT 1995, S. 148f.). Das dialektische Verhältnis von Authentizität und Strukturierung tangiert grundsätzlich jeden Forschungsprozess – allerdings in unterschiedlicher Akzentuierung. Zur Erforschung der Subjektsicht durchzieht dieses Spannungsfeld insbesondere die methodische Diskussion, welche sich in den Antagonismen von Subjektivierung und Objektivierung niederschlägt. Angestrebt wird einerseits, flexibel, authentisch und subjektorientiert auf die Befragten als gleichberechtigte Kommunikationspartner einzugehen – sie möglichst weitgehend in ihrer Einzigartigkeit und Besonderheit zu verstehen, andererseits muss sich das Rekonstruieren an einer theorie- oder prämissengeleiteten Struktur orientieren (nicht festklammern), damit überhaupt Antworten auf die gestellten Fragen entwickelt werden können (HERMANNS 1995, S. 149). Diese Ansprüche gilt es bei der Prüfung potenzieller mündlicher Befragungsverfahren zu berücksichtigen (vgl. Kap. 10). 9.4.5
Explikation
Das Prinzip der Explikation verlangt, alle Forschungsschritte so weitwie möglich offenzulegen (KELLE & KLUGE 1999/2008, S. 28ff.; LAMNEK 2005, S. 24). Da sich ein qualitativer Forschungsansatz über weite Strecken einer Standardisierung entzieht und das Regelwissen des interpretativen Paradigmas meist ein implizites ist, gewinnt dieses Postulat bei der Anwendung qualitativer Methoden besonders an Bedeutung. Das Explikationsprinzip garantiert keine Gültigkeit der Datenauswertung – jedoch die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Forschungsergebnisse. Dem Prinzip der Explikation ist ein hoher Stellwert einzuräumen. Dies insbesondere bei der Entwicklung des Datenerhebungsverfahrens (Kap. 11), dessen Einsatz bei der Datengewinnung (Kap. 15) sowie bei der Datenauswertung (Kap. 13 & 16ff.). Durch die anzustrebende Transparenz sollen dem Leser einerseits die getroffenen Entscheidungen und die dahinter liegenden Erwägungen während des Forschungsprozesses verdeutlicht werden, und andererseits soll er die Möglichkeit haben, die Gültigkeit und Zuverlässigkeit der Deutungen selbst beurteilen zu können. 10
Methodische Perspektive
In Kapitel 9.3 wurden, basierend auf den Untersuchungen von NISBETT UND WILSON, erste Zielund Realisierungsvorstellungen zur Überwindung möglicher Introspektionsschwierigkeiten ausgearbeitet. Durch die Zusammenführung dieser ersten Zwischenbilanz (vgl. Tabelle 11, S. 184) mit den zentralen Prinzipien qualitativer Forschung aus dem Kapitel 9.4 kann nun eine methodische Zugangsvorstellung skizziert werden, welche dem Gegenstandsbereich und den an diesen gerichteten Forschungsfragen gerecht werden kann. Diese Zusammenführung muss nun auf das zu entwickelnde Befragungsverfahren übertragen werden. Zu diesem Zweck werden in einem ersten Schritt die wesentlichen Dimensionen qualitativmündlicher Befragungsverfahren in Anlehnung an LAMNEK (2005, S. 331) festgelegt und in einem zweiten Schritt die Anforderungen innerhalb der jeweiligen Dimensionen ausformuliert (siehe Tabelle 13, S. 193).
192 10.1
Forschungsstrategie
Katalog der Anforderungen an ein qualitativ-mündliches Befragungsverfahren
Das qualitativ-mündliche Interview wird in der Literatur als ein adäquater Zugang zur Erforschung der Sicht des Subjektes postuliert (siehe exemplarisch DANN & BARTH 1995; FRIEBERTSHÄUSER 2003, S. 371; GROEBEN 1988a; JAKOB 2003, S. 445; KELLE & KLUGE 1999/2008, S. 30; KÖNIG 1995). Diese potenzielle Eignung wird im Zweck dieser Interviewform gesehen: "The purpose of most qualitative interviewing is to derive interpretations, not facts or laws, from respondent talk" (WARREN 2002, S. 83. ). Allerdings existieren ausgehend von diesem Zweckverständnis zahlreiche unterschiedliche qualitative Interviewformen, welche hinsichtlich ihrer Eignung für das vorliegende Forschungsvorhaben näher betrachtet werden müssen. Der Anforderungskatalog (siehe Tabelle 13) dient als Analyseheuristik für die potenziellen Verfahren. Durch dieses Vorgehen wird die adäquate Auswahl und Bestimmung des einzusetzenden Datenerhebungsverfahrens finalisiert.
10 Methodische Perspektive
193
Tabelle 13: Anforderungen an ein qualitativ-mündliches Befragungsverfahren
Dimensionen und konkrete Ausgestaltung für die Untersuchung Organisationsform - Die Datengrundlage bilden Individualerlebnisse innerhalb des Situationstyps. Folglich gilt es, individuumsbezogene Einzelinterviews zu führen. Intention - Die Innensicht des Erkenntnis-Objektes soll in eine explizite, approximativ deckungsgleiche Rekonstruktion zwischen Forscher und Befragtem transformiert werden. - Das Individuelle, Eigentümliche muss inhaltlich und strukturell in seiner Vielfältigkeit abbildbar, beschreibbar und vergleichbar werden. - Es ist ein Beitrag zur erweiternden Präzisierung der subjektiven Sichtweisen auf den Gegenstandsbereich zu leisten, um ein bewusst selbst-kontrolliertes Handeln innerhalb des Situationstyps zu fördern (emanzipatorische Relevanz). Transparenz Das Befragungsverfahren muss eine grösstmögliche Transparenz gegenüber dem Befragten zulassen: - Das Untersuchungsthema (Situationstyp), der systematische Ablauf des Gesprächs, die Zielsetzungen und Nicht-Zielsetzungen des Interviews, die Rollenverständnisse der Interaktionspartner sowie die formellen Rahmenbedingungen sind zu verdeutlichen. - Die Beziehung zwischen dem Phänomen und seiner Kategorisierung ist durch die Bereitstellung eines tragfähigen Strukturierungssystems gegenüber dem Erkenntnis-Objekt transparent zu machen. -
-
Rollenverständnis des Befragten Das Befragungsverfahren muss so ausgestaltet werden, dass jeder Befragte als gleichberechtigter Informant (nicht Respondent) im Rahmen der Datenerhebung und Validierung durch aktives Konstruieren und Rekonstruieren am Forschungsprozesses beteiligt sein kann. Dem Erkenntnis-Objekt ist die Möglichkeit des Irrtums zuzugestehen.
Rollenverständnis des Forschers - Der Forscher ist als aktiver Mitgestalter des Datenerhebungsprozesses zu verstehen. Er braucht die Fähigkeit und Bereitschaft, die subjektiven Wirklichkeiten der Befragten aus deren Sicht zu verstehen, wobei die Subjektivität in ihrer Vielfältigkeit und möglicherweise auch Widersprüchlichkeit zu respektieren ist. Das Befragungsverfahren soll dabei das empathische Hineinversetzen und Einfühlen in die Gesprächspartner begünstigen – oder zumindest nicht behindern. - Das Befragungsverfahren muss dem Forscher die Möglichkeit bieten, dass er die Selbstaufmerksamkeit der Befragten im Vergleich zur Alltagsrealität erhöhen kann. - Das Befragungsverfahren muss dem Forscher ein Instrumentarium bieten, welches ihm bei der unnachgiebigen Suche nach möglichst präzisen und stabilen Explikationen die notwendige Flexibilität verschafft, um möglichst authentisch auf die Befragten eingehen zu können.
194
Forschungsstrategie
Anforderungen an ein qualitativ-mündliches Befragungsverfahren (Fortsetzung)
Dimensionen und konkrete Ausgestaltung für die Untersuchung Fragearten - Die Erkundung erfolgt systematisch und strukturiert mithilfe von Leitfragen. Diese sind im Hinblick auf die Approximation der Bedeutungsäquivalenz in einer möglichst gleichen Art und Weise zu formulieren. - Um dem Forscher innerhalb des Kategoriensystems eine maximale Offenheit und Flexibilität gegenüber den (nicht-thematischen) Inhalten der Befragten zu gewährleisten, muss das Befragungsverfahren verschiedene Arten von Frageformen zulassen: -
offene Fragen zur Exploration kontextspezifische, konkrete, geschlossene, vertiefende Fragen zwecks Maximierung der Präzisierung konfrontierende Fragen zur Prüfung der Stabilität der Subjektiven Konzepte des Erkenntnis-Objektes hypothesengerichtete und hypothesenungerichtete Fragen zur Vermeidung potenzieller 'demand characteristics'
Kommunikationsstil Das Befragungsverfahren muss den Gebrauch unterschiedlicher Kommunikationsstile zulassen, welche in einem Spannungsfeld zueinander stehen: - vertrauensaufbauend und empathisch - direkt, präzise und konfrontierend - unterstützend, indem zwecks Überwindung von Introspektionsschwierigkeiten konkrete Aktualisierungs- und Verbalisierungshilfen zur Verfügung gestellt werden. Antwortqualität - Das Befragungsverfahren muss das Potenzial bieten, alltagssprachliche Formulierungen soweit möglich in wissenschaftssprachliche Verbalisierungen zu überführen, welche es dokumentarisch festzuhalten gilt. - Der Geltungsanspruch der Antworten gilt dann als berechtigt, wenn dieser in einem Konsens diskursiv eingelöst werden kann. D. h., die Rekonstruktion soll vom Befragten als seine Innensicht und vom Forscher als seine Aussensicht akzeptiert werden können.
10.2
Grenzen eines qualitativ-mündlichen Befragungsverfahrens
Bevor die Entscheidung für ein Interviewverfahren begründet und die konkrete Umsetzung dargelegt wird, ist auf eine wesentliche Grenze dieses Ansatzes hinzuweisen: Es wurde ausführlich erörtert, unter welchen gegenstandsspezifischen, methodologisch-strukturellen und theoretischen Bedingungen eine Überwindung möglicher Introspektionsschwierigkeiten als realisierbar erscheint (siehe Kap. 9.3.2 sowie Tabelle 11, S. 184). Trotz Überwindung potenzieller Introspektionsschwierigkeiten ist die Realisierungsadäquanz der Selbstauskünfte nicht garantiert. Dies bedeutet, dass die Explikationen der Erkenntnis-Objekte (Rekonstruktionsadäquanz des Situationstyps) nicht zwingend mit den tatsächlich vollzogenen Handlungen
10 Methodische Perspektive
195
oder Verhaltensweisen übereinstimmen müssen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass zwischen Subjektiven Theorien und der realen Handlung eine prästabilisierte Harmonie besteht. Ein Interviewverfahren kann zur Klärung der Übereinstimmung oder Abweichung zwischen psychischen und physischen Realgeltungsbereichen kaum einen Beitrag leisten, da es keine direkten Aussagen darüber generieren kann, wie das Erkenntnis-Objekt in konkreten Situationen innerhalb des Situationstyps tatsächlich handelt oder sich verhalten hat. Demgegenüber steht das Potenzial, differenzierte Aussagen darüber zu erhalten, wie das Individuum sein Verhalten bzw. seine Handlungen gegen aussen darstellt, wie es diese deutet und (re)konstruiert (die Überprüfung der Geltungsansprüche Subjektiver Theorien wird in Kap. 11.8 ausführlicher diskutiert). Diese Untersuchung widmet sich der Fragestellung der Innensicht des ErkenntnisObjektes im Sinne von Lernvoraussetzungen und nicht der empirischen Bewährung der rekonstruierten Innensicht (vgl. Kap. 8.1, S. 154). Es steht folglich das im Vordergrund, was der Handelnde für wirklich hält, unabhängig von der Realisierungsadäquanz. Denkbar gewesen wäre, die Probanden bei der Klärung von Konflikten in Simulationssituationen zu beobachten und die Videoaufzeichnungen zu nutzen, um ergänzende Daten zu den Interviews zu gewinnen. Dies hätte allerdings zu einer nicht intendierten Ausweitung der Fragestellung geführt: Es wäre dann zu untersuchen gewesen, ob die Interviewten in Übereinstimmung oder Abweichung zu ihren subjektiven Konfliktklärungstheorien agieren, wie also die Beziehung zwischen der Sichtweise des Erkenntnis-Objektes und dem beobachtbaren Interaktionsgeschehen zu charakterisieren ist. Eine solche empirische Prüfung der Bewährung Subjektiver Theorien setzt zwei Annahmen voraus: (1) Subjektive Theorien sind handlungsleitend, und (2) der Forscher kann aus dem beobachtbaren Geschehen Übereinstimmungen und Abweichungen zu den Subjektiven Theorien ableiten. Zur ersten Annahme wurde bereits ausführlich in Kapitel 5 (S. 55) Stellung bezogen. Die mit der zweiten Annahme verbundenen grundsätzlichen forschungsmethodischen Probleme wurden in Kapitel 9.2 im Rahmen der Abgrenzungsüberlegungen zu einer aussensichtfundierten Methodik erörtert (siehe hierzu auch STEINKE 1998, S. 133ff.). Ferner ist zu beachten, dass die Fragestellung dieser Untersuchung auf Subjektive Theorien zu einem relativ komplexen Handlungsfeld zielt. Um valide und reliable Daten zu erhalten, müssten mehrere Klärungssituationen beobachtet werden, wobei eine Sitzung mit zwei Konfliktparteien erfahrungsgemäss ca. 3 bis 5 Stunden dauert. Erst durch ein mehrmaliges Beobachten eines Individuums wäre die Datenbasis ausreichend, um die komplexen Kognitionen mit dem komplexen Handeln in Beziehung setzen zu können. Dies würde aus gegenstandsimmanenten Gründen kaum in realen, sondern in Simulationssituationen geschehen. Eine Einschränkung der Datenerhebung, z. B. auf eine einmalige Beobachtung, auf wenige Probanden oder lediglich auf Ausschnitte einer Klärungssituation, hätte neue Probleme hinsichtlich Aussagekraft und Vergleichbarkeit der Datensätze evoziert. Da sowohl die Erhebung als auch die Bearbeitung der grossen Datenmengen aus Videoaufzeichnungen mehrerer Klärungssituationen das im Rahmen dieser Arbeit Leistbare überstiegen hätte und die Fragestellung deutlich erweitert worden wäre, können diese Ansätze (vorerst) nicht weiterverfolgt werden.
196
Forschungsstrategie
10.3
Kriteriengeleitete Abgrenzungs- und Integrationsüberlegungen
Im folgenden Kapitel werden gängige qualitativ-mündliche Befragungsverfahren diskutiert, obschon angesichts der Vielzahl von Facetten und Varianten solcher Verfahren kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Der zu untersuchende Gegenstandsbereich und die an diesen gerichteten Forschungsfragen verlangen, im Hinblick auf den Grad der Standardisierung, nach einem teil91 standardisierten Interviewverfahren bzw. einem Leitfadeninterview . Da sich ein Situationstyp jedoch nicht nur über statische Merkmale konstituiert, sondern auch Handlungssequenzen als zeitlicher Prozesscharakter aufweist, wäre eine Ignoranz gegenüber den schwach oder gar nicht standardisierten Erzählgenerierenden Interviewverfahren nicht 92 gegenstandsbezogen begründbar. Deshalb werden zuerst Interviewverfahren skizziert, welche nicht der Kategorie der Leitfadeninterviews zugeordnet werden können (Kap. 10.3.1–10.3.3). Diese sogenannten Erzählgenerierenden Interviewverfahren legen ihren Schwerpunkt in narrativen Darstellungen und gehen im Gegensatz zu den Leitfadeninterviews schwach oder gar nicht strukturiert vor. Die gängigen Leitfadeninterviews werden im Anschluss in Kap. 10.3.4 hinsichtlich deren Geeignetheit für das vorliegende Forschungsvorhaben diskutiert, bevor die daraus abgeleitete Interviewstrategie in Kapitel 11 expliziert wird. Die folgende Abbildung 26 fasst das Vorgehen schematisch zusammen.
91
92
Das Leitfadeninterview wird innerhalb des Forschungsprozesses eine zentrale Stellung einnehmen und soll nicht nur am Anfang oder Ende der Studie eingesetzt werden, wie dies von manchen Autoren gefordert wird (exemplarisch: FRIEDRICHS 1990, S. 226; LAZARSFELD 1944, S. 59; SCHEUCH 1973, S. 123). Damit würde indirekt betont, dass der Kern einer Untersuchung in einer standardisierten Form zu erfolgen habe. Die Entscheidung zugunsten eines teilstandardisierten Verfahrens wurde an anderer Stelle bereits begründet (vgl. Kapitel 9.3, S. 171). Diese sehr grobe Aufteilung zwischen (teil-)standardisierten Leitfadeninterviews und schwach oder gar nicht standardisierten Erzählgenerierenden Interviewverfahren kann als problematisch betrachtet werden, da auch Leitfadeninterviews die Intention haben können, Erzählungen zu generieren (JAKOB 2003, S. 372). Vor dem Hintergrund der hier vorliegenden Zielsetzung erscheint diese Zuordnung dennoch als tragfähig.
197
10 Methodische Perspektive
Abbildung 26: Entwicklung eines geeigneten Interviewverfahrens für das Forschungsvorhaben
qualitativ-mündliche Befragungsverfahren
Erzählgenerierende Interviewverfahren
teilstandardisierte Interviewverfahren (Leitfadeninterviews)
Narratives Interview
problemzentriertes Interview
Ero-episches Gespräch
fokussiertes Interview
Episodisches Interviewverfahren
Struktur-Lege-Verfahren (Konstruktinterview, GridTechniken, Interview- und Legetechniken zur Rekonstruktion kognitiver Handlungsstrukturen)
kriteriengeleitete Beurteilung der Interviewverfahren mithilfe des Anforderungskatalogs im Hinblick auf die anvisierte Untersuchung
Konzipierung eines eigenen Interviewverfahrens: das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
10.3.1
Narratives Interview
Zu den traditionellen Vertretern der Erzählgenerierenden Interviewverfahren zählt das von 93 FRITZ SCHÜTZE entwickelte narrative Interview (SCHÜTZE 1976, 1983, 1987) . Dieses vor allem in der Biografieforschung eingesetzte Verfahren (exemplarisch KOHLI & ROBERT 1984) schreibt aufgrund seiner erzähltheoretischen Annahmen dem Entwicklungsprozess des Erzählgegenstandes eine dominante Stellung zu – nicht jedoch dem Beschreiben von handlungsleitenden Werten, kritischen Ereignissen, Zielsetzungen etc. in wiederkehrenden Handlungssituationen. Zudem verlangt das narrative Interview vom Interviewer eine tendenziell 'passive' Zuhörerhaltung. Ein Nachfragen bei Unklarheiten oder zwecks Maximierung der Präzisierung bzw. gar ein konfrontierendes Nachfragen zur Prüfung der Stabilität der Aussagen wäre – wenn überhaupt – erst nach der Haupterzählphase in der sogenannten Bilanzierungsphase zu-
93
Zur aktuellen Diskussion siehe insbesondere BOHNSACK (2007, S. 91FF.), GLINKA (2003), HERMANNS (1995), JAKOB (2003) und KÜSTERS (2006).
198
Forschungsstrategie
gelassen (JAKOB 2003, S. 450). Dies setzt allerdings voraus, dass der Erzählende einen Zugang zu den relevanten Informationen hat und diese auch abrufen kann. Wird jedoch davon ausgegangen, dass Subjektive Theorien teilweise lediglich implizit vorhanden sind und nicht notwendigerweise eine optimale Präzision sowie einen hohen Konsistenzgrad aufweisen müssen, so verlangt dies ein Verfahren, welches Interventionen seitens des Interviewers grundsätzlich während des gesamten Interviewprozesses zulässt. Aus diesen Überlegungen erscheint ein rein narrativer Ansatz nach SCHÜTZE auf den ersten Blick als ungeeignet. Allerdings können die Vorteile der erzählenden Darstellung (im Vergleich zu einem Befragen- und Beschreibenlassen) methodisch nutzbar gemacht werden, indem diese sequenzweise – jedoch in einer unterschiedlich akzentuierten Form – eingesetzt wird. Diese Integrationsabsicht bedarf einer genaueren Analyse der Bedingungen und theoretischen Annahmen der narrativen Darstellungsform. Bedingungen Das narrative Verfahren eignet sich nicht nur für biografische Thematiken, sondern universell für die Erkundung von Ereignisabläufen (FISCHER-ROSENTHAL & ROSENTHAL 1997, S. 136). Dazu muss der Untersuchungsgegenstand bestimmte Voraussetzungen erfüllen. SCHÜTZE (1987, S. 243ff.) nennt drei wesentliche Bedingungen: - Der Informant muss selbst handelnd in den zu erkundenden Vorgang involviert sein. Sollte sich diese Bedingung als nicht gegeben herausstellen, müsste die Darstellungsform des Erzählens durch eine Form des hypothetischen Befragens und Beschreibenlassens ersetzt werden. Dies wäre dann bei der Analyse der Daten zu berücksichtigen. - Das untersuchte Phänomen verlangt nach einem zeitlichen Prozesscharakter. Diese Forderung ist bei der Gestaltung der Phasen innerhalb des Situationstyps zweifelsfrei gegeben. - Dem Geschehen muss in der Vergangenheit eine gewisse Aufmerksamkeit gewidmet worden sein. Deshalb ist nach SCHÜTZE das narrative Interview für alltägliche Verrichtungen, Routinen und Automatismen ungeeignet (siehe hierzu auch GLINKA 2003, S. 41ff.). Der in dieser Untersuchung vorliegende Gegenstandsbereich erfordert eine hohe Aufmerksamkeit – dies wurde in Kapitel 9.3.2 (S. 178) im Rahmen der gegenstandsspezifischen Perspektive bereits ausführlich erörtert. Theoretischen Annahmen Der Befragte soll zur Rekonstruktion der Phasen des Situationstyps dazu bewegt werden, seine mentalen Repräsentationen möglichst umfassend in der Erzählform zu reproduzieren. Erzählungen sind dadurch gekennzeichnet, dass Ereignisabfolgen aus der Perspektive einer zeitlichen Entwicklung dargestellt werden (HERMANNS 1995, S. 183; KÜSTERS 2006, S. 24f.): Die Erzählung beginnt bei einer Ausgangssituation (Start der Konfliktklärung), orientiert sich dann eng am Geschehensablauf (Phasen des Klärungsprozesses) und mündet zuletzt in einer Endsituation, welche den Abschluss der zeitlichen Entwicklung darstellt (Ende/Abbruch der Klärungssituation). Eine solche Ereigniskette umfasst das gesamte Prozessgeschehen, wobei dieses bei vielgestaltigen, komplexen Vorgängen in Nebenketten zergliedert sein kann (SCHÜTZE 1987, S. 14ff.). Diese bilden einfach gesagt den 'roten Faden' durch die komplexen Zusammenhänge eines Geschehensablaufes. Einzelne Erzählkettenglieder werden typischer-
10 Methodische Perspektive
199
weise durch sprachliche Marker (z. B. 'und dann', 'nachher', 'als Nächstes' etc.) voneinander abgegrenzt und dadurch erkennbar (KALLMEYER & SCHÜTZE, 1977, S. 185, zit. in KÜSTERS 2006, S. 26). Dem Befragten wird die Rolle des Informanten (und nicht des Befragten) zugeschrieben. Ähnlich einer Alltagskommunikation soll er den unbeteiligten Forscher so präzise wie nötig informieren, um diesem die Teilhabe an vergangenen Handlungszusammenhängen zu ermöglichen und so sein Verständnis für die eigenen Handlungsentscheidungen zu erwirken. Oder einfach gesagt: "Es gibt ein Gegenüber, dem etwas plausibel gemacht werden muss" (KÜSTERS 2006, S. 23). Die Erfahrungen des Befragten werden dabei durch diesen 'wiedererlebt' und seitens des Forschers 'miterlebt'. Das Ziel besteht darin, die erlebten Erfahrungen "durch die Dynamik des Erzählvorgangs wieder zu verflüssigen und so der Tendenz nach, trotz der notwendigen Raffungen und Erinnerungsverluste, den damaligen Erlebnisstrom erneut zu verlebendigen und auf diese Weise die Erfahrungsaufschichtung des Gedächtnisses zu konkretisieren und aufzufrischen. Das Erhebungsverfahren des narrativen Interviews geht davon aus, dass die Dynamik des Stegreiferzählvorgangs, in welchem sich der Informant der damaligen Erlebnisse Zug um Zug und jeweils ad hoc erneut vergewissern muss, ihn im Rückblick imaginativ einfängt und noch einmal in die damaligen Handlungssituationen versetzt" (SCHÜTZE 1987, S. 237f.). SCHÜTZE stellte in seinen sprachsoziologischen Arbeiten fest, dass durch die Mechanismen des Erzählens (statt Befragens und Beschreibenlassens) eine engere Verbindung zwischen Äusserungen im 'Hier und Jetzt' und dem Erleben und den dazugehörenden Handlungsorientierungen im 'Dort und Damals' zu erreichen sei. Durch den Erzähl- und Darstellungsvorgang würde überhaupt erst wieder vieles erinnert (SCHÜTZE 1976, S. 196f.). Die Begründung für diese Aussage wird in der Erzähltheorie bzw. der Homologie von Erzähl- und Erfahrungskonstitution gesehen (siehe dazu GERHARDT 1985). Die Kernaussage besteht darin, dass unvorbereitete Erzählungen aufgrund ihrer Hauptfunktion – andere Personen an den eigenen Erfahrungen vermittelnd teilhaben zu lassen – die Geschehnisse besonders präzise wiedergeben, da hierfür sämtliche für das Verstehen notwendige Informationen dargelegt werden müssen. Die Abfolge der Erzählsegmente entspricht der Abfolge des zeitlich zurückliegenden Prozessgeschehens (SCHÜTZE 1976, S. 198; 1987, S. 255). Diese Annahme einer Homologie ist nicht kritiklos geblieben (exemplarisch GERHARDT 1985; NASSEHI 2002). Sie wird als erkenntnistheoretisch naiv angesehen. Ohne die Kritiken und die Repliken dazu im Detail nachzuzeichnen, gilt es für den vorliegenden Verwendungszweck zwei Aspekte hervorzuheben: - Die Erzählform wird nie ontologisch irgendwie existente Geschehnisse oder 'Eindeutigkeiten' jenseits ihrer gegenwärtigen Repräsentationen zum Gegenstand haben. Die Homologie kann folglich nur für psychisch repräsentierte Erfahrungen und gegenwärtig Erzähltes eine Beziehung herstellen. Die 'präzise' wiedergegebenen Erzählsegmente beziehen sich auf psychische Repräsentationen der Erfahrungen. Diese unterliegen aufgrund ihrer Konstruktivität der Möglichkeit des Irrtums, wobei sich dieser sowohl auf inhaltliche Konzepte als auch zeitliche Abfolgen beziehen kann. Daraus legitimiert sich eine kommunikative Validierung, welche in klassischen narrativen Verfahren nicht vorgesehen ist. Die Ausgestaltung der Validierung wird später in Kapitel 11.8 detailliert erörtert.
200 -
Forschungsstrategie
Die Homologie bringt eine zusätzliche Schwierigkeit mit sich. Da ihre Gültigkeit lediglich für die kommunikative Darstellungsform der unvorbereiteten Erzählung attestiert wird, muss die Kontingenz möglicher Kommunikationen eingeschränkt werden, um die Authentizität zu erhöhen. Deshalb werden in narrativen Verfahren bei der Auswertung der Daten die nicht-narrativen Interviewanteile ausgesondert, was eine radikale Beschränkung der Datenbasis zur Folge hat (NASSEHI 2002, S. 5). Zu einem zentralen Kriterium der Gültigkeit der Aussagen wird damit, ob es sich um eine Erzählung handelt (FLICK 1999, S. 117). Alles, was sich nicht in einem sequenziellen Zeitschema erzählen lässt, bleibt folglich unberücksichtigt. Ob sich dadurch die Authentizität und letztlich die externe Validität erhöhen lassen, erscheint fraglich. Wenn die Narration als die einzige Form möglicher Selbstbeschreibungsformen betrachtet wird, welche interviewkompatibel kommuniziert werden kann, wird gegen das grundlegende Prinzip der GegenstandsMethodik-Interdependenz verstossen (siehe Kap. 9.1). Die Methode wird funktional dem Gegenstand übergeordnet – ausser der Gegenstand liesse sich tatsächlich vollständig durch zeitlich sequenzielle Erzählsegmente erfassen. Das Gegenargument hierzu würde lauten, dass einer Methode nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, wozu sie nicht geschaffen wurde. Unabhängig von der Perspektive, die man einnimmt, steht fest, dass ein Situationstyp zusätzlich statische Elemente beinhaltet, welche sich nicht zeitlich sequenzieren lassen. NASSEHI wirft zu Recht folgende Frage auf: "Warum soll das Berichten, das Argumentieren, das Reflektieren, warum die Vermeidung von zeitlicher Sequentialität und warum das gelehrte oder auch ungelehrte Räsonnieren nicht […] taugen?" (NASSEHI 2002, S. 6). Obschon sich das Erzählen entlang eines zeitlich zurückliegenden Prozessgeschehens für den Befragten einfacher gestalten dürfte (siehe hierzu BAHRDT 1975, S. 12f. & 24ff.) als das Beschreiben von Elementen (losgelöst von einem zeitlichen Verlauf) oder das Argumentieren als abstrahierende Stellungnahmen, welche vielleicht sogar die innere Logik der thematisierten Handlungsabläufe durchbrechen, bedingt der vorliegende Gegenstandsbereich in Ergänzung zur Erzählung solche nichtnarrativen Darstellungsformen.
10.3.2
Ero-episches Gespräch
Ein weiteres qualitatives Interviewverfahren stellt das im Rahmen der ethnografischen Feld94 forschung entwickelte ero-epische Gespräch dar. Der Ethnograf ROLAND GIRTLER beschreibt diesen Ansatz als ein "sehr eingehendes Gespräch, bei dem beide sich öffnen, der Forscher und sein Gesprächspartner, um in die 'wahren' Tiefen [...] vorzudringen" (GIRTLER 1995, S. 221). Die Fragen an den Interviewten werden nicht geplant, sondern ergeben sich aus dem Gespräch selbst. Der Forscher lässt sich von seinem Gegenüber leiten und versteht diesen als 95 Experten der Situation. GIRTLER geht noch weiter, indem er bewusst Suggestivfragen ein-
94
95
"Im Eigenschaftswort 'ero-episch' stecken die altgriechischen Wörter 'Erotema' und 'Epos'. 'Erotema' heisst die 'Frage' beziehungsweise 'eromai' 'fragen, befragen und nachforschen'. Und 'Epos' bedeutet 'Erzählung', 'Nachricht', 'Kunde' […] beziehungsweise 'eipon' 'erzählen'" (GIRTLER 1995, S. 219). Dieser Arbeit wird ein Expertenverständnis zugrunde gelegt, welches den Expertenstatus einer Person in erster Linie von dem jeweiligen Forschungsinteresse abhängig macht (siehe zu diesem Expertenverständnis auch GLÄSER & LAUDEL
10 Methodische Perspektive
201
setzt und auch in der Rolle des Forschers seine persönliche Sichtweise und Meinung zum Gegenstandsbereich einbringt (GIRTLER 2001, S. 158ff.). Dieses Vorgehen steht damit in diametralem Gegensatz zu den Forderungen des narrativen Interviews. Für die vorliegende Untersuchung geht die Art und Weise der Beeinflussung teilweise zu weit. Auf Suggestivfragen wird verzichtet, weil erstens eine Verfälschung der Forschungsergebnisse befürchtet wird und zweitens unnötige Gesprächsbarrieren evoziert werden könnten (siehe hierzu auch MUTZECK 1988, S. 136). Unter Verweis auf die in Tabelle 13 (S. 193) formulierten Anforderungen an ein qualitativ-mündliches Befragungsverfahren werden die folgenden vier Aspekte als nützlich und hilfreich erachtet: - Die Befragten sind nicht als Befragte, sondern als Informanten zu betrachten. Zudem sollen sie im Rahmen einer dialogischen Auseinandersetzung Teil des Forschungsprozesses werden. In den Worten GIRTLERS sollen sie zu echten Mitwirkenden an der Arbeit werden (2001, S. 162). - Die Subjektivität ist in ihrer Vielfältigkeit und möglicherweise auch Widersprüchlichkeit zu respektieren, denn die Befragten sind die Experten ihrer Situation – und nicht die Forscher. Letztere sind die Experten des methodischen Vorgehens, nicht aber der inhaltlich und strukturell zu rekonstruierenden Subjektiven Theorien. Der Forscher muss die Bereitschaft für ein eingehendes Gespräch mitbringen – ein empathisches Sich-Hineinversetzen und Sich-Einfühlen in die subjektiven Wirklichkeiten der Befragten. - GIRTLER äussert sich auch zum Thema 'Wahrheitsgehalt' von Aussagen. Verstrickt sich ein Gesprächspartner in Widersprüchlichkeiten, gilt es diese zu thematisieren. Allerdings darf der Forscher sie nicht als 'aufgedeckte Unwahrheiten' indexieren, da die Kommunikation dadurch abgebrochen werden könnte (GIRTLER 2001, S. 164). - Es können sowohl offene Fragen zur Exploration als auch konkrete, geschlossene Fragen zwecks Maximierung der Präzisierung formuliert werden (GIRTLER 2001, S. 159). Das ero-epische Gespräch verlangt, dass die Fragen ungeplant aus der Situation entstehen sollen. Dies lässt sich mit der geforderten Strukturierung nur teilweise vereinbaren (siehe Tabelle 13, S. 193). Zudem begünstigen die Forderungen bezüglich Suggestivfragen und persönlicher Stellungnahme seitens des Forschers in dem hier vorliegenden Untersuchungskontext die Problematiken einer 'evaluation apprehension', der 'demand characteristics' sowie der sozialen Erwünschtheit im weiteren Sinne. Die kritische Zurückweisung des ero-epischen Gesprächs in seiner 'Reinform' spricht keinesfalls gegen diesen Ansatz per se. Vielmehr muss die von GIRTLER vorgeschlagene Vorgehensweise im Kontext einer Feldforschungssituation verstanden werden. Dahinter verbergen sich vielfältige Gesprächssituationen, welche den Befragten in seiner vertrauten Umgebung belassen und dadurch mit der Atmosphäre und Gesprächssituation in dem hier vorliegenden Untersuchungskontext nicht vergleichbar sind. 2004, S. 10; MEUSER & NAGEL 1991, S. 442f.; MIEG 2001, S. 43ff.; SCHÜTZE 1983, S. 285). Der Expertenstatus wird sozusagen kontextabhängig von dem Forscher verliehen. "Expertin ist ein relationaler Status" (MEUSER & NAGEL 1991, S. 443). Ein solcher Status kann niemand 'besitzen', sondern er wird einer Person zugeschrieben. Vereinfacht gesagt ist ein Experte jemand, dem eine besondere Kompetenz zugeschrieben ist, welche für den Zuschreibenden eine besondere Relevanz besitzt. Eine kritische Diskussion hierzu ist zu finden in BOGNER & MENZ (2005, S. 39ff.).
202 10.3.3
Forschungsstrategie
Episodische Interviewverfahren
Das von UWE FLICK konzipierte episodische Interviewverfahren löst gewisse Zwänge des narrativen Interviews auf, indem durch die Erhebung von "narrativ-episodischem Wissen" (FLICK 1999, S. 124ff.) das Interesse an Narrationen (Erzählungen) mit Wissensbeständen zu einem bestimmten Gegenstandsbereich verknüpft wird. Durch diese Verbindung von beschreibenden und erzählenden Darstellungsformen mit der Nutzung eines Interviewleitfadens rückt dieses Verfahren in den Grenzbereich zwischen Erzählgenerierendem Interviewverfahren und Leitfadeninterviews. "Ziel des episodischen Interviews ist, bereichsbezogen zu ermöglichen, Erfahrungen in allgemeinerer, vergleichender etc. Form darzustellen, und gleichzeitig die entsprechenden Situationen und Episoden zu erzählen" (FLICK 1999, S. 125). Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit auf Situationen bzw. Episoden, in welchen die Erkenntnis-Objekte Erfahrungen gesammelt haben und zugleich für die Fragestellung der Untersuchung als relevant erscheinen. Neben Erzählungen werden auch verallgemeinernde, über eine Einzelsituation hinausgehende Beschreibungen von Begriffen und Beziehungen untereinander in Form von Erfahrungswissen und regelorientierten Wissensbeständen über bestimmte Situationen zugänglich gemacht. Das episodische Interview versucht die beiden Datensorten 'Erzählung' und 'Antworten' systematisch miteinander zu verbinden (FLICK 1999, S. 125). Dazu wird sowohl auf offene Erzählaufforderungen als auch engere, konkret zielgerichtete Frage-Antwort-Sequenzen zurückgegriffen. Das pragmatische, zeitökonomische Springen zwischen den beiden kommunikativen Darstellungsformen ist zu vermeiden. Einfach ausgedrückt: Erzählbares soll auch wirklich erzählt und nicht beschrieben werden. Das episodische Interview will die Vorteile von narrativen Verfahren und Leitfadeninterviews nutzen. Die Notwendigkeit der Rekonstruktion von sowohl erzählenden als auch beschreibenden, nicht-narrativen Darstellungsformen, wie es das episodische Interview vorschlägt, wurde für den vorliegenden Gegenstandsbereich bereits begründet. In Anlehnung an FLICK (1999) gilt es dabei insbesondere Folgendes zu berücksichtigen: - Erzählende und beschreibende kommunikative Darstellungsformen sind bei der Erhebung nicht unnötig zu durchmischen, sondern systematisch miteinander zu verknüpfen. Diese Forderung kann bei der Konzeption des Leitfadens in dreierlei Hinsicht berücksichtigt werden: Erstens müssen die Befragten zu Beginn des Interviews über die narrativen und nicht-narrativen Darstellungsformen genau informiert werden. Sie sollen die Bedeutung und den Sinn dieser Differenzierung verstehen, damit es später weniger zu Missverständnissen kommt. Zweitens muss im Voraus geplant werden, welche Kategorien in der erzählenden bzw. in der beschreibenden Darstellungsform rekonstruiert werden und welche Reihenfolge diese Kategorien innerhalb des Interviews einnehmen sollen. Drittens sind die Leitfragen als Gerüst präzise zu gestalten, damit diese für die Befragten möglichst eindeutig als Erzähl- bzw. Beschreibungsaufforderung erkennbar sind. Die Reihenfolge der vertiefenden Fragen innerhalb einer jeweiligen Darstellungsform spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Diese ergibt sich vielmehr aus den Äusserungen der Befragten. - FLICK empfiehlt ein sorgfältiges Interviewtraining. Der Umgang mit dem Leitfaden ist im Vorfeld zu erproben. Unverständliche oder missverständliche Fragen oder Stimulierungen können dadurch laufend reduziert werden.
10 Methodische Perspektive
-
203
In Abgrenzung zum episodischen Interview sollen in dieser Untersuchung nicht möglichst viele Einzelsituationen bzw. Episoden erzählt werden. Eine Instruktion, wie sie FLICK vorschlägt, "in diesem Interview werde ich Sie immer wieder bitten, mir Situationen zu erzählen […]" (1999, S. 126), würde in eine nicht intendierte Richtung weisen. Die Rekonstruktion des Situationstyps verlangt eine Abstrahierung von erlebten Einzelsituationen (innerhalb des Situationstyps) auf eine Ebene verbindender Elemente. Einmaligkeiten werden zugunsten des Typischen verdichtet. Eine Erzählaufforderung hierzu könnte verkürzt lauten: "Versuchen Sie sich gedanklich an Ihre erlebten Konfliktklärungssituationen zu erinnern. Erzählen Sie nun möglichst präzise, wie Sie typischerweise in solchen Situationen vorgegangen sind."
10.3.4
Leitfadeninterviews
Das zentrale Merkmal dieser Interviewverfahren besteht darin, dass vor dem Interview ein Leitfaden mit vorformulieren (Leit-)Fragen zu bestimmten Themenbereichen erarbeitet wird. Dies setzt eine vorherige Analyse des Gegenstandsbereichs voraus. Die diversen leitfadengestützten Interviewverfahren unterscheiden sich darin, wie stark das Interview durch die Leitfragen strukturiert wird. Dahinter stehen jeweils unterschiedliche Zielsetzungen, wodurch die verschiedenartigen Ansätze auch andere Arten von Daten hervorbringen. Zu den typischen Vertretern leitfadengestützter Verfahren zählt das problemzentrierte Interview von ANDREAS WITZEL (1982; 1989; 1996; 2000), welches in Untersuchungen zu Berufswahlentscheidungen Jugendlicher erprobt wurde. Die Bezeichnung 'problemzentriert' wurde in Abgrenzung zu 'themenzentriert' nach RUTH COHN (exemplarisch COHN 1993; 2004, S. 110ff.) gewählt. Das fokussierte Interview wurde von MERTON UND KENDALL (1993, S. 173ff.) für die Medienforschung entwickelt. Methodisch interessante Neuentwicklungen von Leitfadeninterviews stellen die Struktur-Lege-Techniken dar, welche in verschiedenen Konzepten ihren Niederschlag finden. Die Struktur-Lege-Verfahren stellen eigentlich keine Alternativen im Rahmen der Interviewführung dar, sondern sind als ergänzende Verfahren zu betrachten, welche Inhalte und Strukturen der Explikationen deutlicher herausstellen. Innerhalb dieser Gruppe von Verfahren sind zu erwähnen: das Konstruktinterview nach KÖNIG UND VOLMER (1996, S. 140ff.), die 'Grid-Techniken' bzw. Netzinterviews (FROMM 1995, 2002, 2004; SCHEER & CATINA 1993a, 1993b), welche im Anschluss an KELLYS Theorie der persönlichen Konstrukte entwickelt wurden (KELLY 1963), sowie die Interview- und Lege-Techniken zur Rekonstruktion kognitiver Handlungsstrukturen (DANN 1992; DANN & BARTH 1995). Mit Ausnahme der 'Grid-Techniken' verbinden die erwähnten Leitfadeninterviews drei wesentliche Gemeinsamkeiten (vgl. Tabelle 13, S. 193): Erstens sind die Gültigkeitsbereiche der Aussagen individuumsbezogen. Zweitens wird eine klare Instruktion der Befragten zu Beginn des Interviews verlangt, und drittens setzen die Verfahren eine Analyse des Gegenstandsbereichs voraus, um darauf aufbauend Leitfragen zu konzipieren: "Das unvermeidbare, und damit offenzulegende Vorwissen dient in der Erhebungsphase als heuristischanalytischer Rahmen für Frageideen im Dialog zwischen Interviewern und Befragten" (WITZEL 2000, Abs. 3). "Die hypothetisch bedeutsamen Elemente, Muster und die Gesamtstruktur […] sind vom Forscher vorher analysiert worden" (MERTON & KENDALL 1993, S. 171). Unterschiedlichkeiten lassen sich in den Zielsetzungen, den Rollenvorstellungen, den Fragearten,
204
Forschungsstrategie
dem Kommunikationsstil sowie den Antwortqualitäten ausmachen. Abgesehen von den 'Grid-Techniken' und dem fokussierten Interview bieten die restlichen leitfadengestützten Interviewverfahren das Potenzial zur integrativen Entwicklung eines eigenen, auf den vorliegenden Gegenstandsbereich zugeschnittenen Interviewverfahrens. Bevor die Konzeption eines eigenen Verfahrens vorgestellt wird, soll im nächsten Abschnitt begründet werden, weshalb die 'Grid-Techniken' mit den anvisierten Zielsetzungen dieses Forschungsvorhabens inkompatibel sind und das fokussierte Interview infolge innerer Widersprüchlichkeiten ebenfalls abzulehnen ist. Ausschluss der Grid-Verfahren Die 'Grid-Techniken' werden nicht näher diskutiert, weil diese aufgrund ihrer reduktionistischen Datenerhebung (geschlossene, stark zugespitzte Fragen durch die Triadenmethode) die Rekonstruktion komplexer Gegenstandsbereiche nicht genügend ermöglichen. Die 'GridTechniken' sind vielmehr dazu geeignet, statische Konstrukte zu erfassen, welche sich anhand bestimmter Elemente wie beispielsweise Personen oder Gegenstände in Form von Triaden vergleichen lassen (FROMM 2004, S. 19ff.). Zudem generieren diese Verfahren verkürzte Daten, welche zur Beantwortung idiographisch ausgerichteter Fragestellungen als eher ungeeignet erscheinen. Sie betrachten das Individuum nicht als Informanten, sondern als Befragten und schliessen damit verbunden dessen Beteiligung am Forschungsprozess im Rahmen einer dialogischen Auseinandersetzung faktisch aus. Deshalb sind die gestellten Anforderungen mit diesen Verfahren nicht vereinbar. Widersprüchlichkeiten des fokussierten Interviewverfahrens Wenn das Rekonstruieren der 'Innensicht' im Zentrum der Betrachtung steht, kann das fokussierte Interviewverfahren als wegweisend betrachtet werden. MERTON UND KENDALL formulieren Regeln, welche es ermöglichen das aufzudecken, "was die Versuchsperson denkt, und nicht, was ihre Meinung darüber ist, was der Interviewer denkt" (1993, S. 179). Mit der Explizierung konkreter Regeln wollen die Autoren das Interview von einer schwer fassbaren Kunst befreien und hin zu einer lehr- und lernbaren Technik führen (S. 178). Die Interviewführung orientiert sich soweit möglich an den Bedürfnissen und Voraussetzungen der Befragten, um möglichst selbstbezogene Daten zu erhalten. Dies verlangt vom Interviewer die Bereitschaft, sich auf den Befragten inhaltlich und emotional einzulassen. Diese Forderung wird zwar geteilt (vgl. Tabelle 13, S. 193), doch verstricken sich die explizierten Verfahrensweisen in Widersprüchlichkeiten. In Anlehnung an ROGERS (exemplarisch 1980) bedienen sich MERTON UND KENDALL tendenziell nicht-direktiver Techniken, welche eine Beeinflussung der Befragten möglichst vermeiden sollen. Direktive Verfahren vereiteln den Autoren zufolge die Möglichkeit zu erfahren, wie die Erkenntnis-Objekte tatsächlich denken. Durch den Verzicht auf direktive Techniken soll bewirkt werden, "dass die Antworten tiefgründiger, umfassender und spezifischer werden" (1993, S. 180). Ergänzend fordern MERTON UND KENDALL, unter dem Aspekt der 'Tiefgründigkeit' und 'Spezifität' gegebenenfalls Massnahmen einzusetzen, welche die Informanten aktivieren, um ihre Selbst- und Weltsicht themenfokussiert zu explizieren. Bei näherer Betrachtung der Techniken sind die Ungereimtheiten unübersehbar (siehe hierzu auch HOPF 1978). Ein wesentlicher methodologisch-methodischer Kritikpunkt bezieht sich auf die Verzahnung von Zielsetzung und methodischer Umsetzung. Das Inter-
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
205
viewziel einer möglichst methodenunbeeinflussten Datenerhebung steht im Widerspruch zur Anwendung einer nicht-direktiven Gesprächsführung als ein ursprünglich therapeutisches Verfahren zur Veränderung von Selbst- und Weltsicht seitens der Klienten. Zweitens lässt sich die Forderung eines nicht-direktiven Verfahrens, in welchem die Befragten sich über Dinge äussern können, "die für sie von zentraler Bedeutung sind, und nicht über Dinge, die dem Interviewer wichtig erscheinen" (MERTON & KENDALL 1993, S. 179), nicht vereinbaren mit dem fokussierten Anspruch des Forschungsinterviews, möglichst tiefe, umfassende Antworten auf themenspezifische Fragen des Forschers zu erhalten. Solche und weitere Unvereinbarkeiten müssen fast zwangsläufig in Unsicherheiten und Rollenkonflikten beim Interviewer münden, welche sich dann in widersprüchlichem Kommunikationsverhalten bemerkbar machen würden. Diese Widersprüchlichkeiten lassen sich dann aufheben, wenn das Interviewverfahren bzw. die eingesetzten Methoden von Objektivitätsansprüchen im Sinne einer NichtBeeinflussung der Befragten befreit werden und an deren Stelle eine intersubjektive Überprüfbarkeit tritt. Damit soll jedoch nicht postuliert werden, die Schwierigkeiten der Beeinflussung seien zu ignorieren; sie sind im Gegenteil zu akzeptieren. Dies bedeutet, dass die 'Lösung' dieser Schwierigkeiten nicht in der Anwendung bestimmter Techniken zu sehen ist, sondern in der Interaktionssituation selbst, welche diese Probleme letztlich evoziert. Die einzusetzenden Verfahren müssen in erster Priorität Daten generieren können, welche das Potenzial haben, Antworten auf die gestellten Forschungsfragen zu finden. Sind hierzu Verfahrensweisen notwendig, welche eine Beeinflussung der Erkenntnis-Objekte mit sich bringen, gilt es zu erörtern, wie damit umgegangen werden kann. Die Gestaltung dieses bewussten Umgangs wird in einer intersubjektiven Überprüfbarkeit gesehen. 10.4
Zwischenfazit
Das Kapitel 10.3 analysierte qualitativ-mündliche Befragungsverfahren unter Bezugnahme auf den Anforderungskatalog für das eigene Forschungsvorhaben (vgl. Tabelle 13, S. 193). Die Analyse machte einerseits deutlich, dass keines der untersuchten Verfahren in Reinform übernommen werden kann; andererseits stellen sowohl die Erzählgenerierenden Interviewverfahren als auch teilweise die Leitfadeninterviews wichtige Teilkonzepte für eine Weiterentwicklung bereit. Das grösste Potenzial wird dem problemzentrierten Interview nach WITZEL zugeschrieben. Es dient als Grundlage für die Konzipierung eines eigenen Interviewverfahrens. Damit die Untersuchung dem Gegenstandsbereich gerecht werden kann, muss das problemzentrierte Interview allerdings modifiziert und erweitert werden. Diese Erweiterungen umfassen zusätzliche Techniken aus der Gruppe der Struktur-Lege-Verfahren sowie Elemente der Erzählgenerierenden Interviewverfahren. Im nächsten Kapitel wird die weiterentwickelte Interviewstrategie diskutiert. 11
Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
Bevor die einzelnen Bausteine des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews in den Kapiteln 11.1 bis 11.8 erläutert werden, gibt die folgende Abbildung 27 hierzu einen groben Überblick. Die Grundlage dieses Interviewverfahrens bildet die Problemzentrierung. Das Rollenverständnis der am Interview beteiligten Personen basiert auf dem Menschenbild des epis-
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
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viewziel einer möglichst methodenunbeeinflussten Datenerhebung steht im Widerspruch zur Anwendung einer nicht-direktiven Gesprächsführung als ein ursprünglich therapeutisches Verfahren zur Veränderung von Selbst- und Weltsicht seitens der Klienten. Zweitens lässt sich die Forderung eines nicht-direktiven Verfahrens, in welchem die Befragten sich über Dinge äussern können, "die für sie von zentraler Bedeutung sind, und nicht über Dinge, die dem Interviewer wichtig erscheinen" (MERTON & KENDALL 1993, S. 179), nicht vereinbaren mit dem fokussierten Anspruch des Forschungsinterviews, möglichst tiefe, umfassende Antworten auf themenspezifische Fragen des Forschers zu erhalten. Solche und weitere Unvereinbarkeiten müssen fast zwangsläufig in Unsicherheiten und Rollenkonflikten beim Interviewer münden, welche sich dann in widersprüchlichem Kommunikationsverhalten bemerkbar machen würden. Diese Widersprüchlichkeiten lassen sich dann aufheben, wenn das Interviewverfahren bzw. die eingesetzten Methoden von Objektivitätsansprüchen im Sinne einer NichtBeeinflussung der Befragten befreit werden und an deren Stelle eine intersubjektive Überprüfbarkeit tritt. Damit soll jedoch nicht postuliert werden, die Schwierigkeiten der Beeinflussung seien zu ignorieren; sie sind im Gegenteil zu akzeptieren. Dies bedeutet, dass die 'Lösung' dieser Schwierigkeiten nicht in der Anwendung bestimmter Techniken zu sehen ist, sondern in der Interaktionssituation selbst, welche diese Probleme letztlich evoziert. Die einzusetzenden Verfahren müssen in erster Priorität Daten generieren können, welche das Potenzial haben, Antworten auf die gestellten Forschungsfragen zu finden. Sind hierzu Verfahrensweisen notwendig, welche eine Beeinflussung der Erkenntnis-Objekte mit sich bringen, gilt es zu erörtern, wie damit umgegangen werden kann. Die Gestaltung dieses bewussten Umgangs wird in einer intersubjektiven Überprüfbarkeit gesehen. 10.4
Zwischenfazit
Das Kapitel 10.3 analysierte qualitativ-mündliche Befragungsverfahren unter Bezugnahme auf den Anforderungskatalog für das eigene Forschungsvorhaben (vgl. Tabelle 13, S. 193). Die Analyse machte einerseits deutlich, dass keines der untersuchten Verfahren in Reinform übernommen werden kann; andererseits stellen sowohl die Erzählgenerierenden Interviewverfahren als auch teilweise die Leitfadeninterviews wichtige Teilkonzepte für eine Weiterentwicklung bereit. Das grösste Potenzial wird dem problemzentrierten Interview nach WITZEL zugeschrieben. Es dient als Grundlage für die Konzipierung eines eigenen Interviewverfahrens. Damit die Untersuchung dem Gegenstandsbereich gerecht werden kann, muss das problemzentrierte Interview allerdings modifiziert und erweitert werden. Diese Erweiterungen umfassen zusätzliche Techniken aus der Gruppe der Struktur-Lege-Verfahren sowie Elemente der Erzählgenerierenden Interviewverfahren. Im nächsten Kapitel wird die weiterentwickelte Interviewstrategie diskutiert. 11
Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
Bevor die einzelnen Bausteine des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews in den Kapiteln 11.1 bis 11.8 erläutert werden, gibt die folgende Abbildung 27 hierzu einen groben Überblick. Die Grundlage dieses Interviewverfahrens bildet die Problemzentrierung. Das Rollenverständnis der am Interview beteiligten Personen basiert auf dem Menschenbild des epis-
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Forschungsstrategie
temologischen Subjektmodells. Dieses hat sowohl für die Interviewpartner als auch für den Forscher dieselbe Relevanz. Das Rollenverständnis wird in der Interviewsituation durch einen verständigungsgenerierenden, erzählgenerierenden und stabilitätsgenerierenden Kommunikationsstil umgesetzt. Der im Zusammenhang mit dem Rollenverständnis eingeführte Kommunikationsstil basiert auf einem normativen Verständnis einer gleichberechtigt argumentativen Forschungskommunikation als regulative Zielidee. Diese 'ideale Interviewsituation' kann durch die Formulierung von Regeln operativ wirksam werden. Diese Regeln sollen sodann zeigen, unter welchen Bedingungen die Figur einer 'idealen Interviewsituation' realisiert werden kann. Dem Forscher kommt die Aufgabe zu, mit geeigneten Realisierungsmitteln die angesetzten Bedingungen herbeizuführen und aufrechtzuerhalten. Die zielgerichtete Konzipierung solcher Realisierungsmittel verlangt nach einem Rahmenmodell als Orientierungshilfe. Ausgangspunkt dieses Rahmenmodells bildet das mithilfe des problemorientierten Rekonstruktionsinterviews zu erreichende Oberziel. Dieses kann vertikal in mehrere dialogische (Zwischen-)Ziele hierarchisch zerlegt werden, um dadurch die Entwicklung von Interventionsformen und Instrumenten in einer horizontalen Verbundenheit (Ziele – Anforderungen – Realisierungsmittel) zu ermöglichen. Die Darstellung des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews schliesst mit den Ausführungen über die Möglichkeiten und Grenzen einer kommunikativen Validierung. Abbildung 27: Die Elemente des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews im Überblick
Rollenverständnis der Beteiligten als Ausprägung des epistemologischen Subjektmodells Kommunikationsstil mit einer verständigungsgenerierenden, erzählgenerierenden und stabilitätsgenerierenden Funktion
Rahmenmodell zur Begründung von Interventionsformen und Instrumenten Oberziel
Hierarchische Zerlegung in dialogische Zwischenziele
Anforderungen zur Erreichung der Zwischenziele
Realisierungsmittel zur Herstellung der Anforderungen
Kommunikative Validierung der subjektivtheoretischen Rekonstruktion
Problemzentrierung als Grundlage
Rahmenkonzeption zur Ausgestaltung der Gesprächssituation: die ideale Interviewsituation
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
11.1
207
Die Problemzentrierung als Grundlage
Der Ausgangspunkt des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews bildet das problemzentrierte Interview nach WITZEL. Die Bezeichnung 'problemzentriert' wird bei WITZEL mit einer gegenstandsthematischen und einer methodisch-methodologischen Bedeutung belegt (1982, S. 69): - Die Problemzentrierung bezieht sich auf eine gesellschaftlich relevante Problemstellung. Zur Erforschung dieser Problemstellung nutzt der Forscher sein elastisch zu handhabendes Vorwissen. WITZEL rekurriert dabei auf die 'sensitizing concepts' nach BLUMER (vgl. Abbildung 25, S. 189). Die vorstrukturierende Rolle der empirisch 'leeren' Konzepte legt die thematischen Felder strukturell fest. Diese kategorialen Bestimmungen dienen als Fragerichtungen in einem Interviewleitfaden. Des Weiteren werden dadurch von den Befragten Daten erzeugt, welche sich vergleichen lassen. - Die zweite Problemstellung zielt auf Strategien zwecks Optimierung der Explikationsmöglichkeiten. Die Befragten sollen in der Rolle des Informanten die Möglichkeit haben, ihre Sichtweisen auf den Gegenstand in seiner Komplexität zu entfalten, auch wenn diese den Vorerfahrungen des Forschers entgegenstehen. Damit spricht WITZEL insbesondere die empirisch 'gehaltvollen' Konzepte sowie das Alltagswissen des Forschers an, welche den Erfahrungen der Befragten widersprechen können. Das Interviewverfahren ermöglicht die zwingend notwendige Entfaltungsoffenheit unabhängig vom Standpunkt des Forschers. Zudem muss das Interviewverfahren trotz seiner Zentrierung die Strukturierung der Kommunikation im Rahmen des für die Untersuchung relevanten Themas so weit wie möglich den Befragten überlassen, damit diese ihr Relevanzsystem und ihr kommunikatives Regelsystem entfalten können. Denn erst auf diesem Wege werden die Unterschiede zum Relevanzsystem des Forschers überhaupt erst erkennbar (vgl. BOHNSACK 2007, S. 20ff.). 11.2
Rollenverständnisse
Die Rollenzuschreibungen des Erkenntnis-Objektes und des Erkenntnis-Subjektes wurden bereits in verschiedenen Zusammenhängen gestreift. Den Ausgangspunkt bildet das postulierte Menschenbild. Die kommunikativen, potenziell rationalen und reflexiven Fähigkeiten des epistemologischen Subjektmodells haben sowohl für den Forscher als auch für die Beforschten dieselbe Relevanz. Dies drückt sich in besonderem Masse in der Gestaltung der Interviewsituation über die Rollenverständnisse aus. 11.2.1
Die Rolle des Forschers
Der Forscher kann dank dem Vollzug einer vorherigen Situationstypenanalyse eine aktivere Rolle übernehmen, als dies beispielsweise bei einem narrativen Ansatz der Fall ist. Er greift bewusst in das Interviewgeschehen ein, indem er strukturiert, kommuniziert, reflektiert, konstruiert und rekonstruiert. Gleichzeitig verlangt das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview jedoch von ihm auch eine Sensibilität, welche nicht mit einer vorgefassten Perspektive die Wahrnehmung der immanenten Subjektiven Theorien der Befragten versperrt und in der Folge Fragen aufgreift, welche die Sichtweisen und Erfahrungen der Befragten nicht ernst
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Forschungsstrategie
nimmt oder diese zu Themenbereichen hinführt, welche für sie keine Relevanz aufweisen. Er muss willens und fähig sein, durch ein empathisches Sich-Hineinversetzen und Sich-Einfühlen in die subjektiven Wirklichkeiten der Befragten den Forschungsgegenstand aus ihrer Sicht zu betrachten und zu verstehen. Das Erkenntnis-Subjekt soll die Welt aus dem Bezugsrahmen des Erkenntnis-Objektes sehen (OBLIERS 1992, S. 201). Der Forscher muss "sich selbst als von der befragten Person über deren Lebenswelt lernend definieren" (FROSCHAUER & LUEGER 2003, S. 59). Die Subjektivität ist in ihrer Vielfältigkeit und möglicherweise auch Widersprüchlichkeit zu respektieren. Dieser Respekt drückt sich auch darin aus, dass der Forscher persönliche Stellungnahmen zu unterlassen hat, um die Gefahr der sozialen Erwünschtheit sowie einer Leistungsbewertung zu minimieren. Letztere dürfte insbesondere in diesem Untersuchungskontext eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, da die Studierenden das Frageverhalten des Interviewers mit Leistungserwartungen ähnlich einer mündlichen Prüfung in Verbindung bringen könnten. 11.2.2
Die Rolle des Beforschten
Die Befragten werden in der Rolle eines Informanten und nicht eines Befragten gesehen. Sie sollen nicht nur auf gesetzte Reize reagieren, sondern soweit möglich auch selber agierend und gestaltend wirken können. Dieses Rollenverständnis baut auf dem beschriebenen Menschenbild auf, welches es nicht nur zu 'akzeptieren', sondern konstruktiv zu nutzen gilt. Es wird davon ausgegangen, dass die Befragten die soziale Interaktion als interpretativen Prozess wahrnehmen. Die zugeschriebene Reflexivität und Rationalität entfaltet ihre Wirkung folglich nicht nur gegenüber dem Forschungsgegenstand, sondern auch hinsichtlich der Interviewsituation. D. h., mögliche Explizierungsschwierigkeiten können nicht nur mit der intraindividuellen Ebene des Wissenszugangs in Verbindung gebracht werden, sondern sind gleichberechtigt auch auf der interindividuellen Beziehungsebene gegenüber dem Interviewer (oder allgemein der Interviewsituation) zu vermuten. Folglich muss den Befragten nicht nur die Möglichkeit gegeben werden, bei gegenstandsthematischen Unklarheiten Fragen stellen zu dürfen, sondern zusätzlich ganz allgemein situationsimmanente 'Gesprächshindernisse' zu thematisieren. Darüber hinaus – und das ist vermutlich das Zentralste – sind die Befragten im Rahmen einer dialogischen Auseinandersetzung zwecks Validierung aktiv am Forschungsprozess zu beteiligen (siehe hierzu im Detail Kapitel 11.8). Dadurch werden die Erforschten "in den Forschungsprozess als Subjekte einbezogen, und zwar wesentlich konsequenter als in üblichen Verfahren psychologischer Forschung" (FLICK 1987a, S. 126). Da sich diese Rollenerwartungen möglicherweise nicht mit den Interviewerfahrungen der Studierenden decken, werden diese Aspekte zu Beginn des Gesprächs durch den Forscher thematisiert. 11.3
Kommunikationsstil und dessen Funktionen
Der mit dem Rollenverständnis des Forschers zusammenhängende, anzustrebende Kommunikationsstil manifestiert sich in zwei Kontrastpolen. Er ist einerseits vertrauensaufbauend, empathisch und akzeptierend sowie andererseits direkt, präzise und konfrontierend. Erst auf der Grundlage einer feinfühligen akzeptierenden Gesprächsführung, in welcher zum Ausdruck kommt, dass der Forscher die Sichtweisen seines untersuchten Erkenntnis-Objektes
209
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
auch wirklich ernst nimmt und zur Geltung kommen lässt, kann eine 'harte' Methodik (ANGER 1969, S. 595ff. ) mit einer präzisierenden, kritisch reflektierenden und gegebenenfalls konfrontativen Gesprächsführung stattfinden. Beide Komponenten gehören zusammen und begründen erst miteinander das Potenzial zur Herstellung einer approximativ deckungsgleichen Rekonstruktion Subjektiver Theorien. Diese vorgeschlagene Dualität von Nähe und Distanz grenzt sich damit von den häufig anzutreffenden einseitigen Vorstellungen ab, dass die Beziehung zwischen Forscher und Beforschtem bei quantitativen Ansätzen 'distanziert' und bei qualitativen Vorgehensweisen 'nahe' sei (exemplarisch BRYMAN 1999). Die Wertausrichtung des Kommunikationsstils ist in der Abbildung 28 aus der Sicht des Forschers dargestellt. SANDELOWSKI beschreibt diese Wertausrichtungen prägnant und bildlich mit den Worten: "we strive for both a cool (but not cold) detachment from and warm (but not too hot) engagement with the subjects […] in our studies" (SANDELOWSKI 1994, S. 47). Der skizzierte Kommunikationsstil versucht, drei zentrale Funktionen zu erfüllen: Er soll verständigungsgenerierend, erzählgenerierend und stabilitätsgenerierend sein, wobei die ersten beiden Funktionen typisch für ein problemzentriertes Interview im Sinne von WITZEL (1982, S. 92ff.; 1996, S. 55; 2000, Abs. 14f.) sind. Abbildung 28: Wertausrichtung der Kommunikationsgestaltung im Rahmen des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews
Akzeptanz verständnisvoll, empathisch nahe, tolerant, sensibel
Positives Spannungsverhältnis
Einseitige Übertreibung
Einseitige Übertreibung Konträre Entwicklungspfade Leichtgläubigkeit naiv, unterordnend, vorbehaltlos
11.3.1
Konfrontation kritisch, distanziert, prüfend, anregend, direkt, unnachgiebig
Autorität überordnend, repressiv, inquisitorisch, befehlerisch, kritisierend, verhörähnlich
Verständigungsgenerierende Funktion
Fragen zu stellen macht nur dann Sinn, wenn der Befragte diese so versteht, wie sie vom Fragenden gemeint waren, und ausserdem muss der Fragende dann im nächsten Schritt auch genau das verstehen, was der Befragte mit seiner Antwort meint (KOHLI 1978, S. 10). Die Alltagserfahrung lehrt, dass dieser doppelseitige Prozess einfacher beschrieben als umgesetzt ist. Forschungsergebnisse lassen vermuten, dass ein Verstehen umso eher und vollständiger gelingt, je ähnlicher die auf Seiten des Fragenden und des Befragten genutzten Informationen und Verarbeitungsprozesse sind (siehe hierzu die Untersuchungen von SCHOBER & CONRAD 1997). „Solche Ähnlichkeiten des Wissensstandes, der Informationsaufnahme und -verarbeitung sind weder angeboren, noch stellen sie sich in der Regel auto-
210
Forschungsstrategie
matisch ein; häufig müssen sie in der aktuellen Sprechsituation (mühsam) hergestellt werden – und dafür kennt zumindest die Alltagskommunikation unter anderem die Möglichkeiten des Nachfragens und Erläuterns“ (SCHEELE 1988, S. 129). Bei standardisierten Befragungsverfahren, welche auf die klassischen Gütekriterien ausgerichtet sind, wird die notwendige Bedingung gemeinsamer Welt- und Selbstsicht implizit unterstellt – ein Nachfragen, Erläutern oder Festlegen von Verständigungsregeln ist hier folglich nicht vorgesehen. In komplexen Themenfeldern jedoch, in welchen nicht von einer Ähnlichkeit der genutzten Informationen oder Verarbeitungsprozesse zwischen dem Forscher und den Befragten – sowie zwischen den Befragten – ausgegangen werden kann, wird sich ein gegenseitiges Verstehen nicht 'automatisch' einstellen. Deshalb wird dem Verstehen innerhalb des problemorientierten Rekonstruktionsinterviews ein hoher Stellenwert eingeräumt. Allgemein wird forscherseitiges Verstehen in Anlehnung an BARTELBORTH dann als erfüllt betrachtet, wenn der Forscher die Explikationen des Erkenntnis-Objektes in seinem Hintergrundwissen einbetten kann (2004, S. 33). Dabei darf 'verstanden' nicht mit 'einverstanden' gleichgesetzt werden. Die Äusserungen des Erkenntnis-Objektes müssen keinesfalls mit der Selbst- und Weltsicht des Forschers in Einklang stehen, damit diese als 'verstanden' klassifiziert werden. Es geht lediglich darum, dass der Forscher sein Bild, welches er sich über die Innenperspektive des Erkenntnis-Objektes konstruiert hat, in seinem Hintergrundwissen einordnen kann. Das Verstehen ist somit vom Hintergrundwissen des Forschers abhängig (zum Hintergrundwissen siehe Abbildung 25; S. 189), da er dieses als Bezugsrahmen nutzt, um stereotype, widersprüchliche, mehrdeutige etc. Explikationen der Befragten zu entdecken und gezielte kontextspezifische Nachfragen zur detaillierten Klärung zu stellen (WITZEL 1982, S. 68). Das durch diese Klärungsprozesse gewonnene Verständnis wirkt sich auf das Wissen des Forschers aus. Er muss sich immer wieder überraschen lassen können und das Neue, Unerwartete mit den 'sensitizing concepts' in Bezug setzen, um diese zu konkretisieren und allenfalls zu korrigieren (RITTELMEYER & PARMENTIER 2001, S. 32). Damit wird das Hintergrundwissen des Forschers ständig erweitert, was sich letztlich wieder auf das Verstehen selbst 96 auswirkt. Dieser Erweiterungsprozess, in welchem sich der Forscher gegenüber dem Erkenntnis-Objekt als lernend definiert (FROSCHAUER & LUEGER 2003, S. 59), kann als hermeneutischer Zirkel (DANNER 2006, S. 60ff.) aufgefasst werden. Durch die Nutzung des Hintergrundwissens wird ein 'höheres Verstehen' erst möglich (LAMNEK 2005, S. 70). Ohne Vorwissen und persönliche Erfahrungen über den Gegenstandsbereich der Konfliktklärung wäre ledig97 lich ein 'elementares Verstehen' erreichbar, wodurch ein Verstehen der Verarbeitungsformen gesellschaftlicher Realität im beschriebenen Sinne kaum leistbar wäre. 96
97
KLEINING (1982) beschreibt diesen Zusammenhang als erste Regel qualitativer Forschung: "Wir müssen den Weg der Überwindung des Vorverständnisses gehen, und zwar im Prozess des Forschens. Dies geschieht, indem wir unser Wissen und unsere Ansichten über den Gegenstand, das was wir von ihm kennen, über ihn glauben, von ihm erfahren haben, als Vor-Verständnis oder Vor-Urteil akzeptieren, aber diese Kenntnis als disponibel, veränderbar, überwindbar, als vorläufig auffassen, also offen sind für neue Informationen" (S. 231). Das 'elementare' Verstehen beschreibt nach DILTHEY (1961, zit. in LAMNEK 2005, S. 68) ein Verstehen im alltäglichen Umgang, ohne dass ein bewusstes Bemühen um Verständigung vorliegt. Wenn sich zwei Arbeitskollegen, welche sich gut kennen, plötzlich nicht mehr grüssen, wird dies als Irritation begriffen, ohne dass hierfür weitere Erklärungen notwendig sind. Dabei wird auf elementares Verstehen zurückgegriffen (in unserem Kulturkreis grüssen sich Men-
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
211
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass eine Äusserung immer mit einem kontextspezifischen 'Index' versehen ist, welcher auf deren Hintergrund verweist (siehe S. 186). Ein solcher 'Index' kann für den Befragten klar sein – nicht aber für den Forscher. Deshalb soll der Befragte auch bewusst auf Dinge hingewiesen werden, welche er lediglich ungenau erzählt, weil er der Meinung ist, dass der Interviewer diese ohnehin schon wisse und verstehen könne. Gerade in Bezug auf solche 'Selbstverständlichkeiten' muss für den Forscher das Motto gelten: 'Lasse nichts durch, was nicht wirklich verstanden wurde.' Auf diesen Aspekt weist auch GIRTLER aufgrund seiner Erfahrungen aus der ethnografischen Feldforschung hin: "Es ist oft so, dass der Interviewte gewisse Selbstverständlichkeiten […] nicht erzählt, sie aber erzählen würde, wenn der Interviewer ihn auf diese hinweist" (GIRTLER 2001, S. 158). Die Bitte um weitere Explikationen ermöglicht dem Forscher das 'Aufbrechen' des Inhaltes solcher Selbstverständlichkeiten. Darin wird auch ein Vorteil einer flexiblen Methode gesehen, welche sich nicht auf erste 'Reflexe' der Befragten beschränken muss (WITZEL 1982, S. 93). 11.3.2
Erzählgenerierende Funktion
Die erzählgenerierende Funktion kommt primär bei der Rekonstruktion der Kategorie 'Phasen' (vgl. Kap. 4.2, S. 41) zum Tragen. Eine narrative Sequenz wird durch eine vorformulierte Einstiegssfrage eingeleitet. Dabei wird das Erkenntnis-Objekt nicht in distanzierter Weise zu den Handlungen befragt, sondern soll zum Wiedererleben vergangener Handlungsabläufe gebracht werden. Das Ziel besteht darin, die subjektiven Relevanzsetzungen in Handlungsabläufen aufzudecken. Wie bereits erwähnt, kann die Erzählform nicht für 'statische' Zustände verwendet werden, weil sich diese nicht als Ereignisabfolgen in einer zeitlichen Entwicklungsperspektive abbilden lassen. Ferner setzen narrative Sequenzen auch immer eine Erzählfähigkeit und einen Erzählwillen seitens der Befragten voraus. Diese können sich auch erst im Verlaufe eines Gesprächs einstellen, sobald das hierzu notwendige Vertrauen aufgebaut werden konnte. Insofern ist das Element des Narrativen in Abhängigkeit des Befragten flexibel einzusetzen. Allerdings kann – entgegen der Idee des narrativen Interviews – auch während einer Erzählung unterbrochen werden. "Nachfragen steht dabei nicht im Widerspruch zu der Intention, eine Erzähllogik aufzubauen […]" (WITZEL 1982, S. 92). Wenn beim Forscher Verständnis erwirkt werden soll, muss er auch wirklich verstehen. Ob dieser die Äusserungen des Befragten allerdings verstanden hat, kann nur der Forscher direkt erkennen, nicht jedoch der Erzählende. Folglich liegt es auch in der Verantwortung des Forschers zu intervenieren, um die Sinnstruktur von Einzelaussagen oder Gesprächspassagen im Gesamtzusammenhang zu erfassen. Nach einer solchen Unterbrechung liegt es allerdings in der Pflicht des Interviewers, den Befragten wieder an den Ort der Erzählung zurückzuführen, an welchem dieser unterbrochen wurde. Damit lehnt sich das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview im
schen, welche sich kennen). Wird jedoch zusätzlich beobachtet, dass die beiden Arbeitskollegen ansonsten spontan und humorvoll miteinander umgehen, ist der elementare Verstehensakt gestört. Man wird versucht sein, das Beobachtete anderweitig zu erklären, indem bspw. ein erweiterter Kontext miteinbezogen wird. In dem Moment, wo der elementare Verstehensakt gestört ist, beginnt das höhere Verstehen, welches auf dem elementaren Verstehen aufbaut (vgl. hierzu auch DANNER 2006, S. 61ff.).
212
Forschungsstrategie
Vergleich zum narrativen Interview näher an einer Alltagskommunikation an, da bei Letzterem der Zuhörer während der Haupterzählphase in eine passive Zuhörerrolle gedrängt wird und der Befragte nichts darüber erfährt, ob der Forscher ihm überhaupt folgen kann. 11.3.3
Stabilitätsgenerierende Funktion
Es wurde bereits darauf eingegangen, dass dem Erkenntnis-Objekt mit den Merkmalen der Reflexivität und der kognitiven Konstruktivität für die Selbstbeobachtung und -beschreibung die Möglichkeit des Irrtums und die Möglichkeit des Lernens durch Einsicht einzugestehen sind. Durch einen direkten und konfrontierenden Kommunikationsstil werden die Explikationen auf deren Stabilität und innere Stimmigkeit geprüft, um die Klarheit und Präzision zu maximieren. Eingelöst wird diese Funktion einerseits während des Interviews auf der Mikroebene innerhalb einzelner Kategorien (einzelne Elemente wie Wörter oder Sätze) durch Zwischenvalidierungen sowie andererseits am Ende des Gesprächs auf der Makroebene (Gesamtzusammenhang der Aussagensysteme) durch eine kommunikative Validierung (vgl. hierzu im Detail Kap. 11.8). Dieses Vorgehen soll den Befragten idealerweise zu einer klareren Innensicht verhelfen, wobei sich der Erkenntnisgegenstand selbst partiell verändern kann. Zudem wird der Stabilitätsprüfung auch eine validierende Funktion zugeschrieben. Es muss sichergestellt werden, dass der Forscher die Erkenntnis-Objekte nicht nur verstanden hat, sondern dass er zusätzlich sein Verständnis über die Innensicht der Befragten validieren kann. Mit dieser Validierung wird versucht, die entwickelte Zielvorstellung einer approximativ deckungsgleichen Rekonstruktion einzulösen (vgl. Tabelle 13, S. 193). Sie gilt dann als erfüllt, wenn die Rekonstruktion vom Erkenntnis-Objekt als seine Innensicht und vom ErkenntnisSubjekt als seine Aussensicht akzeptiert werden kann. 11.4
Die gleichberechtigt argumentative Forschungskommunikation als Rahmenkonzeption zur Ausgestaltung der Gesprächssituation
Der in Verbindung mit den Rollenverständnissen eingeführte Kommunikationsstil zur Überwindung möglicher Explizierungsschwierigkeiten ist nicht zu trennen von der Forderung nach einer maximalen Annäherung an eine gleichberechtigt argumentative Forschungskommunikation. Die Befragten sollen im Rahmen einer 'idealen' Datenerhebungssituation soweit möglich selber agierend und gestaltend wirken können. Dieses normative Verständnis von Forschungskommunikation dient als nützliche Rahmenkonzeption für die Ausgestaltung der Gesprächssituation innerhalb des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews. Sie ist auf das in Kapitel 6 (S. 81ff.) beschriebene Menschenbild des epistemologischen Subjekt98 modells ausgerichtet. Nach KAMLAH UND LORENZEN verlangt eine solche Gesprächssituation nach kompetenten Sprechern, wobei sich den Autoren zufolge die Kompetenz in den Attributen kommunikativ, sachkundig, gutwillig und vernünftig manifestiert. Die Vernünftigkeit zeigt sich in der Aufgeschlossenheit gegenüber dem Gesprächspartner und dem Gegenstand sowie in einer schlüssigen Argumentationsfähigkeit (KAMLAH & LORENZEN 2006, S. 98
Die Aussagen von KAMLAH & LORENZEN als Begründer der 'Erlanger Schule' basieren auf einer Konsenstheorie als Wahrheitstheorie. Auf diese wird später in Kapitel 11.8 im Rahmen der Validierung subjektiv-theoretischer Konstrukte eingegangen.
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
213
485f.). Diese Forderungen sind weitestgehend deckungsgleich mit dem explizierten Menschenbild des epistemologischen Subjektmodells, wobei dieses zusätzlich eine potenzielle Reflexivität postuliert. Die geforderte Sachkompetenz bezüglich des Gegenstandsbereichs kann bei der Rekonstruktion individueller Subjektiver Theorien ebenfalls angenommen werden, da das subjektiv-theoretische Expertenwissen alleinig dem ErkenntnisObjekt zugeschrieben wird. Damit wird diese Vorstellung einer 'idealen Interviewsituation', welche alle beteiligten Gesprächspartner auf einen gleichberechtigten Diskurs verpflichtet, zu einem quasi immanenten Kriterium des anzustrebenden intersubjektiv berechtigten Konsenses zwischen Forscher und Beforschtem. Da nicht zu erwarten ist, dass sich eine solche 'ideale Interviewsituation' von selbst einstellt, müssen Regeln gefunden werden, welche konstruktive Hinweise geben, wie eine Annäherung optimal gelingen kann. 11.4.1
Annäherung an eine ideale Interviewsituation
Als Ausgangspunkt zur Formulierung von Annäherungsbedingungen wird auf die argumentationstheoretischen Ausführungen von KOPPERSCHMIDT zurückgegriffen (1976, S. 87ff.; 2000, S. 293): - Alle Teilnehmer des Diskurses müssen dieselbe Chance haben, durch kommunikative Sprechakte miteinander als gleichberechtigte Kommunikationspartner zu interagieren. Sie müssen subjektiv willens und faktisch auch in der Lage sein, gegenstandsthematische Diskurse zu eröffnen und zu perpetuieren. - Es muss für alle die Chance vorhanden sein, durch konstative (behauptende) Sprechakte Erklärungen, Begründungen, Rechtfertigungen, Konkretisierungen etc. zu äussern und gleichzeitig deren Geltungsansprüche zu hinterfragen, zu legitimieren, zu widerlegen oder zu modifizieren. Eine argumentativ erzielte Übereinkunft darf folglich nur dann als Wahrheitskriterium akzeptiert werden, wenn für alle Beteiligten der Gesprächssituation die Möglichkeit gegeben ist, die Begründungssprache kritisch zu hinterfragen und zu modifizieren. - Es soll ausschliesslich über diejenigen Handlungspläne Auskunft gegeben werden, nach welchen sich die tatsächlichen Handlungen richten. Mit dieser Forderung wird der Geltungsanspruch der 'Richtigkeit' aufgenommen (zu den Geltungsansprüchen siehe später in Kap. 11.8.5, S. 250). - Die Gesprächspartner müssen bereit sein, sich mit den Argumenten der Interaktionsteilnehmer auseinanderzusetzen. Dies bedeutet gleichsam, die Aussagen der anderen zu respektieren und sie nicht durch argumentationsfremde Massnahmen zu beeinflussen. Es soll keine Vormeinung der Kritik entzogen bleiben. - Alle Interaktionsbeteiligten sollen dieselbe Möglichkeit haben, ihre Perzeptionen, Gefühle, Intentionen, Befürchtungen etc. nicht nur bezüglich der Gesprächsinhalte, sondern auch gegenüber der Interviewsituation zum Ausdruck zu bringen. Dieses reziproke Verhältnis zwischen Äusserungen und Innerungen eröffnet das Potenzial, dass die Akteure wahrhaftig bleiben. "Dieses Postulat kann man als Wahrhaftigkeitspostulat bezeichnen" (GLOY 2004, S. 213).
214 -
Forschungsstrategie
Alle müssen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, aufzufordern und zu verweigern, zu erlauben und zu verbieten. Eine symmetrische Beziehungsdefinition soll einseitige Abhängigkeiten vermindern und damit Realitätszwänge abbauen.
Mit der Formulierung dieser Regeln wird deutlich, unter welchen Bedingungen die Rahmenkonzeption einer 'idealen Interviewsituation' realisiert werden kann. Diese Regeln sind "zugleich auch die Bedingungen für die Güte einer erfolgreichen persuasiven Kommunikation" (KOPPERSCHMIDT 1976, S. 136, Hervorhebung im Original). Zu Recht empfiehlt SCHEELE für die Situation des Forschungsinterviews als Spezialfall einer Sprechsituation, die Forderung der Gleichberechtigung der Kommunikationspartner zu modifizieren. Diese kann sich nur bedingt auf die Funktion und Rolle der Akteure beziehen. Die Gleichberechtigung ist als Zielidee der Beziehungsebene – nicht jedoch der Inhaltsebene – zuzuweisen. Es handelt sich um eine Situation "gleichmächtiger Verhandlungspartner mit unterschiedlichen Ressourcen" (SCHEELE 1988, S. 139). Deshalb scheint es adäquater, von einer "gleichberechtigt argumentativen Kommunikation" (S. 139) zu sprechen. Diese gleichberechtigt argumentative Kommunikation als Diskurs schliesst jeden Zwang aus, ausser den argumentativen Zwang. Dieser 'zwanglose Zwang' konstituiert in seiner Dialektik den Diskurs. Dem Forscher kommen im Rahmen des problemorientierten Rekonstruktionsinterviews folglich die Aufgaben zu, die genannten Bedingungen in optimaler Anpassung an die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Subjektiven Theoretikers bewusst zu induzieren und stets darauf zu achten, dass diese auch während des Interviewverlaufs aufrechterhalten werden. Damit ist jedoch noch zu wenig darüber ausgesagt, wie diese zielgruppenorientierte Ausgestaltung der Bedingungen konkret realisiert werden soll. Die Überlegungen hierzu werden, soweit dies nicht bereits in anderen Zusammenhängen geschehen ist, im nächsten Kapitel 11.5 erörtert. Vorher soll allerdings noch kurz auf den Einwand eingegangen werden, ob das normative Verständnis einer gleichberechtigt argumentativen Forschungskommunikation nicht als "kontrafaktisch" (MITTELSTRASS 1984, S. 461) zu beurteilen sei. 11.4.2
Die 'ideale Interviewsituation' als kontrafaktisches Konstrukt?
Nach den bisherigen Ausführungen ist die Forderung nach einer implizitätsüberwindenden Erhebungsmethodik nicht zu trennen vom Postulat der maximalen Annäherung an eine gleichberechtigt argumentative Forschungskommunikation im Rahmen einer idealen Interviewsituation, um eine grösstmögliche Zugänglichkeit zu den Subjektiven Theorien zu erlangen. Das explizierte normative Verständnis von Forschungskommunikation könnte als 'realitätsblinder Idealismus' (ASCHENBACH 1984, S. 88) kritisiert werden. Demgegenüber kann die ideale Interviewsituation als regulative Zielidee antizipiert werden, welche möglicherweise nie vollständig realisiert werden kann, jedoch approximativ angestrebt werden will. In Analogie dazu kann auch nicht von einer vollständig deckungsgleichen Rekonstruktion Subjektiver Theorien gesprochen werden – auch sie muss eine approximative sein. Diese Annäherungsproblematik betrifft jedoch nicht nur die Rekonstruktion Subjektiver Theorien, sondern gilt ganz allgemein für wissenschaftliches Handeln. Es ergibt folglich keinen Sinn, auf den bisherigen Verlauf der Menschheitsgeschichte – und das Unvermögen der Individuen bei der Realisierung idealer Sprechsituationen – hinzuweisen (vgl. ASCHENBACH 1984, S. 88). Im Gegenteil – genau dieses potenzielle Unvermögen macht die Vorstellung der 'idealen
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
215
Interviewsituation' und das Anstreben ihrer Realisierung umso wichtiger. Dieser "regulative Idealismus" (ASCHENBACH et al. 1983, S. 140) bedarf eines geregelten Prozesses, welcher für die Akteure der Interviewsituation transparent sein muss (vgl. KELLE et al. 1993, S. 70). 11.5
Rahmenmodell zur Begründung von Interventionsformen und Instrumenten
In der bisherigen Diskussion der Zugangsproblematik wurden konkrete Bedingungen ausgearbeitet, unter welchen eine optimale Rekonstruktion Subjektiver Theorien zu vermuten ist. Diese Voraussetzungen lassen sich grob zwei unterschiedlichen Perspektiven derselben Problematik zuordnen: der intraindividuellen Perspektive des Zugangs zu den subjektivtheoretischen Konstrukten des Erkenntnis-Objektes mit der Zielidee zur Unterstützung der Explizierung sowie auf der Beziehungsebene der interindividuellen Perspektive mit der Zielidee einer gleichberechtigt argumentativen Kommunikationsgestaltung im Rahmen einer idealen Interviewsituation. Dem Forscher kommt die Aufgabe zu, mit geeigneten Realisierungsmitteln die angesetzten Bedingungen herbeizuführen und aufrechtzuerhalten. Geeignet sind diese Realisierungsmittel dann, wenn sie die inter- und intraindividuellen Aspekte der Zugangsproblematik gleichermassen berücksichtigen und übergreifend miteinander zu verbinden vermögen. Bevor konkrete Realisierungsmittel als Interventionsformen und Instrumente zielgerichtet konzipiert werden können, bedarf es eines Rahmenmodells, welches als Orientierung für die anstehende Entwicklungsarbeit dient (siehe hierzu auch SCHEELE 1988, S. 142ff.). Ein solcher Bezugsrahmen scheint einerseits notwendig, um nicht in einer unstrukturierten Aspektfülle potenziell infrage kommender Realisierungsmittel unterzugehen (vgl. hierzu ULICH 1994, S. 46ff.), und andererseits soll verhindert werden, dass Interventionen zum Einsatz kommen, welche sich gegenseitig in ihrer Wirksamkeit behindern, den theoretischen bzw. methodologischen Überlegungen widersprechen (siehe oben S. 204 die Kritik an MERTON & KENDALL) oder die grundlegenden Annahmen des epistemologischen Subjektmodells unterlaufen bzw. diese nicht konstruktiv nutzen können. Ausgangspunkt des Rahmenmodells bilden die in Tabelle 13 (S. 193) skizzierten Zielvorstellungen, welche es in dieser Untersuchung mithilfe des problemorientierten Rekonstruktionsinterviews zu erreichen gilt. Sie bilden zusammengefasst das Oberziel des Rahmenmodells: Die individuellen subjektiv-theoretischen Konstrukte sind in einer erweiternden Präzisierung zu rekonstruieren und in einer Art und Weise abzubilden, welche eine zeitlich nachgelagerte Vergleichbarkeit ermöglicht. Dieses Oberziel lässt sich dem Vorschlag von SCHEELE folgend (1988, S. 143) in mehrere dialogische (Zwischen-)Ziele hierarchisch zerlegen. Als Orientierungsheuristik hierzu dienen die formulierten Regeln zur Herstellung einer idealen Interviewsituation (vgl. Kap. 11.4.1). Danach sind für die jeweiligen Zielerreichungen bestimmte Anforderungen anzusetzen, welche es soweit möglich durch den Forscher aktiv zu induzieren und zu stabilisieren gilt. Die Interventionen und Instrumente können damit in einer horizontalen Verbundenheit (Ziele – Anforderungen – Realisierungsmittel) konzipiert werden, indem diese die Erreichung einer oder mehrerer Zielsetzungen unterstützen und gleichzeitig vor dem Hintergrund der gestellten Anforderungen als nützlich angesehen werden. Die Hierarchisierung der Zielsetzungen (und damit verbunden der Anforderungen) bringt die zweite, vertikale Dimension des Rahmenmodells zum Ausduck. Ein übergeordnetes Ziel impliziert gleichzeitig wachsende
216
Forschungsstrategie
Anforderungen, wobei 'tieferliegende' Voraussetzungen jeweils als inkludiert aufzufassen sind. Damit werden potenziell gegenläufige Realisierungsmittel ausgeschlossen, indem jedes Verfahren hinsichtlich seiner vertikalen Tauglichkeit stufenweise für die höheren Zielsetzungen geprüft werden kann. Ein Beispiel soll das Gesagte verdeutlichen: Es wäre wenig sinnvoll, den Vertrauensaufbau gegenüber dem Erkenntnis-Objekt durch eine euphemistische Informationsgebung erwirken zu wollen, weil diese eine realitätsinadäquate Erwartungshaltung induzieren würde. Ein direkter und konfrontierender Kommunikationsstil, welcher verstärkt auf einer höheren Zielebene zwecks kommunikativer Validierung anzusetzen ist, müsste fast zwangsläufig zu Irritationen seitens des Erkenntnis-Objektes führen, was letztlich die Erreichung einer validen Rekonstruktion gefährden könnte. Das so entstandene Rahmenmodell konturiert und strukturiert den Suchraum auf einer vertikalen und horizontalen Ebene (siehe Abbildung 29, S. 217). Es enthält die folgenden dialogischen (Zwischen-)Ziele: Aktualisieren, Artikulieren, Visualisieren, Paritätische Kommunikationsgestaltung, Argumentatives Auseinandersetzen, Argumentative Übereinkunft. Mit der hierarchisch tiefsten Zielebene, 'Aktualisieren', und der höchsten Zielebene, 'approximativ deckungsgleiche Rekonstruktion', definiert das Rahmenmodell die Hierarchie in seiner vertikalen Ausrichtung. Die innerhalb dieser Spannweite anzusetzenden Anforderungen folgen der Maxime, jeweils nur die zusätzlichen Bedingungen zur Erreichung des nächsthöheren Oberziels zu nennen: Wird mit der anforderungsschwächsten Zielebene begonnen und beschreibt man hierfür die unverzichtbare intrapersonelle Anforderung 'zur Introspektion willens sein' als Voraussetzung dafür, dass sich das Erkenntnis-Objekt überhaupt mit seinen Subjektiven Theorien beschäftigt, muss die übergeordnete Zielkategorie folglich diese Anforderung mitumfassen. Die Ziel-Realisierungsmittel-Hierachisierung sollte weder vertikal noch horizontal als eine rein statische, zeitlich chronologische Verknüpfung aufgefasst werden. Vielmehr stehen dahinter gleichermassen prozessuale Dynamiken. Beispiel: Damit sich das Erkenntnis-Objekt mit seinen Vorstellungen zur Konfliktklärung beschäftigt, müssen entsprechende Informationen vorliegen sowie die Bereitschaft vorhanden sein, diese abzurufen. Während der Rekonstruktionsarbeit ist es durchaus vorstellbar, dass der Interviewpartner an Vertrauen in sich selbst und in die Untersuchungssituation gewinnt und seine Transformationsfähigkeiten stärker werden, sich dadurch seine Introspektionsbereitschaft erhöht, was ihn zu weiteren Einsichten über seine Selbst- und Weltsicht führt, über die er zu Beginn des Interviews nicht verfügte (verfügen konnte). Es ist anzunehmen, dass erfolgreiche Transformationssequenzen nicht nur die Introspektions-, sondern auch die Explizierungsmotivation durchaus positiv verstärken (SCHEELE 1988, S. 151).
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
217
Abbildung 29: Rahmenmodell zur Generierung von Interventionsformen und Instrumenten
V
IV
III
II
Zielebene
Anforderungen
Approximativ deckungsgleiche Rekonstruktion als argumentative Übereinkunft
Erkenntnis-Motivation
Argumentatives Auseinandersetzen
Paritätische Kommunikationsgestaltung
Artikulieren und Visualisieren
Argumentationsfähigkeit
Explizierungsmotivation
Transformationsfähigkeit: - Artikulationsfähigkeit - Schematisierungsfähigkeit
I
Aktualisieren
- aktualisierbare Subjektive Theorien - Introspektionsbereitschaft
Aus den bereits dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die genannten Anforderungen – und damit verbunden die zugehörigen (Zwischen-)Ziele – lediglich suboptimal ausgeprägt sind. Die Interventionen und Instrumente haben die Aufgabe, hierzu die notwendigen Optimierungen zu leisten. Allerdings liegen über deren Eignung weder für den vorliegenden Forschungsgegenstand noch für die hier zu untersuchende Zielgruppe empirische Begründungen vor. Die Erarbeitung stützt sich deshalb auf allgemein theoretische Überlegungen, persönliche Erfahrungen mit der Zielgruppe sowie auf Erkenntnisse aus anderweitig durchgeführten Untersuchungen – soweit sich diese übertragen lassen. Umso wichtiger erscheint auch die Absicht, der Klärung allfälliger 'Gesprächshindernisse' auf der Beziehungsebene gegenüber dem Interviewer (oder allgemein der Interviewsituation) einen hohen Stellenwert einzuräumen. Im Folgenden werden die ausgearbeiteten Zielebenen des Rahmenmodells und die jeweils anzusetzenden Anforderungen näher beschrieben. Das Rahmenmodell dient als Systematisierungsraster für die zu konzipierenden Interventionsformen und Instrumente. Diese werden vorerst lediglich benannt und in den darauf folgenden Kapiteln 11.6 und 11.7 im Detail beschrieben. Um unnötige Redundanzen zu vermeiden, werden die Realisierungsmittel jeweils auf der voraussetzungsärmsten Zielebene aufgeführt, in welcher sie vergleichsweise am meisten Anforderungen abdecken.
218 11.5.1
Forschungsstrategie
Zielebene I: Aktualisieren
Die gesamte Rekonstruktion Subjektiver Theorien baut auf zwei grundlegenden Voraussetzungen auf: Einerseits müssen bei den Erkenntnis-Objekten persönliche Erfahrungen hinsichtlich des Gegenstandsbereichs vorhanden sein, und andererseits müssen sie an dem Rekonstruktionsthema interessiert sein oder zumindest mittelbar Interesse entwickeln können. Die Relevanz des Interesses als Voraussetzung für eine Introspektionsbereitschaft wurde bereits unter Verweis auf die empirischen Untersuchungen von SMITH UND MILLER (1978, S. 361) herausgestrichen. Zu derselben Aussage kommt ULICH (1994, S. 51f.), indem er festhält, dass die Motivation umso höher ist, je lebensnäher, subjektiv bedeutsamer und erfolgversprechender die Rekonstruktion dem Erkenntnis-Objekt erscheint. Ferner muss die Untersuchungssituation transparent sein und müssen die Aufgaben als bewältigbar erscheinen. Da die Bereitschaft zur Introspektion in der Regel nicht a priori vorausgesetzt werden kann, soll diese zusätzlich durch eine Instruktion als 'Einstimmung' des Erkenntnis-Objektes gefördert werden (KEBECK & SADER 1984, S. 229). Mithilfe einer solchen Instruktion ist eine maximale Transparenz zu schaffen. Diese Instruktion hat dem Erkenntnis-Objekt auch die Möglichkeit einzuräumen, eigene Erwartungen, Befürchtungen oder allgemeine 'Gesprächshindernisse' gegenüber der bevorstehenden Untersuchung zu thematisieren. Nach dieser Klärung kann das Erkenntnis-Objekt entscheiden, ob es an der Untersuchung teilnehmen möchte oder nicht. Neben der Instruktion zur 'Einstimmung' dienen Erzählaufforderungen ebenfalls der Aktualisierung Subjektiver Theorien. Die Begründung hierfür wurde bereits im Rahmen des narrativen Interviews (Kap. 10.3.1) unter Verweis auf SCHÜTZE (1976, S. 196f.) sowie BAHRDT (1975, S. 12f. & 24ff.) diskutiert. Die Erzählform führt zu einer Subjektivierung mit gleichzeitiger Konkretisierung der Inhalte, wodurch die Selbstaufmerksamkeit und damit verbunden das Erinnern verstärkt wird. Im Vergleich zu klassischen Interviewverfahren sollen die Erkenntnis-Objekte ihre Subjektiven Theorien nicht nur verbal explizieren, sondern auch visualisieren (die Begründung hierfür wird später diskutiert; siehe Kap. 11.7.3). Im Zusammenhang mit dem Aktualisierungsanspruch sowie der Transformationsfähigkeit (siehe unten Zielebene II) gilt es auf einen wichtigen Aspekt hinzuweisen. Basierend auf den Erkenntnissen der semantischen Gedächtnistheorie ist davon auszugehen, dass die schrittweise Visualisierung der subjektiven Theorieinhalte und Strukturen die Aktualisierung seitens der Erkenntnis-Objekte begünstigen dürfte. KAMINSKI spricht in diesem Zusammenhang von einem didaktischen Veranschaulichungseffekt und "Geburtshelferdiensten" (1970, S. 31). Das parallele, verbale und visuelle Explizieren bringt inhaltliche 'Lücken' zum Vorschein, verdeutlicht unverbundene Elemente und erleichtert das Zurückgehen zu Aspekten, welche bereits im Interview vorgebracht wurden, weil die entsprechenden Punkte visuell verfügbar bleiben. Die Intensität der 'Aktualisierung' entwickelt sich erst im Laufe des Interviews. Es ist nicht zu erwarten, "dass umfassend – und schon gar nicht von Anfang an vollständig – aktualisiert wird" (SCHEELE 1988, S. 148). Das Ziel besteht vielmehr darin, während des Rekonstruktionsprozesses die handlungsrelevanten Kognitionen möglichst effizient und effektiv nach und nach ins Bewusstsein zu bringen. D. h., die Aktualisierungsphasen und die entsprechenden Realisierungsmittel werden nach Bedarf während der gesamten Re-
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konstruktionsarbeit eingesetzt. Hinter dieser Überlegung steht die Strategie, Komplexität zu akzeptieren. Die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit der mentalen Repräsentationen ist nicht voreilig zu vereinfachen, "sondern stehen zu lassen, auch wenn die einzelnen Teile nicht recht zueinander passen, einander gar widersprechen und kein Ganzes ergeben" (KEBECK & SADER 1984, S. 230). Die anzustrebende Abstrahierung und Segmentierung (s. u. Zielebene IV) dürfen das Erkenntnis-Objekt in seinen Aktualisierungen nicht behindern. 11.5.2
Zielebene II: Artikulieren und Visualisieren
Die zweite Zielebene fokussiert auf das Artikulieren der aktualisierten Subjektiven Theorien. Dafür müssen die Befragten und der Forscher eine gemeinsame Sprache finden, welche einerseits die Innensicht des Erkenntnis-Objektes so adäquat wie möglich abzubilden vermag und anderseits trotz dieser Individualisierung die Vergleichbarkeit mit weiteren rekonstruierten Subjektiven Theorien nicht verunmöglicht. Eine konstruktive Auflösung dieses Spannungsfeldes zwischen idiographischen und nomothetischen Ansprüchen wird nicht in einer Entscheidung für oder gegen eine Perspektive gesehen, sondern in einer schrittweisen Überführung der Alltagssprache in eine wissenschaftssprachliche Ausdrucksform (GROEBEN 1986b, S. 121ff.). Diese Ausdruckform muss für den Forscher als Beschreibung akzeptierbar sein und gleichzeitig für das Erkenntnis-Objekt eine adäquate Abbildung seiner Innensicht darstellen. In der Worten OBLIERS' muss das 'Murmeln' des Erkenntnis-Objektes kommunikativ versprachlicht werden, bis das entwickelte resonant abgestimmte 'Murmeln' in einem "kohärenten und parallelisierten Sprachfluss mündet" (1992, S. 200f.). Die hierfür anzusetzenden Anforderungen manifestieren sich in der Fähigkeit, die aktualisierten Kognitionen in Sprache zu transformieren. Es ist davon auszugehen, dass diese Übersetzungsarbeit nicht von selbst, also automatisch gelingt (SCHEELE 1988, S. 151). Folglich ist der Subjektive Theoretiker – soweit dies erforderlich ist – bei der Suche nach sprachlich adäquaten Abbildungen seiner Repräsentationen zu unterstützen. Diese 'Transformationsfähigkeit' beinhaltet streng genommen zwei Aspekte: Einerseits muss das Individuum das Implizite gegen aussen explizieren, und das verbal Explizierte soll ausgehend von einer Alltagssprache in wissenschaftliche Ausdrucksformen überführt werden. Die klassischen Befragungsverfahren liefern kaum Hinweise, wie das Erkenntnis-Objekt bei dieser doppelten Transformationsarbeit unterstützt werden kann. Mit Instruktionen wie 'antworten Sie spontan und zügig' oder 'möglichst ohne viel nachzudenken' wird genau das Gegenteilige gefordert, was zur Rekonstruktion Subjektiver Theorien als nützlich erachtet wird. Konstruktive Hinweise sind bei einem solchen Befragungsverständnis nicht zu erwarten (SCHEELE 1988, S. 155). KEBECK UND SADER raten, den Interviewpartnern bei Bedarf genügend Zeit zu geben, damit sich diese gedanklich in die erlebten Situationen hineinversetzen können (1984, S. 227). Darüber hinaus empfehlen sie, vorläufige Äusserungen ausdrücklich zuzulassen, ungeordnete Bruchstücke oder Teilaspekte der Phänomene aufzugreifen sowie die Interviewpartner zu fragen, wie nahe oder wie fern ihre Aussagen von dem liegen, was sie eigentlich mitteilen wollten, jedoch noch nicht die adäquaten Worte hierfür gefunden haben (1984, S. 227). Versucht man diese Empfehlungen weiterführend methodisch zu übersetzen, werden die folgenden Interventionsformen als sinnvoll erachtet: Der Forscher kann den Interviewpartner mittels präzisierenden Nachfragens oder Anbietens konkreter Fallbeispiele zu weite-
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Forschungsstrategie
ren verbalen Explikationen animieren. In Anlehnung an die klientenzentrierte Gesprächsführung wird zusätzlich die Möglichkeit gesehen, dass der Forscher das Gesagte oder Angedeutete dem Interviewpartner zurückspiegelt, wobei hierfür zwei unterschiedliche Gestaltungsformen bestehen: Der Interviewer kann für einzelne vom Interviewpartner genannte Wörter, Ausdrücke oder Sätze mögliche Interpretationsangebote im Sinne von hypothesengerichteten Fragen formulieren. Die Interviewten sollen dann die angebotenen Interpretationskategorien aufgreifen und in Verbindung mit ihren subjektiven Konstrukten weiterführen (siehe unten Zielebene IV). Ausserdem wird vorgeschlagen, dass der Forscher (insbesondere nach längeren Sprechsequenzen) die Inhalte und Strukturen zentriert zusammenfasst und den Gesprächspartner um Stellungnahme bittet. Die vier genannten Interventionsformen zielen auf den Abbau möglicher verbaler Artikulationsschwierigkeiten und greifen damit den ersten Teilaspekt der 'Transformationsfähigkeit' auf. Als zweiter Aspekt gilt es, das Explizierte in eine wissenschaftlich vergleichbare Ausdrucksform zu überführen. In dieser Ausdrucksform rücken nun die verbindenden Strukturen der subjektiven Theorieinhalte in den Vorderund. Die hierbei anzusetzende 'Schematisierungsfähigkeit' folgt derselben Zielidee wie bei der Rekonstruktion der Theorieinhalte. In erster Linie versucht das Erkenntnis-Objekt selbstständig, die relevanten Strukturen zu explizieren, und falls derweil Schwierigkeiten auftreten, soll seitens des ErkenntnisSubjektes Unterstützung angeboten werden. Genau gleich wie bei den Theorieinhalten können daraufhin konkrete Strukturvorschläge als Interpretationsangebote präsentiert werden, welche das Erkenntnis-Objekt kraft seiner "Introspektionsmächtigkeit" (SCHEELE 1988, S. 162) hinsichtlich der Rekonstruktionsadäquanz zu prüfen hat (siehe unten Zielebene IV). Auf einer generellen Verfahrensebene ermöglichen sogenannte Struktur-LegeTechniken mithilfe formaler Verknüpfungen, die alltagssprachlichen Explikationen in eine wissenschaftssprachliche Ausdrucksform zu transformieren. Bei den hierfür einzusetzenden Regeln "handelt es sich […] im wesentlichen um Vorschriften zur präzisierenden Bestimmung der inhaltsverknüpfenden Relationen" (SCHEELE 1988, S. 163). Damit die Strukturrekonstruktion in dem erwähnten Sinne gelingen kann, muss dem Erkenntnis-Objekt das Regelsystem in einer Art und Weise bekannt sein, dass es die Regeln nicht nur nachvollziehen kann, sondern auch in der Lage ist, diese selbstständig anzuwenden. Das Beherrschen dieser Regeln durch das Erkenntnis-Objekt ist Voraussetzung dafür, dass es erstens seine Konstruktionsentwürfe als schematisches Schaubild abbilden kann, zweitens die Konstruktionsvorschläge des Erkenntnis-Subjektes versteht und drittens mit dem Forscher in eine argumentative Auseinandersetzung einsteigen kann (s. u. Zielebene IV). 11.5.3
Zielebene III: Paritätische Kommunikationsgestaltung
Die paritätische Kommunikationsgestaltung formuliert auf der Zielebene III als Problematisierungsheuristik das Konstrukt der 'zielführenden Transformationsmotivation'. Die enge Verbindung zur Transformationsfähigkeit als Anforderung der Zielebene II wird insofern deutlich, als die Unterstützung zur verbalen Artikulation umso leichter fällt, wenn das ErkenntnisObjektiv für eine paritätische Kommunikationsgestaltung motiviert ist. Oder umgekehrt formuliert: Das Erkenntnis-Objekt kann seine Artikulationsfähigkeit auch bewusst zielhindernd
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einsetzen, indem es z. B. wertlose oder unrichtige Antworten gibt (zur 'negativen' Versuchsperson siehe W. MERTENS 1975, S. 104ff.; ULICH 1994, S. 52f.). Dies wird eher dann der Fall sein, wenn eine zielführende Transformationsmotivation kaum oder gar nicht vorhanden ist. Auf die Relevanz sozialpsychologischer Merkmale der Untersuchungssituation als motivationale Determinanten wurde bereits im Zusammenhang mit den Abgrenzungsüberlegungen gegenüber der Experimentalmethodik hingewiesen (siehe Kap. 9.2.1). Damit ist gemeint, dass nicht nur die subjektive Bedeutsamkeit des Erinnerungsmaterials, sondern möglicherweise auch die subjektive Bedeutsamkeit der Untersuchungssituation, in der erinnert werden soll, einen wesentlichen Einfluss auf das Rekonstruieren ausübt. "Das heisst, es ist zu berücksichtigen, dass die Erhebungssituation selbst für den Interviewpartner Valenzen besitzt oder erhält, die mit denen des Rekonstruktionsoberziels negativ interferieren können" (SCHEELE 1988, S. 158). Als Folge davon können die erwähnten Verzerrungsmechanismen ('evaluation apprehension', 'demand characteristics' etc.; siehe Kap. 9.3.1, S. 172) entstehen, welche es zu berücksichtigen gilt. Zur konstruktiven Bewältigung solcher Hindernisse kann plausiblerweise nicht auf Massnahmen zurückgegriffen werden, wie sie häufig in der traditionellen Methodenlehre vorgeschlagen werden, weil diese eine Asymmetrie zwischen Forscher und Beforschtem induzieren. Genau das soll indes bei der Rekonstruktion Subjektiver Theorien vermieden werden. Allerdings wäre die Konklusion, sich auf Interaktionsmodelle zu stützen, welche eine symmetrische Beziehungsgestaltung als konstitutive Bedingung ausweisen, ebenfalls wenig zielführend, weil es sich bei einer Untersuchungssituation "meist um eine nur kurzzeitige und periphere Beziehung zwischen 'Fremden' handelt" (ULICH 1994, S. 46) und damit die Symmetrie erst hergestellt werden muss. Ein konstruktiver Lösungsansatz wird darin gesehen, dass die Kritik zur Sozialpsychologie des Experiments (W. MERTENS 1975) nochmals aufgenommen wird, um diese als Bewältigungsheuristik zu nutzen. Die geübte Kritik, die asymmetrische Beziehungsstruktur betreffend, manifestiert sich primär in zwei Merkmalen der Versuchsanordnung: in 'mangelnder Transparenz' sowie 'behavioristisch geprägtem Subjektverständnis'. Die dadurch evozierte Orientierungslosigkeit versuchen die Beteiligten durch eigene Sinngebungen zu kompensieren und passen dadurch die Untersuchungssituation ihren Absichten entsprechend an (W. MERTENS 1975, S. 104ff.). "Überangepasstes oder destruktives Verhalten sind leider oft die 'angemessenen' Antworten auf […] hochgradig verunsichernde Versuchsanordnungen. Sowohl eine mangelhafte Transparenz wie auch die gelegentlich gegebene tendenzielle Repressivität mancher Untersuchungssituationen erfordern geradezu den Einsatz spezifischer Interaktionsstrategien" (ULICH 1994, S. 53). Was lässt sich aus diesen Erwägungen für die vorliegende Zielebene III und damit verbunden für die Transformationsmotivation ableiten? Die in Tabelle 11 (S. 184) entwickelten Ziel- und Realisierungsvorstellungen sind zur Beantwortung dieser Frage richtungweisend. Der anvisierte gleichberechtigt argumentative Diskurs geht von einem Menschenbild des epistemologischen Subjektmodells aus, bei welchem die Potenziale des Erkenntnis-Objektes genutzt und nicht unterdrückt werden. Herrschaftsstrukturen gilt es abzubauen und durch eine Kultur paritätischer Kommunikation sowie eine transparente Untersuchungssituation zu ersetzen. Hierzu scheinen die folgenden Realisierungsmittel geeignet zu sein:
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Forschungsstrategie
Zur Klärung des Gegenstandsbereichs, des Interviewverfahrens, der Untersuchungsziele, der Interaktionsbeziehungen sowie der allgemeinen Rahmenbedingungen wird zu Beginn der Untersuchungssituation eine Instruktion eingesetzt (s. o. Zielebene I). Innerhalb des Interviewverfahrens gilt es insbesondere den Sinn und Zweck der Interventionsformen und Instrumente verständlich zu machen. Die Interviewpartner sind über den für sie zu erwartenden Nutzen aufzuklären (siehe 'emanzipatorische Relevanz', Fn. 80, S. 168). Es ist sicherzustellen, dass der Interviewpartner die Instruktion sowie den zu erwartenden Nutzen so weit verstanden hat, dass er die Untersuchung entscheidungskompetent akzeptieren oder ablehnen kann. Dem Erkenntnis-Objekt sind metakommunikative Interventionen als sinnvolle CopingStrategie so weit zu erläutern, dass es diese während des Interviews gleichberechtigt zu nutzen in der Lage ist. D. h., beim Auftreten von 'Gesprächsstörungen' sollen beide Akteure der Interviewsituation gleichermassen die Möglichkeit haben, solche Verzerrungsmechanismen anzusprechen. Damit das Erkenntnis-Objekt die Aufgabe bewältigen kann, sind gezielt Explizierungshilfen anzubieten. Das in Kapitel 11.2 formulierte Rollenverständnis gilt es zu Beginn des Interviews nicht nur zu erläutern, sondern auch 'vorzuleben'. Da Subjektive Theorien mittlerer Reichweite grundsätzlich eine Vielzahl von Konzepten beinhalten können, ist relativ strukturiert vorzugehen. Um eine Desorientierung des Erkenntnis-Objektes aufgrund der Aspektfülle zu vermeiden und mögliche Kognitionsinterferenzen zu minimieren (siehe hierzu auch WAHL et al. 1983) soll ein teilstandardisierter Interviewleitfaden eingesetzt werden, welcher einerseits die notwendige Kategorisierung bereitstellt und gleichzeitig die unabdingbare Flexibilität und Offenheit innerhalb der jeweiligen Kategorien zulässt.
11.5.4
Zielebene IV: Argumentatives Auseinandersetzen
Für die vierte Ebene des Rahmenmodells wird die Argumentationsfähigkeit als zusätzliche Anforderung angesetzt. Damit ist die Fähigkeit gemeint, sich gemäss einer bestimmten geregelten Abfolge ausdrücken zu können: "Beim Argumentieren für oder gegen den Geltungsanspruch einer Aussage beziehen wir uns auf eine andere Aussage, von der wir behaupten, dass sie in der Lage sei, uns rational zu Anerkennung bzw. Bestreitung der betreffenden Aus99 sage zu bewegen" (KOPPERSCHMIDT 2000, S. 54f.). Wichtig erscheint hierbei der Rückgriff auf andere Aussagen und nicht das blosse Festhalten an Behauptungen. Dieser Rückgriff auf andere Aussagen kann von dem Forscher allerdings nur dann akzeptiert werden, wenn zwischen der behaupteten Aussage und der diese legitimierenden Aussage eine verständliche Geltungsbeziehung vorliegt.
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Aussagenlogisch formalisiert bedeutet diese geregelte Abfolge: p (gilt), weil q (gilt). Auf die strukturimmanente Problematik des theoretisch denkbaren infiniten Regresses wird an dieser Stelle nicht weiter eingegangen. Seine Auflösung wird in der konsensualen Ratifizierung von Aussagen gesehen (siehe hierzu später Kap. 11.8, konkret 11.8.3f.). Die Regressproblematik wird in KOPPERSCHMIDT (2000) ausführlich in den Kapiteln drei und vier behandelt.
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
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Gegenstand dieser Argumentation bilden die Konstruktionsentwürfe des Erkenntnis-Objektes sowie die Vorinterpretationen des Erkenntnis-Subjektes. Das Argumentieren umfasst die bereits angesprochenen metasprachlichen Fähigkeiten. Allerdings reicht es auf der Zielebene IV nicht mehr, lediglich über etwas sprechen zu können (z. B. eigene Befindlichkeiten, Irritationen oder sonstige Gesprächshindernisse), sondern zusätzlich wird eine Lösungsorientierung eingefordert. Dies bedeutet, dass das Erkenntnis-Objekt für potenziell entstehende hermeneutische Differenzen zwischen seinen Konstruktionsleistungen und denjenigen des Forschers Wege und Möglichkeiten vorbringen sollte, wie diese bereinigt werden können. Die Implizitätsproblematik ist nicht nur für die semantische Präzisierung der subjektiven Wissensbestände anzusetzen, sondern auch für deren argumentative Struktur (SCHEELE 1988, S. 162). Dementsprechend gestaltet sich auch diese argumentative Validierungsarbeit als gemeinsame Rekonstruktionstätigkeit. Nach Möglichkeit wird dem Erkenntnis-Objekt analog der Zielebene II der 'Vortritt' eingeräumt, und der Forscher behält sich das Recht vor, den Äusserungen entgegenzuhalten. Bekundet der Interviewpartner Mühe, schlägt der Forscher mögliche argumentative Strukturen vor und unterbreitet diese dem Erkenntnis-Objekt, welches aufgrund seiner Introspektionsmächtigkeit die Vorschläge zu prüfen hat. Die Zustimmung des Erkenntnis-Objektes stellt dabei das ausschlaggebende Kriterium für die Adäquatheit der Rekonstruktionen dar – unter der Voraussetzung, dass das Erkenntnis-Subjekt diesen ebenfalls zustimmen kann. An dieser Stelle könnte allerdings der Einwand vorgebracht werden, dass das Erkenntnis-Objekt den forscherseitigen Vorschlägen 'vorschnell' zustimmen könnte, um die anstrengende argumentative Auseinandersetzung zu beenden. Um solchen Tendenzen entgegenzuwirken, wird als weiteres Realisierungsmittel die sogenannte konfrontierende Frage vorgeschlagen. Ihre Funktion besteht allgemein darin, die Aussagen des Interviewpartners auf deren Stabilität zu prüfen. Damit sollen nachträglich handlungsrechtfertigende Kognitionen, welche unter Umständen durch die Interpretationsangebote des Forschers evoziert wurden, zugunsten von handlungsleitenden Kognitionen verhindert werden (siehe hierzu auch WAHL et al. 1983, S. 245). Auf der Zielebene II wurde von der Notwendigkeit ausgegangen, die alltagssprachlichen Explikationen in eine wissenschaftliche Ausdrucksform zu bringen. Diese Tätigkeit führt im Rahmen eines dialogkonsensual ausgerichteten Interviewverfahrens gezwungenermassen zu einer Abstrahierung und Segmentierung der Konzepte. Diese Form der argumentativen Auseinandersetzung verlangt von dem Erkenntnis-Subjekt eine relativ starke Konstruktionsdynamik (SCHEELE 1988, S. 164). Als Orientierungsheuristik dient das Situationstypenmodell (vgl. Kap. 4.2, S. 41) sowohl für die Segmentierung (Kategorien) als auch für die Komprimierung (Abstrahierung). Einerseits sind typische handlungsleitende Kognitionen von solchen zu trennen, welche auf ein einmaliges Handlungserlebnis rekurrieren. Es soll nicht erfasst werden, wie ein Erkenntnis-Objekt einmalig in einer singulären Situation innerhalb des Situationstyps agiert hat, sondern wie es diesen typischerweise bewältigt. Andererseits müssen handlungsleitende Kognitionen beleuchtet werden, welche ausserhalb des Situationstyps ansetzen bzw. zu abstrakt formuliert sind. Dieses Spannungsfeld muss in einem ersten Schritt verstärkt durch den Forscher ausgelotet und danach mit dem Erkenntnis-Objekt argumentativ erörtert werden.
224
Forschungsstrategie
Aus den bisherigen Ausführungen werden zwei Aspekte deutlich: - Voraussetzungen: Es ist von grundlegender Bedeutung, dass das Erkenntnis-Objekt das bereits erwähnte Regelsystem (s. o. Zielebene II) verstanden hat und dieses auch selbstständig anwenden kann (Schematisierungsfähigkeit). Ohne dieses annäherungsweise symmetrische Beherrschen des Regelsystems durch die Interaktionspartner ist eine argumentative Auseinandersetzung gar nicht denkbar. Zudem müssen die Explikationen so weit vorangeschritten sein, dass hierüber auch tatsächlich argumentiert werden kann. Die Rekonstruktionsentwürfe können und dürfen sich unter dem Primat der Explizierungsdynamik sowohl inhaltlich als auch strukturell noch verändern. Darin besteht ja genau das Ziel einer argumentativen Auseinandersetzung. - Konstruktionsleistung: Grundsätzlich sind zwischen den zwei Kontrastpolen der fast ausschliesslichen Rekonstruktionsarbeit beim Erkenntnis-Objekt und der intensiven Rekonstruktionstätigkeit beim Erkenntnis-Subjekt jegliche Zwischenausprägungen vorstellbar. Der Forscher wirkt nicht mehr als imaginäre Instanz, sondern er ist konstitutiv am Rekonstruktionsprozess beteiligt. Auf der Zielebene IV kommt dies besonders deutlich zum Ausdruck. Gleichsam ist der Forscher auch bei anforderungsärmeren Zielebenen nicht eliminierbar, weil dies mit dem Grundgedanken einer dialogkonsensualen Rekonstruktion nicht in Einklang zu bringen wäre (SCHEELE 1988, S. 165) und folglich auch den Vorstellungen der idealen Interviewsituation zuwiderlaufen würde. Die monologische Validierung durch den Forscher, wie sie in klassischen Erhebungsverfahren Tradition ist (siehe hierzu Fn. 109, S. 245), würde hiermit dem Erkenntnis-Objekt übertragen, wobei sich an der Monologizität nichts ändern würde. "Ein echtes Dialog-Konsens-Verfahren wird […] immer einen Dialog und eine Einigung zwischen Erkenntnis-Subjekt und Erkenntnis-Objekt realisieren müssen" (SCHEELE 1988, S. 166). Die Rekonstruktionstätigkeit des Forschers ist gegenüber dem Erkenntnis-Objekt als subsidiär aufzufassen. Es gilt, so wenig Unterstützungsleistung von Seiten des Erkenntnis-Subjektes wie nötig und so viel Rekonstruktionstätigkeit durch das Erkenntnis-Objekt wie möglich zu realisieren. Die Minimalgrenze für die forscherseitige Mitwirkung am Rekonstruktionsprozess ist innerhalb der Extrempole dort anzusetzen, wo eine argumentative Auseinandersetzung im oben beschriebenen Sinne nicht mehr möglich ist. 11.5.5
Zielebene V: Argumentative Übereinkunft
Die oberste Zielebene führt die argumentative Auseinandersetzung weiter in Richtung approximativ deckungsgleicher Rekonstruktion als argumentativer Übereinkunft. Die hierbei zu bewältigende Herausforderung beschreibt SCHEELE (1988) in den folgenden Worten: "Warum sollte jemand […] einem Fremden gegenüber zu dem, was er denkt, meint, fühlt etc. 'vernünftig' und 'wahrhaftig' einen direkten Zugang schaffen, warum möglichst vorbehaltlos sich und dem anderen auch die eigenen 'Denk'-Lücken, -'Fehler', unauflösbaren Ungereimtheiten, Irrationalitäten etc. offenlegen, sich darüber hinaus möglicherweise auch noch selbstkritisch korrigieren – oder, wenn es ganz 'hart' kommt: zugeben wollen, dass er bestimmte kritisch-argumentative Einwände zwar mit dem 'Kopf' akzeptieren kann, aber dennoch aus unerfindlichen (irrationalen?) Gründen nicht in der Lage ist, eine entsprechende Änderung seiner Subjektiven Theorie emotional-motivational zuzulassen?" (S. 170). Erschwe-
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225
rend kommt hinzu, dass konfrontierende Fragen (s. o. Zielebene IV) genau darauf ausgerichtet sind, eine 'vorschnelle' Übereinkunft zu verhindern. Die Interviewpartner werden mit Aussagen, Meinungen, Werten etc. konfrontiert, welche ihren vorgebrachten Argumenten diametral entgegenstehen können. In einer solch konflikthaften Kommunikation besteht immer die Gefahr, das Vertrauen der Erkenntnis-Objekte zu gefährden. Die zur Bewältigung dieser Schwierigkeiten anzusetzende Anforderung ist nicht kognitiver, sondern motivationaler Art. Aufgrund des explizierten Menschenbildes soll zur Herstellung der Motivation wiederum auf das Setzen von äusseren Anreizen verzichtet werden. Folglich gilt es zu überlegen, wie die intrinsische Motivation – also die Bereitschaft zur Erkenntnis um der Sache selbst willen (exemplarisch KRAPP & WEIDENMANN 2001, S. 221ff.) – 100 durch den Forscher positiv unterstützt werden kann. Als Erstes sei auf die paritätische Kommunikationsgestaltung (s. o. Zielebene III) verwiesen. Eine Übereinkunft kann nur dann gelingen, wenn sich das Erkenntnis-Objekt legitimerweise darauf verlassen kann, dass tatsächlich ein gleichberechtigt argumentativer Dialog geführt wird (SCHEELE 1988, S. 171). Es muss darauf vertrauen können, dass nicht aufgrund der normativen Kraft des Faktischen seine Argumente als 'zweitrangig' beurteilt werden. Deshalb wurde bereits auf der vorherigen Zielebene herausgestrichen, dass die Zustimmung des Erkenntnis-Objektes das ausschlaggebende Kriterium für die Adäquatheit der Rekonstruktionen darstellt. Wenn allerdings Anzeichen dafür bestehen, dass dieses Vertrauen gefährdet ist, kann auch hier auf die Möglichkeit der Metakommunikation zurückgegriffen werden. Dabei ist der Kommunikationsstil und dessen Wertausrichtung (siehe Abbildung 28, S. 209) zu Beginn des Interviews transparent zu machen und gegebenenfalls zusätzlich im Laufe des Dialogs metakommunikativ zu verdeutlichen (siehe hierzu auch BERGOLD & BREUER 1987). Diese generelle Lösungsstrategie versucht, allgemein formuliert, sinnstiftend zu wirken. Damit soll verhindert werden, dass das Erkenntnis-Objekt aufgrund auftretender Verunsicherungen diese durch eigene Sinngebungen kompensieren muss. Zum Abschluss sei erwähnt, dass bei der vorliegenden Zielgruppe die Wahrscheinlichkeit für eine fehlende Erkenntnis-Motivation als eher gering eingeschätzt wird. Diese Aussage beruht auf der Überlegung, dass Studierende, welche parallel zu einem Masterabschluss eine Zusatzausbildung in Wirtschaftspädagogik absolvieren wollen, ein grundsätzliches Interesse an einer vertieften Selbsterkenntnis bezüglich des vorliegenden Situationstyps mitbringen sollten. Ob diese Vorstellung idealisiert und utopisch ist, wird sich in der Untersuchung zeigen. Durch das Rahmenmodell lassen sich nun in einer horizontalen Verbundenheit (Ziele – Anforderungen – Realisierungsmittel) adäquate Interventionsformen und Instrumente begründen, von denen erwartet wird, dass sie die geforderte Optimierungsleistung erbringen.
100 Es ist davon auszugehen, dass diese Bereitschaft bereits auf der Zielebene IV wirksam wird. Die enge Verknüpfung zur Argumentationsfähigkeit ist offensichtlich. Dennoch betont die Zielebene IV primär die Fähigkeit 'argumentieren zu können', und die Zielebene V stellt die Argumentationssrichtung in den Vordergrund (konstruktive, zielführende Argumentation). Gleich wie bei der Zielebene III dürfte die Unterstützung zur Argumentation umso leichter fallen, je stärker die Interviewpartner zur (Selbst-)Erkenntnis motiviert sind.
226
Forschungsstrategie
Tabelle 14: Horizontale Verbundenheit der Realisierungsmittel
Zielebene V IV III
Anforderungen Erkenntnis-Motivation Argumentationsfähigkeit Explizierungsmotivation
II
Artikulationsfähigkeit Schematisierungsfähigkeit
I
aktualisierbare Subjektive Theorien Introspektionsbereitschaft
Realisierungsmittel — konfrontierende Fragen metakommunikative Interventionen teilstandardisierter Interviewleitfaden präzisierendes Nachfragen konkrete Fallbeispiele hypothesengerichtete Fragen zentriertes Zusammenfassen Regelsystem zur Schematisierung der Konstruktionen Interviewinstruktion Erzählaufforderungen
In Kapitel 11.6 werden die Interventionsformen und anschliessend in Kapitel 11.7 die Instrumente erläutert. Die Tabelle 14 gibt hierzu einen Überblick. 11.6
Interventionsformen
In dem vorangehenden Kapitel wurde aufgezeigt, welche Funktionen die Kommunikationsstrategien erfüllen müssen. Die im Rahmen des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews einzusetzenden Frage- oder Interventionsformen besitzen das Potenzial, diese Funktionen operativ umzusetzen. 11.6.1
Präzisierungsfragen
Dieser tendenziell geschlossenen Frageform wird primär eine verständigungsgenerierende Funktion zugeschrieben. Sie wird immer dann eingesetzt, wenn der Forscher etwas nicht sicher verstanden hat, was für den Fortgang des Gesprächs aus seiner Sicht von Relevanz ist. Die Präzisierungsfrage kann auch – sofern notwendig – in Form von präzisierenden Reformulierungen der Antworten ausgestaltet werden. Das Nachfragen kann sich auf Homonyme (mehrdeutige Begriffe), Widersprüchliches, Unverständliches (z. B. Abkürzungen, Fachbegriffe, abstrakte Aussagen), unbestimmte Subjekte (z. B. 'sie', 'man', 'es'), undurchsichtige zeitliche oder logische Abfolgen von Handlungen sowie indexikale Äusserungen beziehen. Bleibt der Index unklar oder weist dieser in eine nicht intendierte Richtung, muss unmittelbar nachgefragt werden: So wären beispielsweise Äusserungen wie 'man sollte…', 'sinnvoll wäre es…' oder 'idealerweise würde ich…' etc. ein Hinweis darauf, dass der Befragte zeitlich nicht mehr auf das 'Dort und Damals' rekurriert, sondern auf wünschbare Sollvorstellungen. Andere Äusserungen wie beispielsweise 'in einer intensiven Diskussion…', 'während einer Auseinandersetzung…', 'nachdem ich mich beruhigt hatte, suchte ich das Gespräch…' etc. zeigen an, dass der Situationstyp 'räumlich' verlassen wurde. Die Präzisierungsfragen – wie die später aufgeführten Interventionsformen teilweise auch – unterbrechen zwangsläufig den Redefluss des Befragten. Dennoch sollte nicht auf das Nachfragen verzichtet werden, wie dies beispielsweise FRIEDRICHS vorschlägt, der den Inter-
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227
viewern den Rat gibt, "nicht nachzufragen (inhaltliche Ebene), weil dies den Rapport stören könnte" (FRIEDRICHS 1990, S. 233; differenzierter hierzu SCHEUCH 1973, S. 95ff.). Diese Haltung kann unterschwellig eine Gleichgültigkeit ausdrücken, welche auf ihre Weise das gesamte Interview stören kann. Deshalb sei hier nochmals betont, dass Unterbrechungen zugunsten eines Verstehens unvermeidbar sind, die Verantwortung für die Wiederaufnahme des 'roten Fadens' jedoch beim Interviewer liegt und nicht bei den Befragten. 11.6.2
Zentriertes Zusammenfassen
Diese Interventionsform wird erst im Laufe des Gesprächs eingesetzt. Sie hat – wie die Präzisierungsfragen – eine genuin verständnisgenerierende Funktion (vgl. WITZEL 1982, S. 100). In Anlehnung an die Gesprächspsychotherapie muss der Forscher während des Gesprächs von Zeit zu Zeit eine Art Zwischenbilanz aufstellen. Die Aussagen mit ihren Detailäusserungen, die ihrerseits häufig zu klären sind, gilt es zentrierend zusammenzufassen und als Interpretationsangebote des Forschers den Befragten vorzulegen, bevor diesen der Status einer 'Vorinterpretation' (WITZEL 1982, S. 82ff.) zugeschrieben werden kann. Die Befragten ihrerseits werden aufgefordert, die Interpretationsangebote zu kontrollieren und gegebenenfalls zu ergänzen, zu modifizieren oder gar neu zu formulieren. In solchen metaanalytischen Phasen treffen die Konstruktionen beider Gesprächspartner aufeinander: Das Bild des Forschers von seiner Sicht der Innenperspektive des Erkenntnis-Objektes trifft auf das Bild des Beforschten, welches dieser von seiner Innensicht geschaffen hat. Divergieren die Konstruktionen, werden diese einer dialogischen Auseinandersetzung zugeführt. Diese gegenseitigen Spiegelungen bewirken zusätzlich eine 'positive' Gesprächsatmosphäre, weil sich die Erkenntnis-Objekte in ihrer Sicht ernst genommen und respektiert fühlen. Die Ansicht von FRIEDRICHS, dass mehrfaches Zusammenfassen ein Indiz für ein unzureichendes Interviewverhalten darstellt (1990, S. 234), wird nicht geteilt. Allerdings darf der Forscher nicht der Versuchung unterliegen, aus seinem Alltags- oder Theoriewissen Aspekte einzubringen, welche von den Befragten nicht erwähnt wurden. Eine gelungene zentrierte Zusammenfassung brilliert nicht durch eine elaborierte Ausdrucksweise, sondern durch Kontextgebundenheit und Authentizität. 11.6.3
Hypothesenungerichtete Fragen
Die hypothesenungerichteten Fragen sind offene Fragen, bei welchen die Befragten die Möglichkeit haben, ihre aktuell verfügbaren Subjektiven Theorien frei zu formulieren (SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 35f.). Dadurch werden die mentalen Repräsentationen expliziert, zu welchen die Erkenntnis-Objekte einen unmittelbaren Zugriff haben. Im Vergleich zu geschlossenen Fragen wird durch diese offene Frageform eine höhere, individuelle problemspezifische Validität erreicht (vgl. ATTESLANDER 2006, S. 138f.; FRIEDRICHS 1990, S. 198ff.). Dem Interviewpartner wird dabei die Möglichkeit geboten, seine "individuelle Wahrnehmung und Deutung" (MUTZECK 1988, S. 131) uneingeschränkt zu explizieren. Können die Interviewten über bestimmte Inhalte jedoch keine oder nur unklare Aussagen machen, wird mithilfe von Beispielen, hypothesengerichteten Fragen oder einem präzisierenden Nachfragen versucht, einen Zugang zu diesen Themen zu erreichen.
228 11.6.4
Forschungsstrategie
Hypothesengerichtete Fragen
Die hypothesengerichteten Fragen thematisieren auf einer relativ abstrakten Ebene mögliche Ausprägungen einer bestimmten Kategorie (SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 36). Sie erfüllen drei wesentliche Aufgaben: - Erstens besitzen sie eine erzählgenerierende Funktion im Sinne einer Verbalisierungshilfe. Für die Befragten kann ein solches Angebot durch dessen Anregungsgehalt hilfreich sein, wenn sie beispielsweise Mühe bekunden, etwas präzise zu erklären, keinen Zugang zu einer hypothesenungerichteten Frage finden oder sich bei der Erzählung einer Ereigniskette in Nebenketten 'verstrickt' haben. Die hypothesengerichtete Frage versucht in solchen Situationen den 'roten Faden' einer Erzählung, Beschreibung oder Argumentation wiederherzustellen. - Die verständnisgenerierende Funktion kommt dann zum Ausdruck, wenn beim Vorliegen von mehrdeutigen Aussagen der Forscher die aus seiner Sicht möglichen Interpretationen offenlegt und das Erkenntnis-Objekt um Stellungnahme bittet. Dies kann unter Umständen zielführender sein, als ein mehrmaliges Nachfragen. - Die hypothesengerichteten Fragen geben dem Forscher auch die Möglichkeit, erste Vorinterpretationen während der Rekonstruktionsarbeit einzubringen. Allerdings sollte dies ausschliesslich kontextgebunden geschehen – also aus dem aktuellen Sachverhalt ableitbar sein, um das Erkenntnis-Objekt nicht unnötig zu irritieren. Die Inhalte der hypothesengerichteten Fragen ergeben sich (zugeschnitten auf die aktuelle Interviewsituation) aus den persönlichen Erfahrungen des Forschers (Alltagswissen) oder dem empirisch gehaltvollen Theoriewissen (vgl. Abbildung 25) zu dem thematischen Problembereich. Die Befragten sind dabei völlig frei, die angebotenen Antwortkategorien aufzugreifen, zu korrigieren, zu ergänzen oder abzulehnen, je nachdem, ob diese ihrer Subjektiven Theorie entsprechen oder nicht. Diese Angebote erfordern lediglich ein 'Wiedererkennen' und sind deshalb im Gegensatz zur 'freien Reproduktion' weniger anspruchsvoll (TRÄNKLE 1983, S. 246). Genau darin besteht jedoch auch die Gefahr, die individuelle problemspezifische Validität zu überdecken. Die Aufmerksamkeit der Erkenntnis-Objekte wird möglicherweise auf Aspekte gerichtet, welche sie möglicherweise aus eigener Initiative nicht angesprochen hätten. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn die hypothesengerichteten Fragen keinen 'suggestiven' Charakter haben (MERTON & KENDALL 1993, S. 179). Wird folglich ein Angebot vorschnell angenommen, muss dies kritisch hinterfragt werden. Sinnvollerweise wird in solchen Situationen unmittelbar eine konfrontierende Frage (siehe später Kap. 11.6.5) in der Gegenrichtung der hypothesengerichteten Frage gestellt. Damit werden die Befragten erstens zu einer intensiveren Reflexion stimuliert, und zweitens wird es für die ErkenntnisObjekte unmöglich, sich ein Bild über die Meinung des Interviewers zu dem thematischen Problembereich zu machen.
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11.6.5
229
Konfrontierende Fragen
101 Die konfrontierende Frage hat primär eine präzisierende und stabilitätsgenerierende Funktion. Sie versucht handlungsleitende von handlungsrechtfertigenden Kognitionen – welche unter Umständen durch den Dialog evoziert wurden – zu trennen, indem die Rechtfertigungsbemühungen 'gestört' werden. Der Forscher konfrontiert den Befragten dabei mit alternativen Erklärungen, Beschreibungen, Handlungsoptionen, Hypothesen etc. welche den Aussagen des Erkenntnis-Objektes entgegenstehen. Solche Konfrontationen sind für das Erkenntnis-Objekt belastend und müssen neben der Erläuterung vor dem Interviewbeginn gegebenenfalls während des Gesprächs metakommunikativ reflektiert werden. Die Inhalte der konfrontierenden Fragen können entweder aus den persönlichen Erfahrungen oder dem empirisch gehaltvollen Theoriewissen des Forschers stammen oder sich direkt auf (scheinbar) widersprüchliche Aussagen des Befragten selbst beziehen. Durch die Konfrontation wird der Interviewte gezwungen, seine Aussagen im Lichte konkurrierender Alternativen kritisch zu hinterfragen (SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 37). Darauf hin kann er (gleich wie bei den hypothesengerichteteten Fragen und dem zentrierten Zusammenfassen) bewusst(er) an seinen Aussagen festhalten, diese modifizieren, ergänzen, eingrenzen oder fallen lassen. Abhängig von der Reaktion des Befragten kann auch hier eine zweite – in eine andere Richtung formulierte – konfrontierende Frage sinnvoll sein. Durch die Zunahme der Explizitheit der mentalen Repräsentation steigt auch deren Kohärenz und somit das Potenzial für eine höhere Stabilität. Die Stabilitätsprüfung dürfte umso besser gelingen, je gehaltvoller die konfrontierenden Fragen sind. Mit 'gehaltvoll' ist gemeint, dass die konfrontierenden Fragen in authentischer diametraler Konkurrenz zur Aussage des Befragten stehen müssen. Bei einer verfehlten Authentizität können diese als künstlich und unnatürlich aufgefasst werden und dürften dadurch ohne kritische Hinterfragung abgelehnt werden. Stellen die konfrontierenden Aussagen lediglich eine partielle Konkurrenz dar, ist eine unreflektierte Vereinbarkeit mit den Subjektiven Theorien zu erwarten, indem diese lediglich um die konfrontierende Aussage erweitert werden (siehe hierzu auch SCHEELE & GROEBEN 1984; WAHL et al. 1983). Konfrontierende Fragen besitzen das Potenzial, die Präzisierung und Stabilität Subjektiver Theorien zu stärken. Demgegenüber besteht allerdings die Gefahr, dass diese zu nicht intendierten Belastungen innerhalb der Gesprächssituation führen (dies kann unter Umständen auch für hypothesengerichtete Fragen zutreffen). SCHEELE spricht in diesem Zusammenhang von sogenannten präsupponierenden Fragen. Hierbei werden die ErkenntnisObjekte mit Fragen oder Aussagen konfrontiert, welche auf Unterstellungen beruhen, die aus den Sachverhalten der Gesprächssituation nicht ableitbar sind. "Solche Unterstellungen führen u.U. zu einem Anwachsen von Implizitäts- und Verzerrungstendenzen und sind von daher möglichst auszuschliessen" (SCHEELE 1988, S. 156).
101 WAHL (1979a, S. 215) spricht in diesem Zusammenhang von 'Störtechnik'; WITZEL (1982, S. 100f.; 2000, Abs. 17) wählt den allgemeineren Ausdruck 'Konfrontationen'.
230 11.6.6
Forschungsstrategie
Erzählaufforderung
Sie wird als vorformulierte Einleitungsfrage zu Beginn einer narrativen Sequenz formuliert. Einerseits soll sie die Problemzentrierung nochmals verdeutlichen, andererseits muss die Frage so offen formuliert sein, dass sie "für den Interviewten 'wie eine leere Seite' wirkt, die er in eigenen Worten und mit den ihm eigenen Gestaltungsmitteln füllen kann" (WITZEL 2000, Abs. 14). Durch eine klare Erzählaufforderung wird explizit darauf hingewiesen, dass in dem folgenden Gesprächsabschnitt nicht eine Frage-Antwort-Sequenz folgt, sondern das freie Erzählen im Vordergrund steht. Durch das freie Erzählen wird die Selbstaufmerksamkeit des Erkenntnis-Objektes erhöht und der Forschungsgegenstand subjektiviert. D. h., der abstrakt gehaltene Situationstyp wird mittels Erinnern konkreter typischer Handlungssituationen durch das Erkenntnis-Objekt empirisch gefüllt. Diese Subjektivierung begünstigt gleichzeitig die Konkretisierung der Inhalte (vgl. hierzu die Forschungsergebnisse von WAHL et al. 1983). Mithilfe des zentrierten Zusammenfassens (vgl. Kap 11.6.2) wird gleichzeitig versucht, innerhalb dieser Subjektivierungen das Typische zu extrahieren. 11.6.7
Fallbeispiele als Verbalisierungshilfen
Zur Überwindung von Artikulationsschwierigkeiten sind die Befragten gezielt zu unterstützen, indem konkrete Hilfen zur Verfügung gestellt werden. Die Befragten können diese einfordern, oder der Forscher bietet sie von sich aus an, wenn er dies als sinnvoll erachtet. Als Verbalisierungshilfen werden konkrete Beispiele eingesetzt, um einen bestimmten Themenbereich oder eine Fragestellung exemplarisch zu verdeutlichen. Im Gegensatz zu den hypothesengerichteten Fragen, welche durch das Zurverfügungstellen von Antwortkategorien ebenfalls als Verbalisierungshilfe genutzt werden, haben die Beispiele eine konkretisierende, veranschaulichende Funktion. Ihre primäre Aufgabe besteht in der präzisierenden Explikation bestimmter Ausschnitte einer Subjektiven Theorie. Sekundär können die Beispiele auch einen Beitrag zur Verstehenssicherung und Kohärenzüberprüfung leisten. In erster Linie sollten die Befragten selbst konkrete Beispiele, Situationen oder Erlebnisse zur Verfügung stellen, anhand deren im Gespräch weitergearbeitet werden kann. Sieht das Erkenntnis-Objekt sich dazu nicht in der Lage, sind vom Forscher vorbereitete Beispiele einzuführen. Die Bestimmung und Auswahl der im Voraus geplanten Beispiele orientierte sich an den folgenden Kriterien: 1. Die Fallbeispiele müssen aus einem Praxisausschnitt stammen, welcher mit dem Situationstyp vergleichbar ist. So wären Beispiele aus privaten Klärungen oder Teamklärungen nur bedingt geeignet. 2. Die Beispiele müssen die zu erörternden Fragestellungen bzw. Themenbereiche möglichst präzise aufnehmen.
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231
3. Um eine maximale Authentizität zu gewährleisten, sollen die Fallbeispiele typische Situationen aus dem Praxisausschnitt illustrieren. Was letztlich als 'typisch' gelten soll, unterliegt dem subjektiven Einfluss des Forschers. Es wurden ausschliesslich solche Situationen ausgewählt, welche der Forscher in Konfliktklärungen persönlich erlebt hat oder im Rahmen von Beratungsgesprächen erörtert wurden. Vor der definitiven Auswahl der Fallsituationen wurden diese mit genannten Beispielen in der Konfliktklärungsliteratur verglichen. Darüber hinaus fand in Rahmen des Expertengesprächs eine Validierung statt (zum Experteninterview siehe später in Kap. 11.7.2, S. 233). Die definitive Auswahl der Fallbeispiele findet sich in Anhang 3.2, Seite 486ff. Für den 'rein' narrativen Teil des Interviews (Kategorie 'Phasen') wurden keine Verbalisierungshilfen geplant. 11.6.8
Metakommunikative Intervention
Da mögliche Explizierungsschwierigkeiten nicht nur intraindividueller Natur sein müssen, sondern ebenso auf der interindividuellen Beziehungsebene gegenüber dem Interviewer (oder allgemein der Interviewsituation) zu vermuten sind, werden metakommunikative Interventionen als unerlässlich erachtet. Diese sollten prinzipiell immer dann eingesetzt werden, wenn der Interviewer entweder empathisch vorausschauend oder direkt beobachtend Belastungen registriert, welche aktualisierungshindernd und damit verbunden rekonstruktionsstörend wirken. Es gilt zu bedenken, dass die einzusetzenden Interventionen und Instrumente möglicherweise nicht beabsichtigte Wirkungen erzielen können, welche vom Forscher nicht im Voraus abzuschätzen waren. Im Sinne des Gleichberechtigtseins wird dem Erkenntnis-Objekt dasselbe Recht zur Einleitung metakommunikativer Sequenzen zugeschrieben. 11.7
Instrumentarium
11.7.1
Interviewinstruktion
Neben einem Leitfaden schlägt WITZEL als zusätzliches Instrument des problemzentrierten Interviews den Einsatz eines Kurzfragebogens vor. Diesen haben die Befragten zeitlich vor dem Interview auszufüllen, da ein Einsatz während des Gesprächs dessen Ablauf stören würde (2000, Abs. 7). Der Kurzfragebogen hat zwei Funktionen: Einerseits soll durch die Beantwortung biografisch geladener Fragen ein günstiger Gesprächseinstieg geschaffen werden, und andererseits werde dadurch die Beschäftigung mit dem Thema seitens der Erkenntnis-Objekte gefördert (1982, S. 89f.). In der vorliegenden Untersuchung wird auf den Einsatz eines solchen Fragebogens verzichtet. Zur Schaffung eines günstigen Gesprächseinstiegs sowie einer Erhöhung der Selbstaufmerksamkeit hinsichtlich des zu untersuchenden Problemgebiets erscheint ein eher 'informeller' Einstieg in Verbindung mit einer präzisen Instruktion als angemessener. Die Instruktion sollte sich nach SCHEELE (1988, S. 146) an den Bedürfnissen des Erkenntnis-Objektes orientieren. Dies allein kann allerdings nicht genügen. Als zusätzliche wesentliche Orientierungen für eine zweckmässige Instruktion sind die Bedürfnisse des Erkenntnis-Subjektes, die Rahmenbedingungen sowie Inhalte und Ziele der Untersuchung als gleichberechtigt zu be-
232
Forschungsstrategie
trachten. Diese 'Einstimmung' dient der Aktualisierungs- und Explizierungsmotivation, indem möglichst realistische Erwartungen geschaffen werden. Wenn die Interviewsituation als temporäre Arbeitsbeziehung zwischen 'Fremden' aufgefasst wird, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Forscher und das Erkenntnis-Objekt als ein zusammengehöriges System wahrnehmen. Dieses muss zuerst aufgebaut werden, wobei diese Aufbauarbeit sinnvollerweise durch den Forscher mithilfe einer Interviewinstruktion zu leisten ist. Dieser Gesprächseinstieg wird nach dem Grundmodell der themenzentrierten Interaktion (TZI) gegliedert (exemplarisch COHN 1993, S. 20ff.; COHN 2004, S. 113ff.). Die TZI strebt – abstrakt formuliert – die Förderung einer Kommunikation an, welche das Sachliche (themenzentriert) und das Zwischenmenschliche (Interaktion) als gleichberechtigt akzeptieren kann (z. B. LANGMAACK 2001, S. 16ff.; LANGMAACK & BRAUNEKRICKAU 2000, S. 88ff.). Der Aufbau der Interviewinstruktion orientiert sich an den vier Themenbereichen des 'runden Dreiecks': ICH (Person), WIR (Miteinander), ES (Thema) und äusse102 rer Rahmen (siehe Abbildung 30). Die detaillierte Interviewinstruktion ist in Anhang 3.1 (S. 477) zu finden. Abbildung 30: Strukturierung der Interviewinstruktion nach der TZI
ES Situationstyp
Person des Interviewers
Interviewverfahren ICH
Person des Interviewten
WIR GLOBE
Rahmenbedingungen
102 Die ersten drei Themenbereiche (ICH, ES, WIR) stehen gleichberechtigt zueinander und werden deshalb typischerweise in einem gleichseitigen Dreieck abgebildet. Damit die geforderte Gleichberechtigung allerdings ihre Wirkung entfalten kann, muss zu Beginn einer Zusammenkunft sowie während des Gesprächsverlaufs hierüber Klarheit geschaffen werden bzw. bestehen bleiben. Wenn Störungen während des Gesprächs das Gleichgewicht aus der Balance zu bringen drohen, gilt es diese persönlich, sachlich und zwischenmenschlich zu klären. Der äussere Rahmen als viertes Element (die TZI spricht von dem 'Globe'), umfasst den Rahmen um das Interaktionsgeschehen herum.
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233
Die Interviewinstruktion wurde zusammen mit den weiteren Interventionsformen und Instrumenten (siehe später in Kap. 11.7.2ff.) im Rahmen der Voruntersuchung in vier Sitzungen erprobt (vgl. Tabelle 7, S. 160). Jeder Sitzung schloss sich ein Auswertungsgespräch an, um die Erfahrungen gemeinsam zu reflektieren. Diese Erprobungen umfassten nicht nur das 'Testen' der Instrumente und Interventionsformen sowie deren Zusammenspiel, sondern ganz allgemein die Untersuchungssituation selbst. Solche Voruntersuchungen werden als wesentlicher Faktor für die Qualität der zu erhebenden Daten angesehen (PUNCH 2005, S. 186). Die Auswertungsgespräche zeigten, dass die Instruktion tauglich war. Die vier Interviewpartner der Voruntersuchung konnten aufgrund der Interviewinstruktion gemäss Leitfaden (siehe Anhang 3.1, S. 477) realitätsadäquate Erwartungen bilden. Es wurde eine Anpassung vorgenommen: - Die Instruktion umfasst unter anderem auch die Explikation des Situationstyps. Während der Probeinterviews wurde für die Benennung des Situationstyps eine vom Forscher bestimmte Bezeichnung verwendet. Dies erwies sich als ungünstig, da die Interviewten, basierend auf ihren Erfahrungen, diesen Situationstyp mit anderen Begrifflichkeiten belegten (z. B. Konfliktlösung, Konfliktmoderation, Konfliktmediation, Mediation, Streitlösung, Streitbesprechung etc.). Die forscherseitige Vorgabe der Bezeichnung führte zu unnötigen Verwirrungen. Es ist erheblich, dass die Befragten den Situationstyp richtig verstehen – welche Bezeichnung sie jedoch wählen, ist unerheblich. Deshalb wurden in der Hauptuntersuchung die Erkenntnis-Objekte nach einer Bezeichnung gefragt, welche sie für diesen Situationstyp verwenden möchten. Während des Interviewverlaufs sollte dann ausschliesslich die von den Interviewten genannte Bezeichnung verwendet werden. Die Auswertungsgespräche verdeutlichten, dass die Gesprächseröffnungsfrage als inhaltlicher Einstieg in das Interview ihre drei Funktionen erfüllte: Sie sollte erstens innerhalb der Lebenswelt des Erkenntnis-Objektes eine gewisse Relevanz aufweisen, zweitens eine kurze Erzählung auslösen (FROSCHAUER & LUEGER 2003, S. 62) sowie drittens die Beschäftigung mit dem Thema seitens der Erkenntnis-Objekte fördern (WITZEL 1982, S. 89f.). Die Einstiegsfrage diente zudem als Kontrolle, ob die Interviewten die vorherigen Erklärungen zum Situationstyp verstanden hatten. 11.7.2
Interviewleitfaden
Der Interviewleitfaden übernimmt innerhalb des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews wichtige Funktionen, indem dieser dazu beitragen soll, "das Hintergrundwissen des Forschers/Interviewers thematisch zu organisieren, um zu einer kontrollierten und vergleichbaren Herangehensweise an den Forschungsgegenstand zu kommen". Er ist "Orientierungsrahmen bzw. Gedächtnisstütze" (WITZEL 1982, S. 90), ohne den Interviewer in seiner Flexibilität zu beschneiden. Gleichermassen dient die Zerlegung des Situationstyps in einzelne Kategorien auch als Orientierungshilfe für das Erkenntnis-Objekt. Damit soll vermieden werden, dass sich die Interviewpartner in der Aspektfülle verlieren. Orientiert sich der Interviewer allerdings zu eng an seinem Leitfaden, ohne die kontextspezifischen Bedingungen konsequent mitzuberücksichtigen, tendiert das angestrebte 'Lernen vom Erkenntnis-Objekt' zu einem 'abhakenden Ausfrageverhalten', und der Leitfaden gerät von einem Mittel der Informationsgewinnung zu einem Mittel der Informations-
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Forschungsstrategie
blockierung (FRIEBERTSHÄUSER 2003, S. 377; KÖCKEIS-STANGL 1980, S. 355). Dementsprechend müssen die Fragen des Leitfadens nicht notwendigerweise in der vorgesehenen Reihenfolge gestellt werden, sondern orientieren sich an den explizierten Gedankengängen des Interviewpartners und den sich daraus ergebenden Anknüpfungsmomenten. Es handelt sich folglich um "kein vorfixiertes Vorgehen des Forschers" (ATTESLANDER 2006, S. 124), sondern unter Umständen erscheint es sinnvoll, Fragen (vorerst) zurückzustellen oder vorzuziehen. "Nicht isolierte Reaktion auf einzelne Stimuli wird angestrebt, sondern höchstmögliche Reaktionsmöglichkeiten des zu Befragenden" (S. 124). Der Interviewleitfaden umschliesst strukturell und thematisch den gesamten Situationstyp in Form von einzelnen Kategorien und Unterkategorien, welche ihrerseits durch Frageformen oder Stichpunkte auszudifferenzieren sind. Bei der Konstruktion, Erprobung, Revision und Finalisierung des eingesetzten Interviewleitfadens wurde folgendermassen vorgegangen: 1. Ausgangspunkt der Leitfadenkonstruktion: Die als bedeutsam ausgewiesenen Hauptkategorien des Situationstyps ('Bedingungen', 'Werte', 'Ziele', 'Phasen' und 'Kritische Ereignisse') repräsentieren die innere Logik des Leitfadens. 2. Inhaltliche und strukturelle Präzisierung: Die Theorie der Klärungshilfe (vgl. Kap. 7, S. 89) wurde in das Situationstypenmodell und anschliessend in eine erweiterte Flussdiagrammdarstellung überführt (siehe hierzu später in Kap. 11.7.3). Die im Anschuss daran durch103 mit CHRISTOPH THOMANN als Begründer des geführte kommunikative Validierung Theorieansatzes hatte zum Ziel, die Konstruktvalidität dieser Übertragungsarbeit zu prüfen. Diese Vorbereitungsarbeiten erlaubten letztlich die konkrete Ausdifferenzierung der Hauptkategorien des Interviewleitfadens. 3. Gewinnung von Vermutungen über Elemente Subjektiver Theorien der Zielgruppe: Im Rahmen einer Voruntersuchung wurde während des Wintersemesters 2005/06 sowie während des Sommersemesters 2006 jeweils eine Seminargruppe von Studierenden vier Wochen vor Seminarbeginn aufgefordert, ein Essay mit dem Titel: 'Meine persönliche Theorie zur Gestaltung von Konfliktklärungsgesprächen' zu schreiben (siehe Anhang 2.2, S. 476). Die Inhaltsanalyse der 32 Aufsätze lieferte ergänzende Hinweise zu möglichen Unterkategorien und Merkmalsausprägungen.
103 Das fünfstündige Validierungsgespräch mit CHRISTOPH THOMANN folgte nicht denselben strengen Anforderungen, wie sie für die Validierung der subjektiven Theorierekonstruktionen angesetzt werden (siehe hierzu später in Kap. 11.8). Als zentraler Unterschied wurde die erweiterte Flussdiagrammdarstellung nicht gemeinsam entwickelt, sondern der forscherseitige Strukturierungsvorschlag erfolgte bereits vor dem Interviewtermin.
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
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4. Kontrastierung und erster Entwurf: Die Unterkategorien und Merkmalsausprägungen, basierend auf den Ergebnissen aus (2.) und (3.), wurden in diesem Arbeitsschritt miteinander verglichen. Die Gegenüberstellung zeigte, dass neben Gemeinsamkeiten, unterschiedlichen Differenzierungen und Abstraktionsebenen erwartungsgemäss auch Widersprüchlichkeiten zu verzeichnen waren. Basierend auf dieser Analyse wurde ein Fragenpool zusammengestellt, welcher aus Kernfragen sowie kontextspezifisch einzusetzenden Ergänzungsfragen oder Impulsen bestand. Der Leitgedanke hierzu lautete: Welche Fragen müssen an das Erkenntnis-Objekt gestellt werden, damit die Vielfältigkeit und Heterogenität zum Ausdruck gebracht werden kann. Die unterschiedlichen Differenzierungen und insbesondere die Widersprüchlichkeiten lieferten wertvolle Hinweise zur Ausgestaltung von hypothesengerichteten und konfrontierenden Fragen. 5. Erprobung und Revision: Der Interviewleitfaden wurde ebenfalls im Rahmen der bereits erwähnten vier Sitzungen getestet. Im Gegensatz zur Interviewinstruktion konnten der Interviewleitfaden sowie der Strukturlegeleitfaden (siehe später in Kap. 11.7.3) jedoch zusätzlich im Vorfeld durch eine Selbstexploration erprobt werden. Der Forscher ging dabei wie im Interviewleitfaden vorgesehen vor und notierte sich potenzielle Schwierigkeiten. Im Anschluss fand die Überprüfung im Rahmen der erwähnten Sitzungen statt. Von Interesse war, wie die Interviewten die Untersuchungssituation allgemein erlebten (Rolle des Interviewers, Rolle des Befragten, Ablauf des Interviews, Zeitdauer etc.), wie sie die Interviewführung allgemein einschätzten (insbesondere die Wirkungen der verschiedenen Interventionsformen), und konkret, welche Fragen sie für geeignet/ungeeignet, stimulierend/hemmend, zu schwierig/zu einfach hielten und welche Fragen ergänzend eingebracht werden sollten. Die Auswertungsgespräche und Notizen des Forschers führten bei dem Interviewleitfaden zu zwei nennenswerten Revisionen: - Die Reihenfolge der Hauptkategorien ('Bedingungen', 'Werte', 'Ziele', 'Phasen' und 'Kritische Ereignisse') wurde geändert: Konkret rückte die Kategorie 'Werte' an die dritte Stelle, während der Kategorie 'Ziele' die zweite Position zugewiesen wurde. Den Interviewten fiel es einfacher über ihre handlungsleitenden Werte zu reflektieren, nachdem sie ihre Ziele im Sinne der erfolgreichen Bewältigung des Situationstyps bereits expliziert hatten. Durch diese Änderung in der Reihenfolge konnten sie von der Ausgangssituation ('Bedingungen') eine 'gedankliche Brücke' zur Endsituation ('Ziele') bilden, um sich im Anschluss damit zu befassen, von welchen Werten sie sich leiten lassen, um ihre gesetzten Zielsetzungen zu erreichen. Die Kategorie 'Phasen' präzisiert daraufhin den Prozess zwischen der Ausgangs- und der Endsituation durch eine narrative Darstellungsform. Der Leitfaden thematisiert als Abschluss die Kategorie 'Kritische Ereignisse', welche innerhalb dieses Prozesses eintreten können. - Die Rekonstruktion der handlungsleitenden Werte erlebten alle vier Befragten erwartungsgemäss als schwierig, weil sich das Individuum seiner Werte oft nicht bewusst ist (siehe hierzu HILLMANN 2007, S. 963). Die hypothesenungerichtete Frage musste durch hypothesengerichtete Fragen zwecks Aktualisierungs- und Explizierungshilfe ergänzt werden. Um das Evozieren von Idealvorstellungen zu vermeiden, wurden die hypothesengerichteten Fragen zusätzlich durch kontrastierende
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Forschungsstrategie
Fragen sowie eine vom Forscher erlebte Fallsituation ergänzt, anhand deren die Rekonstruktion der handlungsleitenden Werte gelingen sollte. 6. Erarbeitung des Interviewleitfadens für die Hauptuntersuchung (siehe Anhang 3.2, S. 479ff.): Basierend auf den Erfahrungen der Probeinterviews konnte der Interviewleitfaden fertiggestellt werden. Neben den erwähnten Revisionen wurden ansonsten keine Anpassungen vorgenommen, da sich der Leitfaden bewährt hatte. Durch die offenen Fragen und Erzählaufforderungen konnten die Eigentümlichkeiten und Abstraktionstypen der Subjektiven Theorien in der geforderten Breite inhaltlich erfasst werden. Die fünf Hauptkategorien sorgten für die notwendige Zentrierung, ohne dass sich die Interviewten dadurch eingeschränkt fühlten. Die geschlossenen Frageformen (hypothesengerichtete, präzisierende und konfrontierende) erzielten ihre Wirkung in der intendierten Art und Weise. Die Interviewten bestätigten dabei die Wichtigkeit, dass in der Interviewinstruktion die verschiedenen Interventionsformen und ihre Funktionen erläutert wurden. 11.7.3
Erweiterte Flussdiagramm-Darstellung (FDD) als Strukturlegeverfahren
Das bisher beschriebene Instrumentarium (Instruktion und Interviewleitfaden), wie es häufig in traditionellen Interviewverfahren eingesetzt wird – wenn auch grösstenteils mit weitaus weniger differenzierten Interventionsformen –, würde bestenfalls genügen, die Inhalte der Subjektiven Theorien in verbal explizierter Form interpretativ-verstehend zu rekonstruieren. Der Einsatz eines gegenstandsbezogenen Strukturlegeverfahrens geht darüber hinaus einen deutlichen Schritt weiter. Begründung für den Einsatz eines Strukturlegeverfahrens - Von der verbalen zur visuellen Darstellungsform: Aufgrund der Komplexität und Konstruktivität Subjektiver Theorien ist eine Explikation fehlerhafter Zusammenhänge nicht auszuschliessen. Es besteht die Möglichkeit des Irrtums – jedoch auch des Lernens durch Einsicht. Zudem weisen Subjektive Theorien teilweise lediglich einen impliziten Status auf, was deren konsistente, spontane Verbalisierung zusätzlich erschwert. Es ist zu vermuten, dass die Visualisierungen sowohl zur Aktualisierung als auch zu einer konsistenteren Artikulation einen Beitrag leisten können. Dadurch, "dass sie das gedankliche Eindringen in komplexe Funktionssysteme erleichtern, scheinen sie selbst wesentlich mitzuwirken bei der differenzierenden Weiterentwicklung gedanklicher Modelle. Oder anders ausgedrückt: Flussdiagramme ermöglichen und unterstützen eine anschauungsnahe 'Kodierung' sehr komplexer gedanklicher Beziehungsgefüge […]" (KAMINSKI 1970, S. 31). Sie begünstigen die Konkretisierung der Inhalte und Strukturen (vgl. hierzu WAHL et al. 1983, S. 63ff.) und vermindern mögliche Übertragungsfehler bei der Kommunikation zwischen Interviewer und dem Befragten (TRÄNKLE 1983, S. 250). Hiermit lässt sich der Bezug zu den Zielebenen I und II des Rahmenmodells herstellen (siehe Kap. 11.5, insbesondere Abbildung 29, S. 217). Der Gedankenstrom des Erkenntnis-Objektes wird durch die Visualisierung notwendigerweise segmentiert, komprimiert und abstrahiert (SCHEELE 1988, S. 164). - Von den Inhalten zu den Strukturen: Die Strukturrekonstruktion Subjektiver Theorien bezieht sich vor allem auf deren formale Relationen (SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 33). Die
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adäquate Abbildung dieser Relationen bedarf eines expliziten Regelsystems, welches sowohl den Befragten als auch dem Forscher gleichermassen bekannt sein muss. In der Anwendung dieser Formalrelationen wird eine wesentliche Voraussetzung für die Überführung der Alltagssprache in eine wissenschaftliche Ausdrucksform gesehen. Ein im Anschluss an das Interview verfasstes Transkript könnte diese Relationen im Vergleich zu ei104 nem Strukturlegeverfahren nur ungenügend abbilden. Von einem interpretativen zu einem intersubjektiven Verstehen: Die Anwendung eines Strukturlegeverfahrens erlaubt eine kommunikative Validierung, welche ausgehend von den jeweiligen Konstruktionsentwürfen versucht, diese über argumentative Prozesse zu präzisieren, stabilisieren und intersubjektiv zu validieren. Dieser dialog-konsensuale Ansatz des intersubjektiven Verstehens wird aufgrund seiner zentraler Bedeutung ausführlicher in Kapitel 11.8 behandelt.
Ursprung der Strukturlegeverfahren Der von FELDMANN (1979) entwickelte Ansatz MEAP (Methode zur Erfassung der Alltagstheorien von Professionellen) kann als Ausgangspunkt der Strukturlegeverfahren gesehen werden, weil anhand eines expliziten Regelsystems die formalen Relationen der inhaltlichen Konzepte abbildbar, beschreibbar und vergleichbar werden, wobei sich die Versuchspersonen aktiv an diesem Konstruktionsprozess beteiligen. Abgesehen davon, dass FELDMANN in seinen subjektiven Pfadanalysen keine kommunikative Validierung der rekonstruierten 'Alltagstheorien' vorsah, legte er die inhaltlichen Konzepte durch einen festgelegten Pool vor und schränkte damit die diesbezügliche Variabilität stark ein. Eine solche Vorgehensweise ist sicherlich bei bereits gut erforschten Problembereichen legitim, nicht jedoch für die vorliegende Untersuchung. Dasselbe gilt für die Vorgabe des Regelsystems. Auch hier muss die Möglichkeit bestehen, dass die Befragten Formalbeziehungen ergänzend einbringen können, falls ihre Subjektive Theorie durch das bereitgestellte Regelsystem nicht abbildbar ist (zur Entwicklung des Regelsystems siehe GROEBEN & WESTMEYER 1981, S. 35ff.). Verfahrensvarianten In der Zwischenzeit umfasst der gesamte Methodikansatz der Strukturlegeverfahren zahlreiche Verfahrensvarianten. Wenn Strukturlegeverfahren übergreifend definiert werden als "graphische Verfahren, mit deren Hilfe Schaubilder der Subjektiven Theorien erstellt werden" (DANN 1992, S. 3), lassen sich darunter im Wesentlichen folgende Ansätze subsumieren: - Heidelberger Struktur-Lege-Technik SLT (DANN 1992, S. 13ff.; SCHEELE & GROEBEN 1984; 1988a, S. 48f.) - Weingartner Appraisal Legetechnik WAL (WAHL 1991; WAHL et al. 1983, S. 76ff. & 223ff.)
104 Im Unterschied zu vielen anderen Verfahren geschieht der Schritt von der artikulierten, intrapsychischen Wissenswelt zur inhaltlich-strukturierenden Visualisierung (z. B. Diagramme, Graphen etc.) nicht ex post durch den Forscher unter Ausschluss des Erkenntnis-Objektes, sondern erfolgt im dialoghermeneutischen Sinne in Kooperation mit dem Erkenntnis-Objek selber. "Von daher wird die Frage der Abbildungsangemessenheit zwischen dem Repräsentationssystem und der zu repräsentierenden Wissenswelt direkt von demjenigen beantwortet, um dessen 'implizite Wissenswelt' es letztlich auch geht" (OBLIERS 1992, S. 215).
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Forschungsstrategie
Interview- und Legetechnik zur Rekonstruktion kognitiver Handlungsstrukturen ILKHA (DANN 1990; DANN & BARTH 1995; KRAUSE & DANN 1986; MARSAL 2003, S. 441f.) Ziel-Mittel-Argumentation ZMA (DANN 1992, S. 35ff.; GROEBEN 1986a, S. 179f.; MISCHO 1998; SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 83ff.) Flussdiagramm-Darstellung FDD (DANN 1992, S. 31ff; MARSAL 2003, S. 440f.; SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 122f.)
Beurteilung der Verfahrensvarianten für das Forschungsvorhaben Die adäquate Rekonstruktion der subjektiv-theoretischen Perspektive des Situationstyps 'Konfliktklärung' verlangt nach einer modifizierten Form der Flussdiagramm-Darstellung (FDD). Solche Weiterentwicklungen legitimieren sich durch die Forderung einer Gegenstandsangemessenheit (SCHEELE, GROEBEN & CHRISTMANN 1992, S. 152). Zu diesem Zweck werden die bereits bekannten Verfahren hinsichtlich ihrer Eignung für die anvisierte Untersuchung beurteilt. Die wesentlichen Erkenntnisse lassen sich wie folgt skizzierend zusammenfassen: - Ziel-Mittel-Argumentation (ZMA): Die ZMA rekonstruiert Subjektive Theorien unter einem primär präskriptiven Fokus. Sie sucht anhand einer aufsteigenden Fragetechnik nach Präskriptionen (Werte, Normen) und deren Oberprämissen, "was zum Fortschreiten in Richtung auf immer höhere, oberste oder sogenannte 'Grundwerturteile' führt" (SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 84). Dieser Begründungs- und Rechtfertigungsperspektive ist die Mittelperspektive komplementär zuzuordnen, indem durch eine absteigende Fragetechnik nach immer konkreteren Mitteln (Einzelhandlungen) gefragt wird, in welchen sich die Präskriptionen manifestieren (siehe hierzu ausführlich GROEBEN 1986a). Das Erkenntnisinteresse der ZMA bedingt eine starke Priorisierung der Erhebung von subjektivtheoretischen Argumentationen zu Präskriptionen, wodurch die deskriptiven Satzsysteme sowie die Differenzierung von Handlungsabläufen auf ein absolut notwendiges Minimum beschränkt werden müssen. Obschon der vorliegende Situationstyp präskriptive Satzsysteme enthält, nehmen diese in Relation zu den restlichen Kategorien nicht einen derart übergeordneten Stellenwert ein, um das Verfahren der 'Ziel-Mittel-Argumentation' konstruktvalide zu legitimieren. Hierfür muss eine andere Vorgehensweise gefunden werden, um die Kategorie 'Werte' adäquat zu rekonstruieren. - Weingartner Appraisal Legetechnik (WAL): Die WAL geht unmittelbar von einer konkreten Handlungssituation aus. Sie modelliert in einem ersten Schritt die Situationsauffassungen (primary appraisal) und verknüpft diese in einem zweiten Schritt mit den dazugehörenden Handlungsauffassungen (secondary appraisal). Dieses Verfahren wurde von WAHL "im Rahmen eines Forschungsprojektes über das rasche Reagieren von Lehrkräften in auffälligen Unterrichtssituationen entwickelt" (DANN 1992, S. 20, unter Verweis auf WAHL, SCHLEE, KRAUTH & MUTZECK, 1983). Wie bereits erwähnt, zählen solche Automatismen zu den schwer zugänglichen Subjektiven Theorien. Diese Schwierigkeit überwindet Wahl, indem die Rekonstruktionen zeitlich unmittelbar an eine vollzogene Handlung anknüpfen. Aus diesem Grund ist die WAL für die vorliegende Untersuchung wenig geeignet, weil der Bezugsrahmen der Rekonstruktionen nicht eine Einzelsituation, sondern ein Situationstyp darstellt, welcher definitionsgemäss auf mehrere Situationen rekurriert (siehe hierzu auch die Unterscheidung zwischen Subjektiven Theorien kurzer und mittlerer Reichweite in Kap. 5.2.4, S. 76). Würden Subjektive Theorien mittlerer Reichweite ein-
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malig postaktional, also direkt im Anschluss an eine konkrete Handlung, als 'stimulated recall' rekonstruiert, ist zu vermuten, dass die Erkenntnis-Objekte nicht mehr in der Lage wären, die soeben erlebte Einzelsituation retrospektiv auf die Ebene des Situationstyps zu abstrahieren und vergleichend einzuordnen. Die zweite Problematik ergibt sich strukturlogisch aus dem Bezugsrahmen der WAL: Die Subjektiven Theorien werden im Vergleich zur Flussdiagramm-Darstellung (FDD) mit einem eher geringen Differenzierungsgrad rekonstruiert. Während die FDD ganze Handlungskategorien zu rekonstruieren vermag, weisen die Handlungsklassen bei der WAL keine Sequenzen von aufeinanderfolgenden Handlungsschritten auf (DANN 1992, S. 23). Interview- und Legetechnik zur Rekonstruktion kognitiver Handlungsstrukturen (ILKHA): Obschon die ILKHA ebenfalls postaktional ansetzt, ermöglicht dieses Verfahren "Sequenzen von Handlungsschritten oder aufeinanderfolgenden Handlungen mit einzubeziehen" (DANN & BARTH 1995, S. 33), welche über die konkrete Einzelsituation hinaus zu Situationsklassen zusammengefasst werden. Damit stellt sich unmittelbar die Frage, wie die ILKHA der Abstrahierungsproblematik von erlebten Einzelsituationen hin zu einem Situationstyp gerecht werden kann. Obwohl DANN diese Schwierigkeit nicht explizit thematisiert, lässt sich die Strategie aus dem Vorgehen ermitteln (DANN & BARTH 1995, S. 37ff.): Im Anschluss an eine erlebte Handlung wird das Rekonstruktionsinterview mithilfe der Legetechnik durchgeführt. Dieses Verfahren wird an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen in vergleichbaren Situationen innerhalb der zu untersuchenden Situationsklasse wiederholt. "Jedesmal wird geprüft, ob der konkrete Verlauf der aktuellen Situation in der bisherigen Struktur bereits enthalten ist, oder ob neue Varianten einzuarbeiten sind" (DANN 1992, S. 24). Diese Versuchsanordnung wird solange wiederholt, bis das Erkenntnis-Objekt mit dem Forscher eine Struktur rekonstruieren kann, welche für die gesamte Situationsklasse ihre Gültigkeit besitzt. Ungeachtet der Tatsache, dass dieses Vorgehen sehr reliable und valide Daten erzeugen dürfte, ist es aus zeitlichen und forschungspraktischen Gründen auf den vorliegenden komplexen Gegenstandsbereich nicht übertragbar. Bedeutsame Vorteile der ILKHA im Vergleich zur Flussdiagramm-Darstellung (FDD) sind des Weiteren nicht festzustellen. Auch DANN erkennt den wesentlichen Unterschied lediglich darin, dass sich die FDD im Vergleich zur ILKHA stark an das Regelwerk des Deutschen Instituts für Normierung (DIN) und an dessen festgelegte Flussdiagramm105 Zeichen anlehnt. Dies dürfte die Handhabung der Formalrelationen beim Legen der Strukturen eher erleichtern.
Entwicklung der erweiterten Flussdiagramm-Darstellung Die Erkenntnisse aus den Analysen der bereits bekannten Verfahren machten deutlich, dass keiner dieser Ansätze die Forschungsfragen gegenstandsangemessen beantworten könnte. Zur Konstruktion, Erprobung, Revision und Finalisierung einer erweiterten Form der Flussdia-
105 Mit der elektronischen Datenverarbeitung wurden die Sinnbilder und Regeln schrittweise standardisiert. Der heute wichtigste (amerikanische) Standard ist der ANSI X3.5-Standard des American National Standards Institute (CHAPIN 1970). Mit etwas zeitlicher Verzögerung erschien die entsprechende deutsche Normung als DIN 66001 Standard (DEUTSCHES INSTITUT FÜR NORMIERUNG 1983).
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Forschungsstrategie
gramm-Darstellung wurde wie folgt vorgegangen (die finale Version des Strukturlegeleitfadens ist im Anhang 3.3, S. 489ff. zu finden): 1. Ausgangspunkt: Die Ursprünge der Flussdiagramm-Darstellung gehen auf die Arbeiten KAMINSKIS (1970) zurück, welcher diese Darstellungsweise zur differenzierten Abbildung psychologischen Handelns in der Beratungs- und Therapiepraxis eingesetzt hat. Er beschrieb Flussdiagramme als veranschaulichende Darstellungen von Computerprogrammen, deren nicht-technische Übertragung auf Bereiche ausserhalb der Programmierung sowohl einen didaktischen Veranschaulichungseffekt implizieren als auch zu einer präziseren, differenzierteren und möglicherweise konsistenteren Explikation vorhandenen Wissens führen (KAMINSKI 1970, S. 30-33). Die FDD ermöglicht die Rekonstruktion deskriptiver Satzsysteme über Handlungsabläufe und Handlungsmöglichkeiten innerhalb von Situationsklassen. Sie setzt nicht zwingend postaktional an, sondern kann auch postreflexiv eingesetzt werden. Diese Reflexion darf nach der hier vertretenen Meinung allerdings nicht problem- oder kontextunabhängig angesetzt werden, sondern bedarf eines genauso expliziten Bezugsrahmens. Während bei der Weingartner Appraisal Legetechnik sowie der Interview- und Legetechnik zur Rekonstruktion kognitiver Handlungsstrukturen der Bezugsrahmen durch eine unmittelbar erlebte Einzelsituation hergestellt wird, muss dieser aktionale Bezugsrahmen bei einem postreflexiven Einsatz der FDD durch einen reflexiven Bezugsrahmen ersetzt werden. Durch die bereits erwähnten Instrumente und Interventionsformen wurde versucht, diesem Anspruch gerecht zu werden. Der Handlungsbezug wird dadurch nicht mehr unmittelbar, sondern via Situationstyp mittelbar als "retrospektive Introspektion" (MUTZECK 1988, S. 125) hergestellt. Die FDD wird aus diesen Überlegungen zur strukturellen Rekonstruktion der Kategorie 'Phasen' als zielführend erachtet. 2. Bestimmung der Sinnbilder und Formalrelationen für die Kategorie 'Phasen': Die strukturelle Rekonstruktion von Handlungsabläufen und Handlungsmöglichkeiten bedarf nicht sämtlicher Sinnbilder und Regeln, wie sie für die Veranschaulichung von Computerprogrammen durch die Vorschriften der DIN 66001 respektive der ANSI X3.5 eingeführt wurden. Da für diesen Auswahlprozess bislang keine expliziten Regeln vorliegen, wurde auf die Erfahrungen von SCHEELE UND GROEBEN (1988a, S. 129ff.) zurückgegriffen.
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
241
3. Erweiterung der Flussdiagramm-Darstellung durch Sinnbilder und Formalrelationen für nicht prozessorientierte Konzepte: Neben den Sinnbildern und Formalrelationen zur Abbildung der Handlungsbeschreibungen bedarf die subjektiv-theoretische Rekonstruktion des Situationstyps weitere Regeln und Symbole, welche eine integrierende Darstellung von nicht prozessorientierten Konzepten erlaubt. Weil in der klassischen FlussdiagrammDarstellung die Abbildung von statischen Konzepten nicht intendiert ist, wurde diese unter Rückgriff auf die Heidelberger Struktur-Lege-Technik (SLT) erweitert. Die SLT erlaubt die Rekonstruktion Subjektiver Theorien zu allgemeinen Konzeptstrukturen mittlerer Reichweite. Die Erweiterung der FDD durch eine sequenzielle Integration von Elementen der SLT wird dadurch legitimiert, dass beide Verfahren postreflexiv eingesetzt werden können und auf einem vergleichbaren Abstraktionsniveau ansetzen. Aus den von SCHEELE UND GROEBEN (1988a, S. 14ff.) festgelegten Sinnbildern und Formalrelationen wurden diejenigen selektioniert, welche für die vorliegende Gegenstandskonstituierung als zweckmässig erschienen. 4. Entwurf des Strukturlegeleitfadens: Der Strukturlegeleitfaden musste so konzipiert werden, dass jeder Interviewte die Sinnbilder und Formalrelationen so weit versteht, "dass dieser nicht nur die Rekonstruktionsgenese des Wissenschaftlers durchschaut, sondern auch selbst das jeweilige Regelsystem einsetzen und damit eine eigene subjektivtheoretische Elaboration seiner Kognitionsinhalte vornehmen kann" (SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 33). Von Subjektiven Theorien könnte im vollen Wortsinn gar nicht gesprochen werden, wenn deren theoretische Struktur nur von den Forschern allein rekonstruiert und durch einen Konsens innerhalb einer Gruppe von Wissenschaftlern 'validiert' worden wäre (vgl. OEVERMANN 1979). Das Ziel besteht vielmehr in der gegenteiligen Forderung: Wie bereits erwähnt, sollen die Befragten möglichst aktiv am Forschungsprozess teilnehmen (vgl. Tabelle 13, S. 193), wobei sich diese Mitarbeit sowohl auf das Konstruieren als auch auf die Validierung der Konstruktionen beziehen muss. Dies setzt in einem ersten Schritt zwecks methodischer Absicherung voraus, dass die Erkenntnis-Objekte die Konstruktionsregeln so weit verstanden haben müssen, dass sie diese selbst anzuwenden in der Lage sind. Eine derartige Beherrschung des Regelsystems wird damit als zwingende Voraussetzung dafür gesehen, dass der Befragte seiner Rolle entsprechend Teil des Forschungsprozesses werden kann, um eine approximativ deckungsgleiche Rekonstruktion zwischen ihm und dem Forscher zu erreichen. Der Regelkorpus musste folglich den Interviewten in einer leicht kommunizierbaren Form dargestellt werden. Deshalb wurden sämtliche Sinnbilder und Relationen graphisch abgebildet und zusätzlich kurz erläutert. 5. Erprobung und Revision: Nach der Selbstexploration wurde anhand der Probeinterviews und der im Anschluss geführten Auswertungsgespräche geprüft, ob die geplante Form des Strukturlegeverfahrens grundsätzlich geeignet ist, die Elemente und Strukturen der Subjektiven Theorien zu rekonstruieren. Bei der Erprobung des Strukturlegeleitfadens zur erweiterten Flussdiagrammdarstellung war insbesondere von Interesse, ob die zu Interviewenden die Sinnbilder und Relationen verstanden hatten und sie zudem in der Lage waren, diese selbstständig anzuwenden. - Der Regelkorpus erwies sich zur Abbildung der Subjektiven Theorien insgesamt als zweckmässig. Das Regelsystem und die Sinnbilder des Leitfadens sind als Pool zu ver-
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Forschungsstrategie
stehen, anhand dessen die Befragten in der Lage sein sollten, die von ihnen explizierten Beziehungen legen zu können. Damit soll keineswegs unterstellt sein, dass sämtliche Formalrelationen in den Rekonstruktionen jedes Einzelnen eine Verwendung finden müssen. Im Gegenteil: Die Befragten wurden vor dem Interviewstart explizit darauf hingewiesen, nur diejenigen Relationen zu wählen, welche ihnen bei der Rekonstruktion ihrer Theorie als zweckmässig erscheinen. Dieser Hinweis ist deswegen wichtig, weil die Untersuchung ansonsten Gefahr laufen würde, artifizielle Rekonstruktionen zu evozieren. Zwecks Verständnisprüfung wurden die vier Versuchspartner jeweils vor dem Interview aufgefordert, die Sinnbilder und Formalrelationen in eigenen Worten zu erläutern. Die Erklärungen entsprachen den Intentionen des Strukturlegeleitfadens. Es konnte folglich davon ausgegangen werden, dass die Bedeutungen erfasst wurden. Die ersten beiden Sitzungen hatten allerdings gezeigt, dass die selbstständige Anwendung des Leitfadens teilweise Mühe bereitete. Die ersten beiden Versuchspartner konnten die Rekonstruktionsgenese zwar nachvollziehen, der selbstständige Einsatz komplexer Regeln wurde allerdings nicht in dem erhofften Masse erreicht, da sich dieser erst nach zusätzlichen beispielhaften Erklärungen durch den Forscher einstellte. Aufgrund der Auswertungsgespräche dieser ersten beiden Sitzungen wurde der Regelkorpus mit einem einfachen, illustrierenden Alltagsbeispiel erweitert. Konkret wurde eine Alltagssituation (mit einem Fahrrad von A nach B fahren) als 'roter Faden' aufgegriffen und sämtliche Sinnbilder und Formalrelationen anhand dieser Alltagssituation beispielhaft verdeutlicht. Die darauffolgenden zwei Sitzungen wurden mit dem modifizierten Leitfaden durchgeführt, worauf sich die erhoffte Wirkung zeigte. Das illustrierende Alltagsbeispiel als Ergänzung zu den Beschreibungen leistete einen wesentlichen Beitrag zur Befähigung zum Transfer vom Verstehen der abstrakten Sinnbilder und Formalrelationen hin zu einer selbstständigen Anwendung dieser Regeln. Neben dieser inhaltlichen Ausdifferenzierung des Strukturlegeleitfadens wurde das Strukturlegeverfahren selbst einer wesentlichen Änderung bezüglich seines Einsatzes während des Interviews unterworfen. Die Rekonstruktion Subjektiver Theorien umfasst sowohl semantische Reflexionsinhalte als auch die sie verbindende (quasi-)theoretische Struktur. SCHEELE UND GROEBEN (1988a, S. 32) argumentieren, dass eine gleichzeitige Objektivierungsarbeit auf beiden Ebenen eine Überforderung der Erkenntnis-Objekte mit sich bringen würde (siehe hierzu auch KEBECK & SADER 1984). Es wird deshalb eine zeitliche Trennung der Inhalts-Explikation und der StrukturRekonstruktion gefordert. Methodisch mündet diese Trennung in zwei gesonderten, nacheinander abfolgenden Erhebungsphasen. Obschon die Befürchtung einer potenziellen Überforderung nicht auszuschliessen ist, werden die von SCHEELE UND GROEBEN geforderten methodischen Konsequenzen in dieser Generalisierung nicht geteilt. Die Erfahrungen aus den Probeinterviews und den Auswertungsgesprächen zeigten, dass die Befragten durchaus in der Lage sein können (nicht müssen), Inhalte und Strukturen verbindend zu rekonstruieren. Der zeitlich sequenzierte Rekonstruktionsprozess (vollständige Rekonstruktion der Theorieinhalte mit anschliessender Struktur-
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
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rekonstruktion) wurde hiermit zugunsten eines iterativen Prozesses liberalisiert. Wenn SCHEELE UND GROEBEN ein 'Gleichberechtigtsein' beider Interviewpartner fordern (exemplarisch GROEBEN 1992, S. 52f.) und dabei von dem bereits erwähnten Menschenbild ausgehen, ist nicht unmittelbar einzusehen, weshalb die Entscheidung, wie das Legen der Strukturen und Inhalte zeitlich sequenziert werden sollte, nach Möglichkeit nicht den Befragten selbst überlassen wird. Letztlich kann das ErkenntnisObjekt im Vergleich zum Forscher adäquater entscheiden, ob eine Überforderung vorliegt oder nicht. Der wesentliche Vorteil einer iterativen, reversiblen Inhalts-StrukturRekonstruktion wird darin gesehen, dass die schrittweise entstehende inhaltliche und strukturelle Visualisierung die Aktualisierungs- und Artikulationsfähigkeit der Erkenntnis-Objekte begünstigt. 6. Finalisierung des Strukturlegeverfahrens: Aufgrund der Probeinterviews und Auswertungsgespräche wurde das Verfahren mit dem dazugehörenden Leitfaden angepasst. Die Sinnbilder wurden so weit möglich auf Kärtchen gedruckt, um deren Anwendung zu erleichtern. Die Formalrelationen mussten die Erkenntnis-Objekte hingegen selbstständig aufzeichnen, um die notwendige Flexibilität für die Strukturentwicklung zu gewährleisten. Die überarbeitete Version des Strukturlegeleitfadens ist im Anhang 3.3 (S. 489) zu finden. 11.7.4
Sitzungsaufzeichnung und Postskriptum
Sämtliche Interviews werden digital im WMA-Format (Windows-Media-Audio-Format) aufgezeichnet. Dieses Format ermöglicht eine relativ hohe Kompression mit vernachlässigbaren Qualitätseinbussen. Im Anschluss an jede Sitzung wird ein Postskriptum (WITZEL 1982, S. 91f.) angefertigt. Dieses enthält – abhängig von der Interviewsituation – Bemerkungen zum Inhalt der informellen Gespräche vor oder nach dem Interview, Angaben zum Vorwissen des Forschers über die Befragten sowie weitere 'Auffälligkeiten', welche als relevant erscheinen. Nach Möglichkeit sollen die informellen Gespräche nach den Sitzungen als metakommunikativer Abschluss genutzt werden, um das Erleben der Interviewsituation, die Befindlichkeit der Befragten sowie ihre Wahrnehmungen gegenüber dem Interviewer zu thematisieren. Über die Inhalte des Interviews sollte allerdings nicht mehr gesprochen werden. Falls gewünscht, wird hierfür im anstehenden Seminar Zeit eingeräumt. 11.8
Kommunikative Validierung der subjektiv-theoretischen Rekonstruktionen
In Kapitel 5.2 (S. 64) wurden Subjektive Theorien als höchst komplexe Form von Reflexionen des Erkenntnis-Objektes über sein Handeln, Tun oder Verhalten beschrieben. Die Erforschung menschlicher Handlungen verlangt folglich ein Verstehen dieser Subjektiven Theorien des Handelnden. Wenn der Verständigungsprozess in den Mittelpunkt gestellt wird, muss sichergestellt sein, dass das Verstehen des Forschers ein gültiges, verlässliches Verstehen ist. Wie muss dieses Verstehen folglich ausgestaltet werden, damit die Rekonstruktion Subjektiver Theorien valide gelingt? An welchem (Wahrheits-)Kriterium kann die Stimmigkeit der Interpretationen des Forschers festgemacht werden? Welche Geltungsansprüche können durch eine kommunikative Validierung eingelöst werden?
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Forschungsstrategie
Zur Beantwortung dieser Fragen müssen zuerst das Wesen und die Funktionen des Ver106 stehens differenzierter betrachtet werden. Das Verstehen erfordert eine Teilnahme an einem Prozess der Verständigung (HABERMAS 1995, S. 165). Dieser Verständigungsprozess lässt sich anhand von vier unterschiedlichen Verstehensformen weiter präzisieren (siehe hierzu LAMNEK 2005, S. 67ff.). Eine erste Differenzierung wurde bereits vorgenommen, indem das geforderte höhere Verstehen von einem elementaren Verstehen abgegrenzt wurde (vgl. Kap. 11.3.1, Fn. 97, S. 200). Des Weiteren unterscheidet LAMNEK unter Verweis auf 107 SCHLEIERMACHER zwischen grammatischem Sinnverstehen als unmittelbare sprachliche Interpretation und psychologischem Verstehen als Identifikation mit dem anderen, "um aus der Kenntnis von dessen Lebensbezügen das Verstehende zu erfassen" (LAMNEK 2005, S. 61). Wenn es um das Verstehen der sprachlichen Explikationen der Erkenntnis-Objekte geht, erscheint die Unterscheidung zwischen einem höheren interpretativen und einem intersubjektiven Verstehen als Ausprägungen des Verstehensprozesses zweckmässig. 11.8.1
Interpretatives Verstehen
In Kapitel 9.3.2 wurde zur konstruktiven Bewältigung der Zugangsproblematik die Forderung aufgestellt, dass das Verstehen Subjektiver Theorien das Einfühlen in die subjektiven Wirklichkeiten des Befragten verlangt. Das interpretative Verstehen wird damit als ein psychologisches Verstehen aufgefasst, wobei versucht wird, "durch Nacherleben einer Situation oder durch Sich-Hineinversetzen (Empathie) in einen anderen zu verstehen" (LAMNEK 2005, S. 68). Der Forscher ist während dieses Vorgangs möglichst nahe bei den Gedankengängen des Befragten. Er lässt sich weitmöglichst von diesen leiten mit dem Ziel, alle Einzelheiten zu verstehen. Auf das Auslegen von äusseren Zeichen zwecks erkennen von 'Innerem' (DILTHEY 1957, S. 318 zit. in LAMNEK 2005, S. 67) wird jedoch bewusst verzichtet. Ein Kopfschütteln, Schulterzucken oder Stirnrunzeln muss nicht durch den Forscher gedeutet werden, um Inneres zu erkennen, weil hierfür ein viel direkteres Instrument zur Verfügung steht – nämlich die verbale Sprache. Der Forscher hat bei der Wahrnehmung solcher Verhaltensweisen nicht die Aufgabe zu deuten, sondern nachzufragen, was das Erkenntnis-Objekt damit ausdrücken möchte – dies wiederum mit dem Ziel, die Befragten möglichst genau zu verstehen. Das interpretative Verstehen vollzieht sich über mehrere Teilschritte (siehe Abbildung 31, S. 245, Interpretatives Verstehen): Durch die Kommunikation mit dem Interviewpartner c wird dieser zu Explikationen animiert, welche als Konstruktionsentwürfe seiner Selbst- und Weltsicht d durch den Forscher ausgelegt und interpretiert werden e. Diese Interpretationsleistung vollzieht sich unter Einbezug des Hintergrundwissens des Forschers f. Er versucht dabei, die Explikationen des Interviewpartners in sein Hintergrundwissen einzubetten
106 Der Verstehensbegriff kann an dieser Stelle nicht umfassend thematisiert werden (siehe hierzu exemplarisch HÖRMANN 1983). Es handelt sich lediglich um einen kleinen Ausschnitt von Überlegungen, welche für diese Arbeit von Bedeutung sind. 107 Während sich die ursprüngliche Hermeneutik auf die Sinnauslegung von Texten konzentrierte, wurde der Interpretationsgegenstand im Laufe der Zeit weiter ausgedehnt: "Hermeneutik in diesem weiteren Sinne ist also die Kunst des Verstehens kultureller Ereignisse, seien dies nun Situationen, Texte, Bilder, Protokolle, Erfahrungsberichte, spielende Kinder oder pädagogische Gesten und Gebärden" (RITTELMEYER & PARMENTIER 2001, S. 2).
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11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
(vgl. Kap. 11.3.1, S. 209). Gelingt dies nicht, muss unter Rückgriff auf die in Kapitel 11.6 (S. 226) dargestellten Interventionsformen der Klärungsprozess weiter vorangetrieben werden. Dies bedeutet, dass bereits während der Datenerhebung neben der Kommunikation ein Verstehens- und Interpretationsprozess durch den Interviewer stattfindet. "Die Interaktion im Interview besteht also aus einer Einheit von Kommunikation und Interpretation" (WITZEL 1996, S. 56), welche durch den Interviewer in einer angemessenen Balance zu halten ist. Aus diesem Kommunikations- und Interpretationsprozess entwickeln sich schrittweise die Vorinterpretationen des Forschers über die Konstruktionsentwürfe des Interviewpartners g. Vorinterpretationen bilden folglich Konzepte, welche der Forscher aus den Explikationen des Interviewpartners interpretierend konstruiert und verstanden hat. Er hat dann verstanden, 108 wenn er die Explikationen erfolgreich in sein Hintergrundwissen einordnen konnte.
Interviewpartner: seine Selbst- und Weltsicht als Konstruktion 4 2
5 Vorinterpretationen des Forschers über die Konstruktionsentwürfe des Interviewpartners
Explikationen des Interviewpartners als Konstruktionsentwürfe über seine Selbst- und Weltsicht
3
6
7
8 Konsens als ausdrückliche, persuasive Übereinkunft
Intersubjektives Verstehen
1
Forscher: seine Selbst- und Weltsicht als Konstruktion
Interpretatives Verstehen
Abbildung 31: Interpretatives und intersubjektives Verstehen als zweiphasiger Verstehensprozess zur Herstellung einer kommunikativen Validierung
108 Anmerkung: Aufgrund dieser Überlegungen wird deutlich, dass der Verstehensbegriff zwei unterschiedliche Aspekte in sich vereinigt. Einerseits ist mit Verstehen ein Zustand gemeint, andererseits wird damit auch eine Methode als ein bestimmter Prozess beschrieben (vgl. HÖRMANN 1983, S. 15). Dieser Prozess kann unterschiedlich ausgestaltet sein; z. B. interpretativ oder intersubjektiv.
246
Forschungsstrategie
Die Stärken des psychologischen Verstehens sind zusammenfassend darin zu sehen, dass der Forscher die Möglichkeit hat, den Interviewpartner von innen heraus zu verstehen. Er ist nicht auf vage Deutungen von aussen angewiesen, sondern versucht jedes Element des Gegenstandsbereichs möglichst präzise aus der Perspektive des Befragten zu verstehen. Mit der Grundhaltung des psychologischen Verstehens sind jedoch auch drei wesentliche Problembereiche verbunden: - Das interpretativ psychologische Verstehen ist ein subjektiver Vorgang, welcher potenziell auch fehlerhafte Interpretationen beinhalten kann: Die Vorinterpretationen des Forschers, unterliegen potenziellen Fehleinschätzungen, Fehlurteilen oder Täuschungen – sei dies durch eine unbeabsichtigte Vermengung mit dem eigenen Alltagswissen oder empirisch gehaltvollen Konzepten oder durch Missverständnisse, welche während des Interviewverlaufs unaufgedeckt bleiben. Dies lässt sich damit erklären, dass ein 'Verstehen' nach BARTELBORTH (2004) zwar in sich stimmig sein kann, trotzdem jedoch nicht der Innensicht des Erkenntnis-Objektes entsprechen muss. Die entwickelten Interventionsformen helfen dem Forscher zu verstehen (Klarheit zu schaffen), und sie besitzen theoretisch auch das Potenzial, ein valides Verstehen herzustellen. Der Forscher entscheidet letztlich jedoch aufgrund seiner interpretativen Leistung immer selbst, ob er etwas verstanden hat oder nicht. D. h., die Beurteilung, wann die Einbettung der befragtenseitigen Explikationen in das Hintergrundwissen gelungen ist, liegt ausschliesslich beim Forscher. Deshalb entscheidet er auch selbst, wann er welche Interventionsform einsetzen möchte. Wenn er eine Aussage verstanden hat, wird er mit dem Interview fortfahren und nicht mehr weiter nachfragen, zusammenfassen oder eine hypothesengerichtete Frage formulieren. Deshalb lässt sich durch ein interpretatives Verstehen die Rekonstruktionsadäquanz, also die Übereinstimmung der Aussensicht des Forschers mit der Innensicht des ErkenntnisObjektes, nur vermuten – jedoch nicht prüfen. - Die Konstruktionsentwürfe der Befragten unterliegen der Möglichkeit des Irrtums, der Inkonsistenz und Instabilität. Welchen Wahrheitsgehalt die berichteten Konstruktionsentwürfe beanspruchen können, lässt sich lediglich vermuten. Ihr Geltungsanspruch lässt sich jedoch durch ein rein psychologisches Verstehen nicht diskursiv einlösen. - Während sich der Forscher eingehend auf die Sichtweise des Erkenntnis-Objektes einlässt und seine Konzentration auf das Einzelne richten muss, resultiert daraus die Gefahr, dass der Gesamtzusammenhang zwischen den Elementen und dem Ganzen zu wenig berücksichtigt werden kann. D. h., das gleichzeitige Verstehen des Ganzen aus den Teilen sowie der Teile aus dem Ganzen erweist sich als problematisch. Durch ein rein interpretatives Verstehen können die dargelegten Unzulänglichkeiten nur ungenügend bewältigt werden. Deshalb sind die Vorinterpretationen des Forschers und die Konstruktionsentwürfe des Erkenntnis-Objektes in einer zweiten Phase durch einen intersubjektiven Verständigungsprozess kommunikativ zu validieren. 11.8.2
Intersubjektives Verstehen
Wie bereits dargelegt wurde, ist die kommunikative Personalisierung der Datengewinnung unumgänglich, um die Überwindung der Introspektionsproblematik aus der Aporie zwischen Erkenntnisinteresse und einer reduktionistischen Gegenstandskonstituierung zu befreien.
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
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Damit jedoch die Personalisierung der Datenerhebung nicht zu einer Subjektivierung im negativen Sinne führt, muss das Erkenntnis-Objekt unter dem Primat der 'idealen Interviewsituation' (siehe Kap. 11.4, S. 212) auch in die Validierung der Daten miteinbezogen werden. Die im vorangehenden Kapitel beschriebenen Vorinterpretationen des Forschers sowie die Konstruktionsentwürfe der Erkenntnis-Objekte bilden die Ausgangslage für ein intersubjektives Verstehen und damit für den kommunikativen Validierungsprozess (vgl. Abbildung 31, h). Eine solche Validierung wäre ohne ein vorheriges interpretatives Verstehen kaum realisierbar, da anstelle der Suche nach einer approximativ deckungsgleichen Rekonstruktion häufig rückwirkend Verstehensfragen gestellt werden müssten, was den Validierungsprozess unnötig stören würde. Das intersubjektive Verstehen bildet den methodischen Kern der kommunikativen Validierung. Der Terminus 'kommunikative Validierung' stammt von LECHLER (1994, S. 243f.) unter Bezugnahme auf KLÜVER (1979), welcher unter kommunikativer Validierung ein methodisches Verfahren versteht, um "sich der Gültigkeit einer Interpretation dadurch zu vergewissern, dass eine Einigung resp. Übereinstimmung über die Interpretation zwischen Interviewten und Interpreten hergestellt wird" (S. 69). Mit dieser Beschreibung bringt KLÜVER zum Ausdruck, dass die Frage, ob das Verstehen des Wissenschaftlers in der Tat ein valides Verständnis der Innensicht des Erkenntnis-Objektes darstellt, nur von diesem gemeinsam mit dem Erkenntnis-Objekt sinnvoll entschieden werden kann. Der Forscher tritt folglich mit dem Erkenntnis-Objekt in einen argumentativen Dialog, in welchem die bestehenden Konstruktionsentwürfe zwecks Validierung der Rekonstruktionsadäquanz einer gegenseitigen argumentativen Auseinandersetzung unterbreitet werden, um potenzielle 'Fehlerquellen' dis109 kutierbar zu machen (vgl. Abbildung 31, i). Der Forscher blickt während dieses argumentativen Dialogs aus einer kritischen Distanz auf die Konstruktionsentwürfe des Erkenntnis-Objektes. Durch die distanzierte Haltung wird es ihm gelingen, die Entwürfe in ihrer Gesamtheit mit seinen eigenen Vorinterpretationen zu kontrastieren. Die Gesamtheit der Konstruktionsentwürfe (oder einzelner Kategorien) wird in
109 Die kommunikative Validierung kann zusätzlich von einer 'monologischen' Validierung abgegrenzt werden. Letztere ist traditionellerweise für die klassisch-hermeneutische Wissenschaft konstitutiv (SCHEELE 1988, S. 137f.). Die Divergenzen dieser beiden Validierungsperspektiven werden in der Art der Konsensbildung deutlich: Zwar wird auch bei einem monologischen Verstehen ein Konsens angestrebt, dieser wird jedoch im Unterschied zu einem intersubjektiven Verstehen nicht zwischen Erkenntnis-Objekt und Erkenntnis-Subjekt herausgearbeitet, sondern basiert auf Übereinkünften zwischen den Erkenntnis-Subjekten über das Erkenntnis-Objekt. Sie ist gegenüber dem Erkenntnis-Objekt in dem Sinne als monologisch aufzufassen, als dass die Forscher kriteriengeleitet selber darüber befinden, ob das Erkenntnis-Objekt 'richtig' verstanden wurde; d. h., ob die 'Sinn-Rekonstruktion' als adäquat aufgefasst werden kann (GLÄSER & LAUDEL 2004, S. 193ff; MAYRING 2003). Weil die Selbst- und Weltsicht des Forschers zur Ausgangsbasis der Anwendung von (inhaltsanalytischen) Regeln gemacht wird, entsteht das systematisch nicht kontrollierbare Risiko, das Verstehen der Innensicht zu verfehlen. Dieses systematische Risiko wird durch ein intersubjektives Verstehen kontrollierbar, indem "nicht mehr hinter dem Rücken des Subjektes […]" (ULICH 1994, S. 43) dessen Explikationen gedeutet werden, sondern der Forscher sich in die Deutungs- und Handlungszusammenhänge des Berichtenden hineinzuversetzen versucht und seine entwickelten Konstruktionen mit den Betroffenen direkt validiert (für eine ausführlichere Diskussion siehe HEINZE 2001, S. 234ff.; LECHLER 1994). Damit soll nicht die Relevanz und Sinnhaftigkeit von bspw. inhaltsanalytischen Verfahren angezweifelt werden, vielmehr sind diese Ansätze als sich ergänzend (jedoch nicht ersetzend) zu begreifen. Eine Inhaltsanalyse kann folglich durchaus bei der Auswertung von kommunikativ validierten Daten zum Einsatz kommen.
248
Forschungsstrategie
ihre einzelnen Elemente zerlegt, um deren Verbindungen zum Gesamten transparent zu machen. Diese 'hermeneutische Spirale' (exemplarisch DANNER 2006, S. 65) ermöglicht eine Erkenntniserweiterung durch kritisches Betrachten der Relationen zwischen den Elementen (oder einzelnen Kategorien) und dem Ganzen. Es werden Teile vom Ganzen her aktiviert, reflektiert, eventuell korrigiert und erweitert und umgekehrt das Ganze von den Teilen her finalisiert. Diese Erweiterungen, Korrekturen und Präzisierungen stabilisieren die Konstruktionen. Diese Stabilisierung betrifft sowohl die Konstruktionsentwürfe als auch das Verhältnis zwischen den Perspektiven des Forschers und denen des Erkenntnis-Objektes. 11.8.3
Die Konsenstheorie als Bezugsrahmen zur Bestimmung der Validität
Das zur Überprüfung der Rekonstruktionsadäquanz einzuführende dialogkonsenstheoretische Wahrheitskriterium ist aus epistemologischer Perspektive als eine "rekonstruierende Deskription" (GROEBEN & SCHEELE 1977, S. 57) aufzufassen, indem festgestellt wird, "mit welcher inhaltlichen Bedeutung und Struktur ein wissenschaftliches Konzept/Konstrukt (hier eine 'subjektive Theorie') verwendet wird" (TREIBER & GROEBEN 1981, S. 125). Dabei wird von einem Wahrheitsverständnis ausgegangen, welches auf der Konsenstheorie (auch intersubjektive Wahrheitstheorie) beruht. Diese kann als Antwort auf die zahlreichen Schwierigkeiten mit den klassischen Wahrheitstheorien verstanden werden. Vor allem in Deutschland sind zahlreiche Anstrengungen zur Ausarbeitung einer konsensualen Wahrheitstheorie gemacht worden (vgl. SKIRBEKK 2006, S. 26ff.) Dieser Position zufolge gilt eine Aussage dann als 'wahr', wenn alle an einer Interaktion direkt beteiligten kompetenten Sprecher dieser Aussage zustimmen (exemplarisch HABERMAS 1971, S. 129; KAMLAH & LORENZEN 2006, S. 485ff.). Die Verifikation einer Aussage hängt folglich von der intersubjektiven Übereinstimmung aller Mitglieder der Interaktionssituation ab. Sie gilt dann als erreicht, wenn die rekonstruierende Deskription vom Erkenntnis-Objekt als seine Innensicht und vom Erkenntnis-Subjekt als seine Aussensicht akzeptiert werden kann. Wahrheit wird damit durch einen intersubjektiven Argumentationsgang als 'Letztkonsens' eingelöst, wobei das Aussagesystem nicht 'faktisch', sondern begründet, nachvollziehbar und durchschaubar sein muss. Die gemeinsame Rekonstruktionsarbeit schreitet so weit voran, bis die Grenze der gemeinsamen Zustimmung als Konsens erreicht ist. Schon LAUCKEN hat hierzu festgelegt, dass eine rekonstruierende Explizierung genau so weit gehen darf, bis der Alltagsmensch noch zustimmen kann (LAUCKEN 1974, S. 57). Dieser Endzustand wird als Grenzkriterium aufgefasst und beschreibt damit die Zielidee der approximativ deckungsgleichen Rekonstruktion (vgl. Abbildung 31, j). Im nächsten Abschnitt soll der Konsensbegriff noch präzisiert werden. 11.8.4
Der Konsens als Produkt einer persuasiven Übereinkunft
Der Konsens darf nicht als Kompromiss missverstanden werden, auf welchen man sich kontingenterweise einigt, sondern er steht als vorherig unterstelltes Ziel, da ansonsten ein Diskurs gar nicht stattfinden könnte. Eine Aussage ist dann wahr, wenn deren Geltungsanspruch berechtigt ist (HABERMAS 1973, S. 218). Diese Berechtigung ist nicht in einer (zufälligen) Übereinstimmung durch gegenseitige Zugeständnisse zu sehen, sondern in einer ausdrücklichen, persuasiven Übereinkunft. Persuasives Argumentieren wird in Anlehnung an die Argumentationstheorie nach KOPPERSCHMIDT als ein 'überzeugendes' und nicht 'über-
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
249
redendes' Argumentieren aufgefasst. "Weil diese Differenzierung stets eine wertende ist, ist eine Qualifikation von Argumenten als 'überredend' stets eine abwertende Bezugnahme auf gegenparteiliche Geltungsgründe" (2000, S. 52). Die Überzeugungskraft gehört zum originären Sinn argumentativen Redens, und zwar in dem Sinne, dass die vorgebrachten Argumente einen legitimen Geltungsanspruch erheben. Wenn allerdings von 'überreden' gesprochen wird, "dann bestreiten wir nicht diesen Selbstanspruch jeden Argumentierens, wohl aber bestreiten wir, dass er ernsthaft gilt; wir behaupten, dieser Selbstanspruch sei nur prätendiert, um eigene Interessen durchsetzbar zu machen" (2000, S. 53). Damit wird deutlich, dass von einem Konsens nur dann gesprochen werden sollte, wenn er auch tatsächlich durch eine argumentative Auseinandersetzung erzeugt wurde und nicht lediglich einseitig anpassungsorientierte Zustimmungstendenzen die gegenseitige Kommunikation steuern (siehe hierzu auch HOLZKAMP 1984, S. 28f.). Hiermit wird der Konsens als Wahrheitskriterium zu einem normativen Begriff, weil er nicht lediglich als ein deskriptives Konstrukt im Sinne von 'Übereinstimmung' aufgefasst wird, sondern zusätzlich seine Herbeiführung durch ein 'überzeugendes' und nicht 'überredendes' Argumentieren präskriptiv verlangt wird. Die folgende Darstellung fasst das Gesagte anhand der beiden Verstehensprinzipien als Zwischenfazit zusammen.
250
Forschungsstrategie
Tabelle 15: Die methodischen Prinzipien des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews
Prinzipien
Interpretatives Verstehen
Intersubjektives Verstehen
Haltung des Forschers
empathisch, nahe bei den Gedanken der Interviewpartner
kritisch, distanziert, kontrastierend, konfrontierend
Perspektive
aus der Sicht des Erkenntnis-Objektes
aus der Sicht des Erkenntnis-Subjektes
Fokus
auf einzelne Elemente und Kategorien
auf die Gesamtkonstruktion sowie auf Zusammenhänge zwischen Elementen und dem Gesamten
Denkmodell
Hermeneutischer Zirkel
Hermeneutische Spirale Ge G Ge
Ve
Ve V
E
Ee
Ee
E
Ee
Ee
Vorverständnis (V)
Ganzes, z. B. Kategorie, gesamter Kon-
Explikationsverständnis (E)
struktionsentwurf (G)
erweitertes Vorverständnis (Ve)
Element, z. B. Wort, Aussage (E)
erweitertes Explikationsverständnis (Ee)
vom Element her aktiviertes Ganzes (Ge) vom Ganzen her aktiviertes Element (Ee)
gewissheitsverbürgende Kraft
Regelkompetenz als Fähigkeit zur Artikulation
Fähigkeit zur Argumentation, Begründung und Rechtfertigung
Grenzkriterium
erfolgreiche Einordnung der Explikationen in das Hintergrundwissen des Forschers
Zustimmung der Interviewpartner als Konsens
Zielsetzung
inhaltliche und strukturelle Klarheit schaffen
valide, stabile, approximativ deckungsgleiche Rekonstruktion
11.8.5
Die vier Klassen von Geltungsansprüchen
In den vorangehenden Kapiteln wurde aufgezeigt, wie sich der Forscher durch interpretatives und intersubjektives Verstehen im Rahmen einer diskursiven Auseinandersetzung einer validen, stabilen, deckungsgleichen Rekonstruktion annähern kann. Um von einer gültigen Rekonstruktion sprechen zu können, muss ihr Geltungsanspruch berechtigt sein. Diese Berechtigung darf dann unterstellt werden, wenn der Geltungsanspruch als Konsens diskursiv
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
251
hergestellt werden kann (HABERMAS 1973, S. 218f.). Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview versucht diesem von KAMLAH, LORENZEN und vor allem von HABERMAS propagierten Prinzip gerecht werden. In den bisherigen Ausführungen wurde der Grundbegriff des Geltungsanspruchs allerdings relativ abstrakt verwendet. So blieb die Frage, welche gegenstandsbezogenen Geltungsansprüche mit dem Verfahren des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews tatsächlich hergestellt werden können, bis anhin offen. Zur Beantwortung dieser Fragestellung muss der Begriff des Geltungsanspruchs präzisiert werden. Hierfür kann auf die HABERMAS'SCHE Klassifizierung zurückgegriffen werden (vgl. HABERMAS 1973, S. 220ff.). Er differenziert vier Klassen von Geltungsansprüchen, welche in einer Interaktionssituation theoretisch hergestellt werden können: Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit (siehe Abbildung 32). Abbildung 32: Vier Klassen von Geltungsansprüchen
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Verständlichkeit
Wahrheit
Fokus: inhaltlicher Gehalt einer Äusserung
Fokus: Akzeptanz des inhaltlichen Gehalts
Bewährung: erfolgreiche Artikulation
Bewährung: erfolgreiche Argumentation
Richtigkeit
Wahrhaftigkeit
Fokus: Kontext von Praxis
Fokus: Beziehungsdefinition
Bewährung: identitätsgemässe Handlung
Bewährung: Vertrauen in den Interviewpartner
Die Verständlichkeit zielt auf den inhaltlichen Gehalt einer Äusserung ab. Ist dieser unklar und gleichzeitig für den Fortgang des Gesprächs aus Sicht des Forschers von Relevanz, kann typischerweise mit Präzisierungsfragen, hypothesengerichteten Fragen sowie einem zentrierten Zusammenfassen mit anschliessender Stellungnahme durch das ErkenntnisObjekt interveniert werden. Mögliche Fragen hierzu könnten lauten: 'Wie meinen Sie das konkret?', 'Was bedeutet das für Sie?', 'Wie soll ich das genau verstehen?' Die 'Verständlichkeit' von Äusserungen bewährt sich an der erfolgreichen Artikulation seitens des Erkenntnis-Objektes. Die Wahrheit greift die Anerkennung und Akzeptanz des inhaltlichen Gehalts einer Äusserung auf. Wird diese bezweifelt, können insbesondere stabilitätsgenerierende Interventionsformen eingesetzt werden. Um das Erkenntnis-Objekt nicht über die inhaltliche Ebene hinaus (auf der zwischenmenschlichen Ebene) zu verunsichern, sollte auf Aussagen wie beispielsweise 'Das glaube ich Ihnen nicht' oder 'Daran zweifle ich. Verhält es sich wirklich so, wie Sie das sagen?' verzichtet werden. Die kritische, zweifelnde Haltung des Forschers sollte sich auf das Inhaltliche beschränken. Die 'Wahrheit' von Äusserungen bewährt sich an der erfolgreichen Argumentation seitens des Erkenntnis-Objektes. Die Richtigkeit hängt mit der Wahrheit zusammen, fokussiert jedoch stärker den Kontext von Praxis. Der Geltungsanspruch der 'Richtigkeit' stellt die Stimmigkeit zwischen den Aussagen einer Person und ihrer erlebten Handlungssituation bzw. ihrem tatsächlichen
252
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Forschungsstrategie
Handeln infrage. Der Geltungsanspruch der 'Richtigkeit' (Realisierungsadäquanz) gilt dann als eingelöst, wenn die Handlungen des Erkenntnis-Objektes identitätsgemäss, also den artikulieren Handlungsplänen entsprechend erfolgen. Die Richtigkeit lässt sich nicht diskursiv einlösen, sondern muss sich am kontrollierbaren Erfolg der vollzogenen Handlungen bewähren (siehe hierzu unten, Kap. 11.8.6). Die Wahrhaftigkeit fokussiert auf das Erkenntnis-Objekt und dessen Beziehung zu den Gesprächspartnern. Die kritische Hinterfragung der Beziehungsdefinition zwischen den Akteuren der Interviewsituation könnte aus Sicht des Erkenntnis-Subjektes lauten: 'Täuscht mich der Interviewpartner?', 'Verleitet mich der Interviewpartner zu falschen Annahmen?', 'Lässt sich der Interviewpartner von einer Bewertungserwartung leiten?' oder 'Liegt eine hypothesenkonforme Beeinflussung des Erkenntnis-Objektes durch mich oder die Untersuchungssituation vor?'. Die 'Wahrhaftigkeit' von Äusserungen bewährt sich an dem Vertrauen in den Interviewpartner.
Die vier Klassen der Geltungsansprüche sind in dem Sinne unterschiedlich, dass die ersten beiden Gegenstand des inhaltlichen Diskurses sind, während die letzten zwei Klassen nicht den inhaltlichen Bezug der Äusserungen aufgreifen, sondern einerseits den Bezug zum tatsächlichen Handeln in der Praxis (Richtigkeit) sowie andererseits den Bezug zur Interviewsituation bzw. dem Interviewer (Wahrhaftigkeit) herstellen. Zudem sind die Geltungsansprüche mit unterschiedlichen Gewissheiten verbunden. "So beruht die gewissheitsverbürgende Kraft von Verständlichkeit auf Regelkompetenz, d. h. auf der Fähigkeit, einen symbolischen Gegenstand wie den Satz […] nach generativen Regeln selbst erzeugen oder zumindest nacherzeugen zu können" (GLOY 2004, S. 208). Diese Artikulationsfähigkeit muss quasi vorausgesetzt werden, um den Geltungsanspruch der Verständlichkeit einlösen zu können. Die Wahrheit hingegen erzeugt ihre Gewissheit über die unmittelbare Argumentation, Begründung und Rechtfertigung – was gewissermassen die geforderte Artikulationsfähigkeit implizit voraussetzt. Bei der Wahrhaftigkeit des Erkenntnis-Objektes beruht das Gewissheitserleben in dem Vertrauen und Glauben an die Person. Die Wahrhaftigkeit ist abhängig von den kommunikativen Erfahrungen der Interaktionspartner. Obschon die genannten Geltungsansprüche prinzipiell in jeder Aussage als implizit inkludiert aufgefasst werden können, müssen diese durch das Erkenntnis-Objekt explizit erzeugt bzw. durch das Erkenntnis-Subjekt eingefordert werden. Nur so kann es gelingen, eine metakommunikative Sprache über die Geltungsansprüche einzuschlagen, um sich letztlich einer gemeinsamen Rekonstruktion anzunähern. HOLZKAMP formuliert hierzu sehr treffend: "Nur wenn man bei allen Bemühungen um methodische Absicherungen und Präzisierungen die gegebenen Erfahrungsmöglichkeiten nicht wieder eliminiert, kann man nämlich, statt weiter herumzurätseln, was wohl 'in' den Vpn [Versuchspersonen] vorgegangen sein mag, sich mit diesen selbst im intersubjektiven Klärungsprozess darüber zu verständigen suchen, um so den absurden Zustand zu beenden, in welchem aus vorgeblichen methodischen Notwendigkeiten gerade diejenigen über ihre 'Gründe' unbefragt bleiben, die sie real 'haben' und deswegen allein direkt darüber Auskunft geben können" (1986, S. 237). Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview vermag die von HOLZKAMP angesprochenen Erfahrungsmöglichkeiten für die Geltungsansprüche der Verständlichkeit, Wahrheit und Wahrhaftigkeit von Aussagen herzustellen. Die Begründung hierfür ist ohne Weiteres durch das in Kapi-
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
253
tel 11.5 (S. 215) vorgestellte Rahmenmodell bzw. die Bedingungen zur Realisierung einer idealen Interviewsituation erschliessbar. Die Zielebenen II, III und IV des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews bzw. die hierfür konzipierten Interventionen und Instrumente induzieren und stabilisieren die Gewissheiten, welche für die Einlösung der jeweiligen Geltungsansprüche angesetzt wurden (siehe zusammenfassend Tabelle 16). Tabelle 16: Berechtigte Geltungsansprüche des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews
Geltungsansprüche
Umsetzung im Rahmenmodell
gewissheitsverbürgende Kraft
Verständlichkeit
Zielebene II
Fähigkeit zur Artikulation
Wahrhaftigkeit
Zielebene III
Vertrauen und Glauben an die Interaktionspartner
Wahrheit
Zielebene IV
Fähigkeit zur Argumentation, Begründung und Rechtfertigung
Richtigkeit
–
identitätsgemässe (den Subjektiven Theorien entsprechende) Handlungen
Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview vermag die Geltungsansprüche der Verständlichkeit, Wahrheit und Wahrhaftigkeit valide einzulösen – vorausgesetzt der Forscher ist hierzu auch tatsächlich in der Lage. Der Geltungsanspruch der 'Richtigkeit' kann durch das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview hingegen nicht erfüllt werden. Die wahrheitstheoretische Begründung hierzu wird im nächsten Kapitel dargelegt. 11.8.6
Realisierungsadäquanz als Validitätsanspruch?
Obschon Subjektive Theorien potenziell eine Erklärungskraft für das Handeln der ErkenntnisObjekte besitzen und als explanative Konstrukte verwendet werden können, ist eine kommunikative Validierung zur Überprüfung des Erklärungswerts (Realisierungsadäquanz) ungeeignet. Darauf wurde bereits in Kapitel 10.2 (S. 194) als Grenze des qualitativ-mündlichen Befragungsverfahrens hingewiesen. Im Folgenden soll diese Restriktion aus wahrheitstheoretischen Überlegungen präzisiert werden. Die Realisierungsadäquanz verlangt nach einer Handlungsvalidierung, welche als explanative Validierung verstanden werden kann (siehe hierzu ausführlich WAHL 1988b; WAHL 1994). Einer explanativen Validierung liegt jedoch nicht eine konsenstheoretische Wahrheitskonzeption zugrunde, sondern es rücken verstärkt Wahrheitskonzeptionen wie beispielsweise die Korrespondenztheorie (exemplarisch RUSSELL 2006; TARSKI 2006) oder pragmatistische Wahrheitstheorien in den Vordergrund (exemplarisch GROEBEN & WESTMEYER 1981, S. 134ff.; GUBA & LINCOLN 2005, S. 202ff.; H. HUBER 2002; JAMES 2006). Erstere versteht Wahrheit als Übereinstimmung mit der Realität im Sinne einer 'Sprache-Welt-Beziehung'.
254
Forschungsstrategie
RUSSEL kommt zur Ansicht, "dass die Übereinstimmung mit Tatsachen, die Korrespondenz zwischen Meinung und Tatsache, das Wesen der Wahrheit ausmacht" (2006, S. 66, Hervorhebung im Original). Die Pragmatiker wie WILLIAM JAMES, JOHN DEWEY oder CHARLES S. PEIRCE sehen die Wahrheit von Äusserungen hingegen darin bestimmt, dass eine Aussage dann als vorläufig wahr gelten kann, wenn das auf den Aussagen beruhende Handeln nützliche Resultate erzielt; wenn man mit den Handlungsplänen Erfolg hat. "Die Geltung der Wahrheit ist nichts anderes als eben der Vorgang des Sich-Geltend-Machens (JAMES 2006, S. 37). Einfach formuliert: Wenn etwas funktioniert, gilt es als vorläufig wahr. Die Validität der Daten misst sich an der aus ihr resultierenden Handlung. GREENWOOD UND LEVIN formulieren aus einer pragmatistischen Perspektive: "[…] cogenerated contextual knowledge is deemed valid if it generates warrants for action" (2005, S. 54). Auf den vorliegenden Situationstyp übertragen, könnte eine Subjektive Theorie dann als 'wahr' bezeichnet werden, wenn das auf ihr basierende Handeln zu den vom Erkenntnis-Objekt intendierten Absichten führt. Dabei bleibt allerdings das Problem bestehen, wie man den Erfolg solcher Handlungspläne feststellen soll. Das Pragmatik-Kriterium zielt eindeutig auf die Wirkung, also die Zieldimension dieser Pläne, ab. Doch wie würde es sich mit Subjektiven Theorien verhalten, welche zwar zum gewünschten Erfolg führen, die Prozessaspekte der Handlungspläne – oder, im Situationstypenmodell gesprochen, die Phasen – jedoch nur teilweise das tatsächliche Handeln begründen können? Inwieweit könnte eine solche Subjektive Theorie dann als 'wahr' gelten? Ungeachtet dieser Schwierigkeiten, welche zu explorieren wären, wird deutlich, dass die Realisierungsadäquanz nicht konsenstheoretisch eingelöst werden kann. Eine Handlungsvalidierung eröffnet neue Problemfelder, welche zusätzlich nach einer explanativen Validierungsstrategie verlangen. Hierfür kann ein konsenstheoretisches Wahrheitsverständnis kaum konstruktive Lösungsbeiträge bereitstellen. Ein adäquater Bezugsrahmen wird viel eher in 110 den exemplarisch aufgeführten Wahrheitskonzeptionen vermutet. 11.8.7
Kohärenz als Validitätsanspruch?
Wenn das konsenstheoretische Wahrheitskriterium als Prüfinstanz gelten soll, muss die kritische Frage gestellt werden, inwieweit die Kohärenz der Aussagen bzw. des Aussagensystems unterstellt werden darf. Dieses Kriterium basiert auf der Kohärenztheorie, welche eine Aussage dann als 'wahr' postuliert, wenn sie sich widerspruchsfrei in das System der bereits bestehenden, wahren Aussagen einordnen lässt (HORSTER 1991, S. 83). Der Grad der Wahrheit steigt diesem Verständnis folgend mit der Kohärenz der Aussagen innerhalb des Systems (HAMLYN 1970, S. 124). Die von RESCHER (1973; 1987) explizierte Systematizität (Gesetzes110 Insofern wird die Kritik von NEUWEG nicht geteilt, wenn er schreibt: "In der Folge weiss man dann auch nicht mehr, ob subjektive Theorien am Verhalten oder im Dialog validiert werden müssen und entscheidet sich für beides zugleich" (NEUWEG 2005 S. 559, Fn. 2). Diese Aussage lässt die konstatierten Geltungsansprüche unberücksichtigt. Während sich die Rekonstruktionsadäquanz diskursiv (im Dialog) einlösen lässt, verlangt der Anspruch der Richtigkeit im Sinne der Realisierungsadäquanz nach einer Handlungsvalidierung, welche als explanative Validierung verstanden werden kann. Ob dem Konstrukt der Subjektiven Theorien dadurch ein "unentschlossenes Pendeln zwischen Instrumentalismus und Realismus" (2005 S. 559, Fn. 2) vorzuwerfen ist, muss an dieser Stelle offen bleiben (eine ausführliche Diskussion hierzu findet sich in NEUWEG 1999, S. 90ff.).
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
255
artigkeit) innerhalb eines kognitiven Systems setzt voraus, dass zwischen den Aussagen innerhalb eines Aussagensystems eine inferenzielle Abhängigkeit zueinander besteht. Für Subjektive Theorien wurde die Forderung nach logisch ableitbaren, widerspruchsfreien Aussagen als zwingende Bedingung negiert, damit diese als 'wahr' akzeptiert werden können (vgl. Tabelle 2, S. 85). Die Kohärenz der Aussagen wird zwar angestrebt, darf jedoch nicht per se unterstellt werden. Anvisiert wird eine Klarheit im Sinne der Rekonstruktionsadäquanz. "Da ein wissenschaftssprachlich brauchbares verstehendes Beschreiben immer auch eine Präzisierung und Elaboration des alltagssprachlichen Denkens (des Erkenntnis-Objektes) darstellt, handelt es sich bei dieser Adäquanz des Verstehens notwendigerweise um eine Rekonstruktionsadäquanz" (SCHEELE & GROEBEN 1988a, S. 21). Diese Rekonstruktionsadäquanz gilt auch dann als valide, wenn die Kohärenz des Aussagensystems nicht vollständig erfüllt ist. Klarheit wird hiermit nicht mit Widerspruchsfreiheit gleichgesetzt. 11.8.8
Verzerrung der Validität durch Überformung der Subjektiven Theorien?
Es ist nie ganz auszuschliessen, dass die Befragten Aussagen formulieren, von welchen sie glauben, dass der Forscher diese hören will (soziale Erwünschtheit). Angesichts des Pluralismus von Auffassungen zur Konfliktklärung wäre es für die Befragten jedoch nicht ganz einfach gewesen, herauszufinden, was jeweils 'erwünscht' ist, weil der Interviewer seine persönliche Meinung nicht thematisiert und insbesondere durch den Einsatz von konfrontierenden und hypothesengerichteten Fragen sich gegenseitig konkurrenzierende, divergente Konzepte einbringt, welche einen Rückschluss auf die 'tatsächliche' Meinung des Forschers faktisch ausschliessen. Zudem kann diese Gefahr dahingehend minimiert werden, als dass die Erkenntnis-Objekte erstens dazu angehalten werden ihre Subjektiven Theorien möglichst detailliert zu explizieren und im Anschluss daran auch kommunikativ zu validieren. Durch eine adäquate Anwendung des Instrumentariums in Kombination mit den darauf abgestimmten Interventionsformen ist eine artifizielle Veränderung der Subjektiven Theorien der Interviewpartner nicht zu erwarten. 11.9
Zusammenfassung
Das Kapitel 11 diskutiert das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview als qualitativmündliches Befragungsverfahren zur Rekonstruktion Subjektiver Theorien. Es dient in der vorliegenden Untersuchung als Verfahren zur Bestimmung der Konfliktklärungskompetenz bei der Zielgruppe. Ausgangspunkt dieses Ansatzes stellt das problemzentrierte Interview nach WITZEL dar, welches im Hinblick auf das vorliegende Forschungsvorhaben modifiziert und um Techniken der Struktur-Lege-Verfahren sowie durch Elemente der Erzählgenerierenden Interviewverfahren erweitert wurde. Des Weiteren wurden Bezug nehmend auf das normative Verständnis einer idealen Interviewsituation Gelingensbedingungen entwickelt, welchen das Potenzial zugeschrieben wird, dass diese eine gleichberechtigt argumentative Forschungskommunikation zwischen den Gesprächsbeteiligten ermöglichen. Diese Gleichberechtigung verlangt darüber hinaus nach einem im Voraus festgelegten Kommunikationsstil sowie nach klaren Rollenverständnissen, welche mit den in Kapitel 6 (S. 81) vorgestellten Menschenbildannahmen korrespondieren. Dem Interviewleiter kommt die herausfordernde Aufgabe zu, die Gelingensbedingungen anhand von sogenannten Realisie-
256
Forschungsstrategie
rungsmitteln zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Diese werden durch das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview in Form von zahlreichen Interventionsformen und Instrumenten zur Verfügung gestellt. Das Ziel des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews besteht letztlich darin, die individuellen, subjektiv-theoretischen Konstrukte der Erkenntnis-Objekte zu rekonstruieren und abbildbar zu machen. Die Strukturbilder sind als Produkte einer ausdrücklichen, persuasiven Übereinkunft zu verstehen. Damit diesen die angesetzten Geltungsansprüche der Verständlichkeit, Wahrhaftigkeit und Wahrheit zugeschrieben werden können, wird nicht nur ein interpretativer, sondern zusätzlich ein intersubjektiver Verstehensprozess gefordert. Durch die kommunikative Validierung kann der Validitätsanspruch der Rekonstruktionsadäquanz eingelöst werden. Im Gegensatz dazu ist die Realisierungsadäquanz lediglich zu vermuten, jedoch nicht konsenstheoretisch validierbar. Die Abbildung 33 systematisiert zusammenfassend die im Rahmen des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews als wesentlich erachteten Gelingensbedingungen. Damit wird in pointierter Form eine Antwort auf die Frage gegeben, welche Bedingungen als Zielidee zu realisieren sind, damit die Rekonstruktion Subjektiver Theorien ermöglicht bzw. erleichtert wird. Die Abbildung 33 formuliert, ausgehend von den Anforderungen an den Interviewleiter c und den Interviewpartner d, die zentralen Forderungen zur Umsetzung einer gleichberechtigten, argumentativen Kommunikation e. Damit soll eine valide, stabile, approximativ deckungsgleiche Rekonstruktion ausserhalb "von kommunikationsverzerrenden Machtverhältnissen und Systemzwängen" (SCHEELE 1988, S. 138) erreicht werden. Die vierte Bedingungskategorie beschreibt die Interventionsformen und Instrumente, welche das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview zur Verfügung stellt f. Für die drei Instrumente werden präzisierend die Bedingungen zusammengefasst, welche sie potenziell zu ermöglichen imstande sind. Die aufgestellten Forderungen sind miteinander vernetzt und bilden damit ein System von Gelingensbedingungen, welche nicht unabhängig voneinander realisiert werden können.
257
11 Datenerhebung: Das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview
Abbildung 33: Gelingensbedingungen für die Rekonstruktion Subjektiver Theorien im Rahmen des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews Herrschaftsfreie Gesprächssituation Interviewleiter
Interviewpartner
1
Er ist willens und fähig, durch empathisches Sich-Hineinversetzen in die Lebenswirklichkeiten des Interviewpartners diesen aus dessen Perspektive zu verstehen.
gleichberechtigte, argumentative Kommunikation
Er ist willens und fähig, durch geeignete Realisierungsmittel die Anforderungen an eine herrschaftsfreie Gesprächssituation herzustellen und während des Interviewverlaufs aufrechtzuerhalten.
2
Er ist willens und fähig, selber agierend und gestaltend in der Datenerhebung und Validierung mitzuwirken.
3
Die Aussagen der Gesprächspartner sind zu respektieren. Argumentationsfremde Massnahmen sind zu unterlassen. Der inhaltliche Diskurs beschränkt sich auf Handlungspläne, welche handlungsleitend sind. Die Beteiligten: ! ... haben dieselbe Möglichkeit, miteinander als gleichberechtigte Kommunikationspartner zu interagieren. ! ... sollen inhaltliche Erklärungen, Begründungen, Rechtfertigungen, Konkretisierungen etc. äussern können und gleichzeitig deren Geltungsansprüche hinterfragen, legitimieren, widerlegen oder modifizieren dürfen.
! ... sind berechtigt, durch metakommunikative Interventionen arbeitshindernde Perzeptionen, Gefühle, Intentionen, Befürchtungen etc. gegenüber der Sprechsituation/dem Gesprächspartner zum Ausdruck zu bringen. ! ... haben das Recht, aufzufordern und zu verweigern, zu erlauben und zu verbieten.
Realisierungsmittel
4
Interviewleitfaden ! kontrollierte und vergleichbare Herangehensweise an den Forschungsgegenstand ! Gewährleistung der Flexibilität (Explizierungsdynamik) ! Orientierungshilfe für die Beteiligten
Erweiterte Flussdiagramm-Darstellung (FDD) ! Visualisierung der Subjektiven Theorien ! Konkretisierung der Inhalte und Strukturen ! Rekonstruktion anhand eines expliziten Regelsystems ! kommunikative Validierung der Rekonstruktionen
Interviewinstruktion ! Schaffen eines günstigen Gesprächseinstiegs ! Aufbau einer gemeinsamen Arbeitsbeziehung ! Erhöhung der Selbstaufmerksamkeit ! Herstellen einer maximalen Transparenz ! Freiwilligkeit der Teilnahme
Interventionsformen ! Präzisierungsfragen ! Zentriertes Zusammenfassen ! Hypothesenungerichtete Fragen ! Hypothesengerichtete Fragen ! Konfrontierende Fragen ! Erzählaufforderung ! Fallbeispiele als Verbalisierungshilfen ! Metakommunikative Intervention
258 12
Forschungsstrategie
Gütekriterien
Strategien und die hierfür anzusetzenden Kriterien zur Qualitätssicherung qualitativer Ver111 fahren werden in der Literatur sehr zahlreich diskutiert (AGUINALDO 2004; BOHNSACK 2007, S. 79f. & 173ff.; CRESWELL 2007, S. 201ff.; FLICK 2006, S. 367; GOLAFSHANI 2003; KELLE et al. 1993; LAMNEK 2005, S. 142; LEININGER 1994; MAROTZKI 1999, S. 123ff.; MAYRING 2002, S. 140ff; MILES & HUBERMAN 1994, S. 277f.; PATTON 2002, S. 542ff.; SEALE 1999, S. 32ff & 140ff.; STEINKE 2000, 2005; TERHART 1995; WINTER 2000). Die Analyse der einzelnen Beiträge verdeutlicht, dass trotz des gestiegenen Bewusstseins um die Relevanz von Gütekriterien für qualitative Verfahren die Problematik noch nicht hinreichend geklärt ist. Mitunter gewinnt man den Eindruck, dass neue Kriterien eingeführt werden, welche in gewissem Masse beliebig erscheinen, da weder eine theoretische noch eine methodische Fundierung vorliegt – oder zumindest nicht erkenntlich ist (z. B. MILES & HUBERMAN 1994, S. 245ff.). Bei näherer Betrachtung der Literatur fällt auf, dass zur Begründung der Gütekriterien für qualitative An112 sätze im Wesentlichen zwei unterschiedliche Wege beschritten werden: - Der erste Ansatz versucht, die qualitative Forschung nach möglichst denselben Kriterien zu bewerten, wie dies für die quantitative Forschung, ursprünglich insbesondere für die Testtheorie, geschieht. Dahinter steht die Grundhaltung, dass Forschung losgelöst von paradigmatischen Ausrichtungen anhand gemeinsamer Kriterien beurteilt werden kann. Die klassischen Hauptgütekriterien der 'Objektivität', 'Reliabilität' und 'Validität' werden für qualitative Verfahren adaptiert, operationalisiert und teilweise mit neuen Begrifflich113 keiten belegt. - Der Ausgangspunkt des zweiten Ansatzes bildet häufig die geübte Kritik an den klassischen Gütekriterien. Diese Kritik hat zweierlei Facetten: Erstens wird moniert, dass sich die Kriterien nicht auf einen qualitativen Forschungsansatz übertragen lassen, weil sie nicht zu dessen Methodik und Zielsetzung passen (z. B. FLICK 1987b; LEININGER 1994, S. 97). Zweitens wird kritisiert, dass die klassischen Gütekriterien selbst für die quantitative Forschung kein tragfähiges System darstellen (exemplarisch MAYRING 2002, S. 141). Mit diesen Aussagen wird die Forderung des ersten Ansatzes nach einheitlichen Kriterien zurückgewiesen. "Because the paradigms are so radically different, a misuse of criteria of each paradigm poses critical problems and greatly curtails the development of credible and valid outcomes" (LEININGER 1994, S. 96). Daraus wird die Konsequenz gezogen, dass
111 Damit sind all dienjenigen Ansätze gemeint, welche sich in ihrem gemeinsamen Kern an den in Kapitel 9.4 (S. 184) beschriebenen Prinzipien orientieren – obschon diese Richtlinien in einzelnen Forschungsprogrammen unterschiedlich gewichtet, präzisiert oder ergänzt werden. 112 Eine dritte Position argumentiert, ausgehend von einem postmodernen Verständnis über die Untersuchungsgegenstände, dass es aufgrund der Vielfalt der zu untersuchenden sozialen Welten unmöglich sei, ein festes Referenzsystem in der Form von Gütekriterien zu formulieren (z. B. RICHARDSON 2005, S. 960ff.; J. K. SMITH 1984, S. 383f.). Auf diese Argumentation soll nicht weiter eingegangen werden (der interessierte Leser sei verwiesen auf STEINKE 2000, S. 210ff.; 2005, S. 321). 113 Bei MILES UND HUBERMAN (1994, S. 277f.) geschieht dies bspw. wie folgt: Die Objektivität wird zur 'Bestätigbarkeit', die Reliabilität mündet in 'Stabilität', 'Verlässlichkeit' und 'Prüffähigkeit', und die Validität wird durch die Begrifflichkeiten 'Glaubwürdigkeit', 'Echtheit', 'Angemessenheit' und 'Übertragbarkeit' abgebildet [Übersetzung durch den Autor].
12 Gütekriterien
259
für die qualitative Forschung nach eigenen Lösungen gesucht werden muss – dies nach dem Grundsatz: "Die Gütekriterien müssen den Methoden angemessen sein" (MAYRING 2002, S. 142). Wird bei der Begründung von Gütekriterien ausschliesslich der zweite Ansatz verfolgt, ist damit auch schon die Problematik benannt: Gesetzt den Fall, dass für unterschiedliche qualitative Ansätze die Gütekriterien möglichst nahe an spezifischen methodischen Vorgehensweisen formuliert werden, besteht die Gefahr, dass eine unüberschaubare Vielzahl von Kriterien entwickelt wird, was letztlich deren Legitimation und Nachvollziehbarkeit erschwert und damit verbunden den Vergleich unterschiedlicher Vorgehensweisen praktisch verunmöglicht (z. B. bei PATTON 2002, S. 544f.). Um solchen Tendenzen entgegenzuwirken, braucht es auch für qualitative Verfahren – trotz ihrer vergleichsweise geringeren Standardisierung – übergreifende Hauptgütekriterien. Bei der Konzeption solcher Kernkriterien werden häufig zwei konträre Richtungen eingeschlagen, welche sich durch ihre Distanzierung gegenüber quantitativen Vorstellungen kennzeichnen: Entweder werden gänzlich neue Hauptkriterien konzipiert, wie dies beispielsweise LEININGER (1994, S. 105ff.), MAYRING (2002, S. 144ff.) oder STEINKE (2005, S. 323) vorschlagen, oder es wird zumindest an dem Konzept der Validität (teilweise auch an der Reliabilität) festgehalten und deren Ausgestaltung im qualitativen Kontext diskutiert (z. B, AGUINALDO 2004; GOLAFSHANI 2003; D. M. MERTENS 2005, S. 253ff.; WINTER 2000). Ausgehend von dem Standpunkt, dass sowohl qualitative wie auch quantitative Ansätze für sich den Anspruch erheben (sollten), gültige und zuverlässige Ergebnisse zu generieren, wird zur Strukturierung des Feldes an den traditionellen Hauptkriterien der 'Gültigkeit' und 'Zuverlässigkeit' festgehalten. Diese beiden Hauptkriterien sind dann semantisch zu präzisieren, da sie im Vergleich zur Testtheorie in qualitativen Diskussionen weniger technischstandardisiert verwendet werden. Im Gegensatz zum ersten Begründungsansatz für Gütekriterien wird nicht davon ausgegangen, dass Forschung losgelöst von paradigmatischen Vorstellungen ausschliesslich über Einheitskriterien beurteilt werden kann. Deshalb müssen für divergierende Ansätze Spezifika akzeptiert werden, welche sich nicht in gemeinsamen Hauptkriterien abbilden lassen. Hierfür sollte die Möglichkeit bestehen, ergänzende Kriterien zur Gütebeurteilung miteinzubeziehen. Dies geschieht über die beiden Kriterien der 'Dokumentation' und 'Triangulation'. Die Abbildung 34 gibt einen Überblick über die Hautgüte114 kriterien und deren Ausgestaltung in der vorliegenden Untersuchung.
114 Das traditionelle Gütekriterium der Objektivität wird zur Strukturierung des Feldes nicht herangezogen. Die 'Objektivität' wird in der klassischen Testtheorie dann als gegeben angenommen, wenn das Messergebnis nur von dem zu messenden Merkmal und nicht von der Person des Messenden, also dem Erkenntnis-Subjekt, abhängt (exemplarisch LIENERT & RAATZ 1998, S. 7ff.; LUKESCH 1998, S. 39ff.). Im Gegensatz zur Validität und Reliabilität steht bei der Objektivität der Grundgedanke des Hauptkriteriums in einem so starken Widerspruch zu qualitativen Forschungsdesigns, dass eine Adaption kaum sinnvoll ist. Diese Problematik ist auch bei MILES UND HUBERMAN (1994, S. 278) zu sehen, indem sie die Objektivität mit dem Konstrukt der 'confirmability' in die qualitative Forschung zu übertragen versuchen. Unter diesem Konstrukt werden Aspekte subsumiert, welche mit dem traditionellen Grundgedanken der Objektivität kaum mehr vereinbar sind.
260
Forschungsstrategie
Abbildung 34: Hauptgütekriterien und deren Ausprägungen
Gütekriterien
Validität Glaubwürdigkeit Geltungsbegründung Wahrheitsgehalt
12.1
Reliabilität
Genauigkeit Konstanz
Dokumentation
Triangulation
Vorverständnis Design Instrumente Durchführung und Auswertung
Perspektiventriangulation zur Generierung von Hypothesen
Validität
Im klassischen Sinne beschreibt die Validität die Gültigkeit eines Verfahrens, indem geprüft wird, ob es auch tatsächlich das misst, was gemessen werden sollte. In der qualitativen Forschung stellt weder der Validitäts- noch der Reliabilitätsbegriff ein klar definiertes Konstrukt dar. "In fact, when one looks at discussions of reliability and validity one finds not a clear set 115 of definitions but a confusing diversity of ideas" (HAMMERSLEY 1987, S. 73). Aus solchen Unklarheiten können sich dann erhebliche Messprobleme ergeben. In einem sehr weiten Sinne beschreiben die Definitionen der Validität den wissenschaftlichen Status, welchen die interpretativ gewonnenen Daten aufweisen können. Die Ansprüche an diesen Status können unterschiedlich rigide formuliert werden (TERHART 1995, S. 381ff.): Die anspruchsärmsten (und gleichzeitig auch verbreitetsten) Validierungskonzepte verlangen die 'Glaubwürdigkeit' oder 'Vertrauenswürdigkeit' der Daten. Auf einer nächsthöheren Ebene fragen die Konzepte nach den 'Geltungsgründen' der Aussagen, bis schliesslich auf der anforderungsreichsten Ebene die Einlösung von 'Wahrheitsansprüchen' ins Zentrum gestellt werden. Durch diese semantische Strukturierung des Validitätsbegriffs können nun die Massnahmen beschrieben werden, welche die Einlösung der Gültigkeit ermöglichen sollen. 12.1.1
Glaubwürdigkeit
Wird die Validität als Glaubwürdigkeit im Sinne von 'credibility', 'trustworthiness' oder 'authenticity' aufgefasst, wird ein erkenntnistheoretisches Problem aus einer psychologischen Perspektive betrachtet. Es geht darum, ob den Aussagen des Erkenntnis-Objektes 'Glauben geschenkt' werden kann – oder systemischer formuliert: Ist es den Interaktionspartnern gelungen, eine Beziehungsdefinition herzustellen, welche die Explikation glaubwürdiger Aussagen ermöglicht? Dieses Validitätsverständnis korrespondiert mit dem HABERMAS'SCHEN Kon-
115 Eine Übersicht zu verschiedenen Definitionen in der methodologischen Literatur ist zu finden bei HAMMERSLEY (1987, S. 73ff.; zusammenfassend WINTER 2000).
12 Gütekriterien
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zept der 'Wahrhaftigkeit' (siehe Kap. 11.8.5). Die Glaubwürdigkeit wird nach LEININGER (1994) erreicht "through prolonged observations, engagements, or participation with informants or the situation in which cumulative knowing is the 'believable' or lived-through experiences of those studied" (S. 105). Obschon ein solches Validitätsverständnis relativ vage erscheinen mag, "zeigt die konkrete Praxis der Rezeption von wissenschaftlichen Resultaten (innerhalb und ausserhalb von Wissenschaft) immer wieder, dass diese Glaubwürdigkeit zu einem zentralen Vehikel oder eben – bei Nichtvorliegen – zu einer unüberwindbaren Sperre für die Akzeptanz von wissenschaftlichen Resultaten wird" (TERHART 1995, S. 382). Um eine maximale Glaubwürdigkeit der Daten zu erreichen, werden die folgenden Massnahmen ergriffen: - Vorabinformation: Die Zielgruppe wurde im Vorfeld in einer Plenumsveranstaltung über die Untersuchung so ausführlich wie möglich informiert. Die Absicht bestand darin, eine maximale Transparenz für die anstehenden Einzelsitzungen zu schaffen. Die Ausgestaltung der Eröffnungsveranstaltung wird später in Kapitel 15.2 (S. 287) ausführlich beschrieben. - Transparenz der Untersuchungssituation: Die gewissheitsverbürgende Kraft der Glaubwürdigkeit besteht in dem Vertrauen in den Interviewpartner (vgl. Tabelle 16, S. 253). Er kann dieses Vertrauen jedoch nur dann aufbauen, wenn er genau weiss, was auf ihn zukommt. Deshalb wurde der Transparenz der Untersuchungssituation eine hohe Aufmerksamkeit geschenkt, indem in Ergänzung zur Plenumsveranstaltung vor dem inhaltlichen Einstieg in das Interview eine sorgfältige Instruktion gegeben wurde (siehe Anhang 3.1, S. 477). Diese Instruktion präzisiert und vertieft einerseits die Informationen der Plenumsveranstaltung, und andererseits sollen nochmals Gesprächshindernisse thematisiert werden können, welche zwischenzeitlich oder aktuell entstanden sind und die Arbeitsfähigkeit des Erkenntnis-Subjektes im 'Hier und Jetzt' beeinträchtigen. - Freiwilligkeit: Zur Vermeidung von äusseren kontingenten Einwirkungen sind die Studierenden nicht verpflichtet an der Untersuchung teilzunehmen. Diese Freiwilligkeit wird als zwingende Voraussetzung zur Annäherung an eine 'ideale Interviewsituation' (siehe Kap. 11.4) und damit für den Aufbau einer paritätischen Kommunikationsgestaltung gesehen, ohne diese die Erreichung des Oberziels der Untersuchung gefährdet wäre (vgl. Abbildung 29, S. 217). Die einzige Pflicht bestand darin, die Plenumsveranstaltung zu besuchen sowie zum gemeinsam vereinbarten Sitzungstermin zu kommen. Damit war die Pflicht erfüllt. Nach der Interviewinstruktion konnten die Erkenntnis-Objekte entscheiden, ob sie an der Untersuchung teilnehmen wollten oder das Rekonstruktionsinterview lieber nicht führen möchten. Mit diesem Vorgehen kann sichergestellt werden, dass über die Teilnahme bzw. Nicht-Teilnahme erst entschieden wird, wenn die hierfür entscheidungsnotwendige Informationsbasis geschaffen ist. - Metakommunikation: Die Möglichkeit, metakommunikativ zu intervenieren, wird sowohl dem Forscher als auch dem Gesprächspartner zugestanden. Damit steht die Metakommunikation nicht nur für eine Intervention, um während der Interviewführung gültigkeitshindernde Belastungen zu thematisieren, sondern auch für eine Grundhaltung der gleichberechtigten Kommunikation. - Keine Fallselektion: Die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn alle Fälle umfassend in die Datenauswertung miteinbezogen werden, wel-
262
Forschungsstrategie
che 'korrekt' (s. u. Geltungsbegründung) erhoben wurden. Damit ist gemeint, dass keine Vorauswahl getroffen werden darf, nur weil Fälle beispielsweise ausserhalb der Erwartungen liegen. Insbesondere diesen 'negativen' Fällen, welche sich weniger gut in den Kanon der Zwischenergebnisse einordnen lassen, ist besondere Beachtung zu schenken. 12.1.2
Geltungsbegründung
Wenn die Validität als Modus der Geltungsbegründung ausgelegt wird, hängt die Gültigkeit von den methodischen Prozeduren ab, mit deren Hilfe die Aussagen zustande kommen. Damit wird das Problem der Epistemologie nicht mehr aus einer psychologischen, sondern technischen Perspektive betrachtet. TERHART (1995) sieht in dieser Stimmigkeit der verwendeten Methoden die "wichtigste Voraussetzung für die Begründbarkeit von Resultaten" (S. 383). Die Orientierung am Ziel der Geltungsbegründung von Aussagen bietet die Möglichkeit, "den rationalen, argumentativen Charakter von wissenschaftlicher Forschung beizubehalten" (S. 382). Eine so verstandene Gültigkeit gilt dann als erreicht, "wenn nachvollziehbare, einleuchtende, überzeugende Gründe dafür vorgebracht werden, dass ein bestimmtes Resultat als wissenschaftliches Ereignis gelten kann" (S. 381f.). Die Daten werden allgemein durch die methodischen Prozeduren des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews legitimiert: - Interpretationen als gemeinsamer Rekonstruktionsprozess: Die Validität hängt nicht nur von dem methodischen Zugang der Datenerhebung ab, sondern auch vom Interpretationsprozess (GUBA & LINCOLN 2005, S. 205). Deshalb werden die Vorinterpretationen des Forschers dem Erkenntnis-Objekt zurückgespiegelt, um sicherzustellen, dass keine Interpretationen in die Datenauswertung einfliessen, welche nicht mit dem Interviewpartner kommunikativ validiert wurden. Diese kommunikative Validierung setzt jedoch nicht erst am Ende der Datenerhebung ein, indem die Endergebnisse 'diskutiert' werden, sondern geschieht fortwährend bereits im Datenerhebungsprozess in Form von sogenannten 'Zwischenvalidierungen' (siehe hierzu Kap. 15.3.2, S. 289). Es ist durchaus denkbar, dass der Forscher die subjektive Theorierekonstruktion aufgrund des Interviews selbstständig entwickelt und diese dann in einem zweiten Schritt mit dem ErkenntnisObjekt bespricht. Dadurch wäre das Erkenntnis-Objekt am Rekonstruktionsprozess jedoch kaum beteiligt. Die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen müsste in Frage gestellt werden, und das Potenzial eines epistemologischen Subjektverständnisses würde nicht mehr voll ausgeschöpft. - Stabilisierung der Daten: Durch einen konfrontierenden Kommunikationsstil und die hierfür angesetzten Interventionsformen werden die Daten auf ihre Stabilität hin geprüft. Insbesondere kann dadurch – so weit möglich – vermieden werden, dass handlungsrechtfertigende (und nicht handlungsleitende) Kognitionen in die Datenauswertung mit einfliessen. Dazu KVALE (1995): "Validierung erhält dann die Aufgabe, zwischen konkurrierenden und falsifizierbaren Interpretationen zu unterscheiden sowie Argumente für die relative Vertrauenswürdigkeit alternativer Erkenntnisansprüche beizusteuern und zu überprüfen" (S. 428). Dieses argumentative Auseinandersetzen stellt den methodischen Kern des problemzentrierten Rekonstruktionsverfahrens dar. Von entscheidender Be-
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deutung für eine Überprüfung von Deutungshypothesen ist, dass systematisch nach Evidenz und Gegenevidenz im Datenmaterial gesucht wird. "Der Dialog ist nicht mehr nur Modus der Datenbildung […], sondern zugleich auch Modus der Geltungsprüfung" (TERHART 1995, S. 385). Diese Prüfung erzeugt ihre Gewissheit über die unmittelbare Argumentation, Begründung und Rechtfertigung. Konsensbildung: Die Geltungsbegründung der Daten findet ihren Abschluss in einem Konsens als persuasive Übereinkunft (siehe Kap. 11.8.4). LEININGER (1994) spricht in diesem Zusammenhang vom Gütekriterium der 'Saturation'. "Saturation refers to the full […] immersion into phenomena in order to know it as fully, comprehensively, an thoroughly as possible. Saturation means that the researcher has done an exhaustive exploration of whatever phenomenon is being studied. It may refer to getting dense or thick (in depth and breadth) data" (S. 106). Die Grenze dieser Sättigung wird dann als erreicht angesehen, wenn das Erkenntnis-Objekt den Rekonstruktionen noch zustimmen kann. Geeignete Darstellungsform: Die Daten lassen sich mit der gewählten Darstellungsform (siehe Kap. 11.7.3 sowie Anhang 3.3, S. 489) valide abbilden. Einerseits können die subjektiven Rekonstruktionen inhaltlich und strukturell in ihrer Vielfältigkeit wiedergegeben werden, und andererseits lassen sich die Darstellungen miteinander vergleichen, da sie nach denselben formalen Regeln aufgebaut sind (siehe später Kap. 12.2.1). Keine monologisch erhobenen Daten: Als letzter Aspekt der Geltungsbegründung soll das Argument dienen, dass in die Datenauswertung nur Informationen einfliessen, welche dialogisch erhoben wurden. Damit ist gemeint, dass die Datenbasis ausschliesslich aus den kommunikativ-validierten Rekonstruktionen gebildet wird. Die Auszüge aus den Interviews dienen lediglich dazu, Einsichten in die Welten der Erkenntnis-Objekte zu ermöglichen, theoretische Aussagen zu verdeutlichen und den Prozess der Entstehung der kommunikativ-validierten Daten zu illustrieren. Mit demselben Argument dürfen die Daten aus der Inhaltsanalyse (siehe Anhang 2.2, S. 476) lediglich für den intendierten Zweck (Gewinnung ergänzender Hinweise zur Entwicklung des Interviewleitfadens) genutzt werden, jedoch darüber hinaus nicht in den Auswertungsprozess einfliessen. Ansonsten würde der Verwischung der Grenzen zwischen monologischer und dialogischer 116 Hermeneutik Vorschub geleistet.
116 GROEBEN (1986b) begründet hierzu: "Denn es wird damit auch verwischt, dass sich diese beiden methodisch unterschiedlichen Kategorien hermeneutischer Verfahren auf verschiedene Einheiten-Ebenen beziehen, die […] von der Gegenstandskonstituierung her eindeutig unterscheidbar sind. Denn die dialogische Hermeneutik unterstellt, […] dass dem nicht nur reflexiven, sondern auch potenziell rationalen Erkenntnis-Objekt die realitätsadäquate Benennung seiner Intentionen, Wünsche, Motive etc. gegeben oder zumindest erreichbar ist; die monologische Hermeneutik dagegen unterstellt, […] dass diese realitätsadäquate Verbalisierbarkeit der eigenen Intentionen etc. zu einem grossen Teil dem Erkenntnis-Objekt nicht gegeben ist, so dass hier der Konsens der Erkenntnis-Subjekte qua interpretativ konstruierende Beschreibung ersetzend eingreifen muss" (GROEBEN 1986b, S. 198).
264 12.1.3
Forschungsstrategie
Wahrheitsgehalt
Wird die Validität als Wahrheitsgehalt der Aussagen qualitativer Forschung gedeutet, so liegt dieser Anspruch deutlich über der Forderung nach Geltungsgründen. Es kommt zum Ausdruck, dass in dem zu erforschenden Gegenstand "eine bestimmte Wahrheit verborgen liegt, die via sorgfältiger Interpretationen enthüllt werden kann" (TERHART 1995, S. 381). Dieser Gültigkeitsanspruch führt wiederum zu den Chancen und Grenzen des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews zurück, indem die Frage beantwortet werden muss, welche Art von Wahrheit annäherungsweise 'enthüllt' werden kann. Diese Überlegungen wurden bereits ausführlich diskutiert und sollen deshalb nur noch zusammenfassend aufgeführt wer117 den: - Es können die Geltungsansprüche der Verständlichkeit, Wahrheit und Wahrhaftigkeit eingelöst werden. Die Geltungsbegründung und Glaubwürdigkeit dieser Aussage wurde in den zwei vorherigen Kapiteln erörtert. - Der Geltungsanspruch der 'Wahrheit' ist kein korrespondenz- oder kohärenztheoretischer, kein pragmatistischer, sondern ein konsenstheoretischer. - Der Validitätsanspruch wird für die Rekonstruktionsadäquanz konstatiert – jedoch nicht für die Realisierungsadäquanz. So fordern beispielsweise MEDLEY UND MITZEL: "A measure is valid to the extent that differences in scores yielded by it, reflect actual differences in behaviour" (MEDLEY UND MITZEL, S. 150, zit. in HAMMERSLEY 1987, S. 74f.). Wenn Aussagen dann als valide akzeptiert werden, wenn sie das tatsächliche Verhalten widerspiegeln, wird nicht mehr eine Rekonstruktionsadäquanz, sondern eine Realisierungsadäquanz zugrunde gelegt. Konsequenterweise müsste eine solche Forderung für die vorliegende Untersuchung als nicht in genügendem Masse erfüllt betrachtet werden (vgl. Kap. 11.8.6, S. 253). Mit MUTZECK kann hierzu festgehalten werden, dass das wichtigste Gütekriterium in der kommunikativen Validierung bzw. der Rekonstruktionsadäquanz gesehen wird (vgl. MUTZECK 1988, S. 129). 12.2
Reliabilität
Das Gütekriterium hat seinen Ursprung im quantitativen Paradigma. "Although the term 'Reliability' is a concept used for testing or evaluating quantitative research, the idea is most often used in all kinds of research" (GOLAFSHANI 2003, S. 601). Die Grundidee besteht nach PRIM UND TILMANN (1997, S. 53) darin, dass eine Messung möglichst präzise sein soll. Zudem sind die Messbedingungen maximal konstant zu halten, damit eine Untersuchungswiederholung möglich wird. Obschon der Reliabilität im Vergleich zur Validität in der qualitativen Forschung eine vergleichsweise geringe Bedeutung zukommt, werden im Folgenden zwei Heuristiken zur Maximierung der Reliabilität dargestellt. Diese Annäherung an zuverlässige Daten kann nicht paradigmatisch übergreifend ausgestaltet werden, sondern hängt von den spezifischen Bedingungen der Forschungsmethodik ab (LAMNEK 2005, S. 166).
117 Die Argumentationen finden sich in Kapitel 11.8, insbesondere Kapitel 11.8.3 bis 11.8.7.
12 Gütekriterien
12.2.1
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Genauigkeit der Messung
Genauigkeit als Gütekriterium für die Zuverlässigkeit der Messung zu fordern, scheint auf den ersten Blick unvereinbar mit Techniken, welche individuums- und situationsbezogen flexibel eingesetzt werden. Diese 'Fexibilität' ist jedoch keine zufällige, sondern sie dient unter Reliabilitätsaspekten der Konstanthaltung der Messbedingungen (siehe hierzu ausführlicher im nächsten Kap. 12.2.2). Obschon das Messinstrument möglichst authentisch und subjektorientiert eingesetzt wird, ist eine gültige und zuverlässige Rekonstruktion der Subjektiven Theorien zu fordern. Hierfür müssen formale Regeln angesetzt werden, welche die Genauigkeit der Messung erhöhen und für alle Untersuchungssituationen gleichermassen gelten, ohne dabei im Widerspruch zum interpretativen Paradigma zu stehen. Die gleichberechtigt argumentative Forschungskommunikation und die Struktur-Lege-Technik basieren auf solchen entkontextualisierten Vorschriften: - Gleichberechtigt argumentative Forschungskommunikation: Die Überwindung möglicher Explizierungsschwierigkeiten ist nicht zu trennen von der Forderung nach einer maximalen Annäherung an eine 'ideale Interviewsituation'. Zur Herstellung dieser Gesprächssituation werden Regeln verwendet, welche sowohl äussere kontingente Einwirkungen als auch Zwänge, welche sich aus der Struktur der Kommunikation selbst ergeben, auf ein Minimum reduzieren. Diese Regeln (siehe Kap. 11.4.1, S. 213) bilden sozusagen die Basis für eine genaue Rekonstruktion. Eine präzise Messung wird erst realisierbar, wenn alle Diskursteilnehmer dieselbe Möglichkeit haben, unbeeinflusst durch argumentationsfremde Massnahmen als gleichberechtigte Kommunikationspartner zu interagieren, durch konstative Sprechakte Erklärungen, Begründungen, Rechtfertigungen, Konkretisierungen etc. zu äussern, die Geltungsansprüche zu hinterfragen, zu legitimieren, zu widerlegen oder zu modifizieren, die eigenen Perzeptionen, Gefühle, Intentionen, Befürchtungen sowohl über die Gesprächsinhalte als auch bezüglich der Interviewsituation zum Ausdruck zu bringen sowie selbst aufzufordern und zu verweigern, zu erlauben und zu verbieten. - Struktur-Lege-Technik: Durch die erweiterte Flussdiagrammdarstellung verfügen die Erkenntnis-Objekte über ein System von in gleicher Weise einzusetzenden formalen Symbolen und Regeln, welche die subjektiven Rekonstruktionen in einem maximalen Detaillierungsgrad abzubilden vermögen (siehe Kap. 11.7.3 sowie Anhang 3.3, S. 489). 12.2.2
Konstanz der Messbedingungen
In quantitativen Ansätzen wird die Konstanz von Messbedingungen dadurch zu erreichen versucht, dass der Kontext standardisiert und maximal kontrolliert wird. Dem wird entgegengehalten, dass an die Stelle der Wiederholbarkeit von Untersuchungsbedingungen im qualitativ interpretativen Paradigma die Betonung der situativen Kontextgebundenheit treten muss (LAMNEK 2005, S. 169). Die "Künstlichkeit der Interaktionsbedingungen" (S. 167) soll vermieden werden, denn gerade die Kontrollbemühungen machen den Einfluss der Erhebungssituation unkontrollierbar. Dies lässt sich dadurch erklären, dass die standardisierenden Operationen, welche die Zuverlässigkeit gewährleisten sollen, eine Künstlichkeit in der Untersuchung evozieren, welche "die Erforschten in einer Weise irritieren kann,
266
Forschungsstrategie
dass ihr Verhalten in der Forschungssituation mit dem unter Alltagsbedingungen nicht mehr übereinstimmt" (VOLMERG 1983, S. 126). Die Realitätshaltigkeit muss in Frage gestellt werden. Trotz dieser kritischen Aussagen wird an der Vergleichbarkeit und Konstanz der Messbedingungen festgehalten, weil sie als wesentliches Kriterium der Reliabilität betrachtet werden. Damit stellt sich die Frage, wie diese Konstanz erreicht werden kann, ohne dadurch artifizielle Untersuchungssituationen zu schaffen, die Kontextgebundenheit zu beeinträchtigen und damit verbunden, die Realitätshaltigkeit zu gefährden. Wie bereits erwähnt, wird in der traditionellen Methodenlehre versucht, die Konstanz über Standardisierung herzustellen, wobei hier unter anderem dem gleichbleibenden Verhalten des Erkenntnis-Subjektes ein zentraler Stellenwert zukommt (siehe hierzu auch KEBECK & SADER 1984). Der Forscher sorgt in diesem Sinne für die Identität der Untersuchungsbedingungen. Konsequenterweise müssten dann den Erkenntnis-Objekten dieselben Explizierungshilfen in derselben Intensität und Häufigkeit zur Verfügung gestellt werden. Eine derart verstandene Situationsgestaltung mag zwar aus der Sicht des Forschers als maximal konstant erscheinen, jedoch nicht aus der Perspektive des Beforschten. Deshalb ist ein Verständnis zu fordern, "welches die Vergleichbarkeit aus der Sicht der Versuchsteilnehmer definiert" (KEBECK & SADER 1984, S. 211). Demzufolge hat der Forscher gerade durch ein individuumzentriertes, flexibles, kontextgebundenes – und nicht standardisiertes – Verhalten für die Konstanz der Untersuchungssituation zu sorgen. Die Interviewpartner müssen die Untersuchungssituation in einer vergleichbaren Weise erleben – nicht der Interviewleiter. Diese Überlegung widerspiegelt sich auch in dem Grundsatz 'So wenig Unterstützungsleistung von Seiten des Interviewleiters wie nötig und so viel Rekonstruktionstätigkeit durch die Interviewpartner wie möglich' (siehe Zielebene IV des Rahmenmodells, S. 224). Auf diese Weise wird trotz der Orientierung an der Kontextgebundenheit das Standardisierungskonzept nicht aufgegeben. Allerdings erfolgt die Standardisierung nicht ausschliesslich aus der Sicht des Forschers, sondern auch aus der des Beforschten. Demzufolge muss sich der Forscher mithilfe metakommunikativer Sprache darüber erkundigen, welche Perzeptionen, Gefühle, Intentionen, Befürchtungen, Unsicherheiten etc. die Arbeitsfähigkeit beeinflussen, um daraus für das objektseitige Erleben stimmige Interventionen ableiten zu können. Die Annäherung an die 'ideale Interviewsituation' bildet den Bezugsrahmen für die Konstanz der Untersuchungssituation. Durch dieses Vorgehen wird angenommen, dass die Fehlervarianz im Sinne der 'Unzuverlässigkeit' zusätzlich reduziert werden kann. Diese Aussage wird durch die empirischen Arbeiten von LOHAUS (1983, zusammenfassend S. 118f.) gestützt. 12.3
Dokumentation
Die Ergebnisse einer Untersuchung verlieren an Wert, wenn die Darstellung ihrer Entstehung lückenhaft ist. Dieser Dokumentationsforderung kommt aufgrund der deutlich geringeren Standardisierung qualitativer Forschung im Vergleich zu quantitativen Designs eine sehr viel höhere Bedeutung zu. Deshalb fordert MAYRING (2002) zu Recht, dass qualitative Forschung "bis ins Detail dokumentiert" (S. 145) werden muss. Diese Forderung umfasst vier wesentliche Kategorien: - Explikation des Vorverständnisses: Das Theorie- und Alltagswissen des Forschers wurde in der Abbildung 25 (S. 189) schematisch dargestellt und anschliessend beschrieben.
12 Gütekriterien
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Bestimmung des Ansatzes: Es ist genau zu dokumentieren, wie der Forscher zur Auswahl eines bestimmten Ansatzes gefunden hat. Allzu häufig wird ein bestimmtes Verfahren, seien dies nun Experimente, teilnehmende Beobachtungen, Inhaltsanalysen, schriftliche Befragungen, Gruppendiskussionen, mündliche Interviews etc., angesetzt, ohne detailliert darüber Auskunft zu geben, wie dieser Such- und Begründungsprozess ausgestaltet war. Doch genau diese Transparenz leistet einen wesentlichen Beitrag an die Glaubwürdigkeit der Daten. Die Argumentationslinien, welche letztlich zum Verfahren des problemzentrierten Interviews geführt haben, sind in den Kapiteln 9 & 10 beschrieben worden. Zusammenstellung der Instrumente: Dieselbe Dokumentationsanforderung wie bei den Verfahren gilt auch für die Instrumente. Die Einbettung der Instrumente innerhalb eines bestimmten Verfahrens ist zu verdeutlichen. Es muss der Nachweis erbracht werden können, welchen konkreten Beitrag diese zur Erreichung der Zwischenziele und letztlich zum Oberziel der Untersuchung leisten (siehe Kap. 11.5). Zudem sind die Instrumente und deren Funktionen genau zu beschreiben (Kap. 11.6 & 11.7). Durchführung und Auswertung der Datenerhebung: Die konkrete Durchführung der Untersuchung wird in Kapitel 15 beschrieben. Die Auswertungsdokumentation erfolgt in den Kapiteln 16 bis 19. Letztere gibt häufig Anlass zu Kritik, weil sich deren Inhalt vielerorts auf illustrierende Zitationen aus Interviewtranskripten oder Beobachtungsprotokollen beschränkt, um so für den Leser nachvollziehbar zu sein. BÜHLER-NIEDERBERGER stellt in ihrem zahlreich zitierten Beitrag kritisch fest: "Die so vermittelte Glaubwürdigkeit reicht je118 doch nicht aus (1985, S. 475). Trotz der verdeutlichenden Wirkung von illustrierenden Explikationen bleibt unklar, wie der Forscher im Einzelnen mit den Fällen umgeht, wie er seine Interpretationen entwickelt, welche spezifischen Auswertungsprozeduren er nutzt und auf welche Überlegungen sich diese stützen. Deshalb werden zusätzlich die hier verwendeten "kodifizierten Verfahren" (BÜHLER-NIEDERBERGER 1985, S. 475) transparent ge119 macht.
12.4
Triangulation
Zum Abschluss der Diskussion über die Realisierung von Gütekriterien wird auf die Triangulation und deren Bedeutung in der vorliegenden Untersuchung eingegangen. Die ursprüngliche Idee dieses Konzeptes beruht auf Überlegungen zur Validitätsprüfung in quantitativen Verfahren. CAMPBELL UND FISKE konzipierten die "Multitrait-Multimethod-Matrix" (1959, S. 82), um anhand konvergenter und divergenter Validierung die Gültigkeit von Er-
118 Die Begründung hierfür verdeutlicht (wohl unfreiwillig) der Textauszug von GIRTLER: „Wenn ich nun die Publikation über meine Forschung vorbereite, […] stelle ich schliesslich das Typische dar. Um dieses Typische bzw. die typischen Regeln, aus denen ich das zu untersuchende soziale Handeln 'verstehe' und mit denen ich es 'erkläre', anschaulich und 'beweisbar' zu machen, zitiere ich die entsprechenden Abschnitte aus meinen Beobachtungsprotokollen bzw. den Interviews. Selbstverständlich nur diese, von denen ich meine, dass sie das Typische der betreffenden Alltagswelt ansprechen" (GIRTLER 1988, S. 146). Dieses 'Meinen', von dem GIRTLER spricht, kann als "selektive Plausibilität" (FLICK 2006, S. 368) bezeichnet werden. 119 Mit 'kodifizierten Verfahren' sind solche gemeint, die aufzeigen, "was der Forscher eigentlich tut, und dies dann einer systematischen Analyse im Licht der Logik und gefestigter Erkenntnisse unterzieht" (BARTON & LAZARSFELD 1993, S. 41).
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Forschungsstrategie 120
gebnissen prüfen zu können. Aufgrund ihrer Arbeiten empfehlen sie eine Methodentriangulation (CAMPBELL & FISKE 1959, S. 101). Der Triangulationsgedanke fand in den 70er-Jahren Einzug in die qualitative Forschung. Das ursprünglich quantitativ ausgerichtete Konzept wurde vor allem durch die Arbeiten DENZINS erweitert und als ermöglichende Grundfigur methodischer Prozeduren zwecks Validierung eingeführt. DENZIN (1978, S. 294ff.) formulierte vier unterschiedliche Triangulationstypen: Daten-, Beobachtungs-, Theorie- und 121 Methodentriangulation. Das Triangulationskonzept führte als Validierungsstrategie in verschiedenen Kontexten zu kritischen Diskussionen (exemplarisch FLICK 2005b; LAMNEK 2005, S. 158ff.; MORAN-ELLIS et al. 2006; SCHRÜNDER-LENZEN 2003, S. 108f.; SEALE 1999, S. 56ff.; SILVERMAN 1985, S. 21 & 105f.). Zusammenfassend beschreibt das Hauptargument, dass wissenschaftliche Forschung zu ihrem Gegenstand keinen voraussetzungsfreien Zugang schaffen kann, weil die Methoden diesen mitkonstituieren (siehe Kap. 9.1, S. 161). Aus einer anti-positivistischen Position lässt sich 'dasselbe Phänomen' durch verschiedene Methoden gar nicht erfassen, weil nicht berücksichtigt wird, dass der Gegenstand selbst von jeder Methode wiederum spezifisch mitbestimmt wird. "What goes on in one setting is not a simple corrective to what happens elsewhere – each must be understood in its own terms" (SILVERMAN 1985, S. 21). Zudem bleibt im Falle einer Nichtübereinstimmung der Resultate aus einer Methodentriangulation die methodologische Frage unbeantwortet, was damit konkret geschehen soll. Wie könnte festgestellt werden, ob die Unterschiedlichkeiten darauf zurückzuführen sind, dass entweder ein Instrument einen bestimmten Aspekt eines Gegenstandes im Vergleich zu einem anderen gültiger misst, oder ob allenfalls die unterschiedlichen Instrumente unterschiedliche Teilaspekte eines Gegenstandes messen und deshalb unterschiedliche Resultate erzeugen? "Mit welchem Grund wäre der Geltungsanspruch des einen Ergebnisses höher als der eines anderen?" (SCHRÜNDER-LENZEN 2003, S. 108). Diese Fragestellungen werden nicht nur nicht beantwortet, sondern auch nicht gestellt (GROEBEN 1992, S. 76). Eine Triangulation kann (unter konstruktivistischer Perspektive) letztlich auch nicht mehr sein als eine soziale Konstruktion von Wirklichkeit (LAMNEK 2005, S. 159). In den späteren Arbeiten hat DENZIN diese Kritiken aufgegriffen und die Triangulation von einem Validierungsanspruch befreit (exemplarisch DENZIN & LINCOLN 2005). "Triangulation is not a tool or strategy of validation […]" (S. 5). Er versteht diese nun als Strategie zur Herstellung eines anreichernden, elaborierten und tieferen Verständnisses des zu untersuchenden Gegenstandsbereichs. "In other words, this view replaces the idea that different results suggest flawed measurement with the idea that different results reflect different aspects of a phenomenon" (MORAN-ELLIS et al. 2006, S. 48). Diese alternative Funktionsbestimmung scheint in der qualitativen Forschung tendenziell favorisiert zu werden (exemplarisch FLICK 2006, S. 390; KÖCKEIS-STANGL 1980; LAMNEK 2005, S. 160).
120 "For the justification of novel trait measures, for the validation of test interpretation, or for the establishment of construct validity, discriminant validation as well as convergent validation is required. Tests can be invalidated by too high correlations with other tests from which they were intended do differ" (CAMPBELL & FISKE 1959, S. 81). 121 MILES UND HUBERMAN (1994, S. 267) führen zusätzlich die Triangulation verschiedener Datentypen ein (z. B. qualitative Textdaten versus quantitative Daten).
13 Strategie der Datenauswertung
269
Der Triangulation kommt in der vorliegenden Arbeit die Funktion der Hypothesengenerierung (und nicht der Überprüfung) zu – wie dies in der qualitativen Forschung eher typisch ist (LAMNEK 2005, S. 160). Ein Dialog-Konsens-Verfahren impliziert immer schon eine Triangulation von Perspektiven – nämlich im Minimum die des Erkenntnis-Subjektes und die des Erkenntnis-Objektes. Werden ergänzend weitere Fallbeispiele als Explizierungshilfen eingebracht, lassen sich die Perspektiven zusätzlich variieren und kombinieren. KÖCKEIS-STANGL (1980) spricht von einem "kaleidoskopartigen Bild" (S. 363), welches aus dieser mehrperspektivischen Triangulation resultiert. Dieses Verständnis des Triangulationskonzepts wird grundsätzlich auch dieser Arbeit zugrunde gelegt (vgl. Tabelle 13, S. 193). Allerdings ist darauf zu achten, wie diese anreichernden Daten gewonnen werden. Obschon KÖCKEIS-STANGL das konsenstheoretische Wahrheitskriterium ansetzt, nimmt sie ergänzend Rückgriff auf die 'objektive Hermeneutik' (exemplarisch OEVERMANN 1979) und gerät damit in Konflikt mit einem dialogisch ausgerichteten Verständnis von Hermeneutik. Letztlich hängt der konkrete Einsatz der Triangulation in Forschungsvorhaben von den erkenntnistheoretischen Grundüberzeugungen ab. Deshalb dürfen konsequenterweise die Rekonstruktionen in der vorliegenden Arbeit unter dem Aspekt der kommunikativen Validierung nicht durch monologische Verstehensarten untermauert werden, weil damit das Gütekriterium der Validität gefährdet würde. Auf diese Vermischungsproblematik wurde bereits in Kapitel 12.1.2 (siehe auch Fn. 116, S. 263) eingegangen. Vielmehr generiert die Perspektiventriangulation Hypothesen, welche es mit dem Erkenntnis-Objekt zu reflektieren und kommunikativ zu validieren gilt. Dieses Vorgehen verdeutlicht den Prozess, wie die Daten der verschiedenen Perspektiven miteinander in Verbindung gebracht werden. MORAN-ELLIS et al. (2006) stellen kritisch fest: "[triangulation] obscures an essential difference between the outcome of using mixed methods (claims to triangulation) and the process by which different methods and datasets are brought into relation with each other" (S. 45). Ein möglicher Weg, wie Daten unterschiedlicher Perspektiven integriert werden können, beschreibt die diskursive Auseinandersetzung mit dem Ziel der Konsensfindung. 13
Strategie der Datenauswertung
In diesem Kapitel wird das methodische Vorgehen für die Datenauswertung der subjektiven Theorierekonstruktionen erläutert und begründet. Der Begriff der Datenauswertung steht dabei als Oberbegriff zur Bezeichnung aller Verfahrensformen, welche sich den Daten mit 122 einer wissenschaftlichen Erkenntnisabsicht nähern. Bei der Auswertung der subjektiven Theorierekonstruktionen befindet man sich grundsätzlich in einer offenen Situation, weil das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview kein be122 In der Literatur finden sich neben dem Begriff der Datenauswertung auch Bezeichnungen wie 'Datenanalyse' oder 'Dateninterpretation', ohne dass stets eine klare Abgrenzung ausgewiesen wird. Dementsprechend vielfältig zeigen sich auch die Beschreibungen, was unter den Verfahren im Einzelnen zu verstehen ist (siehe hierzu exemplarisch für die qualitative Inhaltsanalyse MAYRING 2003, S. 11f.). Die Definitionen der Ansätze widerspiegeln oft ihr konkretes Anwendungsgebiet: Interessieren bspw. die Inhalte der Kommunikation oder formale Aspekte eines Gesprächs? Stehen eher latente oder manifeste Inhalte im Vordergrund? Dominieren bei den Verfahren Operationen wie Codieren, Klassifizieren, Beschreiben usw., oder sind Prozeduren des Deutens, Auslegens, Erklärens etc. ausschlaggebend?
13 Strategie der Datenauswertung
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Der Triangulation kommt in der vorliegenden Arbeit die Funktion der Hypothesengenerierung (und nicht der Überprüfung) zu – wie dies in der qualitativen Forschung eher typisch ist (LAMNEK 2005, S. 160). Ein Dialog-Konsens-Verfahren impliziert immer schon eine Triangulation von Perspektiven – nämlich im Minimum die des Erkenntnis-Subjektes und die des Erkenntnis-Objektes. Werden ergänzend weitere Fallbeispiele als Explizierungshilfen eingebracht, lassen sich die Perspektiven zusätzlich variieren und kombinieren. KÖCKEIS-STANGL (1980) spricht von einem "kaleidoskopartigen Bild" (S. 363), welches aus dieser mehrperspektivischen Triangulation resultiert. Dieses Verständnis des Triangulationskonzepts wird grundsätzlich auch dieser Arbeit zugrunde gelegt (vgl. Tabelle 13, S. 193). Allerdings ist darauf zu achten, wie diese anreichernden Daten gewonnen werden. Obschon KÖCKEIS-STANGL das konsenstheoretische Wahrheitskriterium ansetzt, nimmt sie ergänzend Rückgriff auf die 'objektive Hermeneutik' (exemplarisch OEVERMANN 1979) und gerät damit in Konflikt mit einem dialogisch ausgerichteten Verständnis von Hermeneutik. Letztlich hängt der konkrete Einsatz der Triangulation in Forschungsvorhaben von den erkenntnistheoretischen Grundüberzeugungen ab. Deshalb dürfen konsequenterweise die Rekonstruktionen in der vorliegenden Arbeit unter dem Aspekt der kommunikativen Validierung nicht durch monologische Verstehensarten untermauert werden, weil damit das Gütekriterium der Validität gefährdet würde. Auf diese Vermischungsproblematik wurde bereits in Kapitel 12.1.2 (siehe auch Fn. 116, S. 263) eingegangen. Vielmehr generiert die Perspektiventriangulation Hypothesen, welche es mit dem Erkenntnis-Objekt zu reflektieren und kommunikativ zu validieren gilt. Dieses Vorgehen verdeutlicht den Prozess, wie die Daten der verschiedenen Perspektiven miteinander in Verbindung gebracht werden. MORAN-ELLIS et al. (2006) stellen kritisch fest: "[triangulation] obscures an essential difference between the outcome of using mixed methods (claims to triangulation) and the process by which different methods and datasets are brought into relation with each other" (S. 45). Ein möglicher Weg, wie Daten unterschiedlicher Perspektiven integriert werden können, beschreibt die diskursive Auseinandersetzung mit dem Ziel der Konsensfindung. 13
Strategie der Datenauswertung
In diesem Kapitel wird das methodische Vorgehen für die Datenauswertung der subjektiven Theorierekonstruktionen erläutert und begründet. Der Begriff der Datenauswertung steht dabei als Oberbegriff zur Bezeichnung aller Verfahrensformen, welche sich den Daten mit 122 einer wissenschaftlichen Erkenntnisabsicht nähern. Bei der Auswertung der subjektiven Theorierekonstruktionen befindet man sich grundsätzlich in einer offenen Situation, weil das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview kein be122 In der Literatur finden sich neben dem Begriff der Datenauswertung auch Bezeichnungen wie 'Datenanalyse' oder 'Dateninterpretation', ohne dass stets eine klare Abgrenzung ausgewiesen wird. Dementsprechend vielfältig zeigen sich auch die Beschreibungen, was unter den Verfahren im Einzelnen zu verstehen ist (siehe hierzu exemplarisch für die qualitative Inhaltsanalyse MAYRING 2003, S. 11f.). Die Definitionen der Ansätze widerspiegeln oft ihr konkretes Anwendungsgebiet: Interessieren bspw. die Inhalte der Kommunikation oder formale Aspekte eines Gesprächs? Stehen eher latente oder manifeste Inhalte im Vordergrund? Dominieren bei den Verfahren Operationen wie Codieren, Klassifizieren, Beschreiben usw., oder sind Prozeduren des Deutens, Auslegens, Erklärens etc. ausschlaggebend?
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Forschungsstrategie
stimmtes Auswertungsverfahren zwingend erfordert. Mit Blick auf das Datenmaterial aus den 23 Rekonstruktionssitzungen ergibt sich die Schwierigkeit, dass einerseits das Einzelne, Individuelle zum Ausdruck gebracht werden will, gleichzeitig sollen die Aussagen auch über den Einzelfall hinausgehen – ohne jedoch in einer Allgemeinheit zu enden, welche den Rückschluss auf den Einzelfall nicht mehr ermöglicht. Dieses Spannungsfeld tangiert vermutlich – wenn auch in unterschiedlichem Masse – jede qualitativ ausgerichtete Untersuchung (FLICK 1999, S. 254). Davon sind die Arbeiten zu Subjektiven Theorien nicht ausgenommen. Einerseits existieren hierzu Forschungsarbeiten, bei welchen der idiographischen Perspektive (fast) keine Beachtung geschenkt wird. Die Einzelfälle werden nicht dokumentiert, und infolgedessen kann sich der Leser hierüber (leider) kaum ein Bild machen (z. B. in den Arbeiten von LEHMANN 1995; MÜLLER 2004). Andererseits gehen zahlreiche Arbeiten nicht substanziell über die Darstellung der Einzelfälle hinaus (siehe hierzu FLICK 1987a, S. 132; WAHL 1988a, S. 324ff.). Damit die Forschungsfragen angemessen beantwortet werden können, muss beiden Denkrichtungen die nötige Beachtung geschenkt werden. Dies erfordert Auswertungsverfahren, welche sowohl qualitativer wie auch quantitativer Natur sind. Dementsprechend werden in dem vorliegenden Forschungsdesign diese Zugänge nicht als gegensätzlich, sondern ergänzend aufgefasst, indem die Vorteile beider Richtungen nutzbar gemacht werden. GROEBEN schreibt hierzu: "Für alle sozialwissenschaftlichen Disziplinen aber sehe ich den wichtigsten Ansatzpunkt zum Ausgang aus der selbst verschuldeten Irrelevanz des qualitativen Ansatzes in der mittelfristig zu leistenden Auflösung eines völlig unsinnigen Fremd-, z. T. aber auch wieder Selbststereotyps. Es ist dies die Implikation, dass qualitative Forschung und quantitativ-statistische Auswertung nicht zusammenpassen, nicht zusammengehen" (2006a, Abs. 16). Diese integrative Zielidee ist in der aktuellen Literatur zur Sozialforschung zahlreich vertreten (exemplarisch FRÜH 2007, S. 67ff.; KELLE 2007; LETTAU & BREUER 2007; MAYRING 2003, S. 16ff.; MAYRING 2007; MERTEN 1995, S. 50ff.; D. M. MERTENS 2005; MILES & HUBERMAN 1994, S. 252ff.; PREIN, KELLE & KLUGE 1993, S. 55ff.; PUNCH 2005, S. 180ff., 193ff.). Nebst der Begründung einer angemessenen Auswertungsstrategie muss im Spannungsfeld zwischen Detaillierung und Abstraktion zusätzlich die keineswegs leichte Entscheidung nach der idealen Darstellung qualitativ empirischer Studien getroffen werden (TERHART 2003, S. 38f.). Es ist davon auszugehen, dass die Leser unterschiedliche Erwartungshaltungen an die Auswertung der Ergebnisse haben. Sie werden zu Recht verlangen, dass das Datenmaterial möglichst authentisch präsentiert wird. Gleichzeitig sollten die Daten so aufbereitet werden, dass eine übersichtliche und strukturierte Darstellung möglich wird. Der Auswertungsprozess als Scharnier zwischen den Daten und den Schlussfolgerungen muss zudem transparent gemacht werden, um die Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit der Ergebnisse weitestgehend zu ermöglichen. Obschon das problemzentrierte Rekonstruktionsinterview nicht nach einem zwingenden Auswertungsverfahren verlangt, so sind die Auswertungsphilosophie und die zur Anwendung kommenden Verfahren nur dann verständlich, wenn man diese im Zusammenhang mit den methodologischen Grundlagen der Datenerhebungssituation betrachtet, "in der be-
13 Strategie der Datenauswertung
271
reits für eine spätere systematische Auswertung entscheidende Interpretationsprozesse statt123 finden" (WITZEL 1996, S. 50). Allgemein formuliert stellt das dem Forschungsvorhaben zugrunde liegende wissenschaftliche Konzept einen Bezugspunkt dar, welcher bei der Dateninterpretation nicht zu Widersprüchlichkeiten führen darf (z. B. Grundannahmen über die Symmetrie zwischen dem Menschenbild des Wissenschaftlers und dem Menschenbild des Forschungsobjektes, Vorverständnis über das Konstrukt 'Sozialkompetenz' und dessen Ausdifferenzierung durch das Situationstypenmodell, Strukturparallelität von subjektiven und wissenschaftlichen Theorien, Expertenverständnis von Alltagsmenschen, normative Vorstellungen einer gleichberechtigt argumentativen Forschungskommunikation, Auffassung von Wirklichkeit als subjektiv konstruierte Realität). Damit rückt bei der Konzeptionierung einer Auswertungsstrategie wiederum die bereits diskutierte Thematik des Verhältnisses zwischen dem Vorwissen des Forschers (vgl. Abbildung 25, S. 189) sowie der Empirie im Form der Subjektiven Theorien der Erkenntnis-Objekte in den Vordergrund. Das unvermeidbare Vorwissen des Forschers soll auch im Datenauswertungsprozess als heuristischanalytischer Rahmen dienen (KELLE et al. 1993, S. 46), ohne dabei die spezifischen Relevanzsetzungen der Interviewpartner zu verdrängen oder zu überblenden. Zusammenfassend werden diese Überlegungen in Abbildung 35 als die vier wesentlichen Spannungsfelder der Auswertungsstrategie beschrieben.
123 Diese Aussage kann anhand eines einfachen Beispiels verdeutlicht werden: Wenn es darum gehen soll, die gewonnenen Daten über die Einzelfälle hinaus auszuwerten, verlangt dieses Vorhaben zwingend nach einer Verdichtung des Datenmaterials. Diese Aggregation führt unter anderem semantisch äquivalente Konzepte zusammen. Die forscherseitig zu treffende Entscheidung, welche Zeichen (Wörter, Satzteile, Sätze) letztlich als semantisch äquivalent aufzufassen sind, kann unter Umständen im Nachhinein Schwierigkeiten bereiten und folglich zu Verzerrungen führen (siehe hierzu WITZEL 1996, S. 53ff.). Deshalb wurde bereits während der Datenerhebung soweit möglich darauf geachtet, semantisch Vergleichbares mit denselben Begrifflichkeiten zu belegen. Dieser Entscheidungsprozess wurde gemeinsam mit dem Interviewpartner im Rahmen der kommunikativen Validierung durchlaufen (siehe hierzu später Kap. 13.5, S. 277).
272
Forschungsstrategie
Abbildung 35: Spannungsfelder der Auswertungsstrategie
Ermöglichung spezifischer Relevanzsetzungen der Erkenntnis-Objekte
Berücksichtigung methodologischer Grundlagen
Einbezug des Vorwissens als heuristisch-analytischer Rahmen
Detaillierung: Spezifität des Einzelfalls
Aussagenbereich der Ergebnisse
Abstraktion: über den Einzelfall hinaus
qualitativ
Methoden der Datenanalyse
quantitativ
authentisch und unverfälscht
transparente Darstellung der Daten und Analysen
übersichtlich und strukturiert
Angesichts der Forschungslage, des vorliegenden Gegenstandsbereichs sowie der Forschungsfragen erscheint es angemessen, ein eigenes Auswertungsverfahren zu entwickeln. Das anvisierte mehrperspektivische Verfahren versucht die in Abbildung 35 dargestellten Spannungsfelder konstruktiv zu verbinden, indem es Elemente verschiedener Methoden nutzt. Insofern könnte man auch von einer Triangulation der Auswertungsmethoden sprechen. Es kommen vorrangig deskriptiv-typologische Verfahren in Verbindung mit inferenz124 statistischen Auswertungsstrategien in Betracht, wie sie beispielsweise von zahlreichen Autoren vorgeschlagen werden (exemplarisch KELLE & KLUGE 1999/2008; KUCKARTZ 2007; MAROTZKI 1999, S. 118f.; MAYRING 2003, S. 53ff.; RUSTEMEYER 1992; WITZEL 1996; 2000, Abs. 19ff.). Für die vorliegende Untersuchung gilt es eine Besonderheit zu berücksichtigen: Die klassisch deskriptiv-typologischen Verfahren gehen von umfangreichem, kaum strukturiertem Textmaterial in Form von verschriftlichten Interviews aus (exemplarisch KELLE & KLUGE 1999/2008, S. 54; MAYRING 2003, S. 47; WITZEL 2000, Abs. 20). In dieser Arbeit bilden jedoch Strukturbilder in Form von segmentierten, schematisierten, abstrahierten und kommunikativvalidierten Daten das Ausgangsmaterial der Analyse. Deshalb müssen relevante Textstellen nicht mehr extrahiert und "zu einer prägnanten Aussage verdichtet werden" (WITZEL 2000, 125 Abs. 25), um diese dann ex post "im Auswertungsteam diskursiv" (Abs. 25) zu validieren. 124 In der Methodenliteratur werden die Bezeichnungen Inferenzstatistik, induktive oder schliessende Statistik häufig synonym verwendet. Allgemein sind damit Verfahren gemeint, welche den Rückschluss von einer Stichprobe auf die Grundgesamtheit zum Gegenstand haben. 125 Dieses Vorgehen entspricht nach dem hier vertretenen Verständnis einer monologischen Validierung (siehe Fn. 109, S. 245).
273
13 Strategie der Datenauswertung
Diese Verdichtung wurde bereits im Datenerhebungsprozess vorgenommen und mit dem direkt betroffenen Erkenntnis-Objekt kommunikativ validiert. 13.1
Übersicht über die Auswertungsstrategie
Bevor die zentralen Stationen des Auswertungsprozesses näher erläutert werden, soll hierzu ein Überblick gegeben werden (siehe Abbildung 36). Abbildung 36: Übersicht über die Auswertungsstrategie
Ausgangsmaterial (Daten) Essay ws
rvie
Inte
"Meine persönliche Theorie zur Gestaltung von Konfliktklärungsgesprächen”
Postskriptum
Strukturbilder der rekonstruierten Subjektiven Theorien
Aufzeichnungen der Interviewsitzungen
Aufsätze der Voruntersuchung
Postskriptum über die Interviewsituationen
1
2
3
4
Primärquelle
Sekundärquelle
nicht verwendet
Sekundärquelle
Idiographische Analyse
Nomothetische Analyse
Einzelfallanalyse
Fallübergreifende Inhaltsanalyse
Deskription der individuellen Subjektiven Theorie
Übersicht über die Auswertungseinheiten (formale Charakterisierung)
Beurteilung der individuellen Subjektiven Theorie
Subjektive Ausformung (inhaltliche Charakterisierung)
Forschungsfragen 1a und 2
Kontrastierung der interindividuellen Modellierung mit der Theorie der Klärungshilfe Entwicklung von Handlungsempfehlungen im Hinblick auf die Förderung der Konfliktklärungskompetenz Forschungsfrage 4
Forschungsfrage 1b
Modellierung der interindividuellen Theoriestruktur Entwicklung einer qualitativ-quantitativen Aggregationsprodezur als erweiternde Lösungsheuristik Darstellung der interindividuellen Konfliktklärungstheorie im Spannungsfeld zwischen Repräsentativität und Erklärungsgehalt Forschungsfrage 3
274
Forschungsstrategie
Die Abbildung 36 strukturiert den Aufbau des folgenden Kapitels. Zunächst wird in Kapitel 13.2 begründet, welches Datenmaterial zur Analyse herangezogen wird. Die anvisierte Auswertung verfolgt zwei unterschiedliche Perspektiven. Die idiographische Analyse fokussiert auf die Betrachtung von Einzelfällen im Sinne von Fallstudien (Kap. 13.3). Dasselbe Datenmaterial wird zudem einzelfallübergreifend ausgewertet und anschliessend zu einer interindividuellen Theoriestruktur aggregiert. Durch Kontrastierung dieser Theoriestruktur mit der Theorie der Klärungshilfe können Handlungsempfehlungen im Hinblick auf die Förderung der Konfliktklärungskompetenz entwickelt werden. Die Planung dieser nomothetischen Analyse ist Gegenstand de Kapitel 13.4 und 13.5. 13.2
Bestimmung des Ausgangsmaterials (Daten)
Bevor generell eine Datenauswertung geplant werden kann, "muss genau definiert werden, welches Material der Analyse zugrunde liegen soll" (MAYRING 2003, S. 47). Dieser Materialkorpus sollte während der Auswertung nicht mehr (unbegründet) erweitert oder verändert werden. Die potenzielle Materialbasis für die Auswertung bilden grundsätzlich: 1. die Strukturbilder der rekonstruierten Subjektiven Theorien (siehe exemplarisch Anhang 4.2, S. 505), 2. die Aufzeichnungen der Interviewsitzungen (siehe Kap. 11.7.4, S. 243), 3. die Aufsätze der Voruntersuchung (siehe Anhang 2.2, S. 476) sowie 4. das Postskriptum über die Interviewsituationen (siehe Kap. 11.7.4, S. 243) Aus Gültigkeitsüberlegungen werden ausschliesslich kommunikativ validierte Daten für eine nähere Analyse zugelassen (zur Begründung hierzu siehe Kapitel 12.1.2, 'keine monologisch validierten Daten', S. 263). Deshalb bilden die Strukturbilder (1) die Primärquelle sowohl für die idiographische als auch die nomothetische Datenauswertung. Die Aufzeichnungen der Interviews (2) haben ausschliesslich einen verdeutlichenden, illustrierenden Charakter. Aus denselben Überlegungen darf die Auswertung der Aufsätze (3) nicht ausserhalb des intendierten Zwecks verwendet werden. Das Postskriptum (4) kann Hinweise auf Rekonstruktionsphasen geben, welchen aufgrund von Auffälligkeiten besondere Beachtung geschenkt werden muss. 13.3
Einzelfallanalyse
In dem folgenden Abschnitt soll die Frage beantwortet werden, welche Funktion den einzelnen Fällen zukommt. Qualitative Verfahren wie erzählgenerierende Interviews, Leitfadeninterviews, Feldbeobachtungen etc. stützen sich auf Einzelfälle, deren Auswahl prinzipiengeleitet erfolgt (vgl. Kap. 8.2, S. 157). Bei der Auswertung der Daten können Einzelfälle zur Veranschaulichung, Konkretisierung oder Kontrastierung herangezogen werden. Fälle stehen stets in dem erwähnten Spannungsfeld von Besonderem und Allgemeinem. Sie sind in dem Sinne wertvoll, dass sie für das Einzelne stehen und damit Einsichten aus einer intraindividuellen Perspektive ermöglichen, welche im Allgemeinen nicht mehr erschliessbar sind. Gleichzeitig beruht das Allgemeine wiederum auf einzelnen Fällen. Ein Einzelfall wird erst dann zu einem Fall, wenn er auch unter der Perspektive des Allgemeinen, Übergreifenden, Allgemeingültigen ausgewählt und analysiert wird.
13 Strategie der Datenauswertung
275
Die Forschungslage und die damit verbundenen Forschungsfragen zum vorliegenden Gegenstandsbereich verlangen danach, (ausgewählte) Einzelbefunde in all ihren Facetten aus einer idiographischen Perspektive zu beschreiben. "Of course, any good qualitative study, no matter how theoretical, contains rich descriptive data: people's own written or spoken words, their artifacts, and their observable activities" (S. J. TAYLOR & BOGDAN 1998, S. 135). "Researchers attempt to give readers a feeling of 'walking in the informants shoes' – and seeing things form their point of view" (S. 135). Um die Daten gegenstandsangemessen zu behandeln, sollen die Fälle folglich das Eigentümliche, Individuelle dem Leser zugänglich machen und ihn damit an der Selbst- und Weltsicht des Erkenntnis-Objektes – an seinen Sinnwelten – teilhaben lassen. Eine (vor-)schnelle Abstrahierung würde die Vielfalt der Subjektiven Theorien verschleiern und die damit verbundenen Erkenntnisgewinne einschränken. Wenn sehr komplexe, vielschichtige Sachverhalte erfasst werden sollen, wie z. B. die Subjektperspektiven zu einem bestimmten Praxisausschnitt, kommt der Beschäftigung mit Einzelfällen als Studie, "die sich auf die detaillierte und ganzheitliche Analyse einer Einheit […] bezieht" (REINHOLD et al. 2000, S. 127), eine grosse Bedeutung zu. Deshalb sind in der vorliegenden Arbeit die Fälle mehr als nur eine Durchgangsstation der Analyse (siehe hierzu auch KRAIMER 2002, S. 215ff.). Ihnen kommt ein eigener Stellenwert zu – ohne dabei von dem Anspruch, nach Verallgemeinerungen zu suchen, abzurücken. Selbstverständlich ist es unmöglich, alle Fälle dokumentarisch abzubilden. Wenn es darum geht, dem Leser einen Eindruck über die Breite des gesamten Untersuchungsfeldes zu vermitteln, sollen in Bezug zur Allgemeinheit diejenigen Fälle in Betracht gezogen werden, welche die Variabilität der objektseitigen Verankerung repräsentieren. Obschon die Verbalisierungen der Einzelfälle für sich selbst sprechen, werden, der Empfehlung von LOHAUS (1983) folgend, über diese rein deskriptive Perspektive hinaus die Rekonstruktionen beurteilt. Um eine Beurteilung durchführen zu können, muss allerdings ein Bezugssystem vorhanden sein, "mit dem über die Adäquatheit von Teilaspekten der subjektiven Theorie entschieden werden kann" (S. 157). Dieses Bezugssystem bilden die Theorie der Klärungshilfe sowie der vorliegende Situationstyp. Die Hauptanalysekriterien zur Beurteilung der Rekonstruktionen bilden die Hauptkategorien des Situationstypenmodells. Die Beurteilung soll dabei nicht als wertend im Sinne von 'gut' oder 'schlecht' verstanden werden, sondern als mehr oder weniger stark abweichend von dem Bezugssystem. Ein anderes Bezugssystem würde zu anderen Aussagen führen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Einzelfallanalyse zwei wesentliche Zielsetzungen verfolgt: - Erstens zeigen die ausgewählten Fallrekonstruktionen in maximaler Detaillierung, welche Elemente die Subjektiven Theorien aufweisen und wie diese Elemente miteinander verknüpft sind, wodurch die Beantwortung der Forschungsfrage 1 aus einer idiographischen Perspektive möglich wird (siehe Kap. 8.1, S. 154). - Zweitens kann das Spannungsverhältnis zwischen den Subjektiven Theorien und der objektiv-wissenschaftlichen Modellierung aus einer idiographischen Perspektive analysiert werden. Damit kann die Forschungsfrage 2 beantwortet werden.
276 13.4
Forschungsstrategie
Fallübergreifende Inhaltsanalyse
Das Konzept der Subjektiven Theorien ist zweifelsfrei prädestiniert für eine idiographische Forschung, in welcher der Einzelfall beschrieben und analysiert wird. Ihr Gewinn, das Individuum und sein Handeln besser zu verstehen, wurde im vorangehenden Kapitel 13.3 betont. Allerdings interessiert in zahlreichen Disziplinen der angewandten Forschung wie beispielsweise für die Bereiche der Lehre, Ausbildung oder Therapie, aber auch auf dem Gebiet der Grundlagenforschung eine prinzipielle Ausrichtung auf überindividuelle Frageperspektiven (WAHL 1988a, S. 324). Dies ist in der vorliegenden Untersuchung nicht anders. Damit Antworten auf die Forschungsfragen 3 und 4 sowie auf die Forschungsfrage 1 aus einer interindividuellen Perspektive gefunden werden können (siehe Kap. 8.1, S. 154), muss die Datenauswertung über die Einzelfallanalyse hinausgehen. Diese Forderung stellt auch forschungsmethodologisch eine wichtige Zielperspektive bei der Erforschung Subjektiver Theorien dar (siehe hierzu exemplarisch GROEBEN 2006a; STÖSSEL & SCHEELE 1992, S. 333ff.). Allgemein wird unter der fallübergreifenden Inhaltsanalyse in Anlehnung an MAYRING (2003) ein Verfahren verstanden, welches sich durch folgende Spezifika kennzeichnet: - Gegenstand der Auswertung bilden sprachliche Repräsentationen, welche in einer fixierten Form vorliegen. - Die Analyse will systematisch vorgehen. Die Regelgeleitetheit soll die Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit des Analyseprozesses ermöglichen. - Das Datenmaterial wird zergliedert und kategorial schrittweise bearbeitet. Die Hauptkategorien werden theoriegeleitet entwickelt und anhand des empirischen Materials verdichtet. - Das systematische Vorgehen widerspiegelt sich auch darin, dass erkenntnisgeleitet vorgegangen wird. Die Auswertung "analysiert ihr Material unter einer ausgewiesenen Fragestellung; die Ergebnisse werden vom jeweiligen Theoriehintergrund her interpretiert, und auch die einzelnen Analyseschritte sind von theoretischen Überlegungen geleitet" (MAYRING 2003, S. 12). - Die Inhaltsanalyse ist eine schlussfolgernde Methode. Sie soll Einsichten in das Datenmaterial ermöglichen, welche im Rahmen einer Einzelanalyse nicht möglich sind. Dazu sind – vor dem Hintergrund der jeweiligen Fragestellungen – spezifische Verfahren einzusetzen. Die fallübergreifende, inhaltsanalytische Betrachtung geschieht entlang den Hauptkategorien des Situationstypenmodells, wie sie auch im Interviewleitfaden verwendet wurden. Damit wird zum einen die Vergleichbarkeit der einzelnen Interviews gewährleistet, und zum anderen dienen die Hauptkategorien als Grobstruktur zur Einwicklung des Kategoriensystems zwecks Quantifizierung der Daten (WITZEL 1996, S. 57). Zuerst wird ein Überblick über die 126 Subjektiven Theorien sowie die dazugehörigen Auswertungseinheiten gegeben. Darauf aufbauend werden die Auswertungseinheiten in einem zweiten Schritt einer vertieften inhaltlichen Analyse unterzogen, indem die subjektive Ausformung der jeweiligen Unterkategorien
126 Die Auswertungseinheiten sind deckungsgleich mit den Hauptkategorien, allerdings fallübergreifend. Der Begriff und die Funktion der Auswertungseinheiten werden in Kapitel 16.2.1 (S. 297) ausführlicher beschrieben.
13 Strategie der Datenauswertung
277
näher betrachtet wird. Im Folgenden werden diejenigen Strategien benannt, welche die Analyse- und Interpretationsprozesse zur Beantwortung der Forschungsfrage 1b unterstützen: - Die subjektiven Ausformungen der Theoriestrukturen sind möglichst detailliert zu dokumentieren und mittels Codierverfahren zu kategorisieren. - Zur Charakterisierung der formalen Gestalt der Subjektiven Theorien sollen durch Frequenzanalysen die Häufigkeiten der Merkmalsausprägungen dargestellt werden. Des Weiteren können im Rahmen deskriptiv-statistischer Auswertungsverfahren anhand von Masszahlen (z. B. Lage- und Streuungsparameter) die interindividuellen Verteilungen der Konzepte und Kategorien erfasst werden. - Die Prüfung der formalen Konkordanz der Strukturbilder kann anhand einer Homogenitätsanalyse realisiert werden. - Neben der Deskription der subjektiven Theoriestrukturen werden die Ergebnisse der Analysen miteinander in Beziehung gesetzt, um mögliche Erklärungsmuster für interessierende Zusammenhänge und Abhängigkeiten zu finden. Das Eruieren von Relationen geschieht mittels Kontingenzanalysen und Korrelationsmassen. Darüber hinaus sollen Hypothesen getestet werden, welche der Datenauswertungsprozess in den 'Schranken' der Forschungsfragen hervorbringt. - Die hypostasierten Muster und Zusammenhänge werden zusätzlich Inferenzanalysen unterzogen, um Aussagen über das Verhältnis zwischen der Stichprobe und der Grundgesamtheit tätigen zu können. Es genügt nicht, die Geltungsbegründung lediglich anhand der gewonnenen Einsichten aus der Befragtengruppe zu legitimieren. Mithin ist es denkbar, dass es sich bei den Erkenntnissen um Zufallsbefunde handelt und die Aussagen folglich als unzuverlässig zurückzuweisen sind. Das Ziel der Modellierung einer fallübergreifenden, interindividuellen Konfliktklärungstheorie (Forschungsfrage 3) sowie die hierzu in Frage kommenden Verfahrensweisen werden separat im nächsten Kapitel 13.5 thematisiert. 13.5
Modellierung der interindividuellen Theoriestruktur als Aggregation Subjektiver Theorien
Nach der inhaltsanalytischen Auswertung stellt sich anschliessend die Frage der überindividuellen Generalisierung. Eine über den Einzelfall hinausgehende aggregierende Perspektive könnte – zumindest vordergründig – als unmöglich taxiert werden, da eine Subjektive Theorie per se lediglich einem Individuum zugesprochen werden kann; "sie ist somit eine einzigartige Entität, von der niemand ernsthaft annehmen wird, dass sie – in ihrer Ganzheit als System untereinander verbundener Aussagen – identisch bei einer zweiten Person zu finden ist" (BIRKHAN 1987, S. 232). Eine einezelfallübergreifende, aggregierende Perspektive ist nur dann möglich, wenn die ganzheitliche Übereinstimmung zugunsten einer anteilsmässigen Identität überwunden werden kann. BIRKHAN (1987) spricht in diesem Fall von "Intersubjektiven Theorien" (1987, S. 233); häufiger wird der Begriff 'Modalstruktur' oder die allgemeine Bezeichnung 'interindividuelle Theoriestruktur' (SCHREIER 1997, S. 46) verwendet. Ihr Gültigkeitsbereich erweitert sich sodann auf eine bestimmte Menge von Erkenntnis-Objekten als Aggregat von Dispositionsträgern.
278
Forschungsstrategie 127
Die Aggregation Subjektiver Theorien setzt einerseits voraus, dass diese in einer Art und Weise rekonstruiert wurden, welche eine Vergleichbarkeit ermöglicht (siehe hierzu Kap. 10.1, S. 192) und andererseits muss das Aggregationsverfahren dem Gegenstandsbereich gerecht werden, denn die "Nomothetikorientierung darf nicht zu dem Versuch führen, im Prinzip unvergleichbare Subjektive Theorien zu intersubjektiven Modalstrukturen zusammenzufassen. Es muss schon eine strukturelle und inhaltliche Ähnlichkeit der individuellen Subjektiven Theorien gegeben sein, wenn sie sinnvoll zu einer übergreifenden Modalstruktur integrierbar sein sollen" (STÖSSEL & SCHEELE 1992, S. 342). Die Eignung der vorliegenden Strukturbilder zwecks Aggregation wird wie folgt beurteilt: - Die einheitliche Orientierung an den Hauptkategorien des Situationstypenmodells, wie sie auch im Interviewleitfaden verwendet werden, spricht für eine aggregierende Vergleichbarkeit des Datenmaterials. Zumindest auf diesem (hohen) Abstraktionsgrad fällt die Ähnlichkeitsdiagnose positiv aus. - Der Sprachgebrauch für die Bezeichnung von bestimmten Phänomenen wird bei den Interviewpartnern erwartungsgemäss unterschiedlich ausfallen. Auf die allgemeine Problematik der Ambiguität der Alltagssprache wurde bereits in Kapitel 9.2.2 (S. 166) im Rahmen der schriftlichen Befragungsmethodik eingegangen. Daher ist bereits während der Rekonstruktionsinterviews so weit wie möglich darauf zu achten, dass die verwendeten Begriffe mit denselben Bedeutungen belegt werden (Beispiel: Die Bezeichnung 'paraphrasieren' als inhaltliches Konzept soll nur dann verwendet werden, wenn sich der Forscher und der Interviewpartner auf dieselbe sprachliche Bedeutung konsensual einigen können. Ansonsten werden Bezeichnungen wie etwa 'zusammenfassen' oder 'Zwischenerklärung' verwendet). Ex post lassen sich solche Synonymitätsprobleme nur noch monologisch lösen, was zu zahlreichen Schwierigkeiten führen kann. Die Bemühungen um eine konsensuale Klärung sprachlicher Bedeutungsadäquanzen wird eine nachträgliche Aggregation erleichtern – zumindest auf inhaltlicher Ebene. - Erschwerend für die Aggregation ist die zu erwartende inhaltliche und strukturelle Komplexität und Differenziertheit der Subjektiven Theorien. Das Mass der strukturellen Aggregation der prozessualen Aspekte des Situationstyps wird im Hinblick auf deren Aussagekraft abzuwägen sein. Die grundsätzlichen Ideen und Möglichkeiten zur Aggregation Subjektiver Theorien sind in der Forschungsliteratur an verschiedenen Stellen diskutiert worden. Sie lassen sich im Wesentlichen in zwei grosse Klassen unterteilen (siehe Tabelle 17). Ein Verfahren wird tendenziell dann als 'qualitativ' eingestuft, wenn "die Kriterien für die Zusammenfassung nicht a priori festgelegt sind, sondern unter Rückbezug auf die Menge der individuellen Subjektiven Theorien gewonnen werden; qualitative Aggregierungsverfahren stellen also keinen inhaltsunabhängigen Algorithmus zur Verfügung, sondern sind in weiten Teilen interpretativ" (SCHREIER 1997, S. 47). Im Gegensatz dazu versuchen die eher quantitativ ausgerichteten An127 Unter 'Aggregation' wird ganz grundsätzlich die Vereinigung mehrerer individueller Subjektiver Theorien zu einer überindividuellen Subjektiven Theorie verstanden. Die Aggregation verlangt damit auch immer nach einer Datenreduktion und Abstraktion als Verfahren zur "Verarbeitung eines konkreten Erfahrungsmaterials nach bestimmten ausgewählten Merkmalen, Eigenschaften und Beziehungen zwischen diesen" (HILLMANN 2007, S. 3).
13 Strategie der Datenauswertung
279
sätze durch einen gegenstandsunabhängig festgelegten Algorithmus die Vereinigung der Subjektiven Theorien zu bewerkstelligen. Tabelle 17: Qualitative und quantitative Ansätze zur Aggregation Subjektiver Theorien
Verfahrensansätze qualitative Verfahren - Intraindividuelle Generierung von Makro- und Supermakrostrukturen (OBLIERS 2001; OBLIERS et al. 1998; OBLIERS & VOGEL 1992) - Generierung Intersubjektiver Theorien (BIRKHAN 1987) - Qualitativ-systematisches Aggregationsverfahren auf Inhalts- und Strukturebene (STÖSSEL & SCHEELE 1992) quantitative Verfahren - Generierung von Modalstrukturen basierend auf Netzwerkmodellen (OLDENBÜRGER 1981, 2005) übergreifend - Allgemeine Vorschläge zur Aggregation (SCHEELE et al. 1991; SCHREIER 1997) Die Aggregation Subjektiver Theorien ist mit zahlreichen Schwierigkeiten behaftet. Der Vergleich dieser potenziellen Ansätze macht dies deutlich: Keines der Verfahren stellt den Königsweg dar – sie alle weisen spezifische Stärken und Schwächen auf, welche abhängig von dem Gegenstandsbereich und insbesondere von dem forschungsleitenden Erkenntnisinteresse unterschiedlich stark ins Gewicht fallen. Eine generelle Schwierigkeit nomothetisch aggregierender Analysen ist darin zu sehen, dass von den individuellen Daten abstrahiert werden muss und diese folglich so weit zu reduzieren sind, dass eine Vergleichbarkeit möglich wird. Diese Herausforderung wird insbesondere deutlich in der idiographischen "Differenziertheit und Komplexität der individuellen Subjektiven Theorien (und deren nichtreduktionistische Rekonstruktion)" (STÖSSEL & SCHEELE 1992, S. 337), wobei sich die Reduktion nicht nur auf die inhaltlichen Konzepte, sondern zusätzlich auch auf die sie verbindenden Relationen als konstitutives Merkmal Subjektiver Theorien beziehen sollte. Während bei fallübergreifenden Inhaltsanalysen primär inhaltliche Aspekte von Interesse sind (vgl. Kap. 13.4), dürfen bei der Entwicklung von interindividuellen Theoriestrukturen die strukturellen Aspekte nicht vernachlässigt werden. Immerhin werden im Rahmen des problemzentrierten Interviews erhebliche Anstrengungen – insbesondere auch von Seiten der Interviewpartner – unternommen, um neben den inhaltlichen Konzepten des Situationstyps auch die Prozessstrukturen der Phasengestaltung zu rekonstruieren. Eine interindividuelle Theoriestruktur, welche diese strukturellen Aspekte nicht mitberücksichtigt, müsste sich zu Recht den Vorwurf gefallen lassen, für die Kategorie 'Phasen' gegenstandsunangemessen zu sein. Bei der Konzipierung einer interindividuellen Subjektiven Theorie ist folgerichtig eine inhaltliche und eine strukturelle Integration vorzunehmen (STÖSSEL & SCHEELE 1992, S. 337). Hier greifen die klassischen inhaltsanalytischen Verfahren allerdings zu kurz. Aufgrund fehlender, strukturorientierter Integrationsprozeduren können sie keine befriedigenden Antworten darauf geben, wie mit der strukturellen Varianz der Strukturbilder verfahren werden soll.
280
Forschungsstrategie
Die in Tabelle 17 aufgeführten Ansätze stellen hierfür mögliche Lösungsheuristiken bereit. Wie bereits erwähnt, sind für die Konzipierung einer Aggregationsstrategie das vorliegende Datenmaterial und die aufgeworfenen Fragestellungen entscheidend. Die Eignungsprüfung dieser Verfahren für die vorliegende Untersuchung erfolgt unter diesem Gesichtspunkt: Der Ansatz von OBLIERS et al. zur intraindividuellen Generierung von Makro- und Supermakrostrukturen erweist sich für die vorliegende Untersuchung als ungünstig. Da es sich um eine intraindividuelle Aggregation handelt, verbleibt dieses Verfahren letztlich im idiographischen Bereich "und kann daher nur begrenzt für eine nomothetische Auswertung nutzbar gemacht werden" (SCHREIER 1997, S. 48). Das quantitative Verfahren von OLDENBÜRGER wurde für eine ganz bestimmte Form von Subjektiven Theorien konzipiert, nämlich Netzwerke. Die damit verbundenen Eigenheiten lassen sich kaum auf Subjektive Theorien zur Konfliktklärung übertragen. Bei der Netzwerkrepräsentation bleibt beispielsweise der Standort von Konzepten bzw. Konzeptkombinationen im Sinne einer zeitlichen Sequenzierung unberücksichtigt. Ein zweites, nicht zu unterschätzendes Problemfeld zeigt sich dahingehend, dass gegenstandsunabhängig festgelegte Algorithmen zu einer Inhaltsleere bei den interindividuellen Theoriestrukturen führen können. Solche sind kaum brauchbar, da (fast) keine erkenntnisgenerierenden Aussagen gewonnen werden können. Dies gilt jedoch nicht nur für den Netzwerkansatz, sondern wurde gleichermassen für das Verfahren von BIRKHAN kritisch diskutiert (1987, S. 243f.). Eine Möglichkeit, diesen Schwierigkeiten konstruktiv zu begegnen, zeigen STÖSSEL UND SCHEELE (1992), indem sie die interindividuelle Theoriestruktur nicht auf der Basis sämtlicher individuellen Subjektiven Theorien in einem Schritt entwickeln, sondern durch Zwischenschritte Subgruppen identifizieren und diese dann sequenzweise aggregieren. Neben den in Tabelle 17 (S. 279) vorgestellten Verfahren sind noch weitere, generelle 128 Strategien zur Typenbildung zu beachten, wie z. B: die Faktorenanalyse, Clusteranalyse oder Latent-Class-Analyse als Vertreter quantitativ-statistischer Verfahren, das fallkontrastierende Vorgehen der Grounded Theory (siehe exemplarisch KELLE & KLUGE 1999/2008, S. 75) oder das Konzept des Idealtypus von WEBER (1988). Der Idealtypus "ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen. […] Er ist keine Hypothese, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen" (S. 190). Die Aussagen WEBERS verweisen auf zwei Funktionen der Typenbildung: Der Idealtypus übernimmt eine deskriptive Funktion durch das Schaffen von Ordnung und Struktur. Zudem beinhaltet die Typenbildung eine heuristische Funktion, indem sie auf Muster und Zusammenhänge im Material verweist, abstrahierend Teile zu einem Ganzen werden lässt und damit die Richtung zur Generierung von interindividuellen Subjektiven Theorien vorantreibt. Die konkrete Ausgestaltung der Typenbildung als interindividuelle Theoriestruktur, welche die genannten Funktionen erfüllen kann, muss vorerst noch offen bleiben. Aus den Über128 Zu den unterschiedlich akzentuierten Typenbegriffen siehe ausführlich KLUGE (1999, S. 25ff.). Der gemeinsame Kern dieser Differenzierungen ist darin zu sehen, dass abhängig von den jeweiligen Erkenntnisinteressen ein Typ über die bewusst gewählte Kombination spezifischer Merkmale entwickelt wird. In Anlehnung an MITTELSTRASS (1996) werden sie so gebildet, "dass Einzelgegenstände nicht entweder unter sie fallen oder nicht unter sie fallen, sondern diesen mehr oder weniger entsprechen" (S. 363). Es sind diejenigen Gegenstände zu einem Typus zusammenzufassen, welche bezüglich bestimmter Merkmalsausprägungen ähnlicher sind als andere Gegenstände.
13 Strategie der Datenauswertung
281
legungen wird deutlich, dass ein auf den vorliegenden Gegenstandsbereich zugeschnittenes, individuelles Aggregationsverfahren festgelegt werden muss. Dieses soll an bereits bekannte kodifizierte Verfahren anschlussfähig sein und im Idealfall erweiternde Lösungsheuristiken für die methodologischen Aggregationsschwierigkeiten bereitstellen. Es erscheint erstrebenswert, neben den bereits dargestellten Weiterentwicklungen bezüglich Datenerhebung auch einen aggregationsmethodischen Beitrag an das Forschungsprogramm Subjektiver Theorien leisten zu können. Zusammenfassend besteht das Ziel darin, eine interindividuelle Konfliktklärungstheorie zu modellieren, welche eine maximale Repräsentativität bezüglich der Zielgruppe aufweist (Forschungsfrage 3). Diese aggregierte Theoriestruktur bildet das Ausgangsmaterial für die Beantwortung der Forschungsfrage 4. Durch Kontrastierung mit der Theorie der Klärungshilfe sind die Spannungsverhältnisse zwischen den beiden Theoriekonzeptionen herauszuarbeiten und abschliessend Handlungsempfehlungen im Hinblick auf die Förderung der Konfliktklärungskompetenz zu entwickeln. 13.6
Zur Darstellung der Ergebnisse der empirischen Untersuchung
In Anbetracht der vorherigen Ausführungen wird für die Präsentation der Ergebnisse der folgende Weg gewählt: Zuerst wird der Darstellung von (ausgewählten) Einzelfällen in Kapitel 17 ein breiter Raum gewidmet. Wie bereits erwähnt, könnten die Forschungsfragen nicht beantwortet werden, wenn auf Aussagen verzichtet würde, welche über den Einzelfall hinausgehen. In Kapitel 18 wird der fallübergreifende, inhaltsanalytische Zugang dargestellt. Die Auswertung der Hauptkategorien wird ein Gesamtbild über die 23 Rekonstruktionen ermöglichen. Zur Vermeidung einer unbegründeten Generalisierung wird, basierend auf den vorhergehenden Analysen, in Kapitel 19 geprüft, inwiefern sich, ausgehend von den Subjektiven Theorien der Zielgruppe, verdichtend eine interindividuelle Theoriestruktur konstruieren lässt. Die folgende Tabelle 18 gibt zusammenfassend einen Überblick, in welchen Kapiteln welche Forschungsfragen (siehe Kap. 8.1, S. 154) beantwortet werden.
282
Forschungsstrategie
Tabelle 18: Übersicht über die Darstellung der Forschungsfragen
Forschungsfragen
Kapitel
Frage 1: Welche Elemente weisen die Subjektiven Theorien für den Situationstyp 'Konfliktklärung' bei der Zielgruppe auf? 1a: Intraindividuelle Perspektive: 1b: Interindividuelle Perspektive
Kap. 17, S. 312 Kap. 18, S. 364
Frage 2: In welchem Spannungsverhältnis stehen die intraindividuellen, objektseitigen Verankerungen des Situationstyps im Vergleich zur Theorie der Klärungshilfe? Frage 3: Inwiefern ist es möglich, eine einzelfallübergreifende, 'interindividuelle Konfliktklärungstheorie' zu modellieren? Frage 4: In welchem Spannungsverhältnis steht eine 'interindividuelle Konfliktklärungstheorie' mit der 'objektiv-wissenschaftlichen' Modellierung, und welche (inhaltlichen) Handlungsempfehlungen lassen sich im Hinblick auf die Förderung der Konfliktklärungskompetenz durch diese Kontrastierung ableiten?
14
Kap. 17, S. 312
Kap. 19, S. 409
Kap. 21.2, S. 452 Kap. 22, S. 457
Zusammenfassung
Im Teil 3 wurde die Forschungsstrategie dargestellt und begründet. Ausgehend von den Vorverständnissen über den Gegenstandsbereich, dessen Forschungsstand sowie dem persönlichen Erkenntnisinteresse, wurden die Forschungsfragen präzisiert. Die Arbeit verfolgt das Ziel, Subjektive Theorien über den Situationstyp 'Konfliktklärung' bei Studierenden der Universität St. Gallen auf der Bachelorstufe zu rekonstruieren. Es ist zu explorieren, inwieweit dieser Situationstyp objektseitig verankert ist und welche Hinweise darauf aufbauend gefunden werden können, wie die erfolgreiche Bewältigung dieses Situationstyps zielgruppenorientiert gefördert werden kann. Nach der Bestimmung des Untersuchungsfeldes wurden für die vornehmlich qualitativ ausgestaltete Untersuchung die notwendigen Rekonstruktionsinstrumente entwickelt. Hierzu galt es zu begründen, weshalb eine aussensichtfundierte Methodik abzulehnen ist und unter welchen Bedingungen der Zugang mithilfe einer innensichtfundierten Methodik erfolgversprechend erscheint. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die innensichtfundierte Methodik im Gegensatz zu klassisch experimentellen Erhebungsverfahren auf dem Rationalitäs- und Reflexionspotenzial sowie der Kommunikationsfähigkeit des Erkenntnis-Objektes
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Forschungsstrategie
Tabelle 18: Übersicht über die Darstellung der Forschungsfragen
Forschungsfragen
Kapitel
Frage 1: Welche Elemente weisen die Subjektiven Theorien für den Situationstyp 'Konfliktklärung' bei der Zielgruppe auf? 1a: Intraindividuelle Perspektive: 1b: Interindividuelle Perspektive
Kap. 17, S. 312 Kap. 18, S. 364
Frage 2: In welchem Spannungsverhältnis stehen die intraindividuellen, objektseitigen Verankerungen des Situationstyps im Vergleich zur Theorie der Klärungshilfe? Frage 3: Inwiefern ist es möglich, eine einzelfallübergreifende, 'interindividuelle Konfliktklärungstheorie' zu modellieren? Frage 4: In welchem Spannungsverhältnis steht eine 'interindividuelle Konfliktklärungstheorie' mit der 'objektiv-wissenschaftlichen' Modellierung, und welche (inhaltlichen) Handlungsempfehlungen lassen sich im Hinblick auf die Förderung der Konfliktklärungskompetenz durch diese Kontrastierung ableiten?
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Kap. 17, S. 312
Kap. 19, S. 409
Kap. 21.2, S. 452 Kap. 22, S. 457
Zusammenfassung
Im Teil 3 wurde die Forschungsstrategie dargestellt und begründet. Ausgehend von den Vorverständnissen über den Gegenstandsbereich, dessen Forschungsstand sowie dem persönlichen Erkenntnisinteresse, wurden die Forschungsfragen präzisiert. Die Arbeit verfolgt das Ziel, Subjektive Theorien über den Situationstyp 'Konfliktklärung' bei Studierenden der Universität St. Gallen auf der Bachelorstufe zu rekonstruieren. Es ist zu explorieren, inwieweit dieser Situationstyp objektseitig verankert ist und welche Hinweise darauf aufbauend gefunden werden können, wie die erfolgreiche Bewältigung dieses Situationstyps zielgruppenorientiert gefördert werden kann. Nach der Bestimmung des Untersuchungsfeldes wurden für die vornehmlich qualitativ ausgestaltete Untersuchung die notwendigen Rekonstruktionsinstrumente entwickelt. Hierzu galt es zu begründen, weshalb eine aussensichtfundierte Methodik abzulehnen ist und unter welchen Bedingungen der Zugang mithilfe einer innensichtfundierten Methodik erfolgversprechend erscheint. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die innensichtfundierte Methodik im Gegensatz zu klassisch experimentellen Erhebungsverfahren auf dem Rationalitäs- und Reflexionspotenzial sowie der Kommunikationsfähigkeit des Erkenntnis-Objektes
14 Zusammenfassung
283
aufbaut. Zur Klärung potenzieller Dissonanzen zwischen der Selbst- und Weltsicht des Erkenntnis-Objektes und der des Erkenntnis-Subjektes bezüglich des Gegenstandsbereichs muss eine Gesprächssituation geschaffen werden, welche eine gleichberechtigt argumentative Forschungskommunikation erlaubt. Diesem Ansatz liegt die Vorstellung zugrunde, dass eine soziale Wirklichkeit nicht ausserhalb des Handelns der Individuen 'existiert', sondern jeweils durch kommunikative Interaktionen konstruiert wird. Damit wird soziale Wirklichkeit nicht zu etwas Statischem, sondern zeigt sich in einer prozessgebundenen Form, welche prinzipiell in jeder Interaktionssituation aufs Neue aktualisiert, ausgehandelt – eben konstruiert wird. Zur Annäherung an eine 'ideale Interviewsituation' wurden Regeln ausgewiesen, welche in ein Rahmenmodell zwecks Bestimmung der Rekonstruktionsinstrumente überführt wurden. Dieses Instrumentarium wird als problemzentriertes Rekonstruktionsinterview bezeichnet. Damit wurde ein Verfahren vorgestellt, welches das problemzentrierte Interview nach WITZEL als Grundlage nutzt und dieses aufgrund von theoretischen Überlegungen mit Elementen des Erzählgenerierenden Interviews sowie einer erweiterten Form der Flussdiagramm-Darstellung ergänzt. Zur Umsetzung einer möglichst vollständigen, unverzerrten und stabilen Erfassung Subjektiver Theorien sind zwei Postulate zielführend: (1) Die rekonstruierende Erhebung geht von den spontanen Verbalisierungen des Erkenntnis-Objektes aus und versucht, die inhaltlichen und strukturellen Komponenten der teilweise impliziten Subjektiven Theorien mittels Diskurs zu präzisieren und zu stabilisieren. (2) Damit die Verbalisierungen der Subjektiven Theorien als Basis für wissenschaftliche Beschreibungen nutzbar sind, gilt es, die Alltagssprache konsensual in eine strukturierte, wissenschaftssprachliche Ausdrucksform zu überführen, welche sowohl für das Erkenntnis-Objekt als auch für das Erkenntnis-Subjekt als akzeptierbar gelten kann. Die Flussdiagramm-Darstellung stellt das Instrument für diese Transformationsarbeit dar. Die alltagsweltliche Kommunikation wird somit nicht als Gegensatz zu einer wissenschaftlichen Kommunikation gesehen, sondern fungiert als deren Grundlage (SCHÜTZE et al. 1973, S. 434). Die partielle Veränderung des Erkenntnisgegenstandes stellt eine durchaus intendierte Konsequenz dar. Die approximativ deckungsgleichen Rekonstruktionen als Produkt der diskursiven Auseinandersetzung bilden die Datengrundlage für die Beantwortung der Forschungsfragen. Die hierfür angesetzte Auswertungsstrategie umfasst zunächst Einzelfallanalysen. Den Einzelfällen kommt ein eigener Stellenwert zu, um die Variabilität der objektseitigen Verankerungen zu verdeutlichen. Diese rein deskriptive Perspektive wird durch die Beurteilung der Rekonstruktionen ergänzt. Als Bezugsrahmen dienen die Theorie der Klärungshilfe sowie der vorliegende Situationstyp. Neben dieser idiographischen Sichtweise will die überindividuelle Frageperspektive eine Gesamtbetrachtung der Rekonstruktionen ermöglichen. Entlang den Hauptkategorien des Situationstypenmodells sind die subjektiven Ausformungen mittels Codierverfahren zu kategorisieren. Die überindividuelle Generalisierung geschieht primär mithilfe von Frequenz-, Homogenitäts-, Kontingenz- sowie Inferenzanalysen. Die Verdichtung dieser Ergebnisse strebt die Modellierung einer interindividuellen Konfliktklärungstheorie an, welche eine maximale Repräsentativität bezüglich der Zielgruppe aufweist. Für die Untersuchung werden klare Gütekriterien ausgewiesen und begründet. Diese Kriterien gelten als verbürgende Kraft für die Qualität des Leistbaren. Mit der Erfüllung des
284
Forschungsstrategie
interpretativen und intersubjektiven Verstehens wird durch das dialogkonsenstheoretische Wahrheitskriterium nicht nur der Geltungsanspruch der Verständlichkeit eingelöst, sondern gleichzeitig sichergestellt, dass das, was das Erkenntnis-Objekt als rekonstruktionsadäquat akzeptiert hat, auch dem entspricht, was es denkt und fühlt. Die Unterstellung des Geltungsanspruchs der 'Wahrhaftikgeit' ist notwendig, weil der Forscher die Grenze der Innensicht von aussen nicht überschreiten kann. Er selbst kann die Übereinstimmung zwischen Bericht und den berichteten internalen Ereignissen nicht von aussen beobachten. In dieser "natürlichen Begrenzung" (SCHEELE 1988, S. 138) bleibt dem Erkenntnis-Subjekt nur die Möglichkeit, Bedingungen auszuweisen, unter denen eine valide und zuverlässige Rekonstruktion unterstellt werden darf. Damit ist das Leistbare der Forschungsstrategie verdeutlicht – mithin jedoch auch ihre Beschränkung. Die Grenze der geforderten Rekonstruktionsadäquanz kann mit einer kritischen Frage auf den Punkt gebracht werden: Kann es 'wahre' Aussagen geben, welche nicht 'richtig' sind? Diese Frage muss – vor dem Hintergrund des hier vertretenen Wahrheitsverständnisses – mit 'Ja' beantwortet werden. Diese Situation tritt dann ein, wenn das Aussagesystem verständlich ist, die Rekonstruktion als 'wahr' eingelöst werden kann, diese jedoch nicht oder nur teilweise dem tatsächlichen Handeln entspricht. Die Richtigkeit gehört nicht in die Dimension des Diskurses und ist streng genommen nicht kommunikativ, sondern nur explanativ validierbar. Die Richtigkeit der Aussagen kann lediglich vermutet, jedoch nicht behauptet werden.
Teil IV Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Dieser Teil der Arbeit zeigt die Durchführung der empirischen Untersuchung und die anschliessende Analyse der gewonnenen Daten. Das Ziel besteht erstens darin, dem Leser einen praktischen Einblick zu ermöglichen, wie die Untersuchung vor Ort realisiert wurde. Dabei werden nicht alle Feinheiten so weit wie möglich, sondern so weit wie nötig beschrieben, um eine nachvollziehbare Transparenz zu gewährleisten. Zweitens sollen nicht nur die Ergebnisse und deren Interpretation vorgestellt werden, sondern auch der zugrunde liegende Prozess der Auswertung. Der Datenanalyse wird grundsätzlich dieselbe Bedeutung wie der Darstellung der Ergebnisse zugewiesen. Zudem ist zu zeigen, wie die Daten schrittweise aufbereitet werden, um diese einer zielgerichteten Auswertung zugänglich zu machen. Das Kapitel 15 gibt zunächst einen zeitlichen Überblick über die Vor- und Hauptuntersuchung; wann mit welchen Instrumenten welche Daten erhoben wurden. Im Anschluss wird die Durchführung der empirischen Untersuchung beschrieben. Das Kapitel 16 zeigt, wie die Daten schrittweise für die idiographische und nomothetische Analyse aufbereitet wurden. In den Kapiteln 17 bis 19 werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchung vorgestellt und deren Auswertung aufgezeigt. 15
Durchführung der Untersuchung
15.1
Zeitlicher Überblick über die Vor- und Hauptuntersuchung
Bevor die Durchführung der Rekonstruktionsinterviews näher erläutert wird, soll ein zeitlicher Überblick gegeben werden, wann mit welchen Instrumenten welche Daten erhoben wurden. Die Abbildung 37 stellt die zeitliche Entwicklung der Instrumente und deren Einbettung im Datenerhebungsprozess schematisch dar. Dieser Übersicht ist zu entnehmen, dass sich die Datenerhebung über drei Semester erstreckte, wobei die ersten beiden Semester für die Voruntersuchung und das dritte Semester für die Hauptuntersuchung genutzt wurden.
286
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Abbildung 37: Entwicklung der Instrumente und Datenerhebung im zeitlichen Überblick
Datenerhebung I: Aufsatzmethode
N=15
Datenerhebung II: Aufsatzmethode
N=17
Erprobungen: Interviewsituation/Instrumente
Konzipierung Interviewinstruktion, Interventionsformen, erweiterte Flussdiagramm-Darstellung, Strukturlegeleitfaden Ausdifferenzierung Interviewleitfaden
Ausdifferenzierung Interviewleitfaden
N=4
N=23
Datenerhebung III: Rekonstruktionsinterviews
N=23
Plenumsveranstaltung X
Datenaufbereitung/ Auswertung
1 2 3 4 5 6 7 8 9 101112131415 1 2 3 4 5 6 7 8 9 1011121314 1 2 3 4 5 6 7 8 9 101112131415 Wochen WS 05/06 SS 06 WS 06/07 24. Okt. 2005 – 05. Febr. 2006 03. April 2006 – 09. Juli 2006 23. Okt. 2006 – 05. Febr. 2007 Legende:
Seminarveranstaltungen
Voruntersuchung
Hauptuntersuchung
X Finalisierung der Instrumente
Die Voruntersuchung fand im Wintersemester 2005/06 sowie im Sommersemester 2006 statt. Die ersten beiden Datenerhebungen wurden in je einer Seminargruppe ca. vier Wochen vor Seminarbeginn anhand der Aufsatzmethode durchgeführt. Wie bereits erwähnt, bestand das Ziel darin, erste Vermutungen über die objektseitige Verankerung betreffend den Situationstyp zu gewinnen. Die inhaltsanalytische Auswertung der 32 Aufsätze diente der Ausdifferenzierung des Interviewleitfadens. Damit konnten in Ergänzung zur theoriegeleiteten Konstruktion Hinweise über mögliche Unterkategorien und Merkmalsausprägungen ge129 wonnen werden, welche für die Zielgruppe bedeutsam sind (siehe Anhang 2.2, S. 476). Die Hauptuntersuchung wurde im Wintersemester 2006/07 durchgeführt. Nach der Erprobung der Instrumente sowie der Interviewsituation wurden die bereits beschriebenen Anpassungen vorgenommen (vgl. Kap. 11.7, S. 231). Die Probeinterviews fanden an vier Nachmittagen statt und dauerten (ohne Auswertungsgespräch) im Durchschnitt etwas mehr als dreieinhalb Stunden, wodurch die zeitliche Organisation der bevorstehenden Datenerhebung definitiv festgelegt werden konnte. Die Plenumsveranstaltung eröffnete die Hauptuntersuchung im engeren Sinne (siehe Kap. 15.2). Dabei wurde die Zielgruppe über die be-
129 Die ursprüngliche Zielidee, anhand der Aufsatzmethode Subjektive Theorien rekonstruieren zu können, wurde aufgrund von zwei Überlegungen nicht weiterverfolgt: Die erste Argumentationslinie thematisiert die Problematik aus erkenntnistheoretischer Perspektive. Darauf wurde bereits hingewiesen. Die Rekonstruktion Subjektiver Theorien mittels Aufsatzmethode gerät aufgrund ihrer Monologizität in Konflikt mit der dialogischen Hermeneutik und damit verbunden mit dem Menschenbild des Erkenntnis-Objektes (vgl. hierzu Fn. 116, S. 263). Die zweite Begründung ist gegenstandsimmanent. Subjektive Theorien weisen teilweise lediglich einen impliziten Status auf, weshalb zu deren Rekonstruktion Explizierungshilfen anzubieten sind. Diese Möglichkeit besteht bei der Aufsatzmethode naturgemäss nicht. Die inhaltsanalytische Auswertung der Daten zeigte deutlich, dass die Zielvorstellung der Rekonstruktion in Richtung maximaler Tiefe und Breite der Aussagen mit der Aufsatzmethode – im Vergleich zu dem vorgeschlagenen dialogischen Rekonstruktionsverfahren – nicht in genügendem Masse erreicht werden konnte.
15 Durchführung der Untersuchung
287
vorstehende Untersuchung so ausführlich wie nötig informiert. Die Gewährleistung einer maximalen Transparenz wird als wesentliches Teilkriterium der Glaubwürdigkeit der zu erhebenden Daten betrachtet (vgl. Kap. 12.1.1, S. 260). Rund eine Woche später begann die Phase der Datenerhebung mithilfe des problemzentrierten Rekonstruktionsinterviews (siehe Kap. 15.3). Die 23 Interviewsitzungen wurden auf drei Wochen verteilt, sodass pro Tag zwei Gespräche stattfinden konnten. Die durchschnittliche Gesprächsdauer lag (ohne Pause) bei 209 Minuten, was für die gesamte Untersuchung eine Netto-Interviewzeit von etwas mehr als 80 Stunden ergibt. 15.2
Eröffnungsveranstaltung
Die Eröffnungsveranstaltung diente einerseits dazu, die terminliche Organisation zu regeln, und andererseits sollte die notwendige Transparenz für die anstehenden Sitzungen geschaffen werden. Dabei ging es insbesondere darum, die Hintergründe der Untersuchung, das Interviewverfahren und dessen Zielsetzungen sowie die allgemeinen Rahmenbedingungen zu verdeutlichen. Die Studierenden wurden zudem ausführlich über das sechsseitige Regelsystem der Struktur-Lege-Technik informiert und beauftragt, sich vor der ersten Sitzung mit dem Strukturlegeleitfaden intensiv auseinanderzusetzen (siehe Anhang 3.3, S. 489). Sie sollten sich bereits vor der ersten Sitzung mit den Symbolen und Formalbeziehungen vertraut machen. Zudem bestand die Möglichkeit, allfällige Hindernisse, Unsicherheiten oder Unklarheiten zu klären (dieses Angebot hatte auch nach dieser Plenumsveranstaltung seine Gültigkeit). Ob bereits vor einer ersten Arbeitssitzung konkrete thematische Aktualisierungsanregungen und -instruktionen gegeben werden sollten, ist nach dem Grundsatz, "so viel Explizierungsunterstützung wie nötig, so wenig Belastung wie möglich" (SCHEELE 1988, S. 147) kasuistisch zu entscheiden. Mit der Aufforderung, innerhalb des Situationstyps über bestimmte Situationen 'nachzudenken' oder konkrete Ereignisse zu 'erinnern', ist nicht auszuschliessen, dass die Interviewpartner eventuell überfordert oder verunsichert wären. Dies könnte dazu führen, dass sie im Vorfeld der Sitzung aktiv Informationen einholen, sich auf die Erzählthematik vorbereiten und überlegen, was sie in etwa sagen wollen oder sogar konkrete Formulierungen einüben. Damit setzen sich die Erkenntnis-Objekte unter Umständen einem 'Leistungsdruck' aus, welcher sich kontraproduktiv auf die Gesprächssituation auswirken kann (SCHÜTZE 1987, S. 237). Die Gefahr, dass Aktualisierungsinstruktionen vor der ersten Sitzung zu Bewertungserwartungen, Unsicherheiten, unnötigen Belastungen und letztlich zu einem Vertrauensabbau führen, wurde höher eingeschätzt als ihr potenzieller Nutzen. Deshalb wurden die Studierenden während der Plenumsveranstaltung nicht über den Situationstyp informiert. Sie wussten lediglich, dass das bevorstehende Gespräch das Thema 'Konflikte' umfasste. Die Vorabinformation verfolgte zusammenfassend vier Zielsetzungen: Sinngebung, fachliche Instruktion, Vertrauensbildung sowie Entwicklung einer realistischen Erwartungshaltung bei der Zielgruppe.
288
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
15.3
Rekonstruktionsinterviews
15.3.1
Intervieweröffnung
Die Interviewinstruktion diente dazu, eine "fruchtbare Gesprächsatmosphäre" (HERMANNS 2005, S. 361) zu schaffen. Die Gesprächseröffnung orientierte sich, wie in Abbildung 30 (S. 232) dargestellt, an den Strukturelementen der TZI (siehe auch Anhang 3.1, S. 477). Nach einer kurzen Begrüssung stellte sich der Forscher dem Interviewpartner nochmals vor (die erste 'flüchtige' Begegnung fand bereits in der gemeinsamen Plenumsveranstaltung statt). Dem Erkenntnis-Objekt wurde erläutert, weshalb der Forscher das Interview durchführt, welche Zielsetzungen und Nicht-Zielsetzungen verfolgt werden, welche Erwartungen er mitbringt und wie er seine Rolle während des Gesprächs definiert. Daraufhin wurden die Inhalte des Interviews präzisiert: Der Forscher erklärte den Situationstyp und erläuterte, inwiefern sich dieser zu 'ähnlichen' Situationstypen abgrenzt. Als Visualisierungshilfe wurde im Raum eine schematische Darstellung aufgehängt (siehe Anhang 3.1, S. 478). Nach der Klärung inhaltlicher Verständnisschwierigkeiten hatte der Interviewpartner für den Situationstyp eine aus seiner Sicht passende Bezeichnung zu wählen. Im nächsten Schritt waren die Grundvoraussetzungen der Person des Interviewten zu klären. Es sollte in Erfahrung gebracht werden, welche Erwartungen das Erkenntnis-Objekt mitbringt, wie es seine Rolle definiert und welcher potenzielle Nutzen dem Interview zugeschrieben wird. Auch an dieser Stelle konnten allfällige Dissonanzen zwischen Forscher und Beforschtem diskutiert werden. Der nächste Teil der Intervieweröffnung thematisierte das Interviewverfahren im engeren Sinne. Zuerst wurde der Ablauf grob erklärt und anschliessend die einzelnen Interventionsformen und ihre Funktionen im Detail vorgestellt. Danach stand die Frage im Zentrum, ob die Studierenden das Regelsystem und die Sinnbilder der erweiterten Flussdiagrammdarstellung verstanden hatten. Um einer unnötigen Abwehrhaltung vorzubeugen, wurde während der Instruktion eine Hilfeleistung bezüglich des bevorstehenden Legens der Strukturen zugesichert; dies jedoch gleichzeitig mit der Bitte, auch dort, wo es anstrengend und 'mühsam' werden könnte, konzentriert zu arbeiten. Die Begründung dieses Anspruchs wurde transparent gemacht, indem die Erkenntnis-Objekte dazu eingeladen wurden, sich als gleichberechtigte Forschungspartner zu sehen. Dies wiederum setzte voraus, dass sie den Regelkorpus so weit möglich selbstständig anzuwenden vermochten. Nachdem die allgemeinen Rahmenbedingungen des Interviews besprochen worden waren, konnte das Erkenntnis-Objekt mögliche Hindernisse oder Unklarheiten gegenüber der bevorstehenden Interviewsituation äussern, welche allenfalls arbeitshindernd wirken könnten. Der Abschluss der Interviewinstruktion gestaltete sich dann wie folgt: "Falls du während des Interviews irritiert bist, sei es inhaltlich oder zwischenmenschlich, dann sage das bitte sofort. Ich werde dasselbe ebenfalls tun. Diese gegenseitige Klarheit erachte ich als wichtige Bedingung, damit wir miteinander dieses Gespräch führen können. Nachdem nun alles gesagt ist, was es aus meiner und deiner Sicht zu sagen gibt, geht es nun um die Entscheidung, ob du an der Untersuchung teilnehmen möchtest oder nicht. Du hast deine Pflicht erfüllt, indem du hierhergekommen bist. Die Teilnahme an der Untersuchung selbst ist freiwillig. Was meinst du dazu?"
15 Durchführung der Untersuchung
289
Wenn sich der Interviewpartner für die Teilnahme entschieden hatte, konnte das Interview 130 inhaltlich begonnen werden. Dies geschah jeweils mit der folgenden Eröffnungsfrage: "Ich habe dir erklärt, um welche Art von Situationen es in diesem Interview inhaltlich gehen wird [Verweis auf die schematische Darstellung des Situationstyps; siehe Anhang 3.1, S. 477]. Versuche 131 dich gedanklich an deine erlebten X-Situationen zu erinnern. Kannst du mir diese Situationen grob schildern? Erzähl mal, wie das bei dir aussieht. Dabei schaue ich, ob wir den Situationstyp gleich verstanden haben." 15.3.2
Rekonstruktion der Theorieinhalte und Strukturen
Nach der Instruktionsphase bzw. der Eröffnungsfrage wurde die Rekonstruktion anhand des Interviewleitfadens sowie der erweiterten Flussdiagrammdarstellung über mehrere Teilschritte realisiert. Die folgende allgemeine Ablaufstruktur hat sich bewährt: 1. Der erste Teilschritt rekonstruiert die Hauptkategorie 'Voraussetzungen'. Damit sind Bedingungen gemeint, welche aus der Sicht des Erkenntnis-Objektes zwingend gegeben sein müssen, damit der vorliegende Situationstyp überhaupt auftreten kann. Der Forscher arbeitet zum Einstieg hauptsächlich mit hypothesenungerichteten Fragen. Gegebenenfalls wird der Interviewpartner aufgefordert, Konzepte innerhalb dieser Kategorie zu präzisieren und zu erläutern. Währenddessen notiert sich der Forscher die interpretativ verstandenen Elemente. Bei Aktualisierungsschwierigkeiten wird die notwendige Unterstützung angeboten. Dieser Prozess dauert so lange, bis das Erkenntnis-Objekt (vorerst) alle – aus seiner Sicht zwingenden – Voraussetzungsmerkmale genannt und das Erkenntnis-Subjekt diese interpretativ verstanden hat. 2. Im nächsten Schritt erläutert der Forscher aufgrund seiner Notizen, wie er die einzelnen Konzepte verstanden hat, und bittet den Interviewpartner um Stellungnahme. Dieser intersubjektive Verständigungsprozess dauert so lange, bis die Geltungsansprüche der inhaltlichen Elemente der jeweiligen Hauptkategorie diskursiv eingelöst werden können (kommunikative Zwischenvalidierung). 3. Der argumentativ-persuasiv herbeigeführte Konsens wird sodann auf den Inhaltskärtchen festgehalten. 4. Die Konzepte der Hauptkategorie 'Voraussetzungen' werden anschliessend auf einem A2-Papierbogen oben links hingelegt und mit der Formalrelation 'Voraussetzung' gekennzeichnet (siehe Anhang 4.2.1, S. 505 c).
130 In der vorliegenden Untersuchung lehnte keiner der Studierenden die Teilnahme am Interview ab. Bei sämtlichen Interviewpartnern konnte das Gespräch wie geplant durchgeführt werden. 131 Der Platzhalter 'X' steht für die begriffliche Bezeichnung, welche das Erkenntnis-Objekt für den Situationstyp vorgängig gewählt hat.
290
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
5. Nachdem das Erkenntnis-Subjekt die Voraussetzungen intersubjektiv verstanden hat, wird die zweite Hauptkategorie 'Absichten' thematisiert. Der Interviewpartner soll sich dazu äussern, worin sich seiner Erfahrung nach eine erfolgreiche Bewältigung des Situationstyps zeigt. Damit wird gedanklich die Brücke zwischen der Eingangs- und der Ausgangssituation gespannt. Das Vorgehen ist hierbei dasselbe wie in der Hauptkategorie 'Voraussetzung' (siehe Erhebungsschritte 1 bis 3). Die Kärtchen werden oben rechts hingelegt und mit der Formalrelation 'Absicht' versehen (siehe Anhang 4.2.1, S. 505 d). 6. Die Hauptkategorie 'handlungsleitende Werte' wird mit denselben Erhebungsschritten (1 bis 3) rekonstruiert. Aus Platzgründen wird diese Kategorie allerdings auf einem separaten Blatt gelegt. 7. Nachdem die statischen Hauptkategorien 'Voraussetzungen', 'Absichten' und 'handlungsleitende Werte' (vorläufig) rekonstruiert sind, ist die prozessuale Hauptkategorie 'Phasen' mittels narrativer Erzählsequenzen zu aktualisieren. In einem ersten Schritt werden – so weit möglich – die Hauptphasen benannt (siehe Anhang 4.2.1, S. 505 e). Im Anschluss daran sind die einzelnen Handlungssequenzen innerhalb der Hauptphasen mit einem maximalen Auflösungsgrad zu explizieren. Hierbei soll nicht auf eine einmalige Handlung rekurriert werden, sondern auf handlungsleitende subjektive Konstrukte, welche typischerweise zum Tragen kommen (siehe Anhang 4.2.1, S. 505 f). Die Rekonstruktionsarbeit setzt die geforderte Liberalisierung der parallelen Inhalts- und Strukturrekonstruktion folgendermassen um: Die inhaltlichen Konzepte werden grundsätzlich analog den statischen Hauptkategorien rekonstruiert (siehe Erhebungsschritte 1 bis 3). Allerdings wird nicht zugewartet, bis sämtliche Elemente der Hauptkategorie 'Phasen' intersubjektiv verstanden worden sind, sondern das Erkenntnis-Objekt wird kurz nach Eröffnung der narrativen Sequenz aufgefordert, mithilfe der Formalrelationen und Sinnbilder aus dem Regelkorpus die jeweils intersubjektiv verstandenen inhaltlichen Elemente in ein Ordnungsschema zu bringen. Die kommunikative Zwischenvalidierung der gelegten Teilstrukturen prüft, ob für die interpretativ verstandenen Strukturverbalisierungen die korrekten Formalrelationen und Sinnbilder verwendet werden (Beispiel: Das Erkenntnis-Objekt verbalisiert eine 'Wenn-dann-Entscheidung', verwendet hierfür jedoch nicht den Rhombus, sondern den Ablaufpfeil als Sinnbild). Durch dieses Vorgehen entstehen die Inhalte und die sie verbindenden Strukturen sozusagen 'zeitgleich' in einem iterativen, reversiblen Prozess. 8. Als letzte Hauptkategorie sind die 'kritischen Ereignisse' zu rekonstruieren. Die Vorgehensweise ist hier wiederum analog den Erhebungsschritten 1 bis 3, wobei die Rekonstruktionen aus Platzgründen ebenfalls auf einem separaten Blatt festgehalten werden.
15 Durchführung der Untersuchung
291
Anmerkung 1: Zerlegung des Situationstyps in fünf Hauptkategorien Die Orientierung an den fünf Hauptkategorien des Situationstyps hat sich bewährt. Durch diese Zerlegung konnten die Erkenntnis-Objekte schrittweise nacheinander zu sämtlichen 132 Ausprägungen des Situationstyps ihre subjektiven Konstrukte explizieren. Dadurch lässt sich die Gefahr möglicher Kognitionsinterferenzen minimieren (siehe hierzu auch WAHL et al. 1983). Die lineare Sequenzierung dient primär dem Erkenntnis-Objekt als Orientierungshilfe und kann durchaus durchbrochen werden. Damit ist gemeint, dass das Erkenntnis-Objekt beispielsweise während der Rekonstruktion der Hauptkategorie 'Phasen' Änderungen in der Hauptkategorie 'Werte' anbringt und sozusagen wieder zurückspringt. Dieses 'Springen' zwischen den einzelnen Kategorien wird als wesentlicher Teil der bereits genannten Explizierungsdynamik gesehen. Der Forscher muss hierbei genügend flexibel sein, den Gedanken des Erkenntnis-Objektes zu folgen und dieses aber gegebenenfalls wieder zurück auf den Explizierungsweg zu führen, falls 'Verirrungen' die Weiterarbeit blockieren. Hierzu hat sich das zentrierte Zusammenfassen (Kap. 11.6.2) als primäre Interventionsform gut bewährt. Diese Flexibilität in Verbindung mit der Orientierung an den Hauptkategorien soll ein vorschnelles Schliessen einzelner Kategorien einerseits und "gegen 'ideenflüchtiges' Assoziieren andererseits sowie gegen situationsunabhängiges, weitgehend handlungsunverbindliches Reflektieren […] wirken" (SCHEELE 1988, S. 154). Anmerkung 2: Die Inhalts- und Strukturrekonstruktion als iterativer Prozess Aufgrund der Erfahrungen aus den Probeinterviews und den Auswertungsgesprächen wurde, wie oben beschrieben, den Befragten in der Hauptuntersuchung die Möglichkeit gegeben (als Angebot und nicht als Pflicht), ihre Strukturen bereits während des Interviews zeitgleich zu legen. Die Hauptuntersuchung bestätigte die Erfahrungen aus den Probeinterviews: Alle Interviewten begannen bereits während des Gesprächs Konzepte ihrer Subjektiven Theorie strukturell zu verbinden und zu revidieren. Sie arbeiteten quasi selbstständig konstruierend und rekonstruierend an ihren Subjektiven Theorien und unterstützten sich damit selbst bei ihren Explikationen. Falls notwendig, bot der Forscher den Erkenntnis-Objekten seine Hilfe an, indem gewisse Formalrelationen nochmals erläutert wurden. Während die Befragten an ihren Strukturen arbeiteten, wurden diese aufgefordert, ihre Überlegungen durch lautes Denken zu explizieren, damit der Forscher die Konstruktionen nachvollziehen und intersubjektiv validieren konnte. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Erkenntnis-Objekte das zeitgleiche Legen als Überforderung wahrgenommen haben und sich dieses Vorgehen auf die gedanklichen und verbalen Produktionen blockierend auswirkte. In diesem Fall wäre zu erwarten, dass die Strukturen nicht oder nur rudimentär gelegt worden wären – was jedoch für die vorliegende Untersuchung nicht zutreffend ist.
132 Den Interviewpartnern wurde die Möglichkeit geboten, zusätzliche Hauptkategorien einzuführen, falls sie den Eindruck gehabt hätten, ansonsten ihre Subjektive Theorie nicht vollständig zum Ausdruck bringen zu können. Von diesem Angebot machte allerdings niemand Gebrauch.
292
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
15.3.3
Kommunikative Validierung
Die Zielidee der kommunikativen Validierung als nicht-experimentelle Konstruktvalidierung wurde in Kapitel 11.8 ausführlich beschrieben und begründet. In Abbildung 38 wird die Durchführung dieser Validierungsstrategie überblicksartig dargestellt. Abbildung 38: Schematische Darstellung zur Durchführung der kommunikativen Validierung
kritische Betrachtung durch den den Interviewpartner
Gesamtheit des Konstruktionsentwurfs
Vorinterpretationen des Forschers
Kategorien Konzepte
Nach einer Interviewpause werden die Konstruktionsentwürfe des Interviewpartners durch den Forscher aus einer kritischen Distanz betrachtet. Dasselbe wird zugleich von dem Befragten verlangt. Der folgende Weg hat sich dabei als geeignet erwiesen: 1. Zuerst soll der Interviewpartner seinen Konstruktionsentwurf kritisch kommentieren. Wo gibt es offene Stellen, Unstimmigkeiten, Widersprüche etc.?
15 Durchführung der Untersuchung
293
2. Nachdem bezüglich des ersten Schrittes eine argumentative Übereinkunft gefunden wurde, vergleicht der Forscher seine Vorinterpretationen mit den Inhalten und Strukturen des Konstruktionsentwurfs. Der Abbildung 38 ist zu entnehmen, dass der Blick sowohl auf die Gesamtheit des Konstruktionsentwurfs gerichtet ist als auch auf die einzelnen Kategorien und deren Konzepte. Neben dieser vertikalen Perspektive gilt es, horizontal zu prüfen, inwieweit die Konzepte innerhalb einer Kategorie, die Konzepte verschiedener Kategorien sowie die Kategorien in ihrer Gesamtheit untereinander stimmig sind. Die Konzepte werden gemeinsam mit dem Interviewpartner vom Ganzen her aktiviert, reflektiert, eventuell modifiziert und umgekehrt das Ganze, ausgehend von den Konzepten, finalisiert. Bei dieser Validierungsarbeit ist präzise darauf zu achten, die Wirkungsketten allfälliger Anpassungen systemisch zu betrachten. Das Denken in Wirkungsnetzen stabilisiert das System. Dies muss jedoch keinesfalls bedeuten, dass die erarbeitete Rekonstruktion widerspruchsfrei sein muss! Sind Widersprüchlichkeiten oder Lücken nicht diskursiv zu klären, so muss der Forscher diese Aspekte als Teil der rekonstruierten Subjektiven Theorie akzeptieren. Ansonsten besteht die Gefahr, dass nicht mehr eine überzeugende, sondern eine überredende Übereinkunft getroffen wird und damit das Grenzkriterium der kommunikativen Validierung überschritten ist. 3. Der letzte Schritt der kommunikativen Validierung besteht darin, dass der Befragte die gesamte subjektive Struktur nochmals durchliest, bevor es seine definitive Zustimmung gibt. Damit ist die Rekonstruktionsarbeit abgeschlossen. 15.3.4
Zeitliche 'Effekte' im Datenerhebungsprozess?
Insgesamt wurden zwischen dem 20. November und dem 8. Dezember 2006 in der Hauptuntersuchung 23 Interviews geführt. Dabei stellt sich die Frage, ob sich die Gesprächsführung des Forschers im Laufe dieser 19 Tage systematisch verändert hat, sodass eine Fehlervarianz zu verzeichnen wäre. In Kapitel 12.2 (S. 264) wurden diesbezüglich die Gütekriterien der Genauigkeit und Konstanz von Messbedingungen diskutiert. Die Genauigkeit als Kriterium für die Zuverlässigkeit der Messung wurde auch für Techniken gefordert, welche individuums- und situationsbezogen flexibel eingesetzt werden. Diese 'Fexibilität' ist jedoch keine zufällige, sondern sie dient unter Reliabilitätsaspekten der Konstanthaltung der Messbedingungen. Die Interviewpartner müssen die Untersuchungssituation in einer vergleichbaren Weise erleben. Hierfür wurden formale Regeln angesetzt, welche für alle Interviews gleichermassen gelten, ohne dabei im Widerspruch zum interpretativen Paradigma zu stehen. Diese Prinzipien zur approximativen Herstellung einer idealen Interviewsituation in Verbindung mit den Regeln der Struktur-Lege-Techniken bildeten die Grundlage für eine genaue und zuverlässige Rekonstruktion. Die Annäherung an die 'ideale Interviewsituation' begründet den Bezugsrahmen für die Konstanz der Untersuchungssituation. Durch dieses Vorgehen ist anzunehmen, dass die Fehlervarianz im Sinne der 'Unzuverlässigkeit' reduziert werden kann. Des Weiteren wurde als Orientierungsrahmen bzw. Gedächtnisstütze ein Interviewleitfaden konzipiert, welcher das Hintergrundwissen des Forschers organisiert, um zu einer kontrollierten Herangehensweise an den Forschungsgegenstand zu kommen, ohne den Interviewer in seiner Flexibilität zu beschneiden.
294
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Ob die Interviewpartner die Untersuchungssituation in einer vergleichbaren Weise erlebt haben, ist aufgrund der geführten Metagespräche zu vermuten. Ergänzend kann analysiert werden, ob sich die rekonstruierten Subjektiven Theorien im zeitlichen Ablauf zwischen dem 20. November und dem 8. Dezember 2006 hinsichtlich ihres Umfangs unterscheiden. Wäre beispielsweise die Anzahl rekonstruierter Konzepte je Interviewsituation systematisch kleiner oder grösser geworden, könnte dies als Hinweis für eine Fehlervarianz gelten, welche auf eine veränderte Gesprächsführung seitens des Forschers zurückgeführt werden könnte. Die folgende Abbildung 39 zeigt die geführten Interviews im zeitlichen Verlauf. Abbildung 39: Interviews im zeitlichen Ablauf
70
65
60 55
50 45
30
40 35
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27
Das Interview mit der Nummer fünf kennzeichnet das erste, die Nummer 27 das zuletzt geführte Interview. Das Streuungsbild der Anzahl rekonstuierter Konzepte je Interviewsitzung (N= 33 bis 66) macht deutlich, dass offensichtlich keine systematische Veränderung über den Zeitverlauf feststellbar ist. Eine Fehlervarianz bezüglich Umfang der Subjektiven Theorien kann damit ausgeschlossen werden. 16
Vorbereitende Schritte für die Datenanalyse
In Kapitel 13 (S. 269) wurde die generelle Strategie der Datenanalyse dargestellt und die zentralen Stationen des Auswertungsprozesses erläutert. Darauf aufbauend werden im folgenden Kapitel die notwendigen Arbeitsschritte zur Umsetzung dieser Auswertungsstrategie expliziert, um der geforderten Transparenz gerecht zu werden. Das Kapitel ist in zwei Teile gegliedert: In Kapitel 16.1 werden zuerst diejenigen vorbereitenden Arbeitsschritte erläutert, welche für eine idiographische Analyse erforderlich sind. Mit dem Ziel der nomothetischen Analyse sind zahlreiche weitere vorbereitende Massnahmen notwendig. Diese werden in Kapitel 16.2 näher vorgestellt.
294
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Ob die Interviewpartner die Untersuchungssituation in einer vergleichbaren Weise erlebt haben, ist aufgrund der geführten Metagespräche zu vermuten. Ergänzend kann analysiert werden, ob sich die rekonstruierten Subjektiven Theorien im zeitlichen Ablauf zwischen dem 20. November und dem 8. Dezember 2006 hinsichtlich ihres Umfangs unterscheiden. Wäre beispielsweise die Anzahl rekonstruierter Konzepte je Interviewsituation systematisch kleiner oder grösser geworden, könnte dies als Hinweis für eine Fehlervarianz gelten, welche auf eine veränderte Gesprächsführung seitens des Forschers zurückgeführt werden könnte. Die folgende Abbildung 39 zeigt die geführten Interviews im zeitlichen Verlauf. Abbildung 39: Interviews im zeitlichen Ablauf
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Das Interview mit der Nummer fünf kennzeichnet das erste, die Nummer 27 das zuletzt geführte Interview. Das Streuungsbild der Anzahl rekonstuierter Konzepte je Interviewsitzung (N= 33 bis 66) macht deutlich, dass offensichtlich keine systematische Veränderung über den Zeitverlauf feststellbar ist. Eine Fehlervarianz bezüglich Umfang der Subjektiven Theorien kann damit ausgeschlossen werden. 16
Vorbereitende Schritte für die Datenanalyse
In Kapitel 13 (S. 269) wurde die generelle Strategie der Datenanalyse dargestellt und die zentralen Stationen des Auswertungsprozesses erläutert. Darauf aufbauend werden im folgenden Kapitel die notwendigen Arbeitsschritte zur Umsetzung dieser Auswertungsstrategie expliziert, um der geforderten Transparenz gerecht zu werden. Das Kapitel ist in zwei Teile gegliedert: In Kapitel 16.1 werden zuerst diejenigen vorbereitenden Arbeitsschritte erläutert, welche für eine idiographische Analyse erforderlich sind. Mit dem Ziel der nomothetischen Analyse sind zahlreiche weitere vorbereitende Massnahmen notwendig. Diese werden in Kapitel 16.2 näher vorgestellt.
295
16 Vorbereitende Schritte für die Datenanalyse
16.1
Idiographische Analyse
16.1.1
Verbalisierung der Strukturbilder
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden die Strukturbilder für die Einzelfallanalyse am 133 Diese TransComputer elektronisch erfasst und zu einem Text 'zurück verbalisiert'. formation geschieht ohne grösseren Einfluss des Forschers. Eine Besonderheit des problemzentrierten Interviews besteht jedoch darin, dass der Gesprächsverlauf im Gegensatz zu standardisierten Verfahren zwar leitfadenorientiert verläuft, aber durchaus Gedankenschleifen, Wiederholungen, spontane Explikationen, erneute Präzisierungen und Modifikationen etc. zulässt, die in einem bestimmten Gesprächsmoment thematisch ausserhalb einer aktuellen Kategorie liegen (vgl. hierzu auch WITZEL 1996, S. 60). Dieses konstitutive Merkmal wurde unter dem Aspekt der Explizierungsdynamik bereits erörtert. Die Textdarstellung der Fallbeispiele kann deshalb, schon aus Gründen der Lesbarkeit, nicht analog dem zeitlichen Ablauf des Interviews erfolgen, sondern gliedert sich nach der kategorialen Struktur des Interviewleitfadens (siehe Abbildung 40). Abbildung 40: Von den Interviews zur Einzelfalldarstellung Thematische Gliederung des Interviews anhand des Leitfadens 1
2
3
4
Kommunikative Validierung
5
Zeit
Tatsächlicher Interviewverlauf 1
2 1 21 2 32 32
3
4 2
4
3 4 54
5
1 4 1 2 3 4
5
3
4
2 1
Zeit
Indexierung der Themen und thematische Neuordnung
1
2
3
4
5
Einzelfall Darstellung (1) Voraussetzungsmerkmale (3) Handlungsleitende Werte (5) Kritische Ereignisse (2) Zielmerkmale (4) Prozessmerkmale
Da jedoch zur Erhaltung der Authentizität des Datenmaterials über die Verbalisierung der Strukturbilder hinausgehend dem Leser ein Einblick in den Entstehungsprozess der kommunikativ-validierten Daten gegeben sein soll, sind ergänzend Interviewausschnitte zur Verdeut-
133 Die Verbalisierungen der Strukturbilder erheben nicht den Anspruch auf ausgereifte Formulierungen. Dies liegt darin begründet, dass sich die Transformation von der graphischen Darstellung in die Textform soweit möglich an der Sprache der Interviewpartner orientieren soll.
296
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung 134
lichung heranzuziehen. Damit diese Verknüpfung zwischen den verbalisierten Konzepten der Strukturbilder und den dazugehörenden Interviewausschnitten gelingen kann, müssen die Themen in den digital aufgezeichneten Interviews mittels eines Index gekennzeichnet werden. Dadurch wird es möglich, die Interviewinhalte thematisch zu ordnen und die Ausführungen in den Einzelfalldarstellungen mit relevanten Interviewausschnitten zu verdeutlichen (siehe Abbildung 40). Die thematische 'Zergliederung' resultiert als direkte Konsequenz 135 aus der Explizierungsdynamik. 16.1.2
Entwicklung eines Strukturbildes für die Theorie der Klärungshilfe
Wie bereits erwähnt, sollen die subjektiven Rekonstruktionen mit der 'objektivwissenschaftlichen' Modellierung der Theorie der Klärungshilfe auf fehlende Konzepte, Erweiterungen und Widersprüchlichkeiten hin analysiert werden. Damit eine solche, vergleichende Analyse möglich wird, muss das Bezugssystem ebenfalls in Form eines Strukturbildes vorliegen, welches nach denselben Regeln wie die subjektiven Rekonstruktionen gebildet wird. Darauf wurde bereits in Kapitel 11.7.2 (S. 233) im Zusammenhang mit der Entwicklung des Interviewleitfadens hingewiesen. Das Strukturbild der Theorie der Klärungshilfe wird später in Kapitel 17.1 (S. 315) abgebildet.
134 Die Interviewausschnitte haben eine ergänzend dokumentarische Funktion und dienen demnach nicht als Legitimationsgrundlage für die Glaubwürdigkeit der Daten. Ein Verfahren, welches 'illustrative' Zitate im Sinne einer anekdotischen Dokumentation zur Geltungsbegründung der Aussagen (miss)braucht, ist zu kritisieren (siehe hierzu auch BÜHLER-NIEDERBERGER 1985). Die Dokumentation der Aussagen wird über die kommunikativ validierten Strukturbilder sichergestellt. Die Interviewausschnitte sollen diese Ausführungen verdeutlichen – jedoch nicht legitimieren. 135 Die Indexierung erfolgte mithilfe der Transkriptionssoftware 'f4' (http://www.audiotranskription.de).
297
16 Vorbereitende Schritte für die Datenanalyse
Die Abbildung 41 fasst die idiographische Analyse mit den dazugehörigen Arbeitsschritten zusammen. Abbildung 41: Idiographische Analyse (vgl. Abbildung 36, S. 273)
kommunikativ validierte Strukturbilder
digital aufgezeichnete Interviews
Theorie der Klärungshilfe
digitale Aufbereitung
Indexierung/ thematische Neuordnung
Entwicklung eines Strukturbildes
Verbalisierung
Idiographische Analyse
Deskription der individuellen Subjektiven Theorie
Beurteilung der individuellen Subjektiven Theorie
Strukturierung
Bezugssystem
Voraussetzungsmerkmale Zielmerkmale Handlungsleitende Werte Prozessmerkmale Kritische Ereignisse Strukturbild der Theorie der Klärungshilfe
Einzelfalldarstellung
16.2
Nomothetische Analyse
Die nomothetische Analyse basiert primär auf den kommunikativ validierten, digital aufbereiteten Strukturbildern und dem Strukturbild der Theorie der Klärungshilfe. Die hierfür notwendigen vorbereitenden Arbeitsschritte wurden im vorangehenden Kapitel 16.1 beschrieben. In den folgenden Ausführungen wird die Datenaufbereitung dargelegt, welche für eine fallübergreifende Analyse notwendig war. 16.2.1
Bestimmung der Analyseeinheiten
Mit dem Ziel, die Präzision der Inhaltsanalyse zu erhöhen, müssen die Analyseeinheiten festgelegt werden (exemplarisch GROEBEN & RUSTEMEYER 2002, S. 238f.; MAYRING 2003, S. 53; RÖSSLER 2005, S. 38ff.; RUSTEMEYER 1992, S. 69ff.). Konkret werden die Codier-, Kontext- und Auswertungseinheiten bestimmt (siehe Abbildung 42, S. 298): - Codiereinheit: Diese legt fest, welches der minimale Textteil sein darf, welcher auszuwerten ist und zu einem Konzept gezählt werden kann. Dazu wird die folgende Regel aufgestellt: Die Codiereinheit umfasst im Minimum ein einzelnes Wort, wobei ein
298
-
-
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Konzeptkärtchen mehrere Codiereinheiten beinhalten darf. Das ausschlaggebende Kriterium bildet die semantische Unterschiedlichkeit zweier (oder mehrerer) Zeichen und nicht deren Abbildung auf demselben Konzeptkärtchen. "Das Charakteristikum dieser eher inhaltlichen Einheiten liegt also darin, dass sie je nach Ausführungen des jeweiligen Interviewpartners in Bezug auf die formalen Charakteristika [der Struktur] flexibel sein können" (RUSTEMEYER 1992, S. 75). Damit ist gemeint, dass auf einem Konzeptkärtchen als formale Struktur mehr als eine semantische Einheit stehen kann und infolgedessen das Kärtchen bildhaft gesprochen auseinandergeschnitten wird und damit mehrere Codiereinheiten umfassen kann. Kontexteinheit: Sie legt den grössten Textbestandteil fest, welcher gleichzeitig codiert und einer Kategorie zugeordnet werden kann. Hierzu gilt die folgende Regel: Eine Kontexteinheit kann mehrere Konzeptkärtchen aus derselben Hauptkategorie eines Einzelfalles enthalten. Die Kontexteinheit kann jedoch nicht umfangreicher sein als ihre formale Einheit (festgelegte Hauptkategorie). Auswertungseinheit: Sie definiert, in welcher Reihenfolge, welche Textteile nacheinander ausgewertet werden. Die Auswertungseinheiten sind deckungsgleich mit den Hauptkategorien, allerdings fallübergreifend. D. h., dass beispielsweise die handlungsleitenden Werte aller Einzelfälle zusammen eine Auswertungseinheit bilden. Abbildung 42: Festlegung der Codier-, Kontext- und Auswertungseinheiten Strukturbild A
Strukturbild B Absicht
Absicht
Phasen
Voraussetzungen
Phasen
Voraussetzungen
Werte / Einstellungen
Werte / Einstellungen
Kritische Ereignisse
Kritische Ereignisse Kontexteinheit
Auswertungseinheit
Konzeptkärtchen: Gemeinsame Lösung mit allseitiger Akzeptanz, Zufriedenheit aller Konfliktparteien
Codiereinheiten: Akzeptanz der gemeinsamen Lösung Zufriedenheit mit der gemeinsamen Lösung
16 Vorbereitende Schritte für die Datenanalyse
16.2.2
299
Entwicklung einer Codestruktur
Die Strukturbilder der rekonstruierten Subjektiven Theorien werden zwecks inhaltlicher Analyse in eine Codestruktur überführt. Diese Struktur basiert auf dem beschriebenen Verständnis von 'Sozialkompetenz', indem sich diese auf der höchsten Ebene (Ebene 1) an den Hauptkategorien des Situationstypenmodells orientiert. Da neben den Wissensbeständen und Werten zusätzlich ein besonderes Augenmerk auf die Fertigkeiten gelegt werden soll, sind die Fertigkeiten ergänzend als Auswertungseinheit festzulegen (siehe Kap. 4.3, S. 49 zu den Handlungsdimensionen). Der daraus resultierende, vorläufig noch sehr grobe, Codebaum zeigt die Tabelle 19. Tabelle 19: Codebaum Ebene 1
Codebaum zum Situationstyp 'Konfliktklärung' 1 Voraussetzungen 2 Zielsetzungen 3 Handlungsleitende Werte 4 Phasen 5 Kritische Ereignisse 6 Fertigkeiten
Das inhaltsanalytische Kategoriensystem muss in der Lage sein, alle Inhaltskonzepte der individuellen Rekonstruktionen zu klassifizieren, denn die Güte der Datenbeschreibung kann nicht besser sein als ihre Kategorisierung (RÖSSLER 2005, S. 93; TRÄNKLE 1983, S. 79). Diese Forderung ist zweifelsfrei gegeben, weil der Codebaum in Tabelle 19 nach denselben Kate136 gorien aufgebaut ist, wie sie im Interviewleitfaden verwendet werden. Für eine gehaltvolle Datenanalyse muss der Codebaum jedoch verfeinert werden, wodurch die genannte Forderung nicht mehr so einfach einzulösen ist. Die Festlegung der Codiereinheiten (vgl. Abbildung 42, S. 298) und die Ausdifferenzierung der Codestruktur können nicht mehr unabhängig voneinander geschehen. D. h., die Codiereinheiten und die Codierstruktur verlangen nach einer 'Passung', und zwar derart, dass erkenntnisrelevante Ergebnisse erzielt werden können. "Für diese theoretisch-methodische 'Passung' lassen sich aber kaum generelle Richtlinien angeben, weil sie sehr stark von der Besonderheit des Einzelfalls abhängt" (RUSTEMEYER 1992, S. 83). RUSTEMEYER schlägt deshalb als Metaregel vor, flexibel zu agieren. Man muss sich von der Vorstellung trennen, dass alle Codiereinheiten immer durch dieselbe Grösse gekennzeichnet sein müssen (z. B. nur 'Wörter' oder nur 'Sätze'). Gleichzeitig muss der Codebaum 136 Eine Ausnahme hierzu bildet die Kategorie 'Fertigkeiten'. Sie ist eine analytische Kategorie, welche zur Beantwortung der Forschungsfrage 1b aus der Hauptkategorie 'Phasen' extrahiert wurde (siehe Kap. 8.1, S. 154).
300
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
auch nicht durchgängig dieselbe Tiefe (Ausdifferenzierung) aufweisen. Diese Entscheide hängen letztlich von den konkreten Forschungsfragen ab. Interessiert beispielsweise, ob die Interviewpartner neben Produktzielen auch Prozessziele in der Konfliktklärung anstreben (vgl. hierzu die Forschungsfragen in Kap. 8.1, S. 154), reicht die Festlegung der Hauptkategorie 'Zielsetzungen' zur Beantwortung dieser Frage nicht mehr aus – eine zusätzliche Differenzierung wird notwendig. Solche und weitere Differenzierungen wurden vor dem Hintergrund der Forschungsfragen so weit möglich bereits bei der Konstruktion des Interviewleitfadens berücksichtigt. Ausgehend von den Hauptkategorien des Situationstyps, vollzog sich die inhaltliche und strukturelle Präzisierung unter Rückgriff auf die Theorie der Klärungshilfe. Des Weiteren wurden ergänzend die Hinweise aus der Inhaltsanalyse der 32 Aufsätze mitberücksichtigt (vgl. Kap. 11.7.2, S. 233). Folglich liefern die Strukturbilder der rekonstruierten Subjektiven Theorien bereits vorstrukturierte Informationen. Dennoch ist zu erwarten, dass zusätzliche Codiereinheiten vorliegen, welche mit einem ausschliesslich im Voraus definierten Codiersystem nicht kategorisierbar wären. Deshalb darf und muss die Differenzierung zusätzlich auf dem empirischen Material beruhen (KUCKARTZ 2007, S. 203). Damit präsentiert sich einmal mehr das Wechselspiel zwischen Theorie (Fragestellung) und Empirie (Material), Induktion und Deduktion, Subsumption und Abduktion, Offenheit und (Vor-)Strukturierung etc. Das Kategoriensystem muss sowohl thematische (erwartete) als auch nicht-thematische (unerwartete) Verbalisierungen in sich aufnehmen können. Dieses 'gemischte' Vorgehen wird von vielen Autoren als adäquat erachtet (exemplarisch FRÜH 2007, S. 153ff.; GLÄSER & LAUDEL 2004, S. 195f.; MAYRING 2003, S. 53; RÖSSLER 2005, S. 93; RUSTEMEYER 1992, S. 92ff,102.; WITZEL 1996, S. 51ff.). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Kategorien zur Codierung sowohl aus dem Interviewleitfaden bzw. den zugrunde liegenden theoretischen Konzepten als auch aus dem empirischen Material selbst stammen. Der kategoriale Zugang ist damit ein offener und ermöglicht das Erfassen spezifischer Relevanzsetzungen der Erkenntnis-Objekte. Die Konzipierung des Kategoriensystems wird dadurch zu einem iterativen Prozess, welcher dann als abgeschlossen gelten kann, wenn - der vorliegende Situationstyp durch eine hinreichende Zahl von Kategorien abgedeckt ist, - diese Kategorien zueinander in einem disjunkten Verhältnis stehen (Trennschärfe), - diese die Beantwortung der Forschungsfragen ermöglichen und - sämtliche Codiereinheiten zugeordnet werden können (Saturiertheit). Das auf diese Weise entwickelte Codesystem erweitert den in Tabelle 19 dargestellten Codebaum um drei zusätzliche Ebenen (Subkategorien). Das Codesystem mit seinen Haupt- und 137 Unterkategorien (Ebene 1 bis 3) ist in Abbildung 43 dargestellt.
137 Obschon das endgültige Codesystem nur in Verbindung mit dem Codiervorgang definitiv festgelegt werden kann, soll es der besseren Verständlichkeit wegen sozusagen als 'Vorgriff' bereits an dieser Stelle abgebildet werden. Die vollständige Codeliste (vier Ebenen) ist in Anhang 4.1 in Tabelle 51 (S. 494–504) zu finden.
301
16 Vorbereitende Schritte für die Datenanalyse
Abbildung 43: Codebaum mit drei Ebenen
Konzeptkategorien Ebene 1
Konzeptkategorien Ebene 2 Konzeptkategorien Ebene 3
1 Voraussetzungen
1a personale 1b räumliche
1aa an die Konfliktparteien 1ab an den Gesprächsleiter
1c inhaltliche 1d weitere 2 Zielsetzungen
2a Produktziele 2b Prozessziele
3 handlungsleitende Werte
3a Prozessgestaltung 3b Parteien und deren Inhalte
4 Phasen
4a über die Klärungssituation: vorausschauend 4b über den Konflikt: rückblickend 4c im Konflikt 4d über den Konflikt: vorausschauend 4e über die Klärungssituation: rückblickend
5 kritische Ereignisse 6 Fertigkeiten
6a in der Phase 4a 6b in der Phase 4b 6c in der Phase 4c 6d in der Phase 4d 6e in der Phase 4e
3aa situationsorientiert 3ab modellorientiert 3ac Übertreibung 3ba akzeptierend 3bb konfrontierend 3bc Übertreibung 4ba Sichtweisen der Konfliktparteien 4bb Abschluss 4bc sonstige 4ca Dialog zwischen den Konfliktparteien 4cb Abschluss 4cc Sonstige 4da Erklärungen 4db Gesprächsleiter: Lösungsvorschläge 4dc Erwartungen der Konfliktparteien 4dd Konfliktparteien: Lösungsvorschläge 4de Massnahmen benennen 4df Absprachen/Lösungen festlegen 4dg Abschluss 4ea Rückblick 4eb Abschluss 4ec sonstige
302 16.2.3
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Explikation des Kategoriensystems
Über die dargestellte Festlegung des Kategoriensystems hinausgehend ist eine differenziertere Explikation notwendig, um eine klare Zuordnung der Codiereinheiten zu ermöglichen. RUSTEMEYER (1992, S. 93f.) schlägt für die Kategorienexplikation drei Schritte vor: Die Kategorienfestlegung in Abbildung 43 (S. 301) stellt den ersten Schritt dar. Diese Festlegung ist durch eine konkrete Verbalisierung als zweiter Schritt zu explizieren. Dieser hilft insbesondere die Trennschärfe der Kategorien zu veranschaulichen. Falls notwendig, kann dabei auch aufgeführt werden, was mit der jeweiligen Kategorie nicht gemeint ist. Die Anschaulichkeit der Kategorienexplikation kann ergänzend im dritten Schritt durch entsprechende positive oder 138 negative Beispiele gesichert werden. Die Verbalisierung der Kategorien wurde bereits in den Kapiteln 4.2 und 4.3 (S. 41ff.) vorgenommen. Die folgenden Ausführungen wollen die Kernaussagen zusammenfassend nochmals aufnehmen und gegebenenfalls untersuchungsrelevante Spezifika ergänzend erläutern. 1 Voraussetzungen (Antezedensbedingungen) Begriffsbestimmung Die Voraussetzungen werden definiert als Sachverhalte bzw. zwingende Bedingungen, welche vorhanden sein müssen, damit der Situationstyp der Konfliktklärung erfolgreich bewältigt werden kann. Sie haben eine ermöglichende, nicht jedoch eine kausale Funktion. Solche Antezedensbedingungen gelten als Handlungsgründe – jedoch nicht als Handlungsursachen. Explikation Für die Kategorieexplikation werden insgesamt vier Unterkategorien unterschieden, welche sich als relevant erweisen: - Unterkategorie 1: personale Voraussetzungen - Unterkategorie 2: räumliche Voraussetzungen - Unterkategorie 3: inhaltliche Voraussetzungen - Unterkategorie 4: Restkategorie Beispiele - Personale Voraussetzungen: Die Konfliktparteien müssen anwesend und für eine Klärung bereit sein. Der Gesprächsleiter muss sich kompetent fühlen, die Klärung zu übernehmen. - Räumliche Voraussetzungen: Am Ort der Klärung muss ein ruhiges, ungestörtes Arbeiten möglich sein. - Inhaltliche Voraussetzungen: Es muss ein Konflikt vorhanden sein, welcher sich auf einer mittleren Eskalationsstufe bewegt. Wurden beispielsweise bereits rechtliche Schritte ein138 In Analogie zur Fussnote 137 gilt auch hier, dass der zweite und dritte Schritt eng mit der Durchsicht des Datenmaterials und dessen Codierung vernetzt sind (induktive Perspektive). Die zwecks Anschaulichkeit erwähnten Beispiele stammen aus den Subjektiven Theorien der Interviewpartner.
16 Vorbereitende Schritte für die Datenanalyse
303
geleitet, macht eine Klärung im Sinne der Theorie der Klärungshilfe keinen Sinn mehr. In diesen Fällen wären andere Ansätze (Streitschlichtung, Mediation) zielführender. 2 Zielsetzungen Begriffsbestimmung Die Kategorie 'Zielsetzungen' steht für die Intention(en), um derentwillen eine Einzelhandlung oder mehrere Handlungsschritte zusammen ausgeführt werden. Würde ein solches Ziel fehlen, könnte nicht von einer Handlung gesprochen werden. Explikation Für die Kategorieexplikation werden zwei bedeutsame Unterkategorien unterschieden: - Unterkategorie 1: Produktziele - Unterkategorie 2: Prozessziele Beispiele - Produktziele: Das Produktziel beschreibt einen antizipierten Endzustand im Sinne eines Handlungsergebnisses. Der Konflikt soll am Ende der Sitzung geklärt sein, oder es sollen transferorientierte Absprachen getroffen werden können. - Prozessziele: Bei den Prozesszielen liegt der Fokus auf den Klärungsprozessen, welche angestrebt werden wollen. Die Konfliktparteien sollen die Dynamik des Konfliktgeschehens verstehen, ein gegenseitiges Verständnis füreinander entwickeln oder die Möglichkeit bekommen, ihre Sichtweise auszudrücken. 3 Handlungsleitende Werte Begriffsbestimmung Die Kategorie 'handlungsleitende Werte' beschreibt die Massstäbe und Legitimationsgrundlagen für das menschliche Handeln innerhalb des Situationstyps. Sie sind die generellsten Wegweiser des Handelns und demzufolge abstrakter formuliert als Ziele. Die 'handlungsleitenden Werte' beeinflussen die Wahl von Handlungsarten, Handlungsmitteln und Handlungszielen. Sie verleihen dem sozial-kommunikativen Handeln eine Ausrichtung. Explikation Bezug nehmend auf die Kategorie 'Zielsetzungen', sind für die Explikation der Kategorie 'handlungsleitende Werte' zwei Unterkategorien von Belang: - Unterkategorie 1: Prozessgestaltung - Unterkategorie 2: Parteien und deren Inhalte Beispiele - Prozessgestaltung: Die Gesprächsführung kann sich stark an einem Modell anlehnen und systematisch, strukturiert oder speditiv organisiert werden. Demgegenüber ist auch eine kreative, spontane und situationsorientierte Prozessgestaltung denkbar.
304 -
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Parteien und deren Inhalte: Der Umgang mit den Parteien und deren Konfliktthemen kann von einer verständnisvollen, einfühlsamen und akzeptierenden Haltung geleitet sein. Im Vergleich dazu könnten auch kritische, zweifelnde und distanzierte Wertvorstellungen dominierend sein.
4 Phasen Begriffsbestimmung Die Phasen beschreiben die prozessuale Ausgestaltung des Situationstyps. Im Gegensatz zu den dargestellten statischen Kategorien modellieren die Phasen den Ablauf des kommunikativen Handelns, indem sie das Interaktionsgeschehen in mehrere Handlungssequenzen gliedern. Explikation Mit der Absicht einer Kategorieexplikation stellt sich die Frage, wie die verschiedenen Phasen im Einzelnen voneinander abgegrenzt werden können. Einerseits muss die Strukturierung konkret genug sein, damit ein überschneidungsfreier Vergleich der jeweiligen Prozessstrukturen der Subjektiven Theorien möglich wird, andererseits muss die Strukturierung offen genug sein, um alle Prozesselemente der Subjektiven Theorien aufnehmen zu können. Die Zuordnung der einzelnen Konzepte zu den jeweiligen Phasen kann demzufolge nicht anhand der Bezeichnungen geschehen, welche die Interviewpartner jeweils für ihre Hauptphasen expliziert haben. Diese Aussage soll anhand der subjektiven Theoriestruktur von Lara Braun (Interviewpartnerin 7) erläutert werden (siehe Anhang 4.2, S. 505). Der ersten Hauptphase E1 gibt sie die Überschrift 'Probleme erläutern'. In dieser Handlungssequenz will sie die subjektiven Sichtweisen der Konfliktparteien über den Konfliktgegenstand in Erfahrung bringen. Die ersten beiden Konzepte innerhalb dieser Phase lauten: 'Vorgehen der Phasen erläutern' und 'begründen, weshalb die Moderation so vorgeht'. Diese beiden Konzepte haben eine erklärende, vorbereitende Funktion und könnten folglich einer vorgelagerten Hauptphase mit dem Titel 'Gesprächsvorbereitung' zugeordnet werden. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die semantische Bezeichnung einer Hauptphase keinen direkten Rückschluss auf die konkreten Handlungsschritte ermöglicht. Die gewählten Bezeichnungen der Interviewpartner für die Hauptphasen sind in einem gewissen Masse willkürlich. Ein anderer Interviewpartner hätte möglicherweise einen anderen Ausdruck gewählt. In Kapitel 15.3.2 (S. 289) wurde bereits dargelegt, dass die Benennung von Hauptphasen lediglich eine Orientierungshilfe für die Erkenntnis-Objekte darstellt. Aus diesem Grund ist es wenig sinnvoll, einen Vergleich der Prozesselemente der Subjektiven Theorien über die Bezeichnung der Hauptphasen anstreben zu wollen. Ausschlaggebend sind die Konzepte, welche darüber Auskunft geben, was in welcher Phase geschieht – nicht jedoch die semantische Kennzeichnung der Phasen. Wenn davon ausgegangen wird, dass kommunikatives Handeln nicht losgelöst von Inhalten stattfinden kann und stets einen Situationsbezug aufweist, kann diese Grundüberlegung zur Strukturierung der Kategorie 'Phasen' genutzt werden. Die Unterteilung der Kategorie 'Phasen' muss strukturlogisch erfolgen. Sowohl die verwendeten Bezeichnungen in der
305
16 Vorbereitende Schritte für die Datenanalyse
Theorie der Klärungshilfe als auch die Beschreibungen in den Subjektiven Theorien werden aufgelöst und durch strukturlogische Benennungen ersetzt (siehe Abbildung 44). Abbildung 44: Strukturlogische Gliederung der Kategorie 'Phasen'
g: Klärungssitu ation tionsbezu Situa über die Klärungssituation: vorausschauend
über den Konflikt: rückblickend
im Konflikt
über den Konflikt: vorausschauend
über die Klärungssituation: rückblickend
Inhalt: Konflikt
Phase a
Phase b
Phase c
Phase d
Phase e
Die vorgeschlagene Segmentierung der Kategorie 'Phasen' in fünf Unterkategorien ist trennscharf und konkret genug, damit eine überschneidungsfreie Zuordnung der in den Subjektiven Theorien rekonstruierten Konzepte möglich ist. Aufgrund der Tatsache, dass diese Einteilung nicht nach inhaltlichen, sondern strukturellen Gesichtspunkten erfolgt, erweist sie die notwendige Offenheit, um (idealerweise) sämtliche Konzepte aufnehmen zu können. Dasselbe gilt für die Theorie der Klärungshilfe. Die Phase a und e blicken aus einer Metaperspektive auf die Klärungssituation. Mittels metakommunikativer Sprache eröffnet die Phase a die Klärungssituation, und die Phase e schliesst diese ab. Die Phasen b und d thematisieren das Konfliktgeschehen ebenfalls auf einer metakommunikativen Ebene, indem 'über den Konflikt' gesprochen wird. Diese geschieht einerseits rückblickend (Klärung der Vergangenheit und Gegenwart) und vorausschauend (erarbeiten von Lösungen und konkreten Absprachen). Die Phase c bringt die unterschiedlichen Perspektiven der Konfliktparteien miteinander in Kontakt. Der direkte Austausch zwischen den Beteiligten geht 'in den Konflikt hinein'. Beispiele Als Beispiel soll wiederum die bereits erwähnte subjektive Theoriestruktur von Lara Braun aufgenommen werden (siehe Anhang 4.2.2, S. 507). Die ersten beiden Konzepte, 'Vorgehen der Phasen erläutern' und 'begründen, weshalb die Moderation so vorgeht', sind der Phase a zuzuordnen. Sie thematisieren die Klärungssituation vorausblickend. Die nächstfolgenden Konzepte, 'A und B auffordern zu beginnen' und 'verstehen', sind strukturlogisch der Phase b zuzurechnen, weil diese rückblickend das Konfliktgeschehen betrachten. Die exemplarisch skizzierte Umstrukturierung ist bei allen Subjektiven Theorien durchzuführen. Sowohl die
306
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Prozessstruktur als auch die Inhalte der Subjektiven Theorien werden mit diesem Vorgehen nicht verändert. Sie bleiben unverändert erhalten. 5 Kritische Ereignisse Begriffsbestimmung Die Kategorie 'kritische Ereignisse' umfasst alle Störungen der Phasengestaltung, welche den geplanten Prozessverlauf des Situationstyps erheblich beeinträchtigen und damit verbunden zu einer (temporären) Behinderung der Arbeitsfähigkeit des Gesprächsleiters führen. Es muss von dem antizipierten Verlauf abgewichen werden, und der Gesprächsleiter kann nicht mehr auf seine Subjektiven Theorien zurückgreifen. Das Handeln wird zu einem Tun oder Verhalten. Explikation Auf eine Kategorieexplikation anhand von bedeutsamen Unterkategorien wird verzichtet. Es ist festzustellen, dass gleichermassen sachliche Faktoren, personale und interaktionale Faktoren die Klärungssituation prägen. Aufgrund der engen Verzahnung dieser Einflussgrössen wird die Einteilung von kritischen Ereignissen daher als schwierig erachtet. Für die vorliegende Untersuchung genügt allerdings die Rekonstruktion der Konzeptkategorien auf der ersten Ebene (vgl. Abbildung 43, S. 301). Beispiele Für den Gesprächsleiter könnten folgende Situationen besondere Schwierigkeiten hervorrufen: Tätlichkeiten in der Klärungssituation, Tränen bei den Betroffenen, die Konfliktparteien formulieren keine Lösungsideen, sie verbünden sich gegen den Gesprächsleiter oder verlassen während der Klärung den Raum. 6 Fertigkeiten Begriffsbestimmung Die Kategorie 'Fertigkeiten' umfasst Konzepte, welche auf die herstellende Anwendung des Wissens abzielen. Dieses 'Können' bezieht sich auf psychomotorische Operationen, um auf die Klärungssituation Einfluss nehmen zu können. Explikation Die potenziellen Fertigkeiten sind eingebettet in den Prozessablauf des Situationstyps. Aus theoretisch-empirischer Perspektive sind sie folglich Gegenstand der Kategorie 'Phasen'. Da ein besonderes Augenmerk auf Konzepte gerichtet werden soll, welche das 'Können' beschreiben, werden diese aus der Kategorie 'Phasen' extrahiert und zusätzlich als analytische Kategorie codiert. Diese Extraktion ist mit Schwierigkeiten verbunden, weil die Grenze zwischen Wissenskonzepten und Fertigkeiten im Einzelnen nicht immer trennscharf gezogen werden kann (darauf wurde bereits in Kap. 4.3.2, S. 50 hingewiesen). Des Weiteren stellt sich die Frage nach dem Anspruchsniveau. Welches Niveau des 'Könnens' soll als Fertigkeit
16 Vorbereitende Schritte für die Datenanalyse
307
gelten, welche für den vorliegenden Situationstyp im Kontext der untersuchten Zielgruppe als bedeutungsvoll eingestuft werden kann? Es ist davon auszugehen, dass sich in Abhängigkeit der Erfahrung und Geübtheit das 'Können' facettenreicher und folglich differenzierter ausgestaltet. Die Komplexität des Könnens bestimmt sich zudem über den inhaltlichen Bezug, auf den eine Fertigkeit gerichtet ist. Untrennbar zur Frage nach dem 'Wie' gehört das 'Was'. Genauso wie Kommunikation nicht losgelöst von einem Inhalt betrachtet werden kann, bezieht sich eine Fertigkeit stets auf eine Sache, Person, Beziehung usw. Dieser Inhaltsbezug kann sich wiederum unterschiedlich komplex zeigen. Aus diesen Überlegungen ergeben sich drei Bestimmungsgrössen, welche bei der Codierung zu berücksichtigen sind: Abgrenzung gegenüber Wissenskonzepten, Einschätzung des Präzisierungsgrades und Beurteilung der Komplexität der inhaltlichen Bezüge. Die Festlegung der Zugehörigkeit eines Konzeptes zur Kategorie 'Fertigkeiten' unterliegt folglich dem subjektiven Einfluss des Forschers. Beispiele/Nicht-Beispiele - Konzept 'Ziele festlegen': Dieses Konzept wurde aufgrund mangelnder Differenziertheit nicht als Fertigkeit codiert. Das Festlegen von Zielen kann auf sehr unterschiedliche Art und Weise geschehen. Der Gesprächsleiter kann diese basierend auf den Äusserungen der Konfliktparteien perzipieren, ohne nach aussen transparent zu machen. Er kann die Ziele mündlich kommunizieren, schriftlich festhalten, bildlich darstellen, mit den Konfliktparteien real verhandeln usw. Hinter der Formulierung 'festlegen' verbergen sich folglich unterschiedliche Techniken, welche von den Befragten benennbar sein müssten, damit diese als Fertigkeiten gelten können. Diese gesetzte Anforderung rührt daher, dass bei den fünf Interviewpartnern, welche dieses Konzept formulierten, offensichtlich noch keine facettenreichere Subjektive Theorie vorliegt. Es existiert zwar ein Wissen über die Relevanz des Konzepts, nicht jedoch ein Können, wie das Festlegen von Zielen in Konfliktklärungssituationen geschehen soll. - Konzept 'artikulieren der Gesprächsregeln': Dieses Konzept wurde aufgrund des geringen Komplexiätsgrades des inhaltlichen Bezugs nicht als Fertigkeit codiert. Im Gegensatz dazu sind die Konzepte 'artikulieren divergierender Themen zwischen den Konfliktparteien' oder 'artikulieren von Umsetzungsmassnahmen' als Fertigkeit einzustufen. Die Artikulation der Inhalte dieser beiden Konzepte wird im Vergleich zum erstgenannten Konzept aus der Sicht des Forschers als komplexer eingestuft. Dies lässt sich nicht zuletzt dadurch begründen, dass hier eine 'herstellende' Anwendung ohne vorherige 'erkennende' Anwendung kaum möglich ist (siehe hierzu AEBLI 2003, S. 359f.). 16.2.4
Codierung der Merkmalsausprägungen
Die inhaltlichen Konzepte der Strukturbilder werden zunächst schriftlich in Listenform erfasst, wobei für jede Codiereinheit in der Reihenfolge ihres Auftretens eine neue Zeile verwendet wird. Zur besseren Orientierung wird zusätzlich vor jeder Codiereinheit deren Zugehörigkeit zur jeweiligen Hauptkategorie (siehe Tabelle 19, S. 299) vermerkt. Diese Listen sind an-
308
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung 139
schliessend sinnvolerweise im RTF-Format elektronisch zu archivieren (siehe exemplarisch Anhang 4.3.2, Tabelle 53, S. 512). Im Unterschied zu der in Kapitel 16.1.1 (S. 295) beschriebenen Verbalisierung handelt sich bei der Darstellung in Listenform nicht um eine Vertextung, sondern um eine wortgetreue Übernahme der inhaltlichen Konzepte aus den Originalstrukturbildern. Diese Transformation geschieht faktisch ohne subjektiven Einfluss des Forschers. Ausgehend von den in Listenform überführten Strukturbildern, kann die Codierung des qualitativen Datenmaterials besser erfolgen, als dies bei der graphischen Darstellung der Theoriestrukturen möglich ist. Die thematische Indizierung bzw. das Codieren "bedeutet […] die Zuordnung von Textsegmenten zu Kategorien" (KELLE & KLUGE 1999/2008, S. 56). Wie bereits erwähnt, wird neben diesem von KELLE UND KLUGE beschriebenen subsumtiven Codierverfahren erweiternd auch eine abduktive Codierstrategie gewählt. Damit ist gemeint, dass inhaltliche Konzepte einer bereits bekannten Kategorie zugeordnet werden (Subsumption) oder aufgrund der inhaltlichen Konzepte neue Kategorien entwickelt werden (Abduktion). Um das Material so idiographisch wie möglich zu halten, erfolgt der Codiervorgang schrittweise über eine zuerst 140 graphemische und anschliessend semantische Vereinheitlichung von (nahezu) identischen Aussagen. Die inhaltliche Angleichung des Datenmaterials gestaltet sich nicht frei von subjektiven Einschätzungen des Forschers (siehe hierzu STÖSSEL & SCHEELE 1992, S. 344). Die beschriebene Angleichung bzw. Vereinheitlichung führt nicht zu einer Datenreduktion – sie ist keine inhaltliche Zusammenfassung. D. h., die Codierung muss so 'feinmaschig' gestaltet sein, dass jedes Konzept mit einem Code versehen werden kann. Es darf keine Aussage uncodiert bleiben, weil ansonsten eine verzerrungsfreie Anwendung der statistischen Verfahren nicht mehr möglich wäre. Die Codierung selbst erfolgt dabei 'frei' oder 'in vivo'. Im Gegensatz zur freien Codierung wird bei Letzterer ein von einem Interviewpartner geäussertes Konzept unverändert als Codename übernommen. Die Tabelle 20 soll das Gesagte verdeutlichen.
139 'RTF' steht für Rich-Text-Format. Dieses Format wird von den gängigen Textverarbeitungs-, Statistik- und QDAProgrammen unterstützt. 140 Die graphemische Verdichtung führt kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten (wie z. B. 'Zusammenfassung' und 'zusammenfassen' oder 'Ehrlichkeit' und 'ehrlich') zusammen.
309
16 Vorbereitende Schritte für die Datenanalyse
Tabelle 20: Freie und In-vivo-Codierung
Codierung
frei
in vivo
Codiereinheit
Æ
Codename
Quelle
Zerstörung der Akzeptanz des Mediators
Æ
Akzeptanzverlust des Gesprächsleiters
IP 27
Verständnis zeigen
Æ
verständnisvoll
IP 15
KP haben keine Masken aufgesetzt = Ehrlichkeit
Æ
Konfliktparteien sind ehrlich
IP 12
Klarheit schaffen
Æ
Klarheit schaffen
IP 12
Gesprächsverweigerung
Æ
Gesprächsverweigerung
IP 24
Auf die beschriebene Art und Weise wurden in den 23 Strukturbildern insgesamt 1071 Kon141 zepte mit Hilfe von 297 Codes indiziert (die vollständige Codeliste findet sich in Anhang 4.1 in Tabelle 51, S. 494–504). Die dabei entstandene codierte Listenform (siehe Anhang 4.3.3, Tabelle 54, S. 514) entspricht im Aufbau der ursprünglichen Listenform, jedoch mit dem Unterschied, dass bei Letzterer die inhaltlichen Konzepte der Subjektiven Theorien durch die Codes ersetzt wurden. Die Relationen sind nicht zu codieren, da diese in Form eines Pools vorgegeben sind (siehe Anhang 3.3, S. 489). 16.2.5
Transformation der codierten Listenformen in eine Rohdatenmatrix
Für die Auswertung der Daten anhand von statistischen Prozeduren müssen die qualitativen Daten in quantitative Daten überführt werden. Um beispielsweise Merkmalsunterschiede bei der Zielgruppe genau beschreiben zu können, werden die Codes durch diskrete, dichotome Variablen ersetzt, wobei die Merkmalsausprägungen als empirisches Relativ jeweils den Status '0' (nicht vorhanden) oder '1' (vorhanden) aufweisen können. Diese Nominaldaten bilden die Grundlage für die anvisierten Analysen. Die dadurch entstehende Rohdatenmatrix zeigt in 142 den Spalten die Variablen (N=274) und in den Zeilen die Anzahl Fälle (N=23). Darüber hinaus werden einzelne Codes zu kategorialen Variablen zusammengefasst, welche einen polytomen Charakter (mehrfach gestuft) aufweisen. Sie können als metrisch skaliert eingestuft werden, weil sie eine klare Dominanzstruktur (Rangordnung) aufweisen und die Grösse der Unterschiede klar definiert ist (TOUTENBURG & HEUMANN 2006, S. 6). "Eine Intervallskala ordnet den Objekten eines empirischen Relativs Zahlen zu, die so geartet sind, dass die Rangordnung der Zahlendifferenzen zwischen je zwei Objekten der Rangordnung der Merkmalsunterschiede zwischen zwei Objekten entspricht" (BORTZ & DÖRING 2003, S. 72).
141 Diese Zahl zeigt, dass die Strukturbilder eine sehr hohe Informationsdichte aufweisen. Durchschnittlich wurden pro Interviewpartner 46 Konzepte rekonstruiert (arithmetisches Mittel). 142 Die Rohdatenmatrix wird aus Platzgründen nicht abgebildet.
310
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Die sich aus dieser Aggregation ergebenden kategorialen Variablen werden in Tabelle 21 dargestellt. Die Datenmatrix der kategorialen Variablen findet sich in Anhang 4.4 (S. 516). Tabelle 21: Kategoriale Variablen
Variable VOR_sum VOR_a
Erläuterung Total inhaltlicher Konzepte der Kategorie 'Voraussetzungen', bezüglich… -
personaler Voraussetzungen
VOR_b VOR_c
-
räumlicher Voraussetzungen
-
inhaltlicher Voraussetzungen
VOR_d
-
weiterer Voraussetzungen
ZIEL_sum ZIEL_a ZIEL_b WERT_sum WERT_a WERT_b PHA_sum PHA_a
Total inhaltlicher Konzepte der Kategorie 'Zielsetzungen', bezüglich… -
Produktzielen
-
Prozesszielen
Total inhaltlicher Konzepte der Kategorie 'handlungsleitende Werte', bezüglich… -
Prozessgestaltung
-
Umgang mit den Parteien und deren Inhalten
Total inhaltlicher Konzepte der Kategorie 'Phasen', bezüglich… -
Phase a (über die Klärungssituation: vorausschauend)
PHA_b PHA_c
-
Phase b (über den Konflikt: rückblickend)
-
Phase c (im Konflikt)
PHA_d PHA_e
-
Phase d (über den Konflikt: vorausschauend)
-
Phase e (über die Klärungssituation: rückblickend)
KRITE_sum FE_sum FE_a FE_b FE_c FE_d FE_e KAT_Total KAT_Total_2 KON_Total KON_Total_2 DAUER_min
Total inhaltlicher Konzepte der Kategorie 'kritische Ereignisse' Total inhaltlicher Konzepte der Auswertungseinheit 'Fertigkeiten', bezüglich… -
Fertigkeiten, mit welchen während der Phase a gearbeitet wird.
-
Fertigkeiten, mit welchen während der Phase b gearbeitet wird.
-
Fertigkeiten, mit welchen während der Phase c gearbeitet wird.
-
Fertigkeiten, mit welchen während der Phase d gearbeitet wird.
-
Fertigkeiten, mit welchen während der Phase e gearbeitet wird.
Total Kategorien auf der ersten Ebene 143 Total Kategorien auf der zweiten Ebene (siehe Abbildung 43, S. 301) Total inhaltlicher Konzepte (Umfang der Subjektiven Theorien) Total inhaltlicher Konzepte für die Konzeptkategorien auf der zweiten Ebene Interviewdauer in Minuten
143 Die Kategorie 1d (Voraussetzungen 'weitere') wird hier nicht dazugerechnet, weil es sich um eine Restkategorie handelt. Ebenfalls nicht dazugezählt werden die Unterkategorien bezüglich Fertigkeiten, da es sich bei der Hauptkategorie 'Fertigkeiten' nicht um eine theoretisch-empirische Kategorie, sondern um eine analytische Extraktion handelt (siehe Kapitel 16.2.3, S. 302).
311
16 Vorbereitende Schritte für die Datenanalyse
Die Abbildung 45 fasst die nomothetische Analyse mit den betreffenden Arbeitsschritten zusammen. Die linke Spalte zeigt die in den vorhergehenden Kapiteln beschriebenen Stationen hin zu einer fallübergreifenden Darstellung (nomothetische Analyse Teil 1). Die rechte Spalte zeigt als Vorgriff den Prozess zur Generierung einer Interindividuellen Theoriestruktur (nomothetische Analyse Teil 2). Die zugehörigen Arbeitsschritte werden im Detail in Kapitel 19, S. 409ff., erläutert. Abbildung 45: Nomothetische Analyse (vgl. Abbildung 36, S. 273)
kommunikativ validierte, digital aufbereitete Strukturbilder
Bestimmung der Analyseeinheiten: Codiereinheit Kontexteinheit Auswertungseinheit:
Strukturbild der Theorie der Klärungshilfe Entwicklung einer neuen Codestruktur: Verdichtung der idiographisch formulierten Codes zu inhaltsanalytischen Kategorien Recodierung der Listenformen
schriftliche Erfassung der Strukturen der Subjektiven Theorien in Listenform Entwicklung einer Codestruktur
Bestimmung der Häufigkeit und Kombinationen der inhaltsanalytischen Kategorien anhand von Ähnlichkeitsmatrizen
Codierung der Listenform
Inhaltliche Aggregation
Entwicklung der codierten Listenform
Bestimmung der strukturellen Äquivalenz der prozessualen, inhaltsanalytischen Kategorien anhand von normierten Distanzmatrizen
Transformation in Rohdatenmatrix
Strukturelle Aggregation
Nomothetische Analyse: Teil 1
Nomothetische Analyse: Teil 2
Übersicht über die Strukturen der subjektiven Theorien (formale Charakterisierung bezüglich Umfang, Diversität und Homogenität)
Entwicklung der interindividuellen Theoriestruktur mit maximaler Repräsentativität Kontrastierung mit der Theorie der Klärungshilfe
Subjektive Ausformung der Auswertungseinheiten Geschlechtsspezifische Auffälligkeiten
Fallübergreifende Darstellung
Interindividuelle Konfliktklärungstheorie
312 17
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele
Das vorliegende Kapitel exploriert die Subjektiven Theorien von drei Interviewpartnern (vgl. hierzu KRAIMER 2002, S. 216). Die Fallrekonstruktionen zeigen, aus welchen Konzepten Subjektive Theorien bestehen und wie diese in der prozessualen Ausgestaltung des Situationstyps miteinander verknüpft sind. Zudem erlauben die Einzelfalldarstellungen dem Leser einen (wenn auch nicht repräsentativen) Einblick in den Entstehungsprozess der Daten. Die deskriptive Darstellung orientiert sich an der kategorialen Struktur des Interviewleitfadens und nicht an dem zeitlichen Ablauf des Interviews. Die Begründung hierfür ist in Kapitel 16.1.1 (S. 295) zu finden. Die Falldarstellung schliesst jeweils mit einer allgemeinen, forscherseitigen Einschätzung bezüglich Komplexität und innerer Konsistenz der Subjektiven Theorien sowie einer theorievergleichenden Beurteilung. Die Kriterien des Vergleichs werden so gewählt, dass sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die "Heterogenität und Varianz im Datenmaterial" (KELLE & KLUGE 1999/2008, S. 68) gut sichtbar werden. Zugleich müssen die Kriterien bezüglich Forschungsinteresse von Relevanz sein. Es macht erkenntnistheoretisch wenig Sinn, Vergleichskategorien zu bilden, welche zwar die Vielfältigkeit hervorbringen, für 144 die Beantwortung der Forschungsfragen jedoch uninteressant sind. Bewertende Aussagen finden sich folglich erst nach der Beschreibung des Einzelfalls, um dem Bestreben nach der Trennung von Deskription und Präskription so weit wie möglich 145 gerecht zu werden. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass den Bezugsrahmen dieser Analyse erstens die Theorie der Klärungshilfe und zweitens der vorliegende Situationstyp bilden. Ein anderes Bezugssystem würde zu anderen Aussagen führen. Die theorievergleichende Beurteilung diskutiert bedeutsame fehlende Konzepte, objektseitige Erweiterungen sowie Diskrepanzen bezüglich der Theorie der Klärungshilfe. Diese Kontrastierung muss mit dem Bewusstsein geschehen, dass es sich bei der Zielgruppe nicht um Experten betreffend die Bewältigung des vorliegenden Situationstyps handelt. Es darf nicht erwartet werden, dass die Erkenntnis-Objekte bereits über heuristisches Spezialwissen verfügen, weil sie weder auf eine langjährige (berufliche) Erfahrung noch auf Wissensbestände aus spezifischen Aus- oder Weiterbildungen zurückgreifen können. Aus Platzgründen muss darauf verzichtet werden, jedes einzelne Konzept zu würdigen. Die Analyse beschränkt sich folglich auf hervorzuhebende Aspekte, welche aus einer kritischen Perspektive als besonders bedeutsam eingestuft werden. Diese Einschränkung erfolgt in Kongruenz mit den Forschungsfragen 1a und 2 (siehe Kap. 8.1, S. 154), welche in den folgenden Ausführungen beantwortet werden.
144 Die drei genannten Forderungen gelten nicht nur für die Einzelanalysen, sondern genauso für die fallübergreifende Inhaltsanalyse und die Modellierung der interindividuellen Theoriestruktur. 145 Dieser Grundsatz soll soweit möglich für den gesamten Datenauswertungsprozess Gültigkeit haben. Eine solche Forderung wird deshalb mit einer gewissen Zurückhaltung formuliert, weil der Forscher der Auffassung ist, dass eine reine Beschreibung ohne Interpretation nicht möglich ist. Immerhin geschieht jegliche Deskription stets vor dem Hintergrund eines persönlichen Forschungsinteresses und bezieht sich folglich immer nur auf einen Ausschnitt einer sozialen Wirklichkeit (siehe exemplarisch WOLCOTT 2001, S. 30f.). Dennoch soll dem Leser die Möglichkeit gegeben werden, die Ergebnisse vor dem Hintergrund eines anderen Bezugsrahmens zu interpretieren und auszuwerten.
313
17 Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele
Fallauswahl Die Einzelfälle werden so gewählt, dass sie einen Einblick in die Vielfalt des empirischen Materials ermöglichen. Als erstes Auswahlkriterium wird, ausgehend von einem Vorschlag von BONATO (1990, S. 92f.), der Umfang der Strukturbilder zugrunde gelegt. Dieser kann über die absolute Häufigkeit der rekonstruierten Konzepte innerhalb eines Falles definiert werden (siehe hierzu später Kap. 18.1.1, S. 365). Die Konzepthäufigkeiten geben einen ersten – wenn auch sehr groben – Einblick in die Elaboriertheit der Subjektiven Theorien (siehe Abbildung 46). Abbildung 46: Umfang der Strukturen Subjektiver Theorien
70
66
Anzahl Codiereinheiten
65
61
60 55
51 52
50
47
45
42 42 42
43
53 54 54
55
48 49
45 45
40 40 37 38
40 35
33
34
30 24 17 14 15 20 23 9 10 25 19 6 8 27 7 21 26 18 5 12 22 13 16 11 Interviewpartner (IP)
Das zweite Auswahlkriterium ist qualitativer Natur. Die Vielfalt des Datenmaterials zeigt sich neben der Anzahl der Codiereinheiten pro Fall in weiteren Faktoren: z. B. Konkretisierungsgrad der Konzepte (präzise versus eher allgemeine Aussagen), 'blinde Flecken' in den Subjektiven Theorien, innere Konsistenz etc. Bei dem zweiten Auswahlkriterium handelt es sich um eine Einschätzung des Forschers, welche dementsprechend subjektiv mitgeprägt ist. Basierend auf diesen Überlegungen werden für die idiographische Analyse die Subjektiven Theorien von Manfred Ziegler (IP 27), Paul Weber (IP 11) und Sven Richter (IP 24) ausgewählt. Die Reihenfolge der Darstellung erfolgt nach Häufigkeiten der Konzepte der Subjektiven Theo146 rien, beginnend bei der geringsten.
146 Der kritische Leser wird sich möglicherweise die Frage stellen, weshalb bei der Fallauswahl drei männliche und keine weiblichen Personen berücksichtigt wurden, obschon von insgesamt 23 Teilnehmenden acht weiblich sind. Die zusätzliche Berücksichtigung der Geschlechter als Auswahlkriterium wäre dann gerechtfertigt, wenn der Umfang der Subjektiven Theorien zwischen weiblichen und männlichen Personen verschieden wäre. Diese Annahme kann in der vorliegenden Untersuchung allerdings nicht bestätigt werden (siehe hierzu Kap. 18.3.1, S. 401).
314
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Allgemeine Hinweise - In den Interviewausschnitten werden für die Aussagen der Interviewpartner jeweils die Initialen ihres Vor- und Nachnamens verwendet. Der Interviewleiter wird mit der Bezeichnung 'IL' abgekürzt. - Die Interviews wurden in Dialekt geführt und mussten folglich ins Hochdeutsche 'übersetzt' werden. - Die Zahlen zwischen zwei eckigen Klammern in den Interviewauszügen markieren die Dauer der Sprechpausen in Sekunden. Sprechpausen kleiner als eine Sekunde werden nicht dargestellt. - Zwei eckige Klammern mit drei Punkten dazwischen werden wie auch sonst üblich für die Kennzeichnung von Auslassungen verwendet. - Auf die in den Interviews verwendeten Fallbeispiele aus dem Interviewleitfaden wird jeweils in den eckigen Klammern verwiesen. Sie sind im Anhang 3.2 (S. 486ff.) vollständig dokumentiert. Zwecks besserer Verständlichkeit der Dialoge werden die Beispiele jeweils zusätzlich in den Fussnoten stichwortartig zusammengefasst. - Um dem Leser das Vergleichen der Subjektiven Theorien mit dem Strukturbild der Theorie der Klärungshilfe zu erleichtern, wird diese vorab auf den folgenden Seiten dargestellt. Darstellung der Strukturbilder Die Strukturbilder sind durchgängig nach denselben Prinzipien aufgebaut. Oben links werden die Voraussetzungen dargestellt, und oben rechts stehen die Konzepte, welche die Absichten präzisieren. Die Phasen werden im zeitlichen Ablauf dargestellt. Jede Teilphase wird mit einem Eingangsereignis (E) eröffnet und schliesst mit einem Ausgangsereignis (A) ab. Das Ausgangsereignis 'A-Ende' symbolisiert den Gesprächsabbruch. Jedes sonstige Ausgangsereignis bildet sodann den Anknüpfungspunkt für das nächste Eingangsereignis (A2 führt zu E2, A3 führt zu E3 etc.). Die Strukturbilder schliessen jeweils mit der Darstellung der handlungsleitenden Werte ab. Voraussetzung für ein präzises Verstehen der Strukturbilder ist die Kenntnis der verwendeten Symbole und Formalrelationen. Diese werden im Anhang 3.3 (S. 489) dargestellt und erklärt.
315
17 Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele
17.1
Strukturbild der Theorie der Klärungshilfe Abbildung 47: Strukturbild der Theorie der Klärungshilfe Vorliegen eines Konfliktes auf einer mittleren Eskalationsstufe
Abkürzungen: KP = Konfliktparteien KH = Klärungshelfer SK = Selbstklärung E = Eingangsereignis A = Ausgangsereignis Manif. = Manifestationen
gleichzeitige Anwesenheit beider Konfliktparteien (KP)
Auftrag für eine Konfliktklärung
Klärungsfähigkeit der Konfliktparteien (KP)
Klärungsakzeptanz des Vorgesetzten Anwesenheit des Vorgesetzten, wenn KP hierarchisch gleichgestellt
Klarheit in der Vergangenheit und Gegenwart durch intersubjektive Wahrheit
ungestörte Arbeitsatmosphäre Klärungshelfer muss willens und fähig sein
A1 Ende
Voraussetzung
nein
Konfliktklärung
Absicht
konkrete, transferorientierte Absprachen
Klärung sinnvoll und möglich?
ja
E1 Gesprächseröffnung Wenn die Führungskraft der beiden Konfliktparteien anwesend sein muss, erfolgt die Begrüssung durch diese. Sie übergibt im Anschluss daran die Leitung dem Klärungshelfer (KH).
kurze Begrüssung
Leitungsoberhand etablieren
Manif.
Dreieckssitzordnung durchsetzen
Manif.
Historie transparent machen
eigene Person vorstellen Der KH nennt alles, was ihm bereits bekannt ist; sonst entsteht der Eindruck der Voreingenommenheit. Die Darstellung soll jedoch neutral sein und bei den Konfliktinhalten nicht ins Detail gehen (keine Schlüsselsätze, Zitate etc.).
Wahrheit der Situation benennen
Rolle des KH klären Startsequenz skizzieren
Abschluss: mögliche Bedingungen und Hindernisse erfragen, bevor inhaltlich gestartet wird
A2
Rolle/Wünsche der KP klären Rahmen verdeutlichen (Zeit, Ziele, Sinn, Unterbrechungen etc.)
316
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Strukturbild der Theorie der Klärungshilfe (Fortsetzung)
E2 Selbstklärung Die SK kann nur dann gelingen, wenn der Prozess strikt eingehalten wird. Deshalb muss zu Beginn der Ablauf verständlich gemacht werden (Sinnstiftung).
Beginn der Selbstklärung (SK): Prozess explizieren
Das Verstehen der KP bezieht sich auf drei Bereiche: - sachlich / organisatorisch verstehen - persönlich verstehen - zwischenmenschlich verstehen
verstehen
klare Struktur/Sequenzierung einhalten Notizen machen/ memorisieren
KH fühlt sich noch unsicher
nein
keine Stellungnahme durch KH (eigene Zurückhaltung)
verstehen
ja Sichtweisen der KP zusammenfassen
Beginn bei derjenigen Partei, welche mehr belastet ist, welche den Konflikt als akuter erlebt ('Ankläger', Auftraggeber).
A/B auffordern zu erzählen B/A auffordern, ruhig zuzuhören
Abschluss: Überleitung zum Dialog
A3
KP spricht frei, KH kann folgen?
ja
• •
konzentriert zuhören Aufmerksamkeit signalisieren
nein
KP spricht kaum/ gehemmt
ja
paraphrasieren
nein
Gesagtes unvollständig/unklar
ja
nachfragen/präzisieren
nein
Gefühle sind unklar
ja
nachfragen/präzisieren (noch nicht verbalisieren, dies geschieht erst in der nächsten Phase)
nein
beide KP verstanden? ja
nein
317
17 Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele
Strukturbild der Theorie der Klärungshilfe (Fortsetzung) E3 Dialog
Wie in den Dialog einsteigen? KH greift mehrere belastende Themen auf und lässt die KP bestimmen
Grundsätze: • mit dem Schwierigsten beginnen • Akutes vor Chronischem
KH bestimmt ein zentrales, belastendes Thema
Pauschale, nahtlose Überleitung durch KH
nein
sequenzierten, vertiefenden, entschleunigten Dialog führen
Genügend Zeit vorhanden? (ca. 15 Min. vor Sitzungsende)
ja
nein Abschluss: Dialog klar und deutlich durch eine Aussage des KH abbrechen
sequenzierten, vertiefenden, entschleunigten Dialog führen
KP sprechen unpersönlich, Schlagabtausch?
alle zentralen Themen klar geworden?
ja
sofort unterbrechen dialogisieren dialogisches Doppeln • paraphrasieren (selten) •
ja
• •
nein
Zentrale Themen unausgesprochen? KP verlieren sich im Detail?
ja
• zentrale •
Themen benennen, KP damit konfrontieren und zur Selbstaussage auffordern dialogisches Doppeln
nein
Themen nur angedeutet? Wenig konkret?
ja
• •
konkrete Beispiele erfragen vertiefendes, präzisierendes Nachfragen
nein
Klärungszuversicht bricht ein? Irritationen zwischen KP und KH?
ja
•
nein
Gefühle bleiben im Verborgenen?
ja
nein
(vorschnelle) Zugeständnisse durch die KP?
•
ja
kurze, inhaltliche Zwischenerklärungen metakommunikative Aussprache
Gefühle identifizieren, ettiketieren, akzeptieren und transformieren durch: • dialogisches Doppeln • verbalisieren • vertiefendes, präzises Nachfragen (selten) Zugeständnisse auf intersubjektive Glaubhaftigkeit prüfen
nein
(vorschnelle) Lösungs- oder Kooperationsangbeote durch die KP? nein
durch dialogisches Doppeln Wünsche in Vorwürfe umformulieren • Lösungsideen für die nächste Phase 'aufbewahren' •
ja
A4
318
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Strukturbild der Theorie der Klärungshilfe (Fortsetzung)
E4 Erklärungen und Lösungen Das emotional Aufgewühlte wird beruhigt – dies bei den KP, aber ggf. auch bei dem KH. Durch systemische Erklärungen wird eine Akzeptanz für das So-Sein geschaffen.
Situation kognitiv begreiflich machen
Manif.
persönliche Rückmeldung, wie der KH die KP erlebt hat Gesamtsituation zusammenfassend und systemisch ausgerichtet beschreiben abstrahierender Sachkommentar
Lösungserarbeitung Gesamtsituation anhand eines Modells systemisch erklären Abschluss: Manif. konkrete, messbare, transferorientierte Absprachen und Bedingungen festlegen
konkrete, überprüfbare Kriterien definieren Vereinbarungen schriftlich festhalten Handlungsschritte zur Umsetzung entwerfen (Wer? Was? Bis wann? Womit?)
A5
Lösungserarbeitung
Lösungsvorschläge der KP sammeln, ohne diese zu bewerten
keine Lösungsvorschläge vorhanden?
ja
Lösungsvorschläge durch KH als paradoxe Intervention anbieten
'Ideale Lösungen' werden durch den KH angeboten und zugleich für unmöglich erklärt.
nein Lösungsideen schrittweise aufgreifen
Bewertung der Lösungsideen
ja
Einigung vorhanden?
Die verschiedenen Lösungsideen müssen zwischen den KP verhandelt werden, damit diese realisiert werden können. Der KH agiert in der Rolle des 'critical friend'. Er prüft die intersubjektive Adäquanz sowie die Realisierungsadäquanz. Idealisierte, wenig konkrete Lösungsideen und vage Hoffnungen müssen in konkrete Strukturen und Prozesse überführt werden.
nein
E2
319
17 Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele
Strukturbild der Theorie der Klärungshilfe (Fortsetzung)
E5 Gesprächsabschluss
kein Feedback über den Inhalt der Klärung einholen
metakommunikativer Rückblick auf die Klärungssituation
Beschwerden von Manif. den KP über den Klärungsprozess und den KH einholen
Termin für Nachbesprechung anbieten
vor übertriebenen Hoffnungen warnen
Abschluss: Verabschiedung
A5 Ende
handlungsleitende Werte im Umgang mit den Konfliktparteien und deren Inhalten
Wertausrichtung der Klärungshilfe
empathisch, feinfühlig, liebevoll, sanft, ruhig, verständnisvoll, akzeptierend
direkt, unerschrocken, genau, präzise, klar, vor nichts zurückschreckend
handlungsleitende Werte für die Prozessgestaltung
flexibel, ungeplant, situationsorientiert, anpassungsfähig
strukturiert, geplant, modellorientiert, geordnet, entschlossen, unbeirrt, bestimmt, stabil
Die Verbalisierung dieses Strukturbildes wurde in Kapitel 7.2 (S. 95) ausführlich dargestellt.
320
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
17.2
Sven Richter
17.2.1
Strukturbild Abbildung 48: Strukturbild von Sven Richter (IP 24) Sven Richter 7. Dez. 2006 10.30 Uhr
sachliches Gespräch möglich • unterschiedliche Meinungen, dann gegenseitige Blockade
Zufriedenheit aller KP mit Lösung
• kein
E1 (A und B sollen miteinander erzählen)
persönliche Voraussetzungen (Motivation, Wille, Bereitschaft)
Voraussetzung
Konfliktklärung
Standpunkte suchen und Probleme benennen, erkennen
Worum geht es genau?
Gesprächsregeln: • sachlich bleiben • nicht verbal angreifen • Emotionen zurückhalten • positive Grundhaltung aufrechterhalten
verschiedene Standpunkte der KP erfragen
• auffordern,
KP unterbrechen sich?
ja
nein
Problem klar geworden? ja zusammenfassen des Gesagten und Thema festlegen
A2
nein
Emotionen zurückzuhalten • Gesprächsregeln benennen • auf Ablauf hinweisen Schlichter muss nachfragen
gemeinsame Lösung mit allseitiger Akzeptanz
konkrete, verbindliche Massnahmen festlegen
Klarheit schaffen
Absicht
E2
Problemlösungen suchen
Lösungsideen sammeln (Brainstorming)
bei Komplexität macht sich der Vermittler Notizen
Manif.
Lösungsideen nicht vorhanden?
nein
A3
ja
A3
ja KP herausfordern durch Nachfragen
Lösungsideen?
nein
A Ende
Manif.
zeitlicher Unterbruch
321
17 Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele
Strukturbild von Sven Richter (Fortsetzung)
E3
Akzeptanz? Zufriedenheit?
E4
Lösungen bewerten
Lösungsideen bewerten
festlegen von konkreten Massnahmen
Lösungsdiskussion führen mit KP
Lösungen gefunden?
Besprechung des weiteren Vorgehens, z. B. neues Treffen nein
A2 Verabschiedung und Schlusswort
ja Wer macht was genau?
Schlussphase
konkrete Massnahmen suchen
A2 A Ende
handlungsleitende Werte im Umgang mit den Konfliktparteien und deren Inhalten
• verständnisvoll
• genau
• geduldig
handlungsleitende Werte
handlungsleitende Werte für die Prozessgestaltung
–
• systematisch
322
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
17.2.2
Verbalisierung des Strukturbildes
"Ich fordere die Konfliktparteien dann jeweils heraus, indem ich sie nochmals auf ihren Streit hinweise und gleichzeitig auf ihr Unvermögen aufmerksam mache, eine Lösung zu finden." Voraussetzungen Die Argumentation von Sven Richter setzt bei dem Konfliktausmass an. Für ihn ist eine 147 Schlichtung durch einen Dritten dann angebracht, wenn die Konfliktparteien kein sachliches Gespräch miteinander führen können. Diese Situation liegt seiner Ansicht nach dann vor, wenn unterschiedliche Meinungen zu einer gegenseitigen Blockade führen. Die Schlichtungsbereitschaft der Konfliktparteien scheint für ihn keine notwendige Voraussetzung zu sein – zumindest nicht für berufliche Situationen. Dies zeigt unter anderem der folgende Dialogausschnitt: IL:
Wann macht es deiner Meinung nach Sinn, eine Schlichtung durchzuführen?
SR:
Wenn kein Gespräch mehr stattfindet. Oder kein sachliches Gespräch – sag ich mal. Wenn es bloss noch darum geht, dem anderen zu sagen, dass er ein Trottel ist, nur weil er eine andere Meinung hat. Oder wenn gar nicht mehr geredet wird. Wenn die Parteien sich aus dem Weg gehen. Das hab ich in meinem Theaterverein öfters erlebt. Da gab es schon so Situationen mit unterschiedlichen Meinungen. Und dort gab es dann Situationen, wo die Leute nicht mehr miteinander geredet haben.
IL:
Und…
SR:
Ähhh [3,] solange sie selber diskutieren können, habe ich nichts gemacht. Erst wenn sie sich blockiert haben. Das ist das Entscheidende. Wenn sie selber nicht mehr weiterkommen.
IL:
Gut, das habe ich glaub verstanden. Dennoch: Liegt dann hier eine Konfliktsituation vor, 148 welche einer Schlichtung bedarf? [Beispiel 1]
SR:
Ja, das wär eben so eine Blockade, die ich meinte.
IL:
Und hier? [Beispiel 2]
149
SR:
Nein, sie reden ja noch miteinander. Und da braucht es mich nicht. [4]
IL:
Also, dann interessiert mich, ob es für dich eine Obergrenze gibt, wo du sagst…
SR:
Da greife ich nicht mehr ein?
IL:
Ja genau. Also Situationen, wo du dich fernhalten würdest.
SR:
[4] Öhmm… [4], nein, eigentlich nicht.
IL:
Solche Situationen kennst Du also keine?
SR:
Doch schon [2].
147 Sven Richter verwendet zur Bezeichnung des Situationstyps den Begriff 'Schlichtungssituation'. Dementsprechend benennt er seine Rolle als Schlichter. 148 Beispiel 1: Sie sind Schulleiter/in einer Fachhochschule. Nach einem halben Jahr stellt sich heraus, dass der Hauswart und die Hilfskraft ein intimes Verhältnis miteinander führen. Als die Frau des Hauswartes dies erfährt, ignoriert sie die Hilfskraft und weigert sich, künftig mit dieser zusammenzuarbeiten. 149 Beispiel 2: Zwei Mitarbeiter A und B führen schon seit längerer Zeit intensive Diskussionen. Heute Mittag führten die beiden einmal mehr eine verbale Auseinandersetzung miteinander. Die Zusammenarbeit zwischen A und B wird dabei nicht grundsätzlich in Frage gestellt.
17 Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele
323
IL:
Das heisst?
SR:
Das sind dann Situationen, wo es nichts gebracht hat. Aber das ist ja dann nicht eine Obergrenze in dem Sinne. Also im Nachhinein wäre es vielleicht eine gewesen. Ich kann ja nicht im Voraus wissen, wann es was bringt und wann nicht.
IL:
Nun, vielleicht gibt es für dich Indikatoren, welche auf solche Situationen hinweisen?
SR:
Hmm [3], nein, könnte ich nicht sagen. Probieren sollte man es auf alle Fälle.
IL:
Und wenn die Konfliktparteien das gar nicht wollen?
SR:
Du meinst, dass eine Bereitschaft da sein muss [1]? Und wenn die dann nicht da ist, dann macht eine Schlichtung keinen Sinn?
IL:
Ja, das könnte man ja als Voraussetzung sehen, also die Bereitschaft für eine Schlichtung.
SR:
Nein, das sehe ich nicht so. Im Verein, wenn es nicht mehr anders geht, dann muss man schlichten. Egal, ob sie dann wollen oder nicht.
IL:
Du bist also der Meinung, dass man in beruflichen Situationen Konfliktparteien zu einer Schlichtung zwingen kann. Stimmt das?
SR:
Ja [2], ja, das sehe ich so. Wenn es sein muss. Ich würde es trotzdem probieren.
Eine zusätzliche Voraussetzung sieht Sven Richter in der Person des Schlichters. Dieser muss motiviert, willens und bereit sein, eine Schlichtung anzubieten: "Wenn das nicht gegeben ist, dann steht das Gespräch sowieso schon auf wackligen Füssen." Weitere Voraussetzungen gibt es für ihn nicht. Zielsetzungen Eine erfolgreiche Schlichtung zeigt sich darin, dass während des Gesprächs Klarheit geschaffen werden kann. Die Konfliktparteien müssen sich verstehen können. Auf diesem gegenseitigen Verständnis aufbauend muss die Lösung von allen Konfliktparteien akzeptiert werden, und zusätzlich sollen die Betroffenen mit der Lösung zufrieden sein. Die Lösung muss letztlich in konkreten, verbindlichen Massnahmen münden. "Die gemeinsame Lösung braucht allseitige Akzeptanz, ohne dass einer in den Boden gestampft wurde und der dann einfach sagt, 'dann macht doch einfach' – das darf nicht sein. Die Lösung muss für alle zufriedenstellend sein. Und dann muss man auch Massnahmen dazu festlegen [2]. Also konkrete Sachen, mit denen dann alle zufrieden sind." Sven Richter wurde das Beispiel 10 zur Beurteilung vorgelegt: IL:
Ich möchte dir ein weiteres Beispiel zeigen. Stell dir vor, eine Schlichtung steht kurz vor dem Ende [1]. Die Schlichtung ist sehr positiv verlaufen, die Parteien sind zufrieden und versöhnlich gestimmt. Sie geben sich die Hände, und dann sagt die Partei A zu der anderen: 'Ich bin so erleichtert. Jetzt wird alles gut'. Wie reagierst du innerlich und äusserlich drauf?
SR:
Innerlich?
IL:
Damit meine ich, was eine solche Aussage bei dir auslöst.
SR:
Ahh [2], ja ich wäre sehr zufrieden mit mir [2]. Das zeigt ja, dass die Lösung akzeptiert wird und dass sie mit der Lösung zufrieden sind.
IL:
Ich könnte diese Aussage ja auch kritisch interpretieren.
SR:
Wieso kritisch? Also das sind doch die besten Voraussetzungen dafür, dass die Lösung funktioniert [2]. Was sollte da kritisch sein?
IL:
Na ja [1], eine euphorische Stimmung kann auch gefährlich sein. Die Konfliktparteien vereinbaren Dinge, welche nicht alltagstauglich sind.
324
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
SR:
Ach so [4]. Also wenn die beiden mit der Lösung zufrieden sind und beide die Lösung akzeptieren können, dann ist sie auch alltagstauglich. Man ist ja nicht mit Dingen zufrieden, von denen man glaubt, dass sie nicht klappen.
IL:
Die Konfliktparteien könnten sich irren [2]. Gerade wegen der euphorischen Stimmung.
SR:
Das glaub ich nicht. Nein. Ich find das sehr positiv, wenn zwei nach einer Auseinandersetzung wieder so zufrieden sind. Das bekräftige ich dann auch [2]. Also [1], ich motivier die beiden, dass es gut wird.
IL:
Gut, dann möchte ich kurz zusammenfassen: Das Ziel besteht für dich darin, dass die Lösungen von den Parteien akzeptiert werden und diese damit zufrieden sind.
Handlungsleitende Werte "Ich muss auf die Konfliktparteien eingehen können. Also Verständnis für ihre Situation aufbringen können. […] Damit habe ich auch keine Mühe, weil ich ein sehr geduldiger Mensch bin. Ohne Geduld geht das nicht." Der Wert 'Verständnis' ist für Sven Richter sehr wichtig. Seine verständnisvolle Art zeigt sich auch darin, dass er geduldig ist. Gleichzeitig bedeutet verständnisvoll zu sein nicht, dass der Schlichter mit den Konfliktparteien und ihren Inhalten einverstanden sein muss. "Ich muss sie verstehen können, die Inhalte nachvollziehen können." Damit Sven Richter seine Zielsetzung 'Klarheit schaffen' erreichen kann, muss er präzise arbeiten. Dieser präzise Umgang mit den Inhalten der Konfliktparteien steht bei ihm in enger Verbindung mit einem systematischen Vorgehen während des Gesprächs. Dies wird aus dem folgenden Interviewausschnitt deutlich: IL:
Ich möchte dich mit dem folgenden Beispiel konfrontieren [Beispiel 7]: In einem Konfliktklärungsgespräch mit zwei Konfliktparteien sagt eine Partei (A) zu der anderen (B): 'Ich wollte nur helfen, es war keine böse Absicht.' Du bist innerlich überzeugt, dass diese Aussage nicht stimmt. Was machst du in einer solchen Situation?
SR:
[7] Puhh [3]. Ja, zuerst mal irgendwie [2,] das ist jetzt schwierig [1], den Grund würde ich irgendwie nennen, warum ich daran zweifle. Ja wie, ähhh [1], also eigentlich würde ich [2], also wenn ich jetzt wirklich davon ausgehe, dass ich es nicht glaube, dann… [3]
IL:
Kannst du dich an eine solche Situation aus deiner Vergangenheit erinnern? Kennst du das?
SR:
Ja, das schon. Aber ich find's jetzt schwierig zu sagen, was ich dann mache. Ich mach einfach weiter.
IL:
Das heisst, du würdest deinen persönlichen Zweifel auf die Seite stellen.
SR:
Also [3]. Ich würde da meine Meinung nicht sagen. So jetzt in diesem theoretischen Beispiel würde ich das nicht machen. Ja.
IL:
Und in deinen erlebten, praktischen Erfahrungssituationen?
SR:
Dann [2], ähh…[2]
IL:
Bist du dir unsicher, was du genau tun würdest?
SR:
Ja, das kann ich nicht klar sagen. Eher so [2], also ich bewerte so was glaub schon nicht. Ich arbeite einfach sauber weiter. So wie ich es mache. Ich lass mich da nicht aus dem Konzept bringen. Das ist wichtig.
IL:
Wieso bewertest du eine solche Aussage nicht, wenn du daran zweifelst? Was hindert dich daran?
SR:
[5] Ich glaub, das ist nicht sinnvoll. Sonst kann ich nicht mehr systematisch arbeiten. Deswegen.
17 Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele
325
IL:
Das Argument könnte ja auch sein, dass ein Schlichter grundsätzlich seine Meinung nicht sagen soll.
SR:
Das würd ich so nicht sagen. Ein Schlichter muss an seiner Planung festhalten. Das ist entscheidend [2], also nicht auf Nebenschauplätze eingehen. Wenn ich nicht klar bin, dann frage ich nach, um zu verstehen. Also hier höre ich genau hin. Da ist es dann nicht wichtig, ob ich einverstanden bin oder eben nicht. Wenn ich begriffen hab, dann mach ich weiter [2]. Ja.
Phasen Sven Richter strukturiert die Gesprächssituation in vier Hauptphasen: Standpunkte suchen und Probleme benennen/erkennen, Problemlösungen suchen, Lösungen bewerten, Schlussphase. a) Standpunkte suchen und Probleme benennen/erkennen Das Gespräch eröffnet Sven Richter mit einer Frage an die Konfliktparteien. Er möchte dadurch erfahren, worum es aus der Sicht der Betroffenen genau geht. "Zuerst kommt die Frage, 'wo ist eigentlich das Problem'? Dann erzählen sie ihren Standpunkt [2]. Dann frage ich genauer nach. […] Das geschieht miteinander. Also nicht zuerst A und dann B, sondern gleichzeitig. Dann sieht man das Problem am schnellsten. Weil dann fängt einer an zu erzählen, der andere fällt ihm dann vielleicht ins Wort, und so erfahre ich dann auch schon etwas über diesen. Da schaue ich unbedingt darauf, dass beide gleichzeitig erzählen. Dann sieht man, wann sie sich gegenseitig unterbrechen." Wenn sich die Konfliktparteien 'zu häufig' gegenseitig unterbrechen, dann fordert Sven Richter die Konfliktparteien auf, ihre Emotionen zurückzuhalten, oder er weist auf den Ablauf oder die Gesprächsregeln hin. 'Zu häufig' bedeutet für ihn, "dass keiner mehr ein Wort sagen kann, ohne dass der andere schon wieder am reinrufen ist". Die Gesprächsregeln zeigen sich so, dass die Konfliktparteien aufgefordert werden, sachlich zu bleiben, sich nicht verbal anzugreifen, die Emotionen zurückzuhalten und eine positive Grundhaltung aufrechterhalten. Solange die Situation aus seiner Sicht nicht klar ist, muss nachgefragt werden. Wenn das Problem durch den Schlichter erkannt wurde, geht es darum, dass dieser das Gesagte zusammenfasst und anschliessend das Konfliktthema festlegt. b) Problemlösungen suchen Nachdem das Problem von dem Schlichter erkannt wurde, gilt es nach Lösungsideen zu suchen. Dazu bedient sich Sven Richter der Methode des 'Brainstormings'. Er sammelt mögliche Lösungsvorschläge der Konfliktparteien, ohne diese zu bewerten. Falls das Problem vielschichtig ist, macht er sich Notizen. Formulieren die Konfliktparteien keine Lösungsideen, versucht er diese herauszufordern. "Ich fordere die Konfliktparteien dann jeweils heraus, indem ich sie nochmals auf ihren Streit hinweise und gleichzeitig auf ihr Unvermögen aufmerksam mache, eine Lösung zu finden. Damit fühlen sie sich herausgefordert und formulieren dann erste Vorschläge." Falls das Nachfragen und Herausfordern nicht zu Lösungsideen führt, beendet er das Gespräch, welches nach Möglichkeit zu einem späteren Zeitpunkt weitergeführt wird.
326
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
c) Lösungen bewerten Bei vorhandenen Lösungsideen sieht Sven Richter seine Aufgabe darin, diese zu bewerten. Dies geschieht anhand der beiden Kriterien 'Akzeptanz' und 'Zufriedenheit'. "Ich schaue mir dann die Lösungsideen genau an und überlege, wer welche Ideen akzeptieren kann [2]. Wie sieht die Zufriedenheit aus. Er beurteilt die Ideen aus seiner Perspektive und bittet die Parteien, die vorhandenen Gedanken anschliessend zu diskutieren. Dabei lässt er die Konfliktparteien gewähren, bis diese idealerweise eine gemeinsame Lösung gefunden haben. Ihm ist es dabei nicht wichtig, ob die Parteien seiner Beurteilung folgen oder nicht. Können die Parteien basierend auf den vorhandenen Ideen keine gemeinsame Lösung finden, dann beginnt die Suche (Brainstorming) erneut. Wurde hingegen eine gemeinsame Lösung gefunden, verlangt Sven Richter von den Konfliktparteien, dass diese nach konkreten Massnahmen suchen, wie die Lösung umgesetzt werden kann. "Da ist es mir wichtig, dass die Massnahmen genau benannt werden. Also nicht so schwammig [2], ähm [1], 'wir machen dann mal'. Sondern wer macht was genau." Nachdem mögliche Massnahmen benannt wurden, kann das Gespräch zum Abschluss gebracht werden. d) Schlussphase In der Schlussphase müssen die möglichen Massnahmen festgelegt werden. Dies stellt für Sven Richter den letzten 'kritischen Punkt' dar. Konnten sich die Konfliktparteien auf das Festlegen der notwendigen Massnahmen einigen und sind sie damit zufrieden, steht das Gespräch kurz vor dem Abschluss. Ihm ist es wichtig, dass vor der Verabschiedung das weitere Vorgehen mit den Konfliktparteien besprochen wird. Idealerweise wird dabei ein Termin für ein zweites Treffen vereinbart. Diese Nachbesprechung dient der Überprüfung der "Alltagstauglichkeit" der Lösungen. Kritische Ereignisse Der letzte Teil der Rekonstruktionssitzung thematisiert mögliche kritische Ereignisse, welche in einem Konfliktklärungsprozess entstehen können. Damit die Interviewpartner dieselbe Vorstellung über das Rekonstruktionsziel 'kritische Ereignisse' entwickeln können, wird dazu eine kurze Instruktion gegeben. Insbesondere soll darauf hingewiesen werden, inwiefern sich dieser Themenbereich von den restlichen Hauptkategorien unterscheidet. Zur Verdeutlichung wird exemplarisch der betreffende Ausschnitt aus dem Interview mit Sven Richter dargestellt: "Mit kritischen Ereignissen meine ich nicht solche, welche lediglich unangenehm oder 'schwierig' sind. Es sind also nicht Ereignisse gemeint, welche dich fordern, sondern überfordern würden. Ereignisse also, welche deine Arbeitsfähigkeit behindern. Das sind Situationen, in welchen dein explizierter Gesprächsverlauf in Gefahr ist. Ich nenne solche Situationen immer 'Ach-du-Schreck-Situationen'. Die Ereignisse können solche sein, welche du schon konkret erlebt hast, aber auch solche, von denen du glaubst, dass sie dich überfordern könnten. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu dem, was wir bis anhin gemacht haben. Bis anhin bist du ja immer von deinen persönlichen Erfahrungen ausgegangen. Jetzt geht es darüber hinaus auch darum, potenziell kritische Ereignisse zu antizipieren. Verstehst du, was ich meine?"
17 Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele
327
Nach dieser kurzen Instruktion wurden die antizipierten, kritischen Ereignisse rekonstruiert. Zugunsten einer besseren Übersichtlichkeit wird diese Kategorie in der Aufzählungsform dargestellt: - Falls eine Konfliktpartei zu Beginn des Gesprächs nicht bereit ist, über die Situation Auskunft zu geben, wüsste Sven Richter nicht, wie er mit dieser Situation umgehen würde. Die Gesprächsverweigerung erachtet er besonders zu Beginn des Gesprächs als kritisch. - Sind die Konfliktparteien nicht in der Lage, in der zweiten Phase Lösungsideen zu entwickeln, führt dies unweigerlich zu einem (vorläufigen) Gesprächsabbruch. - Sven Richter merkt, dass er nicht imstande ist, beide Konfliktparteien gleichermassen "fair" zu behandeln. Eine solche Antipathie, gegen welche er nichts ausrichten könnte, würde ebenfalls zu einem Abbruch des Gesprächs führen. - Die Lösungen der Konfliktparteien sind abstrakt und wenig konkret. Diese Situation ist nach Sven Richter deshalb kritisch, weil die "Messbarkeit" und "Überprüfbarkeit" der Lösungen nicht möglich ist. Auszüge aus dem Postskriptum Das Postskriptum enthält – abhängig von der Interviewsituation – Bemerkungen zum Inhalt der informellen Gespräche vor oder nach dem Interview, Angaben zum Vorwissen des Forschers über die Befragten sowie weitere 'Auffälligkeiten', welche als relevant erscheinen (vgl. Kap. 11.7.4, S. 243). Auf die Frage, welchen Eindruck Sven Richter von seiner rekonstruierten Subjektiven Theorie hat, gibt er folgende Antwort: "Es war anstrengend. Jetzt bin ich echt ausgelaugt [2]. Aber es passt. [..] Und, gab es grosse Unterschiede zwischen den Leuten?" Sven Richter wirkte zu Beginn des Interviews im Vergleich zu den anderen Interviewpartnern sehr nervös. Ich hatte den Eindruck, er versuche ein Idealbild darzustellen – dies ganz im Sinne einer Bewertungserwartung. Die hypothesengerichteten und konfrontierenden Fragen führten oft zu einem mehrmaligen Überdenken seiner Aussagen und wirkten dadurch gleichzeitig entschleunigend. Die kommunikative Validierung und letztlich das gesamte Interview dauerte – in Bezug zu der Anzahl rekonstruierter Konzepte – mit 4 Stunden 23 Minuten überdurchschnittlich lange. 17.2.3
Elaborationsgrad und innere Konsistenz
Der Elaborationsgrad des Strukturbildes wird als eher gering eingeschätzt. Sven Richter verwendet insbesondere in den Hauptkategorien 'Werte' und 'Phasen' wenige unterschiedliche Konzepte. Dabei nimmt er relativ grobe Differenzierungen vor. Trotz mehrmaligen Versuchen war in der Kategorie 'Handlungsleitende Werte' für die Prozessgestaltung lediglich der Wert 'systematisch' rekonstruierbar. Weitere Ausführungen hierzu konnte er nicht machen. Die Ausgestaltung der Phasen bleibt an mehreren Stellen wenig nuanciert. Es fehlt an einer klaren Gesprächseröffnung. Darüber hinaus versucht Sven Richter nicht, die Konfliktparteien in Form eines Dialogs miteinander in Kontakt zu bringen. Das gesamte Gespräch verläuft fast ausschliesslich über ihn als vermittelnde Position. Des Weiteren fällt auf, dass er die Konfliktparteien durch Nachfragen versucht 'herauszufordern', falls diese keine Lösungsideen formulieren. Bleibt diese Intervention erfolglos, führt dies zu einem Abbruch des Gesprächs. Zusätz-
328
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
liche Interventionsstrategien, welche unter Umständen zu einer Weiterführung des Gesprächs führen würden, scheinen nicht vorhanden zu sein. In diesem Zusammenhang ist auch zu bemerken, dass Sven Richter während des gesamten Gesprächs lediglich mit drei Fertigkeiten arbeitet: 'nachfragen', 'zusammenfassen' und 'Notizen machen'. Zusätzliche, anspruchsvollere Techniken zur Gestaltung des Prozesses konnten nicht rekonstruiert werden. Die Rekonstruktion der Subjektiven Theorie von Sven Richter ist über weite Teile als konsistent zu beurteilen. Aus der Sicht des Forschers sind lediglich zwei Inkonsistenzen festzustellen, welche jedoch wiederum mit dem eher geringen Elaborationsgrad zusammenhängen. Der erste Widerspruch betrifft die Phase 'Standpunkte suchen und Probleme benennen/erkennen' in Verbindung mit dem handlungsleitenden Wert 'systematisch'. Sven Richter versucht die Sichtweisen der Konfliktparteien zeitgleich miteinander zu erfragen. Damit steht er nicht nur im Widerspruch mit der Theorie der Klärungshilfe (s. u. S. 331), sondern auch mit dem von ihm genannten Wert des 'systematischen Vorgehens'. Ein solches Arrangement lässt ein durchdachtes, schrittweises Arbeiten kaum zu. Mitunter ist zu erwarten, dass sein handlungsleitender Wert 'Genauigkeit in Bezug auf die Parteien und deren Inhalte' ebenfalls geschwächt wird. Die zweite Inkonsistenz ist darin zu sehen, dass Sven Richter versucht, während des Prozesses Klarheit zwischen den Konfliktparteien zu schaffen, gleichzeitig jedoch darauf verzichtet, diese gegenseitig miteinander in Kontakt zu bringen. Er unterliegt damit der Gefahr, dass er als Gesprächsleiter für sich selbst Klarheit schaffen kann, diese Klarheit allerdings für die Konfliktparteien nicht in demselben Ausmass zutreffend sein muss.
17 Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele
17.2.4
329
Spannungsverhältnis zur Theorie der Klärungshilfe
Fehlende Konzepte Die Tabelle 22 zeigt die bedeutsamen fehlenden Konzepte in der Subjektiven Theorie von Sven Richter im Vergleich zur wissenschaftlichen Modellierung. Tabelle 22: Fehlende Konzepte bei Sven Richter
Fehlende Konzepte Voraussetzungen - gleichzeitige Anwesenheit beider Konfliktparteien - Klärungsakzeptanz - Klärungsfähigkeit der Konfliktparteien - Auftrag für eine Konfliktklärung - ungestörte Arbeitsatmosphäre Zielsetzungen - – Handlungsleitende Werte - flexibel, ungeplant, situationsorientiert, anpassungsfähig etc. Phasen: über die Klärungssituation (vorausschauend) - Leitungsoberhand etablieren - Historie transparent machen - Rolle des Gesprächsleiters klären - Rolle/Wünsche der Konfliktparteien klären - Rahmen verdeutlichen (Zeit, Ziele, Sinn, Unterbrechungen etc.) - Startsequenz skizzieren - mögliche Bedingungen und Hindernisse erfragen, bevor inhaltlich gestartet wird Phasen: über den Konflikt (rückblickend) - Beginn: Ablauf der Phase explizieren - Beginn bei derjenigen Partei, welche mehr belastet ist, welche den Konflikt als akuter erlebt ('Ankläger', Auftraggeber) -
klare Struktur/Sequenzierung einhalten konzentriert zuhören/Aufmerksamkeit signalisieren paraphrasieren
330
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Fehlende Konzepte bei Sven Richter (Fortsetzung)
Fehlende Konzepte Phasen: im Konflikt - Überleitungshandlung in dialogische Phase - sofort unterbrechen - dialogisches Doppeln - paraphrasieren - zentrale Themen benennen, Konfliktparteien damit konfrontieren und zur Selbstaussage auffordern -
konkrete Beispiele erfragen kurze, inhaltliche Zwischenerklärungen geben metakommunikative Aussprache verbalisieren Zugeständnisse auf intersubjektive Glaubhaftigkeit prüfen Lösungsideen für die nächste Phase 'aufbewahren' Abschluss: Alle zentralen Themen sind klar geworden oder sonst spätestens 15 Minuten vor Sitzungsende Phasen: über den Konflikt (vorausschauend) - persönliche Rückmeldung, wie der Gesprächsleiter die Konfliktparteien erlebt hat - Gesamtsituation zusammenfassend und systemisch ausgerichtet beschreiben - Gesamtsituation anhand eines Modells systemisch erklären - falls keine Lösungsvorschläge vorhanden sind, Lösungsvorschläge durch Gesprächsleiter als paradoxe Intervention anbieten - Vereinbarungen schriftlich festhalten Phasen: über die Klärungssituation (rückblickend) - metakommunikativer Rückblick über die Klärungssituation - vor übertriebenen Hoffnungen warnen Die Hauptkategorie 'Voraussetzungen' fragt nach Bedingungen, welche als unverzichtbare Prämissen angesetzt werden, damit der Situationstyp 'Konfliktklärung' erfolgreich bewältigt werden kann. Aus theoretischer Sicht ist es unverzichtbar, dass alle Konfliktparteien gleichzeitig anwesend sind. Diese Bedingung wird bei Sven Richter nicht als zwingend angesetzt. In Übereinstimmung mit der Theorie der Klärungshilfe verlangt Sven Richter nicht, dass die Konfliktparteien freiwillig an einer Konfliktklärung teilnehmen. Obschon die Klärungsbereitschaft in beruflichen Klärungen nicht vorausgesetzt wird, muss als Mindestmass die Klärungsfähigkeit der Konfliktparteien gefordert werden. Ferner muss ein Minimum an Klärungsakzeptanz vorhanden sein. Damit ist gemeint, dass als Mindestvoraussetzung die Führungskraft eine Klärung, und damit verbunden den Gesprächsleiter, akzeptieren kann. Wie bereits erwähnt, ist das Wertekonzept von Sven Richter wenig nuanciert. Im Umgang mit den Parteien und deren Inhalten ist das Spannungsfeld ansatzweise zu erkennen
17 Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele
331
(Kap. 7.2.7, S. 142). Bezüglich Prozessgestaltung wird lediglich das Konzept 'systematisch' vorgebracht. Es ist zu vermuten, dass an dieser Stelle das Spannungsfeld nicht ausbalanciert ist und Sven Richter Gefahr läuft, in die Übertreibung 'abzurutschen'. Es fehlt an Gegenpolen, welche für die notwendige Stabilität sorgen (z. B. flexibel, ungeplant, situationsorientiert, anpassungsfähig). Auf die fehlenden Phasen 'Gesprächseröffnung' (über die Klärungssituation, vorausschauend) sowie 'Dialog führen' (im Konflikt) wurde bereits hingewiesen. Sven Richter richtet sein Augenmerk gleich zu Beginn des Gesprächs auf die unterschiedlichen Sichtweisen der Konfliktparteien. Ihm scheint die hohe Bedeutung einer klar strukturierten Gesprächseröffnung nicht bewusst zu sein. Genauso verkennt er die Relevanz und Wirkung eines geleiteten Dialoges zwischen den Konfliktparteien. Die Tabelle 22 zeigt deutlich, dass die restlichen drei Phasen zwar in der Subjektiven Theorie von Sven Richter verankert sind, diese allerdings zahlreiche Lücken aufweisen, welche aus theoretischer Perspektive von Bedeutung sind. Objektseitige Erweiterungen In der Subjektiven Theorie von Sven Richter sind zwei Erweiterungen im Vergleich zur Theorie der Klärungshilfe auszumachen: - Die gesammelten Lösungsideen der Konfliktparteien werden schriftlich festgehalten. - Falls die Konfliktparteien keine Lösungsvorschläge hervorbringen, werden diese zur weiteren Suche motiviert und herausgefordert. Aus theoretischer Perspektive können beide Erweiterungen akzeptiert werden. Sie führen zu keinen Widersprüchlichkeiten. Auf das schriftliche Festhalten von Lösungsideen wird bei Konfliktklärungen mit lediglich zwei Konfliktparteien (im Gegensatz zu Teamklärungen) in aller Regel verzichtet. Allerdings sind die konkreten Absprachen und Bedingungen, welche basierend auf den Lösungsideen festgelegt werden, immer schriftlich festzuhalten – dies unabhängig davon, ob es sich um eine Teamklärung oder eine Zweierklärung handelt. Die zweite objektseitige Erweiterung erscheint aus Praktikabilitätsüberlegungen jedoch fraglich. Ob ein zusätzliches Herausfordern der Konfliktparteien zu weiteren Lösungsideen führt oder aufgrund des erhöhten Handlungsdrucks genau das Gegenteilige bewirkt wird, kann an dieser Stelle nicht definitiv beantwortet werden. Diskrepanzen Die Subjektive Theorie von Sven Richter weist insgesamt vier bedeutsame inhaltliche Konzepte auf, welche sich mit der Theorie der Klärungshilfe nicht vereinbaren lassen. Auf die erste Diskrepanz 'Sichtweisen der Konfliktparteien miteinander parallel einholen' wurde bereits im Zusammenhang mit der inneren Konsistenz hingewiesen. Die Theorie der Klärungshilfe fordert, dass die Sichtweisen der Konfliktparteien zwingend nacheinander in Erfahrung zu bringen sind. Nur so ist es dem Gesprächsleiter möglich, die Konfliktparteien vollständig zu verstehen. Erzählen beide Konfliktparteien gleichzeitig, besteht die Gefahr, dass wichtige Informationen verloren gehen, was sich letztlich auf die gesamte Klärung negativ auswirken kann.
332
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Sven Richter fordert, dass die Konfliktparteien ihre Emotionen zurückhalten sollen, falls sie sich während des Erzählens gegenseitig unterbrechen. Durch diese Intervention versucht Sven Richter die Kontrolle über die Gesprächssituation zu behalten. Obschon dieser Absicht nichts entgegenzusetzen ist, steht die Interventionsart in Kontradiktion mit der Theorie der Klärungshilfe. Das Abblocken von Emotionen führt dazu, dass die sachlichen Aspekte des Konfliktes thematisiert werden, jedoch nicht die persönlichen und zwischenmenschlichen Standpunkte. Letztere bilden allerdings einen unverzichtbaren Bestandteil zur Schaffung von Klarheit. Nur weil die Konfliktparteien ihre (negativen) Emotionen nicht zum Ausdruck bringen dürfen, bedeutet dies nicht, dass diese Emotionen dadurch nicht mehr virulent sind. Dieselbe Argumentation moniert allgemein die Gesprächsregeln, welche Sven Richter aufstellt. Sie zeigen sich dergestalt, dass die Konfliktparteien aufgefordert werden, sachlich zu bleiben, sich nicht verbal anzugreifen, die Emotionen zurückzuhalten und eine positive Grundhaltung aufrechtzuerhalten. Sowohl die vorgebrachte Interventionsart als auch die Gesprächsregeln sind mit der Theorie der Klärungshilfe als unvereinbar einzustufen. Sie erschweren eine erfolgreiche Bewältigung des Situationstyps bezüglich des Prozessziels. Die vierte Unvereinbarkeit betrifft die Teilzielsetzung 'Zufriedenheit', welche Sven Richter anstrebt. Eine Konfliktklärung kann nicht zum Ziel haben, dass alle Konfliktparteien nach dem Gespräch mit den getroffenen Vereinbarungen zufrieden sind. Obschon dieser Wunsch durchaus legitim ist, sollte die Konfliktklärung nicht darauf ausgerichtet sein. Bei Sven Richter wird die Tendenz, nach 'Zufriedenheitslösungen' zu suchen, zusätzlich in der Gesprächsabschlussphase deutlich. Insbesondere in einer versöhnlichen, nachgiebigen Stimmung hat der Gesprächsleiter vor übertriebenen Hoffnungen zu warnen. Diese kritische Haltung ist bei Sven Richter nicht erkennbar. Dies illustriert der Interviewausschnitt auf Seite 323 eindrucksvoll. Subjektive Theorien bestehen nicht nur aus inhaltlichen Konzepten, sondern weisen als zusätzliches konstitutives Merkmal auch strukturelle Ausprägungen auf. Wenn Subjektive Theorien als ein System untereinander verbundener Aussagen verstanden werden, sind konsequenterweise nicht nur die inhaltlichen Konzepte, sondern auch die sie verbindenden strukturellen Komponenten hinsichtlich potenzieller Diskrepanzen zu analysieren. Die Untersuchung der Subjektiven Theorie von Sven Richter unter diesem Blickwinkel führt zu dem Ergebnis, dass diese keine strukturellen Komponenten aufweist, welche nicht mit der Theorie der Klärungshilfe vereinbar sind.
333
17 Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele
17.3
Manfred Ziegler
17.3.1
Strukturbild Abbildung 49: Strukturbild von Manfred Ziegler (IP 27) Mediator ist motiviert (Vermutung, dass Mediation Nutzen stiftet und ich das kann) Konflikt: störend (blockieren von Dritten) und bedeutsam (Konfliktparteien kommen nicht aus der Situation heraus)
Manfred Ziegler 08. Dez. 2006 13.30 Uhr
Empathiefähigkeit des Mediators/ gemeinsame Sprache KP sind fähig, mit Konflikten umzugehen (Anwendungswissen)
Akzeptanz des Mediators (Obergrenze: Mediator darf sich nicht persönlich bedroht fühlen)
Voraussetzung
E1 Informationsphase A Wer beginnt? • KP, die mehr belastet ist • sonst: wer freiwillig möchte
Konfliktklärung
Wiederherstellung der gemeinsamen Arbeitsbeziehung
Klarheit: Klärung des Konfliktes
Absicht
E2 Konstruktionsphase
E3
• Situations-
kurze Pause durch Mediator
KP nacheinander auffordern zu erzählen
KP haben Einsicht in die Dynamik
beschreibung • Konfliktdynamik
Feedback von Mediator
Mediator gibt ein Feedback
• Theorie? • Erklärungen?
Mediator: Wahrnehmungen über die Konfliktsituation sortieren/ Selbstreflexion
• sinnvolle
Ablauf grob erklären
Lösungsideen? für Feedback gedanklich entwickeln
• Dispo
A4
Sammlungssequenz
A3 Vermittler fähig ein Konstrukt zu bilden?
nein innerlich über das Gesagte reflektieren/memorisieren
ja
KP haben beide erzählt? ja
falls notwendig Notizen machen
nein Sammlungssequenz
Aufmerksamkeit signalisieren
A2 KP kann sich nicht präzise artikulieren?
ja
• präzise
nachfragen • paraphrasieren
nein
KP unterbrechen sich gegenseitig? nein
ja
Intervenieren: • auf Ablauf hinweisen, falls erfolglos • Einzelgespräche
334
Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Strukturbild von Manfred Ziegler (Fortsetzung) E4 Informationsphase B
• Feedback
entgegennehmen der Sichtweisen zwischen Informationsphase A und Informationsphase B • unbewusste Sichten bewusst machen • Vergleich
E5 Lösungsfindungssphase
KP um Stellungnahme bitten
Einsichten des Dialogs zusammenfassen
Dialog zwischen A und B ermöglichen
• Plausibilitäts-
überlegungen • persönliche
Erfahrungen Destruktiv: • KP schiessen noch Giftpfeile • es fehlt an Einsichten
ja
Dialog konstruktiv?
den Konfliktparteien Lösungsideen unterbreiten
A5 Akzeptanz der Lösungen?
nein
nein ja
noch Zeit?
ja
A Ende
E1 ja
noch Zeit?
nein
nein
A Ende Verschiebung
A Ende Verschiebung
handlungsleitende Werte im Umgang mit den Konfliktparteien und deren Inhalten
handlungsleitende Werte
• vorurteilsfrei
• präzise
• akzeptierend
• genau
• respektierend • verständnisvoll
handlungsleitende Werte für die Prozessgestaltung
• flexibel
• strukturiert • lenkend
E1
17 Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele
17.3.2
335
Verbalisierung des Strukturbildes
"Die Auffassung, die beiden Streithähne bringen wir nie unter ein Dach, ist ein nicht akzeptables Ende." Voraussetzungen 150 Für Manfred Ziegler ist es zentral, dass ein Mediator anwesend ist, welcher motiviert und kompetent ist, eine Mediation durchzuführen. "Ich muss überzeugt sein, dass ich das kann und das, was ich mache, einen Nutzen bringt." Der Mediator selbst muss die Vermutung haben, dass er sein Können beherrscht und die Mediation der 'richtige' Ansatz ist – sie muss einen Nutzen stiften. Ohne diese innere Überzeug kann die Mediation nicht erfolgreich sein. Als weiteres Voraussetzungsmerkmal nennt Manfred Ziegler die gemeinsame Sprache zwischen den Konfliktparteien und dem Mediator. Damit meint er, dass der Mediator fähig sein muss, sich in die Situation der Parteien hineinzuversetzen, um dann eine Sprache zu wählen, welche für die Konfliktparteien verständlich ist. Dies drückt sich über die Empathiefähigkeit aus. Damit eine Mediation Sinn macht, muss der Konflikt in den Worten von Manfred Ziegler für die Konfliktparteien 'störend' und 'bedeutsam' sein. Was das für ihn bedeutet, zeigt der folgende Interviewausschnitt: MZ: Und für mich, dass ich das überhaupt will, muss der Konflikt bedeutsam und störend sein. IL:
Damit meinst du die Untergrenze, ab welcher eine Mediation erst Sinn macht?
MZ: Ja. IL:
Kannst du das noch präziseren?
MZ: Mmhh [2], ja [1], also in einem konkreten Fall in meinem Unterricht: Wenn der Konflikt so stört, dass die Gruppe als solches nicht mehr funktioniert, dass man nicht mehr weiterarbeiten kann. Wenn sich zwei Jungs in der hintersten Reihe gegenseitig belästigen und damit andere blockieren. IL:
Das heisst, der Konflikt muss ein gewisses Ausmass haben. Dies zeigt sich darin, dass Drittparteien in ihrer Arbeit blockiert werden. Stimmt das so?
MZ: Ja [1], das ist richtig. So ist es. Und zudem muss es eben auch für die Konfliktparteien eine Bedeutsamkeit haben. Man muss ja nicht bei jeder Kleinigkeit eine Mediation machen. Wobei das ist dann ein subjektiver Entscheid von mir. Man kann hier keinen fixen Punkt sagen. IL:
Nein? Was heisst dann 'bedeutsam' für dich?
MZ: Ja, wenn ein Konflikt vorliegt. Und eben nicht nur eine kleine Streiterei. IL:
Und das heisst?
MZ: Das heisst, dass die Betroffenen ihren Streit nicht mehr selber lösen können. Sie kommen nicht mehr aus der Situation heraus. Das ist eine ganz essenzielle Voraussetzung. Das macht das Bedeutsame aus. Wenn man sieht, dass die Konfliktparteien selber dran sind das zu lösen, dann ist es ja unsinnig, dass ich einschreite. Dann braucht es keine Mediation.
150 Manfred Ziegler verwendet zur Bezeichnung des Situationstyps den Begriff der Mediation. Dementsprechend benennt er seine Rolle als Mediator.
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Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
Eine Mediation macht für ihn folglich nur dann Sinn, wenn die Parteien ihre Auseinandersetzung nicht mehr selber lösen können und Drittparteien dadurch blockiert werden. Damit ist die Untergrenze benannt. Die Obergrenze der Mediation sieht er dann als erreicht, wenn sich der Mediator durch die Parteien persönlich bedroht fühlt. Dies bedeutet gleichzeitig, dass das Voraussetzungsmerkmal 'Akzeptanz des Mediators' nicht mehr gegeben ist. Zielsetzungen "Die Zahnräder müssen nach der Mediation wieder ineinander greifen." Eine erfolgreiche Mediation zeigt sich darin, dass die Konfliktparteien wieder fähig sind, miteinander zu arbeiten. Es geht Manfred Ziegler um die Wiederherstellung einer gemeinsamen Arbeitsbeziehung. Der Konflikt soll nach der Mediation nicht grösser sein als vorher. Der Konflikt muss jedoch nach der Mediation auch nicht aus der Welt sein – das wäre in den Augen von Manfred Ziegler illusorisch. Vielmehr muss das Ziel darin bestehen, mittels Mediation Klarheit zu schaffen. Der Konflikt soll geklärt werden. Mit Klarheit meint er beispielsweise, dass die Konfliktparteien Einsicht in die Dynamik des Konfliktverlaufes gewinnen. Dies bedeutet nicht, dass der Konflikt dann nicht mehr vorhanden ist. Doch durch das Schaffen von Klarheit während der Mediation sollen die Parteien fähig werden, in Zukunft mit dem Konflikt umgehen zu können. Manfred Ziegler benutzt hierfür den Ausdruck 'Anwendungswissen'. Damit meint er das Wissen, wie die Parteien in Zukunft Konflikte selber lösen können. "Konflikte sind ja nicht grundsätzlich etwas Schlechtes – man muss nur wissen, wie man mit ihnen umgeht." Handlungsleitende Werte Für Manfred Ziegler ist die persönliche Zurückhaltung sehr wichtig. Er versucht jegliche Bewertungen, Urteile oder Zurechtweisungen zu vermeiden: "Ich muss fähig sein, mich vorurteilsfrei auf einen Konflikt einzulassen. Das heisst, nicht mit normativen Handlungsanleitungen an die Parteien herantreten – also wie: 'das macht man doch nicht' oder 'wie kannst du nur' und so. Ich muss die Parteien so akzeptieren können, wie sie sind. […] Ich bin verständnisvoll – respektierend. Aber das heisst nicht, dass ich dann einverstanden bin. Das ist zweierlei." Die Wertschätzung der Person bedeutet für Manfred Ziegler, dass ihm die Konfliktparteien 'etwas wert sind'. Wenn ihm die Konfliktparteien unwichtig sind, kann er keinen Nutzen stiften (siehe Voraussetzungen). Allerdings kommt er zum Schluss, dass ihm jeder Mensch genügend wertvoll ist und er ihn folglich bei der Klärung von Konflikten unterstützt. Deshalb wird das Voraussetzungsmerkmal 'Wichtigkeit der Konfliktparteien' überflüssig. "Schwammige Begriffe, unklare Sätze führen zu Unverständnis [1], und Unverständnis führt zu weiteren Konflikten." Aus diesen Überlegungen ist es für Manfred Ziegler wichtig, dass er sehr genau arbeitet. Genauigkeit und Präzision im Umgang mit den Aussagen und Reaktionen der Konfliktparteien
17 Individuelle Subjektive Konfliktklärungstheorien – drei Fallbeispiele
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sind für ihn handlungsleitend, damit er die Absicht 'Klarheit schaffen' erreichen kann. Dies wird auch in der folgenden Sequenz deutlich, als er mit dem Beispiel 6 konfrontiert wurde: IL:
Ich möchte dich mit einem Bespiel konfrontieren, das ich einmal in einer Konfliktklärung erlebt habe. Stell dir vor, du hast zwei Konfliktparteien vor dir. Einen 'A' und einen 'B'. B macht dem A den Vorwurf, dass dieser ihm ständig ins Wort falle. Du bist in der Rolle des Mediators und konfrontierst den A mit dem Vorwurf von B: "B wirft Ihnen vor, Sie fielen ihm immer ins Wort. Was sagen Sie dazu?“ Die Konfliktpartei A blickt auf den Boden und bricht kurz darauf in heftige Tränen aus. Wie hättest du in einer solchen Situation reagiert?
MZ: Mhhh [5]. Zuerst würde ich kurz warten, bis sich A etwas beruhigt hat. Dann würde ich mit ihr reden. IL:
Du würdest die Partei A nicht trösten?
MZ: Nein. Ich würde warten, aber nicht trösten. Ich muss ja erfahren, warum A so reagiert. IL:
Sehe ich das richtig, dass du es nicht als notwendig erachtest, die Konfliktpartei A zu trösten?
MZ: [4] Ja, das würde nicht zu mir passen. Für mich als aussenstehende Person ist diese Reaktion unlogisch. Aufgrund dieses Vorwurfs würde man meiner Meinung nach nicht in Tränen ausbrechen. Also probiere ich möglichst genau herauszufinden, was die Geschichte dazu ist. Ich will erfahren, weshalb dieser Ausbruch stattfindet. Gleichzeitig bin ich nicht verantwortlich für den Konflikt, also muss ich auch nicht trösten. IL:
Das heisst, du würdest präzise nachfragen, genau hinhören, weshalb es zu dieser Reaktion gekommen ist. Du würdest nicht trösten. Stimmt das so?
MZ: Ja [4], ja, also was heisst schon trösten. Wenn ich präzise nachfrage, genau hinhöre und Respekt zeige, dann kann das schon als tröstend empfunden werden. Es interessiert sich jemand für mich, für meine Probleme und meine Konflikte. Aber trösten im Sinne von gut zureden, 'du bist doch ein Armes' und so – das definitiv nicht. Nein. IL:
'Nein', weil es nicht deiner Rolle als Mediator entspricht?
MZ: Genau. IL:
Jetzt haben wir darüber gesprochen, wie du mit den Parteien und ihren Inhalten umgehst, also von welchen Werten du dich leiten lässt. Ich möchte das nochmals kurz zusammenfassen: Du bist nicht wertend und urteilend [2], du bist vorurteilsfrei, akzeptierend, verständnisvoll und respektierend – gleichzeitig aber auch nachfragend, und das präzise und genau. Ist das so richtig?
MZ: Ja, das sind meine Werte. Ob es mir dann immer gelingt? [2], aber versuchen tu ich das auf jeden Fall, ja.
Dieser Interviewausschnitt illustriert eine Sequenz, in welcher die handlungsleitenden Werte auf ihre Stabilität hin analysiert werden. Insbesondere galt es in dieser kommunikativen Zwischenvalidierung zu prüfen, ob allenfalls die Grundhaltung des 'Schonens' und 'Tröstens' bei Manfred Ziegler eine handlungsleitende Rolle übernimmt. Die Interviewsequenz verdeutlicht, dass dies nicht der Fall ist. Es wird zudem klar, dass er an seinen explizierten Werten 'Genaugikeit' und 'Präzision' festhält. Bezüglich der Prozessgestaltung der Mediation macht Manfred Ziegler einen Unterschied zwischen seinen privat und beruflich erlebten Situationen. Mit beruflich meint er Situationen aus seinem Studium, seiner Tätigkeit als Vereinsleiter sowie als Führungsperson im Militär. Wenn es um die Gestaltung des Prozesses geht, bringt Manfred Ziegler die Dichotomie zwischen Strukturierung und Flexibilität klar zum Ausdruck.
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Durchführung und Auswertung der empirischen Untersuchung
"Strukturierung ja, aber nicht so, dass die Konfliktparteien merken, ah – der spult jetzt sein Raster XY ab. Das heisst, eine gewisse Flexibilität muss immer gegeben sein. Also nicht, wenn ich nach meinem Muster geplant vorgehe, und die Konfliktpartei aber gerade woanders ist, ich dann zum Konzept rausfalle. Sondern, dass ich meine Struktur im Kopf habe, weiss, wo ich bin, wo ich hin will, aber gegebenenfalls auch davon abweichen kann; um dann aber wieder auf mein Modell zurückzukommen [2]. Dann muss ich halt dann auch lenken, wenn ich merke, dass sich eine Konfliktpartei nicht an etwas halten will. Sonst laufe ich Gefahr, dass ich im Chaos ende [2]. Das Ganze hilft mir in meiner Rolle, aber auch den Konfliktparteien. Wenn die merken, dass er eine Struktur hat, dann ist auch mehr Vertrauen da." Phasen Manfred Ziegler strukturiert die Gesprächssituation in fünf Hauptphasen: Informationsphase A, Konstruktionsphase, Feedback des Mediators, Informationsphase B, Lösungsfindungsphase. a) Informationsphase A In dieser Teilphase werden die Konfliktparteien aufgefordert, nacheinander die Situation aus ihrer Sicht zu schildern. Dabei entscheidet Manfred Ziegler situativ (nicht aber willkürlich), welche Konfliktpartei beginnen soll. "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass, wenn man sagt, wir beginnen einfach mal bei dir, dieses 'einfach mal bei dir' ist nicht sinnvoll; dann kommt es nicht gut. Dann fragt sich die andere Konfliktpartei, warum das so ist. Weil 'einfach mal' gibt es eigentlich nicht – es braucht eine Regel." Ausschlaggebend für ihn ist die folgende Regel: Grundsätzlich beginnt diejenige Partei, welche mehr belastet ist, den Konflikt akuter erlebt bzw. bei welcher der Leidensdruck grösser ist. Falls Manfred Ziegler dies nicht feststellen kann, beginnt diejenige Konfliktpartei, welche freiwillig möchte. Nachdem beide Parteien ihre Sichtweisen nacheinander kurz darlegen konnten, erklärt Manfred Ziegler den groben Ablauf der Mediationssitzung. Anschliessend werden die dargelegten Äusserungen der Konfliktparteien vertieft und präzisiert. Es sollen zusätzliche Informationen gesammelt werden, bis der Mediator ein erstes Bild (Konstrukt) über die Situation entwickeln kann. Diese Sequenz bezeichnet Manfred Ziegler als 'Sammlungssequenz'. Falls notwendig macht er sich Notizen. Im Gegensatz zur Startsequenz sieht er sich in dieser 'Sammlungssequenz' nicht mehr als passiver, sondern als aktiver Zuhörer. Die Fertigkeit des Aktiven Zuhörens präzisiert er wie folgt: MZ: In der Sammlungssequenz höre ich aktiv zu. IL:
Wie sieht dieses Aktive Zuhören bei dir konkret aus?
MZ: [2] Gute Frage [6]. Also erstens besteht für mich Aktives Zuhören darin, dass ich Aufmerksamkeit signalisiere. Dass der andere sieht, dass ich mich für ihn interessiere. Und ich dann für mich sofort reflektiere, was der andere gesagt hat. IL:
Das Reflektieren geschieht nur für dich; oder gibst du das verbal wieder?
MZ: Vor dem inneren Auge, also nicht laut, nein. Ich mache mir dann innerlich ein Muster, wo die Aussagen genau hingehören [1]. Ich versuche das zu memorisieren. IL:
Aktives Zuhören ist für dich also Aufmerksamkeit signalisieren und innerlich über das Gesagte reflektieren, um das dann zu memorisieren?
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MZ: Ja [2], also wenn eine Konfliktpartei nicht selber fähig ist, die Situation zum Ausdruck zu bringen, dann helfe ich. IL:
Aha [1], und wie sieht dann diese Hilfe konkret aus?
MZ: Mit so Sätzen wie 'meinst du das so?', 'habe ich richtig verstanden, dass du' und so; ohne dabei suggestiv zu werden. IL:
[2] Du versuchst dann also Dinge zu benennen, welche sozusagen zwischen den Zeilen zu lesen sind [1]. Dinge, welche die Konfliktpartei zwar nicht direkt angesprochen hat, die du aber hinter bestimmten Aussagen vermutest?
MZ: Also im Prinzip [1], nein [1]. Nein, so nicht. IL:
Sondern?
MZ: Ja, also jemandem Sätze in den Mund zu legen, das finde ich, ist ganz gefährlich. Das ist nicht gut. IL:
Ahh [2], also dann mehr im Sinne von…
MZ: Ja, wenn ich jetzt genau überlege [1], ich frage präzisierend nach [1], und wenn das nicht fruchtet, dann wiederhole ich zusammenfassend, was er bereits gesagt hat. Und dann kann der andere Stellung dazu nehmen. Dann kann er auch sagen, 'nein, das habe ich nicht gemeint, ich habe dies und das gemeint'. IL:
Aber damit legst du dem anderen ja auch Sätze in den Mund?
MZ: Nein [3], nicht in dem Sinne [1]. Ich nehme ja nur das auf, was bereits gesagt wurde. Ich bilde keine Hypothesen, was dahinter stehen könnte. Das nicht. IL:
Und das ist für dich dann das Paraphrasieren?
MZ: Ja, das ist es [2]. Also paraphrasieren im Sinne von beschreiben. Sachen wiedergeben, die gesagt worden sind [1], in meinen Worten und präzisierend. IL:
Auf d