Koestler-Das Gespenst in Der Maschine [PDF]

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Zitiervorschau

Arthur Koestler

Das Gespenst in der Maschine 

Deutsch von Wolfram Wagmuth Titel der englischen Originalausgabe: THE GHOST IN THE MACHINE

Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................................................................... 5 Teil I Ordnung ............................................................................................................................ 7 1 Die Armut der Psychologie ...................................................................................................... 7 1.1 1.2 1.3 1.4

2

Die vier Säulen .................................................................................................................... 7 Der Aufstieg des Behaviorismus ...................................................................................... 8 Die Enthumanisierung des Menschen ............................................................................ 11 Die Philosophie des Rattomorphismus .......................................................................... 13

Die Wortkette und der Sprachbaum ..................................................................................... 16 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7

Die Kette ............................................................................................................................ Der Baum ........................................................................................................................... »Was haben Sie gesagt?« ................................................................................................. Der Postbote und der Hund ............................................................................................. »Wie meinen Sie das?« .................................................................................................... Regeln, Taktiken und Rückkopplung ............................................................................. Zusammenfassung .............................................................................................................

3

Das Holon ..... ...............................................................................................................................

4

Individuen und Dividuen .........................................................................................................

5

Auslöser und Filter ....................................................................................................................

6

Die Kunst des Vergessens .......................................................................................................

7

Der Steuermann .........................................................................................................................

8

Gewohnheit und Improvisation .............................................................................................

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4.1 4.2 4.3 4.4

5.1 5.2 5.3 5.4 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 7.1 7.2 7.3 7.4 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5

Die Parabel von den beiden Urmachern ........................................................................ Der Janus-Effekt ................................................................................................................ Soziale Holons ................................................................................................................... Die fundamentale Polarität .............................................................................................. Zusammenfassung ............................................................................................................. Über Diagramme ............................................................................................................... Unbelebte Systeme ........................................................................................................... Der Organismus und seine Ersatzteile ........................................................................... Die integrativen Lebenskräfte .........................................................................................

Auslöser .............................................................................................................................. Wie man ein Nest baut ..................................................................................................... Filter .................................................................................................................................... Zusammenfassung ............................................................................................................. Das abstrahierende Gedächtnis ....................................................................................... Eine spekulative Auffassung ........................................................................................... Zwei Arten von Gedächtnis ............................................................................................. Vorstellungsbilder und Schemata ................................................................................... Auswendiglernen .............................................................................................................. Zusammenfassung ............................................................................................................. Reflexe und Routinefertigkeiten ..................................................................................... Rückkoppelung und Homoeostase ................................................................................. »Was ein Reiz ist, bestimme ich!« ................................................................................. Eine Holarchie von Holons .............................................................................................. Ursprünge der Ursprünglichkeit ..................................................................................... Die Mechanisierung von Gewohnheiten ........................................................................ »Auf dem Instanzenweg« ................................................................................................ Die Umwelt als Aufgabe .................................................................................................. Zusammenfassung .............................................................................................................

2

16 19 21 22 26 28 31 33 33 35 37 41 42 43 43 45 46 47 51 51 52 55 59 60 60 62 63 65 66 67 68 68 69 71 72 73 74 75 76 77 78

Teil II Werden ............................................................................................................................. 79 9 Die Strategien des Embryos ................................................................................................... 79 9.1 9.2 9.3

Lenksamkeit und Determination ..................................................................................... 81 Die genetische Tastatur .................................................................................................... 83 Zusammenfassung ............................................................................................................. 85

10 Evolution: Thema mit Variationen ....................................................................................... 86 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6

Innere Selektion ................................................................................................................. Das Rätsel der Homologie ............................................................................................... Archetypen in der Biologie .............................................................................................. Das Gleichgewichtsprinzip .............................................................................................. Die Doppelgänger ............................................................................................................. Die sechsunddreißig Grundthemen ................................................................................

11 Evolution (Fortsetzung): Fortschritt durch Initiative ....................................................

11.1 Aktion vor der Reaktion ................................................................................................. 11.2 Nochmals Darwin und Lamarck ...................................................................................

12 Evolution (Fortsetzung): Abbau und Neuformierung ................................................... 12.1 12.2 12.3 12.4

Sackgassen ....................................................................................................................... Ausweg aus der Spezialisierung ................................................................................... Anlauf zum Sprung ......................................................................................................... Zusammenfassung ...........................................................................................................

13 Der Mensch als Schöpfer ...................................................................................................... 13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6 13.7 13.8 13.9 13.10 13.11 13.12

Formen der Selbsterneuerung ........................................................................................ Höhere Formen der Selbsterneuerung .......................................................................... Selbstheilung und Selbstverwirklichung ..................................................................... Die Wissenschaft und das Unbewußte ......................................................................... Assoziation und Bisoziation .......................................................................................... Die AHA-Reaktion ......................................................................................................... Die HAHA-Reaktion ...................................................................................................... Lachen und Emotion ....................................................................................................... Die AH-Reaktion ............................................................................................................ Kunst und Emotion ......................................................................................................... Die schöpferische Trinität .............................................................................................. Zusammenfassung ...........................................................................................................

14 Das Gespenst in der Maschine ............................................................................................. 14.1 14.2 14.3 14.4 14.5 14.6 14.7 14.8

Der »Zweite Hauptsatz« ................................................................................................. Das Pendel schwingt hin und her .................................................................................. Die Bühne und die Schauspieler ................................................................................... Verlagerung der Kontrolle ............................................................................................. Dualismus und Pluralismus ........................................................................................... Das Ich des Plattwurms .................................................................................................. Eine Art Maxime ............................................................................................................. Die offene Hierarchie .....................................................................................................

3

88 91 92 94 96 99 102 103 107 109 109 110 112 115 117 118 120 121 122 124 125 126 127 128 129 131 132 134 134 137 139 140 141 143 147 148

Teil III Unordnung .................................................................................................................... 150 15 Der Mensch und sein Dilemma ........................................................................................... 150 15.1 15.2 15.3 15.4 15.5 15.6 15.7 15.8 15.9 15.10 15.11 15.12 15.13 15.14 15.15 15.16

Die drei Dimensionen der Emotion .............................................................................. Pathologie der Aggression ............................................................................................. Pathologie der Devotion ................................................................................................. Nicht erhörte Menschenopfer ........................................................................................ Der Beobachter vom Mars ............................................................................................. Der fröhliche Vogel Strauß ............................................................................................ Integration und Identifikation ........................................................................................ Die Gefahren der Identifizierung .................................................................................. Hierarchische Bewußtheit .............................................................................................. Induktion und Hypnose .................................................................................................. Des geliebten Cäsars Wunden ... .................................................................................. Die Struktur von Glaubenssystemen ............................................................................ Die Spaltung .................................................................................................................... Die Tröstungen des Zwiedenkens ................................................................................. Der Gruppengeist als Holon .......................................................................................... Zusammenfassung ...........................................................................................................

16 Die drei Gehirne ...................................................................................................................... 16.1 16.2 16.3 16.4 16.5 16.6 16.7 16.8 16.9 16.10

Fehler bei der Gehirnbildung ........................................................................................ »Eine tumorartige Wucherung« .................................................................................... Die Physiologie der Emotion ........................................................................................ Die drei Gehirne .............................................................................................................. Die Emotion und das ältere Gehirn .............................................................................. »Schizophysiologie« ....................................................................................................... »Ein Geschmack wie Sonne« ........................................................................................ Das Wissen im viszeralen Bereich ............................................................................... Nochmals: Janus .............................................................................................................. Zusammenfassung ...........................................................................................................

17 Eine einzigartige Spezies ...................................................................................................... 17.1 17.2 17.3 17.4 17.5 17.6 17.7

Die unerbetene Gabe ...................................................................................................... In tiefster Finsternis ... .................................................................................................... Der friedliche Primat ...................................................................................................... Der harmlose Jäger ......................................................................................................... Der Fluch der Sprache .................................................................................................... Die Entdeckung des Todes ............................................................................................ Zusammenfassung ...........................................................................................................

18 Die Jahre der Entscheidung .................................................................................................. 18.1 18.2 18.3 18.4 18.5 18.6 18.7

Der Angelpunkt der Geschichte .................................................................................... Zwei Kurven .................................................................................................................... Der neue Kalender .......................................................................................................... »Eingriff in die menschliche Natur« ............................................................................ Der entfesselte Prometheus ............................................................................................ Zukunftsmusik ................................................................................................................. Dialog mit dem Leser .....................................................................................................

19 Anhang ........................................................................................................................................

19.1 Allgemeine Eigenschaften offener hierarchischer Systeme (O.H.S.) ...................... 19.2 Quellennachweise ........................................................................................................... 19.3 Verzeichnis der in diesem Buch erwähnten Werke ....................................................

4

150 153 155 156 159 160 160 162 164 165 169 170 172 174 177 178 179 179 182 184 185 189 191 193 194 195 198 199 199 200 202 205 207 209 210 211 211 215 217 220 223 224 227 230 230 236 242

Vorwort In meinem Buch DER GÖTTLICHE FUNKE habe ich den schöpferischen Prozeß in Kunst und Wissenschaft behandelt. Der vorliegende Band ist ein Versuch, sich mit dem tragischen Dilemma des Menschen auseinanderzusetzen, und schließt damit den Betrachtungskreis. Das Kreative und das Pathologische am menschlichen Geist sind schließlich zwei Seiten derselben Medaille, geprägt in der Münze der Evolution. Der einen verdanken wir die Pracht und Würde unserer Kathedralen, der anderen jene grotesken Wasserspeier, die sie schmücken und die uns ständig vor Augen halten sollen, daß die Welt voll von Ungeheuern, Höllengeistern und Dämonen ist. In ihnen spiegelt sich der Hang zur Besessenheit wider, der sich durch die Geschichte des Menschen hinzieht und der die Vermutung nahelegt, es sei im Verlauf seines evolutionären Aufstiegs irgendwo etwas schiefgegangen. Man hat die Evolution der Spezies mit einem Labyrinth voller Sackgassen verglichen; die Hypothese erscheint daher durchaus nicht unwahrscheinlich, daß die Erbanlage des Menschen, obwohl der jeder anderen Spezies überlegen, dennoch einen Konstruktionsfehler enthalte, der den Menschen zur Selbstvernichtung prädisponiert. Die Suche nach den Ursachen dieses Defekts beginnt schon im Alten Testament und hat seither niemals aufgehört. Jedes Zeitalter kam zu einer anderen Diagnose: sie reichen von der Doktrin vom Sündenfall bis zur Hypothese vom Todestrieb. Die Antworten waren unzulänglich, aber das Fragen hat sich dennoch gelohnt. Jede Epoche und jede Kultur formulierten die ängstliche Frage in der ihr eigenen Sprache; es ist daher unvermeidlich, daß wir sie heute in der Sprache der Wissenschaft formulieren. Aber, so paradox das auch klingen mag, die Wissenschaft hat sich im Verlauf der letzten hundert Jahre an ihren Erfolgen so berauscht, daß sie entweder vergessen hat, die entscheidenden Fragen zu stellen, oder daß sie ihnen vorsichtig aus dem Weg ging, unter dem Vorwand, derlei Fragen hätten keinen Sinn und gehörten außerdem nicht in das Ressort der Wissenschaft. Dieser Vorwurf richtet sich natürlich nicht gegen die Wissenschaft im allgemeinen, sondern in erster Linie gegen die vorherrschende Tendenz in den zeitgenössischen Wissenschaften vom Leben, angefangen von der Evolutionsgenetik bis zur Experimentalpsychologie. Man kann keine gültige Diagnose des gefährdeten Menschen von jenen erhoffen, die darauf beharren, den Patienten als einen durch Zufallsmutationen entstandenen Reflexautomaten zu betrachten; Marionetten liefern keine Blutproben. Sir Alistair Hardy, einer unserer hervorragendsten Biologen, schrieb kürzlich: »Ich bin zu dem Schluß gekommen – und ich hoffe, ich kann auch Sie davon überzeugen –, daß die heutige Anschauung der Evolutionstheorie unzulänglich ist.«1 W. H. Thorpe, ein bedeutender Zoologe, schrieb, daß sich »in den letzten fünfundzwanzig Jahren insgeheim eine neue Gedankenrichtung bei vielen, vielleicht Hunderten von Biologen herausgebildet hat, die der gegenwärtig dominierenden orthodoxen Doktrin skeptisch gegenüberstehen«.2 Häretische Tendenzen dieser Art machen sich auch in anderen Sparten der Wissenschaft vom Leben bemerkbar, im Bereich der Genetik ebenso wie in dem der Neurologie, beim Studium der Wahrnehmung, der Sprache und der Denkvorgänge. Bisher aber haben sich die Aufrührer jeder auf sein Fachgebiet beschränkt; die neue Synthese, auf der sich ein neues Weltbild aufbauen ließe, läßt noch auf sich warten. Auf den folgenden Seiten will ich versuchen, einige dieser losen Fäden aufzugreifen und sie zu einem einheitlichen Muster zu verarbeiten. Der Leser muß sich daher auf eine ziemlich lange Reise vorbereiten, bevor, wir gemeinsam beim Ziel anlangen – bei den Wurzeln des Übels, das uns alle bedroht – und uns an die Diagnose heranmachen können. Die Etappen der Reise bilden Teil I des Buches, der sich mit neuen Ausblicken in die Psychologie befaßt; Teil II stellt die Neuorientierung in der Evolutionslehre dar; Teil III gelangt dann an das obenerwähnte Ziel. Gelegentliche Exkurse in scheinbar ab-

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gelegene Gebiete sind dabei unvermeidlich, doch hoffe ich, daß auch diese nicht ganz ohne Interesse sind. Ich bin darauf gefaßt, daß mich jene Leser, die im kalten Krieg zwischen Humanismus und Wissenschaft eine unversöhnliche Stellung bezogen haben, der Fahnenflucht bezichtigen werden. Man kann eben nicht oft genug wiederholen, daß zwei Halbwahrheiten noch keine ganze Wahrheit und zwei Halbkulturen keine ganze Kultur ergeben. Die Wissenschaft kann keine endgültigen Antworten erteilen, aber sie hilft uns, Fragen zu stellen. Ohne sie können wir die Grundprobleme unserer Existenz nicht formulieren, geschweige denn eine Diagnose stellen. Aber wir müssen von einer Wissenschaft vom Leben ausgehen, die diesen Namen verdient, und nicht von dem antiquierten Automatenmodell, das sich von dem naiv mechanischen Weltbild des 19. Jahrhunderts herleitet. Zu fruchtbaren Fragestellungen können wir nur dann gelangen, wenn wir dieses verstaubte Idol durch eine neue Konzeption vom lebenden Organismus ersetzen. Es tröstet mich, zu wissen, daß auch andere Autoren, die sich anmaßen, die Grenzschranken zwischen den beiden Halbkulturen zu ignorieren, sich den gleichen Schwierigkeiten gegenübersahen. Auf einer der ersten Seiten seines Buches DAS SOGENANNTE BÖSE zitiert Konrad Lorenz aus dem Brief eines Freundes, den er um eine kritische Durchsicht seines Manuskripts gebeten hatte: »Dieses ist nun schon das zweite Kapitel, das ich mit brennendem Interesse und steigendem Unsicherheitsgefühl lese. Warum? Weil ich nicht genau den Zusammenhang mit dem Ganzen sehe. Du mußt mir das leichter machen.«3 Sollte der geneigte Leser dieser Seiten gelegentlich die gleiche Reaktion empfinden, dann kann ich nur sagen: Ich habe mein möglichstes getan, es ihm leichter zu machen. Ich glaube nicht, daß es in diesem Buch viele Passagen gibt, die ihm allzu fachwissenschaftlich vorkommen werden; aber wo immer dies dennoch der Fall sein sollte, kann er sie ruhig überschlagen und den Faden später wiederaufnehmen. Während der Arbeit an diesem Buch kam mir eine Berufung an das Centre for Advanced Study in the Behavioural Sciences in Stanford, Kalifornien, sehr zustatten. An diesem Institut – das weithin unter dem Namen »The Think Tank« bekannt ist – kommen alljährlich fünfzig Wissenschaftler verschiedener akademischer Disziplinen zusammen; sie erhalten dort die Möglichkeit, ein ganzes Jahr lang – frei von allen Verwaltungsfunktionen und Lehrverpflichtungen – Diskussionen zu führen und Forschungen zu betreiben, die über das Fachgebiet des Einzelnen hinausgreifen. Diese Einrichtung ermöglichte es, die Gedankengänge des vorliegenden Buches in Diskussionsgruppen und Seminaren zu überprüfen und zu klären. Ich kann nur hoffen, daß die Anregungen und Kritiken, die es in unseren manchmal recht hitzigen Diskussionen so reichlich gegeben hat, auf fruchtbaren Boden fielen. Mit einigen der in diesem Band erörterten Themen habe ich mich schon in früheren Werken eingehend befaßt. Ich mußte daher im vorliegenden Band häufig aus ihnen zitieren; wo ein Zitat im Text ohne Nennung des Autors erscheint, stammt es aus diesen früheren Arbeiten. Besonderen Dank für die kritische Durchsicht von Teilen meines Manuskripts schulde ich Professor Sir Alister Hardy (Oxford), Professor James Jenkins (University of Minnesota), Professor Alvin Liberman (Haskins Laboratories, New York) und Dr. Paul MacLean (N. I. M. H., Bethesda). Für anregende Gespräche und Diskussionen über das Thema dieses Buches fühle ich mich ferner den folgenden Persönlichkeiten zu Dank verpflichtet: Professor Ludwig von Bertalanffy (University of Alberta), Professor Holger Hydén (Universität Göteborg), Professor Michael Polanyi (Oxford), Professor Karl Pribram (Stanford University), Professor Paul Weiss (Rockefeller Institute) und L. L. Whyte (C. A. S., Wesleyan University). London, April 1967

Arthur Koesder

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Teil I

Ordnung 1 Die Armut der Psychologie Er hatte acht Jahre lang an dem Projekt gearbeitet, aus Gurken Sonnenstrahlen zu extrahieren, die in hermetisch verschlossenen Phiolen aufbewahrt und in Sommern mit unwirtlichem Klima zur Erwärmung der Luft verwendet werden sollten. Swift: DIE REISE NACH LAPUTA

1.1

Die vier Säulen

In den »Sprüchen Salomons« heißt es, das Haus der Weisheit ruhe auf sieben Säulen; bedauerlicherweise werden uns jedoch die Namen dieser sieben Säulen nicht genannt. Auch die Zitadelle der Orthodoxie, die die Wissenschaften vom Leben in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts errichtet haben, ruht auf einer Anzahl von imposanten Säulen, von denen einige bereits bedenkliche Risse zu zeigen beginnen und sich als monumentaler Aberglaube entpuppen. Ich meine damit in der Hauptsache vier Doktrinen, die man in vereinfachter Form wie folgt zusammenfassen könnte: a)

Die biologische Entwicklung ist das Resultat von Zufallsmutationen, die durch die natürliche Zuchtwahl erhalten blieben.

b)

Die geistige Entwicklung des Menschen ist das Ergebnis von Zufallstreffern, die durch »Verstärkungen« (Belohnungen) erhalten blieben.

c)

Alle Organismen, einschließlich des Menschen, sind ihrem Wesen nach passive, von der Umwelt kontrollierte Automaten, deren einziger Daseinszweck die Herabsetzung von Spannungen durch Anpassung an die Umwelt ist.

d)

Die einzige wissenschaftliche Methode, die diesen Namen zu Recht trägt, ist die der quantitativen Messung; daher müssen komplexe Phänomene auf einfache Elemente reduziert werden, die einer solchen Behandlungsmethode zugänglich sind, auch wenn dabei von den spezifischen Merkmalen des komplexen Phänomens – zum Beispiel des Menschen – nichts mehr übrigbleibt.

Diese vier Säulen der Unweisheit werden in den folgenden Kapiteln wiederholt auftauchen. Sie bilden den Hintergrund, die zeitgenössische Landschaft, von der sich das neue Weltbild abheben muß. Man kann nicht in einem Vakuum operieren; nur wenn man vom bestehenden Bezugssystem ausgeht, kann durch Vergleiche und Kontrastwirkung der Umriß einer neuen Konzeption deutlich sichtbar werden. Diese Überlegung erscheint mir als wesentlich, und ich möchte hier eine persönliche Bemerkung einflechten, um einer bestimmten Art von Kritik vorzubeugen. Greift man die zur Zeit dominierende psychologische Richtung an – wie ich das in meinem letzten Buch getan habe und im vorliegenden Kapitel wieder tun werde –, dann sieht man sich zwei entgegengesetzten Arten von Kritik ausgesetzt. Die erste ergibt sich aus der natürlichen Reaktion der Anhänger der orthodoxen Richtung; sie glauben, sie selbst seien im Recht und der Autor befinde sich im Irrtum – das ist durchaus recht und billig. Die zweite Kategorie von Kritikern rekrutiert sich jedoch aus dem entgegenge7

setzten Lager. Sie argumentieren, die Säulen der Zitadelle ließen bereits Risse erkennen und seien sowieso am Zusammenbrechen; man solle sie daher einfach ignorieren und von einer Polemik absehen. Diese Art Kritik wird meist von Psychologen vorgebracht, die glauben, sie hätten die orthodoxen Doktrinen bereits überwunden. Dieser Glaube beruht aber recht häufig auf einer Selbsttäuschung, denn die modernisierte Version des Automatenmodells hat einen weit tiefgreifenderen Einfluß auf sie gehabt, als sie wahrhaben wollen. Er ist in den verschiedensten Wissenszweigen spürbar – in der Philosophie, der Sozialwissenschaft, der Erziehung, der Psychiatrie. Selbst die Vertreter der orthodoxen Richtung erkennen heute die Grenzen und Mängel der Pawlowschen Experimente; aber in der populären Vorstellung ist der Hund auf dem Labortisch, der genau nach Voraussage beim Gongschlag Speichel absondert, zu einem Symbol des Daseins, einer Art antiprometheischem Mythos geworden; und der Begriff der »Konditionierung« mit seinen starren deterministischen Assoziationen wurde zu einer magischen Formel, mit deren Hilfe man Grund und Wesen unseres Daseins erklären und jede moralische Verantwortung von sich schieben konnte.

1.2 Der Aufstieg des Behaviorismus Blickt man aus der Sicht des Historikers auf die Geschichte der letzten fünfzig Jahre zurück, dann stellt man fest, daß sich in diesem Zeitraum – mit einer Ausnahme – alle Sparten der Wissenschaft in bisher noch nie dagewesenem Ausmaß fortentwickelt haben. Die erwähnte Ausnahme bildet die Psychologie, die immer noch in einer Art moderner Version des finsteren Mittelalters zu stecken scheint. Mit Psychologie meine ich in diesem Zusammenhang die akademische oder sogenannte »experimentelle Psychologie«, wie sie an der überwiegenden Zahl unserer zeitgenössischen Universitäten gelehrt wird – im Gegensatz zur klinischen Psychiatrie, zur Psychotherapie oder zur psychosomatischen Medizin. Freud und in geringerem Ausmaß auch Jung üben natürlich einen sehr starken Einfluß aus, aber dieser Einfluß macht sich doch mehr im philosophischkünstlerischen Bereich bemerkbar – in der Literatur, der bildenden Kunst und der Philosophie – als in der Zitadelle der offiziell etablierten Wissenschaft. Die bei weitem einflußreichste Schule der akademischen Psychologie, die gleichzeitig auch bestimmend auf das geistige Klima in allen anderen Sparten der Wissenschaft vom Leben einwirkt, war – und ist immer noch – eine Pseudowissenschaft: der sogenannte Behaviorismus. Seine Doktrinen sind in den Bereich der Psychologie wie ein Virus eingedrungen, der bei seinem Opfer zunächst Krämpfe hervorruft und es dann langsam paralysiert. Wie konnte es nur zu einer solchen Situation kommen? Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs veröffentlichte John Broadus Watson, Professor an der John-Hopkins-Universität in Baltimore, eine Abhandlung, in der es hieß: Die Zeit ist gekommen, in der die Psychologie jede Bezugnahme auf Bewußtseinszustände fallenlassen muß ... Ihre ausschließliche Aufgabe besteht in der Voraussage und Kontrolle von Verhaltensweisen; die Introspektion kann nicht zu ihren Verfahrensmethoden gehören.4 Unter »Verhaltensweisen« verstand Watson beobachtbares Tun – das, was der Physiker als »öffentliches Geschehen« bezeichnet, wie zum Beispiel die Schwankungen eines Barometerzeigers. Da nun alle geistigen Vorgänge private Vorgänge sind, die von anderen nicht beobachtet werden können und sich nur durch Aussagen, die auf Introspektion beruhen, mitteilen lassen, mußten sie aus dem Bereich der Psychologie ausgeschlossen werden. Auf der Basis dieser Theorie gingen nun die Behavioristen daran, die Psychologie von allen »immateriellen und unzugänglichen Begriffen« zu »säubern«.5 Ausdrükke wie »Bewußtsein«, »geistiger Vorgang«, »Wille«, »Zielbewußtsein« und »Vorstel8

lung wurden dementsprechend für unwissenschaftlich erklärt, als sozusagen obszön angesehen und aus dem Vokabular der Psychologie verbannt. Nach Watsons eigenen Worten mußte der Behaviorist aus seinem Vokabular »alle subjektiven Begriffe streichen, wie zum Beispiel Empfindung, Wahrnehmung, Wille; ja sogar die Worte ›Denken‹ und ›Emotion‹, da sie nur subjektiv definierbar sind«.6 Es handelte sich hier um die erste radikale ideologische »Säuberungsaktion« in der Wissenschaft; sie vollzog sich zeitlich noch vor den ideologischen Säuberungsaktionen in der Politik der totalitären Staaten, doch lag ihr die gleiche Zielstrebigkeit besessener Fanatiker zugrunde. Das folgende, inzwischen geradezu klassisch gewordene Urteil über sie fällte Sir Cyril Burt: Seit Watson sein Manifest verkündet hat, ist nahezu ein halbes Jahrhundert vergangen. Abgesehen von einigen geringfügigen Vorbehalten, schließt sich – sowohl in unserem Land als auch in Amerika – immer noch die bei weitem überwiegende Zahl der Psychologen der von ihm vertretenen Auffassung an. Ein zynischer Betrachter könnte versucht sein zu sagen, das Resultat sei, daß die Psychologie, nachdem sie zuerst ihre Seele verschachert und dann den Verstand verloren habe, nun, da sie einem vorzeitigen Ende entgegensieht, auch noch das Bewußtsein völlig eingebüßt zu haben scheint.7 Der Behaviorismus Watsonscher Prägung wurde zunächst in der akademischen Psychologie Amerikas und in der Folge auch in Europa zur dominierenden Fachrichtung. In den Lexiken definierte man den Begriff Psychologie früher als »Seelenkunde«; der Behaviorismus räumte mit Geist und Seele auf und setzte an ihre Stelle den »bedingten Reflex«. Die Folgen dieses Schrittes waren nicht nur für die Experimentalpsychologie selbst verhängnisvoll, sie machten sich auch in der klinischen Psychiatrie, in der Sozialwissenschaft, in der Philosophie und in der Ethik bemerkbar sowie in der allgemeinen Lebensauffassung der jungen Akademiker. Zwar war Watsons Name der breiten Öffentlichkeit nicht so vertraut, aber er wurde – neben Freud und dem Russen Pawlow – zu einem der einflußreichsten Männer des 20. Jahrhunderts. Denn unglücklicherweise ist der Watsonsche Behaviorismus nicht nur ein historisches Kuriosum, sondern das Fundament, auf dem sich die modernisierten und noch weit einflußreicheren neobehavioristischen Systeme aufbauten, so zum Beispiel die von Clark Hull und B. F. Skinner. Die peinlichen Absurditäten in Watsons Werken hat man vergessen oder diskret übergangen, aber die Philosophie, das Programm und die Strategie des Behaviorismus sind im Prinzip die gleichen geblieben. Das mögen die folgenden Seiten verdeutlichen. Watsons Werk BEHAVIORISMUS, in welchem er den Begriff des Bewußtseins und die Existenz geistiger Vorgänge verwarf, erschien im Jahre 1913. Ein halbes Jahrhundert später verkündete Professor Skinner von der Harvard-Universität – der wohl einflußreichste zeitgenössische Psychologe – die gleichen Ansichten in noch extremerer Form. In seinem Standardwerk SCIENCE AND HUMAN BEHAVIOR wird dem hoffnungsvollen Psychologiestudenten gleich zu Beginn fest versichert, die Begriffe »Geist« und »Ideen« seien nicht-existierende Wesenheiten, erfunden ausschließlich zu dem Zweck, als Grundlage für Pseudoerklärungen zu dienen ... Da geistigen und seelischen Vorgängen angeblich die Dimensionen der Naturwissenschaften fehlen, haben wir noch einen zusätzlichen Grund, sie abzulehnen.8 Mit der gleichen Logik könnte natürlich auch der Physiker die Existenz von elektromagnetischen Wellen leugnen, weil sie sich innerhalb eines »Feldes« fortpflanzen, dem die Eigenschaften der gewöhnlichen physikalischen Media abgehen. Tatsächlich würden nur wenige Theorien und Konzeptionen der modernen Physik eine »ideologische Säuberung« nach den Prinzipien des Behaviorismus überstehen – aus dem einfachen Grund, 9

weil die wissenschaftliche Konzeption des Behaviorismus sich an der mechanischen Physik des 19. Jahrhunderts orientiert. Der »zynische Betrachter« könnte nun mit Recht fragen: Wenn geistig-seelische Vorgänge vom Studium der Psychologie ausgeschlossen werden sollen, was bleibt dann für den Psychologen überhaupt noch als Studienobjekt übrig? Die Antwort lautet kurz und bündig: die Ratten. Während der letzten fünfzig Jahre hat die Hauptbeschäftigung der behavioristischen Schule im Studium gewisser meßbarer Aspekte in der Verhaltensweise von Ratten bestanden, und ein Großteil der behavioristischen Literatur ist diesen Untersuchungen gewidmet. Diese Entwicklung war, so seltsam das auch scheinen mag, im Grunde eine unvermeidliche Konsequenz, die sich aus der behavioristischen Definition wissenschaftlicher Methodik ergab (die obenerwähnte »vierte Säule der Unweisheit«). Infolge der selbstauferlegten Beschränkungen darf der Behaviorist nur objektive, äußerlich meßbare Aspekte von Verhaltensweisen studieren. Es gibt jedoch nur wenige wirklich relevante Aspekte menschlicher Verhaltensweisen, die sich durch quantitative Messungen im Laboratorium studieren lassen und die der Forscher untersuchen kann, ohne auf introspektive Aussagen der Versuchsperson angewiesen zu sein. Wollte der Behaviorist also seinen eigenen Prinzipien treu bleiben, dann war er gezwungen, als Versuchsobjekte die Tiere den Menschen vorzuziehen – unter den Tieren aber mußte er Ratten und Tauben den Vorzug geben, denn die Verhaltensstruktur von Primaten gilt immer noch als zu komplex. Anderseits ist es durchaus möglich, Ratten und Tauben unter entsprechend arrangierten Versuchsbedingungen zu Verhaltensweisen zu veranlassen, die nahezu völlig denen eines konditionierten Reflexautomaten entsprechen. Fast jedes psychologische Institut der westlichen Welt, das etwas auf sich hält, besitzt heute einige Albinoratten, die in den sogenannten Skinner-Käfigen (Skinner boxes) – so genannt nach dem Erfinder – ihre bescheidenen Künste vollführen. Im Käfig befinden sich ein Futternapf, eine Glühbirne und ein Hebel; dieser läßt sich ähnlich wie der Hebel an einem Spielautomaten herunterdrücken, und dabei fällt ein Futterkügelchen in den Napf. Placiert man eine Ratte in den Käfig, dann drückt sie früher oder später mit ihrer Pfote den Hebel herunter und wird dadurch automatisch mit einem Futterkügelchen belohnt; bald lernt sie am Erfolg, daß sie den Hebel herunterdrücken muß, wenn sie Futter haben will. Diese Versuchsprozedur nennt man »instrumentale Konditionierung« (operant conditioning), da die Ratte eine bestimmte Tätigkeit an einem »Instrument«, dem Hebel, auszuführen hat; im Gegensatz dazu ist das bei der »klassischen Konditionierung« (classical conditioning) Pawlows nicht der Fall. Das Niederdrücken des Hebels bezeichnet man als »instrumentale Reaktion«, die Einschleusung des Futterkügelchens als »Verstärkung« (reinforcement) und das Zurückhalten des Futterkügelchens als »negative Verstärkung«; die abwechselnde Anwendung dieser beiden Prozeduren gilt als »intermittierende Verstärkung« (intermittent reinforcement). Die »Reaktionsquote« der Ratte – das heißt wie häufig sie den Hebel innerhalb eines bestimmten Zeitraums niederdrückt – wird automatisch gemessen und graphisch aufgezeichnet. Der Zweck des Experimentierkäfigs besteht darin, daß der Behaviorist in die Lage versetzt werden soll, seine Ambition zu verwirklichen: nämlich die Messung von Verhaltensweisen nach rein quantitativen Methoden und die Kontrolle von Verhaltensweisen durch die Manipulation von Reizfaktoren. Den Versuchen mit den Skinner-Käfigen verdanken wir einige in fachtechnischer Hinsicht interessante Ergebnisse. Am interessantesten war wohl die Tatsache, daß die »intermittierende Verstärkung«, bei der das Niederdrücken des Hebels nur gelegentlich durch ein Futterkügelchen belohnt wurde, ebenso wirkungsvoll und sogar noch wirkungsvoller war, als wenn die Ratte bei jedem Hebeldruck ein Futterkügelchen erhielt; die Ratte, die darauf trainiert wurde, nicht bei jedem Hebelversuch eine Belohnung zu erwarten, läßt sich weniger leicht entmutigen und unternimmt nach dem Ausbleiben der 10

Futterkügelchen noch weit zahlreichere Hebelversuche als diejenige Ratte, die vorher bei jedem Hebelversuch belohnt worden war. (Die von mir verwendeten Ausdrücke »erwarten« und »entmutigen« würde ein Behaviorist natürlich nicht akzeptieren, denn mit ihnen sind geistig-seelische Vorgänge impliziert.) Das ist aber auch die »kühnste« Errungenschaft der während eines Zeitraums von dreißig Jahren andauernden Hebelversuche, und sie ist ein guter Maßstab dafür, wie hoch ihre Bedeutung als Beitrag zur psychologischen Forschung zu veranschlagen ist. Schon 1953 schrieb Harlow: Es spricht dafür, daß die Bedeutung der in den letzten fünfzehn Jahren untersuchten psychologischen Probleme ständig abgenommen hat und sich der Asymptote absoluter Irrelevanz nähert.9 Blickt man auf die weiteren fünfzehn Jahre zurück, die inzwischen vergangen sind, dann kommt man zu der gleichen Schlußfolgerung. Der Versuch, die komplexen Handlungen des Menschen auf die hypothetischen »Verhaltensatome« der Ratte zu reduzieren, hat keinerlei wissenswerte Erkenntnisse zutage gefördert – ebensowenig etwa wie eine chemische Analyse von Ziegelsteinen und Mörtel Auskünfte über die Architektur eines Bauwerks erteilt. Während des gesamten »finsteren Mittelalters« der Psychologie hat der Großteil der Forschungsarbeit in den Laboratorien darin bestanden, Mörtel und Ziegelsteine zu analysieren, in der frommen Hoffnung, diese fleißigen Bemühungen würden doch eines Tages irgendwie Aufbau und Wesen unserer Kathedralen erklären.

1.3 Die Enthumanisierung des Menschen So unglaublich das auch erscheinen mag, die Anhänger Skinners behaupten, die Hebelexperimente mit Ratten und das Trainieren von Tauben durch ähnliche Methoden böten alle erforderlichen Elemente, mit denen sich auch menschliche Verhaltensweisen beschreiben, vorhersagen und kontrollieren ließen – einschließlich der Sprache (»Verbalverhalten«), der Wissenschaft und der Kunst. Die beiden bekanntesten Werke Skinners tragen die Titel THE BEHAVIOR OF ORGANISMS (1938) und SCIENCE AND HUMAN BEHAVIOR (1953). In ihren klangvollen Titeln findet sich nicht der geringste Hinweis darauf, daß die in diesen Büchern gegebenen Daten nahezu ausschließlich aus Konditionierungsexperimenten mit Ratten und Tauben herstammen – die dann mit Hilfe naiver Analogien in zuversichtliche Behauptungen über die politischen, religiösen, ethischen und ästhetischen Probleme des Menschen umgemünzt wurden. Pawlow zählte die Anzahl der Speicheltropfen, die seine Hunde durch Kanülen absonderten, und destillierte daraus eine Philosophie vom Menschen. Die Professoren Skinner und Hull mit ihren Gefolgsleuten schlossen in einem ebenso rasanten Verfahren von der Ratte im Experimentierkäfig auf die Verhaltensweisen des Menschen. Der Fachjargon des Behaviorismus basiert auf mangelhaft definierten Verbalkonzeptionen, die sich besonders gut für Zirkelschlüsse und tautologische Formulierungen eignen. Unter »Reaktion« versteht der Laie normalerweise die Antwort auf einen stimulierenden Reiz; aber »instrumentale Reaktionen« dienen dazu, einen stimulierenden Reiz hervorzubringen, der erst nach der Reaktion in Erscheinung tritt; die Reaktion »wirkt so auf die Umwelt ein, daß ein verstärkender Reiz entsteht«.10 Mit anderen Worten: die Reaktion reagiert auf einen Reiz, der erst in der Zukunft erfolgen wird – nimmt man diese Aussage wörtlich, dann ist sie barer Unsinn. Eine »instrumentale Reaktion« ist in Wirklichkeit nicht eine Reaktion, sondern eine von dem Versuchstier eingeleitete Aktion; da jedoch nach dieser Lehre Organismen von den Umwelteinflüssen kontrolliert werden, ist in der gesamten Literatur der passive Begriff »Reaktion« obligatorisch. Der Behaviorismus baut auf der S-R-Theorie auf (S = Stimulus, R = Response), wie sie zuerst von Watson definiert wurde: 11

Die Richtschnur, an die sich der Behaviorist stets halten muß, ist die folgende: Kann ich die Elemente des von mir beobachteten Verhaltensvorgangs als eine Folge von »Reiz und Reaktion« ausdrücken?11 Diese Reiz-Reaktionen oder diese »S-R«-Elemente gelten als die »Atome« der Verhaltenskette; eliminiert man aus dieser Terminologie den Begriff »R« für »Reaktion«, dann bricht die Kette auseinander, und das gesamte Theoriegebäude stürzt in sich zusammen. Welche Stellung nimmt nun der Behaviorismus zum Problem der menschlichen Kreativität ein? Wie lassen sich wissenschaftliche Erfindungen und künstlerische Originalität erklären oder beschreiben, wenn jegliche Bezugnahme auf Bewußtsein, Geist und Vorstellungskraft verboten ist? Die beiden folgenden Zitate sollen die Antwort auf diese Fragen verdeutlichen. Das erste stammt aus Watsons 1925 erschienenem Buch BEHAVIORISM, das zweite aus Skinners rund dreißig Jahre später erschienenem Werk SCIENCE AND HUMAN BEHAVIOR; auf diese Weise können wir beurteilen, ob zwischen der paläo-behavioristischen und der neobehavioristischen Auffassung irgendein wesentlicher Unterschied besteht: Eine natürliche Frage, die häufig gestellt wird, lautet: Wie kommen wir jemals zu neuen Verbalschöpfungen wie zum Beispiel einem lyrischen Gedicht oder einem brillanten Essay? Die Antwort lautet: Wir erhalten sie, indem wir Worte manipulieren, sie so lange hin und her schieben, bis plötzlich ein neues Muster vor uns auftaucht ... Wie entwirft Ihrer Meinung nach Patou ein neues Kleid? Hat er irgendein Vorstellungsbild in seinem Kopf, wie das fertige Kleid aussehen soll? Nein, das hat er nicht ... Er ruft sein Mannequin zu sich, nimmt ein Stück Seide, drapiert es um das Modell herum, zieht hier ein bißchen ein, läßt dort ein bißchen aus ... Er manipuliert das Material so lange, bis es eine kleidähnliche Gestalt annimmt ... Erst wenn die neue Création allgemeine Bewunderung erregt, ist die Manipulation abgeschlossen – das entspricht dem Augenblick, in dem die Ratte ihr Futterkügelchen findet ... Der Maler übt seinen Beruf auf die gleiche Weise aus, und auch der Dichter kann sich keiner anderen Methode rühmen.12 In dem Artikel über Behaviorismus in der 1955 erschienenen Ausgabe der ENCYCLOPAEDIA BRITANNICA findet man eine fünf Spalten lange Lobrede auf Watson. Seine Bücher, so wird behauptet, »demonstrieren die Möglichkeit, eine angemessene und umfassende Schilderung menschlicher und tierischer Verhaltensweisen zu geben, ohne sich dabei der philosophischen Konzeption ›Geist‹ oder ›Bewußtsein‹ zu bedienen«. Man fragt sich, ob der Autor (P Professor Hunter vom Brown College) wohl die obenzitierten Ausführungen Watsons für eine »angemessene und umfassende Schilderung« über die Entstehung von Shakespeares HAMLET oder der Werke in der Münchner Pinakothek hält. Dreißig Jahre nach Watson faßte Skinner die behavioristische Anschauung über die Entstehung künstlerischer Schöpfungen und wissenschaftlicher Entdeckungen in seinem Werk SCIENCE AND HUMAN BEHAVIOR folgendermaßen zusammen: Das Ergebnis der Lösung eines Problems ist das Auftauchen einer Lösung in Form einer Reaktion ... Die Relation zwischen dem Präliminarverhalten und dem Auftauchen der Lösung ist einfach die Relation zwischen der Manipulation von Variablen und der Auslösung einer Reaktion. Das Auftauchen dieser Reaktion in der Verhaltensstruktur des Individuums überrascht durchaus nicht mehr als das Auftauchen irgendeiner Reaktion der Verhaltensstruktur eines beliebigen Organismus. Der Begriff »Originalität« ist völlig überflüssig ...13 12

Bei den »Organismen«, auf die sich Skinner hier bezieht, handelt es sich natürlich erneut um seine Ratten und Tauben. Im Vergleich zu Watsons Formulierungen ist die Sprache Skinners und seiner Gefolgsleute noch wesentlich trockener und esoterischer geworden. Watson spricht von der Manipulation von Worten, bis »plötzlich ein neues Muster vor uns auftaucht«, Skinner von der Manipulation von »Variablen bis zur Auslösung einer Reaktion«. Bei beiden wird in drastischem Ausmaß die Tendenz erkennbar, dem Problem durch Zirkelschlüsse auszuweichen, getrieben von einem geradezu fanatischen Bestreben, unter allen Umständen die Existenz von Merkmalen zu leugnen, die das Menschsein des Menschen und das Rattesein der Ratte ausmachen.

1.4 Die Philosophie des Rattomorphismus Der Behaviorismus war zu Beginn so etwas wie eine puritanische Revolte gegen die exzessive Anwendung introspektiver Methoden durch ältere psychologische Schulen, die die Ansicht vertraten – so definiert es James –, die Aufgabe des Psychologen bestehe in der »Beschreibung und Erklärung von Bewußtseinszuständen«. Watson entgegnete, ein Bewußtseinszustand ist weder definierbar noch sonst ein brauchbares Konzept, er ist nur eine Umschreibung für das Wort »Seele« ... Niemand hat jemals eine Seele berührt oder sie in einem Reagenzglas gesehen. Ein »Bewußtseinszustand« ist ebenso unbeweisbar und ebenso unzugänglich wie eine »Seele« ... Die Behavioristen kamen daher zu dem Schluß, sie dürften sich nicht länger damit zufriedengeben, mit immateriellen und unzugänglichen Begriffen zu arbeiten. Sie entschieden, die Psychologie entweder ganz aufgeben zu müssen oder aber sie zu einer Disziplin der Naturwissenschaften zu machen ...14 Dieses »klare, frische Programm«, wie Watson selbst es nannte, basierte auf der naiven Vorstellung, man könne Psychologie mit den Methoden und Konzeptionen der klassischen Physik studieren. Watson und seine Gefolgsleute meinten es ernst damit und wollten ihr Programm durch eine Art von Prokrustesoperation durchführen. Aber während der sagenhafte attische Unhold seine Gäste nur durch Ausrenken oder Abhacken der Beine dem berüchtigten Bett anpaßte, schlug der Behaviorismus seinem Opfer zuerst den Kopf ab und zerstückelte es dann in S-R-Einheiten des Verhaltens. Die ganze Theorie basiert auf den atomistischen Konzeptionen des vergangenen Jahrhunderts, die von allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen längst fallengelassen worden sind. Ihr Hauptpostulat – alle Handlungsakte des Menschen, einschließlich der Sprache und des Denkens, ließen sich nach elementaren Reiz-Reaktions-Einheiten analysieren – gründete sich ursprünglich auf die philosophische Konzeption vom Reflexbogen. Danach kam der neugeborene Organismus mit einer Anzahl von »unkonditionierten« Reflexen auf die Welt und war dann während seines ganzen Lebens in seinem Tun und Lernen den Gesetzen des Pawlowschen Konditionierens unterworfen. Dieses simple Schema kam jedoch bei den Physiologen schon bald völlig aus der Mode. Der bedeutendste unter den Physiologen seiner Zeit, Sir Charles Sherrington, schrieb bereits 1906: Der einfache Reflex ist vermutlich eine rein abstrakte Konzeption, denn alle Teile des Nervensystems stehen untereinander in Verbindung, und man muß annehmen, daß keiner seiner Teile einer Reaktion fähig ist, die nicht auch andere Teile beeinflußt und gleichzeitig auch von ihnen beeinflußt wird ... Der Reflex ist eine bequeme, aber unglaubhafte Fiktion.15 Mit dem Ausscheiden der Reflexkonzeption waren die physiologischen Grundlagen, auf denen sich die S-R-Psychologie aufbaute, zunichte geworden. Die Behavioristen fühlten 13

sich aber dadurch nicht sonderlich beeinträchtigt. Sie gingen in ihrer Terminologie von konditionierten Reflexen zu konditionierten Reaktionen über und manipulierten auch weiterhin in der uns inzwischen bekannten Manier mit ihren undefinierten Begriffen herum: Reaktionen wurden von Reizen kontrolliert, die noch im Schoß der Zukunft lagen, die »Verstärkung« wandelte sich zu einer Art Phlogiston, und die »Atome« des Verhaltens lösten sich unter den Händen der Psychologen in Dunst auf wie schon lange vorher die unteilbaren Atome des Physikers. Historisch gesehen entstand der Behaviorismus als eine Gegenbewegung gegen die Exzesse der introspektiven Methoden, wie sie insbesondere von den deutschen Psychologen der sogenannten Würzburger Schule praktiziert wurden. Zunächst hatte er nur die Absicht, Bewußtseinszustände, Vorstellungsbilder und andere öffentlich nicht registrierbare Phänomene als Studienobjekte aus dem Bereich der Psychologie zu verbannen; später wurde jedoch gleichzeitig impliziert, daß diese verbannten Phänomene überhaupt nicht existieren. Das Programm für eine Methodologie, über das sich diskutieren ließ, wurde in eine Philosophie transformiert, die ins Absurde führte. Ebenso könnte man einer Gruppe von Landvermessern erklären, sie dürften bei der Vermessung eines kleinen Grundstückes so vorgehen, als ob die Erde flach wäre – um dann allmählich das Dogma einzuführen, die Erde sei in Wirklichkeit flach. Der Behaviorismus vertritt in der Tat eine Art »Flache-Erde–Theorie« in der Psychologie. Er hat die anthropomorphe Verirrung, die den Tieren menschliche Fähigkeiten und Empfindungen zuschreibt, durch eine entgegengesetzte Verirrung ersetzt; er leugnet, daß der Mensch irgendwelche Fähigkeiten besitzt, die man nicht auch bei den niederen Tierarten findet. Die anthropomorphe Sicht der Ratte wurde durch die rattomorphe Sicht des Menschen ersetzt. Er hat sogar der Psychologie einen neuen Namen gegeben – denn der alte Name leitet sich ja aus dem griechischen Wort für »Seele« ab – und nennt sie jetzt »Verhaltensforschung« (science of behavior). Man könnte das einen demonstrativen Akt der Selbstkastration nennen, der ganz im Einklang steht mit Skinners Auffassung, die Aufgabe des Erziehungswesens sei die »Manipulation von Verhaltensweisen«. Sein Ziel, »menschliche Handlungen ebenso vorherzubestimmen und zu kontrollieren wie die Naturwissenschaftler Phänomene der Natur kontrollieren und manipulieren«,16 ist ebenso abscheulich wie naiv. Werner Heisenberg, einer der bedeutendsten lebenden Physiker, hat lakonisch erklärt: »Die Natur ist unberechenbar«; es erscheint geradezu absurd, dem lebenden Organismus selbst jenen Grad von Unberechenbarkeit abzusprechen, den die Quantenphysik der leblosen Natur zugesteht. Während der gesamten Dauer des »finsteren Mittelalters« der Psychologie hat der Behaviorismus die Bühne beherrscht, und auch heute noch, in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, nimmt er an unseren Universitäten eine dominierende Stellung ein; aber seine Herrschaft war niemals unumstritten. Vor allem gab es immer einige »Rufer in der Wüste«, meist einer älteren Generation angehörig, die noch vor der großen »Säuberungswelle« herangereift war. Zweitens gab es die Gestaltpsychologie, von der man zeitweilig den Eindruck hatte, sie könnte zu einem ernsthaften Rivalen des Behaviorismus werden. Aber die großen Hoffnungen, die die Schule der Gestaltpsychologie erweckte, erfüllten sich nur teilweise, denn ihre Mängel und Grenzen wurden bald offenbar. Die Behavioristen vermochten gewisse Einsichten ihrer Gegner ihrer eigenen Theorie einzuverleiben, und sie beherrschten auch weiterhin die wissenschaftliche Bühne.* * Der interessierte Leser kann sich über diese Kontroverse in meinem Buch THE ACT OF CREATION (DER GÖTTLICHE FUNKE), insbesondere in Buch II der englischen Ausgabe, und zwar in Kapitel 12, »The Pitfalls of Learning Theory«, und in Kapitel 13, »The Pitfalls of Gestalt«, orientieren. Auf eine eingehendere Stellungnahme wird daher im vorliegenden Band verzichtet.

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Das Endergebnis war eine Art fehlgeschlagener Renaissance, gefolgt von einer Gegenreformation. Schließlich gibt es noch – um das Bild abzurunden – eine junge Generation von Neurophysiologen und Kommunikationstheoretikern, die die orthodoxe S-RPsychologie für senil hält; sie ist jedoch häufig gezwungen, ein Lippenbekenntnis für sie abzulegen, wenn sie in ihrer akademischen Laufbahn vorwärtskommen und ihre wissenschaftlichen Arbeiten in Fachzeitschriften publiziert sehen will. Man kann unmöglich zu einer Diagnose der menschlichen Tragödie gelangen, und schon gar nicht zu einer Therapie, wenn man von einer Psychologie ausgeht, die die Existenz des Bewußtseins leugnet und sich auf trügerische Rattenanalogien stützt. Was sich in fünfzig Jahren rattomorpher Psychologie abgespielt hat, das läßt sich in seiner sterilen Pedanterie nur mit der mittelalterlichen Scholastik während ihrer Niedergangsphase vergleichen, als sie dazu übergegangen war, Engel auf Stecknadelköpfen zu zählen; was immer noch ein vergnüglicherer Zeitvertreib war als das Registrieren von Hebeltritten im Experimentierkäfig.

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2

Die Wortkette und der Sprachbaum Bei Gelegenheiten wie dieser ist es nicht nur eine moralische Pflicht, seine Meinung zu sagen – es ist ein reines Vergnügen. Oscar Wilde

Die Geburt der Sprache – zunächst in gesprochener, später auch in schriftlich fixierter Form – stellt die schärfste Trennung zwischen Tier und Mensch dar. Man sollte also annehmen, das Studium der Sprache müßte mehr als das jedes anderen Phänomens die Absurdität der rattomorphen Auffassung deutlich machen. Das tut es in der Tat; es bietet aber darüber hinaus auch noch die Möglichkeit, einige der grundlegenden Konzeptionen der im Vorwort erwähnten, neuen Synthese aufzuzeigen. Der Gegensatz zwischen der orthodoxen und der neuen Auffassung läßt sich mit zwei Schlüsselworten kennzeichnen: Kette gegen Baum.

2.1

Die Kette

Das folgende lange Zitat ist in seiner Art repräsentativ für die orthodox-behavioristische Einstellung zur Sprache. Es ist einem Lehrbuch für Collegestudenten entnommen, an dem mehrere Professoren hervorragender amerikanischer Universitäten mitgearbeitet haben.17 Der Autor des Zitats ist selbst Ordinarius eines psychologischen Universitätsinstitutes. Das Lehrbuch erschien im Jahre 1961; der in ihm enthaltene Dialog stellt eine Adaptation aus einem früheren Lehrbuch dar. Ich erwähne diese Einzelheiten, um zu zeigen, daß dieser Tausenden von Studenten vermittelte Text sich durchaus im Rahmen der höchst respektablen akademischen Tradition bewegt. Er trägt die Überschrift »Komplexe Handlungen« und ist im gesamten Lehrbuch die einzige Passage, die sich mit der Errungenschaft der menschlichen Sprache befaßt: Wie wir gesehen haben, kann sich der Vorgang des Lernens entweder mit Hilfe der klassischen (Pawlow) oder aber mit Hilfe der instrumentalen (Skinner, Hull) Konditionierung vollziehen ... Die von uns im Zusammenhang mit den Konditionierungsexperimenten bisher ermittelten Versuchsergebnisse blieben jedoch auf relativ einfache Reaktionen beschränkt, wie zum Beispiel auf die Speichelsekretion (bei Hunden) oder auf das Niederdrücken eines Hebels (bei Ratten). Im Alltagsleben machen wir uns selten Gedanken über derart isolierte Reaktionen, wir interessieren uns gewöhnlich für komplexere Handlungen, wie zum Beispiel das Auswendiglernen eines Gedichts, den Fortgang eines Gesprächs, die Lösung eines technischen Problems, das Zurechtfinden in einer unbekannten Stadt – um nur einige Möglichkeiten zu erwähnen. Zwar könnte der Psychologe auch diese komplexeren Handlungen genauer untersuchen, wie das bis zu einem gewissen Grad auch geschieht, aber im allgemeinen herrscht in der Psychologie das Prinzip, für Forschungsexperimente einfachere Reaktionen im Labor auszuwählen. Hat der Psychologe erst einmal unter den idealen Voraussetzungen im Labor die Prinzipien des Lernvorgangs bei einfachen Phänomenen erkannt, dann ist er mit großer Wahrscheinlichkeit auch in der Lage, die erkannten Prinzipien auf die komplexeren Vorgänge in unserem Alltagsleben zu übertragen. Schließlich sind diese komplexeren Phänomene nichts ande16

res als eine fortlaufende Reihe von einfacheren Reaktionen (sic!). Eine Unterhaltung mit einem befreundeten Menschen ist dafür ein gutes Beispiel. Analysieren wir einmal das hier wiedergegebene Gespräch: He: »What time is it?« She: »Twelve o’clock.« He: »Thank you.« She: »Don’t mention it.« He: »What about lunch?« She: »Fine.«

Er: »Wie spät ist es?« Sie: »Zwölf Uhr.« Er: »Danke.« Sie: »Nichts zu danken.« Er: »Wollen wir essen gehen?« Sie: »Gerne.«

Dieses Gespräch läßt sich nach separaten »S-R«-(Reiz-Reaktions)Einheiten analysieren. »Er« zeigt die erste Reaktion, die vermutlich durch den stimulierenden Reiz »ihres« Anblicks ausgelöst wird. Wenn »er« mit »What time is it?« reagiert, dann entsteht natürlich infolge der Muskeltätigkeit eine Lautfolge, die zugleich als »Reizfaktor« auf »sie« wirkt. Bei Aufnahme dieses Reizfaktors reagiert sie mit der Aussage »Twelve o’clock«, die ihrerseits wieder als Reizfaktor auf »ihn« wirkt – und so fort. Das gesamte Gespräch läßt sich also folgendermaßen in einem Diagramm darstellen:

An einer solchen komplexen Handlung können wir also erkennen, daß wir es in Wirklichkeit mit einer fortlaufenden Reihe von ReizReaktions-Folgen (S-R-Folgen) zu tun haben. Das Phänomen des Zusammenknüpfens einer Reihe solcher S-R-Einheiten bezeichnet man als Kettenbildung – ein Vorgang, der bei jeder komplexen Handlung deutlich erkennbar sein sollte. Man könnte noch darauf verweisen, daß während des Vorgangs der Kettenbildung eine Anzahl von Verstärkungsfaktoren wirksam wird; im vorliegenden Beispiel handelt es sich dabei in erster Linie um die Verstärkung, die »sie« durch die Einladung zum Mittagessen erhält, und um diejenige, die »ihm« durch die Annahme seiner Einladung zuteil wird. Hinzu kommen noch – wie Keller und Schönfeld meinen – folgende Verstärkungsfaktoren: der Hörer »ermutigt« den Sprecher zur Fortsetzung des Gesprächs, die Gesprächsteilnehmer machen von der jeweils erhaltenen Information Gebrauch (so erfährt »er« zum Beispiel, wie spät es ist) und so weiter.18 Das ist alles, was der Student über »komplexe Handlungen des Menschen« erfährt. Im restlichen Teil dieses »Lernen, Behalten und Motivation« überschriebenen Kapitels befaßt sich der Autor – wie er selbst sagt – mit »der Speichelsekretion und Hebelversuchen«. Als ich diesen Text las, sah ich vor meinem inneren Auge zwei stramme Münzautomaten auf dem Gelände des College einander gegenüberstehen, sich gegenseitig mit »Reizmünzen« füttern und entsprechende Reaktionen von sich geben. Und genauso sieht der Behaviorist den Menschen. Bei dem albernen Dialog zwischen »ihm« und »ihr« handelt es sich jedoch keinesfalls um eine beliebige Improvisation von seiten des Autors – er übernahm ihn andachtsvoll 17

aus einem anderen Lehrbuch (K Kellers und Schönfelds PRINCIPLES OF PSYCHOLOGY), und andere Autoren haben das gleiche getan, so als handle es sich hier um ein klassisches Beispiel für menschliche Konversation. Das Diagramm stellt die Anwendung auf den Bereich der Sprache des behavioristischen Credos dar, wonach sich alle menschlichen Handlungen auf eine lineare Kette von S-REinheiten (Reiz-Reaktions-Einheiten) reduzieren lassen. Auf den ersten Blick mag das Diagramm den Eindruck erwecken, es stelle eine zwar simplifizierte, aber dennoch plausible Schematisierung dar; dieser Eindruck hält jedoch bei näherer Betrachtung nicht stand. Das Diagramm basiert auf Skinners Buch VERBAL BEHAVIOR (VERBALVERHALTEN), in welchem der erste großangelegte Versuch unternommen wird, der menschlichen Sprache mit den Mitteln der behavioristischen Theorie beizukommen. Nach Skinner werden Sprachlaute auf die gleiche Weise abgegeben wie alle anderen Verhaltenseinheiten; und der Vorgang der Konditionierung, der bestimmend für das Verbalverhalten (einschließlich des Denkens) ist, ist im Prinzip der gleiche wie bei der Konditionierung von Ratten und Tauben; Skinner behauptet sogar, die Methoden dieser Experimente »können ohne wesentliche Modifizierung auch auf menschliche Verhaltensweisen übertragen werden«.19 Wenn also der Autor des obigen Zitats von der Vorliebe des Psychologen für das Studium »einfacherer Reaktionen« spricht, so meint er die Reaktionen der Speichelsekretion und des Hebelniederdrückens. Was in aller Welt haben aber die S-R-Symbole im obigen Diagramm mit dem Niederdrücken eines Hebels zu tun? Und mit welchem Recht wird der Dialogteil »Don’t mention it – What about lunch?« als »konditionierte Reaktionseinheit« bezeichnet? Eine »konditionierte Reaktion« ist eine Reaktion, die durch einen bestimmten Reiz eindeutig bedingt ist, und eine »Einheit« muß in der experimentellen Wissenschaft klar definierbare Eigenschaften besitzen. Will man uns glauben machen, »er« sei daraufhin konditioniert gewesen, jedes »Don’t mention it« mit einer Einladung zum Lunch zu beantworten? Und in welchem Sinn soll man den Dialogteil »Don’t mention it – What about lunch?« als Verhaltenseinheit bezeichnen? Der psychologisch nichtgeschulte Leser mag den Eindruck haben, ich reite hier auf Dingen herum, die an sich selbstverständlich sind, aber es wird sich sehr bald zeigen, warum ich das tue. Die Redensart »Don’t mention it« könnte offensichtlich auch andere Reaktionen hervorrufen, zum Beispiel »Also auf Wiedersehen!« oder »Sie haben eine Laufmasche im Strumpf« und so weiter, je nachdem ob »sie« diese Redensart mit einem bezirzenden Lächeln begleitet, sie mit abweisender Stimme ausspricht oder sich die Sache zögernd überlegt; außerdem hängt die Art der Reaktion auch noch davon ab, ob »er« überhaupt Zeit hat, mit ihr essen zu gehen, und – wenn das der Fall ist – ob er auch genügend Geld bei sich hat. Die angeblich »einfache S-R-Einheit« ist also weder »einfach« noch eine »Einheit«. Für den Laien erscheint es kaum vorstellbar, daß der Autor des Lehrbuchs die komplexen, vielschichtigen geistigen Vorgänge übersehen haben sollte, die sich während des Gesprächs – und in den Gesprächspausen – in den Hirnen der beiden Menschen abgespielt haben. Aber dadurch, daß der Autor diese subjektiven Vorgänge aus dem psychologischen Forschungsraum verbannt hat, hat er sich selbst der Möglichkeit – und sogar des Vokabulars – beraubt, sie zu erörtern. Um Schwierigkeiten dieser Art aus dem Weg zu gehen, faßt der Behaviorist alle subjektiven Vorgänge unter dem Sammelnamen »intervenierende Variablen« (beziehungsweise »hypothetische Konstruktionen«) zusammen und schreibt ihnen eine Vermittlerrolle zwischen Reiz und Reaktion zu. Diese Begriffe dienen dann als eine Art Papierkorb, in den man alle unbequemen Fragen fallen läßt, die sich mit den Intentionen, Begierden, Gedanken und Träumen der als »er« und »sie« bezeichneten Organismen befassen. Ein gelegentlicher Hinweis auf »intervenierende Variablen« (beziehungsweise »hypothetische Konstruktionen«) dient dann als Alibi, denn in diesem Terminus ist alles eingeschlossen, was im Innern eines Menschen vorgeht: es kann daher aus der wissenschaftlichen Erörterung ausgeklammert werden. 18

Wenn man jedoch alle dem Dialog zugrunde liegenden geistigen Vorgänge ausklammert, dann wird die »Analyse« des Lehrbuchautors nichtssagend und das Diagramm ebenfalls. Ein Diagramm hat die Funktion, wesentliche Aspekte eines Vorganges zu verdeutlichen; im vorliegenden Fall geben sich sowohl der Text als auch das Diagramm den Anschein, das zu tun, in Wirklichkeit aber lassen sie uns völlig im Dunkeln darüber, was tatsächlich vorgeht. Der genau gleiche Dialog könnte ebensogut zwischen flüchtigen Bekannten stattgefunden haben wie zwischen schüchternen Liebhabern oder aber auch das Aufgabeln einer Straßendirne wiedergeben. Das pseudowissenschaftliche Gewäsch: »Wenn er mit ›What time is it?‹ reagiert, dann entsteht natürlich infolge der Muskeltätigkeit eine Lautfolge, die zugleich als Reizfaktor auf sie wirkt usw.« hat mit der Episode, die es angeblich beschreiben und erläutern soll, im Grunde überhaupt nichts zu tun. Ähnliches gilt im übrigen ganz allgemein für jeden Versuch, der menschlichen Sprache mit den Methoden der S-R-Theorie beizukommen.

2.2 Der Baum Reitet man mit einiger Ausdauer auf den offensichtlichen Absurditäten einer Theorie herum, dann ergibt sich daraus der taktische Vorteil, daß die an ihrer Stelle vorgeschlagene Alternative als etwas geradezu einleuchtend Selbstverständliches erscheint. In der auf den folgenden Seiten dargelegten Alternative wird nun vorgeschlagen, die Konzeption von der linearen S-R-Kette durch eine Konzeption von vielschichtigen, hierarchisch geordneten Systemen zu ersetzen, die sich übersichtlich in Form eines umgekehrt wiedergegebenen Baumes mit nach unten gerichteten Ästen und Zweigen darstellen läßt:

Abbildung 1

Diagramme mit einer derartigen Baumstruktur als Symbol für hierarchisch geordnete Organisationen finden auf den verschiedensten Gebieten Verwendung: bei genealogischen Ahnentafeln, bei der Klassifizierung von Tieren und Pflanzen, im »Lebensbaum« der Evolutionstheorie, bei graphischen Darstellungen der Struktur von Regierungsbehörden oder Industrieunternehmen sowie bei physiologischen des Nervensystems und der Blutzirkulation. Das Wort »Hierarchie« entstammt dem kirchlichen Bereich und 19

wird häufig irrtümlicherweise nur zur Kennzeichnung einer bestimmten Rangordnung – sozusagen der Sprossen einer Leiter – benutzt. Ich werde diesen Begriff hier nicht im Sinn einer »Leiterstruktur« verwenden, sondern im Sinn der baumartigen Struktur eines Systems, das sich in Subsysteme aufgliedert, und diese wiederum in Subsubsysteme und so fort, wie das im vorstehenden Diagramm der Fall ist. Die Konzeption von der hierarchischen Ordnung spielt im vorliegenden Buch eine zentrale Rolle; die beste Einführung dazu bietet die hierarchische Struktur der Sprache. Die noch sehr junge wissenschaftliche Disziplin der Psycholinguistik hat gezeigt, daß man bei der Analyse der gesprochenen Sprache auf Probleme stößt, von denen der Sprechende selbst glücklicherweise keine Ahnung hat. Eines der Hauptprobleme ergibt sich aus der trügerisch simplen Tatsache, daß wir von links nach rechts schreiben und dabei eine lineare Kette von Buchstaben produzieren, sowie daraus, daß wir beim Sprechen einen Laut nach dem anderen hervorbringen, die ebenfalls eine Kette entlang der Zeitachse bilden. Dies führt dazu, daß die behavioristische Konzeption, oberflächlich besehen, eine gewisse Glaubwürdigkeit erhält. Das Auge nimmt ein dreidimensionales Bild gleichzeitig in seiner Gesamtheit in sich auf; das Ohr dagegen empfängt Schwingungen in fortlaufender Folge, aber nur jeweils einzeln nacheinander; diese Tatsache könnte zu dem Trugschluß verleiten, daß wir auf jeden elementaren Sprachlaut auch einzeln nacheinander reagieren. Das ist sozusagen der Köder an dem Angelhaken, an welchem die S-R-Theoretiker angebissen haben und von dem sie seither nicht mehr loskommen. Die elementaren Sprachlaute bezeichnet man als Phoneme, und sie entsprechen in etwa den Schriftzeichen des Alphabets; in der englischen Sprache beträgt ihre Zahl 45. Bestünde das Zuhören darin, daß der Hörende die einzeln wahrgenommenen Phoneme kettenartig aneinanderreiht, dann würde er buchstäblich nicht ein einziges Wort der an ihn gerichteten Rede verstehen. Sehen wir uns dieses Paradoxon näher an. Wenn wir den Vorgang des Zuhörens vom akustischen auf den optischen Bereich übertragen wollten, dann würde das bedeuten, daß auf einer Leinwand vor den Augen der Versuchsperson einzeln nacheinander gedruckte Schriftzeichen erschienen, und zwar mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Buchstaben pro Sekunde. Das Ergebnis wäre vermutlich ein milder Nervenzusammenbruch. Das Ohr des Hörenden muß aber in der Tat zwanzig Phoneme pro Sekunde aufnehmen. Würde er versuchen, jedes einzelne Phonem als separates »Atom« der Sprache zu analysieren, dann würde er nur ein ständig ineinander übergehendes Summen hören. Dieses Beispiel verdanke ich Alvin Liberman von den Haskins Laboratories – einem Pionier auf dem Gebiet der Sprachwahrnehmung (der ebenfalls an dem im Vorwort erwähnten Stanford Seminar teilgenommen hat). Er war es auch, der ironisch festgestellt hat: wenn wir weiter den Versuch machen, diesem Problem mit den Methoden der S-RTheoretiker beizukommen, »dann gehen wir das Risiko ein, eines Tages zu dem Schluß zu kommen, die menschliche Sprache sei unmöglich zu verwirklichen«. Die Lösung dieses Paradoxons wird deutlich, wenn wir von der gesprochenen wieder zur geschriebenen Sprache zurückkehren. Beim Lesen nehmen wir nicht (wie in dem eben geschilderten Leinwandexperiment) die separaten Gestalten einzelner Buchstaben wahr, sondern die Gestalten von ganzen Wörtern oder auch von mehreren Wörtern gleichzeitig; die einzelnen Schriftzeichen sind in der Wahrnehmung bereits zu größeren Einheiten integriert worden. Ähnlich nehmen wir auch beim Hören nicht separate, einzeln aufeinanderfolgende Phoneme wahr, sondern im Wahrnehmungsprozeß verbinden sie sich zu größeren geschlossenen Einheiten, die etwa eine Silbe umfassen. Die einzelnen Sprachlaute (Phoneme) schließen sich zu Strukturgefügen zusammen, ähnlich wie einzelne Musiktöne sich zu einer Melodie vereinen. Aber im Gegensatz zu den dreidimensionalen Strukturgefügen, die das Auge wahrnimmt, bilden Sprache und Musik ihre Strukturgefüge merkwürdigerweise nur in einer einzigen Dimension – nämlich in der 20

Dimension der Zeit. Es wird sich jedoch zeigen, daß das Wahrnehmen von Strukturen in der zeitlichen Dimension keinesfalls merkwürdiger oder rätselhafter ist als das Wahrnehmen von Strukturen in der räumlichen Dimension, denn das Gehirn transformiert ständig zeitliche Folgen in räumliche Gestalten und umgekehrt. Blickt man durch ein Vergrößerungsglas auf eine Schallplatte, dann erkennt man nur eine einzige wellenförmig verlaufende Spiralkurve; sie enthält jedoch in verschlüsselter Form das unendlich komplexe Klanggewebe, das ein fünfzigköpfiges Orchester bei der Aufführung einer Symphonie hervorbringt. Die beim Abspielen der Platte entstehenden Luftdruckwellen bilden, ebenso wie die Kurve in der Plattenrille, eine zeitliche Folge mit einer einzigen variablen Funktion. Aber eine einzige Variable in der zeitlichen Dimension reicht aus, um auch die komplexesten Botschaften zu übermitteln – sei es Beethovens Neunte oder Goethes Faust –, vorausgesetzt, die Botschaft trifft auf ein menschliches Gehirn, das befähigt ist, sie zu entschlüsseln und die in der linearen Wellenfolge verborgenen Muster zu erkennen. Das geschieht mit Hilfe einer Reihe von Transaktionen, deren Wesen wir bisher noch nicht recht begriffen haben, die sich jedoch als eine vielschichtige Hierarchie von Prozessen darstellen lassen. Diese Hierarchie gliedert sich im wesentlichen in drei wichtige Unterbereiche auf: in den phonologischen, den syntaktischen und den semantischen.

2.3

»Was haben Sie gesagt?«

Als erster Schritt zur Entschlüsselung einer gesprochenen Botschaft – der erste Schritt am Hierarchiebaum aufwärts – kann die Integration von Phonemen in Morpheme durch den aufnehmenden Hörer gelten. Phoneme sind nur Sprachlaute; Morpheme sind die kleinsten bedeutungtragenden Spracheinheiten: kurze Wörter, Vorsilben, Nachsilben und so weiter; sie bilden die nächsthöhere Schicht der Hierarchie. Phoneme lassen sich nicht als elementare Spracheinheiten qualifizieren: erstens, weil sie in einer viel zu raschen Abfolge auf den Hörenden zukommen, als daß man sie einzeln unterscheiden und identifizieren könnte, zweitens aber auch noch aus einem anderen wichtigen Grund, nämlich wegen der ihnen anhaftenden Ambiguität [Zweideutigkeit]. Der gleiche Konsonant hört sich manchmal verschieden an, je nachdem, was für ein Vokal auf ihn folgt; und umgekehrt haben verschiedene Konsonanten oft den gleichen Klang, wenn sie vor dem gleichen Vokal stehen. Ob man big oder pig, map oder nap heraushört, das hängt, wie die Versuche im Haskins Laboratory gezeigt haben,20 weitgehend von dem Zusammenhang ab, in dem diese Wörter vorkommen. Die Theorie von der S-R-Kette fällt also schon auf der untersten Sprachebene in sich zusammen, denn die phonematischen Reizfaktoren variieren je nach dem Zusammenhang und lassen sich daher auch nur im Rahmen dieses Zusammenhangs identifizieren. Wenden wir uns nun den höheren Schichten der Hierarchie zu, dann begegnen wir wieder dem gleichen Phänomen: die »Reaktion« auf eine Silbe (das heißt ihre Interpretation) hängt von dem Wort ab, in welchem diese Silbe vorkommt; und die einzelnen Wörter nehmen im Verhältnis zum ganzen Satz die gleiche untergeordnete Position ein wie die Phoneme im Verhältnis zum ganzen Wort. Ihre Interpretation hängt gleichfalls vom größeren Zusammenhang ab, sie muß also auf die nächsthöhere Schicht der Hierarchie Bezug nehmen. Vom Standpunkt des S-R-Theoretikers aus gesehen, wäre die ideale Situation die folgende: Eine Stenotypistin – nennen wir sie Fräulein R. – nimmt ein Diktat von ihrem Chef – Direktor S. –auf. Hier, so sollte man meinen, haben wir ein perfektes Beispiel für eine lineare Kette von Lautreizen, die eine entsprechende Kette von Reaktionen bedingt (das Anschlagen der Schreibmaschinentasten). Da komplexe Verhaltensweisen angeblich das Ergebnis einer Kettenbildung aus einfachen S-R-Gliedern sind, müßten wir folgerichtig annehmen, jeder einzelne von Direktor S. ausgesprochene Laut würde bei Fräulein R. das Tippen des entsprechenden Schriftzeichens auslösen. Aber natürlich wissen wir, daß sich der Vorgang völlig anders abspielt. Fräulein R. hört erwartungsvoll 21

zu und tut so lange nichts, bis mindestens ein halber Satz gesprochen wurde, dann aber rast sie – wie ein Sprinter beim Startschuß zum 100-Meter-Lauf – mit ihren Fingern über die Tasten, bis sie ihren Direktor eingeholt hat; danach verhält sie wieder erwartungsvoll und mit einem bewundernden Blick für ihren Chef. In der experimentellen Psychologie ist dieses Phänomen unter der Bezeichnung »Verzögerungseffekt« (beziehungsweise »Nachhängen«) bekannt; es spielt auch in der Morsetelegraphie eine Rolle und ist Gegenstand eingehender Forschungen gewesen.* * Eine eingehendere Behandlung dieses Phänomens findet sich in THE ACT OF CREATION, Kapitel »Motor Skills«, S. 544-546.

Fräulein R. »hing« mit dem Tippen »nach«, weil sie im Geiste damit beschäftigt war, am Sprachbaum entlangzuklettern, und zwar zunächst hinauf, von dem Lautniveau über das Wortniveau bis zum Satzniveau, und dann wieder hinunter. Das Hinabklettern führt bei einer geübten Stenotypistin von der »Wortgruppengewohnheit« über die »Wortgewohnheit« zur »Buchstabengewohnheit«. Die Buchstabengewohnheiten (die bewirken, daß die korrekten Schreibmaschinentasten angeschlagen werden) sind ein Bestandteil der Wortgewohnheiten (eingeübte Bewegungsfolgen, die als geschlossene Einheiten ausgelöst werden); diese wiederum sind ein Bestandteil der Wortkomplexgewohnheiten (vertraute Wortgruppen lassen längere Bewegungsfolgen als integrierten Einheitsprozeß vor sich gehen). Zwar ist das Tippen nach Diktat größtenteils so »automatisch« und »mechanisch«, wie sich das ein Behaviorist nicht besser wünschen könnte, trotzdem ist es aber nicht möglich, es als eine lineare Kette von konditionierten Reaktionen darzustellen, denn es handelt sich hier um einen mehrdimensionalen Vorgang mit einer ständigen Oszillation zwischen verschiedenen Schichten der Sprachhierarchie, von der phonologischen bis zur semantischen. Keine Stenotypistin kann dahingehend konditioniert werden, daß sie ein Diktat in einer unbekannten Sprache aufnimmt. Gerade ihre umfassende Kenntnis der Sprache – und nicht die Kettenbildung aus einfachen S-RElementen – ermöglicht es, daß Fräulein R.s Finger zu Direktor S.s Stimme über die Tasten tanzen. Und – o Wunder! – sie kann sogar einen Brief ganz ohne Diktat schreiben, etwa an ihren Freund in Wanne-Eickel. In diesem Fall wird ihr Verhalten vermutlich von Reizen ausgelöst, die – ähnlich der Schwerkraft – eine Fernwirkung ausüben.

2.4 Der Postbote und der Hund Bisher habe ich nur einige der Schwierigkeiten erwähnt, die sich ergeben, wenn man zu erklären versucht, auf welche Weise wir variable Druckwellen, die auf unser Trommelfell einwirken, in geistige Vorstellungen umwandeln. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Ein dreijähriger Bauernjunge beugt sich gerade zum Fenster hinaus; er sieht, wie in diesem Augenblick der Hofhund den Postboten attackiert und wie dieser dem Hund wütend einen Fußtritt versetzt. Das alles ereignet sich in Sekundenbruchteilen – so rasch, daß seine Stimmbänder noch gar nicht zur Weiterleitung eines Nervenreizes in der Lage wären; er weiß jedoch ganz genau, was sich da vor seinen Augen abgespielt hat, und fühlt den unwiderstehlichen Drang, dieses noch nicht in Worte gekleidete Ereignis seiner Mutter mitzuteilen. Er rast also in die Küche und ruft, noch ganz atemlos: »The postman kicked the dog« (Der Postbote hat dem Hund einen Fußtritt gegeben!). Bemerkenswert an diesem Ausruf ist in erster Linie die Tatsache, daß der Junge nicht sagt: »The dog kicked the postman«; er hätte allerdings auch sagen können: »Doggy was kicked by the postman«; er sagt auch nicht: »Was the dog kicked by the postman?« und vor allen Dingen nicht: »Dog the by was the kicked postman.« Das angeführte Beispiel besteht aus einem sehr einfachen Satz mit nur vier Wörtern (»the« kommt zweimal vor). Aber bereits die Umstellung von zwei Wörtern innerhalb des Satzes führt zu einer radikalen Veränderung der Bedeutung; dagegen bleibt nach einer noch weitergehenden Satzumstellung und nach Hinzufügen von zwei weiteren 22

Wörtern die ursprüngliche Bedeutung voll erhalten; die meisten der 95 möglichen Umstellungen in der ursprünglichen Wortfolge würden jedoch überhaupt keinen Sinn ergeben. Eines der Hauptprobleme der Sprachenpsychologie ist die Frage, wie ein Kind jemals die vieltausend abstrakten Regeln und Corollarien erlernt, die erforderlich sind, um sinnvolle Sätze zu gestalten und zu begreifen – Regeln, die weder seine Eltern noch seine Lehrer noch der Autor und der Leser dieses Buches definieren könnten, die aber trotzdem ein unfehlbarer Leitfaden für unsere Sprache sind. Die wenigen grammatischen Regeln, die das Kind – lange nachdem es zu sprechen gelernt hat – in der Schule eingebleut kriegt und die es prompt wieder vergißt, sind lediglich deskriptive Aussagen über die Sprache, nicht aber Rezepte zu deren Gestaltung. Diese Rezepte beziehungsweise Formeln entdeckt das Kind – wir wissen nicht, wie – mit Hilfe intuitiver Prozesse (die vielleicht den unbewußten Folgerungen in schöpferischen Prozessen verwandt sind); und zwar geschieht dies noch vor Vollendung des vierten Lebensjahres. Zu diesem Zeitpunkt »beherrscht das Kind nahezu die gesamte komplexe und abstrakte Struktur seiner Muttersprache. In einem Zeitraum von wenig mehr als zwei Jahren (sie beginnen damit gegen Ende des zweiten Lebensjahres) eignen sich also Kinder die gründliche Kenntnis des grammatikalischen Systems ihrer Muttersprache an. Diese verblüffende geistige Leistung vollbringt jedes Kind im Vorschulalter ganz routinemäßig« (M McNeill).21 Ein anderer dem Behaviorismus abtrünnig gewordener Gelehrter, Professor James Jenkins, stellte im Verlauf unseres Stanford Seminars fest: Die Tatsache, daß wir ohne weiteres Sätze hervorbringen können, die wir niemals vorher gehört haben, ist erstaunlich. Die Tatsache, daß wir die so produzierten Sätze auch verstehen können, grenzt nahezu an ein Wunder ... Ein Kind kennt nicht den Mechanismus, mit dessen Hilfe englische Sätze entstehen; es kann ihn überhaupt gar nicht kennen. Niemand wird ihm auch davon erzählt haben, denn die meisten von uns sind sich seiner nicht im geringsten bewußt. Diese Sachverhalte müssen in der Tat so lange wunderbar erscheinen, als wir nicht davon loskommen, die Wortkette, die die Sprache darstellt, mit dem stummen Mechanismus zu verwechseln, mit dessen Hilfe Sprache entsteht. Die Schwierigkeit liegt darin begründet, daß dieser Mechanismus nicht sichtbar in Erscheinung tritt, daß er meist unbewußt funktioniert und unerreichbar bleibt für jede Art von Inspektion und Introspektion. Aber die Forschungen der Psycholinguistik haben zumindest gezeigt, daß das einzig vorstellbare Modell für die Darstellung der Formung eines Satzes niemals linear »von links nach rechts« funktionieren kann, sondern nur in hierarchischer, sich von der Spitze nach unten hin stufenweise verzweigender Form. Das unten abgebildete Diagramm ist eine leicht modifizierte Version von Noam Chomskys sogenannter GRAMMATIK FÜR DIE FORMUNG VON SATZSTRUKTUREN.* Das Diagramm stellt den einfachsten Fall einer Satzbildung dar. * Chomsky hat zwar nicht behauptet, dieses Diagramm zeige die tatsächliche Gestaltung eines Satzes, doch haben auf Beobachtungen gegründete Analysen der Vorgänge, die sich beim Erlernen des Sprechens 22 23 durch Kleinkinder abspielen (Roger Brown, McNeill und andere), die Bestätigung dafür erbracht, daß das Modell in der Tat die dabei in Aktion tretenden Grundprinzipien darstellt.

Am Scheitelpunkt des Diagramms steht das Symbol I – es kann sich dabei um eine Idee, um ein visuelles Vorstellungsbild oder um die Absicht handeln, etwas auszusagen; entscheidend ist, daß I noch nicht versprachlicht ist, noch auf seine verbale Artikulierung wartet. Nennen wir das die I-Phase des Prozesses.* * Chomsky nennt den Scheitelpunkt S – als Bezeichnung für den ganzen Satz (sentence); dadurch nimmt aber das Diagramm eher den Charakter eines Modells für eine Satzanalyse als für die Satzgestaltung an.

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Von hier zweigen die beiden Äste des Baumes ab: Der Handelnde und die von ihm ausgeführte Handlung, die in der I-Phase noch als untrennbare Einheit empfunden wurden, werden in zwei verschiedene Kategorien aufgespalten: in den Substantivkomplex und den Verbkomplex.* * Die Aufteilung in Substantivkomplex und Verbkomplex ist zweckentsprechender und übersichtlicher, als das bei den verwandten Kategorien Subjekt und Prädikat der Fall ist.

Abbildung 2: (In Anlehnung an Chomsky.) I = Idee, SK = Substantiv-Komplex, VK = Verb-Komplex, A = Artikel, S = Substantiv, V = Verb.

Diese Trennungsaktion stellt für das Kind sicherlich so etwas wie ein Bravourstück an Abstraktionsvermögen dar – wie kann man den Schlag vom Schläger, den »Fußtritt« vom »Postboten« trennen? –, doch ist sie ein universales Charakteristikum aller uns bekannten Sprachen; gerade mit diesem Meisterstück des »abstrahierenden Denkens« beginnt das Kind seine Abenteuerfahrt ins Labyrinth der Sprache zu einem sehr frühen Zeitpunkt seines jungen Lebens – und das in Sprachen, die voneinander so grundverschieden sind wie Japanisch und Englisch.24 Der Verbkomplex spaltet sich seinerseits sofort wieder in Handlung und Objekt auf. Schließlich werden auch das Substantiv und der Artikel, der vorher irgendwie im Substantiv mit inbegriffen war, getrennt ausgedrückt. Es stellt für die Introspektion ein recht heikles Problem dar, exakt festzustellen, in welchem Stadium dieses rapiden, vorwiegend unbewußt funktionierenden Prozesses die Wörter selbst auftauchen und ihren angemessenen Platz auf dem laufenden Band der Sprache einnehmen – längs der unteren Horizontallinie des Diagramms. Wir alle kennen jene – dem sprachlich Unbeholfenen wie den Berufsschriftstellern gleichermaßen vertraute – peinliche Erfahrung, genau zu wissen, was wir sagen wollen, aber nicht zu wissen, wie wir es ausdrücken sollen: die Suche nach dem rechten Wort, das genau in die Lücke auf dem laufenden Band hineinpaßt. Das genau entgegengesetzte Phänomen ergibt sich, wenn die zu übermittelnde Botschaft sehr einfach ist und sich in einer feststehenden Redewendung ausdrücken läßt wie etwa: »How do you do?« oder »Don’t mention it«. Am Lebensbaum der Sprache biegen sich die Zweige unter der Last derartiger Klischees, die wie Büschel von Bananen an ihnen hängen und die sich – zum Entzücken aller Behavioristen – auch bündelweise abpflücken lassen. In einem oftmals zitierten Vortrag bemerkte der Neurologe Lashley: 24

Ein Kollege aus dem Lager des Behaviorismus sagte einmal zu mir, er habe es so weit gebracht, daß er vor seiner Zuhörerschaft aufs Podium treten, den Mund aufreißen und dann im Schlaf weiterreden könne. Er glaubte an die »Kettentheorie« der Sprache. Das ... so schloß Lashley ironisch ... ist ein eindeutiger Beweis für die Überlegenheit des Behaviorismus gegenüber der introspektiven Psychologie. Aber die klassische introspektive Methode kam auch nicht viel besser weg. Lashley zitierte im weiteren Verlauf seiner Rede Titchener, den Wortführer der introspektiven Psychologie um die Jahrhundertwende. Bei der Erläuterung der Rolle von Vorstellungsbildern, die er für entscheidend wichtig hielt, hatte Titchener geschrieben: Wenn ich in einem Vortrag zu einer schwierigen Stelle komme, dann höre ich meine eigenen Worte schon, bevor ich sie noch ausspreche.25 Das mag für den an Lampenfieber leidenden Redner ein Segen sein, aber vom theoretischen Standpunkt aus führt es uns nicht weiter – denn die Frage, wie Worte ins Bewußtsein rücken, verlagert sich damit nur auf die weitere Frage, wie Vorstellungsbilder von Worten ins Bewußtsein rücken. Beide Antworten – sowohl die des Behavioristen als auch die des Anhängers der introspektiven Methode – weichen dem Kern des Problems aus: wie nämlich Gedanken in Sprache umgesetzt werden, wie ein ungeformter Ideenblock in kristallinische Fragmente von spezifischer Form aufgespalten und auf dem Förderband der Sprache von links nach rechts die Zeitdimension entlanggetragen wird. Der umgekehrte Vorgang vollzieht sich beim Hörer, der die an ihm vorbeiziehende Wortkette als Grundlage für die Rekonstruktion des Sprachbaums benutzt, um Sprachlaute in Silben, Wörter in Sätze umzuformen. Wenn man dem Sprechenden zuhört, dringt die Kette von Einzelsilben kaum ins Bewußtsein vor; auch die Wörter des vorangegangenen Satzes entschwinden rasch dem Bewußtsein, nur ihr Bedeutungsgehalt bleibt erhalten; auch die Sätze erleiden das gleiche Schicksal: am Tag darauf sind die Zweige und Äste des Baumes weggeschrumpft, und nur der Stamm selbst ist übriggeblieben – ein schattenhaftes, generalisiertes Schema. Beide Prozesse lassen sich graphisch darstellen und zeigen dann, wie »des Dichters Feder dem luftigen Nichts Gestalt, Namen und festen Platz gibt« (SOMMERNACHTSTRAUM); wir können den Prozeß auch in umgekehrter Folge ablaufen lassen, um zu zeigen, wie die von der Schreibfeder hinterlassenen Spuren ihre festumrissene Form verlieren und sich wieder in ätherische Gebilde auflösen. Zwar stellen unsere Diagramme gültige Regeln dar, aber sie vermitteln nur ein recht oberflächliches Verständnis dafür, wie ein Kind die Sprache meistern lernt und wie Erwachsene Gedanken in Luftdruckwellen verwandeln und umgekehrt. Ganz werden wir diese Phänomene wahrscheinlich nie begreifen, denn beim Prozeß der Sprachformung wirken Faktoren mit, die sich durch die Sprache selbst nicht ausdrücken lassen; der Versuch, unsere Sprache zu analysieren, macht uns sprachelos – oder, um mit Wittgenstein zu sprechen: Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken. Dieses Paradoxon ist einer der vielen Aspekte des Geist-Körper-Problems, auf die wir noch zurückkommen werden; im Augenblick möchte ich nur noch darauf hinweisen, daß – im Gegensatz zu der starren »Kettentheorie«, nach der der Organismus auf einem vorbestimmten Pfad entlanggetrieben wird – mit der dynamischen Konzeption vom wachsenden Baum eine gipfeloffene Hierarchie impliziert wird. Was der Begriff »gipfeloffen« in diesem Zusammenhang bedeutet, wird sich im weiteren Verlauf dieser Untersuchung noch herausstellen.

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2.5 »Wie meinen Sie das?« Wenden wir uns nun wieder kurz der Ambiguität der Sprache zu: sie bietet uns ein erstes Beispiel für eine »gipfeloffene« Hierarchie. Es gibt auf verschiedenen Niveaus der Hierarchie verschiedene Arten von Ambiguitäten. Auf dem untersten Niveau besteht, wie wir sahen, die rein akustische Mehrdeutigkeit von einzelnen Phonemen, die mit Hilfe ihres Lautspektrogramms gezeigt werden können. Die Spektrogramme, die dem Tonstreifen eines Tonfilms ähneln, zeigen, daß zum Beispiel der Übergang zwischen bay, day und gay fließend ist – wie etwa bei den Farben des Regenbogens – und daß es in erster Linie vom Zusammenhang abhängt, ob wir das Wort day oder gay heraushören. Auf dem nächsthöheren Niveau kommen – zusätzlich zu der lautlichen Ambiguität – die Mehrdeutigkeiten im Bedeutungsgehalt der einzelnen Wörter hinzu. Das Wortspiel, der Kalauer, aber auch Assonanz und Reim verdanken dieser Art von Ambiguität ihr Dasein. Das nächste Beispiel mag weit hergeholt scheinen, ist jedoch von erheblicher theoretischer Bedeutung für die Linguisten, denn hier werden die Fallstricke der Kettenkonzeption wieder deutlich erkennbar. Der Satz »Junge Knaben und Mädchen mögen Süßigkeiten gern« klingt durchaus eindeutig. Was geschieht nun, wenn wir ihm den Satz folgen lassen »Junge Knaben und Mädchen haben keine Haare auf der Brust«? Halten wir uns an das S-R-Schema, dann müßten wir eigentlich zu dem Schluß kommen, daß ältere Mädchen Haare auf der Brust haben. Denn wir haben im ersten Satz unsere »verbalen Reizfaktoren« folgendermaßen aufgegliedert: [(Junge) (Knaben und Mädchen)]. Natürlich erliegen wir auf Anhieb der Tendenz, im zweiten Satz das gleiche zu tun. Erst später bemerken wir dann, daß wir im zweiten Satz die verbalen Reizfaktoren anders aufgliedern müssen – nämlich: [(Junge Knaben) (und) (Mädchen)]. Wenn wir aber erst nach Vollendung der Kette – die auf der Summierung von S-R-Gliedern beruhen soll – in der Lage sind, die Reizfaktoren richtig einzuschätzen, dann sind wir in einem Circulus vitiosus [Teufelskreis] befangen, und die Theorie vom S-R-Modell fällt in sich zusammen.* * Mit den Begriffen der symbolischen Logik müßte man das folgendermaßen ausdrücken: Die Reaktion R auf den ganzen Satz impliziert die Reaktionen r auf seine einzelnen Elemente, die ihrerseits wieder die Reaktion R auf den ganzen Satz implizieren: R < r < R < r < R und so weiter – das ist eine Variante zum klassischen Paradoxon vom kretischen Lügner.

Vom Standpunkt des Neuropsychologen gesehen, läßt sich der Tatbestand so zusammenfassen, daß Sprechen und Hören vielschichtige Prozesse sind, die auf ständigen Wechselwirkungen und Rückkoppelungen zwischen höheren und niederen Funktionsbereichen des Nervensystems beruhen. Daß der Mensch über eine komplexere Gehirnmasse verfügt als die Ratte, müssen selbst die Behavioristen einsehen, obwohl sie sich nicht gerne an diese Tatsache erinnern lassen. Nur infolge der vielschichtigen Wirkungsweise des Nervensystems ist der Verstand überhaupt in der Lage, lineare Reizfolgen im eindimensionalen Zeitablauf in komplexe, sinnvolle Erlebnisse umzuwandeln – und umgekehrt: Ideen in Luftschwingungen umzusetzen. Die bisher erörterten Ambiguitäten entstammen dem phonologischen und dem syntaktischen Bereich. Sie lassen sich auf relativ einfache Weise beheben, indem man durch »Rückfrage« an die nächsthöhere Instanz der Hierarchie den Zusammenhang klarstellt. Aber all das dient lediglich der Verständlichkeit im rein wörtlichen Sinn; es geht hier bloß um die erste Stufe auf dem Weg, der immer höher hinaufführt in die weiträumigen und vielschichtigen Hierarchien des semantischen Bereichs. Ein isoliert für sich stehender Satz läßt keinen Schluß darüber zu, ob man ihn für bare Münze nehmen oder ob man ihn metaphorisch beziehungsweise ironisch interpretieren soll – das heißt im letzte26

ren Fall, ob er nicht das Gegenteil von dem bedeutet, was er scheinbar aussagt; es besteht auch die weitere Möglichkeit, daß er eine versteckte Botschaft enthält, wie etwa jenes »Don’t mention it« im oben wiedergegebenen Dialog. Derartige Ambiguitäten im Bedeutungsgehalt eines isoliert stehenden Satzes lassen sich ebenfalls nur durch eine Bezugnahme auf den Zusammenhang klären, in dem der Satz steht – das heißt wiederum durch Rückfrage an die nächsthöhere Instanz in der hierarchischen Struktur. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn wir am Ende eines an sich durchaus verständlichen Satzes die Frage stellen: »Wie meinen Sie das?« Es zeigt sich also, daß Sätze im gleichen Verhältnis zu dem Zusammenhang stehen, in dem sie auftreten, wie Wörter zum Satz und Phoneme zu Wörtern. Mit jedem Schritt, den wir in der Hierarchie emporsteigen, scheint der Gipfelpunkt immer weiter zurückzuweichen. In Gesprächen, die sich nur um relativ triviale Dinge drehen, umfaßt die Hierarchie nur wenige Schichten, und man ist bald am Ziel. Aber es hat sich gezeigt, daß ein so trivialer Dialog wie der zwischen »ihm« und »ihr« zu einer regelrechten Pyramide anwachsen kann, die aus direkten Aussagen, deren verhülltem Sinn, der Motivierung dahinter und den Motiven der Motivierung besteht. Einige Psychoanalytiker verwenden den Ausdruck »Metasprache« für den Bereich dieser höheren Kommunikationsebenen, auf denen man den eigentlichen Bedeutungsgehalt einer Botschaft nur mit Hilfe einer Serie von Dechiffrier-Operationen erfassen kann. Die Serie kann aber auch ins Unendliche konvergieren. Dafür gibt es viele Beispiele in den fachwissenschaftlichen Abhandlungen von Freud und Jung, in denen die detaillierten Krankheitsgeschichten einzelner Patienten erzählt werden; hier weicht die letzte Bedeutung der – häufig in der Sprache von Traumbildern vermittelten – Aussagen eines Patienten mehr und mehr in den verschwommenen Bereich archetypischer Symbole zurück – oder in den des ewigen Kampfes zwischen Eros und Thanatos. Die Hierarchie ist »gipfeloffen«; ihr Gipfelpunkt weicht mit jedem Schritt, den man auf ihn zu tut, immer weiter zurück, bis er sich schließlich im Gewölk der Mythologie verliert. Die Tiefenpsychologie bietet ein gutes Beispiel einer solchen endlosen Serie; sie beginnt mit der Ambiguität der verbalen Mitteilungen des Patienten und weicht bis zur Urambiguität der Daseinsproblematik zurück. Aber jeder aufwärtsführende Schritt hat zugleich klärende und kathartische Wirkung, denn er bringt begrenzte Lösungen begrenzter Probleme oder führt zu einer sinnvolleren Neuformulierung jener Fragen, die sich letztlich nicht beantworten lassen. Andere Beispiele für offene Hierarchien bieten uns die Mathematik, die Erkenntnistheorie und jene Naturwissenschaften, die mit unendlichen Größen in Raum und Zeit operieren müssen. Wenn der Physiker von einer »asymptotischen Annäherung« an die Wahrheit spricht, dann gibt er damit ausdrücklich zu, daß die Wissenschaft es mit einer ins endlos konvergierenden Serie zu tun hat. Das tut auch der Philosoph, dem es um den Sinn geht und um den Sinn des Sinnes; um Erkenntnis und Glauben und um die Strukturanalyse von Erkenntnis und Glauben. Es ist, wie sich gezeigt hat, eine bemerkenswerte Errungenschaft, daß wir wenigstens imstande sind, grammatikalisch korrekte Sätze hervorzubringen und zu verstehen, obwohl wir nicht in der Lage sind, die Regeln zu definieren, die uns zu einer solchen Leistung befähigen. Aber ebenso wie ein grammatikalisch korrekter Satz an sich noch keine Informationen darüber vermittelt, ob er wörtlich oder ironisch verstanden werden soll, so vermittelt er auch keine Information hinsichtlich seines Wahrheitsgehalts. Haben wir die übermittelte Botschaft empfangen, dann erhebt sich also sofort die Frage, ob sie wahr oder falsch ist. Solange es sich um triviale Dinge handelt, läßt sich diese Frage wieder relativ leicht beantworten; doch wenn es um philosophische Probleme geht, taucht bald die nächste Frage auf: was wir eigentlich unter den Begriffen »wahr« und »falsch« verstehen; und damit klettern wir schon wieder auf der steilen Wendeltreppe in 27

die verdünnte Atmosphäre des Erkenntnistheoretikers empor – bis wir merken, daß die Treppe kein Ende hat. Mit den Worten von Sir Karl Popper: Das alte wissenschaftliche Ideal der epistéme – des absolut sicheren, beweisbaren Wissens – hat sich als ein Idol erwiesen. Die Forderung nach wissenschaftlicher Objektivität hat unweigerlich zur Folge, daß jede wissenschaftliche Aussage für immer einen provisorischen Charakter haben muß. Sie mag in der Tat bestätigt werden, aber diese Bestätigung nimmt ihrerseits wieder Bezug auf andere Aussagen, die ebenfalls provisorischen Charakter haben ...26

2.6 Regeln, Taktiken und Rückkopplung Dieses Kapitel war nicht als Einführung in die Linguistik gedacht, sondern als Einführung in die Konzeption von der hierarchischen Organisation, wie sie in der Struktur der Sprache erkennbar wird. Ich habe daher mehrere Faktoren unberücksichtigt gelassen, die zwar von erheblicher Bedeutung für die linguistische Theorie sind, die aber keinen direkten Bezug zu unserer Untersuchung haben. Es gibt jedoch noch andere Aspekte des »Verbalverhaltens«, die unmittelbar mit unserem Thema zusammenhängen und die ich bisher nicht erwähnt habe; es ist wohl am besten, wenn ich sie an einem konkreten Beispiel erläutere. Wenden wir uns nochmals kurz den beiden gegensätzlichen, von Lashley zitierten Rezepten für das Ausarbeiten eines Vortrags zu. Vielleicht kann ein amerikanischer Politiker auf einer Wahlreise tatsächlich »seinen Mund aufreißen und dann einfach im Schlaf reden«. Ebenso kann ein Barpianist seine Finger in Bewegung setzen und dann »im Schlaf weiterspielen«. In beiden Fällen handelt es sich jedoch um Routinefunktionen, die auf Grund langgeübter Praxis automatischen Charakter angenommen haben und die daher kaum als Antwort auf die Frage gelten können, wie man einen Vortrag ausarbeitet, in welchem man etwas Neues sagen möchte. Wir können uns auch nicht auf das entgegengesetzte Rezept verlassen und uns einfach der Führung unserer inneren Stimme anvertrauen – etwa wie ein Medium im Trancezustand. Wie also geht man in Wirklichkeit bei der Ausarbeitung eines Vortrags zu Werke? Nehmen wir an, es handle sich bei dem Vortragenden um einen Geschichtsprofessor, der eingeladen wurde, eine Gastvorlesung an einer amerikanischen Universität zu halten. Nehmen wir ferner an, es sei ihm überlassen worden, sein Thema frei zu wählen, und er wählt sein Lieblingsthema aus; dabei wollen wir es bewenden lassen, um ein weiteres, endloses Zurückweichen in seine Motivierung, seine Persönlichkeit und seine Kindheitserlebnisse zu vermeiden. Unser Professor entschließt sich also zu dem Thema »Ungelöste Probleme der Schriftrollen vom Toten Meer« – denn er ist davon überzeugt, daß er allein den Schlüssel zur Lösung dieser Probleme gefunden hat. Aber wie soll er es anstellen, auch seine Zuhörer von diesem Sachverhalt zu überzeugen? Zunächst muß er sich entscheiden, ob er seine Lieblingstheorie in offener und unpolemischer Form vorbringen will oder ob er darlegen soll, warum und inwieweit alle anderen diesbezüglichen Theorien falsch sind. Hier handelt es sich um eine rein taktische Erwägung: um die Wahl unter mehreren Möglichkeiten, der Zuhörerschaft dieselbe Botschaft nahezubringen. In jeder weiteren Phase seiner Vorbereitung sieht er sich immer wieder mit solchen taktischen Auswahlmöglichkeiten konfrontiert. Schließlich entscheidet er sich für die direkte, unpolemische Methode, denn er weiß, mit welcher Art von Zuhörerschaft er es zu tun haben wird, und er möchte es sich mit ihr nicht verderben. Mit anderen Worten: seine Taktik wird vom feedback bestimmt – einer Art Rückkoppelung –, vom Echo, das seine Worte bei seiner Zuhörerschaft auslösen – obwohl es sich vorerst nur um ein vorweggenommenes Echo von seiten einer imaginären Zuhörerschaft handelt.

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Halten wir ausdrücklich fest, daß das Treffen von Entscheidungen in diesem Stadium noch keine irgendwie gearteten verbalen Formulierungen erforderlich macht; bisher mögen vage visuelle Vorstellungsbilder ausreichend gewesen sein. Eine Umfrage bei Wissenschaftlern hat ergeben, daß in den entscheidenden Phasen des schöpferischen Denkens Vorstellungselemente visueller, ja sogar solche motorischer Natur gegenüber dem verbalen Denken eine entscheidend übergeordnete Rolle spielen. Als nächstes kommt das mißliche Problem der »Organisation des Stoffes« an die Reihe – mißlich deswegen, weil die verschiedenen Aspekte des Problems, das Durcheinander des vorhandenen Tatsachenmaterials und das Durcheinander der vorliegenden Interpretation, allesamt miteinander verbunden sind wie die zahllosen miteinander verknüpften Fäden in einem Perserteppich. Unser Professor kennt das Muster des Teppichs sehr wohl; aber wie kann er das Muster seinen Zuhörern vermitteln, wenn er die Fäden einzeln herausziehen muß, um sie dann nacheinander zu erläutern? Hier zeichnet sich bereits das Problem der Ordnung in der zeitlichen Folge ab, obwohl der Professor immer noch erst im Bereich von vagen Vorstellungsbildern befangen sein mag. Schließlich gelingt es ihm, seinen Stoff provisorisch zu ordnen, und zwar aufgeteilt in eine Reihe von Kapiteln und Unterkapiteln, die er innerhalb seines Konzepts hin und her schiebt, als handle es sich hier um kompakte Bausteine. Jeder von diesen Bausteinen wird vorerst vielleicht nur durch ein rasch hingeworfenes Stichwort repräsentiert. Auch das scheint im Grunde genommen ganz einfach zu sein, aber je länger man darüber nachdenkt, um so rätselhafter erscheint einem das Wesen dieser Bausteine. William James gab dem Problem in der folgenden bemerkenswerten Passage Ausdruck: ... Hat sich der Leser niemals selbst die Frage vorgelegt, was für eine Art geistiges Faktum seine Intention darstellt, etwas zu sagen, bevor er es effektiv gesagt hat? Es ist eine durchaus präzise Intention, verschieden von allen anderen Intentionen und daher ein absolut individuell ausgeprägter Bewußtseinszustand; und dennoch, wieviel davon besteht aus präzisen sensorischen Vorstellungsbildern von Worten oder Dingen? Kaum irgend etwas! ... Und was können wir darüber aussagen, ohne dabei Worte zu gebrauchen, die zu den späteren geistigen Fakten gehören, die dann an die Stelle dieses Bewußtseinszustandes treten? Die Intention, das und das zu sagen, ist die einzige passende Bezeichnung für dieses Phänomen. Man muß wohl zugeben, daß gut ein Drittel unseres psychischen Lebens aus solchen rasch auftauchenden, vorgeahnten perspektivischen Ausblicken auf Gedankenschemen besteht, die noch auf ihre (verbale) Artikulierung warten.27 Jetzt ist endlich der Zeitpunkt gekommen, in welchem sich die Samen dieser Intentionen gewissermaßen zu jungen Bäumen zu entfalten beginnen, die sich dann in Abschnitte, Unterabschnitte und so weiter verzweigen: es geht um die Auswahl des vorzutragenden Beweismaterials, der Illustrationen, der Erläuterungen und der einzustreuenden Anekdoten, und aus jeder dieser Prozeduren ergeben sich wieder weitere taktische Auswahlmöglichkeiten. An jedem Abzweigungspunkt des ständig wachsenden Baumes werden immer weitere Details eingesetzt, bis schließlich die syntaktische Schicht der hierarchischen Struktur erreicht wird; der satzgestaltende Mechanismus tritt jetzt in Aktion, die einzelnen Wörter werden an den passenden Stellen eingesetzt – einige ganz mühelos, andere erst nach peinlichem Suchen; zum Schluß werden sie dann in strukturell festgelegte Muskelbewegungen der Finger transponiert, die eine Schreibfeder über das Papier gleiten lassen; das Wort ist Fleisch geworden. Natürlich vollzieht sich dieser Prozeß niemals so glatt und geordnet, wie er hier dargestellt wurde; Bäume wachsen gewöhnlich nicht auf streng symmetrische Weise. In unserem schematisierten Bericht findet die Auswahl der zu verwendenden Wörter erst in einem fortgeschrittenen Stadium des Gesamtprozesses statt, dann nämlich, wenn die Ent29

scheidung über den Generalplan und die Ordnungsstruktur des Stoffes bereits gefallen ist und wenn die Knospen des Baumes schon bereit sind, in der vorgesehenen Reihenfolge von links nach rechts aufzubrechen. In Wirklichkeit kann es aber durchaus vorkommen, daß irgendein Zweig in der Mitte des Sprachbaumes bereits in Wortblüten ausbricht, während andere in ihrem Wachstum noch erheblich zurückgeblieben sind. Zwar stimmt es, daß die Idee beziehungsweise die »Intention, etwas Bestimmtes zu sagen« dem eigentlichen Prozeß der Verbalisierung vorausgeht; aber ebenso muß man auch sagen, daß Ideen häufig nur rein ätherische Gebilde bleiben, bis sie sich zu verbalen Konzeptionen verdichten und greifbare Gestalt annehmen. Darin liegt natürlich die unvergleichliche Überlegenheit der Sprache gegenüber primitiveren Formen geistiger Aktivität; aber diese Tatsache rechtfertigt nicht den Trugschluß, die Sprache mit dem Denkvorgang zu identifizieren und die Bedeutung nichtverbaler Vorstellungsbilder und Symbole – besonders im schöpferischen Denkprozeß von Künstlern und Wissenschaftlern – zu leugnen. Gelegentlich kommt es vor, daß unser Professor genau weiß, was er sagen will, daß er dafür aber nicht die richtige Formulierung findet; bei anderen Gelegenheiten dagegen kann er, was er sagen will, nur mit Hilfe von deutlichen und präzisen verbalen Formulierungen herausfinden. Wenn Alice im Wunderland ermahnt wird, sorgfältig nachzudenken, bevor sie zu sprechen beginnt, erklärt sie: »Wie kann ich wissen, was ich denke, bevor ich sehe, was ich sage?« Häufig wird eine vielversprechende Intuition allein dadurch im Keim erstickt, daß sie allzufrüh dem Säurebad verbaler Definitionen ausgesetzt wird; andere Intuitionen hingegen kommen möglicherweise ohne eine solche Prozedur überhaupt nicht zur Entfaltung. Wir müssen also unser allzu simplifiziertes Schema etwas modifizieren: an Stelle des symmetrisch wachsenden Baumes mit sich ständig weiter ausbreitenden Zweigen haben wir es in Wirklichkeit mit einem unregelmäßigen Wachstum und einer ständigen Oszillation zwischen verschiedenen Höhenlagen des Sprachbaumes zu tun. Die Umwandlung von Gedanken in Sprache vollzieht sich nicht auf einer Einbahnstraße; der Lebenssaft des Baumes fließt in beiden Richtungen, zu den Zweigen hin und von den Zweigen wieder zurück. Die ganze Prozedur wird außerdem noch dadurch weiter kompliziert und gelegentlich an den Rand eines totalen Zusammenbruchs gebracht, daß unser Professor die bedauerliche Neigung zeigt, ständig zu korrigieren und zu radieren sowie ganze – von Blüten übersäte – Äste des Baumes einfach abzuhacken und sie dann von neuem wachsen zu lassen. Der Behaviorist bezeichnet ein solches Verhalten als Prinzip von »Versuch und Irrtum« und vergleicht es mit dem Verhalten von Ratten, die ziellos in den Sackgassen eines Labyrinths hin und her rennen; in Wirklichkeit ist natürlich die Suche nach dem mot juste alles andere als ziellos! Würde es sich bei unserer Versuchsperson nicht um einen Historiker, sondern um einen Dichter handeln, dann wäre das Problem noch wesentlich komplizierter. Ein Dichter müßte nämlich zwei Herren dienen – einerseits dem Sinn des Gesagten, anderseits dem Diktat von Rhythmus, Metrik und Euphonie [Wohlklang]. Aber obwohl unser Professor in Prosa schreibt, werden doch auch bei ihm Wortwahl und Satzgestaltung von stilistischen Kriterien beeinflußt. Komplexe Betätigungen reichen häufig in mehr als eine hierarchische Ordnung hinein – gleichsam in Bäume mit ineinander verschlungenen Ästen –, und jede von ihnen wird von eigenen Regeln und Wertkriterien kontrolliert: Bedeutungsgehalt und Euphonie, Form und Funktion, Melodie und Instrumentierung und so fort. Diese Ausführungen reichen aus, um einige der Probleme anklingen zu lassen, die die menschliche Sprache für uns aufwirft. Nun haben aber auch die Behavioristen die Angewohnheit, Vorträge auszuarbeiten und sogar Bücher zu schreiben; zweifellos müssen sie also mit den Schwierigkeiten und Verwicklungen dieses Prozesses vertraut sein. Wenn sie aber das »Verbalverhalten« erörtern, dann tun sie so, als hätten sie das alles vergessen oder verdrängt.

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2.7 Zusammenfassung Wo sollen wir denn nach den Atomen der Sprache suchen – im Phonem e? Im Diagraph en? Im Morphem men? Im Wort mention? Oder in der Wortgruppe Don’t mention it? Jede dieser Enitäten hat zwei Aspekte. Sie ist ein Ganzes, bezogen auf die einzelnen Teile, aus denen sie selbst besteht, sie ist aber gleichzeitig auch selbst Teil eines größeren Ganzen auf dem nächsthöheren Niveau der Hierarchie. Sie ist zugleich ein Teil und ein einheitliches Ganzes – also eine Sub-Einheit. Wie sich noch zeigen wird, besteht eines der charakteristischen Merkmale aller Hierarchien darin, daß sie nicht Aggregate sind, die sich aus Elementarbestandteilen zusammensetzen, sondern daß sie aus SubEinheiten bestehen, die sich ihrerseits wieder in Sub-Sub-Einheiten aufzweigen. Dies ist der erste Kernpunkt von allgemeiner Gültigkeit, den wir uns aus der vorangegangenen Erörterung merken müssen. Ich muß jetzt noch einige weitere charakteristische Merkmale der Sprache erwähnen, die die gleiche universale Gültigkeit für hierarchische Systeme aller Art haben. Die »aktive Sprache« (im Gegensatz zur »passiven Sprache«, das heißt dem Hören) besteht in der schrittweisen Differenzierung, Artikulierung und Konkretisierung von ursprünglich unartikulierten, nur in allgemeine Formen gekleideten Intentionen. Das Sichverzweigen des Baumes ist ein Symbol für diesen sich stufenweise vollziehenden hierarchischen Prozeß, in dessen Verlauf eine nur implizierte Idee konkretisiert und zum expliziten Ausdruck gebracht wird; ein Prozeß, der die latente Energie des Gedankens in die kinetische Energie der Stimmbänder umsetzt. Man hat diesen Vorgang mit der Entwicklung des Embryos verglichen: Im befruchteten Ei sind potentiell alle Entwicklungsmöglichkeiten des zukünftigen Individuums enthalten; sie werden dann in einer stufenweisen Folge von Differenzierungsphasen zum Tragen gebracht. Man könnte diesen Prozeß auch gut mit dem Prozeß der stufenweisen Ausführung eines militärischen Befehls vergleichen: Der allgemein gehaltene Befehl »Die Achte Armee rückt in Richtung Tobruk vor« wird von der Spitze der Hierarchie ausgegeben; er wird dann von jeder nachgeordneten Kommandostelle auf den unteren Stufen der Militärhierarchie mit immer neuen Details weiter konkretisiert. Außerdem wird sich zeigen, daß sich die Ausübung jeder Fertigkeit – sei sie nun instinktiver Natur, wie der Nestbau der Vögel, oder durch Lernen erworben, wie die meisten menschlichen Fähigkeiten – nach dem gleichen Prinzip vollzieht: eine allgemein gehaltene Aufgabestellung wird mit Hilfe einer hierarchisch geordneten Folge von Einzelschritten zur konkreten Ausführung gebracht. Der nächste Punkt, den wir behalten wollen, ist, daß jeder Schritt vorwärts, den unser imaginärer Professor tut, von festgesetzten Regeln bestimmt war; diese ließen jedoch noch genügend Spielraum für flexible Taktiken übrig, die ihrerseits wieder von feedbacks – Rückempfindungen – des eigenen Handlungserfolges gesteuert wurden. Auf den obersten Stufen der Hierarchie sind die ziemlich esoterischen Regeln wirksam, die für das Abfassen akademischer Abhandlungen gelten; auf der nächstliegenden Stufe die Regeln für die Gestaltung grammatikalisch korrekter Sätze, und zuletzt schließlich diejenigen Regeln, die die Tätigkeit unserer Stimmbänder regulieren. Aber auf jeder einzelnen Stufe der Hierarchie gibt es eine Vielzahl von taktischen Auswahlmöglichkeiten: von der Auswahl und Anordnung des Stoffes über die Wahl von bestimmten Metaphern und Adjektiven bis hinab zu den verschiedenen Modulationsmöglichkeiten einzelner Vokale. Wenn wir von feststehenden Regeln und flexiblen Taktiken sprechen, dann müssen wir zwischen diesen beiden Faktoren noch ein weiteres Unterscheidungsmerkmal hervorheben. Die festen Regeln funktionieren auf jeder Stufe mehr oder minder automatisch, das heißt unbewußt oder doch zumindest vorbewußt in den Dämmerzonen der Bewußtheit; dagegen werden die taktischen Auswahlmöglichkeiten meist vom hellen Strahl des fokalen Bewußtseins beleuchtet. Der Mechanismus, der noch unartikulierte Gedanken in 31

grammatikalisch korrekte Kanäle lenkt, funktioniert unbewußt; das gleiche gilt für den Mechanismus, der das korrekte Funktionieren unserer Stimmbänder sicherstellt, und ebenso für denjenigen, der die Logik des »gesunden Menschenverstandes« und unsere speziellen Denkgewohnheiten kontrolliert. Wir machen uns kaum jemals die Mühe, uns diese lautlos arbeitenden Mechanismen näher anzusehen; aber selbst wenn wir das versuchen, sind wir doch nicht imstande, ihre Wirkungsweise zu beschreiben oder die ihnen zugrunde liegenden Regeln zu definieren; und doch handelt es sich hier um die Regeln der Sprache und des Denkens, denen wir blind gehorchen. Wenn sie einige verborgene Axiome oder eingeprägte Vorurteile enthalten – dann ist das um so schlimmer für uns. Die Sprache und Denkweise des Einzelnen sind also von festen Regeln beherrscht und insoweit – und nur insoweit – auch von Automatismen jenseits der Bewußtseinskontrolle bestimmt. Spiele wie Schach oder Bridge werden von festgelegten Regeln beherrscht, aber sie lassen für den Spieler praktisch bei jedem Zug eine Anzahl von taktischen Auswahlmöglichkeiten offen. Diese Auswahlmöglichkeiten werden natürlich ihrerseits wieder von »höheren Erwägungen« bestimmt – der Nachdruck liegt dabei auf »höher«. Jede Wahl ist in dem Sinne »frei«, daß sie nicht von den Spielregeln selbst bestimmt wird, sondern von einer anderen Ordnung »taktischer Richtlinien« auf einer höheren Stufe der Hierarchie – und diese Richtlinien haben ihrerseits einen noch weit größeren Unbestimmtheitsspielraum. Wir befinden uns auch hier wieder auf dem Weg einer unendlichen Regression, ähnlich wie das bei den verschiedenen Arten von Ambiguitäten im sprachlichen Bereich der Fall war, von denen jede einzelne nur mit Hilfe eines Appells an die nächsthöhere Instanz der gipfeloffenen Hierarchie geklärt werden kann. Diese Erwägungen führen offensichtlich zum Problem der Freien Wahl, das in Kapitel 14 eingehender zu erörtern sein wird. Zum Abschluß wollen wir uns noch einmal dem behavioristischen Redner zuwenden, der seinen Mund aufreißt und dann schlafen geht. Ich habe ihn mit einem Barpianisten verglichen, der ein populäres Lied herunterklimpert. In beiden Fällen löst ein einfaches Kommando einer höheren Instanz der Hierarchie eine mehr oder minder mechanische Tätigkeit aus, die nach einem vorbestimmten Muster abläuft. Der Pianist braucht bloß sich selbst das Kommando »La Cucaracha« zu erteilen, so wie man auf einen bestimmten Knopf drückt, und seine Finger besorgen dann automatisch den Rest. Aber selbst bei dieser Routineprozedur entwickelt er nicht einfach eine S-R-Kette, wobei das Niederdrücken einer Klaviertaste als Reizfaktor für das Niederdrücken der nächsten Taste fungiert. Denn als geübter Barpianist ist er durchaus in der Lage – auch wieder auf einen einzelnen auslösenden Befehl hin –, das ganze eben gespielte Stück von C-Dur in dMoll zu transponieren – und in dieser Tonart bilden die Tasten und Intervalle eine völlig andere Kette. Die feststehende Spielregel stellt im vorliegenden Fall die Melodiestruktur dar; die Wahl der Tonart – ebenso der Rhythmus, die Phrasierung, die Synkopierung und so weiter – fällt hier in den Bereich der flexiblen Taktik. Das Übertragen eines nur implizierten Befehls in konkrete Aktionen macht häufig von derartigen Auslöser-Operationen Gebrauch, wobei ein relativ einfacher Befehl einer »höheren Instanz« komplexe, koordinierte Bewegungsmuster aktiviert. Diese sind aber nicht starre Automatismen, sondern flexible Dispositionen, die eine Vielzahl von alternativen Auswahlmöglichkeiten offenlassen. Das Händeschütteln oder das Anzünden einer Zigarette sind Routinetätigkeiten, die häufig ganz unbewußt und rein mechanisch vollzogen werden, bei denen es aber in der Ausführung dennoch eine Unzahl von Variationen gibt. Ich brauchte nur auf einen Knopf in meinem Hirn zu drücken, und ich könnte dann diesen Satz französisch oder ungarisch weiterschreiben; das bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, daß ich so etwas wie ein Musikautomat bin.

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Das Holon Ich bitte den Leser, daran zu denken, daß gerade bei den augenfälligsten Dingen eine Analyse höchst lohnend sein kann. Untersucht man alltägliche Fakten aus einer neuen Perspektive heraus, dann können sich fruchtbare neue Ausblicke eröffnen. L. L. Whyte

Die Konzeption von der hierarchischen Ordnung hat für dieses Buch zentrale Bedeutung; damit der Leser nun nicht auf den Gedanken verfällt, ich frönte hier einem privaten Hobby, kann ich ihm versichern, daß diese Konzeption eine lange und respektable Vorgeschichte hat. Anhänger orthodoxer Vorstellungen sind sogar geneigt, sie verächtlich als »alten Hut« zu bezeichnen – und im selben Atemzug ihre Gültigkeit zu bestreiten. Ich hoffe aber, im Verlauf dieser Untersuchungen zu zeigen, daß man aus diesem alten Hut, wenn man ihn ein wenig liebevoll behandelt, sehr wohl lebendige Kaninchen hervorholen kann.* * Vor mehr als dreißig Jahren schrieb Needham: »Die Hierarchie der Beziehungen, von der Molekularstruktur von Kohlenstoffverbindungen bis hin zum Aquilibrium einzelner Arten und ökologischer Ge28 samtkomplexe, wird vermutlich eines Tages die beherrschende Idee der Zukunft sein.« Aber in den meisten modernen Lehrbüchern der Psychologie und der Biologie taucht das Wort »Hierarchie« nicht einmal im Sachregister auf.

3.1 Die Parabel von den beiden Uhrmachern Wir wollen mit einer Parabel beginnen. Ich verdanke sie Professor H. A. Simon, aber ich habe mir die Freiheit genommen, sie etwas auszubauen.29 Es lebten einmal zwei Schweizer Uhrmacher; sie hießen Bios und Mechos und machten sehr schöne und teure Uhren. Ihre Namen mögen etwas seltsam klingen, aber ihre Väter konnten ein wenig Griechisch und hatten außerdem eine Vorliebe für Rebusse. Zwar war die Nachfrage nach den Uhren der beiden gleich groß, aber nur Bios wurde wohlhabend; Mechos dagegen konnte sich nur eben über Wasser halten; er sah sich schließlich gezwungen, seinen Laden zu schließen und als Mechaniker in die Dienste von Bios zu treten. Die Bewohner der Stadt diskutierten lange über die Ursachen dieser Entwicklung, und jeder brachte eine andere Theorie vor; schließlich sickerte eines Tages der wahre Grund durch, und es zeigte sich, daß er ebenso einfach wie verblüffend war. Die Uhren, welche die beiden herstellten, bestanden jeweils aus etwa tausend Einzelteilen; beim Zusammensetzen dieser Einzelteile hatten sich jedoch die beiden Rivalen unterschiedlicher Methoden bedient. Mechos hatte seine Uhren Stück für Stück zusammengesetzt – so wie man etwa einen Mosaikfußboden aus lauter kleinen bunten Steinen zusammenfügt. Jedesmal wenn er bei seiner Arbeit gestört wurde und eine bereits teilweise zusammengesetzte Uhr beiseite legen mußte, fiel sie auseinander, und er mußte mit seiner Arbeit wieder ganz von vorne beginnen. Bios dagegen hatte sich eine Methode ausgedacht, mit deren Hilfe er die Uhren so konstruierte, daß er zunächst aus jeweils etwa zehn Einzelkomponenten bestehende Teilgebilde montieren konnte, die als selbständige Werkeinheit zusammenhielten und, wenn man sie beiseite legte, nicht wieder auseinanderfielen. Zehn dieser Teilgebilde ließen sich dann ihrerseits wieder zu einem Teilsystem höherer Ordnung zusammensetzen, und aus zehn solchen Teilsystemen setzte sich schließlich die ganze Uhr zusammen.

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Wie sich herausstellte, hatte diese Methode zwei bedeutende Vorteile. Der erste war folgender: Jedesmal wenn Bios in seiner Arbeit unterbrochen wurde und die Uhr, an der er gerade arbeitete, beiseite legen oder sogar fallen lassen mußte, zerfiel sie nicht gleich in ihre einzelnen Elementarbestandteile; er mußte nachher also nicht wieder ganz von vorne mit der Arbeit beginnen, sondern brauchte jeweils nur das Teilgebilde wieder zusammenzusetzen, an welchem er bei der Unterbrechung gerade gearbeitet hatte; schlimmstenfalls (wenn nämlich die Unterbrechung zu einem Zeitpunkt eintrat, da er das gerade in seinen Händen befindliche Teilgebilde nahezu vollendet hatte) mußte er neun Arbeitsgänge beim Zusammensetzen wiederholen, bestenfalls brauchte er keinen einzigen zu wiederholen. Es ist nun ein leichtes, rein mathematisch nachzuweisen, daß Mechos, wenn eine Uhr aus tausend Einzelteilen besteht und es durchschnittlich einmal bei jedem der hundert Arbeitsgänge des Zusammensetzens der Teile zu einer Unterbrechung kommt, für die Montage der ganzen Uhr viertausendmal mehr Zeit brauchen würde als Bios. Statt eines einzigen Tages benötigt er volle elf Jahre. Setzen wir an Stelle der mechanischen Einzelteile Aminosäuren, Proteinmoleküle, Organellen und so weiter, dann erreicht die Verhältniszahl zwischen den beiden Zeitmaßstäben eine geradezu astronomische Höhe; einige Berechnungen30 lassen darauf schließen, daß nicht einmal die gesamte Erdgeschichte für Mechos ausreichen würde, um auch nur eine Amöbe zu produzieren – es sei denn, er ginge zu Bios’ hierarchischer Methode über, aus einfacheren Teilgebilden komplexere Teilgebilde zu konstruieren. Simon kommt zu dem Schluß: Komplexe Systeme entwickeln sich aus einfacheren Systemen wesentlich rascher, wenn es stabile Zwischenformen gibt, als wenn diese Voraussetzung nicht zutrifft. Im erstgenannten Fall zeigen die schließlich entstehenden komplexen Formen hierarchische Struktur. Kehren wir dieses Argument um, dann haben wir eine einleuchtende Erklärung dafür, daß unter den komplexen Systemen, die wir in der Natur antreffen, diejenigen mit hierarchischer Struktur erwiesenermaßen dominieren. Unter den möglichen komplexen Formen haben nur die hierarchisch strukturierten ausreichend Zeit für ihre evolutionäre Entwicklung gehabt.«31 Der zweite Vorteil von Bios’ Methode besteht natürlich darin, daß das fertige Produkt ungleich widerstandsfähiger ist und sich leichter warten, regulieren und reparieren läßt, als Mechos’ instabiles Mosaikwerk, das sich aus zahllosen einzelnen Elementarteilen zusammensetzt. Was für Lebensformen sich auf anderen Planeten im Universum entwickelt haben, wissen wir nicht, aber eines können wir mit Sicherheit sagen: Lebenssysteme, wo immer sie auch vorkommen mögen, müssen hierarchisch organisiert sein.

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3.2 Der Janus-Effekt Betrachten wir die Form irgendeiner sozialen Organisation von einiger Kohärenz und Stabilität – vom Insektenstaat bis zum Pentagon –, dann werden wir stets finden, daß sie eine hierarchische Struktur hat. Das gleiche gilt auch für die Struktur der lebenden Organismen und für ihre Funktionsweise – von rein instinktiven Verhaltensweisen bis zu den komplexen Fertigkeiten des Klavierspielens und der Sprache. Und es gilt ebenso für alle Prozesse des Werdens: Phylogenese [Stammesentwicklung], Ontogenese [Einzelentwicklung] und Wissenserwerb. Soll aber der sich verzweigende Baum mehr sein als nur eine oberflächliche Analogie, dann muß es gewisse Prinzipien beziehungsweise Gesetze geben, die sowohl für alle Stufen einer bestimmten Hierarchie als auch für alle verschiedenen Arten von Hierarchien gültig sind – mit anderen Worten: es müßte sich mit ihrer Hilfe die Bedeutung des Begriffs »hierarchische Ordnung« klar definieren lassen. Einige dieser Prinzipien werde ich auf den folgenden Seiten in groben Zügen darlegen. Sie mögen auf den ersten Blick ein wenig abstrakt scheinen, aber alle zusammengenommen werfen doch neues Licht auf einige alte Probleme. Das erste universale Charakteristikum aller Hierarchien ist die Relativität – und Ambiguität der Begriffe »Teil« und »Ganzes«, wenn man sie auf irgendeines der zur Hierarchie gehörenden Teilgebilde anwendet. Gerade weil diese Tatsache so augenfällig ist, neigen wir leicht dazu, die mit ihr verbundenen Implikationen zu übersehen. Ein »Teil« bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch soviel wie: etwas Fragmentarisches und Unvollständiges, das aus sich selbst keine legitime Existenzberechtigung ableiten könnte. Anderseits betrachten wir ein »Ganzes« als etwas, was in sich vollkommen abgeschlossen ist und keiner weiteren Erklärung bedarf. Aber im Grunde gibt es nirgendwo »Ganze« und »Teile« in diesem absoluten Sinn des Wortes, und zwar weder im Bereich der lebenden Organismen noch in dem der sozialen Organisationen. Was wir vorfinden, sind intermediäre Strukturen auf allen Stufen der Hierarchie, die mit jeder Stufe aufwärts komplexer werden: Sub-Einheiten, die – je nachdem, wie man sie betrachtet – gewisse Eigenschaften aufweisen, die ganzheitlich, und andere, die fragmentarisch sind. Wir haben festgestellt, daß es unmöglich ist, die Sprache in elementare oder atomare Einheiten aufzuspalten; Phoneme, Wörter und Sätze sind autonome Ganze, zugleich aber auch Bestandteile höherer Einheiten; und das gleiche gilt für Zellen, Gewebe und Organe wie auch für Familien, Sippen und Stämme. Die Sub-Einheiten einer Hierarchie haben – wie der römische Gott Janus – jeweils zwei Gesichter, die in entgegengesetzte Richtungen blicken; das den untergeordneten Teilen zugewandte Gesicht zeigt die Züge eines in sich geschlossenen Ganzen; das aufwärts zum Gipfel der Hierarchie gerichtete die eines abhängigen Teilgebildes. Eines ist das Gesicht des Herrn und Meisters, das andere das des Dieners. Dieser Janus-Effekt ist ein fundamentales Charakteristikum der Sub-Einheiten in allen Arten von Hierarchien. Unser Wortschatz hat leider kein passendes Wort für diese janusgesichtigen Entitäten; von Sub-Einheiten, Sub-Strukturen oder Sub-Systemen zu reden ist mühsam und schwerfällig. Ich habe daher zur Bezeichnung der Komponenten einer Hierarchie, die sich – je nach der Betrachtungsweise – als Ganzheiten oder als Teile verhalten, das Wort »Holon« vorgeschlagen, nach dem griechischen hólos = ganz; das Suffix on deutet dabei – wie in den Wörtern Proton und Neutron – auf den Teil- beziehungsweise Partikelcharakter hin. »Man prägt«, so schrieb Ben Jonson, »ein neues Wort nicht ohne Gefahr; wird es akzeptiert, dann ist die Anerkennung, die man erhält, recht mäßig; wird es aber abgelehnt, dann ist der Spott, den man erntet, beträchtlich.« Ich glaube aber, das »Holon« lohnt dieses Risiko, denn es kommt einem echten Bedürfnis entgegen. Es symbolisiert zugleich das fehlende Bindeglied – oder, besser gesagt, eine ganze Reihe von Bindeglie35

dern – zwischen der atomistischen Auffassung der Behavioristen und der holistischen – ganzheitstheoretischen – Auffassung der Gestaltpsychologen. Die Schule der Gestaltpsychologie hat unser Wissen um die visuelle Wahrnehmung beträchtlich bereichert, und es ist ihr gelungen, die starre Haltung ihrer Gegner bis zu einem gewissen Grad aufzulockern. Trotz ihrer bleibenden Verdienste stellte sich jedoch heraus, daß der »Holismus« in seiner generellen Einstellung zur Psychologie kaum weniger einseitig war als der Atomismus, denn beide behandelten »Ganze« und »Teile« als absolute Entitäten, und beide ließen den hierarchischen Aufbau der intermediären Strukturen von Teilganzen außer Betracht. Ersetzen wir für einen Augenblick das Symbol des umgekehrt dargestellten Baumes durch das Symbol der Pyramide, dann sieht es aus, als ob die Behavioristen niemals über die unterste Steinschicht hinausgelangten und die Holisten niemals vom Gipfelpunkt der Pyramide herunterkämen. Der Begriff der »Ganzheit« erwies sich in der Tat als ebenso unbefriedigend wie derjenige der unteilbaren Elementarpartikel; und wenn der Gestaltpsychologe das Phänomen der Sprache erörtert, dann befindet er sich im gleichen Dilemma wie der Behaviorist. Sätze, Wörter, Silben und Phoneme sind weder Teile noch Ganze, sondern Holons. Der Dualismus »Teil und Ganzes« ist in unseren unbewußten Denkgewohnheiten tief eingewurzelt. Es wäre sehr vorteilhaft für unser geistiges Blickfeld, wenn es uns gelänge, uns von ihm zu befreien.

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3.3 Soziale Holons In Kapitel 2 habe ich die hierarchische Struktur der Sprache erörtert. Wir wollen uns nun für eine Weile einer ganz anderen Art von Hierarchie zuwenden, nämlich der Struktur der Gesellschaft. Als biologischer Organismus betrachtet, stellt das Individuum eine wohlgeordnete Hierarchie von Molekülen, Zellen, Organen und Organsystemen dar. Blickt es nach innen, in den durch seine Haut begrenzten Raum, dann kann es mit gutem Recht behaupten, es sei etwas Vollständiges und Einmaliges, ein »Ganzes«. Blickt es nach außen, dann wird es ständig – manchmal zu seiner Freude, manchmal zu seinem Leid – daran erinnert, daß es ein »Teil« ist, eine einfache Komponente in einer oder in mehreren sozialen Hierarchien. Der Grund dafür, daß jede relativ stabile soziale Gemeinschaft – ganz gleich, ob es sich um eine solche von Menschen oder Tieren handelt – hierarchisch strukturiert sein muß, läßt sich auch wieder an der Parabel von den beiden Uhrmachern deutlich machen; ohne stabile Teilgebilde – soziale Gruppen und Untergruppen – könnte das Ganze einfach nicht fest zusammenhalten. In der militärischen Hierarchie bestehen die Holons aus Kompanien, Bataillonen, Regimentern und so weiter, und die Zweige des Baumes stellen die Linien der Kommunikation und Befehlsübermittlung dar. Die Anzahl der Stufen, die eine Hierarchie aufweist (im vorliegenden Fall reichen sie vom Kommandierenden General bis zum einfachen Soldaten), bestimmt, ob man sie als »seicht« oder »tief« bezeichnet; die Anzahl der Holons auf einem gegebenen Stufenniveau wollen wir (nach Simon) als »Spannweite« bezeichnen. Eine Horde von primitiven Stammesangehörigen stellt eine sehr flach angelegte Hierarchie mit vielleicht zwei oder drei Stufen dar (Häuptling, Unterhäuptling, Horde), aber die unterste hat eine große Spannweite. Umgekehrt soll es früher in einigen lateinamerikanischen Armeen ebenso viele Generale wie einfache Soldaten gegeben haben – das wäre ein Grenzfall, bei dem die Hierarchie in eine Leiter übergeht. Die Funktionsfähigkeit einer komplexen Hierarchie beruht – unter anderem – auf einem angemessenen Verhältnis von Tiefenstaffelung und Spannweite – etwa analog zum Goldenen Schnitt der griechischen Bildhauer oder zu Le Corbusiers »Modulor«-Theorie. Eine Gesellschaft ohne hierarchische Strukturierung würde sich ebenso chaotisch gebärden wie Gasmoleküle, die in allen Richtungen umherfliegen und aufeinanderstoßen. Aber die Struktur ist nicht immer deutlich sichtbar, da keine fortgeschrittene Gesellschaft – nicht einmal der totalitäre Staat – ein streng monolithisches Gefüge darstellt. Das könnte allenfalls bei sehr primitiven Stammesgesellschaften der Fall sein, in denen die Familie-Sippe-Stamm-Hierarchie eine vollständige Kontrolle über das Individuum ausübt. Die Kirche des Mittelalters und die modernen totalitären Staaten waren gleichermaßen bestrebt, monolithische Hierarchien zu errichten, hatten aber damit nur begrenzte Erfolge. Die Struktur fortgeschrittener Gesellschaften ist durch eine Vielzahl sich gegenseitig überschneidender Hierarchien bedingt: Kontrolle durch den politischen Machtapparat. Naheliegende Beispiele von dergleichen »Kontrollhierarchien« sind Regierungsbehörden sowie die Hierarchien militärischer, kirchlicher, akademischer, beruflicher und geschäftlicher Art. Die Kontrolle kann durch Einzelpersonen oder Institutionen ausgeübt werden; sie kann starr oder elastisch gehandhabt und bis zu einem gewissen Grad durch Rückkoppelung von »unten« beeinflußt werden; zum Beispiel von der Wählerschaft. Mit diesen Kontrollhierarchien überschneiden sich noch andere Arten von »Baumstrukturen«, die auf sozialer Kohäsion, geographischer Nachbarschaft und so weiter basieren. Es gibt die Familien-Sippen-Kasten-Hierarchien und ihre modernen Varianten. 37

Mit ihnen überschneiden sich die auf geographischer Nachbarschaft beruhenden Hierarchien. Alte Städte wie Paris, Wien oder London haben ihre traditionellen Viertel, die relativ autark sind, mit ihren eigenen Kaufläden, Cafés, Kinos, Hausbesorgern und Straßenkehrern. Jedes Viertel ist gewissermaßen eine Gemeinde für sich, ein soziales Holon, das seinerseits wieder Teil einer größeren Einheit ist – wie linkes und rechtes Seineufer, City und West End, Amüsierviertel und Geschäftsviertel, Zentrum und Vorstadtgürtel. Alte Städte scheinen – trotz ihrer architektonischen Vielfalt – wie ein natürlicher Organismus gewachsen zu sein und ein ganz spezifisches eigenständiges Leben zu führen. Städte, die allzu rasch emporgewachsen sind, lassen eine deprimierende Amorphie erkennen, denn ihnen fehlt die hierarchische Struktur einer organischen Entwicklung. Man hat das Gefühl, bei ihrer Entstehung sei nicht Bios, sondern Mechos am Werk gewesen. So läßt sich die komplexe Struktur sozialer Verbindungen in eine Vielzahl von hierarchischen Systemen zerlegen, ähnlich wie etwa ein Anatom Muskelpartien, Nervenstränge und andere Strukturgebilde aus der fleischigen Masse heraustrennt. Ohne dieses Attribut der Zerlegbarkeit wäre die Konzeption von der hierarchischen Ordnung mit einer gewissen Willkür behaftet. Wir sind nur dann berechtigt, von Bäumen zu reden, wenn wir auch in der Lage sind, ihre Knotenpunkte sowie ihre Äste und Zweige zu identifizieren. Im Fall einer Regierungsbehörde oder eines Industriekonzerns ist die Aufgliederung sehr einfach und hat gewöhnlich etwa folgende Form:

Abbildung 3

Nehmen wir an, hier sei eine Regierungsbehörde dargestellt, etwa das Innenministerium; in diesem Fall würde jedes Holon – jedes Kästchen – in der zweiten Reihe eine dem Minister unterstellte Fachbehörde bedeuten: Einwanderungsamt, Scotland Yard, Gefängnisverwaltung und so fort, und jedes Kästchen in der dritten Reihe würde dann für eine Unterabteilung dieser Behörden stehen. Welches sind nun die Kriterien, die eine Aufgliederung des Innenministeriums gerade auf diese – und auf keine andere – Weise rechtfertigen? Mit anderen Worten: wie hat der Urheber dieses Diagramms seine Holons definiert? Möglicherweise hat man ihm einen Stadtplan gezeigt, auf dem die Gebäude, in denen das Innenministerium untergebracht ist, eingezeichnet sind, und man hat ihm vielleicht zusätzlich noch Planskizzen der einzelnen Gebäude überlassen; das wäre jedoch nicht ausreichend und in einigen Fällen sogar irreführend, denn eine Abteilung des Ministeriums kann zum Beispiel in mehreren Gebäuden in verschiedenen 38

Teilen der Stadt untergebracht sein, und umgekehrt können mehrere Abteilungen im selben Gebäude arbeiten. Das charakteristische Merkmal jedes individuellen Kästchens ist die Funktion, die ihm übertragen worden ist – das heißt die Art der Tätigkeit, die die Leute in den betreffenden Abteilungen verrichten. Natürlich besteht in jeder gut funktionierenden Hierarchie die Tendenz, die Menschen, die an denselben Aufgaben arbeiten, auch im selben Raum beziehungsweise im selben Gebäude arbeiten zu lassen; insoweit – aber auch nur insoweit – spielt auch die räumliche Aufteilung mit hinein. Büroboten und Telephone überbrücken die Entfernungen zwischen den funktionell zusammengehörenden Büros, so wie Nervenstränge und Hormone das in den Machthierarchien des lebenden Organismus besorgen. Es besteht nicht nur ein gewisser Zusammenhalt innerhalb jedes einzelnen Holons, sondern auch eine gewisse Trennung zwischen den verschiedenen Holons. Die Menschen, die innerhalb einer bestimmten Abteilung zusammenarbeiten, wickeln erheblich mehr dienstliche Transaktionen untereinander ab als mit Leuten aus anderen Abteilungen. Die Trennung ist noch schärfer: Verlangt eine Abteilung Informationen oder Hilfe von einer anderen, dann wickelt sich der Dienstverkehr für gewöhnlich nicht mit Hilfe eines direkten persönlichen Kontaktes ab, sondern auf dem offiziellen Dienstweg, das heißt über die jeweiligen Leiter der beiden betreffenden Abteilungen. Mit anderen Worten: die Linien der Kommunikation und Kontrolle verlaufen den Ästen entlang auf und ab; in einer idealen Kontrollhierarchie gibt es keine horizontalen Abkürzungswege. Bei anderen Hierarchiearten lassen sich die Holons nicht so leicht auf Grund ihrer »Funktion« oder »Aufgabe« definieren. Die Funktion einer Familie, einer Sippe oder eines Stammes können wir nicht definieren. Aber auch hier finden wir ungleich mehr Kooperation und Zusammenhalt innerhalb des Holons als zwischen Mitgliedern verschiedener Holons. Wenn irgendeine Transaktion zwischen zwei Sippen oder Stämmen abgewickelt werden soll, dann geschieht das auch hier auf dem Weg über die Häuptlinge oder den Ältestenrat. Diese Bande des Zusammenhalts und der Abgrenzung nach außen kommen aus gemeinsamen Traditionen, Sitten und Verhaltensregeln her. In ihrer Gesamtheit bilden sie ein Muster von regelgebundenen Verhaltensweisen, das die Stabilität und Kohäsion der Gruppe verbürgt und ihr den Charakter eines sozialen Holons verleiht. Wir müssen jedoch einen Unterschied machen zwischen den Regeln, die das Verhalten des einzelnen Individuums bestimmen, und denjenigen, die für das Verhalten der Gruppe in ihrer Gesamtheit maßgebend sind. Das Individuum mag sich nicht einmal der Tatsache bewußt sein, daß sein Verhalten an feste Regeln gebunden ist, und ist ebenso unfähig, diese Regeln zu definieren als die Regeln der Grammatik zu erklären. Das Verhalten der Gruppe dagegen wird nicht nur von den Verhaltungsweisen ihrer Mitglieder bedingt, sondern auch von den Verhaltungsweisen anderer Gruppen, mit denen sie als Ganzes auf einem höheren Niveau der Hierarchie in Berührung kommt; und die Spielregeln, die für Gruppen als ganze gelten, lassen sich ebensowenig von den Spielregeln für Individuen ableiten, wie man etwa die Funktionen des Nervensystems aus den Vorgängen bei den individuellen Nervenzellen ableiten kann oder die Regeln der Syntax aus den Regeln der Phonologie. Wir können ein komplexes Ganzes in die – als seine Bestandteile fungierenden – Holons zweiter und dritter Ordnung aufgliedern, aber wir können es nicht auf die Summe seiner einzelnen Bestandteile »reduzieren« und auch nicht seine Eigenschaften aus denen seiner Einzelteile ableiten. Die hierarchische Konzeption von den »Organisationsstufen« impliziert ex hipothesi die Ablehnung der »reduktionistischen« Auffassung, wonach sich alle Phänomene (einschließlich des Bewußtseins) auf physikalisch-chemische Gesetze zurückführen und durch sie erklären lassen. Ein stabiles soziales Holon hat also stets ein individuelles »Profil«, ganz gleich, ob es sich dabei um einen Stamm der Papuas oder um ein Finanzamt handelt. Jede soziale 39

Gemeinschaft, die ein gemeinsames Territorium bewohnt und/oder einen Kodex von Gesetzen, Sitten, Gebräuchen und Glaubensvorstellungen besitzt, zeigt die Tendenz, ihre Individualität zu bewahren und sich andern gegenüber zu behaupten – andernfalls würde ihr die Qualifikation zu einem stabilen Holon fehlen. In einer primitiven Gesellschaft kann der Stamm, die oberste Einheit der »seichten« Hierarchie, ein mehr oder minder in sich geschlossenes Ganzes sein. Aber in einer komplexen Gesellschaft mit ihren vielschichtigen, tiefgestaffelten Hierarchien ist es unerläßlich, daß jedes soziale Holon – ganz gleich, ob es sich dabei um eine Regierungsbehörde, eine Stadtgemeinde oder um die freiwillige Feuerwehr handelt – als autonome Einheit zu funktionieren vermag; ohne Arbeitsteilung und Delegation von Machtbefugnissen nach dem hierarchischen Strukturschema kann keine Gesellschaft richtig funktionieren. Kehren wir für einen Augenblick zu unserem Diagramm vom Innenministerium zurück, und nehmen wir an, es handle sich bei einem der »Kästchen« um die Einwanderungsbehörde. Um als selbständige Einheit zu funktionieren, benötigt diese Behörde eine Reihe von Instruktionen und Verordnungen, die sie in die Lage versetzen, Routineangelegenheiten mühelos zu bewältigen, ohne sich in jedem einzelnen Fall an die übergeordnete Instanz wenden zu müssen. Mit anderen Worten, was die Behörde dazu befähigt, auf so wirksame Weise als autonomes Holon zu funktionieren, ist auch hier wieder ein System von feststehenden Regeln, eine Art Kodex. Trotzdem kommen natürlich auch Fälle vor, bei denen sich diese Regeln auf die eine oder andere Art interpretieren lassen und damit eine Auswahl von Entscheidungen freigeben. Welcherart eine Hierarchie auch immer sein mag, ihre Holons werden von feststehenden Regeln und flexiblen Taktiken bestimmt. Auch in diesem Falle ist es klar, daß die Regeln, die das Verhalten der Individuen, die in der Behörde arbeiten, bestimmen, nicht identisch sind mit den Regeln, die das Verhalten der Behörde selbst bestimmen. Herr Schmidt mag geneigt sein, einem Bewerber aus persönlichem Mitgefühl heraus ein Visum zu gewähren, doch stehen dem die amtlichen Verordnungen entgegen. Es gibt auch noch eine weitere Parallele zu früher vorgebrachten Beispielen: Wenn die Regeln, auf einen bestimmten Fall angewendet, mehrere Entscheidungsmöglichkeiten freilassen, dann muß die Angelegenheit dem Chef vorgelegt werden, der es dann seinerseits für ratsam halten mag, die Entscheidung einer übergeordneten Instanz in der Hierarchie zu überlassen. Und die Entscheidung wird auch hier wieder von taktischen Erwägungen »höherer Ordnung« abhängen – zum Beispiel von der Lage auf dem Wohnungsmarkt, vom Rassenproblem oder der Situation auf dem Arbeitsmarkt. Es kann unter Umständen sogar zu einem Konflikt zwischen den vom Innenministerium herausgegebenen Richtlinien und denen des Wirtschaftsministeriums kommen. Wieder bewegen wir uns im Rahmen einer regressiven Serie (auch wenn es sich im vorliegenden Fall natürlich nicht um eine unendliche Serie handelt). Fassen wir zusammen: Für die Stabilität und das wirksame Funktionieren jeder sozialen Gemeinschaft ist es von grundlegender Bedeutung, daß jede ihrer Untergruppen als eine autonome und selbständige Organisation funktioniert, die zwar der Kontrolle durch höhere Instanzen unterworfen ist, dabei aber ein Maß von Selbständigkeit besitzen und in der Lage sein muß, Routineangelegenheiten zu bewältigen, ohne dafür Instruktionen einer übergeordneten Behörde einzuholen. Andernfalls wären die Kommunikationskanäle bald verstopft, das System wäre blockiert, die höheren Instanzen wären ständig mit unbedeutenden Detailfragen beschäftigt und nicht mehr in der Lage, sich auf wichtige Dinge zu konzentrieren.

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3.4 Die fundamentale Polarität Die Regeln, die das Verhalten des sozialen Holons regulieren, üben jedoch nicht nur eine negative, einschränkende Funktion aus, sondern sie wirken auch als positive Richtlinien, Verhaltensmaximen oder moralische Imperative. Folglich zeigt jedes Holon die Tendenz, in seinen charakteristischen Attitüden zu verharren und seine Individualität zu behaupten. Diese selbstbehauptende Tendenz ist ein fundamentales und zugleich universales Charakteristikum von Holons, das sich auf jeder Stufe der sozialen Hierarchie (und, wie sich noch zeigen wird, auch in allen anderen Hierarchiearten) manifestiert. Auf dem Niveau des einzelnen Individuums ist ein gewisses Maß an Selbstbehauptungswillen – Ehrgeiz, Initiative, Wettbewerb – in einer dynamischen Gesellschaft unerläßlich. Gleichzeitig ist der Einzelne aber auch von seiner sozialen Gruppe abhängig und muß sich in sie integrieren lassen. Bei einem innerlich ausgeglichenen Menschen halten sich die selbstbehauptende Tendenz und ihr Gegenspieler, die integrative Tendenz, mehr oder minder die Waage; solange die Verhältnisse normal sind, lebt er in einer Art dynamischen Gleichgewichts mit seiner sozialen Umwelt. In Konfliktsituationen jedoch ist das Gleichgewicht gestört, und das führt zu emotionell unausgeglichenen Verhaltensweisen. Kein Mensch ist eine isolierte Insel – jeder ist ein Holon: ein janusgesichtiges Wesen, das sich nach innen blickend als ein vollständiges und einmaliges Ganzes erlebt, nach außen blickend seine Abhängigkeit als Teil einer höheren Ganzheit erkennt. Seine selbstbehauptende Tendenz ist die dynamische Manifestation seiner eigenständigen Ganzheit, seiner Autonomie und Unabhängigkeit. In seiner gleichermaßen universalen Gegenkraft, der integrativen Tendenz, drückt sich seine Abhängigkeit gegenüber dem größeren Ganzen aus, zu dem er gehört: also seine »Teilheit«. Die Polarität dieser beiden Tendenzen ist eines der Leitmotive der hier entwickelten Theorie. Empirisch läßt sie sich in allen Phänomenen des Lebens nachweisen, theoretisch leitet sie sich aus der Dichotomie »Teil – Ganzes« ab, die von der Konzeption der vielschichtigen Hierarchie untrennbar ist; ihre philosophischen Implikationen sollen in späteren Kapiteln erörtert werden. Hier wollen wir nur noch einmal feststellen: die selbstbehauptende Tendenz ist der dynamische Ausdruck der Ganzheit des Holons, die integrative Tendenz der dynamische Ausdruck seiner Teilheit.* * In DER GÖTTLICHE FUNKE habe ich von einer selbstbehauptenden und einer »partizipatorischen« Tendenz gesprochen, doch erscheint der Begriff »integrative Tendenz« zutreffender.

Die Manifestationen dieser beiden Tendenzen haben in verschiedenen Bereichen auch verschiedene Namen, aber sie sind Ausdruck der gleichen Polarität, die in allen Hierarchiestrukturen erkennbar ist. Die selbstbehauptende Tendenz des einzelnen Individuums kennt man unter den Namen »Individualismus«, »Ehrgeiz«, »Egoismus« und so fort; bei sozialen Holons auf höheren Stufen sprechen wir von »Sippenstolz«, »Cliquenwesen«, »Klassenbewußtsein«, »ésprit de corps«, »Lokalpatriotismus«, »Nationalismus« und so weiter. Die integrativen Tendenzen manifestieren sich ihrerseits in »Hilfsbereitschaft«, »disziplinierter Verhaltensweise«, »Altruismus«, »Pflichtbewußtsein«, »Loyalität«, »Internationalismus« und anderem. Es fällt allerdings auf, daß eine Anzahl dieser Beiworte, wenn man sie auf die höheren Hierarchiestufen anwendet, nicht frei von Ambiguitäten [Zweideutigkeit] sind. In der Loyalität des Einzelnen zur Sippe spiegeln sich seine integrativen Tendenzen wider; die gleiche Loyalität befähigt aber auch die Sippe in ihrer Gesamtheit zu einer aggressiven und selbstbehauptenden Verhaltensweise. Obedienz [Gehorsamkeit] und Pflichtbewußtsein der SS-Wachen in den Konzentrationslagern waren zugleich die Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren der Gaskammern. »Patriotismus« bedeutet die Zurückstellung eigener privater Interessen zugunsten der höheren Interessen der Nation; »Nationalismus« ist ein Synonym für die militante Betreibung dieser »höheren Interessen«.

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Die infernalische Dialektik dieses Prozesses spiegelt sich in der gesamten Geschichte der Menschheit. Das ist durchaus kein Zufall; diese verhängnisvolle Disposition ist ein inhärenter Faktor der oben erwähnten Polarität in der Struktur sozialer Hierarchien. Sie mag der unbewußte Anlaß dafür gewesen sein, daß die alten Römer dem Gott Janus in ihrem Pantheon eine so prominente Stellung einräumten – als Hüter des Tordurchganges, der, doppelgesichtig, sowohl nach innen als auch nach außen blickt; und daß sie auch den ersten Monat des Jahres nach ihm benannten. Es wäre jedoch noch verfrüht, dieses Thema hier eingehender zu erörtern; es wird später eines der Hauptthemen in Teil III dieses Buches sein. Im Augenblick bleiben wir bei der normalen und geordneten Arbeitsweise der Hierarchie, wobei jedes Holon seinen Regeln entsprechend agiert, ohne zu versuchen, diese Regeln auch anderen aufzuzwingen und ohne seine Individualität durch exzessive Subordination einzubüßen. Nur in Krisenzeiten zeigt sich bei einem Holon die Tendenz, außer Kontrolle zu geraten: dann verwandelt sich sein normaler Selbstbehauptungswille in Aggressivität, ganz gleich ob es sich bei dem Holon um ein einzelnes Individuum, eine Gesellschaftsklasse oder um eine ganze Nation handelt. Der umgekehrte Prozeß tritt ein, wenn die Abhängigkeit eines Holons von seinen übergeordneten Instanzen so stark ist, daß ihm seine eigene Identität abhanden kommt. Leser, die sich in der zeitgenössischen Psychologie auskennen, werden schon auf Grund dieses unvollständigen Abrisses festgestellt haben, daß in der hier vorgetragenen Theorie kein Platz ist für so etwas wie einen »Zerstörungstrieb«; auch wird in ihr nicht die Auffassung vertreten, der Sexualtrieb sei die einzige integrative Kraft in menschlichen oder tierischen Gemeinschaften. Freuds Eros und Thanatos treten auf der Bühne der evolutionären Entwicklung erst relativ spät in Erscheinung; bei primitiven Kreaturen, die sich durch Spaltung oder Knospung vermehren, sind beide völlig unbekannt.* * Eine Erörterung der Freudschen Metapsychologie findet man in INSIGHT AND OUTLOOK, Kapitel 15 und 16.

Nach unserer Auffassung entspringt Eros der integrativen, der destruktive Thanatos hingegen der selbstbehauptenden Tendenz; Janus aber ist letztlich der Ahnherr beider Kräfte – das Symbol der Dichotomie von Teilheit und Ganzheit, die mit den gipfeloffenen Hierarchien des Lebens untrennbar verbunden ist.

3.5 Zusammenfassung Organismen und soziale Gemeinschaften sind vielschichtige Hierarchien von halbautonomen Sub-Einheiten, die sich zu Sub-Einheiten einer niedrigeren Ordnung verzweigen. Der Begriff Holon wurde zur Bezeichnung dieser intermediären Entitäten eingeführt, die, bezogen auf die ihnen untergeordneten Einheiten der Hierarchie, als in sich geschlossene Ganze fungieren, bezogen auf die ihnen übergeordneten Einheiten der Hierarchie dagegen als abhängige Teile. Diese Dichotomie von Ganzheit und Teilheit, von Autonomie und Abhängigkeit ist ein inhärenter Faktor aller hierarchischen Ordnung und soll hier als Janus-Prinzip bezeichnet werden. Ihren dynamischen Ausdruck findet sie in der Polarität zwischen den selbstbehauptenden Tendenzen und den integrativen Tendenzen. Die Funktionen des Holons sind an feste Regeln gebunden, die jedoch flexible Taktiken zulassen. Die Verhaltensregeln eines sozialen Holons lassen sich nicht auf die Verhaltensregeln seiner einzelnen Mitglieder reduzieren. Für den Leser wäre es vorteilhaft, wenn er von Zeit zu Zeit im Anhang nachschlüge: dieser enthält eine Zusammenfassung der allgemeinen Charakteristika von hierarchischen Systemen, wie sie in dem eben abgeschlossenen und in den folgenden Kapiteln dargelegt werden.

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Individuen und Dividuen Ich kenne bisher kein Problem, wie kompliziert es auch immer sein mag, das nicht, wenn man es auf die rechte Weise angeht, noch komplizierter und würde. Poul Anderson

4.1 Über Diagramme Bevor wir von den sozialen Organisationen auf die biologischen Organismen übergehen, möchte ich einiges über verschiedene Arten von Hierarchien und deren graphische Darstellung vorausschicken.

Abbildung 4

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Es ist mehrfach versucht worden, Hierarchien in Kategorien einzuteilen; da es sich jedoch nicht vermeiden läßt, daß die einzelnen Kategorien einander überschneiden, sind diese Versuche nicht besonders erfolgreich gewesen. Man kann nur eine grobe Unterteilung vornehmen, und zwar in strukturelle Hierarchien, die den räumlichen Aspekt (Anatomie, Topologie) eines Systems betonen, und in funktionelle Hierarchien, die einen sich in der zeitlichen Dimension abspielenden Prozeß in den Vordergrund rücken. Offensichtlich lassen sich Struktur und Funktion nicht voneinander trennen: sie stellen komplementäre Aspekte eines unteilbaren räumlich-zeitlichen Prozesses dar; oft erweist es sich jedoch als vorteilhaft, seine Aufmerksamkeit mehr auf den einen oder den anderen Aspekt zu konzentrieren. Alle Hierarchien haben einen »Teil-im-Teil«-Charakter, doch läßt sich das leichter in »strukturellen« als in »funktionellen« Hierarchien erkennen. Zu den letzteren gehören Sprache und Musik, deren hierarchisches Gefüge innerhalb des eindimensionalen Zeitablaufs verborgen ist. Bei der Art von Verwaltungshierarchie, wie wir sie oben erörtert haben, steht das Baumdiagramm sowohl als Symbol für die Struktur als auch für die Funktion: die einzelnen Zweige stellen die Kommunikationslinien dar, jeder einzelne Knotenpunkt beziehungsweise jedes einzelne Kästchen repräsentiert eine physisch existente Gruppe von Menschen (den Abteilungsleiter, seine Assistenten und Sekretärinnen). Stellen wir aber auf ähnliche Weise eine militärische Organisation dar, dann gibt der Baum nur den funktionellen Aspekt wieder, denn genaugenommen enthalten die einzelnen Kästchen in jeder Schicht – ganz gleich, ob es sich dabei um ein »Bataillon« oder um eine »Kompanie« handelt – nur die Offiziere und Unteroffiziere; die gemeinen Soldaten, die das Gros des Bataillons beziehungsweise der Kompanie ausmachen, haben ihren Platz in der Grundlinie des Diagramms. Im vorliegenden Fall spielt das keine so große Rolle, denn was uns hier interessiert, ist die Art und Weise, in der der gesamte Mechanismus funktioniert, und das ist aus dem Baumdiagramm klar zu erkennen: es sind die Offiziere und Unteroffiziere, die die Entscheidungen über die Operationen des Holons treffen – sie verkörpern die »Regeln« und bestimmen die »Taktik« des Holons. Wer dazu neigt, mehr in konkreten Bildvorstellungen zu denken als in abstrakten Schemata, findet freilich eine derartige Darstellung etwas verwirrend. Wollten wir jedoch den strukturellen Aspekt einer Armeeorganisation in den Vordergrund rücken, dann müßten wir ein Diagramm zeichnen, wie es in Abbildung 4 wiedergegeben wird: es zeigt, wie die einzelnen Züge zu einer Kompanie »verkapselt« werden, die einzelnen Kompanien wiederum zu einem Bataillon und so weiter. Derartige Strukturdiagramme sind jedoch unübersichtlich und weniger aufschlußreich als das Diagramm mit dem sich verzweigenden Baum. Einige Autoren reihen symbolische Hierarchien (Sprache, Musik, Mathematik) in eine gesonderte Kategorie ein; man kann sie jedoch ebensogut als funktionelle Hierarchien klassifizieren, denn sie gehen aus menschlichen Handlungsakten hervor. Ein Buch besteht aus Kapiteln, ein Kapitel aus einzelnen Abschnitten, ein Abschnitt aus einzelnen Sätzen und Wörtern; auch eine Symphonie läßt sich ähnlich in Teile innerhalb der einzelnen Teile aufgliedern. In der hierarchischen Struktur des Endprodukts spiegelt sich die hierarchische Natur der Fertigkeiten und Sub-Fertigkeiten wider, denen dieses Produkt seine Entstehung verdankt. Auf ähnliche Weise spiegeln alle Hierarchien mit Klassifikationscharakter – wenn sie nicht rein deskriptiver Natur sind – die Prozesse wider, denen sie ihre Entstehung verdanken. So soll die im Tierreich geltende Klassifikation – Art, Gattung, Familie, Ordnung, Klasse, Stamm und Reich – die verwandtschaftlichen Gruppierungen in der Evolutionsdeszendenz widerspiegeln: das Baumdiagramm repräsentiert hier den Archetypus des »Lebensbaumes«. Ähnlich spiegelt auch das hierarchisch aufgegliederte Sachregister in Bibliothekskatalogen die hierarchische Ordnung des Wissens wider. Phylogenese und Ontogenese schließlich sind Entwicklungshierarchien, bei denen der Baum sich entlang der Zeitachse verzweigt, die einzelnen Stufen Stadien der Entwick44

lung repräsentieren und die Holons – wie sich noch zeigen wird – intermediäre Strukturen in verschiedenen Stadien widerspiegeln. Es soll hier noch einmal hervorgehoben werden, daß die Suche nach gemeinsamen Eigenschaften beziehungsweise Gesetzen bei all diesen verschiedenen Arten von Hierarchien mehr ist als nur ein bloßes Spiel mit oberflächlichen Analogien. Man könnte sie eher als eine Studie in »allgemeiner Systemtheorie« bezeichnen – einem noch relativ jungen Wissenschaftszweig, der sich zum Ziel gesetzt hat, theoretische Modelle und »logisch homologe Gesetze« (B Bertalanffy) zu erarbeiten, die auf anorganische, biologische und soziale Systeme aller Art universell anwendbar sind.

4.2 Unbelebte Systeme Wenn wir in der Hierarchie, die der lebendige Organismus darstellt, von den Organen über das Zellgewebe, die einzelnen Zellen, die Organellen, die Makromoleküle und so weiter in immer tiefere Schichten hinabsteigen, dann gelangen wir niemals auf einen letzten, untersten Grund, und wir finden nie jene letzten Elementarbestandteile, auf die wir nach der Meinung der alten mechanistischen* Lebensauffassung schließlich stoßen müßten. * Der Begriff »mechanistisch« wird im vorliegenden Buch durchwegs in seiner allgemeinen Bedeutung verwendet und nicht im fachwissenschaftlichen Sinn einer Alternative zu den »vitalistischen« Theorien in der Biologie.

Die Hierarchie ist an ihrer Basis ebenso offen wie an ihrem Gipfel. Es hat sich ja gezeigt, daß selbst das Atom, dessen Name sich aus dem griechischen Wort átomos = unteilbar ableitet, ein sehr komplexes, janusgesichtiges Holon ist. Nach außen hin verbindet sich das Atom mit anderen Atomen, so als wäre es ein einzelnes, einheitliches Ganzes; und die Gesetzmäßigkeiten der Atomgewichte von Elementen schienen den Glauben an diese Unteilbarkeit zu bestätigen. Seit wir jedoch gelernt haben, Atome zu spalten, können wir die regelbestimmten Wechselwirkungen zwischen dem Atomkern und den äußeren Elektronenhüllen sowie der Partikeln innerhalb des Atomkerns indirekt beobachten. Die Regeln lassen sich in mathematischen Gleichungen ausdrücken, mit deren Hilfe jede besondere Atomart als ein Holon definiert wird. Aber auch hier sind die Regeln, die für die Wechselwirkungen der subnuklearen Partikel in der Hierarchie gelten, nicht die gleichen wie diejenigen, die bestimmend sind für die chemischen Wechselwirkungen von Atomen als Ganzheiten. Dieses Thema hat einen allzu fachwissenschaftlichen Charakter, als daß es hier eingehend erörtert werden könnte; der interessierte Leser findet eine gute zusammenfassende Übersicht darüber in H. Simons Abhandlung, aus der ich oben bereits zitiert habe.32 Wenden wir uns nun vom Mikrokosmos zum Makrokosmos, dann begegnen wir auch hier einer hierarchischen Ordnung. Monde umkreisen Planeten, Planeten die Sterne, die Sterne die Zentren ihrer Galaxien (Milchstraßensysteme), und die Galaxien bilden wiederum Anhäufungen von Galaxien. Wo immer wir in der Natur auf geordnete und stabile Systeme stoßen, stellen wir fest, daß sie hierarchisch strukturiert sind, und zwar aus dem einfachen Grund, weil ohne eine solche Strukturierung von komplexen Systemen in eigenständige Sub-Systeme Ordnung und Stabilität nicht möglich wären – es sei denn die Ordnung eines leblosen Universums von gleichmäßig verteilten Gasmolekülen. Aber selbst in diesem Fall würde jedes einzelne Gasmolekül noch eine mikroskopisch kleine Hierarchie darstellen. Wenn diese Feststellung jetzt allmählich wie eine Tautologie klingt, dann um so besser.* * Häufig tritt jedoch der Fall ein, daß wir eine hierarchische Struktur gar nicht erkennen, wie z.B. bei einem Kristall: er hat nämlich nur eine sehr »seicht« angelegte Hierarchie, die (soweit wir das bis heute erkennen können) nur aus drei Schichten besteht – nämlich aus Molekülen, Atomen und subatomaren Partikeln; ein anderer Grund für diese Fehleinschätzung ist die Tatsache, daß die Molekularschicht eine ungeheure »Spannweite« von nahezu identischen Holons besitzt.

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Es wäre natürlich krasser Anthropomorphismus, wollte man bei der unbelebten Natur von »selbstbehauptenden« und »integrativen« Tendenzen oder »von flexiblen Taktiken« sprechen. Trotzdem steht fest, daß in allen stabilen dynamischen Systemen die Stabilität durch das Gleichgewicht einander entgegengesetzter Kräfte aufrechterhalten wird: eine von ihnen mag eine zentrifugale Kraft sein, die gewissermaßen die partikularistischen Tendenzen des Teils repräsentiert, bei der anderen mag es sich um eine zentripetale, kohäsive Kraft handeln, die den Teil an seinem Platz im ganzen festhält. Auf verschiedenen Stufen der anorganischen und der organischen Hierarchien nimmt die Polarität der »partikularistischen« und der »holistischen« Kräfte zwar verschiedene Formen an, sie läßt sich aber auf allen Ebenen beobachten. Auch für die Unterscheidung zwischen feststehenden Regeln und flexiblen Taktiken gibt es Analogien im anorganischen Bereich. Die geometrische Struktur eines Kristalls ist durch mathematische Regeln festgelegt; aber Kristalle, die sich in gesättigten Lösungen bilden, erreichen diese Endform auf verschiedenen Wegen, das heißt, auch wenn ihre Wachstumsprozesse im Detail differieren; selbst bei einer künstlich verursachten Beschädigung kann der sich bildende Kristall diesen Defekt wieder ausgleichen. In diesem und in vielen anderen wohlbekannten Phänomenen kündigen sich schon auf einer elementaren Ebene die selbstregulierenden Fähigkeiten biologischer Holons an.

4.3 Der Organismus und seine Ersatzteile Bei den Hierarchien der lebenden Materie begegnen wir bereits auf der untersten, nur durch das Elektronenmikroskop zu beobachtenden Ebene subzellularen Strukturen von verblüffender Komplexität: den Organellen. Am erstaunlichsten ist die Tatsache, daß diese winzigen Zellteilchen als selbständige Ganze funktionieren, wobei jedes einzelne einem eigenen Regelkodex folgt. Ein Organellentyp sorgt selbständig für das Wachstum der Zelle, andere wieder für Energievorräte, Fortpflanzung, Kommunikation und so weiter. So können sich etwa die Ribosome, die an der Proteinbildung mitwirken, an Komplexität mit jeder chemischen Fabrik messen. Der Organismus ist nicht ein mosaikartiges Aggregat von elementaren physikalischchemischen Prozessen, sondern eine Hierarchie, in der – von der subzellularen Ebene aufwärts – jede einzelne Kornponente ein stabiles, mit selbstregelnden Mechanismen ausgestattetes Gebilde darstellt und sich einer fortgeschrittenen Form der Autonomie erfreut. Die Tätigkeit einer Organelle wie zum Beispiel des Mitochondrions läßt sich sozusagen an- und abschalten; sobald sie jedoch in Aktion tritt, folgt sie ihren eigenen Gesetzen. Keine höhere Instanz der Hierarchie kann in den Ablauf dieser Operationen eingreifen, der durch feste Spielregeln bestimmt ist. Jede Organelle ist ein autonomes Holon mit einer charakteristischen Struktur und Funktionsweise, die es auch dann noch aufrechtzuerhalten sucht, wenn die Zelle ringsherum abzusterben beginnt. Die gleichen Beobachtungen gelten auch für die größeren Einheiten innerhalb des Organismus. Zellen, Gewebe, Nerven, Muskeln und Organe haben alle ihren spezifischen Rhythmus und ihre spezifische Funktionsweise, die sich häufig auch ohne Reiz von außen spontan manifestieren. Blickt der Psychologe von »oben« – vom Gipfel der Hierarchie – auf ein Organ, dann erscheint es ihm als ein untergeordneter Teil. Blickt er auf das gleiche Organ von »unten«, vom Niveau seiner Komponenten, dann erscheint es ihm als ein Ganzes von bemerkenswerter Selbständigkeit. Das Herz besitzt seine eigenen »Schrittmacher« – insgesamt drei –, die in der Lage sind, einander im Notfall zu ersetzen. Andere wichtige Organe haben andere Arten von Koordinationszentren und selbstregulierenden Mechanismen. Ihr Charakter als der von autonomen Holons kommt am überzeugendsten in Experimenten mit Gewebekulturen und in der Transplantationschirurgie zum Ausdruck. Seit Carrell in einem berühmten Experiment nachgewiesen hat, daß das Herzgewebefragment von einem Hühnerembryo in vitro praktisch unbe46

grenzt weiterpulsieren kann, haben wir festgestellt, daß auch ganze Organe – Niere, Herz, ja sogar das Gehirn – durchaus in der Lage sind, auch dann als quasi-unabhängige Ganze weiterzufunktionieren, wenn sie vom zugehörigen Organismus isoliert und mit geeigneten Nährstoffen versehen oder aber in einen andern Organismus verpflanzt werden. Während der Entstehung dieses Buches ist es russischen und amerikanischen Forschern gelungen, das Gehirn von Hunden und Affen in Apparaturen außerhalb des Tierkörpers am Leben zu erhalten – und die Transplantation eines Hundehirns in ein anderes lebendes Tier vorzunehmen. Daß sich angesichts solcher Experimente eine Art Frankensteinsches Grauen regt, ist kaum verwunderlich – und wir stehen erst am Beginn dieser Entwicklung. Die Transplantationschirurgie hat natürlich ihre segensreichen Wirkungen, und vom rein theoretischen Standpunkt aus erbringt sie eine eindeutige Bestätigung der hierarchischen Konzeption. Sie demonstriert, im buchstäblich wörtlichen Sinn, die »Zerlegbarkeit« des Organismus in autonome Teilgebilde, die als selbständige Ganze funktionieren. Sie wirft außerdem ein bezeichnendes Licht auf den Evolutionsprozeß – auf die Prinzipien, die auch Bios bei der Zusammensetzung der Teilgebilde seiner Uhren geleitet haben.

4.4 Die integrativen Lebenskräfte Kehren wir für einen Augenblick zu den Organellen zurück, die im Inneren der Zellen operieren. Die Mitochondrien verwandeln Nahrung – Glukose, Fett, Proteine – in die chemische Substanz Adenosintriphosphat (kurz ATP genannt), die alle Tierzellen als Energiequellen benutzen. Es handelt sich hier um die alleinige Art von »Kraftstoff«, der im gesamten Tierreich zur Herstellung der erforderlichen Energievorräte für Muskelzellen, Nervenzellen und so weiter dient, und es gibt im gesamten Tierreich nur diese eine Art von Organelle, die ihn produziert. Man hat daher auch die Mitochondrien als »Kraftwerke allen Lebens auf Erden« bezeichnet. Im übrigen besitzt jedes Mitochondrion nicht nur seine eigenen Instruktionen zur Herstellung von ATP, sondern auch seinen eigenen Erbanlageplan, der es in die Lage versetzt, sich – unabhängig von der Gesamtzelle – selbst fortzupflanzen. Bis vor wenigen Jahren glaubte man, die einzigen Träger der Erbmasse seien die Chromosomen im Zellkern. Heute wissen wir, daß auch die Mitochondrien und noch einige weitere im Cytoplasma (der den Kern umgebenden flüssigen Masse) enthaltene Organellen mit einem eigenen genetischen Apparat ausgerüstet sind, so daß sie in der Lage sind, sich unabhängig von der Zelle selbst zu vermehren. Angesichts dieser Tatsache kam man zu der Vermutung, die Organellen hätten sich möglicherweise bei der ersten Entstehung von Lebensformen auf unserem Planeten voneinander unabhängig entwikkelt und seien in einer späteren Phase in eine Art Symbiose eingetreten. Diese recht plausible Hypothese hört sich wie eine weitere Bestätigung der Parabel von den beiden Uhrmachern an; man kann den schrittweisen Aufbau komplexer Hierarchien aus einfacheren Holons als eine fundamentale Manifestation der integrativen Tendenz der lebenden Materie betrachten. Es ist in der Tat sehr wahrscheinlich, daß die – früher als Atom des Lebens angesehene – Einzelzelle aus der Verbindung von Molekularstrukturen hervorgegangen ist, die die primitiven Vorläufer der Organellen waren und voneinander unabhängig entstanden sind, wobei jede von ihnen mit einem unterschiedlichen Lebenserfordernis ausgestattet war, wie Selbstreplikation, Metabolismus, Motilität und anderem. Als sie dann eine symbiotische Partnerschaft eingingen, erwies es sich, daß das neuentstehende Ganze – vermutlich so etwas wie eine Vorform der Amöben – eine unvergleichlich stabilere, vielseitigere und anpassungsfähigere Entität war, als man allein aus der Summierung der Einzelteile hätte erschließen können.

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Diese moderne Hypothese steht im Einklang mit all dem, was wir über die geläufigste Manifestation der integrativen Tendenz wissen: die Symbiose, die Partnerschaft zwischen Organismen in ihren mannigfachen Formen. Sie reichen von der Verbindung von Algen und Fungus auf Flechten bis zu dem weniger engen, aber keinesfalls weniger lebenswichtigen Zusammenwirken von Tieren, Pflanzen und Bakterien in ökologischen Gemeinschaften (Biozönose). Wenn die Partner verschiedenen Spezies angehören, dann kann die Symbiose die Form des Kommensalismus annehmen – zum Beispiel Rankenfußkrebse, die auf dem Leib der Walfische aufsitzen – oder die des Mutualismus, wie zum Beispiel zwischen Blütenpflanzen und bestäubenden Insekten oder zwischen Ameisen und Blattläusen; letztere stellen so etwas wie Insekten-»Nutzvieh« dar, das die Ameisen beschützen, das sie dafür aber auch zur Hergabe seiner Absonderungen »melken«. Gleichermaßen verschiedenartig sind die Formen des Zusammenwirkens innerhalb der gleichen Spezies, von den kolonienbildenden Tieren aufwärts. Die Röhrenquallen bestehen aus einem im Meer frei schwimmenden Polypenstock, bei dem jeder Polyp eine spezielle Funktion hat; ob die Tentakel der Qualle, ihre Schwimmblasen und Fortpflanzungseinheiten Einzelindividuen oder bloße Organe sind, das zu entscheiden fällt in den Bereich der Semantik; jeder Polyp ist ein Holon und vereint in sich die Merkmale von unabhängigen Ganzen mit denen von abhängigen Teilen. Auf einer höheren Ebene der Spirale, bei den Insektengemeinschaften von Ameisen, Bienen und Termiten, stehen wir dem gleichen Dilemma gegenüber. Die Insekten einer Kolonie sind physisch gesonderte Entitäten, jedoch kann kein Einzeltier überleben, wenn es von seiner Gruppe getrennt wird; ihre Existenz wird vollständig bestimmt von den Interessen der Gruppe als Ganzes; alle Mitglieder der Gruppe stammen vom selben Elternpaar ab, sie sind austauschbar und voneinander nicht zu unterscheiden – nicht nur für das menschliche Auge, sondern vermutlich auch für die Insekten selbst, die zwar, so glaubt man, Angehörige ihrer Gruppe am Geruch erkennen, aber die Einzelindividuen nicht voneinander unterscheiden können. Überdies tauschen viele in Gemeinschaften lebende, sogenannte »soziale« Insekten wechselseitig ihre Sekrete aus, die eine Art chemisches Band zwischen ihnen schaffen. Ein Einzelindividuum definiert man gewöhnlich als eine unteilbare, in sich geschlossene Einheit mit einer getrennten unabhängigen Existenz. Aber ebenso, wie man nirgendwo absolute Ganze antrifft, findet man auch nirgendwo in der Natur oder in der Gesellschaft Individuen in diesem absoluten Sinn des Wortes. Nicht Trennung und Unabhängigkeit begegnet man, sondern Zusammenarbeit und wechselseitiger Abhängigkeit – und zwar im Bereich der gesamten weitgespannten Skala von der rein physischen Symbiose bis zu den kohäsiven Banden des Vogel-, Bienen- und Fischschwarms, der Tierherde, der Familie und der Gesellschaft. Der Begriff des Individuums wird noch verschwommener, wenn man das Kriterium der »Unteilbarkeit« anwendet. Das Wort »Individuum« bedeutet ja ursprünglich genau das: es leitet sich aus dem lateinischen individuus ab, ebenso wie sich das Wort Atom aus dem griechischen átomos ableitet. Es zeigt sich jedoch auf jeder Ebene, daß Unteilbarkeit ein nur sehr relativer Begriff ist. Protozoen, Schwämme, Hydrozoen und Plattwürmer können sich durch einfache Teilung oder durch Knospung vermehren, das heißt dadurch, daß sich ein Individuum in zwei oder mehrere aufspaltet ad infinitum. Bertalanffy schreibt: Wie können wir all diese Kreaturen als Individuen bezeichnen, wo sie doch in Wirklichkeit eigentlich »Dividuen« (Teilbare) sind und ihre Vermehrung sich gerade durch Teilung vollzieht? ... Wie können wir darauf bestehen, ein Hydrozoon oder einen Strudelwurm als Einzelindividuum zu bezeichnen, wo man doch diese Tiere in so viele Teile zerstückeln kann, wie man will, und dabei jedes Einzelstück die Fähigkeit behält, wieder zu einem vollständigen Organismus heranzu-

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wachsen? ... Der Begriff vom Individuum läßt sich – zumindest im biologischen Bereich – nur als ein Grenzbegriff verwenden.33 Zerstückelt man einen Plattwurm in sechs Teile, dann entwickelt sich innerhalb weniger Wochen aus jedem der sechs Einzelteile wieder ein vollständiges Individuum. Sollte das Rad der Wiedergeburt sich einmal so weit drehen, daß ich in einen Plattwurm verwandelt werde, dem ein ähnliches Schicksal beschieden ist, muß ich dann annehmen, daß auch meine unsterbliche Seele in sechs unsterbliche Teilseelen aufgespalten wird? Die christlichen Theologen werden aus diesem Dilemma leicht einen Ausweg finden, indem sie leugnen, daß Tiere eine Seele haben; aber Hindus und Buddhisten vertreten eine andere Auffassung. Auch säkular gesinnte Philosophen, die nicht von Seelen sprechen, jedoch die Existenz eines bewußten Ichs bejahen, lehnen es ab, eine Trennungslinie zwischen Lebewesen mit und ohne Bewußtsein zu ziehen. Nehmen wir jedoch an, es gäbe eine kontinuierliche Skala vom einfachen Empfindungsvermögen primitiver Kreaturen über verschiedene Bewußtseinsgrade bis hin zur ausgeprägten Selbst-Bewußtheit, dann stellt uns die Kritik des Experimentalbiologen am Begriff der Individualität vor ein echtes Problem. Die einzige Lösung scheint darin zu bestehen (siehe Kapitel 14), die Konzeption vom Individuum als einer monolithischen Struktur fallenzulassen und sie durch die Konzeption vom Individuum als einer offenen Hierarchie zu ersetzen, deren Gipfel ständig zurückweicht – dem Zustand einer vollständigen Integration entgegen, die jedoch niemals völlig erreicht wird. Die Regeneration eines vollständigen Individuums aus dem kleinen Teilstück eines primitiven Tieres ist eine bemerkenswerte Manifestation der integrativen Kräfte der lebenden Materie. Es gibt dafür sogar noch eindrucksvollere Beispiele. Vor nahezu einer Generation wiesen Wilson und Child in einem Experiment folgendes nach: Zermalmt man die Gewebe eines lebenden Schwammes oder eines Süßwasserpolypen zu Brei, passiert man den Brei durch ein feines Filter und gießt ihn hierauf in Wasser, dann beginnen die auseinandergerissenen Zellen bald wieder zueinanderzufinden; sie schließen sich erst zu flachen Gebilden zusammen, runden sich dann zur Kugelform, sie differenzieren und spezialisieren sich im Verlauf dieses Prozesses und werden schließlich zu erwachsenen Individuen mit allen charakteristischen Organen.34 Erst kürzlich haben P. Weiß und seine Mitarbeiter demonstriert, daß die in der Entwicklung befindlichen Organe in Tierembryos ebenfalls imstande sind, sich genau wie Schwämme nach einer vollständigen Zermalmung wieder zu regenerieren. Es gelang ihnen ferner, normale embryonale Nieren dadurch zu produzieren, daß sie Nierengewebe von mehreren verschiedenen Embryos zerstückelten und miteinander vermischten. Die holistischen Eigenschaften dieser Gewebe überstanden nicht nur die Zerstückelung, sondern auch die Verschmelzung mit fremden Elementen.35 Eine Verschmelzung läßt sich sogar zwischen Teilen verschiedener Spezies bewerkstelligen. So hat zum Beispiel Speman zwei halbe Wassermolchembryos in ihrem frühen Gastrulastadium miteinander kombiniert – das eine stammte von einem Streifenmolch, das andere von einem Kammolch. Es entstand ein wohlgeformtes Tier, auf einer Seite mit den Merkmalen des Streifenmolchs, auf der anderen mit denen des Kammolchs. Noch unheimlicher sind neuere Experimente von Professor Harris in Oxford; er entwikkelte eine Technik zur Verschmelzung von menschlichen Zellen mit Mäusezellen. Während der Mitose verschmolzen auch die Zellkerne von Mensch und Maus, »und die beiden Chromosomenpaare wuchsen und vermehrten sich ganz munter innerhalb derselben Kernmembran ...«. Im Lichte solcher Experimentierergebnisse verliert sich die altvertraute, hausbackene Konzeption vom Individuum völlig im Nebel. Wenn der zermalmte und regenerierte Schwamm Individualität besitzt, dann gilt das gleiche auch für die embryonale Niere. Von den Organellen bis zu den Organen, von den in Symbiose lebenden Organismen bis zu den Gemeinschaften mit komplexen wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnissen, 49

finden wir nirgendwo vollständig unabhängige Ganzheiten, sondern nur Holons – doppelgesichtige Wesenheiten, die sowohl die Charakteristika geschlossener Einheiten als auch die wechselseitig voneinander abhängiger Teile besitzen.

 Auf den vorhergehenden Seiten habe ich die Phänomene der wechselseitigen Abhängigkeit und der Partnerschaft in den Vordergrund gerückt: also das integrative Potential von Holons, die Tendenz, sich als Teile eines komplexen Ganzen zu verhalten. Natürlich ist auch das Gegenteil nicht zu übersehen: der Wettstreit zwischen den Teilen des Ganzen, in dem sich die selbstbehauptende Tendenz widerspiegelt. Selbst die Pflanzen kämpfen miteinander um Licht, Wasser und Erdreich. Tierarten kämpfen miteinander um bestimmte ökologische Bereiche, Raubtier und Beutetier ums Überleben, und innerhalb jeder Spezies gibt es die Konkurrenz um Revier, Nahrung, Paarungsgefährten und Macht. Zusammenfassend kann man sagen, stabile anorganische Systeme – von den Atomen bis zu den Milchstraßensystemen – lassen eine hierarchische Ordnung erkennen; das Atom, das man früher für eine unteilbare Einheit hielt, ist ebenfalls ein Holon, und die Gesetze, die für die subnuklearen Partikeln gelten, sind nicht die gleichen wie diejenigen, die für Atome als Ganze gelten. Der lebendige Organismus ist nicht ein mosaikartiges Aggregat von elementaren physikalisch-chemischen Prozessen, sondern eine Hierarchie mit Teil-in-Teil-Charakter, in der – von den subzellularen Organellen aufwärts – jedes einzelne Holon ein stabiles, mit selbstregelnden Mechanismen ausgestattetes Gebilde darstellt und sich einer gewissen Autonomie erfreut. Die Transplantationschirurgie und die experimentelle Embryologie haben eindrucksvolle Beispiele dafür erbracht. Die integrativen Lebenskräfte manifestieren sich in den Phänomenen der Symbiose zwischen Organellen und in den verschiedenartigen Formen von Partnerschaft innerhalb der gleichen Spezies und zwischen Mitgliedern verschiedener Spezies; in der Regeneration primitiver Organismen aus fragmentanischen Einzelteilen; in der Neubildung von zerstörten embryonalen Organen und so fort. Die sei bstbehauptende Tendenz ist ebenso allgegenwärtig in allen Formen des Kampfes ums Dasein.

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5 Auslöser und Filter Die ganze Zeit über blickte der Wachtposten auf sie, zuerst durch ein Teleskop, dann durch ein Mikroskop und schließlich durch ein Opernglas. Zum Schluß sagte er: »Du wanderst in der falschen Richtung ...« Lewis Carroll: ALICE HINTER DEN SPIEGELN

5.1 Auslöser Man knipst einen Schalter an oder drückt einen Knopf an einer Maschine, und diese einfache, mühelose Geste löst die koordinierte Aktion von Hunderten von Rädern, Kolben, Hebeln und Röhren aus. Auslösermechanismen dieser Art, bei denen ein relativ einfaches Kommando oder Signal außerordentlich komplexe, strukturierte Handlungsabläufe auslöst, sind sowohl bei der biologischen als auch bei der sozialen Organisation häufig vorzufinden. Auf diese Weise ist der Organismus (beziehungsweise die soziale Gemeinschaft) in der Lage, den vollen Nutzen aus dem autonomen, selbstregulierenden Charakter seiner Teilgebilde – der Holons auf den unteren Stufen – zu ziehen. Wenn das Kabinett beschließt, den Diskontsatz von sechs auf sieben Prozent anzuheben oder militärische Verbände an einen Krisenherd im Fernen Osten zu entsenden, dann wird diese Entscheidung kurz und lakonisch formuliert, und zwar mit Worten, die den komplizierten Handlungsablauf, der nun in Gang gebracht wird, nur implizieren, nicht aber spezifizieren. Auf Grund der gefällten Entscheidung treten dann verschiedene Abteilungsleiter und Experten in Aktion; sie erarbeiten die ersten mehr detaillierten Anweisungen, und so geht es weiter entlang der vielverzweigten Hierarchie bis zu den untersten Einheiten – im vorliegenden Fall entweder den Bankangestellten oder den Fallschirmjägern. Bei jedem weiteren Schritt, der in der Hierarchie abwärts führt, löst das gegebene Signal strukturierte Handlungsabläufe aus, durch die die Implikationen des gegebenen Befehls spezifiziert und vom Abstrakten ins Konkrete umgesetzt werden. Wir sahen, daß ähnliche Prozesse auch bei der Sprachformung wirksam sind; die präverbale, unartikulierte Intention, etwas zu sagen, löst die Mechanismen für die Satzgestaltung aus, diese wiederum bringen die Syntaxregeln ins Spiel und so fort bis hinab zur Artikulierung der einzelnen Phoneme. Auch beim Vollzug manueller Fertigkeiten spielt sich der gleiche Vorgang ab; mein bewußtes Ich gibt am Gipfel der Hierarchie den lakonischen Befehl »Zigarette anzünden!« und überläßt es dann den unteren Hierarchien in meinem Nervensystem, die Details auszuführen, indem es Nervenimpulse aussendet, die die Subzentren aktivieren, denen die Kontrolle über die einzelnen Muskelkontraktionen obliegt. Dieser Durchführungsprozeß – von der Intention bis zur Ausführung – ähnelt in der Wirkungsweise einer Reihe von Kombinationsschlössern auf verschiedenen Stufen in absteigender Folge. Jedes Holon in der motorischen Hierarchie hat – genau wie eine Abteilung der Verwaltungsbehörde – seine feststehenden Regeln zur Koordinierung der Bewegungen von Gliedmaßen, Gelenken und Muskeln, je nach der Position, die es innerhalb der Hierarchie einnimmt; es ist also nicht erforderlich, daß der Befehl »Zigarette anzünden!« spezifische Anweisungen dafür enthält, welche Aufgabe meinen einzelnen Fingermuskeln zufällt, um ein Streichholz anzuzünden. Es genügt, daß der Befehl die entsprechenden Zentren aktiviert, die den implizierten »chiffrierten« Befehl entziffern und dann ihrerseits ihre eigenen Subzentren in angemessener Folge aktivieren, gesteuert durch feedbacks. Allgemein ausgedrückt heißt das: ein Holon auf der Stufe n der Hierarchie wird auf der Stufe n + 1 als Einheit repräsentiert und auch als Einheit ausgelöst.* 51

* Anders ausgedrückt: das Holon ist ein System von Relationen, das auf der nächsthöheren Ebene als eine Einheit – das heißt ein relatum – repräsentiert wird.

Wie alle vorhergehenden Verallgemeinerungen, soll auch diese für alle Arten von Hierarchien gelten – einschließlich der hierarchischen Abfolge beim embryonalen Entwicklungsprozeß. Dieser wird durch einen bemerkenswerten Auslöser in Gang gesetzt: prikkelt man ein unbefruchtetes Froschei mit einer feinen Platinnadel, dann genügt dieser Reiz, um die Entwicklung eines normalen Frosches aus diesem Ei in Gang zu bringen. Entsprechende Versuche haben ergeben, daß selbst bei höheren Säugetieren – wie Kaninchen und Schafen – einfache mechanische oder chemische Auslöser den gleichen Effekt erzielen. Die sexuelle Fortpflanzung ist unerläßlich, um eine Vielfalt von Spielarten hervorzubringen; für die bloße Vermehrung genügt auch ein einfacher Auslöser. Normalerweise ist der Auslöser natürlich eine Samenzelle. Genetiker reden davon, der genetische Kode des befruchteten Eies enthalte den »Bauplan« für das künftige ausgewachsene Lebewesen, es wäre jedoch korrekter, zu sagen, er enthalte eine Reihe von Regeln beziehungsweise Instruktionen zur Herstellung des Lebewesens. Diese Regeln sind in einem chemischen Kodex niedergelegt, der vier Buchstaben umfaßt: A, G, C und T (diese Initialen stehen hier für bestimmte chemische Substanzen, deren Namen für unsere Erörterung nicht relevant sind). Die »Wörter«, die diese Buchstaben an den langen Spiralen von Chromosomen im Zellkern bilden, enthalten die Instruktionen, denen die Zelle gehorchen muß. Die Differenzierung der Strukturen und ihre Ausprägung im wachsenden Embryo vollziehen sich schrittweise; man hat diesen Vorgang damit verglichen, wie ein Bildschnitzer eine Statue aus einem Stück Holz schnitzt, aber auch damit, wie das Kind zu artikulieren und zusammenhängend sprechen lernt. Auf dem Weg vom befruchteten Ei zum fertigen Produkt werden in sukzessiven Stadien die im Vierbuchstabenalphabet des genetischen Kodes enthaltenen Instruktionen zunächst grob skizziert, dann zeichnerisch ergänzt, bis das letzte Detail ausgefüllt ist; und jeder Schritt in dem Prozeß wird dabei durch biochemische Auslöser eingeleitet (Enzyme, Induktoren, Hormone und andere Katalysatoren).

5.2 Wie man ein Nest baut Von der hierarchischen Ordnung in der embryonalen Entwicklung wird in Kapitel 9 noch ausführlicher geredet werden; im Augenblick wollen wir uns den Instinkthandlungen der Tiere zuwenden.* * Die meisten Handlungsweisen, die wir als »instinktiv« bezeichnen, sind in Wirklichkeit – zumindest teilweise – durch Lernvorgänge im Frühstadium der Entwicklung erworben oder modifiziert.

Für den heranwachsenden Organismus ist der genetische Kode bestimmend; im ausgewachsenen Organismus geht diese Funktion auf eine andere Art von Kode über, der seinen Sitz im Nervensystem hat. Er enthält die feststehenden »Spielregeln«, nach denen sich die stereotypen Rituale des Werbens, des Paarens und des Zweikampfes vollziehen, und er steuert auch die weit flexibleren Fertigkeiten des Bauens von Nestern, Bienenstöcken oder Spinngeweben. Jede dieser Fertigkeiten läßt sich wieder in hierarchischer Ordnung in »Teilfertigkeiten« aufgliedern – das heißt in funktionelle Holons – bis hinab zum Niveau der »festgelegten Handlungsmodelle« (wie Konrad Lorenz sie nennt). Bei all diesen Handlungen spielt das Auslöseschema eine beherrschende und deutlich erkennbare Rolle. Als Auslöser fungieren bestimmte Reizfaktoren in der Umwelt: Farbe und Formen, Gerüche und Töne, die von den Ethologen als »Auslöser« (beziehungsweise als »Signalauslöser«) bezeichnet werden. So sind etwa die »Braut«-Farben des Stichlings, eines Süßwasserfisches, blaue Augen und eine rotgefärbte Unterseite. Nun wirkt jedes auf seiner Unterseite rotgefärbte Objekt – ungeachtet seiner äußeren Form – sofort als Auslöser, wenn es in die Nähe des »Reviers« eines männlichen Stichlings ge52

bracht wird. Der Stichling kennt fünf verschiedene Methoden des Drohens und Attakkierens, und zu jeder von ihnen gehört auch ein leicht abgewandelter Auslöser. Ähnlich besitzt auch jede Tierart bei ihren ritualisierten Kämpfen – bei denen das Leben des unterworfenen Gegners geschont bleibt – ein begrenztes Repertoire von Kampfhandlungen, etwa vergleichbar den Ausfällen, Stößen und Riposten der Fechter. W. H. Thorpe hat den funktionellen Holons, die beim Nestbau der Meise eine Rolle spielen, eine detaillierte Analyse gewidmet. Er zählte vierzehn verschiedene Handlungsfolgen auf (wie »Suchen« und »Sammeln« von Niststoffen, »Weben«, »Andrücken«, »Festtrampeln«, »Verkleiden« und so fort), von denen jede wieder aus einfacheren Bewegungsfolgen besteht; in Gang gebracht werden alle diese Tätigkeiten durch mindestens achtzehn verschiedene Auslöser. Anstatt endlos Ratten zu beobachten, die im Skinnerschen Experimentierkäfig endlos einen Hebel niederdrücken, wäre es für Psychologiestudenten entschieden nützlicher, Thorpes Schilderung zu studieren, die hier stark verkürzt wiedergegeben sei: Die Meise benutzt zum Nestbau vier verschiedene Niststoffe: Moos, Spinngewebe, Flechten und Federn; jede dieser vier Materialien hat eine unterschiedliche Funktion und erfordert eine entsprechend unterschiedliche fachkundige Behandlung. Die Aktion beginnt mit der Suche nach einem passenden Nistplatz: einem in geeigneter Form gegabelten Zweig. Ist der Nistplatz gefunden, dann wird zunächst Moos gesammelt und auf die Zweiggabel plaziert. Das meiste davon fällt zwar wieder herunter, aber der Vogel setzt seine Tätigkeit beharrlich so lange fort, bis einiges Moos doch haftengeblieben ist. Ist dieses Stadium erreicht, so hört der Vogel mit dem Moossammeln auf und trägt Spinnweben herbei; diese reibt er so lange an das Moos, bis sie haftenbleiben; dann dehnt er sie und benutzt sie als Bindfäden. Diese Tätigkeit hält so lange an, bis eine Plattform für das Nest zustande kommt. Nun wendet sich der Vogel wieder dem Sammeln von Moos zu und beginnt damit den Bau der Mulde; in sitzender Stellung »webt« er zuerst in horizontaler, dann in vertikaler Richtung, dabei dreht er sich ständig mit seinem kleinen Körper herum, während der gewölbte Rand der Mulde allmählich Gestalt anzunehmen beginnt. In dieser Phase treten neue Bewegungsfolgen auf den Plan: das Andrücken mit der Brust und das Festtrampeln mit den Füßen. Ist die Nestmulde etwa zu einem Drittel fertig, beginnt der Vogel mit dem Zusammentragen des dritten Niststoffs, der Flechten. Diese werden nur zur Verkleidung der äußeren Nestwand benutzt; »das geschieht, indem sich der Vogel vom Nestinneren her über den äußeren Rand vorbeugt und indem er in verschiedenen mehr oder minder akrobatischen Stellungen an der Außenwand des Nestes hängt«. Ist die Mulde etwa zu zwei Dritteln vollendet, ändert sich die Nestbautätigkeit so, daß an der günstigsten Annäherungsstelle ein sauber gearbeitetes Einflugloch entsteht. Dann wird die Nestwand rings um das Loch verstärkt und die Nestkuppel vollendet. Jetzt kann, unter Benutzung des vierten Niststoffes, der Federn, die Innenausstattung des Nestes beginnen. Thorpe sagt dazu: Am bemerkenswertesten ist wohl die Tatsache, daß hier der Beweis dafür erbracht wird, daß der Vogel in irgendeiner Form eine »Vorstellung« davon haben muß, wie das fertige Nest aussehen soll, und auch eine »Vorstellung« davon, daß er mit der Hinzufügung von einem Stückchen Moos hier oder einem Stückchen Flechte dort dem idealen Nestmodell einen Schritt näherkommt und daß andere Stückchen an der einen oder anderen Stelle ein Abgehen von diesem »Ideal« bedeuten würden ... Seine Handlungen sind zielgerichtet, und er weiß genau, wann er aufhören muß.36 Vergleicht man diese Schilderung mit Watsons Schilderung der Herstellung eines Modellkleides durch Patou (»Hat er irgendein Vorstellungsbild in seinem Kopf? Nein, das hat er nicht«) oder mit Skinners Methode bei der Konditionierung von Tauben, dann bekommt man einen Begriff davon, welch abgrundtiefer Gegensatz zwischen der »Fla53

che-Erde-Theorie« der Behavioristen und der lebendigen Wirklichkeit besteht. Wo zum Beispiel ist jener unentbehrliche »Verstärkungsfaktor«, der nach Ansicht der Behavioristen bei jedem weiteren Schritt des Nestbaus erforderlich wäre, um den Vogel dazu zu bringen, in seinem Tun fortzufahren – zu welchem nicht weniger als dreizehn verschiedene Arten von Nestbautätig keiten gehören? Und trotzdem fährt der Vogel, ohne jeweils eine »Belohnung« dafür zu erhalten, in seiner Tätigkeit fort, bis das Nest vollendet ist. Und wie könnte man die Behauptung aufstellen, die Meise sei »von den Umweltbedingungen kontrolliert«, wo sie doch in dieser Umwelt nach den verschiedenen Niststoffen suchen muß, erst nach Moos, dann nach Spinngewebe und Flechten, schließlich nach Federn? Wie mannigfaltig diese »Umweltbedingungen« auch immer sein mögen, dem Vogel gelingt es doch stets, die gleiche Art von Nest zu bauen. Nehmen wir ein anderes Beispiel: Die Hausspinne befestigt ihr Netz je nach den örtlichen Gegebenheiten an drei, vier oder mehr Punkten, aber sie webt es immer nach dem gleichen symmetrischen Muster – die radialen Fäden sind stets winkelhalbierende an den lateralen, entsprechend den feststehenden Spielregeln. Wie man diese Regeln auf eine bestimmte Umgebung abstimmt – ob hier ein pentagonales oder dort ein hexagonales Netz gesponnen werden muß –, das ist eine Frage der flexiblen Taktik. Alle Instinkthandlungen bestehen wiederum aus Hierarchien von »Unterfertigkeiten« – im Falle der Spinne von der Beurteilung des richtigen Winkels und dem Weben des Fadens –, die von feststehenden Regeln bestimmt und von geeigneten Taktiken gesteuert werden. Diese doppelte Eigenschaft gibt uns das Recht, eine »Unterfertigkeit« als »funktionelles Holon« zu bezeichnen. Als solches hat sie natürlich auch die anderen Eigenschaften der vorher erörterten Holons. Eine Fertigkeit kann im Rahmen und als Teil eines größeren Tätigkeitsbereichs ausgeübt werden; aber jede Fertigkeit kann praktisch auch zu einer Verhaltensweise führen, die um ihrer selbst willen vollzogen wird und keine Einmischung von außen zuläßt. Im erstgenannten Fall dient das funktionelle Holon der Integration von Verhaltensweisen, im zweiten Fall kann es durchaus starke selbstbehauptende Tendenzen an den Tag legen – den sprichwörtlichen »Starrsinn von Gewohnheitshandlungen«. Welche »taktische Kniffe« man bei der Verstellung seiner Handschrift auch immer einschlagen mag, man kann die Gerichtsexperten doch nicht irreführen. Das gleiche gilt für den Gang, den Tonfall beim Sprechen und die Benutzung von bestimmten Lieblingsausdrücken. Gewohnheiten sind Verhaltensholons, die von meist unbewußt wirksamen Regeln beherrscht werden. In ihrer Gesamtheit bilden sie das, was wir als Persönlichkeit oder Stil bezeichnen. Jedes Holon hat aber auch einen Spielraum von taktischen Auswahlmöglichkeiten, und dieser Spielraum erweitert sich in aufsteigender Ordnung mit der zunehmenden Komplexität auf höheren Stufen. Wenn wir danach fragen, welche Faktoren bewußte Entscheidungen am Gipfel der Hierarchie bestimmen, dann finden wir uns abermals in einer endlos regressiven Serie!

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5.3 Filter Bisher haben wir uns mit dem output (dem Leistungsvollzug) befaßt: der Umwandlung einer Intention in eine Aktion; dazu gehörten auch die »Intention« des befruchteten Eies, sich zu einem ausgewachsenen Exemplar seiner Art zu entwickeln, sowie diejenige einer fruchtbaren Idee, Ausdruck in artikulierter Sprache zu finden. Bevor wir uns nun mit dem input (der »Einfuhr« von Empfindungen und Wahrnehmungen) befassen, wollen wir uns noch einmal der Analogie mit einer militärischen Operation im Bereich der konventionellen Kriegführung zuwenden. Der Kommandierende General gibt einen Befehl heraus, der den Plan für die in Aussicht genommene Aktion in groben Zügen umreißt; dieser Befehl wird dann vom Divisionsstab über den Brigadestab bis zum Bataillonsstab etc. weitergeleitet; auf jeder folgenden Stufe der militärischen Hierarchie wird der Plan detaillierter ausgearbeitet, bis er schließlich in allen Einzelheiten festliegt. Der umgekehrte Prozeß läuft ab, wenn Informationen über die Truppenbewegungen des Feindes und die Beschaffenheit des Terrains nach oben weitergegeben werden. Die Informationen werden auf dem untersten Niveau, von Aufklärungspatrouillen in den örtlichen Frontabschnitten, gesammelt. Wenn dann der Strom dieser Information entlang den konvergierenden Zweigen der Hierarchie nach oben weitergeleitet wird, so wird dabei auf den einzelnen Stufen Unwesentliches ausgesiebt, der Informationsgehalt wird kondensiert, gefiltert und mit Daten aus anderen Quellen kombiniert. Dieser Prozeß stellt ein simplifiziertes Modell für die Arbeitsweise des sensorisch-motorischen Nervensystems dar. Auf der motorischen Seite begegnen wir einer Reihe von »Auslösern«. Auf der perzeptorischen Seite finden wir statt dessen eine Reihe von »Filtern« oder »Abtastvorrichtungen«, durch die der vitale Informationsgehalt bei seinem schrittweisen Aufstieg vom Sinnesorgan zur Hirnrinde geschleust werden muß. Ihre Funktion besteht darin, die von diesem Strom getragenen Informationen zu analysieren, zu entschlüsseln, zu klassifizieren und zu abstrahieren, bis schließlich die chaotische Masse der Empfindungsreize, die unablässig auf die Sinne einwirken, in sinnvolle Botschaften umgewandelt wird. Glücklicherweise kommen uns die inputverarbeitenden Prozesse größtenteils nicht zum Bewußtsein. Sie werden von einer Hierarchie von Bearbeitungsinstanzen vollzogen, die in den Wahrnehmungsapparat eingebaut sind. Auf der untersten Stufe werden zunächst alle Reize ausgesiebt, die für die gegenwärtige Aktion oder die momentane Stimmung irrelevant sind. Normalerweise ist man sich zum Beispiel des Drucks, den der Stuhl, auf dem man sitzt, gegen das Gesäß ausübt, nicht bewußt und auch nicht des Kontakts zwischen Haut und Kleidung. Auch das Auge und das Ohr sind mit solchen selektiven Siebungsvorrichtungen ausgestattet (laterale Inhibition, Habituation und so weiter). Die nächste Stufe bei den Bearbeitungsvorgängen erscheint geradezu verblüffend – sobald man erst einmal anfängt, darüber nachzudenken. Hält man den Zeigefinger der rechten Hand in einem Abstand von 25 Zentimeter und den gleichen Finger der linken Hafid mit einem Abstand von 50 Zentimeter vor die Augen, dann erscheinen einem beide gleich groß, obwohl auf der Netzhaut das Abbild des einen Fingers doppelt so groß ist wie das des anderen. Personen, die in einem Raum umhergehen, scheinen an Größe weder zu noch abzunehmen, obwohl das eigentlich der Fall sein müßte; wir wissen aber, daß ihre Größe konstant bleibt, und dieses Wissen schaltet sich irgendwo im Nervensystem in den Sehvorgang ein – und verfälscht diesen in der noblen Absicht, ihn mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Die Linse eines Photoapparats besitzt einen solchen eingebauten Mechanismus nicht; sie zeigt – der Wirklichkeit entsprechend – den linken Zeigefinger doppelt so groß wie den rechten, und der der Kamera entgegengestreckte Fuß eines sonnenbadenden Mädchens sieht wie ein fortgeschrittener Fall von Elefantiasis aus. »Selbst unsere elementaren Wahrnehmungen«, schreibt Bartlett, »sind 55

durch gedankliche Schlußfolgerungen beeinflußt«,37 aber der Folgerungsprozeß vollzieht sich in den unbewußten Schichten der Hierarchie. Die Tendenz, ein vertrautes Objekt – ohne Rücksicht auf dessen Entfernung von uns – in seiner natürlichen Größe wahrzunehmen, bezeichnen die Psychologen als das »Phänomen der Größenkonstanz«. Aber nicht nur die Größe, auch die Farbe und Form des Netzhautbildes eines sich bewegenden Objekts ändern sich ständig, je nach Entfernung, Beleuchtung und Blickwinkel; meistens nehmen wir jedoch diese Veränderungen nicht wahr. Zu dem Phänomen der Größenkonstanz treten also noch die Phänomene der Farbkonstanz und der Formkonstanz. Diese Konstanzen sind jedoch nur ein Teil unseres Repertoires an perzeptorischen Fertigkeiten, die eine Art Grammatik der Sicht bilden und auch die »Spielregeln« enthalten, die uns in den Stand versetzen, in dem dauernd wechselnden Mosaik von Sinnesreizen das Sinnvolle wahrzunehmen. Zwar wirken die Spielregeln automatisch und unbewußt, aber sie lassen sich durch Lernen modifizieren. Wenn jemand in einem psychologischen Laboratorium eine »Umkehrbrille« aufsetzt, in der sein eigener Körper und die Umwelt auf den Kopf gestellt erscheinen, dann kommt er sich zunächst völlig verloren vor, er kann nicht einmal richtig gehen und fühlt sich möglicherweise seekrank. Nach einigen Tagen, während welcher er diese Brille ständig trägt, paßt er sich der neuen Situation an und gewöhnt sich daran, in einer umgekehrten Welt zu leben. Zunächst erfordert der Anpassungsprozeß bewußte Anstrengungen, nach längerer Zeit ist sich jedoch der Versuchskandidat kaum mehr der Tatsache bewußt, daß die Welt für ihn visuell auf dem Kopf steht. Das Netzhautbild bleibt natürlich umgekehrt, und das gleiche gilt für seine Projektion auf der Hirnrinde, aber das »geistige Vorstellungsbild« – es gibt dafür keinen besseren Ausdruck – hat nun die richtige Lage; nimmt er in dieser Phase die Experimentierbrille wieder ab, dann braucht er von neuem einige Zeit, um sich wieder den normalen Verhältnissen anzupassen.* * Das ist die simplifizierte Schilderung eines etwas umstrittenen Phänomens. Ausführlicher behandeln 38 39 dieses Thema zum Beispiel Gregory und Kottenhoff.

Unsere perzeptorischen Gewohnheiten sind ebenso starr wie unsere motorischen. Es ist ebenso schwer, unsere Art, wie wir die Welt sehen, zu ändern, wie es schwierig ist, unsere Unterschrift oder unseren Tonfall beim Sprechen zu ändern; jede Gewohnheit folgt ihren eigenen Spielregeln. Die Mechanismen, die unsere Art, zu sehen und zu hören, bestimmen, sind Teilgebilde unseres Wahrnehmungsapparats, aber sie operieren, als quasi-unabhängige funktionelle Holons, im Nervensystem. Auf der nächsthöheren Stufe der Hierarchie begegnen wir dem verblüffenden Phänomen der Gestaltwahrnehmung – oder, anders ausgedrückt, der Frage, wie wir Allgemeinbegriffe abstrahieren und erkennen. Hört man sich von einer Schallplatte eine Stelle aus einer Oper an, bei der, sagen wir, fünfzig Instrumente und vier Singstimmen mitwirken, und schaut man dann mit einem Vergrößerungsglas auf die Platte, so wird der ganze Zauber auf die eine einzige, wellenförmig verlaufende Spirale der Plattenrille reduziert. Hier ergibt sich ein ähnliches Problem wie bei der Interpretation der Sprache (siehe Kapitel 2). Auch die Luftdruckwellen, die dem Ohr die Opernmusik vermitteln, haben nur eine einzige Variable: Druckvariationen in der zeitlichen Dimension. Die einzelnen Instrumente und Stimmen sind alle übereinandergelagert: Violinen, Flöten, Sopran und so weiter sind zu einem akustischen Brei verschmolzen, und diese Mixtur ist zu einem einzigen langen Nudelfaden geworden – zu einer modulierten Welle, die das Trommelfell mit variierender Intensität bald in raschere, bald in langsamere Schwingungen versetzt. Die Schwingungen werden im Inneren des Ohrs in eine Folge von reinen Tönen zerlegt, und diese Tonfolge wird dann dem Gehirn übermittelt. Alle Information in bezug auf die einzelnen Instrumente, deren Klänge sich zu dem akustischen Brei vermischt haben, scheint unwiederholbar verlorengegangen zu sein. Und doch hören wir, wenn wir der Schallplattenwiedergabe lauschen, nicht eine Folge von reinen Tönen, sondern wir hö56

ren ein Ensemble von Orchesterinstrumenten und menschlichen Stimmen, jedes mit seinem charakteristischen Timbre. Wie diese Prozedur des Zerlegens und Wiederzusammenfügens vor sich geht, können wir bis heute nur recht notdürftig begreifen,* und kein Lehrbuch der Psychologie scheint dieses Problem einer Erörterung für wert zu halten. Aber irgendwie sind wir doch imstande, aus dem tönenden Fluß stabile Muster zu abstrahieren – so »fischen« wir zum Beispiel aus ihm die Klangfarbe der Flöte und anderer Instrumente heraus. Diese Muster sind die Wahrnehmungs-Holons des Zuhörens. Auf den höheren Stufen der Hierarchie bilden sie dann noch komplexere Gefüge der Melodie, der Harmonie, des Kontrapunkts auf Grund sehr komplexer »Spielregeln«. * Siehe THE ACT OF CREATION, S. 516 ff.

Melodie, Klangfarbe und Kontrapunkt sind Gefüge in der Dimension Zeit – wie Phoneme, Wörter und Sätze. Keines dieser Gefüge ergibt einen Sinn, einen musikalischen oder sprachlichen Sinn, wenn man es als eine lineare Kette von elementaren Einheiten betrachtet. Die von den Luftwellen übermittelte Botschaft läßt sich nur entschlüsseln, indem man die Muster wahrnimmt, die gleich Arabesken in einem Orientteppich in komplexere Strukturen eingebaut sind. Wie schon gesagt, wirkt dieser Prozeß noch geheimnisvoller, weil die Zeit nur eine Dimension hat. Aber das Erkennen von dreidimensionalen räumlichen Gestalten ist ein nicht minder schwieriges Problem. Wie erkennt man ein Gesicht, eine Landschaft, ein gedrucktes Wort auf einen einzigen Blick wieder? Selbst die Identifizierung eines einzelnen Buchstabens, der in verschiedenen Handschriften, in verschiedenen Größen, in verschiedenen Positionen auf der Netzhaut erscheint, stellt für den Psychologen ein nahezu unlösbares Problem dar. Um das Gesehene zu identifizieren, muß das Gehirn irgendwelche Erinnerungsspuren aktivieren; aber wir können unmöglich sämtliche Erinnerungsspuren konservieren, die allen erdenklichen Variationen für die Schreibweise des Buchstaben f entsprächen – ganz zu schweigen von komplizierteren Figuren. Es muß hier ein sehr subtiler Abtastprozeß wirksam sein, der zunächst charakteristische einfache Züge innerhalb des komplexen Ganzen identifiziert (visuelle Holons wie Kreise, Schlingen, Dreiecke), der dann die Beziehungen zwischen diesen Merkmalen und schließlich die Beziehungen zwischen den einzelnen Beziehungen abstrahiert. Unsere Augen sind in der Tat ständig mit einer Vielzahl verschiedener Arten von Abtastbewegungen beschäftigt, deren wir uns nicht bewußt sind; Experimente haben gezeigt, daß das Gesichtsfeld zerfällt, wenn man diese Abtasttätigkeit künstlich verhindert. Das Gesichtsfeld abtasten heißt, das räumliche Bild in eine Folge von zeitlichen Impulsen umwandeln, so wie die Fernsehkamera das von ihr bestrichene Sehfeld in eine Folge von zeitlichen Impulsen transponiert, die dann vom Empfangsgerät wieder in das Bild auf dem Bildschirm rückübersetzt werden. Umgekehrt extrahiert das Nervensystem, wenn wir uns Sprache oder Musik anhören, Konfigurationen in der zeitlichen Dimension, die es dann in das dreidimensionale Gehirn projiziert. Wir transponieren ständig zeitliche in räumliche Strukturen und räumliche Vorgänge in zeitliche Folgen. Lashley sagte in einem klassischen Ausspruch: Die räumliche und die zeitliche Ordnung scheinen bei der Gehirntätigkeit nahezu völlig austauschbar zu sein.40 Das Rohmaterial der Erfahrung muß also eine Reihe von Relais-Stationen passieren, in denen es gesiebt, abgetastet, klassafiziert und analysiert wird. Ein entscheidender Schritt ist der Übergang von den perzeptorischen zu den konzeptuellen Stufen der Hierarchie – von der Sinneswahrnehmung zur symbolischen Bedeutung. Der Klang der Silben fiu und lány bedeutet an sich nichts. Beide Silben sind inhaltsleer und haben keine Beziehung zueinander. Eine solche Beziehung wird jedoch sofort hergestellt, wenn man erfährt, daß im Ungarischen fiu Junge bedeutet und lány Mädchen. Haben wir den Klang einer Silbe erst einmal mit einem bestimmten Sinngehalt verheiratet, dann läßt sich die Ehe nicht wieder lösen.

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Die Sinngehalte, die wir diesen Lautstrukturen beimessen, ergeben sich aus den Konventionen der Sprache. Der Mensch hat ein unwiderstehliches Verlangen, in alles, was auf ihn zukommt, einen Sinn hineinzulesen; und läßt sich keiner finden, dann erfindet er ihn. Er glaubt in einer Wolke ein Kamel zu erkennen, ein verborgenes Gesicht im Blattgewirr eines Baumes, einen Schmetterling im Tintenklecks beim Rohrschach-Test; er glaubt eine Botschaft aus dem Rattern der Waggonräder herauszuhören. Das Sensorium extrahiert Sinn aus der chaotischen Umwelt, wie der Verdauungsapparat Energie aus der Nahrung extrahiert. Schauen wir auf einen byzantinischen Mosaikfußboden, dann nehmen wir ihn nicht als eine Summe von einzelnen Steinfragmenten wahr, ganz automatisch verbinden wir die Fragmente zu Teilgebilden – Ohren, Nasen, Gewanddrapierungen –, diese Teilgebilde zu einzelnen Figuren und diese schließlich zu einer Gesamtkomposition. Wenn ein Karikaturist ein menschliches Antlitz zeichnet, bedient er sich der umgekehrten Prozedur: er skizziert das Gesicht in groben Umrissen, dann zeichnet er Augen, Mund und Ohren ein, und zwar als quasi-autonome Teilstrukturen, anatomische Holons, die sich mit gewissen Tricks und Formen schematisieren lassen. Das hierarchische Prinzip ist ein inhärenter Faktor unserer Wahrnehmung; es läßt sich jedoch durch Lernen und Erfahrung noch verfeinern. Wenn ein Kunststudent einige Grundkenntnisse in der Anatomie erwirbt, dann verbessert er damit nicht die Geschicklichkeit seiner Finger, sondern die seiner Augen. Constable studierte die verschiedenen Arten von Wolkenbildungen und klassifizierte sie in Kategorien; er erwarb dadurch ein visuelles »Wolkenvokabular«, das ihn befähigte, Firmamente zu sehen und zu malen, wie das niemand vor ihm getan hatte. Das geübte Auge des Bakteriologen oder des Röntgenspezialisten befähigt diese, die von ihnen gesuchten Objekte zu identifizieren, während der Laie an den gleichen Stellen nur verschwommene Schatten erblickt. Hat die Natur eine Abscheu vor der Leere, so hat der Geist eine Abscheu vor dem Sinnlosen. Zeigt man einer Versuchsperson einen Tintenklecks, dann beginnt sie sofort, ihn in eine Hierarchie von Formen, Tentakeln, Rädern und Masken oder in einen Reigen von Figuren zu organisieren. Als die Babylonier ihre ersten Sternkarten anfertigten, gruppierten sie zunächst die Sterne zu bestimmten Sternbildern: Löwe, Jungfrau, Schütze, Skorpion und so weiter, das heißt, sie faßten sie zu Teilgebilden zusammen: zu himmlischen Holons. Die ersten Kalendermacher woben den linearen Faden der Zeit in das hierarchische Muster von Sonnentagen, Mondmonaten und olympischen Zyklen. Ähnlich unternahmen es auch die griechischen Astronomen, den kontinuierlichen, homogenen Raum in eine Hierarchie von acht himmlischen Sphären aufzuteilen und jede mit einem eigenen Räderwerk von Epizyklen auszustatten. Wir sind geradezu gezwungen, die Natur als eine Organisation mit Teil-in-TeilCharakter zu interpretieren, denn die gesamte lebende Materie und alle stabilen anorganischen Systeme besitzen eine Teil-in-Teil-Struktur, die ihnen Artikulierung, Kohärenz und Stabilität sichert; und wo diese Struktur nicht inhärent oder erkennbar ist, dort schafft sie sich der menschliche Geist, indem er Schmetterlinge in Tintenkleckse und Kamele in die Wolken projiziert.

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5.4 Zusammenfassung In motorischen Hierarchien wird eine implizite Absicht oder ein allgemein gehaltener Befehl im Verlauf ihres Abstiegs zu den Ausführungsorganen der Hierarchie Schritt für Schritt spezifiziert und konkretisiert. In der perzeptorischen Hierarchie spielt sich der umgekehrte Prozeß ab: das von den Rezeptoren an der Peripherie des Organismus eingespeiste Rohmaterial wird bei seinem Aufstieg zum Scheitel der Hierarchie mehr und mehr »entspezifiziert« und von Belanglosigkeiten gesäubert. Die output-Hierarchie konkretisiert, die input-Hierarchie abstrahiert. Erstere arbeitet mit Hilfe von Auslösevorrichtungen, letztere mit Hilfe von Filter- und Abtastvorrichtungen. Wenn ich die Absicht habe, den Buchstaben R niederzuschreiben, aktiviert ein Auslöser ein funktionelles Holon, ein automatisiertes Gefüge von Muskelkontraktionen, die dann den Buchstaben R in meiner charakteristischen Handschrift hervorbringen. Wenn ich lese, identifiziert eine Abtastvorrichtung in meiner Hirnrinde den Buchstaben R und ignoriert den Charakter der Handschrift. Auslöser setzen mit Hilfe eines simplen chiffrierten Signals komplexe Handlungen in Gang. Abtastvorrichtungen funktionieren umgekehrt: sie verwandeln komplexe Sinneswahrnehmungen in ein simples, chiffriertes Signal.

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Die Kunst des Vergessens Mais où sont les neiges d’antan? François Villon

»Ich bin ein Künstler im Vergessen«, sagt einer von Stevensons Helden. Er spricht uns allen aus dem Herzen. Unsere teuren Erinnerungen sind wie Bodensätze im Weinglas, die armseligen Überbleibsel von Wahrnehmungen, deren Aroma verflogen ist. Ich beeile mich hinzuzufügen, daß es natürlich Ausnahmen gibt – Erinnerungen von fast halluzinatorischer Intensität an Szenen oder Episoden, die für uns eine besondere emotionelle Bedeutung haben. Ich werde diese Art von Gedächtnis – im Gegensatz zum »abstrahierenden« Gedächtnis – als »Bildstreifen«-Gedächtnis bezeichnen und im weiteren Verlauf des Kapitels noch darauf zurückkommen.

6.1 Das abstrahierende Gedächtnis Ein Großteil von dem, woran wir uns aus der eigenen Lebensgeschichte und den in ihrem Verlauf erworbenen Kenntnissen noch erinnern können, fällt in den »abstrahierenden« Bereich. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: das Zuschauen bei einem Fernsehspiel. Der exakte Wortlaut des Satzes, den der Schauspieler spricht, ist bereits vergessen, wenn er bei der nächsten Textzeile ankommt: nur der Sinngehalt bleibt zurück; am nächsten Morgen erinnert man sich noch an einzelne Szenen; nach einem Jahr weiß man nur, daß es sich um ein Dreiecksverhältnis zwischen zwei Männern und einer Frau handelte und daß das Stück auf einer unbewohnten Insel spielte. Das ursprüngliche Erlebnis hat Fleisch und Blut eingebüßt und ist zu einem Skelett reduziert worden. Ähnlich geht es uns mit Büchern, die wir gelesen, und Episoden, die wir durchlebt haben. Im Lauf der Zeit wird die Erinnerung mehr und mehr auf einen umrißhaften Charakter reduziert, auf ein kondensiertes Abstraktum des ursprünglichen Erlebnisses. Das Stück, das man vor einem Monat gesehen hat, ist schrittweise abstrahiert worden, und bei jedem Schritt wurden detaillierte Vorgänge zu allgemeineren Schemata kondensiert; schließlich ist eine bloße Formel übriggeblieben: das Dreieck. Der Autor hatte seine ursprüngliche Idee in vier Akte gegliedert, die Akte in Szenen aufgeteilt, die sich ihrerseits wieder in Dialoge, in Sätze und Wörter verzweigten. Das Gedächtnis des Zuschauers kehrt diesen Prozeß um: es läßt den weitverzweigten Baum allmählich bis auf seine Wurzeln abschrumpfen, wie in einem rückwärtslaufenden Trickfilm. Das Wort »abstrakt« hat zwei geläufige Bedeutungen; es bedeutet erstens den Gegensatz von »konkret« in dem Sinn, daß es sich auf allgemeine Begriffe und nicht auf einen speziellen Fall bezieht; zweitens bedeutet »abstrahieren«: das Hauptsächliche aus dem Inhalt eines Buches oder eines Dokuments herausziehen und es kurz zusammenfassen, wie das etwa Beamte tun, die einen Schriftsatz für ihre Vorgesetzten vorbereiten. Das Gedächtnis abstrahiert im Sinne beider Wortbedeutungen. Das ist jedoch, wie bereits eingangs bemerkt, keinesfalls alles. Wäre das der Fall, dann wären wir Computer und keine Menschen. Zunächst wollen wir uns noch ein wenig ausführlicher mit diesem Abstraktionsmechanismus befassen. Die Gedächtnisbildung ist ein Prozeß, der mit der Wahrnehmung Hand in Hand geht. Man hat berichtet, jeder Besucher, der Stalin sehen wollte, mußte – vom äußeren Kremltor bis zur Eingangstür zum Allerheiligsten – siebzehn Tore passieren, und an jedem Tor habe er sich einer jeweils immer gründlicher werdenden Durchsuchung unterziehen müssen. Wir haben bereits festgestellt, daß der Wahrnehmungsinput einer ähnlich gründlichen Untersuchung unterworfen ist, bevor er das Tor zum Bewußtsein durchschreiten darf. An jedem Tor der 60

Wahrnehmungs-Hierarchie wird er analysiert, klassifiziert und von Details entkleidet, die für den vorliegenden Zweck nicht relevant sind. Wir erkennen, daß der Buchstabe R, auch wenn er in schier unlesbarem Gekritzel niedergeschrieben wurde, »das gleiche Ding« ist wie das riesige R in der Schlagzeile einer Tageszeitung; das geschieht mit Hilfe eines Abtastprozesses, der Details als irrelevant unberücksichtigt läßt und nur den fundamentalen »R-Charakter« des R an die höhere Instanz signalisiert. Das Signal kann dann in einer Art von einfachem Morsekode verschlüsselt werden; es enthält die wesentliche Botschaft, auf die es ankommt – »Es ist ein R« –, in kondensierter Form, aber die Masse der Details ist natürlich verlorengegangen. Der Abtastprozeß ist in der Tat die genaue Umkehrung des Auslöseprozesses. Selbst die wenigen aus der Masse der ständig auf unsere Sinne einstürmenden Reize, die alle Siebungsprozesse erfolgreich überstanden und so den Status eines bewußt wahrgenommenen Ereignisses erlangt haben, müssen sich für gewöhnlich noch einer weit rigoroseren Prozedur unterziehen, bevor sie für wert erachtet werden, in den permanenten Erinnerungsvorrat aufgenommen zu werden; und mit fortschreitender Zeit ist auch das skelettartige Abstraktum noch einem weiteren Zerfall ausgesetzt. Wer einmal den Versuch unternimmt, einen detaillierten Bericht über sein Tun und Lassen in der vorletzten Woche zu schreiben, wird peinlich überrascht sein über die »Zerfallsrate« und über die Menge der unwiederholbar verlorenen Details. Eine solche Verarmung der durchlebten Erfahrungen ist im Grunde unvermeidbar. Teilweise ist sie schon allein aus Sparsamkeitsgründen erforderlich; zwar ist die Speicherkapazität des Gehirns vermutlich weit größer, als daß sie von den meisten Leuten je in ihrem Leben voll ausgenützt würde, aber entscheidend ist die Tatsache, daß die Prozesse der Verallgemeinerung und des Abstrahierens schon auf Grund ihrer Definition das Weglassen von spezifischen Details implizieren. Würden wir nicht Allgemeinbegriffe wie R, Baum oder Hund abstrahieren, sondern bestünde unser Gedächtnis statt dessen aus einer Kollektion all unserer ganz spezifischen Erfahrungen mit R, Bäumen und Hunden – sozusagen als Vorratslager von Diapositiven und Tonbändern –, dann wäre es völlig nutzlos: da keine Sinneswahrnehmung in allen Punkten mit einem der aufbewahrten Dias oder Tonbänder identisch sein kann, wären wir niemals imstande, ein R zu identifizieren, einen Hund zu erkennen oder einen gesprochenen Satz zu verstehen. Wir würden uns in dieser immensen Vorratskammer von Spezialartikeln nicht einmal zurechtfinden. Das abstrahierende Gedächtnis dagegen schafft ein System des gespeicherten Wissens, bei dem alles hierarchisch geordnet ist – eingeteilt in Sachgruppen und Untergruppen und mit Querverweisen versehen, ähnlich jenen im Sachregister eines Bibliothekskataloges. Gelegentlich mag sich ein Band an der falschen Stelle befinden, oder einige besonders farbenfrohe und auffällige Buchhüllen mögen herausstechen und das Auge auf sich ziehen, im großen und ganzen aber bleibt das Ordnungsprinzip erhalten.

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6.2 Eine spekulative Auffassung Für die im Verlauf des Abstraktionsprozesses unvermeidbare Verarmung der durchlebten Erfahrungen gibt es glücklicherweise einige Kompensationsmöglichkeiten. Vor allem kann der Abtastprozeß durch Lernen und Erfahrung erheblich differenziert werden. Für den Uneingeweihten haben alle Rotweine den gleichen Geschmack, für ihn sehen alle japanischen Männer gleich aus. Aber auch er kann durch Übung und Geduld erreichen, daß verfeinerte Abtastvorrichtungen an die Stelle der gröberen treten, ähnlich wie Constable es fertigbrachte, zwischen verschiedenen Wolkentypen zu unterscheiden und sie in Unterkategorien zu klassifizieren. Auf diese Weise können wir lernen, immer feinere Nuancen zu abstrahieren, das heißt, die Wahrnehmungs-Hierarchie um immer neue Zweige zu bereichern. Zweitens basiert das Gedächtnis nicht auf einer einzigen abstrahierenden Hierarchie, sondern auf verschiedenen ineinander verschränkten Hierarchien – wie etwa denen des Sehens, des Schmeckens und des Hörens. Es ist so etwas wie ein Wald, der zwar aus einzelnen Bäumen besteht, deren Äste sich jedoch ineinander verflechten – oder wie ein Bibliothekskatalog mit Querverweisen auf die verschiedenen Sachgebiete. So geht zum Beispiel das Erkennen eines Geschmacks häufig von einem identifizierten Geruch aus, obwohl wir uns dessen nicht bewußt sind. Es gibt jedoch noch subtilere Querverbindungen. So kann man eine auf einer Violine gespielte Melodie wiedererkennen, obwohl man sie beim vorhergehenden Mal auf dem Klavier gespielt gehört hat; und anderseits kann man den Klang einer Violine erkennen, obwohl man beim vorhergehenden Mal eine ganz andere Melodie auf ihr gehört hat. Wir müssen daher annehmen, daß Melodie und Klangfarbe abstrahiert und dann voneinander unabhängig in gesonderten Hierarchien gespeichert worden sind, zwar innerhalb der gleichen Sinnesmodalität, aber mit unterschiedlichen Relevanzkriterien. Die eine Hierarchie abstrahiert die Melodie und sondert alle anderen Ingredienzen als irrelevant aus, die andere abstrahiert die Klangfarbe des Instruments und behandelt die Melodie als irrelevantes Element. Auf diese Weise gehen nicht alle im Verlauf der Siebungsprozesse ausgesonderten Details völlig verloren, denn Details, die auf Grund der Relevanzkriterien einer Hierarchie ausgesondert und abgestoßen wurden, können durchaus von einer anderen Hierarchie mit unterschiedlichen Relevanzkriterien beibehalten und gespeichert werden. Das Ins-Gedächtnis-Zurückrufen eines Erlebnisses würde danach mit Hilfe des Zusammenwirkens mehrerer ineinander verschränkter Hierarchien möglich sein, die entweder verschiedenen Sinnesmodalitäten – zum Beispiel Sehen und Hören – zugeordnet sein könnten, bei denen es sich aber auch um verschiedene Zweige innerhalb derselben Sinnesmodalität handeln könnte. Jede für sich genommen würde nur einen Aspekt des ursprünglichen Erlebnisses aktivieren und so eine drastische Verarmung herbeiführen. So könnte man sich etwa des Textes der Arie »Wie eiskalt ist dies Händchen« erinnern, während einem die Melodie verlorengegangen ist. Oder man erinnert sich nur der Melodie und hat den zugehörigen Text vergessen. Schließlich mag man Carusos Stimme von der Schallplatte wiedererkennen, ohne sich daran zu erinnern, welche Arie man ihn zuletzt singen hörte. Sind jedoch zwei dieser Faktoren – oder gar alle drei – im Gedächtnis gespeichert, dann wird man natürlich das ursprüngliche Erlebnis wesentlich vollständiger rekonstruieren können. Man könnte diesen Prozeß mit dem Verfahren beim Mehrfarbendruck vergleichen, bei dem mehrere Farbschichten übereinandergelagert werden. Das zu reproduzierende Gemälde – das ursprüngliche Erlebnis – wird mit Hilfe verschiedener Farbfilter auf blauen, roten und gelben Platten photographiert; jede von ihnen behält nur die Merkmale, die für sie »relevant« sind – das heißt diejenigen, die ihrem eigenen Farbton entsprechen –, und ignoriert alle anderen Merkmale; zum Schluß werden alle Einzelaufnahmen zu ei62

ner mehr oder minder originalgetreuen Wiedergabe des ursprünglichen Erlebnisses vereint. Jede Hierarchie hätte demnach eine andere zu ihr gehörige »Farbe«, wobei Farbe als Symbol für die Relevanzkriterien dieser Hierarchie steht. Welche gedächtnisbildenden Hierarchien zu einem gegebenen Zeitpunkt wirksam werden, hängt natürlich von den allgemeinen Interessen und von der momentanen Gemütsverfassung des betreffenden Individuums ab. Daß das Gedächtnis nicht eine Vorratskammer von Diapositiven und Tonbändern und auch nicht von S-R-Bauelementen sein kann, ist ohne weiteres klar. Die alternative Hypothese, die ich hier vorgetragen habe – daß das Gedächtnis in Hierarchien mit unterschiedlichen Relevanzkriterien zerlegbar ist –, ist, offen gesagt, rein spekulativer Natur. Doch findet man einige Beweisansätze für sie in einer Reihe von Experimenten, die ich gemeinsam mit James Jenkins im psychologischen Forschungsinstitut an der Stanford University durchgeführt habe.* 41

* Die Versuchsergebnisse sind in einer Fachzeitschrift veröffentlicht worden. Der Kern der Experimente bestand in folgender Prozedur: Jeder Versuchsperson wurde (vermittels eines Tachistoskops) für 1 /100 Sekunde eine aus acht oder neun Ziffern bestehende Zahl gezeigt, anschließend mußte sie versuchen, die Zahl korrekt zu wiederholen. Die Ergebnisse von mehreren hundert Versuchen zeigen, daß eine sehr hohe Anzahl von Fehlern (nahezu fünfzig Prozent) darin bestand, daß die Versuchsperson zwar imstande war, alle in der Zahlenfolge auftretenden Ziffern korrekt zu identifizieren, daß sie dabei aber die Position von zwei oder drei benachbarten Ziffern vertauschte. Dieses Ergebnis scheint zu bestätigen, daß die Identifizierung von einzelnen Ziffern und das Festlegen ihrer Position innerhalb der Serie von verschiedenen Zweigen der Wahrnehmungs-Hierarchie besorgt werden.

6.3 Zwei Arten von Gedächtnis Die Farbendruck-Hypothese erklärt bis zu einem gewissen Grad die Phänomene beim Ins-Gedächtnis-Zurückrufen von Erlebnissen, aber sie bezieht sich auf den abstrahierenden Gedächtnistyp, und er allein kann nicht die ungewöhnliche Lebendigkeit der zu Beginn des Kapitels erwähnten »Bildstreifen« herbeiführen. Nach rund vierzig Jahren kann ich noch heute den großen österreichischen Schauspieler Alexander Moissi gut hören, wie er mit flüsternder Stimme die letzten Worte eines in geistige Umnachtung Versinkenden spricht: »Gib mir die Sonne.« Ich habe völlig vergessen, wovon das Stück handelte und wer der Autor war – es kann sich um Strindberg, Ibsen oder Tolstoi handeln –, nur dieses eine aus dem Zusammenhang gerissene Fragment ist mir mit geradezu halluzinatorischer Klarheit in Erinnerung geblieben. Fragmente dieser Art, die den Zerfall des Ganzen, zu dem sie einmal gehörten, überdauert haben – wie eine Locke, die sich am Schädel der Mumie einer ägyptischen Prinzessin erhalten hat –, besitzen eine beschwörende Kraft von unheimlicher Intensität. Sie können akustischer Natur sein – eine Zeile aus einem ansonst völlig vergessenen Gedicht, die im Autobus zufällig mitgehörte Bemerkung eines Fremden – oder visueller Natur – die Geste eines Kindes, das Muttermal im Gesicht eines Lehrers; sie können sich sogar auf einen bestimmten Geschmack oder Geruch beziehen, wie im Fall von Prousts berühmter madeleine (es handelt sich um ein gefülltes Gebäckstück, nicht um ein Mädchen!). Es gibt also eine Methode des Im-Gedächtnis-Behaltens, die der Erinnerungsbildung in abstrahierenden Hierarchien genau entgegengesetzt zu sein scheint. Charakteristisch für sie ist die Bewahrung von lebendigen Details, die vom rein logischen Standpunkt aus häufig irrelevant sind; und doch sind diese gewissermaßen kinematographischen Details, Bildstreifen beziehungsweise »Nahaufnahmen«, die dem Grundsatz der Sparsamkeit zu widersprechen scheinen, sowohl dauerhaft als auch von beachtlicher Bildschärfe und verleihen der Erinnerung Aroma und Greifbarkeit.42 Wenn aber diese Fragmente so irrelevant sind, warum sind sie dann aufbewahrt worden? Darauf gibt es eine plausible Antwort: Zwar mögen sie vom rein logischen Standpunkt aus irrelevant erscheinen, aber sie müssen dann eine spezielle, bewußte oder un63

bewußte, emotionale Bedeutung besitzen. In der Tat bezeichnet man sie gewöhnlich als »rührend«, »sehnsüchtig«, »beglückend«, »zärtlich« oder »bedrückend« – mit anderen Worten, sie sind stets affektgeladen. Wir müssen also zu den bisherigen Relevanzkriterien, die darüber entscheiden, ob ein Erlebnis des Bewahrens wert ist, auch die emotionelle Relevanz hinzurechnen. Dem Individuum mag der Grund dafür, warum ein spezielles Erlebnis diese Art von Relevanz besitzt, nicht einmal bekannt sein; sie kann symbolischer oder verdeckter Natur sein. Niemand – nicht einmal ein Computerfachmann – denkt ständig in Form von abstrahierenden Hierarchien; Emotionen färben alle Wahrnehmungen ein, und es gibt eine Fülle von Beweisen dafür, daß auch die Affekte einer mehrschichtigen Hierarchie entspringen, einschließlich von Gehirnstrukturen, welche phylogenetisch viel älter sind als jene, die abstrakte Begriffsbildungen besorgen (siehe Kapitel 16). Man könnte vermuten, daß bei der Bildung von »Bildstreifen«-Erinnerungen diese älteren, primitiven Schichten in der Hierarchie eine beherrschende Rolle spielen. Es gibt noch einige zusätzliche Erwägungen, die für eine solche Hypothese sprechen. Das abstrahierende Gedächtnis verallgemeinert und schematisiert, das »Bildstreifen-Gedächtnis hingegen spezifiziert und konkretisiert – und das ist eine wesentlich primitivere Methode der Speicherung von Informationen.* * Der Begriff »Information« wird in der modernen Kommunikationstheorie in einem weit allgemeineren Sinn verwendet als im üblichen Sprachgebrauch. Man versteht darunter jede Reizzufuhr, die den Organismus »informiert«, das heißt seine Ungewißheit vermindert. Der Begriff »Information« schließt also alles ein, vom Geschmack eines Apfels bis zu Beethovens Neunter Symphonie. Irrelevante Reize, das heißt solche, die die Ungewißheit nicht vermindern, übermitteln keine Informationen, man bezeichnet sie als »Geräusch«.

Das abstrahierende Gedächtnis läßt sich mit dem einsichtsvollen Lernen vergleichen, das »Bildstreifen«-Gedächtnis mit der Konditionierung. Man könnte es auch zu der sogenannten »eidetischen Anschauung« in Beziehung setzen. Es ist experimentell nachgewiesen worden,43 daß ein hoher Prozentsatz von Kindern diese Fähigkeit besitzt. Der Experimentator veranlaßt das Kind, ein Gemälde fünfzehn Sekunden lang mit den Augen zu fixieren; das »eidetische« Kind vermag dann das Bild auf einen Schirm projiziert zu »sehen«, die Position jedes Details und auch seine Farben anzugeben. »Eidetische Anschauungsbilder« nehmen eine Zwischenposition zwischen den retinalen Nachbildern und den sogenannten »Vorstellungsbildern« ein; Kluever ist der Ansicht, daß diese drei Arten oder Stufen des visuellen Gedächtnisses eine hierarchische Folge bilden. Im Gegensatz zu den optischen Nachbildern lassen sich die eidetischen Anschauungsbilder auch nach längeren zeitlichen Zwischenräumen – selbst nach Jahren – willentlich hervorrufen. Sie ähneln den Halluzinationen, nur mit dem Unterschied, daß das Kind genau weiß, daß das Bild, das es sieht, nicht »wirklich« existiert. Zwar tritt die Fähigkeit der eidetischen Wahrnehmung bei Kindern häufig auf, sie läßt jedoch mit dem Einsetzen der Pubertätszeit nach und kommt bei Erwachsenen nur noch selten vor. Kinder leben in einer Welt von lebhaften Bildvorstellungen: Die Art, wie ein eidetisch veranlagtes Kind sich bestimmte Bilder im Geist »einprägt«, mag vielleicht eine phylogenetisch und ontogenetisch frühere Form der Gedächtnisbildung darstellen, die verlorengeht, sobald das abstrahierende, begriffliche Denken die Oberhand gewinnt.

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6.4 Vorstellungsbilder und Schemata Sehen wir nun einmal von der Eidetik und dem »Bildstreifen«-Gedächtnis ab; wenn normale Erwachsene über ihre Vorstellungsbilder reden und behaupten, sie könnten vor ihrem geistigen Auge ein Gesicht oder eine Szene, an die sie sich erinnern, buchstäblich »sehen«, dann sind sie gewöhnlich das Opfer einer subtilen Selbsttäuschung. Ein Nachweis dafür läßt sich durch den Binet-Müller-Test erbringen. Die Versuchsperson wird aufgefordert, sich auf ein Buchstabenquadrat von, sagen wir, fünf Reihen mit je fünf Buchstaben zu konzentrieren, und zwar so lange, bis sie glaubt, sie habe sich ein visuelles Vorstellungsbild von dem Quadrat erarbeitet, das sie vor ihrem geistigen Auge wirklich »sehen« kann. Entfernt man nun das Quadrat, dann ist die Versuchsperson tatsächlich imstande, die vorher gezeigten Buchstaben fließend zu »lesen«, das heißt, sie glaubt es zumindest. Fordert man sie nämlich auf, das Quadrat rückwärts oder in Diagonalrichtung zu lesen, dann benötigt sie zehnmal mehr Zeit. Die Testperson glaubt aufrichtig daran, sie habe sich ein visuelles Vorstellungsbild erarbeitet, in Wirklichkeit hat sie jedoch nur die gezeigte Buchstabenfolge auswendiggelernt; könnte sie nämlich das Buchstabenquadrat wirklich »sehen«, dann müßte sie es in allen Richtungen gleich schnell und gleich mühelos lesen können. Dieser Täuschungsvorgang ist seit langem bekannt. Einer der ersten Forscher auf diesem Gebiet, Richard Semon, der auch den Begriff Mneme (nach dem griechischen mnéme) für das Gedächtnis prägte, schrieb vor einem halben Jahrhundert, daß beim visuellen Ins-Gedächtnis-Zurückrufen »nur die stärksten Licht- und Schattenwerte wiedergegeben werden«. In Wirklichkeit fehlen in unseren visuellen Vorstellungen gewöhnlich auch die Schatten, und meistens auch die Farben. Ein Vorstellungsbild definiert man als »rekonstruierte Sinneserfahrung«.44 Da jedoch die meisten Details der durchlebten Erfahrung beim Filterprozeß der Erinnerungsbildung verlorengehen, sind unsere visuellen Vorstellungsbilder weit vager und unbestimmter, als wir gerne glauben möchten. Sie sind skelettierte visuelle Verallgemeinerungen – Umrisse, Schablonen, Schemata –, die unsere Wahrnehmungs-Hierarchien aus dem ursprünglichen Erlebnis abstrahiert haben, ähnlich wie etwa die Melodie, die Stimme und der Wortlaut aus der Caruso-Arie abstrahiert wurden. Diese vagen visuellen Vorstellungen lassen sich schwer mit Worten beschreiben; und doch kann der Karikaturist das Gesicht eines Hitler oder eines Mao mit überraschend wenig Strichen vor uns erstehen lassen, mit denen er einen schematisierten »allgemeinen Eindruck« wiedergibt; dazu kommt dann möglicherweise noch ein »sprechendes Detail«, wie etwa die Zigarre im Munde Churchills. Wenn wir den Versuch machen, das Gesicht eines Menschen zu beschreiben, dann benutzen wir Ausdrücke wie »knochig«, »humorvoll«, »brutal«, »schlau« und so weiter. Im verbalen Bereich sind diese Attribute schwer zu definieren; im visuellen Bereich sind sie Schablonen, die sich mit wenigen Bleistiftstrichen definieren lassen – es sind optische Holons. Einen Menschen erkennen heißt nicht sein retinales Abbild mit einer Photographie im Gedächtnisspeicher vergleichen; es bedeutet: das Wahrnehmungsbild der Person »abzutasten«, um charakteristische Konfigurationen identifizieren zu können. Bei diesem Vorgang können durchaus mehrere Hierarchien zusammenwirken. Ein Gesicht oder eine Landschaft können eine »Melodie«, ein »Timbre« und noch verschiedene andere Attribute haben, oder sie können eine »Botschaft« enthalten. Meine persönliche Einstellung zu einem Menschen oder zu einer Landschaft ist entscheidend dafür, welche Aspekte als relevant angesehen, abstrahiert und gespeichert werden, und welche ausgefiltert werden sollen. Für Erkennungszwecke mag die »Melodie« allein ausreichend sein – das Ins-Gedächtnis-Zurückrufen eines nicht mehr präsenten Gesichts wird jedoch um so vollständiger gelingen, je mehr Zweige der perzeptorischen Hierarchie an seiner Ein65

prägung beteiligt waren. Je reicher das Netzgeflecht ist, das sie miteinander verbindet, desto besser kann es die im Verlauf des Speicherungsprozesses eingetretene Verarmung des Erlebnisses kompensieren. Das außergewöhnliche Gedächtnis, über das einige bedeutende Männer verfügt haben sollen, mag auf einen solchen mehrdimensionalen Prozeß bei der Analyse und Speicherung von Erlebnissen zurückzuführen sein. Für die große Mehrzahl der Menschen ist jedoch das Ins-Gedächtnis-Zurückrufen weit weniger visueller Natur, als sie glauben möchten (siehe das Experiment mit dem Buchstabenquadrat). Wir überschätzen die Präzision unserer geistigen Vorstellungsbilder ebenso, wie wir die Präzision unseres verbalen Denkens überschätzen; häufig glauben wir genau zu wissen, was wir sagen wollen, aber wehe, wenn es dann so weit ist, daß wir es niederschreiben sollen! Wir sind uns der Lücken und Verschwommenheiten in unserem verbalen Denken ebensowenig bewußt wie der lückenhaften Details und der leeren Stellen zwischen unseren visuellen Schemata.

6.5

Auswendiglernen

Die einförmigste Art von Gedächtnis – ich ließ sie bisher unerwähnt – besteht aus auswendiggelernten Wortfolgen. Aber – selbst hier begegnen wir einer hierarchischen Ordnung. Was man auswendiggelernt hat, besteht nicht aus einer Reihe von elementaren Einheiten, sondern aus größeren Holons, die die Tendenz zeigen, Muster zu bilden. Ein auswendiggelerntes Gedicht erhält eine gewisse Kohärenz durch die Konfigurationen des Reimes, des Rhythmus, der Syntax und des Sinnes, die nach dem Prinzip des Mehrfarbendrucks übereinandergelagert sind. Die Aufgabe des Auswendiglernens besteht dann nur noch darin, die einzelnen Muster ineinanderzufügen und die noch bestehenden Lücken auszufüllen. Das gleiche gilt für das Erlernen einer Klaviersonate, bei der die Struktur der musikalischen Holons – die Architektur der Sätze, Themen und Variationen, der Rhythmus, die Harmonie – ebenfalls klar erkennbar ist. Zeigt das zu erlernende Material keine erkennbare Kohäsion, wie das zum Beispiel bei Schlachtendaten und Regierungszeiten der Fall ist, oder beim Erlernen einer Reihe von sinnlosen Silben, dann versucht man alle möglichen Gedächtnishilfen oder Merktricks zu erfinden, um in irgendeiner Form zu einem Strukturmuster zu kommen. Auch das Auswendiglernen vollzieht sich also niemals rein mechanisch. Ein gewisses Maß von »Einhämmern« ist oft unerläßlich; aber das Maß hängt von der Natur der Aufgabe und der Mentalität des Lernenden ab. Das eine Extrem stellt der Hund im Pawlowschen Laboratorium dar, für den tage-, ja wochenlange stereotype Wiederholungen der gleichen Erfahrung erforderlich sind, bis er sich mit der Tatsache vertraut gemacht hat, daß die auf einem Pappdeckel gezeigte Figur einer Ellipse »Futter« signalisiert, die eines Kreises jedoch nicht. Das ist kein Wunder, denn außerhalb des Laboratoriums wird Futter nicht durch Ellipsen auf Pappdeckeln signalisiert, und deshalb sind die Wahrnehmungs-Hierarchien des Hundes auch nicht darauf eingestellt, sie als »relevante« Information anzusehen. Ähnliche Erwägungen gelten auch für Skinners Experimente mit den Tauben. Alle diese Tiere müssen Aufgaben erlernen, für die ihnen die natürlichen Voraussetzungen fehlen und die sie nur durch mechanisches »Einhämmern« erlernen können. Die Behauptung aber, daß diese Prozedur das Paradigma für menschliche Lernvorgänge sei, ist eine der grotesken Verirrungen der »Flache-Erde«Psychologie.* * Eine eingehendere Erörterung enthält Kapitel 12, Band II, von THE ACT OF CREATION.

Auf der anderen Seite neigen die Theoretiker der Gestaltpsychologie zu extremen Auffassungen der genau entgegengesetzten Art. Sie behaupten, das auf Einsicht beruhende Lernen schließe das Prinzip von Versuch und Irrtum völlig aus und basiere auf einem »totalen« Verstehen der »Gesamtsituation«. In der hier vorgebrachten Theorie gelten »Einsicht« und »Verstehen« als hierarchisch abgestufte Vorgänge, und sie unterliegen 66

nicht, wie die Gestaltschule annimmt, dem Alles-oder-nichts-Gesetz. Unter »Einsicht« verstehen wir hier: die mehrdimensionale Analyse der verschiedenen Aspekte der Sinneswahrnehmung, das Abstrahieren von relevanten »Botschaften« aus irrelevanten »Geräuschen«, das Identifizieren von Strukturen innerhalb des Mosaiks bis zur vollständigen Saturierung des Wahrgenommenen mit Bedeutungsgehalt.

6.6 Zusammenfassung Wir gehen von der Annahme aus, daß multiple Wahrnehmungs-Hierarchien für die Multidimensionalität und die Vielfältigkeit unserer Erlebnisse sorgen. Beim Prozeß der Speicherung von Erinnerungen reduziert jede Hierarchie, entsprechend ihren spezifischen Relevanzkriterien, das Wahrgenommene auf seine eigentlichen Kernelemente. Ruft man sich ein Erlebnis ins Gedächtnis zurück, dann muß man es von neuem mit Details ausstatten. Das wird bis zu einem gewissen Grade durch das Zusammenwirken der betreffenden Hierarchien ermöglicht, deren jede diejenigen Elemente beisteuert, die sie des Bewahrens für wert erachtet hat. Dieser Prozeß läßt sich mit der Überlagerung beim Mehrfarbendruck vergleichen. Hinzu kommen Spuren von »Bildstreifen-Details« – möglicherweise Fragmente von eidetischen Anschauungsbildern, die stark emotionell gefärbt sind; das Ergebnis ist eine Art Kollage, bei der eine vage, schematisierte Figur mit Glasaugen und echten Haarsträhnen ausgeschmückt wird. Natürlich kann es auch vorkommen, daß Fragmente fremden Ursprungs fälschlicherweise in die Kollage einbezogen werden, das heißt in Erinnerungen auftauchen, mit denen sie an sich nichts zu tun haben. Denn das Gedächtnis ist ein riesiges Archiv von Dokumenten und allem möglichen Kram, die vom Archivar ständig umgeordnet und umgewertet werden; die Vergangenheit wird von der Gegenwart ständig neugestaltet. Aber die Umordnungen und Umwertungen vollziehen sich unterhalb unserer Bewußtseinsschwelle. Die Schaltanlagen der Wahrnehmung und Erinnerung funktionieren automatisch – und unbewußt; wir spielen allezeit Spiele, ohne die Spielregeln zu kennen.

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Der Steuermann Der Mensch ist das höchstrangige selbstregulierende System. Iwan Petrowitsch Pawlow

Ich habe den Begriff »ineinander verschränkte Hierarchien« verwendet. Es ist an sich selbstverständlich, daß Hierarchien nicht in einem Vakuum operieren. Die Leber ist ein Bestandteil des Verdauungstraktes, das Herz ein Bestandteil des Kreislaufsystems; das Herz ist aber abhängig von der Glukose, die die Leber liefert, die Leber wiederum ist auf das ordnungsgemäße Funktionieren des Herzens angewiesen. Die wechselseitige Abhängigkeit der verschiedenen Prozesse im Organismus ist eine Binsenwahrheit, die uns geneigt macht, seine hierarchische Struktur zu übersehen. Es ist, als hätte der Anblick des Blattgewirrs verschlungener Zweige uns vergessen lassen, daß die einzelnen Zweige zu verschiedenen Bäumen gehören. Bäume haben eine vertikale Struktur. Die Punkte, an denen die Zweige benachbarter Bäume einander berühren, bilden horizontale Netzgeflechte auf verschiedenen Höhenniveaus. Gäbe es die Bäume nicht, dann gäbe es auch keine Verflechtungen und kein Netzgebilde. Ohne das Netzgebilde stünde jeder Baum isoliert da, und es gäbe keine Integration der Funktionen. Baumartige Verzweigungen und retikulare (von reticulum = das Netz) Verflechtung scheinen komplementäre Prinzipien beim Aufbau von Organismen zu sein. Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß ich hier eine vielleicht überflüssige Zwischenbemerkung einschalten. Ein Wald besteht aus einer Vielzahl von Bäumen. Ein lebendiger Organismus ist ein integriertes Ganzes – ein einzelner Baum. Trotzdem habe ich von sensorischen und motorischen Hierarchien gesprochen, als wären sie gesonderte Entitäten. In Wirklichkeit sind sie natürlich bloß Äste am selben Baum, das heißt SubHierarchien. Aber die Unterscheidung ist nur eine scheinbare, da ja jeder Zweig einer Hierarchie auch in sich hierarchisch strukturiert ist. So erscheint es häufig zweckdienlich, das Auswärtige Amt und das Heeresministerium als gesonderte Hierarchien zu betrachten, obgleich sie Zweige ein und derselben Regierungshierarchie sind.

7.1 Reflexe und Routinefertigkeiten Das beste Beispiel für ineinander verschränkte Hierarchien bietet das sensorischmotorische System. Die sensorische Hierarchie bearbeitet die zugeführte Information und leitet sie in einem kontinuierlichen Strom an das bewußte Ich am Gipfel der Hierarchie weiter; das Ich trifft Entscheidungen, die dann von dem abwärtsfließenden Strom von Impulsen in der motorischen Hierarchie entschlüsselt und ausgeführt werden. Der Scheitelpunkt der Hierarchie ist jedoch nicht die einzige Kontaktzone zwischen den beiden Systemen, die noch auf verschiedenen Niveaus durch Netzgeflechte miteinander verquickt sind. Das Netz auf dem niedrigsten Niveau besteht aus den sogenannten lokalen Reflexen. Diese bewirken Querverbindungen zwischen dem aufsteigenden und absteigenden Strom, ähnlich den Autobahnschleifen, die die beiden gegenläufigen Fahrbahnen miteinander verbinden; es handelt sich hier um Routinereaktionen auf Routinereize – wie etwa beim Patellarsehnenreflex –, für die die Einschaltung der höheren Instanzen des Nervensystems nicht erforderlich ist. Welcher Instanz die Entscheidungsbefugnis übertragen wird, hängt von der Komplexität der Situation ab. Der Patellarsehnenreflex zum Beispiel ist meist bereits vollzogen, bevor noch der Reiz die Bewußtseinszone erreicht hat.

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Einer der fundamentalen Irrtümer der Watsonschen Schule des Behaviorismus bestand in der Annahme, komplexe Handlungsakte resultierten aus einer Summierung von isolierten lokalen Reflexen. Wir wissen heute, daß das genaue Gegenteil der Fall ist: die lokalen Reflexe treten bei der Entwicklung des Nervensystems im Embryo zuallerletzt in Erscheinung. Überdies werden auch die Reflexe von höheren Hierarchiestufen beeinflußt: selbst der Patellarsehnenreflex funktioniert nicht, wenn der Patient vorher weiß, was der Arzt mit ihm vorhat. Das menschliche Verhalten besteht eben nicht aus einer Folge von Sehnenreflexen und Blinkreflexen, und jeder Versuch, es auf Begriffe dieser Art zu reduzieren, führt unweigerlich zur »Flache-Erde«-Psychologie. Auf der nächsthöheren Stufe befinden sich die Netzgeflechte der sensorisch-motorischen Fertigkeiten und Gewohnheitshandlungen, wie das Blindschreiben auf der Schreibmaschine oder das Autofahren; beide Tätigkeiten werden mehr oder minder mechanisch ausgeführt und erfordern nicht das Eingreifen der obersten Zentren der Hierarchie – es sei denn, es tritt eine plötzliche Krise ein. Das Autofahren ist eine Routineangelegenheit, zu deren »Spielregeln« auch das Betätigen der Bremse gehört, sobald ein Hindernis in der Fahrbahn auftaucht. Auf einer vereisten Straße jedoch kann das Bremsen riskant sein, die Steuerung fühlt sich ganz anders an, und die gesamte Fahrtechnik muß zwangsläufig geändert, sozusagen in eine andere »Tonart« übertragen werden. Nach einer Weile wird auch sie zu einer halbautomatischen Routine; wenn aber plötzlich ein kleiner Hund über die vereiste Fahrbahn trottet, dann muß eine Entscheidung »der höchsten Instanz« angerufen werden – nämlich, ob der Fahrer plötzlich bremsen und dabei die Sicherheit seiner Passagiere gefährden oder ob er den Hund einfach überfahren soll. Wenn aber statt des Hundes ein Kind über die Straße läuft, dann wird er vermutlich, ohne Rücksicht auf die eventuellen Folgen, die erstere Alternative wählen. Erst auf diesem Niveau, wo das Für und Wider einander die Waage halten, begegnen wir dem subjektiven Erlebnis der freien Wahl und der moralischen Verantwortung.

7.2 Rückkoppelung und Homeostase Die üblichen Routineprozeduren des Lebens erfordern jedoch keine moralischen Entscheidungen dieser Art und auch nur zu einem sehr geringen Prozentsatz bewußte Aufmerksamkeit. Die rein physiologischen Prozesse – Atmen, Verdauung und so weiter – wickeln sich selbsttätig ab, sie haben selbstregulierenden Charakter. Das gilt auch für die meisten Routinetätigkeiten: Gehen, Radfahren, Autofahren. Das Prinzip der Selbstregulierung ist in der Tat von fundamentaler Bedeutung für die hierarchische Konzeption. Soll ein Holon als halbautonome Sub-Einheit funktionieren, dann muß es mit selbstregulierenden Vorrichtungen ausgestattet sein. Mit anderen Worten, seine Operationen müssen einerseits durch seinen feststehenden Regelkanon, anderseits durch Signale aus der variablen Umwelt gesteuert werden. Es muß also ein steter Strom von Informationen das Kontrollzentrum über den Fortgang der Operation auf dem laufenden halten; und dieses muß seinerseits den Verlauf der Operation den Informationen entsprechend anpassen. Das ist das Prinzip der Kontrolle durch feedback, durch Rückkoppelung.* * Feedback (Rückkoppelung) wird allgemein als Verkoppelung des outputs (des Leistungsvollzuges) mit dem input (der Reizzufuhr) definiert.

Feedback ist ein Modewort geworden, aber das Prinzip selbst ist nicht neu. James Watt hatte es bereits bei seiner Dampfmaschine verwendet, um ihre Geschwindigkeit unter wechselnden Belastungen konstant zu halten. In der modernen Kybernetik hat man das feedback-Prinzip mit bemerkenswertem Erfolg auf den verschiedensten Gebieten angewandt, von der Physiologie bis zu den Elektronenrechnern, und auch dieser Fall lehrt uns, daß man aus einem alten Hut sehr wohl lebendige Kaninchen zaubern kann. Am einfachsten läßt sich das Prinzip der Kontrolle durch Rückkoppelung am Beispiel der thermostatisch geregelten Zentralheizung erläutern. Man stellt den Thermostaten im Wohnzimmer auf die gewünschte Temperatur ein. Fällt die Temperatur unter den Sollwert, so aktiviert der Thermostat einen elektrischen Stromkreis, der seinerseits dafür 69

sorgt, daß die Brennstoffzufuhr in der zentralen Heizanlage gesteigert wird. Wird es im Zimmer zu heiß, dann wickelt sich der umgekehrte Prozeß ab. Die zentrale Heizanlage im Keller kontrolliert die Temperatur im Zimmer; aber die vom Thermostaten zu ihr »rückgekoppelte« Information korrigiert die Arbeitsweise der Anlage und hält sie konstant. Als weiteres Beispiel kann der Servomechanismus gelten, der ein Schiff beständig auf Kurs hält, indem er automatisch jeder Abweichung entgegenwirkt. Daher das Wort Kybernetik – nach dem griechischen Wort kybernétos = der Steuermann. Der lebendige Organismus ist ebenfalls mit einer thermostatischen Vorrichtung ausgestattet, die seine Temperatur konstant hält, mit geringen Abweichungen, die selten ein Grad überschreiten. Der Sitz des Thermostaten befindet sich im Hypothalamus, einem wichtigen Zentrum des Zwischenhirns. Eine seiner Funktionen ist die Aufrechterhaltung der Homeostase = gleichmäßige Körpertemperatur, konstanter Puls und chemisches Gleichgewicht der Körperflüssigkeiten. Der mikroskopisch kleine Thermostat im Zwischenhirn reagiert, wie Versuche ergeben haben, selbst auf lokale Wärmeschwankungen von nur 1/100 Grad. Überschreitet die Temperatur in seiner unmittelbaren Nachbarschaft – etwa am Trommelfell – einen kritischen Punkt, dann setzt ein Schweißausbruch ein. Umgekehrt, wenn die Temperatur sinkt, beginnen die Muskeln automatisch zu frösteln und setzen Energie in Hitze um. Andere »Homeostaten« (dieser Begriff ist analog zu dem Wort Thermostat gebildet) üben die Kontrolle über weitere physiologische Funktionen aus und halten das milieu intérieur – das innere Milieu des Organismus – in einem stabilen Gleichgewichtszustand. Wir haben also exakte Beweise dafür, daß auf den fundamentalen Stufen der Hierarchie selbstregulierende Mechanismen am Werk sind. Das Wort Homeostase wurde von dem berühmten Physiologen der Harvard-Universität Walter B. Cannon geprägt, der sich der damit verbundenen hierarchischen Implikationen voll bewußt war. Er schrieb, die Homeostase befreie den Organismus »von der Notwendigkeit, seine Aufmerksamkeit den Details der elementaren Lebensroutinen zuwenden zu müssen. Ohne homeostatische Einrichtungen würden wir uns ständig Gefahren ausgesetzt sehen, es sei denn, wir wären stets bereit, Korrekturen, die normalerweise automatisch erfolgen, aus eigenem Antrieb vorzunehmen. Da jedoch die homeostatischen Einrichtungen die wesentlichen physiologischen Prozesse ständig im Gleichgewicht halten, sind wir als Individualisten frei von einer solchen Art von Sklaverei – frei, um die Wunder unserer Umwelt zu erforschen und zu begreifen; um neue Ideen und Interessen zu entwickeln, und um – ungehindert durch ängstliche Besorgnis um unsere körperlichen Prozesse – arbeiten und spielen zu können«.45 Selbstregulierende Einrichtungen finden sich jedoch nicht nur im viszeralen Bereich; sie operieren auf allen Stufen einer organismischen Hierarchie. Ein radfahrender Knabe oder ein Seiltänzer, der sein Gleichgewicht mit Hilfe einer Bambusstange aufrechterhält, sind sprechende Beispiele für die kinetische Homeostase. Aber jeder von ihnen ist auf eine ständige kinästhetische Rückempfindung angewiesen – auf Empfindungsströme, die Informationen über die Bewegungen, Anspannungen und Stellungen seines Körpers weiterleiten. Fallen diese Rückempfindungen plötzlich aus, dann bricht die Homeostase zusammen. Alle sensorisch-motorischen Fertigkeiten – vom Radfahren bis zum Blindschreiben und Klavierspielen – operieren mit Hilfe von feedback-Schleifen in den Netzgeflechten, die die beiden Zweige der Hierarchie miteinander verbinden. Wir müssen uns aber davor hüten, das Prinzip des feedbacks als eine magische Formel zu betrachten, mit der sich alles erklären läßt – eine Ansicht, zu der die Computerexperten gelegentlich tendieren. Mit dem feedback allein, ohne Hierarchie, kommt man nicht weit. Wir haben gesehen, daß die Ausübung einer Fertigkeit nach bestimmten Spielregeln vor sich geht. Diese Regeln stehen fest, lassen aber Anpassungen an variable Umweltbedingungen zu. Die Rückkoppelungsvorrichtung kann nur im Rahmen dieser festen Regeln wirken. Ihre Aufgabe ist, bei jedem Schritt im Verlauf der Aktion Bericht zu erstatten, ob über das Ziel hinausgeschossen wurde oder ob man es nicht erreicht hat, ob man die Tätigkeit intensivieren oder bremsen soll. Sie kann also wohl den 70

Verlauf der Operation ebnen und glätten, aber sie kann die Spielregeln, denen sie folgt, nicht ändern. Die Meise folgt beim Nestbau bestimmten Spielregeln, die ihrem Nervensystem irgendwie eingeprägt sind – sonst würden nicht alle Meisennester einander gleichen; die rückgekoppelten Signale, die sie durch Auge und Tastsinn erhält, sagen ihr bloß, wann das »Weben« aufhören soll und das »Trampeln« anfangen soll, und wann es an der Zeit ist, mit der Kuppel anzufangen. Einer der grundlegenden Unterschiede zwischen der S-R-Konzeption und der hier vorgebrachten Theorie besteht darin, daß nach jener die Umwelt das Verhalten bestimmt, nach dieser jedoch unser Umwelt-feedback lediglich bereits vorhandene Verhaltensstrukturen aktiviert, korrigiert oder stabilisiert. Die Autonomie dieser Strukturen des Instinktivverhaltens ist in den letzten Jahren von Ethologen wie Lorenz, Tinbergen, Thorpe und von Biologen wie Bertalanffy und Paul Weiß nachdrücklich betont worden. In unseren durch Lernen und Erfahrung erworbenen Fertigkeiten begegnen wir der gleichen Autonomie. Während ich diese Zeilen schreibe, informieren mich meine Finger ständig über den Druck der Feder gegen das Papier und meine Augen über den Fortschritt in meinem Manuskript. Aber diese feedbacks können die Struktur meiner Handschrift nicht ändern. Sie sorgen nur für ihre Gleichmäßigkeit; denn selbst bei geschlossenen Augen würde die Schrift etwas wackliger werden, ihr Charakter aber unfehlbar der gleiche bleiben.

7.3 »Was ein Reiz ist, bestimme ich!« Bisher habe ich nur von sensorischen Rückempfindungen gesprochen, die motorische Handlungsakte steuern. Der Querverkehr im Netzgeflecht vollzieht sich jedoch in beiden Richtungen, und die Wahrnehmung wird ihrerseits auch durch die Intervention von motorischen Aktivitäten gesteuert. Das Sehen ist untrennbar mit Bewegungen verknüpft – von den Orientierungsbewegungen des Kopfes und der Augäpfel bis hinab zu den unbewußten, mikroskopischen Augenbewegungen: Drehen, Zwinkern, Zittern, ohne die wir überhaupt nicht sehen könnten. Beim Hören ist das nicht viel anders: Was tut man, wenn man versucht, sich an eine Melodie zu erinnern? Man summt sie vor sich hin. Die sensorischen und motorischen Hierarchien stehen auf allen Niveaus in einer so engen Wechselbeziehung, daß es willkürlich und sinnlos ist, zwischen »Reiz« und »Reaktion« eine scharfe Trennungslinie zu ziehen. Beide sind Aspekte von Prozessen im Netzgefüge, in denen Impulse herumjagen wie Katzen, die sich in den Schwanz zu beißen versuchen.* * »Da Reiz und Reaktion korrelativ und zeitgleich sind, muß man zu dem Schluß kommen, daß die Reizprozesse nicht der Reaktion eigentlich vorangehen, sondern daß sie diese eher zu einem erfolgreichen Abschluß bringen. Das heißt, Reiz und Reaktion muß man als Aspekte eines Rückkoppelungskreises be46 trachten.« (Miller u.a.)

Wir wollen das an Hand eines berühmten Experimentes erläutern. Der Hörnerv einer Katze wurde an einen elektrischen Apparat angeschlossen, so daß man die vom Ohr dem Gehirn übermittelten Nervenimpulse in einem Lautsprecher hören konnte. Dann wurde im selben Raum ein Metronom in Gang gesetzt; das vom Hörnerv der Katze übermittelte und vom Apparat verstärkte Ticken des Metronoms war deutlich zu hören. Als man jedoch in einem Gefäß eine Maus in den Raum brachte, verlor die Katze nicht nur – wie zu vermuten war – das Interesse am Metronom, sondern auch die Impulse in ihrem Hörnerv wurden schwächer oder hörten sogar ganz auf. Das ist ein dramatisches Beispiel dafür, wie die Zulassung von Reizen an einem peripheren Rezeptororgan – am äußersten Kremltor – sehr wohl vom Zentrum aus kontrolliert werden kann. Die Schlußfolgerung, die man aus diesem und aus ähnlichen Experimenten ziehen kann, läßt sich am besten durch eine Anekdote verdeutlichen. In der guten alten Zeit um die Jahrhundertwende hatte Wien einen Bürgermeister namens Karl Lueger, der sich einem gemäßigt antisemitischen Programm verschrieben hatte. Er besaß jedoch auch eine Anzahl jüdischer Freunde. Als einer seiner Vertrauten ihn deswegen zur Rede stellte, gab 71

Lueger die klassische Antwort: »Wer ein Jud ist, bestimm’ ich!« Mutatis mutandis hätte die Katze, als sie sich um das Metronom nicht mehr kümmerte, ebensogut sagen können: »Was ein Reiz ist, bestimm’ ich!«

7.4 Eine Holarchie von Holons Wir wollen nun in dieser Untersuchung über die Bedeutungsgehalte der heute gültigen Terminologie noch einen Schritt weitergehen und fragen, was das vielzitierte Wort »Umwelt« eigentlich bedeutet. Wenn ich mit meinem Wagen eine Landstraße entlangfahre, dann ist die Umwelt, mit der mein rechter Fuß Kontakt hat, das Gaspedal – und die Umwelt, mit der mein linker Fuß Kontakt hat, ist das Kupplungspedal. Der elastische Widerstand beim Niederdrükken des Gaspedals sorgt für eine taktile Rückkoppelung, mit deren Hilfe ich die Fahrgeschwindigkeit des Wagens konstanthalten kann, während das Kupplungspedal eine andere – unsichtbare – Umwelt kontrolliert, das Getriebe. Das Lenkrad in meinen Händen wirkt wie ein Servomechanismus zur Einhaltung der geraden Fahrtrichtung. Mein Auge erfaßt jedoch eine viel weiter gespannte Umwelt als meine Füße und Hände; es ist die höhere Instanz, die meine generelle Fahrtaktik bestimmt. Das hierarchisch aufgebaute Geschöpf, das ich bin, funktioniert also in Wirklichkeit in einer Hierarchie von »Umwelten«, gesteuert durch eine Hierarchie von feedbacks. Ein Vorteil dieser Interpretation besteht darin, daß sich die Hierarchie der Umwelten ins Unendliche fortsetzen läßt. Wenn ein Schachspieler auf das vor ihm liegende Schachbrett starrt, wird die Umwelt, in der seine Gedanken tätig sind, durch die Verteilung der Figuren auf dem Brett bestimmt. Nehmen wir an, in der augenblicklichen Situation ergeben sich zwanzig mögliche Zuge im Rahmen der geltenden Spielregeln, und fünf von ihnen scheinen vielversprechend. Der Spieler wird jeden einzelnen von ihnen in Erwägung ziehen. Ein guter Spieler ist in der Lage, mindestens drei Züge vorauszudenken – das ergibt eine Unzahl von Varianten, und der Spieler muß nun versuchen, jede einzelne geistig ins Auge zu fassen, um eine Entscheidung über seinen nächsten Zug fällen zu können. Mit anderen Worten, er wird durch Rückkoppelungen von einem imaginären Brett in einer imaginären Umwelt geleitet: Ein Großteil unseres Denkens, Planens und schöpferischen Tuns vollzieht sich in einer imaginären Umwelt. Es hat sich aber gezeigt, daß alle unsere Wahrnehmungen von der Einbildungskraft beeinflußt werden. Der Unterschied zwischen einer »realen« und einer »imaginären« Umwelt ist daher nur eine Frage von Abstufungen auf einer kontinuierlichen Skala, die vom Schmetterling im Rorschach-Klecks bis zu der unheimlichen Fähigkeit des Schachmeisters reicht, die Zukunft zu erfinden. Auch das ist ein Beweis dafür, daß die Hierarchie an ihrem Gipfel offen ist. Wenn wir den Inhalt dieses Kapitels in einer Formel zusammenfassen wollen, dann können wir sagen: Der Organismus ist in seinen strukturellen und in seinen funktionellen Aspekten eine Hierarchie von selbstregulierenden Holons, die a) als autonome Ganzheiten ihren Teilen übergeordnet sind; b) als abhängige Teile ihren Kontrollinstanzen subordiniert sind und c) durch Rückkoppelungen ihrer Umwelt koordiniert sind. Eine solche Hierarchie von Holons könnte man zu Recht als »Holarchie« bezeichnen – aber eingedenk der Warnung Ben Jonsons will ich dem Leser diesen zusätzlichen Neologismus lieber ersparen.

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Gewohnheit und Improvisation Alle guten Dinge, die es gibt, sind die Früchte der Originalität. John Stuart Mill

Die häufige Verwendung von Fachausdrücken aus dem Bereich der Kybernetik mag im Leser den Verdacht erweckt haben, der Autor beabsichtige das mechanistische Weltbild der Behavioristen durch ein anderes, ebenso mechanistisches zu ersetzen – durch die Konzeption vom Menschen als hierarchischem Automaten. In Wirklichkeit sind wir jedoch gerade dabei, uns schrittweise, wenn auch auf mühevollen Umwegen, aus der Fallgrube des mechanistischen Determinismus herauszuarbeiten. Als Ausstiegsluke soll uns dabei jener »offene Gipfel« an der Spitze der Hierarchie dienen, von dem ich wiederholt gesprochen habe – obwohl die Bedeutung dieser Metapher sich nur allmählich herausschälen wird. Sie wird unserem Verständnis vielleicht ein wenig näherrücken, wenn wir uns der Betrachtung von komplexeren, flexibleren und weniger voraussagbaren Verhaltensweisen auf den höheren Stufen der Hierarchie zuwenden. Umgekehrt begegnen wir in absteigender Richtung in zunehmendem Maß mechanischen, stereotypen und voraussagbaren Handlungsabläufen. Schreibt man einen Brief an einen Freund, dann läßt sich nur schwer voraussagen, was einem als nächstes in den Sinn kommen wird; die Zahl der möglichen Alternativen ist riesengroß. Hat man sich jedoch entschieden, was man als nächstes schreiben will, dann ist die Zahl der Alternativen, wie man es ausdrücken kann, immer noch groß, aber doch schon etwas eingeengt durch die Regeln der Grammatik, die Grenzen des Wortschatzes und so weiter. Die Muskelkontraktionen schließlich, mit denen man die Tasten der Schreibmaschine betätigt, sind stereotyper Natur und könnten ebensogut von einem Roboter ausgeführt werden. Der Physiker würde sagen: eine Teilfertigkeit – ein Verhaltens-Holon – auf dem Niveau n in der Hierarchie verfügt über mehr »Freiheitsgrade« (eine größere Vielzahl von Alternativmöglichkeiten im Rahmen der geltenden Spielregeln) als ein Holon auf dem Niveau n-1. Rekapitulieren wir kurz einige Punkte aus früheren Kapiteln. Jede Fertigkeit (oder Gewohnheit) hat einen feststehenden und einen variablen Aspekt. Der erstere wird bestimmt von den »Spielregeln«, die der Fertigkeit ihre charakteristischen Merkmale verleihen, wobei es ganz gleich ist, ob es darum geht, ein Spinnennetz zu weben, ein Vogelnest zu bauen oder Schach zu spielen. Die Regeln lassen jedoch einen gewissen Ermessensspielraum für Alternativmöglichkeiten zu: das Spinnennetz kann an drei oder vier Punkten aufgeknüpft werden, das Nest kann dem Winkel der Astgabel angepaßt werden, und der Schachspieler kann zwischen einer Vielzahl von regelgerechten Zügen wählen. Die Auswahl ist eine Frage der Taktik und wird von feedbacks aus der Umwelt gesteuert. Anders ausgedrückt: Die fixierten Spielregeln bestimmen die möglichen Züge, die flexible Taktik bestimmt die Wahl der tatsächlichen Züge im Rahmen der möglichen. Je größer die Zahl der Alternativmöglichkeiten ist, desto komplexer und flexibler ist die Fertigkeit. Wenn es – im umgekehrten Fall – überhaupt keine Auswahlmöglichkeiten gibt, haben wir es mit einem Grenzfall zu tun: mit dem spezialisierten Reflex. Starrheit und Flexibilität sind also Gegenpole einer Skala, die für jede Art von Hierarchie Gültigkeit hat: in jedem Fall ergibt sich die Tatsache, daß die Flexibilität zunimmt und die Starrheit nachläßt, je höher wir in den Ebenen der Hierarchie aufsteigen.

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8.1 Ursprünge der Ursprünglichkeit Bei den Instinkthandlungen von Tieren finden wir am unteren Ende der Skala die monoton wiederholten Verhaltensmuster des Werbens und Drohens, des Paarens und Kämpfens – es handelt sich hier um formstarre, zwanghafte Rituale. Unter widrigen Umständen werden solche Rituale manchmal auch sinnlos und am falschen Ort ausgeführt. Katzen führen die Bewegungen zum Vergraben ihrer Fäkalien auf den Küchenfliesen aus. Junge, in der Gefangenschaft groß gewordene Eichhörnchen, denen man Nüsse vorlegt, vollführen den Ritus des Vergrabens der Nüsse auf dem Boden ihres Drahtkäfigs »und trippeln dann befriedigt hinweg, obwohl die Nüsse immer noch deutlich zu sehen sind« (Thorpe).47 Am entgegengesetzten Ende der Skala begegnen wir sehr komplexen und flexiblen Fertigkeiten bei Säugetieren wie Schimpansen und Delphinen – aber auch bei Insekten und Fischen. Ethologen haben eindrucksvolle Beweise dafür erbracht, daß unter günstigen Voraussetzungen sogar Insekten zu Verhaltensweisen fähig sind, die sich aus dem uns bekannten Repertoire ihrer Fähigkeiten nicht vorhersagen lassen und die durchaus die Bezeichnung »erfinderisch« oder »originell« verdienen. Professor Baerends – ebenfalls Teilnehmer am Stanford-Seminar – hat Jahre damit verbracht, umfangreiche Untersuchungen über die Tätigkeit der Grabwespe vorzunehmen.48 Das weibliche Tier dieser Gattung legt seine Eier in Löchern ab, die es in den Erdboden gräbt. Es legt in den Löchern zunächst einen Vorrat von Raupen an und dann, wenn die jungen Tiere aus den Eiern geschlüpft sind, einen Vorrat von Mottenlarven; danach kommen noch weitere Raupen hinzu, bis das Loch schließlich zugemauert wird. Das entscheidende ist nun, daß jedes Weibchen sich gleichzeitig um mehrere Löcher kümmern muß, deren Insassen sich in verschiedenen Entwicklungsstadien befinden und daher unterschiedliche Nahrung benötigen. Es versorgt aber nicht nur alle entsprechend ihren Bedürfnissen, sondern ergänzt überdies noch die Vorräte, wenn diese aus einem Loch vom Experimentator entfernt worden sind. Eine andere Wespenart baut ganze Waben von Tonzellen, legt in jede Zelle ein Ei, versorgt sie mit den notwendigen Vorräten für die Zukunft und versiegelt dann die Zelle – ähnlich wie das die Ägypter mit den Grabkammern ihrer Pharaonen zu tun pflegten. Macht nun der Forscher ein Loch in die Zelle – ein Ereignis, das in den Verhaltensschemen der Wespe nicht vorgesehen ist –, dann nimmt sie zuerst die herausgefallenen Raupen auf und stopft sie durch das Loch wieder in die Zelle zurück; hierauf geht sie daran, die Zelle mit Tonklümpchen auszuflicken – eine Handlung, die sie vorher niemals ausgeführt hat. Aber das ist noch nicht alles. Hingston hat geschildert, zu welchen Taten eine andere Wespenart in einer kritischen Situation fähig ist. Er machte auf so raffinierte Weise ein Loch in die Zelle, daß es von außen her nicht mehr repariert werden konnte. Diese Wespenart arbeitet jedoch nur von der Außenseite der Wabe her. Die Wespe mühte sich mit dem schwierigen Problem zwei Stunden lang ab, bis die Nacht hereinbrach und sie ihr Vorhaben abbrechen mußte. Am nächsten Morgen flog sie sofort wieder zu der beschädigten Zelle und machte sich dann daran, die Reparaturarbeiten nach einer neuen Methode zu versuchen: »Sie untersucht die Zelle von beiden Seiten und entschließt sich dann, nachdem sie ihre Wahl getroffen hat, die Reparaturen vom Inneren der Zelle aus vorzunehmen.«49 Ich habe ganz bewußt diese Beispiele von Improvisierungskünsten bei Insekten ausgewählt, denn mit den flexiblen Fertigkeiten der höheren Säugetiere sind wir besser vertraut. Selbst Fische können – nach Thorpe – ihre Gewohnheiten ändern: »Wenn man ihre normale Verhaltensstruktur kontinuierlich beeinträchtigt, sind weitgehende Modifikationen der normalen Instinktorientierung durchaus möglich.«50 Bei Vögeln übernimmt in manchen Arten das Männchen, das normalerweise nie die Jungen füttert, diese 74

Tätigkeit, wenn das Weibchen aus irgendeinem Grund abwesend ist. Schließlich muß ich noch kurz Lindauers Versuche mit den Honigbienen erwähnen. Unter normalen Voraussetzungen herrscht im Bienenstock eine strenge Arbeitseinteilung, und zwar so, daß jede Arbeiterin in ihren verschiedenen Lebensphasen auch mit verschiedenen Aufgaben betraut ist. Während der ersten drei Tage ihres Lebens säubert die junge Biene die Zellen. An den nächsten drei Tagen füttert sie die älteren Larven mit Honig und Blütenstaub. Danach füttert sie die jungen Larven (die eine zusätzliche Kost benötigen). Vom zehnten Lebenstag an ist sie mit dem Bau von Zellen beschäftigt, vom zwanzigsten Tag an übernimmt sie Wachaufgaben am Eingang des Bienenstocks; schließlich begibt sie sich auf Nahrungssuche und behält dann diese Tätigkeit für den Rest ihres Lebens bei. Das alles gilt jedoch nur für den Normalfall. Entfernt der experimentierende Forscher eine der auf eine bestimmte Tätigkeit spezialisierten Altersgruppen, dann übernehmen andere Altersgruppen deren Tätigkeitsbereich »und retten so den Superorganismus. Entfernt man zum Beispiel alle Nahrungssucher – gewöhnlich Bienen im Alter von zwanzig und mehr Tagen –, dann fliegen junge, kaum sechs Tage alte Bienen, die normalerweise die Larven füttern würden, aus dem Stock aus und begeben sich auf Nahrungssuche. Entfernt man alle Zellenbauarbeiter, dann übernehmen diese Aufgabe ältere Bienen, die diese Tätigkeit schon früher ausgeübt, aber inzwischen die Phase der Nahrungssucher erreicht haben. Zu diesem Zweck ändern sie nicht nur ihre Verhaltensweise, sondern sie regenerieren auch ihre Wachsdrüsen. Welche Mechanismen diese Regulierung bewirken, ist uns nicht bekannt«.51 Am einen Ende der Skala finden wir also formstarre Bewegungsfolgen und zwanghafte Rituale – am anderen Ende überraschende Improvisationskünste, die die normale Verhaltensroutine des Tieres weit zu übersteigen scheinen.

8.2 Die Mechanisierung von Gewohnheiten Beim Menschen sind die angeborenen Instinkte nur die Grundlage, auf denen er seine Lernprozesse aufbaut. Während wir neue Fertigkeiten erlernen, müssen wir uns auf jedes Detail unseres Tuns scharf konzentrieren. Wir lernen mühselig, wie man die gedruckten Buchstaben des Alphabets nennt und erkennt, wie man Rad fährt oder wie man die richtige Taste auf der Schreibmaschine oder auf dem Klavier anschlägt. Dann beginnt sich das Gelernte zu Gewohnheiten zu kondensieren; alsbald lesen, schreiben und tippen wir »automatisch«, das heißt, die Regeln, die die Fertigkeit kontrollieren, kommen jetzt unbewußt zur Anwendung. Wie die unsichtbare Maschinerie, die unartikulierte Gedanken in grammatisch korrekte Sätze verwandelt, so operieren die Kontrollinstanzen unserer manipulativen und Denkfertigkeiten in den Dämmerzonen unterhalb der Bewußtseinsschwelle. Wir halten uns an die Regeln, ohne sie definieren zu können. Im Hinblick auf unsere Denkfertigkeiten birgt diese Sachlage zweifellos gewisse Gefahren: die unbewußten Spielregeln unseres Räsonnements enthalten unbewußte Vorurteile. Die Tendenz zur fortschreitenden Mechanisierung von Fertigkeiten hat zwei Seiten. Die positive Seite steht im Einklang mit dem Prinzip des geringsten Aufwandes. Infolge der rein mechanischen Manipulierung des Steuerrades kann ich meine Aufmerksamkeit ungeteilt auf den Verkehr rings um mich konzentrieren; würden die grammatischen Regeln der Sprache nicht automatisch funktionieren wie ein programmierter Computer, so könnten wir uns nicht auf den Sinn des Gesprochenen konzentrieren. Um auf die negative Seite zu kommen: So wie die Totenstarre setzt die Mechanisierung zuerst an den Extremitäten ein, an den untersten und rangniedrigsten Zweigen einer Hierarchie; sie hat aber die Tendenz, sich nach oben auszubreiten. Es ist natürlich recht nützlich, wenn man imstande ist, die richtige Taste an der Schreibmaschine in einer 75

»reinen Reflexreaktion« anzuschlagen, und auch die strenge Einhaltung der grammatischen Regeln ist zweifellos eine gute Sache; doch ein formstarrer Stil, der sich aus Klischees und abgegriffenen Phrasen zusammensetzt, ist eine Degenerationserscheinung. Breitet sich die Mechanisierung bis zum Gipfel der Hierarchie aus, dann ist das Resultat der Pedant, der Sklave seiner Gewohnheiten – Bergsons homme automate. Zuerst hat sich das Lernen zur Gewohnheit kondensiert, wie sich der Dampf zu Wassertropfen kondensiert, dann sind die Tropfen schließlich zu Eiszapfen gefroren. Bertalanffy schreibt: Organismen sind keine Maschinen, aber sie können bis zu einem gewissen Grad zu Maschinen werden, zu Maschinen erstarren. Das kann jedoch immer nur in begrenztem Ausmaß geschehen, denn ein durch und durch mechanisierter Organismus wäre nicht mehr in der Lage, auf die sich unaufhörlich verändernden Umweltverhältnisse zu reagieren.52

8.3

»Auf dem Instanzenweg«

Die Mechanisierung der Gewohnheiten kann also selbst einen starren Bürokraten niemals völlig in einen Automaten verwandeln; umgekehrt kann das bewußte Ich nur in begrenztem Ausmaß in die automatische Funktionsweise seiner untergeordneten Körper- und Geistesprozesse eingreifen. Der Fahrer am Steuer seines Wagens kann die Geschwindigkeit seines Motors kontrollieren, er ist aber nicht in der Lage, in die Arbeitsweise der Kolben und Ventile einzugreifen. In einer ähnlichen Position befindet sich das bewußte Ich: Es hat keine Kontrollgewalt über die Funktionen auf subzellularem und zellularem Niveau; es hat auch keine unmittelbare Kontrollgewalt über seine quergestreiften Muskeln, inneren Organe und Drüsen; selbst die Koordinierung der Skelettmuskulatur unterliegt nur in begrenztem Ausmaß der Kontrolle durch das Bewußtsein: man kann seinen charakteristischen Gang, seine Gesten und seine Handschrift nicht nach Belieben verändern. Wir sagten weiter oben, wenn sich am Gipfel der Hierarchie eine bewußte Intention melde – etwa »Öffne die Tür!« oder »Unterschreibe diesen Brief!« –, dann aktiviert sie nicht einzelne Muskelkontraktionen, sondern sie löst eine Konfiguration von Nervenimpulsen aus, die wiederum Sub-Konfigurationen aktivieren und so fort, bis hinab schließlich zu den einzelnen motorischen Einheiten. Die höheren Zentren in der Hierarchie haben also normalerweise keinen direkten Kontakt zu den niederen und umgekehrt. Brigadegenerale konzentrieren ihre Aufmerksamkeit nicht auf einzelne Soldaten und erteilen ihnen keine direkten Befehle; täten sie das, würde die ganze Operation in Stücke gehen. Befehle müssen, wie es in der militärischen Fachsprache heißt, »auf dem Dienstweg« weitergeleitet werden, das heißt Schritt für Schritt abwärts auf den Stufen der Hierarchie; Versuche, Stufen zu überspringen – das heißt den Bewußtseinsstrahl den obskuren und anonymen Routineprozeduren untergeordneter Elemente zuzuwenden –, enden gewöhnlich mit dem Paradoxon vom Tausendfüßler. Als man den Tausendfüßler fragte, in welcher exakten Reihenfolge er seine Füße bewege, wurde er prompt gelähmt und mußte Hungers sterben, denn er hatte vorher niemals darüber nachgedacht und es den Füßen selbst überlassen, sich in natürlicher Abfolge zu bewegen. Wir würden ein ähnliches Schicksal erleiden, wenn wir zu erklären hätten, wie man es macht, auf einem Fahrrad zu fahren. Das Paradoxon des Tausendfüßlers leitet sich aus einem Verstoß gegen das Prinzip ab, das wir als »Schritt-für-Schritt-Regel« bezeichnen können. Oberflächlich betrachtet, mag das trivial erscheinen, aber es ergeben sich einige unerwartete Konsequenzen, wenn wir gegen dieses Prinzip verstoßen. So lassen zum Beispiel die Pseudoerklärungen der Sprache als Kettenbildung von S-R-Elementen eine klaffende Lücke zwischen 76

dem Denkvorgang und dem tatsächlichen Sprechvorgang offen, zwischen dem Gipfel des Sprachbaumes und seinen untersten Zweigen. Das gleiche Prinzip gilt auch für den Bereich der Psychopathologie – von dem mißlichen Zustand, den wir als Befangenheit bezeichnen, bis zu psychosomatischen Störungen. Befangenheit (Ungeschicklichkeit, Lampenfieber) tritt dann ein, wenn man seine bewußte Aufmerksamkeit Routinevorgängen zuwendet, die sich normalerweise unbewußt und automatisch vollziehen. Noch schwerwiegendere Störungen können auftreten, wenn man seine Aufmerksamkeit auf physiologische Prozesse konzentriert, die auf noch primitiveren Niveaus der Hierarchie funktionieren – wie zum Beispiel die Verdauung oder der Sexus – und die sich selbst überlassen bleiben müssen, wenn sie glatt funktionieren sollen. Psychologisch begründete Impotenz oder Spasmen im Dickdarm sind unerfreuliche Varianten des Paradoxons vom Tausendfüßler. Der Verlust der unmittelbaren Kontrolle über die Vorgänge auf den unteren Stufen der Körperhierarchie ist ein Teil des Preises, den wir für unsere Differenzierung und Spezialisierung zahlen mußten. Natürlich ist dieser Preis nicht zu hoch, solange das Individuum unter einigermaßen normalen Bedingungen lebt und sich auf seine mehr oder minder automatischen Routineprozesse verlassen kann. Es können aber Verhältnisse eintreten, bei denen das nicht mehr der Fall ist und wo es dringend erforderlich wird, mit der Routine zu brechen.

8.4 Die Umwelt als Aufgabe Wir stoßen hier auf ein bedeutungsvolles Problem, von dem ich bisher nicht gesprochen habe: den Einfluß der Umwelt auf die Flexibilität oder Starrheit des Verhaltensmodus. Praktiziert man eine Fertigkeit im Rahmen stets gleichbleibender Verhältnisse und folgt dabei stets unverändert dem gleichen Schema, dann zeigt sie die Tendenz, zu einer stereotypen Routine abzusinken, und ihre »Freiheitsgrade« frieren sozusagen ein. Die Monotonie beschleunigt die Versklavung durch Gewohnheit, sie läßt die rigor mortis der Mechanisierung auf immer höhere Stufen der Hierarchie hinaufsteigen. Umgekehrt erfordert eine variable Umwelt ein flexibles Verhalten und wirkt der Tendenz zur Mechanisierung entschieden entgegen. Der geübte Autofahrer überläßt auf der vertrauten Route von seinem Heim zur Arbeitsstätte das Steuer dem »Autopiloten«, dem »Computer« in seinem Nervensystem, während er in seinen Gedanken ganz woanders weilt; gerät er jedoch in eine schwierige Verkehrssituation, dann muß er sich voll auf sein Tun konzentrieren – der Mensch übernimmt das Steuer wieder selbst. Die Aufgabe, vor die uns die Umwelt stellt, kann jedoch einen kritischen Punkt überschreiten und zu einer Situation führen, die sich nicht mehr mit einer der üblichen Fertigkeiten – mag diese noch so gewandt sein – bewältigen läßt, weil die üblichen »Spielregeln« dafür nicht mehr ausreichen. Es kommt zu einer Krise. Das Ergebnis ist entweder ein Zusammenbruch der Verhaltensstruktur oder aber das plötzliche Auftauchen neuer Verhaltensformen, das heißt »origineller« Lösungen. Diese spielen, wie sich noch zeigen wird, eine entscheidende Rolle sowohl in der biologischen Entwicklung als auch beim geistigen Fortschritt. Die erstere Möglichkeit läßt sich an der Katze demonstrieren, die – außerstande, die strengen Regeln ihres Hygienekanons zu befolgen – mit sinnlosen Bewegungen versucht, ihre Fäkalien unter den harten Küchenfliesen zu begraben. Auch Menschen sind in einer Krisensituation durchaus imstande, sich gleichermaßen sinnlos zu verhalten und ständig die gleichen aussichtslosen Versuche zu wiederholen, um aus ihr wieder herauszukommen. Der Alternativmöglichkeit läßt sich an Hand der unerwarteten Improvisationskünste der Grabwespe demonstrieren, oder an der Reorganisation der Arbeitsteilung im verstüm77

melten Bienenstock – oder auch an einem Schimpansen, der einen Zweig vom Baum bricht, um damit eine Banane in seinen Käfig zu holen, die außerhalb der Reichweite seines Armes liegt. »Originelle Adaptationen« dieser Art, zur Bewältigung einer außergewöhnlichen Situation, deuten auf das Vorhandensein von unerwarteten Möglichkeiten im lebendigen Organismus hin, die im normalen Routineablauf des Geschehens nicht in Erscheinung treten. Sie geben einen Vorgeschmack auf die Phänomene der menschlichen Kreativität, die in Kapitel 13 erörtert werden.

8.5 Zusammenfassung Mit jedem Schritt aufwärts in der Hierarchie begegnen wir immer komplexeren, flexibleren und weniger voraussagbaren Verhaltensstrukturen, mit jedem Schritt abwärts treffen wir in zunehmendem Maße auf mechanisierte, stereotype und voraussagbare Verhaltensstrukturen: Ein Holon auf einer höheren Stufe der Hierarchie hat mehr Freiheitsgrade als ein Holon auf einer niederen Stufe. Alle Fertigkeiten – ganz gleich, ob sie sich aus dem Instinktverhalten oder aus Lernprozessen ableiten – zeigen mit fortschreitender Praxis die Tendenz zur mechanisierten Routine. Monotone Umweltverhältnisse begünstigen die Versklavung durch Gewohnheit; dagegen wirken unerwartete Ereignisse dieser Tendenz entgegen und können erfinderische Improvisationen auslösen. Krisensituationen können zum Zusammenbruch der Verhaltensstruktur oder aber zur Entstehung neuer Verhaltensformen führen. Die oberen Instanzen der Hierarchie haben normalerweise keinen unmittelbaren Kontakt mit den niederen Instanzen; der Verkehr vollzieht sich stets schrittweise »auf dem Dienstweg«. Eine Ausschaltung der Zwischenstufen kann zu Störungen verschiedener Art führen.

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Teil II

Werden 9

Die Strategien des Embryos Einer Dame, die die Nützlichkeit seiner Studien über die Elektrizität in Frage stellte, antwortete Benjamin Franklin: »Madame, welchen Nutzwert hat ein neugeborenes Baby?«

Die klassisch-darwinistische Antwort auf die Frage, auf welche Weise der Mensch aus einem winzigen Schleimkügelchen erschaffen wurde, ist weitgehend die gleiche wie Watsons Antwort auf die Frage, wie Patou aus einem Stück Seidenstoff ein Abendkleid kreiert: »Er nimmt ein Stückchen Seide, drapiert es um das Modell herum, zieht hier ein bißchen ein, läßt dort ein bißchen aus, strafft oder lockert es an der Taille ... Er manipuliert sein Material so lange, bis es eine kleidähnliche Gestalt annimmt.« Der Evolutionsprozeß soll mittels ähnlicher, rein zufälliger Manipulationen seines »Rohmaterials« agieren – hier wird ein wenig eingezogen, dort ein wenig ausgelassen, hier ein Schwanz, dort ein Geweih angefügt, bis zufällig ein lebensfähiges Gebilde entsteht. Die Wissenschaft der »flachen Erde« führt die gesamte geistige Entwicklung des Menschen auf Zufallstreffer zurück, die durch »Verstärkungen« fixiert wurden, und die biologische Entwicklung der Arten auf Zufallsmutationen, die durch die natürliche Zuchtwahl erhalten blieben. Mutationen werden definiert als spontane Veränderungen in der Molekularstruktur der Gene, und man nimmt an, sie geschähen rein zufällig in dem Sinn, daß sie keinen irgendwie gearteten Bezug zu den adaptiven Bedürfnissen des Organismus hätten. Folglich müsse die überwiegende Mehrzahl der Mutationen schädliche Folgen haben, und nur einige wenige blieben erhalten, da sie dem betreffenden Geschöpf irgendeinen winzigen Vorteil im Daseinskampf einbrächten; und setzt man eine hinreichend lange Zeitspanne voraus, dann »ist praktisch alles möglich«. Sir Julian Huxley schreibt: »Der uralte Einwand, es sei unwahrscheinlich, daß ein Auge, eine Hand oder ein Gehirn sich aus purem Zufall entwickelten, hat seine Gültigkeit verloren« – denn »die über die weiten geologischen Zeitspannen hin wirksame natürliche Zuchtwahl«53 erkläre eben alles. In Wirklichkeit jedoch wurde der »uralte Einwand« während der letzten Jahrzehnte in seiner Gültigkeit zunehmend bestätigt, und dies in so hohem Maße, daß es heute kaum noch einen prominenten Evolutionstheoretiker gibt, der nicht hinsichtlich dieses oder jenes Aspekts der orthodoxen Doktrin häretische Ansichten geäußert hat – wobei er allerdings die häretischen Äußerungen anderer Fachkollegen meist glatt ablehnt. Zwar haben diese Kritiker und Zweifler zahlreiche Breschen in die Mauern geschlagen, aber noch ist die Zitadelle der neodarwinistischen Orthodoxie nicht gefallen, und zwar hauptsächlich, so darf man vermuten, weil niemand eine wirklich zufriedenstellende Alternativlösung anzubieten hat. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt deutlich, daß eine wohletablierte Theorie schwer angeschlagen sein und sich in Absurditäten und Widersprüche verwickeln kann und dennoch aufrechterhalten wird, bis eine akzeptable, umfassende Alternative auftaucht.* Historisch gesehen, kam die einzige ernsthafte Gefährdung des Neodarwinismus von seiten der Lamarckianer; doch brachten diese zwar 79

viel scharfe und fundierte Kritik vor, hatten aber selbst keine konstruktive Alternative zu bieten. * Siehe Thomas Kuhns These vom »Paradigma-Wechsel« und das Kapitel »Die Evolution der Ideen« in DER GÖTTLICHE FUNKE (S. 241 ff.).

Seit nahezu hundert Jahren tobt im Lager der Evolutionslehre ein erbitterter Bürgerkrieg zwischen Lamarckisten und Darwinisten. Der eigentliche Streit ging um komplexe fachtechnische Fragen, doch spielten metaphysische, emotionale und sogar politische Implikationen in hohem Maß mit hinein. In der Sowjetunion wurden die Darwinisten unter Stalin summarisch in Zwangsarbeitslager verschickt und die Überlebenden von Chruschtschow summarisch rehabilitiert: eine Episode, die als »Lysenko-Affäre« bekannt ist. Der Kern des Streites läßt sich in vereinfachter Form wie folgt darstellen: Lamarck vertrat die Ansicht, die adaptiven Veränderungen in Körperbau und Lebensweise, die ein Tier zu Lebzeiten »erwirbt«, um mit seiner Umwelt besser fertig zu werden, würden durch Vererbung auf die Nachkommenschaft übertragen (Vererbung erworbener Eigenschaften). Wenn also ein Boxer auf Grund seines intensiven Trainings starke Muskelpartien entwickelt, dann müßte – nach Lamarck – auch sein Sohn mit starken Muskeln ausgestattet sein. Daraus ergibt sich eine recht vernünftige und ermutigende Auffassung von der evolutionären Entwicklung: sie wäre danach das Ergebnis des Lernens durch Erfahrung und des Trainings für ein besseres Leben. Wie so oft, zeigte sich jedoch leider auch hier, daß der gesunde Menschenverstand nicht immer recht hat. Trotz intensiver Bemühungen ist es nämlich dem Lamarckismus bis heute nicht gelungen, schlüssiges Beweismaterial dafür beizubringen, daß erworbene Eigenschaften auf die Nachkommenschaft vererbt werden; man kann mit ziemlicher Gewißheit sagen, daß die Erfahrung zwar auf das Erbgut einwirkt, daß diese Einwirkung aber nicht in so einfacher und unmittelbarer Form erfolgt. Der Mißerfolg des Lamarckismus in seiner ursprünglichen Form bedeutet jedoch nicht, daß der Affe an der Schreibmaschine für uns die einzige Alternativmöglichkeit ist. Zufallsmutationen, deren Merkmale durch natürliche Zuchtwahl erhalten bleiben, spielen beim evolutionären Entwicklungsprozeß eine Rolle, ebenso wie glückliche Zufälle bei der Weiterentwicklung der Wissenschaft eine Rolle spielen. Die Frage ist nur, ob dieser Prozeß bereits die ganze Wahrheit – oder auch nur den wesentlichsten Teil des wahren Sachverhalts – widerspiegelt. Im Lauf der Jahre haben verschiedene Evolutionstheoretiker eine Anzahl von Korrekturen und Zusätzen für die neodarwinistische Theorie vorgeschlagen; nimmt man sie alle zusammen, dann bleibt von der ursprünglichen Theorie recht wenig übrig – so wie etwa Zusatzanträge zu einem parlamentarischen Gesetzentwurf dessen ursprüngliche Absicht ins Gegenteil verkehren können. Aber wie schon erwähnt, beschränkte sich jeder Kritiker auf sein Spezialgebiet. »Es liegt alles in Scherben, der Zusammenhang ist weg«, so klagte John Donne, als die mittelalterliche Kosmologie in eine ähnliche Krisensituation geriet. In diesem Kapitel und in den drei folgenden werde ich einige dieser Scherben und Einzelstücke auflesen und den Versuch unternehmen, sie in anderer Form zusammenzufügen.

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9.1 Lenksamkeit und Determination Um aus einer einzelnen befruchteten Eizelle ein menschliches Wesen hervorzubringen, sind 56 Zellgenerationen erforderlich. Dieser Prozeß vollzieht sich schrittweise, und zu jedem Schritt gehören: a) die Zellvermehrung durch Zellteilung sowie das nachfolgende Wachstum der Tochterzellen, b) die strukturelle und funktionelle Spezialisierung der Zellen (Differenzierung) und c) die Selbstausformung des Organismus (Morphogenese). Natürlich handelt es sich hier um drei komplementäre Aspekte eines einheitlichen Prozesses. Die Morphogenese vollzieht sich in eindeutig hierarchischer Form. Die Entwicklung des Embryos von einem gestaltlosen Schleimkügelchen zu einer ausgeprägten Gestalt – im Verlauf von Phasen mit zunehmender Artikulierung – vollzieht sich nach dem bekannten Muster, das wir in den vorhergehenden Kapiteln kennengelernt haben; ich erwähnte dabei auch die Analogie zum Bildhauer, der aus einem Stück Holz eine Figur schnitzt, und zur Umsetzung einer amorphen Idee in artikulierte Sprache. Bei der schrittweisen Differenzierung einzelner Zellgruppen bis zu ihrer endlichen Spezialform bietet sich uns das gleiche Bild einer sich hierarchisch verzweigenden Baumstruktur. Entwickelt sich eine Zellgruppe zu »Haut«, dann kann sie sich noch weiter spezialisieren und Schweißdrüsen oder Hornhaut formen. Bei jedem dieser Schritte bestimmen Auslöser und Rückkoppelungen, welchem Entwicklungsweg eine Zellgruppe schließlich folgt. Wenn zum Beispiel die Augenblasen (die zukünftigen Netzhäute), die am Ende zweier stengelartiger Gebilde (den zukünftigen Sehnerven) aus dem Gehirn herauswachsen, physischen Kontakt zur Oberfläche herstellen, dann bildet die Haut über der Kontaktzone konkave Vertiefungen und differenziert sich dann weiter zu transparenten Linsen. Die Augenblase veranlaßt die Haut, eine Linse zu bilden, die Linse wiederum veranlaßt die umliegenden Gewebe, eine transparente Hornhautmembran zu bilden, die sogenannte Cornealinse. Transplantiert man eine Augenblase unter die Haut der Bauchregion eines Froschembryos, so differenziert sich die darüberliegende Haut ebenfalls zu einer Linse. Diese Bereitwilligkeit (beziehungsweise »Lenksamkeit«) des embryonalen Gewebes, seine Bereitschaft, sich in dasjenige Organ zu entwickeln, das der Position des Gewebes im heranwachsenden Organismus am besten entspricht, können wir als eine Manifestation der integrativen Tendenz betrachten: der Unterordnung des Einzelteiles unter die Interessen des Gesamtorganismus. Aber diese »Lenksamkeit«, diese »Gefügigkeit« ist nur ein Aspekt des Embryogewebes, der andere ist die Determination. Unter »Lenksamkeit« versteht man die Fähigkeit des embryonalen Gewebes, je nach den gegebenen Umständen dem einen oder dem andern Zweig der Entwicklungshierarchie zu folgen. An jedem Zweig gibt es jedoch einen Punkt, von dem aus eine Umkehr nicht mehr möglich ist, das heißt, daß dort die nächstfolgende Entwicklungsphase des Gewebestückes auf irreversible Weise »determiniert« ist. Spaltet man einen Froschembryo in seiner frühesten Entwicklungsphase, der sogenannten Phase der »Furchungsteilungen«, in zwei Hälften, dann entwickelt sich jede von ihnen zu einem vollständigen Frosch und nicht, wie man vielleicht erwarten würde, zu je einer Froschhälfte. In dieser Phase besitzt jede Zelle – obwohl sie ein Teil des Embryos ist – noch das genetische Potential, um notfalls zu einem ganzen Frosch heranzuwachsen; sie ist ein echtes, janusgesichtiges Holon. Mit jedem weiteren Entwicklungsschritt spezialisieren sich die nachfolgenden Zellgenerationen mehr und mehr, und der Entwicklungsspielraum für ein bestimmtes Zellgewebe – sein genetisches Potential – wird mehr und mehr eingeengt. So hat zum Beispiel ein Stück der äußeren Zellschicht, des Ektoderms, immer noch die Möglichkeit, sich zu einer Cornealinse oder zu einer Schweißdrüse zu entwickeln, es kann sich aber nicht mehr zu einer Leber oder einer Lunge ausbilden. Wie auf anderen Gebieten, so führt auch hier die Spezialisierung zu einer Abnahme der Flexibilität. Man könnte diesen Prozeß mit der Auswahl von Stu81

dienmöglichkeiten vergleichen, die dem Studenten offenstehen: von der ersten groben Alternative zwischen der Naturwissenschaft und den Geisteswissenschaften bis hin zur schließlichen »Determination«, die aus ihm einen Meereszoologen macht, der sich auf Stachelhäuter spezialisiert. An jedem Entscheidungspunkt, von dem aus mehrere Pfade weiterführen, kann irgendein an sich belangloser Zufall zum Auslöser werden, der eine »induzierende« Wirkung ausübt und ihn zu dieser oder jener Entscheidung veranlaßt. Nach einem bestimmten Zeitraum wird jede Entscheidung weitgehend zu einem irreversiblen Faktum. Ist der Student erst einmal Zoologe, dann stehen ihm noch zahlreiche Spezialisierungsmöglichkeiten offen, er kann jedoch kaum noch seine bisherigen Schritte rückgängig machen und Anwalt oder Physiker werden. Auch hier gilt das »Schritt-für-Schritt-Gesetz« aller Hierarchien. Ist die Entscheidung über die zukünftige Entwicklung eines bestimmten Gewebestückes gefallen, dann kann es sich bemerkenswert »determiniert« verhalten. Im Gastrulastadium sieht der Embryo zwar noch wie ein eingestülpter Sack aus, aber man kann trotzdem bereits voraussagen, welche Organe die einzelnen Gastrulabezirke bilden werden. Transplantiert man in dieser frühen Phase von einem Amphibienembryo ein Gewebestück, aus dem normalerweise ein Auge entstehen würde, auf das Schwanzende eines anderen, älteren Embryos, dann entwickelt sich dieses Gewebestück nicht zu einem Auge, sondern zu einem Nierentrakt oder einem anderen für diese Region charakteristischen Organteil. Zu einem späteren Zeitpunkt in der Entwicklung des Embryos geht jedoch diese »Lenksamkeit«, »Gefügigkeit« des präsumtiven Augenbezirks verloren, und er entwickelt sich zu einem Auge, ohne Rücksicht darauf, wohin er transplantiert wird – sogar auf dem Schenkel oder Bauch des Wirtsembryos. Hat eine Zellgruppe dieses Stadium erreicht, dann bezeichnet man sie als morphogenetisches Feld, Primitivorgan oder Organanlage. Nicht nur das präsumtive Auge, auch ein noch im Keimzustand befindliches Primitivorgan, das in eine andere Position (auf dem gleichen oder auf einem anderen Embryo) transplantiert wird, entwickelt sich zu einem vollständigen Organ; selbst ein Herz kann sich an der Seite des Wirtsembryos herausbilden. In dieser »rücksichtslosen« Entschlossenheit der morphogenetischen Felder zur Beibehaltung ihrer Individualität spiegelt sich – nach unserer Terminologie – das Prinzip der Selbstbehauptung auch im Entwicklungsprozeß wider. Jedes morphogenetische Feld beziehungsweise Primitivorgan besitzt den holistischen Charakter einer autonomen Einheit, eines selbstregulierenden Holons. Entfernt man die Hälfte des Gewebes eines solchen morphogenetischen Feldes, dann bildet sich aus dem restlichen Gewebestück nicht eine Organhälfte, sondern ein vollständiges Organ. Spaltet man in einer bestimmten Entwicklungsphase die Augenblase in mehrere isolierte Teile auf, dann bildet jedes Fragment ein normales, wenn auch etwas kleineres Auge; selbst künstlich zermalmte und durchgefilterte Gewebezellen regenerieren sich, wie wir gesehen haben (siehe Seite 49), von neuem. Die autonomen, selbstregulierenden Eigenschaften von Holons innerhalb des heranwachsenden Embryos erweisen sich als fundamentale Sicherheitsvorrichtung; sie sorgen dafür, daß das Endprodukt der Norm entspricht, auch wenn sich im Verlauf der Entwicklung Zufälle und Schwierigkeiten ergeben. Angesichts der Millionen und Abermillionen von Zellen, die sich teilen und differenzieren und in der variablen Umwelt von Flüssigkeiten und benachbarten Geweben umherbewegen – Waddington nannte das »die epigenetische Landschaft« –, muß man annehmen, daß niemals, nicht einmal im Fall von eineiigen Zwillingen, zwei Embryos sich auf genau die gleiche Art herausbilden. Man hat die selbstregulierenden Mechanismen (welche die Abweichungen von der Norm ausgleichen und sozusagen die Form des Endprodukts garantieren) mit den homeostatischen Steuerungen im ausgewachsenen Organismus verglichen; Biologen sprechen in diesem Fall von einer Entwicklungs-Homeostase. Das zukünftige Individuum ist in den Chromosomen des befruchteten Eies bereits potentiell festgelegt; aber um diesen Bauplan in das fertige Produkt zu transponieren, müssen Milliarden von speziali82

sierten Zellen erstellt und zu einer integrierten Struktur gestaltet werden. Es scheint unvorstellbar, daß die Gene des befruchteten Eies eingebaute Vorkehrungen für alle erdenklichen Zufälle enthalten sollten, denen jede einzelne ihrer 56 Generationen von Tochterzellen im Verlauf des Entwicklungsprozesses möglicherweise begegnen könnte. Das Problem erscheint jedoch etwas zugänglicher, wenn wir die Konzeption vom »genetischen Bauplan«, der starr kopiert werden muß, durch die Konzeption von genetischen Spielregeln ersetzen, die zwar feststehen, aber hinlänglich Spielraum für Alternativmöglichkeiten offenlassen: für flexible Taktiken, die durch feedbacks aus der Umwelt der Zelle gesteuert werden. Wie aber läßt sich diese allgemeine Formel auf den Spezialfall der embryonalen Entwicklung anwenden?

9.2

Die genetische Tastatur

Die Zellen eines Embryos – alle identischen Ursprungs – differenzieren sich zu so verschiedenartigen Produkten wie Muskelzellen, mehreren Arten von Blutzellen, einer Vielzahl verschiedener Nervenzellen und so weiter; das geschieht trotz der Tatsache, daß jede einzelne von ihnen in ihren Chromosomen genau die gleichen Erbinstruktionen enthält. Die Zelltätigkeit wird – sowohl im Embryo als auch im ausgewachsenen Individuum – von den in den Chromosomen enthaltenen Genen kontrolliert. Da wir jedoch schlüssige Beweise dafür haben, daß alle Zellen im Körper, ohne Rücksicht auf ihre jeweilige Funktion, den gleichen vollständigen Chromosomensatz enthalten, muß man sich fragen: Wie können zum Beispiel eine Nervenzelle und eine Nierenzelle so verschiedenartige Aufgaben erfüllen, wenn sie doch von den gleichen Gesetzen regiert werden?* * Die Sachlage wird noch durch die Tatsache kompliziert, daß es auch cytoplasmische Erbträger gibt, doch sind diese für unsere Untersuchungen nicht relevant.

Noch vor einer Generation schien die Antwort auf diese Frage recht einfach zu sein. Ich will sie hier in eine etwas frivole Analogie kleiden. Stellen wir uns vor, die Chromosomen würden durch die Tastatur eines großen Konzertflügels repräsentiert, eines sehr großen Flügels mit Tausenden von Tasten. Jede Taste entspräche demnach einem Gen. Jede Zelle im Körper enthält in ihrem Kern eine mikroskopisch kleine, dabei aber vollständige Tastatur. Allerdings darf jede spezialisierte Zelle nur einen einzigen – ihrer Spezialisierung entsprechenden – Ton anschlagen; der Rest der genetischen Tastatur ist mit einem durchsichtigen Klebestreifen unbrauchbar gemacht. Das befruchtete Ei und die ersten Generationen seiner Tochterzellen hatten noch die komplette Tastatur zu ihrer Verfügung. Aber die nachfolgenden Generationen haben dann immer weitere Bereiche der Tastatur durch Klebestreifen außer Betrieb gesetzt. Zum Schluß kann dann zum Beispiel eine Muskelzelle nur noch dieses eine tun: sich zusammenziehen, das heißt einen einzigen Ton anschlagen. Im genetischen Fachjargon bezeichnet man den Klebestreifen als »Repressor«, den Faktor, der die Taste anschlägt und das Gen aktiviert, als »Induktor«. Ein Gen, das eine Mutation erlitten hat, ist einer Saite vergleichbar, die »verstimmt« ist. Nun wollte man uns weismachen, wenn eine beträchtliche Anzahl von Saiten arg verstimmt sei, dann sei das Ergebnis eine stark verbesserte, wundervolle neue Melodie – ein Reptil, das sich in einen Vogel, oder ein Affe, der sich in einen Menschen verwandelt hat. Da muß doch irgendwo mit der Theorie etwas schiefgegangen sein. Die Ursache dafür ist in der atomistischen Konzeption vom Gen zu suchen. Als die Genetik gerade in Schwung kam, stand der Atomismus in voller Blüte: Reflexe waren Verhaltensatome, und Gene waren Atome der Erbmasse. Ein Gen war für die Augenfarbe verantwortlich, ein zweites für glattes oder krauses Haar, ein drittes für die Bluterkrankheit und so weiter; man betrachtete den Organismus als eine Ansammlung dieser voneinander unabhängigen Einheiten, als ein Mosaik von Elementarbestandteilen, zusammengesetzt nach dem Vorbild, wie Mechos seine Uhren zusammenbaute. Um die Mitte unseres Jahrhunderts wurde jedoch die starre atomistische Konzeption der Mendelschen 83

Genetik beträchtlich aufgelockert. Man erkannte, daß ein einzelnes Gen eine Reihe ganz verschiedener Merkmale bedingen konnte (Pleiotropie) und daß umgekehrt eine größere Zahl von Genen bei der Ausprägung eines einzigen Merkmals zusammenwirken konnte (Polygenie). Einige triviale Merkmale, wie etwa die Augenfarbe, mögen durchaus von einem einzigen Gen bedingt sein, im allgemeinen herrscht jedoch die Polygenie vor, und die fundamentalen Prägemerkmale des Organismus hängen von der Gesamtheit der Gene ab, dem Genkomplex beziehungsweise Genom als Ganzes. In den Kindertagen der Genetik konnte ein Erbmerkmal »dominant« oder »rezessiv« sein, und das war ungefähr alles, was man darüber wissen mußte; allmählich mußte man jedoch immer neue Begriffe in die Terminologie aufnehmen: Repressoren, Apo-Repressoren, Co-Repressoren, Induktoren, modifizierende Gene, Austausch-Gene, OperatorGene, die andere Gene aktivieren, und sogar Gene, die die Mutationsquote in den Genen regulieren. So faßte man die Tätigkeit des Genkomplexes ursprünglich als das Abspielen einer simplen linearen Folge auf, ähnlich wie ein Tonband oder die Reflexkette des Behavioristen. Heute wird jedoch mehr und mehr deutlich, daß die genetischen Kontrollen als eine selbstregulierende Mikrohierarchie operieren, ausgerüstet mit feedbacks, die ihre flexiblen Taktiken steuern.* Dadurch wird der heranwachsende Embryo nicht nur gegenüber den Zufälligkeiten der Ontogenese abgeschirmt, sondern auch gegenüber den evolutionären Zufälligkeiten der Phylogenese, das heißt den schädlichen Mutationen in seiner eigenen Erbmasse – den ziellosen Kapriolen des Affen an der Schreibmaschine. * Bezeichnenderweise gibt Waddington seinem bedeutenden Buch über die theoretische Biologie den Titel THE STRATEGIE OF THE GENES (1957).

Zur Zeit treffen derartige Annahmen bei den orthodoxen Genetikern noch auf beträchtliche Skepsis, wohl in erster Linie deswegen, weil ihre Akzeptierung, wie sich im folgenden Kapitel zeigen wird, notgedrungen zu einer entscheidenden Schwerpunktverlagerung innerhalb unserer Konzeption vom Evolutionsprozeß führen muß. Da sich aber die Differenzierung und die Morphogenese in hierarchisch geordneten Schritten vollziehen, leuchtet ein, daß auch die kooperative Tätigkeit des Genkomplexes in hierarchischer Ordnung vor sich gehen muß. Der gesamte Genkomplex befindet sich im Zellkern. Dieser Zellkern ist umgeben vom Zellkörper. Der Zellkörper ist umgeben von einer Zellmembran, die ihrerseits wieder umgeben ist von Körperflüssigkeit und von anderen Zellen, die ein Gewebestück bilden; dieses steht wiederum in Kontakt mit anderen Gewebestücken. Anders ausgedrückt: der Genkomplex operiert in einer Hierarchie von Umwelten (siehe Seite 72). Die verschiedenen Arten von Zellen (Gehirnzellen, Muskelzellen etc.) unterscheiden sich voneinander in der Struktur und in den chemischen Eigenschaften ihres Zellkörpers. Diese Unterschiede gehen auf die Wechselwirkung zwischen dem Genkomplex, dem Zellkörper und der Zellumwelt zurück. In jedem heranwachsenden und sich differenzierenden Gewebestück ist ein anderer Teilbereich des gesamten Genkomplexes aktiv – nämlich nur jener Zweig der Genhierarchie, der für die dem betreffenden Gewebestück zugewiesenen Funktionen zuständig ist –, die übrigen Gene sind sozusagen »abgeschaltet«. Und wenn wir fragen, wer oder was es ist, wodurch die Gene ein- und abgeschaltet werden, dann stoßen wir erneut auf die uns vertrauten Mechanismen: Auslöser und Rückkoppelung. Als »Auslöser« fungieren die bereits erwähnten Induktoren, Organisatoren, Operatoren, Repressoren und so weiter. Wie sie operieren, können wir allerdings nur recht unvollkommen begreifen; die Prägung neuer Termini ist manchmal die bequemste Methode zur Verschleierung unserer Unkenntnis. Wir kennen jedoch zumindest in groben Zügen die hier wirksamen Prinzipien. Es handelt sich um einen Prozeß, der kreisförmig verläuft – und zwar in Kreisen, die, wie die Rollen einer Spirale, immer enger werden, je mehr sich die Zelle spezialisiert. Die Gene kontrollieren die Tätigkeit der Zelle durch Instruktionen, die in den komplexen Operationen des Zellkörpers zum Tragen gebracht werden. Aber auch die Tätigkeit der Gene wird ihrerseits mit Hilfe von Rückkoppelungen zum Zellkörper gesteuert, der wiederum der Hierarchie von 84

Umwelten ausgesetzt ist. Letztere enthält, abgesehen von chemischen Auslösern, eine Anzahl anderer Faktoren in der »epigenetischen Landschaft«, die für die Zukunft der Zelle relevant sind und über die die Gene informiert werden müssen. Die Zelle muß – nach James Bonner54 – in der Lage sein, ihre Nachbarn »auf Fremdheit und Ähnlichkeit hin und nach vielen anderen Aspekten zu testen«. Indem er Informationen über die Umwelt an den Genkomplex zurückleitet, ist auch der Zellkörper daran mitbeteiligt, zu bestimmen, welche Gene aktiviert und welche vorübergehend oder dauernd abgeschaltet werden sollen. Letztlich hängt also das Schicksal einer Zelle von ihrer Position im heranwachsenden Embryo ab – von ihrer genauen Lage innerhalb der epigenetischen Landschaft. Zellen, die zum gleichen morphogenetischen Feld gehören (etwa zum zukünftigen Arm), müssen die gleiche genetische Instrumentierung haben und sich wie Teile einer kohärenten Einheit verhalten; ihre weitere Spezialisierung zu »Solospielern (einzelnen Fingern) hängt ebenfalls von ihrer Position innerhalb des morphogenetischen Feldes ab. Jedes Primitivorgan ist ein janusgesichtiges Holon: verglichen mit seinen früheren Entwicklungsphasen ist sein Schicksal als ein Ganzes unwiderruflich »determiniert« – hinsichtlich seiner zukünftigen Entwicklung sind seine Teile jedoch noch »bildsam«, und sie differenzieren sich entlang desjenigen Entwicklungszweiges, der ihrer lokalen Umwelt am angemessensten ist. »Determination« und »Bildsamkeit« (»Lenksamkeit«), das selbstbehauptende und das integrative Potential, sind die beiden Seiten derselben Medaille. Bei den vorher erörterten Hierarchien hat der Zeitfaktor nur eine relativ untergeordnete Rolle gespielt. Bei der Entwicklungshierarchie ist der Scheitelpunkt das befruchtete Ei, die Achse des sich verzweigenden Baumes ist der zeitliche Fortschritt, und die einzelnen Stufen der Hierarchie sind die aufeinanderfolgenden Entwicklungsstadien. Die Struktur des heranwachsenden Embryos ist zu jedem bestimmten Zeitpunkt ein Querschnitt im rechten Winkel zur Zeitachse; die beiden Janusgesichter sind der Vergangenheit und der Zukunft zugewandt.

9.3 Zusammenfassung Es war nicht der Sinn dieses Kapitels, einen Überblick über die embryonale Entwicklung zu geben, sondern es sollten die Grundprinzipien herausgestellt werden, die diese Entwicklung mit andern Arten von hierarchischen Prozessen, die in den vorausgehenden Kapiteln erörtert werden, gemeinsam haben. J. Needham sprach einmal von dem »Streben der Blastula, sich zu einem Küken zu entwickeln«. Man kann die diversen Mechanismen, die dieser Bemühung zum Erfolg verhelfen, als »pränatale Fertigkeiten« des Organismus bezeichnen. Ich zitiere nochmals James Bonner: »Wir wissen, daß die Natur – ebenso wie der Mensch – komplexe Aufgaben dadurch bewältigt, daß sie sie in viele einfache Einzelaufgaben aufgliedert.«55 Entwicklung, Reifung, Lernen und Handeln sind kontinuierliche Prozesse; wir müssen daher annehmen, daß die pränatalen und die postnatalen Fertigkeiten von den gleichen allgemeingültigen Prinzipien bestimmt werden. Einige dieser in der embryonalen Entwicklung reflektierten Prinzipien* sind: die hierarchische Ordnungsfolge bei der Differenzierung und der Morphogenese; die »Aufgliederung« dieser Ordnung in selbstregulierende Holons auf verschiedenen Stufen (Phasen): ihr Januscharakter (Autonomie kontra Abhängigkeit, Determination kontra Lenksamkeit); ihre fixierten genetischen Spielregeln und schmiegsamen Taktiken, die durch Rückkoppelung von der Umwelthierarchie gesteuert werden; die Tätigkeit von Auslösern (Induktoren etc.) und von Abtastvorrichtungen (»Tests«); die Abnahme der Flexibilität mit zunehmender Spezialisierung und Differenzierung. * Ich möchte den Leser daran erinnern, daß er im Anhang eine Zusammenfassung dieser Prinzipien findet.

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10 Evolution: Thema mit Variationen Ich weigere mich zu glauben, daß Gott mit der Welt Würfel spielt. Albert Einstein

Im vorigen Kapitel haben wir uns mit der Ontogenese befaßt, mit der Entwicklung des Einzelindividuums. Jetzt können wir uns der Phylogenese zuwenden und damit dem Problem des evolutionären Aufstiegs. Die orthodoxe (»neodarwinistische« oder »synthetische«) Theorie versucht alle evolutionären Wandlungen durch Zufallsmutationen (und Neukombinationen) von Genen zu erklären; danach sind die meisten Mutationen schädlich, aber ein geringer Teil von ihnen ist zufällig nützlich und wird durch die nützliche Zuchtwahl beibehalten. Wie schon erwähnt, bedeutet »Zufälligkeit« in diesem Zusammenhang, daß die durch Mutationen herbeigeführten erblichen Veränderungen keinen irgendwie gearteten Bezug zu den adaptiven Erfordernissen des Tieres haben – daß sie also seine Körperbeschaffenheit und sein Verhalten in jeder beliebigen Richtung verändern können. Nach dieser Auffassung ist die Evolution eine Art von Blindekuhspiel. Oder, mit den Worten von Professor Waddington, den man als einen Trotzkisten im Lager der Orthodoxie bezeichnen könnte und den ich in diesem Kapitel noch des öfteren zitieren werde: Geht man von der Annahme aus, die Evolution der so vorzüglich adaptierten biologischen Mechanismen beruhe lediglich auf einer selektiven Auswahl aus einer Reihe von Varianten, die ihr Entstehen dem blinden Zufall verdanken, dann könnte man ebensogut behaupten, daß, wenn wir fortfahren, Ziegelsteine zu Haufen zusammenzuwerfen, wir schließlich ein ideales Wohnhaus vorfinden werden.56 Zur Illustrierung dieses Problems möge ein einfaches Beispiel dienen. Der Riesenpanda (Bambusbär) besitzt an seinen vorderen Tatzen einen zusätzlichen sechsten Finger; dieser erweist sich als sehr nützlich für die Manipulierung der Bambusschößlinge, die die Hauptnahrung des Tieres bilden. Ohne die zugehörigen Muskelpartien und Nervenstränge wäre jedoch der zusätzliche Finger nur ein nutzloses Anhängsel. Die Möglichkeit, daß unter allen denkbaren Mutationen gerade diejenigen, die die zusätzlich erforderlichen Knochen, Muskelpartien und Nervenstränge hervorbrachten, sich unabhängig voneinander entwickelt haben, ist natürlich infinitesimal gering. Dabei spielen im vorliegenden Fall nur drei variable Faktoren eine Rolle. Handelte es sich, sagen wir, um zwanzig derartige Faktoren (und das ist immer noch eine bescheidene Schätzung für die Entwicklung eines komplexen Organs!), dann erscheint die Möglichkeit einer zufällig gleichzeitigen Transformation sämtlicher Faktoren einfach absurd; anstatt mit einer wissenschaftlichen Erklärung aufwarten zu können, könnte man sich nur in die Annahme purer Wunder hineinretten. Nehmen wir nun ein weniger primitives Beispiel. Die Eroberung des trockenen Landes durch die Wirbeltiere begann mit der Evolution der Reptilien aus einer primitiven amphibischen Form. Die Amphibien vermehrten sich im Wasser, und ihre Jungen waren Wassertiere. Das entscheidend Neue bei den Reptilien war, daß sie, im Gegensatz zu den Amphibien, ihre Eier aufs trockene Land legten; sie waren nicht mehr vom Wasser abhängig und konnten sich nun über die Kontinente hin ausbreiten. Das ungeborene Reptil innerhalb des Eies benötigte aber immer noch ein flüssiges Umweltmilieu: es mußte Wasser haben, sollte es nicht schon vor seiner Geburt austrocknen. Es brauchte auch viel Nahrung: Amphibien schlüpfen als Larven aus, die sich ganz allein versorgen, 86

Reptilien dagegen schlüpfen erst aus, wenn sie voll entwickelt sind. Das Reptilienei mußte also sehr viel Eidotter als Nahrung enthalten, außerdem Albumin – Eiweiß – als Flüssigkeit. Weder das Eigelb noch das Eiweiß hätten für sich allein irgendeinen selektiven Nutzwert. Überdies brauchte das Eiweiß eine schützende Hülle, damit sein Feuchtigkeitsvorrat nicht verdunstete. Es mußte also, als Zugabe, eine Schale aus lederartigem oder kalkhaltigem Material entstehen. Das ist jedoch noch nicht alles. Der Reptilienembryo konnte – wegen eben dieser Schale – seine Exkrete nicht loswerden. Dem weichschaligen Amphibienembryo stand der ganze Teich als »Toilette« zur Verfügung, der Reptilienembryo dagegen mußte mit einer Blase als Abfallbehälter ausgerüstet werden. Man bezeichnet sie als Allantois (Urharnsack), und sie ist in gewisser Hinsicht die Vorläuferin der Placenta bei den Säugetieren. Aber selbst wenn dieses Problem gelöst ist, würde der Embryo im Innenraum der harten Schale gefangen bleiben; er benötigte ein Werkzeug, um herauszukommen. Die Embryos einiger Fische und Amphibien, deren Eier von einer gelatinösen Membran umgeben sind, haben an ihrem Maulteil Drüsen: wenn die Zeit gekommen ist, sondern sie ein chemisches Produkt ab, das die Membran auflöst. Embryos, die von einer harten Schale umgeben sind, brauchen jedoch ein mechanisches Werkzeug: so besitzen Schlangen und Eidechsen einen Zahn, der sich in eine Art Büchsenöffner verwandelt, Vögel dagegen haben eine Karunkel, einen harten Auswuchs nahe der Schnabelspitze, der den gleichen Zweck erfüllt. Bei manchen Vogelarten – etwa beim Honigkuckuck –, die ihre Eier in fremde Nester legen, hat die Karunkel noch eine zusätzliche Funktion: sie wächst zu einem scharfen Haken heran; mit seiner Hilfe tötet der eben ausgeschlüpfte Eindringling zunächst seine Ziehgeschwister und stößt danach den mörderischen Haken freundlicherweise ab. Das eben Gesagte bezieht sich nur auf einen einzigen Aspekt des Evolutionsprozesses von Reptilien; selbstverständlich waren noch zahlreiche weitere wesentliche Transformationen in der Struktur und in der Verhaltensweise erforderlich, um die neu entstandenen Kreaturen auch lebensfähig zu machen. Diese Veränderungen konnten sich natürlich schrittweise vollziehen; aber bei jedem neuen Schritt – wie geringfügig er auch sein mochte – mußten alle beteiligten Faktoren harmonisch zusammenwirken. Der Flüssigkeitsvorrat im Ei ist ohne die Schale sinnlos. Die Schale wiederum wäre ohne die Allantois und ohne den »Büchsenöffner« sinnlos, ja sie hätte sogar eine mörderische Wirkung. Für sich allein genommen, wäre jede dieser Neuerungen schädlich und würde die Überlebenschancen verringern. Die Entwicklung kann nicht so vor sich gehen, daß zunächst die Mutation A allein in Erscheinung tritt und durch natürliche Zuchtwahl erhalten bleibt – und dann soll man ein paar tausend oder ein paar Millionen Jahre warten, bis die Mutation B und schließlich auch die Mutationen C und D sich vollziehen. Jede einzeln für sich allein auftretende Mutation würde in diesem Fall ausgelöscht werden, bevor sie mit anderen kombiniert werden könnte. Alle sind wechselseitig voneinander abhängig. Die Doktrin, ihr zeitliches Zusammenfallen sei einer Reihe von blinden Zufällen zu verdanken, ist nicht nur ein Affront gegen den gesunden Menschenverstand, sondern verstößt auch gegen die Grundprinzipien wissenschaftlicher Methodik. Die Verfechter der orthodoxen Theorie mögen wohl das unbehagliche Gefühl gehabt haben, daß irgend etwas Wesentliches fehle; sie legten gelegentlich ein Lippenbekenntnis zu »ungelösten Problemen« ab, begnügten sich aber dann damit, sie schleunigst »unter den Tepich zu kehren«. Sir Peter Medawar (der selbst nicht gerade besonders tolerant gegenüber den Meinungen anderer ist) sagt: Vor zwanzig Jahren schien alles so einfach: mit der Mutation als Ursache für die verschiedenen Varianten, mit der Zuchtwahl als Ausleseprinzip ... Unsere frühere Selbstzufriedenheit läßt sich vermutlich auf einen verständlichen Fehler in der Charakteranlage zurückführen: Wissenschaftler neigen dazu, sich nur solche Fragen zu stellen, für die sie zumindest die Rudimente einer Antwort haben. Peinliche 87

Fragen werden für gewöhnlich nicht gestellt oder, wenn sie gestellt werden, grob abgewehrt.* * Man vergleiche diese Stelle mit Sir Julian Huxleys ex-cathedra-Ausspruch: »Auf dem Gebiet der Evolution hat die Genetik die grundlegenden Fragen beantwortet, und die Evolutionsbiologen können sich 57 nun anderen Problemen zuwenden.«

Ein bequemer Weg, lästigen Fragen dieser Art auszuweichen, bestand darin, seine Aufmerksamkeit auf die statistische Bewertung von Mutationen in großen Populationen der Fruchtfliege, Drosophila melanogaster, zu konzentrieren – sie ist das Lieblingstier der Genetiker, da sie sich sehr rasch vermehrt und nur vier Chromosomenpaare besitzt. Die Methode basiert auf der statistischen Erfassung von Varianten einiger isolierter – und meist trivialer – Merkmale, wie der Augenfarbe oder der Verteilung der Borsten auf dem Körper der Fliege. Befangen in der atomistischen Tradition, waren die Verfechter dieser Theorie offensichtlich nicht imstande einzusehen, daß diese – praktisch durchwegs schädlichen – Mutationen eines einzelnen Erbfaktors für das zentrale Problem des evolutionären Fortschritts völlig irrelevant waren, denn hier sind gleichzeitige Veränderungen bei allen Faktoren erforderlich, die für die Struktur und Funktion eines komplexen Organs von Bedeutung sind. Die Vorliebe der Genetiker für die Borsten der Fruchtfliege und die Vorliebe der Psychologen für Hebelversuche mit Ratten haben eine mehr als oberflächliche Ähnlichkeit. Beide entstammen einer mechanistischen Weltanschauung, die das lebendige Geschöpf als ein Mosaik von Verhaltensatomen (S-R-Einheiten) und Erbgutatomen (Mendelschen Genen) betrachten.

10.1 Innere Selektion Die hier vorgeschlagene Alternative ist die Konzeption der offenen Hierarchie. Wir wollen sehen, ob sich diese Konzeption auf den Evolutionsprozeß anwenden läßt. Zunächst möchte ich Waddingtons Antwort auf Probleme der Art zitieren, wie sie sich etwa beim zusätzlichen Finger des Bambusbären stellen. Für einige von uns scheinen die orthodoxen modernen Erklärungen nicht sehr befriedigend zu sein. Ein wohlbekanntes Problem ist das folgende: Viele Organe haben eine sehr komplexe Struktur; um irgendeine Verbesserung in ihrer Funktionsweise zu bewirken, wäre es erforderlich, Veränderungen bei mehreren verschiedenen Faktoren gleichzeitig herbeizuführen – und das, so scheint es, ist etwas, wovon man nicht glauben kann, daß es sich ausschließlich unter dem Einfluß des Zufalls ereignet. Es hat stets anerkannte Biologen gegeben – und gibt sie noch heute –, die das Gefühl hatten, Erwägungen dieser Art ließen es zweifelhaft erscheinen, daß rein zufällige Veränderungen im Erbgut eine ausreichende Grundlage für den Evolutionsvorgang ergeben könnten. Ich glaube jedoch, dieses Problem löst sich weitgehend von selbst, wenn man daran denkt, daß ein Organ wie etwa das Auge nicht einfach eine Kollektion von Einzelelementen ist (Retina, Linse, Iris und so weiter), die zusammengefügt werden und zufällig auch zusammenpassen. Ein Organ ist etwas, was sich, während sich das heranwachsende Tier aus dem Ei entwickelt, allmählich bildet; während das Auge sich bildet, beeinflussen die einzelnen Teile einander wechselseitig. Mehrfach ist experimentell nachgewiesen worden, daß wenn man die Retina und den Augapfel künstlich vergrößert, dies allein schon bewirkt, daß auch eine größere Linse von ungefähr angemessener Größe entsteht. Es ist daher nicht einzusehen, warum nicht auch eine zufällige Mutation das gesamte Organ in harmonischer 88

Weise beeinflussen sollte; und es besteht durchaus die vernünftige Möglichkeit, daß dieser Vorgang zu einem Fortschritt führen könnte ... Eine zufällige Veränderung in einem Erbfaktor hat für gewöhnlich nicht nur eine Änderung in einem Element des ausgewachsenen Tieres zur Folge; sie führt vielmehr zu einer Umschichtung im gesamten Entwicklungssystem und kann auf diese Weise sehr wohl ein komplexes Organ in seiner Gesamtheit verändern.58 Wir erinnern uns vom vorausgegangenen Kapitel her, daß die heranwachsende Augenblase des Embryos ein autonomes Holon ist: entfernt man Teile seines Gewebes, dann entwickelt es sich, dank seiner selbstregulierenden Eigenschaften, trotzdem zu einem normalen Auge. Es wäre durchaus keine Überraschung, wenn dieses Holon die gleichen selbstregulierenden Kräfte und »flexiblen Taktiken« auch dann an den Tag legen würde, wenn die Störung nicht künstlich hervorgerufen, sondern von einem mutierten Gen ausgelöst würde, wie Waddington meint. Die zufällige Mutation wirkt lediglich als Auslöser; die »pränatalen Fertigkeiten« des Embryos besorgen den Rest, und zwar in jeder nachfolgenden Generation. Das vergrößerte Auge ist zu einer evolutionären Neuheit geworden.* * Man sollte noch hinzufügen, daß das Beispiel vom vergrößerten Auge typisch ist für das, was ein mutierendes Gen tut. Gene regulieren die chemischen Reaktionsraten, einschließlich der Wachstumsrate; eine der häufigsten Auswirkungen von Gen-Mutationen besteht darin, daß die Wachstumsgeschwindigkeit eines Teils im Verhältnis zu anderen Teilen geändert und dadurch die Proportionen des Organs modifiziert werden.

Die embryonale Entwicklung ist ein vielschichtiger hierarchischer Prozeß; wir dürfen daher erwarten, daß selektive und regulierende Kontrollen auf mehreren Niveaus operieren, um schädliche Mutationen zu eliminieren und die Wirkungen der akzeptablen Mutationen zu koordinieren. Verschiedene Autoren* vertreten die Auffassung, dieser Siebungsprozeß beginne möglicherweise bereits auf der Basislinie der Hierarchie, auf dem Niveau der Molekularchemie des Genkomplexes. * Bertalanffy, Darlington, Spurway, Lima da Faria, L. L. Whyte. Mutationen sind chemische Veränderungen, die vermutlich durch die Einwirkung kosmischer Strahlungen und anderer Faktoren auf die Keimzellen verursacht werden. Diese führen zu Änderungen in der Reihenfolge der chemischen Einheiten in den Chromosomen, den vier Buchstaben des genetischen Alphabets. Meistens handelt es sich dabei gewissermaßen um »Druckfehler«. Aber auch hier scheint wieder eine Hierarchie von Korrektoren am Werk zu sein, um diese Druckfehler zu eliminieren. »Der Kampf ums Überleben einer Mutation beginnt in demselben Augenblick, in dem das Mutieren erfolgt«, schreibt L. L. Whyte. »Es ist klar, daß völlig willkürliche Veränderungen weder physisch noch chemisch oder funktionell stabil sein können ... Nur diejenigen Veränderungen können überleben, die zu einem mutierten System führen, das bestimmte unerläßliche physische, chemische und funktionelle Voraussetzungen erfüllt.«59 Alle anderen werden eliminiert, und zwar entweder durch das frühzeitige Absterben der mutierten Zelle und ihrer Nachkommenschaft oder, wie sich noch zeigen wird, durch die bemerkenswerten selbsterneuernden Fähigkeiten des gesamten Genkomplexes. Nach der orthodoxen Theorie ist die natürliche Auslese ausschließlich auf die Einwirkung der Umwelt zurückzuführen, die die unvorteilhaften Varianten ausmerzt und den lebensfähigen eine reiche Nachkommenschaft beschert. Bevor jedoch eine neue Mutation die Chance hat, sich dem Darwinschen Überlebenstest in der äußeren Umwelt zu unterwerfen, muß sie erst den Test der inneren Selektion hinsichtlich ihrer physischen, chemischen und biologischen Lebensfähigkeit über sich ergehen lassen. Die Konzeption von der inneren Selektion – einer Hierarchie von Kontrollstationen, mit deren Hilfe die Folgen schädlicher Gen-Mutationen eliminiert und die Auswirkungen 89

nützlicher Mutationen koordiniert werden – ist das in der orthodoxen Theorie fehlende Bindeglied zwischen den »Atomen« der Vererbung und dem lebendigen Strom der Evolution. Ohne dieses Bindeglied sind beide sinnlos. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß rein zufällige Mutationen tatsächlich vorkommen: sie lassen sich bei Laborversuchen beobachten. Es kann auch kein Zweifel darüber bestehen, daß die Darwinsche Selektion ein wirkungsvoller Faktor ist. Aber zwischen diesen beiden Vorgängen – zwischen den chemischen Veränderungen in einem Gen und dem Auftreten des fertigen Produkts als Neuling auf der Evolutionsbühne – spielt sich eine ganze Hierarchie innerer Prozesse ab, die den Bereich möglicher Mutationen stark einschränken und die Bedeutung des Zufallsfaktors erheblich reduzieren. Man kann sagen, der Affe arbeitet an einer Schreibmaschine, die die Hersteller so programmiert haben, daß sie nur sinnvolle Silben wiedergibt, nicht aber sinnlose Buchstabenfolgen. Wird eine unsinnige Folge auf die Tasten gedrückt, dann eliminiert die Maschine sie automatisch. Um bei der gleichen Metapher zu bleiben, müssen wir dann auf den höheren Stufen der Hierarchie Korrektoren und Redakteure ansetzen, deren Aufgabe nicht mehr darin besteht, zu eliminieren, sondern zu korrigieren, zu reparieren und zu koordinieren – wie beim Beispiel des mutierten Auges. Diese Mikrohierarchie kontrolliert die »pränatalen Fertigkeiten« des Embryos, die diesen befähigen, das gesteckte Endziel zu erreichen, ohne Rücksicht darauf, welchen Fährnissen er im Verlauf seiner Ontogenese begegnet. Nun ist aber die Phylogenese nichts weiter als eine Serie solcher Ontogenesen, und wir stehen daher vor der interessanten Frage, ob auch der Mechanismus der Phylogenese mit einer Art von evolutionärer Instruktionsbroschüre ausgestattet ist. Mit anderen Worten: Gibt es eine Strategie des Evolutionsprozesses, die der »Strategie der Gene« – dem »Zielgerichtetsein« der Ontogenese – vergleichbar ist? Fassen wir noch einmal zusammen. Der Atomismus in der Genetik ist erledigt. Die Stabilität der Erbmasse und die Veränderungen in der Erbmasse beruhen beide nicht auf einem Mosaik von Genen, sondern auf der Tätigkeit des Genkomplexes »in seiner Gesamtheit«. Aber dieser prestigewahrende Ausdruck – der sich zunehmender Beliebtheit erfreut – ist im Grunde, wie so viele andere holistische Formulierungen, völlig nichtssagend, wenn wir nicht zwischen den Genkomplex in seiner Gesamtheit und das einzelne Gen eine Hierarchie von genetischen Teilgebilden interpolieren – selbstregulierende Holons der Erbmasse, die nicht nur die Entwicklung der Organe kontrollieren, sondern auch deren mögliche evolutionäre Modifikationen, und zwar dadurch, daß sie die Auswirkungen zufallsbedingter Mutationen in geeignete Bahnen lenken. Eine Hierarchie mit ihren eingebauten selbstregulierenden Mechanismen ist stets ein stabiler Faktor. Sie kann nicht »hier ein bißchen eingezogen, dort ein bißchen ausgelassen« werden, in der Art wie Patou mit dem Modell umgeht. Sie ist durchaus zu Varianten und Veränderungen fähig, jedoch nur in koordiniertem Zusammenwirken und nur nach bestimmten Richtungen hin. Läßt sich über die allgemeinen Prinzipien, die für diese Richtungen bestimmend sind, irgend etwas aussagen?

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10.2 Das Rätsel der Homologie Das fundamentalste Prinzip der evolutionären Taktik ist, ähnlich wie bei der Parabel von den beiden Uhrmachern, die Standardisierung von Teilgebilden. Da jedoch die meisten von uns keine sehr klare Vorstellung vom Mechanismus unserer Uhren haben, wollen wir statt dessen lieber einen Blick auf ein Auto werfen. Hier lassen sich die Teilgebilde leicht aufzählen: Chassis, Motor, Batterie, Steuerung, Bremsen, Getriebe und so weiter bis zum Scheibenwischer und zur Heizanlage. Jeder dieser Bestandteile ist mehr oder weniger eine in sich geschlossene Einheit, ein selbständiges mechanisches Holon. Man kann einen Motor oder eine Standardbatterie aus dem Wagen herausnehmen und für sich allein funktionieren lassen, ähnlich wie etwa ein Organ in vitro. Man kann sie auch in einen anderen Wagentyp, ja sogar in eine andere Art von Maschine einbauen, etwa in ein Motorboot. Welchen Entwicklungsprozeß machen nun Automobile durch? Die Hersteller wissen sehr wohl, daß es sich nicht lohnt, ein neues Modell auch von Grund auf neu zu entwerfen; sie bedienen sich bereits bestehender Standardkomponenten (Chassis, Bremsen etc.), die auf Grund langjähriger Erfahrungen entwickelt worden sind, und beschränken sich darauf, diese oder jene Komponente zu modifizieren oder zu verbessern. Ähnliche Beschränkungen sind nachweislich auch bei der biologischen Evolution wirksam. Vergleicht man die Vorderräder des neuesten Automodells mit denen eines alten Vorkriegswagens, so stellt man fest, daß beide auf demselben Prinzip basieren. Vergleicht man die Struktur der Vordergliedmaßen beim Menschen mit denen beim Hund, beim Vogel und beim Wal, so merkt man, daß die Evolution hier stets das gleiche Grundmuster beibehalten hat. Den menschlichen Arm und den Flügel des Vogels bezeichnet man als homologe Organe, weil sie – hinsichtlich der Knochen, Muskeln, Blutgefäße und Nerven – das gleiche Strukturmuster zeigen und weil sie von der gleichen Ahnform des Organs abstammen. Die Funktionen eines Arms und eines Flügels sind so unterschiedlich, daß man logischerweise eigentlich annehmen müßte, beide hätten eine voneinander völlig verschiedene Struktur. In Wirklichkeit vollzog sich jedoch der Evolutionsprozeß so – ähnlich wie im Beispiel von den Autofabrikanten –, daß nicht jedesmal ganz von vorne angefangen, sondern daß eine bereits bestehende Komponente mehr oder weniger modifiziert wurde (im vorliegenden Fall die Vordergliedmaßen der Reptilien, aus denen heraus sich vor mehr als zweihundert Millionen Jahren Vögel und Säugetiere in ihrer Entwicklung abgespalten haben). Hat die Natur erst einmal ein Patent für die Schaffung eines Organs entwickelt, dann hält sie zäh daran fest: das Organ ist zu einem stabilen evolutionären Holon geworden. Dieses Prinzip hat allgemeine Gültigkeit, von der subzellularen Stufe bis hinauf zum Anlageplan des Primatengehirns. Organellen der gleichen Bauart funktionieren in den Zellen von Mäusen und Menschen; kontraktiles Protein von gleicher Beschaffenheit sorgt für die Bewegung von Amöben und der Finger eines Pianisten; die vier gleichen chemischen Grundeinheiten bilden das genetische Alphabet im gesamten Tier- und Pflanzenreich – nur die einzelnen »Wörter« sind für jede Kreatur verschieden. Die vielzitierte »verschwenderische Großzügigkeit« der Natur wird kompensiert durch ihren – weniger offensichtlichen – Konservatismus und ihre Sparsamkeit (man könnte fast sagen Knausrigkeit) im Bereich der homologen Grundmuster, von den Organellen bis hin zu den Gehirnstrukturen. »Dieses Konzept der Homologie«, schrieb Sir Alistair Hardy, »ist von absolut fundamentaler Bedeutung für alle Probleme, die mit der Evolution zusammenhängen. In Wirklichkeit«, fügte er nachdenklich hinzu, »sind wir jedoch auch nicht annähernd in der Lage, es mit den Begriffen der heutigen theoretischen Biologie zu erklären.«60 91

Abbildung 5: Vordergliedmaßen von Wirbeltieren (nach Life, AN INTRODUCTION TO BIOLOGY, von G. G. Simpson u.a.)

Der Grund dafür ist, daß die orthodoxe Theorie von der Voraussetzung ausgeht, homologe Strukturen bei verschiedenen Arten seien auf die gleichen »atomistischen« Gene zurückzuführen, die vom gemeinsamen Vorfahren vererbt wurden; heute dagegen gibt es zahlreiche Beweise dafür, daß homologe Strukturen sehr wohl auch durch die Tätigkeit ganz verschiedener Gene hervorgerufen werden können. Der Ausweg aus dieser Sackgasse scheint darin zu bestehen, den genetischen Atomismus, der so drastisch versagt hat, durch die Konzeption der genetischen Mikrohierarchie zu ersetzen; einer Hierarchie mit eingebauten »Spielregeln«, die eine Vielzahl von Variationen zulassen – jedoch nur in bestimmte Richtungen und nur zu einer begrenzten Anzahl von Themen. Das bedeutet die Wiederbelebung einer alten Vorstellung, die bis auf Goethe und noch weiter, bis auf Platon zurückgeht. Sie rechtfertigt einen kleinen historischen Exkurs, der auch zur Klärung der Frage beitragen mag, warum das Konzept der Homologie von so großer Bedeutung ist, und zwar nicht nur für den Biologen, sondern auch für den Philosophen.

10.3 Archetypen in der Biologie Schon lange vor Darwin waren die Naturforscher in zwei Lager gespalten, in die Anhänger der Evolution (B Buffon, Lamarck, St-Hilaire und andere) und in die Antievolutionisten; letztere glaubten, der Schöpfer habe die erste Giraffe, den ersten Moskito und das erste Walroß zur gleichen Zeit als fertige Produkte auf der Erde in Umlauf gesetzt. Aber sowohl die Anhänger als auch die Gegner der Evolutionstheorie waren gleichermaßen verblüfft über die Ähnlichkeit der Organe und Strukturmuster bei sonst voneinander völlig verschiedenen Arten. Den Begriff »homologes Organ« prägte Geoffroy StHilaire. Sein 1818 erschienenes Werk PHILOSOPHIE ANATOMIQUE beginnt mit der Frage: »... Stimmt man nicht allgemein darin überein, daß die Wirbeltiere alle nach einem einheitlichen Plan aufgebaut sind – daß zum Beispiel die Vordergliedmaßen zum Laufen, Klettern, Schwimmen oder Fliegen modifiziert werden können, die Anordnung der Knochen aber doch stets die gleiche bleibt ...?«61 Goethe war schon lange vorher zu einem Verfechter der Evolution geworden, und zwar auf Grund seiner Studien über die Morphologie (ein Begriff, den er geprägt hat!) von Pflanzen und Tieren. In seinem 1790 erschienenen Werk DIE METAMORPHOSE DER PFLANZEN postulierte er, alle existierenden Pflanzen ließen sich von einer gemeinsamen Ahnform ableiten: der Urpflanze; und alle Organe der Pflanzen seien homologe* Modi92

fikationen eines einzigen Strukturmodells, das sich in einfachster Form im Blatt der Pflanze ausdrückt. * Allerdings verwendete Goethe nicht diesen Terminus.

Obwohl Goethe damals bereits auf der Höhe seines Ruhmes stand, stieß DIE METAMORPHOSE DER PFLANZEN auf Ablehnung (so unglaublich es auch klingt, er mußte sich an Cotta in Gotha wenden, da sein eigener Verleger in Leipzig das Werk nicht herausbringen wollte); es übte jedoch einen starken Einfluß auf die deutschen Naturphilosophen aus, die in ihrer Philosophie vergleichende Anatomie mit transzendentalem Mystizismus verbanden. Diese Männer waren durchaus keine Anhänger der Evolutionslehre, aber sie waren fasziniert von der universalen Wiederkehr der gleichen Grundmuster in der Struktur von Tieren und Pflanzen; sie bezeichneten diese Muster als »Archetypen« und glaubten, damit den Schlüssel zum Schöpfungsplan Gottes gefunden zu haben. Die Idee, daß sich alle existierenden Blumen, Bäume, Gemüse und so weiter aus einer einzigen Urpflanze ableiten, scheint Goethe während seines Aufenthaltes in Sizilien gekommen zu sein, wo er einen Großteil seiner Zeit botanischen Studien gewidmet hatte. Nach seiner Rückkehr schrieb er am 17. Mai 1787 an Herder: Den Hauptpunkt, wo der Keim steckt, habe ich ganz klar und zweifellos gefunden; alles übrige seh ich auch schon im Ganzen, und nur noch einige Punkte müssen bestimmter werden. Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.62 Diese »innerliche Wahrheit und Notwendigkeit«, mit der alle existierenden und möglichen Lebensformen konform gehen müßten, konnte Goethe natürlich nicht definieren; seine Intuition sagte ihm jedoch, daß dazu nicht phantastische, willkürliche Wesenheiten gehören konnten, die der ungezügelten Einbildungskraft von Malern oder sciencefiction-Autoren entstammten. Sie müssen bestimmten archetypischen Formen entsprechen, deren Bereich durch die Grundstruktur und die chemischen Eigenschaften der organischen Materie abgegrenzt ist. Die Evolution kann nicht ein zufälliger Vorgang sein, bei dem man »hier ein wenig einzieht« und »dort ein wenig ausläßt«: sie muß sich nach einem geordneten Plan vollziehen. Goethes deutsche Anhänger, die Naturphilosophen, übernahmen zwar von ihm die Konzeption der Archetypen, nicht aber seinen Glauben an die Evolution. Sie betrachteten die Archetypen nicht, wie Goethe, als Ahnformen, aus denen sich homologe Organe entwickelt hatten, sondern als von Gott entworfene Schnittmuster oder Leitmotive, die in allen möglichen Varianten seit Erschaffung der Welt koexistieren. Einige bedeutende europäische Anatomen dieser Zeit, unter ihnen Richard Owen, vertraten im großen und ganzen die gleiche Auffassung. Owen definierte homologe Organe als »das gleiche Organ bei verschiedenen Tieren in allen Varianten der Form und der Funktion«. Während er pausenlos auf die Vielzahl derartiger Organe im Tierreich hinwies, führte er sie auf das Sparsamkeitsprinzip des göttlichen Schöpfers zurück – ebenso wie Kepler seine Gesetze der Planetenbewegungen dem Scharfsinn des göttlichen Mathematikers zugeschrieben hatte.

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Aber welche Auffassung diese Männer auch immer vertraten, die Konzeption von der Homologie setzte sich durch und wurde zu einem Eckpfeiler der modernen Evolutionstheorie. Tiere und Pflanzen bestehen aus homologen Organellen wie den Mitochondrien, homologen Organen wie Kiemen und Lungen und homologen Gliedmaßen wie Armen und Flügeln. Sie sind die stabilen Holons im ständig fließenden Strom der Entwicklung. Die Phänomene der Homologie implizieren tatsächlich das hierarchische Prinzip sowohl in der Phylogenese als auch in der Ontogenese. Dieser Punkt wurde jedoch nie klar herausgestellt, und man kümmerte sich kaum um die Prinzipien der hierarchischen Ordnung – eine Tatsache, die auch der Grund dafür sein mag, daß die inneren Widersprüche der orthodoxen Theorie so lange unbemerkt bleiben konnten.

10.4

Das Gleichgewichtsprinzip

Für das, was ich als Stabilität von evolutionären Holons bezeichnet habe, gibt es auch Manifestationen auf noch höheren Ebenen der Hierarchie. Dazu gehören die von d’Arcy Thompson entdeckten geometrischen Relationen, welche zeigen, daß eine Art sehr wohl in eine andere transformiert werden und dabei trotzdem ihr eigenes Grundmuster beibehalten kann. Die untenstehenden Zeichnungen zeigen den Igelfisch (Diodon hystnix) und den Sonnenfisch (Orthogoriscus mola), so wie sie in dem 1917 erschienenen klassischen Werk Thompsons ON GROWTH AND FORM abgebildet sind.

Abbildung 6: Sonnenfisch und Igelfisch (nach d’Arcy Thompson).

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Ich habe die Evolution von homologen Organen mit dem Verfahren verglichen, das Autofabrikanten beim Lancieren eines neuen Modells anwenden, das sich von vorangegangenen nur durch gewisse Modifikationen der einen oder anderen Komponente unterscheidet, während die übrigen standardisierten Teile weiterhin unverändert bleiben. Im Fall der beiden Fische ist nicht ein bestimmtes Organ modifiziert worden, sondern das »Chassis« als Ganzes. Die Neuformung geschah trotzdem nicht in willkürlicher Weise. Die Grundstruktur ist die gleiche geblieben. Sie ist nur mittels einer einfachen mathematischen Gleichung gleichmäßig verzerrt worden. Stellen wir uns vor, die Zeichnung vom Igelfisch und das dazugehörige Gitternetz von kartesischen Koordinaten seien auf eine Gummiunterlage aufgedruckt. Diese ist am Kopfende dicker und daher auch widerstandsfähiger als am Schwanzende. Faßt man nun die Gummiunterlage am oberen und am unteren Rande an und zieht sie auseinander, dann entsteht durch die ungleichmäßige Dehnung das Modell des Sonnenfisches. Korrespondierende anatomische Punkte der beiden Fische haben dabei die gleichen Koordinaten (so liegt etwa das Auge auf der Längskoordinate 0,5 und auf der Breitenkoordinate c). Thompson fand heraus, daß dieses Phänomen ganz allgemein gültig war. Setzt man die Umrißzeichnung eines Tieres in ein Gitternetz von Koordinaten und zeichnet man dann ein anderes zur gleichen zoologischen Gruppe gehöriges Tier, dann kann man mit Hilfe eines einfachen Tricks aus dem Bereich der »Gummigeometrie«, der sich auch in einer mathematischen Formel ausdrücken läßt, die eine Figur in die andere transformieren. Die folgenden Zeichnungen in Abbildung 7 zeigen, wie mit Hilfe eines harmonisch verzerrten Gitternetzes von kartesischen Koordinaten der Schädel eines Pavians zunächst in den eines Schimpansen und dann in den eines Menschen transformiert wird.

Abbildung 7: Schädel eines Pavians, eines Schimpansen und eines Menschen (nach d’Arcy Thompson).

Das alles sind durchaus keine müßigen mathematischen Spielereien. Im Gegenteil, man erhält auf diese Weise einen realistischen Einblick in die Evolutionswerkstatt. Es folgt nun d’Arcy Thompsons eigener Kommentar dazu: Wir wissen im vorhinein, daß der Hauptunterschied zwischen dem Menschen und dem Menschenaffen in der Vergrößerung beziehungsweise Ausdehnung des Gehirns und der Hirnschale beim Menschen und in der relativen Verkleinerung beziehungsweise Abschwächung seines Kiefergerüsts besteht. Gleichzeitig erhöht sich der Gesichtswinkel beim Menschen von einem stumpfen Winkel bis fast zu einem rechten, und die Konfiguration aller Gesichts- und Schädelknochen ändert sich ebenfalls. Wir wissen zunächst nicht – und erfahren es auch nicht mit Hilfe der üblichen Vergleichsmethoden –, inwieweit diese Veränderungen einer einzigen harmonischen und kongruenten Transformation angehören, oder ob wir die Umformungen in der Stirnpartie, der Okzipitalregion, der Maxilla und der Mandibelregion als eine lose Anhäufung von separaten Modifikationen, als unabhängige Variationen betrachten sollen. Sobald wir jedoch im 95

Schädel des Gorillas oder des Schimpansen einige Stellen markiert haben, die mit denen korrespondieren, die wir in unserem Koordinatennetz beim menschlichen Schädel fixiert haben, können wir feststellen, daß sich die korrespondierenden Punkte sofort mit kurvenförmigen Schnittlinien verbinden lassen, die ein neues Koordinatensystem bilden und eine einfache »Projektion«* unseres menschlichen Schädels darstellen ... Kurzum, es wird sofort deutlich, daß die Modifikationen am Kiefergerüst, an der Hirnschale und an den dazwischenliegenden Partien allesamt einem kontinuierlichen Gesamtprozeß angehören.63 * Im Sinne der darstellenden Geometrie.

Dieser Prozeß ist offensichtlich das genaue Gegenteil von einer durch Zufallsmutationen bedingten Evolution »nach allen Richtungen hin«. Wäre letzteres tatsächlich der Fall, dann ergäbe sich – wie Thompson es nennt – »eine lose Anhäufung von separaten Modifikationen oder unabhängigen Variationen«. In Wirklichkeit sind die verschiedenen Variationen wechselseitig voneinander abhängig und müssen vom Scheitelpunkt der Hierarchie aus kontrolliert werden; er koordiniert die Gesamtstruktur, indem er die relativen Wachstumsraten der verschiedenen Teile aufeinander abstimmt. Die rapide Ausdehnung des anthropoiden Gehirns war verknüpft mit entsprechenden Veränderungen in anderen Schädelpartien, die durch eine einfache und elegante geometrische Transformation herbeigeführt wurden. Das achtzehnte Jahrhundert war mit diesem Phänomen durchaus vertraut, das zwanzigste brauchte lange Zeit, um es wiederzuentdecken. Goethe nannte es den »Haushaltsplan der Natur«, Geoffroy St-Hilaire »loi du balancement«, das »Gleichgewichtsprinzip« der Organe. Von der Konzeption der Homeostase in der Ontogenie bedarf es nur noch eines logischen Schrittes zur Konzeption der Homeostase in der Phylogenie – zum Gleichgewichtsprinzip im Evolutionsprozeß. In Anlehnung an Goethe könnte man von einer Beharrung der Archetypen im Wandel der Zeit sprechen und ihrem Streben nach optimaler Verwirklichung.

10.5 Die Doppelgänger Bei dem letzten Phänomen, das in diesem Zusammenhang erörtert werden muß, handelt es sich um ein doppeltes Rätsel. Das erste betrifft die Marsupialier – die in Australien lebenden Beuteltiere –, das zweite die Frage, warum die Evolutionstheoretiker nicht sehen wollen, daß es sich um ein Rätsel handelt. Fast alle Säugetiere sind entweder Marsupialier oder plazentale Säugetiere. (Das einschränkende »fast« bezieht sich auf die nahezu ausgestorbenen Monotremen – die Kloakentiere – wie das Schnabeltier, das Eier legt gleich den Reptilien, aber seine Jungen säugt.) Die Marsupialier könnte man als die »armen Verwandten« von uns »normalen«, das heißt plazentalen Säugetieren bezeichnen; sie haben sich entlang eines Parallelzweiges am Evolutionsbaum entwickelt. Der Embryo der Beuteltiere empfängt, während er sich im Mutterleib befindet, nur sehr geringe Nahrung. Er wird in unreifem Zustand geboren und reift dann in einem elastischen Beutelsack am Bauch der Mutter heran. Ein neugeborenes Känguruh ist in der Tat ein halbfertiges Produkt: es ist etwa 2 bis 3 Zentimeter lang, nackt, blind, mit embryonalen Hinterbeinen. Man könnte Spekulationen darüber anstellen, ob das menschliche Baby sich in einem Beutelsack wohler fühlen würde als in einer Wiege – und ob sich dadurch sein Ödipuskomplex noch intensivieren würde. Wie dem auch sei, das Entscheidende ist, daß sich die Fortpflanzungsmethoden bei den Marsupialiern und bei den plazentalen Säugetieren gründlich voneinander unterscheiden. 96

Abbildung 8: Oben: Plazentale und marsupiale Wüstenspringmaus. Mitte: Plazentales Flughörnchen und marsupialer Flugbeutler (nach Hardy). Unten: Schädel des plazentalen Wolfs, verglichen mit dem Schädel des marsupialen Beutelwolfs (nach Hardy).

Die beiden Arten haben sich ganz zu Beginn der Evolution der Säugetiere voneinander getrennt, im Zeitalter der Reptilien; und sie haben sich aus einer gemeinsamen, mausähnlichen Ahnform heraus über einen Zeitraum von etwa einhundertfünfzig Millionen Jahren hin gesondert voneinander entwickelt. Das Rätselhafte aber ist, warum so viele Arten, die aus der unabhängigen Entwicklungslinie der Marsupialier hervorgingen, den plazentalen Säugetieren so verblüffend ähnlich sind. Das ist etwa so, als hätten zwei Künstler, die einander nie kennengelernt, voneinander nie gehört und auch nie das gleiche Modell gehabt haben, eine parallele Serie von nahezu identischen Porträts angefertigt. Abbildung 8 zeigt auf der linken Seite eine Reihe von plazentalen Säugetieren, auf der rechten ihre »Pendants« im Bereich der Marsupialier.

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Ich wiederhole noch einmal: wir wissen, daß sich – entgegen dem Anschein – die beiden Tierreihen völlig unabhängig voneinander entwickelt haben. Australien wurde während des späten Kretazeums vom asiatischen Festland abgetrennt, zu einem Zeitpunkt, da es an Säugetieren nur winzige Kreaturen gab, die gar nicht vielversprechend aussahen. Die Marsupialier scheinen sich früher als die plazentalen Säugetiere aus einer gemeinsamen eierlegenden Ahnform heraus entwickelt zu haben, die teilweise Reptiliencharakter, teilweise Säugetiercharakter aufwies; auf jeden Fall gelangten die Marsupialier nach Australien, bevor der Erdteil abgetrennt wurde, die plazentalen Säugetiere dagegen nicht. Diese Einwanderer waren, wie schon gesagt, mausähnliche Kreaturen, vermutlich nicht unähnlich der heute noch existenten gelbfüßigen Beutelmaus, aber wesentlich primitiver als diese. Und dennoch haben sich die auf ihrem Inselkontinent isolierten Mäuse vermehrt, verzweigt, und es entstanden aus ihnen im Lauf der Entwicklung Beuteltierversionen von Maulwürfen, Ameisenbären, Flughörnchen, Katzen und Wölfen – und jedes dieser Tiere glich einer etwas unbeholfenen Kopie des korrespondierenden plazentalen Säugetiers.* * Marsupialier haben sich – ebenfalls völlig unabhängig – auch in Südamerika entwickelt.

Wenn die Evolution auf Zufällen beruht und nur durch die Zuchtwahl eingeschränkt ist, warum entstanden dann in Australien keinerlei Fabeltiere aus der science fiction? Die einzige halbwegs unorthodoxe Schöpfung dieser isolierten Insel im Verlauf von Millionen Jahren sind die Känguruhs gewesen; die übrige Fauna Australiens besteht aus minderwertigen Kopien von erfolgreicheren plazentalen Typenvariationen einer begrenzten Zahl von archetypischen Themen.* * Die Gründe für die Inferiorität der Marsupialier im Vergleich zu den plazentalen Säugetieren werden im Kapitel 16 erörtert.

Wie läßt sich dieses Rätsel erklären? Die von der orthodoxen Theorie gegebene Erklärung findet man kurz zusammengefaßt in der folgenden Passage eines – im übrigen ausgezeichneten – Lehrbuchs, aus dem ich schon wiederholt zitiert habe: »Sowohl Beutelwölfe als auch plazentale Wölfe sind Raubtiere, die sich ihre Beute unter anderen Tieren von etwa gleicher Größe und gleichen Lebensgewohnheiten aussuchen. Adaptive Ähnlichkeit (das heißt Anpassung an ähnliche Umweltverhältnisse) bedingt Ähnlichkeit von Struktur und Funktionsweise. Der Mechanismus einer solchen Evolution ist die natürliche Auslese.«64 Und G. G. Simpson, ein führender Kopf von der Harvard-Universität, kommt zu dem gleichen Schluß: die Erklärung bestehe in der »Auslese aus zufälligen Mutationen«.65 Wieder einmal der deus ex machina. Sollen wir wirklich glauben, der vage gemeinsame Nenner »Beute von etwa gleicher Größe und gleichen Lebensgewohnheiten«, der sich auf Hunderte verschiedener Arten anwenden ließe, sei eine hinreichende Erklärung dafür, daß in zwei Evolutionsvorgängen völlig unabhängig voneinander die beiden nahezu identischen Wolfsschädel (in Abbildung 8) entstanden sind? Ebensogut könnte man sagen, es gebe nur eine Möglichkeit, einen Wolf zu machen, nämlich die, daß man ihn wie einen Wolf aussehen läßt.

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10.6 Die sechunddreißig Grundthemen Die Serie der Abtast- und Filtermechanismen, die unsere Sinneswahrnehmungen passieren müssen, bevor sie zum Bewußtsein vordringen und der Aufbewahrung für wert erachtet werden, habe ich in Kapitel 6 mit den siebzehn Eingangstoren des Kremls verglichen. Die Sinnesrezeptoren der Augen, der Ohren und der Haut sind einem ununterbrochenen Bombardement von Reizen seitens der Außenwelt ausgesetzt; wären die Posten an den Eingangstoren weniger wachsam und streng, so würden wir bald von »irrelevanten Reizen« überschwemmt werden, und in unserem Bewußtsein und Gedächtnis würde ein völliges Durcheinander herrschen. Wir können nun dieselbe Metapher auf die umsichtigen Wachposten beziehen, die die Tore unseres Erbguts vor dem Chaos bewahren, das zweifellos eintreten würde, wenn beliebige Zufallsmutationen »in allen erdenklichen Richtungen« ungehindert Zutritt hätten. Wir müssen annehmen, daß Mutationen auf dem elementaren Quantenniveau unter der Einwirkung von Strahlungen und anderen Faktoren auf den Genkomplex ständig vorkommen. Die Riesenmoleküle der Chromosomenkette, die aus Millionen von Atomen bestehen, müssen ebenfalls einem Bombardement von seiten ihres eigenen submikroskopischen Universums ausgesetzt sein. Die meisten dieser Einwirkungen sind wohl nur vorübergehender Natur und werden durch die selbstregulierenden Mechanismen des Genkomplexes sogleich berichtigt, oder sie haben keine nennenswerte Auswirkung auf seine Funktionsweise. Die relativ wenigen Mutationen, die potentiell eine Beeinflussung der Erbmasse bewirken könnten, würden dann auf sukzessiv höheren Stufen der Hierarchie Sichtungs- und Siebungsprozessen unterworfen werden. Ich habe mehrere Stufen dieses Prozesses erwähnt, für die es einwandfreie Beweise gibt: die Eliminierung von »falsch buchstabierten Silben« im genetischen Kode; die ontogenetische Homeostase, die dazu beiträgt, daß die Mutationen ein Organ in seiner Gesamtheit in harmonischer Form beeinflussen; ähnliche Prozesse auf höheren Ebenen (T Thompsons »Transformationen«, die »loi du balancement«), die für die Aufrechterhaltung des angemessenen Gleichgewichts zwischen den Organen sorgen; und schließlich die Evolution von homologen Organen aus verschiedenen Genkombinationen sowie die Evolution ähnlicher Arten unabhängigen evolutionären Ursprungs (Marsupialier). Aus dem oben Gesagten ergibt sich die Schlußfolgerung, daß der evolutionären Vielfältigkeit einheitliche Gesetze zugrunde liegen müssen, die unbegrenzte Variationen zu einer begrenzten Anzahl von Themen gestatten. Das bedeutet, daß der Evolutionsprozeß, wie alle hierarchischen Operationen, von festen Spielregeln regiert und von »adaptiven Taktiken« gesteuert wird. Letztere sind teils von der Umwelt bedingt; aber die Gesetze, die die evolutionären Entwicklungen auf bestimmte Hauptrichtungen einschränken, lassen sich nicht durch Umwelteinflüsse erklären, die ja erst dann in Aktion treten, wenn eine Mutation die inneren Kremltore des Organismus passiert hat. Diese inneren Kontrollen sind die Gesetzgeber der Evolution. Mehrere hervorragende Biologen haben in den letzten Jahren mit dieser Idee geliebäugelt, ohne jedoch ihre weitgehenden Konsequenzen auszuarbeiten.* * Eine kurze kritische Erörterung dieses Problems findet man in L. L. Whytes Werk INTERNAL FACTORS EVOLUTION und in W. H. Thorpes Besprechung dieses Buches in der Zeitschrift Nature vom 14. Mai 1966.

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So schrieb Bertalanffy: Zwar erkennen wir die moderne Selektionstheorie durchaus an, aber wir kommen trotzdem zu einer wesentlich anderen Auffassung von der Evolution. Sie scheint nicht aus einer Reihe von Zufällen im Rahmen eines chaotischen Mutationsmaterials zu bestehen ..., sondern sie wird von festen Gesetzen bestimmt; wir glauben, daß die 99

Entdeckung dieser Gesetze für uns eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben darstellt.66 Waddington und Hardy haben Goethes Konzept der archetypischen Formen wiederentdeckt, und Helen Spurway kam auf Grund des homologischen Beweismaterials zu dem Schluß, der Organismus habe nur »ein begrenztes Mutationsspektrum«, das für seine »Evolutionsmöglichkeiten bestimmend ist«.67 Was verstehen nun diese Autoren – exakt – unter Formulierungen wie »archetypische Auswahl«, »organische Gesetze, die mitbestimmend auf die Evolution einwirken«, »Mutationsspektrum« oder »Einflüsse, die den evolutionären Wandel in bestimmte Bahnen lenken«?68 Sie scheinen in der Tat, ohne das allerdings deutlich zum Ausdruck zu bringen, folgende Ansicht zu vertreten: Unter den Bedingungen, die auf unserem Planeten herrschen, den chemischen Eigenschaften und der Temperatur seiner Atmosphäre sowie den verfügbaren Energien und Baumaterialien, konnte sich das Leben von seinen Uranfängen im ersten lebendigen Schleimkügelchen an nur nach bestimmten Richtungen hin in einer begrenzten Anzahl von Gestaltmöglichkeiten entwickeln. Damit wird jedoch impliziert, daß, ebenso wie der australische und der europäische Wolf bereits potentiell in der mausähnlichen Ahnform angelegt waren, auch diese mausähnliche Kreatur ihrerseits bereits in der Ahnfom der Chordatier potentiell angelegt war und so fort bis zum Ahnprotisten und zur ersten selbstreplizierenden Nukleinsäurefaser. Ist diese Schlußfolgerung richtig, dann wirft sie zusätzliches Licht auf den Status des Menschen in diesem Universum. Sie bereitet den Phantasien der science fiction hinsichtlich möglicher zukünftiger Lebensformen auf Erden ein Ende. Anderseits aber impliziert sie durchaus nicht ein starr determiniertes Universum, das wie ein mechanisches Uhrwerk abschnurrt. Sie besagt lediglich – um noch einmal auf eines der Leitmotive dieses Buches zurückzukommen –, daß die Evolution des Lebens nach bestimmten Spielregeln abläuft, die ihre Möglichkeiten begrenzen, dabei aber genügend Spielraum für eine unbegrenzte Zahl von Variationen offenlassen. Die feststehenden Regeln sind ein inhärenter Faktor in der Grundstruktur der lebenden Materie; die Variationen leiten sich von den adaptiven Strategien ab. Mit anderen Worten: die Evolution beruht weder auf Zufallswillkür, noch ist sie die Ausführung eines starr prädeterminierten Computerprogramms. Man könnte sie eher mit einer musikalischen Komposition vergleichen, deren Möglichkeiten durch die Harmonielehre und durch die Struktur der diatonischen Tonleitern begrenzt sind, die jedoch eine unermeßliche Zahl von originalen Schöpfungen zulassen. Man könnte sie auch mit dem Schachspiel vergleichen, das einem festen Regelkanon unterworfen ist, aber gleichfalls unerschöpfliche Variationen zuläßt. Schließlich könnte man noch die riesige Zahl der heute existierenden Tierarten (etwa eine Million) und die relativ geringe Zahl der Klassen (etwa fünfzig) und der größeren Stämme (etwa zehn) mit der riesigen Zahl der literarischen Werke und der relativ geringen Zahl der ihnen zugrunde liegenden Grundthemen vergleichen. Alle literarischen Werke sind Variationen zu einer begrenzten Anzahl von Leitmotiven, die sich aus den archetypischen Erfahrungen und Konflikten des Menschen herleiten, die aber immer wieder einer neuen Umwelt angepaßt werden – den Kostümen, den Konventionen und der Sprache der jeweiligen Zeitperiode. Nicht einmal Shakespeare vermochte ein originales Thema zu »erfinden«. Goethe zitierte zustimmend den italienischen Dramatiker Carlo Gozzi,* nach dessen Auffassung es nur 36 tragische Situationen gibt. Goethe selbst war sogar der Ansicht, ihre Zahl sei vermutlich noch geringer; die genaue Anzahl ist uns nicht bekannt, sie ist ein wohlgehütetes Geheimnis der Dichter und Schriftsteller. Ein literarisches Werk besteht aus thematischen Holons, die – ebenso wie die homologen Organe – durchaus nicht eine gemeinsame Ahnform gehabt haben müssen. * Autor von TURANDOT und vielen anderen erfolgreichen Werken.

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Mindestens dreimal – vermutlich sogar noch häufiger – haben sich mit Linsen ausgestattete Augen unabhängig voneinander entwickelt, und zwar bei so grundverschiedenen Tierarten wie Mollusken, Spinnen und Wirbeltieren. Die meisten Insekten haben – im Gegensatz zur Spinne – Facettenaugen (Komplexaugen), doch stellen diese nur eine Modifikation desselben optischen Prinzips dar: die gewölbte Oberfläche der Photolinse ist hier aufgegliedert in eine Wabe von kleinen Cornealinsen, von denen jede ihr eigenes lichtempfindliches Rezeptorröhrchen besitzt. Dies sind die beiden einzigen Grundtypen von abbilderproduzierenden Augen im gesamten Tierreich. Aber auch hier gibt es wieder zahlreiche Variationen und Verfeinerungen: vom »Lochauge« des Nautilus – das, ohne Linse, nach dem Prinzip der Camera obscura funktioniert – über die rudimentären Linsen des Seesterns (»Grubenauge«) bis hin zu den Präzisionsmechanismen, mit deren Hilfe verschiedene Tiergruppen imstande sind, ihre Augen auf Objekte in unterschiedlichen Entfernungen einzustellen. Fische bringen die ganze Linse näher an die Retina, wenn sie entfernte Objekte fokussieren. Die Säugetiere – einschließlich des Menschen – haben eine elegantere Methode entwickelt: sie ändern die Kurvatur der Linse, indem sie sie für die nahe Sicht abflachen und für das Sehen in die Ferne den Wölbungsgrad erhöhen. Raubvögel wenden eine noch wirkungsvollere Taktik an, um ihre Beute im Brennpunkt zu behalten, während sie auf sie herabstoßen: anstatt die relativ schwerfällige Linse zu adjustieren, verändern sie in rascher Folge die Kurvatur der flexibleren Cornealinse. Eine weitere wichtige Verfeinerung, das Farbsehen, hat sich ebenfalls mehrere Male unabhängig voneinander entwickelt. Schließlich führte die allmähliche Verlagerung der Position der Augen von der Außenseite zur Vorderseite des Kopfes zum binokularen Sehen, zur Verschmelzung der Abbilder beider Augen zu einem einzigen dreidimensionalen Abbild im Gehirn. Die Absicht des vorausgegangenen Abschnitts bestand nicht darin, ein Loblied auf das Sehvermögen zu singen, sondern darin, die bemerkenswerten Errungenschaften der adaptiven Strategien zu betonen, die aus den beschränkten Möglichkeiten des Organismus das Beste zu machen verstehen. Die Beschränkungen sind ein inhärenter Faktor der physikalisch-chemischen Struktur der lebenden Materie, so wie sie auf unserer Erde existiert – und vermutlich auf jedem anderen Planeten, dessen Voraussetzungen denen auf der Erde auch nur entfernt ähneln. Doch sind die Möglichkeiten, die ein Künstler aus Gozzis karger Liste von 36 Grundthemen herausholen kann, unbegrenzt.

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11 Evolution (Fortsetzung): Fortschritt durch Initiative Wenn man nicht weiß, wohin eine Straße führt, dann gelangt man todsicher dorthin. Leo Rosten

Ausdrücke wie »adaptive Taktik« oder »die Möglichkeiten ausschöpfen« implizieren ein aktives Streben nach der optimalen Realisierung des evolutionären Potentials. In den letzten Jahren hält man es wieder für wissenschaftlich vertretbar, vom »Zielgerichtetsein« in der Ontogenese zu sprechen – von der Kanalisierung der embryonalen Entwicklung bis zur Zielstrebigkeit des instinktiven und des erlernten Verhaltens. Das gilt jedoch nicht für die Phylogenese. Hier läßt sich die offizielle Einstellung etwa in dem folgenden Zitat von G. G. Simpson zusammenfassen: Es hat den Anschein, als wäre das Problem [der Evolution] jetzt prinzipiell gelöst und der Adaptionsmechanismus bekannt. Er erweist sich als ein im Grunde materialistischer Faktor – nichts spricht dafür, daß die Zielgerichtetheit als Variable bei der Gestaltung des Lebens mitwirkt, und der »zielbewußte Schöpfungsfaktor« ist ein ebenso mystischer Begriff wie das Primum mobile ... Der Mensch ist das Ergebnis eines ziellosen materialistischen Prozesses, der ihn nicht geplant hat. Er war nicht beabsichtigt.69 Es bedarf jedoch keiner philosophischen Debatte über derartige Außerungen, denn sie beruhen auf falschen Alternativen. Nach Simpson ist die Evolution entweder ein »im Grunde materialistischer Prozeß« (was immer auch das in diesem Zusammenhang bedeuten mag), oder es muß einen zielbewußten Schöpfer geben, einen Gott; der Mensch ist entweder das Produkt eines ziellosen Prozesses, oder er muß von Anfang an »fest geplant« gewesen sein. Der Begriff »Zielstrebigkeit« impliziert jedoch in seinem biologischen Zusammenhang weder einen zielbewußten Schöpfer noch eine klar definierte Vorstellung von dem angestrebten Endziel. Das Raubtier, das sich auf seinen nächtlichen Raubzug begibt, sucht nicht nach einem bestimmten Kaninchen oder Hasen, es sucht nach irgendeiner möglichen Beute; der Schachspieler kann im allgemeinen nicht die schließliche Mattsituation voraussehen oder planen: er setzt sein Können ein, um die Möglichkeiten auf dem Brett möglichst vorteilhaft auszunutzen. Zweckbewußtsein beinhaltet: Zielgerichtetheit an Stelle von Zufallsakten, flexible Taktik an Stelle starrer Mechanik, und adaptives Verhalten – aber eine Art der Adaption, deren Bedingungen von der Funktionsweise des Organismus bestimmt werden: er paßt sich einer kalten Umgebung nicht an, indem er seine Körpertemperatur senkt, sondern indem er mehr Brennstoff verbraucht. Nach E. W. Sinnott ist vorsätzliches Verhalten die »zielgerichtete Tätigkeit individueller Organismen, durch die sich die lebenden Kreaturen von den unbelebten Objekten unterscheiden«.70 Nach der Auffassung des Nobelpreisträgers H. J. Muller »ist Zielstrebigkeit nicht etwas, das wir in die Natur hineinprojizieren, und man braucht sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, als wäre sie ein vom Leben verschiedener, rätselhafter oder göttlicher Faktor, der sich ins Leben hineinmischt und es in Gang hält ... sie ist einfach ein Merkmal der biologischen Organisation, und man sollte sie eher gründlich studieren als bewundern und erklären«.71

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Fassen wir noch einmal zusammen: Es ist wieder wissenschaftlich vertretbar geworden, vom »Zielgerichtetsein« – beziehungsweise von Zielstrebigkeit in diesem begrenzten Sinn – in der Ontogenese zu sprechen; diese Begriffe auch auf die Phylogenese anzuwenden, gilt jedoch immer noch als Häresie (oder zumindest als üble Manier). Aber der Begriff »Phylogenese« ist eine Abstraktion, und er bekommt nur dann einen konkreten Sinn, wenn wir begreifen, daß die »Phylogenese, die evolutionäre Deszendenz, aus einer Folge von Ontogenesen besteht« und daß »sich der Evolutionsprozeß auf Grund von Neuerungen in der Ontogenese vollzieht«. Diese Zitate stammen ebenfalls von Simpson,72 und sie geben Antwort auf die von ihm gestellte Frage nach dem hinter der Zielstrebigkeit stehenden zielbewußten Schöpfungsfaktor. Als zielbewußten Schöpfer kann man vom Ursprung des Lebens an jeden individuellen Organismus betrachten, der bemüht und bestrebt war, aus seinen begrenzten Möglichkeiten das Beste herauszuholen.

11.1 Aktion vor der Reaktion Wenn orthodoxe Anhänger der Evolutionstheorie von »Adaptionen« reden, dann verstehen sie darunter – ebenso wie die Behavioristen, wenn sie von »Reaktionen« sprechen – einen im Prinzip passiven Prozeß oder Mechanismus, der von der Umwelt kontrolliert wird. Diese Auffassung mag im Einklang mit ihrer Philosophie stehen, sie steht jedoch nicht im Einklang mit dem verfügbaren Beweismaterial, welches zeigt, daß – nach einem Ausspruch von G. E. Coghill – »der Organismus in der Umwelt agiert, bevor er auf die Umwelt reagiert.73 Coghill hat nachgewiesen, daß im Embryo die motorischen Nerventrakte aktiv werden und Bewegungen erkennbar sind, bevor die sensorischen Nerven funktionsfähig werden. In dem Augenblick, in welchem die Kreatur aus dem Ei schlüpft oder geboren wird, legt sie sich mit der – flüssigen oder festen – Umwelt an, bearbeitet sie mit ihren Zilien, Flagellen oder Muskeln; sie kriecht, schwimmt, gleitet, pulsiert; sie stößt, schreit, atmet und frißt nach Herzenslust. Sie paßt sich nicht nur der Umwelt an, sondern sie paßt auch ständig die Umwelt den eigenen Bedürfnissen an: sie verzehrt und trinkt ihre Umwelt, sie kämpft und paart sich mit ihr, sie gräbt in ihr und baut auf ihr; sie antwortet ihrer Umwelt nicht nur, sondern sie stellt ihr auch Fragen und erkundet sie. Dieser »Explorationstrieb« wird heute von der jüngeren Generation der Tierpsychologen als primärer biologischer Instinkt ebenso anerkannt wie der Nahrungstrieb und der Geschlechtstrieb; ja er kann sich gelegentlich sogar als mächtiger denn diese erweisen. Zahllose Experimentatoren,* angefangen von Darwin, haben gezeigt, daß Neugier und die Suche nach Erlebnisreizen als instinktives Triebelement sowohl bei Ratten, Vögeln, Delphinen und Schimpansen als auch beim Menschen wirksam sind; das gleiche gilt für das, was die Behavioristen mit einem verschämten Lateinwort als »ludisches« Verhalten bezeichnen – und das bei gewöhnlichen Sterblichen einfach Verspieltheit genannt wird. * Siehe THE ACT OF CREATION, Buch II, Kapitel 8.

Der Explorations- oder Erforschungstrieb hat eine ganz unmittelbare Beziehung zur Evolutionstheorie. Das erkannten schon um die Jahrhundertwende mindestens zwei hervorragende Biologen – Baldwin und Lloyd Morgan –, aber man vergaß es prompt wieder. In den letzten Jahren haben jedoch Hardy und Waddington den sogenannten »Baldwin-Effekt« unabhängig voneinander neu entdeckt. Was mit diesem Begriff gemeint ist, will ich an einem amüsanten Beispiel darlegen, das Sir Alistair Hardy 1956 beim Kongreß der Linné-Gesellschaft anführte. Vor mehreren Jahren hatten einige Blaumeisen bemerkt, daß die Flaschen, die der Milchmann vor die Haustür stellte, eine rätselhafte weiße Flüssigkeit enthielten; sie fanden eine Methode, an sie heranzukommen, indem sie die Kapseln am oberen Flaschenende mit ihren Schnäbeln entfernten. Es stellte sich heraus, daß die weiße Flüssigkeit köstlich schmeckt. Bald lernten die Vögel, auch mit Pappdeckelverschlüssen und Metallverschlüssen fertig zu werden. Diese neue 103

Geschicklichkeit verbreitete sich – augenscheinlich durch Nachahmung – »in der gesamten Meisenpopulation Europas«.74 Niemals wieder werden unsere Milchflaschen vor den Vögeln sicher sein. Würde es sich nun bei den Flaschen um lebendige Organismen handeln – etwa um eine Art Muscheln mit durchsichtiger zylindrischer Schale – und würden nach einem bestimmten Zeitraum nur die Flaschen mit stärkeren Verschlußkapseln überleben, dann würde infolge der natürlichen Auslese eine Spezies von »Flaschen mit dicken Kapseln« entstehen – aber möglicherweise zugleich auch eine Meisenart mit »speziell ausgebildeten, büchsenöffnerförmigen Schnäbeln zum Öffnen der Flaschenverschlüsse«.75 Das Auftauchen einer Spezies von »Flaschenkreaturen« mit starken Verschlußkappen wäre ein gutes Beispiel für die passive, Darwinsche Evolution infolge des Selektionsdrucks von »Raubvögeln« in der Umwelt. Die Evolution von Meisen mit wirkmächtigeren Schnäbeln ist jedoch als ein Beispiel für eine ganz andere Art des Entwicklungsvorganges gemeint, denn er basiert auf der Initiative einiger unternehmungsfreudiger Individuen der betreffenden Spezies. Diese entdecken eine neue Ernährungsmethode, eine Fertigkeit, die sich durch Imitation weiter ausbreitet und zu einem festen Bestandteil der Lebensweise dieser Spezies wird. Die Mutation (beziehungsweise Neukombination von Genen), die sich als Glückstreffer erweist, indem sie die für die neue Fertigkeit angemessene Schnabelform hervorbringt, tritt erst nachher ein, als eine Art genetische Bekräftigung der neuen Entdeckung. Den Initialakt dieses Prozesses – sozusagen die evolutionäre Pionierarbeit – stellten die Erkundungsaktivitäten der Meisen dar: ihre Neugier, die sie dazu antrieb, die Umwelt zu erforschen – und sich nicht bloß ihrem Druck anzupassen. Wir haben gesehen, daß die berühmte Schreibmaschine des Affen von einer inneren Selektion kontrolliert wird; nun ist die Maschine noch weiter programmiert worden: der Affe braucht nur seine Versuche fortzusetzen, bis er eine bestimmte präspezifizierte Taste niederdrückt. Das Beispiel des büchsenöffnerförmigen Schnabels ist natürlich imaginär, aber die Schlußfolgerungen daraus werden durch viele Beobachtungen bestätigt. So pickt zum Beispiel ein »Darwin-Fink« auf den Galapagosinseln – C. pallidus – ein Loch oder einen Spalt in die Baumrinde, »dann nimmt er einen Kaktusstachel oder ein etwa zwei bis fünf Zentimeter langes Zweiglein, hält es in Längsrichtung in seinem Schnabel, stochert damit im Spalt herum und läßt schließlich das Zweiglein fallen, um das Insekt zu pakken, sobald es sich blicken läßt ... Manchmal trägt der Vogel einen Stachel oder ein kleines Zweiglein mit sich umher, sucht einen Baum nach dem anderen ab und stochert damit in Spalten und Ritzen herum. Diese erstaunliche Gewohnheit ... ist einer der wenigen Fälle, in denen Vögel Werkzeuge benutzen« (H Hardy).76 Nach der orthodoxen Theorie müßten wir annehmen, irgendeine zufällige Mutation, die eine Veränderung der Schnabelform bewirkte (der Schnabel unterscheidet sich allerdings nicht wesentlich von dem anderer Finkenarten), sei die Ursache gewesen, die diese erfinderische Methode bei der Insektenjagd hervorbrachte. Und wir müßten auch glauben, daß es der gleiche deus ex machina – die Zufallsmutation – war, der die Meisen dazu trieb, die Milchflaschen zu öffnen. Das ist doch wohl eine allzu starke Zumutung. Wir halten uns dann doch lieber an Hardys Auffassung, daß »der Schwerpunkt in den heute vertretenen Ansichten irgendwie falsch gesetzt sein muß«, daß der wichtigste Kausalfaktor bei der evolutionären Höherentwicklung nicht der Selektionsdruck der Umwelt ist, sondern die Initiative des lebendigen Organismus, »das rastlose, die Umwelt wahrnehmende und erkundende Tier, das neue Lebensformen und neue Nahrungsquellen entdeckt, genauso wie die Meisen den Wert der Milchflaschen entdeckt haben ... Nur die von der Aktivität des Tieres, von seiner rastlosen Erkundung der Umwelt, seiner Initiative verursachten Adaptionen, nur diese bedingen die divergierenden Hauptlinien der Evolution; seine dynamischen Eigenschaften führten zu den verschiedenen Rollen im Leben, die sich für eine neu entstehende Tiergruppe in jener Phase ihrer Aus104

breitung eröffnen, die man als ›adaptive Radiation‹ bezeichnet – auf diese Art entstanden die verschiedenen Gruppen der Lauftiere, Klettertiere, Wühltiere, Schwimmtiere und der Eroberer der Lüfte«.77 Man kann diesen Vorgang als »Fortschritt durch Initiative« oder als »Do-it-yourselfEvolutionstheorie« bezeichnen. Diese Konzeption schließt Zufallsmutationen keineswegs ganz aus, schränkt aber die Rolle, die sie im Gesamtprozeß spielen, doch weitgehend ein – sie sind Glückstreffer auf ein bereits abgestecktes Ziel, die früher oder später einmal eintreten müssen. Ist dieser Fall dann eingetreten, wird die spontan erworbene Gewohnheit beziehungsweise Fertigkeit zu einem Erbfaktor, eingebettet in das angeborene Verhaltensrepertoire des Tieres: sie braucht nicht mehr erfunden oder erlernt zu werden, sie hat sich zu einem vom Genkomplex bekräftigten Instinkt verdichtet.* Auf Grund der verschiedenen, in diesem und im vorhergehenden Kapitel aufgezählten Faktoren sind Wirkungsbereich und Bedeutung von Zufallsmutationen in der Tat so eingeschränkt worden, daß die gesamte Darwin-Lamarck-Kontroverse stark an Bedeutung verliert. * In einer Reihe von Experimenten mit der Drosophila hat Waddington nachgewiesen, daß eine solche »genetische Assimilation« (wie er sie nennt), bei der erworbene Eigenschaften zu Erbfaktoren werden, tatsächlich vorkommt. Das bedeutet allerdings nicht notwendigerweise, Lamarck sei im Recht gewesen und das erworbene Merkmal (im vorliegenden Fall eine Veränderung in der Flügelstruktur der Fliege, die dadurch hervorgerufen wurde, daß man die Puppen starker Wärmeeinwirkung aussetzte) sei die unmittelbare Ursache dafür gewesen, daß die Mutation nach einigen Generationen erblich wurde, so daß die veränderte Flügelstruktur nun auch ohne Wärmeeinwirkung im Puppenstadium auftrat. Es könnte nämlich der Fall sein, daß sich bereits einige dieser durch Mutation entstandenen Varianten in der betreffenden Fliegenpopulation befanden und dann auf darwinistischer Basis zum Überleben selektiert wurden; anderseits könnte die entsprechende Mutation auch erst durch Zufall im Verlauf des Prozesses entstanden sein. Waddington läßt die Frage offen, ob er eine experimentelle Bestätigung der Lamarckschen These erbracht hat oder eine Imitation des Lamarckschen Vererbungsvorgangs vermittels eines darwinistischen Mechanismus; er kommt zu dem Schluß, »es wäre unklug, die Möglichkeit von zielgerichteten, umweltbezogenen Mutationen a priori auszuschließen«, und »es scheint am besten, wenn man dieses Thema vorurteils78 frei weiter im Auge behält«. Das ist ein erheblicher Gegensatz zu der fast fanatischen Einstellung, die man in der Zitadelle des Neodarwinismus praktiziert. – Waddington ging sogar noch weiter und vertrat die Auffassung: wenn die natürliche Auslese sich in erster Linie zugunsten eines formbaren, adaptiven Verhaltens auswirke, dann werde der Kanalisierungsprozeß während der Entwicklung schon in sich selbst so flexibel, daß eine spezielle Gen-Mutation zur Bekräftigung des neuen Merkmals nicht mehr unbedingt erforderlich sei, sondern nur »eine zufällige Mutation zur Übernahme der Schaltfunktion des ursprünglichen Umweltreizfaktors. Die von Baldwin ins Auge gefaßte Art der erblichen Veränderung ist daher weit 79 wahrscheinlicher, als er selbst damals ahnen konnte«.

Der Zusammenhang wird noch einleuchtender, wenn wir eine Parallele ziehen zwischen der Rolle des Zufalls in der Evolution und in der wissenschaftlichen Entdeckung. Wie schon gezeigt, neigen Behavioristen dazu, jede schöpferische Idee dem puren Zufall zuzuschreiben. Die Geschichte der Wissenschaft lehrt uns jedoch, daß die meisten Entdeckungen mehr oder minder gleichzeitig – und voneinander unabhängig – von mehreren Leuten gemacht werden*; allein diese Tatsache ist (abgesehen von sonstigen Erwägungen) ein hinreichender Beweis dafür, daß, wenn die Zeit für eine bestimmte Entdekkung oder Erfindung reif ist, das günstige Zufallselement, das sie schließlich auslöst, früher oder später mit Sicherheit in Erscheinung tritt. »Das Glück begünstigt den Geist, der bereit ist«, schrieb Pasteur, und man kann ohne weiteres hinzufügen: Glückhafte Mutationen begünstigen das Tier, das darauf vorbereitet ist. * Siehe The Act of Creation, Der göttliche Funke, Seite 109 ff.

Ein fleißiger Famulus Wagner könnte in der Tat eine Geschichte der Wissenschaften als eine Geschichte der glücklichen Zufälle abfassen: der steigende Wasserspiegel in der Badewanne des Archimedes, Galileis schwingender Kronleuchter, Newtons Apfel, James Watts Teekessel, Harveys Fischherz, Gutenbergs Weinpresse, Pasteurs verdorbene Bakterienkultur, Flemings tropfende Nase und tausend andere noch. Er müßte aber schon sehr vernagelt sein, würde er nicht erkennen, daß, wenn ein spezielles Zufallsereignis nicht eingetreten wäre, zahllose andere den gleichen Auslöseeffekt hätten 105

haben können – entweder beim gleichen wachen und bereiten Geist oder aber bei irgendeinem anderen Zeitgenossen, dessen Forschungen in die gleiche Richtung gingen; nur einem sehr perversen Historiker könnte verborgen bleiben, daß die primäre Ursache und treibende Kraft des wissenschaftlichen Fortschritts die Neugier und die Initiative der Wissenschaftler sind und nicht das zufällige Auftauchen von Kronleuchtern, Äpfeln, Teekesseln und tropfenden Nasen »in allen nur erdenklichen Richtungen«. Aber gerade diese perverse Auffassung ist es, von der sich die orthodoxe Interpretation bestimmen läßt, und zwar nicht nur die der Evolution neuer Tierformen, sondern auch die Interpretation neuer Verhaltensarten bei Tieren. Die einzige Erklärung, die der Neodarwinismus zu bieten hat, ist die, daß auch neue Verhaltensformen auf Grund von zufälligen Mutationen entstehen, die auf das Nervensystem einwirken, und daß sie durch die natürliche Auslese weiter erhalten bleiben. Wenn die Evolution des Verhaltens (zum Unterschied von der Evolution von Körperstrukturen) immer noch ein unerforschtes Gebiet ist, dann mag der Grund dafür in einer unbewußten Abneigung liegen, das bereits reichlich strapazierte theoretische Gerüst der neodarwinistischen Genetik einer erneuten Belastung zu unterwerfen. Um ein recht triviales Beispiel zu zitieren: Ein einfacher Singvogel, eine Dohle oder ein Sperling, stößt, wenn er einen Raubvogel erblickt, einen Alarmruf aus, um die ganze Vogelschar zu warnen. »Diese Alarmrufe«, betont Tinbergen, »sind ein deutlicher Beweis für ein Verhalten, das der Gruppe in ihrer Gesamtheit dienlich ist, das Einzelindividuum jedoch gefährdet.«80 Sollen wir wirklich annehmen, die »Schaltungsanlage« im Nervensystem des Sperlings, die den Alarmruf als Reaktion auf den Reiz in Gestalt eines Raubvogels auslöst, sei durch Zufallsmutationen entstanden und dann trotz ihres negativen Überlebenswertes für den Mutanten durch die natürliche Auslese beibehalten worden? Die gleiche Frage könnte man hinsichtlich des phylogenetischen Ursprungs der ritualisierten Scheinkämpfe bei einer Vielzahl von Tieren stellen, so bei Hirschen, Leguanen, Vögeln, Hunden und Fischen. Hunde zum Beispiel legen sich zum Zeichen der Niederlage und Kapitulation auf den Rücken und bieten so ihre verwundbaren Bauchpartien und Halsadern den Reißzähnen des Siegers dar. Man ist geneigt, das als ein ziemlich riskantes Verhalten zu bezeichnen; und worin liegt schließlich der individuelle Überlebenswert der Angewohnheit, nicht unter die Gürtellinie zu schlagen beziehungsweise zu beißen oder mit den Hörnern zu stoßen? Man könnte ganze Bände mit Beispielen für komplexe zweckgerichtete Verhaltensweisen bei Tieren füllen, die sich jeder Erklärung durch Zufallsmutationen und Zuchtwahl widersetzen. Die Liste könnte bereits bei einem einzelligen Meerestier – einem Verwandten der Amöbe – beginnen, das aus den Skelettnadeln von Schwämmen kunstvolle Bauten errichtet. Von diesem primitiven Protozoon ohne Augen und Nervensystem, das bloß aus einer gelatinösen Masse von Protoplasma besteht, über die architektonischen Fähigkeiten von Spinnen und Insekten, weiter über die Verschlußkappen raubenden Vögel und die Werkzeug herstellenden Schimpansen bis hinauf zum Menschen begegnen wir immer dem gleichen Element: der Entfaltung von instinktiven und erlernten Verhaltensstrukturen, die sich auf keinen Fall durch zufällige Neubildungen in der Körperstruktur erklären lassen. Dr. Ewer vertritt die gleiche Ansicht: »Der Verhaltensmodus zeigt die Tendenz, der Struktur stets um einen Sprung voraus zu sein und so eine entscheidende Rolle im Evolutionsprozeß zu spielen.«81 Im Licht solcher Erkenntnisse erscheint der Evolutionsvorgang nicht mehr als »Die Erzählung eines Idioten«, sondern eher als ein Epos, das von einem Stotterer vorgetragen wird, zeitweilig stockend und mühsam, dann aber plötzlich sprunghaft und explosiv.

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11.2 Nochmals Darwin und Lamarck Es bleibt jedoch noch eine Anzahl von »hartnäckigen« Phänomenen übrig, die sich einer Erklärung im Rahmen der bisher erörterten Prozesse widersetzen und die nach einer Lamarckschen Erklärung als Vererbung von erworbenen Eigenschaften zu drängen scheinen. So gibt es zum Beispiel das uralte Problem, warum die Haut an unseren Fußsohlen viel dicker ist als an anderen Körperteilen. Entstünde diese Verdickung erst nach der Geburt, als Folge der natürlichen Abnutzung, dann gäbe es kein Problem. Es ist aber so, daß die Verdickung der Fußsohlen bereits beim Embryo in Erscheinung tritt, der weder barfuß noch sonstwie herumgeht. Ein ähnliches, noch eindrucksvolleres Phänomen stellen die harten Hornhautstellen an den Hand- und Fußgelenken des afrikanischen Warzenschweines dar, auf die sich das Tier bei der Nahrungsaufnahme stützt; ferner die Hornhaut an den Knien der Kamele, und schließlich – am merkwürdigsten von allen – die beiden knollenförmigen Verdickungen, eine vorne, eine hinten, am Unterkörper des Straußes, auf die der ungelenke Vogel sich niederhockt. Alle diese Hornhautbildungen treten – genau wie die dicke Haut an unseren Fußsohlen – bereits beim Embryo in Erscheinung. Es handelt sich also um erbliche Merkmale. Aber ist es vorstellbar, daß sich diese Hornhautbildungen durch Zufallsmutationen ausgerechnet an jenen Stellen entwickelt haben sollten, wo das Tier sie benötigt? Oder sollen wir annehmen, es bestehe ein kausaler Zusammenhang – im Sinne Lamarcks – zwischen dem Bedarf des Tieres und der Mutation, die ihn befriedigt? Selbst Waddington, der die Möglichkeit der Lamarckschen Vererbung funktioneller Anpassung nicht völlig ausschließt, zieht hier zur Erklärung den Baldwin-Effekt und den Kanalisierungsprozeß während der Entwicklung heran – obwohl nicht leicht einzusehen ist, wie sie die obigen Phänomene erklären sollen. Anderseits ist es nicht minder schwierig, zu begreifen, wie eine erworbene Hornhautbildung Veränderungen im Genkomplex hervorrufen könnte. Schwierig, aber nicht absolut unmöglich. Zwar trifft es zu, daß die Keimzellen gegen Einflüsse der sonstigen Körperzellen abgeschirmt sind, aber diese Isolierung ist nicht ganz vollständig: Sie können durch Strahlungen, Wärmeeinwirkungen und bestimmte Chemikalien beeinflußt werden. Es wäre in der Tat unklug, wie Waddington bemerkte, a priori die Möglichkeit auszuschließen, daß Störungen in der Gentätigkeit von Körperzellen unter gewissen Umständen auch Störungen in der Gentätigkeit von Keimzellen bewirken könnten, und zwar mit Hilfe von Hormonen und Enzymen. Auch Herrick82 hat sich diesem Problem gegenüber stets aufgeschlossen gezeigt. Waddington hat sogar ein spekulatives Modell für zielgerichtete Mutationen vorgeschlagen, um zu zeigen, daß nach dem augenblicklichen Stand der Biochemie ein solcher Prozeß theoretisch vorstellbar ist.83 Es wäre müßig, die Argumente und Gegenargumente, die immer wieder ins Gefecht geführt worden sind, hier noch einmal durchzukauen. In wenigen Jahren wird vermutlich die ganze erbitterte Fehde nur noch von historischem Interesse sein, wie etwa die Kontroverse zwischen Newton und Huyghens über die Korpuskeltheorie kontra Wellentheorie des Lichts. Zweifellos kommen Darwinsche Auslesen von Zufallsmutationen vor, aber sie zeigen nicht das vollständige Bild, ja nicht einmal einen sehr wesentlichen Teil des Bildes, und das aus zwei simplen Gründen: erstens wird der Wirkungsbereich des Zufalls durch die oben erörterten Faktoren beträchtlich eingeschränkt, und zweitens, weil in der gegenwärtigen Form der orthodoxen Theorie der Begriff der Auslese seine Schärfe eingebüßt hat. Früher bedeutete er das »Überleben der Lebensfähigsten«; aber, um Waddington noch einmal – zum letztenmal – zu zitieren: Überleben bedeutet natürlich nicht das körperliche Überdauern eines einzelnen Individuums, bis es älter als Methusalem geworden ist. Dieser Begriff, so wie er heute interpretiert wird, bezieht sich auf das 107

Fortleben in zukünftigen Generationen. Dasjenige Individuum »überlebt« am besten, das die zahlreichste Nachkommenschaft hat. Auch der Begriff »am lebensfähigsten« bedeutet bei einem Tier nicht unbedingt, daß es am stärksten oder am gesündesten ist, oder daß es einen Schönheitswettbewerb gewinnen würde. Im Prinzip bedeutet es nicht mehr als eine maximale Nachkommenschaft. Das grundlegende Prinzip der natürlichen Zuchtwahl läuft im Grunde auf die Feststellung hinaus, daß die Individuen, die die zahlreichste Nachkommenschaft haben, diejenigen sind, die die zahlreichste Nachkommenschaft haben. Das ist, wie man sieht, eine Tautologie.84 Auf der anderen Seite ist es den Lamarckisten bisher nicht gelungen, experimentelle Beweise für die Vererbung erworbener Eigenschaften zu erbringen, die sich nicht auf darwinistischer Basis hätten interpretieren – oder wegerklären – lassen können. Auch das beweist natürlich nichts – außer der Tatsache, daß die Lamarcksche Vererbung, wenn sie überhaupt vorkommt, ein relativ seltener Vorgang sein muß. Es könnte gar nicht anders sein. Denn wenn jede neugewonnene Erfahrung der Ahnen ihre Spur im Erbgut der Nachkommenschaft hinterließe, dann wäre das Resultat ein Chaos von Formen und ein Wirrwarr von Instinkten. Aber einige der hartnäckigsten Fälle lassen zumindest die Möglichkeit offen, daß gewisse wohldefinierte strukturelle Adaptionen wie die Verdickung der Haut an unseren Fußsohlen oder die Hornhautbildungen beim Strauß, die Generation für Generation neu erworben werden, am Ende doch zu Veränderungen im Genkomplex führten, durch die sie zu erblichen Merkmalen wurden. Die Biochemie schließt eine solche Möglichkeit nicht ganz aus; das geradezu fanatische Beharren auf ihrer Ablehnung ist nur ein weiteres Beispiel für die Intoleranz und den Dogmatismus wissenschaftlicher Orthodoxien. Es hat also den Anschein, als handelte es sich bei der neodarwinistischen und der neolamarckistischen Methode der Evolution um extreme Fälle an entgegengesetzten Enden eines breiten Spektrums von Evolutionsphänomenen. Eine Anzahl von diesen habe ich hier besprochen; es bleibt jedoch noch ein Phänomen zu erörtern, das von spezieller Bedeutung für den Menschen ist.

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12 Evolution (Fortsetzung): Abbau und Neuformierung Who has seen the wind? Neither you nor I. But when the trees bow down their heads The wind is passing by.* Christina Rossetti * Kein Mensch hat je den Wind gesehen. Doch wenn die Wipfel erdwärts wehen, dann geht der Wind vorbei.

Es hat Perioden von »adaptiver Radiation« gegeben – plötzliche »Explosionen« von neuen Formen, die in relativ kurzer Zeit aus dem Baum der Evolution hervorbrachen. Das war zum Beispiel der Fall bei der Reptilien-»Explosion« im Mesozoikum und bei der Säugetier-»Explosion« im Paleozän; die erste ereignete sich vor 200 Millionen, die zweite vor 80 Millionen Jahren. Das entgegengesetzte Phänomen ist der Niedergang und das Aussterben ganzer evolutionärer Gruppen. Man schätzt, daß auf jede der einen Million existenter Spezies Hunderte entfallen, die in der Vergangenheit zugrunde gegangen sind. Soweit man das beurteilen kann, haben auch die meisten Arten, die nicht ausgestorben sind, ein Stadium der Stagnation erreicht – ihre Evolution kam zu verschiedenen Zeiten der Vergangenheit zum Stillstand.

12.1 Sackgassen Die Hauptursache für die Stagnation und das Aussterben ist die einseitige Spezialisierung. Der Koala oder Australische Beutelbär ist ein rührendes Geschöpf, das ausschließlich die Blätter einer ganz bestimmten Art von Eukalyptus frißt, sonst nichts; anstelle von Fingern hat er hakenähnliche Klauen, die sich ideal dazu eignen, sich an die Baumrinde zu klammern – sonst sind sie zu gar nichts nütze. Sein menschliches Pendant – allerdings ohne den gleichen Charme – ist der Pedant, der Sklave seiner Gewohnheiten, dessen Denk- und Verhaltensweisen sich nach starren Schablonen vollziehen. (Manche unserer Universitätsfakultäten scheinen speziell auf die Züchtung von Koalabären eingestellt zu sein.) Vor einigen Jahren gab Sir Julian Huxley in der Yale Review folgende kurze Übersicht über den Evolutionsprozeß: Der Evolutionsprozeß scheint sich im großen und ganzen etwa folgendermaßen abgespielt zu haben. Von einer gemeinsamen früheren Urform breiteten sich verschiedene Entwicklungsreihen strahlenförmig aus und machten sich die Umwelt auf verschiedene Weise nutzbar. Einige von ihnen erreichten schon verhältnismäßig früh die Grenzen ihrer Entwicklung, zumindest soweit es sich um Veränderungen größeren Ausmaßes handelte. Danach beschränkten sie sich auf geringere Veränderungen, wie die Bildung neuer Gattungen und Arten. Andere dagegen sind so veranlagt, daß sie ihre Entwicklungslaufbahn fortsetzen und dabei neue Formen schaffen können, die infolge ihrer besseren Kontrolle über die Umwelt und durch ihre größere Unabhängigkeit von dieser den Existenzkampf erfolgreich bestehen können. Solche Veränderungen bezeichnet man zu Recht als »progressiv«. Die neue Form wiederholt diesen Prozeß. Sie breitet sich strahlenförmig in einer Anzahl von Entwicklungsreihen aus, von de109

nen sich jede nach einer bestimmten Richtung hin spezialisiert. Die überwiegende Mehrzahl dieser Entwicklungsreihen gerät in eine Sackgasse und kann sich nicht weiterentwickeln; die Spezialisierung ist ein einseitiger Fortschritt und erreicht früher oder später ein »biochemisches Limit« ... Manchmal haben alle Zweige eines bestimmten Urtyps ihr Limit erreicht und sind dann entweder ausgestorben oder haben ohne wesentliche Änderungen weiterbestanden. Das geschah etwa bei den Echinodermen, den Stachelhäutern: die Seeigel, Seewalzen, Seesterne und andere inzwischen ausgestorbene Formen hatten ihren Lebensdrang in Sackgassen getrieben; sie haben sich seit etwa einhundert Millionen Jahren weder weiterentwickelt noch irgendwelche wesentliche neue Formen hervorgebracht. In anderen Fällen erlitten alle Entwicklungsreihen mit ein oder zwei Ausnahmen gleiche Schicksale. Alle Reptilienreihen waren Sackgassen – mit zwei Ausnahmen: eine von ihnen entwickelte sich weiter zu Vögeln, die andere zu Säugetieren. Von der Urform der Vögel gerieten alle Entwicklungsreihen in eine Sackgasse, von den Säugetieren alle bis auf eine: aus ihr entstand der Mensch.«85 Nach diesen Ausführungen zog Huxley jedoch eine Schlußfolgerung, die weit weniger überzeugend ist. »Die Evolution«, so stellt er fest, »besteht also aus einer ungeheuren Anzahl von Sackgassen, und nur sehr selten führt ein Weg zur Höherentwicklung. Sie ist so etwas wie ein Labyrinth, in welchem fast alle Abzweigungen falsche Abzweigungen sind.«86 Das klingt ähnlich wie die Anschauung der Behavioristen, die die Ratte im Labyrinth als Paradigma menschlichen Lernens hinstellen. In beiden Fällen besteht die ausdrückliche oder stillschweigende Annahme darin, daß der Fortschritt vom blinden Zufall beherrscht wird: von Zufallsmutationen, die durch natürliche Auslese, und von Zufallsaktionen, die durch Belohnungen fixiert werden – und weiter ist nichts zu sagen.

12.2 Ausweg aus der Spezialisierung In den drei vorangegangenen Kapiteln habe ich eine Anzahl von Phänomenen erörtert, die den Zufallsfaktor auf eine untergeordnete Rolle reduzieren. Nun möchte ich noch einen weiteren Ausweg aus dem Labyrinth erörtern, der den Evolutionsexperten unter dem unschönen Namen Pädomorphose bekannt ist – einem Begriff, den Garstang vor nahezu einem halben Jahrhundert geprägt hat. Zwar erkennt man die Existenz dieses Phänomens an, es wird jedoch in Lehrbüchern kaum erwähnt, da es – ähnlich wie der Baldwin-Effekt oder das Rätsel um die Marsupialier – dem Zeitgeist zuwiderläuft. Das Phänomen der Pädomorphose deutet, einfach ausgedrückt, darauf hin, daß die Evolution unter bestimmten Voraussetzungen ihre Schritte rückgängig machen kann, entlang des Weges, der in die Sackgasse hineinführte, und daß sie dann in einer anderen, vielversprechenderen Richtung neu beginnen kann. Der entscheidende Punkt dabei ist das Auftauchen einer nützlichen evolutionären Neuheit in der larvalen oder embryonalen Phase des Anzestors – einer Neuheit, die wieder verschwinden kann, nachdem sie das Erwachsenenstadium erreicht hat, die aber später im Erwachsenenstadium des Nachkommen erneut auftaucht und erhalten bleibt. Das folgende Beispiel soll diesen verwikkelten Prozeß verdeutlichen. Reichhaltiges Beweismaterial spricht heute zugunsten der schon 1928 von Garstang vorgebrachten Theorie, daß die Chordatiere – und somit auch wir, die Wirbeltiere – von der larvalen Phase eines primitiven Stachelhäuters abstammen, der vielleicht dem Seeigel oder der Seewalze ähnelte. Freilich scheint die ausgewachsene Seewalze nicht gerade ein Ahne zu sein, für den man sich begeistern könnte – sie ist eine träge Kreatur, die auf dem Meeresgrund liegt und wie eine schlecht gefüllte Wurst mit lederartiger Haut 110

aussieht. Ihre frei schwimmende Larve erscheint jedoch erheblich vielversprechender: im Gegensatz zur ausgewachsenen Seewalze ist die Larve bilateral symmetrisch gebaut wie ein Fisch; sie hat ein Ziliarband – einen Vorläufer des Nervensystems – und einige weitere differenzierte Merkmale, die man beim ausgewachsenen Tier nicht mehr vorfindet. Wir müssen annehmen, daß das ausgewachsene Tier, das seßhaft auf dem Meeresboden ruht, auf die mobilen Larven angewiesen war, um diese Spezies in den Gewässern des Ozeans auszubreiten, ähnlich wie etwa Pflanzen ihre Samen im Wind verstreuen; daß ferner die Larven, die auf sich angewiesen und einem weit stärkeren Selektionsdruck ausgesetzt waren als die ausgewachsenen Tiere, dadurch allmählich immer fischähnlicher wurden; daß sie schließlich die sexuelle Reife erreichten, während sie sich noch in der frei schwimmenden larvalen Phase befanden – und daß sie auf diese Weise eine neue Tierform hervorbrachten, die sich nicht mehr auf dem Meeresgrund niederließ, und die senile, seßhafte Seewalzenphase völlig aus ihrem Lebensablauf eliminierten. Die Beschleunigung der sexuellen Reife im Verhältnis zur Entwicklung des übrigen Körpers oder, anders ausgedrückt, die allmähliche Verzögerung der körperlichen Entwicklung über das Alter der sexuellen Reife hinaus ist ein bekanntes Evolutionsphänomen, das man als Neotenie (Eintritt der Geschlechtsreife im Larvenzustand) bezeichnet. Sie führt im Endeffekt dazu, daß das Tier beginnt, Nachkommenschaft hervorzubringen, während es sich noch im larvalen oder im Jungtierzustand befindet; häufig kommt es dabei vor, daß das ausgereifte Erwachsenenstadium niemals erreicht wird, es wird aus dem Lebenszyklus abgestoßen. Diese Tendenz zu einer verlängerten Kindheit mit der korrespondierenden Abstoßung der späten Erwachsenenstadien stellt so etwas wie eine Verjüngung und Entspezialisierung der betreffenden Tierfamilie dar – einen Ausweg aus der Sackgasse im Irrgarten der Evolution.* * Mr. D. Lang Stevenson möchte ich hier dafür danken, daß er mich auf Garstangs Arbeiten aufmerksam gemacht hat.

J. Z. Young, der Garstangs Ansichten teilt, schreibt: Die Frage, die noch zu klären ist, heißt in Wirklichkeit nicht: »Wie haben sich die Wirbeltiere aus Seescheiden gebildet?«, sondern: »Wie haben die Wirbeltiere das (erwachsene) Seescheidenstadium aus ihrem Lebensablauf eliminiert?« Es ist durchaus berechtigt, anzunehmen, daß das mit Hilfe der Pädomorphose geschah.87 Die Neotenie bedeutet in der Tat so etwas wie ein Neuaufziehen der biologischen Uhr, wenn die Evolution Gefahr läuft, abzulaufen und zum Stillstand zu kommen. Gavin de Beer hat die klassische Auffassung von der Evolution (wie sie sich zum Beispiel in Huxleys Metapher vom Labyrinth ausdrückt) mit der klassischen Theorie vom Universum als einem mechanischen Uhrwerk verglichen. Nach dieser Auffassung würde die Phylogenese sich allmählich verlangsamen und schließlich ganz zum Stillstand kommen. Der betreffende Stamm wäre nicht mehr in der Lage, sich noch weiterzuentwickeln, und würde sich in einem Zustand befinden, den man mit dem Begriff »rassische Seneszenz« bezeichnet. Man könnte unter diesen Umständen nur schwer begreifen, wie die Evolution so viele phylogenetische Entwicklungen im Tierreich hat hervorbringen können, und man müßte zu dem Schluß kommen, daß die Evolutionsuhr langsam abzulaufen beginnt. Ein solcher Stand der Dinge würde uns vor ein Dilemma stellen, das eine gewisse Analogie zu dem Dilemma aufweist, das sich aus der Theorie ergibt, das Universum sei einmal in Gang gesetzt worden, und sein freier Energievorrat 111

gehe nun langsam, aber unwiderruflich zur Neige. Wir wissen nicht, wie im physikalischen Universum der Energievorrat wieder aufgeladen wird, es hat aber den Anschein, als sei der analoge Prozeß dazu im Bereich der organischen Evolution die Pädomorphose. Ein Stamm kann sich verjüngen, indem er das Erwachsenenstadium seiner Individuen vom Ende ihrer Ontogenesen abstößt; danach könnte sich ein solcher Stamm nach allen Richtungen hin strahlenförmig ausbreiten, ... bis schließlich die auf die Gerontomorphose (siehe unten) zurückzuführende rassische Seneszenz erneut einsetzt.88 Durch die »Verjüngung« des Stammes ergibt sich die Möglichkeit, daß die evolutionären Veränderungen auf die frühen, noch formbaren Phasen der Ontogenese einwirken können: daher der Begriff Pädomorphose, »Formung des Jungen«. Im Gegensatz dazu besteht die Gerontomorphose (nach dem griechischen geros = Greisenalter) aus der Modifizierung voll ausgewachsener Strukturen, die bereits stark spezialisiert sind.* * Das Wort »Gerontomorphose« wurde von de Beer geprägt, als Kontrastbegriff zu Garstangs »Pädomorphose«.

Das hört sich wie eine bloß fachtechnische Unterscheidung an, ist aber in Wirklichkeit von entscheidender Bedeutung. Die Gerontomorphose kann nicht zu radikalen Veränderungen und zu einem Neubeginn führen; sie kann nur eine bereits stark spezialisierte Entwicklungsreihe noch einen Schritt weiter in die gleiche Richtung führen – und das bedeutet in der Regel: in eine Sackgasse des evolutionären Labyrinths. Noch einmal sei hier de Beer zitiert: Die Begriffe Gerontomorphose und Pädomorphose bezeichnen also nicht nur die Phase im Lebensablauf eines Tieres, mit der sie sich befassen, sondern sie weisen auch auf die rassische Seneszenz und Verjüngung hin. Es ist interessant, festzustellen, daß Child89 auf Grund von Erwägungen, die auf ganz anderen Gedankengängen beruhen, zu einer ähnlichen Auffassung kam: Wenn die Evolution gewissermaßen aus der säkularen Differenzierung und Seneszenz des Protoplasmas besteht, dann darf man auch die Möglichkeit einer evolutionären Verjüngung nicht übersehen. Möglicherweise läßt sich der relativ rasche Anstieg und Aufstieg bestimmter Formen im Verlauf der Evolution als Ausdruck von Prozessen dieser Art erklären.90

12.3 Anlauf zum Sprung Es hat den Anschein, als habe sich dieses Rückgängigmachen von Schritten, um einen Ausweg aus den Sackgassen des Irrgartens zu finden, an jedem entscheidenden Wendepunkt der Evolution wiederholt. Die Evolution von Wirbeltieren aus der larvalen Form eines primitiven Stachelhäuters wurde bereits erwähnt. Die Insekten haben sich aller Wahrscheinlichkeit nach aus einem tausendfüßlerähnlichen Anzestor entwickelt – allerdings nicht aus erwachsenen Tausendfüßlern, deren Struktur bereits allzu stark spezialisiert ist, sondern aus ihren larvalen Formen. Die Eroberung des trockenen Festlandes wurde durch Amphibien eingeleitet, deren Anzestoren bis auf eine ganz primitive Form der Lungenfische zurückgehen; dagegen endete die Entwicklung der späteren, hochspezialisierten Kiemfische durchwegs in Sackgassen. Die gleiche Geschichte wiederholte sich bei der nächsten entscheidenden Etappe, bei den Reptilien: sie leiten sich von frühen, primitiven Amphibienarten ab und nicht von den späten, uns bekannten Formen.

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Schließlich kommen wir zum eindrucksvollsten Fall von Pädomorphose, zur Evolution unserer eigenen Spezies. Es wird heute allgemein anerkannt, daß der erwachsene Mensch mehr dem Embryo eines Affen ähnelt als einem ausgewachsenen Affen. Sowohl beim Embryo des Menschenaffen als auch beim erwachsenen Menschen ist das Gewichtsverhältnis vom Gehirn zum Gesamtkörper unverhältnismäßig hoch. Bei beiden verzögert sich die Schließung der Suturen zwischen den Schädelknochen, um eine Ausdehnung des Gehirns zu ermöglichen. Die Achse durch den menschlichen Kopf – das heißt die Richtung seiner Sehlinie – steht im rechten Winkel zu seiner Wirbelsäule, eine Anordnung, die man bei Affen und anderen Säugetieren nur im Embryonalzustand vorfindet, nicht jedoch im Erwachsenenstadium. Das gleiche gilt auch für den Winkel zwischen dem Rückgrat und dem Urogenitalkanal – woraus sich erklärt, daß der Mensch als einziges Wesen den Geschlechtsverkehr von Angesicht zu Angesicht vollzieht. Weitere embryonale – oder, um Bolks Ausdruck zu gebrauchen, fötale Merkmale beim erwachsenen Menschen sind: das Fehlen von Augenbrauenwülsten; die Spärlichkeit und das späte Auftreten der Körperbehaarung; die Blässe der Haut; das verzögerte Wachstum der Zähne sowie eine Reihe weiterer Merkmale – darunter auch »die rosigen Lippen des Menschen, die sich vermutlich als Adaptation an das prolongierte Säugen entwickelt haben und dann – möglicherweise unter dem Einfluß der geschlechtlichen Selektion – im Erwachsenenzustand erhalten geblieben sind« (d de Beer).91 »Wenn die Evolution des Menschen sich nach den gleichen Prinzipien fortsetzen sollte wie in der Vergangenheit«, sagt J. B. S. Haldane, »dann wird sie vermutlich zu einer noch weitgehenderen Prolongation der Kindheit und zu einer weiteren Verzögerung des Reifungsprozesses führen. Einige der Eigenschaften, die den erwachsenen Menschen auszeichnen, werden dann wohl verlorengehen.«92 Es gibt dabei allerdings auch eine Kehrseite der Medaille, auf die Aldous Huxley in einem seiner späteren pessimistischen Romane hingewiesen hat: die künstliche Verlängerung der absoluten Lebensspanne des Menschen könnte dazu führen, daß Merkmale der ausgewachsenen Primaten bei sehr alten Leuten wiederauftauchen: Methusalem würde sich in einen behaarten Affen verwandeln.* Diese gespenstische Perspektive ist jedoch für unser Thema nicht relevant. * Huxley, NACH VIELEN SOMMERN: »Manche physischen Merkmale bei sehr alten Leuten scheinen darauf hinzudeuten, daß die Gene, die eine solche Transformation bewirken konnten, in unseren Keimdrüsen immer noch existieren, daß sie aber durch die Neotenie daran gehindert sind, aktiv zu sein. Daraus muß man schließen, daß die Verlängerung der menschlichen Lebensspanne nur dann wünschenswert ist, wenn sie gleichzeitig von Techniken begleitet wird, die einen parallelen Einfluß auf die genetische Kontrolluhr ausüben.«

Das charakteristische an der Pädomorphose ist das Zurückweichen der Evolution von den spezialisierten Erwachsenenformen der Körperstruktur und des Verhaltensmodus auf eine frühere, primitivere, zugleich aber auch formbarere und weniger festgelegte Entwicklungsphase – ein Rückzug, auf den dann ein plötzlicher Vorstoß in einer neuen Richtung folgt. Es ist, als hätte der Lebensstrom zeitweilig seine Richtung umgekehrt und sei bergauf geflossen, um sich dann in ein neues Flußbett zu ergießen. Ich werde versuchen, zu zeigen, daß dieses reculer pour mieux sauter – ein Zurückweichen, um Anlauf zum Sprung zu nehmen – eine entscheidende Rolle in der Strategie des Evolutionsprozesses spielt; und daß ähnliche Erscheinungen auch bei den Fortschritten im Bereich der Kunst und der Wissenschaft vorkommen. Abbildung 9 stammt aus Garstangs Originalabhandlung93 und soll den Fortschritt der Evolution auf Grund der Pädomorphose verdeutlichen. Z bis Z 9 stellt die Progression von Zygoten (befruchteten Eiern) entlang der Evolutionsleiter dar; A bis A 9 gibt die Erwachsenenformen wieder, die aus jeder Zygote hervorgehen. So stellt die Linie, die von Z 4 nach A 4 führt, die Ontogenese dar, die Transformation eines Eies in ein erwachsenes Geschöpf; die punktierte Linie von A nach A 9 repräsentiert die Phylogenese – die Evolution von höheren Formen. Aber die dünnen Linien, die den evolutionären Fortschritt kennzeichnen, führen nicht direkt von, sagen wir, A 4 nach A 5 – das wäre 113

eine Gerontomorphose, die evolutionäre Transformation einer Erwachsenen-Form. Die Progressionslinie zweigt vom unfertigen, embryonalen Stadium A 4 ab. Das stellt eine Art evolutionären Rückzugs von dem fertigen auf den unfertigen Zustand dar und einen Vorstoß in Richtung auf die evolutionäre Neuheit Z 5 – A 5. A 4 könnte zum Beispiel eine ausgewachsene Seewalze sein: dann wäre der Abzweigungspunkt auf der Linie A 4 – Z 4 ihre Larve; oder aber A 8 könnte der Primatenanzestor des Menschen sein und der Abzweigungspunkt sein Embryo, der so viel stärker A 9 ähnelt – uns selbst.

Abbildung 9: (Nach Garstang); siehe Text.

Garstangs Diagramm könnte aber auch einen fundamentalen Aspekt in der Evolution von Ideen darstellen. Das Auftauchen von biologischen Neuheiten und die Schöpfung von geistigen Neuheiten sind Prozesse, die gewisse Analogien aufweisen. Es ist natürlich eine Binsenwahrheit, daß bei der geistigen Evolution das soziale Erbgut (mündlich oder schriftlich) an die Stelle des genetischen Erbguts tritt. Die Analogie ist jedoch tiefergreifend: weder die biologische Evolution noch der geistige Fortschritt folgen einer kontinuierlichen Linie, etwa von A 6 nach A 7. Keiner der beiden Prozesse ist im strengen Wortsinn kumulativ – in dem Sinn nämlich, daß eine Generation dort weiterbaut, wo die vorige Generation aufgehört hat. Beide Prozesse vollziehen sich in dem im Diagramm gezeigten Zickzackkurs. Die revolutionären Umwälzungen in der Geschichte der Wissenschaft sind erfolgreiche Ausbrüche aus Sackgassen. Kontinuierlich verläuft die Evolution der Wissenschaft nur während der Perioden der Konsolidierung und Ausarbeitung, die stets auf einen größeren Durchbruch folgen. Früher oder später führt jedoch die Konsolidierung in zunehmende Starrheit und Orthodoxie und damit in die Sackgasse der Überspezialisierung, zum Koalabären. Schließlich kommt es zu einer Krise und zu einem neuen »Ausbruch« aus der Sackgasse – gefolgt von einer weiteren Periode der Konsolidierung und einer neuen Orthodoxie; und so fort. Aber die neue Theorie, die aus der Umwälzung hervorgeht, baut sich nicht auf dem alten Lehrgebäude auf; sie zweigt von demjenigen Punkt ab, an dem es mit ihrem Vorläu114

fer schiefging. Die großen revolutionären Wendepunkte in der Evolution der Ideen lassen einen entschieden pädomorphen Charakter erkennen. Jede Zygote im Diagramm würde in diesem Fall die schöpferische Keimidee darstellen, den Samen, aus dem sich eine neue Theorie entwickelt, bis sie ihr voll ausgereiftes Stadium erreicht hat. Man könnte diesen Vorgang als die Ontogenese einer Theorie bezeichnen. Die Geschichte der Wissenschaft besteht aus einer Reihe derartiger Ontogenesen. Echte Neuerungen leiten sich nicht unmittelbar aus einer vorausgegangenen ausgereiften Theorie ab, sondern aus einer neuen schöpferischen Keimidee – nicht vom seßhaften Seeigel, sondern aus einer mobilen Larve. Nur in den friedlichen Perioden der Konsolidierung begegnen wir der Gerontomorphose – kleinen Verbesserungen an einer voll ausgereiften, wohletablierten Theorie. In der Geschichte der Literatur und der Kunst tritt der Zickzackkurs noch augenfälliger in Erscheinung. Garstangs Diagramm hätte auch entworfen sein können, um zu zeigen, wie Perioden kumulativer Progression innerhalb einer bestimmten Schule und Technik unvermeidlich in Stagnation, Manierismus oder Dekadenz enden, bis die Krise schließlich durch eine revolutionäre Neuorientierung des Empfindens, der Emphase oder des Stils wieder behoben wird.* * Siehe THE ACT OF CREATION, Buch I, Kapitel 10 und 23.

Auf den ersten Blick mag diese Analogie etwas weit hergeholt erscheinen; ich werde versuchen zu zeigen, daß sie eine solide faktische Basis hat. Die biologische Evolution ist weitgehend eine Geschichte von Ausbrüchen aus den Sackgassen der Überspezialisierung, die Evolution von Ideen eine Folge von Ausbrüchen aus der Versklavung durch Denkgewohnheiten; der Mechanismus basiert in beiden Fällen auf dem Prinzip von Abbau, Neuformung, Rückzug und Vorstoß.

12.4 Zusammenfassung Nach diesem antizipatorischen Exkurs wollen wir zum letztenmal zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren: zum Affen an der Schreibmaschine. Nach der orthodoxen Evolutionstheorie müßte der Affe nach dem Prinzip des Zufalltreffens operieren, ebenso wie die geistige Evolution – nach behavioristischer Doktrin – von günstigen Zufällen abhängt. In beiden Fällen wird der Fortschritt durch Belohnungen und Strafen sichergestellt: die erfolgreichen Mutationen und Manipulationen werden festgehalten, die mißlungenen ausgemerzt. Die hier vorgeschlagene Alternativauffassung leugnet keinesfalls, daß das Prinzip von Versuch und Irrtum ein inhärenter Faktor in jeder progressiven Entwicklung ist. Aber es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen den Zufallsversuchen des Affen an der Schreibmaschine und den verschiedenen zielgerichteten Prozessen, die in den vorausgehenden Kapiteln dargelegt wurden – beginnend mit den hierarchischen Kontrollen im Genkomplex und kulminierend in dem »Rückzug und Vorstoß« der Pädomorphose. Die orthodoxe Theorie postuliert eine Art tibetanischer Gebetsmühle, die so lange Mutationsversuche herunterleiert, bis sie durch Zufall das Richtige trifft. Versuch und Irrtum spielen in der Evolution zweifellos eine wesentliche Rolle – jeder Ausweg aus der Sackgasse, dem ein neuer Ausbruch folgt, entspricht ja diesem Prinzip –, aber auf eine ungleich komplexere, subtilere und zielgerichtetere Art: es geht um ein Tasten und Erkunden, ein Zurückweichen und Vorrücken auf höhere Daseinsformen zu. Um H. J. Muller nochmals zu zitieren: Zielstrebigkeit ist nicht etwas, was in die Natur hineinprojiziert wurde ... Sie ist in ihr einfach implizite enthalten.94 Jedes der in den vorangehenden Kapiteln erwähnten Phänomene ist an sich seit einiger Zeit bekannt gewesen, aber von den Anhängern der orthodoxen Evolutionstheorie über115

wiegend ignoriert worden. Faßt man jedoch diese isolierten Phänomene zu einer Synthese zusammen, dann lassen sie das Evolutionsproblem in einem neuen Licht erscheinen. Es mag einen Affen geben, der auf der Schreibmaschine draufloshämmert, aber diese Maschine ist so organisiert, daß sie über den Affen triumphiert. Die Evolution ist ein Prozeß, der sich nach festen Spielregeln vollzieht, aber mit Hilfe flexibler Strategien. Die Spielregeln sind durch die Lebensverhältnisse auf unserem Planeten bedingt, sie beschränken die Höherentwicklung auf eine begrenzte Anzahl von gangbaren Wegen; gleichzeitig strebt jedoch die gesamte lebendige Materie nach der optimalen Nutzbarmachung der gebotenen Möglichkeiten. Das Wirken dieser beiden Faktoren manifestiert sich auf jedem Niveau: in der Mikrohierarchie des Genkomplexes, der Kanalisierung bei der embryonalen Entwicklung und ihrer Stabilisierung durch die ontogenetische Homeostase. Homologe Organe – evolutionäre Holons – und parallele Tierformen entstehen unabhängig voneinander und stellen die archetypische Einheit-in-der-Vielfalt dar. Die Initiative des Tieres, seine Neugier, sein Exploriertrieb wirken als Schrittmacher der Entwicklung; in seltenen Fällen mag sie auch durch einen Quasi-Larmarckschen Vererbungsmechanismus begünstigt werden; die Pädomorphose bietet einen Ausweg aus Sackgassen und eröffnet neue Entwicklungsbahnen; und schließlich wirkt auch die Darwinsche Selektion innerhalb ihres begrenzten Spielraums. Die günstige Zufallsmutation spielt jetzt nur noch die Rolle des Auslösers, der die koordinierte Tätigkeit des Systems in Gang setzt; und wer behauptet, die Evolution sei das Produkt blinder Zufälle, der verwechselt die simple Aktion des Auslösers mit den komplexen, zielgerichteten Prozessen, die er auslöst. Ihr Zielgerichtetsein manifestiert sich auf verschiedenen Stufen der Hierarchie in verschiedener Weise; auf jeder Stufe ist das Prinzip von Versuch und Irrtum wirksam, nimmt aber immer komplexere Formen an. Vor einigen Jahren verursachten zwei hervorragende Experimentalpsychologen, Tolman und Krechevsky, einigen Aufruhr, als sie verkündeten, die Ratte lerne aus dem Labyrinth herauszukommen, indem sie bestimmte Hypothesen aufstelle.95 Vielleicht wird es bald statthaft sein, auf analoge Art zu sagen, der Fortschritt der Evolution sei bedingt durch das Aufstellen und Verwerfen von Hypothesen im Verlauf der schrittweisen Konkretisierung einer Idee.

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Der Mensch als Schöpfer Wir alle liegen in der Gosse, aber einige von uns blicken nach den Sternen. Oscar Wilde

Die Aktivitäten von Tieren und Menschen reichen von maschinenhaften Automatismen bis zur erfinderischen Improvisation.* Eine monotone Umwelt führt zur Mechanisierung von Gewohnheiten und zur stereotypen Routine, die, unter den gleichen einförmigen Bedingungen wiederholt, dem gleichen einförmigen Kurs folgen. Der Pedant, der zum Sklaven seiner Gewohnheiten geworden ist, denkt und handelt wie ein auf Schienen montierter Automat, sein biologisches Äquivalent ist das überspezialisierte Tier – der gute Beutelbär, der sich an seinen Eukalyptusbaum klammert. * Siehe Kapitel 8.

Anderseits stellt uns eine abwechslungsreiche, variable Umwelt vor Aufgaben, die sich nur durch flexibles Verhalten, variable Taktiken und einen wachen Sinn für die Ausnutzung günstiger Mögltchkeiten bewältigen lassen. Die biologische Parallele dazu stellen die evolutionären Strategien dar, die wir in den vorausgehenden Kapiteln erörtert haben. Die Herausforderung durch die Umwelt kann jedoch eine kritische Grenze überschreiten, so daß sie mit den üblichen Fertigkeiten des Organismus nicht mehr zu bewältigen ist. In einer derartigen Krise – sowohl die biologische Evolution als auch die Geschichte des Menschen sind durchsetzt von solchen – kann eine der beiden folgenden Möglichkeiten eintreten. Die erste ist degenerativ: sie führt je nach Lage der Dinge zu Stagnation, zu biologischer Seneszenz oder zum plötzlichen Aussterben. Im Verlauf der Evolution hat sich das endlos wiederholt; auf jede überlebende Spezies kommen hundert andere, die den Test nicht bestanden haben. In Teil III dieses Buches werden wir die Möglichkeit erörtern, daß unsere eigene Spezies sich gegenwärtig in einer solchen Krise befindet und der unmittelbaren Gefahr ausgesetzt ist, den Test nicht zu bestehen. Die Alternativmöglichkeit, auf eine kritische Situation zu reagieren, ist regenerativ im weitesten Sinne des Wortes: sie bedingt eine umfassende Reorganisation der Struktur und des Verhaltens, die nicht nur die Krise bewältigt, sondern darüber hinaus zu biologischem oder geistigem Fortschritt führt. In beiden Fällen dient das Prinzip vom »Rückzug und Vorstoß« als Grundlage des Regenerationsprozesses, der schöpferische Potentiale, die in der normalen Daseinsroutine ungenutzt bleiben, aktiviert. Bei der Phylogenese sind alle größeren Fortschritte auf die Aktivierung des embryonalen Potentials durch die Pädomorphose zurückzuführen. Bei der geistigen Evolution scheint sich an jedem entscheidenden Wendepunkt ein analoger Prozeß abzuspielen. Das Bindeglied zwischen dem Auftauchen biologischer Neuheiten und dem geistiger Neuheiten ist die Fähigkeit der Selbsterneuerung, eine der Grundeigenschaften der lebendigen Organismen. Sie ist von ebenso fundamentaler Bedeutung wie die Fähigkeit zur Fortpflanzung; bei einigen niederen Organismen, die sich ungeschlechtlich vermehren, sind die beiden häufig überhaupt nicht voneinander zu unterscheiden.

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13.1 Formen der Selbsterneuerung Um diesen Zusammenhang zu verstehen, muß man schrittweise vorgehen, von den primitiven zu den höheren Tieren und schließlich zum Menschen. Needham bezeichnete die Regeneration als »einen der spektakulären Zaubertricks im Repertoire der lebendigen Organismen«.96 Seine eindrucksvollsten Manifestationen findet man bei den niederen Kreaturen wie Plattwürmern und Polypen. Schneidet man einen Plattwurm quer in zwei Teile durch, dann wächst am Kopfende ein neuer Schwanzteil nach und am Schwanzende ein neuer Kopf; selbst wenn man ihn in sechs oder mehr Teile zerschneidet, kann sich jeder einzelne Wurmteil zu einem vollständigen Tier regenerieren. Bei den höheren Tieren sind die Amphibien imstande, ein verlorenes Glied oder Organ zu regenerieren. Amputiert man einem Salamander ein Bein, dann entdifferenzieren sich die Gewebe in der Nähe der Wundoberfläche und nehmen das Aussehen von embryonalen Zellen an.97 Etwa am vierten Tag bildet sich ein Blastem beziehungsweise eine »Regenerationsknospe«, ähnlich der »Organknospe« beim normalen Embryo; von da an vollzieht sich der Prozeß weitgehend nach dem Muster der embryonalen Entwicklung. Die Region des Amputationsstumpfes hat sich zu einer Art Embryonalzustand zurückentwickelt und entfaltet ein genetisches Wachstumspotential, das bei normalen Geweben im Erwachsenenzustand blockiert ist.* * Genaugenommen ist der Ursprung der Materie, die das Blastem bildet, noch etwas umstritten. Nach 98 Hamburger besteht sie teils aus entdifferenzierten Zellen, teils aus undifferenzierten, mesenchymartigen Bindegewebszellen, die eine ähnliche Funktion erfüllen wie die »Reserve«- beziehungsweise »Regenerationszellen« bei primitiven Organismen.

Ich habe (siehe Seite 83) den Genkomplex in einer spezialisierten Zelle mit einem Piano verglichen, bei dem die meisten Tasten mit einem Klebestreifen unbrauchbar gemacht sind; regenerierende Gewebe haben jedoch die gesamte Tastatur zur Verfügung. Der »Zauber« der Selbsterneuerung besteht also aus einer regressiven (katabolischen) und einer progressiven (anabolischen) Phase; also wieder »Rückzug und Vorstoß«. »Das Trauma spielt bei der Regeneration eine ähnliche Rolle wie die Befruchtung bei der embryonalen Entwicklung« (H Hamburger):99 der Schock löst die schöpferische Reaktion aus. Die Neubildung eines verlorenen Gliedes oder eines verlorenen Auges ist ein Phänomen ganz anderer Art als die adaptiven Prozesse in einer normalen Umwelt. Man könnte die Regeneration als »Meta-Adaption« auf ein traumatisches Erlebnis bezeichnen. Aber die Gabe, dergleichen Kunststücke auszuführen, manifestiert sich nur in kritischen Situationen. Die Fähigkeit zur Regeneration ist also für die Spezies eine Art zusätzlicher Sicherheitsvorsorge, die erst in Aktion tritt, wenn die normalen adaptiven Maßnahmen versagen – so wie die hydraulischen Stoßdämpfer eines Autos erst in Aktion treten, wenn das Elastizitätslimit der Federung überschritten wird. Es handelt sich jedoch um mehr als eine bloße Sicherheitsanlage: wir haben ja gesehen, daß auch die Phylogenese mit Hilfe gelegentlicher Rückzüge vom Erwachsenenstadium auf embryonale Formen operiert. Die Entwicklung, die zu unserer Spezies geführt hat, könnte man in der Tat als eine Reihe von Operationen phylogenetischer Selbsterneuerung bezeichnen: jede stellte eine Rettung aus einer Sackgasse dar durch Abbau und Neuformung alter Strukturen.* * Offensichtlich bringt die Selbsterneuerung beim einzelnen Tier keine evolutionäre Neuheit hervor; sie stellt nur seine Fähigkeit wieder her, in einer stabilen Umwelt normal zu funktionieren; dagegen impliziert die »phylogenetische Selbsterneuerung« evolutionäre Anpassungen an eine sich verändernde Umwelt.

Steigen wir die Evolutionsleiter höher hinauf, vom Reptil zum Säugetier, so stellen wir fest, daß die Fähigkeit zur Regeneration körperlicher Strukturen abnimmt und ersetzt 118

wird durch die zunehmende Fähigkeit des Nervensystems, das Verhalten zu reorganisieren. Vor mehr als einem Jahrhundert hat der deutsche Physiologe Eduard Pflüger demonstriert, daß selbst ein geköpfter Frosch nicht bloß ein Reflexautomat ist. Ließ man einen Säuretropfen auf die Rückseite seines linken Vorderbeins fallen, dann wischte er ihn mit dem auf derselben Seite befindlichen Hinterbein weg – das ist der normale Spinalreflex. Immobilisierte man jedoch das linke Hinterbein, dann benutzte der Frosch statt dessen das rechte Hinterbein, um die Säure wegzuwischen. So erweist sich selbst die »kopflose« Kreatur – man bezeichnet sie euphemistisch als »Spinalpräparat« – als durchaus fähig zur Improvisation, wenn sie an der Reflexaktion gehindert wird. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts untergruben die Experimente K. S. Lashleys und seiner Mitarbeiter die alte Vorstellung, das Nervensystem sei ein starrer Mechanismus. »Die Ergebnisse«, schrieb Lashley, »zeigen deutlich: wird die Funktionsweise der bei der Ausübung einer Fertigkeit gewöhnlich benutzten motorischen Organe durch Entfernung oder Paralyse blockiert, so treten sofort und spontan andere motorische Systeme in Aktion, die vorher mit der Ausführung der betreffenden Tätigkeit nichts zu tun hatten.«100 Der Frosch, der beim Kratzreflex das rechte statt des linken Hinterbeins benutzte, ist dafür ein gutes Beispiel; Lashley zeigte, daß das Nervensystem noch zu viel überraschenderen Leistungen fähig ist; daß Partien des Gehirngewebes, die normalerweise eine spezielle Funktion haben, unter gewissen Umständen die Funktion anderer, beschädigter Partien des Gehirngewebes übernehmen können – ähnlich wie in einem Bienenstock die Nahrungssucher die Funktionen der aus dem Stock entfernten »Bauarbeiter« übernehmen (siehe Seite 74 unten ff). Ich will hier nur eines von vielen Beispielen anführen: Lashley trainierte Ratten, zwischen zwei Alternativzielen stets das relativ hellere Ziel zu wählen. Dann entfernte er das Sehfeld der Ratten, und wie zu vermuten war, ging ihr optisches Unterscheidungsvermögen verloren. Aber im Gegensatz zu dem, was man erwarten würde, waren die verstümmelten Ratten trotzdem in der Lage, die gleiche Fertigkeit noch einmal zu erwerben. Eine andere Gehirnregion, die normalerweise nicht auf visuelle Lernvorgänge spezialisiert war, muß die Funktion der entfernten Gehirnregion übernommen haben. Eine Ratte, die gelernt hatte, den Weg durch ein Labyrinth zu finden, wird auch dann dem richtigen Weg folgen, wenn Teile ihrer motorischen Hirnrinde – gleichviel, welche Teile – beschädigt sind; wenn die Läsion sie unfähig macht, eine Rechtswendung auszuführen, dann erreicht sie ihr Ziel durch eine Dreiviertelwendung nach links. Die Ratte kann blind, ihres Geruchsinns beraubt oder auf verschiedene Weise teilgelähmt sein – jede dieser Schädigungen müßte den Kettenreflexautomaten, der sie angeblich sein soll, völlig außer Betrieb setzen; sie ist es aber nicht! »Eine schleppt sich mit ihren Vorderpfoten (durch das Labyrinth) hindurch; eine andere fällt bei jedem Schritt hin, und doch kommt sie schließlich mit Hilfe einer Reihe von Sprüngen durch; eine dritte überschlägt sich bei jeder Wendung, aber sie vermeidet es, in die Sackgassen hineinzurollen, und absolviert einen fehlerlosen Lauf.«101

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13.2 Höhere Formen der Selbsterneuerung An der Spitze der Leiter angelangt, müssen wir feststellen, daß beim Menschen die Fähigkeit zur physischen Regeneration auf ein Minimum reduziert ist, aber dieser Mangel wird kompensiert durch seine einzigartige Fähigkeit zur Umstrukturierung seiner Verhaltensweisen, um kritische Situationen durch schöpferische Reaktionen zu meistern. Selbst auf dem Niveau der elementaren Wahrnehmung finden wir diese Fähigkeit bestätigt: in dem Experiment mit der Umkehrbrille, die die Welt auf den Kopf stellt (siehe Seite 56). Experimente ähnlicher Art hat man auch mit Tieren durchgeführt; sie überwinden diese »Milieustörung« nie. Menschen mit Umkehrbrillen dagegen kommen darüber hinweg. Zunächst ist man völlig verwirrt: man erblickt den eigenen Körper auf den Kopf gestellt, die Füße haften an einem Fußboden, der zur Decke des Raumes geworden ist. Bei Gläsern mit seitlicher Umkehrwirkung versucht man, sich von einer Mauer zu entfernen – und stößt prompt in sie hinein. Nach einiger Zeit – es kann mehrere Tage dauern – gewöhnt sich jedoch der Mensch daran, in der verkehrten Welt zu leben, und sie erscheint ihm wieder mehr oder minder normal. Das Netzhautbild und seine Projektion in der optischen Hirnrinde sind zwar immer noch auf den Kopf gestellt, aber dank der Intervention der höheren Instanzen in der Hierarchie ist das geistige Vorstellungsbild reorganisiert worden. Nach dem augenblicklichen Stand unseres Wissens kann die Physiologie keine zufriedenstellende Erklärung für dieses Phänomen geben. Alles, was man sagen kann, ist: Wenn die Orientierung und die motorischen Reaktionen auf optische Wahrnehmungen von den Schaltanlagen in unserem Gehirn abhängig sind, dann muß das Leben in einer umgekehrten Welt einen gründlichen Abbau und Neuaufbau der Stromkreise erfordern. Umkehrbrillen sind Apparate mit drastischer Wirkung; aber die meisten von uns gehen durch das Leben mit Kontaktlinsen auf den Augen, deren wir uns nicht bewußt sind und die unsere Wahrnehmungen auf subtilere Weisen verfälschen. Die Psychotherapie alter und neuer Schule, vom Schamanismus angefangen bis zu den zeitgenössischen Methoden der analytischen und der Abreagierungstechniken, hat sich immer auf jene Spielart des Abbau-und-Neuaufbau-Prozesses gestützt, die Ernst Kris als »Regression im Dienste des Ichs« bezeichnet hat.102 Der Neurotiker mit seinen Zwangsvorstellungen, seinen Phobien und seinen komplizierten Abwehrmechanismen ist ein Opfer einer starren Spezialisierung – ein armer Beutelbär, der sich angsterfüllt an einen kahlen Telegraphenmast klammert. Ziel des Therapeuten ist, im Patienten eine zeitliche Regression herbeizuführen: er soll seine Schritte bis zu jenem Punkt rückgängig machen, an welchem er in die Irre ging, und danach verwandelt und neugeboren in die Zukunft schreiten. Das gleiche Prinzip spiegelt sich in zahlreichen Varianten des Tod- und AuferstehungsMotivs in der Mythologie wider. Joseph wird in einen Brunnen geworfen; Mohammed geht hinaus in die Wüste; Jesus steht aus seinem Grabe auf; Jonas wird aus dem Bauch des Walfisches wiedergeboren. Goethes »Stirb und Werde«, Toynbees »Withdrawal and Return«, des Mystikers dunkle Nacht der Seele, die der spirituellen Wiedergeburt vorausgeht: sie alle leiten sich aus dem gleichen Archetypus ab – aus dem Schritt zurück, um Anlauf zum Sprung zu nehmen. (Das französische reculer pour mieux sauter drückt es eleganter aus.)

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13.3 Selbstheilung und Selbstverwirklichung Es gibt keine scharfe Trennungslinie zwischen Selbstheilung und Selbstverwirklichung. Jede schöpferische Tätigkeit ist eine Art Do-it-yourself-Therapie, ein Versuch, mit traumatisierenden Erfahrungen fertig zu werden. Beim Wissenschaftler mag das Trauma durch neue Beobachtungsfaktoren verursacht werden, die seine Theorien Lügen strafen, durch Beobachtungen, die einander zu widersprechen scheinen, durch Probleme, die nicht mit den herkömmlichen Methoden lösbar sind. Der Künstler seinerseits steht vor der Aufgabe, Erlebnisse und Empfindungen darzustellen, die sich ob ihrer Intensität oder Neuartigkeit mittels traditioneller Techniken nicht darstellen lassen – er soll das Unaussprechliche zum Ereignis machen. An dieser Stelle können wir den Faden aus dem vorausgegangenen Kapitel wieder aufnehmen: die entscheidenden Durchbrüche in Wissenschaft, Kunst und Philosophie sind jeder eine geglückte Flucht aus der Sackgasse, aus der Verknechtung durch die Gewohnheit, aus Orthodoxie und Überspezialisierung. Die Rettung erfolgt nach der gleichen Methode des Abbaus und der Neuformierung wie bei der biologischen Evolution; und der Zickzackkurs des Fortschritts in Kunst und Wissenschaft spiegelt das Zickzack der Phylogenese in Garstangs Diagramm (siehe S. 114, Abb. 9) wider. Jede Revolution hat einen destruktiven und einen konstruktiven Aspekt. Die Destruktion wird dadurch bewirkt, daß scheinbar unangreifbare Doktrinen und anscheinend selbstverständliche Denkaxiome über Bord geworfen werden. Der Fortschritt der Wissenschaft ist wie ein uralter Wüstenpfad übersät mit ausgebleichten Skeletten verworfener Theorien, die einmal unsterbliches Leben zu besitzen schienen. Der Fortschritt in der Kunst erfordert ebenso peinliche Umwertungen von Werten, Relevanzkriterien, Wahrnehmungssystemen und Ausdrucksmethoden. Wenn wir die Evolution von Kunst und Wissenschaft vom Standpunkt des Historikers aus erörtern, dann erscheinen Abbau und Neuformierung als normale, unvermeidliche Episoden der Entwicklung. Wenn wir jedoch das konkrete Individuum ins Auge fassen, das die revolutionäre Umwälzung in die Wege geleitet hat, dann stehen wir den psychologischen Problemen vom Wesen der menschlichen Kreativität gegenüber. Ich habe dieses Problem ausführlich in einem früheren Buch behandelt, aber es ist so eng mit unserem Thema verknüpft, daß ich noch einmal kurz darauf zurückkommen muß. Lesern, die das frühere Buch kennen, mögen einige Passagen dieses Kapitels vertraut vorkommen; sie werden aber auch finden, daß es die Erörterung um noch einen Schritt weiterführt. Ein rascher Blick auf die Entwicklung der Astronomie soll das »Zickzackmuster« verdeutlichen. Newton hat einmal gesagt, wenn er weiter sehen könne als andere, so verdanke er das der Tatsache, daß er auf den Schultern von Giganten stehe. Aber stand er wirklich auf ihren Schultern – oder auf einem anderen Teil ihrer Anatomie? Er übernahm Galileis Fallgesetze, aber er verwarf Galileis Astronomie. Er übernahm Keplers Gesetze der Planetenbewegungen, aber er verwarf den Rest der Keplerschen Theorien. Er wählte als seinen Ausgangspunkt nicht die kompletten, ausgewachsenen Theorien, sondern ging zurück bis zu dem Punkt, an dem sie in die Sackgasse gefahren waren. Auch das Keplersche Theoriegebäude baute sich nicht auf dem des Kopernikus auf. Die baufällige Struktur der Epizyklen riß er ein – er behielt nur die Fundamente bei. Aber auch Kopernikus hatte nicht dort angesetzt, wo Ptolemäus aufgehört hatte. Er ging zweitausend Jahre zurück bis auf Aristarchos von Samos. Alle großen Revolutionen zeigen, wie bereits erwähnt, diesen bemerkenswert »pädomorphen« Charakter. Sie erfordern ebensoviel Abbau und Zerstörung wie Neuordnung und Neuformierung.

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Aber um eine durch Dogma und Tradition sanktionierte Denkweise über Bord zu werfen, muß man die Kraft haben, sehr starke intellektuelle und emotionale Hemmungen zu überwinden. Ich meine damit nicht nur den Widerstand der Orthodoxie; das primäre Widerstandsnest gegen häretische Neuerungen befindet sich im Schädel des Individuums, das sie kreiert. Als Kepler entdeckt hatte, daß die Planeten sich nicht in kreisförmigen, sondern in elliptischen Bahnen bewegen, rief er voll Angst: »Wer bin ich, Johannes Kepler, daß ich die göttliche Symmetrie der kreisförmigen Umlaufbahn zerstören soll!« Das Umlernen ist schwieriger als das Lernen; und es scheint, als könnte die Aufgabe, starre Denkstrukturen zu zertrümmern und sie zu einer neuen Synthese zusammenzufügen, in der Regel nicht im vollen Tageslicht des bewußten, rationalen Verstandes bewältigt werden. Es bedarf dazu eines Rückzugs auf jene weniger starren und spezialisierten Denkformen, die normalerweise in den Dämmerzonen des Bewußtseins operieren.

13.4 Die Wissenschaft und das Unbewußte Nach einem weitverbreiteten Irrglauben machen Wissenschaftler ihre Entdeckungen mit Hilfe streng rationaler, präziser und artikulierter Denkvorgänge. Die Beobachtung zeigt, daß sie nichts dergleichen tun.* * Siehe THE ACT OF CREATION, Buch I, Kapitel 5 bis 11.

Im Jahre 1945 führte Jacques Hadmard unter den führenden Mathematikern Amerikas eine Umfrage durch, um ihre Arbeitsmethoden zu ergründen. Das Ergebnis der Umfrage zeigte, daß – mit nur zwei Ausnahmen – alle von ihnen weder in verbalen Begriffen noch in algebraischen Symbolen dachten, sondern daß sie sich auf vage, verschwommene Vorstellungsbilder visueller Natur stützten. Auch Einstein beantwortete den Fragebogen; er schrieb: Die Wörter unserer Sprache, wie sie geschrieben oder gesprochen werden, scheinen in meinem Denkmechanismus keine Rolle zu spielen; die physikalischen Einheiten, die offensichtlich als Denkelemente fungieren, sind bestimmte Zeichen oder mehr oder minder klare Bilder, die »willkürlich« reproduziert und auch kombiniert werden können ... Die ganz oben genannten Elemente sind in jedem Fall visueller Natur, einige auch motorischer. Es will mir scheinen, als sei das, was Sie als volles Bewußtsein bezeichnen, ein Grenzfall, der nie völlig erreicht werden kann, denn die Bewußtheit ist nur ein schmaler Steg.103 Einsteins Aussage ist typisch. Nach dem Zeugnis der schöpferischen Denker, die sich der Mühe unterzogen haben, ihre Arbeitsmethoden schriftlich festzuhalten, spielt im allgemeinen nicht nur das verbale Denken, sondern auch das bewußte Denken in der kurzen, entscheidenden Phase des Schöpfungsaktes nur eine untergeordnete Rolle. Ihre praktisch einstimmige Betonung spontaner Intuitionen unbewußten Ursprungs, die sie nicht erklären können, deutet darauf hin, daß die Rolle des streng rationalen, sprachlich artikulierten Denkens stark überschätzt worden ist. In den schöpferischen Prozeß sind stets auch irrationale Episoden eingebettet, und das gilt nicht nur für den Bereich der Kunst (wo uns das nicht erstaunt), sondern auch für den Bereicb der exakten Wissenschaften. Der Wissenschaftler, der hartnäckig mit einem Problem ringt und dabei vom präzisen verbalen Denken auf vage visuelle Bildvorstellungen zurückgreift, scheint Woodworths’ Rat zu befolgen: »Häufig müssen wir von der Sprache wegkommen, um klar denken zu können.« Die Sprache kann sich wie eine Wand zwischen den Denker und

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die Wirklichkeit schieben; der Schöpfungsprozeß beginnt häufig dort, wo die Sprache aufhört, indem er auf präverbale Stufen des Denkens hinabsteigt. Das bedeutet freilich nicht, daß im Schädel des Wissenschaftlers ein kleiner sokratischer Dämon haust, der seine Schulaufgaben für ihn schreibt. Man darf auch nicht die unbewußte Geistestätigkeit mit Freuds Primärem Vorgang verwechseln. Den Primären Vorgang definiert Freud als bar jeder Logik, beherrscht vom Lustprinzip, begleitet von massiven Affektentladungen und mit der Tendenz behaftet, Perzeption und Halluzination miteinander zu verwechseln. Es scheint, als müßten wir zwischen diesem sehr primitiven Primären Vorgang und dem vom Realitätsprinzip beherrschten Sekundären Vorgang noch mehrere Schichten geistiger Tätigkeit einschieben, die nicht bloß Mixturen aus »primären« und »sekundären« Elementen sind, sondern selbständige Denksysteme mit ihren eigenen Spielregeln. Die Wahnvorstellung der Paranoiker, den Traum, den Tagtraum, die freie Assoziation, die Mentalität von Kindern auf verschiedenen Altersstufen und die von primitiven Stämmen in verschiedenen Entwicklungsphasen darf man nicht zusammen in einen Topf werfen, denn sie folgen ein jedes ihrer eigenen Logik. Aber obwohl sich diese Denkweisen in vielen Aspekten voneinander unterscheiden, lassen sie doch auch gemeinsame Züge erkennen, denn sie sind ontogenetisch und möglicherweise auch phylogenetisch älter als diejenigen der erwachsenen Individuen unseres Kulturkreises. Sie sind weniger starr, mehr tolerant, stets bereit, scheinbar unvereinbare Ideen miteinander zu verbinden und verborgene Analogien zu entdecken. Man könnte sie als »verbotene Spiele« bezeichnen; denn ließe man sie frei im Bewußtsein toben, dann geriete das disziplinierte Denken bald aus dem Geleise. Unter außergewöhnlichen Umständen jedoch, wenn das disziplinierte Denken mit seinem Latein am Ende ist, kann eine zeitweilige Regression zu diesen »verbotenen Spielen« eine unerwartete Lösung des Problems ergeben – eine weithergeholte, verwegene Gedankenkombination, die dem nüchternen, rationalen Geist niemals eingefallen, und wenn, von ihm sogleich als inakzeptabel abgetan worden wäre. An anderer Stelle habe ich für diese sprunghaften Einfälle schöpferischer Einbildungskraft das Wort »Bisoziation« vorgeschlagen, um sie gegenüber den nüchternen assoziativen Routinevorgängen abzusondern. Ich werde gleich noch einmal darauf zurückkommen; zunächst einmal wollen wir festhalten, daß sich auch der schöpferische Akt in der geistigen Evolution nach dem Muster des reculer pour mieux sauter vollzieht: einer zeitweiligen Regression folgt ein Sprung nach vorne. Man kann diese Analogie noch weiterspinnen und den Heureka-Ruf als Signal für eine geglückte Rettung aus einer Sackgasse des Denkens interpretieren.

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13.5 Assoziation und Bisoziation Eine einfache Definition für das assoziative Denken gibt uns Humphrey:104 Der Begriff »Assoziation« beziehungsweise »geistige Assoziation« ist eine allgemein gehaltene Bezeichnung, die man häufig in der Psychologie verwendet, um die Bedingungen auszudrücken, unter denen sich geistige Vorgänge – im Bereich des Erlebens oder des Verhaltens – vollziehen. Mit anderen Worten, der Begriff »Assoziationen« bezeichnet einfach den Prozeß, vermittels dessen eine Idee zu einer weiteren Idee führt. Eine Idee hat jedoch assoziative Verbindungen mit vielen anderen, durch vergangene Erfahrungen etablierten Ideen; welche von diesen Verbindungen in einer bestimmten Situation aktiviert werden, hängt von der Art des Denkens ab, mit der wir in diesem Augenblick befaßt sind. Geordnetes Denken wird stets von festen Regeln bestimmt, und selbst Träume und Tagträume haben ihre eigenen Spielregeln. Im psychologischen Laboratorium legt der Experimentator die Regel fest: Gegensätze assoziieren. Sagt er »dunkel«, so antwortet die Versuchsperson mit »hell«. Sind jedoch »Synonyme« als Regel vorgeschrieben, dann assoziiert die Versuchsperson »dunkel« mit »schwarz«, »Nacht« oder »Schatten«. Es ist sinnlos, von Reizen zu sprechen, als ob sie in einem Vakuum operierten; welche Reaktion ein Reiz wie das Wort »dunkel« auslöst, hängt von den Regeln des Spiels ab, das wir zu dieser Zeit gerade spielen. Wir leben jedoch nicht in Laboratorien, in denen die Spielregeln durch ausdrückliche Befehle festgelegt werden; bei normalen Routineprozessen des Denkens und Sprechens sind die Regeln stillschweigend inbegriffen und bleiben uns unbewußt. Das gilt nicht nur für die Regeln der Grammatik, der Syntax und der »Wald-undWiesen-Logik«, sondern auch für diejenigen, die für die komplexeren Strukturen Gültigkeit haben, die wir als »Bezugssysteme«, »Denkwelten«, »assoziative Kontexte« bezeichnen. Allgemein gesprochen, beruhen die Systeme des assoziativen Denkens auf geistigen Gewohnheiten und Fertigkeiten, die von festen Spielregeln bestimmt werden und mit flexiblen Taktiken an Aufgaben herangehen. Mit anderen Worten: unsere Denkroutinen besitzen alle die Eigenschaften von Holons, die wir in den vorangegangenen Kapiteln erörtert haben. Sie werden von ihren Spielregeln kontrolliert, aber auch durch feedbacks, durch Rückkoppelungen aus der Verteilung der Figuren auf dem Schachbrett, aus der Beschaffenheit des zu bewältigenden Problems und so weiter. Sie können pedantisch, starr oder schmiegsam sein und lassen sich sowohl in »vertikale« Hierarchien einordnen als auch in »horizontale« assoziative Netzgeflechte. Fassen wir noch einmal zusammen: Alle routinemäßigen Denkvorgänge gleichen Spielen nach festgesetzten Regeln und mit mehr oder minder flexiblen Taktiken. Im Schach gibt es weit mehr taktische Auswahlmöglichkeiten als im Damespiel. Aber auch hier gibt es eine Grenze: man kann auf dem Schachbrett in hoffnungslose Situationen geraten, aus denen man sich auch mit der subtilsten Strategie nicht mehr befreien kann – es sei denn, man offeriert seinem Gegenspieler ein paar mächtige Cocktails. Nun gibt es zwar beim Schachspiel keine Regel, die einen daran hindert, so etwas zu tun. Aber jemanden absichtlich betrunken machen, während man selbst nüchtern bleibt – das ist ein ganz anderes Spiel mit ganz anderen Assoziationen. Kombiniert man diese beiden artfremden Spiele, so ergibt das eine »Bisoziation«. Mit anderen Worten, das assoziative Routinedenken spielt sich nach gegebenen Regeln auf einer gegebenen Ebene ab. Der bisoziative Akt kombiniert artfremde Spielregeln und spielt sich auf mehreren Ebenen gleichzeitig ab.

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Ich möchte den Wert gesetzestreuer Routineprozesse keinesfalls herabsetzen. Sie geben dem Verhalten Kohärenz und Stabilität, den Denkvorgängen Ordnung und Struktur. In Krisensituationen jedoch erweisen sich Routineprozesse als nicht mehr ausreichend. Die Welt dreht sich weiter, und neue Tatsachen kommen auf uns zu: aus ihnen ergeben sich Probleme, die sich innerhalb der konventionellen Bezugssysteme nicht lösen lassen. Daher die verzweifelte Suche nach einem Heilmittel nach der unorthodoxen Improvisation, die zu der neuen Synthese führen soll – zum geistigen Regenerationsprozeß. Das lateinische Wort cogito leitet sich von co-agitare ab: Zusammenschütteln. Bisoziation bedeutet: zwei bisher voneinander unabhängige Denkstrukturen so miteinander zu verbinden, daß der Hierarchie eine neue Stufe hinzugefügt wird, die die vorher separaten Strukturen in sich einschließt. Das Phänomen der Gezeiten war uns seit undenklichen Zeiten bekannt; die Phasen des Mondes ebenfalls. Aber die Idee, diese beiden miteinander zu verbinden – die Idee, daß die Gezeiten auf die Anziehungskraft des Mondes zurückzuführen sind – hatte, soweit wir wissen, zum erstenmal ein deutscher Astronom des 17. Jahrhunderts entdeckt. Als Galilei davon erfuhr, tat er das als okkulte Phantasterei ab. Moral: Je vertrauter die vorher unabhängigen Strukturen sind, um so verblüffender die neue Synthese. Die Geschichte der Wissenschaft ist eine Geschichte von Heiraten zwischen Ideen, die einander vorher fremd waren und für unvereinbar gehalten wurden. Natürliche Magneten waren in der Antike als eine Kuriosität bekannt. Im Mittelalter fand man für sie eine zweifache Verwendung: als nautischen Kompaß und als das beste Mittel, ein abtrünniges Weib zu ihrem Gatten zurückzulocken. Ebenso bekannt waren die seltsamen Eigenschaften des Bernsteins, der, wenn man ihn rieb, leichte Objekte an sich heranzog. Das griechische Wort für Bernstein ist Elektron, aber die Griechen waren an der Elektrizität nicht interessiert, und auch das Mittelalter nicht. Nahezu zweitausend Jahre lang betrachtete man die Elektrizität und den Magnetismus als gesonderte Phänomene, die nichts miteinander zu tun hatten. 1820 entdeckte Hans Christian Oersted, daß der durch einen Draht fließende elektrische Strom auf einen magnetischen Kompaß einwirkte, der zufällig auf seinem Tisch lag. In diesem Augenblick begannen die beiden Phänomene zu einem einzigen zu verschmelzen: zum Elektromagnetismus. Die Bisoziation löste eine Art Kettenreaktion aus, die immer noch anhält.

13.6 Die AHA-Reaktion Von Pythagoras, der Arithmetik und Geometrie miteinander verband, über Newton, der Galileis Untersuchungen über die Bewegung von Projektilen mit Keplers Gleichungen für die Planetenbahnen verband, bis hin zu Einstein, der Energie und Materie in einer einzigen, unheilvollen Gleichung vermählte, sehen wir stets den gleichen Vorgang. Der schöpferische Akt bringt nicht – wie der Gott im Alten Testament – irgend etwas aus dem Nichts hervor; er kombiniert, mischt und verbindet bereits existierende, aber bisher voneinander getrennte Ideen, Fakten, Wahrnehmungssysteme, assoziative Kontexte. Dieser Akt der Kreuzbefruchtung – beziehungsweise der Selbstbefruchtung innerhalb des gleichen Gehirns – scheint der Wesenskern der Kreativität zu sein und die Bezeichnung »Bisoziation« zu rechtfertigen.* * Ähnliche Auffassungen hat, neben anderen Forschern, auch der Mathematiker Henri Poincaré vertreten; in einem häufig zitierten Vortrag erklärte er Entdeckungen mit dem glücklichen Zusammentreffen von »gedanklichen Atomen« im Bereich des Unterbewußten. Nach Sir Frederick Bartlett ist »das wesentlichste Kennzeichen experimentellen schöpferischen Denkens das Entdecken einer Überschneidung ..., wo 105 106 man bislang nur Isolierung und Unterschiedlichkeit gesehen hatte«. 107 Jerome Brunner sieht in jeder Form von Kreativität das108 Ergebnis »kombinatorischer Akte«. McKellar spricht von der »Fusion« von Wahrnehmungen, Kubie von der »Entdeckung unerwarteter Zusammenhänge zwischen den Dingem«. Das geht so weiter, zurück bis zu Goethes »Verbinden, immer verbinden«.

Nehmen wir das Beispiel von Johannes Gutenberg, der die Druckerpresse erfand (oder doch zumindest unabhängig von anderen erfand). Zuerst hatte er die Idee, Lettern zu gießen, so wie man Siegel oder Siegelringe anfertigte. Wie aber konnte er Tausende von 125

kleinen Siegeln so zusammenmontieren, daß sie eine gleichmäßige Spur auf dem Papier hinterließen? Jahrelang quälte er sich mit diesem Problem ab, bis er schließlich eines Tages zu einer Weinlese in seiner rheinischen Heimat ging und sich dort vermutlich einen Schwips antrank. In einem Brief berichtete er darüber: Ich sah zu, wie der Wein aus der Presse floß; von der Wirkung auf die Ursache zurückgehend, habe ich die Arbeitsweise dieser Presse, der nichts widerstehen kann, genau untersucht ... In diesem Augenblick fiel sozusagen der Groschen: die Kombination von Siegel und Weinpresse ergab die Druckerpresse. Der Psychologe Karl Bühler prägte ein neues Wort für den »Blitz der Erleuchtung«, wenn die Einzelteile des Problems sich plötzlich zu einem geschlossenen Gesamtbild zusammenfügen: er nannte es das AHA-Erlebnis. Es ist jedoch nicht die einzige Art von Reaktion, die ein bisoziativer Akt bewirken kann. Eine ganz andere Art von Reaktion löst die Erzählung einer Anekdote aus: Ein Marquis am Hof Ludwigs XV. war unerwartet von einer Reise zurückgekehrt und fand seine Frau, als er ihr Boudoir betrat, in den Armen eines Bischofs. Der Marquis zögerte einen Augenblick, dann ging er gelassen zum Fenster hin, lehnte sich hinaus und fing an, die Leute auf der Straße zu segnen. »Was macht Ihr da?« rief die verängstigte Frau. »Monseigneur vollziehen meine Pflichten«, erwiderte der Marquis, »also vollziehe ich die seinen.«* * Ich habe diese Anekdote bereits anderen Ortes erzählt und trage sie hier wegen ihrer klaren Struktur erneut vor. Bei den meisten Anekdoten benötigt man erst ausführliche Erläuterungen, um ihre Struktur klarzulegen.

Das Lachen kann man als HAHA-Reaktion bezeichnen.* Wir wollen nun kurz seine verschiedenen Aspekte erörtern, zunächst den logischen, dann den emotionellen. * Ich möchte Dr. Brennig James dafür danken, daß er diesen Terminus als Pendant zur AHA-Reaktion vorgeschlagen hat.

13.7 Die HAHA-Reaktion Das Verhalten des Marquis kommt zugleich unerwartet und ist doch vollkommen logisch – aber nicht von jener Art der Logik, die man üblicherweise auf eine solche Situation anwendet. Es ist die Logik der Arbeitsteilung; ihre Spielregeln sind das quid pro quo, der Austausch von Gütern oder Leistungen. Wir hatten natürlich erwartet, die Reaktionen des Marquis würden von einer ganz anderen Spielregel bestimmt werden, von der der Geschlechtsmoral. Aber gerade das Aufeinanderprallen der beiden sich wechselseitig ausschließenden Assoziationskontexte ruft die komische Wirkung hervor. Es zwingt uns, die Situation gleichzeitig mit Hilfe von zwei in sich selbst konsequenten, gewöhnlich jedoch nicht miteinander vereinbaren Bezugssystemen zu erfassen; wir sind sozusagen gezwungen, zu gleicher Zeit auf zwei verschiedenen Wellenlängen zu funktionieren. Solange diese ungewöhnliche Situation anhält, wird der sich abspielende Vorgang nicht – wie das normalerweise der Fall ist – mit einem einzigen Bezugssystem erfaßt, sondern mit zweien bisoziiert. Diese ungewöhnliche Situation hält allerdings nicht lange an. Der Akt der wissenschaftlichen Entdeckung führt zu einer dauerhaften Synthese, zu einer Fusion der beiden vorher separaten Bezugssysteme; die komische Bisoziation stellt eine Kollision zwischen den unvereinbaren Bezugssystemen dar, deren Wege sich für einen kurzen Augenblick durchkreuzen. Der Unterschied ist allerdings nicht absoluter Natur. Ob die Bezugssysteme miteinander vereinbar sind oder nicht, das hängt von subjektiven Faktoren ab. In Keplers Kopf gingen die Bewegungen des Mondes und die Bewegungen der Gezeiten eine Fusion ein, sie wurden zu Zweigen der gleichen Kausalhierarchie. Galilei je126

doch behandelte Keplers Theorie buchstäblich als einen Witz. In der Geschichte der Wissenschaft gibt es viele Beispiele dafür, daß neue Entdeckungen mit Hohngelächter aufgenommen wurden, weil sie eine Vermählung unvereinbarer Partner zu sein schienen – bis sich die Ehe als fruchtbar und die angebliche Unvereinbarkeit der Partner als Vorurteil erwies. Der Humorist dagegen bringt ganz bewußt inkompatible Sitten oder Denkweisen zum Zusammenstoß, um ihre versteckten Absurditäten zu enthüllen. Die komische Entdeckung weist auf ein Paradoxon hin – die wissenschaftliche Entdeckung hebt es auf. Vom Standpunkt des Marquis aus gesehen, entsprang seine Geste einer schöpferischen Inspiration. Hätte er sich an die konventionellen Spielregeln gehalten, dann hätte er den Bischof verhauen oder umbringen müssen. Am Hofe Ludwigs XV. hätte man jedoch den Totschlag an einem Bischof, wenn auch nicht unbedingt als Verbrechen, so doch zumindest als unpassendes Verhalten angesehen; das ging also nicht. Um das Problem zu lösen – das heißt, um sein Gesicht zu wahren und gleichzeitig seinen Gegenspieler zu demütigen –, mußte ein zweites, von ganz anderen Spielregeln beherrschtes Bezugssystem herangezogen und mit dem ersten kombiniert beziehungsweise bisoziiert werden. Jede originale Erfindung im Bereich des Komischen ist ein schöpferischer Akt, eine maliziöse [boshafte, heimtückische, hämische] Entdeckung.

13.8 Lachen und Emotion Der Nachdruck liegt auf dem Wort maliziös, und das bringt uns von der Logik des Humors zum emotionalen Faktor der HAHA-Reaktion. Wenn ein geübter Erzähler eine Anekdote erzählt, dann schafft er eine gewisse Spannung, die mit fortschreitender Erzählung ständig zunimmt. Sie erreicht jedoch niemals den erwarteten Höhepunkt. Die Pointe wirkt wie eine Guillotine, die die logische Entwicklung der Situation abrupt durchschneidet; sie spottet sozusagen unserer hochgespannten Erwartungen auf einen dramatischen Abschluß, die Spannung überschlägt sich und entlädt sich in Gelächter. Anders ausgedrückt: das Lachen führt die sinnlos gewordene Spannung ab, es bietet einen Widerstand, um sie abzureagieren. Sieht man sich einmal die grobe Art der Volksbelustigung in einer Tavernenszene von Hogarth oder Rawlinson genauer an, dann bemerkt man sofort, daß sich diese Leute ihres Überschusses an Adrenalin entledigen – die Kontraktionen der Gesichtsmuskeln, das Sich-auf-die-Schenkel-Hauen, die explosiven Atemstöße aus der halbgeschlossenen Glottis sind Formen des Abreagierens, der Energieabfuhr. Die Affekte, deren sie sich beim Lachen entledigen, sind Aggression, Lüsternheit, Schadenfreude, bewußter und unbewußter Sadismus – alle operieren mit Hilfe des adrenerg-sympathischen Systems. Schaut man sich jedoch eine geistvolle Karikatur an, dann weicht das homerische Gelächter einem verdünnten, amüsierten Lächeln; der Zufluß von Adrenalin hat sich zu einem Körnchen attischen Salzes destilliert. Oder nehmen wir jene klassische Definition: »Wer ist ein Sadist? Ein Mensch, der zu einem Masochisten gut ist ...« Das deutsche Wort »Witz« bedeutet sowohl Spaß als auch Scharfsinn und leitet sich von Wissen her; im Englischen ist es ähnlich. Die Bereiche des HAHA und des AHA sind kontinuierlich, ohne scharfe Trennungslinien. Bewegen wir uns von den gröberen auf die subtileren Formen des Humors zu, dann wandelt sich der Scherz zum Epigramm und zum Rätsel, der komische Vergleich zur verborgenen Analogie, und die Affektreaktionen lassen eine ähnliche Verwandlung erkennen. Die emotionale Spannung, die sich im groben Gelächter entlädt, besteht aus einer ihrer Zielsetzung beraubten Aggression; die in der AHA-Reaktion aufgelöste Spannung dagegen leitet sich aus einer intellektuellen Herausforderung ab. Sie löst sich in dem Augenblick auf, in welchem der Groschen fällt – wenn wir das im Vexierbild verborgene Gesicht entdeckt, die Denkaufgabe oder das wissenschaftliche Problem gelöst haben. 127

Fassen wir noch einmal zusammen: die beiden Bereiche des Humors und der Entdekkung bilden ein Kontinuum. Bewegen wir uns entlang dieses Kontinuums gewissermaßen von links her nach der Mitte zu, dann wandelt sich allmählich des emotionale Klima von der Bosheit des Spaßmachers zum desinteressierten Scharfsinn des Weisen. Setzen wir nun unseren Weg in der gleichen Richtung fort, dann stellen wir fest, daß ebenso allmähliche Übergänge in den dritten schöpferischen Bereich hinüberleiten, in den des Künstlers. Auch der Künstler bedient sich mehr der Andeutung als der Aussage; auch er erlegt Rätsel auf und zeigt uns Vexierbilder; und so treffen wir hier, auf dem Weg zum anderen Ende des Spektrums, auf Übergänge in symmetrisch umgekehrter Folge: von intellektuellen, wissenschaftlich angehauchten Kunstformen zu mehr sensualistischen und affektiven und schließlich zum gedankenfreien Nirwana des Mystikers.

13.9 Die AH-Reaktion Wie aber definiert man das emotionale Klima in der Kunst? Wie klassifiziert man die Affekte, die uns das Erlebnis der Schönheit vermitteln? Blättert man die Lehrbücher der experimentellen Psychologie durch, dann findet man kaum einen Anhaltspunkt. Wenn die Behavioristen das Wort »Emotion« benützen, dann beziehen sie es fast immer auf Hunger, Sex, Wut und Furcht und verwandte Auswirkungen der Absonderung von Adrenalin. Für die eigenartige Reaktion, die man erlebt, wenn man einem Mozart-Quartett lauscht, das Meer betrachtet oder zum erstenmal John Donnes HOLY SONNETS liest, haben sie keine Erklärung zu bieten. Man findet in den Lehrbüchern auch keine Beschreibung der physiologischen Prozesse, die mit derartigen Reaktionen verbunden sind: das Feuchtwerden des Auges, das Anhalten des Atems, gefolgt von einer Art entrückter Stille, dem Nachlassen aller Spannungen. Wir wollen das als die AH-Reaktion bezeichnen und so die Trinität vervollständigen. HAHA!

AHA

AH ...

Lachen und Weinen, die griechischen Masken der Komödie und der Tragödie, bezeichnen die extremen Enden dieses kontinuierlichen Spektrums; bei beiden handelt es sich um »Abfuhrreflexe«, die Affekte abladen – aber in jeder anderen Hinsicht sind sie physiologische Gegenpole. Das Lachen wird durch den sympathico-adrenalen Zweig des autonomen Nervensystems vermittelt, das Weinen durch den parasympathischen Zweig; ersteres zeigt die Tendenz, den Körper in gesteigerte Aktivität zu versetzen, letzteres die Tendenz zu Katharsis und Passivität. Man braucht sich nur selbst beim Lachen zu beobachten: auf ein langes und tiefes Luftholen folgen heftige Atemstöße beim Ausatmen – ha, ha, ha! Beim Weinen tut man genau das Gegenteil: auf kurze, keuchende Züge beim Einatmen – Schluchzen – folgen lange, seufzende Züge beim Ausatmen – a-a-h, aah ... Die Emotionen, die bei der AH-Reaktion überquellen, sind ebenfalls das genaue Gegenteil von denjenigen, die sich beim Gelächter entladen. Letztere gehören zu den adrenergischen, aggressiv-defensiven Emotionen. Nach unserer Theorie sind das Manifestationen der selbstbehauptenden Tendenz. Ihre Gegenpole wollen wir als selbsttranszendierende Emotionen bezeichnen, die sich aus der integrativen Tendenz ableiten. Man könnte sie auch, nach Freud, das »ozeanische Gefühl« nennen: jene grenzenlose Erweiterung des Bewußtheitsraumes, die man gelegentlich in einer leeren Kathedrale empfindet, wenn die Ewigkeit durch das Fenster der Zeit blickt – in ihr scheint das eigene Ich sich aufzulösen wie ein Körnchen Salz im Meer.

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13.10 Kunst und Emotion Die Polarität zwischen den integrativen und den selbstbehauptenden Tendenzen ist, wie sich gezeigt hat, ein inhärenter Faktor in allen hierarchischen Ordnungen; sie manifestiert sich auf jeder Stufe, von der embryonalen Entwicklung bis zur internationalen Politik. Die integrative Tendenz, mit der wir uns hier vor allem befassen, reflektiert die »Teilheit« eines Holons, seine Abhängigkeit von und seine Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen. Sie ist überall wirksam, von der physischen Symbiose im Bereich der Organellen über die Aggregation im Schwarm und in der Herde bis hinauf zu den kohäsiven Kräften in Insektenstaaten und Primatenverbänden. Das Einzelindividuum repräsentiert, als Ganzes betrachtet, den Scheitelpunkt der organismischen Hierarchie, gleichzeitig ist es aber auch ein Teil, eine Elementareinheit in der Sozialhierarchie. Diese Dichotomie spiegelt sich in seiner emotionalen Natur wider. Seine Selbstbehauptung als ein autonomes, unabhängiges Ganzes drückt sich je nach Lage der Dinge in seinem Ehrgeiz, seiner Wettbewerbsfreudigkeit und in seinem aggressiv-defensiven Verhalten aus. Seine integrative Tendenz findet ihren Niederschlag in seiner Abhängigkeit – als Teil – von Familie, Stamm und Gesellschaft. Aber – und es handelt sich hier um ein sehr wesentliches »aber« – die Zugehörigkeit zur Sozialgruppe reicht nicht immer aus, um die integrative Tendenz eines Individuums zu befriedigen; manchen Menschen gewährt sie überhaupt keine Befriedigung. Jeder Mensch ist ein Holon und hat das Bedürfnis, als Teil zu etwas Größerem zu gehören, das die engen Grenzen des eigenen Ichs überschreitet; dieses Bedürfnis ist die Wurzel aller »selbsttranszendierenden« Emotionen. Es kann durch eine soziale Identifizierung – auf die wir in Teil III dieses Buches zu sprechen kommen – erfüllt werden. Aber jene höhere Ganzheit, zu deren Gunsten das Individuum seine eigene Identität gerne aufheben möchte, kann auch Gott, die Natur oder die Kunst sein: die Magie der Formen, das Meer der Töne oder die mathematischen Symbole für die Konvergenz im Unendlichen. Von dieser Art sind die Emotionen, die bei der AH-Reaktion zum Ausdruck kommen. Die selbsttranszendierenden Emotionen zeigen einen großen Variationsbereich. Sie können freudiger oder trauriger, tragischer oder lyrischer Natur sein; ihr gemeinsamer Nenner – um das noch einmal zu wiederholen – ist das Gefühl der integrativen Teilnahme an einem Erlebnis, das die Grenzen des eigenen Ichs überschreitet. Die selbstbehauptenden Emotionen lassen eine Tendenz zu körperlicher Betätigung erkennen, die selbsttranszendierenden sind im wesentlichen passiver und kathartischer Natur. Erstere manifestieren sich in allen Abarten des aggressiv-defensiven Verhaltens; letztere im Einfühlungsvermögen, in der Identifizierung, in Bewunderung und Hingabe an eine Person oder eine Idee. Das Vergießen von Tränen ist ein Ventil für einen Überschuß an selbsttranszendierenden Emotionen, so wie das Lachen ein Ventil für die selbstbehauptenden Emotionen ist. Aber ihre Funktionsweise ist verschieden. Beim Lachen wird die Spannung plötzlich entladen, die Emotion verpufft plötzlich; beim Weinen klingt sie allmählich aus, ohne die Kontinuität der Stimmung zu unterbrechen: Denken und Fühlen bleiben vereint. Die selbsttranszendierenden Emotionen tendieren nicht zur Tätigkeit, sondern zur Ruhe hin. Atmung und Puls werden verlangsamt; »Verzückung« ist ein Schritt zu jenem tranceähnlichen Zustand hin, der kontemplativen Mystikern eigen ist; Emotionen dieser Art können in aktiven Tätigkeiten ausgelebt werden. Man kann ein Gebirgspanorama nicht mit nach Hause nehmen; man kann nicht mit Hilfe körperlicher Bemühung mit dem Unendlichen verschmelzen; man wird von Ehrfurcht, von Staunen »überwältigt«, von einem Lächeln »hingerissen«, von Schönheit »bezaubert« – jedes dieser Worte drückt ein passives Sich-Hingeben aus. Der Überschuß an Emotion läßt sich nicht durch irgendwelche willentliche Muskeltätigkeit ab-

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reagieren, er kann nur durch innerliche – viszerale und glanduläre – Prozesse abgebaut werden. Die verschiedenen Ursachen, die zu einem Überquellen der Tränen führen können – ästhetische oder religiöse Verzückung, Trauer, Freude, Mitleid, Selbstmitleid –, sie alle haben ein Grundelement gemeinsam: die intensive Sehnsucht danach, die Grenzen des verinselten Ichs zu überschreiten und eine symbiotische Gemeinschaft mit einem – lebenden oder toten – menschlichen Wesen einzugehen oder mit einer – realen oder imaginären – höheren Entität, als deren Teil sich das Ich fühlt. Die selbsttranszendierenden Emotionen sind die Stiefkinder der Psychologie, aber sie sind von ebenso fundamentaler Bedeutung und ebenso fest in der Biologie verankert wie ihre Gegenpole. Insbesondere Freud und Piaget haben die Tatsache betont, daß das Kind in seinen früheren Lebensphasen keinen Unterschied zwischen dem eigenen Ich und der Umwelt macht. Die nährende Mutterbrust erscheint ihm als ein viel intimerer Besitz als die Zehen seines eigenen Körpers. Es ist sich dessen bewußt, was in der Umwelt vor sich geht, nicht aber seiner selbst als einer gesonderten Entität. Es lebt in einem Zustand psychischer Symbiose mit der Außenwelt, einer kontinuierlichen Fortsetzung der biologischen Symbiose im Mutterleib. Das Ich ist im Brennpunkt der Welt, es ist die Welt – Piaget bezeichnete diesen Zustand als »protoplasmische« oder »symbiotische« Bewußtheit.* * In jüngster Zeit hat E. G. Schachtel dieses Thema behandelt, und zwar in seinem bedeutenden Werk METAMORPHOSIS, das 1963 erschien.

Man kann sie vielleicht mit einem flüssigen Universum vergleichen, das von dynamischen Strömungen durchzogen wird, vom rhythmischen Steigen und Fallen physiologischer Bedürfnisse, die keine Spuren hinterlassen. Allmählich weichen die Fluten zurück, die ersten Inseln der objektiven Wirklichkeit tauchen auf; ihre Konturen werden fester und schärfer; die Inseln weiten sich zu Kontinenten aus, der feste Boden der Realität wird abgegrenzt; aber daneben bleibt auch die flüssige Welt bestehen, sie umgibt das Festland, durchsetzt es mit Kanälen und Binnenseen, den rudimentären Überbleibseln der einstigen symbiotischen Gemeinschaft. Das ist der Ursprung jenes »ozeanischen Gefühls«, das Künstler und Mystiker auf einer höheren Entwicklungsebene, einer höheren Windung der Spirale, wiederzugewinnen suchen. Hier hat auch der Sympathiezauber seinen Ursprung, der von allen primitiven Völkern praktiziert wird. Wenn der Medizinmann sich als Regengott verkleidet, dann zaubert er Regen hervor. Zeichnet man das Bild eines erlegten Bisons auf das Felsengestein, dann garantiert das eine erfolgreiche Jagd. Das ist die uralte Quelle, aus der sich der rituelle Tanz und Gesang, die Mysterienspiele der Achäer und die Kalendarien der babylonischen Priester-Astronomen ableiten. Die Schatten in Platons Höhle sind Symbole für die Einsamkeit des Menschen, die Malereien in den Höhlen von Lascaux sind Symbole für seine magischen Kräfte. Lascaux und Altamira liegen weit zurück, aber die Inspirationen des Künstlers und die Intuitionen des Wissenschaftlers leiten sich auch heute noch aus der gleichen gemeinsamen Quelle ab – obschon wir sie heute eher als einen unterirdischen Fluß bezeichnen sollten. Wünsche können keine Berge versetzen, aber in unseren Träumen tun sie es noch immer. Das symbiotische Bewußtsein läßt sich niemals völlig auslöschen, aber es wird in jene primitiven Schichten der psychischen Hierarchie abgedrängt, in denen die Grenzen des Ichs noch fließend und verschwommen sind – ebenso verschwommen etwa wie die Unterscheidung zwischen dem Schauspieler und dem Helden, den er personifiziert, und mit dem ihn der Zuschauer identifiziert. Der Schauspieler auf der Bühne ist zugleich er selbst und jemand anderer – Tänzer und Regengott in einer Person. Die dramatische Illusion entsteht aus der Koexistenz zweier, logisch nicht miteinander zu vereinbarender Welten im Kopf des Zuschauers; sie exemplifiziert den bisoziativen 130

Prozeß in seiner eindrucksvollsten Form. Um so mehr, als der Zuschauer dabei physische Symptome hervorbringt wie Herzklopfen, erhöhten Puls oder Tränen – aus Mitleid mit einer Desdemona, von der er genau weiß, daß sie nur als Schatten auf dem Fernsehschirm existiert.

13.11 Die schöpferische Trinität Aber wehe, wenn Othello plötzlich den Schluckauf bekommt – statt der Koexistenz der beiden Welten im Kopf des Zuschauers kommt es nun zur Kollision zwischen ihnen. Komische Personifikationen lösen eine HAHA-Reaktion aus, weil der Parodist aggressive und maliziöse Tendenzen wachruft; während der Tragöde den Zuschauer zum Identifizieren veranlaßt und die AH-Reaktion auslöst. Identifikation erregt die selbsttranszendierenden und hemmt oder neutralisiert die selbstbehauptenden Emotionen. Selbst wenn im Zuschauer Furcht und Zorn hervorgerufen werden, sind das sozusagen nur stellvertretende Emotionen, die sich aus der Identifizierung mit dem Helden ableiten – ein Vorgang, der in sich selbst einen selbsttranszendierenden Akt darstellt. Die auf diese Weise erweckten stellvertretenden Emotionen sind von einem dominierenden Element der Sympathie geprägt, das die Katharsis ermöglicht – in Übereinstimmung mit der Definition des Aristoteles: »Vorgänge, die Schrecken und Mitleid erregen, bewirken die Reinigung von solchen Gefühlen.« Die Kunst ist eine Schule des Selbsttranszendierens. Wir gelangen so zu einer weiteren Verallgemeinerung. Die HAHA-Reaktion signalisiert die Kollision von bisoziierten Kontexten, die AHA-Reaktion signalisiert ihre Fusion, die AH-Reaktion ihre Koexistenz.* * Dieser Unterschied spiegelt sich in der quasi-kumulativen Progression der Wissenschaft durch eine Reihe von aufeinanderfolgenden Fusionen wider, im Gegensatz zu dem quasi-zeitlosen Charakter der Kunst, ihrer kontinuierlichen Neuformulierung von archetypischen Erlebnisstrukturen in ständig wechselnden Idiomen. Ich habe zweimal den Ausdruck »quasi« gebraucht, denn der Unterschied ist nur ein relativer: die Progression der Wissenschaft verläuft nicht im strengen Sinn des Wortes kumulativ – sie vollzieht sich eher in einem Zickzackkurs als in einer geraden Linie; anderseits läßt die Entwicklung einer bestimmten Kunstform innerhalb einer bestimmten Zeitperiode häufig eine kumulative Progression erkennen.

Wenn jemand ein Gedicht liest, dann wirken in ihm zwei Bezugssysteme aufeinander ein: das eine wird vom Inhalt beherrscht, das andere von rhythmischen Klangstrukturen. Außerdem aber operieren die beiden auch noch auf zwei verschiedenen Bewußtseinsebenen – die erste im hellen Tageslicht, die zweite viel tiefer unten, in jenen archaischen Schichten der psychischen Hierarchie, die auf das rhythmische Getrommel der Zauberpriester ansprechen und uns besonders empfänglich und suggestibel machen für Botschaften, die in rhythmischer Verkleidung zu uns gelangen.* * »Im Reim«, so schreibt Proust, »ist die Überlagerung von zwei Systemen – eines von ihnen geistiger, das andere metrischer Natur ... – ein primäres Element der geordneten Vielfalt, das heißt des Schönen.«

Routinemäßige Denkprozesse spielen sich auf nur einer Ebene ab; künstlerische Erlebnisse stets auf mehr als einer. Bei Rhythmus und Metrik, Reim und Euphonie handelt es sich nicht um künstlerische Sprachornamente, sondern um Kombinationen von zeitgemäßen, intellektuellen Denkstrukturen mit Klangstrukturen, die eine effektive Resonanz auslösen. Ähnliches gilt für die dichterische Bildersprache: das visuelle Denken ist eine frühere Form geistiger Tätigkeit als das Denken in Worten; wir träumen meist in Bildern. Allgemein gesagt, erfordert die schöpferische Tätigkeit stets eine zeitweilige Regression auf diese archaischen Stufen der Psyche, während gleichzeitig ein Parallelprozeß auf der hellwachen Oberfläche des Bewußtseins vor sich geht; der Dichter ist so etwas wie ein Sporttaucher mit einem Schnorchel. Zu den Spielen des Unbewußten gehört auch das Auffinden unerwarteter Analogien. Als Salomon in seinem Hohelied den Hals der Sulamit mit einem Elfenbeinturm ver131

gleicht, sah er eine Analogie, die niemand vor ihm gesehen hatte; als Harvey das Herz eines Fisches mit einer mechanischen Pumpe verglich, tat er das gleiche – und wenn der Karikaturist eine Nase wie eine Gurke zeichnet, dann tut er ebenfalls das gleiche. In der Tat sind alle bisoziativen Kombinationen trivalent – dreiwertig, sie können, je nach Sachlage, in den Dienst des Humors, der wissenschaftlichen Entdeckung oder der Kunst treten. Der Künstler zwingt der Natur sein eigenes Wahrnehmungsschema auf, indem er Konturen oder Flächen, Stabilität oder Bewegung, Kurven oder Zacken hervorhebt. Das gleiche tut natürlich auch der Karikaturist, nur sind bei ihm andere Motive und Relevanzkriterien wirksam. Und das gleiche gilt für den Wissenschaftler. Eine geographische Landkarte steht im selben Verhältnis zu einer Landschaft wie eine Charakterskizze zu einem Gesicht; jedes Diagramm oder Modell, jede schematische oder symbolische Darstellung physischer oder psychischer Prozesse ist eine leidenschaftslose Karikatur, ein stilisiertes Porträt der Realität. In der Ausdrucksweise der Behavioristen müßten wir sagen, Cézanne empfängt, wenn er auf eine Landschaft blickt, einen Reiz, auf den er dadurch reagiert, daß er einen Farbklecks auf die Leinwand setzt – und das wäre alles. In Wirklichkeit spielen sich bei ihm zwei Aktivitäten auf zwei verschiedenen Ebenen ab. Der stimulierende Reiz kommt aus der einen Umwelt, der entfernten Landschaft. Die Reaktion setzt sich mit einer anderen Umwelt auseinander, einer rechteckigen Fläche in den Ausmaßen von 25 x 40 Zentimeter. Die beiden Umwelten gehorchen unterschiedlichen Gesetzen. Ein isolierter Pinselstrich stellt nicht einen isolierten Teil der Landschaft dar. Es gibt keine Punkt-fürPunkt-Übereinstimmung zwischen den beiden Ebenen; jede richtet sich nach einer anderen Spielregel. Die Sehweise des Künstlers ist bifokal, ebenso wie die Stimme des Dichters bivokal ist, wenn er Klang und Sinn bisoziiert.

13.12 Zusammenfassung Im vorliegenden Kapitel habe ich klarzumachen versucht, daß alle Arten von schöpferischer Tätigkeit – die bewußten und die unbewußten Prozesse, die sich in den drei Bereichen der künstlerischen Inspiration, der wissenschaftlichen Entdeckung und der komischen Erfindungsgabe abspielen – eine gemeinsame Grundstruktur haben: das Verkuppeln von bereits bestehenden, bisher jedoch getrennten Wissensbereichen, Wahrnehmungssystemen oder Denkwelten. Das bewußte rationale Denken erweist sich dabei nicht immer als der beste Cocktailmixer. Die schöpferische Tätigkeit setzt ein, wenn die üblichen Denkroutinen versagt haben; sie spielt sich nach dem Muster von Rückzug und Vorstoß ab, durch eine vorübergehende Regression, die in dem bisoziativen Akt kulminiert. Es handelt sich hier um die höchste Form des regenerativen Prozesses, der Errettung aus den Sackgassen der Stagnation; doch finden sich analoge Phänomene bereits auf den unteren Sprossen der evolutionären Stufenleiter, die in den vorausgehenden Kapiteln erörtert wurden. Die drei schöpferischen Bereiche bilden ein Kontinuum. Die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen der AH-Reaktion und der AHA-Reaktion, sind fließend, ganz gleich, ob es sich um Architektur, Kochkunst, Psychiatrie oder Geschichtsschreibung handelt. Nirgendwo gibt es eine scharfe Trennlinie, an der die Wissenschaft aufhört und die Kunst beginnt. Das emotionale Klima in den drei Bereichen läßt gleichermaßen kontinuierliche Übergänge erkennen. Am einen Ende des Spektrums finden wir den Spaßmacher, voll aggressiver Bosheit – am entgegengesetzten Ende den Künstler mit seiner Sehnsucht nach Selbsttranszendenz. Die Motivierung des Wissenschaftlers in der Mittelzone des Kontinuums beruht auf einer wohlabgestimmten Kombination der beiden Grundtendenzen: Ehrgeiz und Konkurrenzsucht werden aufgewogen durch die selbsttranszendierende Hingabe an das Werk. Wissenschaft ist neutrale Kunst. 132

Die Wissenschaft – so besagt ein uraltes Klischee – strebt nach der Wahrheit, die Kunst nach der Schönheit. Doch die Kriterien der Wahrheit – wie die Bestätigung einer Theorie durch das Experiment – sind keineswegs so scharf und klar, wie wir gerne glauben möchten. Die gleichen Experimentierergebnisse lassen sich häufig auf mehr als eine Art interpretieren – deshalb gibt es auch in der Geschichte der Wissenschaft ebenso viele leidenschaftliche Kontroversen wie in der Geschichte der Literaturkritik. Überdies kommt die Bestätigung – oder Widerlegung – einer Entdeckung immer erst nach dem Entdeckungsakt; der schöpferische Akt selbst ist für den Wissenschaftler ebenso wie für den Künstler stets ein Sprung ins Ungewisse, bei welchem beide gleichermaßen auf ihre trügerischen Intuitionen angewiesen sind. Und die bedeutendsten Mathematiker und Physiker haben bekannt, daß sie sich in dem entscheidenden Augenblick, in dem sie den Sprung gewagt hatten, nicht von der Logik leiten ließen, sondern von einem Schönheitssinn, den sie nicht definieren können. Umgekehrt ließen sich Maler und Bildhauer, ganz zu schweigen von Architekten, stets von wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Theorien und Wahrheitskriterien leiten, die häufig zu fixen Ideen ausarteten – der Goldene Schnitt, die Gesetze der Perspektive, Dürers und Leonardos Proportionslehren für die Darstellung des menschlichen Körpers, Cézannes Doktrin, alles in der Natur sei nach dem Modell der Kugel und des Zylinders aufgebaut, Braques Alternativtheorie, Kuben seien an die Stelle der Kugeln zu setzen. Das gleiche gilt natürlich auch für den Bereich der Literatur – von den formalen Gesetzen, die man der griechischen Tragödie auferlegte, bis zu denen verschiedener Schulen aus der jüngsten Zeit; und ebenso für die Harmonielehre und die Gesetze des Kontrapunkts im Bereich der Musik. Mit anderen Worten: das Erlebnis der Wahrheit, wie subjektiv es auch immer sein mag, ist eine Grundvoraussetzung für das Erlebnis der Schönheit – und umgekehrt: die »elegante« Lösung eines Problems erweckt beim Kenner das Erlebnis der Schönheit. Die geistige Erleuchtung und die emotionale Katharsis sind komplementäre Aspekte eines unteilbaren Prozesses. Im vorliegenden Kapitel habe ich versucht, die in einem früheren Werk entwickelte Theorie vom schöpferischen Akt in Kunst und Wissenschaft in einem kurzen Abriß darzulegen – und sie noch einen Schritt weiterzuentwickeln. Ein Abriß kann notgedrungen nur skizzenhaft sein; ich möchte daher den interessierten Leser auf das Originalwerk verweisen und mich dafür entschuldigen, daß ich ein paar Passagen daraus hier noch einmal wiederholt habe.

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Das Gespenst in der Maschine Die wirklich großen Fragen sind jene, die ein intelligentes Kind stellt und von denen es nicht mehr spricht, wenn es keine Antwort bekommen hat. George Wald

Der Leser, der der Darstellung bis hierher gefolgt ist, mag an dieser Stelle Protest erheben und sagen, es sei ein Sakrileg, das Komponieren einer Brahms-Symphonie oder Newtons Entdeckung der Bewegungsgesetze als eine »Flucht aus der Sackgasse« zu bezeichnen und sie mit der Mutation einer Seescheide, der Regeneration eines Salamandergliedes oder der Heilung von Patienten durch die Psychotherapie zu vergleichen. Ich bin nicht dieser Ansicht, im Gegenteil, ich glaube, dieser kurze Überblick über die biologische und die geistige Evolution zeigt deutlich, daß überall schöpferische Kräfte am Werk sind, die die optimale Verwirklichung des in der lebenden Materie und im lebendigen Geist vorhandenen Potentials erstreben – daß eine universale Tendenz wirksam ist in Richtung auf »eine spontane Entwicklung von Strukturen mit größerer Heterogenität und Komplexität« (H Herrick).109 Diese nüchternen Worte eines bedeutenden Physiologen weisen auf eine Grundeigenschaft aller lebenden Materie hin, die die Wissenschaft lange Zeit aus den Augen verloren hatte und erst jetzt langsam wiederentdeckt.

14.1 Der »Zweite Hauptsatz« Das Evangelium der Wissenschaft von der »Flachen Erde« war der berühmte »Zweite Hauptsatz der Thermodynamik« von Rudolf Clausius. Danach läuft das Universum wie ein von Metallmüdigkeit betroffenes Uhrwerk allmählich ab, weil seine Energie ständig und in unaufhaltsamer Weise abgebaut wird und sich in Wärme umsetzt, bis es sich schließlich in eine formlose, homogene Gasblase auflösen wird, mit einer Temperatur knapp über dem absoluten Nullpunkt – das ist der kosmische Wärmetod. Erst in jüngster Zeit begann die Wissenschaft sich von der hypnotischen Wirkung dieses Alptraums zu erholen und zu erkennen, daß der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik nur auf den speziellen Fall der sogenannten geschlossenen Systeme anwendbar ist (wie zum Beispiel Gas, das in einem vollkommen isolierten Behälter eingeschlossen ist). Aber derartige geschlossene Systeme gibt es nicht einmal in der unbelebten Natur (ob das Universum als Ganzes in diesem Sinn ein geschlossenes System darstellt, weiß niemand zu sagen). Alle lebenden Organismen sind jedoch »offene Systeme«, das heißt, sie bewahren ihre komplexen Formen und Funktionen durch einen kontinuierten Austausch von Energie und Materie mit ihrer Umwelt.* Anstatt abzulaufen wie ein mechanisches Uhrwerk, das seine Energie durch ständige Reibung abbaut, baut der lebendige Organismus ständig komplexere Substanzen aus den Substanzen auf, aus denen er sich ernährt, komplexere Energieformen aus den Energien, die er absorbiert, und komplexere Informationsstrukturen – Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedanken – aus der Reizzufuhr seiner Sinnesorgane. * Der Begriff »offenes System« in diesem fachtechnischen Sinn hat natürlich nichts mit der Konzeption von nach oben und unten »offenen« Hierarchien zu tun.

Die hierarchische Organisation einerseits und die Charakteristika der offenen Systeme anderseits sind fundamentale Prinzipien der lebenden Natur; und die Fortschritte der theoretischen Biologie müssen sich in erster Linie auf diese beiden Grundprinzipien stützen.110

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So schrieb vor vielen Jahren Bertalanffy, einer der Pioniere der neuen Richtung in der Biologie; seine Worte wurden jedoch nicht mit übermäßigem Enthusiasmus aufgenommen. Die Vorstellung, daß Organismen – im Gegensatz zu Maschinen – in erster Linie auf Aktion und nicht auf eine bloß passive Reaktion ausgerichtet waren, daß sie sich nicht passiv ihrer Umwelt anpaßten, sondern »schöpferisch in dem Sinn waren, daß sie ständig neue Formen und Verhaltensweisen hervorbrachten« (H Herrick),111 das ging gegen den Zeitgeist. Diese »offenen Systeme«, die die Fähigkeit besaßen, sich unbegrenzt in dynamischem Gleichgewicht zu erhalten, erinnerten auf fatale Weise an das Perpetuum mobile – das von dem unerbittlichen Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik für unmöglich erklärt wurde. Daß dieser Zweite Hauptsatz auf die lebende Materie nicht anwendbar war, ja daß er sich in gewissem Sinn bei der lebenden Materie sogar ins Gegenteil verkehrte, das erschien einer Orthodoxie inakzeptabel, die immer noch davon überzeugt war, alle Phänomene des Lebens ließen sich letztlich auf physikalische Gesetze reduzieren. Es war in der Tat ein Physiker und nicht ein Biologe – nämlich der Nobelpreisträger Erwin Schrödinger –, der die Situation in einem berühmt gewordenen Paradoxon zusammenfaßte: »Wovon sich ein Organismus ernährt, das ist negative Entropie.«112 Nun ist Entropie (»umgewandelte Energie«) die Bezeichnung für abgebaute Energie, die durch Reibung und andere Abbauprozesse in die Zufallsbewegungen von Molekülen aufgelöst worden ist und nicht wiedergewonnen werden kann. Mit anderen Worten, Entropie ist eine Maßeinheit für den Energieverlust, für den allmählichen Zerfall geordneter Prozesse in ungeordnete Prozesse. Der Zweite Hauptsatz von Clausius läßt sich auch so ausdrücken, daß man sagt, die Entropie eines geschlossenen Systems zeigt stets die Tendenz, auf einen Maximalwert anzusteigen, bei dem dann alle Ordnung aufgelöst ist wie bei der chaotischen Bewegung von Gasmolekülen;* wenn also das Universum ein geschlossenes System ist, dann muß es letztlich vom Kosmos zum Chaos zerfallen. * Das Wort Gas leitet sich in der Tat vom griechischen Chaos ab.

So wurde die Entropie zu einer Schlüsselkonzeption der mechanistisch orientierten Wissenschaft – ihr Pseudonym für Thanatos, den Gott des Todes. Schrödingers »negative Entropie« ist somit der etwas pervers formulierte Hinweis auf den gegenteiligen Prozeß: auf den Aufbau im Organismus von komplexen Systemen aus einfachen Elementen, von Form aus Formlosigkeit, von Ordnung aus der Unordnung. Gleichermaßen charakteristisch ist die Tatsache, daß in der modernen Kommunikationstheorie auch der Informationsgehalt einer Botschaft als »negative Entropie«113 angesehen wird. Wenn man so weiterfährt, kann man auch das Wissen als negative Ignoranz definieren, Amüsements als das Fehlen von Langeweile und den Kosmos als die Abwesenheit von Chaos. Aber wie die Terminologie auch immer lauten mag, die Tatsache bleibt bestehen, daß lebendige Organismen die Fähigkeit haben, aus dem Chaos von Sinnesreizen, das auf sie eindringt, geordnete Wahrnehmungen und komplexe Wissenssysteme aufzubauen; das Leben saugt Informationen aus der Umwelt, auf gleiche Art wie es Nährstoffe und Energien aus ihr aufnimmt. Die gleiche, spontane Aufbautendenz manifestiert sich in der Phylogenese, in dem Phänomen der »Evolution durch Initiative«, in dem stetigen Fortschritt zu komplexeren Funktionen und Formen hin, im Aufbau neuer Stufen in der organismischen Hierarchie und neuer Methoden bei der Koordination, die zur besseren Beherrschung der Umwelt führen. Wir brauchen uns also nicht darüber aufzuregen, daß man Negative benutzt, um diese ganz augenfällig positiven Prozesse zu beschreiben, denn darin spiegelt sich nur die unbewußte Furcht des Wissenschaftlers wider, er könnte der Häresie des Vitalismus verfallen und wieder auf die Entelechien des Aristoteles, die Monadenlehre von Leibnitz oder Bergsons élan vital zurückgreifen. Damit wäre in der Tat nichts gewonnen. Es erscheint weiser, sich an die vorsichtigen Formulierungen hartgesottener Empiriker zu halten, die sich dennoch weigern, zu glauben, die Erde sei flach. Für Herbert Spencer 135

zum Beispiel bestand das Gesetz der Evolution in »Integration von Materie ... aus einer inkohärenten Homogenität zu einer kohärenten Heterogenität«.114 Der deutsche Biologe Woltereck prägte den Begriff »Anamorphose« für die primäre und allgegenwärtige Tendenz in der Natur, komplexere Formen hervorzubringen; L. L. Whyte bezeichnete sie als »das fundamentale Prinzip der Entwicklung von Strukturen«.* * »Bei allen Vorgängen in der Natur treten zwei miteinander kontrastierende Tendenzen hervor: die eine in Richtung auf lokale Ordnung, die andere in Richtung auf uniforme allgemeine Unordnung. Die erste Tendenz ist in allen Prozessen erkennbar, in denen eine Region der Ordnung sich von einer weniger geordneten Umwelt zu differenzieren sucht. Das zeigt sich bei der Kristallbildung, bei chemischen Verbindungen und bei den meisten organischen Prozessen. Die zweite Tendenz wird in den Prozessen der Radiation und der Diffusion erkennbar und führt zu einer Uniformität von ›thermaler Unordnung‹. Normalerweise wirken diese beiden Tendenzen in einander entgegengesetzten Richtungen,114a wobei die erste Regionen von differenzierter Ordnung hervorbringt, die zweite sie dispersiert.« (W Whyte .)

Einstein verwarf die Konzeption von der Zufälligkeit des evolutionären Geschehens durch seine »Weigerung, daran zu glauben, Gott spiele mit der Welt Würfel«; Schrödinger sah sich gezwungen, die Existenz eines Ichs zu postulieren, das letztlich »die Bewegungen der Atome kontrolliert«.115 Zuletzt will ich noch einmal Bertalanffy zitieren: »Nach dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zeigt die allgemeine Richtung physikalischer Prozesse eine Tendenz zum Zerfall von Ordnung und Organisation. Im Gegensatz dazu scheint die in der Evolution erkennbare Richtung eine Tendenz zu zunehmender Ordnung zu haben.«116 In der hier vorgebrachten Theorie bezeichnen wir diesen Richtungsfaktor als »integrative Tendenz«. Ich habe zu zeigen versucht, daß sie vom Begriff der hierarchischen Ordnung untrennbar ist und sich auf jeder Stufe manifestiert, von der Symbiose der Organellen in der Zelle bis zu den ökologischen Gemeinschaften und menschlichen Sozialverbänden. Jedes lebendige Holon zeigt die dualistische Tendenz, seine Individualität zu bewahren und zu behaupten, aber gleichzeitig als integrierter Teil eines bestehenden oder sich entwickelnden Ganzen zu funktionieren. Soviel kann man, glaube ich, mit einiger Sicherheit sagen. Jenseits davon sind die Anfänge der Evolutionsgeschichte verborgen hinter dem Big Bang, mit welchem laut Explosionstheorie das Universum begann – wenn es so begann –, oder hinter der kontinuierlichen Entstehung von Materie aus dem Nichts – falls die Dinge so liegen. Die Evolution ist, wie ein Klischee besagt, eine Reise von einem unbekannten Ursprungsort zu einem unbekannten Bestimmungsort – eine Segelfahrt über einen weiten Ozean; wir können jedoch zumindest die Route rekonstruieren, die uns vom Stadium der Seegurke bis zur Eroberung des Mondes geführt hat; und die Weigerung anzuerkennen, daß auf diesem Ozean ein Wind geht, der die Segel treibt, ist ein Zeichen von metaphysischer Verstocktheit. Aber ob wir nun sagen, der Wind, der aus einer fernen Vergangenheit kommt, treibt das Boot voran, oder ob wir sagen, er zieht es in die Zukunft hinein, das ist nicht so wichtig. Die Zielgerichtetheit aller Lebensvorgänge: das Streben der Blastula, sich zu einem Küken zu entwickeln, gleichgültig, welchen Fährnissen und Zufällen es ausgesetzt sein mag, die erfinderischen Improvisationen, die sich Tiere und Menschen einfallen lassen, um das Ziel ihrer Bemühungen zu erreichen – all das könnte den unvoreingenommenen Betrachter zu dem Schluß verleiten, die Zugkraft der Zukunft sei ein ebenso realer und gelegentlich sogar noch entscheidenderer Faktor als die Schubkraft der Vergangenheit. Der Schub läßt sich mit der Kraft vergleichen, die von einer zusammengepreßten Feder ausgeübt wird, der Zug mit der Kraft einer in der Richtung der Zeitachse gedehnten Feder. Keine von beiden ist mehr oder weniger mechanistisch als die andere. Die moderne Physik ist gerade dabei, ihre Vorstellungen von der Zeit neu zu durchdenken. Ist die Zukunft völlig determiniert, im Sinne von Laplace, dann ist die eine Beschreibung ebenso zutreffend wie die andere; ist sie jedoch unbestimmt, im Sinne von Heisenberg, und gibt es einen uns noch unbekannten Faktor, der innerhalb der Luftblasen im Strom 136

der Kausalität wirksam ist, dann könnte dieser von der Zukunft ebenso beeinflußt werden wie von der Vergangenheit. Wir sollten versuchen, den Problemen von Kausalität und Finalität vorurteilslos und aufgeschlossen gegenüberzutreten – auch dann, wenn das dem Zeitgeist nicht zu entsprechen scheint.* * Es ist interessant, festzustellen, daß Waddington sich117 in einem erst kürzlich erschienenen Buch zugunsten einer »quasi-finalistischen Auffassung« ausspricht.

14.2 Das Pendel schwingt hin und her In seinem Buch THE CONCEPT OF MIND (1949) hat Professor Gilbert Ryle – ein Philosoph aus Oxford mit stark behavioristischen Tendenzen – die übliche Unterscheidung zwischen physischen und geistigen Vorgängen attackiert und letztere (»mit bewußter Ironie«, wie er sagt) als »Gespenst in der Maschine« bezeichnet. In einer Rundfunksendung der BBC hat er dann seine Metapher weiter ausgebaut, und aus dem Gespenst in der Maschine wurde ein Pferd in einer Lokomotive.118 Professor Ryle ist ein prominenter Repräsentant der sogenannten Oxfordschule in der Philosophie, die nach den Worten eines ihrer Kritiker »echtes Denken als eine Krankheit ansieht« (G Gellner).119 Diese seltsame philosophische Irrlehre hat heute an Bedeutung stark verloren«,* und wir wollen nicht bei ihr verweilen; denn trotz ihrer Bemühungen, die fundamentalen Probleme von Geist und Materie, von Willensfreiheit und Determinismus als Scheinprobleme abzutun, haben diese sogar noch an Dringlichkeit gewonnen – nicht als Thema von philosophischen Erörterungen, sondern wegen ihrer unmittelbaren Bedeutung für die politische Ethik und die private Moral, für das Strafrechtswesen und die Psychiatrie sowie für unsere gesamte Lebensauffassung. Schon allein durch die Tatsache, daß wir die Existenz des Gespenstes in der Maschine leugnen – des Geistes, der auf die Aktionen des Körpers angewiesen, aber auch für sie verantwortlich ist –, laufen wir Gefahr, daß es sich in ein recht bösartiges Gespenst verwandelt. 120

* Siehe – unter anderem – Smythies,

John Beloff,

121

Gellner

122

123

und Kneale.

Bevor es den Behaviorismus gab, waren es die Psychologen und Logiker, die nachdrücklich die Auffassung vertraten, die Bewußtseinsvorgänge besäßen spezielle Eigenschaften, durch die sie sich von den Vorgängen im materiellen Bereich unterschieden; während die Physiologen im allgemeinen zu der materialistischen Auffassung neigten, alle geistigen Vorgänge ließen sich auf die Tätigkeit der »automatischen Telephonzentrale« im Gehirn reduzieren. Während der letzten fünfzig Jahre hat sich jedoch die Situation nahezu ins Gegenteil verkehrt. Die Logikprofessoren in Oxford spötteln über das Pferd in der Lokomotive, aber jene Männer, die ihre Lebensarbeit der Anatomie, der Physiologie, der Pathologie und der Chirurgie des Gehirns widmeten, haben sich in zunehmendem Maß zur gegenteiligen Ansicht bekehrt. Was sie dazu veranlaßt hat, mag das folgende Beispiel erklären. Einer der führenden Neurochirurgen, Wilder Penfield von der McGill-Universität, hat neue Techniken für Experimente an Patienten während einer Gehirnoperation entwikkelt. Der Patient ist bei Bewußtsein; die Experimente – die schmerzlos sind – bestehen in der Stimulierung bestimmter Punkte an der bloßgelegten Großhirnrinde mit Schwachstromelektroden. Da die Hirnrinde unempfindlich ist, ist sich der Patient der Stimulierungen nicht bewußt, wohl aber der Bewegungen, die auszuführen ihn der Strom veranlaßt. Penfield berichtet: Appliziert der Neurochirurg eine Elektrode an der motorischen Region der Großhirnrinde des Patienten und löst damit eine Bewegung der gegenüberliegenden Hand aus, und fragt er dann den Patienten, warum er seine Hand bewegt hat, dann erhält er zur Antwort: »Ich hab’s nicht getan. Sie haben mich gezwungen, es zu tun.« – Man könnte sagen, der Patient glaubt, sein Ich führe eine von seinem 137

Körper unabhängige Existenz. Als ich einmal einem Patienten vorher mitteilte, ich würde jetzt die Elektrode ansetzen und ihn auffordern, seine Hand während der Applikation der Elektrode nicht zu bewegen, packte er sie mit der anderen Hand und bemühte sich krampfhaft, sie stillzuhalten. Eine Hand stand also unter der Kontrolle der rechten Hemisphäre, die durch eine Elektrode angetrieben wurde, die andere Hand kontrollierte er selbst durch seine linke Hemisphäre, und beide waren gezwungen, gegeneinander zu kämpfen. Hinter der »Gehirntätigkeit« der einen Großhirnhemisphäre stand der Geist des Patienten – hinter der Tätigkeit der anderen Hemisphäre die Elektrode.124 Penfield schloß seinen denkwürdigen Vortrag mit folgenden Worten:* Es gibt also, wie Sie sehen, viele nachweisbare Mechanismen (im Gehirn). Sie arbeiten automatisch für die Zielsetzung der Psyche, wenn sie dazu veranlaßt werden ... Aber was ist die Beschaffenheit der Instanz, die diese Mechanismen zu ihrer Tätigkeit aufruft und die dem einen gegenüber dem anderen den Vorzug gibt? Handelt es sich hier um einen weiteren Mechanismus, oder gibt es im Geist etwas von unterschiedlicher Substanz? ... Wenn man behauptet, diese beiden Dinge seien ein und dasselbe, dann heißt das noch lange nicht, daß sie es auch tatsächlich sind. Aber eine derartige Behauptung hemmt in der Tat den Fortschritt der Forschung.125 * Gehalten auf dem »Control-of-the-Mind«-Symposion am University of California Medical Centre in San Franzisko (1961).

Es ist interessant, die Reaktion von Penfields Patienten mit der Reaktion von Versuchspersonen zu vergleichen, die einen posthypnotischen Auftrag ausführen sollen – den Sitz wechseln, ihre Knöchel berühren oder »Februar« sagen, wenn sie das Wort »drei« hören. In beiden Fällen ist es der Experimentator, der die Tätigkeit der Versuchsperson auslöst; während jedoch die Versuchsperson, die nicht weiß, daß sie einen posthypnotischen Befehl ausführt, automatisch eine mehr oder minder plausible rationale Erklärung dafür findet, daß sie ihren Knöchel berührt hat, erkennen Penfields Patienten, daß sie einem physischen Zwang gehorchen: »Niemals hat ein Patient zu mir gesagt: ›Ich wollte das ja ohnehin gerade tun!‹« Man ist versucht, zu sagen: der Hypnotiseur zwingt seinen Willen dem Geist, der Neurochirurg nur dem Gehirn der Versuchsperson auf. Zwei Symposien aus jüngerer Zeit – »Control of the Mind« (1961)126 und »Brain and Conscious Experience« (1966)127 – haben eindrucksvoll demonstriert, wohin das Pendel ausgeschlagen hat. Der wohl bedeutendste Neurologe unseres Jahrhunderts, Sir Charles Sherrington, war damals nicht mehr am Leben, aber seine Auffassung vom GeistKörper-Problem klang wiederholt als eine Art Leitmotiv an: Daß unser Wesen aus zwei fundamentalen Elementen bestehen soll, hat – wie ich glaube – keine größere Unwahrscheinlichkeit für sich als die Ansicht, es bestehe nur aus einem solchen Element ... Wir müssen wohl davon ausgehen, daß die Beziehung zwischen Geist und Gehirn nicht nur ein immer noch ungelöstes Problem ist, sondern daß wir noch nicht einmal einen ersten Ansatzpunkt zu seiner Lösung gefunden haben.128

138

14.3 Die Bühne und die Schauspieler Den Anhängern der »Flache-Erde-Theorie« ist es zwar keineswegs gelungen, ihre Behauptung zu beweisen, das Geist-Körper-Problem sei nur ein Scheinproblem, aber es wäre gleichermaßen töricht, ins andere Extrem zu verfallen und auf den kartesischen Dualismus zurückzugreifen. Es hätte nicht viel Sinn, hier noch einmal die verschiedenen Theorien auszubreiten, die zur Überbrückung dieser Kluft vorgebracht wurden – Wechselwirkung, Parallelismus, Epiphänomenalismus, Identitätshypothese und so weiter.* Statt dessen wollen wir lieber untersuchen, ob man mit Hilfe der Konzeption von der offenen Hierarchie neues Licht auf dieses sehr alte Problem werfen kann. * Neben den bereits vorher erwähnten Symposien, die dieses Problem vom neurophysiologischen Standpunkt aus angingen, gibt es noch ein ausgezeichnetes philosophisches Symposion, in Buchform herausgegeben von J. R. Smythies: BRAIN AND MIND (1965).

Der erste und gleichzeitig entscheidende Schritt besteht darin, sich von der Denkschablone der nur zweischichtigen Dichotomie Geist-Materie frei zu machen und an ihre Stelle die Vorstellung der vielschichtigen Hierarchie zu setzen. Die Materie selbst ist ja längst nicht mehr ein einheitlicher Begriff, die Hierarchie von mikroskopischen, molekularen, atomaren und subatomaren Schichten stößt niemals auf einen festen Grund, und schließlich löst sich die harte Materie anscheinend in Energiekonzentrate und Raumspannungen auf. In der entgegengesetzten Richtung erleben wir das gleiche: die aufsteigende Folge von Stufen führt von automatischen und halbautomatischen Reaktionen über Bewußtheit, Selbstbewußtheit und so fort, ohne jemals an eine letzte Grenze zu stoßen. Die kartesische Tradition, die Psyche mit dem »bewußten Denken« zu identifizieren, hat sich in unseren Denkgewohnheiten tief eingeprägt und läßt uns ständig die ganz offensichtliche und triviale Tatsache vergessen, daß das Bewußtsein nicht eine Frage von Ja oder Nein ist, sondern eine Frage der Abstufungen. Es existiert eine kontinuierliche Skala von Abstufungen, und diese reicht von der Bewußtlosigkeit, die eintritt, wenn man einen Schlag auf den Kopf bekommt, über die begrenzten Bewußtseinszustände im traumlosen Schlaf, beim Träumen, beim Tagträumen, bei Schläfrigkeit, bei epileptischen Automatismen und so weiter bis hinauf zum klaren, hellwachen Zustand. Das sind die allgemeinen Grade des Bewußtseins, welche für die – hellere oder weniger helle – Beleuchtung auf der Bühne sorgen, auf der die geistige Tätigkeit sich abspielt. Das untere Ende dieser Skala verliert sich im Ungewissen. Ethologen, die ihr Leben lang Tiere beobachten, weigern sich entschieden, im Tierreich eine Grenze zu ziehen, wo das Bewußtsein aufhört; Neurophysiologen sprechen von einem »spinalen Bewußtsein« bei niederen Tieren, und Biologen sogar vom »protoplasmischen Bewußtsein« bei den einzelligen Lebewesen.* Bergson ging noch weiter: Die Unbewußtheit eines fallenden Steins ist etwas anderes als die Unbewußtheit eines heranwachsenden Kohlkopfs. * Wie zum Beispiel bei den bereits früher erwähnten Foraminiferen (siehe Kapitel 11), die aus den Skelettnadeln toter Schwämme mikroskopisch kleine Bauten errichten – Bauten, die Hardy als »wahre Konstruktionswunder, wie nach einem festen Plan gebaut«, bezeichnet hat. Und diese einzelligen Lebewesen besitzen natürlich kein Nervensystem.

Beim Menschen lassen sich die Bewußtseinszustände durch Drogen beeinflussen, die die gesamte Funktionsweise des Gehirns verändern; aber auch durch die Art der Tätigkeit, die auf der Bühne vor sich geht – ob ich abends im Bett einen Kriminalroman lese oder anfange, Schafe zu zählen. Es ergibt sich also die paradoxe Situation eines Rückkoppelungskreises, in welchem die Tätigkeit des Schauspielers automatisch die Bühnenbeleuchtung erhellt oder abdunkelt – die wiederum ihrerseits die Tätigkeit des Schauspielers beeinflußt. Die Dramaturgie des Träumens ist nicht die gleiche, die für die vollerleuchtete Bühne gilt. 139

Wir müssen jedoch unterscheiden zwischen allgemeinen Bewußtseinszuständen – Stufen der Wachsamkeit, Ermüdung, Intoxikation – und dem Grad der Bewußtheit einer spezifischen Tätigkeit. Der erste Begriff bezieht sich auf das »bei Bewußtsein sein«, der zweite auf »sich einer Sache bewußt sein«. Der erste entspricht der allgemeinen Ausleuchtung der gesamten Bühne, der zweite dem Scheinwerferstrahl, der sich auf einen bestimmten Schauspieler konzentriert. Daß beide eine wechselseitige Wirkung aufeinander ausüben, haben wir bereits festgestellt. Aber auch die Bewußtheit beim Vollzug einer speziellen Tätigkeit hat ihre eigene Variationsskala. Beim Menschen reicht diese Skala von den stummen, selbstregulierenden Tätigkeiten der Eingeweide und der Drüsen – also von physiologischen Prozessen, deren wir uns normalerweise nicht bewußt werden – über Wahrnehmungen in den Randzonen der Bewußtheit, über Gewohnheitshandlungen, die wir mechanisch wie ein Roboter vollziehen, bis hinauf zur vollen Konzentration auf ein bestimmtes Problem, im Brennpunkt der Bewußtheit – der Scheinwerfer hat sich einen Schauspieler ausgesucht, der momentan die Szene beherrscht; der Rest der Bühne ist im Dämmerlicht.

14.4 Verlagerung der Kontrolle Wir kommen jetzt zu einem wichtigen Punkt. In Kapitel 8 haben wir festgestellt, daß die gleiche Tätigkeit – zum Beispiel das Autofahren – je nach Sachlage entweder automatisch ausgeführt werden kann, ohne daß wir uns der eigenen Handlungsakte bewußt werden, oder auf mehr oder minder bewußte Art. Fahre ich auf einer mir vertrauten, ruhigen Straße, dann kann ich das der automatischen Steuerungsanlage, dem »Autopiloten« in meinem Nervensystem überlassen und inzwischen über etwas anderes nachdenken. Das Überholen von anderen Fahrzeugen auf einer Autobahn ist meistens ein halbbewußter Routineprozeß; in einer verzwickten Situation jedoch erfordert das Überholen, daß ich mir dessen, was ich tue, voll bewußt bin. Diese Alternativmöglichkeiten gelten nicht nur für sensorischmotorische Fertigkeiten wie Autofahren oder Maschineschreiben, sondern auch für kognitive Fertigkeiten wie das Zusammenrechnen einer Spalte von Zahlen oder das Mundaufreißen bei einem Vortrag – wie das Lashleys Freund getan hat (siehe Kapitel 2). Es scheint mehrere Faktoren zu geben, die darüber bestimmen, wieviel bewußte Aufmerksamkeit man einer Tätigkeit zuwenden muß. Das Erlernen einer neuen Fertigkeit erfordert zunächst ein hohes Maß an Konzentration; mit zunehmender Beherrschung und Praxis kann man sie jedoch auch »im Schlaf« ausüben, weil jetzt die Spielregeln der Fertigkeit unter der Bewußtseinsschwelle operieren; und das gilt gleichermaßen für manipulierte, perzeptorische und intellektuelle Fertigkeiten. Der Kondensationsprozeß, der aus Lernen Gewohnheit macht, vollzieht sich unaufhörlich; er bewirkt eine kontinuierliche Umwandlung von »geistigen Aktivitäten« in »mechanische Aktivitäten« – von »psychischen Vorgängen« in »maschinelle Prozesse«. Auf negative Weise läßt sich also Bewußtsein bezeichnen als diejenige mit einer Tätigkeit verbundene Qualität, die proportional zur Gewohnheitsbildung abnimmt. Der Übergang vom Lernen zur Routine wird begleitet von einer allmählichen Dämpfung des Bewußtheitslichtes. Daher erwarten wir, daß sich, wenn die Routine in ihrem Ablauf gestört wird, der umgekehrte Prozeß vollzieht: daß dann ein Wechsel vom »mechanischen« zum »bewußten« Verhalten eintritt. Die Alltagserfahrung bestätigt diese Vermutung – aber was ergibt sich daraus? Gewohnheiten und Fertigkeiten sind Verhaltens-Holons mit festen Spielregeln und flexiblen Taktiken, das heißt Auswahlmöglichkeiten zwischen mehreren Alternativen. Es stellt sich nun die Frage, auf welche Weise diese Auswahlen getroffen werden. Automatisierte Routinefertigkeiten sind in dem Sinn selbstregulierend, daß ihre Taktik automatisch durch Rückkoppelungen aus der Umwelt gesteuert wird, ohne daß sich die 140

Notwendigkeit ergibt, Entscheidungen an höhere Instanzen zu verweisen. Wie ein Servomechanismus oder ein radargesteuertes Fluglandesystem operieren sie mit Hilfe von geschlossenen Rückkoppelungskreisen. Der Knabe auf dem Fahrrad und der Seiltänzer, der seine Balance mit Hilfe einer Bambusstange aufrecht erhält, sind Beispiele dieser Art von »kinetischer Homeostase«. Sicherlich führt der Seiltänzer sehr subtile, flexible Manöver aus, aber sie erfordern keine bewußten Entscheidungen; die visuelle und die kinästhetische Rückkoppelung besorgen die Steuerung des Bewegungsablaufes. Das gleiche gilt auch für das Autofahren – solange sich nichts Unerwartetes ereignet, etwa daß eine Katze quer über die Straße läuft. In diesem Augenblick ist eine Entscheidung erforderlich, die jenseits des Kompetenzbereiches des automatisierten Routineprozesses liegt* und daher einer »höheren Instanz« vorgelegt werden muß. Diese Verlagerung der Kontrolle über eine Tätigkeit von einer gegebenen auf eine höhere Stufe der Hierarchie – von einem »mechanischen« auf ein »geistiges« Niveau des Verhaltens – liefert uns den Schlüssel zu dem subjektiven Erlebnis des freien Willens. Es handelt sich hier um das gleiche Phänomen, das der Patient auf dem Operationstisch in extremer Form erlebt, wenn er bewußt versucht, mit seiner linken Hand die maschinenartige Bewegung seiner rechten zu bremsen, und das, wie Penfield sagt, dazu führt, daß der Patient glaubt, »sein Ich führe eine von seinem Körper unabhängige Existenz«. * In der Computersprache würde man sagen: »... für die er nicht programmiert worden ist.«

14.5 Dualismus und Pluralismus An diesem Punkt laufen wir jedoch Gefahr, wieder in den nur zweischichtigen kartesischen Dualismus zurückzufallen. Der Patient auf dem Operationstisch ist, wie gesagt, ein extremer Ausnahmefall. Der Fahrer, der eine rasche Entscheidung darüber fällen muß, ob er die Katze überfahren oder die Sicherheit seiner Mitfahrenden gefährden soll, hat nicht das Gefühl, sein Ich führe eine von seinem Körper unabhängige Existenz. Was sich im Augenblick der Krise ereignet, ist eine plötzliche Verlagerung der Kontrolle auf eine höhere Stufe der vielstufigen Hierarchie, von einem halbautomatischen zu einem bewußten Handlungsvollzug – das ist etwas Relatives, nicht etwas Absolutes. Und wie immer die bewußt gefällte Entscheidung ausfallen mag, ihre konkrete Ausführung muß immer noch den automatischen Teilfertigkeiten (Bremsen, das Steuerrad herumreißen und so weiter) auf den unteren Stufen der Hierarchie überlassen bleiben. »Das Bewußtsein«, sagt Thorpe, »ist eine primäre Tatsache des Daseins und kann als solche nicht erschöpfend definiert werden ...«129 Alles Beweismaterial deutet darauf hin, daß das Bewußtsein auf den unteren Sprossen der Evolutionsleiter – wenn es dort überhaupt existiert – von sehr allgemeiner Art, das heißt sozusagen unstrukturiert sein muß; und daß mit der Entwicklung von zielgerichteten Verhaltensweisen und intensivierter Aufmerksamkeit das erwartungsvolle Bewußtsein ständig lebhafter und präziser wird.«130 Nach dem vorher Gesagten aber findet man solche Abstufungen der Strukturierung, Lebhaftigkeit und Präzision des Bewußtseins nicht nur auf der Evolutionsleiter, sondern auch bei Mitgliedern der gleichen Spezies sowie innerhalb desselben Individuums in verschiedenen Entwicklungsstadien und verschiedenen Situationen. Jeder Schritt »aufwärts« in der Hierarchie führt zu lebhafteren und schärfer strukturierten Bewußtseinszuständen, jeder Schritt abwärts hat die gegenteilige Wirkung zur Folge. Wir wollen dieses Phänomen noch ein wenig ausführlicher erörtern. Nur ein Bruchteil der in der Großhirnrinde eintreffenden Reize erreicht das Bewußtsein, und wiederum nur ein Bruchteil von ihnen gerät in das Scheinwerferlicht der fokalen Bewußtheit. Aber alle, die das Bewußtsein erreichen, sind schon vorher bearbeitet und transformiert worden: bestimmte Wellenbänder elektromagnetischer Wellen haben bereits die subjektive Qualität von Farben angenommen, Luftdruckwellen die Qualität von 141

Klängen, und so fort. Das ist der erste Schritt in dem vielstufigen Prozeß, in dessen Verlauf »physische Vorgänge« in »psychische Vorgänge« umgewandelt werden; eine Anzahl von Philosophen betrachtet ihn als das fundamentale Mysterium des Lebens, andere leugnen, daß es da überhaupt ein Problem gibt, und weisen darauf hin, daß auch Bienen Farben wahrnehmen können und daß Hunde in einer Privatwelt von Gerüchen leben. Ich will dieser alten Kontroverse absichtlich ausweichen, denn mit jedem Schritt aufwärts in den Hierarchien des Wahrnehmens, des Tuns und des Wissens ergibt sich das gleiche Problem von neuem. Luftschwingungen werden nicht in Musik verwandelt mittels einer einzigen magischen Transformation vom Physischen zum Psychischen, sondern durch eine ganze Serie von Operationen, in deren Verlauf Figuren im Zeitablauf abstrahiert und dann auf den höheren Stufen der Hierarchie zu umfassenden Strukturen zusammengefügt werden. Die bewußte Wahrnehmung der Musik wird von dieser Stufenfolge bedingt, und der Grad des »musikalischen Verständnisses« korrespondiert mit dem Grad, in welchem die melodischen, harmonischen und kontrapunktischen Figuren zu einem kohärenten Ganzen integriert sind. Ein weiteres Beispiel, das wir bereits in Kapitel 2 erörtert haben, ist die Art und Weise, wie wir Luftschwingungen in Ideen und wieder zurückverwandeln. Das Verstehen der Sprache basiert sozusagen auf einer Serie von Quantensprüngen von einem Niveau der Sprachhierarchie zum anderen: Phoneme lassen sich nur auf dem Niveau der Morpheme interpretieren, Wörter müssen auf den zugehörigen Kontext bezogen werden, Sätze auf einen umfassenderen Zusammenhang – und dahinter stehen die Intention, die präverbale Idee, die flüchtigen Gedankenzüge. Aber Züge brauchen Weichensteller, die sie auf ihrem Kurs steuern; die Weichensteller wiederum benötigen Instruktionen. Wer instruiert sie? Die unendlich regressierende Serie ist nicht eine Erfindung der Philosophen. In einer von Alfred Hayes’ Kurzgeschichten* grübelt die Heldin über die Kette der Ereignisse nach, die zum Unfalltod ihres Kindes geführt haben: Weil wir immer glauben, die Dinge ereigneten sich in einer Art Abfolge. Und dann sagen wir: weil. Und wir denken, das »Weil« erkläre schon alles. Und dann untersucht man das »Weil« – o Gott, wie oft habe ich das seither getan! –, und es öffnet sich, und innen drin ist ein weiteres »Weil«, ein kleineres, ein »Weil« innerhalb des anderen »Weil«, und man fährt fort, sie zu öffnen, und entdeckt in ihnen immer neue »Weils« ... * The Beach of Ocean View.

Der klassische Dualismus kennt nur eine Barriere zwischen Körper und Geist. Die hierarchische Auffassung dagegen impliziert eine vielstufige an Stelle einer zweistufigen Anordnung. Jeder Schritt aufwärts in der Stufenfolge bei der Apperzeption von Musik oder Sprache bedeutet das Überschreiten einer Barriere von einem niederen zu einem höheren Bewußtseinszustand. Der umgekehrte Vorgang spielt sich bei der Ausführung einer Idee ab: die »luftigen Nichts-Gestalten« des Sommernachtstraums werden in die mechanische Bewegung der Stimmbänder umgewandelt. Auch das geschieht mittels einer Serie von Schritten, deren jeder vorprogrammierte »Mechanismen« von zunehmend automatisierter Art auslöst. Die noch nicht verbalisierte Vorstellung oder Idee, die den Prozeß in Gang bringt, gehört einem mehr vergeistigten Bereich an als ihre Verkörperung in der Sprache; die satzgestaltende Maschinerie mit ihren zahlreichen Stufen nimmt eine Zwischenstellung zwischen dem rein Ideellen und den völlig mechanisierten Muskelkontraktionen zur Artikulierung der Sprachlaute ein. Jeder Schritt abwärts hat die Delegation von Verantwortung an stärker automatisierte Automatismen zur Folge – jeder Schritt aufwärts ihre Delegation an mehr vergeistigte Prozesse der Geistestätigkeit. Die Dichotomie Geist-Maschine wird nicht nur an der Grenze zwischen Ich und Umwelt offenbar, sondern ist auf jeder Stufe der Hierarchie gegenwärtig. Es handelt

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sich hier in der Tat um eine Manifestation unseres altvertrauten Freundes, des doppelgesichtigen Gottes Janus. Anders ausgedrückt: die Ausführung einer Absicht – ganz gleich, ob es sich um die Absicht, etwas zu sagen, handelt oder um das Anzünden einer Zigarette – ist ein Partikularisierungsprozeß, bei welchem Teilfertigkeiten in Gang gesetzt werden – funktionelle Holons von untergeordnetem, autonomem Teilcharakter. Anderseits handelt es sich bei der Verweisung von Entscheidungen an höhere Instanzen ebenso wie bei der Interpretation von Wahrnehmungen um integrative Prozesse, die einen höheren Grad der Einheit und Ganzheit des Erlebens bewirken. Jeder Schritt aufwärts beziehungsweise jeder »Quantensprung« in der Hierarchie stellt danach einen gleichsam holistischen Bewegungszug dar, jeder Schritt abwärts einen partikularistischen Bewegungszug; ersterer ist gekennzeichnet durch erhöhte Bewußtheit und geistige Attribute, letzterer durch abgeschwächte Bewußtheit und mechanistische Attribute. Bewußtsein ist danach ein aufsteigender Faktor, der sich in der Phylogenese zu komplexeren und präziseren Zuständen entwickelt, die höchste Manifestation der integrativen Tendenz zur Schaffung von Ordnung und Unordnung und von »Information« aus Geräusch. Ein hervorragender Neurophysiologe unserer Zeit, R. W. Spery, schrieb kürzlich: Bevor die bewußte Wahrnehmung in der Evolution zum erstenmal in Erscheinung trat, vollzog sich der gesamte kosmische Prozeß wie ein Drama, das vor leeren Sitzen gespielt wird, farblos und lautlos, denn nach dem heutigen Stand der Physik gab es, bevor das Gehirn in Erscheinung trat, im Universum keine Farbe und keine Töne und auch nicht Geschmack oder Aroma, und vermutlich hatte das Ganze kaum einen Sinn, und es gab weder Empfindungen noch Gefühle. Bevor es Gehirne, gab, war die Welt auch frei von Schmerz und Angst ... Im gesamten Bereich der Wissenschaft gibt es kein wichtigeres Problem, als daß man versucht, jene sehr eigenartigen Vorgänge in der Evolution zu begreifen, mit deren Hilfe das Gehirn das Kunststück vollbracht hat, den kosmischen Bauplan zu bereichern mit Farben, Klängen, Schmerz, Freude und was es sonst noch an Aspekten der bewußten Erfahrung gibt.131

14.6 Das Ich des Plattwurms Blickt er nach innen, dann hat jeder Mensch das Gefühl, in ihm existiere ein Persönlichkeitskern, ein Scheitelpunkt der Hierarchie, »der sein Denken kontrolliert und den Scheinwerferstrahl seiner Aufmerksamkeit steuert« (P Penfield) – ein Gefühl der Ganzheit. Blickt er nach außen, dann ist er sich nur seiner momentanen Tätigkeit bewußt – eine Art Teilbewußtheit, die in absteigender Folge in das Zwielicht der Routinevorgänge übergeht und schließlich in die Unbewußtheit der viszeralen Prozesse, des heranwachsenden Kohlkopfs und des fallenden Steins. Aber auch nach oben hin ist die Hierarchie gleichermaßen offen. Das Ich, das den Scheinwerferkegel meiner Aufmerksamkeit steuert, kann von ihm niemals fokal erfaßt werden. Selbst die Operationen, die die Sprache gestalten, schließen Prozesse ein, die sich nicht durch die Sprache ausdrücken lassen (siehe Seite 24 f.). Ein Paradoxon, das so alt ist wie das von Achilles und der Schildkröte, besagt, daß das wahrnehmende Subjekt niemals völlig zum Objekt seiner Wahrnehmung werden kann; bestenfalls kann es eine stufenweise Annäherung erreichen. Wenn Lernen und Erkenntnis darin bestehen, daß man sich ein privates Modell der Welt konstruiert,* dann folgt daraus, daß dieses Modell niemals ein vollständiges Modell seiner selbst einschließen kann, denn es 143

muß notgedrungen immer einen Schritt hinter dem Prozeß herhinken, den es repräsentieren soll. Bei jedem Aufwärtsschritt der Bewußtheit zum Gipfel der Hierarchie hin – dem Ich als einem integrierten Ganzen – weicht er wie eine Fata Morgana um die gleiche Distanz zurück. »Erkenne dich selbst« ist eine der altehrwürdigsten und zugleich unmöglichsten Maximen. * Siehe das Werk von Craig: THE NATURE Kommunikationstheorie ist.

OF

EXPLANATION (1943), das ein Eckpfeiler der modernen

Anderseits bewirkt schon die begrenzte und unvollständige Fähigkeit der SelbstBewußtheit des Menschen, daß man ihm eine Sonderstellung zwischen allen Lebewesen einräumen muß. Selbst der Plattwurm zeigt anscheinend Zeichen von Aufmerksamkeit und Erwartung, die man als primitive Bewußtheitsformel bezeichnen könnte; Primaten und Haustiere mögen Rudimente von Selbst-Bewußtheit besitzen; trotzdem stellt der Mensch einen einsamen Gipfel dar. Wir haben gesehen (Kapitel 4), daß jedes der Segmente, in die man einen Plattwurm zerschnitten hat, imstande ist, sich zu einem vollständigen Tier zu regenerieren; der Anhänger des klassischen Dualismus müßte folglich annehmen, der Geist oder die Seele des Wurmes sei ebenfalls in sechs »Teilseelen« aufgespalten worden (Seite 49). Nach unserer Theorie wird jedoch das Ich beziehungsweise die Psyche nicht als geschlossene Entität angesehen, als ein Ganzes im absoluten Sinn des Wortes; vielmehr wird jedem ihrer Holons in der vielstufigen Hierarchie ein gewisses Maß von Individualität zugesprochen – mit den janusgesichtigen Attributen der Teilheit und der Ganzheit; und der Grad ihres Integriertseins zu einer einheitlichen Persönlichkeit ist je nach den Umständen verschieden, aber er ist niemals absolut. Die totale Bewußtheit der Eigenpersönlichkeit, die Identität von Erkennendem und Erkanntem ist zwar stets in Sicht, aber sie wird niemals ganz erreicht. Das könnte nur auf dem Gipfel der Hierarchie geschehen – dieser Gipfel aber weicht vor dem Bergsteiger beständig zurück. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint es nicht länger absurd, anzunehmen, die Fragmente des Plattwurms, deren Gewebe zum Embryonalzustand zurückgekehrt sind, hätten nun ganz von neuem begonnen, eine Geist-Körper-Hierarchie aufzubauen – vielleicht sogar mit der Begleiterscheinung einer dämmernden Bewußtheit der Eigenpersönlichkeit. Das allmähliche Emporkommen der Bewußtheit in der Phylogenese spiegelt sich bis zu einem gewissen Grad auch in der Ontogenese wider. Im vorhergehenden Kapitel zitierte ich Piagets und Freuds Befunde über den »flüssigen« Erlebnisstrom des neugeborenen Kindes, in welchem es noch keine festen Grenzen zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich gibt. In einer Reihe von klassischen Studien hat Piaget gezeigt, daß die Entstehung dieser Grenze ein gradueller Prozeß ist und daß das durchschnittliche Kind sich erst im Alter von etwa sieben oder acht Jahren seiner gesonderten, ganz persönlichen Identität voll bewußt wird. »Diese spezielle Komponente des Ichs, die Selbst-Bewußtheit, muß allmählich durch Erfahrung aufgebaut werden«, hat Adrian festgestellt.132 Aber dieser Aufbauprozeß ist niemals beendet. Man kann ihn mit einer unendlichen mathematischen Reihe vergleichen, die auf die Zahl Eins zu konvergiert,* oder mit einer Spiralkurve, die auf ein Zentrum zuläuft, das sie jedoch nur nach einer unendlichen Anzahl von Windungen erreichen kann. * Die einfachste Reihe dieser Art ist: S = (½ + ¼ + ⅛ + 1/16 + ... 1/n), wobei n sich dem Unendlichen nähern muß, damit die Summe S sich der Zahl Eins nähert.

Die Suche nach dem Ich ist ein abstrakter Zeitvertreib für Philosophen; für gewöhnliche Sterbliche gewinnt sie erst dort an Bedeutung, wo moralische Entscheidungen oder das Gefühl der Verantwortung für das Geschehene – mit anderen Worten: das Problem des freien Willens – auf dem Spiele stehen. Die Rätsel um den Weichensteller, der unser Denken in bestimmte Bahnen lenkt, und um den Aufseher, der dem Weichensteller sagt, 144

was er tun soll, die machen uns nur dann zu schaffen, wenn wir uns wegen unserer törichten, sündhaften oder müßigen Gedanken – oder Handlungen – schuldig fühlen. Man stelle sich ein Tischgespräch in einem der altehrwürdigen Colleges in Oxford vor, zwischen einem älteren Philosophen von streng deterministischer Richtung und einem jungen australischen Dozenten mit etwas ungeschliffenen Manieren. Der Australier: »Wenn Sie noch weiter leugnen, daß ich in meinen Entscheidungen frei bin, dann muß ich Ihnen wirklich eine herunterhauen.« Der alte Mann wird blaurot im Gesicht: »Ich gestehe, daß ich Ihr Benehmen unverzeihlich finde.« »Entschuldigen Sie, bitte. Ich habe mich hinreißen lassen.« »Sie sollten sich wirklich besser beherrschen.« »Danke. Das Experiment ist gelungen.«

Das war in der Tat der Fall. »Unverzeihlich«, »Sie sollten« und »sich beherrschen« sind Ausdrücke, die voraussetzen, daß das Verhalten des Australiers nicht durch Erbanlage und Umwelt determiniert war, daß er frei darüber entscheiden konnte, ob er höflich oder grob sein sollte. Welche philosophischen Überzeugungen man auch immer haben mag, im täglichen Leben kommt man unmöglich aus ohne den stillschweigenden Glauben an eine persönliche Verantwortlichkeit; und Verantwortlichkeit impliziert freie Wahl. Ich darf hier wohl etwas zitieren, was ich vor langer Zeit geschrieben habe, als ich noch in erster Linie an den politischen Implikationen dieses Problems interessiert war: Es ist jetzt sechs Uhr abends, ich habe gerade einen Martini getrunken und fühle mich versucht, noch einen zu trinken und dann mit Freunden auszugehen, anstatt diesen Essay zu schreiben. Während der letzten Viertelstunde habe ich mit der Versuchung gekämpft, und schließlich habe ich den Gin und den Wermut in den Schrank geschlossen und mich an den Schreibtisch gesetzt, mit mir selbst zufrieden. Vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus ist diese Zufriedenheit völlig eitel, da die Frage bereits entschieden war, ehe ich sie selbst stellte; es war auch bereits entschieden, daß ich diese falsche Zufriedenheit empfinden und das schreiben würde, was ich jetzt schreibe. Natürlich glaube ich in meinem Innersten nicht, daß dem so ist, und ganz gewiß glaubte ich es vor einer Viertelstunde nicht. Hätte ich es geglaubt, so hätte sich der sogenannte »innere Kampf« nicht vollzogen, und ich hätte ruhig weitertrinken können mit der Ausrede, daß es eben so vorherbestimmt war. So muß also meine Ablehnung des Determinismus in der Kausalkette mit enthalten sein, die mein Verhalten determiniert; eine der Bedingungen für die Erfüllung der vorbestimmten Handlung ist, daß ich nicht glauben darf, sie sei vorbestimmt. Das Schicksal kann sich nur durchsetzen, indem es mich zwingt, nicht daran zu glauben. So schließt der Begriff des Determinismus an sich eine Spaltung zwischen Denken und Tun in sich ein; er verdammt den Menschen dazu, in einer Welt zu leben, in der die Regeln des Verhaltens auf einem »Als ob« und die Regeln der Logik auf dem »Weil« beruhen. Dieses Paradoxon ist nicht auf den wissenschaftlichen Determinismus beschränkt – der Muselmann, der in einer Welt des religiösen Determinismus lebt, ist mit derselben geistigen Spaltung behaftet. Obwohl er nach den Worten des Korans glaubt, daß »jeder Mensch sein Schicksal um den Hals gebunden trägt«, so verwünscht er doch seine Feinde – und sich selbst, wenn er einen Fehler macht, als ob jeder frei entscheiden könnte. Er benimmt sich auf seine Art genau wie der alte Karl Marx, welcher lehrte, daß die geistige Prägung des 145

Menschen ein Produkt seiner Umwelt sei, aber jeden wüst beschimpfte, der, seinen Umweltbedingungen gehorchend, mit ihm nicht einer Meinung war.133 Das subjektive Erlebnis der Freiheit ist eine ebenso feststehende Gegebenheit wie die Wahrnehmung von Farben oder das Empfinden von Schmerz. Es ist das Gefühl, eine nicht aufgezwungene, nicht unausweichliche Wahl zu treffen. Es scheint von innen nach außen zu wirken und seinen Ursprung im Kern der Persönlichkeit zu haben. Selbst Psychiater der deterministischen Schule stimmen darin überein, daß das Aufgeben des Glaubens an einen eigenen Willen zu einem Zusammenbruch der gesamten geistigen Struktur des Patienten führt. Basiert diese trotzdem auf einer Illusion? Die Mehrzahl der Teilnehmer an dem obenerwähnten Symposion »Brain and Conscious Experience« (Das Gehirn und das bewußte Erleben) war der gegenteiligen Ansicht. Einer der Redner, Professor MacKay, ein Kommunikationstheoretiker und Computer-Experte, von dem man eigentlich erwarten würde, daß er zu einer mechanistischen Auffassung tendiert, schloß seinen Vortrag wie folgt: Unser Glaube, daß wir normalerweise frei in der Wahl unserer Entscheidungen sind, ist nicht nur in keiner Weise anfechtbar, es gibt für ihn keine gültige Alternative selbst vom Standpunkt einer noch so deterministisch orientierten prä-Heisenbergschen Physik aus.134* * Heisenbergs »Unbestimmtheitsprinzip« (»Unschärferelation«), eines der Fundamente der modernen Physik, besagt, daß auf dem Niveau der Elementarquanten ein strenger Determinismus nicht mehr anwendbar ist.

MacKay stützte seine Argumentation teils auf Heisenbergs Unbestimmtheitsprinzip der modernen Physik, hauptsächlich aber auf das Paradoxon, auf das ich bereits angespielt habe: Der Determinismus impliziert die Voraussagbarkeit des Verhaltens, das heißt, daß ein idealer Computer, dem alle relevanten Informationen über mich eingespeist worden sind, voraussagen könnte, was ich jeweils tun werde; diese Informationen müßten jedoch auch meinen Unglauben an die Voraussagbarkeit meiner Handlungen mit einschließen und dem Computer gleichfalls eingespeist werden. An diesem Punkt führt das Argument in einen Zirkelschluß der symbolischen Logik; bezüglich seiner Einzelheiten muß ich den Leser auf das Original verweisen. Mir erscheinen jedoch die Argumente der Logik und der Epistemologie weniger überzeugend als jene, die sich aus der hierarchischen Konzeption ergeben. Die Spielregeln, die das Verhalten eines Holons regieren, lassen ihm einen Spielraum der Auswahl zwischen verschiedenen Alternativmöglichkeiten. Auf dem viszeralen Niveau ist die Wahl durch die geschlossenen Rückkoppelungskreise der homeostatischen Regulierungen festgelegt; auf den höheren Niveaus nehmen jedoch die Auswahlmöglichkeiten mit zunehmender Komplexität ständig zu; und die Entscheidung hängt dann immer weniger von solchen geschlossenen Funktionskreisen und stereotypen Routineprozessen ab. Vergleichen wir das Mühlespiel mit dem Schachspiel. In beiden Fällen ist die Wahl des nächsten Zuges »frei« in dem Sinn, daß sie von den Spielregeln zwar eingeengt, aber nicht bestimmt wird. Während es jedoch beim Mühlespiel nur eine geringe Auswahl von Zügen gibt, die von einfachen, fast automatischen Taktiken bestimmt werden, läßt sich der Schachspieler bei seinen Entscheidungen von strategischen Erwägungen auf einer viel höheren Stufe der Komplexität leiten; und die Regeln der Strategie sind noch viel lockerer als die Spielregeln selbst. Sie bilden ein delikates, elastisches Gewebe aus Für und Wider. Dieses Aufwärtsverlegen der Entscheidung auf eine höhere Stufe der Hierarchie ist es, was die Wahl zu einer bewußten Wahl macht, und das labile Gleichgewicht zwischen Für und Wider erweckt dabei das subjektive Empfinden der Freiheit. Vom objektiven Standpunkt aus gesehen scheint mir der entscheidende Faktor der zu sein, daß die Freiheitsgrade (im Sinne des Physikers) in aufsteigender Ordnung zuneh146

men. Je höher also die Stufe, der die Entscheidungsbefugnis übertragen wird, desto weniger läßt sich voraussagen, welche Wahl schließlich getroffen wird; und die letzten Entscheidungen bleiben dem Gipfel vorbehalten – aber der Gipfel bleibt nicht still. Er weicht ständig zurück. Das Ich, das letztlich die Verantwortung für die Handlungen des Menschen trägt, läßt sich niemals im Scheinwerferstrahl seiner Bewußtheit einfangen; folglich können auch seine Handlungen, selbst von einem perfekten Computer, niemals vorausgesagt werden, auch wenn er noch so viele Angaben eingespeist erhält: denn die Angaben müssen notwendigerweise immer unvollständig bleiben.* Am Ende führen sie wieder zu einer unendlichen, regressiven Reihe von Rädern, die sich innerhalb von Rädern drehen, und zu den »Weils« innerhalb der »Weils«. 135

* Das steht in enger Beziehung zu MacKays Argumentation und ebenfalls zu Karl Poppers Behauptung, kein Informationssystem (wie etwa ein Computer) könne in sich selbst eine auf den neuesten Stand gebrachte Repräsentation seiner selbst – einschließlich dieser Repräsentation – umfassen. Ein ähnliches Argument hat Michael Polanyi vorgebracht mit Bezug auf die Unbestimmtheit der Grenzverhältnisse bei 136 physikalisch-chemischen Systemen.

14.7

Eine Art Maxime

Beim umgekehrten Prozeß, der in der Hierarchie abwärts führt, werden die Entscheidungen zunächst halbautomatischen, dann vollautomatischen Routineinstanzen überlassen; mit jeder weiteren Verlegung der Kontrolle auf niedere Stufen vermindert sich das subjektive Erlebnis der Freiheit und der Bewußtheit des Handelns. Gewöhnung ist der Feind der Freiheit; die Mechanisierung von Gewohnheiten tendiert zur rigor mortis des roboterähnlichen Pedanten. Maschinen können niemals Menschen werden, wohl aber Menschen Maschinen. Der zweite Feind der Freiheit ist die Leidenschaft, genau gesagt, die Kategorie der selbstbehauptenden aggressiv-defensiven Affekte. Wenn sie wachgerufen werden, geht die Kontrolle über Entscheidungen auf jene primitiven Stufen der Hierarchie über, die unsere Vorfahren »die Bestie in uns« nannten und die in der Tat von phylogenetisch älteren Strukturen im Nervensystem beeinflußt sind (siehe unter Kapitel 16). Die Einbuße an Freiheitsgraden bei dieser Verlagerung der Kontrolle nach unten spiegelt sich auch in dem Rechtsbegriff »verminderte Zurechnungsfähigkeit« wider – und in dem subjektiven Gefühl, man handle unter einem Zwang: »Ich konnte nicht anders«, »Ich verlor den Kopf«, »Ich muß von Sinnen gewesen sein«. Auch hier handelt es sich wieder um den Janus-Effekt: In der inneren Schau fühle ich mich frei, im Ausblick auf die Umwelt sind meine Handlungen von ihr bedingt. Das ist der Punkt, an welchem das Dilemma des moralischen Urteils über andere einsetzt. Wie kann ich in Erfahrung bringen, ob und in welchem Ausmaß der Andere in seiner Zurechnungsfähigkeit vermindert war, als er seine Tat beging – und ob er vielleicht wirklich »nicht anders konnte«? Innerer Zwang und innere Freiheit sind entgegengesetzte Pole auf einer kontinuierlichen Skala; es gibt aber keinen Zeiger, der mir die Skala ablesen hilft. Die ungefährlichste Hypothese ist, dem Anderen ein Minimum, sich selbst aber ein Maximum an Verantwortung zuzusprechen. Ein französisches Sprichwort heißt: Tout comprendre c’est tout pardonner – Alles verstehen heißt alles verzeihen. Auf Grund der oben angeführten Hypothese sollte man es ändern in: Tout comprendre, ne rien se pardonner – Alles verstehen, sich selbst nichts verzeihen. Das hört sich an wie moralische Demut, gemischt mit intellektueller Arroganz. Aber es ist ein relativ harmloses Rezept.

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14.8 Die offene Hierarchie Während die selbstbehauptenden Emotionen das Bewußtseinsfeld einengen (die Leidenschaft ist vielleicht nicht gerade »blind«, aber sie trägt Scheuklappen), haben die selbsttranszendierenden Emotionen die gegenteilige Wirkung einer Ausweitung des Bewußtseins, bis sich das Ich schließlich im »ozeanischen Gefühl« der mystischen Kontemplation oder ästhetischen Verzückung aufzulösen scheint. Die selbstbehauptenden Emotionen zeigen die Tendenz, die Freiheit der Wahl einzuengen, die selbsttranszendierenden Emotionen tendieren zur Freiheit von der Wahl, des Nirgends-Anhängens. Diese »Ent-Ichung« des Ichs scheint das genaue Gegenteil des Strebens nach der totalen Selbstbewußtheit zu sein. In der Literatur des Mystizismus sind jedoch beide anscheinend eng miteinander verbunden. So besteht zum Beispiel das Ziel von Hatha Joga darin, eine höhere Stufe der Selbstbewußtheit dadurch zu erreichen, daß man viszerale Prozesse und individuelle Muskeln der Kontrolle des Willens unterstellt. Diese Übungen gelten jedoch nur als ein Mittel zum Zweck, »einen Zustand des ›puren Bewußtseins‹ zu erlangen, dessen einziger Inhalt das Bewußtsein selbst ist«.* Man glaubt, daß in diesem Zustand das vergängliche Ich eine Art geistige Osmose mit dem Atman, dem Weltgeist, eingeht – und mit ihm zu einer Einheit verschmilzt. Andere Schulen des Mystizismus versuchen das gleiche Ziel auf anderen Wegen zu erreichen; alle scheinen sich jedoch darin einig zu sein, daß die Herrschaft über das Ich ein Mittel zu dessen Transzendierung ist. * Siehe Von Heiligen und Automaten, Teil I.

Ich bin mir bewußt, daß ich in diesem Kapitel gewissen Grundproblemen ausgewichen bin. Ich habe nicht den Versuch unternommen, das Bewußtsein zu definieren; da es die Vorbedingung aller geistigen Tätigkeit ist, läßt es sich mit Hilfe eben dieser Tätigkeit nicht definieren. Ich stimme da ganz mit MacKay überein: Mein eigenes Bewußtsein ist eine primäre Tatsache; es wäre unsinnig, es in Zweifel zu ziehen, denn es ist ja die Grundlage, auf der sich mein Zweifel auf baut.137 Wir können nicht sagen, was das »Bewußtsein« ist, wir können aber sagen, ob mehr oder weniger davon vorhanden ist und ob es eine grobe oder delikate Struktur aufweist. Es ist ein in der Entwicklungsgeschichte aufsteigender Faktor, der sich auf Zustände von zunehmender Komplexität hin entwickelt und untrennbar verbunden ist mit der Gehirntätigkeit. Der klassische Dualismus sah geistige und körperliche Tätigkeit als separate Kategorien an, die Monisten sahen in ihnen komplementäre Aspekte ein und desselben Prozesses; dabei bleibt aber immer noch das Problem offen, in welcher Art von Beziehung zueinander die beiden stehen. Die hierarchische Auffassung macht aus dieser absoluten Unterscheidung eine relative, sie ersetzt die dualistische Theorie durch eine serialistische Hypothese, nach der die Begriffe »geistig« und »mechanisch« nur relative Attribute sind und das Vorherrschen des einen oder anderen Attributs von den Verschiebungen des Kontrollniveaus innerhalb der Hierarchie abhängt. Natürlich bleibt immer noch eine ganze Reihe von Problemen ungelöst, aber es ergeben sich wenigstens einige neue Fragestellungen. Auf Grund unserer Hypothese könnte sich zum Beispiel eine neue Einstellung gegenüber den Phänomenen der außersinnlichen Wahrnehmung als einer in Bildung begriffenen höheren Stufe überindividueller Bewußtheit ergeben – oder umgekehrt als einer früheren Version von »psychosymbiotischer« Bewußtheit, die der Selbst-Bewußtheit vorausgeht und die die Evolution schließlich zugunsten der letzteren abgestoßen hat. Aber dieses Problem liegt jenseits unseres Themas. Die eng miteinander verbundenen Konzeptionen der »offenen Hierarchie« und des »endlosen Zurückweichens« sind auf den Seiten dieses Buches ein immer wiederkehrendes Leitmotiv gewesen. Eine Anzahl von Wissenschaftlern hegt eine starke Abneigung gegen die Konzeption der unendlich regressierenden Reihe, da sie stark an das 148

»Männeken innerhalb des Männekens innerhalb des Männekens« erinnert und auch an die strapaziösen Paradoxa wie das vom kretischen Lügner. Man kann das Problem aber auch unter einem anderen Blickwinkel sehen. Das Bewußtsein ist mit einem Spiegel verglichen worden, in welchem der Körper seine eigenen Handlungsakte betrachtet. Man käme dem Kern der Sache aber wohl näher, wenn man das Bewußtsein mit einer Art Spiegelsaal vergliche, wo ein Spiegel das in einem anderen Spiegel reflektierte Bild seiner selbst widerspiegelt, und so fort. Wir können dem Unendlichen nicht entrinnen. Es starrt uns überall ins Gesicht, ob wir nun in die Atome hinein- oder zu den Sternen hinaufblicken oder auf die Ursachen hinter den Ursachen, bis zurück in die Ewigkeit. Die Flache-Erde-Wissenschaft kann mit dem Begriff der Unendlichkeit genausowenig anfangen wie die Theologie des Mittelalters; aber eine wahre Wissenschaft vom Leben muß dem Unendlichen Eintritt gewähren und darf es niemals ganz aus den Augen verlieren. Anderenorts habe ich zu zeigen versucht,138 daß die Bahnbrecher in der Geschichte der Wissenschaft sich stets der Transparenz der Phänomene nach einer höheren Ordnung der Realität bewußt waren – sie wußten um das »Gespenst in der Maschine«, selbst in so einfachen »Maschinen« wie dem magnetischen Kompaß oder der Leidener Flasche. Wenn ein Wissenschaftler den Sinn für das Geheimnis hinter den Dingen verliert, kann er zwar ein ausgezeichneter Fachmann bleiben, aber er hört auf, ein Zauberer zu sein. Einer der größten Zauberer aller Zeiten, Louis Pasteur, hat das in einem meiner Lieblingszitate zusammengefaßt: Überall in der Welt sehe ich die unausweichlichen Manifestationen des Unendlichen ... Der Begriff der Gottheit ist nichts anderes als eine Form des Begriffs der Unendlichkeit. Solange das Geheimnis des Unendlichen auf dem menschlichen Geist lastet, solange werden Tempel dem Kult des Unendlichen geweiht werden, ob man es nun Brahma, Allah, Jehova oder Jesus nennt ... Die Griechen wußten um die geheimnisvolle Macht der verborgenen Seite der Dinge. Sie haben uns eines der schönsten Worte unserer Sprache geschenkt – das Wort Enthusiasmus: en theos, ein Gott, der von innen wirkt. Die Größe menschlicher Taten wird an der Inspiration gemessen, der sie entspringen. Glücklich, wer seinen Gott innen in sich trägt und ihm gehorcht. Das Ideal der Kunst, das Ideal der Wissenschaft leuchten im Widerschein des Unendlichen.139 Das ist ein Glaubensbekenntnis, dem man sich gerne anschließt, und ein passender Abschluß für diesen Teil des Buches. In ihm habe ich versucht, die allgemeinen Prinzipien einer Theorie der offenen hierarchischen Systeme (O.H.S.) darzulegen, als eine Alternative zu den geläufigen orthodoxen Theorien. Es handelt sich dabei im wesentlichen um einen Versuch, drei bestehende Gedankenrichtungen – von denen keine ganz neu ist – miteinander zu verschmelzen und sie zu einem einheitlichen System zu formen. Sie lassen sich durch drei Symbole darstellen: den Baum, die Kerze und den Steuermann. Der Baum symbolisiert die hierarchische Ordnung. Die Kerzenflamme, die ständig ihre Materie wechselt und dennoch ihre Form beibehält, ist das einfachste Beispiel für ein »offenes System«. Der Steuermann steht als Symbol für die kybernetische Kontrolle. Fügen wir noch das Doppelgesicht des Janus hinzu, das die Dichotomie von Teilheit und Ganzheit repräsentiert, und das mathematische Symbol des Unendlichen (eine liegende 8), dann haben wir eine Art Bildstreifenversion der O.H.S.-Theorie. Leser, die das Pittoreske nicht mögen, seien hier nochmals auf den Anhang verwiesen, wo die Grundprinzipien der Theorie kurz zusammengefaßt sind. Wir müssen nun die »Ordnung« verlassen und uns der »Unordnung« zuwenden – dem Übel, das den Menschen von innen her bedroht, und dem Versuch, seine Ursachen zu diagnostizieren.

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Teil III

Unordnung 15

Der Mensch und sein Dilemma Alle unsere Gerechtigkeit ist wie ein unflätig Kleid. Jesaja, Kap. 14

Die postulierte Polarität zwischen dem integrativen und dem selbstbehauptenden Potential in biologischen und sozialen Systemen ist für die hier vorgebrachte Theorie von fundamentaler Bedeutung; sie ist vom Begriff der hierarchischen Ordnung untrennbar. Das integrative Potential eines Holons erweckt in ihm die Tendenz, sich als Teil einer größeren, komplexeren Einheit zu verhalten; sein selbstbehauptendes Potential erzeugt in ihm die Tendenz, sich zu verhalten, als sei es selbst ein komplettes, autonomes Ganzes. In jeder Art von Hierarchie, die wir erörtert haben, und auf jeder Stufe dieser Hierarchien fanden wir diese Polarität in der Koexistenz von Gegensätzen. Sie manifestiert sich manchmal in anscheinend paradoxen Phänomenen, die unter den Biologen erbitterte Kontroversen ausgelöst haben, weil es von den jeweiligen Versuchsbedingungen abhing, welche der beiden entgegengesetzten Tendenzen stärker in Erscheinung trat. In der embryonalen Entwicklung, zum Beispiel, kann ein Zellgewebe in verschiedenen Phasen mehr »regulative« oder mehr »Mosaik«-Merkmale hervorkehren. In sozialen Gemeinschaften ist die Dichotomie zwischen Zusammenarbeit und Konkurrenz nur allzu augenfällig – von den ambivalenten Spannungen in der Familie bis zur dornenreichen Koexistenz der Vereinten Nationen. Wir wollen uns nun ihren paradoxen und gefährlichen Auswirkungen auf das emotionale Verhalten des einzelnen Individuums zuwenden.

15.1 Die drei Dimensionen der Emotion Emotionen sind geistige Zustände, die von intensiven Gefühlen und physiologischen Vorgängen verschiedenster Art begleitet werden. Man hat sie auch als »überhitzte Triebe« bezeichnet. Ein auffallendes Kennzeichen aller Emotionen ist die ihnen anhaftende Empfindung von Lust beziehungsweise Unlust. Freud glaubte, Lust leite sich »aus der Abnahme, Herabsetzung oder Erlöschung der psychischen Erregung ab« und »Unlust aus ihrer Steigerung«.140 Das ist natürlich richtig, wenn es sich um die Befriedigung oder Frustrierung dringender biologischer Bedürfnisse handelt. Aber es trifft ganz offenkundig nicht auf jene Art von Erlebnissen zu, die wir als angenehme Erregung oder als Nervenkitzel bezeichnen. Die Präliminarien, die dem Geschlechtsakt vorausgehen, verursachen zweifellos eine Steigerung der Erregung und müßten daher eine Unlustempfindung auslösen; die Erfahrung lehrt jedoch, daß das durchaus nicht der Fall ist. Auf diesen peinlich banalen Einwand gibt Freud in seinen Werken nirgendwo eine befriedigende Antwort.* Im Freudschen System ist der Geschlechtstrieb im wesentlichen etwas, was »abgeführt« werden muß – durch Befriedigung oder durch Sublimation; das Vergnügen kommt nicht davon her, daß man sich ihm hingibt, sondern daß man ihn los wird. * Eine ausführliche Abhandlung über Freuds Einstellung zum Lustproblem findet man bei Schachtel.

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Die behavioristische Schule, von Thorndike bis Hull, vertrat eine ähnliche Auffassung; sie erkannte nur einen Grundtyp der Motivierung an, und das war negativer: »Triebreduktion« – das heißt Verminderung der sich aus biologischen Bedürfnissen ergebenden Spannungen. In Wirklichkeit haben jedoch die Untersuchungen über »Stimulusdeprivation«* gezeigt, daß der Organismus eine ständige Zufuhr von Reizen benötigt; und daß sein Hunger nach Erlebnissen und sein Durst nach stimulierender Erregung wohl ebenso fundamentaler Natur sind wie eben Hunger und Durst. Berlyne hat das so ausgedrückt: »Menschen und höhere Tiere verbringen den größten Teil ihrer Zeit in einem Zustand relativ hoher Erregung und ... setzen sich mit großem Eifer stimulierenden Reizsituationen aus.«142 Nach dem Brot kommen immer zuerst die Zirkusspiele dran. * Die Absicht dieser Versuche war es, die Reaktion von Astronauten auf das tagelange Verharren in einer monotonen Umwelt zu studieren.

Die Unlust wird in der Tat nicht durch eine Steigerung der Erregung als solcher verursacht; sie entsteht, wenn die Befriedigung eines Triebs blockiert wird, oder wenn seine Intensität so zunimmt, daß die normalen Abfuhrkanäle unzureichend sind, oder auch aus beiden angeführten Gründen. Eine »Überhitzung« in begrenztem Ausmaß mag sogar als ein angenehmer Erregungszustand empfunden werden, während man sich in seiner Vorstellung den Befriedigungsakt ausmalt oder vorwegnimmt. Die physischen Unlustgefühle bei der Ausübung körperlich anstrengender Sportarten werden in der angenehmen Vorfreude auf die Belohnung bereitwillig akzeptiert – wobei die Belohnung lediglich in der Genugtuung zu bestehen braucht, es geschafft zu haben. Das Gefühl der Frustration verwandelt sich in Erleichterung, sobald das Ziel in Sicht ist, also lange bevor der eigentliche Prozeß der Triebbefriedigung beginnt. Überdies gibt es »stellvertretende« Emotionen, die sich aus der partiellen Identifizierung mit einer anderen Person oder mit dem Schauspieler auf der Filmleinwand ableiten und die stellvertretende Befriedigungen einbringen; die Erfüllung wird in der Phantasie durchlebt, durch internalisierte Prozesse statt durch nach außen gerichtete Handlungen. So hängt also die Lust-UnlustTönung von mehreren Faktoren ab und beruht im wesentlichen auf feedback-Signalen, die den günstigen oder verhinderten Triebablauf auf ein reales, vorweggenommenes oder imaginäres Ziel hin signalisieren. Emotionen lassen sich nach ihrem Ursprung klassifizieren, das heißt nach dem Wesen des Triebes, der sie auslöst – Hunger, Sexualität, Neugier, Betreuung der Jungen etc. Der zweite Faktor, den man in Betracht ziehen muß, ist ihre Lust-Unlust-Quote. Mit Hilfe einer etwas groben, aber doch nützlichen Analogie ließe sich unsere emotionale Anlage mit einer Taverne vergleichen, in der es eine Reihe von Zapfhähnen für verschiedene Arten von Getränken gibt; diese werden je nach Bedarf auf- und zugedreht; dann würde jeder Zapfhahn einen anderen Trieb repräsentieren, und die Lustquote würde davon abhängen, wie das Getränk aus dem Zapfen fließt – ob es glatt und fröhlich heraussprudelt, oder ob es durch Luftblasen behindert wird oder durch zuviel oder zuwenig Druck im Zapfen. Nun kommen wir zu einem dritten Faktor, dem Toxizitätsgrad des einzelnen Gebräus. Die selbstbehauptende, aggressiv-defensive Tendenz einer bestimmten Emotion soll durch den toxischen Alkoholgehalt symbolisiert werden, die selbsttranszendierende Tendenz durch den Gehalt an milder, neutraler Flüssigkeit. Wir kommen daher zu einer dreidimensionalen Theorie der Emotionen. Der erste Faktor ist das Wesen ihres Ursprungs, repräsentiert durch den speziellen Zapfhahn; der zweite Faktor ist die LustUnlust-Quote, repräsentiert durch den Abflußverlauf, der dritte das proportionale Verhältnis zwischen Selbstbehauptung und Selbsttranszendenz. Wir wollen uns hauptsächlich mit diesem dritten Aspekt befassen. Eine der Schwierigkeiten, die sich bei der Erörterung dieses Themas ergeben, ist die Tatsache, daß wir selten eine reine Emotion erleben. Der Barmann neigt dazu, die Getränke aus den verschiedenen Zapfhähnen miteinander zu mischen: der Geschlechtstrieb 151

kann mit Neugier verbunden sein und praktisch mit jedem anderen Trieb. Lust und Unlust neigen ebenfalls zur Ambivalenz; die Vorfreude kann eine momentane Unlustempfindung als lustvoll erscheinen lassen, die unbewußte Komponente des Triebes kann Affekte auslösen, die ein Plus- in ein Minuszeichen verwandeln; der Schmerz, den der Masochist empfindet, kann auf einem anderen Bewußtseinsniveau als Lust empfunden werden. Uns kommt es hier jedoch auf eine dritte Art von Ambiguität an. Wenn wir von den Extremen der blinden Wut am einen und der mystischen Trance am anderen Ende des Spektrums absehen, so stellt sich heraus, daß die meisten unserer emotionalen Zustände paradoxe Kombinationen der integrativen und der selbstbehauptenden Grundtendenzen sind. Nehmen wir zum Beispiel den Instinkttrieb der Wartung der Nachkommenschaft, den alle Säugetiere und Vögel haben. Welcherart immer die Emotionen sind, die dieser Trieb bei Tieren auslöst (und einige ihrer Manifestationen sind ziemlich paradox), beim Menschen äußern sie sich häufig in einer verhängnisvoll ambivalenten Form. Die Eltern betrachten das Kind als »ihr eigen Fleisch und Blut« – ein biologisches Band, das die Grenzen des Ichs transzendiert; gleichzeitig sind übereifrige Mütter und despotische Väter klassische Beispiele übersteigerter Selbstbehauptungstendenz. Wenden wir uns von der elterlichen Liebe der geschlechtlichen Liebe zu, dann finden wir wieder beide Tendenzen vor – auf der einen Seite Impulse der Aggressivität, Herrschsucht und Unterwerfung, auf der anderen Einfühlung und Identifizierung. Die Skala erstreckt sich von der platonischen Anbetung bis zur brutalen Vergewaltigung – je nach der Toxizität des Zaubertrankes. Hunger ist dem Anschein nach ein einfacher biologischer Trieb, und man würde kaum erwarten, daß er komplexe und ambivalente Emotionen auslösen könnte. Die Zähne sind Symbole der Aggression; Beißen, Schnappen, Hinunterschlingen des Futters sind grobe Manifestationen der Selbstbehauptungstendenz. Die Nahrungsaufnahme hat aber auch einen anderen, magisch-rituellen Aspekt; man könnte ihn als »Empathie durch Einverleibung« bezeichnen. Das Teilhaben am Fleisch des getöteten Tieres, Menschen oder Gottes führt zu einem Prozeß der Transsubstantiation; die Tugend und Weisheit des verzehrten Opfers wird einverleibt und stellt eine Art mystischer Kommunion her. Die Gebräuche und Rituale wechselten im Wandel der Zeit, aber das Prinzip des Austausches einer geistigen Substanz zwischen Gott, Tier und Mensch blieb das gleiche, ob es sich nun um primitive australische Wilde, um die hochzivilisierten mexikanischen Azteken oder um die Griechen in der Blütezeit des dionysischen Kults handelt. In der eindrucksvollsten Version der Legende wird Dionysos in Stücke gerissen und verzehrt, von den bösartigen Titanen, die dann ihrerseits wieder vom Blitz des Zeus erschlagen werden; aus ihrer Asche entsteht der Mensch, Erbe ihrer Verruchtheit, aber zugleich auch Teilhaber am Fleisch des Gottes. Auf dem Weg über den orphischen Mysterienkult fand die Tradition der Teilhabe an Fleisch und Blut des zerrissenen Gottes in sublimierter und symbolischer Form auch Eingang in die Riten der Christenheit. Noch im 16. Jahrhundert wurden Menschen aus der lutherischen Kirche exkommuniziert, weil sie sich der Doktrin von der »Ubiquität« widersetzten – von der physischen Präsenz des Blutes und Fleisches Christi in der geweihten Hostie. Für den Gläubigen ist die heilige Kommunion das höchste Erlebnis der Selbsttranszendenz auf dem Wege der Transsubstantiation. Anklänge an diese uralte Form der Kommunion haben sich in verschiedenen Riten der »Tischgesellschaft« erhalten: Taufmahl und Leichenschmaus, das symbolische Darbieten von Brot und Salz, das indische Tabu, das das Essen mit Angehörigen anderer Kasten verbietet. Orale Erotik und bezeichnende Redewendungen wie »Ich hab’ dich zum Fressen gern«, die in den meisten Sprachen vorkommen, erinnern uns ebenfalls daran, daß der Mensch, selbst wenn er ißt, nicht vom Brot allein lebt und daß selbst der scheinbar simpelste Akt der Selbsterhaltung eine Komponente der Selbsttranszendenz enthalten kann. 152

Umgekehrterweise bezeugen die hingebende Pflege der Kranken, die aktive Mitarbeit an wohltätigen Organisationen oder Tierschutzvereinen gewiß einen bewundernswerten Altruismus – und sind doch oft ebenso wirksame Ausdrucksmittel für unbewußte Herrschsucht; sie bezeugen die unbegrenzten Kombinationsmöglichkeiten zwischen den integrativen und den selbstbehauptenden Tendenzen. Um Mißverständnissen vorzubeugen, soll noch darauf hingewiesen werden, daß nach der oben dargelegten Theorie der Emotionen Selbstbehauptung und Selbsttranszendenz nicht spezifische Emotionen sind, sondern Tendenzen, die bei allen Emotionen mitwirken. Aber um Umständlichkeit zu vermeiden, ist es oft bequemer, einfach von »selbsttranszendierenden Emotionen« zu reden und nicht von »Emotionen, bei denen die selbsttranszendierenden Tendenzen dominieren«.

15.2 Pathologie der Aggression Wir wollen noch einmal kurz zusammenfassen: Das Einzelindividuum, als Ganzes betrachtet, stellt den Gipfel einer organismischen Hierarchie dar – als Teil betrachtet, ist es die unterste Einheit einer Sozialhierarchie. An dieser Grenzlinie zwischen physiologischer und sozialer Organisation manifestieren sich die beiden einander entgegengesetzten Wirkkräfte, denen wir auf jeder einzelnen Stufe begegnet sind, in der Form von emotionalen Verhaltensweisen. Solange alles gutgeht, halten sich die selbstbehauptenden und die integrativen Tendenzen des Individuums in seinem emotionalen Leben mehr oder minder die Waage; der Mensch lebt in einer Art dynamischen Aquilibriums mit der Familie, dem Stamm, der sozialen Gemeinschaft, zu der er gehört, aber auch mit den Wert- und Glaubensvorstellungen, die seine geistige Umwelt bilden. Ein gewisses Maß von Selbstbehauptungswillen, »ausgeprägtem Individualismus«, Ambition und Konkurrenzlust ist in einer dynamischen Gesellschaft ebenso unentbehrlich, wie dem Organismus die Autonomie und die Selbständigkeit seiner Holons unentbehrlich sind. Eine wohlmeinende, aber verschwommene Ideologie, die nach den Schrecken der letzten Jahrzehnte zur Mode geworden ist, behauptet, Aggressivität sei in allen ihren Formen von Übel und daher zu verdammen. Ohne ein bescheidenes Maß von aggressivem Individualismus könnte es jedoch weder im sozialen noch im kulturellen Bereich Fortschritte geben. Was John Donne als die »heilige Unzufriedenheit« des Menschen bezeichnet hat, ist ein unerläßlicher Ansporn für den Reformer, den Satiriker, den Künstler und den Denker. Wir haben gesehen, daß die schöpferische Originalität in Kunst und Wissenschaft eine konstruktive und eine destruktive Seite hat – destruktiv in ihrer Wirkung auf herkömmliche Konventionen, Stilarten, Dogmen und Vorurteile. Und da die Wissenschaft von Wissenschaftlern gemacht wird, muß der destruktive Aspekt wissenschaftlicher Revolutionen auf einem destruktiven Element in der Mentalität des Wissenschaftlers beruhen; auf einer Bereitschaft, rücksichtslos mit altehrwürdigen Vorstellungen aufzuräumen. Das gleiche gilt natürlich auch für den Künstler. Die Aggression ist wie Arsen: in kleinen Dosen ein Stimulans, in großen Dosen Gift.

 Wir wollen uns nun der giftigen Seite der selbstbehauptenden Emotionen zuwenden. In Krisensituationen zeigt ein übererregtes Organ die Tendenz, sich von den Kontrollen, die seine Funktionen regulieren, freizumachen und sich zum Nachteil des Ganzen zu behaupten. Das gleiche geschieht, wenn die koordinierenden Kräfte des Ganzen so sehr geschwächt sind – durch Seneszenz oder Trauma –, daß es nicht länger fähig ist, die Kontrolle über seine Teile auszuüben.* 143

* Nach der Terminologie von C. M. Child wird der Teil »physiologisch vom Ganzen isoliert«.

In extremen Fällen kann das zu irreversiblen pathologischen Veränderungen führen wie bei bosartigen Geschwülsten mit ungehemmter Wucherung von Geweben, die sich von 153

der genetischen Kontrolle losgesagt haben. Auf weniger extreme Weise kann jedes Organ beziehungsweise jede Funktion vorübergehend oder teilweise außer Kontrolle geraten. Bei heftigen Schmerzen neigt der betroffene Teil dazu, die Aufmerksamkeit des gesamten Organismus zu monopolisieren; im Gefolge emotionaler Spannungen können die Magensäfte die Magenwand angreifen; bei Zorn und Panik reißt der sympathicoadrenale Apparat die Herrschaft über den Organismus an sich, und wenn der Geschlechtstrieb erwacht, scheint das Kommando vom Gehirn auf die Gonaden überzugehen. Nicht nur Teile des Körpers können in Krisensituationen in schädlicher Weise das Ganze dominieren, sondern auch geistige Strukturen. Die fixe Idee, die Obsessionen des Sonderlings sind geistige Holons, die aus den Fugen geraten sind. Es gibt eine ganze Skala von Geistesstörungen, bei denen ein untergeordnetes Gefüge der geistigen Hierarchie eine tyrannische Herrschaft über das Ganze ausübt: von der relativ harmlosen Vernarrtheit in irgendeine Lieblingstheorie über die insidiöse Beherrschung des Geistes durch »verdrängte« Komplexe (F Freud nennt sie charakteristischerweise »autonome Komplexe«, denn sie unterliegen nicht der Kontrolle des Ichs) bis zu den klinischen Psychosen, bei denen sich große Teilbereiche der Persönlichkeit abgespalten zu haben scheinen und nun eine gleichsam unabhängige Existenz führen. In den Halluzinationen des Paranoikers ist nicht nur die intellektuelle, sondern auch die Wahrnehmungshierarchie unter die Herrschaft des entfesselten Holons geraten, das ihr seine besonderen Spielregeln aufzwingt. Bei den klinischen Psychosen handelt es sich jedoch nur um extreme Manifestationen von Tendenzen, die auch im normalen Individuum – beziehungsweise in dem, was wir dafür halten – angelegt sind. Verirrungen des menschlichen Geistes sind, weitgehend auf die Obsession mit einer Teilwahrheit zurückzuführen, die man behandelt, als sei sie eine ganze. Religiöse, politische und philosophische Fanatismen, die Hartnäckigkeit des Vorurteils, die Intoleranz wissenschaftlicher Orthodoxien und künstlerischer Cliquen, sie alle bezeugen die Tendenz, »geschlossene Systeme« auf einer Teilwahrheit aufzubauen und ihre absolute Gültigkeit zu behaupten. In extremen Fällen kann sich ein entfesseltes Mental-Holon wie ein bösartiges Geschwür verhalten, das alle geistigen Gewebe durchsetzt. Wenden wir uns von dem Einzelnen zur Gruppe – zu den Berufsklassen oder den ethnischen Holons –, dann finden wir auch hier wieder, daß sie, solange alles gutgeht, mit ihrer natürlichen und sozialen Umwelt in einer Art dynamischem Aquilibrium leben. In Sozialhierarchien treten natürlich an die Stelle der physiologischen Kontrollen des Organismus institutionelle Kontrollen, die die selbstbehauptenden Tendenzen auf allen Stufen in Schranken halten. Auch hier basiert das Ideal eines reibungslosen, idyllischen Zusammenwirkens – ohne Konkurrenz und ohne Spannungen – auf einer Verwechslung des Wünschenswerten mit dem Möglichen. Ohne ein gewisses Maß an Selbstbehauptungswillen seiner Teile würde die soziale Gemeinschaft ihre Individualität und Artikulierung verlieren und sich in eine Art amorpher Gallerte auflösen. Umgekehrt kann in Konfliktsituationen, wenn die Spannungen ein kritisches Limit überschreiten, das eine oder andere soziale Holon – die Armee, die Bauern oder die Gewerkschaften – seinen Selbstbehauptungswillen zum Schaden des Ganzen durchsetzen, als handelte es sich um ein übererregtes Organ. – Auch der Verfall der integrativen Kräfte des Ganzen kann zu ähnlichen Symptomen führen, wies es der Niedergang von Weltreichen immer wieder lehrt.

154

15.3

Pathologie der Devotion

Die selbstbehauptenden Tendenzen des Individuums sind also ein notwendiger und konstruktiver Faktor – solange sie nicht außer Kontrolle geraten. Von diesem Standpunkt aus gesehen, kann man die Manifestationen von Grausamkeit und Gewalt als pathologische Extreme von im Prinzip gesunden Impulsen abschreiben, denen aus dem einen oder anderen Grund die normale Befriedigung versagt geblieben ist. Man gebe bloß der Jugend ein harmloses Betätigungsfeld für aggressive Gelüste – Spiele, Wettkämpfe, Abenteuer, sexuelles Experimentieren –, und alles wird in Ordnung sein. Leider haben diese Rezepte, sooft man sie auch versuchte, nie richtige Erfolge gehabt. In den letzten drei- oder viertausend Jahren haben hebräische Propheten, griechische Philosophen, indische Mystiker, chinesische Weise, christliche Prediger, französische Humanisten, englische Utilitarier, deutsche Moralisten und amerikanische Pragmatiker vor den Gefahren der Gewaltträchtigkeit gewarnt und an die edleren Regungen im Menschen appelliert – leider ohne merkbares Ergebnis. Für diesen Fehlschlag muß es einen Grund geben. Der Grund liegt, wie ich glaube, in einer Reihe von fundamentalen Mißverständnissen der Faktoren, die die Geschichte des Menschen verunstalten, ihn daran hindern, aus der Vergangenheit zu lernen, und gegenwärtig sein Überleben in Frage stellen. Das erste dieser Mißverständnisse besteht darin, daß man die Schuld an unserem Elend der Selbstsucht und Habgier des Einzelnen zuschreibt – mit anderen Worten, seinen aggressiven, selbstbehauptenden Tendenzen. Demgegenüber will ich versuchen zu zeigen, daß die Selbstsucht nicht der primäre Schuldfaktor ist und daß Appelle an das »höhere Streben« im Menschen notgedrungen unwirksam sein mußten – denn die Hauptgefahr liegt ja gerade in dem, was wir als »höheres Streben« im Menschen bezeichnen. Mit anderen Worten, ich bin der Auffassung, daß die integrativen Tendenzen des Individuums unvergleichlich gefährlicher sind als seine selbstbehauptenden. Die Predigten der Reformer mußten auf taube Ohren treffen, weil sie die Schuld dort suchten, wo sie nicht lag. Das mag paradox klingen, aber ich glaube, die meisten Historiker würden darin übereinstimmen, daß die Impulse der selbstsüchtigen, persönlichen Aggressivität bei den großen Massenmorden der Geschichte nur eine relativ geringe Rolle gespielt haben; in erster Linie war das Abschlachten stets als Opfer für Gott, Kaiser und Vaterland oder für eine glücklichere Zukunft der Menschheit gemeint. Die Verbrechen eines Caligula erscheinen unbedeutend, verglichen mit denen eines Torquemada. Die Anzahl derer, die in irgendeiner Periode der Geschichte Räubern, Banditen, Lustmördern, Gangstern und anderen Verbrechern zum Opfer fielen, ist unbedeutend, verglichen mit den Hekatomben jener, die im Namen der einzig wahren Religion, der politischen Gerechtigkeit oder einer korrekten Ideologie fröhlich abgeschlachtet wurden. Häretiker wurden nicht aus Motiven persönlicher Grausamkeit gefoltert und verbrannt, sondern aus Sorge um das Heil ihrer unsterblichen Seele. Stammeskriege wurden nicht im Interesse des Einzelnen geführt, sondern stets im angeblichen Interesse des Stammes. Religionskriege führte man, um irgendeinen heiklen Punkt der Theologie oder der Logik zu klären; Erbfolgekriege, dynastische Kriege, nationale Kriege und Bürgerkriege führte man, um Fragen zu entscheiden, die mit den persönlichen Interessen der Kombattanten ebensowenig zu tun hatten.* * Vergewaltigung und Plünderung sind im Krieg zweifellos ein Anreiz für eine Minderheit von Söldnern und Abenteurern; aber sie sind es nicht, die die historischen Entscheidungen treffen.

Die kommunistischen Säuberungsaktionen waren – wie schon das Wort »Säuberung« besagt – als Operationen der sozialen Hygiene gemeint, um die Menschheit auf das Goldene Zeitalter der klassenlosen Gesellschaft vorzubereiten. Die Gaskammern und Krematorien arbeiteten für eine alternative Version des Himmelreichs auf Erden. Eich155

mann war (wie Hannah Arendt in ihrem Prozeßbericht dargelegt hat)144 weder ein Ungeheuer noch ein Sadist, sondern ein gewissenhafter Bürokrat, der es als seine Pflicht ansah, die ihm erteilten Befehle durchzuführen, und der die Auffassung vertrat, Gehorsam sei die höchste Tugend; er war so wenig ein Sadist, daß ihm schlecht wurde, als er das einzige Mal in seinem Leben dem Vorgang in der Gaskammer zusah. Um es noch einmal zu sagen: die aus persönlichen und selbstsüchtigen Motiven heraus begangenen Verbrechen sind, historisch gesehen, relativ unbedeutend, wenn man sie mit denjenigen vergleicht, die ad majorem Dei gloriam begangen wurden aus selbstaufopfernder Hingabe an eine Fahne, einen Führer, einen religiösen Glauben oder eine politische Überzeugung. Der Mensch ist immer bereit gewesen, nicht nur zu töten, sondern auch sein Leben zu opfern im Dienst einer Sache, ob es nun eine gute, schlechte oder völlig hirnverbrannte Sache war. Und was könnte ein schlüssigerer Beweis für die Existenz seines selbsttranszendierenden Dranges sein als die Bereitschaft, für ein Ideal sein Leben hinzugeben? Welche Periode der Geschichte wir auch im Auge haben mögen, die moderne, die antike oder die prähistorische, die Tatsachen weisen immer in die gleiche Richtung: die Tragödie des Menschen hat ihre Ursache nicht in seiner Streitsucht und Grausamkeit, sondern in seiner Anfälligkeit für Wahnideen. »Der gefährlichste aller Verrückten ist ein verrückter Heiliger«, schrieb einst Pope, und sein Epigramm ist für alle Geschichtsperioden gültig, von den ideologischen Kreuzzügen des totalitären Zeitalters bis zurück zu jenen Riten, die das Leben der Primitiven beherrschten.

15.4

Nicht erhörte Menschenopfer

Viel zuwenig haben die Anthropologen der frühesten, allgemeinen Manifestation des menschlichen Wahns ihre Aufmerksamkeit gewidmet: ich meine die Institution des Menschenopfers, die rituelle Tötung von Kindern, Jungfrauen, Königen und Helden, um die Götter zu besänftigen und zu erfreuen. Man begegnet ihr seit der Morgendämmerung der Zivilisation in allen Teilen der Welt; sie erhielt sich während der Zeit der antiken und der präkolumbianischen Kulturen und wird in einigen entfernten Ecken der Welt noch heute praktiziert. Gewöhnlich tut man dieses Phänomen als ein unerquickliches Kuriosum ab, als Überbleibsel aus den Zeiten des dunkelsten Aberglaubens; damit aber weicht man dem wahren Problem, nämlich der Universalität dieses Phänomens, nur aus, ignoriert den Hinweis, den es auf des Menschen Anfälligkeit für Wahnvorstellungen bietet und geht an seiner Bedeutung für die Probleme der Gegenwart vorbei. Ich möchte hier eine persönliche Anekdote einfügen. Im Jahre 1959 verbrachte ich einige Zeit als Gast bei meinem inzwischen verstorbenen Freund Dr. Verrier Elwin in seinem Haus in Shillong, Assam. Dr. Elwin war als Anthropologe der führende Fachmann auf dem Gebiet des indischen Stammeslebens; er war für diesen Bereich Chefberater der indischen Regierung und hatte ein Mädchen aus dem Orissa-Stamm geheiratet. Eines Tages bat mich einer seiner drei Söhne – ein stiller, intelligenter Junge von etwa zehn Jahren –, mich auf meinem Morgenspaziergang begleiten zu dürfen. Als wir das Haus aus den Augen verloren, wurde der Junge ängstlich und bestand darauf, daß wir umkehrten. Ich gab nach, fragte ihn aber, was denn eigentlich los sei; erst druckste er eine Weile herum, dann gestand er, daß er Angst habe, bösen Männern zu begegnen – den Khasis, die kleine Jungen töteten. Später berichtete ich darüber meinem Freund Verrier; er erklärte mir, das Kind habe nur seine Anweisung befolgt, sich nicht außer Sichtweite des Hauses zu begeben. Die Khasis sind ein in Assam lebender Stamm, von dem man argwöhnte, er bringe heimlich noch immer Menschenopfer dar. Von Zeit zu Zeit tauchten Gerüchte über das Verschwinden eines kleinen Kindes auf. Die Gefahr, in der Umgebung von Shillong marodierenden Khasis zu begegnen, sei natürlich sehr gering, aber man müsse immerhin vorsichtig sein ... Dann erklärte er mir, mit der Gründlichkeit des 156

Anthropologen, die traditionelle Opfermethode der Khasis bestehe darin, durch die Nasenlöcher des Kindes hindurch zwei Stöcke in das Gehirn hineinzutreiben; je mehr das Kind schreie und blute, desto mehr erfreue das die Götter. Ich erzähle diese Geschichte, um ein Beispiel dafür anzuführen, was der abstrakte Begriff »Menschenopfer« in konkreter Gestalt bedeutet. Diese Khasis müssen doch verrückt gewesen sein?! Und damit sind wir beim Kern der Sache: der Akt deutet auf Geistesgestörtheit hin. Aber es handelt sich hier um eine universale Form von Geistesgestörtheit, die in allen Rassen und Kulturen anzutreffen ist. Um aus einer zeitgenössischen Abhandlung zu zitieren: Das Opfer war eine symbolische Geste: die höchste Art von Geste, wenn man so will. Es gibt keine Gegend in der Welt, mag sie auch noch so entfernt sein, in der nicht in der einen oder anderen Form das Opfer eine wesentliche Rolle im Leben der Völker gespielt hat ... Das Opfer, und häufig handelte es sich dabei um Menschenopfer, war ein wesentlicher Teil der priesterlichen Riten, und sehr oft war das Töten auch mit dem Verzehr menschlichen Fleisches verbunden ... Die Praxis des Kannibalismus ist gewiß eine weit weniger verbreitete Institution als das Menschenopfer. Sieht man von den Bewohnern der Fidschi-Inseln und den Angehörigen anderer melanesischer Stammesgruppen ab, bei denen der Appetit auf Menschenfleisch im Vordergrund gestanden zu haben scheint, dann war das Grundmotiv dennoch das gleiche: Sowohl dem Menschenopfer selbst als auch dem Verzehr des Fleisches liegt stets das Prinzip der Übertragung von »seelischer Substanz« zugrunde ... In Mexiko waren die sakralen Riten vermutlich noch komplizierter als sonstwo in der Welt. Menschenfleisch betrachtete man dort als die einzig akzeptable Nahrung für die Götter, die man sich geneigt machen wollte. Daher wählte man sorgfältig die Opfer aus, die man als Verkörperung von Gottheiten wie Quetzalcoatl und Tetzcatlipoca ansah und die man schließlich im Gefolge zeremonieller Riten gerade jenen Göttern opferte, die sie verkörperten; wobei die Zuschauer eingeladen wurden, am Fleisch der Geopferten teilzuhaben, um sich so mit den Göttern zu identifizieren, denen das Opfer dargebracht worden war.145 All das hat nichts mit den sieben Todsünden zu tun – Hoffart, Geiz, Unkeuschheit, Neid, Unmäßigkeit, Zorn und Trägheit –, gegen die sich die Predigten der Moralisten in erster Linie richteten. Die achte Todsünde, tödlicher als alle anderen – Selbsttranszendenz durch irregeleitete Hingabe –, ist in der Liste nicht enthalten. Aber wo sind die Geschworenen, die entscheiden sollen, ob die Hingabe »gerechtfertigt« – oder »irregeleitet« ist? Da wir gerade bei den Azteken sind, will ich hier eine Passage von Prescott anführen, die die Lehre aus ihren Wahnvorstellungen für unsere Zeit verdeutlicht. Prescott schätzt, daß die Anzahl der jungen Männer, Jungfrauen und Kinder, die, solange das Aztekenreich bestand, dort jährlich geopfert wurden, zwischen 20.000 und 25.000 lag; dann fährt er in seiner Schilderung fort: Menschenopfer sind von vielen Völkern dargebracht worden, und zu ihnen gehören auch die kultiviertesten Völker der Antike; nirgendwo geschah das jedoch in einem solchen Ausmaß wie in Anahuac. Die Anzahl der Opfer, die auf seinen abscheulichen Altären hingeschlachtet wurden, würde auch den Glauben der Frömmsten erschüttern ... Es ist wahrlich seltsam, daß die teuflischsten Leidenschaften im Herzen des Menschen in allen Ländern gerade diejenigen gewesen sind, die im Namen der Religion entfacht wurden ... 157

Hält man sich die abscheulichen Praktiken vor Augen, von denen ich auf den vorhergehenden Seiten berichtet habe, dann fällt es einem wirklich schwer, sie mit einem geordneten Regierungssystem oder gar mit einem Fortschritt in der Zivilisation in Einklang zu bringen. Und trotzdem: die Mexikaner konnten für sich in vieler Hinsicht die Bezeichnung »zivilisierte Gemeinschaft« in Anspruch nehmen. Vielleicht kann man diese Anomalie besser verstehen, wenn man daran denkt, welche Zustände nach der Etablierung der modernen Inquisition in einigen der kultiviertesten Länder Europas im 16. Jahrhundert herrschten; diese Institution vernichtete jährlich Tausende von Menschen, die einen weit grausameren Tod starben als die den Göttern dargebrachten Menschenopfer bei den Azteken; sie bewaffnete den Bruder gegen den Bruder, und sie trug mehr dazu bei, den Vormarsch des Fortschritts aufzuhalten, als jedes andere jemals von menschlicher List und Verschlagenheit ersonnene Mittel. Mag das Menschenopfer der Azteken auch noch so grausam sein, es entwürdigte sein Opfer nicht. Man könnte eher sagen, es adelte das Opfer, indem es den Göttern geweiht wurde. So schrecklich es auch gewesen sein mag, sie gaben sich manchmal freiwillig hin, weil das Opfer einen glorreichen Tod brachte und mit Sicherheit den Einzug ins Paradies bedeutete. Die Inquisition dagegen brandmarkte ihre Opfer mit Schande in dieser Welt und verurteilte sie zu ewiger Verdammnis im Jenseits.146 Prescott widmet sodann einen Absatz den kannibalistischen Riten, die mit den aztekischen Menschenopfern verknüpft waren; unmittelbar danach leistet er sich jedoch einen bemerkenswerten Salto mortale: Angesichts dieser Zustände war es ein wahrer Segen, daß das Land durch göttliche Fügung in die Hände einer anderen Rasse überging, die es von den brutalen Auswirkungen des Aberglaubens erretten sollte, der sich mit der Ausdehnung des Herrschaftsbereiches der Azteken täglich weiter ausbreitete. Die schändlichen Institutionen der Azteken liefern die beste Rechtfertigung für ihre Eroberung. Natürlich stimmt es, daß die Eroberer die Inquisition mit herüberbrachten. Aber sie führten auch das Christentum ein, dessen wohltuende Ausstrahlung auch dann noch wirksam sein wird, wenn einmal die brennenden Flammen des Fanatismus längst erloschen sein werden; und es wird die dunklen Schreckgespenster vertreiben, die so lange über der reizenden Landschaft von Anahuac gewütet haben.147 Prescott muß doch wohl gewußt haben, daß sich – kurz nach der Eroberung von Mexiko – die »wohltuende Ausstrahlung« des Christentums im Dreißigjährigen Krieg manifestierte, der einen beachtlichen Teil der europäischen Bevölkerung dahingerafft hat.

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15.5 Der Beobachter vom Mars Die wissenschaftliche Revolution und das Zeitalter der Aufklärung schienen für den Menschen den Anbruch einer neuen Ära anzukündigen. Das war auch insoweit der Fall, als die Natur erobert und in der Folge schließlich vergewaltigt wurde; für das Dilemma des Menschen brachte das neue Zeitalter jedoch keine Lösung, im Gegenteil, es verschärfte sich nur noch. An die Stelle der Religionskriege traten zunächst die vaterländischen und später die ideologischen Kriege, die mit der gleichen selbstzerstörerischen Loyalität und Besessenheit ausgefochten wurden. Das Opium der Offenbarungsreligionen wurde ersetzt durch das Heroin der säkularen Religionen, die die gleiche restlose Hingabe des Individuums an ihre Doktrinen beanspruchten und deren Propheten die gleiche Liebe und Verehrung entgegengebracht wurde. An die Stelle des Teufels und der Sukkuben trat eine neue Dämonologie: das jüdische Untermenschentum, das nach der Weltherrschaft strebte; die kapitalistische Bourgeoisie, die das Volk verhungern ließ; und schließlich die »Feinde des Volkes«, Spione und Saboteure, Ungeheuer in Menschengestalt, die überall lauerten, bereit, zuzuschlagen. In den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts explodierte der paranoide Zug des Menschen in den beiden mächtigsten Staaten Europas mit beispielloser Vehemenz. In den beiden Jahrzehnten, die auf den letzten Weltkrieg folgten, gab es insgesamt etwa vierzig kleinere Kriege und Bürgerkriege. Während ich dieses Buch schreibe (1967), führen römischkatholische Christen, Buddhisten und dialektische Materialisten einen Bürgerkrieg innerhalb eines Krieges, um der Bevölkerung eines asiatischen Landes den nach ihrer Meinung einzig wahren Glauben aufzuzwingen; Mönche und Schulmädchen übergießen sich mit Benzin und verbrennen sich – in einem neuartigen Ritual der Selbstaufopferung ad majorem gloriam – bei lebendigem Leib auf offener Straße, umgeben von den Kameras der Pressephotographen. Im 1. Buch Mose, Kapitel 22, kommt eine Episode vor, die zahlreiche religiöse Maler inspiriert hat. Es handelt sich um die Szene, in der Abraham seinen Sohn auf einem Holzstoß festbindet und sich anschickt, ihm mit einem Messer die Kehle zu durchschneiden und ihn dann zu verbrennen, als Beweis für seine Liebe zu Jehova. Wir alle mißbilligen, daß man einem Kind die Kehle durchschneidet; man muß sich fragen, warum so viele Menschen so lange Zeit hindurch die wahnsinnige Geste Abrahams gebilligt haben. Vulgär ausgedrückt würden wir sagen, es liege der Verdacht nahe, daß im Kopf des Menschen irgendwo eine Schraube locker sei – und das nicht erst seit heute, sondern schon immer. Wissenschaftlich ausgedrückt heißt das: Wir sollten ernsthaft die Möglichkeit in Erwägung ziehen, daß es bei der Evolution des Nervensystems des homo sapiens irgendwann einmal zu einer schwerwiegenden Fehlentwicklung gekommen sein muß. Wir wissen, daß die Evolution in Sackgassen führen kann, und wir wissen auch, daß sich die Evolution des menschlichen Gehirns in einem beispiellos raschen, ja geradezu explosiven Prozeß vollzogen hat. Ich werde im folgenden Kapitel auf diesen Punkt noch zurückkommen; im Augenblick wollen wir nur als mögliche Hypothese festhalten, daß es sich bei den chronischen Wahnvorstellungen, die durch unsere gesamte Geschichte hindurch erkennbar sind, um eine endemische Form von Paranoia handeln könnte, die irgendwie in das Leitungsnetz des menschlichen Gehirns eingebaut ist. Man kann sich unschwer vorstellen, daß ein objektiver Beobachter von einem fortgeschritteneren Planeten nach dem Studium der Menschheitsgeschichte zu dieser Diagnose kommen würde. Wir sind natürlich immer gerne bereit, solchen science-fiction-Phantasien zuzustimmen, solange wir sie nicht wörtlich zu nehmen brauchen. Aber gerade das wollen wir einmal versuchen und uns vorstellen, wie der Beobachter vom Mars reagieren würde, wenn er feststellte, daß seit nahezu zweitausend Jahren Millionen von sonst ganz vernünftigen Leuten fest davon überzeugt waren, daß die überwiegende Mehrzahl unserer Spezies, die ihren speziellen Glauben nicht teilte und nicht den gleichen Riten hul159

digte wie sie, für alle Ewigkeit in den Flammen werde brennen müssen auf Befehl eines liebevollen Gottes. Diese Feststellung ist nicht gerade neu. Aber ein so einzigartiges Phänomen einfach als Indoktrination oder Aberglauben abzutun heißt doch wohl, gerade jener Frage auszuweichen, die den Kern des menschlichen Dilemmas bildet.

15.6 Der fröhliche Vogel Strauß Bevor wir unseren Gedankengang weiter fortsetzen, möchte ich noch versuchen, einem häufig vorgebrachten Einwand zu begegnen. Wenn man auch nur andeutungsweise die Hypothese erwähnt, ein paranoider Zug sei möglicherweise im Menschen inhärent angelegt, dann wird man prompt beschuldigt, eine einseitige morbide Geschichtsauffassung zu vertreten, sich durch ihre negativen Aspekte hypnotisieren zu lassen, die schwarzen Steine aus dem Mosaik herauszulesen und die triumphalen Errungenschaften menschlichen Fortschritts außer acht zu lassen. Warum nicht statt dessen die weißen Mosaiksteine hervorheben – das Goldene Zeitalter Griechenlands, die monumentalen Bauwerke Ägyptens, die Wunder der Renaissance, die Gleichungen Newtons oder die Eroberung des Mondes? Natürlich ergibt sich aus solcher Betrachtungsweise eine erfreulichere Bilanz. Was mich persönlich betrifft, habe ich so viel über die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen geschrieben, daß man mir kaum vorwerfen kann, ich würde seine Errungenschaften herabsetzen. Es kommt hier jedoch nicht darauf an, ob man je nach Temperament und Laune die hellere oder die dunklere Seite auswählt, sondern darauf, daß man beide zugleich in Betracht zieht, den Gegensatz feststellt und nach seinen Ursachen forscht. Auf den glorreichen Errungenschaften des Menschen zu beharren und die Symptome einer möglichen Geistesgestörtheit zu ignorieren, das nenne ich nicht Optimismus, sondern VogelStrauß-Politik. Man könnte eine solche Haltung mit der jenes wohlmeinenden Arztes vergleichen, der kurz vor Vincent van Goghs Selbstmord erklärte, der Patient könne nicht geisteskrank sein, da er so wundervolle Bilder male. Eine Anzahl von Autoren, mit denen ich ansonsten sympathisiere, scheint bei der Erörterung der Zukunftsaussichten des Menschen in die gleiche wohlmeinende Betrachtungsweise zu verfallen: C. G. Jung und seine Anhänger, Teilhard de Chardin, Julian Huxley und die sogenannten »Evolutionshumanisten Eine mehr ausgewogene Betrachtungsweise der menschlichen Geschichte könnte sie als eine Symphonie mit zahlreichen Instrumenten ansehen, begleitet vom Trommelwirbel einer Horde von Schamanen. Zuweilen läßt uns ein Scherzo die Trommeln vergessen, aber auf die Dauer gewinnt doch ihr monotoner Rhythmus die Oberhand und erstickt jeden anderen Ton.

15.7 Integration und Identifikation Dichter haben stets behauptet, die Menschheit sei verrückt, und ihre Zuhörerschaft hat immer erfreut dazu genickt, denn sie glaubte, es handle sich um eine hübsche Metapher. Nähme man diese Aussage wörtlich, dann bestünde wohl wenig Hoffnung, denn wie kann ein Wahnsinniger seinen eigenen Wahnsinn diagnostizieren? Die Antwort lautet: er kann es doch, denn er ist weder völlig wahnsinnig, noch ist er es die ganze Zeit über. In ihren Remissionsperioden haben Psychosekranke erstaunlich vernünftige und klare Berichte über ihre Krankheit abgefaßt; selbst in den akuten Phasen einer Psychose, die durch Drogen wie etwa LSD künstlich herbeigeführt werden, weiß die Versuchsperson, während sie sich lebhaften Wahnvorstellungen hingibt, genau, daß es sich um Wahnvorstellungen handelt. Jeder Versuch, eine Diagnose des unheilvollen Dilemmas, in welchem sich der Mensch befindet, zu stellen, muß vorsichtig und schrittweise unternommen werden. Zunächst 160

wollen wir uns einmal daran erinnern, daß alle unsere Emotionen aus »gemischten Gefühlen« bestehen, an denen sowohl die selbstbehauptenden als auch die selbsttranszendierenden Tendenzen beteiligt sind. Aber die beiden können auf verschiedene Weise zusammenwirken – manchmal segensreich, manchmal auch unheilvoll. Die einfachste und normalste Wechselwirkung besteht in einer gegenseitigen Abdämpfung: die beiden Tendenzen halten sich im Gleichgewicht. Dem Wettbewerb werden Zügel angelegt, indem man die Regeln für ein zivilisiertes Verhalten akzeptiert. Die selbstbehauptende Komponente beim Geschlechtstrieb sucht nur ihre eigene Befriedigung, aber in einer harmonischen menschlichen Beziehung ist sie mit dem gleich starken Bedürfnis verknüpft, auch dem Partner Freude und Befriedigung zu vermitteln. Verärgerung über das lästige Benehmen des anderen wird durch das Einfühlungsvermögen gemildert – durch das Verständnis für Motive, denen sein Benehmen entspringt. Beim schöpferischen Künstler oder Wissenschaftler wird der Ehrgeiz ausgeglichen durch die selbsttranszendierende Hingabe an das Werk. In einer idealen Gesellschaft wären die beiden Grundtendenzen in ihren Bürgern harmonisch vereint – diese wären zugleich heilig und tüchtig, Jogis und Kommissare. Wenn aber die Spannungen zunehmen oder sich die Integration lockert, dann verwandelt sich Konkurrenz in Rücksichtslosigkeit, Werbung in Notzucht, Ehrgeiz in Egozentrik, verwandelt sich der Kommissar in einen Terroristen. Wie bereits betont, sind jedoch die aus Exzessen von individueller Selbstbehauptung herrührenden Schäden, in historischem Maßstab gesehen, relativ unbedeutend, wenn man sie mit denen vergleicht, die aus irregeleiteter Devotion resultieren. Wir wollen nun diesen Zusammenhang ein wenig näher untersuchen. Die integrativen Tendenzen des Einzelnen wirken durch die Mechanismen des Einfühlungsvermögens, der Sympathie, der Projektion, der Introjektion, der Identifikation und der Devotion: sie alle vermitteln das Erlebnis, Teil einer größeren Einheit zu sein, die über die Grenzen seines individuellen Ichs hinausgeht (siehe Seite 129 f.). Dieses psychologische Bedürfnis, zu etwas zu gehören, an etwas teilzuhaben, sich mit etwas zu verbinden, ist ebenso primär und real wie sein Gegenpol. Die entscheidende Frage ist die Beschaffenheit dieser höheren Entität, als deren Teil sich das Individuum fühlt. Während der frühen Kindheit verbindet ein symbiotisches Bewußtsein das Ich und die Welt zu einer untrennbaren Einheit. Diese Einheit spiegelt sich später im Sympathiezauber der Primitiven wider, im Glauben an die Transsubstantiation, an die mystischen Bande, die einen Menschen mit seinem Stamm, seinem Totem, seinem Schatten, seinem Abbild und seinem Gott verbinden. In den orientalischen Philosophien hat sich das »Ich bin du, und du bist ich«, die Identität des »eigentlichen Ichs« mit dem Atman, der Weltseele, durch die Jahrhunderte hindurch erhalten. Im Westen überlebte es nur in der Tradition der großen, christlichen Mystiker; die europäische Philosophie und Wissenschaft seit Aristoteles machten jeden Menschen zu einer Insel. Sie konnten jene Spuren symbiotischen Bewußtseins, die sich in anderen Kulturen erhalten hatten, nicht tolerieren, der Drang nach Selbsttranszendenz mußte hier kanalisiert und sublimiert werden. Ein Weg, dies zu erreichen, bestand darin, Magie in Kunst und Wissenschaft zu transformieren. Dadurch ergab sich für einen kleinen, erlesenen Kreis die Möglichkeit, Selbsttranszendenz auf einer höheren Windung der Spirale zu erreichen durch jene sublime Ausdehnung des Bewußtseins, die Freud als das »ozeanische Gefühl« und Maslow148 als das »Gipfelerlebnis« bezeichnete und die ich die AH-Reaktion genannt habe. Aber nur eine geringe Minderheit ist für ein solches Erlebnis qualifiziert. Den anderen stehen nur beschränkte, traditionelle Betätigungsfelder offen, mit deren Hilfe sie die starren Grenzen des eigenen Ichs überschreiten können. Historisch gesehen bestand für die überwiegende Mehrzahl der Menschheit die einzige Antwort auf ihre integrativen Regungen – die Sehnsucht, teilzuhaben, anzugehören, einen Sinn im Dasein zu finden – in der Identifizierung mit Stamm, Kaste, Nation, Kirche oder Partei, in jedem Fall mit einem sozialen Holon. 161

Hier sind wir nun an einem entscheidenden Punkt angelangt. Der psychologische Prozeß, mit dessen Hilfe eine solche Identifikation vollzogen wurde, war meist von jener primitiven und infantilen Art der Projektion, die Himmel und Erde mit zornigen Vaterfiguren bevölkert, mit Fetischen, die verehrt, mit Dämonen, die in die Flucht geschlagen, und mit Dogmen, die blind geglaubt werden müssen. Diese grobe Art der Identifikation unterscheidet sich sehr stark von der Integration in eine wohlgeordnete Sozialhierarchie. Sie bedeutet eine Regression zu einer infantilen Form der Selbsttranszendenz und in extremen Fällen sogar so etwas wie einen Weg zurück in den Mutterleib. Jung sagt: Nicht nur sprechen wir von der Mutter Kirche, sondern sogar vom »Schoß der Kirche« ... Die Katholiken bezeichnen das Taufbecken als immaculata divini fontis uterus.149 Wir brauchen uns aber nicht auf so extreme Fälle zu berufen, um zu erkennen, daß die reifen, sublimierten Ausdrucksformen der integrativen Tendenz in der menschlichen Gesellschaft die Ausnahme sind und nicht die Regel. Blättert man im Geschichtsbuch der Menschheit zurück, dann stellt man fest, daß sich die Menschen zu allen Zeiten wie Konrad Lorenz’ »objektgeprägte« Gänse verhalten haben, die in mißgeleiteter Devotion ihr Leben lang hinter dem Züchter herwatscheln, weil er das erste sich bewegende Objekt war, das sie nach dem Ausschlüpfen wahrnahmen – anstatt der Muttergans. Soweit wir in der Geschichte zurückblicken können, ist es den verschiedensten menschlichen Gesellschaften immer ganz gut gelungen, die Sublimation der selbstbehauptenden Impulse des Einzelnen zu erzwingen – bis schließlich der brüllende kleine Wilde in der Wiege in ein mehr oder minder gesetzestreues und zivilisiertes Mitglied der Gesellschaft verwandelt wurde. Gleichzeitig aber mißlangen alle Versuche, eine ähnliche Sublimation bei den selbsttranszendierenden Impulsen herbeizuführen. Infolgedessen manifestieren sich diese meist in primitiven oder pervertierten Formen. Die Ursache für diesen entscheidenden Kontrast in der Entwicklung der beiden Grundtendenzen wird, so hoffe ich, im weiteren Verlauf dieser Untersuchung deutlicher werden. Zunächst wollen wir einen Blick auf die sich daraus ergebenden psychologischen und sozialen Konsequenzen werfen.

15.8 Die Gefahren der Identifizierung Nach welchem Prinzip arbeitet die Identifizierung? Nehmen wir den einfachsten Fall, bei dem nur zwei Individuen beteiligt sind. Mrs. Smith und Mrs. Brown sind miteinander befreundet. Mrs. Brown hat ihren Mann durch einen Unfall verloren; Mrs. Smith vergießt mitfühlende Tränen, sie nimmt am Kummer ihrer Freundin teil und identifiziert sich dadurch teilweise mit ihr, und zwar durch einen Akt des Einfühlungsvermögens, der Projektion oder der Introjektion, wie man es gerade nennen mag. Ein ähnlicher Prozeß vollzieht sich, wenn es sich bei der anderen Person nicht um ein wirkliches Individuum, sondern um die Heroine eines Films oder eines Romans handelt. Es ist wichtig, daß wir bei diesem Vorgang einen klaren Unterschied machen zwischen zwei Faktoren, obwohl beide zur gleichen Zeit erlebt werden. Bei dem ersten handelt es sich um den Akt der Identifizierung selbst; er ist gekennzeichnet durch die Tatsache, daß das Individuum für einen Augenblick seine eigene Existenz mehr oder minder vergessen hat und an der Existenz einer anderen Person teilhat, die zu einer ganz anderen Zeit oder an einem ganz anderen Ort gelebt haben mag. Das ist ganz zweifellos ein selbsttranszendierendes und kathartisches Erlebnis, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Mrs. Smith, solange dieses Erlebnis andauert, ihre eigenen Sorgen, Eifersüchteleien und ihren Groll gegen Mr. Smith völlig vergißt. Der Akt der Identifikation hemmt zeitweilig die selbstbehauptenden Tendenzen.

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Es spielt jedoch noch ein zweiter Faktor mit hinein, der gerade die gegenteilige Wirkung auslösen kann: der Prozeß der Identifizierung kann zur Entstehung von stellvertretenden Emotionen führen. Wenn Mrs. Smith am Kummer von Mrs. Brown »teilhat«, dann leitet dieser erste Prozeß des Teilhabens unmittelbar zum zweiten Prozeß über: zum Erleben von Kummer. Aber dieser zweite Prozeß kann auch zum Erleben von Angst oder Zorn führen. Man leidet mit dem jungen Oliver Twist; daraus resultiert schließlich das Gefühl, man müßte Fagin mit eigenen Händen erwürgen. Das Teilhaben an den Empfindungen anderer ist ein selbsttranszendierendes und kathartisches Erlebnis. Aber es kann auch zum Medium für Zorngefühle werden – Zorn als stellvertretende Emotion, erlebt für jemand anders, aber echt empfunden. Der Zorn, den man angesichts der üblen Machenschaften perfider Leinwandschurken empfindet – in Mexiko kommt es vor, daß das Publikum sie mit Kugeln durchlöchert –, ist durchaus echter Zorn. Wenn wir uns im Kino oder im Fernsehen einen Thriller ansehen, dann entwickeln wir auch die physischen Symptome akuter Angst – Herzklopfen, Muskelspannung und plötzliches Zusammenzucken. Hier erkennen wir das Paradoxon – und das Dilemma. Wir haben einerseits gesehen, daß die selbsttranszendierenden Impulse der Projektion, des Teilhabens und der Identifikation die Selbstbehauptung hemmen und uns von selbstsüchtigen Ärgernissen und Begierden reinigen. Aber anderseits kann der Vorgang der Identifikation auch den plötzlichen Ausbruch von Zorn, Angst und Rachsucht stimulieren; zwar erlebt man diese Regungen sozusagen in Stellvertretung für eine andere Person, aber sie drücken sich trotzdem in den wohlbekannten adreno-toxischen Symptomen aus. Die dabei mitwirkenden physiologischen Mechanismen sind im Prinzip die gleichen, ohne Rücksicht darauf, ob die Drohung oder Beleidigung sich gegen uns selbst richtet oder gegen diejenige Person oder Gruppe, mit der wir uns identifizieren. Sie sind einwandfrei selbstbehauptender Natur, obschon sozusagen das Ich vorübergehend seine Adresse geändert hat – indem es zum Beispiel in den untadeligen Filmhelden hineinprojiziert wird oder in das heimische Fußballteam oder in die Flagge und Hymne des Vaterlandes. Die Kunst ist eine Schule der Selbsttranszendenz; aber das gleiche gilt auch für eine patriotische Versammlung, eine Voodoo-Zeremonie oder einen Kriegstanz. Daß wir imstande sind, Tränen über den Tod Anna Kareninas zu vergießen, die nur auf dem Papier oder als Schatten auf der Leinwand existiert, ist wahrscheinlich ein Triumph der Imaginationskraft unseres Geistes. Die Illusionen auf der Bühne leiten sich letztlich aus dem Sympathiezauber ab – aus der teilweisen Identifizierung des Zuschauers mit dem Schauspieler und damit auch mit dem Gott oder Helden, den er verkörpert. Aber hier wird der Zauber in hohem Maße sublimiert; der Prozeß der Identifizierung ist nur tentativ und partiell; er beeinträchtigt nicht die kritischen Fähigkeiten und unterminiert nicht die persönliche Identität. Aber das ist es gerade, worauf Voodoo-Zeremonien und Nürnberger Parteitage abzielen. Die in Orwells Roman 1984 vom »Wahrheitsministerium« gezeigten Filme bezwecken, kollektive Haßorgien auszulösen. Zwar erleben die Zuschauer nur stellvertretende Emotionen selbstloser Natur: eine gerechte Entrüstung, deren Manifestationen aber um so ungezügelter sind, weil sie selbstlos und unpersönlich ist und man sich ihr mit einem reinen Gewissen hingeben kann. Sowohl die Glorie als auch die Tragödie des menschlichen Daseins leitet sich also aus unseren selbsttranszendierenden Kräften ab. Diese Kräfte lassen sich ebenso für schöpferische wie auch für destruktive Ziele einspannen; sie sind gleichermaßen imstande, uns zu Künstlern oder zu Mördern zu machen – wobei letztere Möglichkeit die wahrscheinlichere ist. Sie können selbstsüchtige Impulse in Schranken halten, aber auch gewaltträchtige Emotionen entfachen, die im Namen jener Entität erlebt werden, mit der man ein Identifizierungsverhältnis etabliert hat. Ungerechtigkeiten oder vorgegebene Ungerechtigkeiten, die dieser Entität zugefügt werden, lösen meist eine weit fanatischere Reaktion aus als eine persönliche Beleidigung. Das verstümmelte Ohrläppchen von 163

Jenkins mag mittlerweile zu einem komischen Klischee geworden sein, aber es war zu seiner Zeit eine in hohem Maß mitbestimmende Ursache für die amerikanische Kriegserklärung an Spanien. Die Erschießung der Krankenschwester Edith Louisa Cavell im Ersten Weltkrieg löste in viel stärkerem Ausmaß eine spontane Entrüstung gegen »teutonische Brutalitäten« aus als die Massenvernichtungen von Juden im Zweiten Weltkrieg. Es ist leicht, sich mit einer heroischen Rotkreuzschwester zu identifizieren: die Opfer der Gaskammern können zwar Mitleid erregen, aber kaum Impulse zur Identifikation.

15.9 Hierarchische Bewußtheit Der Mechanismus, den ich eben erörtert habe – die Selbsttranszendenz als Vermittlerin von Emotionen genau entgegengesetzter Art –, findet seinen unheilvollsten Ausdruck im Bereich der Massenpsychologie. Ich habe wiederholt betont, daß die selbstsüchtigen Impulse des Menschen in historischer Sicht eine weit geringere Gefahr darstellen als seine integrativen Tendenzen. Das Individuum, das sich Exzessen von aggressiver Selbstbehauptung hingibt, macht sich gegenüber der Gesellschaft straffällig – es ächtet sich selbst, es schließt sich aus der Hierarchie aus. Der Rechtgläubige dagegen wird immer enger mit ihr verwoben; er ist geborgen im Schoß seiner Kirche, seiner Partei, oder was immer das soziale Holon ist, dem er seine Identität hingibt. Denn Identifikation in dieser primitiven Form hat immer eine gewisse Beeinträchtigung der eigenen Individualität zur Folge, ein Aufgeben der kritischen Fähigkeiten und des persönlichen Verantwortungsgefühls. Der Priester ist der »gute Hirte« seiner Herde, aber die gleiche Metapher gebrauchen wir auch in einem abträglichen Sinn, wenn wir von den Massen sprechen, die einem Demagogen wie die Schafe folgen; beide Ausdrücke, der eine anerkennend, der andere herabsetzend, drükken die gleiche Wahrheit aus. Hier haben wir also erneut den grundlegenden Unterschied zwischen der primitiven Identifikation, deren Ergebnis die homogene Herde ist, und den reiferen Formen der Integration in einer Sozialhierarchie. In einer gut ausbalancierten Hierarchie behält der Einzelne den Charakter eines sozialen Holons bei, eines Teilganzen, das innerhalb der Grenzen, die von den Interessen der Gemeinschaft bestimmt werden, seine eigene Autonomie genießt. Er bleibt ein individuelles Ganzes mit eigenen Rechten und Pflichten, und man erwartet von ihm, daß er seine Autonomie durch Originalität, Initiative und vor allem durch persönliche Verantwortlichkeit behauptet. Die gleichen Wertkriterien gelten auch für größere soziale Holons – Berufsgruppen, Gewerkschaften, Gesellschaftsklassen – auf den höheren Stufen der Hierarchie. Man erwartet von ihnen die Entfaltung der im Janusprinzip implizierten Tugenden: sie sollen selbstregulierende autonome Holons sein, aber zugleich auch mit den nationalen – beziehungsweise internationalen – Interessen im Einklang stehen. Von einer idealen Gesellschaft dieser Art könnte man sagen, sie besitze »hierarchische Bewußtheit«: jedes Holon auf jeder Stufe ist sich sowohl seiner Rechte als Ganzes als auch seiner Pflichten als Teil voll bewußt. Die Phänomene, die man gewöhnlich mit den Begriffen »Gruppenmentalität« oder »Massenpsyche« bezeichnet, reflektieren jedoch eine grundsätzlich andere Einstellung. Sie basiert – um es nochmals zu betonen – nicht auf einer integrierten Wechselwirkung, sondern auf einem Identifizierungsverhältnis. Bei der Integration in einer Sozialhierarchie bleiben die persönliche Identität und die Verantwortlichkeit ihrer Holons gewahrt; die Identifikation jedoch impliziert, während der Dauer ihres Bestehens, eine partielle oder gar totale Aufgabe beider Elemente. Wir haben gesehen, daß die Selbstaufgabe ebenso wohltätige wie schädliche Formen annehmen kann, in der mystischen oder ästhetischen Verzückung löst sich das Ich im 164

ozeanischen Gefühl auf; eine der französischen Bezeichnungen für den Orgasmus lautet la petit mort; ein Theaterbesuch ist eine Flucht vor dem Ich. Die Selbsttranszendenz hat immer ein Sich-Aufgeben im Gefolge; aber Ausmaß und Qualität des Opfers hängen stets vom Grad der Sublimierung und von der Art des Betätigungsfeldes ab. Bei den sinistren Phänomenen der Massenpsychologie ist die Sublimation minimal, und alle Betätigungsfelder sind gleichgeschaltet.

15.10 Induktion und Hypnose Zu den harmlosen Manifestationen der Massenpsychose gehören so triviale Phänomene wie ansteckendes Lachen, ansteckendes Gähnen oder ansteckendes In-OhnmachtFallen. Die Ansteckung in einer Mädchenklasse oder im Mädchenschlafsaal eines Colleges scheint auf einer Art von wechselseitiger Induktion zu beruhen: Jedesmal wenn ich auf Sally Anne blickte oder Sally Anne auf mich, fingen wir von neuem zu kichern an; wir konnten uns einfach nicht halten. Am Ende waren wir alle nahezu hysterisch. Aber nicht nur halbwüchsige Mädchen, auch stramme Gardesoldaten auf Regimentsparaden sind solchen Phänomenen ausgesetzt: ein Riesenkerl wird plötzlich ohnmächtig, und andere fallen nach ihm wie Kegel um. Auf Zusammenkünften von amerikanischen religiösen Sekten sind die Symptome noch erstaunlicher: fängt der erste an zu schreien, herumzuspringen und sich wie ein Epileptiker zu gebärden, werden die anderen von einem unwiderstehlichen Drang ergriffen, das gleiche zu tun. Der nächste Schritt führt uns zu noch unheimlicheren Manifestationen: zu den Taranteltänzern des Mittelalters; zu den kollektiven Halluzinationen der Nonnen von Loudun, die sich in der Umarmung mit obszönen Teufeln auf dem Erdboden herumwälzten; zu den fidelen französischen commères, die sich am Fuß der Guillotine in geifernde Trikoteusen verwandelten; und – um einen Kontrast hineinzubringen – zu den strikt disziplinierten, ritualisierten Parteiaufmärschen in Nürnberg und auf dem Roten Platz in Moskau – oder, um noch einen Kontrast anzuführen, zu den Horden schreiender Teenager-Bacchantinnen, die einem Pop-Star hysterisch zujubeln. Allen diesen Phänomenen – harmlos, bedrohlich oder grotesk – ist ein Grundelement gemeinsam: die Leute, die an ihnen beteiligt sind, haben bis zu einem gewissen Grade ihre unabhängige Identität aufgegeben und sich mehr oder minder entpersönlicht; im gleichen Ausmaß wurden ihre Impulse synchronisiert und in die gleiche Richtung ausgerichtet wie magnetisierte Eisenspäne. Die Kraft, die sie zusammenhält, bezeichnet man verschiedentlich als »soziale Infektion«, »wechselseitige Induktion«, »kollektive Hysterie«, »Massenhypnose« und so weiter; sie alle haben ein gemeinsames Element: die Identifizierung mit der Gruppe, erkauft durch die partielle Aufgabe der eigenen Identität. Die Immersion in der Gruppendynamik ist die Selbsttranszendenz der Armen im Geiste. Sie ist von Freud und anderen Psychologen auch mit einem halbhypnotischen oder quasi-hypnotischen Zustand verglichen worden. Der hypnotische Zustand ist leicht zu demonstrieren, aber schwer zu definieren oder zu erklären. Diese Tatsache und die unheimliche Macht, die der Hypnotiseur auszuüben scheint, mögen der Hauptgrund dafür sein, daß man der Hypnotik in der Wissenschaft der westlichen Welt so lange mit Skepsis und Mißtrauen begegnet ist – während man sie in den primitiven, aber auch in den fortgeschrittenen Kulturen der östlichen Welt sowohl für segensreiche als auch für üble Zwecke anwandte. Mesmer erzielte mit ihr spektakuläre Heilerfolge, aber er kannte nicht ihre Wirkungsweise; seine Pseudoerklärungen mit Hilfe des Tiermagnetismus, verbunden mit raffinierter Effekthascherei, brachten den Hypnotismus nur noch weiter in Mißkredit. Im Laufe des 19. Jahrhunderts haben mehrere hervorragende englische Chirurgen eine Anzahl von Operationen ein165

schließlich Amputationen schmerzfrei unter Einwirkung der Hypnose durchgeführt, aber ihre Berichte stießen auf Skepsis und Feindseligkeit. Die orthodoxe Medizin weigerte sich, die Realität eines Phänomens zu akzeptieren, obwohl es sich leicht demonstrieren ließ und zeitweilig sogar zu einer Art Gesellschaftsspiel wurde. Nur allmählich wurde dieses Vorurteil abgetragen; Charcot und seine Schule in Frankreich und Freud in seiner frühen Periode hypnotisierten ihre Patienten ganz routinemäßig und benutzten die Hypnose zu therapeutischen Zwecken. 1841 prägte der schottische Arzt James Baird das Wort »Hypnotismus«, das etwas respektabler klang als die früheren Termini Mesmerismus, Magnetismus oder Somnambulismus.* * Den letztgenannten Begriff prägte der Marquis Chastenay de Puységur, ein Anhänger von Mesmer, dem aufgefallen war, daß sich seine Patienten im Trancezustand wie Schlafwandler zu bewegen und zu benehmen schienen.

Gegenwärtig werden qualifizierte medizinische Hypnotiseure in wachsender Zahl von Zahnärzten an Stelle von Narkotiseuren beschäftigt; bei Entbindungen, in der Psychotherapie und in der Dermatologie ist die Anwendung von Hypnose so sehr gang und gäbe, daß wir schon gar nicht mehr fragen, auf welche Weise sie eigentlich wirkt. Denn sie ist, wie schon gesagt, ein Phänomen, das sich leicht hervorbringen, aber nur schwer erklären läßt – schon gar nicht mit den Begriffen der »Flache-Erde-Psychologie«. Eine Erklärung, oder doch zumindest eine Beschreibung, gab vor einem halben Jahrhundert Ernst Kretschmer: Im hypnotischen Zustand scheinen die Funktionen des Ichs außer Kraft gesetzt zu sein mit Ausnahme derjenigen, die mit dem Hypnotiseur wie durch einen schmalen Schlitz in einem Projektionsschirm kommunizieren.150 Der Schlitz konzentriert den Strahl des hypnotischen »Rapports«. Die übrige Vorstellungswelt der hypnotisierten Person ist somit abgeschirmt. Eine aus jüngerer Zeit stammende Beschreibung – die des Oxforder Experimentalpsychologen Dr. Oswald – führt im Prinzip zu den gleichen Schlußfolgerungen: Der hypnotische Trancezustand beim Menschen hat [im Gegensatz zu den bei Tieren induzierten kataleptischen Zuständen] eine Bezeichnung, die seiner Ähnlichkeit mit dem Schlafwandeln entstammt. Der hypnotische Trancezustand beim Menschen ist aber kein Schlafzustand. Er ist auch nicht, das muß besonders betont werden, ein Zustand der Bewußtlosigkeit ... Es ist nicht möglich, diesen Zustand auf eine Art und Weise zu klassifizieren, die allgemein akzeptabel wäre. Er bleibt definitiv ein Rätsel. Mit Sicherheit kann man sagen, er ist ein Zustand der Untätigkeit, jedoch nur was spontane Aktionen betrifft. Auf Befehl des Hypnotiseurs kann durchaus eine vehemente Aktivität einsetzen, ohne daß der Trancezustand unterbrochen oder der Rapport mit dem Hypnotiseur zerstört wird. Gerade dieser Rapport ist das Charakteristische an dem Phänomen. Die eigene Initiative des hypnotisierten Individuums wird derjenigen des Hypnotiseurs untergeordnet. Für das, was der Hypnotiseur suggeriert, scheint es einfach keine Alternativmöglichkeiten zu geben. Wenn Sie Ihren Freund bitten, aufzustehen und die Tür zu schließen, dann mag er das ohne Widerspruch tun, er kann aber auch den Einwand erheben, Sie könnten die Tür ebensogut selbst schließen. Die hypnotisierte Person steht einfach auf und schließt die Tür.151 Schließlich heißt es in Drevers DICTIONARY OF PSYCHOLOGY: Hypnose: künstlich herbeigeführter Zustand, in vieler Hinsicht dem Schlaf ähnlich, aber besonders gekennzeichnet durch übertriebene Suggestibilität und den kontinuierlichen Kontakt beziehungsweise Rapport mit dem Hypnotiseur.152 166

In seinem Buch MASSENPSYCHOLOGIE UND ICH-ANALYSE machte Freud den hypnotischen Zustand zu seinem Ausgangspunkt. Er betrachtete den Hypnotiseur und den Hypnotisierten als eine »Masse zu zweit« und glaubte, der hypnotische Trancezustand sei der Schlüssel für die »oft tiefgreifende Veränderung seiner seelischen Tätigkeit, die ein einzelner innerhalb einer Masse durch den Einfluß derselben erfährt«.153 In der Tat ist die »hypnotische Wirkung« von Propheten und Demagogen auf ihre »gebannten« Anhänger bereits so sehr zu einem gängigen Klischee geworden, daß man leicht dazu neigt, ihre wörtliche und pathologische Relevanz zu übersehen. Le Bons klassische Analyse der Mentalität des heroischen und mörderischen Mobs der Französischen Revolution (die Freud als seinen Ausgangspunkt nahm) ist heute noch genauso gültig wie für die Zeit vor nahezu zwei Jahrhunderten. Wie bei einer hypnotisierten Versuchsperson, so wird auch bei dem Individuum, das dem Einfluß der Masse unterworfen ist, die persönliche Initiative zugunsten des Führers aufgegeben, und »die Funktionen des Ichs scheinen suspendiert zu sein«, mit Ausnahme derjenigen, die sich »im Rapport mit dem Hypnotiseur befinden«. Aus dieser Situation ergibt sich zwangsläufig ein Zustand geistiger Untätigkeit – eine gemilderte Form von Somnambulismus beziehungsweise »Gebanntsein« –, der jedoch auf Befehl des Führers urplötzlich in gewaltträchtiges Handeln umschlagen kann. Die Masse zeigt die Tendenz, sich »fanatisch« (oder »heroisch«) zu gebärden, das heißt, alle sind einheitlich auf ein einziges Ziel hin ausgerichtet, weil die individuellen Unterschiede zwischen den Mitgliedern der Masse vorübergehend außer Kraft gesetzt und ihre kritischen Fähigkeiten narkotisiert worden sind. Die gesamte Masse wird auf diese Weise geistig auf einen primitiven gemeinsamen Nenner reduziert, ein Kommunikationsniveau, an dem alle ohne Unterschied teilhaben können: die Einheitlichkeit ihres Willens basiert auf Einfältigkeit. Aber gleichzeitig steigert sich die emotionale Dynamik der Masse durch wechselseitige Induktion und durch die Tatsache, daß die Schlitze im Projektionsschirm ausnahmslos in die gleiche Richtung weisen. Es handelt sich hier um eine Art Resonanzeffekt, der den einzelnen Mitgliedern der Masse das Gefühl suggeriert, sie seien Teil einer unwiderstehlichen Macht – einer Macht, die noch dazu ex hypothesi nichts Unrechtes tun kann. Die Identifikation spricht den Einzelnen von seiner persönlichen Verantwortlichkeit frei; wie beim hypnotischen Rapport werden Initiative und Verantwortlichkeit auf den Hypnotiseur übertragen. Das ist das genaue Gegenteil von »hierarchischer Bewußtheit« – vom Wissen um die individuelle Freiheit innerhalb der Grenzen, die von den Spielregeln gezogen sind. Die hierarchische Bewußtheit läßt die beiden Gesichter des Janus erkennen; die Mentalität der Masse gleicht einem einzigen, mit Scheuklappen versehenen Profil. Sie impliziert nicht nur das Außerkraftsetzen der persönlichen Verantwortlichkeit, sondern auch das der selbstbehauptenden Tendenzen des Individuums. Wir sind diesem Paradoxon bereits begegnet. Die totale Identifizierung des Einzelnen mit der Gruppe macht ihn in mehr als einer Hinsicht selbstlos. Sie macht ihn gleichgültiger gegenüber Gefahren und weniger empfindlich für physischen Schmerz – auch wieder eine milde Form von hypnotischer Anästhesie. Unter ihrem Einfluß ist er fähig, kameradschaftliche, altruistische und heroische Taten zu vollbringen und auch sein Leben zu opfern – aber gleichzeitig geht er mit rücksichtsloser Härte und Grausamkeit gegen Feinde der Gruppe vor. Die von den Mitgliedern einer fanatischen Menge an den Tag gelegte Brutalität ist jedoch ihrer Natur nach unpersönlich und selbstlos; sie dient dem Interesse oder vermeintlichen Interesse des Ganzen, und sie schließt die Bereitschaft mit ein, im Namen dieses Ganzen nicht nur zu töten, sondern auch zu sterben. Mit anderen Worten: Das selbstbehauptende Verhalten der Gruppe basiert auf dem selbsttranszendierenden Verhalten ihrer einzelnen Mitglieder, das häufig die Aufopferung der persönlichen Interessen und sogar des eigenen Lebens im Interesse der Gruppe nach sich zieht. Ganz 167

einfach ausgedrückt: Der Egoismus der Gruppe nährt sich vom Altruismus ihrer Mitglieder. Das alles erscheint uns weniger paradox, wenn wir erkennen, daß die soziale Gruppe ein Holon mit einer eigenen Struktur und speziellen Spielregeln ist, die sich grundsätzlich von den Regeln unterscheiden, die für das Verhalten ihrer einzelnen Mitglieder gelten (siehe Seite 39 f.). Eine Volksmasse ist natürlich ein sehr primitives Holon, etwa das menschliche Gegenstück zu einer Herde. Trotzdem gilt auch hier, daß die Masse mehr ist als nur die Summe ihrer Teile und daß sie charakteristische Merkmale aufweist, die man auf dem Niveau ihrer individuellen Einzelteile nicht findet.* * In seiner kürzlich erschienenen Abhandlung THE EVOLUTION OF SYSTEMS OF RULES OF CONDUCT setzt sich Professor F. A. von Hayek zum Ziel, »... einen Unterschied zu machen zwischen den Systemen von Verhaltensregeln, die das Verhalten der individuellen Mitglieder einer Gruppe bestimmen, und dem System, das sich daraus für die Gruppe als Ganzes ergibt ... Daß [diese beiden] nicht identisch sind, sollte 154 eigentlich ohne weiteres klar sein, trotzdem werden sie in der Tat häufig miteinander verwechselt«. Unter Umständen können sogar die Regeln, die das individuelle und das Gruppenverhalten bestimmen, in direktem Widerspruch zueinander stehen. Vor vielen Jahren, als ich noch Romane schrieb, ließ ich eine Romanfigur – einen römischen Rechtsanwalt aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert – eine Abhandlung schreiben, die den Titel trug: »Über die Gründe, die den Menschen veranlassen, gegen das Interesse anderer zu handeln, wenn er allein steht, und gegen das eigene Interesse, sobald er sich in einer Gruppe 155 oder Menge befindet.«

Ist die Wut der Gruppe erst einmal entfacht, dann können natürlich ihre individuellen Mitglieder den aggressiven Impulsen freien Lauf lassen. Aber es handelt sich hier um eine Art sekundärer Aggressivität, die von dem vorausgegangenen Akt der Identifikation ausgelöst wird – im Gegensatz zur primären Aggressivität, die persönlichen Motiven entspringt. Die physischen Manifestationen einer solchen sekundären Aggressivität mögen von denen einer primären Aggressivität ununterscheidbar sein – ebenso wie etwa der durch einen Filmschurken entfachte Zorn die gleichen Symptome hervorruft wie der Zorn auf eine reale Person. Aber wir haben es in beiden Fällen mit einer Aggression zu tun, die einen sekundären, sich aus einer Identifizierung ableitenden Prozeß darstellt – aus einer Identifizierung mit der Gruppe im ersten und mit dem Filmhelden im zweiten Fall. Soziologen, die den Krieg als eine Manifestation der verdrängten aggressiven Tendenzen im Menschen betrachten, erwecken den Eindruck, daß sie niemals als einfache Soldaten gedient und keine Ahnung von der Mentalität des Soldaten in Kriegszeiten haben. Da gibt es zunächst einmal das Warten – man sagt, es beschäftige den Soldaten neunzig Prozent seiner Zeit; es gibt das Schimpfen und Nörgeln, die obszönen Anekdoten, zwischendurch gelegentlich Angst, und vor allem die Hoffnung, das Ganze werde bald vorüber sein und man dürfe wieder ins Zivilleben zurückkehren – von Haß kann überhaupt nicht die Rede sein. Bei der modernen Kriegführung bleibt der »Feind« meist unsichtbar, und das »Kämpfen« beschränkt sich auf die unpersönliche Manipulation von Fernkampfwaffen. Bei der klassischen Kriegführung wurden Angriffe von geschlossenen Einheiten – das heißt Gruppen – ausgetragen, und sie richteten sich gegen Stellungen, die von anderen Gruppen gehalten wurden; die Züge eines individuellen Feindes, den man getötet hatte, oder möglicherweise getötet hatte, wurden kaum jemals wahrgenommen; zu töten war unter den gegebenen Umständen das sine qua non für das eigene Überleben, eine primäre Aggressivität spielte dabei jedoch keine nennenswerte Rolle. Ähnliches gilt auch für die »Verteidigung von Heim und Familie«. Soldaten kämpfen nicht in unmittelbarer Nähe ihrer Heimstatt, sondern an Orten, die Hunderte oder Tausende von Kilometern entfernt sind; sie verteidigen die Heimstätten, die Familien, das Territorium der Gruppe, zu der sie als Teile gehören. Auch der vorgegebene und gelegentlich tatsächlich vorhandene Haß auf Boches oder Russkis, auf Faschisten oder Rote, ist nicht eine Frage der persönlich empfundenen primären Aggressivität; er richtet sich gegen eine Gruppe, genauer gesagt, gegen den gemeinsamen Nenner, auf den alle Mitglieder dieser speziellen Gruppe gebracht worden sind. Das individuelle Opfer eines solchen Hasses wird nicht als Individuum verfolgt, sondern als symbolischer Repräsentant des gemeinsamen Nenners seiner Gruppe. 168

Im Ersten Weltkrieg konnte es durchaus geschehen, daß die Soldaten in den sich gegenüberliegenden Schützengräben während der Weihnachtszeit miteinander fraternisierten und dann wieder aufeinander zu schießen begannen, sobald der zweite Weihnachtsfeiertag vorüber war. Der Krieg ist ein Ritual, ein tödliches Ritual, ist nicht eine Folge von aggressiver Selbstbehauptung, sondern von selbsttranszendierender Identifikation. Ohne Loyalität gegenüber dem Stamm, der Kirche, Fahne oder Partei gäbe es keine Kriege – und die Loyalität ist ein nobler Zug. Ich meine damit natürlich nicht, daß sich Loyalität zwangsläufig in Gruppenraserei ausdrücken muß, sondern nur, daß sie eine Voraussetzung dafür ist; und daß die selbsttranszendierende Devotion, durch die gesamte Geschichte hindurch, stets als ein Katalysator für sekundäre Aggressivität fungiert hat.

15.11 Des geliebten Cäsars Wunden ... Shakespeare hat dieses scheinbar abstrakte Argument mit einer Überzeugungskraft zum Ausdruck gebracht, wie sie keine psychologische Abhandlung auch nur annähernd erreichen kann. In Mark Antons Rede an die versammelte Menge der römischen Bürger gibt es einen entscheidenden Augenblick, wo er ganz bewußt die ersten oberflächlichen Ressentiments gegen die Verschwörer unterdrückt. Er läßt seine Zuhörer einen Kreis um Cäsars Leiche bilden – nicht gleich, um Rache zu fordern, sondern zunächst, um ihr Mitleid zu erwecken: Wofern ihr Tränen habt, bereitet euch, Sie jetzo zu vergießen. Diesen Mantel, Ihr kennt ihn alle; noch erinner’ ich mich Des ersten Males, daß ihn Cäsar trug, In seinem Zelt, an einem Sommerabend – Er überwand den Tag die Nervier – Hier, schauet! fuhr des Cassius Dolch herein ... Und in den Mantel sein Gesicht verhüllend, Grad am Gestell der Säule des Pompejus, Von der das Blut rann, fiel der große Cäsar. O meine Bürger, welch ein Fall war das! Da fielet ihr und ich; wir alle fielen ...

Nachdem er auf diese Weise sich selbst und alle seine Zuhörer mit dem toten Führer identifiziert und ihnen »des geliebten Cäsars Wunden, die armen stummen Munde« gezeigt hat, hat er die Menge genau dort, wo er sie haben will: O ja! Nun weint ihr, und ich merk’, ihr fühlt Den Drang des Mitleids: dies sind milde Tropfen. Wie? Weint ihr, gute Herzen, seht ihr gleich Nur unsers Cäsars Kleid verletzt? Schaut her! Hier ist er selbst, geschändet von Verrätern. Erster Bürger: O kläglich Schauspiel! Zweiter Bürger: O edler Cäsar! Dritter Bürger: O jammervoller Tag! Vierter Bürger: O Buben und Verräter! Erster Bürger: O blut’ger Anblick! Zweiter Bürger: Wir wollen Rache! Alle: Rache! Auf und sucht! Sengt! Brennt! Schlagt! Mordet! Laßt nicht einen leben!*

Und so nimmt das Unheil wieder einmal seinen Lauf, ausgelöst durch nobelste Gefühle. * Die Shakespeare-Zitate aus JULIUS CÄSAR sind nach der deutschen Übersetzung von Schlegel und Eschenberg wiedergegeben (Anmerkung des Übersetzers).

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15.12 Die Struktur von Glaubenssystemen Ein Mob dieser Art ist natürlich eine extreme Verkörperung der Massenpsychologie. Aber um von ihr angesteckt zu werden, ist es nicht erforderlich, daß die Person in einer Masse physisch präsent ist – häufig ist die geistige Identifizierung mit einer Gruppe, Nation, Kirche oder Partei völlig ausreichend. Wenn unsere Einbildungskraft imstande ist, die physischen Symptome der Angst hervorzubringen, bei Gefahren für Personen, die nur als Druckerschwärze existieren, um wieviel leichter ist es, das Erlebnis der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Masse zu haben, obwohl man in ihr nicht physisch präsent ist. Man kann auch im eigenen Badezimmer ein Opfer einer Massenpsychose sein. Ein Mob in Aktion benötigt einen Führer. Religiöse oder politische Bewegungen brauchen gleichfalls zunächst Führer, um überhaupt in Gang zu kommen; haben sie sich erst einmal etabliert, dann profitieren sie natürlich immer noch von einer wirksamen Führerschaft, aber das, was die Gruppe primär benötigt, der Faktor, der ihr den Zusammenhalt als Gruppe gibt, das ist ein Glaubensbekenntnis, ein gemeinsames Glaubenssystem, das über die persönlichen Interessen des Einzelnen hinausreicht. Es kann durch ein Symbol repräsentiert werden – durch ein Totem oder einen Fetisch, der unter den Mitgliedern des Stammes das mystische Gefühl der Verbundenheit hervorruft. Es kann die Überzeugung sein, daß man zu einem auserwählten Volk gehört, dessen Vorfahren ein Bündnis mit Gott geschlossen haben; oder zu einer Herrenrasse, deren Vorfahren mit einem besonders hervorragenden Genkomplex ausgestattet waren oder deren Kaiser vom Sonnengott abstammten. Es kann sich um die Überzeugung handeln, die Einhaltung gewisser Regeln und Riten garantiere die Mitgliedschaft in einer privilegierten Elite im Leben nach dem Tode – oder die manuelle Arbeit garantiere die Zugehörigkeit zur sozialen Eliteklasse der Geschichte. Wie entstehen nun solche machtvollen kollektiven Glaubenssysteme? Wenn der Historiker versucht, sie bis auf ihre Ursprünge zurückzuverfolgen, landet er unweigerlich irgendwo in der Dämmerzone der Mythologie. Besitzt eine Glaubensvorstellung eine starke emotive Kraft, dann läßt sich stets nachweisen, daß sie uralten Quellen entstammt. Ein Glaube wird nicht erfunden, er scheint auf ähnliche Weise Gestalt anzunehmen, wie die Feuchtigkeit in der Luft sich zu Wolken verdichtet, die dann endlose Wandlungen ihrer Form durchmachen können. Rationale Argumente können dem Rechtgläubigen wenig anhaben, denn der Glaube, an den er emotional gebunden ist, kann von Tatsachen widerlegt werden, ohne deshalb seine magische Kraft einzubüßen. Von der prähistorischen Zeit bis in die jüngste Vergangenheit leitete sich diese magische Kraft aus religiösen Glaubensvorstellungen ab. Ohne Gott auszukommen, das erschien selbst den Begründern der modernen Wissenschaft undenkbar: Kopernikus war orthodoxer Thomist, Kepler lutherischer Mystiker, Galilei nannte Gott den Chefmathematiker des Universums, und Newton glaubte mit Bischof Usher, daß die Welt im Jahre 4004 v. Chr. erschaffen worden sei. Alle sozialreformerischen Bewegungen waren ebenso fest in den ethischen Grundsätzen des Christentums verankert. Das Zeitalter der Aufklärung, mit seinem Kulminationspunkt in der Französischen Revolution, war ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Menschen. Es fand seinen dramatischen Höhepunkt in der symbolischen Geste von Robespierre, Gott abzusetzen und an seiner Stelle die Göttin der Vernunft zu inthronisieren. Sie hat schmählich versagt. Der christliche Mythos läßt sich über Jahrtausende hin kontinuierlich zurückverfolgen – über Griechenland, Palästina und Babylon bis hin zu den Mythen und Riten des neolithischen Menschen; er bot eine archetypische Gußform für die selbsttranszendierenden Emotionen des Menschen, für seine Sehnsucht nach dem Absoluten. Die pro170

gressiven Tendenzen und Ideologien des 19. Jahrhunderts erwiesen sich als ein armseliger Ersatz. Vom Standpunkt des materiellen Wohlergehens, der Volksgesundheit und der sozialen Gerechtigkeit aus gesehen, haben die letzten hundertfünfzig Jahre sicherlich mehr spürbare Verbesserungen für das Los des kleinen Mannes gebracht als die vorausgegangenen fünfzehnhundert Jahre des Christentums; betrachtet man jedoch ihre Auswirkung auf den Gruppengeist, so ergibt sich ein ganz anderes Bild. Religion mag das Opium des Volkes gewesen sein, aber Opiumesser lassen sich nur schwer für eine rationale, gesunde Kost begeistern. Bei der intellektuellen Elite rief der rapide Fortschritt der Wissenschaft einen etwas oberflächlich optimistischen Glauben an die Unfehlbarkeit der Vernunft hervor, an eine klare, helle, kristallinische Welt von transparenter atomistischer Struktur, in der es keinen Raum für Schatten, Zwielicht und Mythen gab. Man glaubte, die Vernunft übe die Kontrolle über die Emotionen aus, so wie der Reiter sein Pferd unter Kontrolle hat – der Reiter repräsentierte das aufgeklärte rationale Denken, das Pferd repräsentierte das, was man im Viktorianischen Zeitalter als »die dunklen Leidenschaften« und »die Bestie in uns« bezeichnete. Niemand konnte voraussehen, auch der größte Pessimist wagte nicht vorauszusagen, daß das Zeitalter der Aufklärung in der katastrophalsten emotionalen Massenbewegung der Geschichte enden würde, bei der der Reiter unter die Hufe der Bestie geriet und von ihnen zertrampelt wurde. Aber wieder einmal waren es die nobelsten Ideale, die die Bestie zu ihren Taten antrieben: die säkularen Messianismen der klassenlosen Gesellschaft und des Tausendjährigen Reiches; und wieder sind wir geneigt zu vergessen, daß die überwiegende Anzahl der Männer und Frauen, die dem totalitären Zauber verfielen, von selbstlosen Motiven beherrscht war, stets bereit, je nach Befehl die Rolle des Märtyrers zu spielen oder die des Henkers. Weder der faschistische noch der Sowjetmythos waren synthetische Konstruktionen, sondern Wiederbelebungen von Urvorstellungen – Archetypen –, und deshalb beide imstande, nicht nur den Intellekt, sondern den Gesamtmenschen zu erfassen; beide ermöglichten eine totale Sättigung der Affekte. Der faschistische Mythos hat seinen mythologischen Ursprung nie verleugnet. Das Opium wurde den Massen offen verabreicht. Die Archetypen von Blut und Boden, des drachentötenden Übermenschen, die Gottheiten von Walhall und die teuflischen Mächte des Judentums wurden systematisch in den Dienst gespannt. Eine Hälfte des Hitlerischen Genies bestand darin, die richtigen unbewußten Saiten anzuschlagen; die andere Hälfte bestand in seinem flinken Eklektizismus, in seinem Spürsinn für hypermoderne Avantgardemethoden in Wirtschaft, Architektur, Technik, Propaganda und Kriegführung. Das Geheimnis des Faschismus ist die Wiederbelebung archaischer Glaubensinhalte in ultramoderner Fassung. Das Nazigebäude war ein Wolkenkratzer, dessen Heißwasserleitung aus unterirdischen Quellen vulkanischen Ursprungs gespeist war.156 Der sowjetische Mythos übte eine gleichstarke Anziehungskraft auf einen großen Teil der Menschheit aus. Die klassenlose kommunistische Gesellschaft sollte eine Wiederbelebung des Goldenen Zeitalters der Mythologie sein, auf der höchsten und letzten Windung der dialektischen Spirale. Sie war eine säkularisierte Version des Gelobten Landes, des Himmelreiches auf Erden. Eines der Merkmale dieses archetypischen Mythos ist, daß dem Anbruch des Millenniums ein gewaltsamer Umsturz vorausgehen muß: die Apokalypse, das Jüngste Gericht. Ihr säkulares Äquivalent besteht in der Liquidierung der bürgerlichen Welt durch den revolutionären Terror. Gewisse Produkte der frühen russischen und zeitgenössischen chinesischen Propagandaliteratur, in denen die »revolutionäre Justiz« gepriesen wird, die mit einer »verfaulten und dekadenten 171

Bourgeoisie« aufräumt, erinnern einen in der Tat an die Jüngsten Gerichte von Grünewald oder Hieronymus Bosch. Der Glaubensfanatiker hat einen wahren Horror vor jeder »reformistischen« Häresie – vor dem Glauben an einen unblutigen Übergang zum Sozialismus (der zunächst die Kommunisten veranlaßte, die Sozialisten öffentlich zu brandmarken, und später die Chinesen dazu trieb, nun ihrerseits die Russen als Verräter an der gemeinsamen Sache anzuprangern). Ohne Apokalypse kein Himmelreich auf Erden.

15.13 Die Spaltung Die faschistische Propaganda war nicht sonderlich darum bemüht, Emotion und Vernunft miteinander in Einklang zu bringen; logische Einwände gegen ihre Doktrinen wurden als »zersetzende Kritik« abgetan. Görings Ausspruch »Wenn ich das Wort ›Kultur‹ höre, greife ich nach dem Revolver« war eine offene Kriegserklärung an den Intellekt: der Reiter sollte dem Pferd gehorchen. Im Gegensatz dazu war die leninistische Theorie vom »wissenschaftlichen Sozialismus« eine durchaus rationale, materialistische Doktrin, in direkter Abstammung ein Nachkömmling des Zeitalters der Aufklärung. Wie soll man sich erklären, daß Millionen von Anhängern dieser rationalistischen Doktrin – einschließlich vieler fortschrittlicher Intellektueller in der ganzen Welt – die logischen Absurditäten des stalinistischen »Persönlichkeitskults«, die Schauprozesse, die Säuberungswellen und das Bündnis mit den Nationalsozialisten akzeptierten – und daß diejenigen, die außerhalb Rußlands lebten, das freiwillig taten, in selbstauferlegter Disziplin und ohne äußeren Druck vom »Großen Bruder«? Das Stalin-Regime gehört der Vergangenheit an, aber seine tödlichen Riten werden in China und anderen Ländern getreulich kopiert und von einer neuen Generation wohlmeinender Mitläufer gleichermaßen gebilligt. Während ich – Ende 1966 – diese Zeilen schreibe, wird China erneut von einer massiven Säuberungsaktion heimgesucht, wie sie für ein solches System unerläßlich zu sein scheint; und ich habe einen Zeitungsausschnitt mit einem Artikel vor mir liegen, in welchem die offizielle Nachrichtenagentur »Neues China« ein Schwimmkunststück kommentiert, das der Vorsitzende Mao Tse-tung, »die strahlende Sonne, die den Geist der revolutionären Menschen in der ganzen Welt erleuchtet«, im Jangtse-Fluß vollbracht hat: Seine Schwimmdemonstration im Jangtse-Fluß war eine mächtige Ermutigung für das chinesische Volk und für die Revolutionäre in der ganzen Welt – und ein schwerer Schlag für den Imperialismus, den modernen Revisionismus und für jene Ungeheuer und Mißgeburten, die gegen den Sozialismus und gegen Mao Tse-tungs Lehren opponieren.157 Ich habe bereits von dem paranoiden Zug gesprochen, der sich durch die Geschichte der Menschheit hinzieht. Der moderne Mensch mag ohne weiteres bereit sein zuzugeben, daß das für die Azteken oder für die Zeit der Hexenverbrennungen zutrifft. Er ist vielleicht weniger geneigt zuzugeben, daß ein vergleichbares Maß von Paranoia in der Doktrin enthalten ist, die besagt, »daß nahezu die gesamte Menschheit, einschließlich aller ungetauft sterbenden Kinder, ewige Foltern erleiden muß, schlimmer als ein irdischer Fachmann auf diesem Gebiet sie je ersinnen könnte – und daß das immerwährende Zuschauen bei diesen Qualen eine der Wonnen der Seligen ist«.158 Und doch war diese Doktrin ein Teil des kollektiven Glaubenssystems, dem die Mehrheit der Europäer bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, und viele von ihnen noch wesentlich länger, anhingen. Aber selbst diejenigen, die in vollem Ausmaß erkennen, daß nur eine geistige Störung derartige Phantasien erklären kann, sind geneigt, sie als Phänomene abzutun, die der Vergangenheit angehören. Es ist eben nicht leicht, die Menschen zu lieben und dennoch zuzugeben, daß der paranoide Zug in der zeitgenössischen Geschichte ebenso evi172

dent ist wie in der fernen Vergangenheit, nur daß seine Folgen sich jetzt noch verheerender auswirken; und daß, wie die Geschichte zeigt, dieser Zug nicht ein Zufallsfaktor, sondern endemischer Natur ist, ein inhärentes Element des menschlichen Daseins. Wie verschieden auch die Symptome sein mögen, das Prinzip der Störung ist stets das gleiche: eine geistige Spaltung zwischen Glauben und Vernunft, zwischen Affekt und Intellekt.* Der Glaube an ein gemeinsames Glaubenssystem basiert auf einer emotionalen Bindung; Zweifel werden als sündhaft verworfen; es handelt sich um eine Form der Selbsttranszendenz, die – vergleichbar dem hypnotischen Zustand – die partielle oder totale Aufgabe der kritischen Fähigkeiten des Intellekts erfordert. * Schizophrenie (Geistesspaltung) wird gewöhnlich definiert als eine Geisteskrankheit, bei der eine Dissonanz zwischen intellektuellen und affektiven Prozessen besteht. Die paranoide Schizophrenie ist gekennzeichnet durch anhaltende systematische Wahnvorstellungen.

Newton schrieb nicht nur die PRINCIPIA, sondern auch eine Abhandlung über die Topographie der Hölle. Bis zum heutigen Tag glauben wir Dinge, die nicht nur mit feststellbaren Tatsachen unvereinbar sind, sondern auch mit Tatsachen, die wir selbst festgestellt haben. Der heiße Dampf des Glaubens und der Eisblock der Vernunft koexistieren in unseren Schädeln, haben aber keine Wirkung aufeinander: das Eis schmilzt nicht, und der Dampf schlägt sich nicht nieder. Der menschliche Geist ist im Grunde schizophren, in zwei Ebenen gespalten, die sich gegenseitig ausschließen ... Der Urmensch weiß, daß sein Götze ein Stück geschnitztes Holz ist, und doch glaubt er an dessen Macht, den Regen herbeizuführen; und obwohl unsere Glaubensinhalte eine allmähliche Verfeinerung erfuhren, blieb die dualistisch gespaltene Struktur unseres Geistes im Grunde unverändert.159 Bis zum Aufkommen des Humanismus im 13. Jahrhundert schien sich aus diesem Dualismus der Vernunft und des Glaubens kein besonderes Problem ergeben zu haben, denn man sah als gegeben an, daß der Intellekt die untergeordnete Rolle der ancilla fidei spielte, der Dienerin des Glaubens. Die Situation änderte sich jedoch, als der heilige Thomas von Aquin das »Licht der Vernunft« als eine unabhängige Quelle der Erkenntnis neben dem »Licht der Gnade« anerkannte. Aus dem Status einer »Dienerin« wurde die Vernunft in den Status einer »Braut« des Glaubens emporgehoben. Als Braut war sie natürlich noch immer gehalten, ihrem Bräutigam zu gehorchen; trotzdem wurde ihr von jetzt an eine eigene Existenz zuerkannt. Damit war der Konflikt unvermeidlich geworden. Von Zeit zu Zeit erreichte er einen dramatischen Höhepunkt: im Feuertod des Michael Servitius, im Skandal um Galilei, im Zusammenstoß zwischen Darwinisten und Fundamentalisten und dem hartnäckigen Widerstand der katholischen Kirche gegen die Geburtenkontrolle. In dergleichen dramatischen Krisen bricht der schwelende Konflikt dann offen aus; sie eröffnen dem gespaltenen Geist die Möglichkeit, sich seiner Spaltung bewußt zu werden und sie durch eine eindeutige Stellungnahme zu überwinden. Offene Konfrontationen dieser Art sind jedoch recht selten; die übliche Art, mit gespaltenem Geist zu leben, besteht darin, den Spalt mittels Rationalisierungen und subtilen Scheinargumenten zu vertuschen. So erlangt man einen modus vivendi, der auf Selbsttäuschung basiert und den paranoiden Zug verewigt. Das gilt natürlich nicht nur für die westliche Welt, sondern in gleichem Maße für Hindus, Mohammedaner und militante Buddhisten; die Geschichte Asiens ist ebenso blutig, heilig und grausam wie die unsrige.

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15.14 Die Tröstungen des Zwiedenkens Fassen wir noch einmal zusammen: Ohne einen transzendentalen Glauben ist jeder Mensch eine dürre kleine Insel. Das Bedürfnis nach Selbsttranszendenz durch das »ozeanische Gefühl« im religiösen oder ästhetischen Bereich oder durch Integration im sozialen Bereich ist ein inhärenter Faktor des menschlichen Daseins. Transzendentale Glaubenssysteme leiten sich aus bestimmten, immer wiederkehrenden archetypischen Motiven ab, die eine unmittelbare emotionale Reaktion auslösen.* * Das klassische Werk auf diesem Gebiet ist immer noch William James’ THE VARIETIES OF RELIGIOUS EXPERIENCE. In jüngster Zeit hat Sir Alistair Hardy dieses Thema in seinem Werk THE DIVINE FLAME behandelt.

Sobald sie jedoch als kollektives Eigentum einer bestimmten Gruppe institutionalisiert sind, degenerieren sie zu starren Doktrinen, die, ohne ihre emotive Anziehungskraft auf den Rechtgläubigen zu verlieren, mit dessen Vernunfturteil in Konflikt geraten. Das führt zu einer Spaltung: die Emotion lauscht dem durchdringenden Ruf des Muezzin vom Turm der Moschee, der Intellekt scheut vor ihm zurück. Um diese Dissonanz zu eliminieren, hat man zu den verschiedensten Zeiten verschiedene Arten von »Zwiedenken« ersonnen – wirksame Techniken der Selbsttäuschung, manche primitiv, andere außerordentlich raffiniert. Auch die säkularen Religionen – die politischen Ideologien – haben ihren Ursprung in der uralten Sehnsucht nach einer idealen Gesellschaftsstruktur; wenn sie sich jedoch zu einer Bewegung oder Partei kristallisieren, können sie in einem solchen Ausmaß verfälscht werden, daß die tatsächlich verfolgte Politik das genaue Gegenteil von dem angeblich angestrebten Ideal ist. Der Grund dafür, daß idealistische Bewegungen – ganz gleich, ob religiöser oder säkularer Natur – diese offenbar unausweichliche Tendenz, zu Karikaturen ihrer selbst zu degenerieren, zeigen, läßt sich aus den Eigentümlichkeiten der Massenmentalität ableiten: aus ihrer Tendenz zu intellektueller Simplizität und emotioneller Intensität – und aus ihrer quasi-hypnotischen Suggestibilität gegenüber Führerfiguren und Glaubenssystemen. Ich kann aus eigener Erfahrung sprechen, denn ich war während Stalins Terrorregime sieben Jahre lang (1931-1938) Mitglied der Kommunistischen Partei. In meinen schriftstellerischen Arbeiten über diese Periode habe ich die Operationen des betörten Geistes geschildert, der mit Hilfe von allerlei Manövern versucht, die Zitadelle des Glaubens gegen die Attacken des Zweifels zu verteidigen. Es gibt zum Schutz der Festung mehrere konzentrisch angelegte Verteidigungsgürtel. Die äußeren Verteidigungsanlagen sind dazu bestimmt, unangenehme Tatsachen fernzuhalten. Für die Armen im Geiste wird diese Aufgabe durch offizielle Zensur erleichtert, die alle Literatur verbietet, die den Geist »vergiften« könnte – und durch die eingepflanzte Angst, sie könnten sich durch jeden Umgang mit den verdächtigen Elementen »anstecken« oder »schuldig« machen. So primitiv diese Methoden auch sein mögen, sie führen rasch zu einem sektiererischen, durch Scheuklappen beengten Ausblick auf die Welt. Der zunächst von außen her erzwungene Verzicht auf verbotene Informationen wird sehr bald zur inneren Gewohnheit – zu einem emotionalen Widerwillen gegen die »unverschämten Lügen«, die der Feind vorzubringen wagt. Für die Mehrheit der Gläubigen reicht das völlig aus, um ihre unwandelbare Loyalität sicherzustellen. Die mehr intellektuell Veranlagten dagegen entwickeln zusätzliche Abwehrmechanismen. In den Jahren 1932/33, als die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft zur großen Hungersnot führte, reiste ich kreuz und quer durch die Sowjetunion, um ein Buch zu schreiben, das niemals veröffentlicht wurde. Ich sah, daß ganze Dörfer verlassen waren, sah Bahnstationen durch Massen von bettelnden Familien blockiert und sah Kinder, die buchstäblich verhungerten, mit Armen dürr wie Stöcke, mit aufgedunsenen Bäuchen und vom Tode gezeichneten Köpfen. Meine Reaktion auf diese brutale Invasion der Realität war typisch für den wahren Gläubigen. Ich war überrascht und verwirrt – aber 174

die elastischen Stoßdämpfer meiner Parteischulung funktionierten zuverlässig. Ich hatte Augen, die sahen, und einen Apparat im Kopf, der automatisch wegerklärte, was sie sahen. Dieser Apparat war ungleich zuverlässiger und wirksamer als die offizielle Zensur ... Er half mir, meine Zweifel zu bewältigen und meine Eindrücke in der vorgeschriebenen Form zu ordnen. Ich lernte, alles, was mich abstieß, automatisch als »Erbschaft der Vergangenheit«, und was mir gefiel, als »Saat der Zukunft« zu klassifizieren. Mit dieser automatischen Sortiermaschine im Kopf war es 1932 einem Europäer noch möglich, in Rußland zu leben und dabei Kommunist zu bleiben. Alle meine Freunde hatten diese Sortiermaschine in ihren Köpfen. Die kommunistische Bewegung hat die Technik der Selbsttäuschung ebenso vervollkommnet wie die der Massenpropaganda. Der »innere Zensor« im Kopf des wahren Gläubigen ergänzt das Werk des öffentlichen Zensors; seine Selbstdisziplin ist ebenso tyrannisch wie der vom Regime erzwungene Gehorsam; er terrorisiert sein eigenes Gewissen, bis es sich unterwirft. Er trägt seinen privaten »Eisernen Vorhang« im Schädel, um seine Illusionen vor dem Eindringen der Wirklichkeit zu schützen.160 Hinter diesem Vorhang beginnt die magische Welt des »Zwiedenkens«: »Häßlich ist schön, falsch ist wahr – und auch umgekehrt.« Das stammt nicht etwa von George Orwell, sondern von Professor Suzuki, dem Propheten des modernen Zen-Buddhismus, der damit das Prinzip der Identität der Gegensätze erläutern wollte.161 Die Perversionen des Pop-Zen basieren auf dem Jonglieren mit der Identität von Gegensätzen, die des Kommunismus auf dem Jonglieren mit der Dialektik der Geschichte, die des Scholastikers auf einer Kombination der Evangelien und der Logik des Aristoteles. Die Axiome sind unterschiedlich, aber der Wahn folgt der gleichen Methode. Tatsachen und Argumente, denen es gelingt, die äußeren Verteidigungsringe zu durchbrechen, werden mit Hilfe der dialektischen Methode so lange bearbeitet, bis »falsch« zu »wahr« wird, die Diktatur zur wahren Demokratie und ein Hering zum Rennpferd: Allmählich lernte ich, den Tatsachen zu mißtrauen und die Welt im Lichte dialektischer Bespiegelung zu sehen. Es war ein befriedigender und wahrhaft beseligender Augenblick. Beherrschte man einmal die Technik dieser Betrachtungsweise, dann nahmen die sogenannten Tatsachen die richtige Färbung an und sanken in die ihnen zukommende Rolle zurück. Moralisch und logisch gesehen war die Partei unfehlbar; moralisch, weil ihre Zielsetzungen lauter, das heißt im Sinne des Dialektischen Materialismus waren, logisch, weil die Partei für das Proletariat eintrat, das wieder die Verkörperung des aktiven Prinzips in der Geschichte darstellte ... Ich lebte zu jener Zeit in einer geistigen Welt, die ein »geschlossenes System« darstellte wie die Welt der mittelalterlichen Scholastiker. Meine Empfindungen, meine Einstellung zu Kunst, Literatur und menschlichen Werten wurden dem System entsprechend umgeformt.162* * Diese Zeilen stammen aus dem Jahre 1952. Fünfzehn Jahre später hat zwar die Szenerie gewechselt, aber das Prinzip ist das gleiche geblieben: Nach den in der Literary Gazette zitierten Ausführungen der chinesischen Presse stehen Shakespeares Dramen in einem »fundamentalen Gegensatz zum sozialistischen Realismus ...«. Bizets Oper »Carmen« wird als ein Versuch bezeichnet, »Sex und Individualismus zu verkaufen«. An Beethovens Neunter Symphonie wird bemängelt, sie sei »durchtränkt von kleinbürgerlicher Nächstenliebe«. Das Interesse an der bürgerlichen klassischen Musik könne nur dazu führen, »die revolutionäre Entschlossenheit zu lähmen«. Chinesische Kritiker haben auch in Tolstois »Anna Ka163 renina« eine »revisionistische Gesinnung« entdeckt.

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Das bemerkenswerteste Merkmal des Wahnsystems eines Paranoikers ist seine innere Konsistenz und die geradezu unheimliche Überzeugungskraft des Patienten bei seiner Auslegung. Weitgehend das gleiche gilt auch für jedes »geschlossene System des Denkens«. Unter einem geschlossenen System verstehe ich ein Denkgefüge mit bestimmten Spielregeln, das drei Haupteigentümlichkeiten aufweist: 1.

erhebt das System den Anspruch, eine Wahrheit von universaler Gültigkeit zu repräsentieren, alle Phänomene erklären zu können und für alle Leiden des Menschen ein Heilmittel zu besitzen.

2.

ist es ein System, das sich nicht durch Tatsachenbeweise widerlegen läßt, da alle potentiell schädlichen Fakten automatisch bearbeitet und reinterpretiert werden, bis sie sich in den vorbestimmten Rahmen einfügen. Dieser Bearbeitungsprozeß vollzieht sich mit Hilfe subtiler Methoden der Kasuistik, die auf Axiomen mit starker affektiver Ladung basieren und für die die Gesetze der normalen Logik keine Gültigkeit haben; man spielt sozusagen eine Art Wunderlandkrocket mit mobilen Toren.

3.

handelt es sich um ein System, das jede Kritik dadurch entkräftet, daß es die Argumentation auf die subjektive Motivation des Kritikers verlagert und seine Motivation aus den Axiomen des Systems selbst ableitet.

Die orthodoxe Freudsche Schule kam in ihren frühen Phasen einem geschlossenen System nahe: argumentierte man, es bestünden aus den und den Gründen Zweifel an der Existenz des sogenannten Kastrationskomplexes, dann antworteten die Freudianer prompt, die Argumentation lasse eine unbewußte Abwehr erkennen und deute darauf hin, daß man selbst einen solchen Kastrationskomplex habe; man sah sich in einem circulus vitiosus gefangen. Ähnlich war es, wenn man einem Stalinisten vorwarf, einen Pakt mit Hitler zu schließen sei nicht gerade hübsch; er erklärte dann einfach, das bourgeoise Klassenbewußtsein des Kritikers mache diesen unfähig, die Dialektik der Geschichte zu begreifen. Vertraut einem ein Paranoiker das Geheimnis an, der Mond sei eine mit aphrodisischen Dämpfen angefüllte Hohlkugel, die von den Marsbewohnern abgeschossen worden sei, um die Menschheit zu behexen, und erhebt man den Einwand, diese Theorie sei zwar recht attraktiv, aber nicht durch hinreichend schlüssiges Beweismaterial belegt, dann wird einem der Paranoiker prompt vorwerfen, man sei Mitglied des weltweiten Verschwörerkreises zur Vertuschung der Wahrheit. Ein geschlossenes System ist eine Denkwelt mit einer verzerrten, nichteuklidischen Geometrie in einem gekrümmten Raum, in dem Parallelen sich kreuzen und gerade Linien Schleifen bilden. Sein Kanon basiert auf einem zentralen Axiom, Postulat oder Dogma, an das sich das Individuum emotional gebunden fühlt und aus dem sich die Regeln für die Bearbeitung der Wirklichkeit ableiten. Das Ausmaß der bei diesem Prozeß eintretenden Verzerrung ist ein wichtiges Kriterium für den Wert des Systems; sie reicht von der milden Form der Selbsttäuschung des Wissenschaftlers, der, in seine Theorie verliebt, mit seinen Daten ein bißchen herumjongliert, bis zu den Wahnvorstellungen der klinischen Paranoia. Als Einstein den berühmten Ausspruch tat: »Wenn die Fakten nicht mit der Theorie übereinstimmen, dann sind die Fakten falsch«, war das natürlich ironisch gemeint; trotzdem drückte er damit die profunde Affektbindung des Wissenschaftlers an seine Theorie aus. Wie wir gesehen haben, ist ein gelegentliches Beiseiteschieben der strikten Logik zugunsten der Spiele des Unbewußten ein wesentlicher Faktor für die Kreativität im wissenschaftlichen und künstlerischen Bereich. Aber Genies sind selten. Und wenn sich ein Genie gelegentlich solchen nichteuklidischen Spielen hingibt, bei denen das Denken von intuitiven Vorurteilen gelenkt wird, dann handelt es sich doch um ganz persönliche, selbsterzeugte Vorurteile; der Gruppengeist dagegen empfängt seine emotionalen Glaubensvorstellungen wie einen gebrauchsfertigen Konfektionsartikel von seinen Führern. 176

Wir wollen noch einmal festhalten: Das Ausmaß der Verzerrung der Realität, das erforderlich ist, um dem Gläubigen das Beharren in seinem Wahn zu ermöglichen, ist ein Faktor von entscheidender Bedeutung. Hier finden wir auch die Antwort auf jenen ethischen Relativismus, der zynisch proklamiert, alle Politiker seien korrupt, alle Ideologien dummes Gewäsch und jede Religion nur dazu bestimmt, die Masse für dumm zu verkaufen. Die Tatsache, daß Macht korrumpiert, besagt durchaus nicht, daß alle, die über Macht verfügen, gleichermaßen korrupt sind.

15.15 Der Gruppengeist als Holon Zu Beginn dieses Kapitels habe ich von der Tendenz übererregter Organe gesprochen, sich selbst zum Nachteil des Ganzen zu behaupten, und ging dann zur Pathologie von Denksystemen über, die außer Kontrolle geraten: die fixe Idee, die Obsession, das geschlossene System, das sich auf einer Teilwahrheit aufbaut, die sich für die ganze Wahrheit ausgibt. Ähnliche Symptome finden wir nun, auf einer höheren Stufe der Hierarchie, als pathologische Manifestationen des Gruppengeistes. Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten von geistiger Störung ist der gleiche wie der zwischen der primären Aggressivität des Einzelnen und der sekundären Aggressivität, die sich aus seiner Identifizierung mit einem sozialen Holon ableitet. Das verschrobene Individuum mit seiner fixen Idee, der Geisteskranke, der das Opfer einer Verschwörung zu sein glaubt, werden von der Gesellschaft abgelehnt; ihr Wahn ist eine Privatangelegenheit. Im Gegensatz dazu basieren die kollektiven Wahnvorstellungen der Masse oder Gruppe nicht auf individuellen Abweichungen, sondern auf der Tendenz des Individuums zur Konformität. Eine Person, die heute behaupten würde, sie habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und verkehre mit Sukkuben, würde man prompt in eine Anstalt für Geisteskranke einweisen. Aber vor nicht allzu langer Zeit erschien der Glaube an solche Dinge noch ganz selbstverständlich und wurde vom »gesunden Menschenverstand« der Allgemeinheit gebilligt. Ich habe die Ansicht vorgebracht, daß das Unheil der Menschheit nicht durch die primäre Aggressivität des Einzelnen verursacht wird, sondern durch ihre selbsttranszendierende Identifizierung mit der Gruppe, deren gemeinsamer Nenner eine niedrige Intelligenz und ein hohes Maß von Emotionalität sind. Wir kommen nun zu der parallelen Schlußfolgerung, daß der paranoide Zug, der durch unsere gesamte Geschichte läuft, nicht auf individuelle Formen von Geistesstörungen zurückzuführen ist, sondern auf die kollektiven Wahnvorstellungen, die durch affektbedingte Glaubenssysteme ausgelöst werden. Wie sich gezeigt hat, ist die Ursache, die diesen pathologischen Manifestationen zugrunde liegt, die Spaltung zwischen Vernunft und Glauben oder, allgemeiner ausgedrückt, eine unzureichende Koordination zwischen den emotiven und rationalen Fähigkeiten des Geistes. Als nächstes wollen wir erörtern, ob sich diese mangelnde Koordination – die Unordnung in der Hierarchie – auf die Evolution des menschlichen Gehirns zurückführen läßt. Sollte die zeitgenössische Neurophysiologie imstande sein, Hinweise auf die Ursachen des Übels zu geben, dann hätten wir einen ersten Schritt in Richtung auf eine freimütige Diagnose unseres Dilemmas getan – wir wüßten dann wenigstens ungefähr, welche Richtung wir auf der Suche nach einem Heilmittel einschlagen müßten.

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15.16 Zusammenfassung Auf Grund der in den vorausgegangenen Kapiteln dargelegten Erwägungen haben wir im emotionalen Bereich drei Faktoren unterschieden: die Natur des Triebes, die LustUnlust-Quote und die Polarität der selbstbehauptenden und selbsttranszendierenden Tendenzen. Unter normalen Voraussetzungen befinden sich die beiden Tendenzen in dynamischem Gleichgewicht. In Krisensituationen können die selbstbehauptenden Tendenzen außer Kontrolle geraten und zu einem aggressiven Verhalten führen. In historischer Sicht sind jedoch die aus selbstsüchtigen Motiven durch individuelle Gewalt angerichteten Schäden relativ unbedeutend, wenn man sie mit den Verwüstungen vergleicht, die aus der selbsttranszendierenden Hingabe an kollektive Glaubenssysteme entstanden. Diese beruht auf primitiven Identifizierungsprozessen – an Stelle einer ausgewogenen sozialen Integration; sie hat die partielle Aufgabe der persönlichen Verantwortlichkeit zur Folge und löst die quasi-hypnotischen Phänomene in der Massenpsychologie aus. Der Egoismus des sozialen Holons wird vom Altruismus seiner Mitglieder gespeist. Die Rituale des Menschenopfers sind frühe Symptome der Spaltung zwischen Vernunft und affektbedingten Glaubensvorstellungen, die dem paranoiden Charakter der Menschheitsgeschichte zugrunde liegt.

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16 Die drei Gehirne Ich neige durchaus nicht dazu, das Gebiet der Psychologie ohne organische Fundierung in der Luft schweben zu lassen... Mögen die Biologen fortschreiten, so weit sie können, und versuchen wir fortzuschreiten, so weit wir können. Eines Tages werden wir uns treffen. Sigmund Freud

Halten wir noch einmal fest: Die Wahnvorstellungen, die sich durch die gesamte Geschichte der Menschheit hinziehen, lassen es als in hohem Grade wahrscheinlich erscheinen, daß der homo sapiens eine biologische Mißbildung darstellt – das Ergebnis eines kapitalen Fehlwegs im Verlauf des Evolutionsprozesses. Die Doktrin vom Sündenfall, die in den Mythologien so vieler Kulturen auftaucht, könnte darauf hindeuten, daß der Mensch sich seiner Unzulänglichkeit bewußt ist und intuitiv ahnt, daß im Verlauf seiner evolutionären Entwicklung irgend etwas schiefgegangen sein müsse.

16.1 Fehler bei der Gehirnbildung Die Strategie der Evolution ist wie jede andere Strategie dem Prinzip von Versuch und Irrtum unterworfen. Es erscheint daher nicht besonders abwegig, anzunehmen, daß die Erbanlage des Menschen zwar der jeder anderen Spezies überlegen ist, daß aber trotzdem im Schaltsystem seines kostbarsten und delikatesten Instruments – des Zentralnervensystems – irgendein arger Fehler vorhanden ist. Ob eine Lerche glücklicher ist als eine Forelle, darüber läßt sich trefflich streiten; beide sind stagnierende Arten, die jedoch ihrer jeweiligen Lebensweise vorzüglich angepaßt sind; sie als »Fehlwege« der Evolution zu bezeichnen, weil sie nicht genug Verstand haben, um Bücher zu lesen, wäre die dümmste Überheblichkeit. Wenn die Biologen von Fehlwegen der Evolution reden, dann meinen sie damit etwas ganz Bestimmtes: eine offensichtliche Abweichung von dem in der Natur üblichen Standard der Funktionswirksamkeit, eine Art Konstruktionsfehler, der ein Organ seines Lebenswertes beraubt, wie etwa das monströse Geweih des irischen Elchs. Manche Schildkröten und Insekten sind so oberlastig, daß sie sich, wenn sie im Kampf oder durch ein Mißgeschick auf den Rücken fallen, nicht wieder von selbst aufrichten können; sie müssen dann elend verhungern – ein grotesker Konstruktionsfehler, den Kafka zu einem Symbol für das Schicksal des Menschen gemacht hat. Bevor wir uns jedoch dem Menschen zuwenden, muß ich noch kurz zwei frühere evolutionäre Verirrungen bei der Gehirnbildung erörtern, die beide schwerwiegende Folgen hatten. Der erste betrifft die Entwicklung des Gehirns bei den Arthropoden (Gliederfüßlern), die mit mehr als 700.000 bekannten Arten den bei weitem größten Stamm des Tierreiches bilden. Der Stamm der Gliederfüßler reicht von mikroskopisch kleinen Milben über Insekten und Spinnen bis zu riesigen Zehnfußkrebsen; aber sie alle haben eines gemeinsam: ihr Gehirn* ist rings um ihre Speiseröhre herum aufgebaut. Bei den Wirbeltieren sind sowohl das Gehirn als auch das Rückenmark dorsal angelegt, das heißt rückenwärts vom Magen-Darm-Kanal. Bei den wirbellosen Tieren verläuft jedoch der Hauptnervenstrang ventral, das heißt auf der Bauchseite des Tieres. Dieser Strang endet in einem Ganglienpaar unterhalb des Schlundes. Das ist der phylogenetisch ältere Teil des Gehirns; der neuere und »fortschrittlichere« Teil entwickelte sich oberhalb des Schlundes, in der Nähe der Augen. Die Darmröhre bohrt somit die Gehirnmasse mittendurch, und das ist eine sehr schlechte evolutionäre Strategie, denn soll das Gehirn wachsen und sich ausdehnen, so wird die Darmröhre mehr und mehr zusammengedrückt (siehe Abb. 10). * Bei niederen Formen die als Vorläufer des Gehirns zu bezeichnende Ganglienmasse.

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Abbildung 10: Oben: Verhältnis zwischen dem Magen-Darm-Kanal A und dem Nerven-System B eines wirbellosen Tieres. Die obere Gehirnmasse (das Oberschlundganglion) c und die untere Gehirnmasse (das Unterschlundganglion) d engen den Magen-Darm-Kanal ein (nach Wood Jones und Porteus). Unten: Querschnitt durch das Gehirn eines skorpionähnlichen wirbellosen Tieres. Die obere und die untere Gehirnmasse – c und d – engen die schmale Darmröhre A im Zentrum des Gehirns ein (nach Gaskell).

In seinem Werk THE ORIGIN OF VERTEBRATES sagt Gaskell: Ein weiterer Fortschritt in dieser Richtung muß notgedrungen zu einer Krise führen, weil die Speiseröhre von der sich ausbreitenden Nervenmasse unvermeidlich mehr und mehr komprimiert wird ... Zur Zeit der ersten Wirbeltiere führte in der Tat die Evolution der Gliederfüßler zu einem tragischen Dilemma: entweder hatte das Tier die Fähigkeit, die Nahrung zu verdauen, aber nicht die Intelligenz, sie zu erbeuten; oder es hatte die Intelligenz, sie zu erbeuten, aber nicht die Fähigkeit, sie zu verdauen.164 Das Dilemma scheint besonders akut »für die höheren skorpion- und spinnenähnlichen Tiere gewesen zu sein; ihre ständig zunehmende Gehirnmasse quetschte die Speiseröhre so zusammen, daß nur noch flüssige Nahrung durch sie hindurch in den Magen gelangen kann; die gesamte Tiergruppe entwickelte sich zu Blutsaugern. Diese Art von Tieren war zu der Zeit, als die Wirbeltiere zum erstenmal auftauchten, die dominierende 180

Spezies. Die weitere Höherentwicklung erforderte eine immer größere Gehirnmasse und führte zu immer größeren Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme«.165 Wood Jones bemerkt dazu: Ein Blutsauger zu werden ist ein Fehlschlag. Die Spezialisierung auf das Blutsaugen führt zur phylogenetischen Seneszenz. Der phylogenetische Tod ist eine unausbleibliche Folge. Hier ist also der Weiterentwicklung des Gehirns bei den Wirbellosen ein Schlußpunkt gesetzt. Vor die unerfreuliche Alternative gestellt, geistigen Fortschritt mit dem sicheren Hungertod zu bezahlen oder geistige Stagnation als Preis für ein kräftiges Mahl, müssen sie notgedrungen das zweite wählen, wenn sie weiterleben wollen. Die Wirbellosen begingen einen fatalen Fehler, als sie begannen, ihr Gehirn rings um die Speiseröhre herum zu entwickeln. Ihr Versuch, ein großes Gehirn zu erwerben, mißlang. Die Evolution mußte wieder von vorne beginnen.166 Dieser Mißerfolg spiegelt sich in der Tatsache wider, daß selbst bei den höchsten Formen von wirbellosen Tieren – den sozialen Insekten – das Verhalten nahezu ausschließlich vom Instinkt gesteuert wird; das Lernen durch Erfahrung spielt nur eine relativ untergeordnete Rolle. Da außerdem alle Mitglieder eines Bienenstocks vom selben Elternpaar abstammen und keine unterscheidbaren Varianten im Erbgut aufweisen, besitzen sie kaum irgendwelche Individualität: Insekten sind keine Leute. Bei aller Bewunderung für die hervorragende Organisation in einem Bienenstock dürfen wir uns dieser Tatsache nicht verschließen. Bei Wirbeltieren dagegen spielt mit dem Anstieg auf der Evolutionsleiter auch das individuelle Lernen im Vergleich zum Instinkt eine immer größere Rolle infolge der zunehmenden Komplexität des Gehirns, das sich ungehindert ausbreiten konnte, ohne uns zu einer Grießbreidiät zu zwingen. Das zweite warnende Beispiel betrifft unsere alten Freunde, die australischen Beuteltiere. Ich habe sie als die armen Vettern von uns Plazentaliern bezeichnet, denn jede Spezies eines Beuteltieres, von der Maus bis zum Wolf, ist ihrem jeweiligen Pendant in der plazentalen Reihe unterlegen. Wood Jones (selbst Australier) bemerkt dazu: Man muß sie als Fehlschläge der Evolution bezeichnen. Wo immer ein Marsupialier einem höheren Säugetier begegnet, ist es der Marsupialier, der überlistet und gezwungen wird, den Rückzug anzutreten oder zu unterliegen. Der Fuchs, die Katze, der Hund, das Kaninchen, die Ratte und die Maus, sie alle sind ihren Parallelformen vom Stamm der Marsupialier überlegen.167 Dafür gibt es einen einfachen Grund: die Gehirne der Marsupialier sind nicht nur kleiner, sondern auch in ihrem Aufbau wesentlich minderwertiger. Das Opossum und der Lemur sind beide auf Bäumen lebende Tiere mit gewissen Ähnlichkeiten in Größe, Aussehen und Lebensgewohnheiten. Aber beim Opossum, einem Marsupialier, beansprucht der Geruchssinn allein etwa ein Drittel der Gehirnhemisphären – Gesicht, Gehör und alle anderen höheren Funktionen sind in den verbleibenden zwei Dritteln zusammengedrängt. Der plazentale Lemur dagegen hat nicht nur ein größeres Gehirn, obwohl sein Körper kleiner ist als der des Opossums, sondern die Geruchssphäre im Gehirn des Lemurs ist auf ein relativ unbedeutendes Maß zusammengeschrumpft; dadurch wurde mehr Raum geschaffen für Funktionen, die für einen Baumbewohner lebenswichtiger sind. Als die Marsupialier begannen, auf Bäumen zu leben, hätte für sie der Geruchssinn an Bedeutung erheblich verlieren müssen im Vergleich zu Gehör und Gesicht, und dieser Wechsel hätte sich auch in ihrem Nervensystem spiegeln müssen. Aber im Gegensatz zu unseren eigenen Ahnen, den plazentalen Baumbewohnern, fand eine diesbezügliche Wandlung bei den Marsupialiern nicht statt. Außerdem fehlt im Gehirn der höheren 181

Marsupialier eine wichtige Komponente, das sogenannte corpus callosum (der Balken). Das ist ein Nerventrakt, der bei plazentalen Säugetieren die »neuen« (nichtolfaktorischen) Regionen der rechten und der linken Gehirnhemisphäre miteinander verbindet. Er spielt offensichtlich eine wichtige integrative Rolle, obwohl uns die Einzelheiten seiner Funktionsweise noch nicht hinreichend bekannt sind; daß er im Gehirn der Marsupialier fehlt, scheint jedoch ein wesentlicher Faktor ihrer minderwertigen Intelligenz zu sein. Die Krone der Schöpfung unter den Beuteltieren ist der Koalabär. Er ist, wie Wood Jones es ausdrückt, »der größte und für das Leben auf Bäumen am perfektesten adaptierte Marsupialier. Im großen und ganzen kann man ihn mit dem Husarenaffen vergleichen«.168 Aber bei diesem Vergleich schneidet der Koala sehr schlecht ab: »Beim Beutelbären ist der Baumkletterer zu einem ›Baumklammerer‹ geworden. Die Tatzen haben sich in Haken verwandelt; die Finger werden nicht dazu gebraucht, um Früchte und Blätter zu pflücken oder Objekte abzutasten, sondern nur, um sich an den Baum anzuklammern.«169 Das hängt damit zusammen, daß beim Koala am stärksten immer noch der Geruchssinn ausgebildet ist, und der nützt einem Baumbewohner nicht sehr viel. Wie Quoodle, die englische Märchenfigur, denkt der Beutelbär mit seiner Nase. Das Gewicht seines Gehirns beträgt ein Siebentel von dem des Husarenaffen – und den weitaus größten Raum nimmt darin der Geruchssinn ein, der beim Affen so gut wie ganz verschwunden ist; außerdem sind die nicht-olfaktorischen Gehirnteile beim Beutelbären nicht durch ein corpus callosum miteinander verbunden. Der Koala ist die Endstufe der Evolution bei den Marsupialiern, er bleibt ewig an seinem Eukalyptusbaum hängen wie eine ad acta gelegte Hypothese; sein Vetter aus der Affenlinie stellt dagegen nur das Anfangsstadium in der Evolution vom Primaten zum Menschen dar. Es ist faszinierend, Spekulationen darüber anzustellen, ob sich die Marsupialier, wären sie mit einem corpus callosum ausgestattet gewesen, zu einer parallelen »Beutelversion« des Menschen entwickelt hätten, so wie sie sich zu parallelen »Beutelversionen« des Flughörnchens und des Wolfes entwickelt haben.

16.2 »Eine tumorartige Wucherung« Aber bevor wir uns selbst auf die Schulter klopfen und dazu gratulieren, daß wir ein so überlegenes Gehirn haben, das weder unsere Speiseröhre einschnürt noch uns dazu zwingt, den Geruchssinn zur Richtschnur unseres Lebens zu machen, sollten wir erst einmal innehalten und untersuchen, ob nicht die Möglichkeit besteht, daß auch der Mensch in seinem Schädel einen Konstruktionsfehler hat, der womöglich noch schwerwiegender ist als der der Arthropoden und Marsupialier – einen Konstruktionsfehler, der ihn zur Selbstvernichtung prädisponiert, der aber vielleicht noch korrigiert werden kann. Der erste Grund für diese Vermutung ist die außergewöhnliche Schnelligkeit, mit der sich das evolutionäre Wachstum des menschlichen Gehirns vollzogen hat, ein, wie wir wissen, einzigartiger Tatbestand in der Evolutionsgeschichte. Lassen Sie mich hier Professor Le Gros Clark zitieren: Nach dem uns bisher zugänglichen paläontologischen Beweismaterial hat es den Anschein, daß sich das Gehirn der Hominiden vor Beginn des Pleistozäns nicht wesentlich vergrößerte, daß es sich jedoch dann seit dem mittleren Pleistozän (also seit etwa einer halben Million Jahre) mit sehr bemerkenswerter Schnelligkeit ausbreitete, ungleich rascher als die Entwicklungsrate von anatomischen Merkmalen, die in der Evolutionsgeschichte des gesamten Tierreichs festgestellt worden ist ... Die Rapidität der evolutionären Ausdehnung des 182

Gehirns während des Pleistozäns exemplifiziert den Vorgang, den man als »explosive Evolution« bezeichnet hat.170 Noch einen Schritt weiter geht Judson Herrick in THE EVOLUTION OF HUMAN NATURE: Die Geschichte der Zivilisation erzählt von langsamen, gelegentlich dramatischen Bereicherungen des menschlichen Lebens, und von Episoden, in deren Verlauf all die angehäuften materiellen und geistigen Reichtümer sinnlos zerstört wurden. Diese periodisch wiederkehrenden Rückfälle in die Bestialität scheinen an Schärfe mehr und mehr zuzunehmen und immer größere Verheerungen anzurichten, so daß wir uns heute tatsächlich der Bedrohung ausgesetzt sehen, all das restlos zu verlieren, was wir bisher in unseren Bemühungen um ein besseres Leben erreicht haben. Angesichts dieser Tatsachen hat man die Vermutung ausgesprochen, das Wachstum des menschlichen Gehirns sei so rasch vor sich gegangen, daß man es als pathologisch bezeichnen könnte. Das normale Verhalten ist abhängig von der Erhaltung des Gleichgewichts zwischen integrierenden und disintegrierenden Faktoren sowie zwischen der Gesamtstruktur und lokalen Teilstrukturen. Nun behauptet man, der menschliche Cortex sei eine tumorartige Überwucherung, so übermäßig groß, daß seine Funktionen der normalen Kontrolle entglitten sind und nun aufs Geratewohl »dahinrasen« wie eine Dampfmaschine, bei der der Regler abhanden gekommen ist. Diese reizvolle Theorie wurde von Morley Roberts publiziert und von Wheeler mit offensichtlicher Zustimmung zitiert.171 Ihre Argumente scheinen durchaus plausibel zu sein, wenn man an die Geschichte der Vergangenheit denkt, mit ihren Kriegen, Revolutionen und zertrümmerten Reichen – und an den weltweiten Aufruhr in der Gegenwart, der uns mit der totalen Zerstörung unserer Zivilisation bedroht. Vom neurologischen Standpunkt aus ist diese Theorie jedoch unsinnig.172 In der hier vorgebrachten Form ist sie das sicherlich. Die Größe des menschlichen Cortex kann nicht allein daran schuld sein, daß »seine Funktionen der normalen Kontrolle entgleiten«. Wir müssen also nach einer plausibleren Ursache suchen. Die nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung wahrscheinlichste Ursache ist nicht die quantitative Ausdehnung des Gehirns, sondern die unzureichende Koordination zwischen dem Archicortex und dem Neocortex – das heißt zwischen den phylogenetisch älteren Regionen des Gehirns und den neuen, spezifisch menschlichen, die es mit so unschicklicher Hast überlagerten. Dieser Mangel an Koordination verursacht – nach den Worten P. MacLeans – eine Art »Dichotomie in der Funktionsweise des phylogenetisch älteren und des neueren Cortex, die der Grund für den Kontrast zwischen emotionalem und verstandesmäßigem Verhalten sein könnte«.173 Während »unsere intellektuellen Funktionen sich im jüngsten und am höchsten entwickelten Teil des Gehirns abspielen, wird unser affektives Verhalten immer noch von einem relativ undifferenzierten und primitiven System dominiert. Diese Situation liefert uns einen Schlüssel für das Verständnis des Unterschiedes zwischen dem, was wir ›fühlen‹, und dem, was wir ›erkennen‹ ...«174 Welche Implikationen sich aus diesen Ausführungen eines hervorragenden zeitgenössischen Neurophysiologen ergeben, das wollen wir nun ein wenig näher untersuchen.

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16.3

Die Physiologie der Emotion

Diese Unterscheidung zwischen »Denken« und »Fühlen«, zwischen Vernunft und Emotion, geht bis auf die Griechen zurück. In seinem Werk »De Anima« bezeichnete Aristoteles die viszeralen Empfindungen als die Substanz der Emotion und stellte ihnen die Form gegenüber, das heißt den Vorstellungsinhalt der Emotion. Die enge Verknüpfung zwischen der Emotion und dem viszeralen Bereich gründet sich auf allgemeine Erfahrungstatsachen, und sowohl Laien als auch Ärzte haben sie stets als gegeben angesehen: Wir wissen, daß eine emotionale Erregung Herzschlag und Puls beeinflußt; daß Angst die Schweißdrüsen stimuliert, Kummer die Tränendrüsen, und daß die Atemorgane, das Verdauungssystem und der Fortpflanzungsprozeß mit hineinspielen. Bis weit ins 18. Jahrhundert hielten sich die Ärzte an das Galensche Dogma, dem zufolge Gedanken im Gehirn zirkulieren, Emotionen jedoch in den Gefäßen des Körpers. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wich dieser antike Dualismus einer modernen Version: In seinen einflußreichen Werken ANATOMIE GÉNÉRALE und RECHERCHENS PHYSIOLOGIQUES SUR LA VIE ET LA MORT machte Xavier Bichat einen deutlichen Unterschied zwischen dem zerebrospinalen Nervensystem, zu welchem Gehirn und Rückenmark gehören und das für äußere Transaktionen des Tieres mit seiner Umwelt verantwortlich war, und dem »ganglionischen« Nervensystem, heute als autonomes Nervensystem bezeichnet, das alle diejenigen Organe kontrollierte, die den inneren Funktionen eines Lebewesens dienten. Das erste System wurde von einem einzigen Zentrum aus dirigiert, dem Gehirn; das zweite jedoch, so glaubte Bichat, wurde dirigiert von einer großen Anzahl »kleiner Gehirne« – wie etwa dem Solarplexus – in verschiedenen Teilen des Körpers. Man glaubte, das zerebrospinale Nervensystem sei für alle diejenigen Handlungsakte verantwortlich, die der Kontrolle des Willens unterstanden, dagegen unterstand das für den viszeralen Bereich zuständige autonome Nervensystem nicht der Willenskontrolle; und die Leidenschaften oder Affekte fielen in den viszeralen Bereich. Bichats Doktrin behauptete sich nahezu ein ganzes Jahrhundert hindurch; viele, wenn nicht die meisten ihrer Details haben sich inzwischen als falsch erwiesen, aber ihre fundamentale Unterscheidung zwischen den Funktionen der beiden Nervensysteme und deren respektive Koordination mit Vernunft und Affekt haben in groben Umrissen bis heute Gültigkeit behalten. Natürlich glaubt heute niemand mehr, man könne das emotive Erlebnis in »kleinen Gehirnen« in der Nachbarschaft des Herzens und anderer innerer Organe lokalisieren – alles Erleben hat sein Zentrum im Gehirn, und das gilt auch für die Kontrolle des autonomen Nervensystems, das die viszeralen Funktionen regelt. Wie zu erwarten, wird der viszerale Bereich von einer phylogenetisch sehr alten Struktur im Hirnstamm kontrolliert, der Region des Hypothalamus (nach dem griechischen Thalamus = innere Kammer, Frauengemach). Es ist eine Region von entscheidender Wichtigkeit, in unmittelbarer Nähe der Hirnanhangdrüse und der primitiven Riechlappen; sie reguliert die Funktion der Drüsen und Eingeweide, die nicht der Willenskontrolle unterworfen sind, und ist eng mit dem emotionalen Erleben verknüpft. Aber wir dürfen nicht den übereilten Schluß ziehen, der Hypothalamus selbst sei der »Sitz« der Emotionen. Damit würde man den Ideengehalt der Emotion außer Betracht lassen und sie zu einem rein viszeralen Phänomen abstempeln. William James kam einer solchen Auffassung in der Tat sehr nahe, als er 1884 einen Artikel veröffentlichte, der die sogenannte James-Lange-Theorie der Affekte einleitete. Kurz zusammengefaßt, besagt diese Theorie, daß in den Situationen, die zu ihrer Bewältigung viszerale Reaktionen erfordern (zum Beispiel rascherer Herzschlag, um sich einer drohenden Gefahr durch die Flucht zu entziehen), die Empfindung, daß das Herz rascher schlägt, bereits die Emotion selbst ist. Das Herz schlägt nicht schneller, weil wir Angst haben, sondern wir haben Angst, weil das Herz schneller schlägt; wir weinen nicht, weil wir traurig 184

sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen. Es ist die Empfindung der eigenen viszeralen Reaktionen, die dem Erlebnis seine affektive Färbung verleiht. Die viszerale Reaktion selbst vollzieht sich unbewußt und automatisch, entweder aus angeborenem Instinkt heraus oder auf Grund vergangener Erfahrungen. Die James-Lange-Theorie rief endlose Kontroversen hervor, die selbst heute, achtzig Jahre nach ihrer Entstehung, noch nicht vollständig abgeklungen sind. Im Jahre 1929 schien ihr Walter Cannon – ein Pionier auf diesem Gebiet – bereits den Fangschuß gegeben zu haben, als er experimentell bewies, daß das emotionale Verhalten auch dann noch anhält, wenn die Nervenverbindungen zwischen dem viszeralen Bereich und dem Gehirn unterbrochen worden sind. Dieses und anderes experimentelle Beweismaterial brachte die Theorie in Verruf.* * Trotzdem hat Mandler erst kürzlich nachgewiesen, daß sich selbst das scheinbar schlüssige Beweismaterial (die berühmten »fünf Punkte« von Cannon) auch anders interpretieren läßt: »Zwar sind Vorgänge im viszeralen Bereich wesentlich für die anfängliche Etablierung von emotionalen Verhaltensweisen, bei späteren Gelegenheiten kann sich jedoch herausstellen, daß die emotionale Verhaltensweise auf äußere Reize hin konditioniert wurde und daß sie dann ohne viszerale Unterstützung auftreten kann ... Cannons Argument, ein emotionales Verhalten könne auch beim Fehlen jeglicher viszeralen Aktivität auftreten, muß wohl dahingehend eingeschränkt werden, daß man sagt, ein solches Verhalten ist nur dann möglich, wenn intakte viszerale Strukturen und Reaktionen vorher die Verbindung zwischen den Umweltverhältnissen und dem emotionalen Verhalten hergestellt haben ... Die viszerale Reaktion 175 ist wichtig für die Etablierung, nicht aber für die Aufrechterhaltung von emotionalen Verhaltensweisen.«

James’ Doktrin, es handle sich bei den Emotionen ausschließlich um rein viszerale Reaktionen, hat sich als unhaltbar erwiesen; aber schon die Tatsache, daß sie so schwer zu widerlegen war, zeigt, daß sie doch einen wahren Kern enthielt – nämlich die durch die Alltagserfahrung bekannte Tatsache, daß diffuse körperliche Empfindungen von inneren Vorgängen, die nicht der Willenskontrolle unterliegen, eine wesentliche Komponente allen emotionalen Erlebens bilden. Cannons eigene Theorie der Emotionen (die sogenannte Cannon-Bard-Theorie) legte entscheidenden Nachdruck auf die viszeralen Vorgänge bei Hunger, Schmerz, Angst und Zorn, die durch Adrenalhormone und das autonome Nervensystem ausgelöst werden; aber er sah diese Vorgänge nicht als die Ursachen, sondern vielmehr als Ausdrucksformen von emotionalen Empfindungen an. Die Cannon-Bard-Theorie wurde ihrerseits wieder von Lashley und anderen kritisiert; aber hier wird dieses Thema allzu fachtechnisch. Zusammenfassend kann man sagen, die Emotionen sind »überhitzte Triebe« (ausgelöst durch innere und/oder äußere Reizfaktoren), denen vorübergehend – oder auch dauernd – ein angemessenes Betätigungsfeld versagt bleibt; die aufgestaute Erregung stimuliert die viszerale und glanduläre Tätigkeit, beeinträchtigt Kreislauf, Verdauung, Muskelspannung etc., und diese »Reaktionen im Gesamtorganismus werden schließlich im Zentrum als emotionelle Empfindungen registriert« (H Herrick).176 Das Beweismaterial spricht ferner dafür, daß diese viszeralen Reaktionen von archaischen Gehirnstrukturen abhängen, deren Grundform sich im Verlauf der gesamten Evolution »von der Maus bis zum Menschen« (M MacLean) kaum wesentlich verändert hat.

16.4 Die drei Gehirne Nach diesem historischen Exkurs wollen wir uns nun wieder der Frage zuwenden, wie sich diese archaischen Strukturen und die archaischen Gefühle, die sie auslösen, mit den allerneuesten Strukturen und Funktionen in unserem Gehirn vertragen. Die folgenden Auszüge führen mitten hinein in dieses Problem; sie stammen aus einer medizinischen Abhandlung von Professor Paul MacLean, dem Begründer der sogenannten PapezMacLean-Theorie der Emotionen: Der Mensch befindet sich in dem Dilemma, daß die Natur ihn im Prinzip mit drei Gehirnen ausgestattet hat, die trotz erheblicher 185

Strukturunterschiede gemeinsam funktionieren und miteinander kommunizieren müssen. Das älteste dieser Gehirne stammt im wesentlichen aus der Reptilienphase. Das zweite hat er von den niederen Säugetieren geerbt, und das dritte hat sich in der späten Säugetierphase entwickelt; es erreicht seinen Kulminationspunkt bei den Primaten und hat den Menschen erst zu dem gemacht, was er heute ist. Spricht man in allegorischer Form von diesen drei Gehirnen in dem einen Gehirn, so könnte man sagen: wenn ein Psychiater seinen Patienten auffordert, sich auf die Couch zu legen, dann zwingt er ihn, sich neben einem Pferd und einem Krokodil hinzulegen. Das Krokodil mag willens sein, einige Tränen zu vergießen, und das Pferd mag laut oder leise wiehern, aber wenn sie aufgefordert werden, ihre Probleme in Worte zu kleiden, dann wird bald deutlich, daß sie dazu unfähig sind. Es ist daher nicht verwunderlich, daß dem Patienten, der die persönliche Verantwortung für diese Tiere übernommen hat und der als ihr Sprachrohr dienen muß, manchmal vorgeworfen wird, er leiste inneren Widerstand und sei voller Hemmungen ...177 Das »Reptiliengehirn« ist angefüllt mit uralten Mythen und Urerinnerungen, und es hält sich getreu an das, was die Ahnen ihm eingaben, aber neuartigen Situationen ist es nicht gewachsen. Es ist, als leide es an einer nemotischen Fixation an ein anzestrales Über-Ich. Im Verlauf der Evolution machen sich die ersten Anzeichen für eine Emanzipation vom anzestralen Über-Ich mit der Neuentwicklung des Gehirns der niederen Säugetiere bemerkbar, das die Natur auf dem Reptiliengehirn aufbaut ... Die Untersuchungen der letzten zwanzig Jahre haben gezeigt, daß dieses primitive Säugetiergehirn eine fundamentale Rolle bei emotionalen Verhaltensweisen spielt ... Es zeigt eine höhere Kapazität als das Reptiliengehirn, aus direkten Erfahrungen zu lernen und Probleme zu lösen. Aber genau wie das Reptiliengehirn besitzt es nicht die Fähigkeit, ... seine Empfindungen in Worte zu kleiden.178 Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werde ich mich weitgehend auf MacLeans experimentelle Arbeiten und theoretische Schlußfolgerungen beziehen (allerdings weiche ich von letzteren in einigen Punkten geringfügig ab). Die große Anziehungskraft dieser Theorie beruht auf ihrer konsistenten hierarchischen Struktur; hierarchisch ist dabei im gleichen Sinn verstanden wie im vorliegenden Buch. »Bei seiner Evolution«, schreibt MacLean, »behält das menschliche Gehirn die hierarchische Organisation der drei Grundtypen bei, die man zweckmäßig als ›reptilisch‹, ›paläomammal‹ und ›neomammal‹ bezeichnen kann (Mammalien = Säugetiere). Es gibt reichhaltiges Beweismaterial dafür, daß jede der drei Typen ihr eigenes Gedächtnis, ihre eigene Denkweise und noch andere parallele Funktionen besitzt.«179 Man könnte hinzufügen, daß jedes der drei Gehirne als relativ autonomes Holon auf seinem eigenen Niveau funktioniert. Ich will dem Leser hier nicht eine Abhandlung über die Anatomie des Gehirns aufbürden, aber einige Bemerkungen über die zerebrale Evolution mögen von Nutzen sein. Die antiken Anatomen verglichen das Gehirn mit einer Frucht wie der Orange: der zentrale innere Teil entspricht dem Fruchtfleisch, der äußere der Schale beziehungsweise Rinde; also nannte man jenen die Medulla, diesen den Cortex. Die Medulla bildet die Verlängerung des Rückenmarks und setzt sich weiter fort im Hirnstamm. Im Hirnstamm (oder in seiner unmittelbaren Nähe) befinden sich Strukturen wie der Hypothalamus, das Retikularsystem und die Stammganglien. Es handelt sich hier um den phylogenetisch ältesten Teil des Gehirns, dessen Kern im großen ganzen den Grundstrukturen des 186

Reptiliengehirns entspricht. Er enthält im wesentlichen den Apparat für die Regulierung innerer (viszeraler und glandulärer) Vorgänge, für primitive Aktivitäten, die auf Instinkten und Reflexen beruhen, sowie die Zentren für Wachen und Schlaf. Der Cortex dagegen, die Hirnrinde, ist der Apparat für »intelligentes« Verhalten, von der primitivsten Lernfähigkeit bis zum begrifflichen Denken. Er taucht in dem Stadium der Evolutionsgeschichte auf, wo die Amphibien begannen, sich zu Reptilien zu entwickeln; die ersten vielversprechenden kortikalen Aufteilungen finden sich bei der Schildkröte. Der Cortex ist die Oberflächenschicht der Hirnhemisphären, die aus dem Hirnstamm herauswachsen und sich um ihn herum wie ein Mantel falten (daher auch der Name Pallium = Hirnmantel). Die Hirnrinde besteht aus der äußeren, »grauen« Substanz (Zellkörper) und der darunterliegenden »weißen« (Fasern). Beim Menschen ist der Cortex etwa ein viertel Zentimeter dick und enthält rund zehn Milliarden dicht zusammengedrängter Neuronen, die miteinander eine Fläche von etwa einem drittel Quadratmeter bedecken; sie sind eingezwängt in die Gyri und Sulki, die Windungen und Einstülpungen der gefurchten Gehirnoberfläche – ein wirklich recht beachtliches Schaltsystem. Und dennoch ...

Abbildung 11 (Nach MacLean.)

Die von den antiken Anatomen vorgebrachte Analogie mit der Orange hilft einem zwar, sich in groben Umrissen eine Vorstellung von der Grundstruktur des Gehirns zu machen, aber darüber hinaus wirkt sie irreführend. Der Cortex ist im Gegensatz zur äußeren Schale nicht homogen. Verschiedene Arten von Nervenzellen herrschen in den ver187

schiedenen Funktionsbereichen vor. Die einzelnen Gehirnregionen hat man in Untergebiete aufgeteilt, an die fünfzig solcher Gebiete unterschieden und benannt. Zwar sind die Details dieser Klassifizierung im einzelnen noch umstritten, es herrscht jedoch Übereinstimmung in dem Punkt, daß sich der Cortex auf Grund seiner Evolutionsgeschichte und auf Grund der unterschiedlichen Gewebestruktur in drei fundamentale Hauptregionen aufteilen läßt. Die älteren Anatomen bezeichneten sie als Archipallium, Paläopallium und Neopallium; MacLean nennt sie Archicortex, Mesocortex und Neocortex und koordiniert sie – in gleicher Abfolge – mit dem reptilischen, dem paläomammalen und dem neomammalen Gehirn. Die räumliche Aufteilung dieser drei kortikalen Bezirke in unserem Schädel ist allerdings nicht leicht zu erklären, und man kann sie sich auch nur schwer bildhaft vorstellen. MacLean hat ein vereinfachtes Modell ersonnen, in Form eines aufblasbaren Kinderballons mit drei voneinander abgesonderten Segmenten (siehe Abbildung 11).180 Die Buchstaben A, M und N stehen für Archicortex, Mesocortex und Neocortex. »Der noch nicht aufgeblasene Ballon stellt die Situation dar, wie man sie bei den Amphibien vorfindet. Mit dem Auftauchen der Reptilien tritt eine ballonartige Aufblähung des Archicortex und eine beträchtliche Erweiterung des Mesocortex ein. Während der Phylogenese der Säugetiere kommt es zu einem der verblüffendsten Prozesse innerhalb der gesamten Evolution: es handelt sich um die riesige, ballonartige Aufblähung des Neocortex. Im Verlauf dieses Prozesses werden der Archicortex und der größere Teil des Mesocortex wie zwei konzentrische Ringe zum limbischen Lappen zusammengefaltet, eingestülpt und sozusagen in den ›Keller‹ des Gehirns verbannt« (siehe Abb. 12).181 Das Ergebnis dieses Faltungsprozesses zeigt Abbildung 12: Sie gibt a eine Seitenansicht und b einen vertikalen Querschnitt durch das Gehirn eines Affen wieder. Abbildung 12 (Nach MacLean.)

Die beiden gefalteten Ringe bilden zusammen eine große Windung, den sogenannten »limbischen Wulst« der Großhirnrinde, er ist in der Abbildung in schwarzer Farbe wiedergegeben. »Limbisch« bedeutet soviel wie »einsäumend«, »einen Rand bildend«; das Wort wurde 1878 von dem Gehirnanatomen Broca geprägt, weil die limbische Windung den Gehirnstamm umringt (er ist in der Abbildung nicht zu sehen). Der limbische Cortex ist so eng mit dem Hirnstamm verbunden, daß die beiden zusammen ein in funktioneller Hinsicht integriertes System bilden – das sogenannte »limbische System« mit seinen »reptilischen« und »primitivmammalen« Zügen. Man kann also das limbische System im ganzen als das »alte Gehirn« bezeichnen – im Gegensatz zu dem »neocortischen System« oder »neuen Gehirn«. Broca hatte bereits demonstriert, daß »der große limbische Lappen als eine Art gemeinsamer Nenner in den Gehirnen aller Säugetiere zu finden ist ... Die getreue Erhaltung dieser Struktur während der gesamten Phylogenese der Säugetiere steht in scharfem Gegensatz zu dem rapiden Wachstum des benachbarten Neocortex, der die Entwicklung der intellektuellen Funktionen repräsentiert ... Der limbische Cortex ist im Vergleich zum Neocortex von primitiver Struktur; er zeigt durch die gesamte Reihe der Säugetiere hindurch im wesentlichen die gleiche Entwicklung und Organisation. Das würde bedeuten, daß er sowohl beim Menschen als auch beim Tier auf einem animalistischen Niveau funktioniert«.182

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16.5 Die Emotion und das ältere Gehirn Das ist wirklich ein merkwürdiger Zustand. Würden wir nicht wissen, daß das Gegenteil der Fall ist, dann hätten wir eigentlich erwartet, daß die evolutionäre Entwicklung das primitive alte Gehirn allmählich in ein verfeinertes Instrument verwandelt haben würde – so wie sie Klauen in Hände und Kiemen in Lungen verwandelt hat. Statt dessen hat die Evolution die alte Struktur mit einer neuen und höherwertigen Struktur überlagert, mit teilweise sich überschneidenden Funktionen, ohne die neue Struktur mit einer klar abgegrenzten hierarchischen Kontrolle über die ältere auszustatten. Das mußte zwangsläufig zu Konfusion und Konflikten führen. Wir wollen nun den Konflikt zwischen »Althirn« und »Neuhirn« ein wenig eingehender untersuchen. MacLean vergleicht den Cortex mit einem Fernsehschirm, der dem Tier ein kombiniertes Bild von Außenwelt und Innenwelt vermittelt. Das ist eine nützliche Analogie für den begrenzten Zweck, dem sie dienen soll. Um jedoch Mißverständnisse zu vermeiden, möchte ich auf ihre begrenzte Anwendungsmöglichkeit hinweisen. Von allen Teilen des Körpers ist die Großhirnrinde am engsten mit der Bewußtheit und der Selbstbewußtheit verbunden; es wäre jedoch falsch, sie als den Sitz der Bewußtheit zu bezeichnen, wie das manchmal geschieht. Um nochmals Judson Herrick zu zitieren: Die Suche nach einem zentralen Sitz der Bewußtheit im allgemeinen oder nach dem Sitz eines speziellen bewußten Erlebens beruht auf einer falschen Fragestellung, denn der bewußte Akt hat Eigenschaften, die sich nicht mit Hilfe der räumlichen und zeitlichen Einheiten definieren lassen, die wir bei der Messung von Objekten und Vorgängen in der objektiven Welt verwenden. Wonach wir suchen müssen, und was wir im Verlauf einer objektiven Untersuchung auch finden, ist der Apparat, der Bewußtheit erzeugt. Dieser Mechanismus hat seinen festen Ort in Raum und Zeit, die Bewußtheit als solche dagegen hat keinen festen Ort innerhalb dieses Mechanismus.183 In diesem Sinn ist also die Großhirnrinde der hauptsächliche »Apparat, der Bewußtheit erzeugt«. Man könnte sagen, die älteren Strukturen im Hirnstamm vermitteln das »Rohmaterial« der Bewußtheit; das Retikularsystem »erweckt« des Tieres Aufmerksamkeit; die hypothalamischen Strukturen steuern die viszerale Komponente bei; letztlich ist jedoch »die Großhirnrinde für das Gehirn das, was der Fernsehschirm für den Fernsehapparat und der Radarschirm für den Piloten bedeutet«.184 Wenn das aber tatsächlich so ist, dann sehen wir uns mit dem Paradoxon konfrontiert, daß uns die Evolution mit mindestens zwei solchen Bildschirmen ausgestattet hat, mit einem älteren und einem funkelnagelneuen. Der ältere, limbische Bildschirm zeichnet sich, wie wir gesehen haben, durch drei Haupteigenschaften aus: seine mikroskopische Feinstruktur ist im Vergleich zum Neocortex grob und primitiv; seine Grundform ist im wesentlichen immer noch die gleiche wie bei den niederen Säugetieren; und im Gegensatz zum Neocortex ist das limbische System durch Nervenstränge – dick wie ein Bleistift – aufs intimste mit dem Hypothalamus verbunden sowie mit anderen Zentren im Hirnstamm, die für viszerale Empfindungen und emotionale Reaktionen zuständig sind – einschließlich Sex, Hunger, Furcht und Zorn. Das ist in so starkem Maße der Fall, daß man das limbische System früher das »viszerale Gehirn« genannt hat.* Man änderte später den Namen, weil er den Eindruck erweckte, es sei nur für den viszeralen Bereich zuständig; in Wirklichkeit hat jedoch, wie wir gleich sehen werden, der alte, limbische Cortex auch seine eigenen geistigen Funktionen: er fühlt und denkt, wenn auch nicht in verbalen Begriffen. * In noch früherer Zeit bezeichnete man den linibischen Cortex als »Rhinenzephalon«, als »Riechhirn«, da man glaubte, er sei ausschließlich für den Geruchssinn zuständig.

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Das limbische System läßt sich mit einem primitiven Fernsehschirm vergleichen, der Projektionen aus der inneren, viszeralen Umwelt mit solchen aus der äußeren Umwelt kombiniert, häufig aber auch beide miteinander verwechselt. Bei einem solchen Cortex muß es eine ähnliche Konfusion gegeben haben wie bei einem doppelt belichteten Film. Auf jeden Fall muß er nicht ganz zufriedenstellend gearbeitet haben, denn als die Natur sich anschickte, das neomammale Gehirn zu entwickeln, konstruierte sie nach und nach einen größeren und leistungsfähigeren Bildschirm, der vorwiegend ein Bild der Außenwelt wiedergab, das sich aus Impressionen der Augen, der Ohren und der Körperoberfläche zusammensetzte ... Aber getreu ihrem notorischen Sparsamkeitsprinzip ließ die Natur den alten Bildschirm nicht völlig fallen. Da er den Anforderungen des Geruchssinns, des Tastsinns und der Empfindungen für die innerkörperlichen Vorgänge zu genügen schien, ließ sie die Glühfäden in der Röhre des alten Bildschirms Tag und Nacht brennen.185 Die Dinge liegen jedoch nicht so, daß sich das Althirn ausschließlich mit dem Tastsinn, dem Geruchssinn und den viszeralen Empfindungen befaßt und es dem Neuhirn überläßt, die Außenwelt zu registrieren – das wäre in der Tat eine idyllische Arbeitsteilung. Die »Papez-Theorie der Emotionen« hat ihren Ursprung im Studium der pathologischen Zustände, in denen die »alte Elektronenröhre« sich in den Arbeitsbereich der neuen Röhre einmischt und die Tendenz zeigt, deren Funktionen zu usurpieren. Papez bemerkte, daß Schäden am limbischen System eine Vielzahl von Symptomen auslösten, die in erster Linie das emotionale Verhalten von Tieren und Menschen beeinflußten. Einen extremen Fall stellt die Tollwut dar, deren Virus eine Vorliebe für das limbische System zu haben scheint und bei welcher »der Patient Anfällen von Raserei und Entsetzen ausgesetzt ist.186 Weniger extrem, aber gleichermaßen kennzeichnend sind die emotionalen Zustände bei der »heiligen Krankheit«, der Epilepsie. Hughlin Jackson, einer der Pioniere der Neurologie, beschrieb die Aura vor dem epileptischen Anfall als einen »traumartigen Zustand«, eine Art von »doppelter Bewußtheit«, bei der der Patient sich wohl der ihn umgebenden Wirklichkeit bewußt ist, aber nur so, als wäre sie ein Traum oder eine Wiederholung von etwas, das sich schon einmal zugetragen hat (déjà vu). Während des akuten Anfalls von psychomotorischer Epilepsie scheint das »animalistische« Althirn das Kommando über die Gesamtpersönlichkeit zu übernehmen. Beißen, Kauen und Zähneknirschen, Raserei oder Panik sind die wohlbekannten Begleiterscheinungen solcher Anfälle, doch bleiben sie in der Regel im Gedächtnis des Patienten nicht haften. Das klinische Beweismaterial deutet darauf hin, daß das limbische System der Sitz des epileptischen Ausbruchs ist.187 Typisch ist zum Beispiel der Fall einer Nymphomanin von fünfundfünfzig Jahren, »die sich mehr als zehn Jahre lang über ständige ›leidenschaftliche Gefühle‹ beklagte. Später bekam sie epileptische Krämpfe. Bezeichnend ist der Umstand, daß durch Parfüm die Symptome gesteigert wurden«188 – der Geruchssinn ist der »viszeralste« aller Sinne. Sie unterzog sich einer Gehirnoperation, und dabei stellte sich eine krankhafte Veränderung in der limbischen Region heraus. Das klinische Beweismaterial wurde durch Versuche an Tieren ergänzt. Dabei unterscheidet man im Prinzip zwei Arten von Experimenten: elektrische oder chemische Erregung des Gehirns und chirurgische Entfernung bestimmter Gehirnbezirke. Wir wollen wieder MacLean zitieren: Auf Grund von Tierversuchen mit der limbischen Epilepsie (die durch elektrische Stimulierung herbeigeführt wurde) ist ersichtlich geworden, daß die in dieser Region ausgelösten Entladungen die Tendenz zeigen, sich nur innerhalb des limbischen Systems auszubreiten. Es geschieht nur selten, daß die Entladungen wie wilde Stie190

re aus diesem Korral ausbrechen und über den Zaun hinweg ins neomammale Gehirn überspringen. Experimente dieser Art liefern den eindrucksvollen Beweis für eine Dichotomie der Funktionen – für das, was man als »Schizophysiologie« des limbischen und des neokortikalen Systems bezeichnet hat. Patienten mit einer schwelenden limbischen Epilepsie können alle Symptome von Schizophrenie zeigen; die oberwähnte Schizophysiologie ist möglicherweise ein relevanter Faktor für die Pathogenese dieser Krankheit ... Vom Standpunkt des Patienten auf der psychiatrischen Couch ist diese Schizophysiologie deshalb von Bedeutung, weil sie zeigt, daß das paläomammale Gehirn bis zu einem gewissen Grad in der Lage ist, selbständig zu funktionieren und Entschlüsse zu fassen. Man muß sich das so vorstellen, daß der primitive Bildschirm, den der limbische Cortex darstellt, ein verworrenes Bild wiedergibt, in welchem Innenwelt und Außenwelt miteinander vermischt sind. Das mag zumindest teilweise ein Grund für die offensichtliche Verwirrung sein, die man bei psychosomatischen Zuständen beobachtet hat – ein Zustand der Verwirrung, bei dem zum Beispiel Nahrungsmittel als Symbole von Dingen angesehen werden, die man beherrschen und zerstören möchte wie eine Beute oder einen Feind.* Es gibt Schilderungen von Patienten, die essen, weil sie das Bedürfnis nach Liebe haben, weil sie ängstlich oder nervös sind, oder weil sie etwas, das ihren Zorn oder Haß erregt hat, zerkauen und verschlucken möchten.189 * Siehe die auf Seite 152 f. erörterten Phänomene.

Neuere Experimentiermethoden, bei denen man mit Hilfe von Elektroden ganz bestimmte Punkte im Gehirn des Affen durch Schwachstrom stimulierte, ergaben noch verblüffendere Resultate. Die Stimulierung bestimmter Stellen im limbischen System führte bei männlichen Affen zur Erektion und zum Samenerguß; die Stimulierung anderer Punkte verursachte Freßreaktionen, Kauen und Speichelabsonderung; bei anderen Punkten rief die Stimulierung Neugier, aggressiv-defensives oder furchtsames Verhalten hervor. (Man sollte hier bemerken, daß die Experimente schmerzfrei sind.) Erregung einer bestimmten Art springt jedoch relativ rasch auf umliegende Punkte über, die Emotionen ganz anderer Art erwecken. So kann sich eine orale Tätigkeit – Kauen, Schnuppern, Speichelabsonderung – mit Aggressivität verbinden, Aggressivitat mit Sexualität und Sexualität mit oraler Tätigkeit. Bei Babies und Hunden löst die Nahrungsaufnahme häufig eine Erektion aus – und andere Verhaltensaspekte, die weit unterhalb des viktorianischen Standards liegen.

16.6

»Schizophysiologie«

Auch hier liefert der Gegensatz zwischen dem alten und dem neuen Cortex einen überraschenden Anhaltspunkt, und er fügt der psychoanalytischen Theorie eine neue Dimension hinzu. Auf dem neuen Bildschirm (dem sensorischen Projektionsfeld des Neocortex) erscheint der menschliche Körper in der aus allen Lehrbüchern wohlbekannten Form eines kleinen »Homunculus«, bei welchem der Mund und die Anal-Genital-Zone korrekt an den entgegengesetzten Enden der Projektionsfläche repräsentiert werden. Beim älteren, primitiv-mammalen Gehirn dagegen »hielt es die Natur offenbar für erforderlich, den limbischen Wulst so einzubiegen, daß der Geruchssinn sowohl an den oralen als auch an den anal-genitalen Funktionen intensiv teilhaben konnte«.190 Daraus ergibt sich eine tatsächlich unerwartete Rechtfertigung für Freuds Theorie von der infantilen Sexualität. Gleichzeitig werden wir daran erinnert, daß das Überleben des 191

primitiv-mammalen Gehirns in unserem Kopf nicht bloß eine Metapher, sondern eine Tatsache ist. Im sexualen wie auch in allen anderen Bereichen bedeutet der Reifungsprozeß offenbar einen Übergang von der Herrschaft des alten zur Herrschaft des neuen Gehirns. Aber selbst wenn man von emotionalen Verwirrungen und pathologischen Zuständen absieht, ist dieser Übergang auch beim normalen Menschen niemals vollständig. Die Schizophysiologie ist ein inhärenter Faktor unserer Spezies. Bei Tierexperimenten mit chirurgischen Eingriffen sind die Auswirkungen noch drastischer. Entfernt man gewisse Teile des limbischen Systems, dann scheinen Affen von bisher ungezügeltem Temperament ihre instinktive Reaktionsfähigkeit zu verlieren. Sie geben sich fügsam, zeigen, wenn man sie provoziert, weder Angst noch Zorn und lernen nicht, für sie unangenehme Situationen zu vermeiden. Sie verlieren auch ihre instinktiven Ernährungsgewohnheiten: ein Affe, der normalerweise von Früchten lebt, frißt nach der Operation auch rohes Fleisch oder Fisch und legt eine zwanghafte Tendenz an den Tag, alle möglichen Gegenstände in den Mund zu stecken: Nägel, Fäkalien, brennende Streichhölzer. Schließlich geraten sogar die sexuellen und die mütterlichen Instinkte auf Abwege: Kater versuchen mit Küken zu kopulieren, und Rattenmütter lassen ihre Jungen ohne weiteres umkommen.191 Das Althirn hat jedoch nicht nur mit Affekten zu tun; es nimmt wahr, es erinnert sich und »denkt« auf seine eigene quasi-unabhängige Art. Bei primitiven Tieren ist das limbische System das oberste Integrationszentrum für die Triebe: Hunger, Sex, Kampf und Flucht; aber das anatomische und das physiologische Beweismaterial deuten darauf hin, daß es zu diesen Funktionen auch bei höheren Tieren beiträgt, einschließlich des Menschen. Es nimmt, wie bereits erwähnt, eine strategisch zentrale Position ein, von der aus es innere Empfindungen mit Wahrnehmungen aus der Außenwelt in Verbindung bringen und auf sie nach eigenem Ermessen reagieren kann. Zwar wird es vom Instinkt beherrscht, aber es ist durchaus in der Lage, einfache Dinge zu erlernen: ein Affe, dessen limbisches System intakt ist, nimmt ein brennendes Streichholz nur einmal in den Mund – wenn dagegen das limbische System Schäden aufweist, verbrennt er sich die Schnauze immer wieder ... »Man kann sich kaum ein nutzloseres Gehirn vorstellen als eines, das den ganzen Tag über nur Emotionen hervorbringt und das an den Denkprozessen, der Gedächtnisbildung und verwandten Funktionen keinen Anteil hat.«192 Das Althirn denkt, aber auf eine phylogenetisch überholte Art und Weise, die von Psychiatern als infantil oder primitiv bezeichnet wird. Auf Grund dieser Beobachtungen muß man annehmen, der Archicortex könne Informationen nur in sehr grober Weise verarbeiten und sei ein zu primitives Gehirn, als daß er Sprache analysieren könnte. Aber er besitzt anscheinend doch die Fähigkeit, an einer Symbolik präverbaler Art zu partizipieren. Daraus würden sich insofern bedeutsame Schlüsse ergeben, als die Symbolik auf das emotionale Leben des Individuums einwirkt. Man könnte sich etwa vorstellen, daß das viszerale Gehirn zwar niemals in der Lage wäre, die Farbe »Rot« als ein aus drei Buchstaben bestehendes Wort oder als eine spezifische Wellenlänge des Lichtes zu interpretieren, daß es aber doch diese Farbe symbolisch mit vielerlei Dingen assoziiert, wie Blut, Ohnmacht, Kampf, Blumenassoziationen, die zu Phobien, Zwangsvorstellungen, obsessivem Verhalten führen könnten. Ohne Hilfe und Kontrolle seitens des Neocortex würden sich seine Impressionen unverarbeitet in den Hypothalamus und die niederen Zentren des affektiven Verhaltens entladen. Betrachtet man all das im Licht der Freudschen Psychologie, dann könnte man sagen, das alte Gehirn besitzt viele Eigenschaften des unbewußten »Es«. Man könnte jedoch argumentieren, das viszerale Gehirn sei keineswegs unbewußt (möglicherweise nicht einmal bestimmten Phasen des Schlafs), sondern es 192

ließe sich einfach darum nicht in den Bannkreis des Intellekts zwingen, weil infolge seiner animalistischen und primitiven Struktur keine Möglichkeit besteht, mit ihm in verbalen Begriffen zu kommunizieren. Vielleicht wäre es daher eher angebracht, zu sagen, es handle sich um ein animalistisches und »analphabetisches« Gehirn. (MacLean).193

16.7 »Ein Geschmack wie Sonne« Unsere Emotionen sind in der Tat bemerkenswert unartikuliert, und sie lassen sich nicht in verbalen Begriffen ausdrücken. Für den Romanschriftsteller ist es am schwierigsten, zu beschreiben, was seine Personen empfinden – im Gegensatz zu dem, was sie denken oder tun. Intellektuelle Vorgänge können wir bis ins feinste Detail beschreiben, aber wir besitzen nur das primitivste Vokabular zur Beschreibung sogar so lebenswichtiger Empfindungen wie der des körperlichen Schmerzes – Arzt und Patient müssen das immer wieder zu ihrem Kummer erfahren. Liebe, Zorn, Schuldgefühl, Trauer, Freude und Angst bilden ein Spektrum mit Nuancen der Färbung und Intensität wie ein Regenbogen – aber wir können sie nicht in Worten ausdrücken. Wir müssen uns indirekter Methoden bedienen, indem wir visuelle Vorstellungsbilder heraufbeschwören, oder wir nutzen den hypnotischen Effekt von Rhythmus und Euphonie, »um den Geist in eine Trance zu lullen«. Man könnte also sagen, der Lyrik gelingt eine Synthese zwischen den komplexen Denkprozessen im Neocortex und der mehr primitiven emotionalen Funktionsweise des Althirns. Im »reculer pour mieux sauter« – dem Zurückweichen, um Anlauf für einen neuen Sprung zu nehmen, das allen schöpferischen Errungenschaften zugrunde zu liegen scheint – spiegelt sich vermutlich eine zeitweilige Regression vom überkonkreten, neokortikalen Denken zu den mehr fließenden und »instinktiven« limbischen Denkweisen wider – eine »Regression hin zum ›Es‹ im Dienste des Ich«. Wir erinnern uns auch daran, daß »wir manchmal von der Sprache loskommen müssen, um klar denken zu können« – und Sprache ist ein Monopol des Neuhirns. Auf ähnliche Weise lassen sich auch andere, in den Kapiteln über die Kreativität und das Gedächtnis erörterte Phänomene mit Hilfe der hierarchischen Stufen in der Evolution des Gehirns interpretieren. So scheint zum Beispiel die von uns getroffene Unterscheidung zwischen dem abstrahierenden Gedächtnis auf der einen und dem emotionalen Bildstreifengedächtnis« auf der anderen Seite (siehe Kapitel 6) eine charakteristische Differenz zwischen den Arbeitsweisen des neuen und des alten Gehirns widerzuspiegeln.* 194

* Vergleiche auch Kluevers drei Stufen des visuellen Gedächtnisses

(siehe Seite 64 f.).

Die Folgeerscheinungen der inhärenten »Schizophysiologie« des Menschen reichen also vom schöpferischen bis zum pathologischen Bereich. Ist ersterer ein reculer paur mieux sauter, so gilt für letzteren das reculer sans sauter. Seine Ausdrucksformen reichen von dem, was wir als mehr oder minder normales Verhalten betrachten – wo unbewußte Vorurteile nur in begrenztem Ausmaß in die Denkvorgänge eingreifen –, über die offenen oder schwelenden Konflikte des Neurotikers bis zur Psychose und zur psychosomatischen Erkrankung. In extremen Fällen kann sich die Unterscheidung zwischen Außenwelt und Innenwelt verwischen, und zwar nicht nur durch Halluzinationen, sondern auch auf andere Weise: der Patient scheint in einer Regression zur magischen Welt des Primitiven zurückzukehren: Durch klinische Beobachtungen gewinnt man den Eindruck, daß diese Patienten ... eine übertriebene Tendenz zeigen, die Außenwelt so zu sehen, als wäre sie ein Teil ihrer selbst. Mit anderen Worten: innere Empfindungen werden mit dem, was man sieht, hört oder auf sonstige Art wahrnimmt, so vermengt, daß die Außenwelt erlebt wird, als wäre sie innen. In dieser Hinsicht besteht eine starke Ähnlichkeit zu der Mentalität von Kindern und primitiven Völkern.195 193

Ein Beispiel für eine solche Konfusion ist der Ausspruch einer jungen Epileptikerin, deren erster Anfall sich ereignete, als sie, noch ein Kind, in das strahlende Sonnenlicht hinausging: »Ich hatte einen komischen Geschmack der Sonne in meinem Mund.« Ein Dichter hätte diesen Satz schreiben können; aber im Gegensatz zu dem armen Kind wäre er sich seiner Verwirrung bewußt gewesen.

16.8

Das Wissen im viszeralen Bereich

Wir alle können gelegentlich diesen Sonnengeschmack im Munde verspüren; aber unsere fatalen Irrungen stammen nicht aus viszeralen Einmischungen in unsere Wahrnehmungen, sondern in unsere Überzeugungen und Glaubensvorstellungen. Irrationale Glaubensvorstellungen sind affektbedingt – man hat das Gefühl, daß sie wahr sind. Der Glaube ist Sache der Eingeweide. Er ist eine Art des Wissens, bei welcher das emotionale Althirn dominiert, selbst dann, wenn das Neuhirn die verbalen Formulierungen besorgt. An diesem Punkt verschmelzen die neurophysiologischen Erwägungen mit den psychologischen Phänomenen, die wir im vorhergehenden Kapitel erörtert haben. Die Schizophysiologie des Gehirns erweist sich als Schlüssel für die Wahnvorstellungen, die die Geschichte der Menschheit durchziehen. Ein geschlossenes System, wie es im vorhergehenden Kapitel definiert worden ist, ist eine Denkstruktur mit verzerrter Logik, wobei die Verzerrung durch ein zentrales Axiom, Postulat oder Dogma verursacht wird, an das sich das Individuum emotional gebunden fühlt und aus dem die Spielregeln zur Verarbeitung der Daten abgeleitet werden. Denksysteme sind natürlich nicht das ausschließliche Werk des reptilischen, des paläomammalen oder des neomammalen Gehirns, sondern der kombinierten Bemühungen aller drei. Das Ausmaß der Verzerrung hängt davon ab, welches Niveau die Oberhand hat und in welchem Maß das der Fall ist. Ohne die Mitwirkung der älteren Gehirnstrukturen, die mit den inneren, körperlichen Empfindungen befaßt sind, würde uns vermutlich das Erlebnis unserer eigenen Realität versagt bleiben – wir wären dann »entkörperte Geister« (M MacLean).196 Ohne den Neocortex anderseits wären wir unseren Affekten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, und unser Denken würde dem des Kleinkindes oder Affen ähneln. Aber das objektive, rationale Denken ist eine recht zerbrechliche Neuerwerbung – es wird durch die geringste Irritation von seiten des Althirns beeinflußt, das, einmal erweckt, die Tendenz zeigt, die Szene ganz zu beherrschen. Wir wissen jedoch, daß es zwischen den rein abstrakten Denkvorgängen des »entkörperten Geistes« und dem leidenschaftlichen Wiehern des alten Cortex eine ganze Reihe von Zwischenschichten gibt. Es wäre, wie bereits gesagt (siehe Seite 122 unten), eine grobe Simplifizierung, wollte man nur zwischen zwei Arten von Geistestätigkeit unterscheiden, wie etwa zwischen dem »primären« und dem »sekundären« Vorgang Freuds, jener beherrscht vom Lustprinzip, dieser vom Realitätsprinzip. Zwischen diesen beiden Niveaus müssen wir mehrere Methoden des Denkens interpolieren, wie wir sie bei primitiven Gesellschaftsverbänden auf verschiedenen Entwicklungsstufen antreffen, bei Kindern verschiedenen Alters und bei Erwachsenen in verschiedenen Bewußtseinszuständen: bei Träumen, Tagträumen, bei Halluzinationen und so weiter. Jedes dieser Systeme hat seine besonderen »Spielregeln«, die – auf eine für uns unerklärliche Weise – die komplexen Wechselwirkungen verschiedener Niveaus und Strukturen im Gehirn widerspiegeln. Denn die alten und die neuen Strukturen wirken ständig aufeinander ein, trotz ihrer mangelhaften Koordination und der Abwesenheit jener Kontrollen, die einer wohlausgeglichenen Hierarchie Stabilität verleihen. Eine der Folgeerscheinungen dieses Zustandes besteht darin, daß verbale Symbole mit Affekten geladen und mit viszeralen Reaktionen assoziiert werden, wie das beim psychogalvanischen Lügendetektor auf so dramatische Weise zutage tritt. Das gilt natürlich 194

nicht nur für einzelne Wörter oder Ideen; komplexe Doktrinen, Theorien und Ideologien weisen einen ähnlichen emotionalen Sättigungsgrad auf, ganz zu schweigen von Fetischen und Führerfiguren. Unglücklicherweise können wir nicht einen Lügendetektor anwenden, um die Irrationalität unserer Glaubensvorstellungen zu messen oder die viszerale Komponente bei unseren Rationalisierungen. Der fanatische Gläubige bewegt sich in einem circulus vitiosus innerhalb seines geschlossenen Systems: er kann alles, woran er glaubt, beweisen, und er glaubt alles, was er beweisen kann.

16.9 Nochmals: Janus MacLean unterscheidet zwei grundlegende Triebmotivationen, von denen jede eine entsprechende Art von Emotion auslöst: die Selbsterhaltung und die Arterhaltung. Auf Grund seiner experimentellen Versuche mit Affen kam er zu der provisorischen Schlußfolgerung, die erste sei in der unteren, die zweite in der oberen Hälfte des limbischen Systems zu lokalisieren. Die Emotionen, die sich aus dem Selbsterhaltungstrieb ableiten, bilden die klassische Trinität von Hunger, Zorn und Furcht. Sie sind abhängig vom sogenannten sympathischen Nervensystem und von der galvanisierenden Wirkung der adrenalinartigen Hormone. Rechnen wir zu dieser Gruppe noch die aggressiven und oralen Komponenten des sexuellen Verhaltens (und wir haben gesehen, wie leicht bei elektrischer Stimulierung eine dieser Reaktionen in eine andere übergeht), dann haben wir ein ziemlich vollständiges Inventar jener Faktoren, die wir als selbstbehauptende Tendenzen bezeichnet haben. Der andere von MacLeans grundlegenden Trieben, die Erhaltung der Art, ist eine nicht so klar umrissene Kategorie. Er rechnet zu ihr die Brutfürsorge, die Familienbildung und die verschiedenen Formen des Sozialverhaltens bei Affen; er scheint jedoch diese Faktoren im Sinne der Freudschen Tradition als Ableitungen aus dem Geschlechtstrieb zu betrachten: Die persönliche Anteilnahme an der Wohlfahrt und Erhaltung der Art basiert auf der Sexualität, und diese äußert sich beim Menschen auf vielfache Weise. Sie führt zur sexuellen Werbung und schließlich zum Großziehen einer Familie. Sie beflügelt unsere Lieder, Gedichte, Romane sowie Kunst, Theater und Architektur. Sie veranlaßt uns, unseren Kindern eine gute Schulausbildung zuteil werden zu lassen. Sie veranlaßt uns, Bibliotheken, Forschungsinstitute und Krankenhäuser zu errichten. Sie inspiriert die medizinische Forschung. Sie ist es, die uns veranlaßt, uns mit Raketen und der Eroberung des Raumes zu befassen, und uns an die Möglichkeit eines unsterblichen Lebens in einer jenseitigen Welt glauben läßt.197 Beim Lesen dieses Zitats müssen wir feststellen, daß die Verbindung zur Sexualität immer dürftiger wird – es sei denn, wir sind Anhänger der Doktrin, alle sozialen, künstlerischen und wissenschaftlichen Tätigkeiten seien Sublimationen oder Ersatzformen für die Sexualität. Es ist gleichermaßen schwer einzusehen, wie der »Magnetismus« (wie Konrad Lorenz es genannt hat), der einen Schwarm von Fischen im Ozean zusammenhält – eine Anziehungskraft, die in geometrischer Proportion zur Größe des Schwarms zuzunehmen und von keinem andern Faktor198 abzuhängen scheint –, wie also diese Magnetkraft auf der Sexualität beruhen könnte. Die gleiche Erwägung gilt auch für die Arbeitsteilung in einem Bienenstock, wo der bei weitem größte Teil der Arbeitsbienen geschlechtslos ist. Die Sexualität ist ein mächtiger Trieb, aber keineswegs das einzige, und vermutlich nicht einmal das primäre Band, das tierische Verbände und menschliche Gesellschaften zusammenhält und die Wohlfahrt der Art sichert – einschließlich der geistigen und künstlerischen Wohlfahrt des Menschen. Es scheint daher angemessener, den Sexualtrieb zusammen mit anderen Faktoren der sozialen Kohäsion 195

in die allgemeiner gefaßte Kategorie der von uns so bezeichneten »integrativen Tendenzen« einzureihen. Die Sexualität erscheint, wie sich gezeigt hat, erst relativ spät auf der Evolutionsbühne; dagegen ist die Polarität zwischen selbstbehauptenden und integrativen Tendenzen ein inhärenter Faktor aller hierarchischen Ordnungen und auf allen Niveaus von lebenden Organismen und sozialen Organisationen gegenwärtig. Soweit es sich bloß um das Tierreich handelt, umfaßt MacLeans Kategorie »Wohlfahrt und Erhaltung der Art« (im Gegensatz zur Selbsterhaltung) praktisch alle Manifestationen dessen, was wir als »integrative Tendenzen« bezeichnet haben; und wenn sich MacLeans Befunde, nach welchen er sie in der oberen Hälfte des limbischen Systems lokalisiert – und die Triebe der Selbsterhaltung in der unteren –, als stichhaltig erweisen, dann können wir uns gar keine bessere Bestätigung für die postulierte Polarität wünschen. Solange wir uns bei unserer Erörterung auf die Affen beschränken, ist also die Frage nach der Terminologie nur eine semantische Haarspalterei. Wenn wir uns jedoch dem Menschen zuwenden, kann die integrative Tendenz sehr verschiedene Formen annehmen – einschließlich der selbsttranszendierenden Emotionen, die im religiösen und künstlerischen Bereich eine Rolle spielen, jedoch mit der Arterhaltung kaum etwas zu tun haben. Aber auch für sie muß es ein neurophysiologisches Korrelat geben. Können wir darüber etwas aussagen? Ich glaube schon, doch ist das ein Problem für den Spezialisten, und dem ungeschulten Leser sei daher geraten, die beiden nächsten Absätze zu überspringen. Wir haben gesehen, daß zwischen den aggressiv-defensiven Emotionen und dem sympathischen Ast des autonomen Nervensystems eine enge Verknüpfung besteht. Man ist daher versucht, eine symmetrische Korrelation zwischen den selbsttranszendierenden Emotionen und dem Ast des autonomen Nervensystems, nämlich dem parasympathischen, anzunehmen. Es spricht einiges zugunsten einer solchen Hypothese, aber das diesbezügliche Beweismaterial ist nicht schlüssig. Im allgemeinen (aber wie wir gleich sehen werden, gibt es für diese Regel wichtige Ausnahmen) funktionieren die beiden Äste des autonomen Nervensystems als Antagonisten: sie halten sich gegenseitig im Gleichgewicht. Der Sympathicus bereitet das Tier auf »Notfallreaktionen« unter der Einwirkung von Hunger, Schmerz, Zorn und Furcht vor. Er beschleunigt den Puls, erhöht den Blutdruck und beschafft zusätzlichen Blutzucker als Energiequelle. Der Parasympathicus tut in nahezu jeder Hinsicht das Gegenteil: er senkt den Blutdruck, läßt das Herz langsamer schlagen, neutralisiert überschüssigen Blutzucker, er ermöglicht die Verdauung und die Abfallentleerung; er aktiviert die Tränendrüsen und wirkt im allgemeinen beruhigend und kathartisch. Charakteristischerweise ist das Lachen eine Entladung des sympathischen, das Weinen eine des parasympathischen Systems. Beide Äste des autonomen Nervensystems werden vom limbischen Gehirn (dem Hypothalamus und den umliegenden Strukturen) kontrolliert. Verschiedene Autoren haben ihre Funktionen unter Verwendung verschiedener Termini beschrieben. Allport199 schrieb die wohltuenden Emotionen dem parasympathischen, die unerfreulichen dem sympathischen System zu. Olds200 unterscheidet zwischen »positiven« und »negativen« emotiven Systemen, die von parasympathischen beziehungsweise von sympathischen Zentren im Hypothalamus aktiviert werden. Von einem ganz anderen Standpunkt aus kommt Hebb ebenfalls zu dem Schluß, man müsse zwischen zwei Kategorien von Emotionen unterscheiden, »denjenigen, bei denen die Tendenz besteht, die ursprüngliche Reizsituation aufrechtzuerhalten oder sogar noch zu verstärken (wohltuende oder integrative Emotionen)«, und »denjenigen, bei denen die Tendenz besteht, den ursprünglichen Reizfaktor zu eliminieren oder zumindest abzuschwächen (Wut, Furcht, Ekel)«.201 Pribram traf eine ähnliche Unterscheidung zwischen »präparatorischen« (ab196

wehrenden) und »partizipatorischen« Emotionen.202 Heß und Gellhorn unterscheiden zwischen einem ergotropen (energiekonsumierenden) System, das vom Sympathicus kontrolliert wird und bedrohliche Reizfaktoren abwehrt, und einem trophotropen (energiekonservierenden) System, das vom Parasympathicus kontrolliert wird und auf friedliche oder wohltuende Reizfaktoren reagiert.203 Gellhorn hat die emotionalen Wirkungen von zwei verschiedenen Typen von Drogen untersucht: die Aufputschungsmittel wie Benzedrin und die Beruhigungsmittel wie Chlorpromazin. Erstere aktivieren den Sympathicus, letztere den Parasympathicus. In kleinen Dosen verabreicht, verursachen die Beruhigungsmittel »eine geringfügige Verlagerung des hypothalamischen Gleichgewichts nach der parasympathischen Seite hin, und das führt zur Beruhigung, zu Zufriedenheit, einem Zustand, der anscheinend der Phase vor dem Einschlafen ähnelt; größere Anschläge führen jedoch zu depressiver Stimmung«.204 Die Amphetamine von der Art des Benzedrins dagegen aktivieren den Sympathicus; bei Tieren lösen sie verstärkte Aggressivität aus, beim Menschen in kleinen Dosen einen Zustand des Hellwachseins und der Euphorie, in größeren Dosen Übererregung und manisches Verhalten. Cobb hat den Gegensatz pointiert formuliert: »Wut ist die am stärksten adrenergische, Liebe die am stärksten cholinergische, [typisch parasympathische] Reaktion.«205 Aus dieser kurzen Übersicht ergibt sich in erster Linie, daß unter den Autoritäten auf diesem Gebiet die allgemeine Tendenz vorherrscht, zwischen zwei Grundkategorien von Emotionen zu unterscheiden – obwohl ihre Definitionen der Kategorien voneinander abweichen und mit dem Lust-Unlust-Faktor durcheinandergebracht werden (der nach unserer Theorie eine unabhängige Variable beider Kategorien ist; siehe Seite 150 ff.). Zweitens merkt man allgemein das Gefühl, daß die beiden Kategorien von Emotionen »irgendwie« mit den beiden Ästen des autonomen Nervensystems koordiniert werden. Aber diese Koordination ist weder einfach noch klar. So ist zum Beispiel nach MacLean »die Erektion ein parasympathisches Phänomen, während die Ejakulation von sympathischen Mechanismen abhängig ist«.206 Überdies kann eine starke parasympathische Stimulierung Übelkeit und Erbrechen verursachen, die man trotz ihres kathartischen Effekts (eine »Reinigung« im buchstäblichen Sinn des Wortes) kaum als einen Akt der psychologischen Selbsttranszendenz bezeichnen kann. Mit einem Wort, das Funktionieren des autonomen Nervensystems ist einer der faszinierendsten und zugleich kompliziertesten Aspekte im emotionalen Leben des Menschen; und man muß ehrlich zugeben, daß zwar reichhaltiges Beweismaterial dafür vorliegt, daß die selbstbehauptenden Emotionen durch den sympathicoadrenalen Apparat vermittelt werden, daß es jedoch kein schlüssiges Beweismaterial für die hier vorgeschlagene symmetrische Korrelation gibt. Beweismaterial dieser Art kann nur dann zutage treten, wenn menschliche Emotionen außerhalb der Kategorie Hunger-Wut-Furcht von der experimentellen Psychologie als ein würdiges Forschungsobjekt anerkannt werden – und das ist im Augenblick noch nicht der Fall. Dem Zeitgeist entsprechend, sind die selbsttranszendierenden Emotionen – trotz ihrer offensichtlichen Realität – immer noch die Stiefkinder der Psychologie. So ist das Weinen ein durchaus beobachtbares Verhaltensphänomen (der Behaviorist könnte sogar die Quantität der Tränenabsonderung in Milligramm pro Sekunde messen), es wird jedoch in der psychologischen Literatur fast vollständig ignoriert.* * Eine ausführliche Erörterung dieses Themas sowie eine Bibliographie des Weinens findet sich in Kapitel 12 bis 14 und Seite 725 ff. von THE ACT OF CREATION.

Einige zusätzliche Fakten über das autonome Nervensystem müssen noch der Vollständigkeit halber erwähnt werden. Bei stark affektiven oder pathologischen Zuständen kann die normalerweise antagonistische (das heißt equilibrierende) Aktion der beiden Systeme außer Kraft gesetzt werden; statt dessen verstärken sie einander, wie etwa beim Geschlechtsakt; oder die Übererregung des einen führt zu einem zeitweiligen »Rückstoß« des anderen207 schließlich kann auch der Parasympathicus als Katalysator wirken, der seinen Gegenpart aktiviert.208 197

Die erste von diesen drei Möglichkeiten entspricht unserem emotionalen Zustand beim Anhören rhapsodisch gefärbter Musik, wie etwa einer Wagner-Oper: Hier scheint sich Entspannung paradoxerweise mit einem euphorischen Erregungszustand zu verbinden. Die zweite Möglichkeit spiegelt sich im Phänomen des »emotionalen Katers« wider. Die dritte Möglichkeit besitzt für unser Thema die größte Relevanz: sie zeigt in konkreter physiologischer Form, wie eine Art von emotionaler Reaktion als Vermittler für die entgegengesetzte Reaktion wirken kann – wie die selbsttranszendierende Identifizierung mit dem Helden auf dem Bildschirm eine stellvertretende Aggressivität gegen den Schurken auslöst oder die Identifizierung mit einer Gruppe oder mit einem Glauben den brutalen Fanatismus des Massenverhaltens. Die Rationalisierungen dafür steuert das sprachbegabte Neuhirn bei; die Affektladung stammt aus dem Althirn und wird durch das autonome Nervensystem dem viszeralen und dem glandulären Bereich übermittelt. Wir haben also hier einen weiteren Punkt, wo sich die neurophysiologische Forschung mit der Psychologie zu verschmelzen beginnt und uns neue Anhaltspunkte liefert, die eines Tages vielleicht zu einem Ausweg aus dem Dilemma des Menschen führen könnten.

16.10 Zusammenfassung Die Evolution der Arthropoden und der Marsupialier lehrt uns, daß Fehler bei der Gehirnbildung tatsächlich vorkommen. Die Strategie der Evolution ist dem Prinzip von Versuch und Irrtum unterworfen, und die Annahme scheint durchaus nicht zu unwahrscheinlich, daß sich die Evolution im Verlauf des explosiven Wachstums des menschlichen Neocortex einmal mehr geirrt hat. Die Papez-MacLean-Theorie deutet in starkem Maße darauf hin, daß in der Funktionsweise des phylogenetisch älteren und des phylogenetisch neuen Cortex eine erhebliche Dissonanz besteht und daß diese Schizophysiologie in unsere Spezies sozusagen eingebaut ist. Daraus würde sich eine physiologische Basis für die Erkenntnis der paranoischen Strähne ergeben, die in der Geschichte der Menschheit beobachtbar ist, und würde uns Fingerzeige für die Suche nach einem Heilmittel liefern.

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17 Eine einzigartige Spezies Ich muß zwangsläufig zu dem Schluß kommen, daß die Mehrzahl eurer Eingeborenen zur verruchtesten Rasse von widerlichem kleinem Ungeziefer gehört, die jemals über die Oberfläche dieser Erde kriechen durfte. Swift: DIE REISE NACH BROBDINGNAG

17.1

Die unerbetene Gabe

In einem seiner Essays209 stellte Sir Julian Huxley eine Liste derjenigen Eigenschaften zusammen, die man allein bei der Spezies Mensch finden kann: Sprache und begriffliches Denken; Vererbung des Wissens durch die Schrift; Werkzeuge und Maschinen; biologische Vorherrschaft über alle anderen Arten; individuelle Verschiedenheit; die ausschließliche Benutzung der Vordergliedmaßen zu Manipulationszwecken; die das ganze Jahr hindurch anhaltende Fruchtbarkeit; Kunst, Humor, Wissenschaft, Religion und so weiter. Das vom Standpunkt des Evolutionstheoretikers aus gesehen verblüffendste Merkmal beim Menschen ist jedoch in dieser Liste nicht enthalten – und es ist mir nicht bekannt, daß es von Biologen jemals ernsthaft erörtert wurde. Man könnte es als das »Paradoxon der unerbetenen Gabe« bezeichnen; ich will versuchen, es mit Hilfe einer Parabel zu verdeutlichen. In einem arabischen Basar lebte einmal ein Ladenbesitzer namens Ali; er konnte nicht sehr gut rechnen und wurde daher von seinen Kunden ständig bemogelt – anstatt daß er sie bemogelte, wie sich das gehört. Also betete er jeden Abend zu Allah, er möge ihm einen Abakus schenken, jenen altehrwürdigen Apparat, mit dem man addiert und subtrahiert, indem man kleine Kugeln an Drahtstäben entlangschiebt. Aber ein boshafter Dschinn leitete sein Gebet an die falsche Dienststelle der himmlischen Postversandabteilung, und als Ali eines Morgens im Basar eintraf, mußte er zu seinem Erstaunen feststellen, daß sein Laden sich in ein vielstöckiges, modernes Bürogebäude verwandelt hatte, in welchem das jüngste Computermodell installiert war: Schalttafeln und Armaturenbretter bedeckten alle Wände, mit Tausenden von fluoreszierenden Oszillatoren, Schaltern, Hebeln, Skalenscheiben und dergleichen; es gab auch ein mehrere hundert Seiten starkes Handbuch mit Bedienungsanweisungen, das Ali, der Analphabet war, natürlich nicht lesen konnte. Nachdem er mehrere Tage lang vergeblich an diesem oder jenem Knopf herumgefummelt hatte, geriet er schließlich in Wut und gab einem der glitzernden, eleganten Armaturenbretter einen Fußtritt. Der Schock setzte eines der Millionen elektronischen Schaltsysteme der Maschine in Aktion, und nach einer Weile entdeckte Ali zu seinem freudigen Erstaunen, daß, wenn er zunächst dreimal und hernach noch fünfmal gegen das Armaturenbrett trat, eine der Skalenscheiben tatsächlich die Zahl 8 anzeigte! Er dankte Allah auf den Knien für den prächtigen Abakus und benutzte die Maschine bis an sein Lebensende, um drei plus zwei oder vier plus fünf zu addieren – ohne zu ahnen, daß der Computer fähig war, Einsteins Gleichungen im Handumdrehen abzuleiten oder die Bahnen von Planeten für Tausende von Jahren vorauszuberechnen. Alis Kinder und Enkelkinder erbten die Maschine und auch das Geheimnis, wie man immer nach demselben Armaturenbrett tritt; aber es brauchte Hunderte von Generationen, ehe sie endlich daraufkamen, wie man die Maschine wenigstens für einfache Multiplikationsaufgaben benutzen konnte. Wir selbst sind Alis Nachkommen: zwar haben wir inzwischen noch eine Reihe anderer Verwendungsarten für die Maschine erlernt, aber trotzdem sind wir nur fähig, einen winzigen Bruchteil des Potentials ihrer schätzungsweise hundert Milliarden Stromkreise zu nutzen. Denn mit der

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unerbetenen Gabe ist natürlich das menschliche Gehirn gemeint. Was das Handbuch mit den Bedienungsanweisungen betrifft, so ging es verloren – falls es überhaupt jemals existierte. Platon behauptet zwar, es habe einmal existiert, aber das ist offenbar nur ein Gerücht.

Der Vergleich ist gar nicht so weit hergeholt, wie es den Anschein haben könnte. Welche treibende Kraft auch immer hinter der Evolution stehen mag, sie konzentriert sich stets auf die unmittelbaren adaptiven Bedürfnisse einer Spezies; und das Auftauchen von Neuerungen in der anatomischen Struktur und Funktionsweise wird im großen ganzen von diesen Bedürfnissen gesteuert. Es ist völlig beispiellos, daß die Evolution einer Spezies ein Organ zukommen läßt, mit dem diese Spezies nichts anzufangen weiß: ein Luxusorgan (wie Alis Computer), das die unmittelbaren, primitiven Bedürfnisse seines Eigentümers himmelweit überschreitet; ein Organ, bei dem die Spezies Jahrtausende benötigen wird, um seine richtige Nutzung zu erlernen, sofern ihr das überhaupt jemals gelingt. Alles spricht dafür, daß der früheste Repräsentant des homo sapiens – der Cro-MagnonMensch, der vor etwa fünfzig- bis hunderttausend Jahren die Szene betrat – bereits ein Gehirn besaß, das nach Größe und Form dem unseren entsprach. Er machte davon aber kaum Gebrauch, er blieb stets ein Höhlenbewohner und entwuchs niemals dem Steinzeitalter. Vom Standpunkt seiner unmittelbaren Bedürfnisse aus betrachtet, schoß das explosive Wachstum des Neocortex weit über das Ziel hinaus – mit einem Zeitfaktor von beinahe astronomischer Größe. Zehntausende von Jahren lang bastelten unsere Vorfahren ihre Bogen, Pfeile und Speere zusammen, während das Organ, das uns morgen zum Mond bringen wird, bereits gebrauchsfertig in ihren Schädeln eingebettet war. Wenn wir sagen, die geistige Evolution ist ein spezifisches Charakteristikum des Menschen und sie fehle bei den Tieren, so verwechseln wir Ursache und Wirkung. Die Lernfähigkeit ist bei Tieren automatisch durch die Tatsache begrenzt, daß sie bereits vollen – oder doch zumindest nahezu vollen – Gebrauch von allen Organen machen, mit denen die Natur sie ausgestattet hat, einschließlich des Gehirns. Die Kapazität des Computers im Schädel der Reptilien und der Säugetiere wird voll ausgenutzt und läßt keinen Spielraum für weitere Lernprozesse. Die Evolution des menschlichen Gehirns ist jedoch so weit über das Ziel – die unmittelbaren Bedürfnisse des Menschen – hinausgeschossen, daß er immer noch atemlos versucht, seine bisher unerschlossenen, unerforschten Möglichkeiten zu nützen. Die Geschichte der Wissenschaft und der Philosophie besteht, von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, in dem schleppenden Prozeß der allmählichen Aktivierung des im Gehirn bereits vorhandenen Potentials. Die neuen Territorien, die noch auf ihre Eroberung warten, liegen in den Windungen der Großhirnrinde.

17.2 In tiefster Finsternis ... Warum aber vollzog sich dieser Prozeß, zu lernen, wie man von unserem Gehirn Gebrauch macht, so langsam, so sprunghaft und so voller Rückschläge? Das ist der springende Punkt dieses Problems. Die Antwort lautet, wie bereits angedeutet: die Koordination zwischen dem alten und dem neuen Gehirn ist unzureichend, das alte Gehirn kommt dem neuen stets in die Quere; das leidenschaftliche Wiehern affektgeladener Glaubensvorstellungen hindert uns daran, auf die Stimme der Vernunft zu hören. Nicht nur die Weltgeschichte im allgemeinen, auch der Fortschritt der »leidenschaftslosen« Wissenschaft hat unter dem gleichen Fluch gelitten. Wir haben die naive Angewohnheit, diesen Fortschritt als einen stetigen, kumulativen Prozeß anzusehen, bei dem jede Epoche dem Wissen der vergangenen Epochen einen neuen Baustein hinzufügt und bei dem jede Generation von Alis Nachkommen lernt, einen immer besseren Gebrauch von Allahs unerbetener Gabe zu machen. In Wirklichkeit jedoch war dieser Prozeß weder stetig noch kontinuierlich: 200

Die Naturphilosophie entwickelte sich durch gelegentliche Sprünge und Sätze, die mit Wahnvorstellungen, Sackgassen, Rückschritten, mit Zeiten der Blindheit und der Verbohrtheit abwechselten. Die großen Entdeckungen, die den Lauf bestimmten, waren manchmal völlig unerwartete Trophäen der Jagd nach ganz anderen Hasen. Zuzeiten wiederum bestand der Prozeß des Entdeckens im wesentlichen darin, den alten Schutt aus dem Weg zu räumen, der ihn versperrte, oder die längst vorhandenen, aber falsch zusammengesetzten empirischen Bausteine neu zu ordnen. Das irrsinnige Räderwerk der Epizykel blieb durch zwei Jahrtausende in Gang, und Europa verstand im 15. Jahrhundert weniger von der Geometrie als zu Archimedes’ Zeiten. Würde es sich um einen kontinuierlichen und organischen Fortschritt handeln, dann hätte, um ein Beispiel zu geben, fast alles, was wir über die Zahlentheorie oder die analytische Geometrie wissen, in ein paar Generationen nach Euklid entdeckt werden müssen. Denn diese Entwicklung hing nicht von technischen Fortschritten oder von der Bändigung der Natur ab: die gesamte Mathematik ist potentiell in den zehn Milliarden Neuronen der Rechenmaschine im menschlichen Gehirnkasten enthalten und war darin schon an die hunderttausend Jahre enthalten, da man annimmt, das Gehirn habe sich in dieser Zeitspanne anatomisch nicht mehr verändert. Das sprunghafte und irrationale Fortschreiten des Wissens hängt wahrscheinlich mit der Tatsache zusammen, daß die Evolution den homo sapiens mit einem Organ ausgestattet hat, das er nicht richtig zu verwenden vermag. Nach Schätzungen von Neurologen benutzen wir auch in der derzeitigen Etappe bloß zwei bis drei Prozent der potentiellen Möglichkeiten seiner eingebauten »Stromkreise«.210 Betrachtet man die Geschichte der Wissenschaft aus einer Art Vogelperspektive, dann ist man zunächst von ihrer Diskontinuität überrascht. Über Zehntausende von Jahren menschlicher Vorgeschichte wissen wir kaum etwas. Dann, im sechsten vorchristlichen Jahrhundert, begegnen wir urplötzlich in Milet, in Elea und in Samos einer Galaxis von Philosophen, die die Ursprünge und die Evolution des Universums erörtert und nach den elementaren Prinzipien forscht, die aller Vielgestaltigkeit zugrunde liegen. Die Pythagoräer unternahmen als erste den Versuch einer großangelegten Synthese: sie versuchten, aus den getrennten Fäden der Mathematik, der Musik, der Astronomie und der Medizin einen Teppich mit streng geometrischem Muster zu weben. An diesem Teppich weben wir heute noch immer, aber sein Muster wurde bereits in den drei Jahrhunderten des heroischen Zeitalters der griechischen Wissenschaft festgelegt. Doch nach der mazedonischen Eroberung kam eine Periode der Orthodoxie und des Niedergangs. Die Kategorien des Aristoteles wurden zur Grammatik der Existenz, seine animistischen Geister beherrschten die Welt der Physik, man glaubte, alles zu wissen, was es zu wissen gab, alles erfunden zu haben, was des Erfindens wert war. Hatte sich das heroische Zeitalter vom Beispiel des Prometheus, der den Göttern das Feuer entwendete, leiten lassen, so zogen sich die Philosophen der hellenistischen Epoche in Platons Höhle zurück, bemalten die Wände mit Epizykeln und kehrten dem Tageslicht der Realität den Rücken. Danach versank die Welt des Geistes in eine Art Winterschlaf, und eineinhalb Jahrtausende lang standen die Räder des wissenschaftlichen Fortschritts still – ja sie begannen sich sogar in umgekehrter Richtung zu drehen. »Wissenschaft kann sich nicht nach rückwärts wenden – wenn das Neutron einmal entdeckt ist, bleibt es entdeckt«, schrieb Dr. Pyke,211 ein zeitgenössischer Wissenschaftstheoretiker. »Sollte das wirklich stimmen? Im fünften vorchristlichen Jahrhundert wußten die gebildeten Schichten, daß die 201

Erde eine Kugel ist, die sich um ihre eigene Achse dreht und im Raum schwebt; tausend Jahre später hielt man sie für eine flache Scheibe.«212 Aus Sankt Augustinus’ DE CIVITATE DEI, dem »Gottesstaat«, waren alle Schätze, die uns die alten Griechen an Wissen, Schönheit und Hoffnung hinterlassen haben, verbannt, denn alles heidnische Wissen war »befleckt vom Einfluß obszöner und unflätiger Teufel. Laßt Thales ziehen mit seinem Wasser, Anaximenes samt seiner Luft, die Stoiker samt ihrem Feuer und Epikur samt seinen Atomen ...« Und sie zogen davon. Das Spielen mit der unerbetenen Gabe blieb jahrhundertelang verboten. Dann kam im zwölften Jahrhundert die Wiederentdeckung des Archimedes und des Aristoteles, gefolgt von drei weiteren Jahrhunderten der scholastischen Philosophie der Sterilität und Stagnation. »Sie suchen«, rief Erasmus verzweifelt aus, »in tiefster Finsternis nach etwas, was überhaupt keine Existenz hat.« Die einzigen Perioden in der gesamten Geschichte der westlichen Welt, in deren Verlauf es wirklich ein kumulatives Wachstum des Wissens gab, waren die drei großen Jahrhunderte Griechenlands und die drei Jahrhunderte, die dem unsrigen vorausgingen. Und dennoch war der Apparat zur Erzeugung dieses Wissens die ganzen zwei Jahrtausende, die dazwischenliegen, immerzu da – und auch in den etwa dreißig Jahrtausenden, die uns von Lascaux und Altamira trennen. Aber er durfte nicht gebraucht werden. Die affektgeladenen Phantasmagorien von Totem und Tabu, von Dogma und Doktrin, von Schuld und Angst vertrieben immer von neuem die »unflätigen Teufel« des Wissens. Während des überwiegenden Zeitraums der Menschheitsgeschichte durfte sich das wundervolle im Neocortex angelegte Potential nur im Dienst althergebrachter Glaubensvorstellungen entfalten: im Dienste der Magie, in den Höhlenmalereien der Dordogne; in der Übertragung archetypischer Vorstellungsbilder in die Sprache der Mythologie; in der religiösen Kunst Asiens und des europäischen Mittelalters. Die Rolle der Vernunft bestand darin, Dienerin des Glaubens zu sein – ganz gleich, ob es sich dabei um den Glauben von Medizinmännern handelte oder um den von Theologen, Scholastikern, dialektischen Materialisten, Anhängern Mao Tse-tungs oder des Königs MboMba. »Die Schuld, teurer Brutus, liegt nicht bei den Sternen«; sie stammt von dem Krokodil und dem Pferd her, die wir in unseren Schädeln mit uns herumtragen. Von allen einzigartigen Zügen des Menschen scheint dieser der hervorstechendste zu sein.

17.3 Der friedliche Primat Charakteristisch für den rührenden Optimismus der konventionellen Biologen erscheint die Tatsache, daß Huxleys Liste ausschließlich positive und wünschenswerte Eigenschaften enthält. Jene andere furchtbare Einzigartigkeit unserer Spezies, die intraspezifische Kriegführung,* wird nicht einmal andeutungsweise erwähnt. Aber in einem anderen Essay des gleichen Bandes, KRIEG ALS BIOLOGISCHES PHÄNOMEN, weist Huxley darauf hin, »daß es nur zwei Arten von Lebewesen gibt, die häufig untereinander Krieg führen – Menschen und Ameisen. Doch selbst bei den Ameisen wird die Kriegführung hauptsächlich von einer bestimmten Gruppe praktiziert, zu der nur wenige der mehr als zehntausend Arten gehören, die die Wissenschaft kennt«.213 * Das heißt Kriegführung innerhalb der gleidien Spezies, im Gegensatz zum interspezifischen Kampf bei der Verfolgung eines Beutetiers, das einer anderen Art angehört.

In Wirklichkeit praktizieren auch die Ratten die Kriegführung zwischen Gruppen oder Sippen. Die Mitglieder einer Rattensippe wie die des Insektenstaates »kennen« einander nicht als Einzelindividuen, sondern nur auf Grund des charakteristischen Geruchs ihres gemeinsamen Nestes beziehungsweise Stocks. Der Fremdling, der zwar zur gleichen Spezies gehört, aber Mitglied einer fremden Sippe ist, wird sofort an seinem andersartigen Geruch erkannt – er »stinkt«. Er wird wütend angegriffen und nach Möglichkeit getötet. 202

Aber die Menschen und die Ratten sind Ausnahmen. In der Regel finden wir im gesamten Tierreich tödliche Kämpfe nur zwischen Raubtier und Beute. Das Gesetz des Dschungels sanktioniert nur ein legitimes Motiv für die Tötung: den Ernährungstrieb; und dabei muß das Beutetier einer anderen Spezies angehören. Innerhalb der gleichen Spezies verhindern starke Instinktsicherungen einen ernsthaften Kampf zwischen Individuen oder Gruppen. Diese Hemmungsmechanismen oder Instinkttabus gegen die Tötung oder ernsthafte Verletzung von Artgenossen sind bei den meisten Tierarten ebenso stark ausgeprägt wie die elementaren Triebe. Die unerläßlich notwendigen selbstbehauptenden Tendenzen bei den höheren sozialen Tieren werden auf diese Weise durch Hemmungsmechanismen kompensiert, die den Kampf zwischen Rivalen zu einem mehr oder minder symbolischen Duell machen, das nach formalen Regeln durchgeführt wird wie eine Stellungsmensur und kaum je zu einer ernsthaften Verletzung führt. Das Duell wird durch eine spezifische Kapitulationsgeste des Schwächeren beendet – der Hund wirft sich auf den Rücken und exponiert Bauch und Kehle, der besiegte Hirsch schleicht sich von dannen. Auch die Verteidigung des Reviers wird fast immer ohne Blutvergießen gesichert, durch streng ritualisierte Drohgesten, Scheinangriffe und dergleichen. Schließlich wird auch die Rangordnung bei frei lebenden Tiersozietäten, von den Vögeln bis zu den Affen, mit einem Minimum an Gewalttätigkeit oder Drangsalierung etabliert und aufrechterhalten. Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre haben Feldbeobachtungen von frei lebenden Affensozietäten unsere früheren Vorstellungen von der Mentalität unserer Ahnen vollständig ins Gegenteil verkehrt. Die früheren Studien – wie zum Beispiel die von Solly Zukkerman in den späten 1920er Jahren – basierten auf dem Verhalten von Affen, die unter unnatürlichen, beengten Verhältnissen in zoologischen Gärten lebten. Diese Beobachtungen erbrachten wichtige psychologische Erkenntnisse, aber nur in dem Sinn, in welchem Studien menschlicher Verhaltensweisen in Gefängnissen und Konzentrationslagern aufschlußreich sind. Sie zeigen, daß die Mitglieder neurotischer Gemeinschaften, die abnormen Belastungen ausgesetzt wurden, gelangweilt und reizbar sind, ständig miteinander streiten, geschlechtlich überaktiv werden und leicht in den Bann tyrannischer und gelegentlich auch mörderischer »Führer« geraten. Auf Grund solcher Eindrücke mußte man sich eigentlich fragen, wie frei lebende Affensozietäten denn überhaupt existieren konnten. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat jedoch eine neue Generation von Tierforschern, deren Feldbeobachtungen sich häufig über viele Jahre erstreckten, unsere bisherigen Vorstellungen auf dramatische Weise auf den Kopf gestellt. W. M. S. Russell hat das Ergebnis folgendermaßen zusammengefaßt: Nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Studium von frei lebenden Affen plötzlich zur Mode geworden. Die Berichte dieser Beobachter kommen zu einem übereinstimmenden Ergebnis. Carpenter ... berichtete, daß Kämpfe bei in Freiheit lebenden Gibbons sehr selten sind und daß sie bei Brüllaffen praktisch überhaupt nicht vorkommen. Bei nur einer einzigen von sieben Horden von ostafrikanischen Pavianen haben Washburn und Devore Zeichen von Gewalttätigkeit innerhalb der Horde beobachtet; Kämpfe zwischen einzelnen Horden fanden überhaupt nicht statt. Southwick nahm das Studium frei lebender Brüllaffen in den fünfziger Jahren auf, und er konnte niemals einen Kampf registrieren, weder innerhalb einer Horde noch zwischen zwei Horden. Jay berichtet in ähnlicher Weise über frei lebende Horden von Schlankaffen und Imanishi über japanische Affen. Goodall konnte bei in Freiheit lebenden Schimpansen kaum Anzeichen für irgendwelche Kämpfe entdecken, und auch Hall gelang das gleiche nicht bei frei lebenden Horden der gleichen Baboonart, die Zucker203

man im zoologischen Garten studiert hatte. Emlen und Schaller entdeckten bei Gorillahorden nicht die leiseste Spur von Aggressivität innerhalb der Horde, und auch die Beziehungen der einzelnen Horden zueinander waren so freundschaftlich, daß zwei Horden, die irgendwo zusammenstießen, sich zu einem gemeinsamen Nachtlager niederließen; einzelne Tiere konnten als Gäste eine andere Horde aufsuchen und sich bei ihr so lange aufhalten, wie es ihnen gefiel. Diese übereinstimmenden Berichte sind im Grunde noch weit eindrucksvoller, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, denn viele der Tierbeobachter hatten das genaue Gegenteil erwartet. Die früheren Berichte über Studien in den zoologischen Gärten hatten einen so tiefen Eindruck hinterlassen, daß jeder der Tierbeobachter in freier Wildbahn zunächst annahm, bei seiner Spezies handle es sich um eine ungewöhnliche Ausnahme ... Es zeigt sich jetzt, daß sie alle einem Irrtum erlegen waren, denn alle frei lebenden Affenarten sind friedlich ... Eine gesunde frei lebende Primatensozietät zeigt keine Spur von Kampftätigkeit, weder innerhalb einer Horde noch zwischen einzelnen Horden. Es steht nunmehr unleugbar fest, daß Primaten ohne alle Gewaltakte leben können ... Vergleicht man die Berichte über das Verhalten frei lebender Affen mit denen in zoologischen Gärten, dann erkennt man, daß die Aggressivität nicht eine angeborene Eigenschaft einzelner Individuen oder einzelner Primatenspezies ist. Alle Primatenarten sind unter bestimmten Bedingungen friedlich, unter anderen Bedingungen gewalttätig. Gewalttätigkeit ist eine Eigenschaft von Sozietäten, die schweren Belastungen ausgesetzt sind ...214 Welche Schlußfolgerung soll man nun aus dieser Verhaltensweise von Primaten ziehen? Zuallererst wohl diese: Primaten (und alle anderen Säugetiere) lassen, wenn sie in Freiheit leben, auch nicht die geringsten Anzeichen dafür erkennen, daß sie so etwas wie den Freudschen Zerstörungstrieb besitzen. Bei normalen Sozietäten von Pavianen und Rhesusaffen werden die selbstbehauptenden Tendenzen des einzelnen Individuums durch die integrativen Bande ausgeglichen, die es mit der Familie, dem »Führer« und der Sippe verbinden. Zu aggressiven Akten kommt es nur dann, wenn Belastungen der einen oder anderen Art dieses Gleichgewicht ins Wanken bringen. All das stimmt durchaus mit den Schlußfolgerungen überein, zu denen wir in den vorhergehenden Kapiteln gekommen sind. Aber es ergeben sich daraus nur einige begrenzte und etwas triviale Anhaltspunkte für den Ursprung der menschlichen Problematik. Daß Spannungen durch Nahrungsmittelknappheit, Übervölkerung, Naturkatastrophen und so weiter das soziale Gleichgewicht ins Wanken bringen und zu pathologischen Verhaltensweisen führen, darüber sind wir uns alle einig. Das gleiche gilt für die zooähnlichen Verhältnisse in Gefängnissen, den erzwungenen Müßiggang bei Arbeitslosigkeit und für die im Wohlfahrtsstaat grassierende Langeweile. Diese Erscheinungen pflegen Sozialpsychologen mit Vorliebe immer wieder in den Vordergrund zu rücken, wenn sie die Gefahren des modernen Lebens in einer übervölkerten Megalopolis erörtern, und sie haben dabei natürlich vollkommen recht. Aber es handelt sich hier um moderne Phänomene, die kaum irgendwelche Relevanz für den Kern des Problems besitzen: das Auftauchen jener einzigartigen, mörderischen Wahnvorstellungen bei unseren prähistorischen Ahnen. Sie litten keinesfalls an Übervölkerung, und sie führten kein Großstadtleben; mit anderen Worten, wir können die Schuld nicht auf Belastungen von der Art abwälzen wie jene, denen in Gefangenschaft lebende Affen oder die zeitgenössischen Einwohner von New York ausgesetzt sind. Wenn man sich von der spezifischen Pathologie des 20. Jahrhunderts hypnotisieren läßt, dann engt man nur seinen Gesichts204

kreis ein und verstellt sich den Blick für das weit ältere, weit fundamentalere Problem, vor das uns die chronische Barbarei der menschlichen Kulturen – sowohl der antiken als auch der modernen – stellt. Wir sind so intensiv mit den sozialen Verheerungen beschäftigt, die die Bewohner zeitgenössischer Negerghettos in Amerika erleiden, daß wir die Scheußlichkeiten der Geschichte Afrikas vergessen, als die Neger noch frei waren – oder die Scheußlichkeiten der europäischen und asiatischen Geschichte. Die Schuld am pathologischen Verhalten der Menschen auf die Umwelt abzuwälzen heißt dem wahren Sachverhalt ausweichen. Klimatische Veränderungen und andere Umwelteinflüsse sind natürlich ein wichtiger Faktor sowohl in der biologischen Evolution als auch in der Menschheitsgeschichte; aber die meisten Kriege, Bürgerkriege und Massenmorde sind auf andere Motive zurückzuführen. Wo also sollen wir nun nach den Ursachen für den »Sündenfall« suchen – nach den Ursachen für die einzigartige Eigenschaft unserer Spezies, intraspezifischen Totschlag allein oder in Gruppen zu praktizieren?

17.4 Der harmlose Jäger Es gab einmal eine Theorie, wonach sich der Sündenfall ereignet habe, als unsere Vorfahren aus Vegetariern zu Carnivoren, zu Fleischfressern, wurden. Sowohl Zoologen als auch Anthropologen können darauf eine überzeugende Antwort geben. Der Zoologe kann darauf hinweisen, daß die Jagd auf eine Beute, die einer anderen Spezies angehört, ein biologischer Trieb ist, der sich ganz erheblich von der gegen Artgenossen gerichteten Aggression unterscheidet. Ich möchte hier Konrad Lorenz zitieren: Aber die inneren, verhaltensphysiologischen Beweggründe des Jägers sind von denen des Kämpfers grundverschieden. Der Büffel, den der Löwe niederschlägt, ruft dessen Aggression sowenig hervor, wie der schöne Truthahn, den ich soeben voll Wohlgefallen in der Speisekammer hängen sah, die meine erregt. Schon in den Ausdrucksbewegungen ist die Verschiedenheit der inneren Antriebe deutlich abzulesen. Der Hund, der sich voll Jagdpassion auf einen Hasen stürzt, macht dabei genau dasselbe gespannt-freudige Gesicht, mit dem er seinen Herrn begrüßt oder ersehnten Ereignissen entgegensieht. Auch dem Gesicht des Löwen kann man, wie aus vielen ausgezeichneten Photographien zu entnehmen ist, im dramatischen Augenblick vor dem Sprunge ganz eindeutig ansehen, daß er keineswegs böse ist: Knurren, Ohrenzurücklegen und andere vom Kampfverhalten her bekannte Ausdrucksbewegungen sieht man von jagenden Raubtieren nur, wenn sie sich vor einer wehrhaften Beute fürchten – und selbst dann nur in Andeutungen.215 Die Russells kommen zu dem gleichen Schluß: Aus dem Verhalten der Säugetiere kann man sicherlich nicht den Schluß ziehen, daß bei den Carnivoren die Aggressivität größer oder intensiver ist als bei den Herbivoren. Und im Hinblick auf den Menschen: Nichts spricht dafür, daß Gewalttätigkeit im sozialen Bereich in den carnivoren Jägerkulturen stärker ausgeprägt oder intensiver gewesen ist als in den vegetarischen Ackerbaukulturen. Gewiß, gelegentlich haben sich Jägerkulturen extrem kriegerisch gebärdet – aber es gibt anderseits keine einzige menschliche Gruppe, die friedlichere Gemeinschaften hervorgebracht hat als die Eskimos, die stets carnivore 205

Jäger gewesen sind, und das vermutlich bereits seit dem Paläolithikum.216 Dagegen waren die Samurai strenge Vegetarier; das gleiche gilt auch für die Hindus, die ihre mohammedanischen Brüder massakrierten, wann immer sie dazu Gelegenheit hatten. Es war also nicht der Verzehr von Rentiersteaks, der zum »Sündenfall« geführt hat. Konrad Lorenz, den ich eben zitiert habe, schlägt eine besser fundierte Theorie vor. Der folgende Auszug gibt den Kern seiner Gedankengänge wieder: Wir haben in dem Kapitel über moralanaloges Verhalten von den Hemmungsmechanismen gehört, die bei verschiedenen sozialen Tieren die Aggression zügeln und ein Beschädigen und Töten von Artgenossen verhindern. Wie gesagt, sind diese natürlicherweise bei solchen Tieren am wichtigsten und daher auch am höchsten ausgebildet, die imstande sind, ungefähr gleich große Lebewesen ohne weiteres umzubringen. Ein Kolkrabe kann einem anderen mit einem Schnabelhieb das Auge aushacken, ein Wolf einem anderen mit einem einzigen Zuschnappen die Halsvenen aufreißen. Es gäbe längst keine Raben und keine Wölfe mehr, wenn nicht verläßliche Hemmungen solches verhinderten. Eine Taube, ein Hase und selbst ein Schimpanse sind nicht imstande, durch einen einzigen Schlag oder Biß ihresgleichen zu töten ... In freier Wildbahn besteht also für gewöhnlich gar nicht die Möglichkeit, daß ein solches Tier ein gleichartiges wesentlich beschädigt. So ist auch kein Selektionsdruck wirksam, der Tötungshemmungen herauszüchtet. Man kann sich lebhaft vorstellen, was geschehen würde, wenn ein nie dagewesenes Naturspiel jählings einer Taube den Schnabel eines Kolkraben verleihen würde. Der Lage dieser Mißgeburt scheint die des Menschen genau zu entsprechen, der eben den Gebrauch eines scharfen Steines als Schlagwaffe erfunden hat. Man schaudert bei dem Gedanken an ein Wesen von der Erregbarkeit und dem Jähzorn eines Schimpansen, das einen Faustkeil in der Hand schwingt ... Der uns mit dem Schimpansen gemeinsame Ahne ... hatte dieselben Tötungshemmungen wie alle Tiere. Zu unserem Glück haben auch wir die entsprechenden »tierischen« Instinkte mitbekommen. Aber wir können ohne weiteres einsehen, daß sie versagen mußten, als die Erfindung der ersten Waffe das bisher vorhandene Gleichgewicht zwischen Tötungsfähigkeit und instinktmäßiger Tötungshemmung störte.217 Man könnte natürlich verschiedene schwache Stellen in dieser Argumentation herauspicken, wie das die Kritiker von Lorenz’ Buch (zu denen auch ich gehöre)218 getan haben, aber trotzdem müßte man zugeben, daß sie einen wahren Kern enthält. Ohne uns in technische Details zu verlieren, können wir Lorenz’ Argument dahingehend umformulieren, daß mit Beginn der Herstellung von Waffen die Koordination von Instinkt und Intellekt ins Wanken geriet. Die Erfindung von Waffen und Werkzeugen war eine Schöpfung des Intellekts, des Neuhirns. Aber der Gebrauch, den man von diesen Waffen machte, wurde motiviert von Instinkt und Affekt – also vom alten Gehirn. Diesem alten Gehirn fehlten natürlich die Hemmungsmechanismen, die erforderlich gewesen wären, um mit diesen neuen Waffen umzugehen. Worauf also Lorenz’ Argumentation hinausläuft, ist einmal mehr die Feststellung: die Koordination zwischen den allzu rasch gewachsenen neuen Strukturen und den älteren Strukturen des Nervensystems ist in jeder Weise unzureichend.

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Das Bewußtsein der Macht, das der Gebrauch von Speer und Bogen dem Jäger verleiht, muß jedoch nicht zwangsläufig die Aggressivität gegenüber seinen Artgenossen erhöhen; es könnte sogar, wie das Beispiel der Eskimos und anderer Jägergemeinschaften zeigt, die genau entgegengesetzte Wirkung erzielen. Was die rein selbstbehauptenden Tendenzen des Individuums angeht, so ist in keiner Weise ersichtlich, warum der primitive Mensch nicht gelernt haben sollte, die neue Macht, die ihm Speer und Bogen verliehen, durch moralische Verantwortlichkeit zu kompensieren – durch ein Über-Ich, das auf seine Art ebenso wirksam hätte sein können wie die Instinkthemmungen gegen das Töten von Artgenossen bei anderen Lebewesen. Urteilt man nach dem anthropologischen Beweismaterial, dann haben sich derartige Tabus tatsächlich entwickelt – aber das Verbot beschränkte sich auf das Töten innerhalb der eigenen Sippe oder Gemeinschaft. Auf sonstige Artgenossen bezog es sich nicht. Das Unheil stammt nicht von der individuellen Aggressivität, sondern von der Hingabe an eine engbegrenzte Sozialgruppe, mit der sich das Individuum identifizierte und damit von allen anderen Sozialgruppen abgrenzte. Es ist der gleiche Vorgang, den wir vorher erörtert haben: die integrative Tendenz, in ihrer primitiven Form der Identifizierung, dient als Vermittler für die aggressiven Selbstbehauptungstendenzen des sozialen Holons. Anders ausgedrückt: beim Menschen sind die intraspezifischen Differenzen wichtiger geworden als die intraspezifische Verwandtschaft, und die Tötungshemmung, die sich bei anderen Lebewesen auf die gesamte Spezies bezieht, ist bei ihm nur innerhalb der Gruppe wirksam. Bei der Ratte entscheidet der Geruch darüber, wer als Freund und wer als Feind zu betrachten ist. Beim Menschen gibt es eine verhängnisvolle Vielzahl von Kriterien, vom Territorialbesitz bis zu ethnischen, kulturellen, religiösen, ideologischen Unterschieden, die darüber entscheiden, wer »stinkt« und wer »nicht stinkt«.

17.5 Der Fluch der Sprache Es gibt weitere Faktoren, die zur Tragödie beitragen. Der erste besteht in der ungeheuren Spannweite der intraspezifischen Unterschiede zwischen menschlichen Individuen, Rassen und Kulturen; zu dieser Vielfältigkeit gibt es bei keiner anderen Spezies eine Parallele. In Huxleys Liste der biologischen »Einzigartigkeiten« des Menschen figuriert dieser Reichtum an Variationen an erster Stelle. Wie er zustande gekommen ist, ist hier für uns nicht von Belang; das entscheidende ist, daß diese Unterschiede und Gegensätze einen machtvollen Faktor der gegenseitigen Abstoßung zwischen Sozialgruppen ergeben, so daß innerhalb unserer Spezies die Spaltungstendenzen stets stärker waren als die Kohäsivkräfte. Um noch einmal Konrad Lorenz zu zitieren: Es ist durchaus keine allzu gewagte Spekulation, wenn wir annehmen, daß die ersten echten Menschen, die wir aus der Vorgeschichte kennen, etwa die von Cro-Magnon, ziemlich genau dieselben Instinkte, dieselben natürlichen Neigungen hatten wie wir selbst, und weiters, daß sie sich im Aufbau ihrer Gemeinschaften und in zwischengemeinschaftlichen Auseinandersetzungen nicht allzu verschieden von gewissen heute noch lebenden Stämmen, etwa den Papuas in Zentral-Neuguinea, verhielten. Bei diesen steht jede der winzigen Siedlungen mit der benachbarten in dauerndem Kriegszustande und im Verhältnis eines milden gegenseitigen Kopfjagens; »milde« ist hier im Sinne von Margaret Mead so zu verstehen, daß man nicht organisierte Raubzüge zum Zwecke der Erwerbung der begehrten Männerköpfe unternimmt, sondern nur gelegentlich, wenn man an der Gebietsgrenze zufällig eine alte Frau oder ein paar Kinder trifft, deren Köpfe »mitgehen heißt«.219

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Die Leute aus der Nachbargemeinde erkannte man einfach nicht als Artgenossen an – ebenso wie die Griechen den stammelnden Barbaren, die Kirche den Heiden und die Nazis den »Untermenschen« den menschlichen Status aberkannten. A priori würde man erwarten, daß die Anfänge des abstrahierenden, begrifflichen Denkens, seine Kommunikation mit Hilfe der Sprache und seine Bewahrung durch schriftliche Aufzeichnungen – der Beginn von Teilhard de Chardins Noo-Sphäre – diesen brudermordenden und spezieszersetzenden Tendenzen entgegengewirkt hätten. In Wirklichkeit stellt das Klischee von der einigenden Kraft der menschlichen Sprache nur die halbe Wahrheit dar, und vielleicht nicht einmal das. In erster Linie muß man die triviale Tatsache betonen, daß die Sprache zwar die Kommunikation innerhalb der Gruppe erleichtert, daß sie aber gleichzeitig Kulturunterschiede kristallisiert und so die Barrieren zwischen verschiedenen Gruppen erhöht. Die Beobachtungen von Affensozietäten in freier Wildbahn, von denen ich oben gesprochen habe, haben gezeigt, daß auch Affengruppen der gleichen Spezies, die in verschiedenen Gegenden ansässig sind, die Tendenz zeigen, unterschiedliche Traditionen und »Kulturen« zu entwickeln – aber dieser Differenzierungsprozeß geht niemals so weit, daß es zu einem Konflikt kommt; hauptsächlich, so vermutet man, weil die separativen Sprachbarrieren fehlen. Beim Menschen dagegen sind die trennenden, gruppenentfremdenden Kräfte der Sprache auf allen Ebenen wirksam: Nationen, Stämme, Regionaldialekte, Gesellschaftsklassen, Berufsjargons. Bei den zwei Millionen Eingeborenen Neuguineas (die Margaret Mead in dem obigen Zitat erwähnt) werden 750 verschiedene Sprachen gesprochen. Seit der Steinzeit hat das Symbol des Turms zu Babel stets seine Gültigkeit behalten. Ist es nicht erstaunlich, daß in einer Zeit, in der Radiowellen und Telstars die Gesamtbevölkerung unseres Planeten erfassen, keine verantwortliche Körperschaft (sieht man von ein paar unentwegten Esperantisten ab) die Initiative ergriffen hat, eine Universalsprache einzuführen? Im Gegenteil, in Indien gibt es Straßenschlachten um den Vorrang von Maharati oder Gujurati, in Belgien um Flämisch oder Französisch,in Kanada um Französisch oder Englisch. Als eine emotional kranke Spezies besitzen wir die unheimliche Gabe, jeden Segen, einschließlich der Sprache, in einen Fluch zu verwandeln. Die größte Gefahr, die von der Sprache ausgeht, wurzelt jedoch nicht in ihrer separativen, sondern in ihrer magischen, hypnotischen und emotional beschwörenden Macht. Wörter können dazu dienen, Gedanken zu kristallisieren, verschwommene Intuitionen zu präzisieren. Sie können ebenso dazu dienen, irrationale Ängste und Begierden zu rationalisieren, dem üppigsten Aberglauben einen Anschein von Logik zu geben, den Phantasmagorien und Wahnvorstellungen des Althirns akademische Respektabilität zu verleihen. Schließlich können Wörter auch als Sprengladungen gebraucht werden, die Kettenreaktionen der Massenpsychologie auslösen. Alis Computer kann ebensogut Kants KRITIK DER REINEN VERNUNFT hervorsprudeln wie die heiseren Schreie eines Hitler. Ohne die Sprache, mit deren Hilfe wir religiöse und ideologische Doktrinen, geschlossene Glaubenssysteme, Schlagwörter und Manifeste formulieren, wären wir ebenso unfähig, intraspezifische Kriege zu führen, wie die armen Schimpansen. So formen sich die mannigfachen Gaben, die die Einzigartigkeit der menschlichen Spezies ausmachen, zu einem tragischen Geflecht, dem überall das gleiche Muster zugrunde liegt – die Schizophysiologie.

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17.6 Die Entdeckung des Todes Eines der dominierenden Motive in diesem Muster ist die Entdeckung des Todes – und die Weigerung, ihn zu akzeptieren. Diese Entdeckung ist das Werk des Neuhirns, die Weigerung sitzt im Althirn. Das instinktive Verhalten nimmt das Dasein als etwas selbstverständlich Gegebenes hin und verteidigt es mit Nägeln und Zähnen gegen alle Bedrohungen; es ist außerstande, sich das Nichtsein vorzustellen. Diese Weigerung ist eines der Leitmotive der Geschichte, das den Konflikt zwischen Glauben und Vernunft verewigt. In den ältesten primitiven Kulturen, bei den australischen Eingeborenen des vergangenen Jahrhunderts, »starb niemals jemand eines natürlichen Todes. Selbst der Tod eines Greises ist durch Hexerei verursacht, und das gleiche gilt auch für alle anderen Mißgeschicke, die einem zustoßen. Hatte ein Mensch einen tödlichen Sturz? Eine Hexe hat seinen Sturz verursacht. Ist jemand von einem Wildschwein angefallen oder von einer Schlange gebissen worden? Auch daran war ein Hexenmeister schuld. Er kann auch, durch Fernwirkung, eine Frau im Kindbett sterben lassen« (L Lévy-Bruhl).220 Die Weigerung, den Tod als ein natürliches und unwiderrufliches Ereignis zu akzeptieren, hatte zur Folge, daß sich die Welt mit Hexen, Gespenstern, Ahnengeistern, Göttern, Halbgöttern, Engeln und Teufeln bevölkerte. Die Atmosphäre war mit unsichtbaren Phantomen saturiert wie in einer Irrenanstalt.* 221

* Der Anthropologe F. M. Berger schreibt dazu: »Häufig wird behauptet, in der modernen Gesellschaft des Westens gebe es mehr Angstneurosen als bei den Primitiven. In Wirklichkeit aber berichtet Randal [1956], daß im Kongo und in anderen noch rückständigen Gebieten Afrikas die Angstneurosen zu den weitverbreitetsten und folgenschwersten psychiatrischen Erkrankungen zählen. Die im Waghital lebenden Papuas in Zentral-Neuguinea, die niemals über die Stufe der Steinzeitkultur hinausgekommen sind, leiden unter schwereren Angstneurosen als die Bevölkerung irgendeines modernen Industriestaates. Es gibt bei ihnen auch mehr Magengeschwüre als sonst irgendwo in der Welt.« (JJ. F. Montague, ULCERS IN PARADISE in Clinical Medicine, 7, 677 ff., 1960.)

Die meisten waren bösartig und rachsüchtig oder zumindest launenhaft, unberechenbar und in ihren Forderungen unersättlich. Man mußte sie verehren, umschmeicheln, sich geneigt machen und erpressen. Daher die abscheuliche Geste Abrahams, die Hekatomben von Menschenopfern in der Morgenröte der Zivilisation, die gottgefälligen Massaker von damals bis heute. In allen Mythologien ist jenes Morgenrot von Furcht, Beklemmung und Schuldgefühlen begleitet, dramatisiert durch gefallene Engel, den Sündenfall des Menschen, Sintfluten und Katastrophen; und auch von tröstlichen Versprechungen für ein Leben im Jenseits – bis schließlich auch diese Tröstung durch die Androhung ewiger Qualen vergiftet wurde. Und immerzu spielte die Vernunft die Rolle der willigen Konkubine des Glaubens, der perversen Wahnvorstellungen, die das Althirn ausbrütete. Natürlich hat dieses Bild auch eine Kehrseite. Die Weigerung, die Endgültigkeit des Todes zu akzeptieren, ließ Tempel und Pyramiden im Wüstensand entstehen; sie inspirierte die Kunst von der griechischen Tragödie bis zu den Gemälden der Renaissance, der Musik Bachs und den Sonetten John Donnes. Aber welch furchtbaren Preis haben wir für diesen Glanz bezahlen müssen! Ein alter Glaube besagt, Fluch und Segen seien untrennbar miteinander verbunden, das eine sei die Voraussetzung des anderen; um malen zu dürfen wie van Gogh, muß man sich ein Ohr abschneiden. Dieser Glaube ist symptomatisch für den schuldbeflissenen Geist, dem es niemals gelingt, mit dem himmlischen Steuereinnehmer quitt zu werden.

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17.7 Zusammenfassung Die Entwicklung des menschlichen Neocortex ist das einzige Beispiel dafür, daß die Evolution eine Spezies mit einem Organ versieht, das diese nicht zu verwenden weiß. Die Nutzbarmachung der potentiellen Möglichkeiten dieser evolutionären Neuerwerbung wurde während der gesamten Vorgeschichte und Geschichte des Menschen von den affektgebundenen Aktivitäten der phylogenetisch älteren Strukturen im Nervensystem blockiert. Unzureichende Koordination zwischen den älteren und den neueren Gehirnstrukturen brachte das Gleichgewicht zwischen Instinkt und Intellekt ins Wanken. Die weitreichenden intraspezifischen Unterschiede zwischen Individuen, Rassen und Kulturen verursachten gegenseitige Abstoßung. Die Sprache verstärkte die Kohäsion innerhalb der Gruppen und erhöhte die Barrieren zwischen den Gruppen. Die Entdekkung des Todes durch den Intellekt und seine Leugnung durch den Instinkt wurden zu einem Paradigma für den gespaltenen Geist.

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18

Die Jahre der Entscheidung Ich komme aus einem Land, das noch nicht existiert. I. Craveirinha

18.1 Der Angelpunkt der Geschichte Die heute lebende Generation ist der Angelpunkt der Geschichte ... Wir befinden uns gegenwärtig in einer Zeitperiode, in der sich die rapideste Veränderung in der gesamten Evolution des Menschengeschlechtes vollzieht, die es je in der Vergangenheit gegeben hat oder je in Zukunft geben wird ... Die Welt ist so gefährlich geworden, daß nur noch die Utopie sie retten kann.222 Diese Worte schrieb der zeitgenössische amerikanische Biophysiker J. R. Platt. Ähnliche Warnungen haben wir schon früher vernommen – von Jesaia, Jeremias, Kassandra, im Buch der Apokalypse, durch alle Jahrhunderte hindurch, über Augustinus, die Propheten des Millenniums bis zu Oswald Spengler und Lenin. In jedem Jahrhundert gab es zumindest eine Generation, die sich schmeichelte, »der Angelpunkt der Geschichte« zu sein, in einer Zeit zu leben, wie es sie nie vorher gegeben hat, und auf das Trompetensignal des Jüngsten Gerichtes zu warten oder auf sein säkulares Äquivalent. Man erinnert sich auch an jenen unvergeßlichen Charakter James Thurbers, der im Nachthemd barfuß durch die dunklen Straßen seiner Heimatstadt rannte und die Leute mit dem schauerlichen Ruf weckte: »Fertigmachen! F-fertigmachen! Die Wällt geht unter-r-r!« Mit Kassandrarufen über die Einzigartigkeit der Zeit, in der man gerade lebt, sollte man also vorsichtig sein. Trotzdem gibt es mindestens zwei gute Gründe, die die Ansicht rechtfertigen, die Menschheit befinde sich gegenwärtig in einer Krise, die nach Wesen und Ausmaß in der gesamten bisherigen Geschichte ohne Beispiel ist. Der erste Grund ist quantitativer, der zweite qualitativer Art. Der erste betrifft die Störung des ökologischen Gleichgewichts. Die Folgen, die sich daraus ergeben, hat Sir Gavin de Beer in einem Artikel zur Zweihundertjahrfeier von Malthus zusammengefaßt: Gehen wir eine Million Jahre bis zu den Hominiden zurück, oder auch nur 250.000 Jahre bis zum Swanscombe-Menschen im Mittelpleistozän, dann nimmt sich die Bevölkerungskurve wie ein startendes Flugzeug aus: die meiste Zeit über schwebt sie knapp über der Zeitachse entlang; dann, etwa um 1600 n. Chr., wird das Fahrgestell eingezogen, und sie beginnt rasch emporzusteigen; heute steigt sie nahezu vertikal in die Höhe, wie eine Rakete von ihrer Abschußrampe. Eine Million Jahre waren erforderlich, um eine Bevölkerungszahl von dreieinviertel Milliarden zu erreichen – nur rund dreißig Jahre sind jetzt nötig, um diese Zahl zu verdoppeln!223 Um etwas präziser zu sein: Historiker schätzen, daß die Weltbevölkerung zu Beginn des christlichen Zeitalters rund 250 Millionen Menschen ausmachte. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sie sich auf etwa 500 Millionen verdoppelt. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sie sich abermals verdoppelt und erreichte zum erstenmal die Milliardengrenze. Zu diesem Zeitpunkt griffen Pasteur, Lister und Semmelweis in das ökologische Gleichgewicht unserer Spezies ein, indem sie den Mikroorganismen in unserer Umwelt den Kampf ansagten – eine Tat, die weitreichendere Folgen hatte als alle technischen Erfindungen von James Watt, Edison und den Gebrüdern Wright zusammen. 211

Aber das Unheil, das sie unwissentlich heraufbeschworen, machte sich erst ein Jahrhundert später bemerkbar. Bis 1925 hatte sich die Weltbevölkerung erneut verdoppelt: auf zwei Milliarden. 1965 betrug sie weit über drei Milliarden, und der Verdoppelungszeitraum war von 1500 Jahren auf 35 Jahre zusammengeschrumpft.224 Diese Zahl basiert auf einer jährlichen globalen Zuwachsrate von durchschnittlich 2 Prozent – 1,6 bis 1,8 Prozent bei den Industrienationen und 3 Prozent oder mehr bei einer Anzahl von Völkern mit geringerer Einkommensstufe. So wird zum Beispiel Indien, das 1965 eine Bevölkerung von 450 Millionen hatte, bei Anhalten der gegenwärtigen Zuwachsrate im Jahre 2000 bereits 900 Millionen Menschen zu ernähren haben. Selbst für die relativ kurze Zeitspanne von 15 Jahren – 1965 bis 1980 – wäre pro Morgen des zur Zeit bestellten Ackerbaulandes eine Ertragssteigerung um mindestens 50 Prozent erforderlich, um mit der erwarteten Bevölkerungszunahme Schritt halten zu können; L. R. Brown vom Landwirtschaftsministerium der Vereinigten Staaten schätzt, »daß zusätzlich 24 Millionen Tonnen Düngemittel pro Jahr erforderlich wären, um dieses Ziel zu erreichen, aber in der ganzen Welt beträgt die Jahresproduktion von Düngemitteln nur 28,6 Millionen Tonnen«.225 Die Bevölkerungszahl Chinas, die 1966 750 Millionen betrug, wird, wenn die gegenwärtige Tendenz anhält, gegen Ende des Jahrhunderts etwa die Gesamtzahl der Weltbevölkerung um 1900 erreichen. Diese Bevölkerungsexplosion wird begleitet von einer »Implosion« von Zuwanderern aus ländlichen Bezirken in die Städte, »die nicht durch die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes angezogen werden, sondern von der verzweifelten Hoffnung, Gelegenheitsarbeit zu finden oder staatliche Fürsorgeunterstützung zu erhalten ... Kingsley Davis schätzt, daß die größte Stadt Indiens, Kalkutta, im Jahre 2000 zwischen 36 und 66 Millionen Einwohner haben wird. Kalkutta, sich über Hunderte von Quadratkilometern ausbreitend, mit einer unzureichend beschäftigten Bevölkerung von 66 Millionen Einwohnern: das bedeutet eine Anhäufung von Leid und Elend, die nur zu explosiven Folgen führen kann«.226 Für unseren Planeten in seiner Gesamtheit bestehen etwa folgende Aussichten: 7 Milliarden Menschen im Jahre 2000, 14 Milliarden im Jahre 2035 und 25 Milliarden in genau 100 Jahren (siehe Abbildung 13). »Aber«, so stellt ein nüchterner Bericht der Ford Foundation fest, »angesichts einer solchen Bevölkerungsentwicklung ist es unvermeidlich, daß schon lange vor diesem Zeitpunkt die vier Reiter der Apokalypse in Aktion treten.«227 Wieviel Menschen kann unser Planet ernähren? Nach Colin Clark, einem der führenden Experten auf diesem Gebiet, rund 12 bis 15 Milliarden – jedoch nur unter der Voraussetzung, daß die Methoden der Bodenbestellung und der Erhaltung des Ackerlandes in der ganzen Welt auf den hohen Standard gebracht werden, wie er zur Zeit in den Niederlanden besteht. Das ist natürlich eine Utopie; doch selbst unter diesen optimalen Bedingungen würde bereits in den ersten Jahrzehnten des kommenden Jahrhunderts die gesamte Nahrungsmittelproduktion der Erde nicht mehr imstande sein, die Weltbevölkerung zu ernähren. Man kann natürlich einwenden, daß Voraussagen auf Grund der gegenwärtigen Zuwachsrate der Bevölkerungsentwicklung sehr unzuverlässig sind. Das ist unsere größte Hoffnung; aber seit dem letzten Krieg hat diese Unzuverlässigkeit ständig für die Pessimisten gearbeitet: der tatsächliche Bevölkerungszuwachs überschreitet die maximalen Voraussagen. Außerdem treten die großen Überraschungen (wie die Stabilisierung der japanischen Bevölkerungszahl um 1949 infolge der Legalisierung der Abtreibung) stets in hochentwickelten Ländern auf, die bereits eine geregelte Familienplanung betrieben, ehe die modernen empfängnisverhütenden Mittel auf den Markt kamen, und die daher imstande waren, die Voraussagen der Statistiker über den Haufen zu werfen, indem sie die Anzahl ihrer Babies den wirtschaftlichen und psychologischen Gegebenheiten an212

paßten. Im Gegensatz zu Japan – dem einzigen asiatischen Land mit westlichem Bildungsniveau – haben in Indien 15 Jahre intensiver Werbung für die Geburtenkontrolle praktisch zu keinem Ergebnis geführt. Gerade die Völker in Asien, Afrika und Südamerika, die sich am raschesten vermehren, sind von Natur aus einer geordneten Familienplanung am wenigsten zugänglich. Sie machen drei Viertel der Erdbevölkerung aus, und sie bestimmen das Tempo der Vermehrung.

Abbildung 13: Bevölkerungskurve vom Beginn des christlichen Zeitalters an, extrapoliert bis zum Jahre 2035 n. Chr.

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All das ist schon oft gesagt worden, und ständige Wiederholung hat eine abstumpfende Wirkung. Die Öffentlichkeit weiß wohl, daß ein solches Problem besteht, sie ist sich aber weder seiner Größe noch seiner Dringlichkeit bewußt; und auch nicht der Tatsache, daß wir einem dramatischen Höhepunkt zusteuern, von dem wir nicht Jahrhunderte, sondern nur noch wenige Jahrzehnte entfernt sind. Ich will damit nicht sagen, daß die Situation hoffnungslos sei, sondern daß sie in der Tat einzigartig ist, völlig ohne Beispiel in der Geschichte der Menschheit. De Beers Parabel vom Flugzeug, das Tausende von Kilometern knapp über dem Erdboden dahingleitet und dann plötzlich wie eine Rakete steil in den Himmel emporschießt, soll das illustrieren, was die Mathematiker als »Exponentialkurve« bezeichnen (siehe Abbildung 13). Die Kurve müßte eigentlich nach links hin – in die Vergangenheit hinein – viele Kilometer lang fortgeführt werden, in deren Verlauf ihr Anstieg nur durch ein Mikroskop erkennbar wäre. Nun kommt der kritische Augenblick, in welchem Pasteur und Genossen die Bremsen entfernten. Die Bremsen sind natürlich das Symbol für die hohe Sterblichkeitsziffer, die dem »Auftrieb« der Geburtenzahl entgegenwirkte, so daß die Kurve horizontal blieb. Es dauerte etwa einhundert Jahre – das ist etwas mehr als ein Zentimeter auf unserer Skala –, bis die Folgen offenbar wurden; von nun an steigt die Kurve immer steiler an, bis sie schließlich in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts wie eine Rakete in den Himmel schießt. Unsere Spezies benötigte rund hunderttausend Jahre, um ihre erste Milliarde von Individuen in die Welt zu setzen. Heute fügen wir alle zwölf Jahre eine weitere Milliarde hinzu. Wenn die gegenwärtige Tendenz anhält, wird in den ersten Jahrzehnten des kommenden Jahrhunderts alle sechs Jahre eine weitere Milliarde dazukommen, danach alle drei Jahre und so fort. Aber schon lange bevor es so weit kommt, muß de Beers tolles Flugzeug abstürzen. Eine Exponentialkurve spiegelt einen Prozeß, bei dem die Bremsen nicht mehr funktionieren, der außer Kontrolle geraten ist. Selbst der Zeichner, der die Kurve weiter in die Zukunft verlängern wollte, müßte sich bald geschlagen geben, denn bei einer immer steiler ansteigenden Kurve muß ihm das Papier ausgehen – ebenso wie der Welt die Nahrungsmittel ausgehen müssen, der Lebensraum, die Meeresküsten und Wiesen, die Intimität und die lächelnden Gesichter. Die unheimlichen Eigenschaften von Exponentialkurven spiegeln die Einzigartigkeit unserer Zeit gut wider, und das gilt nicht nur für die Bevölkerungsexplosion, sondern auch für die Explosion in den Bereichen der Krafterzeugung, der Kommunikationen, des Wissens. Nehmen wir den letzten Punkt zuerst. Dr. Ian Morris vom University College schreibt: Gemessen am Personalstand sowie an der Anzahl wissenschaftlicher Zeitschriften und wissenschaftlicher Abhandlungen, wächst die Wissenschaft exponential mit einer Verdoppelungszeit von etwa fünfzehn Jahren. Abbildung 1 zeigt die Zunahme der wissenschaftlichen Zeitschriften, seit sie 1665 erstmals zu erscheinen begannen ... Die Abbildung, auf die er sich bezieht, ist eine Exponentialkurve wie die unsere; sie zeigt, daß es im Jahre 1700 weniger als zehn wissenschaftliche Zeitschriften in der Welt gab, 1800 waren es etwa einhundert, im Jahre 1850 rund eintausend, 1900 mehr als zehntausend, nach dem Ersten Weltkrieg rund hunderttausend, und für das Jahr 2000 erwartet man, daß die Anzahl der wissenschaftlichen Zeitschriften die Millionengrenze erreicht. Das gleiche Bild ergibt sich, wenn man die Zahl der Wissenschaftler und der wissenschaftlichen Abhandlungen nachrechnet, und das gilt im fast gleichen Maße für die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen. Während der letzten fünfzehn Jahre kam die Anzahl der tätigen Wissenschaftler der Gesamtsumme aller Wissenschaftler 214

gleich, die in der Vergangenheit lebten und wirkten. Auf ähnliche Art läßt sich zeigen, daß 90 Prozent aller wissenschaftlichen Arbeiten, die jemals unternommen worden sind, in den Zeitraum der letzten fünfzig Jahre fallen.228 Die United States Education Authority setzt die Verdoppelungszeit des Forschungsvolumens seit dem Jahre 1950 sogar noch niedriger an, nämlich mit zehn Jahren.229 Wenden wir uns nun dem Bereich der Energie zu. Auch hier verläuft die Kurve vom Zeitalter des Cro-Magnon-Menschen bis zu der Zeit vor etwa fünftausend Jahren fast völlig flach. Mit der Erfindung des Hebels, des Flaschenzuges und ähnlich einfacher mechanischer Apparate wurde die Muskelkraft des Menschen etwa um das Fünf- bis Zehnfache verstärkt; dann verläuft die Kurve erneut für lange Zeit nahezu horizontal, bis zur Erfindung der Dampfmaschine und dem Beginn der Industriellen Revolution vor knapp zweihundert Jahren. Von da ab wiederholt sich der gleiche Vorgang wie oben: der Aufstieg wird steiler und steiler, bis er schließlich in die raketenähnliche Phase übergeht. Der Exponentialzuwachs im Tempo der Nachrichtenübermittlung oder in der Bewältigung des Erden- und des Weltenraumes ist zu gut bekannt, als daß man ihn noch besonders betonen müßte; doch das folgende Beispiel ist vielleicht weniger geläufig. Gegen Ende der 1920er Jahre waren wir imstande, den Atomteilchen eine Energie von etwa einer halben Million Elektronenvolt mit auf den Weg zu geben; in den 1930er Jahren konnten wir sie auf 20 Millionen Elektronenvolt bringen, und um 1950 auf etwa 500 Millionen Elektronenvolt; während ich diese Zeilen schreibe, befindet sich ein Akzelerator von 50.000 Millionen Elektronenvolt im Bau. Aber lebendiger als alle Statistiken ist für mich eine Episode aus dem Jahre 1930, als ich fast meine Stellung als wissenschaftlicher Redakteur verlor, weil entrüstete Proteste gegen einen von mir verfaßten Artikel einliefen, in welchem ich von der Raumschiffahrt »noch zu unseren Lebzeiten« sprach. Und ein oder zwei Jahre vor dem Start des ersten Sputniks traf Großbritanniens Hofastronom die unsterbliche Feststellung: »Raumfahrt ist purer Blödsinn.« Unsere Einbildungskraft ist bereit, zu akzeptieren, daß die Welt sich verändert, aber unfähig, das Tempo zu akzeptieren, in welchem die Veränderung vor sich geht, und es in die Zukunft zu extrapolieren. Der Verstand bockt angesichts einer Exponentialkurve, wie Pascal zurückschreckte, als im Kopernikanischen Universum die Unendlichkeit ihren Rachen aufriß: »Le silence éternel de ces espaces infinis m’eifraie.« Das ist die Situation, in der auch wir uns befinden. Wir haben nicht mehr den Mut, in die Zukunft zu extrapolieren – teils, weil wir uns fürchten, doch größtenteils, weil unsere Einbildungskraft dazu nicht ausreicht.

18.2

Zwei Kurven

Aber wir können wenigstens über unsere Schultern hinweg in die Vergangenheit zurückblicken und das eben erörterte Diagramm, das den explosiven Zuwachs der Bevölkerung, des Wissens, der Energie und der Kommunikationen anzeigt, mit einer anderen Art von Diagramm vergleichen, auf welchem Fortschritt in den Bereichen der sozialen Ethik, der persönlichen Moral, der Geistigkeit und verwandter Wertkategorien abzulesen ist. Auf diesem Diagramm erblicken wir eine Kurve von völlig anderer Form. Auch sie bleibt im Verlauf der prähistorischen Strecke fast flach, mit einem kaum wahrnehmbaren Anstieg; dann schwankt sie währrnd der Geschichte der sogenannten zivilisierten Welt unschlüssig auf und ab; doch kurz nachdem die Exponentialkurven ihren steilen Anstieg beginnen, zeigt die »ethische Kurve« eine entscheidende Abwärtstendenz, gekennzeichnet durch zwei Weltkriege, durch Massenmorde mehrerer Diktatoren und durch eine neue Synthese des Terrors und der Indoktrination, die ganze Kontinente physisch und geistig zu versklaven vermag. 215

Der Kontrast zwischen den beiden Kurven vermittelt eine zwar simplifizierte, keinesfalls aber überdramatisierte Version unserer Geschichte. Er stellt die Konsequenzen des gespaltenen Geistes dar. Die Exponentialkurven sind alle, auf diese oder jene Art, Werke des Neuhirns; sie sind die explosiven Resultate davon, daß wir nun endlich begonnen haben, Alis wunderbaren Computer gebrauchen zu lernen, der die langen Jahrtausende unserer Vorgeschichte hindurch brachlag. Die andere Kurve repräsentiert die paranoische Strähne in uns, unsere unverminderte Hingabefähigkeit an Wahnvorstellungen und affektgeladene Glaubenssysteme, die vom Althirn beherrscht sind. Um noch einmal Bertalanffy zu zitieren: Was man allgemein als menschlichen Fortschritt bezeichnet, ist eine rein intellektuelle Angelegenheit, die durch das enorme Wachstum unseres Vorderhirns ermöglicht wurde. Dadurch war der Mensch imstande, die Symbolwelten der Sprache und des Denkens aufzubauen und während der fünf Jahrtausende dokumentarisch belegter Geschichte einige Fortschritte in den Bereichen der Wissenschaft zu machen. Im moralischen Bereich dagegen zeichnet sich keine besondere Entwicklung ab. Es erscheint zumindest zweifelhaft, ob die Methoden der modernen Kriegführung den großen Steinen vorzuziehen sind, mit denen der Neandertaler seinem mißliebigen Nachbarn den Schädel einschlug. Es läßt sich nicht leugnen, daß der moralische Standard von Laotse und Buddha dem unsrigen keinesfalls unterlegen war. Der menschliche Cortex enthält etwa zehn Milliarden Neuronen, die den Fortschritt von der Steinaxt zum Flugzeug und zur Atombombe, von der primitiven Mythologie bis zur Quantentheorie ermöglicht haben. Im Bereich unserer Instinkte gibt es aber keine vergleichsweise Entwicklung, die den Menschen zu einer moralischen Besserung antriebe. Aus diesem Grund haben sich auch die Moralpredigten, die durch die Jahrhunderte hindurch der Menschheit von Religionsgründern und edlen Führern vorgesetzt wurden, als bemerkenswert unwirksam erwiesen.230 Ein weiteres Beispiel für die Kluft, die zwischen unserer Entwicklung im intellektuellen und im emotionalen Bereich besteht, liefert der Kontrast zwischen Kommunikation und Kooperation. Der Fortschritt im Bereich der Kommunikationsmittel läßt sich ebenfalls durch eine Exponentialkurve wiedergeben; in einem einzigen Jahrhundert erlebten wir die Erfindung von: Dampfschiff, Eisenbahn, Auto, Luftschiff, Flugzeug, Rakete und Raumschiff; von Telegraph, Telephon, Grammophon, Radio, Tonband und Radar; von Photographie, Film, Fernsehen, Telstar ... In dem Monat, in welchem ich geboren wurde, gelang es den Gebrüdern Wright in Kitty Hawk in North Carolina zum erstenmal, mit ihrem Flugapparat eine volle Minute lang in der Luft zu bleiben; heute bestehen gute Aussichten dafür, daß wir noch zu meinen Lebzeiten auf dem Mond und vielleicht sogar auf dem Mars gelandet sein werden. Keine andere menschliche Generation hat je einen solchen Wandel miterlebt. Innerhalb der Lebensspanne dieser Generation ist unser Planet auf liliputanische Proportionen zusammengeschrumpft, so daß wir ihn statt der 80 Tage Jules Vernes in 30 Minuten umkreisen können. Was aber die zweite Kurve betrifft, so hat die Überbrükkung der Entfernung zwischen den Nationen sie nicht »näher« zueinander gebracht, eher ist das Gegenteil der Fall. Vor der Kommunikationsexplosion reiste man zwar recht langsam, aber es gab keinen Eisernen Vorhang, keine Berliner Mauer, keine Minenfelder im Niemandsland und nur wenige Beschränkungen für Ein- und Auswanderung. Heute ist es einem Drittel der Menschheit nicht gestattet, das eigene Land zu verlassen. Man könnte fast sagen, der Fortschritt im Bereich der Kooperation erfolgte im umgekehrten Verhältnis zum Fortschritt im Bereich der Kommunikation. Die Eroberung der Luft verwandelte den begrenzten in den totalen Krieg; die Massenmedien wurden des Demagogen Instrumente zum Schüren des Hasses; und selbst zwischen so engen 216

Nachbarn wie England und Frankreich hat die Zunahme des Touristenverkehrs kaum zur Förderung des gegenseitigen Verstehens beigetragen. Es hat einige positive Fortschritte gegeben, wie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft; aber sie sind winzig im Vergleich zu den furchtbaren Erdrissen, die unseren Planeten in drei große und zahllose kleine, feindlich isolierte Lager aufspalten. Der Grund dafür, daß ich diese nur allzu gut bekannten Tatsachen hier noch einmal durchkaue, ist der, zu zeigen, daß sie alle dem gleichen Prinzip folgen. Die Sprache, die hervorragendste Errungenschaft des Neocortex, ist eher zu einem trennenden als zu einem einigenden Faktor geworden und hat die intraspezifischen Spannungen verschärft; der Fortschritt im Kommunikationsbereich zeigt die gleiche Tendenz, Segen in Fluch zu verwandeln. Selbst auf dem ästhetischen Gebiet haben wir es fertiggebracht, den luminiszenten Ather zu besudeln, so wie wir die Luft, die Flüsse und die Meeresküsten besudelt haben; man dreht an seinem Radioapparat herum, und von überallher in der Welt strömt statt der Harmonie der Sphären eine Art musikalischer Latrinenjauche auf uns ein. Von allen Exponentialkurven ist die bestbekannte diejenige, die sich auf die Zunahme der Zerstörungskraft bezieht. Um so kurz wie möglich zusammenzufassen: Nach dem Ersten Weltkrieg haben Statistiker berechnet, daß man im Durchschnitt 10.000 Gewehrkugeln oder zehn Artilleriegeschosse benötigt, um einen einzigen feindlichen Soldaten zu töten. Die Fliegerbomben wogen ein paar Kilo. Im Zweiten Weltkrieg hatten sie eine Zerstörungskraft von 20 Tonnen TNT. Die erste Atombombe hatte die Wirkung von 20.000 Tonnen TNT; die erste Wasserstoffbombe, zehn Jahre später, die von 20 Millionen Tonnen TNT. Zur Zeit erzeugen wir Bomben mit einer Wirkung von 100 Millionen Tonnen TNT; und es gibt Gerüchte über »eine ›Gigaton-Bombe‹ mit der Zerstörungskraft von einer Milliarde Tonnen TNT. Ließe man eine solche Bombe etwa hundert Meilen vor der Küste der Vereinigten Staaten detonieren, so würde sie immer noch eine zwanzig Meter hohe Flutwelle auslösen, die einen Großteil des amerikanischen Kontinents überrennen würde ... Man spricht auch schon von einer Kobaltbombe, nach deren Detonation eine tödliche Wolke in aller Ewigkeit um den Erdball kreisen würde«.231

18.3 Der neue Kalender Ich habe vorhin gesagt, es gebe zwei Gründe, die uns dazu berechtigen, die Zeit, in der wir jetzt leben, als »einzigartig« zu bezeichnen. Der erste ist quantitativer Natur und drückt sich im Exponentialzuwachs der Bevölkerungszahl, der Kommunikationstechnik, der Zerstörungskraft und so weiter aus. Auf Grund dieser Faktoren würde ein außerirdisches Wesen, für das Jahrhunderte wie Sekunden sind und das imstande ist, die Gesamtkurve mit einem einzigen Blick zu übersehen, vermutlich zu der Schlußfolgerung gelangen, die irdische Zivilisation sei entweder im Begriff zu explodieren oder sei bereits in der Explosion begriffen. Der zweite Grund ist qualitativer Natur und läßt sich in einem Satz zusammenfassen: Vor der Wasserstoffbombe mußte der Mensch mit dem Gedanken an seinen Tod als Individuum leben, von jetzt ab muß die Menschheit mit dem Gedanken an den Tod der Spezies leben. Die Bombe hat uns die Möglichkeit gegeben, globalen Selbstmord zu begehen; schon in wenigen Jahren werden wir die Macht haben, unseren Planeten in eine Nova zu verwandeln, einen explodierenden Stern. Jedes Zeitalter hat seine Kassandras gehabt, und wir haben trotz ihrer düsteren Prophezeiungen überlebt. Doch dieser tröstliche Gedanke hat seine Gültigkeit verloren, denn kein vergangenes Zeitalter, wie sehr es auch von Krieg und Pestilenz verheert worden sein mag, besaß unsere neu erworbene Macht, dem Leben auf dem gesamten Planeten ein Ende zu bereiten. 217

Die volle Tragweite dieser Tatsache ist bisher noch nicht einmal den eifrigsten Pazifisten bewußt geworden. Man hat uns immer gelehrt, die Vergänglichkeit des Einzelnen zu akzeptieren, dagegen der Menschheit als Ganzes unbegrenzte Dauer zuzuschreiben. Und das war eine durchaus plausible Annahme, solange nicht irgendeine – höchst unwahrscheinliche – kosmische Katastrophe eintrat. Aber sie hörte auf, eine plausible Annahme zu sein, mit dem Tag, als die Möglichkeit der Herbeiführung einer Katastrophe von kosmischen Ausmaßen experimentell geprüft und bewiesen wurde. Damit wurde das Fundament zertrümmert, auf dem alle philosophischen Systeme seit Sokrates beruhten: die potentielle Unsterblichkeit unserer Spezies. Neue Einsichten revolutionärer Natur können nicht von heute auf morgen assimiliert werden, sie brauchen eine Inkubationsfrist. Die Lehre des Kopernikus vom Kreislauf der Erde um die Sonne mußte achtzig Jahre lang warten, ehe sie Wurzel faßte. Das Unbewußte hat seine eigene Kontrolluhr und seine eigene Methodik, Dinge zu verdauen, die der bewußte Geist als unverdaulich verworfen hat. Die Führer der Französischen Revolution waren sich dessen wohl bewußt; um den Verdauungsprozeß zu beschleunigen, führten sie einen neuen Kalender ein, der mit dem Tag der Proklamation der Republik in Kraft trat: der 22. September 1792 wurde zum 1. Vendemiaire des Jahres 1. Es wäre sicherlich keine schlechte Idee, wenn wir alle, zumindest im Geiste, einen zweiten Kalender einführten, der mit dem Jahr beginnt, in welchem der neue Stern von Bethlehem über Hiroschima aufging. Kalender drücken den Glauben an die fundamentale Bedeutung bestimmter Ereignisse aus: die ersten Olympischen Spiele, die Gründung der Stadt Rom, die Geburt Christi, die Flucht Mohammeds aus Mekka. Mit der Fixierung eines Jahres Null setzt man einen Zeitmaßstab, eine Skala, an der man das Alter einer Kultur ablesen kann, seine Distanz von ihrem realen oder imaginären Anfangspunkt. So schreibe ich also heute im Jahre 22 n.H. – nach Hiroschima. Denn es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß mit diesem Jahr eine neue Ära begonnen hat. Das Menschengeschlecht sieht sich mit einer Herausforderung konfrontiert, für die es in der Geschichte kein Beispiel gibt – und die nur durch Maßnahmen von gleich beispielloser Art bewältigt werden kann. Die erste Hälfte des vorausgehenden Satzes wird heute mehr oder minder allgemein akzeptiert, für die zweite trifft das nicht zu. Selbst die denkende Minderheit glaubt immer noch, eine völlig neuartige Gefahr dieser Dimension lasse sich mit Hilfe von traditionellen Hausrezepten abwenden, mit Appellen an Gutmütigkeit und gesunden Menschenverstand. Dergleichen Appelle sind machtlos gegen die militanten Ideologien geschlossener Systeme, deren Anhänger ehrlich überzeugt sind – wie ein Professor der Universität Peking kürzlich schrieb –, »daß die Achtung vor den Fakten und vor der Meinung anderer Leute wie Ungeziefer aus der Seele des Menschen getilgt werden muß«.232 Alle Bemühungen, die Menschheit durch rationale Argumente zur Vernunft zu bringen, basieren auf der stillschweigenden Annahme, es handle sich beim homo sapiens – auch wenn Emotionen gelegentlich seinen Blick trüben – doch um ein im Grunde rationales Lebewesen, das sich der Motive seiner eigenen Handlungen und Überzeugungen bewußt sei – eine Annahme, die angesichts des historischen und neurologischen Beweismaterials nicht mehr länger haltbar ist. Die wohlmeinenden Appelle fallen auf unfruchtbaren Boden; sie könnten nur dann Wurzel fassen, wenn sich vorher eine spontane Wandlung der menschlichen Mentalität ereignet hätte – das Äquivalent einer biologischen Mutation. Dann, und nur dann würde die Menschheit, von ihren politischen Führern bis hinab zur »einsamen Masse«, für rationale Argumente empfänglich werden und willens sein, zu jenen unorthodoxen Maßnahmen zu greifen, die erforderlich sind, um die Krise zu überwinden. Es ist im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß eine solche geistige Mutation in der voraussehbaren Zukunft spontan eintreten wird; hingegen ist es höchst wahrscheinlich, 218

daß der Funke, der die Kettenreaktion auslöst, früher oder später gezündet wird, sei es mit Absicht oder durch Zufall. Da die Apparaturen der atomaren und der biologischen Kriegführung immer wirkungsvoller werden und immer leichter herzustellen sind, ist es ganz unvermeidlich, daß sie sich unter jungen und unreifen Nationen bald ebenso ausbreiten werden wie unter alten und überreifen. Was einmal erfunden ist, kann nicht »zurückerfunden« werden: die Bombe bleibt uns erhalten. Die Menschheit muß für immer mit ihr leben, und zwar nicht nur durch die nächste und übernächste Krise hindurch, sondern für immer; nicht nur für die nächsten zwanzig oder zweihundert oder zweitausend Jahre, sondern für immer. Sie ist zu einem Daseinsfaktor geworden. In den ersten zwanzig Jahren der Nach-Hiroschima-Ära – 1946 bis 1966 nach konventioneller Kalenderrechnung – haben wir, wie bereits erwähnt, nach den Aufstellungen des Pentagons vierzig »kleinere« Kriege und Bürgerkriege geführt.233 Mehr als die Hälfte von ihnen waren Konflikte zwischen Kommunisten und Nichtkommunisten (China, Griechenland); bei den übrigen handelte es sich entweder um »antikoloniale« Kriege (Algerien, Indochina), »imperialistische Abenteuer« (Suez, Ungarn) oder um »klassische« Kriege zwischen Nachbarn (Indien – Pakistan, Israel – Araber). Dabei enthält die Pentagonliste keine der zahlreichen Krisen, wie die Berliner Blockade von 1950, oder Staatsstreiche, wie den Prager Fenstersturz von 1948. Ein französischer Diplomat hat bemerkt: »Es gibt nicht mehr so etwas wie Krieg und Frieden, sondern nur noch verschiedene Stufen der Konfrontation.« Diese Kriege und Bürgerkriege wurden mit konventionellen Waffen ausgefochten, meist von atomaren Habenichtsen. Aber mindestens bei zwei Gelegenheiten standen wir am Rand des Atomkrieges – Berlin 1950 und Kuba 1962; und all das geschah in den ersten beiden Jahrzehnten seit dem Jahr Null n.H. Extrapoliert man diese Daten in die Zukunft, dann nähert sich die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe allmählich der statistischen Gewißheit. Ein weiterer gravierender Faktor ergibt sich daraus, daß die atomaren Geräte, wie alle anderen Apparate auch, einen fortschreitenden Miniatisierungsprozeß durchmachen werden: sie werden kleiner und leichter herzustellen sein, so daß auf weite Sicht eine wirksame globale Kontrolle ihrer Herstellung schon allein aus diesen Gründen nicht durchführbar sein wird; in voraussehbarer Zukunft wird man sie vom eisigen Alaska bis nach dem sonnigen Kairo fabrizieren und lagern. Man könnte ebensogut eine Bande von schlimmen Buben in ein Zimmer sperren, das mit feuergefährlichem Material angefüllt ist, sie mit Streichhölzern ausstatten und dann freundlich warnen, die Hölzchen nicht zu benutzen. Gewisse Sozialwissenschaftler haben in der Tat geschätzt, daß (ich zitiere hier nochmals J. R. Platt) ... unsere »Halbwertzeit«* unter diesen Umständen – das heißt, die vermutliche Anzahl der Jahre, die es noch dauert, bis diese wiederholten Konfrontationen dazu führen, daß eine 50:50-Chance für die endgültige Vernichtung der Menschheit besteht – höchstens auf zehn oder zwanzig Jahre zu veranschlagen ist. Natürlich ist diese Zahl nicht objektiv nachprüfbar. Aber es ist klar, was damit gesagt werden soll. Es ist das erstemal in der Geschichte der Menschheit, daß Babies – alle Babies überall in der Welt und für alle künftigen Zeiten – eine so geringe Überlebenschance haben.234 * Dieser Begriff stammt aus der Atomphysik: die Halbwertzeit ist diejenige Zeit, nach der die Hälfte der ursprünglich vorhandenen radioaktiven Atome zerfallen ist.

Es gibt in der Tat keinen überzeugenden Grund, der uns zu dem Glauben veranlassen könnte, die Konflikte, Krisen, Konfrontationen und Kriege der Vergangenheit würden sich in den kommenden Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten in den verschiedensten Teilen der Welt nicht wiederholen. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die ideologi219

schen, rassischen und ethnischen Spannungen in Afrika, Asien und Lateinamerika ständig zugenommen. In den Vereinigten Staaten erweist sich das Rassenproblem – trotz aller ernsthaften Bemühungen um eine zufriedenstellende Lösung – als immer giftiger; selbst Israel, das Hauptopfer aller Rassenverfolgungen, hat seine Rassenprobleme mit den farbigen Juden aus Asien und Nordafrika. Die Lektionen, die uns die Vergangenheit erteilt hat, sind vergeblich gewesen, die Geschichte wiederholt sich nicht nur, sie scheint geradezu unter einem neurotischen Wiederholungszwang zu leiden. Im Jahre 1920 machte man eine Stadt namens Danzig am Rande Europas zu einer Enklave, in die man nur durch einen schmalen Korridor gelangen konnte, der durch fremdes Territorium führte. Dieses absurde Arrangement lieferte den Vorwand für den Zweiten Weltkrieg. Noch bevor dieser Krieg zu Ende war, machte man eine Stadt namens Berlin im Herzen Europas zu einer Enklave, in die man nur durch einen schmalen Korridor gelangen kann, der durch fremdes Territorium führt. Diese absurde Wiederholung lieferte den Vorwand, der uns schon einmal an den Rand eines Atomkriegs brachte und das wohl auch in Zukunft tun wird. Hegel schreibt: Was uns Erfahrung und Geschichte lehren, ist folgendes – Menschen und Regierungen haben aus der Geschichte niemals irgend etwas gelernt oder nach den aus ihr abgeleiteten Grundsätzen gehandelt. Man hat gesagt, das Blut der Märtyrer mache die Erde fruchtbar. In Wirklichkeit ist es stets mit monotonem Glucksen die Abwasserkanäle hinabgeflossen, soweit der Mensch zurückdenken kann; wohin wir in der Welt auch blicken, wir entdecken kaum Anzeichen dafür, daß dieses Glucksen einmal nachlassen oder gar aufhören wird. Wenn wir auf den Komfort des Wunschdenkens verzichten, müssen wir darauf gefaßt sein, daß die Motive und Brennpunkte potentieller Konflikte auch weiter über den Erdball dahinziehen werden gleich Hochdruckgebieten auf einer Wetterkarte. Und unser einziger, unzuverlässiger Konflikt: die gegenseitige Abschreckung, wird stets von unkontrollierbaren psychologischen Faktoren abhängen – dem Kalkül oder Bluff fehlbarer Schlüsselfiguren. Russisches Roulett ist ein Spiel, das man nicht lange spielen kann. Solange wir glauben konnten, unsere Spezies sei als solche praktisch unsterblich und habe eine astronomische Lebensspanne vor sich, konnten wir es uns leisten, geduldig auf jene Einkehr zu warten, die der Tugend und Vernunft zum Sieg verhelfen würde. Aber die Garantie unserer Unsterblichkeit als Spezies ist abgelaufen, und wir haben nicht mehr die unbegrenzte Zeit, darauf zu warten, daß der Löwe sich neben dem Lamm niederlegen wird, der Araber neben dem Israeli und der Kommissar neben dem Jogi. Die Schlußfolgerungen, die sich ergeben, sind im Grunde einfach, wenn wir den Mut haben, ihnen ins Gesicht zu sehen. Unsere biologische Evolution ist in der Zeit des CroMagnon-Menschen im wesentlichen zum Stillstand gekommen. Da wir in der voraussehbaren Zukunft nicht erwarten können, daß sich die erforderliche Wandlung der Mentalität des Menschen auf natürlichem Wege mit Hilfe einer spontanen Mutation vollzieht, müssen wir sie notgedrungen auf künstlichem Wege herbeiführen. Wir können nur dann hoffen, als Spezies zu überleben, wenn es uns gelingt, Techniken zu entwickeln, die an die Stelle der biologischen Evolution treten können. Wir müssen nach einem Heilmittel für die inhärente Schizophysiologie im Wesen des Menschen suchen, für die Spaltung unseres Geistes, die zu der Situation geführt hat, in der wir uns befinden.

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18.4 »Eingriff in die menschliche Natur« Gelingt es nicht, dieses Heilmittel zu finden, dann wird die Kombination der alten paranoischen Strähne im Menschen zusammen mit seinen neuen Zerstörungskräften früher oder später zum Rassenselbstmord führen. Ich glaube aber auch, daß die Kur bereits in Reichweite der zeitgenössischen Biologie liegt und daß es bei entsprechender Konzentration der Bemühungen durchaus gelingen könnte, die Lösung noch zu Lebzeiten der Generation zu finden, die jetzt die Bühne betritt. Ich bin mir der Tatsache bewußt, daß das soeben Gesagte allzu optimistisch klingt im Gegensatz zu den scheinbar allzu pessimistischen Ansichten, die ich im Hinblick auf unsere Zukunft geäußert habe, falls wir weiter in unseren Wahnvorstellungen verharren. Ich glaube nicht, daß diese Besorgnis übertrieben ist, ich glaube aber auch nicht, daß die Idee eines Heilmittels für den homo sapiens eine Utopie ist. Sie ist nicht von der science-fiction inspiriert, sondern basiert auf einer realistischen Einschätzung der jüngsten Fortschritte in mehreren konvergierenden Sparten der biologischen Wissenschaften. Eine Kur für uns haben sie bisher nicht gefunden, aber es zeichnet sich bereits der Forschungsbereich ab, wo man sie finden könnte. Ich bin mir auch dessen bewußt, daß jeder Vorschlag, der mit einem »künstlichen Eingriff in die menschliche Natur« verbunden ist, starke emotionale Widerstände auslösen muß. Diese basieren teilweise auf Vorurteilen, teilweise aber auch auf einer gesunden Aversion gegen weitere Eingriffe in die geheiligte Privatsphäre des Individuums durch Psychiatrie, Sozialplanung, Konjunkturforschung, Gehirnwäsche und was es sonst noch an Bedrohungen in dem wohlorganisierten Alptraum gibt, in welchem wir leben. Anderseits hat der Mensch, schon seit der erste Jäger seinen frierenden Körper mit einem Tierfell umhüllte, immer wieder in die Natur eingegriffen; er hat sich eine künstliche Umwelt geschaffen, die das Gesicht unseres Planeten allmählich verwandelt hat, und eine künstliche Lebensweise, ohne die er nicht mehr existieren kann. Wir können auf Häuser, Kleidung, Heizung und gekochtes Essen nicht mehr verzichten – und ebensowenig auf Brillengläser, Hörapparate, Skalpelle, künstliche Gliedmaßen, schmerzstillende Mittel, Antiseptika, Prophylaktika, Impfstoffe und so weiter. Wir beginnen mit unseren künstlichen Eingriffen fast von dem Augenblick an, in dem das Baby geboren wird: eine der ersten Routinemaßnahmen besteht in der Praxis, einen Tropfen Silbernitratlösung in die Augen des Neugeborenen zu tun, um es vor ophtalmia neonatorum zu schützen, einer Art Bindehautentzündung, die nicht selten zu völliger Blindheit führt und durch Gonokokken verursacht wird, die sich, ohne daß die Gebärende davon wußte, im Genitaltrakt befunden haben können. Später folgen die in den meisten Kulturländern obligatorischen Schutzimpfungen gegen Pocken, Typhus etc. Um den Wert dieser »Eingriffe in den natürlichen Lebensablauf« richtig zu würdigen, sollten wir uns daran erinnern, daß die weite Verbreitung der Pocken bei den Indianern eine der Hauptursachen dafür war, daß diese ihren Kontinent an den weißen Mann verloren. Im 17. und 18. Jahrhundert stellten die Pocken eine Gefahr dar, der jedermann ausgesetzt war. Ihre Auswirkungen wären wohl noch verheerender ausgefallen, hätte es nicht jene energische Dame Mary Wortley Montagu gegeben, die die altorientalische Praxis der »Impfung« von den Türken erlernte und zu Beginn des 18. Jahrhunderts in England einführte. Diese Methode bestand darin, daß man die zu immunisierende Person mit der bei milden Pockenfällen abgesonderten Substanz infizierte – eine recht gefährliche »Behandlung«, bei der die Sterblichkeitszahl jedoch erheblich niedriger war als bei »natürlichen« Pockenfällen (das Risiko wurde erst beseitigt, als Edward Jenner entdeckte, daß die Impfung mit Kuhpockenlymphe Immunität gegen die »natürlichen« Pocken verlieh).

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Ein weniger bekannter Fall des »Eingreifens in die Natur« dient der Verhinderung von Kropf und einer mit diesem Leiden verbundenen bestimmten Art von Kretinismus. Zur Zeit meiner Kindheit verbrachte ich die Ferien öfters in den Alpen; damals war die Anzahl der Bewohner von Gebirgstälern, die monströse Schwellungen am Halse hatten, und die der kretinösen Kinder erschreckend hoch. Heute gibt es in dem alpinen Dorf, wo ich einen Teil des Jahres verbringe, und auch in den angrenzenden Gebirgstälern keinen einzigen Fall von Kropfleiden. Man hat herausgefunden, daß die Kropfbildung mit einem Mangel an Jod in der Schilddrüse zusammenhängt und daß das Wasser in den Gegenden, in denen diese Krankheit endemisch auftrat, hart und jodarm war. Also fügte man dem Trinkwasser beziehungsweise der Kinderkost kleine Mengen Jod bei – und das Kropfleiden gehörte praktisch der Vergangenheit an. Offensichtlich war der Mensch biologisch nicht dafür gerüstet, in einer Umwelt mit jodarmem Wasser zu leben, oder mit dem Pockenvirus und den tödlichen Mikroorganismen der Malaria und der Schlafkrankheit fertig zu werden. Umgekehrt sind auch Mikroben gleichermaßen schlecht dafür ausgerüstet, gewissen Mikroorganismen, die wir als Antibiotika bezeichnen, Widerstand zu leisten. Nun scheinen aber Mikroben eine ungeheure Mutationsrate zu haben, denn innerhalb weniger Jahre entwickeln sie neue Spielarten, die gegen Antibiotika resistent sind. Wir Menschen können solche evolutionäre Kunststücke nicht vollbringen, aber wir können adaptive Mutationen dadurch simulieren, daß wir dem Trinkwasser Jod hinzufügen oder Silbernitrat in die Augen des Neugeborenen tropfen, um es gegen Feinde zu schützen, gegen die wir von Natur aus hilflos sind. In den letzten Jahren haben die Biologen entdeckt, daß jede Tierspezies, die sie studiert haben, von Käfern über Kaninchen bis zu Schimpansen, mit instinktiven Verhaltensweisen ausgerüstet ist, die eine zu große Geburtenrate verhindern und die Populationsdichte in einem bestimmten Territorium konstant halten, und zwar auch dann, wenn Nahrung reichlich vorhanden ist. Wenn diese Dichte ein bestimmtes Limit überschreitet, dann führt die Übervölkerung zu Streß-Symptomen, die das Hormongleichgewicht stören, Kaninchen und Rotwild beginnen an »adrenalen Störungen« zu sterben, ohne daß Anzeichen für eine Epidemie erkennbar sind; weibliche Ratten hören auf, für ihre Jugend zu sorgen, und lassen sie eingehen; auch macht sich abnormes Sexualverhalten bemerkbar. Das ökologische Gleichgewicht in einem bestimmten Gebiet wird also nicht nur durch die relative Verteilung von Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen, von Raubtieren und Beutetieren aufrechterhalten, sondern auch durch eine Art von intraspezifischem Rückkoppelungsmechanismus, der die Geburtenrate bei den Tieren so steuert, daß die Dichte der Gesamtpopulation stabil bleibt. Die Population einer bestimmten Spezies in einem bestimmten Gebiet verhält sich in der Tat wie ein selbstregulierendes soziales Holon, das sich nach den instinktiven »Spielregeln« richtet, die dafür Sorge tragen, daß immer genügend »Entfaltungsraum« zur Verfügung steht und eine durchschnittliche Populationsdichte beibehalten wird. Aber auch in dieser Hinsicht muß man den Menschen wieder als »einzigartig« bezeichnen – vielleicht mit Ausnahme der selbstmörderischen Lemminge. Es hat fast den Anschein, als habe sich bei menschlichen Populationen die ökologische Regel ins Gegenteil verkehrt: je dichtgedrängter sie in Slums, Ghettos und Elendsvierteln zusammenleben, desto mehr Nachkommen bringen sie zur Welt. Der stabilisierende Faktor beim Menschen war nicht jener Rückkoppelungsmechanismus, der die Geburtenrate bei den Tieren reguliert, sondern Kriege, Seuchen und hohe Säuglingssterblichkeit. Darüber hinaus hat der Mensch schon in biblischer Zeit, wie wir aus der Geschichte von Onan erfahren, das Fehlen von instinktiven Geburtenkontrollen durch bewußte Geburtenkontrolle kompensiert. Etwa zur gleichen Zeit, als Louis Pasteur die Bevölkerungsexplosion einleitete, erfand der Gummifabrikant Charles Goodyear eine einfache Methode der künstlichen Geburtenkontrolle. Die empfängnisverhütende Pille stellt einen noch radikaleren Eingriff in die Natur dar: sie verfälscht den östralen Zyklus. In weltweitem 222

Maßstab angewandt – wie das geschehen muß, um die Katastrophe abzuwenden –, entspricht dieses Eingreifen einer künstlich simulierten biologischen Mutation. Als unserer Spezies irgendwann im Verlauf der Evolution die Instinktkontrollen abhanden kamen, die bei Tieren die Geburtenrate regulieren, wurde sie zu einem biologischen Unikum. Sie kann nur überleben, wenn wir Methoden erfinden, die einer adaptiven Mutation gleichwertig sind. Wir können nicht erhoffen, daß die Natur sich unser annimmt, wir müssen zur Selbsthilfe greifen.

18.5 Der entfesselte Prometheus Können wir ein ähnliches Heilmittel wie die empfängnisverhütende Pille für die Schizophysiologie unseres Nervensystems erfinden – für die paranoische Veranlagung, die sich in unserer unseligen Geschichte widerspiegelt? Und nicht nur in der Geschichte des Menschen, sondern anscheinend auch in der unserer menschenähnlichen Vorfahren. Um nochmals Konrad Lorenz zu zitieren: Das begriffliche Denken verlieh dem Menschen mit der Wortsprache die Möglichkeit zur Weitergabe überindividuellen Wissens und zur Kulturentwicklung; diese aber bewirkte in seinen Lebensbedingungen so schnelle und umwälzende Änderungen, daß die Anpassungsfähigkeit seiner Instinkte an ihnen scheiterte ... Das dialogisch fragende Experimentieren mit der Umwelt, das aus dem begrifflichen Denken herkommt, schenkte ihm [dem Menschen] seine ersten Werkzeuge, den Faustkeil und das Feuer. Er verwendete sie prompt dazu, seinen Bruder totzuschlagen und zu braten, wie die Funde in den Wohnstätten der Pekingmenschen (Sinanthropus pekinensis) beweisen: neben den ersten Spuren des Feuergebrauchs liegen zertrümmerte und deutlich angeröstete Menschenknochen.235 Der Prometheus-Mythos hat eine überraschende Wendung genommen: der Gigant, der in den Himmel hinauflangt, um den Göttern das Feuer zu entwenden, ist geisteskrank. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß das Unheil begann, als der Neocortex anfing, sich plötzlich mit einer Schnelligkeit auszudehnen, »für die es in der gesamten Evolutionsgeschichte kein Beispiel gibt« (siehe Seite 182). Fassen wir die Geschichte des Lebens auf Erden, von ihren Anfängen vor etwa 2000 Millionen Jahren bis zur Gegenwart, in einem einzigen Tag, von Mitternacht bis Mitternacht zusammen, dann begänne das Zeitalter der Säugetiere etwa gegen 23 Uhr, und die Evolution vom Pithecanthropus (dem javanischen Affenmenschen) bis zum homo sapiens – das heißt die Evolution des Neocortex – vollzöge sich in den letzten fünfundvierzig Sekunden des Tages. Das Wachstum des Cortex folgte ebenfalls einer Exponentialkurve. Warum sollte es also unvernünftig sein, anzunehmen, daß bei dieser explosiven Gehirnentwicklung, die so weit über das Ziel hinausschoß, etwas schiefgegangen ist? Genauer gesagt, daß die Kommunikationslinien zwischen den alten und den brandneuen Strukturen nicht ausreichend sind, um eine harmonische Zusammenarbeit, eine hierarchische Koordination zwischen Instinkt und Intellekt zu garantieren. Wenn wir uns an die Fehler erinnern, die bei der Evolution von früheren Versionen des Nervensystems aufgetreten sind – das Erdrosseln der Speiseröhre beim Arthropodengehirn, das Fehlen ausreichender Verbindungen zwischen den beiden Gehirnhälften der Beuteltiere –, dann läßt sich der Verdacht kaum unterdrücken, daß ein ähnliches Mißgeschick auch uns befallen hat; und die Ergebnisse der Neurophysiologie, der Psychopathologie und der menschlichen Geschichte sprechen beredt für diese Hypothese. Das neurophysiologische Beweismaterial deutet, wie sich gezeigt hat, auf eine Dissonanz zwischen den Arbeitsweisen des Neocortex und des limbischen Systems hin. Statt 223

als integrale Teile einer hierarchischen Ordnung zu funktionieren, wirken beide in einer Art gespannter Koexistenz. Um auf unsere Metapher zurückzukommen: dem Reiter ist es niemals gelungen, das Pferd vollständig unter seine Kontrolle zu bekommen, und das Pferd läßt den Reiter seine Launen auf unangenehme Weise spüren. Wir haben gesehen, daß das Pferd, das limbische System, einen direkten Zugang zu den affektauslösenden viszeralen Zentren im Hypothalamus hat – beim Reiter ist das nicht der Fall. Überdies erweisen sich die Zügel, mit deren Hilfe der Reiter das Pferd unter Kontrolle halten soll, als unzureichend. Ich zitiere nochmals MacLean: Soweit man das auf Grund der neuronographischen Forschung beurteilen kann, scheint es »assoziative« Verbindungen zwischen dem limbischen System und dem Neocortex nur in begrenztem Ausmaß zu geben. Es fehlen die komplizierten Rückkoppelungsmechanismen, das delikate Wechselspiel von Erregungs- und Hemmungsmechanismen, die für das Nervensystem sonst charakteristisch sind. Das Pferd und der Reiter sind sich ihrer Umwelt durchaus bewußt, aber die Kommunikation zwischen ihnen ist recht begrenzt. Beide beziehen Informationen und reagieren darauf auf verschiedene Weise.236 Hier haben wir also die anatomische Grundlage für das »geteilte Haus von Glauben und Vernunft«, dessen Bewohner dazu verdammt sind, in einem Zustand »kontrollierter Schizophrenie« zu leben. Einer von Natur aus unvernünftigen Spezies Vernunft zu predigen, ist, wie die Geschichte lehrt, ein ziemlich hoffnungsloses Unternehmen. Die biologische Evolution hat uns im Stich gelassen; wir können nur dann hoffen zu überleben, wenn wir sie durch Techniken ersetzen, die die notwendigen Änderungen in der menschlichen Natur herbeiführen. Wir können die Überbevölkerung durch Eingriffe in den östralen Zyklus verhindern. Wir können unsere paranoide Veranlagung nicht heilen, indem wir zusätzliche Stromkreise in unser Gehirn einbauen, aber wir könnten vielleicht eine Heilung oder zumindest eine erkennbare Besserung erzielen, wenn wir die Forschung in die richtigen Kanäle lenken.

18.6 Zukunftsmusik Im Jahre 1961 organisierte das University of California San Francisco Medical Center ein Symposion unter dem Titel »Kontrolle des Geistes«. Bei der ersten Sitzung erregte Professor Holger Hydén von der Universität Göteborg eine Pressesensation, obwohl sein fachwissenschaftlicher Vortrag über »Biochemische Aspekte der Gehirntätigkeit« kaum geeignet war, die Massenblätter anzusprechen. Hydén ist eine der führenden Kapazitäten auf diesem Gebiet. Die Passage, die die Sensation bei der Presse hervorrief, lautet wie folgt (die Erwähnung meines Namens ist darauf zurückzuführen, daß ich ebenfalls an diesem Symposion teilnahm): Beschäftigt man sich mit dem Problem der Kontrolle des Geistes, dann erhebt sich auf Grund der bisher erreichten Erkenntnisse folgende Frage: Wäre es möglich, die Emotionen dadurch zu verändern, daß man molekulare Veränderungen in den biologisch aktiven Substanzen des Gehirns herbeiführt? Die Substanz, die in erster Linie in Frage kommt, ist die RNS, denn eine molekulare Veränderung der RNS* könnte zu einem Wechsel in der Proteineproduktion führen. Man kann diese Frage auch anders formulieren: Bilden die hier vorgelegten Versuchsergebnisse eine ausreichende Grundlage für die 224

Modifizierung des Geisteszustandes durch spezifisch induzierte chemische Veränderungen? Ergebnisse in dieser Richtung sind bereits erzielt worden mit Hilfe der Substanz Tricyano-Aminopropen. * Ribonukleinsäure, eine Schlüsselsubstanz im genetischen Apparat.

... Die Verwendung einer Substanz, mit deren Hilfe man die Produktionsquote und Zusammensetzung der RNS verändert und Enzymveränderungen in den funktionellen Einheiten des Zentralnervensystems hervorruft, hat sowohl negative als auch positive Aspekte. Wir haben jetzt Beweise dafür, daß die Verabreichung von TricyanoAminopropen beim Menschen eine erhöhte Suggestibilität bewirkt. Infolgedessen könnte man präzise chemische Eingriffe in funktionell wichtige Substanzen, wie die RNS im Gehirn, zu Konditionierungszwecken benutzen. Der Autor bezieht sich hier nicht nur speziell auf das Tricyano-Aminopropen, sondern auf jede Substanz, die geeignet ist, Veränderungen bei biologisch bedeutsamen Molekülen in den Neuronen und Gliazellen zu induzieren und den Geisteszustand im negativen Sinn zu beeinflussen. Man kann sich unschwer vorstellen, welchen Gebrauch die Regierung in einem Polizeistaat von einer solchen Substanz möglicherweise machen könnte. Eine Zeitlang würde man die Bevölkerung den härtesten Lebensbedingungen unterwerfen. Dann würde man plötzlich ihr Los erleichtern und gleichzeitig diese Substanz dem Leitungswasser beigeben und die Massenmedien zu Propagandazwecken einsetzen. Diese Methode käme dem Staat weit billiger und würde viel wirksamere Möglichkeiten bieten als die langsame, individuelle Zermürbung Rubaschows, wie sie Koestler in seinem Roman SONNENFINSTERNIS geschildert hat. Anderseits kann man sich allerdings auch unschwer vorstellen, daß sich gegen die Wirkung einer Substanz wie Tricyano-Aminopropen Gegenmaßnahmen einleiten ließen.237 Abgesehen von den fachtechnischen Details sind die Implikationen ohne weiteres klar. Wie jede andere menschliche Wissenschaft kann auch die Biochemie den Mächten des Lichtes oder der Finsternis dienen. Ihre Gefahren sind grauenerregend; wir wollen uns aber jetzt ihren wohltätigen Möglichkeiten zuwenden. Dazu will ich eine andere relevante Passage aus einem Vortrag zitieren, den Dean Saunders auf demselben Symposion hielt: Das hervorragende technologische Geschick und der Erfindungsgeist der modernen Chemiker haben dem Medizinwissenschaftler und dem Arzt eine Fülle von chemischen Präparaten verschiedenartigster Struktur und Zusammensetzung beschert, die das Zentralnervensystem so beeinflussen können, daß die Geistestätigkeit und die Verhaltensweise des Individuums verzerrt, beschleunigt oder verzögert werden können. Auf dieser Konferenz ist zum Ausdruck gebracht worden, daß viele dieser chemischen Präparate eine in hohem Maße selektive Wirkung auf bestimmte und genau abgegrenzte Teile des Nervensystems ausüben können; auf Grund eines genauen Studiums ihrer Wirkung bei Menschen und Tieren läßt sich sogar ein bestimmtes Spektrum aufstellen. Diese chemischen Präparate bieten also – unter Berücksichtigung des jeweiligen Verhältnisses zwischen chemischer Struktur und biologischer Wirkung – die Möglichkeit, eine Fülle von Drogen zur Beeinflussung der spezifischen Gehirntätigkeit heranzuziehen. Da solche Präparate einander entweder verstärken oder abschwächen oder sich in ihrer Wirkung überschneiden 225

können, und da sie in ihrer Wirkung auf das Gehirn eine Tendenz zur Polarität zeigen, halte ich es für höchst wahrscheinlich, daß sich ein breites Spektrum von chemischen Präparaten dazu verwenden läßt, eine Kontrolle über die meisten geistigen Tätigkeiten wirksam auszuüben. ... Hier steht eine ständig zunehmende Auswahl von chemischen Praparaten zu unserer Verfügung, mit denen sich Menschen manipulieren lassen, und es liegt an uns, ob wir davon einen klugen oder törichten Gebrauch machen ... Es ist heute möglich, unmittelbar auf das einzelne Individuum einzuwirken, um sein Verhalten zu modifizieren, anstatt dies, wie in der Vergangenheit, auf indirektem Wege zu tun, indem man die Umwelt modifiziert. Diese Möglichkeit gehört mit zu dem, was Aldous Huxley als DIE LETZTE REVOLUTION bezeichnet hat.238 Der letzte Satz in diesem Zitat bedarf einer Erklärung. Huxley war ständig von der Furcht geplagt, die kombinierte Wirkung von Drogen und Massenmedien könnte die Welt in eine Art »schmerzlosen Konzentrationslagers des Geistes verwandeln, dessen Insassen ihre persönlichen Freiheiten eingebüßt haben, dafür aber eine Diktatur ohne Tränen genießen«.239 Mit anderen Worten, die Situation, die Huxley in seiner Satire SCHÖNE NEUE WELT geschildert hat. Als Gegenmittel befürwortete Huxley die Verwendung von Mescalin und anderen psychedelischen Drogen, die uns auf dem achtgliedrigen Pfad zu kosmischer Bewußtheit, mystischer Erleuchtung und künstlerischer Kreativität führen sollten. Lange Jahre hindurch habe ich Huxleys Persönlichkeit und sein Werk bewundert; in seinen letzten Lebensjahren jedoch gingen unsere Meinungen auseinander. Die Gründe dafür gehören direkt zu unserem Thema. In HIMMEL UND HÖLLE pries Huxley die Segnungen des Mescalin und gab dem modernen Seelensucher den Ratschlag: Da er nun weiß ... welches die chemischen Voraussetzungen für transzendentale Erlebnisse sind, sollte der angehende Mystiker fachtechnische Unterstützung bei den Spezialisten der Pharmakologie, der Biochemie, der Physiologie und der Neurologie suchen. Das ist nun genau das, was ich persönlich nicht unter positiver Anwendung der Psychopharmakologie verstehe. Vor allem sind mit der experimentellen Anwendung von Mescalin oder LSD 25 ernsthafte Risiken verbunden. Aber selbst wenn wir einmal davon absehen, ist es grundsätzlich falsch und naiv, zu erwarten, daß Drogen dem Geist Gratisgeschenke bescheren könnten, ihm etwas einzutrichtern vermögen, was nicht bereits latent in ihm vorhanden ist. Weder mystische Einsichten noch philosophische Weisheit oder schöpferische Kräfte lassen sich durch Pillen oder Injektionen hervorzaubern. Der Psychopharmazeut kann den Fähigkeiten des Gehirns keine neuen hinzufügen – er kann bestenfalls Störungen und Blockierungen, die ihre wirkungsvolle Anwendung behindern, eliminieren. Er kann uns nicht reicher machen, als wir sind, er kann uns aber in begrenztem Ausmaß normalisieren; er kann nicht zusätzliche Stromkreise in das Gehirn einbauen, aber er kann, ebenfalls innerhalb gewisser Grenzen, die Koordination zwischen den vorhandenen Strukturen verbessern, Konflikte mildern und Kurzschlüsse verhindern. Das ist alles, was wir an Hilfe erwarten dürfen – aber wenn wir sie wirklich erhielten, so würden sich daraus unschätzbare Segnungen ergeben; es würde sich um eine Revolution in einem dem Huxleyschen genau entgegengesetzten Sinn handeln: um den Durchbruch vom Maniker zum Menschen. Das »wir« im vorhergehenden Satz bezieht sich nicht auf Patienten in der psychiatrischen Klinik oder auf der Couch des Therapeuten. Zweifellos wird die Psychopharmakologie eine wichtige Rolle bei der Behandlung von klinischen Geisteskrankheiten spielen, aber darauf kommt es hier nicht an.* 226

* Während dieses Buch in Druck geht, berichtet die amerikanische Fachzeitschrift Archives of General Psychiatry über Versuche an der Universität von Tulane, die eine Heilung der Schizophrenie mit Hilfe chemischer Präparate in den Bereich der Möglichkeit rücken (D D. Gould: AN ANTIBODY IN SCHIZOPHRENICS, London, New Scientist, 02.02.1967).

Worum es uns hier geht, ist die Heilung der paranoischen Strähne bei sogenannten normalen Menschen, das heißt bei der Menschheit in ihrer Gesamtheit: um eine künstlich simulierte, adaptive Mutation zur Überbrückung der Kluft zwischen dem phylogenetisch alten und dem neuen Gehirn, zwischen Instinkt und Intellekt, zwischen Emotion und Vernunft. Wenn wir heute bereits in der Lage sind, die Suggestibilität des Menschen zu erhöhen, dann werden wir auch bald imstande sein, das Gegenteil zu vollbringen, nämlich der irregeleiteten Devotion, dem militanten Enthusiasmus entgegenzuwirken, von deren mörderischen und selbstmörderischen Auswirkungen wir täglich in der Zeitung lesen. Die vordringlichste Aufgabe der Biochemie besteht darin, »in dem sich ständig verbreiternden Spektrum chemischer Präparate«, wie Saunders es ausdrückt, »nach einem Heilmittel zu suchen, das sich zur Kontrolle der Geistestätigkeit eignet«. Der Glaube, daß das geschehen kann und geschehen wird, ist durchaus keine Utopie. Die gegenwärtigen Beruhigungsmittel, Barbitursäurepräparate, Stimulantia, Antidepressionsmittel und ihre verschiedenen Kombinationen sind lediglich ein erster Schritt auf dem Weg zu subtileren Mitteln für die Förderung eines koordinierten und harmonischen Geisteszustandes. Was wir suchen, ist nicht die ungetrübte Ataraxie der Stoiker, die Ekstase der tanzenden Derwische oder das Pop-Nirwana von Huxleys »Soma«-Pillen, sondern der Zustand eines dynamischen Gleichgewichtes, in welchem Vernunft und Emotion miteinander versöhnt sind und die hierarchische Ordnung wiederhergestellt wird.

18.7 Dialog mit dem Leser Ich bin mir durchaus der Tatsache bewußt, daß die Formulierungen »Kontrolle des Geistes« und »Manipulieren von Menschen« einen recht sinistren Unterton haben. Wer soll diese Kontrollen kontrollieren, wer die Manipulatoren manipulieren? Nehmen wir an, es gelingt uns, synthetisch ein Hormon herzustellen, das als geistiger Stabilisator in dem oben angedeuteten Sinn wirkt – wie sollen wir dann seine globale Anwendung propagieren, um die beabsichtigte segensreiche Mutation herbeizuführen? Sollen wir es den Leuten mit Gewalt in den Rachen stopfen oder es dem Leitungswasser beimengen? Darauf scheint es eine sehr einfache Antwort zu geben. Weder Gesetze noch Zwangsmaßnahmen waren erforderlich, um Griechen und Römer dazu zu überreden, »den Saft der Rebe zu genießen, der Freude und Vergessenheit schenkt«. Schlaftabletten, Aufmunterungspillen und Beruhigungspillen haben sich mit einem minimalen Aufwand an Werbung auf Gedeih oder Verderb über die ganze Erde hin ausgebreitet. Ihre rasche Verbreitung beruht auf der einfachen Tatsache, daß die Leute ihre Wirkung gerne mochten und sogar unerfreuliche oder schädliche Nebenwirkungen in Kauf nahmen. Ein geistiger Stabilisator würde weder Euphorie noch Schlaf, weder Mescalinvisionen noch mystische Zustände auslösen – er würde in der Tat keine erkennbare spezifische Wirkung haben, außer der Förderung der geistigen Koordination, des harmonischen Angleichs von Vernunft und Emotion; mit anderen Worten, er würde die Integrität der gespaltenen Hierarchie wiederherstellen. Ein solches Mittel würde sich rasch verbreiten – denn die Menschen wollen sich an Geist und Körper lieber gesund als krank fühlen –, ebenso rasch wie die Impfung und die Mittel zur Empfängnisverhütung, nicht durch Zwang, sondern auf Grund eines aufgeklärten Eigeninteresses. Das erste spürbare Ergebnis wäre vermutlich ein plötzliches Absinken der Verbrechen – und der Selbstmordquote in bestimmten Gegenden oder sozialen Gruppen, in denen die neue Pille zur Mode würde. Wie die Entwicklung dann weiterginge, kann man ebensowenig voraussagen, wie dies bezüglich der Folgen der Entdeckungen James Watts oder Pasteurs möglich war. Vielleicht würde sich ein Schweizer Kanton nach einem öffentli227

chen Referendum dazu entschließen, die neue Substanz für eine Probezeit dem Chlor im Leitungswasser beizumengen;* andere Länder könnten diesem Beispiel folgen. Oder das Stabilisierungsmittel könnte bei der jungen Generation internationalen Anklang finden und als neue Mode die ungekämmten Bärte und Mescalinräusche ersetzen. Auf die eine oder andere Weise würde die Mutation in Gang kommen. * Selbst Leute, die sich hartnäckig jedem »Eingriff in die menschliche Natur« widersetzen, erheben keine ernsthaften Einwände mehr dagegen, daß man Chlor oder andere Antiseptika dem Leitungswasser beimengt.

Natürlich besteht die Möglichkeit, daß totalitäre Staaten versuchen werden, sich ihr zu widersetzen. Aber heute sind selbst die Eisernen Vorhänge porös geworden; Jazz, Miniröcke, Diskotheken und andere bourgeoise Erfindungen breiten sich unaufhaltsam weiter aus. Würde die herrschende Elite ihrerseits beginnen, mit der neuen Medizin zu experimentieren, um zu entdecken, daß sie die Welt in einem neuen Licht sieht – dann, und nur dann, wäre die Menschheit reif für eine globale Abrüstungskonferenz, die mehr ist als eine üble Farce. Und sollte es zu einer Übergangsperiode kommen, während welcher sich nur eine Seite der heilenden Kur verschriebe, während die andere in ihrer Psychose beharrte, so würde sich daraus keine der Gefahren einer unilateralen Abrüstung ergeben; im Gegenteil, die mutierte Seite befände sich in der stärkeren Position, weil sie eine rationellere Politik auf lange Sicht betreiben und weniger furchtgeplagt und hysterisch sein würde. Ich glaube nicht, daß das, was ich hier sage, nach science-fiction klingt, und ich hoffe, daß der Typ von Leser, an den sich dieses Buch richtet, meine Meinung teilt. Jeder Schriftsteller hat seinen bestimmten Lieblingstyp von imaginärem Leser: eine wohlwollende, aber auch in hohem Maß kritische Phantomgestalt, auf deren Meinung allein es ihm ankommt und mit der er einen kontinuierlichen, zermürbenden Dialog führt. Ich bin sicher, daß mein geneigter Phantomleser genügend Phantasie hat, um von den jüngsten, atemberaubenden Fortschritten der Biologie aus in die Zukunft zu extrapolieren und einzuräumen, daß die hier angedeutete Lösung durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Was mir Sorge bereitet, ist die Vermutung, daß er eine solche Lösung höchst unsympathisch finden wird; daß ihn die Vorstellung, wir sollten unser Heil in der Molekularchemie suchen anstatt in einer geistigen Wiedergeburt, mit Abscheu und Widerwillen erfüllt. Ich teile seine Gefühle, aber ich sehe zu meinem Bedauern keine Alternative. Ich höre seine vorwurfsvolle Stimme: »Durch den Versuch, uns die Pillen schmackhaft zu machen, verschreibst du dich gerade jener grobmaterialistischen Weltanschauung und jener naiven wissenschaftlichen Hybris, die du abzulehnen vorgibst!« Das trifft nicht zu. Ich bleibe bei dieser Ablehnung. Ich glaube aber nicht, daß man es als »materialistisch« bezeichnen kann, wenn man die Situation, in der sich die Menschheit befindet, nüchtern beurteilt; ich halte es auch keinesfalls für Hybris, wenn man Kindern, die sonst dem Kretinismus verfallen würden, Schilddrüsenextrakt eingibt. Unser Gehirn zu benutzen, um seine eigenen Mängel auszukurieren, erscheint mir als ein mutiges und schöpferisches Unternehmen. Ebenso wie der Leser würde auch ich es vorziehen, meine Hoffnungen auf die moralische Überzeugungskraft des Wortes und des guten Beispiels zu setzen. Aber wir sind nun einmal eine geistig kranke Spezies und haben für derlei nur taube Ohren. Angefangen vom Zeitalter der Propheten bis herab zu Albert Schweitzer hat man es immer wieder versucht; was dabei herauskam, ist, wie Swift es ausgedrückt hat: daß »wir gerade genug Religion in uns haben, um hassen zu können, aber nicht genug, um einander zu lieben«. Das gilt für alle Religionen, theistische und säkulare, ganz gleich, ob sie von Moses, Marx oder Mao Tse-tung gepredigt werden; und Swifts verzweifelter Schrei: nicht hier in ohnmächtiger Wut zu sterben, wie eine vergiftete Ratte in ihrem Loch«, war noch nie von so dringlicher Aktualität wie heute.

228

Die Natur hat uns im Stich gelassen, Gott scheint das Telephon abgeschaltet zu haben, und unsere Gnadenfrist ist im Ablaufen. Die Hoffnung, unser Heil möge in einem biochemischen Präparat liegen, mag materialistisch, verschroben oder naiv erscheinen; in Wirklichkeit ist sie eher von einem Jungschen Archetypus inspiriert, denn sie spiegelt den uralten Traum des Alchimisten wider, ein Lebenselixier zu brauen. Was wir von einem solchen erwarten, ist nicht das ewige Leben, auch nicht die Verwandlung von unedlem Metall in Gold, sondern die Verwandlung des homo maniacus in den homo sapiens. Kann die Menschheit sich dazu entschließen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, so liegt diese Verwandlung durchaus im Bereich des Möglichen.

229

19

Anhang

19.1 Allgemeine Eigenschaften offener hierarchischer Systeme (O.H.S.)* * Die Theorie des Holons und des »offenen hierarchischen Systems« beabsichtigt einen Ausgleich zwischen Atomismus und Holismus herbeizuführen. Eine Anzahl der obigen Resultate mag trivial erscheinen, für andere fehlt es an ausreichendem Beweismaterial, wieder andere mögen der Korrektur und Modifikation bedürfen. Sie sind lediglich als Diskussionsgrundlage gemeint. Die in Teil III dieses Buches erörterten Probleme sind in dem obenangeführten Verzeichnis nicht enthalten.

A.

Der Janus-Effekt

1.

Der Organismus ist in seinem strukturellen Aspekt nicht ein Aggregat aus elementaren Einzelteilen und in seinen funktionellen Aspekten nicht eine Kette von elementaren Verhaltenseinheiten.

2.

Der Organismus ist als eine vielschichtige Hierarchie von halbautonomen SubGanzheiten anzusehen, die sich wiederum in Sub-Ganzheiten einer niederen Ordnung aufzweigen und so weiter. Sub-Ganzheiten auf allen Ebenen der Hierarchie bezeichnen wir als Holons.

3.

Teile und Ganze im absoluten Sinn gibt es im Bereich des Lebens nicht. Mit dem Begriff des Holons ist beabsichtigt, einen Ausgleich zwischen der atomistischen und der holistischen Auffassung zu bewirken.

4.

Biologische Holons sind selbstregulierende offene Systeme, die sowohl die autonomen Eigenschaften von Ganzen als auch die Abhängigkeit von Teilen aufweisen. Diese Dichotomie macht sich auf allen Ebenen aller Typen von hierarchischer Organisation bemerkbar; wir bezeichnen sie als Janus-Effekt beziehungsweise als Janus-Prinzip.

5.

Im weiteren Sinn läßt sich der Begriff »Holon« auch auf jedes stabile biologische oder soziale Sub-Ganze anwenden, das ein regelbedingtes Verhalten und/oder strukturelle Gestaltkonstanz aufweist. So sind Organellen und homologe Organe evolutionäre Holons; morphogenetische Felder sind ontogenetische Holons; die erbkoordinierten Bewegungsfolgen der Ethologen und die Sub-Routineprozesse bei erworbenen Fertigkeiten sind Verhaltens-Holons; Phoneme, Morphene, Wörter und Wortgruppen sind linguistische Holons; Individuen, Familien, Stämme und Nationen sind soziale Holons.

B.

Zerlegbarkeit

1.

Hierarchien sind »zerlegbar« in die einzelnen Zweige, aus denen sie bestehen; die Holons sind ihre Knotenpunkte; die Zweiglinien stellen die Kommunikationskanäle und Kontrolleitungen dar.

2.

Die Anzahl der Stufen, die eine Hierarchie umfaßt, ist ein Maßstab für ihre »Tiefenstaffelung«, die Anzahl der Holons auf einer bestimmte Stufe bezeichnet man als ihre »Spannweite« (S Simon).

C. 1.

Regeln und Strategien

Funktionelle Holons unterstehen festen Regeln und entfalten mehr oder minder flexible Strategien. 230

2.

Die Regeln, als »Kanon« oder »Spielregeln« des Systems bezeichnet, bestimmen seine invariablen Eigenschaften, seine strukturelle Konfiguration und/oder seine Funktionsweise.

3.

Während die Spielregeln die erlaubten Schritte im Tätigkeitsbereich des Holons festlegen, wird die strategische Auswahl des im Rahmen der erlaubten Möglichkeiten tatsächlich erfolgenden Schrittes von den jeweiligen Konstellationen in der Umwelt gesteuert.

4.

Der Kanon bestimmt die Spielregeln, die Strategie entscheidet über den Verlauf des Spiels.

5.

Der Evolutionsprozeß bringt Variationen zu einer begrenzten Anzahl kanonischer Themen hervor. Die durch den Evolutionskanon auferlegten Beschränkungen lassen sich an den Phänomenen der Homologie, der Homöoplasie, des Parallelismus, der Konvergenz und der loi du balancement ablesen.

6.

In der Ontogenese stellen die Holons auf einander folgenden Stufen einander folgende Phasen in der Entwicklung von Geweben dar. Im Verlauf des Differenzierungsprozesses erlegt der genetische Kanon dem Entwicklungspotential des Holons immer weitere Beschränkungen auf, aber es behält noch ausreichende Flexibilität, um im Rahmen seines Kompetenzbereichs den einen oder anderen Alternativweg bei seiner Entwicklung einzuschlagen, je nach der Konstellation in seiner Umwelt.

7.

In struktureller Hinsicht ist der ausgereifte Organismus eine Hierarchie von Teilen innerhalb der Teile. Seine »Zerlegbarkeit« und die relative Autonomie seiner Holons erweisen sich bei der Transplantations-Chirurgie.

8.

In funktioneller Hinsicht wird das Verhalten von Organismen von »Spielregeln« beherrscht, die bestimmend sind für seine Kohärenz, Stabilität und spezifische Struktur.

9.

Fertigkeiten – sowohl angeborene als erworbene – sind funktionelle Hierarchien, bei denen Sub-Fertigkeiten, die von Sub-Regeln bestimmt werden, als Holons fungieren.

D. INTEGRATION UND SELBSTBEHAUPTUNG 1.

Jedes Holon zeigt die zweifache Tendenz, einerseits seine Individualität als quasiautonomes Ganzes zu bewahren und zu behaupten, anderseits als integrierter Teil eines (bereits bestehenden oder in Entwicklung begriffenen) größeren Ganzen zu funktionieren. Diese Polarität zwischen den selbstbehauptenden (S-B) und den integratiyen (INT) Tendenzen ist ein inhärenter Faktor der hierarchischen Ordnung und ein universales Charakteristikum des Lebens. Die S-B-Tendenzen sind der dynamische Ausdruck der Ganzheit des Holons, die INT-Tendenzen die seiner Teilheit.

2.

Eine analoge Polarität findet man bei der Wechselwirkung von kohäsiven und separativen Kräften in stabilen anorganischen Systemen, von den Atomen bis zu den Milchstraßensystemen.

3.

Die allgemeinste Manifestation der INT-Tendenzen besteht in der Umkehrung des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik bei offenen Systemen, die »von negativer Entropie gespeist werden« (S Schrödinger), und in der evolutionären Tendenz zur »spontanen Entfaltung von Zuständen größerer Heterogenität und Komplexität« (H Herrick).

231

4.

Ihre spezifischen Manifestationen auf verschiedenen Niveaus reichen von der Symbiose von Organellen und kolonienbildenden Tieren über die kohäsiven Kräfte bei Herden und Schwärmen bis zu den integrativen Banden in Insektenstaaten und Primatensozietäten. Die komplementären Manifestationen der S-B-Tendenzen sind Konkurrenz, Individualismus sowie die separativen Kräfte des Stammesbewußtseins, des Nationalismus etc.

5.

In der Ontogenese spiegelt sich die Polarität in der »Lenksamkeit« und der Determination der heranwachsenden Gewebe wider.

6.

Im Verhaltensmodus von erwachsenen Individuen spiegelt sich die selbstbehauptende Tendenz von funktionellen Holons in der Starrheit von Instinktritualen (festen Aktionsmodellen), von erworbenen Gewohnheiten (Handschrift, Sprechakzent) und in stereotypen Denkroutinen; die integrative Tendenz spiegelt sich in flexiblen Adaptationen und in schöpferischen Tätigkeiten, die neue Verhaltensformen einleiten.

7.

In Streß-Situationen manifestiert sich die S-B-Tendenz in den aggressivdefensiven, adrenergischen Emotionen, die INT-Tendenz in der selbsttranszendierenden (partizipatorischen, identifizierenden) Kategorie von Emotionen.

8.

Beim Sozialverhalten präsentiert der Kanon eines sozialen Holons nicht nur die Beschränkungen, die den Aktivitäten des Holons auferlegt sind, sondern er verkörpert auch Verhaltensmaximen, moralische Imperative und Wertsysteme.

E.

Auslöser und Abtastvorrichtungen

1.

Output-Hierarchien operieren im allgemeinen nach dem Auslöseprinzip, wobei ein relativ einfaches, verschlüsseltes Signal komplexe, vorprogrammierte Mechanismen auslöst.

2.

In der Phylogenese kann eine vorteilhafte Gen-Mutation als Auslöser wirken, der mit Hilfe der Hömorhese (W Waddington) die Entwicklung eines ganzen Organs auf harmonische Weise beeinflußt.

3.

In der Ontogenese lösen chemische Auslöser (Enzyme, Induktoren, Hormone) das genetische Potential der sich differenzierenden Gewebe aus.

4.

Beim Instinktverhalten lösen Signalreize einfacher Art angeborene Bewegungskoordinationen aus (K Konrad Lorenz).

5.

Bei der Ausübung erlernter Fertigkeiten, einschließlich der verbalen Fertigkeiten, werden implizite Intentionen aus aufeinanderfolgenden Stufen der Hierarchie konkretisiert und zum expliziten Ausdruck gebracht.

6.

Ein Holon auf der Stufe n einer output-Hierarchie wird auf der Stufe n + 1 als Einheit repräsentiert und als Einheit in den Handlungsablauf eingegliedert. Mit anderen Worten, ein Holon ist ein System von Relationen, das auf der nächsthöheren Ebene als ein Relatum repräsentiert wird.

7.

In Sozialhierarchien (militärischer, administrativer Art etc.) gelten die gleichen Grundsätze.

8.

Input-Hierarchien operieren nach dem entgegengesetzten Prinzip; an Stelle von Auslösern sind sie mit siebartigen Mechanismen ausgestattet (Abtastvorrichtungen, »Resonatoren«, »Filter«, »Klassifikatoren«), die den input von bloßem »Geräusch« befreien und seinen relevanten Inhalt je nach den Relevanzkriterien der betreffenden Hierarchie abstrahieren und bearbeiten. In Sozialhierarchien und im Nervensystem operieren »Filtervorrichtungen« auf jedem Niveau, das der Informationsfluß bei seinem Aufstieg von der Peripherie zum Zentrum passieren muß. 232

9.

Auslöser verwandeln verschlüsselte Signale in komplexe output-Strukturen. Filter verwandeln komplexe input-Strukturen in verschlüsselte Signale. Erstere lassen sich mit Digital-Analog-Konvertern, letztere mit Analog-Digital-Konvertern vergleichen (M Miller, Pribram u.a.).

10.

In perzeptorischen Hierarchien reichen die Filtervorrichtungen von der Habituation und der motorischen Kontrolle der Rezeptoren über die Konstanzphänomene bis zur Gestaltperzeption von räumlichen oder zeitlichen Konfigurationen und bis zur Entschlüsselung von linguistischen und anderen Bedeutungsinhalten.

11.

Output-Hierarchien konkretisieren, detaillieren und spezifizieren. Input-Hierarchien verarbeiten, abstrahieren und verallgemeinern.

F.

Verzweigungen und Verflechtung

1.

Hierarchien kann man als sich »vertikal« verzweigende Strukturen ansehen, deren Zweige sich mit denen anderer Hierarchien auf mannigfachen Niveaus verflechten und »horizontale« Netzgeflechte bilden: Verzweigung und Verflechtung sind komplementäre Prinzipien in der Architektur von Organismen und Sozialverbänden.

2.

Das bewußte Erleben wird bereichert durch die Zusammenarbeit von mehreren perzeptorischen Hierarchien in verschiedenen Sinnesmodalitäten und innerhalb der gleichen Sinnesmodalität.

3.

Abstrahierte Erinnerungen werden in skelettierter Form gespeichert und entsprechend den Relevanzkriterien der betreffenden Wahrnehmungs-Hierarchie von irrelevanten Details befreit.

4.

Lebhafte Details von gleichsam eidetischer Schärfe werden auf Grund ihrer emotionalen Relevanz gespeichert.

5.

Die Verarmung von Erlebnissen bei der Gedächtnisbildung wird bis zu einem gewissen Grade kompensiert durch die Zusammenarbeit vielfältiger perzeptorischer Hierarchien mit unterschiedlichen Relevanzkriterien beim Erinnerungsvorgang.

6.

Bei der sensorisch-motorischen Koordination stellen die lokalen Reflexe Abkürzungswege auf dem untersten Niveau dar, vergleichbar den Straßenschleifen der Autobahnen, die die Verkehrsströme entgegengesetzter Richtungen miteinander verbinden.

7.

Erlernte sensorisch-motorische Routinefertigkeiten funktionieren auf höheren Stufen mittels Netzwerken von propriozeptiven und exterozeptiven feedbackSchleifen, die als Servomechanismen fungieren und bewirken, daß der Radfahrer in einem Zustand von selbstregulierender kinetischer Homeostase auf dem Fahrrad bleibt.

8.

Nach der S-R-Theorie bestimmt die Umweltskonstellation das Verhalten; nach der O.H.S.-Theorie steuert und korrigiert sie lediglich vorgegebene Verhaltensstrukturen (P P. Weiss).

9.

Während die sensorischen Rückempfindungen die motorischen Tätigkeiten steuern, stützt sich die Wahrnehmung ihrerseits auf motorische Tätigkeiten wie die Abtastbewegungen des Auges oder das Summen einer Melodie im Dienste der Gehörerinnerung. Die perzeptorischen und die motorischen Hierarchien arbeiten auf jeder Stufe so eng zusammen, daß es sinnlos ist, einen kategorischen Unterschied zwischen »Reizen« und »Reaktionen« zu machen; sie sind zu »Aspekten von geschlossenen Rückkoppelungskreisen« geworden (M Miller, Pribram u.a.).

233

10.

Organismen und Sozialverbände operieren in einer Hierarchie von Umwelten, von der lokalen Umwelt des einzelnen Holons bis zum »Gesamtfeld« der Umwelt, zu dem auch aus der Extrapolation in Raum und Zeit abgeleitete imaginäre Umwelten gehören können.

G. Der Dienstweg 1.

Die höheren Instanzen einer Hierarchie stehen normalerweise nicht in direkter Verbindung mit den niederen und umgekehrt; Signale werden nach oben wie nach unten schrittweise »auf dem Dienstweg« übermittelt.

2.

Versucht man die Sprache und andere menschliche Fertigkeiten als Manipulation von Wörtern oder als bedingte Reaktionsketten zu erklären, dann zerreißt die Verbindung zwischen Absicht und Ausführung.

3.

Die Ausschaltung von Zwischenstufen durch eine bewußte Konzentration der Aufmerksamkeit auf Prozesse, die normalerweise automatisch funktionieren, kann zu Störungen führen, die von einfacher Befangenheit bis zu psychosomatischen Krankheitssymptomen reichen.

H. Mechanisierung und Freiheit 1.

Mit jedem Schritt aufwärts in der Hierarchie zeigen Holons in zunehmendem Maß komplexere, flexiblere und weniger voraussagbare Verhaltensstrukturen, mit jedem Schritt abwärts treffen wir auf zunehmena mechanisierte, stereotype und voraussagbare Verhaltensstrukturen.

2.

Alle Fertigkeiten, ob sie angeboren oder erworben sind, zeigen mit zunehmender Praxis die Tendenz, zu automatisierten Routinevorgängen zu erstarren. Dieser Prozeß läßt sich als eine kontinuierliche Transformation von »geistigen« in »mechanische« Tätigkeiten bezeichnen.

3.

Unter gleichartigen Voraussetzungen fördert eine monotone Umwelt den Mechanisierungsprozeß.

4.

Umgekehrt erfordern neue oder unerwartete Ereignisse in der Umwelt Entscheidungen, die an höhere Instanzen der Hierarchie weiterdelegiert werden müssen, das heißt eine Verlagerung der Kontrollen nach oben hin, von »mechanischen« auf »geistige« Tätigkeiten.

5.

Jede Verlagerung nach oben bewirkt, daß der Tätigkeitsablauf mit lebhafterer und präziserer Bewußtheit empfunden wird; da die Zahl der Alternativmöglichkeiten mit der zunehmenden Komplexität auf den höheren Stufen ebenfalls zunimmt, ist jede Verlagerung nach oben von dem subjektiven Erlebnis der Entscheidungsfreiheit begleitet.

6.

Die hierarchische Anschauung setzt an die Stelle der dualistischen Theorien eine »serialistische« Hypothese, bei der die Begriffe »geistig« und »mechanistisch« als relative Attribute eines einheitlichen Prozesses erscheinen und das Dominieren des einen oder anderen Attributs von Verlagerungen der Kontrolle nach oben oder nach unten abhängt.

7.

Das Bewußtsein entfaltet sich in der Phylogenese und in der Ontogenese aus primitiven Anfängen heraus zu komplexeren und präziseren Zuständen. Das Bewußtsein ist die höchste Manifestation der integrativen Tendenz (D 3), welche aus der Unordnung Ordnung und aus Geräuschen Information extrahiert.

8.

Das Ich läßt sich niemals vollständig in seiner eigenen Bewußtheit erfassen, noch können seine Handlungen von einem denkbar perfekten Computer vollständig 234

vorausgesagt werden. Beide Versuche führen zu einer endlosen regressierenden Reihe.

I.

Gleichgewicht und Unordnung

1.

Ein Organismus oder eine soziale Gemeinschaft befindet sich in dynamischem Gleichgewicht, wenn die S-B-Tendenzen und die INT-Tendenzen seiner Holons einander die Waage halten.

2.

Der Begriff des Gleichgewichts in einem hierarchischen System bezieht sich nicht nur auf das Verhältnis zwischen Teilen auf derselben Stufe, sondern auf das Verhältnis zwischen Teil und Ganzem (das Ganze wird dabei von der Instanz repräsentiert, die den Teil von der nächsthöheren Stufe aus kontrolliert).

3.

Organismen leben auf Grund von Transaktionen mit ihrer Umwelt. Unter normalen Bedingungen sind die Spannungen in den Holons, die die Transaktion durchführen, nur vorübergehender Natur, und das Gleichgewicht wird nach Beendigung der Transaktion automatisch wiederhergestellt.

4.

Überschreitet die an den Organismus gerichtete Herausforderung ein kritisches Limit, dann kann das Gleichgewicht gestört werden, das übererregte Holon kann außer Kontrolle geraten und sich zum Nachteil des Ganzen behaupten oder dessen Funktionen monopolisieren – ganz gleich, ob das Holon ein Organ, eine Denkstruktur (fixe Idee), ein Individuum oder eine soziale Gruppe ist. Die gleiche Situation kann eintreten, wenn die koordinierenden Kräfte des Ganzen so geschwächt werden, daß es nicht mehr imstande ist, seine Teile unter Kontrolle zu halten (C Child).

5.

Die entgegengesetzte Art von Störung tritt ein, wenn das Ganzc über seine Teile eine derartige Macht ausübt, daß deren Autonomie und Individualität untergraben werden. Dieser Vorgang kann zu einer Regression der INT-Tendenzen ausgereifter Formen der sozialen Integration zu primitiven Formen der Identifizierung führen und die quasi-hypnotischen Phänomene der Massenmentalität auslösen.

6.

Der Prozeß der Identifikation kann stellvertretende Emotionen aggressiver Art auslösen.

7.

Die Verhaltensregeln eines sozialen Holons lassen sich nicht auf die Verhaltensregeln seiner einzelnen Mitglieder reduzieren.

8.

Der Egoismus des sozialen Holons nährt sich vom Altruismus seiner Mitglieder.

J.

Regeneration

1.

An einen Organismus oder einen Sozialverband gerichtete Herausforderungen, die ein kritisches Limit überschreiten, können sowohl degenerative als auch regenerative Wirkungen auslösen.

2.

Das regenerative Potential in Organismen und Sozialverbänden manifestiert sich in Fluktuationsprozessen, die von der höchsten Integrationsstufe auf frühere, primitivere Niveaus zurückgreifen und beim Wiederaufstieg zu neuen, modifizierten Strukturen führen. Prozesse dieser Art scheinen sowohl bei der biologischen als auch bei der geistigen Evolution eine bedeutende Rolle zu spielen; sie spiegeln sich im universalen Motiv von Tod und Wiedergeburt in der Mythologie.

235

19.2 Quellennachweise 001

Hardy (1965).

002

Thorpe (1966 A).

003

Lorenz (1963).

004

Watson (1913) S. 158–167.

005

Watson (1928) S. 6.

006

a.a.O.

007

Burt (1962) S. 229.

008

Skinner (1953) S. 30–31.

009

Harlow (1953) 5. 23–32.

010

Skinner (1938) S. 22.

011

Watson (1928) S. 6.

012

Watson (1928) S. 198 ff.

013

Skinner (1953) S. 252.

014

Watson (1928) S. 3–6.

015

Sherrington (1906) S. 8.

016

Watson (1928) S. 11.

017

Calvin, Hrsg. (1961).

018

a.a.O. S 376–378.

019

Skinner, zitiert von Chomsky (1959) S. 548.

020

Liberman, Cooper u. a. (1965).

021

McNeill (1966).

022

Brown (1965).

023

McNeill, a.a.O.

024

a.a.O.

025

Zitiert von Lashley (1951) S. 117.

026

Popper (1959) S. 280.

027

James (1890) Band 1, S. 253.

028

Needham, J. (1932).

029

Simon (1962).

030

Jacobson (1955).

031

Simon, a.a.O.

032

Simon, a.a.O.

033

Bertalanffy (1952) S. 48, 50.

034

Dunbar (1946).

035

Weiss und Taylor (1960).

036

Thorpe (1956) S. 37–38.

037

Bartlett (1958).

038

Gregory (1966) Kapitel 2.

039

Kottenhoff (1957).

236

040

Lashley (1951) S. 128.

041

Koestler und Jenkins (1965 A).

042

Koestler (1964) S. 524–525.

043

Jaensch (1930), Kluever (1931).

044

Dreyer (1962).

045

Cannon (1939).

046

Miller u. a. (1960) S. 18, 30.

047

Thorpe (1956) S. 19.

048

Baehrends (1941).

049

Hingston (1926–1927), zitiert von Thorpe (1956) S. 39.

050

Thorpe (1956) S. 262.

051

Tinbergen (1953) S. 116.

052

Bertalanffy (1952) S. 17–18.

053

Huxley, J. (1954) S. 14.

054

Bonner (1965) S. 316.

055

a.a.O., S. 142.

056

Waddington (1952).

057

Huxley, J. (1954) S. 12.

058

Waddington (1952).

059

Whyte (1965) S. 50.

060

Hardy (1965) s. 211.

061

St-Hilaire, zitiert von Hardy (1965) S. 50.

062

Goethe (1957), Band IV, S. 140.

063

Thompson (1942) S. 1082–1084.

064

Simpson, Pittendrigh und Tiffany (1957) 5. 472.

065

Simpson (1949) S. 180.

066

Bertalanffy (1952) S. 105.

067

Spurway (1949), zitiert von Whyte (1965).

068

Whyte (1965).

069

Simpson (1950), zitiert von Hardy (1965) S. 14.

070

Sinnott (1961) S. 45.

071

Muller (1943), zitiert bei Sinnott (1961) S. 45.

072

Simpson u. a. (1957) S. 354.

073

Coghill (1929).

074

Hardy (1965) S. 170.

075

a.a.O., S. 178.

076

a.a.O., S. 176.

077

a.a.O., S. 172, 192, 193.

078

Waddington (1957) S. 182.

079

a.a.O., S. 166–167.

080

Tinbergen (1953) S. 55.

237

081

Ewer (1960), zitiert von Hardy (1965) S. 187.

082

Herrick (1961) S. 117 f.

083

Waddington (1957) S. 180 ff.

084

a.a.O., S. 64–65.

085

Huxley (1964) S. 12–13.

086

a.a.O., S. 13.

087

Young (1950) S. 74.

088

de Beer, (1940) S. 118.

089

Child (1915) S. 467.

090

de Beer, a.a.O., S. 119.

091

a.a.O., S. 72.

092

Haldane (1932) S. 150.

093

Garstang (1922).

094

Muller (1943) S. 109.

095

Krechevsky (1932).

096

Needham, A. E. (1961).

097

Siehe z.B. Hamburger (1955).

098

a.a.O.

099

a.a.O.

100

Lashley (1960) S. 239.

101

Lashley (1929).

102

Kris (1964).

103

Zitiert von Hadamard (1949).

104

Humphrey (1951) S. 1.

105

Bartlett (1958).

106

Bruner und Postman (1949).

107

McKellar (1957).

108

Kubie (1958).

109

Herrick (1961) S. 51.

110

Bertalanffy (1952) S. 128.

111

Herrick (1961) S. 47.

112

Schrödinger (1944) S. 72.

113

Wiener (1948) S. 76–78.

114

Spencer (1862).

114a Whyte (1949) S. 35. 115

Schrödinger (1944) S. 88.

116

Bertalanffy (1952) S. 112.

117

Waddington (1961).

118

Ryle (1950).

119

Gellner (1959).

120

Smythies (1965).

238

121

Beloff (1962).

122

Gellner (1959).

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Kneale (1962).

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Penfield (1961).

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Farber und Wilson, Hrsg. (1961).

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Sherrington (1906).

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130

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Sperry (1960) S. 306.

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Adrian (1966) S. 245.

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Koestler (1945) S. 396–397 (Deutsche Ausgabe).

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139

Zitiert von Dubos (1950) S. 391 f.

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Child (1924).

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Le Gros Clark (1961).

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MacLean (1958) S. 613.

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MacLean (1956) S. 352.

175

Mandler (1962) S. 273–274 und 326.

176

Herrick (1961) S. 316.

177

MacLean (1962) S. 289.

178

MacLean (1964) S. 2.

179

MacLean (persönliche Mitteilung).

180

MacLean (1958).

181

a.a.O., S. 615.

182

a.a.O., S. 614–615.

183

Herrick (1961) S. 429.

184

MacLean (1958) S. 614.

185

MacLean (1964) S. 3.

186

MacLean (1956) S. 341.

187

MacLean (1956) S. 341 und (1958) S. 619.

188

MacLean (1956) S. 341.

189

MacLean (1964) S. 10–11.

190

MacLean (1962) S. 296.

191

Miller u. a. (1960) S. 206.

192

MacLean (persönliche Mitteilung).

193

MacLean (1956) S. 348.

194

Kluever (1911).

195

MacLean (1961) S. 1737.

196

MacLean (1958) S. 619.

197

MacLean (1962) S. 292.

198

Lorenz (1963) S. 207.

199

Allport (1924).

200

Olds (1960).

201

Hebb (1949).

202

Pribram (1966).

240

203

Gellhorn (1963).

204

a.a.O.

205

Cobb (1950).

206

MacLean (1962) S. 295.

207

Pribram (1966) S. 9.

208

Gellhorn (1957).

209

Huxley, J. (1963) S. 7–28.

210

Koestler (1959) S. 513–514 (Deutsche Ausgabe).

211

Pyke (1961) S. 215.

212

Koestler (1964) S. 244–245 (Deutsche Ausgabe).

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Huxley, J. (1964) S. 192.

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Russell, W. M. S. in The Listener, London, 05.11.1964 und 12.11.1964.

215

Lorenz (1963) S. 40.

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217

Lorenz (1963) S. 337-339.

218

Koestler (1966 B).

219

Lorenz (1963) S. 348.

220

Lévy-Bruhl (1923) S. 63.

221

Berger (1967).

222

Platt (1966) S. 195, 196 und 200.

223

de Beer (1966).

224

National Research Council Report (1962).

225

Harkavy (1964).

226

a.a.O., S. 8.

227

Eastman (1965).

228

Morris (1966).

229

Time, New York, 29.01.1965.

230

Bertalanffy (1956).

231

Time, New York, 25.09.1964.

232

Lindquist (1966).

233

Time, New York, 24.09.1965.

234

Platt (1966) S. 192.

235

Lorenz (1963) S. 336.

236

MacLean (1961) S. 1738–1739.

237

Hydén (1961).

238

Saunders (1961) S. 11 ff.

239

Huxley, A. (1961).

241

19.3 Verzeichnis der in diesem Buch erwähnten Werke Die Jahreszahlen beziehen sich auf die vom Autor benutzten Ausgaben. Adrian, E. D., in Brain and Conscious Experience. Siehe Eccles, J. C., Hrsg., 1966. Allport, F. H., SOCIAL PSYCHOLOGY. New York 1924. Arendt, H., EICHMANN IN JERUSALEM. London 1963. Baerends, G. P., FORTPFLANZUNGSVERHALTEN UND ORIENTIERUNG DER GRABWESPE IN AMMOPHILA CAMPESTRIS. Jur. Tijd. voor Entom. 84, 71–275, 1941. Bartlett, F., THINKING. London 1958. de Beer, G., EMBRYOS AND ANCESTORS. Oxford 1940. de Beer, G., in New Scientist. London, 17.02.1966. Beloff, J., EXISTENCE OF MIND. London 1962. Berger, F. M., in American Scientist, 55, 1. März 1967. Berlyne, D. E., CONFLICT, AROUSAL AND CURIOSITY. New York 1960. Bertalanffy, L. v., PROBLEMS OF LIFE. New York 1952. Bertalanffy, L. v., in THE SCIENTIFIC MONTHLY. Januar 1956. Bertalanffy, L. v., PSYCHOLOGY IN THE MODERN WORLD. Heinz Werner Memorial Lectures, New York 1967. Bidiat, X., RECHERCHES PHYSIOLOGIQUES SUR LE VIE ET LA MORTE. Paris 1800. Bidiat, X., ANATOMIE GÉNÉRALE. Paris 1801. Bonner, J., THE MOLECULAR BIOLOGY OF DEVELOPMENT. Oxford 1965. BRAIN AND CONSCIOUS EXPERIENCE. Siehe Eccles, J. C., Hrsg., 1966. BRAIN AND MIND. Siehe Smythies, J. R., Hrsg., 1965. Brown, R., SOCIAL PSYCHOLOGY. Glencoe, 111., 1965. Bruner, J. S., und Postman, L., in J. of Personality, XVIII, 1949. Burt, C., in B. J. of Psychol., 53, 3, 1962. Calvin, A. D., Hrsg. PSYCHOLOGY. Boston, Mass., 1961. Cannon, W. B., THE WISDOM OF THE BODY. New York 1939. Child, C. M., PHYSIOLOGICAL FOUNDATIONS OF BEHAVIOUR. New York 1924. Chomsky, N., A REVIEW OF B. F. SKINNER’S VERBAL BEHAVIOUR IN LANGUAGE, 35, Nr. 1, 26–58, 1959. Clark, W. E. Le Gros, in THE ADVANCEMENT OF SCIENCE. London, September 1961. Clayton, R. M., in PENGUIN SCIENCE SURVEY, 1949 B. Harmondsworth, Middlesex 1964. Cobb, S., EMOTIONS AND CLINICAL MEDICINE. New York 1950. Coghill, G. E., ANATOMY AND THE PROBLEM OF BEHAVIOUR. Cambridge 1929. CONTROLL OF THE MIND. Siehe Farber, S. M., und Wilson, R. H. L., Hrsg., New York 1961. Cooper, F. S., siehe Liberman u.a., 1965. Craik, K. J. W., THE NATURE OF EXPLANATION. Cambridge 1943. Darwin, C. R., THE ORIGIN OF SPECIES. London 1873 (6. Auflage). Dreyer’s A DICTIONARY OF PSYCHOLOGY. Harmondsworth, Middlesex 1962. Dubos, R. J., LOUIS PASTEUR. Boston, Mass., 1950. Dunbar, H. F., EMOTIONS AND BODILY CHANGES. New York 1946. Eastman, N. J., in FERTILITY AND STERILITY, Band 15, Nr. 5, September/Oktober 1965, Nachdruck der Ford Foundation, 1965.

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